Vom Konklave zum Assessment-Center: Personalentscheidungen im historischen Wandel 9783534273799, 9783534273805, 9783534273812

Die Moderne hat aus der Suche nach dem perfekten Führungspersonal eine Wissenschaft gemacht und scheint Personalentschei

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Vom Konklave zum Assessment-Center: Personalentscheidungen im historischen Wandel
 9783534273799, 9783534273805, 9783534273812

Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung – Personalentscheidungen und ihr Scheitern (Andreas Fahrmeir)
Johannes Chrysostomos – Bischof zwischen Scheitern und Heiligung (Hartmut Leppin)
Mundo und Smbat Bagratuni – Meritokratie und Diversität im römischen Heer des 6. Jahrhunderts (Dawid Wierzejski)
Von blinden Feldherren und einem bedrängten Kaiser – Generalsbestellungen unter Isaakios II. Angelos (1185–1195) (Tristan Schmidt)
Episcopus ingratus oder das »Scheitern« eines Reformers in der Serenissima (1418–1437) (Daniela Rando)
Eine gescheiterte Wahl auf dem Baseler Konzil – Juan de Segovia über die Absetzung Eugens IV. (1439) (Davide Scotto)
Geworden und gestaltet – Reformsemantik des Papstwahlzeremoniells in Mittelalter und Früher Neuzeit (Kevin Hecken und Stefan Schöch)
Auf der Suche nach dem Richtigen – Wahrsagerei als Faktor in der Personalpolitik unter Kurfürst August von Sachsen (1526–1586) (Ulrike Ludwig)
Kritik an der kurialen Personalpolitik im 18. Jahrhundert – Der Predigerorden an den Schaltstellen römischer Macht oder wie ein Jesuit sich selbst zensieren musste (Andreea Badea)
Der unbequeme Philosoph – Hippolyte Taine (1828–1893) und der Concours d’Agrégation von 1851 (Annika Klein)
Das Alter des Surendranath Banerjea – Von der Schwierigkeit der (Un-)Gleichheit (Andreas Fahrmeir)
Wer zahlt, schafft an? – Akademische Personalentscheidungen und wirtschaftliche Interessen (Werner Plumpe)
Ungeeignet – Persönlichkeitsprofile nicht beförderter Führungskräfte im Spiegel von Eignungsuntersuchungen (ca. 1965–1990) (Jörg Lesczenski)
Gérard Depardieu und der Präfekt (Muriel Favre)
Eignungserwartung und Scheitern (Christoph Cornelißen, Birgit Emich, Hartmut Leppin, Jörg Lesczenski, Daniela Rando, Davide Scotto und Camilla Tenaglia)
Meritokratie und Diversität (Andreea Badea, Muriel Favre und Annika Klein)
Struktur und Ereignis (Andreas Fahrmeir, Kevin Hecken, Werner Plumpe, Stefan Schöch und Tristan Schmidt)
Danksagung und Autor:innen
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06.10.2021

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Los, Wahl, Erbe, Prüfung, AssessmentCenter – Wie rekrutiert man das perfekte Spitzenpersonal? Blinde Heerführer, abgesetzte Bischöfe, durchgefallene Nobelpreisträger – Personalentscheidungen konnten schon immer krachend danebengehen! Aber auch in der Moderne, die aus der Suche nach geeignetem Führungspersonal eine Wissenschaft gemacht hat, ist man nicht vor haarsträubenden Fehlgriffen gefeit. Die folgenden sechzehn Fallstudien zeigen unterschiedlichste Auswahlverfahren aus zwei Jahrtausenden – ungewöhnliche Geschichten aus der Welt der Personalentscheidungen.

Vom Konklave zum Assessment-Center

Christoph Cornelißen/Andreas Fahrmeir (Hg.)

Muriel Favre, Hartmut Leppin, Werner Plumpe, Tristan Schmidt, Dawid Wierzejski u. a.

Kommen Sie ins Gespräch mit Leser:innen und Autor:innen auf wbg-community.de wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27379-9

Cornelißen/Fahrmeir (Hg.)

Mit Beiträgen von Christoph Cornelißen, Andreas Fahrmeir,

Vom Konklave zum AssessmentCenter Personalentscheidungen im historischen Wandel

Vom Konklave zum Assessment-Center

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Christoph Cornelißen/Andreas Fahrmeir (Hg.)

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Abbildungsnachweis S. 25 © akg-images/André Held; S.41 © akg-images/Pictures From History; S. 51 © Ing.-Büro für Kartographie J. Zwick, 35394 Gießen. Entwurf: G. Prinzing; S.68 Jenský kodex [Antithesis Christi et Antichristi] aus der Bibliothek des Tschechischen Nationalmuseums (Národní museum) Prag, IV B 24, fol. 76r.; S. 74 wikimedia commons; S.98 © akg-images/Album/ Prisma; S. 125 © akg-images; S. 134 © Heritage Images/Fine Art Images/akg-images; S. 152 © Eric Vandeville/akg-images; S.163 © Collection Dupondt/akg-images; S.185 © akg-images/Pictures From History; S. 194 © akg-images; S.197 © akg-images/TT News Agency/SVT

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Academic ist ein Imprint der wbg. © 2021 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Lektorat: Birgit Knape, Mainz Satz: Arnold & Domnick, Leipzig Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Einbandabbildung: Krönung Ferdinands I. von Neapel. Skulptur, um 1490, von Benedetto da Maiano (1442–1497). © akg-images/Rabatti & Domingie Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27379-9 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-534-27380-5 eBook (epub): ISBN 978-3-534-27381-2

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Inhalt Einleitung – Personalentscheidungen und ihr Scheitern  (Andreas Fahrmeir) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Johannes Chrysostomos – Bischof zwischen Scheitern und Heiligung  (Hartmut Leppin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Mundo und Smbat Bagratuni – Meritokratie und Diversität im römischen Heer des 6. Jahrhunderts  (Dawid Wierzejski). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Von blinden Feldherren und einem bedrängten Kaiser – Generalsbestellungen unter Isaakios II. Angelos (1185–1195) (Tristan Schmidt). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Episcopus ingratus oder das »Scheitern« eines Reformers in der Serenissima (1418–1437)  (Daniela Rando) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Eine gescheiterte Wahl auf dem Baseler Konzil – Juan de Segovia über die Absetzung Eugens IV. (1439)  (Davide Scotto). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Geworden und gestaltet – Reformsemantik des Papstwahlzeremoniells in Mittelalter und Früher Neuzeit (Kevin Hecken und Stefan Schöch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Auf der Suche nach dem Richtigen – Wahrsagerei als Faktor in der Personalpolitik unter Kurfürst August von Sachsen (1526–1586)  (Ulrike Ludwig) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

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6  Kritik an der kurialen Personalpolitik im 18. Jahrhundert – Der Predigerorden an den Schaltstellen römischer Macht oder wie ein Jesuit sich selbst zensieren musste (Andreea Badea). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Der unbequeme Philosoph – Hippolyte Taine (1828–1893) und der Concours d’Agrégation von 1851 (Annika Klein). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Das Alter des Surendranath Banerjea – Von der Schwierigkeit der (Un-)Gleichheit (Andreas Fahrmeir) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wer zahlt, schafft an? – Akademische Personalentscheidungen und wirtschaftliche Interessen (Werner Plumpe). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Ungeeignet – Persönlichkeitsprofile nicht beförderter Führungskräfte im Spiegel von Eignungsuntersuchungen (ca. 1965–1990) (Jörg Lesczenski). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Gérard Depardieu und der Präfekt (Muriel Favre). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Eignungserwartung und Scheitern (Christoph Cornelißen, Birgit Emich, Hartmut Leppin, Jörg Lesczenski, ­Daniela Rando, Davide Scotto und Camilla Tenaglia). . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Meritokratie und Diversität (Andreea Badea, Muriel Favre und Annika Klein). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Struktur und Ereignis (Andreas Fahrmeir, Kevin Hecken, Werner Plumpe, Stefan Schöch und Tristan Schmidt). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Danksagung und Autor:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270

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Einleitung – ­Personalentscheidungen und ihr Scheitern Andreas Fahrmeir Personalentscheidungen, das klingt nach einem abstrakten, etwas trockenen Thema. Die Bilder, die einem zunächst in den Sinn kommen, haben in erster Linie mit Personalabteilungen, Aktenstapeln oder »[F]ace-to-screen-Inter­ aktion mit den eingegangenen Lebensläufen«1 zu tun. Sie lassen an eigene ­Bewerbungsgespräche, Aushandlungen mit zuständigen Gremien und an eine spezialisierte Forschungsrichtung denken, die sich mit der Optimierung (vorwiegend betrieblicher) Personalentscheidungen beschäftigt und die in Foren wie der Zeitschrift für Personalforschung, dem International Journal of Selection & Assessment und zahlreichen weiteren Periodika verhandelt wird. Vornehmlich beschäftigen diese sich mit Arbeits- und Organisationspsychologie. Ohne Zweifel, Personalentscheidungen sind wichtig. Dazu passt das Klischee, dass »Mitarbeiter« das »wichtigste« oder »wertvollste« Kapital eines Unternehmens sind – zumindest wies Google am 16. April 2021 mehrere Tausend Seiten auf, auf denen sich große und kleine Unternehmen diese »Lebenslüge vieler Chefs« zu eigen machten.2 Gleichzeitig klingen derartige Texte sehr technisch, sodass Gesprächspartner beim Stichwort rasch einen etwas abwesenden Blick bekommen. Das steht im Gegensatz zur Bedeutung, die immer wieder einzelnen Personalentscheidungen zugeschrieben wird: So schienen sich die Probleme der 1 Johannes Kirdorf, Entscheidungen im Personalwesen. Das Entpersonalisieren einer (Personal-)Entscheidung, Wiesbaden 2019, S. 74. 2 Genau genommen waren es »ungefähr 26 000«. Michaela Bürger, Alois Maichel, »Unsere Mitarbeiter sind unser wertvollstes Kapital«. Die Lebenslüge vieler Chefs, in: Manager Magazin, 28. März 2018, https://www.manager-magazin.de/unternehmen/karriere/mitarbeiterfuehrungunsere-mitarbeiter-sind-unser-wertvollstes-kapital-a-1198206.html (16.04.2021)

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8 Andreas Fahrmeir Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), die 2020/21 in den Insolvenzfällen Wirecard und Greensill Bank deutlich wurden, im Kern durch eine Neubesetzung des Leitungspostens beheben zu lassen, also mit dem Ersatz einer im Rückblick offenbar nicht richtigen Personalentscheidung durch eine bessere. Darin liegt gewiss ein Element der rhetorischen Personalisierung von strukturellen Entwicklungen, das leicht zu dekonstruieren ist: Je größer eine Organisation wird, desto unwahrscheinlicher ist es, dass eine einzige Person an Fehlentwicklungen alleine schuld sein kann – schon deshalb, weil sie gar nicht die Möglichkeit hätte, einen Überblick über alle Vorgänge zu haben. Es steht aber auch im Gegensatz zu der Bedeutung, die Personalentscheidungen dann gewinnen, wenn sie im Widerspruch zu gesellschaftlichen Erwartungen stehen, etwa durch die Bevorzugung bestimmter Gruppen gegenüber anderen, die diese Diskriminierung nicht mehr hinzunehmen gewillt sind. Ein Beispiel ist die Diskussion darüber, wie man in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen (in der Wirtschaft, im Wissenschaftssystem, in der Verwaltung oder in der Politik) Geschlechtergerechtigkeit oder eine gerechte Verteilung von begehrten Positionen zwischen Gruppen, die durch ethnische Identitäten oder Zuschreibungen oder durch soziale Ungleichheiten definiert sind, erreichen kann. Eine Spannung, die in diesen Debatten oft, nicht zuletzt vor den zuständigen Gerichten, verhandelt wird, ist die zwischen einem System von Personalentscheidungen, das statistisch beschreibbare Ergebnisse hat, die Auffälligkeiten aufweisen und der Anforderung an jede einzelne Personalentscheidung, ausschließlich anhand klar definierter Stellenprofile und Leistungsoder Qualifikationsnachweisen potenzielle Bewerberinnen und Bewerber zu identifizieren, um aus diesem Kreis den oder die Beste auszuwählen, ohne dass dabei unbedingt schon klar ist, wie sich diese Entscheidung statistisch auswirken wird. Auf den ersten Blick scheint es sich dabei um ein sehr modernes Problem zu handeln, das die Verfügbarkeit von Statistiken, allgemeine Gleichheitsvorstellungen und eine starke Verrechtlichung von Personalentscheidungen zur Voraussetzung hat. Die Beobachtung konkreter Beispiele bringt aber ein ganz anderes Ergebnis zum Vorschein, und es zeigt sich, dass das Nachdenken über Personalentscheidungen und ihre Risiken keineswegs neu ist. Im Gegenteil: Wenn es um Posten geht, die von anerkannt großer Wichtigkeit sind, muss die Art und Weise, wie sie vergeben werden, Gegenstand von Reflexionen und Regeln sein. Die US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen zeigen das eindringlich, gehören

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sie doch zweifellos zu den zentralen politischen Personalentscheidungen; als sie eingeführt wurden, lösten sie eine andere, für weniger erfolgreich befundene Methode der Personalentscheidung, nämlich die monarchische Erbfolge, ab. Dabei soll ein recht komplexes Verfahren Fehlentscheidungen vermeiden. Mögliche Kandidatinnen und Kandidaten müssen sich zunächst innerhalb ihrer Partei gegen Konkurrentinnen und Konkurrenten durchsetzen, bevor sie – theoretisch bereits auf Herz und Nieren geprüft und wahlkampfgestählt – gegen die Person oder die Personen antreten, die von der oder den anderen Parteien aufgestellt wurden. Um die unmittelbaren Emotionen der Wählerschaft zu moderieren und die abschließende Personalentscheidung davon zu lösen, wurde noch ein Gremium von Wahlmännern eingesetzt, dessen Bedeutung allerdings im Laufe der Zeit zurückging und das faktisch nur noch die in einzelnen Staaten erzielten Mehrheiten repräsentiert. Das System macht es wahrscheinlich, dass erfolgreiche Bewerberinnen oder Bewerber in aller Regel auf eine längere Karriere zurückblicken können und bereits ein hohes politisches Amt (Gouverneur:in, Senator:in, Bundesabgeordnete:r) innehatten, sodass ein Nachweis ihrer prinzipiellen Befähigung vorliegt. Um die Folgen einer trotz allem möglichen Fehlentscheidung einzuhegen, sah bereits die Verfassung von 1789 vor, dass Kandidat:innen dank einer Altersschranke von 35 Jahren menschlich gereift und dank der Anforderung, »natural born citizens« zu sein, die seit mindestens 14 Jahren im Territorium der damals gerade erst gegründeten Republik lebten, keinen Loyalitätskonflikten ausgesetzt sein würden. Um das Risiko weiter zu minimieren, war die Gültigkeit der Personalentscheidung auf vier Jahre beschränkt, nach deren Ablauf sie durch eine erneute Wahl bestätigt oder revidiert werden müsste. Sollte es vorher trotzdem zu schweren Verwerfungen kommen, konnte eine Mehrheit der Abgeordneten des Repräsentantenhauses den Präsidenten anklagen, eine Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Senats ihn absetzen und bei Bedarf für die Zukunft von allen politischen Ämtern ausschließen. Man sieht: Die potenzielle Machtfülle des Amtes sollte durch Einschränkungen bei der Dauer und eine mögliche Sanktionierung für Fehlverhalten eingehegt werden. Als durch die vierfache Wiederwahl Franklin Delano Roosevelts deutlich wurde, dass die gewohnheitsrechtliche Beschränkung der Amtszeit auf zwei Wahlperioden nicht mehr ausreichte (und dass damit das Risiko stieg, dass ein alternder Präsident seinem Amt nicht mehr gewachsen sein würde), wurde diese Einschränkung 1951 durch Verfassungszusatz formalisiert. Und als schließlich

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10 Andreas Fahrmeir unter dem Eindruck des Attentats auf John F. Kennedy und unter dem Eindruck des Kalten Kriegs die Frage diskutiert wurde, was geschehen sollte, wenn der Präsident noch am Leben, aber nicht mehr handlungsfähig war, wurde 1967 bestimmt, dass der Vizepräsident und eine Mehrheit des Kabinetts feststellen konnten, dass der Präsident nicht in der Lage war, seinen Aufgaben nachzukommen; um wirksam zu werden, musste diese Erklärung aber von zwei Dritteln des Kongresses bestätigt werden. Im Jahr 2016 war das Ergebnis des Wahlverfahrens insofern überraschend, als sich am Ende des Prozesses kein erfahrener Politiker durchsetzte, sondern der Unternehmer Donald J. Trump. Dieser war nicht zuletzt aufgrund einer Fernsehserie zu Personalentscheidungen in Unternehmen (The Apprentice) berühmt geworden, hatte aber noch kein politisches Amt innegehabt. Seine teilweise exzentrische Amtsführung gab zu Diskussionen Anlass, ob er nicht ein erster Fall für eine Anwendung des 25. Verfassungszusatzes von 1967 sei. Die Frage, ob er durch diplomatischen Druck die Wahlchancen eines – damals nur möglichen – Gegenkandidaten zu beschädigen suchte, führte um die Jahreswende 2019/20 zu einem ersten Impeachment-Verfahren, das mit einem Freispruch endete. Vollends ungewöhnlich waren die Ereignisse um die erneute Personalentscheidung über die amerikanische Präsidentschaft 2020. Die Wahl, die offiziell am 3. November abgeschlossen war3, hatte ein klares Ergebnis: Beide Kandidaten, Trump und sein Gegner Joseph R. Biden, hatten historische Rekorde gebrochen und deutlich mehr Stimmen erhalten als die rund 70 Millionen, die 2008 für Barak Obama abgegeben worden waren. Allerdings hatte Biden deutlich mehr: circa 81 Millionen, während auf Trump circa 74 Millionen entfielen. Anstatt, wie bislang üblich, die Niederlage anzuerkennen, zur Einheit aufzurufen und die Amtsübergabe vorzubereiten, bemühten sich Trump und seine Unterstützer zunächst, das Ergebnis mit über 60 Klagen juristisch anzugreifen – wobei Sidney Powell, eine Anwältin, die einige dieser Klagen einreichte, später angab, kein »vernünftiger Mensch« habe davon ausgehen können, ihre Behauptungen, Wahlbetrug beweisen zu können, seien ernst gemeint gewesen.4 Parallel zu den erfolglosen juristischen Unternehmungen verbreiteten 3 In einigen Staaten wurden noch einige nachlaufende Briefe berücksichtigt. 4 In the United States District Court for the District of Columbia, Case 1:21-cv-00040-CJN Document 22-1 Filed 03/22/21, https://assets.documentcloud.org/documents/20519858/3-22-21sidney-powell-defending-the-republic-motion-to-dismiss-dominion.pdf, S. 33 (16.04.2021).

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Trump und seine Unterstützer eine bald als »the big lie«, die große Lüge, bezeichnete Geschichte. Sie verband die merkwürdige Behauptung, wer einen Stimmenrekord erzielt habe, könne nicht der unterlegene Kandidat sein, mit der Erzählung, eine große und zugleich völlig unsichtbare Verschwörung habe die Wahl »gestohlen«.5 Am 6. Januar 2021, dem Tag, an dem das Wahlergebnis formal bestätigt werden sollte, fand eine Massenveranstaltung vor dem Kapitol statt, bei der eine Reihe von Rednern, darunter der scheidende Präsident, dazu aufriefen, die Abgeordneten der republikanischen Partei auch kämpferisch zu unterstützen. Ein Teil des aufgebrachten und aufgewiegelten Publikums stürmte das zunächst nur schwach verteidigte Kapitol, wobei einige ankündigten, Vizepräsident Mike Pence, der inzwischen als Verräter an der Sache des Präsidenten galt, »aufhängen« zu wollen. Das Eindringen der Aufrührer zwang Vizepräsident und Kongressabgeordnete dazu, sich in Sicherheit zu bringen, änderte am Ergebnis aber nichts: Nachdem die Ruhe nach mehreren Stunden wiederhergestellt war, nahm der Kongress seine Sitzung wieder auf und bestätigte die Wahl Bidens.6 Die Episode macht deutlich, welches Potenzial Personalentscheidungen haben, Gesellschaften zu spalten – trotz aller Vorkehrungen. Gerade in einer Massendemokratie, in der im Prinzip alle Bürgerinnen und Bürger von allen Bürgerinnen und Bürgern in alle Ämter gewählt werden können, scheint das Risiko, dass eine Person über hinreichende Ressourcen verfügt, um sich einer Mehrheitsentscheidung (möglicherweise) zu widersetzen, wesentlich geringer zu sein als etwa in einer Monarchie, in der konkurrierende Prinzen mit Zugriff auf Teile des Militärs um die Erbfolge streiten könnten. Wie jede problematische oder als problematisch betrachtete Personalentscheidung provozierte auch diese Reaktionen, die das Risiko einer Wiederholung ausschließen sollten. Ein Ansatz war, das Problem zu personalisieren und Donald Trump per Anklage, Verurteilung und Disqualifikation von künftigen Ämtern den Weg zur Teilnahme an künftigen Wahlen zu verbauen – und damit zugleich eventuellen Nachahmern zu signalisieren, dass das Leugnen von 5 Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/2020_United_States_presidential_election; https:// en.wikipedia.org/wiki/Attempts_to_overturn_the_2020_United_States_presidential_election#Stop_the_Steal (16.04.2021); https://en.wikipedia.org/wiki/2020_United_States_elec­tions (16.04.2021). 6 https://en.wikipedia.org/wiki/2021_storming_of_the_United_States_Capitol (16.04.2021).

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12 Andreas Fahrmeir Wahlniederlagen keine aussichtsreiche Strategie ist. Allerdings scheiterte dieses zweite Impeachment am 13. Februar 2021 an der notwendigen Zweidrittelmehrheit.7 Eine andere Lösung war, das Verfahren der Personalentscheidungen besser abzusichern, wobei zwei verschiedene Ansätze konkurrierten. Der demokratische Gesetzentwurf »HR-1« des 116. Kongresses sollte den Zugang zur Wahl erleichtern und damit – vermutlich – Wahlergebnisse noch eindeutiger machen, der andere (Vorhaben zur Wahlrechtsreform auf Staatsebene, wie sie zuerst in Georgia erfolgreich waren) die Identitätsprüfung von Wählenden verschärfen und den Zugang zur Wahlurne allgemein erschweren, um – so zumindest eine Begründung – die Integrität der Wahlergebnisse besser vor Verdächtigungen zu schützen.8 Diese Episode ermöglicht einige allgemeinere Beobachtungen. Erstens: Personalentscheidungen für begehrte, einflussreiche und/oder lukrative Positionen sind für Gesellschaften zentral; wenn sie scheitern, führt das zu fundamentalen Problemen, eventuell sogar zur Spaltung von Herrschaftsordnungen, Gesellschaften, Unternehmen oder Religionsgemeinschaften. Dabei kann das Scheitern verschiedene Dimensionen haben: Es kann die falsche Person ausgewählt worden sein – wie es bei einem Präsidenten, der nach Ansicht der Mehrheit des Senats zum Aufstand gegen die Verfassungsordnung aufruft, zweifellos der Fall ist. Oder das Ergebnis ist für die unterlegenen Kandidatinnen und Kandidaten und ihre Unterstützer nicht akzeptabel, weil sie entweder das Verfahren oder die Begründung der Entscheidung für eine und damit gegen mindestens eine andere Person nicht anerkennen. Personalentscheidungen finden daher immer in der Spannung zwischen der Notwendigkeit, eine Entscheidung zu begründen, und der Notwendigkeit, diese Begründung auch für die Unterlegenen akzeptabel zu gestalten, statt. Somit erweist sich die Stärke einer Personalentscheidung durch Wahl – durch die Einbindung der von ihr Betroffenen genießt sie besondere Legitimität – gleichzeitig als potenzielle Schwäche: Die Niederlage ist offensichtlich, öffentlich, durch Mehrheitsentscheid zustande gekommen und allenfalls dadurch gemildert, dass sie zeitlich begrenzt ist – allerdings eher für die Partei als für den konkreten Kandidaten. Zweitens: Veränderungen gehen nicht immer (und vermutlich insgesamt eher selten) auf revolutionäre Umbrüche, Systemwechsel oder epochale Krisen 7 8

https://en.wikipedia.org/wiki/Second_impeachment_of_Donald_Trump (16.04.2021). https://en.wikipedia.org/wiki/Election_Integrity_Act_of_2021 (16.04.2021).

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zurück, sondern können sich leicht aus Einzelfällen ergeben. Diese sind zwar ihrerseits durch soziale, mediale, ökonomische, politische oder religiöse Entwicklungen mitgeprägt, aber sie weisen eine individuelle und damit kontingente Dimension auf. Diese zeichnet Personalentscheidungen insgesamt aus. Anders gewendet: Die Notwendigkeit, Personalentscheidungen zu treffen, zu kommunizieren und zu legitimieren bringt bereits an sich ein Element der Dynamik in historisches Geschehen – auch dann, wenn diese Kommunikation scheitert. Das folgt auf einer ganz basalen Ebene daraus, dass die menschliche Lebens- und Schaffenszeit begrenzt ist, ohne dass sich diese Grenzen präzise voraussagen lassen. Personalentscheidungen müssen daher immer wieder unter Bedingungen wiederholt werden, die sich strukturell zwar ähneln können, die aber unterschiedliche Personen (oder dieselben Personen in unterschiedlichen Lebensphasen) betreffen. Weil zentrale Personalentscheidungen so wichtig sind, werden sie in aller Regel nach bestimmten Vorgaben gefällt; zugleich handelt es sich immer um Entscheidungen mit unabsehbaren und irreversiblen Folgen. Es geht nicht um eine Wahl zwischen bekannten Alternativen, und es geht nicht um etwas, das man einfach ungeschehen machen könnte: Auch eine erfolgreiche Kandidatur Hillary Clintons 2020 hätte die Folgen, die die Wahl Trumps 2016 hatte, nicht rückgängig machen können. Personalentscheidungen sind historisch bislang vor allem in zweierlei Weise betrachtet worden, die auch einer verbreiteten aktuellen Sicht auf das Problem entsprechen: durch den Fokus auf Strukturen und im Rahmen einer Fortschrittserzählung. Die strukturelle Perspektive hebt hervor, dass Personalentscheidungen in aller Regel gesellschaftliche Ungleichheiten spiegeln. Meist entsprechen ihre Ergebnisse gesellschaftlichen Hierarchien, sodass Angehörige bestimmter Gruppen (des Adels oder der regierenden Partei[en], der Vermögenseliten, des männlichen Geschlechts, der Mehrheitsgesellschaft, der dominanten Religion) bei der Vergabe von Schlüsselpositionen bevorzugt werden oder überhaupt die einzigen sind, die für solche Positionen infrage kommen. Gesellschaftliche Umbrüche spiegeln sich somit in Personalentscheidungen (etwa durch den Aufstieg der Ministerialen, den Durchbruch des Bürgertums, die Zulassung von Frauen, die Öffnung von Ämtern für Migrantinnen und Migranten), und sie lassen sich durch die Forderung nach strukturellen Änderungen von Personalentscheidungen beschleunigen. Diese Erkenntnis und Perspektive sind richtig, aber der Forschungsstand hat inzwischen eine solche Differenzierung erreicht, dass sie auch zum All-

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14 Andreas Fahrmeir tagswissen gehören: Bereits unter den 17 Personen, die sich 2015/16 um die republikanische Präsidentschaftskandidatur bewarben, waren nur eine Frau, ein Afroamerikaner und ein Amerikaner indischer Abstammung; in der Endausscheidung konkurrierten drei Männer, die keiner »visible minority« angehörten. Das erklärt aber noch nicht, warum die republikanische Parteimitgliedschaft einen bestimmten Mann, der diese Voraussetzungen erfüllte, anderen Männern mit ähnlichen Voraussetzungen vorzog – und wie die Unterlegenen darauf reagieren würden. Interessant scheint die Perspektive auf Strukturen derzeit vor allem insofern, als die Frage, wann welche Gruppenzugehörigkeiten für wen in den Vordergrund treten, anders gewendet: bei welchen Eigenschaften in welchen Personalentscheidungsverfahren eine Unter- oder Überrepräsentation unproblematisch zu sein scheint und wann sie angegriffen werden kann, weitere Erkenntnisse verspricht – zumal sie für die aktuellen Diskussionen darüber, wann sie ein Maß für eine Erfolgs- oder Misserfolgsdimension von Personalentscheidungen bereitstellt, in hohem Maße relevant ist. Diese Perspektive setzt freilich voraus, dass sich Personalentscheidungen nicht als Einzelfall, sondern als Statistik beobachten lassen, also weniger anhand einer Kanzlerkandidat:innenkür als an der Aufstellung eines parteilichen Listenvorschlags. Das wiederum setzt voraus, dass analoge (oder als analog betrachtete) Personalentscheidungen hinreichend häufig fallen oder dass der Beobachtungszeitraum hinreichend lang ist. Die Fortschrittserzählung geht davon aus, dass es im Laufe der historischen Entwicklung immer leichter wird, richtige Personalentscheidungen zu treffen, weil deren Folgen durch neue Erkenntnisse in den zuständigen Wissenschaften genauer vorausgesagt werden können. Dadurch, dass es gelungen sei, in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen Personalentscheidungen zu professionalisieren und »irrationale« Verfahren wie das Vertrauen auf die Abstammung, Losverfahren oder das Warten auf göttliche Zeichen durch »rationale« Vorgehensweisen wie Assessment-Center, Prüfungen oder Wahlen abzulösen, seien moderne Gesellschaften besser darin, die »besten Köpfe« zu identifizieren und sie den optimalen Aufgaben zuzuordnen. Wenn Probleme auftreten – die etwa in der Diskriminierung gegen bestimmte Gruppen oder in einzelnen Entscheidungen, die sich im Rückblick als Fehler erweisen, sichtbar werden können – dann ließen sich diese durch eine weitere Optimierung der Verfahren und ein stärkeres Vertrauen auf Expertinnen und Experten beseitigen. Allerdings scheint es schwieriger, den Erfolg oder Misserfolg bestimmter Personal-

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entscheidungen zu validieren, als die strukturellen Ergebnisse zu analysieren; zwar kann man unter Umständen Verwaltungen vergleichen, die ihr Personal auf unterschiedliche Weise rekrutieren, indem man versucht, Kennzahlen für ihren Erfolg zu definieren, aber die Notwendigkeit, bei einem solchen Vergleich andere Unterschiede (Aufgabenbereiche, geografische Lage, besondere Herausforderungen etwa) herauszurechnen, macht ein solches Vorhaben sehr schwierig. Dazu kommt, dass Formen der Personalentscheidung, die scheinbar überlebt sind, plötzlich wieder diskutiert und praktiziert werden können. So gewinnt das Losverfahren, das am ehesten eine strukturelle, implizite oder explizite Diskriminierung verhindern kann, bei der Besetzung zumindest quasi-politischer Gremien wie Bürgerforen neuen Zuspruch, während das (erbliche) Familienunternehmen bisweilen als Alternative zum zwar kompetitiv bestimmten, aber vielleicht allzu kurzfristig denkenden Manager gesehen wird. Eine längerfristige historische Perspektive legt daher eine andere Sicht auf Personalentscheidungen nahe. Sie geht davon aus, dass Personalentscheidungen, zumindest solchen, denen eine besondere Bedeutung zukommt, immer bewusst und reflektiert getroffen werden. Zu Personalentscheidungen, für die das gilt, gehören mindestens Schlüsselfunktionen im Bereich der Herrschaftsordnung und Verwaltung, der Religion und – vermutlich in im Laufe der Zeit zunehmendem Maße – der Wirtschaft und der Wissenschaft. Dabei sind die Möglichkeiten, wie solche Personalentscheidungen erfolgen können, begrenzt: Historisch nachweisbar sind die Wahl, die Kooptation, das Los, der Wettbewerb, die Abstammung, die Beauftragung und das Vertrauen auf Zeichen, die im entscheidenden Moment die richtige Lösung erkennen lassen. Die Liste ist nicht frei von Überschneidungen – so kann die Kooptation auch als spezielle Form der Wahl betrachtet werden, bei der nur die Gruppe der gegenwärtigen Amtsinhaber wählt, und die Abstammung kann zugleich als Zeichen besonderer Auserwähltheit gedeutet werden. Welche Methoden der Personalentscheidung wann zum Einsatz kommen, hängt offenbar nicht nur von der politischen Verfassung ab. Man kann eine Präferenz von Republiken für Wahl, Los und Wettbewerb, von Monarchien für Abstammung und Beauftragung vermuten, wird aber rasch feststellen, dass das nicht in jedem Fall zutrifft. Offenbar spielt eine ebenso große Rolle, um welche Art der Schlüsselpositionen es geht. Das liegt daran, dass unterschiedliche Modi der Personalentscheidung unterschiedliche Aspekte betonen: die Koop-

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16 Andreas Fahrmeir tation die besondere Kompetenz der Auswählenden, die allgemeine Wahl die Legitimation durch breite Partizipation der von einer Entscheidung Betroffenen, das Los die Gleichheit, der Wettbewerb die Leistungsfähigkeit, die Beauftragung die Hierarchie. Die Abstammung wiederum kombiniert ein Vertrauen auf eine – möglicherweise transzendental gedachte – Erbschaftsordnung mit dem Wunsch, Personalfragen nicht thematisieren zu müssen. Zugleich ist kein Verfahren gegen Kritik immun oder vor Problemen gefeit: Bei Wettbewerben lässt sich über die Kriterien der Leistung und Leistungsbewertung diskutieren, beim Los über den Ausschluss jeder Abwägung der Eignung, bei der Beauftragung über die Kompetenz derer, die beauftragen, bei der Kooptation über die Verfestigung von Strukturen. Selbst die Abstammung beseitigt das Moment der Unsicherheit nicht: Abgesehen von der Frage, ob es sich um eine legitime Abstammung handelt (die in manchen Erbmonarchien die Tradition einer öffentlichen, in Gegenwart wichtiger Zeugen ablaufenden Geburt, die den Tausch von Kindern verhindern sollte, zur Folge hatte) und wie verschiedene Erbansprüche gegeneinander zu gewichten sind, überlässt sie den Zeitpunkt eines Amtsübergangs letztlich dem Schicksal – und auch das hat das Potenzial, »eine Nation zu destabilisieren«.9 Der Eindruck, der sich bei einer längeren historischen Betrachtung über verschiedene gesellschaftliche Kontexte – neben der Politik sind das hier Kirche, Verwaltung und Unternehmen  – aufdrängt, ist daher weniger der einer stringenten Modernisierung, sondern einer unterschiedlichen Kombination von Methoden der Personalentscheidung, die jeweils strukturelle oder akute Probleme lösen sollen, die aber unweigerlich andere Probleme generieren und daher durch neue Formen der Personalentscheidung abgelöst werden. Dabei kann diese Lösung darin bestehen, Formen der Personalentscheidung in anderer Weise zu kombinieren. Personalentscheidungen verbinden sich in aller Regel mit vorgegebenen oder typischen Karrierewegen, in deren Verlauf sich Individuen mit unterschiedlichen Auswahlverfahren konfrontiert sehen können. So kann ein im Losverfahren vergebener Studienplatz die Voraussetzung für die Zulassung zu einem wettbewerblichen Examen sein, das seinerseits eine besonders günstige Ausgangsposition für den Eintritt in ein Unternehmen darstellt, dessen Eigner die betreffende Person schließlich mit einer wichtigen 9 https://www.politico.eu/article/british-monarchy-succession-problem-prince-charles/ (16.04.2021).

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Aufgabe beauftragt. Die Geburt in eine politisch prominente Familie kann – wie etwa bei Justin Trudeau oder George W. Bush – ein Baustein einer Karriere sein, die bei einer Personalentscheidung durch Wahl eine besonders günstige Ausgangsposition zur Folge hat. Die Lösung kann ferner darin bestehen, Personalentscheidungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen unterschiedlich zu strukturieren und etwa – wie in der Bundesrepublik heute – im politischen Bereich die Wahl, in der Wirtschaft die Beauftragung, in der Verwaltung und Justiz den Wettbewerb und zumindest in Teilen des Wissenschaftssystems die Kooptation zu präferieren, während Abstammung und spontanen Zeichen zumindest keine formelle Rolle zukommt und das Los nur zum Einsatz kommt, wenn andere Methoden nicht zur Entscheidung geführt haben (etwa bei Stimmengleichheit nach einer Stichwahl). Zwar wird in allen Bereichen gleichermaßen die Notwendigkeit, geeignete Personen für bestimmte Ämter zu finden, betont, aber diese Eignung lässt sich offenbar in sehr unterschiedlicher Weise verifizieren, wobei aus der Kombination wiederum Widersprüche hervorgehen können, die zu Veränderungen des Blicks auf und der Durchführung von Personalentscheidungen führen. So betrachtet, sind die Probleme, die hier beschrieben wurden, keineswegs obsolet, und sie lassen sich durch die Modernisierung und Verwissenschaftlichung von Verfahren wohl nicht oder zumindest nicht endgültig lösen. Die folgenden Kapitel versuchen, diese These zu belegen, indem sie zum einen verschiedene Fallstudien von – meist gescheiterten – Personalentscheidungen präsentieren und deren Beitrag zur Dynamisierung von Personalentscheidungen ausloten. Dabei stehen bestimmte Bereiche im Mittelpunkt, deren Relevanz besonders evident ist – vom Militär über die Verwaltung bis zum Klerus – wobei aber bewusst kein Versuch unternommen wird, alle Bereiche gleichermaßen für jede Epoche zu behandeln. Die Fallstudien machen deutlich, dass Probleme, die heute mit Personalentscheidungen einhergehen, immer schon diskutiert wurden. Personen, deren besonderer Glaubenseifer auf den ersten Blick für sie zu sprechen schien, gaben nicht unbedingt die besten Bischöfe ab. Verwandtschaftsbeziehungen konnten in bestimmten Konstellationen ebenso für die Übertragung von Kommandogewalt an Individuen sprechen, wie die Tatsache, dass sie nicht über eine Hausmacht verfügten  – und Loyalität und der Ausgleich zwischen Fraktionen konnte wichtiger sein als die körperliche Fähigkeit dazu, eine Armee zu kommandieren. Durchgängig wird

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18 Andreas Fahrmeir das Problem sichtbar, dass Urteile über Personen wie über Personalentscheidungsverfahren nicht geteilt werden mussten, auch wenn ihre Verfechter von ihnen überzeugt waren. Aus dieser Perspektive hatten die Entscheidung des Baseler Konzils 1439, den Papst abzusetzen, ebenso wie die Einführung kompetitiver Ämtervergaben im 19. und 20. Jahrhundert die Gemeinsamkeit, dass sie nur wirksam werden konnten, wenn es zumindest für eine gewisse Zeit gelang, die relevante Öffentlichkeit von der Überlegenheit der Argumente für sie zu überzeugen. In einem zweiten Schritt wird auf die systematischen Abwägungsprobleme, die offenbar immer mit Personalentscheidungen einhergehen, eingegangen: Wie wird die Feststellung von Eignung für eine Aufgabe überhaupt diskutiert? Wie werden die – offenbar für sich genommen gar nicht so modernen – Kriterien der Eignung und der Wunsch nach der Repräsentation von Diversität gegeneinander abgewogen? Und wie stellt sich die Beziehung zwischen der Struktur von Personalentscheidungen und der Auswahl einzelner Personen historisch dar? Zu diesen Fragen soll der Band Einsichten liefern.

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Johannes Chrysostomos – ­Bischof zwischen Scheitern und Heiligung Hartmut Leppin Antiochia, das heutige Antakya am türkischen Teil der Ostküste des Mittelmeers, gehörte zu den glanzvollsten Metropolen des spätantiken Reiches und war das Zentrum der historischen Landschaft Syrien, einer der wohlhabendsten ihrer Zeit: Öl und Getreide wurde hier gewonnen; Handelsstraßen bis weit in den Osten begannen in dieser Region. Von dem hellenistischen König Seleukos I. um 300 v. Chr. an der Mündung des Orontes gegründet, besaß Antiochia im 4. Jahrhundert n. Chr., als Johannes Chrysostomos dort wirkte, eine beachtliche wirtschaftliche und strategische Bedeutung. Unschwer gelangte man über das Meer in das kulturelle Zentrum Alexandria und in die Hauptstadt Konstantinopel, doch auch die persische Grenze lag nicht allzu fern. Hohe Beamte der Administration wie der Comes Orientis, der weite Teile der Levante kon­ trollierte, hatten hier ihren Sitz; immer wieder waren angesichts der Grenz­nähe Truppen in der Stadt stationiert, einige Kaiser wählten sie zeitweilig als Residenz und bauten sie prachtvoll aus. Antiochia bot vorzügliche Schulen, etwa für Rhetorik. Menschen aus der gesamten antiken Welt strebten in diese Stadt. Nach wie vor prägten alte Tempel der klassischen Götter öffentliche Plätze, Bäder boten vielfältige Annehmlichkeiten, der kaiserliche Palast stand für die politische Bedeutung.1 Besonderen Ruhm genossen die künstlich beleuchteten Straßen. Doch immer mehr christliche Kirchen zeugten von Glanz und Machtanspruch der neuen Religion. Wer die Stadt verließ, traf auf Asketen, die in den Hügeln und im Hinterland hausten und sich an Strenge überboten. Einige 1 Zur Stadt Gunnar Brands, Antiochia in der Spätantike. Prolegomena zu einer archäologischen Stadtgeschichte, Berlin, Boston 2016; Frauke Krautheim, Das öffentliche Auftreten des Christentums im spätantiken Antiochia. Eine Studie unter besonderer Berücksichtigung der Agonmetaphorik in ausgewählten Märtyrerpredigten des Johannes Chrysostomos, Tübingen 2018 (STAC 109).

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20 Hartmut Leppin gaben sich absonderlichen, qualvollen Praktiken hin, indem sie lange hungerten, Schlaf mieden, schwere Ketten mit sich schleppten oder aber lebenslanges Schweigen gelobten. Manche verkrochen sich in Höhlen, andere verbrachten ihr Leben auf Säulen, alle übten Keuschheit. Für die gläubigen Christen waren sie noch zu Lebzeiten Heilige, die Wunder wirken und helfen konnten, da sie Gott nahe schienen – wen störte es da, wenn sie kein ordentliches Griechisch sprachen, weil viele aus dem syrischsprachigen Umland kamen? Konkurrenzlos waren die Christen nicht: Eine florierende jüdische Gemeinde übte mit ihren lebendigen Ritualen auch auf Nicht-Juden eine große Anziehungskraft aus. Es überrascht nicht, dass immer wieder Konflikte aufloderten; antijüdische Stereotypen führten viele Christen im Munde und Übergriffe blieben nicht aus. Heiden gab es in allen Schichten, einige waren durchaus einflussreich. Doch mussten sie erleben, wie ihre Tempel durch die Obrigkeit geschlossen und bisweilen vom Mob attackiert wurden. Und die Christen standen sich selbst im Wege, denn sie waren untereinander zerstritten. Zeitweise agierten drei christliche Bischöfe nebeneinander in Antiochia, die sich gegenseitig zu Häretikern erklärten; persönliche Rivalitäten kamen hinzu. So war das 4. Jahrhundert für Antiochia eine Zeit des Glanzes und des Streites.2 Um 340 wurde Johannes geboren.3 Als Träger eines christlichen Namens wuchs er in dieser spannungsreichen Welt auf. Sein Vater, ein leidlich erfolgreicher Beamter, starb, als Johannes noch ein Kind war. Seine Mutter Anthusa blieb wohlhabend genug, um ihm eine sichere Kindheit und eine gute Ausbildung zu vermitteln. Er studierte bei Libanios, einem der berühmtesten Redner seiner Zeit, der paganen Vorstellungen treu blieb.4 Ob der Heide den künftigen Bischof tatsächlich als seinen begabtesten Schüler betrachtete, wie eine spätere Überlieferung (Sozomenus, Kirchengeschichte 8,2,2) behauptet, steht dahin, aber Sprachgewalt besaß Johannes, und er dürfte sie auch Libanios verdankt 2 Christine Shepardson, Controlling Contested Places. Late Antique Antioch and the Spatial Politics of Religious Controversy, Berkeley u. a. 2014. 3 Zu ihm John Kelly, Golden Mouth. The Story of John Chrysostom. Ascetic, Preacher, Bishop, Ithaca, New York 1995; Aideen Hartney, John Chrysostom and the Transformation of the City, London 2004; als Überblick über die jüngere Forschung vor allem zu den Predigten Chris De Wet und Wendy Mayer (Hgg.), Revisioning John Chrysostom. New Approaches, New Perspectives, Leiden, Boston 2019 (Critical Approaches to Early Christianity 1). Pauline Allen und Wendy Mayer, John Chrysostom, London 1999 verbindet eine Einführung mit einer durchdachten Textauswahl. 4 Heinz-Günther Nesselrath, Libanios. Zeuge einer schwindenden Welt, Stuttgart 2012.

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haben. Die rhetorische Ausbildung und seine Netzwerke hätten ihm den Weg in die Administration öffnen können. Dort waren diese Karrieren einigermaßen berechenbar, vermittelten Einkommen und Prestige. Weltlichen Ehrgeiz kannte Johannes durchaus und nährte auch ein leidenschaftliches Interesse am Theater, so berichtet er jedenfalls (Über das Priestertum 1,3 f.). Das alles hätte für den Weg in die Verwaltung gesprochen. Doch Johannes empfing noch andere Einflüsse. Er begegnete engagierten Christen, darunter dem Bischof Meletios, der ihn taufte. Johannes schloss sich damit der sogenannten nizänischen Richtung des Christentums an, die sich unter Theodosius dem Großen (379–395) durchsetzte und für die meisten Kirchen bis heute bestimmend bleiben sollte. Eine Taufe war für einen jungen, gut ausgebildeten Mann keine selbstverständliche Entscheidung. Denn angesichts der Sorge, man könne noch einmal sündigen, ohne dass die Taufe einen reinwusch, verschoben viele die Taufe bis nahe ans Lebensende, und wer ein weltliches Leben führte, musste damit rechnen, sich noch etwas zuschulden kommen zu lassen. Johannes ließ sich jetzt in theologische Fragen einführen. Vor allem aber: Er ging in die Wüste, fast wörtlich. Denn das Hinterland von Antiochia war eine höchst unwirtliche Gegend, keine Sandwüste wie die Sahara, aber ein trockenes, im Sommer heißes, im Winter eisiges Gebiet, wo die Asketen hausten. Die Entscheidung, sich ihnen anzuschließen, traf man selbst. Eine gesellschaftliche Schlüsselposition schloss man für sich damit eigentlich von vornherein aus, doch gesellschaftliche Macht erlangten die heiligen Männer durchaus; gerade weil sie demonstrativ keine diesseitigen Interessen verfolgten, besaß ihr Urteil Gewicht. Heilige Männer konnten selbst Kaiser in die Schranken weisen. In diese Welt zog es Johannes, doch es war nicht die seine. Die körperlichen Qualen, die unbekömmliche Nahrung setzten ihm zu, sein Gesundheitszustand verschlechterte sich, und so kehrte er nach sechs Jahren wieder in die Stadt zurück. Als Asket war er gescheitert. Gleichwohl lag nahe, einen rhetorisch begabten, frommen Mann wie ihn zum Priester zu machen. Doch verfasste er zunächst eine Schrift über das Amt, in der er dessen Bedeutung herausstrich, um seine mangelnde Eignung zu erweisen. Wie ernst das gemeint war, steht dahin. Zu den erwarteten Eigenschaften christlicher Kleriker gehörte es ja, dass sie ihr Amt demonstrativ nicht anstrebten. So konnte eine Ablehnung durchaus als Bewerbung gelesen werden. Jedenfalls ließ Johannes sich zum Diakon und 386 zum Priester weihen. Diese Personalentscheidung, die Weihe eines Priesters, lag in der Hand des

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22 Hartmut Leppin ­ ischofs, der die Kandidaten zu prüfen hatte. Allerdings gab es weder einen B formalisierten Karriereweg noch eine spezifische Ausbildung. Typischerweise bewährten die Kandidaten sich in niederen Ämtern, wie Johannes als Diakon. Als Priester wurde er zu einem beliebten Prediger, der seiner Gemeinde mit Strenge und rhetorischer Wucht ins Gewissen redete. Seine Worte trafen auf die Bevölkerung einer Stadt, die viel Luxus kannte. Antiochia begegnete er daher mit Ambivalenz: Es war der Raum, in dem er lebte und wirkte, doch es war ein Raum voller Versuchungen und Gefahren. Er strebte danach, sie den strengen Idealen eines christlichen Lebens zu unterwerfen.5 Etliche der Predigten sind erhalten, gewiss redigiert, aber doch mit der Anmutung von Unmittelbarkeit erfüllt. Als 387 Steuererhöhungen angekündigt wurden, brach ein Aufstand los, bei dem auch Statuen des Kaisers und seiner verstorbenen Frau umgestürzt wurden; das war Majestätsbeleidigung. Der Kaiser drohte, die Stadt gegenüber den Nachbarstädten abzuwerten und ihre Bedeutung zu zerstören. Angst ging um in Antiochia, während der Bischof, nunmehr Flavian, an den kaiserlichen Hof reiste, um bei Theodosius Gnade zu erwirken. Johannes hielt die Stellung und predigte, fast täglich, intensiv, unerbittlich. Verdient hätten die Antiochener eine Strafe angesichts ihrer Sünden, unter denen die Gewaltakte gegen die Statuen nicht einmal die schlimmsten seien, sondern die Sünden wider Gott; umkehren sollten sie, Buße tun, sich Gott anvertrauen, so predigte er. Am Ende konnte er vom Erfolg der Reise des Bischofs zum Kaiser berichten, ein großer Prestigegewinn seiner Gemeinde, dieses Bischofs gegenüber anderen Christen und anderen religiösen Gruppen.6 Der Wechsel von Mahnung und Trost scheint viele überzeugt zu haben. Offenbar goutierten die Christen Antiochias derartige Gemeindebeschimpfungen, zumal wenn es gut ausging. Johannes war es nicht nur erneut gelungen, seine Begabung als Prediger zu zeigen, sondern auch seine Fähigkeit zu beweisen, eine Gemeinde in Zeiten der Not zu führen. Wahrscheinlich war nun jeder von seiner Eignung für das Bischofsamt überzeugt. 5 Jan R. Stenger, Johannes Chrysostomos und die Christianisierung der Polis. »Damit die Städte Städte werden«, Tübingen 2019 (Studien und Texte zu Antike und Christentum 115). 6 Zu dem Ereignis Hartmut Leppin, Steuern, Aufstand und Rhetoren. Der Antiochener Steueraufstand von 387 in heidnischer und christlicher Sicht, in: Gedeutete Realität. Krisen, Wirklichkeiten, Interpretationen (3.–6. Jh. n. Chr.), hg. von Hartwin Brandt, Stuttgart 1999 (Historia ES 134), S. 103–123; Stenger, Johannes Chrysostomos, 174–237.

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Unbestreitbar war und ist seine glanzvolle Sprachbeherrschung, die ihm später den Beinamen Chrysostomos, Goldmund, eintragen sollte. Doch der goldene Mund transportierte manchen Schmutz. Ein anderer Predigtzyklus mehrte den Ruhm des Johannes bei Zeitgenossen und beschädigte seinen Ruf bei der Nachwelt. Er wird traditionell mit Adversus Iudaeos (Gegen die Juden) überschrieben. Tatsächlich enthalten die Homilien üble Beschimpfungen von Juden, die Johannes als rücksichtslose Feinde der Christen hinstellt. Seine tatsächlichen Gegner sind andere: nämlich Christen, die sich zu jüdischen Praktiken hingezogen fühlten, sei es, dass sie jüdischen Lebensregeln folgten, sei es, dass sie die Lebendigkeit der Synagogengottesdienste genossen oder aber den jüdischen Gott als strengen Wächter über Verträge zu schätzen wussten. Dieses Predigtcorpus sollte als ein Grundtext des christlichen Antijudaismus dienen und belegt zugleich die Attraktivität des Judentums zur Zeit des Johannes. Auch Heiden attackierte der Priester in vielen Predigten. Man sprach sogar von physischen Attacken und der Zerstörung von Heiligtümern unter seiner Führung, die die kaiserliche Gesetzgebung nicht erlaubte, die Regierungspraxis aber duldete. Die Aggressivität des Priesters zeigt, dass das Christentum noch längst nicht so stark war, wie er sich das vorstellte. Johannes Chrysostomos wirkte in einer Stadt, die religiös durchaus fluide war. Viele Antiochener wollten sich offenbar gar nicht eindeutig als Juden, Christen oder Heiden definieren lassen, sondern nahmen die unterschiedlichen religiösen Angebote flexibel wahr. Hier suchte Johannes zu polarisieren, indem er von den Gläubigen ein eindeutiges, alles andere ausschließendes Bekenntnis zum Christentum seiner, der nizänischen Richtung verlangte. Ihm sollte es auf diese Weise immer wieder gelingen, eine ergebene Anhängerschaft um sich zu scharen, eine potenziell disruptive Basis seiner Macht. In Antiochia aber blieben größere Konflikte aus; seinem Bischof Flavian gegenüber war er offenbar loyal und auch die weltlichen Eliten scheinen ihn geschätzt, zumindest ertragen zu haben. Der Ruhm des Johannes drang bis hin in die Hauptstadt Konstantinopel. Konstantinopel war älter als Antiochia, denn bereits um 660 v. Chr. hatten Griechen die Stadt als Byzantion gegründet, am Bosporus, wo Asien und Europa sich nähern. Alle Schiffe, die zwischen Ägäis und Schwarzem Meer Handel trieben, mussten durch die Meerenge fahren. Die Stadt erlangte dennoch nie eine größere Bedeutung, bevor Konstantin der Große sie 330 n. Chr. auf seinen Namen als Konstantinopel neu gründete. Sie entwickelte sich im 4. Jahrhun-

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24 Hartmut Leppin dert zur Hauptstadt des Reiches, in der seit Arcadius (395–408) die oströmischen Kaiser fest residierten. Konstantinopel war eine aufblühende, wachsende Stadt, die eine neue, reiche Elite besaß, deren Angehörige zu einem großen Teil über den Dienst am Kaiser aufgestiegen waren. Auch Konstantinopel hatte kirchliche Konflikte erlebt, aber nicht so heftige wie Antiochia; auch in Konstantinopel gab es Asketen, aber nicht die Radikalität des Asketentums, die man aus Syrien kannte. Lange Jahre, von 381–397, saß Nectarius auf dem Bischofsthron der Stadt. Er gehörte wie auch sein berühmterer Zeitgenosse Ambrosius von Mailand (im Amt 374–397) zu den ersten Bischöfen, die senatorischer Herkunft waren. Ambrosius ist berühmt dafür, dass er Kaiser ohne Scheu mit seiner Kritik an persönlichem Fehlverhalten konfrontierte, was man gerne mit seiner Sozialisation als selbstbewusster Angehöriger der Eliten in Verbindung bringt. Nectarius war ganz anders, gerade nicht konfrontativ, sondern ausgleichend, ein Mann von Lebensart. Er war auch anders als der Mailänder kein bedeutender Theologe. Dafür verstand er sich mit Geschick in der Hauptstadt zu bewegen und mit den Aristokraten Kontakt zu halten. So war seine Wirkung eher integrativ. Der Tod des Nectarius löste heftige Nachfolgekämpfe aus. Viele Angehö­ rige des lokalen Klerus machten sich Hoffnungen auf das Amt; der Bischof von Alexandria, Theophilos, versuchte Einfluss zu nehmen. Vielleicht war gerade das der Grund, warum man nach Antiochia blickte, wo Johannes sich so hervorgetan hatte. Dass der Hof, der offenbar einen wesentlichen Einfluss ausübte, an einem Bischof Interesse hatte, der berühmt, aber in der städtischen Gesellschaft nicht verankert war, liegt nahe. Denn ein solcher Amtsinhaber verschaffte der Stadt Glanz und war zugleich ganz auf den Hof angewiesen. Aufgrund des einmütigen Votums von Klerus und Volk ließ Kaiser ­Arcadius Johannes holen, berichtet der Kirchenhistoriker Sokrates (6,2,3). 398 empfing er die Weihe; Theophilos musste auch mitwirken. Sokrates erweckt, wenn er in kanonistischer Tradition von Klerus und Volk spricht, den Eindruck eines formalisierten Verfahrens; möglicherweise wollte er gerade dadurch den Druck vonseiten des Hofes verschleiern. Dies war nicht untypisch für spätantike Bischofserhebungen, die eine Semantik der prozeduralen Korrektheit mit einer Praxis politischer Einflussnahme verbanden.

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Der heilige Johannes Chrysostomos. Ikonenmalerei, nachbyzantinisch, ­frühes 16. Jahrhundert Doch Johannes sollte seine Förderer enttäuschen.7 Denn er besann sich auf seine eigentliche Machtressource, seine spirituelle Autorität, mit der er bestimmte Teile der Bevölkerung fest an sich band. Ihnen machten seine Radikalität und seine Abkehr vom aristokratischen Lebensstil Eindruck. Seine Kritik am Luxus erfreute die weniger Vermögenden und verdross die Reichen, bis auf wenige 7 Zu dieser Zeit Claudia Tiersch, Johannes Chrysostomus in Konstantinopel (398–404). Weltsicht und Wirken eines Bischofs in der Hauptstadt des Oströmischen Reiches, Tübingen 2002 (STAC 6); Wolfgang Liebeschuetz, Ambrose and John Chrysostom, Oxford 2011.

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26 Hartmut Leppin wie die Witwe Olympias. Sie hatte schon unter Theodosius I. (379–395) nach kurzer Ehe trotz kaiserlichem Drängen die Wiederverheiratung abgelehnt und aus ihrem gewaltigen Vermögen den Armen großzügig gespendet. In Johannes fand sie einen Wahlverwandten, für den sie eine Quelle von Finanzmitteln öffnete, die den Armen halfen und sie näher an ihn banden.8 Auch die gewöhnliche Bevölkerung tadelte er für ihre Freude am populären öffentlichen Unterhaltungsprogramm, an den unziemlichen Reizen des städtischen Lebens; doch auch so etwas begeisterte das Publikum. Die Eignungserwartungen gegenüber dem Bischof in der Stadt gingen offenbar weit auseinander. So schürte gerade sein weltfeindlicher Habitus das Misstrauen gegenüber Johannes. Einladungen zu Gastmählern lehnte er im Gegensatz zu seinem Vorgänger ab. Da sein asketischer Lebensstil auf Unverständnis stieß, berief er sich schließlich auf Magenprobleme. Der Hof hatte lange zu seinen Unterstützern gehört und erwartete offenbar Dankbarkeit. Doch Chrysostomos setzte sich gegen alle zur Wehr, die er als übergriffig betrachtete. Auch die Kaiserin war über seine Luxuskritik irritiert. Zudem attackierte er den mächtigen kaiserlichen Kammerherrn Eutrop, der den konfessionellen Gegnern des Chrysosto­ mos entgegenkam, überdies das Kirchenasyl einzuschränken suchte. Dieser Konflikt sollte Johannes einen großen symbolischen Triumph bescheren, denn schließlich fand Eutrop sich als Asylsuchender am Altar der Kirche des Johannes Chrysostomos wieder und musste sich dessen Predigt über seine Vergehen und über die Milde des Bischofs anhören. Wer Eutrop entmachtete, war eine andere einflussreiche Gestalt, die Chrysosto­mos sich zum Feind machte, ein gewisser Gainas, ein Militär fremder Herkunft, der mit seinen überwiegend gotischen Truppen Konstantinopel dominierte und die Regierung unter Druck setzte, bis hin eben zum Sturz Eutrops. Johannes griff ein, als Gainas für seine Truppen eine eigene, arianische Kirche forderte. Der Bischof setzte ganz auf seine spirituelle Autorität. Gainas ließ von dem Ansinnen ab. Doch geriet die Bevölkerung der Stadt immer mehr in Unruhe; ein Aufstand führte zum Tod von Tausenden Goten. Schließlich wurde Gainas von anderen römischen Truppen gotischer und hunnischer Herkunft besiegt. Gerade diese Episode zeigt die Möglichkeiten bischöflicher Macht und ihre Grenzen. Sie reichte weit über den Kirchenraum hinaus, aber sie brachte, anachronistisch ausgedrückt, kein allgemeinpolitisches Mandat. Das Handeln des 8

Heike Grieser, Olympias. In: Reallexikon für Antike und Christentum 26 (2015), S. 125–131.

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Bischofs hatte politische Auswirkungen; doch beruhte seine Autorität darauf, dass er den Eindruck erweckte, er schere sich nicht darum. Der Bischof war persönlich unangreifbar, doch verfügte er über keine Gewaltressourcen. Seine Unangreifbarkeit beruhte auf seiner Verletzlichkeit: Wer ihn tötete, machte ihn zum Märtyrer und verlor damit sein Gesicht. Es sei denn, man griff ihn auf seinem ureigenen Feld an, dem geistlichen. Und das sollte geschehen: Denn nicht nur in weltlichen Kreisen hatte ­Chrysostomos sich Feinde gemacht, sondern auch in kirchlichen. Viele Kleriker waren von seiner brüsken Art irritiert und fühlten sich in ihrem angenehmen Leben gestört, wenn er Korruption und Wohlleben in ihrer Welt beklagte; wer des Amtes in den Augen des Bischofs nicht würdig war, verlor seine Position. In der Stadt umherstreifende Mönche zwang er ins Kloster. Johannes bewies seine bischöfliche Autorität, die nicht allein auf seiner Amtsstellung beruhte, sondern auch auf seinem persönlichen Ansehen und auf seinen finanziellen Mitteln. Gegen die, die er als Glaubensabweichler ansah, ging er unnachsichtig vor. Die Nachbarbistümer erlebten den Hauptstadtbischof als übergriffig, denn er schreckte nicht vor der Absetzung des Bischofs von Ephesos zurück. Zu den Vorwürfen gegen Johannes gehörte überdies die Zweckentfremdung von kirchlichem Besitz. Das betraf, so sagten seine Freunde, Aufwendungen des Johannes für die Krankenfürsorge, die er vielleicht besten Gewissens vorgenommen hatte. Klagen über ihn trafen auf offene Ohren: Theophilos von Alexandria war nicht versöhnt. Er fühlte sich zusätzlich provoziert, als Chrysostomos Mönche, die wegen Fehlglaubens aus Ägypten vertrieben worden waren, freundlich empfing und bei Olympias unterbrachte. Johannes setzte weiter auf sein Charisma und auf die Unterstützung des Hofes; gerade die Kaiserin hielt ihm trotz aller persönlicher Attacken lange die Treue. So wurde für 403 eine Synode nach Chalkedon in der Nähe von Konstantinopel einberufen, eine der eigenartigsten ihrer Art, die unter dem Namen Eichensynode bekannt wurde, da sie auf einem Gut dieses Namens stattfand. Unter Vorsitz des Chrysostomos sollte Theophilos sich für seine Handlungen verantworten, Konstantinopel sollte über Alexandria richten. Doch damit hatte Chrysostomos sich übernommen. Theophilos kam in die Hauptstadt, unterstützt durch eine starke Schar von Anhängern und auch versehen mit Bestechungsgeldern, wie seine Gegner suggerieren (Palladios, Dialog über das Leben des Johannes Chrysostomos 8). Er begann Chrysostomos zu attackieren. Er drehte die Versammlung, indem

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28 Hartmut Leppin er seine ägyptischen Anhänger um sich scharte. Die Wut über den so strengen, so kämpferischen Bischof von Konstantinopel brach sich Bahn. Jetzt hielt Theophilos über Johannes Gericht, Alexandria über Konstantinopel. Johannes weigerte sich, vor dieses Tribunal zu treten – und konnte gerade deswegen verurteilt werden, mit Zustimmung des Kaisers. Er wurde abgesetzt und verbannt. Proteste der Anhänger des Chrysostomos folgten; man sprach auch von Zeichen Gottes, einem Erdbeben oder einer Fehlgeburt der Kaiserin. Jedenfalls holte man den Bischof eilends zurück: Ein Triumph. Der nur kurz währte. Denn Johannes ließ in seinen Kämpfen nicht nach, sodass er bereits 404 endgültig verbannt wurde, mit der (formal korrekten) Begründung, dass er nach seiner Rückkehr ohne Synodalbeschluss wieder zu predigen begonnen habe. Viele Briefe an seine Anhänger in der Hauptstadt, namentlich an Olympias, schreibend, wurde er, gesundheitlich angegriffen, in immer unwirtlichere Gegenden transportiert. Er vermisste Ärzte und das tägliche Bad. Zunächst war Kukusa im östlichen Kleinasien sein Verbannungsort, doch bald kam der Befehl, dass er noch weiter nach Norden ziehen musste. Auf dem Weg starb er 407. Als Mönch scheiterte Johannes an sich selbst, als Priester war er erfolgreich und begründete eine kirchliche Karriere. Aufgrund seiner intellektuellen Autorität, die sich mit Rigorosität verband, galt er als Kandidat für das Bischofsamt, doch erwies er sich nach den in Konstantinopel herrschenden Auffassungen als ungeeigneter Amtsinhaber. Denn die diplomatischen und sozialen Funktionen, die man in der Kapitale mit dem Bischofsamt verband, wusste er nicht auszufüllen. Offenbar waren die entsprechenden Erwartungen unausgesprochen geblieben. Die Rolle des »Starpredigers« im reichen Antiochia schien ihn hinreichend für die glanzvolle Aufgabe des hauptstädtischen, dem Kaiser wie den Eliten nahen Bischofs vorzubereiten. Doch beruhte diese Rolle gerade auf der Rigorosität, die es ihm nicht erlaubte, sich in die luxuriöse Welt Konstantinopels zu integrieren. Hätte er das getan, wäre er charakterlich gescheitert und unglaubwürdig geworden. Insofern stand er, vermutlich ohne es vorher zu wissen, mit der Berufung in die Hauptstadt vor einem unlösbaren Dilemma, das in den widersprüchlichen Anforderungen eines Bischofsamtes in einer sozial angesehenen und reichen Kirche lag: Betstuhl und Bankett waren nicht leicht zu vereinbaren. Die amtlichen und die spirituellen Funktionen standen in einer unauflöslichen Spannung, in der Person des Johannes, aber auch im Bischofsamt als solchem. Indem man davon ausging, dass Gott auf das Verfahren der Bischofs-

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Johannes Chrysostomos – ­Bischof zwischen Scheitern und Heiligung

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erhebung Einfluss nahm, hoffte man, das Dilemma zu beseitigen und gerade durch ein Verfahren denjenigen zu identifizieren, der geeignet war.9 Doch in der Praxis bewährte sich das nicht, und viele Bischöfe gaben sich mit ihren administrativen und finanziellen Funktionen Blößen, die es leicht machten, sie auf der spirituellen Ebene zu kritisieren. Zu Lebzeiten war Johannes an diesen Dilemmata gescheitert. Doch war er wirklich gescheitert? 438 holte der Sohn von Eudoxia und Arcadius, Theodosius II., die Reliquien des Verbannten nach Konstantinopel zurück, wo sie höchste Verehrung erfuhren. Johannes Chrysostomos galt als Heiliger und ist es fortan in den Augen vieler Kirchen geblieben. Was konnte es Größeres geben für einen frommen Christen? Damit war aus frommer Sicht alles weltliche Scheitern kompensiert.

9 Zu diesen Dilemmata Hartmut Leppin, Personalentscheidungen und Kontingenzbewältigung unter frühen Christusanhängern, in: Ermöglichen und Verhindern. Vom Umgang mit Kontingenz, hgg. von Markus Bernhardt, Stefan Brakensiek und Benjamin Scheller, Frankfurt am Main 2016, S. 49–81; ders., Zu den Anfängen der Bischofsbestellung, in: Personalentscheidungen für gesellschaftliche Schlüsselpositionen. Institutionen, Semantiken, Praktiken, hg. von Andreas Fahrmeir, Berlin, Boston 2017 (HZ, Beih. 70), S. 33–53.

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Mundo und Smbat ­Bagratuni – Meritokratie und ­Diversität im ­römischen Heer des 6. ­Jahrhunderts Dawid Wierzejski

Mundo Im Jahre 529 n. Chr.1 konnte der oströmische Kaiser Justinian (reg. 527–565)2 einen wichtigen diplomatischen Erfolg für sich verbuchen, als er den gepidischen Prinzen und Warlord Mundo in seine Dienste nahm. Dieser hatte seine Basis an einem nicht näher präzisierten Ort »an der Donau« an der oströmischen Grenze in Illyrien – im heutigen Grenzgebiet zwischen Ungarn und Serbien.3 Der Kaiser ließ diesen Erfolg durch amtliche Mitteilungen im gesamten Oströmischen Reich verlautbaren, und eines dieser Schreiben wurde vom Beamten der kaiserlichen Verwaltung im syrischen Antiochia (heute Antakya 1 Alle Jahreszahlen beziehen sich fortan auf die Zeit nach Christi Geburt. 2 Als Überblick Hartmut Leppin, Justinian. Das christliche Experiment, Stuttgart 2011, sowie mit anderen Interpretationen Mischa Meier, Das andere Zeitalter Justinians. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n. Chr, Göttingen 2003; Peter Heather, Rome Resurgent. War and Empire in the Age of Justinian, Oxford 2018; Michael Maas (Hg.), The Cambridge Companion to the Age of Justinian, Cambridge 2005. 3 Joh. Mal. XVIII.46 (379), ediert bei Ioannis Malalae Chronographia, rec. Johannes Thurn (CFHB 35), Berlin, New York 2000 (fortan Joh. Mal.), deutsche Übers.: Johannes Malalas, Weltchronik, übers. von Johannes Thurn und Mischa Meier, Stuttgart 2009 (Bibliothek der Griechischen Literatur 69).; Theoph. AM 6032 (S. 218–219) ediert bei Theophanis Chronographia, rec. Carolus de Boor. Leipzig 1887 (ND Hildesheim,  New York 1980) (fortan Theoph.). Zur Rekrutierung Mundos siehe Alexander Sarantis, Justinian’s Balkan Wars. Campaigning, Diplomacy and Development in Illyricum, Thrace and the Northern World A. D. 527–565, Prenton 2016 (ARCA 53), S. 51–54.

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in der Türkei), Johannes Malalas,4 als Quelle für einen Eintrag in seiner Weltchronik verwendet.5 Justinian empfing Mundo und dessen Sohn an seinem Hof in Konstantinopel, wo beide geehrt und beschenkt wurden, außerdem wurde Mundo zum Magister Militum per Illyricum (Heermeister für Illyrien) ernannt, zum Kommandeur des Feldheeres im Gebiet Illyriens,6 was vom Umfang ungefähr dem ehemaligen Jugoslawien mit Albanien und Teilen Griechenlands entspricht. Dies war eines der höchsten militärischen Ämter im Oströmischen Reich, in dem es zwischen fünf und sechs Heermeister gab. Diese waren: Die zwei präsentalen Heermeister (praesentales), deren Truppen um die Hauptstadt Konstantinopel stationiert waren, ein Heermeister für den Osten (per Orientem), der für Truppen zwischen dem Kaukasus und Palästina verantwortlich war, ein Heermeister für Thrakien (per Thracias), im Gebiet des heutigen Bulgariens, ein Heermeister für Illyrien, und zeitweise gab es auch einen Heermeister für Armenien (per Armeniam), der für den römischen Teil des Kaukasus zuständig war.7 Und dieses hohe Amt wurde nun einem Mann von außerhalb des Reiches verliehen. Seine Karriere und der historische Kontext erlauben Einblicke in den Umgang mit Diversität – im Sinne heterogener Abstammung und kultureller Identität – und der Bedeutung von Meritokratie im römischen Heer der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts. Dazu empfiehlt es sich, die Karriere Mundos näher zu betrachten. Mundo wurde um 480 als Sohn eines Königs der Gepiden geboren.8 Die Gepiden waren ein germanischer Volksverband, der zur Konföderation unter Führung des Hunnenkönigs Attila gehörte. Nach dessen Tod im Jahr 453 lösten sie sich von der hunnischen Vorherrschaft und führten eine eigene Koalition gegen die Söhne Attilas, die sie 454 entscheidend schlagen konnten und sich daraufhin im früheren Kerngebiet des Hunnenreiches im heutigen Ungarn

4 Brian Croke, Malalas, the Man and his Work, in: Studies in John Malalas, hgg. von Elizabeth Jeffreys, Brian Croke und Roger Scott, Sydney 1990, S. 1–25. 5 Sarantis, Justinian’s Balkan Wars, S. 51. 6 Theoph. AM 6032 (218–219). 7 Clemens Koehn, Justinian und die Armee des frühen Byzanz, Berlin, Boston 2018 (Millenium-Studien 70), S. 10–38; Alexander Demandt, s. v. »Magister militum«, in: RE Suppl. XII (1970), Sp. 553–790. 8 Zur Biografie Brian Croke, Mundo the Gepid. From Freebooter to Roman General, in: Chiron 12 (1982), S. 125–135, bes. S. 134–135. Siehe auch John Robert Martindale, The Prosopography of the Later Roman Empire vol. IIIA–B, s. n. »Mundus«, S. 903–905 (fortan erscheint das ganze Werk als PLRE IIIA/B).

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32 Dawid Wierzejski a­ nsiedelten.9 Mundos Vater starb, als dieser noch jung war, und so geriet er unter die Vormundschaft seines Onkels Trapstila (griechische Quellen nennen ihn Thraustila), der die Königsherrschaft übernahm. Auch nach dessen Tod im Kampf gegen das nach Italien ziehende Heer der Ostgoten unter Theoderich Amalus (auch als »der Große« bekannt) scheint Mundo noch zu jung für die Herrschaft gewesen zu sein, denn Trapstilas Sohn, Trasarich, übernahm seine Nachfolge als König. Um 500 floh Mundo aus dem Herrschaftsbereich der Gepiden und setzte sich an der Spitze einer eigenen Heerschar in der Nähe der römischen Grenze an der Donau fest; von dort aus fiel er durch Überfälle auf römisches Territorium seinem mächtigen Nachbarn unangenehm auf. Die Ursachen der Flucht Mundos werden in den Quellen nicht genannt, es sind aber zwei Szenarien denkbar. Nach einem davon floh er vor seinem Cousin Trasarich, der in ihm eine Gefahr für die eigene Herrschaft sah und ihn eliminieren wollte. Die zweite Möglichkeit ist, dass Mundo selbst einen erfolglosen Versuch unternommen hatte, nach der Macht bei den Gepiden zu greifen und infolge des Scheiterns das Reich der Gepiden verlassen musste. Der im 6. Jahrhundert in Konstantinopel wirkende Autor gotischer Herkunft Jordanes beschreibt Mundo in dieser Zeit, als sei dieser nicht mehr als ein Vagabund gewesen, der einer Gruppe von Räubern und Dieben vorstand, was er aus römischer Perspektive sicherlich auch war.10 Diese Stilisierung Mundos als eines Vagabunden wurde vielfach von der modernen Forschung übernommen.11 Dennoch ging seine Bedeutung weit über die eines Räuberhauptmanns hinaus, denn er konnte sich mit dem ostgotischen Königreich von Italien verbünden und an der Spitze seiner Leute und gotischer Verstärkungen ein ge9 Walter Pohl, Die Gepiden und die Gentes an der mittleren Donau nach dem Zerfall des Attilareiches, in: Die Völker an der mittleren und unteren Donau im fünften und sechsten Jahrhundert, hgg. von Herwig Wolfram und Falko Daim, Wien 1980 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl. Denkschriften 145), S. 239–305; Anna Kharalambieva, Gepids in the Balkans. A Survey of the Archaeological Evidence, in: Neglected Barbarians, hg. von Florin Curta, Turnhout 2010 (Studies in the Early Middle Ages 32), S. 245–262. 10 Jord., Get. LVIII, 301 (135): »[P]lerisque abactoribus scamarisque et latronibus undecumque collectis […] regem se suis grassatoribus fecerat«. Edition: Iordanis Romana et Getica, rec. Theodor Mommsen (MGH, AA 5,1), Berlin 1882. Vgl. Stanislav Doležal, Who was Jordanes?, in: Byzantion 84 (2014), S. 145–164; Lieve van Hoof und Peter van Nuffelen, The Historiography of Crisis. Jordanes, Cassiodorus and Justinian in Mid-Sixth-Century Constantinople, in: Journal of Roman Studies 107 (2017), S. 275–300. 11 Exemplarisch Pohl, Gepiden, S. 293 und Herwig Wolfram, Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie, München 52009, S. 321; Croke, Mundo.

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gen ihn ausgesandtes römisches Heer von circa 10 000 Mann besiegen.12 Sein Sieg und sein Eintritt in den Dienst des Ostgotenkönigs Theoderich – desselben Herrschers, der für die Niederlage und den Tod seines Onkels Trapstila verantwortlich war – verschoben außerdem die strategische Balance im westlichen Balkan zu Gunsten der Goten und bremsten eine Konsolidierung der oströmischen Herrschaft in diesem Gebiet.13 Über seine Karriere in den Diensten Theoderichs verraten die Quellen zwar keine Details, aber er scheint seine Identität als gepidischer Prinz nicht aufgegeben zu haben. Allgemein scheint die ethnische Identität in dieser Zeit oftmals unscharf definiert und bis zu einem gewissen Grad veränderlich gewesen zu sein.14 Da der Volksverband, der als die Ostgoten bekannt wurde, mindestens zwei distinkte Gruppen mit gotischer Identität umfasste, die erst nach 481 zu einem Volk zu verschmelzen begannen, wäre es durchaus denkbar gewesen, dass Mundo ein »Gote« hätte werden können.15 Nach dem Tod seines Dienstherren Theoderich siedelte er sich wieder im römischen Grenzgebiet an der Donau an; von dort aus wurde er wiederum im Jahr 529 von Justinian in den oströmischen Militärdienst berufen.16 Schon bald nach der Rückkehr vom zeremoniellen Empfang beim Kaiser konnte er seine Fähigkeiten als Kommandeur unter Beweis stellen, indem es ihm gelang, einen Einfall von »Hunnen mit einer großen Menge verschiedener Barbaren« erfolgreich abzuwehren.17 Im darauffolgenden Jahr (530) konnte 12 Marc. Com., Chron. s. a. 505 (96, 23–29). Edition: Chronica Minora saec. IV, V, VI, VII, rec. T. MOMMSEN (MGH, AA 11), 37–108. 13 Sarantis, Justinian’s Balkan Wars, S. 53. 14 Die Debatte um ethnische Identitäten wurde 1969 durch Frederik Barth (Hg.), Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Ethnic Difference, Boston 1969 angestoßen und wird bis heute fortgeführt, vgl. Geoffrey Greatrex, Roman Identity in the Sixth Century, in: Ethnicity and Culture in Late Antiquity, hgg. von Stephen Mitchell und Geoffrey Greatrex, London 2000, S. 267–292; Peter Heather, Empires and Barbarians. The Fall of Rome and the Birth of Europe, Oxford, New York 2009, S. 240–245. 15 Wolfram, Goten, S. 268–278. 16 Joh. Mal. XVIII.46 (378–379) und Theoph. AM 6032 (219). Diese Berichte lassen Mundo die Initiative ergreifen und den Kaiser um die Aufnahme bitten, um den Kaiser nicht als Bittsteller eines »barbarischen« Warlords erscheinen zu lassen. Sarantis, Justinian’s Balkan Wars, S. 51 f. 17 Joh. Mal. XVIII.46 (379), Übers. S. 469. Bei Theoph. AM 6032 (219) sind es Bulgaren; das verweist jedoch auf die Zeit der Abfassung im frühen 9. Jahrhundert, als die Bulgaren der Feind des Byzantinischen Reiches auf dem Balkan waren. Es gab auch in der Zeit Justinians nomadische Gruppen, die als Bulgaren bezeichnet wurden, aber diese wurden in den Texten der Zeit klar von den Hunnen unterschieden. So auch bei Joh. Mal. XVI.16 (329). Vgl. Sarantis, Justi­ nian’s Balkan Wars, S. 57, Anm. 205.

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34 Dawid Wierzejski Mundo gleich zwei Siege verbuchen: In Thrakien nahm seine Feldarmee, die eigentlich für das westlich davon liegende Illyrien zuständig war, an der erfolgreichen Abwehr eines Einfalls von Bulgaren teil, und er besiegte in seinem eigenen Amtsbereich eine Armee von Gepiden18 – dies lässt annehmen, dass in dieser Zeit die ethnische Identität nicht mit politischer Loyalität gleichzusetzen ist. Für sein Ansehen beim Kaiser und der politischen und militärischen Elite des Reiches war jedoch der Sieg über die Bulgaren sicherlich von größerer Bedeutung, denn er wurde mit einem feierlichen Triumph in der Hauptstadt gefeiert, bei dem die gefangenen Feinde dem Volk vorgeführt wurden.19 Sie wurden danach in die römische Armee eingegliedert und an die Front im Kaukasus geschickt, wo ein Krieg gegen das persische Reich der Sasaniden tobte.20 Da die Lage auf dem Balkan nach den Siegen von 529 und 530 fürs Erste beruhigt war, wurde Mundo zum Kommandeur der Feldarmee des Ostens ernannt, die gegen die Perser operierte. Der bisherige Befehlshaber, Belisar, war nach seiner Niederlage bei Kallinikon und der darauffolgenden amtlichen Untersuchung seines Postens enthoben worden.21 Der gepidische General hatte sich hingegen als Heerführer bewiesen und wir können annehmen, dass ihn der Kaiser nun als bewährt genug ansah, um ihm einen weiteren wichtigen Posten anvertrauen zu können und das Potenzial für den – auch innenpolitisch wichtigen – Krieg im Osten zu nutzen.22 Bevor Mundos Fähigkeiten gegen die Perser auf die Probe gestellt werden konnten, wurden allerdings Friedensverhandlungen aufgenommen, sodass er gar nicht erst zu seiner neuen Armee gelangte und den Winter 531/532 in der Hauptstadt verbrachte. Hier nahm er an der blutigen Unterdrückung eines Aufstands

18 Marc. Com., Chron. s. a. 530 (103). Vgl. Sarantis, Justinian’s Balkan Wars, S. 56–57 mit 56, Anm. 204. 19 Theoph. AM 6032 (219). Brian Croke, Justinian’s Bulgar Victory Celebration, in: Byzantinoslavica 41 (1980), S. 188–195. 20 Geoffrey Greatrex, Rome and Persia at War. 502–532, Leeds 1998 (ARCA 37); Touraj Daryaee, Sasanian Persia. The Rise and Fall of an Empire, London 22013; Zeev Rubin, The Sasanid Monarchy, in: The Cambridge Ancient History vol. XIV. Late Antiquity. Empire and Successors, A.D. 425–600, hgg. von Averil M. Cameron, Bryan Ward-Perkins und Michael Whitby, Cambridge 2000, S. 638–661; Arthur Christensen, L’Iran sous les Sassanides, Kopenhagen ²1944. 21 Vgl. Greatrex, Rome and Persia, S. 195–198 und Dariusz Brodka, Prokopios und Malalas über die Schlacht bei Callinicum, in: Classica Cracoviensia 14 (2011), S. 71–93. 22 Zur innenpolitischen Bedeutung des Krieges mit Persien siehe Heather, Rome Resurgent, S. 97–98, 103–108.

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gegen die Herrschaft Justinians teil – des sogenannten Nika-Aufstands.23 Dieser Aufstand stellte eine so große Gefahr für den Kaiser dar, dass Justinian sogar die Flucht erwogen haben soll. Ein politischer Konkurrent, H ­ ypatios,24 der Neffe des 518 verstorbenen Kaisers Anastasios, wurde zum Gegenkaiser ausgerufen und nur der kombinierte Einsatz von massiver militärischer Gewalt – es sollen über 30 000 Menschen ums Leben gekommen sein – und Bestechung eines Teils der rebellierenden Bevölkerung konnte Justinian das Leben und den Thron retten. Dabei hatte Mundo einen Teil der Truppen geführt, die am Massaker im Hippodrom, der Wagenrennbahn, teilgenommen hatten.25 Es wäre an dieser Stelle falsch anzunehmen, dass Mundo für diese ­blutige Aufgabe ausgewählt wurde, weil er von jenseits der Reichsgrenzen stammte und damit als Fremder besonders skrupellos gegen die Bevölkerung der Hauptstadt vorgehen würde. Die anderen Kommandeure der an der Unterdrückung der Rebellion beteiligten Truppen waren allesamt von Geburt Römer, also Männer, die auf dem Gebiet des Reiches geboren wurden.26 Mundo war einfach vor Ort, als fähige und loyale Offiziere gebraucht wurden. Die Loyalität dem Kaiser gegenüber sollte an dieser Stelle betont werden, da einige der in Konstantinopel stationierten Gardeeinheiten sich der ganzen Situation gegenüber abwartend verhielten und Justinian auf Generäle der Feldtruppen und deren bewaffnete Gefolgschaften vertrauen musste.27 Diese war aber weniger von ethnischer oder kultureller Identität geprägt als von der persönlichen Einstellung zum Herrscher. Es ging hierbei nicht um reine Loyalität um ihrer selbst willen, sondern auch um die eigenen Zukunftsperspektiven. Im Falle eines Herrschaftswechsels mussten die Beteiligten befürchten, ihre Posten, ihren Reichtum und ihren Zugang zur Macht zu verlieren, wenn nicht sogar noch mehr – ihr Leben eingeschlossen. Deshalb war es auch in ihrem Interesse, die kaiserlichen Befehle auszuführen. 23 Vgl. Geoffrey Greatrex, The Nika Riot. A Reappraisal, in: Journal of Hellenic Studies 117 (1997), S. 60–86; Mischa Meier, Die Inszenierung einer Katastrophe. Justinian und der NikaAufstand, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 142 (2003), S. 273–300. 24 John Robert Martindale, The Prosopography of the Later Roman Empire. Vol. II. A. D. 395– 527, Cambridge 1980, hier: s. n. Hypatius 6: 577–581 (fortan PLRE II). 25 Joh. Mal. XVIII.71 (394–400); Theoph. AM 6024 (181–186); Chron. Pasch. s. a. 531 (621– 629) Edition: Chronicon Paschale, rec. Ludwig August Dindorf (CSHB), Bonn 1832; Prok., Bella I.24, Edition: Procopii Caesariensis Opera omnia, rec. Jakob Haury, Leipzig 1905–1913 (ND mit Ergänzungen von Gerhard Wirth, Leipzig 1962–1964). 26 Joh. Mal. XVIII.71 (398). Der Bericht des Prokopios über das Massaker im Hippodrom (Bella I.24, 40–54) konzentriert sich auf Mundo und Belisar. 27 Prok., Bella I.24, 39.

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36 Dawid Wierzejski Danach wurde Mundo wieder zum Magister Militum per Illyricum bestellt – also auf seinen Posten zurückgeholt.28 Der Krieg mit Persien ging im Jahre 532 mit dem Abschluss eines »Ewigen Friedens« zu Ende, somit wurde dieser bewährte und fähige Kommandeur nicht mehr im Osten gebraucht, während die Grenze auf dem Balkan aufgrund der instabilen Verhältnisse jenseits des Reiches ständig bedroht war. Die Bedeutung des Illyricums sollte im Laufe der 530er-Jahre steigen, als Justinian zur Eroberung des gotischen Reiches in Italien schritt. Dieser Krieg begann im westlichen Balkan, als Mundo den Auftrag erhielt, das von den Goten beherrschte Dalmatien zu besetzen, was ihm auch schnell gelang. Der gotische König Theodahat entsandte daraufhin das Gros seiner Feldstreitkräfte gegen Mundo. Das zeigt, dass der strategische Schwerpunkt in der Anfangsphase des Krieges in Illyrien lag, da die zweite römische Heeresgruppe unter dem 533 wieder rehabilitierten Belisar, die von Sizilien aus in Italien vorrückte, nur auf den Widerstand befestigter Städte traf. Sie war auch zahlenmäßig kleiner als die Truppen Mundos  – circa 11 500 gegenüber circa 15 000 Mann.29 Der gotischen Feldarmee gelang es, die römische Vorhut unter Führung von Mauricius, dem Sohn von Mundo, zu zerschlagen und Mauricius zu töten. In der darauffolgenden Schlacht konnte die römische Armee unter Mundo die Goten zwar schlagen, aber er selbst fiel bei der Verfolgung der fliehenden Feinde, was zum Rückzug der Römer führte.30 Eine römische Gegenoffensive konnte die Goten 536 aus Dalmatien vertreiben und die Provinzhauptstadt, Salona (heute Solin in Kroatien) einnehmen.31 Der bisherige Überblick der Karriere Mundos zeigt, dass ein fähiger und ­loyaler Kommandant in der Zeit Justinians – unabhängig von seiner Herkunft – im römischen Militär die höchsten Ämter erreichen konnte. Ein Blick in die Beamtenlisten (Fasten) des dritten Bandes der Prosopography of the ­Later Roman Empire verdeutlicht,32 dass Mundo keine Ausnahme war, denn es gibt dort zahl28 Er hat diesen Rang im Jahre 535 (Prok., Bella V.5, 2), ohne dass eine zeitnahe Ernennung erwähnt wird. 29 Sarantis, Justinian’s Balkan Wars, S. 89–90. Dies ist wichtig anzumerken, da die Darstellung von Prokopios, der wichtigsten Quelle für den Krieg um Italien, sich auf Belisar konzentriert, in dessen Stab der Autor diente. Diesen Fokus übernahm auch der Großteil der modernen Forschung. So z. B. Leppin, Justinian, S. 163; Heather, Rome Resurgent, S. 152 f. 30 Prok., Bella V.7, 1–6. 31 Prok., Bella V.7, 26–37. 32 Die Listen der verschiedenen Magistri militum (nach Amtsbereichen aufgeteilt) bei PLRE IIIB, S. 1499–1506.

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reiche Personen, die von außerhalb des Reiches kamen, um römische Armeen zu führen – oftmals auch gegen ihre Stammesgenossen. Es gibt sicherlich mehrere Ursachen für diese Entwicklung, aber keine Hinweise für ein dahinterstehendes Gesamtkonzept seitens des Kaisers. Im Falle Mundos und seines Vorgängers im Amt des Magister Militum per Illyricum, des Hunnen Askum, scheinen kurz- und mittelfristige politische Erwägungen Justinian zu ihrer Rekrutierung bewogen zu haben. Mit der Rekrutierung Mundos neutralisierte der Kaiser einen potenziellen Unruheherd an einer ohnehin unsicheren Grenze. Darüber hinaus konnte er diesen diplomatischen Erfolg innenpolitisch nutzen, um sich als einen effizienten Herrscher zu präsentieren und Konsens zu generieren. Das war besonders in der frühen Phase seiner Regierung wichtig, denn er hatte mit einer starken Opposition seitens der etablierten Eliten zu rechnen.33 Und dabei hat er einen fähigen und erfahrenen Kommandeur für seine Armee gewonnen. Hinsichtlich der Fähigkeiten Mundos, eine römische Armee zu kommandieren, waren diese zum Zeitpunkt der Rekrutierung noch unbewiesen, aber Mundo hatte viel Erfahrung im militärischen Dienst unter Theoderich sammeln können, was Justinian (oder seinen Beratern) nicht entgangen sein dürfte. Aus der Perspektive Mundos scheint der Dienst im römischen Heer attraktiv gewesen zu sein. Als gepidischer Thronprätendent und unabhängiger Akteur war seine Situation um 529 sicherlich prekär. Der amtierende König der Gepiden wird ihn als eine konstante Gefahr für die eigene Herrschaft angesehen haben, was das Risiko eines Anschlags oder militärischen Angriffs seitens der Gepiden für Mundo erhöhte. Sein Gefolge wird ihm ein Minimum an Sicherheit gegeben haben, aber dieses konnte nur durch Geschenke und eine regelmäßige Versorgung zusammengehalten werden. Die Quellen geben keine Kenntnis über Mundos Leben in der Zeit zwischen dem Ende seines Dienstes bei den Goten und seiner Erhebung zum Heermeister durch Justinian, aber es ist zu vermuten, dass er in einer ähnlichen Situation wie um 505 gewesen sein dürfte, als er durch Raub Reichtum und Prestige sammeln musste, ohne die die Loyalität seiner Gefolgschaft nicht aufrechtzuhalten gewesen wäre. Der Posten eines römischen Generals brachte eben genau diesen Reichtum als auch das Prestige mit sich, das Mundo auf lange Sicht für sein Überleben brauchte. 33 Zu den weiteren Maßnahmen gehörte auch die Kompilation des Corpus Iuris, einer Sammlung kaiserlicher Gesetze und Rechtskommentare, deren erster Teil (Codex Iustinianus, die Sammlung der Gesetze) schon 529 herausgegeben wurde, was von Justinian als großer Erfolg gefeiert werden konnte. Vgl. Heather, Rome Resurgent, S. 99–102.

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Smbat Bagratuni und armenische Adelige ­unter ­Kaiser Maurikios Die Rekrutierung armenischer Adeliger in den römischen Militärdienst unter Kaiser Maurikios (reg. 582–602),34 wofür die Karriere von Smbat B ­ agratuni als Beispiel genommen wird, fand in einem ganz anderen Kontext statt als der Dienst Mundos unter Kaiser Justinian. Dieser Kaiser suchte fähige Kommandeure für seine Armeen, und die Rekrutierung von Warlords fremder Herkunft konnte ihm diese verschaffen und darüber hinaus auch die Risiken für die Grenzen seines Reiches vermindern, indem potenziell gefährliche Gruppen in den eigenen Dienst genommen wurden. Entwicklungen außerhalb des Reiches haben die Ausgangslage, die das Vorgehen Justinians möglich und notwendig machte, stark verändert. Das Reich der Gepiden wurde 567 von einer Koalition aus Langobarden35 und Awaren36 zerschlagen, und die Langobarden verließen bald darauf die gefährliche Nachbarschaft zu den neu angekommenen Nomaden und ihren bisherigen Verbündeten, den Awaren, um sich nach Italien zu begeben, um die Besitzungen des Römischen Reiches anzugreifen und sich dort niederzulassen. Daraus resultierte ein nahezu endloser Krieg auf der Halbinsel, der einige der Ressourcen des Reiches band. Die neuen Verhältnisse auf dem Balkan führten ebenfalls zu einem nahezu ständigen Krieg an dieser Grenze, da sich die Awaren zu Gegnern des Reiches wandelten. Es ging ihnen dabei um Beute und die Erpressung von Tributen.37 Direkte Angriffe der Awaren kamen bis ins 7. Jahrhundert nicht oft vor, aber das größere Problem stellten die den awarischen Herrschern zumindest nominell unterstellten slawischen Gruppen dar, die sich in den teilweise verlassenen Gebieten an der römischen Grenze niederließen und das Territorium des Reiches durch häufige Einfälle verwüsteten.38 Schließlich wurde unter Kaiser Justin II. (reg. 34 Vgl. Michael Whitby, The Emperor Maurice and his Historian. Theophylact Simocatta on Persian and Balkan Warfare, Oxford 1988. 35 Walter Pohl und  Peter Erhart (Hgg.), Die Langobarden. Herrschaft und Identität, Wien 2005 (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 9 = Denkschriften der phil.-hist. Kl. der österr. Ak. d. Wiss. 329). 36 Walter Pohl, Die Awaren. Ein Steppenvolk im Mitteleuropa, München ²2002. 37 Pohl, Awaren, S. 205–215; Whitby, Maurice, S. 59–191. 38 Vgl. Florin Curta, The Making of the Slavs. History and Archaeology of the Lower Danube Region, c. 500–700, Cambridge 2001, dessen Thesen zur Ethnogenese der Slawen allerdings umstritten sind, sowie Eduard Mühle, Die Slawen im Mittelalter. Zwischen Idee und Wirklichkeit, Köln 2020.

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565–578)39 der 562 von Justinian beendete Krieg gegen Persien wieder aufgenommen, wobei Rom zahlreiche Rückschläge erlitt. In dieser Situation griff Kaiser Maurikios auf die personellen Ressourcen der armenischen Aristokratie zurück. Um 589 wurden dabei die Armenier Sahak Mamikonian und Smbat Bagratuni mit einem Gefolge von jeweils 1.000 Mann rekrutiert und für den Krieg auf dem Balkan vorgesehen. Die Quelle dafür, die Geschichte des Kaisers Herakleios eines unbekannten Autors,40 sagt allerdings nicht aus, wie die insgesamt 2.000 Kavalleristen rekrutiert wurden, sondern nur, dass die beiden Aristokraten an die Spitze der zwei Kontingente gestellt wurden.41 Die Vermutung liegt nahe, dass die Soldaten in den Gebieten ausgehoben wurden, wo Sahak und Smbat ihre Ländereien hatten. Vielleicht waren es auch bereits ausgebildete Gefolgsleute der beiden, die in den Dienst des Kaisers genommen wurden. Während Sahak die kaiserlichen Befehle befolgte, weigerte sich Smbat, auf dem Balkan eingesetzt zu werden, und wurde von Maurikios wieder nach Hause geschickt – allerdings ohne die von ihm kommandierte Truppe, die mit den Leuten von Sahak vereint wurde. Zu Hause angekommen beteiligte sich 39 Klaus Rosen, s. n. Iustinus II, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 19 (1999), S. 778–801; Michael Whitby, The Successors of Justinian. Justin II, in: The Cambridge Ancient History vol. XIV. Late Antiquity. Empire and Successors, A.D. 425–600, hgg. von Averil M. ­Cameron, Bryan Ward-Perkins und Michael Whitby, Cambridge 2000, S. 86–111; Ernst Stein, Studien zur Geschichte des byzantinischen Reiches vornehmlich unter den Kaisern Justinus II. und Tiberius Constantinus, Stuttgart 1919. 40 In der Forschung wird dieses Geschichtswerk meist als Geschichte des Sebeos oder Pseudo-­Sebeos bezeichnet, was auf eine fälschliche Zuschreibung an den Bischof Sebeos von Bagratunik durch die ersten Herausgeber im 19. Jahrhundert zurückgeht. Hier wird das Werk in den Fußnoten dennoch weiterhin mit »Seb.« abgekürzt. Englische Übers. bei The Armenian History Attributed to Sebeos, Translation and Notes by R. W. Thomson, Historical Commentary by James Howard-Johnston, Assistance from Tim Greenwood, Liverpool 1999 (Translated Texts for Historians 31). Die Kapitelzählung und die Seitenzahlen dieser Übersetzung wurden übernommen. Verweise auf den zweiten Band (Part II. Historical Commentary) werden mit ­Howard-Johnston, Commentary abgekürzt. Zur Person des Autors siehe auch James HowardJohnston, Witnesses to a World Crisis. Historians and Histories of the Middle East in the Seventh Century, Oxford 2010, S. 70–102. 41 Seb. c. 20 (38). Die Platzierung der Notiz ist chronologisch nicht richtig (hier nach 591). Zur Datierung siehe Whitby, Maurice, S. 147, der sich auf Theophylaktos Simokates III.8, 4–8 (fortan Theoph. Sim.) stützt. Edition bei Theophylacti Simocattae historiae, hg. von Carolus de Boor, Leipzig 1887 (Neuauflage hg. von P. Wirth, Stuttgart 1972). Dt. Übers.: Theophylaktos Simokates, Geschichte, übers. von Peter. Schreiner, Stuttgart 1985 (Bibliothek der griechischen Literatur 20). Zum Werk siehe Dariusz Brodka, Die Geschichtsphilosophie in der spätantiken Historiographie. Studien zu Prokopios von Kaisareia, Agathias von Myrina und Theophylaktos Simokattes, Frankfurt am Main 2004 (Studien und Texte zur Byzantinistik 5).

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40 Dawid Wierzejski Smbat an einer Revolte gegen die römische Herrschaft, die jedoch durch Verrat rivalisierender Aristokraten schnell unterdrückt wurde; die Anführer – darunter auch Smbat Bagratuni – sollten in Folge in Konstantinopel durch wilde Tiere hingerichtet werden. Im letzten Moment zeigte Kaiser Maurikios aber Gnade und stoppte die Hinrichtung.42 Der begnadigte Smbat wurde daraufhin als Offizier nach Nordafrika geschickt. Was in den nächsten Jahren mit ihm geschah, ist aus den Quellen nicht ersichtlich, aber sein Name taucht wieder um das Jahr 595 im Dienst des persischen Königs Khusro II. (reg. 590–628) auf, wo er eine glänzende Karriere absolvierte und um 616/617 hochgeehrt starb.43 Er zeigte sich als erfolgreicher Kommandant, der am Sieg seines neuen Dienstherren gegen die Rebellion von Vistāhm beteiligt war, die in der Zeit von 594 bis ca. 599/600 den Thron von Khusro II. bedrohte.44 In den Jahren 614–615 kommandierte er persische Truppen im Nordosten des Sasanidenreiches in deren Operationen gegen einfallende Türken und Hephthaliten.45 Der erste dieser Feldzüge gegen die Türken und Hephthaliten endete mit einer Niederlage, aber Smbat wurde nach einer ­offiziellen Untersuchung von der Schuld freigesprochen und konnte sich im zweiten Feldzug – diesmal nur gegen die Hephthaliten – durch einen Sieg wieder ­rehabilitieren.46 Das Römische Reich rückte nach der Revolte Smbats nicht von der Praxis der Rekrutierung armenischer Truppen ab. Sie nahm sogar an Intensität noch zu, nachdem der persische König Khusro II. vom rebellierenden General Bahram-i Čubin 590 gestürzt wurde und ins Römische Reich geflohen war.47 Kaiser Maurikios nutzte die sich ihm bietende Gelegenheit und nahm den Flüchtigen auf. Er intervenierte dann militärisch in Persien – wobei auch arme­ 42 Seb. c. 20 (38); Theoph. Sim. III.8, 4–8. Zur weiteren Biografie liefert nur Ps.-Sebeos Informationen. 43 Seb. c. 29 (54). 44 Seb. c. 24 (43–44). Zu Vistāhm und seiner Rebellion und der wichtigen Rolle, die armenische Kontingente bei deren Unterdrückung spielten, siehe Parvaneh Pourshariati, Decline and Fall of the Sasanian Empire. The Sasanian-Parthian Confederacy and the Arab Conquest of Iran, London 2008, S. 131–140. 45 Seb. c. 28 nennt die Hephthaliten anachronistisch Kuschana. Aydogdy Kurbanov, The ­Archaeology and History of the Hephthalites, Bonn 2013; Wolfgang E. Schralipp, Die frühen Türken in Zentralasien. Eine Einführung in ihre Geschichte und Kultur, Darmstadt 1992 und Denis Sinor, The Establishment and Dissolution of the Turk Empire, in: The Cambridge History of Early Inner Asia, hg. von Denis Sinor, Cambridge 1990, S. 285–316. 46 Seb. c. 28 (49–53). 47 Pourshariati, Decline and Fall, S. 118–130; Whitby, Maurice, S. 292–304.

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Maurikios (539–602). Kaiser des Oströmischen Reiches nische Truppen beteiligt waren – und verhalf dem jungen König wieder auf den Thron. Die Belohnung war ein für Rom sehr günstiger Frieden, der nicht nur Ruhe an der Ostgrenze brachte, sondern diese Grenze auch weit in den bisher von Persien dominierten Teil Armeniens verschob.48 Zum einen erweiterte es die Rekrutierungsbasis für die römische Armee und verbesserte allgemein die strategische Situation des Reiches im Kaukasus, aber zum anderen entstanden neue Probleme für die römische Führung, da sich die neuen Untertanen als unruhig und zu Aufständen bereit erwiesen. Ein größerer Aufstand brach um 594 aus und scheint mit der verstärkten Rekrutierung im neu erworbenen Teil Armeniens für den Krieg auf dem Bal-

48 Whitby, Maurice, S. 304.

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42 Dawid Wierzejski kan verbunden zu sein.49 Das Römische Reich hatte bald nach der Annektierung mit der Aushebung armenischer Truppen begonnen, wobei es jedoch angesichts der sozialen Strukturen vor Ort keine individuellen Rekrutierungen vornahm, sondern die ansässige Aristokratie mit ihren militärischen Gefolgschaften zum Dienst verpflichtete. Diese war auf zahlreiche Familien aufgeteilt, die jeweils ein Gebiet unterschiedlicher Größe beherrschten und eigene Truppen unterhielten, die sie in Konflikten mit ihren Nachbarn einsetzen oder auch gegen den jeweiligen Oberherren wenden konnten. Die armenische Sozialstruktur wird in der Forschung als Naxarar-System bezeichnet und ähnelte in vielen Punkten der späteren europäischen Feudalstruktur. Die mächtigsten Familien herrschten dabei über einen stratifizierten Verband, dessen höhere Schichten zum militärischen Dienst ihrem Herren gegenüber verpflichtet waren, während die unteren Schichten das Land bestellten.50 Diese gesellschaftliche Organisationsform dominierte seit Jahrhunderten im 591 gewonnenen Teil Armeniens, aber es gab auch im Römischen Reich innerhalb der Grenzen von vor 591 Gebiete, die auf diese Weise strukturiert waren. Sie lagen in den Provinzen Armenia I und IV, und Smbat selbst stammte aus Armenia I.51. Der Aufstand von 594 wurde von kombinierten Kräften des Römischen und des Persischen Reiches im Jahre 595 unterdrückt und einige der Anführer wurden hingerichtet, während anderen Dienst bei Khusro II. angeboten wurde. An dieser Stelle sieht man, dass solche Aufstände für beide Reiche gefährlich waren – unabhängig davon, wo sie stattfanden. Aber man sieht auch, dass die Sasaniden aus den Problemen der Römer Nutzen für sich zu ziehen verstanden, als sie einigen der Aufrührer Amnestie und Dienst anboten, der mit Vorteilen verbunden war – sowohl finanzieller Art als auch im Zuwachs von Prestige. Trotz der beschriebenen Schwierigkeiten konnten dennoch zahlreiche Armenier für den Krieg auf dem Balkan gewonnen werden. Die Geschichte des Kaisers Herakleios hebt dabei einen Kommandanten hervor: Mušeł Mamikonian, der an der Spitze eines größeren Kontingents seiner Landsleute gegen die Awaren und Slawen kämpfte und dabei 598 fiel, als eine römische Armee

49 Howard-Johnston, Commentary, S. 175–178. 50 Zur Genese und Entwicklung des Naxarar-Systems siehe Nicholas Adontz, Armenia in the Period of Justinian. The Political Conditions Based on the Naxarar System. Translated with Partial Revisions, a Bibliographical Note and Appendices by Nina G. Garsoïan, Lisbon 1970, S. 289–371. 51 Adontz, Armenia, S. 100, 141–154.

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unter dem Heermeister Komentiolos in einen Hinterhalt der Awaren geriet.52 Seine Geschichte zeigt, dass der Kaiser nicht von der Politik gegenüber den armenischen Eliten abrückte und sie und ihre Gefolgsmänner trotz der Unruhen 594/595 weiterhin auf dem Balkan einsetzte. Die Rekrutierung in Armenien hatte für den Kaiser in Konstantinopel zweierlei Vorteile. Einerseits konnten die Verluste der Truppen ausgeglichen werden, andererseits wurden möglichen Aufständen die militärischen Ressourcen entzogen. Sicherlich konnte einigen Aristokraten der Kriegsdienst auch attraktiv erscheinen, da so Prestige angesammelt werden konnte und auch der Zugang zu regierenden Kreisen des für sie neuen Machtzentrums erleichtert wurde. Im Falle Mušeł Mamikonians kann das gestiegene Prestige an der Verwendung seiner Biografie abgeleitet werden, die der Autor der Geschichte des Kaisers Herakleios als Quelle zugrunde gelegt hat. Er nutzte den Militärdienst seines Protagonisten, um ihn als einen bedeutenden Kommandeur zu stilisieren und den Ruhm des Hauses Mamikonian zu steigern.53 Noch deutlicher wird das im Falle der Biograpfie von Smbat Bagratuni, der in der Geschichte des Kaisers Herakleios als großer, geradezu übermenschlicher Held präsentiert wird. Besonders heroisierend ist hier das Kapitel 20, wo seine übermenschliche körperliche Kraft geschildert wird und er in der Arena von Konstantinopel bei seiner geplanten Hinrichtung (ca. 589) hintereinander drei wilde Tiere (einen Bären, einen Bullen und einen Löwen) mit bloßen Händen tötet, bevor er auf Bitten der Kaiserin von Maurikios begnadigt wird.54

Fazit – Diversität und Meritokratie im 6. Jahrhundert Bevor die Entwicklungen unter den Kaisern Justinian und Maurikios im Hinblick auf die Kategorien Diversität und Meritokratie  – hier als Vergabe von Ämtern nach Verdienst und Leistung gemeint  – genauer betrachtet werden können, gilt es anzumerken, dass dies moderne Begriffe und Kategorien sind, die den Menschen der Spätantike in der heutigen Bedeutung fremd erschienen 52 Seb. c. 18 (36/90–91); Whitby, Maurice, S. 162 f. 53 Seb. c. 18 (36/90–91). Hier wird Mušeł Mamikonian als der wichtigste armenische Kommandeur im römischen Dienst präsentiert, was auch als eine Botschaft an die anderen aristokratischen Familien aufgefasst werden kann. 54 Seb. c. 20 (39–40/92–93).

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44 Dawid Wierzejski wären. Diversität der ethnischen und kulturellen Zugehörigkeit und Abstammung wurde in den Texten der Zeit nach heutigem Verständnis zwar wahrgenommen, war aber in einem multiethnischen Reich – was das Oströmische Reich des 6. Jahrhunderts definitiv war  – kein Kriterium an sich für Personalentscheidungen und deren Bewertung. In vielen Fällen scheint es so, dass die Abstammung mit großem Interesse beschrieben wurde, ohne dass für uns ­heute nachvollziehbare Schlüsse daraus gezogen wurden. Dies könnte darauf hindeuten, dass durchaus in regionalen Kategorien gedacht wurde, aber nicht in einem abwertenden Sinne, oder dass es dem Leser überlassen wurde, eigene Schlüsse zu ziehen. Schließlich sollte bedacht werden, dass Diversität nicht als etwas Erstrebenswertes und Positives galt. Es war eher die Homogenität, nach der gestrebt wurde. Im Römischen Reich des 6. Jahrhunderts fand dies vor allem im Bereich der Religion statt. Das Ideal war die – zumindest konfessionelle – Homogenität der Gesellschaft, die den Zusammenhalt des multiethnischen Imperiums erleichtern sollte. Sie war den Zeitgenossen so wichtig, dass die Vereinigung aller »abtrünnigen« Kirchen oder ihre Unterdrückung zu einem Bestandteil der Herrschaftsideologie wurde. In der sozialen Stratifizierung ist eine zunehmende Exklusivität der obersten Schichten zu beobachten, die sich immer mehr nach unten hin abschotteten, sodass die soziale Mobilität abnahm.55 Konzepte, die man heute als Meritokratie beschreiben würde, wurden im 6. Jahrhundert auch diskutiert, galten aber nicht unbedingt immer als etwas Positives. In Texten, die aus der Feder der etablierten Eliten stammen, werden soziale Aufsteiger nach Verdienst mit  Skepsis betrachtet. Als optimal galt eine vornehme Herkunft.56 55 Peter Sarris, Economy and Society in the Age of Justinian, Cambridge 2006; Peter Neville Bell, Social Conflict in the Age of Justinian. Its Nature, Management, and Mediation, Oxford 2013; Mischa Meier, Aristokratie(n) in Byzanz  – ein Überblick, in: Die Macht der Wenigen. Aristokratische Herrschaftspraxis, Kommunikation und »edler« Lebensstil in Antike und Früher Neuzeit, hgg. von Hans Beck, Peter Scholz und Uwe Walter, München 2008 (HZ Beihefte N.F. 47), S. 277–300. 56 Das ist an mehreren Stellen des anonymen »Dialogs über politische Wissenschaft« (V.31; V.33; V.61; V.135) deutlich zu erkennen, wo eine postulierte Schicht/Kaste von optimatoi (also »den Besten«) postuliert wird, die alle wichtigen Aufgaben im Staate haben sollen. Edition: Menae patricii cum Thoma referendario de politica scientiadialogus, ed. C. M. Mazzucchi, Milano ²2002 (Scienze filologiche e letteratura XXIII). Auch Johannes Lydos beklagt an mehreren Stellen seines Werks »Über die Ämter des römischen Staates« (De magistratibus Romanis) den Aufstieg von Individuen von außerhalb der etablierten Elite in hohe Verwaltungsposten. Edition mit fr. Übersetzung und Kommentar: Jean le Lydien, Des magistratures de l’état romain, ed., tr. et comm. M. Dubuisson, J. Schamp, Paris 2006; vgl. Michael Maas, John Lydus and the Roman Past, London, New York 1992.

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Allerdings gab es auch Gegenstimmen, die den Kaiser zu Personalentscheidungen nach Verdienst und Fähigkeiten unabhängig von der (sozialen) Herkunft aufriefen.57 Für die militärische Führung unter Kaiser Justinian kann man beobachten, dass er bei seinen Personalentscheidungen weitgehend auf meritokratische Prinzipien setzte und in vielerlei Hinsicht eine starke ethnische und soziale Diversität unter seinen Generälen nicht nur in Kauf nahm, sondern diese vielmehr aktiv suchte. In den obersten Rängen seiner Armee finden sich kaum Vertreter der etablierten Eliten, die noch unter Kaiser Anastasios (reg. 491–518) eine wichtige Komponente der Armeeführung stellten.58 Neben Männern wie Sittas und Belisar, deren soziale Herkunft nicht mehr festzustellen ist und deshalb als eher niedrig eingestuft werden sollte,59 gab es mehrere Personen, die aus Gebieten von außerhalb des Reiches kamen. Die »Römer« unter Justinians Befehlshabern verdankten ihre Positionen der persönlichen Nähe zum Kaiser in der Zeit, als Justinian selbst noch Magister Militum praesentalis (also einer der ranghöchsten Generäle) unter seinem Vorgänger auf dem Thron  – und Onkel – Justin I. war. In dieser Zeit knüpften sie nicht nur enge Kontakte, sondern waren mit Sicherheit an der Entwicklung der militärischen Reformen beteiligt, die Justinian nach seiner Inthronisation in die Wege leitete.60 Der Kaiser konnte somit in mehrfacher Hinsicht auf sie vertrauen. Sie waren als Aufsteiger von ihm abhängig und sie kannten seine neuen strategischen und taktischen Konzepte, während Justinian ihre Fähigkeiten von fachlicher Seite her kannte und einschätzen konnte. Mundo hingegen ist ein Beispiel für einen General, der außerhalb des Reiches rekrutiert wurde. Bei seiner Ernennung zum Magister Militum per Illyricum scheint Justinian anderen politischen Erwägungen wie im Falle von Sittas und Belisar, dafür aber ähnlichen Prinzipien gefolgt zu sein. Bei Mundo spielte die Außenpolitik eine große Rolle, da ein potenziell gefährlicher Warlord von der Grenze des Reiches in den eigenen Dienst genommen wurde, was auch

57 Etwa bei Agapetos Diakonos in seinem an Justinian gerichteten »Fürstenspiegel« (besonders in c. 4 und 30). Edition und deutsche Übers.: Agapetos Diakonos, Der Fürstenspiegel des Kaisers Justinianos, hg. von R. Riedinger, Athen 1995. 58 Vgl. die Liste der Magistri militum des Oströmischen Reiches in der PLRE II, S. 1290–1293. 59 Zu Sittas siehe PLRE IIIB s. n. Sittas 1, S. 1160–1163 und zu Belisar siehe PLRE IIIA s. n. Belisarius 1, S. 181–224. 60 Vgl. Koehn, Justinian.

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46 Dawid Wierzejski innenpolitisch genutzt wurde, da es aus Sicht des Kaisers einen vorzeigbaren ­diplomatischen Erfolg darstellte. Andererseits sind auch in diesem Fall Ansätze eines meritokratischen Denkens zu beobachten. Mundo hatte sich schon als militärischer Führer bewiesen, wobei wir nur seine Kämpfe gegen Rom um 505 in den Quellen nachweisen können, aber vermutlich hatte er weitere mili­ tärische Erfahrung und Bewährung im Dienste des gotischen Königs Theo­ derich sammeln können. Deshalb konnte Justinian erwarten, dass Mundo eine Armee selbstständig führen konnte. Zudem kannte der neue Heermeister das ihm zugewiesene Operationsgebiet, den westlichen Balkan, denn dort war er aufgewachsen und hatte seine ersten Schritte als Anführer einer bewaffneten Gefolgschaft gemacht. Die Rekrutierung armenischer Aristokraten unter Kaiser Maurikios fand in einem anderen politischen Kontext statt als die beschriebenen Personalentscheidungen unter Justinian. Maurikios war primär daran interessiert, nur Soldaten und keine Heermeister zu rekrutieren, und die armenischen Eliten scheinen dabei ein Mittel gewesen zu sein, die menschlichen Ressourcen der östlichen Peripherie für einen bereits wenig ruhmvollen und kostenintensiven Krieg auf dem Balkan zu mobilisieren. Für die Reichszentrale wurde die Situa­ tion zusätzlich dadurch erschwert, dass die militärischen Gefolgschaften der Aristokraten, auf die man zugreifen wollte, diesen gleichzeitig die Möglichkeit gaben, sich gegen die römische Herrschaft aufzulehnen. Umgekehrt scheint eines der Ziele römischer Politik die Befriedung Armeniens gewesen zu sein, indem man die potenziell gefährlichen Machtmittel des Adels für eigene Zwecke fernab ihrer Heimat einsetzte. Dies wurde auch von zeitnahen Beobachtern in Armenien erkannt, denn der anonyme Autor der Geschichte des Kaisers Herakleios berichtet von einem Plan des Kaisers, 30 000 armenische Familien auf den Balkan umzusiedeln, wo sie dann militärische Dienste leisten sollten. Es werden keine Details genannt, sodass unbekannt ist, auf welche Weise das Land verteilt und unter welchen Konditionen die so gewonnenen Rekruten dienen sollten.61 Dieser Plan wurde aber schließlich doch nicht durchgeführt, weil es

61 Seb. c. 30 (56). Siehe dazu Whitby, Maurice, S. 164–168; John Haldon, Byzantium in the Seventh Century. The Transformation of a Culture, Cambridge 1990, S. 244–251; Howard-Johnston, Commentary, S. 190 f.

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vorher zu einer Rebellion der Feldarmee an der Donau kam, die den Kaiser stürzte und den Offizier Phokas auf den Thron brachte (reg. 602–610).62 Am Beispiel von Smbat Bagratuni wurde deutlich, dass der Dienst in der römischen Armee nicht für alle armenischen Aristokraten aus dem NaxararSystem attraktiv war. Smbat entzog sich wirksam der römischen Kontrolle und trat in den Dienst des persischen Königs ein, der ihm auf lange Sicht zu mehr Vorteil gereichte. Solche Fälle – Smbat war nicht der Einzige, der an den persischen Hof ging63 – waren sicherlich ein Problem für den Kaiser in Konstantinopel, denn sie bedeuteten den Verlust potenzieller Kommandanten armenischer Verbände. Andere fanden sich in der römischen Armee gut zurecht, was am Beispiel von Mušeł Mamikonian zu erkennen ist. Es gab also vermutlich mehr als nur den kaiserlichen Befehl, der angesichts einer persischen Alternative Männer wie ihn an Maurikios und sein Regime binden konnte; aus den Quellen geht jedoch nicht hervor, was es war. Sie rückten zumindest nicht auf die höchsten Ränge der militärischen Hierarchie auf, was jedoch nicht heißt, dass diese nur den Vertretern der etablierten Elite des Reiches vorbehalten waren. Es fanden sich unter den Befehlshabern der Zeit des Maurikios auch einige Personen, die von der Peripherie des Reiches kamen. Zwei davon, Herakleios der Ältere64 und Narses65, waren armenischer Abstammung, sodass auch von keiner grundsätzlichen Ablehnung der Armenier als solches auf den höchsten Posten gesprochen werden kann, wobei die Quellen keinen Hinweis auf deren Verbindung zur armenischen Aristokratie des Naxarar-Systems geben. Die Aushebung von Rekruten in Armenien und die Versuche, auch den dortigen Adel in den römischen Militärapparat einzubinden, stießen auch einen Prozess an, der in späterer Zeit – in einem teilweise anderen geopolitischen Kontext – dazu führen sollte, dass die byzantinische Armee eine große armenische Kom-

62 David Michael Olster, The Politics of Usurpation in the Seventh Century. Rhetoric and Revolution in Byzantium, Amsterdam 1993; Arnout de Vleeschouwer, The Foreign Policy of Phocas (602–610). A Neorealist Reassessment, in: Byzantion 89 (2019), S. 415–462; Haldon, Byzantium in the Seventh Century, S. 36. Maurikios wurde mit seinen Söhnen öffentlich in Konstantinopel hingerichtet. Theoph. Sim. VIII.11, 1–12, 2; Chron. Pasch. s. a. 602 (694). 63 Seb. c. 28 (50). 64 PLRE IIIA s. n. Heraclius 3: 584–586. 65 PLRE IIIB s. n. Narses 10: 933–935.

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48 Dawid Wierzejski ponente enthalten sollte, auch in den höchsten Führungsrängen. Einige dieser Generäle sollten auch Kaiser werden.66 Insgesamt lässt sich jedoch für die Zeit von Kaiser Maurikios sagen, dass die meritokratischen Prinzipien zurückgestellt wurden, die die Personalpolitik der frühen Herrschaftszeit Justinians bestimmten. Dies lag an den veränderten Umständen, in denen sich das Reich befand. Justinian, der um Legitimität und den Konsens der Elite ringen musste, konnte dies recht aktiv gestalten und die ihm ablehnend gegenüberstehenden Eliten durch Erfolge für sich gewinnen oder zumindest in die Defensive drängen. Er hatte zwar einen Krieg mit Persien geerbt, aber es gelang seinen Truppen durch ihre Siege im Feld die Position des Kaisers im Innern zu stützen. Justinian konnte Erfolge an der ständig unruhigen Grenze an der Donau vorweisen, zu welchen auch die Rekrutierung Mundos gehörte. Er versuchte auch die etablierten Eliten zu umgehen, und dafür nutzte er fähige Männer von außerhalb – sowohl im geografischen, im ethnischen als auch im sozialen Sinne – denen er die Durchführung seiner Pläne anvertraute. Maurikios hingegen scheint nicht die gleichen politischen Bewegungsfreiheiten gehabt zu haben wie Justinian, was auch Einfluss auf seine Personalpolitik gehabt haben dürfte. Vielmehr scheint seine Herrschaftszeit von der permanenten Bewältigung von Krisen bestimmt gewesen zu sein. Dazu gehörten die Kriege an mehreren Fronten, die von den ohnehin schon knappen finanziellen Reserven zehrten. Justinian nutzte hingegen das Potenzial von der Peripherie des Reiches (Provinzen und Grenzgebiete des Donauraums), um Politik nach eigenen Vorstellungen gestalten zu können. Maurikios griff stattdessen auf die armenische Peripherie zu, um überhaupt militärische Politik mit einer Chance auf Erfolg betreiben zu können. In Bezug auf die Frage nach Diversität und Meritokratie und den Umgang mit diesen Konzepten lässt sich somit sagen, dass Justinian gezielt auf eine Diversifizierung seiner militärischen Führung setzte und die Ämter nach erwarteter Leistung vergab. Zwar hatte der Kaiser keine Garantie, dass die von ihm ausgewählten Personen sich in ihren Ämtern bewähren würden. Er konnte allerdings deren Erfahrung als einen Maßstab heranziehen. Im Falle von Personen von außerhalb des Reiches kann man auch nicht von Verdiensten für das Römische Reich vor 66 So etwa Herakleios (reg. 610–641), der Sohn des erwähnten Generals, dessen Dynastie bis 711 herrschte, oder Philippikos Bardanes (reg. 711–713). Walter E. Kaegi, Heraclius. Emperor of Byzantium, Cambridge 2003; Leslie Brubaker  und  John Haldon, Byzantium in the Iconoclast Era, c. 680–850. A History, Cambridge 2011.

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der Ernennung zum Magister Militum sprechen. Dagegen griff Maurikios auf eine als fremd wahrgenommene Gruppe zurück, um Verluste der Armee auszugleichen, aber die armenischen Eliten, deren Ressourcen er nutzte, erhielten nicht die Aufstiegschancen, die noch unter Justinian möglich waren. Einschränkend sollte aber wiederholt werden, dass die Bedeutung der Armenier im römischen Militärdienst seit der Zeit des Maurikios stieg und sie in die höchsten Führungsämter – das Kaisertum eingeschlossen – vordrangen. Diversität nach heutigem Verständnis als bewussten Umgang mit Vielfalt in der Gesellschaft kann folglich höchstens hinsichtlich der ethnischen und kulturellen Identität und des sozialen Status bei Justinian und – wenn auch begrenzter – bei Maurikios belegt werden, wobei hier die politischen Überlegungen sicherlich den Ausschlag gegeben haben und nicht die Pluralität als eigener Wert an sich. Da in den Quellen ausschließlich die Rekrutierung von Männern erwähnt wird, wie es dem historischen Kontext auch entspricht, ist eine Diversität hinsichtlich des Geschlechts im militärischen Kontext jedoch auszuschließen. Es gibt keine Angaben zu sexueller Orientierung oder zu physischen oder psychischen Einschränkungen der besprochenen Personen, sodass hier keine Einschätzung getroffen werden kann, ob und inwiefern bei Justinian und Maurikios bewusst eine Vielfalt im heutigen Sinne von Diversität Gegenstand der Personalentscheidungen war, aber davon ist in dieser Zeit nicht auszugehen.

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Von blinden Feldherren und ­einem bedrängten Kaiser – Generalsbestellungen unter ­Isaakios II. Angelos (1185–1195) Tristan Schmidt

Denkwürdige Personalentscheidungen Gegen Ende des Jahres 1186 übernahm Ioannes Kantakuzenos den Oberbefehl über die Byzantinische Westarmee. Sein Auftrag: Die seit zwei Jahren zwischen Donau und dem Balkangebirge aufständischen Bulgaren und Vlachen ein für alle Mal zurück unter byzantinische Herrschaft zu zwingen. Kantakuzenos war nicht der erste Feldherr, der sich an dieser Aufgabe versuchte. Im selben Jahr war bereits sein Schwager, der regierende Kaiser Isaakios II. Angelos, persönlich gegen die Rebellen zu Felde gezogen. Vermutlich innenpolitische Probleme in Konstantinopel hielten ihn jedoch von weiteren Operationen ab. Daraufhin übernahm zunächst des Kaisers Onkel Ioannes Dukas und führte den Krieg mit einigem Erfolg weiter. Gerüchte, er wolle sein Kommando zur Erlangung der Kaiserkrone missbrauchen, führten jedoch dazu, dass man ihn während der laufenden Operation abberief.1

1 Zur Byzantinischen Geschichte des späten 12. Jahrhunderts siehe Michael Angold, The Byzantine Empire. A Political History, London, New York 21997, S. 295–315. Zum »bulgarischvlachischen Aufstand« Max Ritter, Die vlacho-bulgarische Rebellion und die Versuche ihrer Niederschlagung durch Kaiser Isaakios II. (1185–1195), in: Byzantinoslavica 71 (2013), S. 162–210.

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Generalsbestellungen unter ­Isaakios II. Angelos (1185–1195)

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Byzanz und seine Nachbarn 1190–1195.2 Der bulgarische Machtbereich wurde von Byzanz weiterhin als abtrünnige Provinz betrachtet. Nun sollte Kantakuzenos die Lage richten. Glaubt man dem Bericht des Historikers Niketas Choniates, war er ein geeigneter Kandidat für diese Mission: »Er war ein Mann, der es wert war, angeschaut zu werden, und der über reiche taktische Erfahrung verfügte«. Damals jedoch, so Choniates’ lapidares Urteil, »führte er den Feldzug gegen die Vlachen nicht gut«, weshalb auch er schließ-

2 Der Kartenausschnitt stammt aus Günter Prinzing, »The Esztergom Reliquary Revisited«. Wann, weshalb und wem hat Kaiser Isaak II. Angelos die Staurothek als Geschenk übersandt?, in: Philopátion. Spaziergang im kaiserlichen Garten, hgg. von Neslihan Asutay-Effenberger und Falko Daim, Mainz 2012, S. 249.

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52 Tristan Schmidt lich ausgetauscht wurde.3 Die Sparsamkeit, mit der Choniates von dem offensichtlich gescheiterten Kommando berichtet, mag damit zusammenhängen, dass Ioannes beziehungsweise seine Verwandten noch immer eine prominente Rolle am Hof einnahmen, als der Autor in den 1190er-Jahren an der ersten Fassung seines Berichts arbeitete.4 Das Werk sollte in der Folge weiter ergänzt und revidiert werden. Nachdem Konstantinopel im Jahr 1204 von den Kreuzfahrern erobert worden war, fand Choniates nach langer Odyssee im kleinasiatischen Nikaia (heute İznik, Provinz Bursa) Asyl. Hier unterzog er sein Geschichtswerk gegen Ende seines Lebens († ca. 1217) einer grundlegenden Überarbeitung.5 Erst jetzt scheint der Autor sein Schweigen zu brechen und bietet eine Fülle weiterer Details zu den Vorfällen von 1187, die die Ernennung des Kantakuzenos in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen. Auch hier heißt es zunächst, Kantakuzenos war »mächtig in Bezug auf die Größe des Körpers und mit einem überaus edelgesinnten Geist ausgestattet, stimmgewaltig und reich an Kriegserfahrung.« Dennoch – und hier wandelt sich das Bild – sei er »meistens, oder eher immer, durch Übermut und Arroganz zu Fall gebracht« worden. Damit nicht genug, habe er durch die »Blendeisen« des früheren Kaisers Andronikos I. Komnenos (reg. 1182–1185) »die Augen verloren.«6 Der fatale Feldzug selbst wird im Anschluss ausführlich geschildert. So habe Kantakuzenos die Vorsicht der »Barbaren«, die Ebene zu meiden und in den Bergen zu bleiben, als Feigheit missinterpretiert und beschlossen, ihnen 3 »ἀνὴρ δ’ οὗτος ἀξιοθέατος τὸ εἶδος καὶ πλοῦτον ἐμπειρίαν τῶν τακτικῶν, τότε δὲ οὐ καλῶς τὸν κατὰ Βλάχων διεστρατήγησε πόλωμον.« Niketas Choniates, Historia, hg. von J. A. van Dieten, Berlin, New York 1975 (Corpus Fontium Historiae Byzantinae 11,1), Isaakios Angelos, Buch I, S. 374, krit. Apparat. Ich zitiere hier aus der früheren, sogenannten b(revior)Version des Geschichtswerks. Der Abschnitt ist vermutlich in den 1190er-Jahren entstanden. Zur Datierung der verschiedenen Versionen von Niketas’ Schrift siehe Alicia Simpson, Niketas Choniates. A Historiographical Study, Oxford 2014, S. 68–77. 4 Zu den Kantakuzenoi siehe Donald M. Nicol, The Byzantine Family of Kantakouzenos (Cantacuzenus): ca. 1100 – 1460. A Genealogical and Prosopographical Study, Washington 1968; sowie Jean-Claude Cheynet, Pouvoir et contestations à Byzance (963–1210), Paris 1996 (Byzantina Sorbonensia 9), S. 129. 5 Die sogenannte Version a(uctior), entstanden vor ca. 1217. Siehe Anm. 3. 6 ἀνὴρ δ’ οὗτος πελώριος μὲν τὸ τοῦ σώματος μέγεθος καὶ τῷ θυμῷ γενναιότατος καὶ εὐρυφωνότατος καὶ ἐμπειρίαν περὶ τοὺς πολέμους πλουτῶν, σφαλλόμενος δ’ ἀεὶ ἐν τοῖς πλειστοῖς ἢ τοῖς ἅπασι διὰ θρασύτητα καὶ ἀγερωχίαν. ἀπέσβεστο δὲ καὶ τὰς κόρασ· ὁ γὰρ Ἀνδρόνικος καὶ κατὰ τούτου τὸν πηρωτικὸν ἐπύρωσε σίδηρον. Niketas Choniates, Historia, Isaakios Angelos, Buch I, S. 374, Z. 2–S. 375, Z. 7.

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»wie ein Jäger nachzuspüren«. Dabei habe er essenzielle Vorsichtsmaßnahmen missachtet und »das Lager aufgeschlagen, wo er gerade hinkam, ohne es befestigen zu lassen.« Das Unvermeidliche sei eingetreten, als die »Barbaren« das Heer bei einem nächtlichen Angriff schließlich überrumpelten: Die einen wurden im Schlaf überwältigt und getötet, andere gefangen genommen, als sie gerade ihre Rüstungen anlegten; wieder andere aber schafften es, zu entkommen und sammelten sich ungerüstet um den Kaisar7 [Kantakuzenos], den sie feindseliger als die Feinde antrafen. Er warf unentwegt mit Beleidigungen um sich und beschimpfe sie als inkompetent und als Verräter an ihm. In dem Versuch, die Niederlage abzuwenden, rüstete er sich und bestieg das aufbrausende arabische Pferd und legte den schweren und starken Speer ein. Und diesen gegen die Feinde wendend, ermahnte er jeden, der vom Heer noch da war, zu folgen, auch wenn er die um ihn herum nicht sehen konnte, noch, wo der Feind lagerte.8 Am Ende sei es dem hilflosen Kantakuzenos nur knapp gelungen, der Katastrophe zu entkommen. Niketas’ Darstellung macht in erster Linie die »blinde« Siegessicherheit des Feldherrn für das Scheitern verantwortlich. Die tatsächliche Blindheit scheint demgegenüber zunächst nicht ausschlaggebend gewesen zu sein. Erst in der Krise während des Nachtangriffs, als es tatsächlich auf persönliche Führung angekommen wäre, erwies sie sich demnach als entscheidendes Hindernis, das die Niederlage besiegelte. 7 Beim Kaisar handelt es sich um einen hohen höfischen Rangtitel. Er ist nicht zu verwechseln mit dem byzantinischen Kaiser, der als Basileus und Autokrator bezeichnet wurde. 8 »ἀμέλει καὶ τῶν βαρβάρων τῷ ὑππογυίῳ πταίσματι παιδευθέντων μὴ ἀφίστασθαι τῶν ὀρέων, ἐκτρέπεσθαι δὲ τὰ πεδινὰ ὡς αὐτοῖς ἀνάρσια, ὁ καῖσαρ τὸ περιεσκεμμένον τοῦ ἔργου δειλίαν εἶναι ὑποτοπάσας ἰχνηλάτει κατὰ κυνηγέτας ἐπιπορευόμενος καὶ κατεσκήνου, ὅπῃ παρήκοι, ἀχαράκωτος. νυκτὸς οὖν τῶν δυσμενῶν ἐπιθεμένων, αὐτός τε μόλις σῷζεται καὶ τὸ στράτευμα πολυτρόπως ἐκάκωσεν. οἱ μὲν γὰρ ἔτι εὐνάζόμενοι καταλαμβανόμενοι ἀνῃροῦντο, οἱ δὲ τὰ ὅπλα περιθέσθαι φθάσαντες ἐζωγροῦντο· ὅσοι δ’ ἴσχυσαν ἀποδρᾶναι ἄτερ ὅπλων συναλισθέντες περὶ τὸν καίσαρα πικρότερον αὐτὸν τῶν πολεμίων εὕρισκον. οὐ γὰρ ἀνίει βάλλων ὕβρεσι καὶ διαβάλλων ὡς ἀπαλάμνους καὶ καταπροδόντας αὐτόν. ἀναμαχέσασθαι δὲ τὴν ἧτταν πειρώμενος ἐθωρακίσατο καὶ εἰς ἵππον θυμικὸν Ἀρράβιον ἀνεπήδηδε καὶ δόρυ βριθὺ καὶ στιβαρὸν ἠγκωνίσατο. καὶ τοῦτο κατὰ τῶν πολεμίων ἰθύνων ἕπεσθαί οἱ παρῄνει ὁπόσον τῆς στρατιᾶς οὐκ ἠφάνισται, καίπερ τὰ ἐν ποσὶν οὐκ ἔχων ὁρᾶν, μηδ’ ὅτι καταστρατοπεδεύεσθαι εἰδὼς τὸ διάφορον. Κατατροπαιουχηθέντων δ ’ οὕτω Ῥωμαίων τά τε σημεῖα ὑπὸ τῶν βαρβάρων ἐλήφθησαν […] καὶ […] αὖθις τῶν πεδινῶν ἔχονται.« Niketas Choniates, Historia, Isaakios Angelos, Buch I, S. 375, Z. 7– S. 376, Z. 26.

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54 Tristan Schmidt Die Beschreibung des Kantakuzenos ist nicht der einzige Fall eines blinden Generals, von dem Choniates – die historiografische Hauptquelle dieser Zeit – für die Frühzeit der Regierung des Isaakios II. zu berichten weiß. Bereits im Jahr 1186 sei es zu einem ähnlichen Vorfall gekommen, als der Versuch angestellt wurde, das strategisch wichtige Zypern zurückzuerobern. Die Insel war 1184 unter die Kontrolle eines rebellischen Mitglieds der Komnenenfamilie gefallen.9 Zu ihrer Wiedergewinnung wurde eine amphibische Operation vorbereitet. Wiederum war die Wahl der Feldherren mehr als ungewöhnlich: Und als man siebzig große Schiffe ausgerüstet hatte, wurden die Flottenführer ernannt, [nämlich] Ioannes Kontostephanos, der [schon] seinen Fuß auf die Schwelle des Alters gesetzt hatte, und Alexios Komnenos [Batatzes], der zwar ein gutes Alter hatte und mannhaft war, […], aber, da er von Andronikos [I. Komnenos] seiner Sehkraft beraubt worden war, wurde er von allen für diese militärische Aufgabe für [zu] alt [=untauglich; T. S.] erachtet und erschien vielen als schlechtes Vorzeichen.10 Auch diese Operation scheiterte. Nachdem die Truppen an Land gegangen waren, erlitt die vor Anker liegende Flotte eine Niederlage gegen die Rebellen, die unerwartet Unterstützung durch sizilische Schiffe unter dem Admiral Margaritone von Brindisi erhielten. Kurz darauf, mussten auch die Landtruppen ihre Waffen strecken. Ob der Misserfolg auf die Führungsschwäche der beiden Kommandeure zurückzuführen ist, lässt sich wiederum nicht rekonstruieren. Niketas’ Bericht deutet allerdings an, dass der physische Zustand der beiden Führungsfiguren durchaus zum Gegenstand zeitgenössischer Diskussionen rund um die Niederlage wurde.

9 Er trug den Namen Isaakios Komnenos. Zu der Rebellion siehe Cheynet, Pouvoir, S. 116–117. 10 »καὶ ἐπειδὴ μακραὶ νῆες ἡτοιμάσθησαν ἑβδομήκοντα, ναύαρχοι ἀναδείκνυνται ὁ Κοντοστέφανος Ἰωάννης, οὐδoῦ ἐπιβὰς γήραος , καὶ ὁ Κομνηνὸς Ἀλέξιος, ὃς εἰ καὶ εὐῆλιξ ἦν καὶ ἀνδρεῖος […], ἀλλ’ ἐκκοπεὶς τὰς κόρας ὑπ’ Ἀνδρονίκου ἀρχεῖος πρὸς τῶν ὅλων εἰς τὴν τότε στρατήγησιν συλλελόγιστο καὶ τοῖς πολλοῖς ἀπαίσιος ἐκρίνετο οἰωνός.« Niketas Choniates, Historia, Isaakios Angelos, Buch I, S. 369, Z. 78–83.

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Topos oder Tatsache – Wie glaubwürdig ist Niketas’ Bericht? Für beide Vorfälle hängen wir von dem Bericht des Choniates ab, dessen Glaubwürdigkeit oft zu wünschen übrig lässt. Gerade gegenüber den Kaisern der Angeloidynastie nimmt er eine sehr kritische Haltung ein.11 In dem Bericht über Kantakuzenos ist die Polemik nicht zu übersehen, was die Ausschmückungen im Detail zweifelhaft erscheinen lässt. Andererseits gibt es gute Argumente, den grundsätzlichen Aussagen über den körperlichen Zustand der drei genannten Feldherren Glauben zu schenken: Erstens erwähnt Choniates die Blendung des Kantakuzenos durch Andronikos I. bereits an einer früheren Stelle.12 Es scheint, als habe er in der frühen Version seines Geschichtswerks lediglich vermieden, diese Information mit der Niederlage 1187 zu verknüpfen, um die Kantakuzenoi nicht zu verstimmen. Desgleichen erwähnt er die Blendung des Alexios Komnenos Batatzes, ebenfalls unter Andronikos I., schon in einem zeitlich früheren Zusammenhang.13 Zweitens berichtet Niketas, wie auch sein Zeitgenosse Eustathios von Thessa­ lonike, an mehreren weiteren Stellen von Blendungen hoher Mitglieder der ­byzantinischen Aristokratie, die gegen Andronikos I. opponiert hatten14, was Niketas’ Aussagen über die Blendungen der beiden Generäle zumindest in einen glaubhaften Kontext platziert. Drittens fällt auf, dass weitere Berichte über körperlich eingeschränkte Feldherren ansonsten weder bei Choniates noch bei irgendeinem anderen byzantinischen Geschichtsschreiber des 12. Jahrhunderts vorkommen. Dies spricht letztlich gegen die Vermutung, dass Choniates hier auf einen etablierten Topos zurückgriff, um die Personalentscheidungen Isaakios’ II. als irrational zu diskreditieren. Während diese Argumente zunächst allein aus der Beschäftigung mit der Quelle resultieren, lassen sich die Personalentscheidungen und damit auch die Glaubwürdigkeit des Niketas auch aus der komplizierten innenpolitischen Lage der 1180er-Jahre heraus plausibilisieren. Die folgende Argumentation 11 Insbesondere in der überarbeiteten a-Version. Siehe Simpson, Niketas, S. 170–182. 12 Niketas Choniates, Historia, Alexios II. Komnenos, Buch I, S. 258–259. 13 Ebd., S. 264. 14 Ebd., S. 266–267; Janin Raymond, Eustazio di Tessalonica. La Espugnazione di Tessalonica. Testo critico, introduzione, annotazioni di Stilpon Kyriakidis […], Palermo 1961 (Istituto Siciliano di Studi Bizantini e Neoellenici. Testi 5), S. 40.

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56 Tristan Schmidt wirft nicht nur ein Licht auf den Quellenwert von Choniates’ Bericht, sondern auch auf die komplexe und multidimensionale Rolle militärischer Personalentscheidungen im Rahmen der damaligen Innenpolitik.

Zwischen Krise und Restitution: die frühen 1180er-Jahre Um die Situation zu verstehen, unter der die Personalentscheidungen zustande kamen, ist zunächst ein Blick zurück in das frühe und mittlere 12. Jahrhundert erforderlich. Dieses war über weite Strecken durch eine relativ stabile Herrschaft unter der Dynastie der Komnenen geprägt: Alexios I. 1081–1118; Ioannes II. 1118–1143; Manuel I. 1143–1180. Das Herrschaftssystem basierte auf dem gemeinschaftlichen Konsens mit den führenden aristokratischen Familien des Reiches. In der Regel unterhielten diese eine permanente Präsenz in der Hauptstadt und entwickelten während der langen Komnenenherrschaft ein immer dichteres Netz interner Bindungen, in erster Linie über Verwandtschaftsbündnisse.15 Viele Mitglieder dieser Machtelite bauten ihre gesellschaftlichen und politischen Führungsansprüche ganz maßgeblich auf ihrer Rolle als Militärs auf. Dies zeigt sich deutlich in den Bild- und Textzeugnissen aristokratischer Selbstrepräsentation der Zeit, darunter Palastmosaike und poetische Texte, die an den Höfen zu festlichen Anlässen vorgetragen wurden.16 Die Teilnahme an Feldzügen und die Selbstdarstellung als Krieger waren feste Bestandteile der Rolle der aristokratischen Machtelite dieser Zeit.

15 Zur Aristokratie und dem Regierungssystem Paul Magdalino, The Empire of Manuel I Komnenos (1143–1180), Cambridge 1993, S. 180–227. Zur aristokratischen Elite im Byzantinischen Reich John Haldon, Social Élites, Wealth, and Power, in: The Social History of Byzantium, hg v. John Haldon. Chichester 2009, S. 168–211. 16 Zur aristokratischen Repräsentation Michael Grünbart, Inszenierung und Repräsentation der byzantinischen Aristokratie vom 10. bis zum 13. Jahrhundert, Paderborn 2015 (Münstersche Mittelalter-Schriften 82).

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Die Kaiser der Komnenen- und Angeloidynastie

Regierungszeit

Alexios I. Komnenos

1081–1118

Ioannes II. Komnenos

1118–1143

Manuel I. Komnenos

1143–1180

Alexios II. Komnenos (minderjährig)

1180–1183

Andronikos I. Komnenos

1183–1185

Isaakios II. Angelos

1185–1195

Alexios III. Angelos

1195–1203

Alexios IV. Angelos & Isaakios II. Angelos

1203–1204

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Während der fast vierzigjährigen Herrschaft Manuels I. bildete sich ein privilegierter Kreis aus Familien und Individuen heraus, die verwandtschaftlich eng mit der Herrscherdynastie verbunden waren und sowohl die politischen als auch die militärischen Führungsposten dominierten. Söhne von Feldherren, die Teil dieses inner circle waren, hatten erkennbar bessere Chancen, ebenfalls einen vergleichbaren Posten zu erhalten, als solche, die dieses Kriterium nicht erfüllten.17 Darüber hinaus lassen sich Spezialisierungen einzelner familiärer Netzwerke innerhalb des Militärs beziehungsweise der Provinzverwaltung erkennen. So stellt man etwa bei der Familie der Kontostephanoi fest, dass deren Mitglieder immer wieder hohe Posten in der Flotte besetzten. Der Prominenteste von ihnen war Andronikos Kontostephanos, der von den 1160er-Jahren bis 1182 als Megas Dux der kaiserlichen Zentralflotte vorstand. Zuvor hatte bereits sein Vater Stephanos in den 1140er-Jahren diesen Posten gehalten. Auch in der Verwaltung der für den Unterhalt der Marine vorgesehenen Seeprovinzen stellten die Kontostephanoi regelmäßig Vertreter. Die Bestellung eines Kontostephanos zum Admiral bei der Zypernexpedition im Jahr 1186 hatte also durchaus Tradition und reagierte vermutlich auch auf etablierte Ansprüche dieser Familie.

17 Dazu meine entstehende Studie zum Militäroberkommando der Komnenen- und Angeloizeit.

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58 Tristan Schmidt Bekannte Kontostephanoi in der Marineführung und Administration im 12. Jahrhundert18 Isaakios Kontostephanos

Megas Dux

1100er

Stephanos (1) Kontostephanos

Admiral (?)

1100er

Ioannes & Andronikos (1?) Kontostephanos

Admiräle

1140er

Stephanos (2) Kontostephanos

Megas Dux

1140er

Andronikos (2) Kontostephanos

Megas Dux

1160er–1180er

Alexios Kontostephanos

Praitōr HellasPeloponnēsos

1160er

Stephanos (3) Kontostephanos

Dux Kreta

1190er

Nikephoros Kontostephanos

Dux Kreta

1190er

Die Kontinuität fand mit dem Tod Manuels I. im Jahr 1180 ein jähes Ende. Trotz der langen Regierungszeit Manuels war sein Thronfolger Alexios II. bei dessen Ableben noch minderjährig und auf einen Regentschaftsrat angewiesen. Es dauerte nicht lange, bis unter den Mitgliedern der komnenischen Elite Kämpfe um die Vormundschaft ausbrachen. Zunächst sah es so aus, als gelänge es einem Neffen Manuels, dem Prōtosebastos19 Alexios Komnenos, die Regentschaft an sich zu reißen. Er schaffte es jedoch nicht, die Loyalität der verschiedenen Fraktionen auf sich zu vereinen. Gerade führende Militärs wandten sich einem anderen Thronprätendenten zu: Manuels Cousin Andronikos Komnenos. Auch dieser profitierte zunächst von der Fraktionierung der Reichselite, doch gelang es auch ihm nicht, die Spaltungen zu überwinden.20 18 Zu den Kontostephanoi liegt keine umfassende Studie vor. Zu den bekannten Mitgliedern Konstantinos Barzos, Ἡ γενεαλογία τῶν Κομνηνῶν, Thessalonike 1984 (Bd. 1), S. 294–299 und H. Grégoire, Notes épigraphiques. XII. La famille des Kontostéphanes et le monastère d’Eelegmi (Ἐλεγμοί), in: Revue de l’Instruction en Belgique 52,1 (1909), S. 152–161. Zur Marineverwaltung Judith Herrin, Realities of Provincial Government. Hellas and Peloponnesos, 1180–1205, in: Margins and Metropolis. Authority across the Byzantine Empire, hg. v. Judith Herrin, Princeton, Oxford 2013, S. 58–102. 19 Einer der höchsten höfischen Rangtitel. Zum Rangsystem Lucien Stiernon, Notes de titulature et de prosopographie byzantines. Sébaste et Gambros, in: Revue des Études Byzantines 23 (1965), S. 222–243. 20 Vgl. Ralph-Johannes Lilie, Des Kaisers Macht und Ohnmacht. Zum Zerfall der Zentralgewalt in Byzanz vor dem vierten Kreuzzug, in: Varia I, Bonn 1984 (Poikila Byzantina, Bd. 4) (neu formatierte und ergänzte Fassung 2020), S. 9–120, hier S. 83–99 [in der neuen Fassung S. 54–63].

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Schlimmer noch: während der Prōtosebastos erfolglos eine Strategie der ­Kooperation und Kontrolle gegenüber den anderen Mitgliedern der Führungsschicht aus der Zeit Manuels I. anwandte, versuchte Andronikos, politische Fakten zu schaffen, indem er die Kaiserinwitwe und den jungen Thronfolger kurzerhand ermorden ließ. Oppositionelle Aristokraten wurde gnadenlos verfolgt und mit Haft, Verstümmelung oder dem Tod bestraft. Zwar stand Andronikos nicht, wie teils behauptet, in einem grundsätzlichen Gegensatz zur Reichsaristokratie. Dennoch gerieten insbesondere diejenigen mit dem neuen Herrscher in offenen Konflikt, die den Hof unter Manuel I. dominiert hatten.21 Vertreter mächtiger Clans, darunter mehrere Militärs, stellten sich offen gegen die neue Regierung. Ein bekanntes Beispiel ist der Megas Domestikos Ioannes Komnenos Batatzes, der sich von Philadelphia aus mit den ihm anvertrauten Truppen 1182 gegen die Zentralregierung zu behaupten versuchte, aber letztlich scheiterte. Nicht nur im Falle des Batatzes führten diese innenpolitischen Kämpfe zu einem Erlöschen alter, über Generationen aufgebauter Ansprüche auf Beteiligung an der militärischen Führung. Ein genauer Blick auf die Personalpolitik des Andronikos I. zeigt, dass dieser Militärs, die bisher eher außerhalb des Zirkels um Manuel I. gestanden hatten, privilegierte.22 Das Ende der Herrschaft des Andronikos I. am 12. September 1185 kam daher nicht ganz unerwartet. Der Versuch, ein weiteres, scheinbar oppositionelles Mitglied der aristokratischen Elite, Isaakios Angelos, in Konstantinopel gefangen zu setzen, scheiterte und löste einen generellen Aufstand aus. Dieser wurde nicht nur durch die bereits bestehende interne Opposition begünstigt, sondern auch durch immer beunruhigendere Nachrichten einer normannischen Invasion Griechenlands, denen die kaiserliche Armee unter den von Andronikos eingesetzten Feldherren nichts entgegenzusetzen hatte. Kurz vor Andronikos’ Sturz fiel gar die zweitgrößte Stadt des Reiches, Thessalonike, in die Hände der Normannen.23 21 Georg Ostrogorsky, Geschichte des Byzantinischen Staates, München 31963, S. 327–329 deutet das Ganze als Kampf des Staates gegen die landbesitzende Aristokratie. Dass Andronikos auch mit Mitgliedern der mächtigen aristokratischen Elite Manuels I. zusammenarbeitete, stellt bereits Charles M. Brand, Byzantium Confronts the West. 1180–1204, Cambridge 1968, S. 58 fest. Siehe auch Cheynet, Pouvoir, S. 428–434. 22 Siehe die Erhebungen von Andronikos Lapardas, Alexios Gidos und Vertretern der Branades, die bzw. deren Familien bereits in der Militärführung präsent, soziopolitisch bisher aber eher randständig waren. 23 Einen ausführlichen Bericht bietet Eustathios von Thessalonike, vgl. Anm. 14.

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60 Tristan Schmidt Unter dem neuen Herrscher Isaakios Angelos konnte die Invasion zwar abgewehrt werden. Innenpolitisch standen er und seine Mannschaft jedoch vor dem Scherbenhaufen der letzten fünf Jahre. Zwar war er ein Mitglied der Kon­ stantinopler Machtelite und Teil der Opposition gegen Andronikos I., nichtsdestotrotz ist seine Thronbesteigung eher das Resultat eines Zufalls denn eines geplanten, durch breiten Konsens getragenen Coups. Für Isaakios als Mitglied der Angeloifamilie war die dynastische Legitimation sogar noch prekärer als die seiner Vorgänger, die immerhin aus dem Haus der Komnenen stammten. So gab es letztlich wenig Argumente dafür, dass Isaakios nach der gelungenen Usurpation nicht dasselbe Schicksal wie der Prōtosebastos und Andronikos I. teilen sollte.24 In dieser Situation setzten er beziehungsweise seine Strategen offensichtlich auf eine Doppelstrategie. Einerseits wurden Funktionäre der Vorgängerregierung im Amt belassen. In der Ziviladministration war das nicht verwunderlich, da diese ohnehin sehr konstant und unabhängig von politischen Konjunkturen arbeitete.25 Im Militär ist die Lage auffälliger. Hier wurden mehrere kooperationswillige Aufsteiger aus der Zeit des Andronikos I. in Amt und Würden belassen. Sie waren nun mehr denn je vom Herrscher persönlich abhängig, der sie wiederum als Gegengewicht zur etablierten Elite in Stellung bringen konnte.26 Gleichzeitig setzte man auf eine Restituierung der Mitglieder der alten ­Elite, die von der Herrschaft Manuels I. am meisten profitiert hatten, im Rahmen der innenpolitischen Kämpfe nach 1180 jedoch nicht nur in sozialer, ökonomischer und politischer Hinsicht, sondern auch ganz konkret physischen Schaden erlitten hatten. Genau diese Situation bot eine potenzielle Lösung für Isaakios II., dem Dilemma seiner Regierungsvorgänger zu entkommen.

24 Zur Machtübernahme des Isaakios und dessen Legitimitätsproblem siehe Lilie, Macht, S. 100 [63]. 25 Cheynet, Pouvoir, S. 431. 26 Hierzu gehörten Alexios Branas, unter dessen Kommando die Normannen besiegt wurden, Manuel Kamytzes, Theodoros Chumnos und Alexios Gidos. Alle vier waren Generäle unter Andronikos I. und hatten am erfolglosen Entsatz Thessalonikes teilgenommen.

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Personalentscheidungen als Teil ­einer ­Krisenbewältigungsstrategie Dass man den Schulterschluss mit der alten Machtelite Manuels I. suchte, zeigt sich sehr deutlich an der offiziellen kaiserlichen Propaganda. Besonders die zeitgenössische Enkomiastik, am Hof vorgetragene Lobreden, die auf a­ ktuelle Ereignisse Bezug nahmen, bieten hierzu aufschlussreiche Informationen. Grundsätzlich ist es nicht unüblich, einen neuen Kaiser in solchen Reden bild- und wortreich als Erneuerer des Reiches darzustellen. Die Tradition lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen.27 Im Falle von Isaakios’ Propaganda scheint das Motiv allerdings besonders hervorgehoben und stark auf die aktuelle politische Situation bezogen worden zu sein. So heißt es in einer Rede des Niketas Choniates aus dem Jahr 1186, Gott habe »das greise gewordene Kaisertum der Ausonier [Römer = Byzantiner; T.S.] verjüngen« wollen. Dieses habe sich »in nichts von jenem jungfräulichen Mädchen« aus der griechischen Perseussage unterschieden, das »ausgesetzt war, um von einem Meeresungeheuer verschlungen zu werden.« Die Anspielung auf Andronikos I. ist klar. Folgerichtig ist es Isaakios, der »im rechten Augenblick« als Retter hervortritt, »das wilde Tier« niederwirft, dem Reich »das Alter abstreift« und die bisherige Dunkelheit vertreibt.28 In einer Rede desselben Autors von 1190 heißt es: »Es sind deine tugendhaften Taten, göttlicher Kaiser, durch die du es [= das Reich] aus seiner Κauerhaltung erhoben und ihm Kraft eingehaucht hast.«29 Ein weiterer Schwerpunkt der Rede liegt auf der Fähigkeit des »Tyrannenmörders«, seinen Feinden zu vergeben, und gesellschaftlichen Frieden zu bringen.30

27 Siehe Paul Alexander, The Strength of Empire and Capital as Seen through Byzantine Eyes, in: Speculum 37, 3 (1962), S. 339–357, bes. S. 348–354. 28 »Γεγηρακυῖαν οὖν τὴν τῶν Αὐσόνων ἡγεμονίαν […] βουληθὲν τὸ θεῖον ἀνανεώσασθαι καὶ γῆρας ἀποξῦσαν […]. οὐδὲν ἡ Ῥωμαίων ἀπεῴκει βασιλεία τῆς παρθενικῆς ἐκείνης νεάνιδος, ἥτις κήτει θαλασσίῳ ἐξέκειτο πρὸς κατάποσιν, […], εἰ μὴ κατὰ Περσέα καὶ αὐτὸς ἐπιστὰς καὶ εἰς εὔκαιρον ἀφικόμενος ἐξέσωσας αὐτὴν […] τὸν […] θῆρα προσουδίσας, […].« Niketas Choniates, orationes et epistulae, hg. von J. A. van Dieten. Berlin, New York 1972 (Corpus Fontium Historiae Byzantinae 3), Nr. 5, S. 38, Z. 3–14 (1186). 29 »[…] τὰ σὰ κατορθώματα, θειότατε βασιλεῦ, ἐπεὶ καὶ ὁ ταύτην ἀνεικὼς τοῦ κυπτάζειν καὶ μένος ἐμπνεύσας αὐτὸς. Ebd., Nr. 9, S. 86, Z. 5–7 (1190). 30 οὐ τυφλώττει δι’ ἄμετρον ὀργῆς […] ἀλλ’ εἰδὼς […] συγγνώμην δὲ διδόναι τοῖς πταίσμασιν. […] ὢ βασιλέως τυραννοκτόνου μὲν κατὰ Βροῦτον. Ebd., S. 97, Z. 15–16; S. 98, Z. 9.

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62 Tristan Schmidt Man sagt, dass Christus [zu uns] gesandt wurde, um den Armen die frohe Botschaft zu verkünden und um die Zerschundenen zu heilen, um denen, die im Gefängnis sitzen, ihre Freilassung und denen, die verstümmelt wurden [τοῖς ἀναπήροις], die Wiedererlangung des Sehens zu verkünden. Und dieser [Kaiser], indem er diese Dinge in Nachahmung Christi tut, begegnet jedem in entsprechender Weise, […].31 Der Christusvergleich basiert auf einer fast wortgleichen Passage im Lukasevangelium: Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden [τυφλοῖς], dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen […].32 Auch wenn der Christusvergleich ein Topos der Kaiserdarstellung ist, legt die Position im Kontext von Andronikos’ Missetaten meines Erachtens nahe, dass die Stelle sehr konkret auf Isaakios’ Programm der Erneuerung, Restitution und sozialen Heilung hindeuten soll. Auch die Wortwahl weist in diese Richtung. Während Lukas von »τυφλοῖς« (Blinden) spricht, denen Christus Heilung verkündet, ersetzt Choniates das Wort mit »ἀναπήροις« (Verstümmelte), ein Begriff, der weit besser zu den politischen Strafen unter Andronikos I. passt. Eine Rede des Georgios Tornikes aus dem Jahr 1194 schließlich lässt, nach einer langen Passage über die Gräuel des Andronikos (»jener schreckliche Mann, weise [nur] im Tun von Übel und im Misshandeln von Menschen«), Isaakios als Sonne erscheinen, der die Dunkelheit vertreibt und es den Byzan-

31 »εὐαγγελίσασθαι φησιν ἀπεστάλθαι πτωχοῖς ὁ Χριστός, καὶ τοὺς μὲν συντετριμμένους ἰάσασθαι, τοῖς δ’ αἰχμαλώτοις κηρύξειν ἄφεσιν καὶ τοῖς ἀναπήροις ἀνάβλεψιν· καὶ οὗτος δρῶν χριστομιμήτος ταὐτὰ τοῖς πᾶσιν καταλλήλως προσφέρεται, […].« Niketas Choniates, orationes et epistulae, Nr. 9, S. 98, Z. 18–S. 99, Z. 3 (1190). 32 »πνεῦμα κυρίου ἐπ’ ἐμὲ/οὗ εἵνεκεν ἔχρισέν με/εὐαγγελίσασθαι πτωχοῖς,/ἀπέσταλκέν με,/ κηρύξαι αἰχμαλώτοις ἄφεσιν/καὶ τυφλοῖς ἀνάβλεψιν,/ἀποστεῖλαι τεθραυσμένους ἐν ἀφέσει,/ κηρύξαι ἐνιαυτὸν κυρίου δεκτόν« Lk 4,18–19 (dt. Übersetzung aus der Lutherbibel von 1984).

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tinern wieder erlaubt, »in Würde umhergehen zu können«.33 Es sei angemerkt, dass diese Rede ganze neun (!) Jahre nach Isaakios’ Krönung gehalten wurde, was die Erneuerung und Heilung damit als äußerst langlebiges Motiv von dessen öffentlicher Darstellung ausweist. Vor dem Hintergrund dieser ostentativ zur Schau gestellten Ideologie der Reichserneuerung, letztlich weniger Innovation als Rückkehr zu einem vergangenen Idealzustand, scheinen mir die besprochenen Kommandoeinsetzungen genau das in der Praxis widerzuspiegeln, was die Propaganda auf semantischer Ebene vermittelt: soziale Restitution und das Versprechen an Teile der alten Elite Manuels I., Positionen wiederzuerlangen, die sie nach 1180 verloren hatten. In diesem Kontext lohnt es, den sozialen Hintergrund der betreffenden Kommandeure genauer zu betrachten.

Ioannes Kontostephanos Der Admiral der gescheiterten Zypernexpedition 1186 lässt sich nicht mit Sicherheit identifizieren. Aus der Anfangszeit Manuels I. ist ein gleichnamiger Admiral bekannt, der 1144 eine Flottenoperation gegen Antiochia leitete.34 ­Niketas’ Angabe zu seinem hohen Alter im Jahr 1186 lässt eine Identifikation zumindest plausibel erscheinen, auch wenn es im Kontostephanosclan noch mehr (bekannte und vermutlich auch unbekannte) Personen dieses Namens gab. Die zuweilen geäußerte Vermutung, es könne sich um einen Bruder des ehemaligen Megas Dux Stephanos Kontostephanos handeln, bleibt Spekulation.35

33 »[…] ὁποῖος ἐκεῖνος δεινὸς ἀνὴρ καὶ σοφὸς τοῦ κακοποιεῖν καὶ λωβᾶσθαι ἀνθρώπους […]. Ἀλλ’ ἡ κατάρχουσα τοῦ σκότους αὔτη σελήνη, γραφικῶς εἰπεῖν, ἀνταναιρεθεῖσα παρῴχετο, καὶ τὸ σκότος ἐκεῖνο διελύθη τὸ πολυήμερον, καὶ νῦν ἡμεῖς ὡς ἐν ἡμέρᾳ εὐσχημόνως περιπατοῦμεν ὑπὸ σοὶ τοιούτῳ φωσφόρῳ κοσμολαμπεῖ δᾳδουχούμενοι, […].« Georgios Tornikes, Logos eis ton autokratora kyr Isaakion, in: Fontes Rerum Byzantinarum. Rhetorum saeculi XII orationes politicae, hg. von Vasilij Eduardovič Regel und Nikolaj Ivanovič Novosadskij. Tomus I, 1–2, Leipzig 1982 (Subsidia Byzantina lucis ope iterata 5), Nr. 15, S. 258, Z. 7–10. 34 Niketas Choniates, Historia, Manuel Komnenos, Buch I, S. 52.; Ioannes Kinnamos, Epitome rerum ab Ioanne et Alexio Comnenis gestarum, hg. von August Meinecke, Bonn 1836 [Neudr. Athen o.J.] (Corpus Scriptorum Historiae Byzantinae 13), II, S. 33–35. 35 Zu den bekannten Mitgliedern der Kontostephanosfamilie siehe oben, Anm. 18. Eine Identifikation vermuten Barzos, Genealogia, Bd. 1, S. 295, Anm. 9; Ferdinand Chalandon, Les Comnène. Études sur l’empire byzantin au XIe et au XIIe siècles. Bd. 2.1. Jean II Comnène (1118– 1143) et Manuel I Comnène (1143–1180). New York [o.J.] [Nachdruck der Ausgabe Paris 1912], S. 217, Anm. 7 und Grégoire, Notes, S. 159. Barzos und Grégoire gehen davon aus, dass es sich um den Bruder des Stephanos Kontostephanos handelt.

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64 Tristan Schmidt Von den Kontostephanoi des späten 12. Jh. ist vor allem der Megas Dux ­Andronikos bekannt. Er hatte für Dekaden die Flotten Manuels I. geführt, geriet unter dem Prōtosebastos Alexios jedoch in die Opposition. Zunächst ein Partner des Andro­nikos (I.) Komnenos, sollte er sich inmitten des innenpolitischen Ränkespiels um den Thron rasch gegen diesen stellen. 1183 der Verschwörung bezichtigt, wurde er schließlich zusammen mit vier seiner Söhne geblendet.36 Wir wissen nicht, wie stark die Kohäsion innerhalb der verzweigten Kontostephanosfamilie tatsächlich war, noch, welche Rolle »unser« Ioannes bei alle­ dem spielte. Die Entscheidung des Isaakios II., dessen Vater im Übrigen zu den Mitverschwörern um den Megas Dux Andronikos Kontostephanos gezählt hatte, 1186 wieder einen Kontostephanos mit einem hohen Kommando auszustatten, lässt sich meines Erachtens aber durchaus als Teil einer Politik deuten, die auf eine Restituierung der unter Manuel I. einflussreichen und danach (zumindest zum Teil) in die Opposition geratenen Kontostephanoi setzte. Die erneute Präsenz eines Kontostephanos im Marineoberkommando knüpfte dabei an die familiäre Tradition des 12. Jahrhunderts an.

Alexios Komnenos Batatzes Alexios begleitete Ioannes Kontostephanos 1186 auf die Zypernexpedition. Sein Vater, Ioannes Komnenos Batatzes, war vermutlich bereits unter ­Manuel  I. Oberkommandierender (Megas Domestikos) der östlichen Reichstruppen mit Sitz im kleinasiatischen Philadelphia (das heutige Alaşehir, Provinz ­Manisa). Auch er stellte sich gegen Andronikos Komnenos und rebellierte 1182 mit seinen Truppen, mit der Begründung (oder Ausrede), die Rechte des Thronfolgers Alexios II. wahren zu wollen. Nach seinem natürlichen Tod und dem Zusammenbruch seiner Machtbasis wurden seine beiden Söhne, darunter Alexios, bei einem Fluchtversuch gefangen gesetzt und geblendet.37 Die Einsetzung ebendieses Alexios als Feldherr im Jahr 1186 lässt sich damit ebenfalls als Restitution eines Mitgliedes der alten Militärelite Manuels I. verstehen, das in den innenpolitischen Kämpfen nach 1180 zur unterlegenen Seite gehörte und

36 Siehe Cheynet, Pouvoir, S. 114. 37 Zu Ioannes siehe Jean-Claude Cheynet, Philadelphie. Un quart de siècle de dissidence. 1182–1206, in: Philadelphie et autres études, Paris 1984 (Byzantina Sorbonensia 4), S. 39–54 und S. 42–43, zu dem Aufstand und der Blendung des Alexios siehe ders., Pouvoir, S. 113.

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die durch Ioannes Komnenos Batatzes prominent verkörperte Militärtradition der Familie nun fortsetzte.

Ioannes Kantakuzenos Der 1186/7 gegen die Bulgaren erfolglose General war bereits vor der Angeloiherrschaft ein enger Verbündeter der Familie gewesen. Pläne einer ehelichen Verbindung scheiterten zunächst aus formellen Gründen, konnten 1185 oder 1186 jedoch umgesetzt werden.38 Die Kantakuzenoi hatten zum Kern der Elite Manuels I. gehört und spielten auch in den innenpolitischen Machtkämpfen nach 1180 eine Rolle. Ioannes, der möglicherweise Einfluss auf Alexios II. ausüben wollte, wurde von Andronikos I. prophylaktisch verhaftet und geblendet.39 Ein Theodoros Kantakuzenos, bei dem es sich möglicherweise um einen Bruder handelt, leistete von Nikaia (dem heutigen İznik) aus militärischen Widerstand und starb dabei.40 Ioannes Kantakuzenos’ Einsetzung als Leiter der Expedition von 1186/7 ist daher nicht bloß als Beteiligung eines angeheirateten Verwandten an der Regierungstätigkeit des Isaakios II. zu verstehen, sondern bedeutete wiederum die Restitution eines ganzen Familienzweigs aus der alten komnenischen Elite, der für den Versuch, seine Stellung auch nach 1180 zu halten beziehungsweise auszubauen, einen hohen Preis hatte zahlen müssen. Die Allianz mit Teilen der alten Machtelite Manuels I. sollte der neuen Regierung die Basis verschaffen, die den vorherigen Regenten gefehlt hatte. Batatzes, Kontostephanos und Kantakuzenos vertraten Familienverbände, deren Kooperation für die politische Zukunft der Angeloi essenziell war. Der Schaden, der Mitgliedern dieser Gruppe während der innenpolitischen Kämpfe nach 1180 entstanden war, bot der neuen Regierung die Chance, deren Unterstützung durch eine gezielte Restitutionspolitik zu erlangen. Diese Unterstützung war nicht nur politisch, sondern auch in Bezug auf die Armee von Bedeutung. Sowohl der Megas Domestikos Ioannes Batatzes als auch der Megas Dux Andronikos Kontostephanos hatten zur Genüge bewiesen, dass ihnen substanzielle Teile der Truppen in die Rebellion folgten. Die Integration ihrer Nachkommen/Verwandten mag daher auch ein Versuch gewesen sein, das Risiko erneuter Loyalitätskonflikte in der Armee zu senken. 38 Nicol, Kantakouzenos, S. 5. 39 Niketas Choniates, Historia, Alexios II. Komnenos, Buch I, S. 258–259. 40 Cheynet, Pouvoir, S. 115. Dass es sich um einen Bruder handelt, vermutet Nicol, Kantakouzenos, S. 5–7.

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Versehrte Feldherren als Führungsfiguren? Bei allem innenpolitischen Kalkül lässt sich dennoch nicht ignorieren, dass alle drei Feldherren entweder aufgrund ihrer Verstümmelung oder ihr weit fortgeschrittenes Alter nur bedingt für aktive Feldkommandos geeignet erscheinen. Dass man die damit verbundenen Risiken trotzdem in Kauf nahm, bleibt erklärungsbedürftig. Es stellt sich dabei zunächst die Frage nach den Alternativen. Leider lässt die Quellenlage keine konkreten Aussagen über die Zahl der Vertreter und Familienzweige der Kantakuzenoi, Batatzai und Kontostephanoi zu. Unbestreitbar ist jedoch, dass zahlreiche führende Vertreter während der Machtkämpfe nach 1180 Schaden erlitten hatten. Unter den Kontostephanoi wurden neben dem Megas Dux Andronikos gleich vier von dessen Söhnen geblendet.41 Dasselbe Schicksal ereilte beide Söhne des Megas Dux Ioannes ­Batatzes.42 Während Ioannes Kantakuzenos mit der Verstümmelung davonkam, hatte Theodoros seine Opposition zu Andronikos I. mit dem Tod bezahlt.43 Ein Mangel an militärisch versierten Führungsfiguren aus diesen Familienzweigen ist also denkbar, wenn auch nicht beweisbar. Die Einsetzungen lassen sich noch aus einer anderen Perspektive betrachten. So war die Bestellung versehrter Feldherren aus militärischer Sicht keineswegs per se eine schlechte Personalentscheidung. Blendungen endeten nicht unbedingt in einem Totalverlust des Sehvermögens.44 Auch wenn die körper-

41 Siehe oben, Anm. 36. Zu weiteren bekannten Kontostephanoi siehe Barzos, Genealogia, Bd. 1, S. 294–299. Von den Brüdern des 1183 geblendeten Megas Dux Andronikos Kontostephanos findet man mit Alexios einen Vertreter in den oberen Rängen der Hofhierarchie. Siehe eine synodale Unterschriftenliste von 1191: Papadopoulos-Kerameus, Analekta ierosolymitikes stachyologias, Bd.II, St. Petersburg 1894, S. 362–368. 42 Siehe oben, Anm. 37. An weiteren Batatzai, die unter Isaakios I. dienten, kennen wir Isaakios Komnenos Batatzes, den Sohn des Alexios sowie einen Basileios, der allerdings nicht aus der komnenischen Linie der Batatzes stammt. Siehe John S. Langdon, The Rise of the Vatatzai to Prominence in the Byzantine Oikumene (997–1222), in: ΤΟ ΕΛΛΗΝΙΚΟΝ. Studies in Honor of Speros Vryonis Jr., Bd. 1. Hellene Antiquity and Byzantium, hgg. von John S. Langdon, Stephen W. Reinert, Jelisaveta Stanojevich Allen und Christos P. Ioannides, New Rochelle 1993, S. 179–208, hier S. 181–82. 43 Siehe oben, Anm. 40. Von den Kantakuzenoi ist noch ein Sebastos Andronikos Kantakuzenos bekannt. Er kommandierte 1187 einen Heeresteil für Isaakios II. und könnte bereits 1175 für Manuel I. das Thema (Provinz) Mylasa-Melanudion verwaltet haben. Seine Verwandtschaft zu den übrigen Kantakuzenoi ist unbekannt. Zu ihm siehe Nicol, Kantakouzenos, S. 8. 44 John Lascaretaos und Spyros Marketos, The penalty of blinding during Byzantine times. Medical remarks, in: Documenta Ophthalmologica 81 (1992), S. 133–144, hier S. 143.

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liche Handlungsfähigkeit eines Feldherrn in entscheidenden Momenten, wie dem (fiktiven oder realen) nächtlichen Angriff auf Kantakuzenos’ Camp, tatsächlich von großer Bedeutung war, halten weder Alter noch Verstümmelung davon ab, in Kooperation mit den Untergebenen gute organisatorische Arbeit zu leisten und durch persönliche Autorität zu führen. Man denke an den berühmten einäugigen Jan Žižka, der im 15. Jahrhundert in Böhmen mit seinen hussitischen Truppen erfolgreich Krieg führte, wovon ihn auch der spätere Verlust seines zweiten Auges nicht abhielt.45 Die folgende Miniatur aus dem sogenannten Jenaer Hussitenkodex (entstanden um 1500) zeigt ihn ohne Rüstung und mit Augenbinde. Allerdings macht die künstlerische Interpretation die persönliche Autorität sehr deutlich und dürfte damit Žižkas Rolle als Führungsfigur treffend beschreiben. Aus der byzantinischen Geschichte begegnet Nikephoros Bryennios, der laut Anna Komnene »zwar wegen einer Erhebung [gegen die Kaiser Michael VII. und Nikephoros III. in den Jahren 1077/1078] seine Augen verloren hatte, er war aber dennoch der fähigste und einfallsreichste Stratege, was militärische Planung angeht«.46 Der berühmteste blinde byzantinische Feldherr ist sicherlich Alexios Philanthropenos, der im 13. Jahrhundert einen legendären Ruf als Kommandeur gegen die Türken in Westkleinasien erlangt hatte. 1295 wurde er wegen eines Rebellionsversuchs von Andronikos II. (reg. 1282–1328) geblendet.47 Als die Lage in Kleinasien in den 1320er-Jahren immer dramatischer wurde und das Reich überdies durch Bürgerkrieg geschwächt war, reak­ tivierte der Kaiser den blinden und inzwischen alten Feldherren.48 Mit nur einer bescheidenen Streitmacht ausgestattet, dafür aber »mit seiner naturgege45 Siehe František Šmahel, »Žižka, Jan«, in: Lexikon des Mittelalters, 10 Bde. (Stuttgart [1977]– 1999), Bd. 9, Sp. 659–660. 46 »οὗτος γὰρ ὁ ἀνήρ, εἰ καὶ τοὺς ὀφθαλμοὺς δι’ ἀποστασίαν ἐξεκέκοπτο, ἀλλὰ τό γε εἰς στρατηγικωτάτην βουλὴν καὶ παράταξιν δεινότατος τῶν πολλῶν καὶ ποικιλώτατος ἐγνωρίζετο.« Anna Comnenae Alexias, hgg. von Diether R. Reinsch und Athanasios Kambylis. Pars prior. Prolegomena et Textus; Pars altera: Indices. Berlin, New York 2001 (CFHB 40,1 u. 2), VII,2,5, S. 206, Z. 86–88. Übersetzung aus Alexias, Anna Komnene. Ins Deutsche übersetzt v. Diether Roderich Reinsch, Köln 1996. 47 Zu Philanthropenos siehe Prosopographie der Palaiologenzeit, Nr. 29752. 48 Siehe Donald McGillivray Nicol, The Last Centuries of Byzantium. 1261–1453, Cambridge [u. a.] 1996, S. 124 und 158. Von seiner Begabung als Kommandeur und dem Respekt, den er sich bei Freund und Feind erwarb, berichtet der Autor Georgios Pachymeres (+1310), Georges Pachymérès. Relations historiques. Livres VII–IX, hg. von Albert Failler, Paris 1999 (Corpus Fontium Historiae Byzantinae 24,1–5), Buch IX, 9, S. 237–239.

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Sogenannter Jenaer Hussitenkodex, 1490–1510, fol. 76r benen Gewandtheit und Erfahrung«, gelang es ihm tatsächlich, die strategisch wichtige, von den Türken belagerte Stadt Philadelphia (das heutige Alaşehir) zu entsetzen. Laut dem Historiografen Nikephoros Gregoras trug vor allem sein früherer Ruf als Feldherr dazu bei, die Belagerer zur Aufgabe zu bewegen, überdies vermutlich auch die Popularität, die er in der Region genoss.49

49 Nikephoros Gregoras, Byzantine Historia graece et latine, hg. von Ludwig Schopen, Bd. I, Bonn 1829 (Corpus Scriptorum Historiae Byzantinae 4), Buch VIII, 12, S. 360–362. Dass Philanthropenos’ Armee klein war ist glaubhaft, bedenkt man die Schwächung der Streitkräfte durch den Bürgerkrieg zwischen Andronikos II. und Andronikos III.

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Versehrte Generäle konnten somit weiterhin wichtige Führungsrollen einnehmen. Es sei daran erinnert, dass keine der hier besprochenen Quellenstellen die Niederlagen auf Zypern und gegen die Bulgaren direkt auf die Blindheit oder das Alter der jeweiligen Generäle zurückführte. Dagegen konnten sie als Autoritätsfiguren sowohl im Feld als auch in der Innenpolitik effektiv agieren, sowohl als militärische Führer als auch als politische Figuren. Freilich hielt dies die zeitgenössischen Kommentatoren, darunter Niketas Choniates, nicht davon ab, die körperlichen Defizite als entscheidende Faktoren für die Niederlagen zu inszenieren. Ein weiteres Argument baut auf dem vorigen auf, führt aber wieder zurück zur Innenpolitik, und zwar zu deren medialer Seite. Auch wenn wir praktisch nichts über die performative Seite von Feldherrenbestellungen in dieser Zeit wissen, legen ältere Beschreibungen von Einsetzungen kaiserlicher Funktionäre am Hof einen zeremoniellen Rahmen nahe.50 Für die Mitglieder der Reichselite stellte die Übertragung eines wichtigen Kommandos ein sichtbares Zeichen ihrer Kaisernähe sowie ihrer Relevanz für das politische System dar. Die Einsetzungen des Kontostephanos, Kantakuzenos und Komnenos-Batatzes lassen sich, wie bereits gesagt, als Restitutionsakte lesen, die im Rahmen der kaiserlichen Propaganda durch eine extensive Präsentation des Herrschers als Erneuerer und Versöhner begleitet wurde. Dass sich die öffentliche Restitution dieser Familien durch die Einsetzung von deren physisch versehrten Führungsfiguren medial besonders gut inszenieren ließ, ist leicht vorzustellen. In diesem Sinne mag der physische Schaden, den Teile der soziopolitischen Führungsschicht erlitten hatten, für die ­Angeloiregierung sogar einen gewissen Vorteil bedeutet haben. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern (Alexios II; der Prōtosebastos Alexios Komnenos; ­Andronikos I. Komnenos) war Isaakios II. eben nicht auf die Rolle des im 50 Siehe etwa die Inszenierungen von Beamtenbestellungen im sog. Zeremonienbuch Kaiser Konstantins VII. aus dem 10. Jh., das Beschreibungen höfischer Zeremonien aus mehreren Jahrhunderten sammelte. Constantini Porphyrogeniti imperatoris de cerimoniis aulae byzantinae libri duo graece et latine, hg. von Johann Jakob Reiske, Bd. I, Bonn 1829 (Corpus Scriptorum Historiae Byzantinae 5), S. 216–275, 389 zur Ernennung kaiserlicher Beamter und Würdenträger und 525–528 zur Ernennung militärischer Befehlshaber. Siehe auch aus dem 11. Jh. Michael Psellos (Michaelis Pselli Chronographia, hg. von Dieter Roderich Reinsch, Bd. 1, Einleitung und Text, Berlin [u. a.] 2014 [Millennium Studien 51], VI, 104, S. 152) über die zeremonielle Ernennung von Feldherren durch den Aufständischen Leo Tornikes im Jahr 1047, der hier möglicherweise kaiserliches Zeremoniell imitiert.

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70 Tristan Schmidt Schatten der übermächtigen Komnenendynastie stehenden, selbst unzureichend legitimierten Herrschers beschränkt. Durch seine Restitutionspolitik konnte er mehr sein als ein weiterer Konkurrent um die Nachfolge: einer, der aktiv in die Tradition Manuels I. trat und dies, zumindest vordergründig, in engem Schulterschluss mit dessen ehemaliger Führungsschicht tat. Inszenierungen wie die ostentative Zurschaustellung der Opfer des vorherigen Regimes hatten in diesem Zusammenhang eine nicht zu unterschätzende mediale Wirkung, die dies hervorhoben – unabhängig davon, welche Rolle den versehrten Generälen im Feld letztlich zukam.

Schlussfolgerungen Insgesamt lässt sich die Anfangsphase der Regierung des Isaakios II. personalpolitisch als ein Experiment begreifen. Eingespielte Nominierungsmuster waren aus dem Gleichgewicht geraten und mussten unter veränderten Bedingungen neu definiert werden. Die militärische Personalpolitik wurde, mehr als sie es ohnehin schon war, Teil innenpolitischer Überlegungen. In diesem Sinne legt der Beitrag nahe, die auf den ersten Anschein ungewöhnlichen Personalbestellungen als Teil eines umfassend inszenierten Restaurationsprogrammes zu begreifen, das weit über die traditionellen Topoi des neuen Herrschers als Erneuerer des Reiches hinausging. Das Programm war der besonderen Situation Mitte der 1180er-Jahre geschuldet, insbesondere dem politischen, sozialen und physischen Schaden, den Teile der alten Führungsschicht aus der Zeit ­Manuels I. während der innenpolitischen Auseinandersetzungen erlitten hatten. Der neuen Angeloiregierung bot sich darüber die Chance, ihre eigenen Legitimitätsdefizite durch eine entschiedene Restaurationspolitik  – oder zumindest deren Inszenierung – auszugleichen. Damit lässt sich die enkomiastische Präsentation des Herrschers als Versöhner und Restitutor in direktem Zusammenhang mit den Einsetzungen der drei aus der alten Führungsschicht hervorgehenden Generäle deuten. Dass rein militärische Erwägungen bei den Personalentscheidungen ins Hintertreffen gerieten, ergibt sich lediglich auf den ersten Blick. Dagegen zeigt die genauere Betrachtung, dass die Einsetzung physisch versehrter Generäle keine grundsätzlich schlechte Personalstrategie gewesen sein muss. Auch jenseits der erhofften innerpolitischen Wirkungen ist nicht auszuschließen, dass

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die drei Individuen tatsächlich Führungsqualitäten im Feld besaßen, auf die man nicht verzichten wollte. Diese Qualitäten waren letztlich mehr der sozialen und politischen Rolle sowie der Persönlichkeit des jeweiligen Individuums geschuldet, als dass sie den in der Enkomiastik der Zeit traditionell hervorgehobenen Idealen eines aktiven Kriegers entsprachen. Letztlich schließt keiner der hier vorgeschlagenen Erklärungsansätze die jeweils anderen aus. Vertrauen in die jeweilige Person, Mangel an alternativem Personal, inszenierte Restitution einer versehrten Elite – all das konnte Hand in Hand gehen. Wie bei den meisten Personalentscheidungen lassen sich konkrete Motivationen und Gedankengänge der Entscheider aus einer quellenarmen Epoche nicht rekonstruieren. Dennoch ergeben sich aus den spezifischen Rahmenbedingungen Theorien, welche die in den Quellen festgehaltenen Ergebnisse der Entscheidungen plausibel machen und im Kontext übergreifender Personalstrategien erklären. In diesem Sinne waren die hier besprochenen Entscheidungen keineswegs so unerklärlich und »unvernünftig«, wie dies der polemische Bericht des Niketas Choniates glauben machen möchte.

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Episcopus ingratus oder das »Scheitern« eines Reformers in der Serenissima (1418–1437) Daniela Rando

Kanonische Wahl, proba und Papstprovision: kein ­geradliniges Verfahren Wenige Tage nach dem Tod von Bischof Jakob versammelte sich das Dom­ kapitel von Treviso am 13. März 1416 mit den Vertretern des Stadtklerus (»Kongregation der Pfarrer«) zur Bischofswahl. Die Prozedur verlief »kanonisch«, das heißt nach den Vorschriften des Kirchenrechts: Der Dekan erläuterte die möglichen Wahlmodi, die Versammelten entschieden sich für die geheime Abstimmung (scrutinium) und vollzogen danach die Wahl.1 Mit mehr als zwei Dritteln der Stimmen wählten sie ihren Dekan, Giovanni Muttoni, zum Bischof; da die Minderheit keinen »Akzess« durchführte und an ihrem Votum festhielt, wurde keine Einmütigkeit erzielt, die zwar als Wirken des Heiligen Geistes und Zeichen göttlicher Inspiration betrachtet wurde,2 deren Fehlen jedoch an der Gültigkeit der Wahl als Mehrheitsentscheidung nichts änderte.

1 Ad Eminentiss. et Reverendiss. Dominum Angelum Mariam Quirinum S.R.E. Cardinalem Bibliothecarium, Episcopum Brixiensem de Joanne Benedicto patricio Veneto ordinis Praedicatorum, Episcopo Tarvisino Flaminii Cornelii senatoris Veneti Epistola, Venedig 1753 (Raccolta d‘opuscoli scientifici e filologici 49), S. 319–438 (= Corner, De Joanne Benedicto), S. 344–361. 2 Daniela Rando, Semantica e pratiche del consenso. Ancora a proposito di elezioni episcopali, secoli XI–XIII, in: Costruire il Consenso. Modelli, pratiche, linguaggi (secoli XI–XV), hgg. von Maria Pia Alberzoni und Roberto Lambertini, Mailand 2019, S. 49–70; Orazio Condorelli, Principio elettivo, consenso, rappresentanza. Itinerari canonistici su elezioni episcopali, provvisioni papali e dottrine sulla potestà sacra da Graziano al tempo della crisi conciliare (secoli XII–XV), Rom 2008.

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Das »Scheitern« eines Reformers in der Serenissima (1418–1437)

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Aus der Erklärung eines Kanonikers geht ein wichtiges Detail hervor: Er habe für den Dekan gestimmt, da dieser vom »Volk« (den Bürgern von ­Treviso) der venezianischen Regierung »postuliert« worden sei. Die Stadt war seit fast einem Jahrhundert Venedig unterworfen, die Bürger waren sich also der Notwendigkeit des venezianischen Placets bewusst. Seit einigen Jahrzehnten äußerte sich dieses Placet im Verfahren der proba: Bei Vakanz der Prälaturen ­forderte der Senat die infrage kommenden Kandidaten auf, sich zu melden, und stellte sie zur Abstimmung, wobei unklar bleibt, ob dies in allen oder nur in bestimmten Fällen geschah; der Kandidat, der die proba im Senat gewann, wurde dann dem Papst zur Ernennung empfohlen.3 Der Erfolg dieser Empfehlungen war jedoch nicht garantiert: Zumindest bis 1406 akzeptierten die Päpste weniger als die Hälfte der von Venedig lancierten Kandidaten; für das weitere 15. Jahrhundert allerdings lässt sich feststellen, dass ein »venezianisches Monopol der Episkopate« erzielt werden konnte.4 Die Bischofswahl durch den Klerus von Treviso fiel in eine Phase der Papstvakanz. Nachdem das Konzil von Konstanz 1415 die drei konkurrierenden Päpste, Johannes XXIII., Gregor XII. und de facto auch Benedikt XIII., abgesetzt beziehungsweise deren Resignation angenommen und somit das seit 1378 andauernde Schisma beendet hatte, diskutierten die Väter weiter über Reform und Papstwahl. Was die Bischofserhebungen betrifft, so hatten seit dem späten 13. Jahrhundert päpstliche Provisionen das Wahlrecht der Ortskirchen immer weiter verdrängt, ja Urban V. behielt 1363 dem Heiligen Stuhl sogar die Besetzung sämtlicher Patriarchen- und Bischofssitze vor.5 So mag die kurze Sedisvakanz nach dem Schisma (1415–1417) vielerorts Anlass gewesen sein, das Wahlrecht der lokalen Domkapitel zu reaktivieren  – ähnliche Versuche wie in

3 Cesare Cenci, Senato veneto, »probae« ai benefizi ecclesiastici, in: Celestino Piana und Cesare Cenci, Promozioni agli ordini sacri a Bologna e alle dignità ecclesiastiche nel Veneto nei secoli XIV–XV, Florenz 1968, S. 313–354. 4 Dieter Girgensohn, Sui rapporti fra autorità civile e chiesa negli Stati Italiani del Quattrocento, in: L’Italia alla fine del Medioevo. I caratteri originali nel quadro europeo, hg. von Francesco Salvestrini, Firenze 2006, S. 117–142, hier 125–126; ders., Kirche, Politik und adelige Regierung in der Republik Venedig zu Beginn des 15. Jahrhunderts, Göttingen 1996, S. 106 f. 5 Emil von Ottenthal,  Regulae cancellariae  apostolicae. Die päpstlichen Kanzleiregeln von ­Johannes XXII. bis Nikolaus V. gesammelt und herausgegeben, Innsbruck 1888, S. 15, Nr. 6. Vgl. Repertorium Germanicum, I. Verzeichnis der in den Registern und Kameralakten Clemens’ VII. von Avignon vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, seiner Diözesen und Territorien, 1378–1394, bearb. v. Emil Göller, Berlin 1916, S. 49.

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74 Daniela Rando Treviso gab es auch in Padua, Bologna, Pisa und weiteren Bischofssitzen in Nord- und Mittelitalien. Kanonische Wahl und Bittschrift der Trevisaner hatten im März 1416 ­keine unmittelbare Wirkung. So konnten drei Wähler der Minderheit einige Monate später den Akzess zum bereits gewählten Dekan durchführen, zumal ihr Kandidat inzwischen verstorben war und ihre erste Wahl »minus bene et ­indiscrete et ad complacentiam quorundam«, also nicht aufrichtig, gewesen sei. Gleichzeitig wird ein procuratorium (Gesandtschaft) »zur römischen

Processione dell’Annuziata (1571). Gemälde von Francesco Dominici, das den Dom von Treviso zeigt

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­ urie« (das heißt nach Konstanz?) erwähnt, das die Wahlbestätigung erreiK chen sollte. Doch es geschah nichts, der Gewählte konnte sein Amt nicht antreten. Erst nachdem das Konzil von Konstanz am 11. November 1417 einen neuen Papst, Martin V., gewählt h ­ atte, gewann die Bischofsbesetzung wieder an Aktualität. Anfang 1418, also fast zwei Jahre nach der Wahl, griff der Podestà von ­Treviso das alte Gesuch der Stadt für den Dekan auf und übersandte dem Dogen T ­ ommaso Mocenigo eine Supplik; darin erinnerte er nicht nur an die Wahl und an die damit verbundene Bittschrift von 1416, sondern erwähnte auch einen anderen Bewerber, für den eine Empfehlung sowohl an den Papst als auch an Venedig gerichtet worden sei. Der Podestà bat den Dogen um ein Empfehlungsschreiben an den Papst zugunsten des gewählten Dekans und betonte die Einmütigkeit aller Stände der Stadt: Für Muttoni hätten sich alle Domherren sowie die Mehrheit der Adligen, der Richter und Notare, der Kaufleute und der Popularen ausgesprochen.6 Wahrscheinlich war der Termin der bevorstehenden proba in Venedig zu diesem Zeitpunkt schon bekannt; sie fand tatsächlich einen Monat später (8. März 1418) statt. Neben dem gewählten Dekan von Treviso nahmen sechs weitere Kandidaten daran teil, das Rennen gewann aber nicht der Dekan, sondern ein Kandidat von außen, der Dominikaner Giovanni Benedetto aus der Stadt Venedig.7 So wurde das Recht der Ortsgemeinde und des Domkapitels – das sich seit dem 12. Jahrhundert als Wahlkollegium etabliert hatte – vom Senat der Hauptstadt übergangen: Mit seiner Abstimmung fällte dieser eine Entscheidung über den Bischofsstuhl einer ihm untergebenen Stadt, und zwar – wie oft bei den probae – ohne Rücksicht auf die Wahl durch das zuständige Gremium.8 Die kanonische Wahl wurde also nicht berücksichtigt und damit auch die Bittschrift der Laien von Treviso nicht, deren Zustimmung als »Volk« auch das Kirchenrecht vorsah. Gegenüber dem Volkskonsens hatte nun das Votum des Senats Vorrang: Mit seiner proba suchte das Dominium (die Regierung Venedigs) eine Person aus, »que erit grata et accepta sibi« (die ihm angenehm und wohlgefällig sein wird) und die dann dem Papst zur Bestätigung weiter empfohlen werden konnte.9 »Offen6 Luigi Pesce, La Chiesa di Treviso nel primo Quattrocento, Rom 1987, doc. 61, S. 542 f. (8. Februar 1418). 7 Cenci, Senato veneto, Anm. 67, S. 366 f. 8 Vgl. z. B. Cenci, Senato veneto, Anm. 35, S. 347 (S. Tommaso dei Borgognoni, 1392), Anm. 56, S. 359–360 (Bistum Méthone/Modone, 1411), n. 62 S. 364 (Bistum Rab/Arbe, 1414). 9 Girgensohn, Kirche, Politik, S. 106.

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76 Daniela Rando bar ganz ohne Skrupel bemühte sich die Republik zu erreichen, dass im Rahmen der lokalen kirchlichen Organisation die Schlüsselpositionen mit Personen ihrer Wahl besetzt wurden«, wie Dieter Girgensohn konstatiert. Daraus zu schließen, dass Konsens und Repräsentation durch eine politische Entscheidung »von oben herab« ersetzt wurden, wäre jedoch voreilig. Das »entwickelte System von Auswahl und Protektion«10 erlaubte Venedig zwar Überblick und Aufsicht über die großen Prälaturen und Pfründen seines umfangreichen Herrschaftsgebiets, doch heißt dies nicht, dass dabei die »Seelen« der Untertanen grundsätzlich außer Acht gelassen wurden; denn »abgesehen von fruchtbaren Verbindungen zur Kurie, war […] eine Kombination von staatstreuer Gesinnung mit guten geistlichen Eigenschaften am akzeptabelsten«.11 Gerade diese Kombination verkörperte der Gewinner der proba, der Dominikaner Giovanni ­Benedetto, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Die proba für Treviso war Teil einer größeren Aktion zur Neubesetzung frei gewordener Pfründen des Dukats: Seit 1415 ist in Venedig vorerst keine proba nachzuweisen, wahrscheinlich weil die Republik nach dem Amtsverzicht Papst Johannes’ XXIII. in Konstanz, an dem sie bis dahin festgehalten hatte, eine abwartende Haltung gegenüber den künftigen Entscheidungen des Konzils für opportuner hielt. Doch einen Monat nach der Wahl Martins V. am 11. November 1417 schrieb der Senat an »seinen« Kardinal Francesco Lando in Konstanz, er solle den neu gewählten Papst um die Aufschiebung der Provisionen bis zur Ankunft der offiziellen venezianischen Gesandtschaft bitten,12 und erst Anfang März 1418 bekamen die Gesandten ihre Instruktionen: Sie sollten, da das Domi­ nium die mittlerweile vakanten Prälaturen und Pfründen nur an »geeignete und ausreichende« Kandidaten vergeben wolle, den Papst um die Ernennung der von Venedig gewünschten Personen ersuchen. Ferner sollten sie den günstigsten Zeitpunkt nutzen, um den Papst dazu zu bringen, in Zukunft im Venezianer Gebiet keine Kommenden zu vergeben sowie dort gelegene Prälaturen und kirchliche Pfründen nur an Bürger Venedigs zu übertragen.13 10 Girgensohn, Kirche, Politik, S. 104. 11 Girgensohn, Kirche, Politik, S. 109; und vgl. ebenda, S. 86–89, 104–123. 12 Archivio di Stato di Venezia, Senato, Segreti, reg. 7, f. 1r ff., (29.12.1417). Schon 1406 bat die Signoria den Papst um Verzögerung bei einer Provision, »donec supplicabimus sanctitati sue pro persona, que erit grata et accepta sibi«: Girgensohn, Kirche, Politik, S. 106. 13 Archivio di Stato di Venezia, Senato, Segreti, reg. 7, f. 2v: »… dictas prelaturas et beneficia conferre civibus et fidelibus nostris ut divinus cultus debite ministretur et ut dicte prelature et beneficia sub debito ordine et regula gubernentur«.

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Im selben Monat März, das heißt immerhin drei Jahre nach der letzten ­proba, fanden sieben probae für Bistümer und Abteien des Dukats statt,14 darunter auch die für das Bistum Treviso. Sie waren wohl mit den Vorbereitungen für die Gesandtschaft nach Konstanz und der Aufstellung einer Liste vakanter Bistümer zur Vorlage beim Papst verbunden. In der Tat: Kurz nach der Ankunft der Vertreter Venedigs am Bodensee wurde der Gewinner der proba, der Dominikaner Giovanni Benedetto, von Martin V. mit dem Bistum Treviso providiert.15 Anfang Mai informierte der Doge Tommaso Mocenigo den örtlichen Podestà über die Ernennung, einen Monat später zog der neue Bischof in seine Diözese ein.16 Damit ist die Dynamik dieser Personalentscheidung deutlich geworden: Der Versuch einer »kanonischen« Wahl hatte keinen Erfolg; Venedig suchte sich einen eigenen Kandidaten aus, den der Papst durch seine Provision legitimierte. Wahl, proba im Senat und Provision: Das Zusammenspiel von drei Verfahren ermöglichte die Durchsetzung eines vom Dominium erwünschten Venezianers für den Bischofssitz der untergebenen Stadt. Dabei muss der besondere Kontext des Konstanzer Konzils mitberücksichtigt werden: Trotz lebhafter Diskussionen über die päpstlichen Reservationen17 ließen die von Martin V. 1418 mit den einzelnen nationes des Konzils abgeschlossenen Konkordate das päpstliche Reservationsrecht bestehen, jedenfalls soweit es dem ius scriptum (wohl den kurialen Kanzleiregeln) und dem Dekret Ad regimen von Benedikt XII. von 1335 entsprach.18 Ein Konkordatstext mit der natio Italica ist nicht erhalten, doch kann man davon ausgehen, dass die Kanzleiregeln von Urban V. mit ihrem festgesetzten Reservationsrecht auch für das Bistum Treviso (mit seinen servitia von 450 Gulden)19 weiterhin Gültigkeit behielt. Martin V. nahm dieses Recht ganz offensichtlich wahr: So wurde die »Basis«, das heißt Klerus und Volk, denen die Wahl ursprünglich zustand, umgangen und ihr Anspruch auf Zustimmung (consensus) ausgeblendet. Nach fast 40 Jahren Schisma und dadurch verursachter Schwächung der »Papstmonarchie« nahm der neu gewählte Martin V. die Empfehlung 14 Cenci, Senato veneto, n. 65–71, S. 365–369. 15 Pesce, La Chiesa di Treviso, S. 240 Anm. 293. 16 Pesce, La Chiesa di Treviso, S. 240 f. 17 Phillip H. Stump, The Reforms of the Council of Constance (1414–1418), Leiden 1993, S. 81– 84, 89. 18 Vgl. die Tabelle bei Stump, The Reforms, S. 83. 19 Hermannus Hoberg, Taxae pro communibus servitiis. Ex libris obligationum ab anno 1295 usque ad annum 1455 confectis, Città del Vaticano 1949, S. 119.

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78 Daniela Rando aus Venedig hin und passte seine Entscheidung den Wünschen des Senats an. Für die Kontrolle der Bistumsbesetzungen durch weltliche Mächte (Kaiser, Könige, Fürsten, Stadtkommunen) erwies sich die damalige kirchenpolitische Konstellation als besonders günstig.

»Der Gottesfreund« 20 Der neue Bischof stammte aus einer Familie des Kleinadels mit mittelgroßem Vermögen.21 Sein Vater, ein anerkannter Bankier »di scritta« (also einer Einlage­bank) auf dem Rialto-Platz, hatte ihn 1389 aus der väterlichen Gewalt entlassen und ihm für die Gründung einer Handelsgesellschaft und seinen Einstand als Kaufmann 2 000 Golddukaten anvertraut.22 Ein Jahr lang übte Giovanni (Zuane) Benedetto diesen Beruf aus, beschloss dann aber, die res humanae (die Welt) aufzugeben, um sich Gott (res divinae) zu widmen. 1390 gab er seinem Vater das Kapital mitsamt dem angefallenen Gewinn zurück und trat in den Dominikanerorden ein. Er wurde Schüler von Giovanni Dominici: Dieser charismatische Anhänger der Katharina von Siena und engagierte Prediger war gerade dabei, die Wiederherstellung der Regel in ihrer ursprünglichen Reinheit (also die Observanz)23 in seinem Orden zu fördern und fungierte als Beichtvater und geistlicher Führer mehrerer Mitglieder der venezianischen Elite.24 Neben Begeisterung und Bekehrungen rief sein Eifer aber auch Besorgnis und Widerstand hervor, vor allem, als er 1399 versuchte, die Buß- und Friedensbewegung der »Bianchi« nach Venedig zu führen: Die Regierung blockierte diese 20 So ein paduaner Chronist: Galeazzo e Bartolomeo Gatari, Cronaca Carrarese, confrontata con la redazione di Andrea Gatari [AA. 1318–1407] (RIS2, 17/1), hgg. von Antonio Medin und Guido Tolomei, Città di Castello 1909–1929, S. 579. Girgensohn, Kirche, Politik, S. 194–196. 21 Reinhold C. Mueller, Sull’establishment  bancario veneziano. Il banchiere davanti a Dio (secoli XIV–XV), in: Venezia nel tardo medioevo/Late Medieval Venice. Economia e società/ Economy and Society, hgg. von Luca Molà, Michael Knapton und Luciano Pezzolo, Rom 2021, S. 267–305, hier 281, 286. 22 Mueller, Sull’establishment bancario veneziano, S. 286. 23 Zuletzt Gabriella Zarri, Dallo scisma all’apogeo della Chiesa. I Domenicani tra i secoli XV e XVII, in: L’Ordine dei Predicatori. I Domenicani. Storia, figure e istituzioni (1216–2016), hgg. von Gianni Festa und Marco Rainini, Bari, Rom 2016, S. 30–57: 32–35, 54–55. 24 Giorgio Cracco, Banchini, Giovanni di Domenico, in: Dizionario Biografico degli Italiani 5 (1963); Daniel E. Bornstein, Giovanni Dominici, the Bianchi, and Venice. Symbolic Action and Interpretive Grids, in: Journal of Medieval and Renaissance Studies 23 (1993), S. 143–171, hier 145–148.

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»unerlaubte« Prozession und verurteilte den Dominikaner zu einer fünfjährigen Verbannung.25 Giovanni Benedetto wurde ein bevorzugter Mitarbeiter und Korrespondent des Ordensreformers. Mit einer ersten Gruppe von Brüdern trat er in das gerade reformierte Kloster S. Domenico und dann in Ss. Giovanni e Paolo ein – in beiden venezianischen Konventen hatte Dominici die Observanz eingeführt.26 Nicht nur mit Dominici, sondern unter anderem auch mit seinem Vetter Gabriele Condulmer (dem späteren Papst Eugen IV.), mit Angelo Correr (später Papst Gregor XII.) und deren Kreis beteiligte er sich an der religiösen Erneuerung, die Venedig Ende des 14. Jahrhundert erlebte:27 Indiz für eine solche Erneuerung sind eine Vielzahl von engagierten Laien und Priestern, neue Gemeinschaften wie etwa die Kanoniker von S. Giorgio in Alga und die Dominikanerinnen von Corpus Christi, Predigtkampagnen, eine Rückbesinnung auf eremitische Lebensführung. Sein Mitbruder und Chronist Tommaso da Siena berichtet vom besonderen Engagement Benedettos während der Pest von 1397, als er von seinem Vater und anderen Adligen, die in die Terraferma geflüchtet waren, sowie von der Regierung Geldspenden einwarb – wie ein Beschluss des Maggior Consilium bestätigt.28 Als Prior von Ss. Giovanni e Paolo arbeitete er eifrig mit Tommaso da Siena und Giovanni Dominici zusammen, um den domi­nikanischen Tertiaren eine Regel zu geben,29 und als Beichtvater und Vertrauensperson machte er sich einen Namen beim Adel der Lagunenstadt.30

25 Bornstein, Giovanni Dominici, S. 151–154; Girgensohn, Kirche, Politik, S. 123–128. 26 Pesce, La Chiesa di Treviso, S. 232–235; Gianfranco Spiazzi, Benedetti, Giovanni, in: Dizionario Biografico degli Italiani 8 (1966); Mueller, Sull’establishment bancario veneziano, S. 286– 289. 27 Mueller, Sull’establishment bancario veneziano, S. 285, 286–287, 292–293 (zum »Clan Condulmer«), 295 (Verwandschaft mit Gabriele Condulmer). 28 Corner, De Joanne Benedicto, S. 327–329; Pesce, La Chiesa di Treviso, S. 232–233; Mueller, Sull’establishment bancario veneziano, S. 287. 29 Tractatus de ordine ff. de paenitentia s. Dominici di F. Tommaso da Siena »Caffarini«, hg. von H. Laurent, Siena 1938, q.v. 30 Vgl. Mario Brunetti, Nuovi documenti viscontei tratti dall’Archivio di Stato di Venezia, Figli e nipoti di Bernabò, in: Archivio storico Lombardo 36 (1909), S. 5–90, hier doc. XIII, S. 85, 1409 agosto 4; Guiseppe Dalla Santa, Uomini e fatti dell’ultimo Trecento e del primo Quattrocento. Da lettere a Giovanni Contarini, patrizio veneziano, studente ad Oxford e Parigi, poi patriarca di Costantinopoli, Venedig 1916 (Nuovo Archivio Veneto, n.s. 16, t. XXXII), S. 5–105, hier 41 f. Zu Benedetto als Beichtvater Francesco Novellos da Carrara, siehe unten, Anm. 39.

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80 Daniela Rando Verwandtschaft, religiöse Orientierung und sein Priorenamt eröffneten ihm weitere Kontakte zur Kurie der römischen Obödienz,31 zu der sich Venedig im damals bereits über 20 Jahre andauernden Schisma offiziell bekannte. Im Sommer 1400 verlieh ihm Papst B ­ onifaz IX. das Patriarchat von Grado32 – einige Wochen vorher hatte dafür eine proba stattgefunden, allerdings ohne Teilnahme Benedettos.33 Vielleicht scheute dieser auch aus diesem Grund davor zurück, das Patriarchat anzunehmen, sodass der Papst einen Monat später einen anderen Venezianer – aber wieder nicht den Gewinner der proba – providierte (22. September 1400). Von Benedettos »Flucht« vor der Ernennung sprach Giovanni ­Dominici in einem Brief an ihn,34 und auch sein Freund Ruggero Contarini lobte dessen Verzicht am 13. September, als er seinem eigenen Bruder darüber berichtete: »Da er sich aus der Welt zurückgezogen hat, will er die Würde nicht annehmen, und trotz des Drucks von Verwandten und Freunden bleibt er standhaft und hartnäckig, denn er will um die Liebe Jesu arm sein – er hat ja ein reines Gewissen und keineswegs ein Wissen, das aufbläst«.35 Für Dominici und den gleichgesinnten Contarini ging es also bei Giovannis Verzicht um Kohärenz und radikales Armutsstreben – eine Rigorosität, die bei ihm auch später festzustellen ist. In den folgenden Jahren erscheint Benedetto als Ansprechpartner der venezianischen Regierung, insbesondere für die Beziehungen zur Kurie in Rom. Als »nobilis et dilectus civis noster« (unser vornehmer und wertgeschätzter Bürger) wurde er im Juli 1405 mit einem Bittgesuch zum Papst gesandt: Da Doge, Ratsherren, Prälaten und viele andere an einem Prozess wegen Verschwörung und an der vorschnellen Hinrichtung dreier Priester mitgewirkt hatten, baten sie den Papst um Absolution; Giovanni Benedetto selbst war in gewisser ­Weise in die Affäre verwickelt, da er einen der Denunzianten überzeugt hatte, den Fall anzuzeigen.36 31 U. a. die Kardinäle Cosma Migliorati, Angelo Correr und Gabriele Condulmer (jeweils zu Innozenz VII., Gregor XII. und Eugen IV.). 32 Bullarium ordinis FF. Praedicatorum … opera Thomae Ripoll editum et ad autographam fidem recognitum, a Antonino Bremond, II., Ab anno 1281 ad 1430, Rom 1730, S. 399 f. (11. August 1400). 33 Cenci, Senato veneto, Anm. 39, S. 350 f. 34 Flaminio Corner, Ecclesiae Venetae antiquis monumentis nunc primum editis illustrate ac in decades distributae, Decadis undecimae pars prior, Venetiis 1749, S. 311–319, hier 319. 35 Dalla Santa, Uomini e fatti, S. 42: »e perché l’è fuor de la polvere, el non’l vol azetar, e dey parenti et amixi soto, el non d’è muodo fin qui, ma chonstate et forte, e dixe vuol eser puovero per amor de miser Jexu Christo, e questo perchè l’à chonsienzia bona, e non sienzia che infla«. 36 Archivio di Stato di Venezia, Consiglio X-Misti, reg. 8, f. 106v–107.

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Die ihm anvertraute Bittschrift schildert die Umstände und den grausamen Tod, zu dem das geistliche Gericht die Priester – offenbar auf Druck der Regierung – verurteilt hatte: Nach (in zwei Fällen) unter Folter erzwungenem Geständnis wurden die Priester, noch lebend, kopfüber in eine tiefe Grube gesteckt und dann bis zu den Knien mit Erde bedeckt, sodass sie erstickten. Wenige Tage danach erscheint Benedettos Name in der proba für das reiche Bistum Verona: Dort erhielt er einen beträchtlichen Stimmenanteil, erreichte aber nur den zweiten Platz.37 Verona war gerade von Venedig erobert worden, und die Regierung wollte den damaligen Bischof für unerwünscht erklären. Im folgenden Jahr (Januar 1406) wurde Benedetto von der Signoria beauftragt, Francesco Novello da Carrara die letzte Beichte abzunehmen: Der ehemalige Herr von Padua lag mit seinen Söhnen in der »prigion forte« (im festen Kerker), nachdem sich seine Stadt am 22. November 1405 der Republik Venedig ergeben hatte.38 Nach mehreren Sitzungen und lebhaften Diskussionen beschloss der gefürchtete Rat der Zehn den Tod der drei Carraresi. Giovanni Benedetto wurde mit der undankbaren Aufgabe betraut, die Verurteilten auf die Hinrichtung vorzubereiten – bei ihm hatte Francesco Novello schon oft die Beichte abgelegt. Ein Chronist erzählt auch vom Versuch Francescos, sich Benedettos Kutte zu bemächtigen, um zu fliehen – doch der Handstreich scheiterte.39 Als wenige Monate später (30. November 1406) die Kardinäle der römischen Obödienz den Venezianer Angelo Correr (Gregor XII.) auf den päpstlichen Thron erhoben, wurde Giovanni Benedetto, den Freundschaft und reli­giöse Gesinnung mit Correr verbanden, zum Mittler zwischen Papst und Signoria. Erneut auf dem Weg zur Kurie, von der er gerade erst zurückgekehrt war, wurde er am 11. Oktober 1407 vom Dogen beauftragt, Gregor XII. eine Supplik zu Gunsten der venezianischen Bettelordensklöster zu überreichen: Sie waren wegen ihrer Zahlungsunfähigkeit exkommuniziert worden, worüber Giovanni Benedetto mit dem Papst bereits gesprochen hatte.40 Zwei Jahre 37 Cenci, Senato veneto, Anm. 42, S. 352 f. 38 Gatari, Cronaca Carrarese, S. 579–581. Zur prigion forte M. Chiara Ganguzza Billanovich, Carrara, Francesco da, il Novello, in: Dizionario Biografico degli Italiani 20 (1977). 39 Chronicon Tarvisinum ab anno MCCCLXVIII usque ad annum MCCCCXXVIII, auctore Andrea de Redusiis de Quero, in Rerum Italicarum Scriptores, XIX, Mailand 1731, Sp. 735–866, hier 818 f. 40 Archivio di Stato di Venezia, Senato Secreti, reg. 3, f. 79; Girgensohn, Kirche, Politik, S. 267; Pesce, La Chiesa di Treviso, S. 236, Anm. 277.

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82 Daniela Rando später (1409) erschien er vor dem Senat, diesmal im Namen Gregors XII. und mit der Bitte um zwei Galeeren zum Transport nach Cividale, wo der Papst ein »Unionskonzil« in Konkurrenz zum Pisaner Konzil einberufen hatte. Da die Position »ihres« Papstes inzwischen prekär geworden war, unter anderem wegen des Konflikts um das Patriarchat von Aquileia, lehnte die venezianische Regierung das Ersuchen nach mehreren Abstimmungen ab; gleichzeitig akzeptierte sie aber die Fürsprache Benedettos für Giovanni Dominici (22. Januar 1409), der um ein Schiff gebeten hatte, um als Legat Gregors XII. Ungarn und Polen erreichen zu können.41 Die an Benedetto übertragenen Aufgaben gingen mit weiteren probae einher – ob auf eigene Initiative oder auf die von Verwandten und Freunden, die ebenfalls einen Kandidaten zur proba anmelden konnten.42 Wenige Monate nach seinem Abschied von den Carraresi gewann er das Rennen in der proba für das Bistum Padua (4. März 1406),43 doch der Papst transferierte einen anderen ­Venezianer44 in diese Stadt. Nicht einmal eine Woche nach dem Auftrag des Senats wegen der Bettelordensklöster (11. Oktober 1407)45 nahm er an den ersten zwei probae für das Erzbistum Kreta teil46 und am 8. Juli 1409 erneut an einer proba für das Bistum Padua, von der keine Abstimmung bekannt ist. Auch in diesem Fall entschied sich Gregor XII. für eine Translation, doch er belohnte Benedetto wenige Wochen später – in Cividale, wo er sich zum Konzil aufhielt – mit dem prestigeträchtigen Erzbistum Ravenna. Offensichtlich akzeptierte dieser die Provision, denn er verpflichtete sich am 20. Juli zur Zahlung der Servitien.47 Seine Ernennung durch den schon in seinem Aktionsradius reduzierten Papst war gewiss auch der Republik Venedig willkommen, die schon lange mit einer Expansion in die Romagna liebäugelte. Benedetto konnte sich aber nicht gegen den Kandidaten des Pisaner Papstes durchsetzen und blieb daher nur aus der Sicht der römischen Obödienz Erzbischof-Elekt. Danach verschwindet sein Name sieben Jahre lang aus den venezianischen probae, sicherlich wegen der am 21. August 1409 getroffenen, umstrittenen Ent41 Girgensohn, Kirche, Politik, S. 328; Nr. 62, S. 487–490 und Nr. 64, S. 492 f. 42 So Ruggero Contarini: Girgensohn, Kirche Politik, S. 104. 43 Cenci, Senato veneto, Nr. 44, S. 354. 44 Es handelte sich um Albano Michiel, bis dahin Erzbischof von Korfu. 45 Archivio di Stato di Venezia, Senato Secreti, reg. 3, f. 79; Girgensohn, Kirche, Politik, S. 267. 46 Bei der ersten proba erreichte Benedetto den dritten Platz von fünf; bei der zweiten einige Monate später ist keine Abstimmung erhalten; bei der dritten erschien er nicht mehr. 47 Pesce, La Chiesa di Treviso, S. 237.

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scheidung Venedigs, die Obödienz zu wechseln und Alexander V. anzuerkennen, der von den in Pisa tagenden Kardinälen nach Absetzung Gregors  XII. und Benedikts XIII. gewählt worden war. Dem Obödienzwechsel folgte die Verbannung aller Anhänger Gregors XII.: Sie traf am 26. August 1409 auch Giovanni Benedetto, der wie Dominici und manche Venezianer Papst Correr weiter anhing.48 Zusammen mit seinem Bruder49 blieb Benedetto weiter an der Seite Gregors XII., der ihn mit verschiedenen Aufgaben betraute. Er ernannte ihn unter anderem 1410 zum Kollektor der Apostolischen Kammer für die Diözesen Castello, Torcello und Chioggia. Trotz des Banns erhielt Benedetto gelegentlich die Erlaubnis, sich aus familiären und persönlichen Gründen in Venedig aufzuhalten, so im Sommer 1414 zur Einschiffung anlässlich einer Pilgerreise ins Heilige Land. Das zeigt, dass die Serenissima ihm nach wie vor mit Wohlwollen begegnete – er selbst versicherte dem Rat der Zehn gegenüber, er sei »optime dispositum ad honores et obedientiam nostri Dominii« (der Herrschaft gegenüber äußerst ergeben).50 Wahrscheinlich pilgerte er zusammen mit dem Herzog von Österreich Ernst dem Eisernen nach Jerusalem, der zur gleichen Zeit in Venedig um eine Galeere nachgesucht hatte und im November 1414 wieder zurückkam. Als das Konzil von Konstanz Ende 1414 eröffnet wurde, war Giovanni Benedetto, anders als seine Freunde Giovanni Dominici und Giovanni Contarini, zunächst nicht Mitglied der Gesandtschaft Gregors XII. Spätestens Anfang 1416 ist aber auch er in Konstanz nachweisbar, denn als electus von Ravenna unterzeichnete er die Konstitutionen von Narbonne (4. Februar 1416). Er blieb bis zum Ende des Konzils in Konstanz und konnte somit die Ankunft der venezianischen Gesandten im Frühjahr 1418 und die Verhandlungen mit dem neu gewählten Papst Martin V. um seine Provision mit dem Bistum Treviso miterleben: Als Mitglied der natio Italica am Konzil kannte ihn Kardinal Oddo Colonna, später Papst Martin V., wohl persönlich; möglicherweise half aber auch, dass Giovanni Dominici als Kardinal von Ragusa ein Wähler Martins im Konklave gewesen war. Zusammen mit dem päpstlichen Gefolge begleitete Benedetto den Papst auf seiner Rückreise nach Italien, zog dann nach Treviso 48 Corner, De Joanne Benedicto, S. 373. 49 Ludwig Schmitz, Die Quellen zur Geschichte des Konzils von Cividale 1409, in: Römische Quartalschrift 8 (1894), S. 217–258, hier 226 (J. 1408). 50 Corner, De Joanne Benedicto, S. 376, Pesce, La Chiesa di Treviso, S. 238 Anm. 283.

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84 Daniela Rando und nahm seine Diözese in Besitz: Nach seinem Zögern im Jahr 1400 (Grado) und der gescheiterten Provision in Ravenna übernahm er nun endlich das Bischofsamt. »Reich in der Welt, aus bedeutender Familie und ruhmvoller Stadt, wegen seiner Beredsamkeit bekannt, gesegnet mit Freunden (»refertus amicis«), durch seine Würde erhaben und mit Gütern ausgestattet, die ihm anvertraut wurden«: So begrüßte ihn Giovanni Dominici nach seiner ersten Ernennung 1400 für Grado, als er ihn schon als »Patriarchen der Armen« sah.51 Weniger überschwänglich und ganz en passant – aber umso überzeugender – bezeichnete ihn ein Paduaner Chronist als »huomo amico di Dio«, als Gottesfreund, ähnlich wie der bekannte Humanist Francesco Barbaro, der den Rat Benedettos schätzte und ihn als heiligen Mann, hervorragenden und gütigen Bischof würdigte (»sanctus vir, optimus et benignissimus pontifex«). Seinerseits erklärte sich Benedetto bereit, die Signoria zu ehren und ihr zu gehorchen. Wenn also »abgesehen von fruchtbaren Verbindungen zur Kurie […] eine Kombination von staatstreuer Gesinnung mit guten geistlichen Eigenschaften am akzeptabelsten«52 für Venedig war, dann erfüllte seine Ernennung offensichtlich jede dieser Anforderungen. Auf Empfehlung Venedigs und mit Zustimmung des neuen Papstes gelangte »der Gottesfreund« nach dem Trubel des Schismas in den Besitz des Bistums Treviso. Den Erwartungen seiner Schäfchen entsprach seine Erhebung aber nicht.

Ein »unerwünschter« Bischof Während seines fast dreijährigen Aufenthalts in Konstanz53 nahm Giovanni ­Benedetto wohl auch an den Debatten teil, die die Konzilsväter unter anderem über die reformatio in membris (die Kirchenreform an den Gliedern) führten.54 Mehrere Vorschläge, die es dann aber nicht bis zur Approbation schafften, be-

51 Corner, Ecclesiae Venetae, S. 313, 315. 52 Girgensohn, Kirche, Politik, S. 109. 53 Vgl. Pesce, La Chiesa di Treviso, S. 543–544, doc. 62. 54 Vgl. Ansgar Frenken, Aktuelle Publikationen zum Konstanzer Konzil (1414–18), https:// www.hsozkult.de/review/id/reb-22010?title=aktuelle-publikationen-zum-konstanzer-konzil-1414-18&recno=4&q=frenken&sort=newestPublished&fq=&total=14.

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trafen das Leben der Kleriker und das Konkubinat55 – heiße Eisen, die bereits auf der Tagesordnung vieler früherer Konzilien gestanden hatten und auch später aktuell blieben. Schon 1400 hatte Giovanni Dominici das Thema in seinem Brief an Giovanni Benedetto behandelt, und zwar in Form eines kleinen Bischofsspiegels für den frisch ernannten Patriarchen. Dominici empfahl ihm ausdrücklich die Vertreibung der »Konkubinarier, verheirateten und lüsternen« Klerikern, mit allen denkbaren Rechtsmitteln. Benedetto solle die Reinheit der Sakramentenspender gewährleisten, damit er selbst keine Todsünde begehe.56 Im Einklang mit jener Ermahnung Dominicis und vielleicht auch unter dem Eindruck der Konstanzer Reformvorschläge ging Benedetto gleich nach seiner Ankunft in Treviso das Problem an: Er berief eine Diözesansynode ein – Synoden galten damals als bevorzugtes Reform- und Seelsorgeinstrument. Unter Androhung von 25 Lire für jeden Verstoß und höherer Kirchenstrafen für Ungehorsame und Hartnäckige schrieben die Synodalstatuten den Klerikern der Diö­zese vor, ihre Konkubinen zu verlassen und keine Sakramente zu spenden, bis sie das getan hatten.57 Die Maßnahmen stießen bei einem Teil des Diözesanklerus auf Widerstand und führten zu einem zermürbenden Konflikt. Einige Monate nach der Synode verschärfte Benedikt seine Anweisungen, nicht zuletzt, weil die Bußgelder ignoriert worden waren: Einige Konkubinarier warf er sogar ins Gefängnis. Fast hundert Kleriker des Territoriums rea­gierten mit einer »Gegensynode« (»certa synodus«)58: Die Versammlung verlangte vom Bischof die Rücknahme seiner Maßnahmen, andernfalls würde sie sich an den Dogen wenden. Da Benedetto sich nicht einschüchtern ließ, zogen einige Vertreter der Konkubinarier mit einem Rechtsberater zum Dogen und legten eine Klageschrift gegen ihn vor. Sie verteidigten ihre Lebensweise, die Älteren Hilfe und Unterstützung sicherte und jungen Geist55 Stump, The Reforms, S. 139–142 und Appendix, First Reform Committee. Common Collection, c. 39, S. 364–365, c. 49, S. 370; Extravagantes, Extrav. 1, S. 411. 56 Corner, Ecclesiae Venetae, S. 317: »Silere tamen ex toto non possum, quinimo tuis pedibus jaceo provolutus, cum lacrymis orans, ut tui dilectissimi amatoris pariter & amati miserearis Domini Jesu Christi, ut non patiaris sub tuo sceptro potenti ipsum iterum crucifigi nefande a manibus impudicorum Sacerdotum. Pelle de sede tua omni jure, quo vales, clericos uxoratos, concubinarios & lascivos. Para munda vasa mundissimo Domino; sciens, te non parum peccasse, si non obsistas peccatum cum vales«. 57 Zum Folgenden vgl. das nun verschollene Prozessdossier, das Flaminio Corner anhand einer zeitgenössischen Transkription im 18. Jahrhundert edierte: Corner, De Joanne Benedicto, S. 383–404. Dazu Pesce, La Chiesa di Treviso, S. 242–247. 58 Corner, De Joanne Benedicto, S. 385.

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86 Daniela Rando lichen ermöglichte, Unzucht mit anderen Frauen und die daraus entstehenden noch größeren Gefahren und Skandale zu vermeiden. In düsterem Licht schilderten sie die Lage der vom Bischof inhaftierten Kollegen, die, auf Brot und Wasser gesetzt, fast verhungerten  – wahrscheinlich eine Art Buße, die wegen Unzucht auferlegt worden war. Sie erwähnten auch das Schicksal eines gefangenen Priesters, der sich aus Verzweiflung in seiner Zelle zu erhängen versucht hatte, in extremis aber gerettet und nach Entzug seiner Pfründe verbannt worden war; dazu noch die Fehlgeburt einer Konkubine – all diese Grausamkeiten geschähen nur aus Geldgier, so die Andeutung der Konkubinarier. Mehr noch: Einigen Klerikern seien ihre Pfründen entzogen, andere verbannt worden; der Bischof habe die Laien gegen sie aufgestachelt, indem er in der Fastenpredigt die Frauen dazu aufgefordert hatte, für ihn zu beten, weil die »ungläubigen Priester (impii) ihn ermorden wollten«, sowie Männer gegen »die verfluchten Priester« zu Hilfe gerufen, weil er sie nicht selbst züchtigen könne. Schließlich habe er die Konkubinarier feierlich exkommuniziert. Dies habe er ohne förmlichen Prozess vollzogen, »unmenschlich«, »stumpf« und »autoritär«, ohne Rücksicht auf die derzeitigen Schwierigkeiten, nämlich Krieg, Natur­katastrophen, Hungersnot. Damit noch nicht zufrieden, habe der Bischof S­ pione durch die Diözese geschickt, die aus reiner Gefälligkeit Anschuldigungen erfunden hätten. Das Bittschreiben schloss mit einer Klage über ihr düsteres Schicksal: Die gebrochenen Kleriker würden gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und in fremden Ländern zu betteln. Daher ihr ­Hilferuf an den Dogen und die Bitte um sein Eingreifen. So begann ein Tauziehen, bei dem sich der Doge mehrmals sowohl in schriftlicher Form als auch mit Vorladungen nach Venedig an den Bischof wandte, dessen Ruf und dessen Integrität er vollauf anerkannte. Mocenigo versetzte sich aber auch in die Lage seiner Kleriker und rechtfertigte ihr »nicht rühmliches« (»non laudabilis«) Verhalten: Konkubinat sei ein weitverbreitetes Laster, das durch eine harte Züchtigung nicht beseitigt werden könne; der Bischof sollte die schwierigen Zeiten berücksichtigen, in denen die Gemüter der Untertanen nicht gereizt, sondern eher besänftigt werden sollten. Nach seiner »liebevollen« Aufforderung – ein Zeichen seiner Hochachtung Giovanni Benedetto gegenüber – solle der Bischof »auf humane Weise, ohne Neuerungen« reformieren und dem Beispiel der Prälaten in den anderen Diözesen Venetiens sowie in »der ganzen Welt« folgen, die die Sache stillschweigend (»cum dissimulatione«) übergingen, um schlimmeren Schaden zu vermeiden. Denn sei-

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ne Laien/Untertanen würden in ihren Kirchen sowieso keinen Kleriker ohne Konkubine dulden, aus Eifersucht und Misstrauen gegenüber ihren eigenen Frauen! Giovanni Benedetto ließ sich davon nicht beeindrucken: Punkt für Punkt antwortete er auf die Klage und mahnte – in cauda venenum – den Dogen auch noch: Mocenigo habe sich bisher als Wahrer des Rechts erwiesen, nun solle er ihm, dem Bischof, als Pfleger der Gerechtigkeit nicht als Störenfried entgegenwirken. Ohne einen weiteren Brief des Dogen zu beachten, erließ er am 16. Januar 1420 ein neues Edikt, in dem er die Konkubinatskleriker von ihren Pfründen suspendierte und sie gleichzeitig unter Androhung des endgültigen Entzugs aller Pfründen sowie anderer schwerwiegender Maßnahmen aufforderte, ihre Konkubinen innerhalb von 20 Tagen zu verlassen. Seine Maßnahmen verschärfte er durch ein weiteres Edikt gegen die Tricks vieler Konkubinarier, die ihre Frauen in benachbarten Häusern unterbrachten und dort besuchten: Konkubinen sollten den jeweiligen Pfarrbezirk innerhalb von sechs Tagen verlassen; Klerikern, die ungehorsame Frauen denunzierten, versprach Benedetto wohlwollende Behandlung. Schließlich unternahm er selbst eine ­Visitation in der Diözese und griff direkt ein. Von der Synode, über die Edikte gegen die trickreichen Kleriker, bis zur Visitation entsprachen alle Maßnahmen genau den auf dem Konstanzer Konzil debattierten Vorschlägen.59 Daraufhin besorgten sich drei der mächtigsten und »unverbesserlichsten« Konkubinarier, denen Benedetto ihre Pfründen entzogen hatte, Empfehlungsschreiben von einflussreichen Venezianern. Auch dies blieb ohne Erfolg – sollte doch Benedetto nach dem Rat, den ihm Giovanni Dominici schon 1400 gegeben hatte, keine Einschüchterung fürchten und nicht die Gunst der Bösen suchen.60 Auch nach einem Pestausbruch gab der nun in Torcello weilende Bischof immer noch keinen Bitten oder Fürsprachen nach. Daraufhin organisierten seine Gegner eine kleine »Expedition«: Mit adligem Schutz und Unterstützung ihrer mit Konkubinen lebenden Kollegen erschienen sie noch mal vor dem ­Dogen, diesmal aber unter Begleitung ihrer Dorfbewohner (rustici). Dermaßen unter Druck gesetzt, kam der Doge ihren Bitten nach und kassierte die bischöflichen Maßnahmen. Angesichts der Pest und einer Erkrankung 59 Vgl. Stump, The Reforms, S. 411, Extrav. 1. 60 Corner, Ecclesiae Venetae, S. 317.

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88 Daniela Rando Bene­dettos hofften die Konkubinarier sogar auf dessen Tod. Doch der Bischof erholte sich. An diesem Punkt enden die hier ausgewerteten Prozessakten  – wahrscheinlich wurde das Verfahren ausgesetzt. Die Konkubinarier kommen jedenfalls in den Quellen nicht mehr vor. Aber nicht nur der Pfarrklerus, auch die Kanoniker der Kathedrale, die 1416 ihren Dekan zum Bischof gewählt hatten, gerieten mit Giovanni Benedetto in scharfen Streit. Nach mehreren Reibereien erhoben sie gegen ihn beim Papst eine Anklage wegen Belastungen (»iniurie«) und Usurpationen ihrer Gerichtsbarkeit (18. April 1429).61 Im Lauf des Verfahrens legten sie zusammen mit dem Stadtklerus ein um weitere Punkte erweitertes Plädoyer gegen Benedetto vor und verschärften damit ihre Anklage: über die Jurisdiktion hinaus um eine umfassende Beschwerde gegen die Person des Bischofs und seine Regierungspraxis. Die Vorwürfe lauteten auf Amtsmissbrauch, Widersprüche zwischen gepredigten Tugenden und persönlichem Verhalten, Geiz, Habgier, Vetternwirtschaft und vieles mehr. Unter anderem habe der Bischof vor frommen Frauen (»mulierculae«) töricht und trivial (»verba insana et indocta«) gepredigt; er habe keinem Pfarrer, den er nicht geprüft habe, erlaubt, Taufen vorzunehmen; daher seien Kinder auf dem Land ungetauft gestorben. Das Vorgehen des Bischofs habe Hass, Schlägereien und Skandale im Klerus provoziert, dazu noch Entbehrungen, Unruhen und Spannungen (»inquietacione«) verursacht, sodass die Frömmigkeit der Laien, der Glaube und die guten Sitten bedroht worden seien. Daher forderten die Domkanoniker vom Papst Benedettos Amtsenthebung, Suspension oder »wenigstens« Versetzung sowie die Ernennung eines neuen Bischofs (»eo […] privato, suspenso aut saltem translato«). Und noch einmal befasste sich der venezianische Senat mit der Affäre, diesmal jedoch zu Gunsten Benedettos: Zu seinen Gunsten und gegen jene, die seinen Ruhm und seine Ehre besudelten, schrieben die Senatoren 1429 an Papst Martin. Vor mehreren päpstlichen Delegierten zogen sich die Auseinandersetzungen noch zwei Jahre hin. Bei dessen Nachfolger Eugen IV. (Gabriele Condulmer), seinem Verwandten und alten Freund, fand der Bischof aber schnell Gehör, bis im Mai 1432 eine Einigung erzielt wurde: Man beschloss eine Überarbeitung der Kapitelsstatuten und ließ die Anschuldigungen gegen den Bi-

61 Pesce, La Chiesa di Treviso, S. 254. Zum Folgenden ebenda, S. 254–256.

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schof offensichtlich fallen.62 In derselben Zeit trat Giovanni Benedetto immer öfter im Dienst E ­ ugens IV. als vertrauter Vermittler und mit heiklen politischen Aufträgen außerhalb der Diözese Treviso auf.63

Semantik der Personalentscheidung Der »Fall« Giovanni Benedetto ist ein Paradebeispiel für die Überprüfung von Modi, Erwartungen, Erfolgen und Misserfolgen einer Personalentscheidung über eine gesellschaftliche Schlüsselposition, als welche Bistumsbesetzungen nicht nur im Mittelalter bezeichnet werden können. Nachdem die Bischofswahl im Laufe des 12. Jahrhunderts auf die örtlichen Domkapitel übergegangen war, konnten sich die Kanoniker von Treviso 1416 bei andauernder Papst­ vakanz einen der vom IV. Laterankonzil 1215 festgelegten Wahlmodi aussuchen, und unter Vorbehalt der Zustimmung des zu wählenden Papstes den eigenen Dekan nach dem Mehrheitsprinzip zum Bischof wählen. Diese »kanonische« Wahl durch ein spezialisiertes Klerikergremium, dem allerdings generell immer weniger Gewicht zukam, unterlag im Herrschaftsgebiet von Venedig dem Verfahren der proba, das die Signoria herangebildet hatte. Der Senat setzte sich im Fall Treviso beim Papst für seinen eigenen Kandidaten ein, der Papst konnte ihn akzeptieren und providieren: eine einfache Ernennung von oben, die die kanonische Wahl überging und die Entscheidung der Senatoren, mithin des führenden politischen Organs, ratifi­zierte. So wurde die »Basis«, das heißt Klerus und Volk, denen die Wahl ursprünglich zustand, umgangen und ihre vom Kirchenrecht vorgesehene Zustimmung (»consensus«) vernachlässigt. Nach dem fast 40 Jahre andauernden Schisma ging der neu gewählte Papst, Martin  V., auf die Empfehlung Venedigs ein und passte seine Entscheidung den Wünschen des Senats an. Der Wahlakt in Treviso verweist auf die Komplexität des Auswahlverfahrens, denn in ihm kamen Beziehungen, Hintergrundgespräche und Kompromissvereinbarungen zum Tragen. Verhandlungen lassen sich auch im Karussell der venezianischen probae erahnen, in die Giovanni Benedetto gewollt oder 62 Pesce, La Chiesa di Treviso, S. 256; Luigi Pesce, Ludovico Barbo vescovo di Treviso (1437– 1443). Cura pastorale, riforma della Chiesa, spiritualità, Padua 1969, S. 83 f. 63 Benedetto starb am 14. April 1437 an der Kurie: Pesce, La Chiesa di Treviso, S. 275; Pesce, Ludovico Barbo, S. 3.

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90 Daniela Rando ungewollt verwickelt wurde, sowie in der päpstlichen Entscheidung, die auf Druck der Venezianer in Konstanz getroffen wurde. Nichtsdestoweniger schien das Profil des Prälaten den zeitgenössischen Bischofsspiegeln zu entsprechen: Er verfügte über Integrität, Eifer, Engagement in der Seelsorge, strenge Sitten.64 Dazu erfüllte er auch die sonstigen Erwartungen der venezianischen Regierung: ein Bürger Venedigs, der sich als obrigkeitstreu erwiesen hatte, mit dem Senat zusammenarbeitete und gute Verbindungen zur Kurie hatte.65 Als angesehener Reformer und Prediger, dessen Stimme auch im venezianischen Adel Gewicht hatte, verband er Qualitäten, die sowohl das Dominium als auch der Papst zu schätzen wussten. Mit der Praxis konfrontiert, provozierte dieser Bischof jedoch Spaltung, Aufruhr und »Skandal«. Vor Ort war seine Wirkung negativ, ja beunruhigend in den Augen derer, die über Seelen und Körper der Untertanen beziehungsweise Gläubigen herrschten. Neben den Hauptakteuren der zuvor getroffenen Personalentscheidung – Domkapitel in Treviso, Senat in Venedig, Papst in Konstanz – kamen nun die beim Entscheidungsprozess im Hintergrund Gebliebenen ins Spiel: die klerikale »Basis« auf dem flachen Land; Frauen und Männer, die von Benedetto als Prediger mit einem direkten Appell an sein »Volk« einbezogen wurden; venezianische Adlige mit ihren »Empfehlungen« zur Unterstützung der Konkubinarier; Dorfbewohner, die als Druckmittel demonstrativ nach Venedig, ins Zentrum der Macht, gebracht wurden. Während die Konkubinarier aus den ländlichen Gebieten der Diözese allein bei der Signoria auf Gehör hoffen konnten, wandte sich die Elite des Stadtklerus (das Domkapitel) direkt an den Papst, denn sie wusste, wie man sich in einem Verfahren an der Kurie zurechtfindet. Das Scheitern Benedettos im Umgang mit seinen Schäflein lässt sich auf eine gewisse »Übererfüllung« von Erwartungen zurückführen. Sein glühender Eifer66 führte ihn zur Konfrontation. Wie er selbst sagte, duldete er weder die Beleidigung Gottes noch die Beeinträchtigung seiner Ehre (das heißt seiner Würde) und seines Gewissens – also ein Dreieck Gott, Kirche als Institution und Gewissen. Dem Dogen gegenüber stellte er sich als »Förderer der Gerech64 Vgl. vor allem Jean Gerson, dazu Daniela Rando, Johannes Hinderbach (1418–1486). Eine »Selbst«-Biographie, Berlin 2008, S. 228. 65 Girgensohn, Kirche, Politik, S. 109. 66 So Benedetto in seinem Edikt vom 16.1.1420: Corner, De Joanne Benedicto, S. 398 (der Text lautet: »zelo succensi conscientiae«).

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tigkeit« dar, seinem Klerus gegenüber führte er die ihn betreffende Personalentscheidung (Bischofserhebung) auf göttliche Gnade sowie päpstlichen Entscheid zurück (»a sede apostolica destinati«). Ihn trieb – modern ausgedrückt – ein »Leistungsprinzip« an, nämlich der Wunsch nach Effizienz und Entschlossenheit, bis hin zur »Tyrannei«.67 Denn er beharrte auf seinen Reformideen und wollte diese unverzüglich und geradezu herrisch durchsetzen (»ex abrupto et sui potestate«). Gleich nach Amtsantritt berief er eine ­Synode ein, erließ Edikte, setzte Inspektoren (»Spione«) ein und engagierte sich schließlich persönlich in der Visitation; er predigte, prüfte und »wählte« seine Kleriker aus, bevor sie die Sakramente spenden durften. Das entsprach exakt jenem eifrigen Engagement, das Konzilien und specula episcoporum der Zeit verlangten. Auf eine derartige »Übererfüllung« reagierte der Doge mit Verwunderung und mit dem Appell an ein realistischeres Verhalten; seine Empfehlung zu Verschweigen, Übersehen und Kompromissbereitschaft widersprach aber dem Vorbild und »Leistungsprinzip« Giovanni Benedettos.68 »Wohlwollend« und »sanft« (»benigne, dulciter«),69 vor allem »menschlich« (»humane/humaniter«), so lautete die Semantik des Pragmatismus – die Bitte um Menschlichkeit spiegelt sich nicht zufällig in den Worten des Dogen wider, der verständnisvoll für Priester und Frauen warb, die »gemeinsam alterten« (»simul consenuerunt«).70 Deshalb wurde der Starrsinn des Bischofs von den Konkubinariern (oder in ihrem Namen) als »säuerlich und sinister« verurteilt (»asperrime et sinistre«); die Domherren verstanden ihn ihrerseits als Heuchelei und prangerten damit die Diskrepanz zwischen Erwartung und Verwirklichung an, das heißt die Unerfüllbarkeit des Strebens nach einem Ideal, das nicht einmal der Bischof selbst umsetzen konnte. »Unmenschlichkeit« und »Heuchelei« übersetzen das Versagen eines zwar geeigneten Prälaten, der seine Aufgabe aber selbst zu einer so undankbaren machte, dass sie unlösbar wurde. 67 Nach der Anklage des Domkapitels: »ex radice depravate hypocrisis et tirannice insolentie«: Pesce, La Chiesa di Treviso, doc. 80a, S. 565–567, hier S. 565. 68 So lauteten die Empfehlungen des Dogen Tommaso Mocenigo: Corner, De Joanne Benedicto, S. 393 (weitere Prälaten »propter evitare pejora cum dissimulatione praetereunt«), 396 (»cum dictis Praesbyteris transire«). 69 So mehrmals der Doge: Corner, De Joanne Benedicto, S. 393–394 (»humaniter«), S. 396 (»benigne, dulciter et humane«). Benedetto behauptete, er hätte sich »mitissime et dulce« verhalten (S. 394) und wiederholte es in seinem Edikt vom 16. Januar 1420 (»misericorditer et ­benigne«, S.  398). 70 Corner, De Joanne Benedicto, S. 392: »nam simul consenuerunt«.

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92 Daniela Rando Das Scheitern Benedettos lässt sich an der Nachsicht des Dogen messen, der sich letztendlich auf die Seite der Priester und gegen die Maßnahmen des Bischofs stellte, sowie an der eindringlichen Forderung des Domkapitels, ihn abzusetzen und auf einen anderen Bistumssitz zu versetzen. Allerdings lassen die Quellen das Ende des Streits mit den Konkubinariern nicht erkennen, während die frontale Auseinandersetzung mit dem Domkapitel immerhin zu einem Kompromiss führte, der die Absetzung des Bischofs verhinderte. Benedetto genoss weiterhin das Vertrauen des venezianischen Papstes, und sein Eifer wurde reformfreundlichen Ordensleuten zum Vorbild: Laut Bernardino da Siena »wagten früher die Prälaten die Exkommunikation der Sünder, die sich nicht bessern wollten; der Bischof von Treviso, ein heiliger Mann, hat genau das vor nicht allzu langer Zeit getan und alle exkommuniziert, die in Unzucht lebten. Und so sollte man es tun, aber das passiert nicht, denn ihnen (den Prälaten) wird nicht genug gehorcht und das Licht, das sie den Menschen geben sollten, ist fast erloschen oder verborgen«.71 Der observante Franziskaner Bernardino bestätigt so das Urteil Francesco Barbaros (Giovanni Benedetto als »heiliger Mann«) und zeigt gleichzeitig die Aporien einer Personalentscheidung aus der Perspektive eines Reformers auf: »Die Perspektive, ja das Auge des Betrachters, in Zusammenhang mit dem Bezugspunkt […], auf den sich das Auge richtet, konstruieren einen Menschen als einen Verlierer – oder eben nicht«.72

71 »Al buon tempo i preti, e vescovi, e prelati avevano l’ardire e l’audacia di scomunicare chi stesse in peccato mortale, che non si volesse correggere. El vescovo di Trevigi, santo uomo, poco tempo è che lo fece a Trevigii, che scomunicò ognuno e ognuna che stesse in adulterio. E così si vorrebbe fare; e non si fa perché poco sono ubbiditi, e perchè il lume che debbono dare a’ popoli è quasi ispento o nascoso«: Bernardino da Siena, Le prediche volgari, hg. von Ciro Cannarozzi, Firenze 1940 (IV., Quaresimale del 1425, II), S. 185. 72 Stefan Mager, Perspektivität und Subjektivität einer Theorie des Verlierertums. Diskussionszusammenfassung, in: Verlierer der Geschichte. Von der Antike bis zur Moderne, hgg. von Marian Nebelin und Sabine Graul, Berlin 2008, S. 327–330, hier S. 328.

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Eine gescheiterte Wahl auf dem Baseler ­Konzil – Juan de Segovia über die ­Absetzung Eugens IV. (1439) Davide Scotto

Lasst euch von niemandem verführen mit leeren Worten; denn um dieser Dinge willen kommt der Zorn Gottes über die Kinder des Ungehorsams. Epheser 5,6

Die Absetzung Eugens IV. unter der Perspektive der Personalentscheidungen Die Untersuchung einer großen Zahl von Konflikten über gesellschaftliche Schlüsselpositionen von der Spätantike bis zum 20. Jahrhundert führt zu einer komplexen und dynamischen Definition des »Scheiterns«. Im Unterschied zum Konflikt oder zum ausbleibenden Erfolg, die während der Phase der Auswahl des Personals und daher vor der eigentlichen Festlegung auf eine Person stattfinden, tritt das Scheitern danach ein und ist daher eng mit den Erwartungen derjenigen, die die Personalentscheidung getroffen haben, an den Amtsträger verknüpft. Im breiteren Zusammenhang der Konflikte über die Bewertung von Personalentscheidungen ist eine genauere Untersuchung eines Falles besonders interessant, der um den Kastilischen Theologen Juan de Segovia (1393–1458), einen der Protagonisten des Baseler Konzils (1431–1449), kreist. Um die Dynamiken des Scheiterns zu analysieren, werden hier die Argumente Segovias für eine Absetzung des Papstes Eugen IV. (geboren in Venedig als Gabriele Condulmer) betrachtet, die am 25. Juni 1439 auf dem Konzil von ­Basel

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94 Davide Scotto beschlossen wurde, nach einem Rechtsstreit, der anderthalb Jahre dauerte und mit der Verurteilung des Papstes wegen Häresie endete. Aus der Perspektive der Personalentscheidungen dokumentierte der Prozess a­ uf ­juristischer und theologischer Ebene, dass die Auswahl der Person, die an der Spitze der Kirche stehen sollte, gescheitert war. Segovia hatte mehr als ein Jahrzehnt (1422–1433) nacheinander die drei Lehrstühle für Theologie an der Universität von Salamanca inne. Er wurde im April 1433 Mitglied des Konzils, erst als Botschafter, dann als Vertreter seiner kastilischen Universität. Er war Teil der deputatio fidei und Redakteur ausführlicher Traktate und allegationes zu Themen wie der Unbefleckten Empfängnis und der Pneumatologie. Darüber hinaus war er in schriftlichen und mündlichen Beiträgen ständig in den Streit um das Verhältnis zwischen Papst und Konzil verwickelt. Er diskutierte unter anderem mit Nikolaus von Kues und dem Erzbischof von Sevilla, Juan de Cervantes, über den Islam und wurde als Vertreter des Konzils mit diplomatischen Missionen betraut, nicht zuletzt gegenüber den Abgesandten des Reichs. Überzeugter Vertreter der Oberhoheit des Konzils gegenüber dem Papst in ekklesiologischen Fragen, die in den Jahren des Baseler Konzils auf der Grundlage der Dekrete von Konstanz (Haec Sancta, 1415; Frequens, 1417) neu durchdacht worden waren, trug Segovia durch mehrere mündliche und schriftliche Interventionen zu der juristischen Position bei, die zur Absetzung Eugens IV. führen sollte. 1439 wurde er durch Papst Felix V. – der fünf Monate nach der Absetzung Eugens IV. auch mit der Stimme Segovias im Konklave in Basel gewählt worden war  – zum Kardinal erhoben. Er blieb bis zur Auflösung des Konzils 1449 der konziliaren Position treu. Obgleich er sein Kardinalamt wieder verlor, gewährte ihm Nikolaus V., der Nachfolger Eugens IV., eine jährliche Pension, mit der er sich in das abgelegene Priorat Aiton in der Diözese von Saint Jean de Maurienne in Savoyen zurückziehen konnte. Dort schrieb er die unvollendete Historia gestorum generalis synodi B ­ asilensis, die ausführlichste und sorgfältigste Chronik des Baseler Konzils neben jener von Johannes von Ragusa. In den gleichen Jahren schrieb er zwei ekklesiologische Traktate, die von der konziliaren Theorie inspiriert waren. Auch diese blieben unvollendet, da der Fall Konstantinopels und das dadurch neu erwachte Interesse am Islam ihn durch theologische Schriften,

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Juan de Segovia über die ­Absetzung Eugens IV. (1439)

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Übersetzungen und Korrespondenz in den letzten Jahren seines Lebens, bis zu seinem Tod im März 1458, intensiv beschäftigten.1 Unter den vielen und zum überwiegenden Teil noch nicht untersuchten Schriften Segovias über den Konflikt zwischen Papst und Konzil konzentriert sich dieser Beitrag vor allem auf zwei Traktate, die vor und nach der Verurteilung des Papstes im Juni 1439 verfasst wurden. Es geht darum, sowohl die Rolle Segovias als auch die Argumente zu rekonstruieren, die er in den verschiedenen Phasen des Prozesses von 1437–1438 formulierte, um die Unfähigkeit des Papstes, die Kirche zu regieren, nachzuweisen und damit Verurteilung und Absetzung zu legitimieren. Aus dieser Perspektive erschien die Absetzung Eugens IV. als die Folge der extrema ratio der Wahrnehmung des Scheiterns durch die im Sommer 1439 in Basel verbliebenen Konzilsväter und als interner Versuch, eine Lösung zu finden. Das Urteil des Scheiterns über einen Fall aus der Mitte des 15. Jahrhunderts ergibt sich selbstverständlich nicht aus der Perspektive des Historikers, der die Quellen liest und vorgibt, die Ereignisse der Vergangenheit nach Erfolg und Misserfolg zu bewerten, sondern aus der Perspektive der damaligen Akteure, also der Entscheider, die die Diskurse prägten, und aus den Argumenten, die sie ins Feld führten, um das Scheitern zu begründen. Es handelt sich dabei um die parteiische und einseitige Perspektive der Konzilsväter von Basel im Allgemeinen und Segovias im Besondern, die versuchten, durch die Sprache und die Argumentationsweise der Ekklesiologie, des Kirchenrechts und des Zivilrechts zu zeigen, dass sich Eugen IV. trotz der 1431 getroffenen Auswahl als »unfit« für das Papsttum erwiesen habe.

1 Die Werke Segovias sind beschrieben in Hernández Montes, Obras de Juan de Segovia, in: Repertorio de historia de las ciencias eclesiásticas en España 6 (1977), S. 267–347. Zu den Werken über den Islam, die in den letzten Jahren intensiver erforscht wurden, vgl. Davide Scotto, Juan de Segovia’s Last Manuscript (MS Vat. Lat. 2923). The Quest for Islam from the Aiton Library to Pope Pius II, in: Der Papst und das Buch im Spätmittelalter (1350–1500). Bildungsvoraussetzung, Handschriftenherstellung, Bibliotheksgebrauch, hg. von Rainer Berndt, Münster 2018, S. 47–67; Johannes von Segovia, Opera minora, hg. von Ulli Roth, Wiesbaden, Harrassowitz [im Erscheinen].

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Das Scheitern juristisch nachweisen – Der Prozess gegen Eugen IV. (1437–1438) Émilie Rosenblieh hat unlängst auf ein unveröffentlichtes Manuskript (BnF, Ms. lat. 1511) hingewiesen, das eine Abschrift der Akten des Prozesses gegen ­Eugen  IV. enthält und auf Wunsch des aragonesischen Kardinals Domingo Ram y Lanaja erstellt wurde, der sich gegen die Absetzung des Papstes aussprach und die Stadt am Rhein 1439 verließ, um sich dem Konzil von Florenz anzuschließen. Der Kodex enthält die Dokumente, die von der urteilenden Versammlung zwischen dem 26. Juli 1437 und dem 17. Oktober 1438 erstellt wurden.2 Es handelt sich um eine grundlegende Quelle für die Rekonstruktion der Phasen des Prozesses wie der Anklagepunkte, die, hier noch juristisch formuliert, bald darauf von Segovia in einer theologisch argumentierenden Sprache wieder aufgenommen wurden, erst vor dem Konzil, dann vor den Vertretern des Kaisers und der Kurfürsten des Deutschen Reiches. Aus der Perspektive der Personalentscheidungen betrachtet, bieten die Akten Einsicht in die Kriterien, nach denen der Papst sechs Jahre nach seiner Wahl am 3. März 1431 – die bereits von juristischen Kontroversen überschattet gewesen war, da der Kardinal Domenico Capranica sie angefochten hatte3 – als ungeeignet für die ihm übertragene Aufgabe angesehen wurde. Noch vor der theologischen Ebene spiegelt der Prozess von 1437–1438 den Versuch wider, juristisch festzustellen, dass der Kandidat den Erwartungen, die sich zwischen 1431 und 1436 entwickelt hatten, nicht entsprach. Am 27. Januar 1436 richtete das Baseler Konzil ein monitorium an Eugen IV., in dem es ihm Machtmissbrauch vorwarf, was im ekklesiologischen Kontext Ungehorsam gegenüber dem Konzil bedeutete. Das Verbrechen wurde nach Ansicht des Konzils dadurch belegt, dass der Papst die 1434 und 1436 von ihm verabschiedeten Reformdekrete, nämlich die Rückkehr zur Wahl der Bischöfe und die Abschaffung der Annaten, nicht umgesetzt hatte. In diesem Text, der bereits die Absetzung androhte, wurde der willkürliche Gebrauch der Macht 2 Émilie Rosenblieh, La violation des décrets conciliaires ou l’hérésie du pape. Le procès d’Eugène IV (1431–1447) au concile de Bâle d’après le manuscrit latin 1511 de la Bibliothèque nationale de France, in: Revue belge de philologie et d’histoire 87/3–4 (2009), S. 545–568, hier S. 548–553. 3 Wolfgang Decker, Die Politik der Kardinäle auf dem Basler Konzil (bis zum Herbst 1434), in: Annuarium Historiae Conciliorum 9 (1977), S. 112–153, 315–400.

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kritisiert und betont, dass die Kirche, die Gottes Gebot zufolge frei sein solle, nicht zu einem Anhängsel des Papsttums werden dürfe. Daher könne der Papst kein schwereres Vergehen begehen, als seinen Launen statt den Gesetzen der Kirche zu folgen. Schließlich wurde dem Papst vorgeworfen, durch tyrannische Mittel Reichtümer anzuhäufen und zudem als Monarch seine Untertanen unmenschlich zu behandeln. Wenn der Papst die Reformdekrete nicht innerhalb von 25 Tagen angenommen habe, werde das Konzil rechtlich vorgehen und ein entsprechendes Gericht einsetzen. Gleichzeitig wurden die wichtigsten europäischen Herrscher brieflich über die Positionen und Absichten des Konzils unterrichtet. Anderthalb Jahre später, am 31. Juli 1437, veröffentlichte das Konzil von Basel ein citatorium gegen Eugen IV. Inzwischen hatte der Papst die Entschlüsse der Minderheit der Konzilsteilnehmer gebilligt und das Konzil zunächst nach Ferrara, dann am 30. Mai nach Florenz verlegt. Im citatorium, das inhaltlich die Vorwürfe des monitorium aufgriff, forderten die Baseler den Papst auf, binnen 60 Tagen zu seinem Prozess vor ihnen zu erscheinen. Der Papst kam aber nicht, sondern blieb in Florenz, wo er sich mit dem inzwischen eröffneten Konzil für die Union mit den Griechen engagierte.4 Trotz des Widerstands des Kardinals Cesarini gegen eine neue Vorladung des Papstes wurde am 26. Juli 1437 eine Kommission aus Prälaten und Juristen damit beauftragt, die Eugen IV. zur Last gelegten Delikte zu untersuchen. Dabei war das Konzil bestrebt, einerseits seine richterliche Gewalt vollauf auszuüben, aber zugleich die technischen Aufgaben der Prozessführung zu delegieren – wobei die Rahmenbedingungen in Plenarsitzungen oder Ausschusssitzungen beschlossen wurden. Nominiert wurden neun Kommissare auf der Grundlage ihrer juristischen Kompetenzen, darunter zwei aus dem Königreich Aragon, Ludovico Pontano und Antonio Beccadelli. Juan de Segovia, der 1433 gegenüber dem Autor von Deus novit – aller Wahrscheinlichkeit nach Antonio Roselli – die Position verteidigt hatte, das Konzil habe das Recht, sich zum universellen Richter zu erheben, da andere Konzilien, vor allem das von Kon-

4 Vgl. Antony Black, Monarchy and Community. Political Ideas in the Later Conciliar Controversy, 1430–1450, Cambridge 1970, S. 90–93; Joachim W. Stieber, Pope Eugenius IV, the Council of Basel and the Secular and Ecclesiastical Authorities in the Empire. The Conflict Over Supreme Authority and Power in the Church, Leiden 1978, S. 45 f.

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Papst Eugen IV. (1383–1447) stanz, das bereits getan hätten,5 war 1437 trotz seines Engagements keiner der Kommissare. Die Arbeiten der Kommission, die in Zusammenarbeit mit dem Konzil erfolgten, beschleunigten die Beratungen in der Tat erheblich. Die Konzilsväter von Basel sahen in dem Prozess keine Angelegenheit des Glaubens (causa fidei), sondern eine diplomatische ­Aufgabe. Einige der Kommissare ge5 Hans-Jörg Gilomen, Conciliar Bureaucracy, in: A Companion to the Council of Basel, hgg. von Michiel Decaluwe, Gerald Christianson und Thomas M. Izbicki, Leiden 2016, S. 165–228, hier S. 195 f. Zu Roselli Erich Meuthen, Antonio Rosellis Gutachten für Heinrich Schlick im Freisinger Bistumsstreit (1444), in: Aus Kirche und Reich. Studien zu Theologie, Politik und Recht im Mittelalter. Festschrift für Friedrich Kempf zu seinem 75. Geburtstag und fünfzigjährigen Doktorjubiläum, hg. von Hubert Mordek, Sigmaringen 1983, S. 461–472.

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hörten der Friedensdeputation (deputatio pacis) an, mit der die Kommission während des Prozesses zusammenarbeitete. Daher wurde Segovia, Mitglied der Glaubensdeputation (deputatio fidei), trotz seiner leidenschaftlichen Opposition gegen den Papst nicht eingebunden. Aus den Kopien der Prozessakten in Segovias Besitz, die von den meisten Mitgliedern des Konzils kaum zur Kenntnis genommen wurden, geht hervor, dass er über die Kommissionsarbeit sehr genau unterrichtet war.6 Nachdem die Voruntersuchungen abgeschlossen waren, forderte das Konzil Eugen IV. dazu auf, am 31. Juli zu erscheinen. Eugen IV. ignorierte diese Aufforderung nicht nur, sondern unterzeichnete am 18. September 1437 die Bulle Doctoris gentium, in der er die in Basel verbliebenen Bischöfe nochmals dazu aufforderte, nach Ferrara zu kommen. Im Unterschied zu Quoniam alto hob Eugen IV. in Doctoris gentium das Konzil von Basel nicht förmlich auf – obgleich das Dokument oft als »second dissolution« beschrieben wird – sondern verlegte formal nur dessen Ort. Damit respektierte er in der Form wie im Inhalt das Diktat von Frequens, das die Macht des Papstes beschnitten hatte.7 Die Verlegung des Konzilsorts nach Ferrara beschleunigte trotzdem das Vorgehen gegen den Papst. Ungeachtet des von Kaiser Sigismund durchgesetzten Aufschubs erklärte das Konzil Eugen IV. am 1. Oktober 1437 für säumig. Mit dem Tod Sigismunds am 24. Januar 1438 endete die erste Phase des Prozesses mit der Formulierung von 25 Anklagepunkten und der Suspendierung des Papstes von seinen Aufgaben. Am 24. März 1438 verschickte die Kommission ein weiteres Schreiben, in dem die Zahl der Anklagepunkte nun – nach knapp einem Jahr – auf 150 angewachsen war. Die Vorhaltungen betrafen die Unfähigkeit des Papstes, die Kirche zu regieren, die ekklesiologische Deutung der Beschlüsse des Konzils von Konstanz und – was am schwersten wog – die Verachtung der Autorität und der Dekrete des Konzils, die der Papst, den Konzilsvätern zufolge, seit der Bulle Quoniam alto von 1431 zur Schau getragen habe. Um die Anklage zu untermauern, wurden 30 Aussagen von 29 Zeugen beigefügt. Segovia 6 Émilie Rosenblieh hat darauf hingewiesen, dass die Prozessakten im Besitz Segovias sich von denen unterscheiden, die sie entdeckt hat. Im Schenkungsinventar von 1457 wird das Dokument als »liber de synodali processu contra Eugenium papam IIII« bezeichnet. Vgl. Hernández Montes, Biblioteca de Juan de Segovia, n° 52, S. 96 und n° 128, S. 213–216. 7 Vgl. Loy Bilderback, Eugene IV and the First Dissolution of the Council of Basle, in: Church History 36 (1967), S. 243–225, hier S. 253. Zum Fortgang der Beratungen in Florenz ­Joseph Gill, Il Concilio di Firenze, Florenz 1967, sowie Firenze e il Concilio del 1439, 2 Bde., Florenz 1994.

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100 Davide Scotto wurde zweimal befragt, einmal während der Vorbereitungen, dann während der feierlichen Untersuchung.8 Eugen IV. wurde zahlreicher Verbrechen angeklagt, von denen sich viele auf Häresie zurückführen ließen: Das galt zum Beispiel für das Steuersystem der römischen Kurie oder den Verkauf kirchlicher Pfründen, die als »simonistische Häresie« definiert wurden. Sechs Artikel bezogen sich auf den Bruch der Reformdekrete bezüglich der Wahl der Bischöfe durch den Papst, weitere auf die Annaten. Auch jüngste Ereignisse fanden ihren Weg in die Anklageschrift. So war der Versuch, das Konzil nach Ferrara zu verlegen, Gegenstand von zwölf Artikeln. Das Verhalten des Papstes widersprach, so erklärte der zweite Artikel, der 1433 mit Dudum sacrum übernommenen förmlichen Verpflichtung des Papstes, das Konzil anzuerkennen und seine Gesetze zu befolgen. Die päpstlichen Bullen, die sich als Beweise der Anklage als Abschriften im Anhang fanden, zeigten die Schuld des Papstes in diesem Punkt deutlich. Die Anklage des falschen Zeugnisses in Bezug auf Dudum sacrum, Gegenstand von fünf Artikeln, wirkte verschärfend, da sie den wiederholten Bruch der Konzilsdekrete belegte. Die Missachtung der Konzilsbeschlüsse wurde auch weiter in die Vergangenheit verfolgt. Neben einigen Artikeln, die sich auf den Bruch von Frequens und Haec Sancta bezogen, klagte der Artikel 11 den Papst an, die Dekrete des Konzils von Konstanz über die Versetzung von Bischöfen gebrochen zu haben. Damit nicht genug: Weitere Artikel warfen ihm vor, die Beschlüsse älterer Konzilien, die bereits ins auch vom Papst anerkannte kanonische Recht eingeflossen waren, ignoriert zu haben, vor allem des Konzils von Chalcedon (451), dem die Kirche als einem der ersten vier universell anerkannten Konzilien eine Heiligkeit und damit eine normative Kraft zuerkannt hatte, die jener der vier Evangelien gleichkam.9 Die Prozessakten bestätigten somit die Bedeutung des des Rückbezugs auf die Pneumatologie zu Beginn des Konflikts zwischen Papst und Konzil, der sich auch in der Schilderung der Ereignisse des Jahres 1432 in

8 Seine Aussagen finden sich in Paris, BnF, ms. lat. 1511, f. 156v e f. 130–131v, vgl. Rosenblieh, La violation des décrets conciliaires, S. 562–564. 9 Thierry Sol, »Nisi deprehendatur a fide devius»: les décrétistes face à l’hypothèse d’un pape hérétique, in: La déposition du pape hérétique. Lieux théologiques, modèles canoniques, enjeux constitutionnels, Paris 2019, S. 29–55 ; Émilie Rosenblieh, Constitutionnaliser la monarchie pontificale en actes. Le procès conciliaire d’Eugène IV. Procédure et modèle, in: La déposition du pape hérétique, S. 91–114, hier S. 97.

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Segovias Historia spiegelte.10 Der Artikel 148 warf dem Papst schließlich vor, bewusst Beschlüssen des Konzils zuwidergehandelt zu haben, die von der Versammlung in Gegenwart des Heiligen Geistes gefasst worden waren.11 Der Bruch einzelner Dekrete des Konzils und der Verstoß gegen eine tausendjährige Konzilstradition wurden in einer in dieser Deutlichkeit neuen Weise mit dem Verbrechen der Häresie gleichgesetzt. Diese Anklage ermöglichte sowohl, die Absetzung zu begründen, als auch die Handlungen des Angeklagten seit 1431 rückblickend zu stigmatisieren, und zwar im Rahmen einer Erzählung die, theologisch elaboriert, von den Bedürfnissen des Jahren 1438 diktiert wurde. Die Auflösung des Konzils mit der Bulle von 1431 (Quoniam alto), die heuchlerische Anerkennung des Konzils im Jahr 1433 zur Begründung der Verlegung des Ortes (Dudum sacrum), die 1434 bis 1436 ausgebliebenen Reformen und die Aufforderung zum Umzug nach Florenz 1437 – diese zunächst konfus erscheinenden Wegmarken dokumentierten, wie Eugen IV. immer wieder das Verbrechen der Häresie beging, also ein hereticus recidivus war, und in einen Irrtum zurückverfiel, dem er förmlich abgeschworen hatte, was ihm zum hereticus relapsus machte. Mit dem kirchenrechtlichen Voka­bular des Häresieprozesses betonten sieben Artikel die Sturheit (rilevacia) des Papstes beim Zurückweisen von Glaubenswahrheiten. Am Ende der förmlichen Untersuchung hatten die Aussagen somit die Anklage belegt. Die in 27 Artikeln aufgelisteten Verstöße gegen Konzilsbeschlüsse wurden durch mindestens zehn Zeugnisse belegt. Obgleich keiner der Zeugen gewagt hatte, den amtierenden Papst direkt der Häresie zu beschuldigen, befand das Konzil, dass die Beweise der Definition päpstlicher Häresie entsprachen, welche die Anwälte des Tribunals und die Redakteure der Artikel der Anklageschrift im Laufe des Verfahrens entwickelt hatten.12 Die Anschuldigungen gegen den Papst, die sich im Laufe des Prozesses vermehrten und präzisierten, spiegeln gut das dynamische Verhältnis zwischen der Wahrnehmung des Scheiterns und der Veränderung der Erwartungen 10 Alberto Cadili, Lo Spirito e il Concilio: Basileia 1432. Legittimazione pneumatologica del conciliarismo, Bologna 2016, S. 304–312, 393–516, 419–433; Jürgen Dendorfer, Inszenierung von Entscheidungsfindung auf den Konzilien des 15. Jahrhunderts. Zum Zeremoniell der sessio generalis auf dem Basler Konzil, in: Politische Versammlungen und ihre Rituale. Repräsentationsformen und Entscheidungsprozesse des Reichs und der Kirche im späten Mittelalter, hgg. von Jörg Henning Peltzer, Gerald Schwedler und Paul Töbelmann, Ostfildern 2009, S. 37–54. 11 Rosenblieh, La violation des décrets conciliaires, S. 557 f. 12 Rosenblieh, La violation des décrets conciliaires, S. 554–557, 559–560, 565–566.

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102 Davide Scotto ­ ider. Die Feststellung, dass Eugen IV. ungeeignet war, und die daraus folgenw de Anklage wegen Häresie hingen von den Erwartungen an das päpstliche Amt ab, wie sie sich zwischen der Wahl des Papstes 1431 und dem Prozess 1437–1438 entwickelten. Die Akten des Prozesses gegen Eugen IV. belegen, wie entscheidend in diesem Zusammenhang der Zeitpunkt ist, zu dem das Scheitern diskutiert und sanktioniert wurde. Die Wahrnehmung des Scheiterns setzt voraus, dass Anforderungen und Kompetenzen im Rückblick, also im Angesicht von Erwartungen, die andere sind als die zum Zeitpunkt der Personalauswahl, bewertet werden. Auf der Basis der neuen Erwartungen konstruieren die Entscheidungsträger ihre Diskurse über das Scheitern, formulieren Argumente – juristischer, ökonomischer, politischer oder theologischer Art –, um die Substanz des Scheiterns zu belegen und eine mögliche Lösung des Problems zu formulieren. 1438 ergab sich trotzdem eine Schwierigkeit. Um den unzulänglichen Eugen IV. zu beseitigen, indem er abgesetzt und durch einen neuen Papst ersetzt wurde, mussten die Konzilsväter von Basel einflussreiche politische ­Akteure überzeugen, von denen letztlich die Legitimation und politische Wirksamkeit einer Lösung abhing.

Die Übersetzung des Scheiterns in eine theologische Sprache – Die Diskussion der tres veritates Der Prozess zog sich über mehr als anderthalb Jahre hin. An seinem Ende, zwischen Februar und März 1439, unter dem Vorsitz Kardinals Louis ­Aleman, fand eine intensive Debatte über die Anklage der Häresie statt, der neben den theologischen und juristischen Experten des Konzils auch Vertreter der weltlichen Fürsten beiwohnten. Segovia, der den Anklagepunkt, Eugen sei ein hereticus recidivus gemäß der Formulierung von Wilhelm von Ockham im Lichte der Baseler Ekklesiologie13 vertrat, wandte sich dabei scharf gegen den Benediktiner Niccolò Tudeschi, genannt il Panormitano. Dieser war ein sehr guter Jurist, 13 Segovia entlehnt zunächst in seinen Universitätsvorlesungen und später in seinen konziliaren Schriften den Begriff der catholica veritas und damit der Häresie aus Ockhams Dialogus. Siehe Jesse D. Mann, Ockham Redivivus or Ockham Confutator? Juan de Segovia‘s Repetitio de superioritate Reconsidered, in: Annuarium Historiae Conciliorum 24 (1992), S. 186-208. Jesse D. Mann, William of Ockham, Juan de Segovia, and Heretical Pertinacity, in: Mediaeval Studies 56 (1994), S. 67–88.

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Erzbischof von Palermo und Vertreter Alfons V. von Aragon (zu dessen Königreich Palermo damals gehörte). Tudeschi akzeptierte zwar die prinzipiellen Aussagen zum Verhältnis zwischen Papst und Konzil, welche in den ersten drei von insgesamt acht conclusiones niedergelegt waren, die in Basel Ende März verabschiedet worden waren und denen er damals auch zugestimmt hatte. Allerdings wies er die Anklage gegen den Papst als Häretiker und vor allem als hereticus recidivus zurück, die in den folgenden fünf Schlussfolgerungen enthalten waren, weil sich Eugen IV. seit Dudum sacrum von den Konzilsbeschlüssen abgewandt habe.14 Diese differenzierte Argumentation Tudeschis und anderer Vertreter der päpstlichen Seite brachte das Konzil aber nicht von seiner Absicht ab, den Papst zu verurteilen. Am 16. März 1439 verkündete das Konzil das Dekret Sicut una, mit dem drei Aussagen zu Glaubenswahrheiten erklärt wurden: Die Autorität des Konzils ist größer als die Autorität des Papstes oder irgendeiner anderen Instanz; der Papst hat keine Befugnis, ein allgemeines Konzil ohne dessen Zustimmung aufzulösen, zu vertagen oder zu verlegen; wer die beiden ersten Aussagen beharrlich leugnet, ist ein Häretiker. Sicut una zufolge war der Papst als hereticus recidivus anzusehen, weil er sich seit Quoniam alto im Jahre 1431 gegenüber dem Konzil feindlich gezeigt hatte und weil er, obwohl er 1433 nachgegeben hatte, sich trotzdem zwischen 1434 und 1436 den Reformbeschlüssen verweigert hatte.15 Diese »drei Wahrheiten« (tres veritates) waren vom Konzil erstmals in einem Rundschreiben mit dem Titel Ut inter varias vom 15. März 1438 formuliert worden. Segovia diskutierte sie im Juni 1438 vor Vertretern des Reichs in Nürnberg, um die deutschen Fürsten davon zu überzeugen, ihre Neutralität im Konflikt zwischen Konzil und Papst aufzugeben. Zwischen diesem Text und Sicut una hatte sich die Haltung des Konzils in der Frage aber eher noch verfestigt. Die bereits auf dem Konzil von Konstanz in Haec Sancta formulierten Positionen bezüglich der Vormachstellung der Konzilien gegenüber dem Papst in Glaubensfragen, dem Kampf gegen das Schisma und der Reform der Kirche, wurden in Sicut una wiederaufgenommen und zum Dogma erklärt. Im Laufe eines Jahres, zwischen dem Beginn der Debatte und der Abfassung von Sicut una, hatte sich die dritte 14 Zu dieser Debatte vgl. neben den Passagen der Historia Segovias: MC III, S. 257–268, Jesse D. Mann, The Historian and the Truths. Juan de Segovia’s Explanatio de tribus veritatibus fidei, Diss. Phil. Chicago 1993, S. 75–113; zu Tudeschi Johannes Helmrath, Das Basler Konzil 1431– 1449. Forschungsstand und Probleme, Köln 1987, S. 239–245. 15 Helmrath, Das Basler Konzil, S. 471–475.

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104 Davide Scotto der »drei Wahrheiten« aber radikal verändert: Die an und für sich nicht neue Anklage der Häresie gegen den Papst wurde nun explizit aufgenommen.16 Die Kommission und die Versammlung respektierten die vom kanonischen Recht vorgesehenen Fristen, um Verhandlungen zu ermöglichen und um ein Verfahren, das von den Verteidigern des Papstes prinzipiell infrage gestellt wurde, zu legitimieren.17 Am 18. Juni 1439 empfahl die Kommission die Absetzung des Papstes. Am 23. Juni wurden Eugen IV. zwei Tage zugestanden, um vor dem Konzil zu erscheinen. Das Versäumnisurteil erging am 25. Juni und wurde durch das Dekret Prospexit dominus bestätigt. Eugen IV. wurde aller Anklagepunkte für schuldig befunden: Missachtung der Dekrete des Heiligen Konzils, Störung des Friedens und der Einheit der Kirche, Simonie und Meineid. Er sei ein unbelehrbarer Schismatiker, ein starrsinniger Häretiker, ein Zerstörer der Gesetze und Besitztümer der Kirche, ein ungeeigneter und unnützer Verwalter des Papsttums.18 Auf der Basis der »drei Wahrheiten« sprach das Konzil von Basel die Strafe der Amtsenthebung aus. Zwischen Ende Juni und Ende August verfasste Juan de Segovia einen umfangreichen Kommentar zum Dekret über die »drei Wahrheiten« mit dem Titel Explanatio de tribus veritatibus fidei, in dem er die Entscheidung zur Absetzung des Papstes untersuchte und verteidigte. Von Jesse D. Mann in seiner bislang unveröffentlichten Dissertation transkribiert, handelt es sich dabei um einen Text, der die diskursiven Strategien eines der Mitglieder des Konzils widerspiegelt, der sich am intensivsten darum bemühte, die juristische Entscheidung theologisch zu rechtfertigen, und zwar sowohl innerhalb des Konzils als auch gegenüber weltlichen Gesprächspartnern.19 Dass es das Ziel der Schrift war, die Öffentlichkeit von der Richtigkeit der Entscheidung zu überzeugen, formulierte Segovia selbst, der den Traktat schrieb, »damit alle Christen klar erkennen können, wie vernünftig es war, dass das Heilige Konzil [den Papst] als Häretiker verurteilt hat und wie notwendig es um den Erhalt der christlichen Religion Willen ist, dass das Urteil des Konzils anerkannt wird und dass alle den Umgang mit Gabriele dem Häretiker scheuen«.20 16 Mann, The Historian, S. 75–77. 17 Émilie Rosenblieh, Lawyers and Legal Proceedings in the Council, in: A Companion to the Council of Basel, S. 229–253, hier S. 252 f. 18 In AC, 29, col. 179–181. 19 Zur Datierung Mann, The Historian, S. 144–147. 20 Segovia, Explanatio, § 2: »ut omnibus catholicis evidenter constet, quam racionabiliter sancta sinodus eum iudicavit hereticum et quam necesse sit ad conservacionem religionis christiane prefatam acceptari sentenciam ipsumque Gabrielem devitari ab omnibus tamquam hereticum.«

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Das Traktat spiegelt das subtile Gleichgewicht zwischen Idealen und politischer Wirklichkeit wider. Auf der einen Seite nehmen die Definitionen von Glaubenswahrheiten, die Segovia bietet, Positionen von Ockham und Gerson bezüglich der Autorität der Heiligen Schrift in kirchlichen Dingen auf. Das entsprach Ideen, die Segovia bereits in Salamanca entwickelt und in den Jahren des Konzils vertieft hatte und die sich in der Concordantiae biblicae vocum indeclinabilium niederschlugen, die 1476 in Basel gedruckt wurde.21 Auf der anderen Seite zeigte die Definition von Glaubenswahrheiten 1439, wie die Beziehung zwischen Glaubenswahrheiten und kirchlichem Lehramt durch die konkrete Erfahrung des Scheiterns überdacht wurde. In der Explanatio wird als Lösung formuliert, dass die Glaubenswahrheiten zwar auf biblische und historische Überlieferung zurückgehen, die Kirche aber bei ihrer Interpretation und Verbreitung eine essenzielle Rolle beibehält. Freilich stellt sich damit das Problem, wie man zu einer Zeit, in der die Vertretung der Kirche zwischen Konzil und Papst umkämpft ist, diese definieren soll. Auf dieses Problem kommt Segovia mehrfach zurück; er widmet ihm sogar später einen eigenen, unvollendet gebliebenen Text, Liber de substancia Ecclesie.22 Im Sommer 1439 versucht die Explanatio die zentrale Rolle des Konzils als Entscheidungsinstanz in Glaubensfragen zu belegen: Es versammele die Gesamtheit der Kirche und sei durch die ständig durch die Liturgie erneuerte Anwesenheit des Heiligen Geistes legitimiert. »Ja sogar, da die Worte der Heiligen Schrift je nach den verschiedenen Lehren und Meinungen der Heiligen und anderer Gelehrter, die sie auslegen, unterschiedliche Erklärungen finden, würden [jene Wahrheiten] kaum oder niemals verstanden werden und von der Glaubenslehre abweichen, wenn man sich nicht in erster Linie an die Entscheidungen der Kirche halten müsste.«23 In der Explanatio führt Segovia aus, wie die definitive Fassung der Heiligen Schrift selbst durch die Autorität der frühen Konzilien erstellt worden sei – von einem generalis concilium, als welches sich das Baseler Konzil verstand. Von die21 Jesse D. Mann, Ockham Redivivus or Ockham Confutator? Juan de Segovia’s Repetitio de superioritate reconsidered, in: Annuarium Historiae Conciliorum 24 (1992), S. 186–208; Jesse D. Mann, Reading the Bible in the Fifteenth Century. The Case of Juan de Segovia, in: Journal of Medieval Religious Cultures 43 (2017), S. 115–134. 22 Iohannis Alphonsi de Segovia, Liber de substancia ecclesie, cura et studio José Luis Narvaja, prolegomenis instructis Santiago Madrigal Terrazas, Münster 2012 (Rarissima medeaevalia 3). 23 Segovia, Explanatio, § 36: »Quin immo cum verba Sacre Scripture multiplices accipiant exposiciones secundum doctrinas opinionesque sanctorum et aliorum doctorum illa eponencium, vix aut numquam comprehenderentur aberrantes a fide, si non oporteret attendi precipue ad determinaciones ecclesie.«

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106 Davide Scotto sen Konzilien seien mithin die Glaubenswahrheiten festgelegt worden. In Segovias theologischer Interpretation der Geschichte der Konzilien ist die Beziehung zwischen den Beschlüssen der Konzilien und biblischer Wahrheit entscheidend für das Urteil auf dem delikaten Feld der potenziell umstrittenen Doktrin, auf der die Anklage von 1438 gründete. 1439 sah Segovia die Beziehungen zwischen Papst und Konzil durch eine normative und extensive Deutung von Haec Sancta, wie sie für Teilnehmer des Baseler Konzils typisch war:24 Es gab eine Kontinuität zwischen den Konzilien der frühen Kirche, vor allem des Konzils von Chalcedon, und den zeitgenössischen Konzilien von Konstanz, Pavia/Siena und Basel, was die Definition der Glaubenswahrheiten bezüglich der Definition von Häresie als theologische Grundlage der Anklage des Papstes betraf. Segovia schreibt: »Es ist keinem Christen erlaubt, von dieser Wahrheit abzuweichen und keinem Christen erlaubt, sie zurückzuweisen oder ihr zu widerstehen.«25 Die in vier avisamenta gegliederte Explanatio macht deutlich, wie die Entscheidungen des Konzils, die vor allem aus praktischen und verfahrenstechnischen Gründen getroffen worden waren, die sich in der juristischen und ekklesiologischen Sprache der Prozessdokumentation niederschlug, im Rahmen der öffentlichen Diskussion des Frühjahrs 1439 in eine theologische und politische Sprache übersetzt werden mussten, um sie den politischen Akteuren verständlich und akzeptabel erscheinen zu lassen. Im ersten Abschnitt wurde unter Bezugnahme auf die alten allgemeinen Konzilien gezeigt, wie ein der Häresie verfallener Papst die höchste Bedrohung der christlichen Religion darstellte. Im zweiten machte Segovia deutlich, warum Eugen IV. die Anklage der Häresie auf sich zog. Im dritten wurden die Gründe und Beweise aufgelistet – Segovia untersuchte zwölf Formen ketzerischer Hartnäckigkeit. Schließlich zeigte er, warum nur eine unverzügliche Umsetzung des Urteils die verhängnisvolle Bedrohung der christlichen Religion abwenden könne.26 24 Zu den Einflüssen Werner Krämer, Konsens und Rezeption. Verfassungsprinzipien der Kirche im Basler Konziliarismus. Mit Edition ausgewählter Texte, Münster 1980, S. 245–246. Zum nicht edierten Tractatus decem avisamentorum ex Sacra Scriptura de sanctitate ecclesiae et generalis concilii auctoritate, der hier nicht behandelt werden kann, Jesús Santiago Madrigal Terrazas, »Si desineret esse Sancta, desineret esse Ecclesia«. El »Tractatus decem avisamentorum de sanctitate ecclesiae« de Juan de Segovia (1395–1458), in: Ecclesia tertii millennii advenientis. Omaggio al P. Angel Antón professore di ecclesiologia alla Pontificia Università Gregoriana nel suo LXX compleanno, hgg. von Fernando Chica Arellano, Sandro Panizzolo und Harald Wagner, Casale Monferrato 1997, S. 411–425. 25 Vgl. Mann, The Historian, S. 53–55, 70 f. 26 In Segovia, Explanatio, § 2, sind die zentralen Argumente zusammengefasst.

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Aus der Perspektive der Personalentscheidung führt diese Gliederung von einer Feststellung des Scheiterns zum Aufruf zu einer Lösung. Das Scheitern wird als Bedrohung der Kirche definiert, die sich aus dem Handeln des Papstes ergibt; die Anklage der Häresie stellt die interne Anerkennung des Scheiterns dar; die Beweise legitimieren diese Erkenntnis und machen sie kommunizierbar; schließlich richtet sich die Aufforderung, das Scheitern zu heilen, an die politischen Akteure, die die entsprechenden Schritte unternehmen konnten. Dazu war die Übersetzung des Vorgangs aus der internen juristischen Sprache des Konzils notwendig, um die Anklage nach außen rechtfertigen zu können: gegenüber den juristischen und theologischen Experten, die Eugen IV. verteidigten, und gegenüber den Vertretern der weltlichen Gewalten, mit denen seit dem vorangegangenen Jahr verhandelt worden war. Denn das Urteil des Konzils, dessen Behauptung, die Ecclesia zu vertreten, theologisch wie politisch umstritten war, musste ja außerhalb akzeptiert werden. Um dieses Ziel zu erreichen, formulierte Segovia die Argumente der Explanatio, die auch ein systematischer Traktat zu den tres veritates war, in später verschriftlichten Reden um, in denen die Strategien zur Überzeugung der Skeptiker sichtbarer werden.

Das Scheitern belegen – Die Konfrontation mit den politischen Akteuren Sowohl das Urteil des Erfolgs als auch des Scheiterns von Personalentscheidungen erfordert eine juristisch gültige und daher überprüfbare Rechtfertigung. Wenn Klagen gegen die Ergebnisse von Personalentscheidungen zunehmen, übt das Druck auf die Personen aus, welche die als ungünstig und angreifbar wahrgenommene Entscheidung durchgesetzt haben. Ein solcher Konflikt kann eine grundsätzliche Delegitimierung der Entscheidungsstrukturen und der persönlichen Beziehungen, die ihnen zugrunde liegen, zur Folge haben. Diese Dynamik war 1439 auch im Fall der Absetzung Eugens IV. zu erkennen. Zur gleichen Zeit, zu der er in Basel vom Konzil abgesetzt wurde, konsolidierte der Papst seinen eigenen Einfluss unter den Klerikern und politischen Gesandten, die in Florenz am Unionskonzil teilnahmen. Mit der Bulle Magnas omnipotenti Deo vom 9. April 1439 bestätigte er die Legitimität und den ökumenischen Status des Konzils von Florenz. Drei Monate später schrieb Eugen IV. sich den Erfolg der Union mit der griechischen Kirche zu, die am 6. Juli

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108 Davide Scotto 1439 in feierlicher Sitzung mit der Bulle Laetentur coeli gefeiert wurde. Diese wurde gefolgt von der Union mit der armenischen Kirche im November desselben Jahres und von der mit der koptischen Kirche im Februar 1442. In Florenz akzeptierten weder der Papst noch die Prälaten oder die Gesandten der weltlichen Herrscher das Urteil von Basel. Am 18. Dezember 1439 ernannte ­Eugen IV. 17 neue Kardinäle, darunter profilierte Geistliche der lateinischen wie der griechischen Kirche wie Juan de Torquemada, Guillaume d’Estoute­ ville, ­Isidor von Kiev und Bessarion. Damit setzte sich der Papst allerdings über seine Wahlkapitulation vom 2. März 1431 hinweg, was von Giuliano Cesarini mit dem Gebot der Stunde begründet wurde.27 Wenn die juristischen Schritte des Baseler Konzils, die mit der kanonistischen und konziliaristischen Tradition begründet worden waren, mehr als interne Wirkung entfalten sollten, musste ein Konsens hergestellt werden, der über die im Sommer 1439 in Basel Anwesenden hinausreichte. Das politische Umfeld war freilich kompliziert. Die Vertreter Kastiliens verließen Basel mit der Verkündung der Absetzung. Die Vertreter Alfons’ V. von Aragon, der einer Suspendierung des Papstes zugeneigt war, um das Recht der Investitur im Königreich Neapel zu erhalten, war gegen die Absetzung; zu überzeugen waren darüber hinaus die einflussreichen Gesandten Frankreichs, das die Suspendierung des Papstes nicht anerkannt hatte, und vor allem die deutschen Reichsstände, die eine Politik der Neutralität betrieben hatten, die zuletzt im März 1438 bestätigt worden war.28 In dieser Situation der Schwäche formulierte das Konzil am 2. Juli 1439 den Synodalbrief Sollecitudinem, in dem die Absetzung des Papstes auf der Grundlage des Dekrets über die »drei Wahrheiten« vom 16. März 1439 gerechtfertigt wurde. Segovia ging daran, einen Rechtfertigungsdiskurs zu verfassen, der den deutschen Kurfürsten anlässlich der für Ende August vorgesehenen Mainzer Reichsversammlung vorgetragen werden sollte. Daran sollte sich eine zweite Rede über die Neutralität der deutschen Fürsten anschließen. Die Rede über die Absetzung, die in die Historia aufgenommen wurde, wurde später in ein Traktat umgearbeitet, das den Titel Pro justificacione sentencie per sacrum gene-

27 Vgl. Concetta Bianca, I cardinali al Concilio di Firenze, in: Firenze e il Concilio del 1439, S. 147–173, hier S. 147 f. 28 Stieber, Pope Eugenius IV, S. 132–189.

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rale concilium Basiliense contra olim Eugenium IIII.29 trug. Am 23. August hielt Segovia seine Rede allerdings nicht wie geplant vor den deutschen Fürsten, sondern vor einer von einem Kurfürsten geleiteten Versammlung der Prälaten der Mainzer Kirchenprovinz, die sich dort vom 19. bis 25. August versammelte. Trotz des weniger großen Publikums fand die Rede als Manuskript im Reichsgebiet intensive Verbreitung, von Basel bis Wien.30 In Pro justificacione griff Segovia auf die vier aristotelischen Ursachen zurück, die in der mittelalterlichen theologischen Reflexion über die Natur der Seele und die Erschaffung der Welt eine große Rolle spielten. Der Bezug auf Aristoteles war in diesem Kontext nicht neu. Jean Gerson war bereits in einer Predigt vom 26. März 1415 (Ambulate dum lucem habetis) nach der Verkündung von Haec Sancta so vorgegangen.31 Segovia war freilich der Erste, der die vier Ursachen, allerdings in abgewandelter Reihenfolge, auf die Absetzung eines Papstes anwandte.32 Er begann mit der Wirkursache, indem er zeigte, dass das Konzil die einzige legitime Instanz sei, um ein Urteil über einen Papst zu fällen. Das belegten die Tradition der Kirche wie das Dekret Haec Sancta. Um dem Einwand zu begegnen, bei Haec Sancta handele es sich um eine neue Setzung, fasste Segovia die in der Explanatio aufgeführten Belege für eine ungebrochene Tradition seit der Urkirche zusammen, wie Nikolaus von Kues das in der Concordantia catholica tat.33 Diese reiche von den ersten Konzilien bis zum Konzil von Basel.34 Ein zweites auf die Wirkursache bezogenes Argument befasste sich mit der Zahl und der Qualität der Bischöfe, die für ein Urteil notwendig waren. Segovia reagierte auf die in Quoniam alto und seither von den Verteidigern des Papstes erweiterten Anschuldigung, 1431 hätten sich in Basel zu wenige Bischöfe befunden, die zudem selbst im Verdacht der Häresie standen, weil sie versucht hätten, sich mit den böhmischen Hussiten zu verständigen. Um ein Urteil fällen zu 29 Die Reden finden sich in Deutsche Reichstagsakten, Ältere Reihe [DRTA] 14, hg. von Helmut Weigel, 1935, n° 196, S. 346–367 e n° 197, S. 367–390; vgl. Historia, MC III, S. 343–349. 30 Das belegen acht Codices, die den Text enthalten, Émilie Rosenblieh, Justifier la condamnation conciliaire du pape. Le traité de Juan de Segovia (Bâle-Mayence, été 1439), in: Et l’homme dans tout cela? Von Menschen, Mächten und Motiven. Festschrift für Heribert Müller zum 70.  Geburtstag, hgg. von Gabriele Annas und Jessika Nowak, Stuttgart 2017, S. 139–159, hier S. 143 f. 31 Cadili, Lo Spirito e il Concilio, S. 84–97. 32 Rosenblieh, Justifier la condamnation conciliare du pape, S. 146–152. 33 Paul Valliere, Conciliarism. A History of Decision-Making in the Church, Cambridge 2012, S. 154–158. 34 Segovia, Explanatio, § 52–56. Mann, The Historian, S. 205–207.

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110 Davide Scotto können, hätten mindestens 13 Erzbischöfe anwesend sein müssen, in Analogie zu einer Versammlung der Apostel unter Christi Vorsitz. Außerdem müssten Bischöfe ihre Sitze wirklich innehaben, um als solche gelten zu können. Segovia reagierte darauf, indem er unter Verweis auf Matthäus 18,19–20 nachzuweisen suchte, dass die Zahl der Bischöfe unerheblich sei. Außerdem wies er unter Verweis auf das bereits vielfach in Konzilien herangezogene Urteil des Paulus über Petrus im Galaterbrief (2,11) darauf hin, dass der Papst von jedem seiner Mitbischöfe beurteilt werden könne.35 Außerdem verwies er auf die besondere Lage: Angesichts einer Pestepidemie sei eine gute Regierung der Kirche besonders erforderlich. Daher sei der Richter, der den Papst verurteilt habe, also das Konzil von Basel, sowohl kompetent als auch legitim.36 Bezüglich der Materialursache nahm sich Segovia die sechzehn Verbrechen vor, die Eugen IV. zur Last gelegt worden waren, und zeigte, dass diese den sieben Arten der Vergebung, die in Lukas (17,3–4) genannt werden, nicht zugänglich waren. Ferner ging es um die Überschreitung kirchlicher Normen, vor allem solcher, die von Konzilien ausgingen. Er beschrieb den Papst als Störer des kirchlichen Friedens. Auch strebe das Urteil des Konzils an, Schismen zu beenden, und nicht, durch die Absetzung eine weitere Spaltung zu begründen. Beim Thema Meineid kommt Segovia auf die umstrittene Wahl Eugens IV. zurück und verweist auf die Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit dem Konklave von 1430. Schließlich behandelt er quatuor contrarietates, d. h. vier Handlungen, die Eugen IV. gegen das Konzil unternahm, darunter seine selbstverkündete Unschuld, die als Hindernis für die Reform der Kurie angesehen wurde und daher dem Reformziel des Konzils zuwiderlief.37 Die Diskussion der Finalursache spiegelte die Notwendigkeit, im Rahmen von Konflikten über Personalentscheidungen das moralische Verhalten der Entscheidenden als unangreifbar erscheinen zu lassen. Die Konzilsangehörigen hätten das Urteil mit rechten Absichten gefällt. Es habe keine Gefälligkeiten, keine Geschenke, keine Korruption und keine Günstlingswirtschaft gegeben – acceptio personarum war ein Verbrechen, das auch in Thomas von 35 Thomas Prügl, Das Schriftargument zwischen Papstmonarchie und konziliarer Idee. Biblische Argumentationsmodelle im Basler Konziliarismus, in: Die Bibel als politisches Argument. Voraussetzungen und Folgen biblizistischer Herrschaftslegitimation in der Vormoderne, hgg. von Andreas Pečar et al., München 2007, S. 219–241. 36 DRTA 14, n° 196, S. 347–351. 37 DRTA 14, n° 196, S. 351–358; Stieber, Pope Eugenius IV, S. 26–34.

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Aquins Summa theologiae behandelt wurde.38 Weder sei die Urteilsfindung durch die Pfründen, welche der Papst den Mitgliedern des Konzils gewährt habe, noch durch die Tatsache, dass die Königreiche, aus denen sie stammten, den Prozess lieber ausgesetzt hätten, behindert worden.39 Schließlich brachte die Behandlung der Formursache Segovia dazu, eher beiläufig die Stadien des Prozesses zu referieren, um zu zeigen, dass dieser gemäß der Regeln abgelaufen sei.40 Es ist interessant, dass zum Schluss von Pro justificacione den deutschen Delegierten vor Augen geführt werden soll, dass »Gabriele« sich als »unnütz und verdammenswert« bezüglich der »Verwaltung des römischen Papsttums« gezeigt haben soll41 – eine Formulierung, welche die Definition des »unnützen Bischofs« aufgreift, eine der noch nicht sehr intensiv untersuchten Anklagen, die im Mittelalter zur Absetzung von Bischöfen führten.42

Einen Fehler beheben – Die schwierige Beziehung zwischen denen, die ­entscheiden, und denen, die ­davon betroffen sind Der Versuch, die deutschen Kurfürsten von der Absetzung zu überzeugen, wurde auf hohem Niveau für mehr als ein Jahr verfolgt, vom Prozess im Frühjahr 1439 bis hin zu den Reichsversammlungen von Frankfurt und Mainz 1441, und auf gelegentlichen Begegnungen noch bis 1443. In Mainz trafen Segovia und andere Vertreter des Konzils vor den Kurfürsten auf Vertreter des Papstes, unter denen sich auch Nikolaus von Kues befand, der nach seiner diplomatischen Mission nach Byzanz auf die Seite des Papstes übergetreten war.43 In 38 Pasquale Porro, »Rien de personnel«. Notes sur la question de l’acceptio personarum dans la théologie scolastique, in: Revue des Sciences Philosophiques et Théologiques 94 (2010), S. 481– 509. 39 DRTA 14, n° 196, S. 358 f. 40 DRTA 14, n° 196, S. 359 f. Émilie Rosenblieh hält diesen Teil der Rechtfertigung für den schwächsten, DRTA, n° 196, S. 360–363 und Rosenblieh, Justifier la condamnation conciliare du pape, S. 151–156. 41 DRTA 14, n° 196, S. 366 f. 42 Vgl. dazu den Beitrag von Daniela Rando in diesem Band. 43 Joachim W. Stieber, The ,Hercules of the Eugenians’ at the Crossroads. Nicholas of Cusa’s Decision for the Pope and against the Council in 1436/1437. Theological, Political, and Social Aspects, in: Nicholas of Cusa in Search of God and Wisdom, hgg. von Gerald Christianson und Thomas M. Izbicki, Leiden 1991, S. 221–255.

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112 Davide Scotto einer erweiterten Amplificacio, die als Rede konzipiert und später in zwei Traktaten verschriftlicht wurde, nahm Segovia die Argumentation der Explanatio und von Pro justificacione nochmals auf.44 Der bislang wenig überzeugende Nachweis des Scheiterns verlagerte sich nun von der juristischen und theologischen Sphäre völlig in die der weltlichen Politik. Nach Anthony Black stellt die Amplificacio unter den ekklesiologischen Schriften aus dem Umfeld des Baseler Konzils den umfassendsten Versuch dar, auf der Grundlage einer Analogie mit den Korporationen, Strukturen von Universität und weltlicher Herrschaft den Nachweis zu führen, dass das Konzil dem Papst übergeordnet sei.45 Dabei geht Segovia vor allem auf das Argument ein, das Eugen IV. im März 1439 in einem Brief an den Herzog der Bretagne formuliert hatte, die Unterwerfung unter die Autorität des Konzils widerspreche dem Herrschaftsanspruch der weltlichen Fürsten.46 Segovia beantwortete die Anschuldigung, das Konzil versuche, die Kirche von einer Monarchie in eine Aristokratie zu verwandeln, mit dem Hinweis, das Konzil sei lediglich bestrebt, die Monarchie zu verbessern, indem er die Souveränität des Rechts und die Beratung als Instrumente des Konflikts und der Entscheidung darstellte: »Die Beschäftigung zahlreicher gelehrter Männer mit kniffligen Fragen zerstört die monarchische Herrschaft nicht, sondern verherrlicht sie sowohl in Bezug auf die kirchliche als auch auf die weltliche Herrschaft«.47 Auf der einen Seite verurteilte Segovia die monarchische Herrschaftsvorstellung Eugens IV. als willkürlich und selbstherrlich auf das eigene Wohl konzentriert. Auf der anderen Seite präsentierte er den Fürsten eine kreative Kombination des monarchischen Modells mit der konziliaristischen Theorie um die das in Aiton zwischen 1450 und 1453 verfasste Liber de magna auctoritate episcoporum in concilio generali kreist.48 44 Tractatus de excellentia Ecclesiae supra papam und Tractatus de auctoritate universalis Ecclesiae, in: DRTA 15, n° 714, S. 5–7. Vgl. Mann, The Historian, S. 250–285. 45 Nachdem sie die Unterstützung Kastiliens verloren hatten und die Verhandlungen mit den französischen und deutschen Botschaftern gescheitert waren, kündigten auch die Vertreter von Filippo Maria Visconti und Alfons V. von Aragon, die bis 1441/42 Verbündete und verhandlungsbereit gewesen waren, den konziliaren Gehorsam auf. 46 Segovia, Amplificacio, in: MC, III, S. 709, englische Übersetzung bei Black, Monarchy, S. 145. 47 MC, III, S. 711 f.; Black, Monarchy, S. 147: »Si igitur, tam in seculari quam ecclesiastico principatu, nihil deperit monarchici forme regiminis, quinimmo eandem illustrat, in arduis rebus consilio uti multitudinis sapientium […].« 48 Johannes von Segovia, Liber de magna auctoritate episcoporum in concilio generali, hg. von Rolf De Kegel, Freiburg 1995.

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Trotz der Bemühungen Segovias erreichte die Entscheidung, den Papst abzusetzen, ihr Ziel nicht. Weder der Verweis auf die umstrittene Wahl von 1431 noch das Insistieren auf den vom Papst vergangenen Verbrechen und die Verurteilung anderer Päpste wegen vergleichbarer Häresien,49 konnten die Zweifel der Fürsten überwinden, deren Handlungen zudem von anderen Zielen bestimmt waren.50 Dazu kam, dass in den Debatten zunehmend Fragen der politischen Philosophie und der weltlichen Gerichtsbarkeit aufkamen. Nachdem sie die Unterstützung Kastiliens verloren hatten und die Verhandlungen mit den französischen und deutschen Botschaftern gescheitert waren, kündigten auch die Vertreter von Filippo Maria Visconti und Alfons V. von Aragon, die bis 1441/42 Verbündete und verhandlungsbereit gewesen waren, den konziliaren Gehorsam auf.51 Zugleich wandte sich Eugen IV. aus Florenz an die weltlichen Fürsten. Am 20. April 1441 publizierte er die Bulle Etsi non dubitemus, die sich an die Universitäten und die weltlichen Fürsten, vor allem den König von Frankreich, richtete, und die in Haec Sancta formulierten Grundsätze explizit zurückwies.52 Im selben Jahr schaltete sich Segovia noch zweimal in die Debatte ein, mit einem Kommentar zu Etsi non dubitemus und einer Glosse zur zweiten Stellungnahme des Konzils gegen die Annaten, Votum super materia contractuum de censibus annuis.53 Seine Gesprächspartner blieben aber stur. 49 Vgl. La déposition du pape hérétique, besonders darin den Beitrag von Thierry Sol (S. 29– 55) und Philippe Pichot zu Johannes XXIII. und Benedikt XIII., die in Konstanz diskutiert wurden (S. 79–90). 50 Stieber, Pope Eugenius IV, S. 225–231. 51 Vgl. dazu Cristina Belloni, La politica ecclesiastica di Filippo Maria Visconti e il concilio di Basilea, in: Il ducato di Filippo Maria Visconti, 1412–1447. Economia, politica, cultura, Florenz 2015, S. 319–364; Alberto Cadili, La Corona d’Aragona e i concili di Pavia-Siena e Basilea. Diplomazia regia, ecclesiologia e istituzione conciliare a confronto, in: La Corona d’Aragona e la Curia negli anni dello Scisma [im Erscheinen]. 52 Hermann J. Sieben, Traktate und Theorien zum Konzil. Vom Beginn des Großen Schismas bis zum Vorabend der Reformation (1378–1521), Frankfurt am Main 1983, S. 47; Helmrath, Das Basler Konzil, S. 141. Zur Interpretation von Haec Sancta durch Eugen IV. Michiel Decaluwe, Three Ways to Read the Constance Decree Haec Sancta (1415). Franciscus Zabarella, Jean Gerson, and the Traditional Papal View on General Councils, in: The Church, the Councils, and Reform. The Legacy of the Fifteenth Century, hgg. von Gerald Christianson, Thomas M. Izbicki und Christopher M. Bellito, Washington 2008, S. 122–139. 53 Jesse D. Mann, Refuting the Pope. Comments on Juan de Segovia’s Gloss on the Bull »Etsi non dubitemus«, in: Annuarium historiae conciliorum 37 (2005), S. 323–40; Jesse D. Mann, Juan de Segovia’s »Super materia contractuum de censibus annuis«. Text and Context, in: Nicholas of Cusa on Christ and the Church. Essays in Memory of Chandler McCuskey Brooks for the American Cusanus Society, hg. von Gerald Christianson, Leiden 1996, S. 71–85.

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114 Davide Scotto In den letzten Jahren des Konzils kam Segovia nicht mehr auf die Absetzung zurück. Von dem Urteil von 1439 waren nur noch wenige der Bischöfe, die in Basel verblieben, überzeugt.54 Erst nach der Aufhebung des Konzils 1449 kam Segovia auf die Personalentscheidung zurück, deren Fehlerhaftigkeit offenbar nicht zu zeigen und schon gar nicht zu beheben gewesen war. Er trug die Fakten noch einmal in der Historia des Konzils zusammen, im unvollendeten Liber de magna auctoritate episcoporum (1449–53) und in einem geistlichen Brief an den savoyischen Eremiten Guglielmo d’Orliaco (1456).55 Es handelte sich hier aber um einen literarisierenden Rückblick, der einen anderen Ausgang des Konflikts andeutete. Obgleich sie von den Akteuren von Basel für theologisch legitim gehalten worden war, war die Absetzung Eugens IV. nicht geeignet, eine vergangene falsche Entscheidung zu beheben, die aus der Sicht des Konzils aus der mangelnden Eignung Eugens IV., die Kirche zu führen, folgte. Der 1439 eingeschlagene Weg hatte zu Spaltungen geführt, die aus den 1439 Unterlegenen die Sieger der kommenden Jahre gemacht hatten. Auf die Diskussionen vor den deutschen Fürsten im Sommer 1439 hatte Eugen IV. am 4. September mit der Bulle Moyses vir reagiert, welche das Dekret von den »drei Wahrheiten« verdammte. Diese Bulle wurde vom Konzil von Florenz bestätigt, was in den Augen der Lateinischen Kirche die Rückkehr zum Primat des Papstes darstellte, der bereits in der Bulle über die Union mit der griechischen Kirche vom 6. Juni enthalten war.56 Am 5. November 1439 wählten die in Basel verbliebenen einen neuen Papst, den Herzog Amadeus VIII. von Savoyen, der den Namen Felix V. annahm. Unter den 33 Wählern Felix’ V. war auch Segovia. Der neue Papst blieb, neben Eugen IV. und dessen Nachfolger Nikolaus V. (seit 1447), bis zum 7. April 1449 im Amt, als er freiwillig abdankte und sich nach Genf, Turin und Thonon zurückzog.57

54 Das Ende des konziliaren Zeitalters (1440–1450). Versuch einer Bilanz, hg. von Heribert Müller unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner, München 2012. 55 Jesse D. Mann, Juan de Segovia‘s Epistola ad Guillielmum de Orliaco. Who was Guillielmus de Orliaco?, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 62 (1992), S. 175–193. In der Historia findet sich der Konflikt mit Eugen IV. in der Vorrede zu den Büchern VII, XIII und XVI. Vgl. Jesse D. Mann, The Devilish Pope. Eugenius IV as Lucifer in the Later Works of Juan de Segovia, in: Church History 65/2 (1996), S. 184–196; Thomas Prügl, Herbst des Konziliarismus? Die Spätschriften des Johannes von Segovia, in: Das Ende des konziliaren Zeitalters, S. 153–174. 56 Vgl. Gill, Il Concilio di Firenze, S. 369–371. 57 Vgl. Valerio Gigliotti, La tiara deposta. La rinuncia al papato nella storia del diritto e della Chiesa, Firenze 2013.

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Somit hatte keiner der Texte Segovias Folgen für die Herrschaft Eugens IV., die von den Juristen des Papstes und einer wachsenden Zahl weltlicher Fürsten anerkannt wurde.58 Auf einer pragmatischen Ebene erwies sich das Vorgehen des Konzils als Fehlschlag. Was den Konzilsvätern als dringlich und legitim erschien, hatte der Angeklagte von vornherein als illegitim und jenseits der Kompetenzen des Konzils betrachtet. Die weltlichen Herrscher, von denen eine Durchsetzung des Konzilsvotums abhing, betrachteten die Angelegenheit als strittig oder inopportun. Die grundsätzliche Unfähigkeit, einen Konsens unter den Beteiligten und nach außen herzustellen, durchkreuzte die sorgfältige juristische und theologische Legitimation der Absetzung des Papstes.59 Der Blick auf die dynamische Beziehung zwischen der Wahrnehmung des Scheiterns und Erwartungen bedeutet, den Vorgang aus den Wahrnehmungen der Entscheidenden zu interpretieren. Die Formalisierung der Entscheidung hatte Implikationen, die auf eine letztlich provisorische Konstellation trafen. Diese konnte sich einer vorgeschlagenen Lösung entziehen, wenn sie im Gegensatz zu den Absichten der von ihr Betroffenen stand, und daher zwar juristisch, aber nicht unbedingt politisch zu verteidigen war. Das traf auf das Konzil von Basel zu. Die nach innen befriedigende Darlegung des Scheiterns führte nach außen nicht zu einer Übereinkunft über die Lösung. Die zahlreichen Beweise überzeugten die Botschafter nicht davon, die Absetzung Eugens  IV. zu unterstützen oder sich überhaupt auf eine zeitnah umsetzbare Lösung des Problems zu verständigen, welche die Marginalisierung des Konzils verhindert hätte. Den juristischen Nachweis der mangelnden Eignung einer Person zu führen, das Ergebnis in eine theologische Sprache zu übersetzen und es rhetorisch gut zu präsentieren, reichte nicht dazu aus, eine Entscheidung zu revidieren. Nach außen war die Unfähigkeit Eugens IV. nicht ebenso augenfällig. Zwischen 1436 und 1439 schien zudem die Wahl Eugens IV. eher ein Problem der in Basel versammelten Kleriker zu sein, deren Rezept der Korrektur für diejenigen, die nicht direkt an der Personalentscheidung beteiligt gewesen waren, nicht einsichtig war.

58 Stieber, Pope Eugenius IV, S. 276–330. 59 Valerio Gigliotti, La chute du pape. Entre renonciation et déposition. Quelques réflexions sur les sources du droit canonique médiéval, in: La déposition du pape hérétique, S. 57–67.

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Geworden und gestaltet – ­Reformsemantik des Papstwahlzeremoniells in Mittelalter und Früher Neuzeit Kevin Hecken und Stefan Schöch Für eine Institution wie die katholische Kirche, deren Anfänge bis in die Zeit der Antike zurückverfolgt werden können und die sich auch bewusst in diese Kontinuität stellt, ist die Besetzung ihres irdischen Oberhauptes gleichermaßen charakteristisch wie identitätsstiftend. In seiner heutigen Form stellt sich das Konklave immer noch als ein »Ursprungsereignis der religiösen und politischen Kultur der päpstlichen Wahlmonarchie« (G. Wassilowsky)1 dar, das die päpstliche Sukzession und Kontinuität in der katholischen Kirche erneuert, aufrechterhält und nicht zuletzt auch ihre Verfasstheit wesentlich begründet. Das dafür ausgebildete komplexe Formenrepertoire im Konklave, das zweifellos über Jahrhunderte geworden und gestaltet ist2, scheint mit seinen theologisch aufgeladenen Handlungsabläufen den Erfordernissen einer Personalentscheidung zu begegnen, die aufgrund ihrer Bedeutung für die (katholische) Gesellschaft auch in besonderer Weise legitimationsbedürftig ist.3 Es lohnt sich, die historische Wandelbarkeit dieser so bedeutenden Personalentscheidung und der mit ihr in Zusammenhang stehenden Diskurse, in der für histo1 Günther Wassilowsky, Die Konklavereform Gregors XV. (1621/22). Wertekonflikte, symbolische Inszenierung und Verfahrenswandel im posttridentinischen Papsttum, Stuttgart 2010 (Päpste und Papsttum Bd. 38), S. 1. 2 Die heutige Form in: Ordo Rituum Conclavis, hg. v. Officium de Liturgicis celebrationibus summi Pontificis, Civitate Vaticana 2000. 3 Andreas Fahrmeir, Personalentscheidungen für gesellschaftliche Schlüsselpositionen. Forschungsprobleme, Dynamiken, Folgen in: Personalentscheidungen für gesellschaftliche Schlüsselpositionen. Institutionen, Semantiken, Praktiken, hg. von Andreas Fahrmeir, Oldenburg 2017 (Historische Zeitschrift, Beiheft 70), S. 9–33, hier S. 13.

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rische Wandlungsprozesse so neuralgischen Epoche zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit herauszustellen. Hier sollen insbesondere die epochenspezifischen Semantiken mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Reformpraxis in Bezug auf die Papstwahl skizziert werden. Die spätmittelalterlichen Zeremonienmeister wussten um das Potenzial komplexer, ritualisierter Handlungsabläufe. Dabei war das Zeremoniell nicht bloß als Äußerlichkeit begriffen, sondern als ein komplexes Normengerüst dafür da, mittels der symbolischen Handlungen die bestehende Ordnung zu repräsentieren und gleichzeitig zu konstituieren.4 Damit verbunden blieb unweigerlich auch die Annahme, dass das Zeremoniell keineswegs nach willkürlichen Maßstäben zu gestalten sei, sondern vielmehr seine Verbindlichkeit und Funktion aus gleichermaßen rationalen wie theologischen Postulaten gewinnen müsse. Agostino Patrizi Piccolomini (1435–1495), ein einflussreicher und produktiver Zeremonienmeister des 15. Jahrhunderts und Schöpfer des Caeremoniale Romanum, das in seiner umfassenden Darstellung der Zeremonien am päpstlichen Hof herausragend bleibt, meinte: »Zeremonien sind nichts anderes als die Gott und den Menschen wegen Gott geschuldeten Ehren.«5 Wie war denn nun ein entsprechendes Verfahren zeremoniell auszugestalten, in dem der höchste kirchliche Personalentscheid von den Kardinälen im abgeschlossenen Konklave getroffen werden sollte? Keine Frage, die Legitimität kirchlichen Handelns allgemein sollte sich auf die tradierten Normen und auf alte Gewohnheiten zurückführen lassen, die weniger menschlicher Willkür als vielmehr der göttlichen Vorsehung verpflichtet seien. Besonders deutlich wird dies, als Patrizi, bevor er die Abläufe des Konklaves und das Wahlgeschehen im ersten »Titulus« seines umfassenden Zeremonienwerkes erläutert, auf die historische Genese des Zeremoniells »ein klein wenig«

4 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 489–511, S. 503. 5 So schon bei den Cerimonie Legati de Latere (1483), in: Franz Wasner, Fifteenth-Century Texts on the Ceremonial of the Papal ‚legatus a latere‘, in: Traditio 14 (1958), S. 295–356, hier S. 330: »Nec putet aliquis cerimonias esse voluntarias ad placitum inventas, ut minus bene quidam aiunt. Nam omnis cerimonia aut iure scripto aut summa ratione introducta est. Cerimonia enim nihil aliud est quam honor deditus Deo aut hominibus propter Deum.« Sein Caeremoniale Romanum von 1488 ediert bei: Marc Dykmans (Hg.), L’oeuvre de Patrizi Piccolomini ou le cérémonial papal de la première Renaissance, Città del Vaticano 1980/1982 (Studi e Testi 293 u. 294) 2 Bd.

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118 Kevin Hecken und Stefan Schöch eingeht.6 Was für Absichten er mit diesem, zwar zweifellos interessanten und gelungenen, historischen Abriss über die Papstwahl in seinem Caeremoniale verfolgt, erläutert er nicht explizit. Seine Darstellung folgt dabei aber immerhin weitgehend einem Muster, das uns noch heute in überblicksartigen Darstellungen über »Papstwahlgeschichte« begegnet. Das Recht der Papstwahl war ursprünglich das von Volk und Klerus Roms.7 Die über die Jahrhunderte zu beobachtende Einflussnahme bei den Papstwahlen, zuerst der römischen Kaiser und später der deutschen Könige und Kaiser, kontextualisiert Patrizi geschickt und bringt sie mit den auftretenden Tumulten bei den einzelnen Wahlen in Verbindung. Erst angesichts von Konfliktsituationen habe sich das Verfahren der Papstwahl immer klarer herausgebildet und so schließlich seine aktuelle und reglementierte Form gefunden. Wesentlich bediente Patrizi sich für seine Ausführungen wohl neben dem Liber Pontificalis – einer Sammlung von Papstviten als eine Art offiziöse Geschichtsschreibung – auch an den im Corpus Iuris Canonici überlieferten Normen zur Papstwahl, die ihrerseits die evolutive Genese derselben in sich tragen. In seiner Darstellung wird daher nicht unbedingt deutlich, wo Patrizi historisches (im Sinne von erledigtem) Recht referiert und wo er zu den aktuell gültigen Vorschriften übergeht. Als ein Ziel der Rekapitulation der Papstwahlgeschichte und der Rechtslage scheint der nachvollziehbare Nachweis der Entwicklung des gewordenen Zustandes der Wahl durch die Kardinäle im Konklave zu sein. Sein historischer Abriss ist aber weniger eine Gegenüberstellung konträrer Konzepte vergangener Formen der Papsterhebung als vielmehr eine evolutive Fortschreibung ein und derselben Aufgabe: der Produktion eines neuen Papstes. Das gegenwärtige Papstwahlrecht habe sich sozusagen notwendigerweise aus den historischen Gegebenheiten und Missständen herausgebildet und in ihm seine legitime Form gefunden und gewissermaßen auch bewahrt, insofern die Papstwahl seit ihren Ursprüngen immer darauf abzielen musste, konfliktfrei und rechtmäßig den Papst hervorzubringen und dem Ansehen der Institution zuträglich zu sein. Es darf wohl angenommen werden, dass gerade Patrizis konziser »historischer Abriss« zur Genese der Papstwahl im Caeremoniale Romanum mehr als anekdotische Hintergrundinformationen 6 »[N]unc ad ipsam electionem est deveniendum, cuius modum et originem altius aliquantulum repetemus.« (Dykmans [Hg.], L’oeuvre de Patrizi Piccolomini Bd. 1, S. 32 [No. 14]) 7 »Ius eligendi Romanum pontificem priscis temporibus ad clerum et populum Romane Urbis spectasse nemo dubitat.« (Ebd., S. 32 [No. 15])

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bieten sollte und er stattdessen damit eine strategische Intention verfolgt. In seiner weitgehend korrekten Darstellung der Wandlungen so grundlegender Faktoren des Personalentscheides scheint Patrizi nicht so sehr auf die Brüche und Umwälzungen in dieser Geschichte der auf Kontinuität bedachten Institution des Papsttums hinweisen zu wollen. Es ist wohl auch kaum einer wissenschaftlichen Redlichkeit Patrizis zuzuschreiben, wenn sich im Ergebnis die Papstwahl als ein wandelbares, weil sich gewandeltes Verfahren präsentiert und daher in weiterer Konsequenz auch in seiner jetzigen Form zur Disposition stehen kann. Dagegen beschreibt Patrizi vielmehr die jeweilige Kontextualität des Verfahrens, das angesichts auftretender Konflikte und sich verändernder politischer Rahmenbedingungen gerade in der Gestaltung »heiliger Gesetze« (sacra leges!) seine legitime Fortschreibung erhalten hat. Unabhängig von den Veränderungsprozessen hat somit die Papstwahl durch die Geschichte ihre eigentliche Konzeption und Semantik der rechtmäßigen Übertragung des Papstamtes durch die sich gewandelten Formen der Wahl behalten und durch die legitime Transformation und Gestaltung des Verfahrens gerade deswegen bewahrt. Patrizi benötigt geradezu den historischen Nachweis in seiner »zeremonialwissenschaftlichen« Arbeit für die Darlegung der Rechtmäßigkeit des vorliegenden kodifizierten zeremoniellen Verfahrens. Dass zumal die Verfahrensform der Papstwahl angesichts ihrer Geschichtlichkeit und der veränderten Formen größten Anlass zur Debatte bot, zeigt die Verbreitung des Caeremoniale Romanum in einem von Cristoforo Marcello besorgten berühmt-berüchtigten Nachdruck aus dem Jahr 1516.8 Das ohne Weiteres als Plagiat zu bezeichnende Werk  – es gibt keine Hinweise auf die Verfasserschaft Patrizis an – brachte die Nachfolger Patrizis im päpstlichen Zeremonienamt gleich aus mehreren Gründen zum Verzweifeln. Der amtierende Zeremonienmeister Paris de Grassis (um 1460–1528) sah in der Verbreitung des einmaligen päpstlichen Zeremoniells nichts anderes als seine größte Sabotage: Die Enttarnung einer Arkandisziplin. Die durch das Zeremoniell zur Schau gebrachte und sie konstituierende Ordnung sollte gerade durch seine komplexe und undurchsichtige Struktur seine volle Wirkung entfalten. Mit den durch die Veröffentlichung ermöglichten Einblicken in die hinter den geheimnisvollen Gebärden liegenden schnöden technischen Handlungssequenzen wird noch 8 Rituum ecclesiasticorum sive sacrarum ceremoniarum, SS. Romanae Ecclesiae libri tres, ­Venedig 1516.

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120 Kevin Hecken und Stefan Schöch offenbar, dass die Päpste nicht »irdische Götter, sondern sterbliche Menschen seien«.9 Dass Marcello in seinem »Raubdruck« nicht unwesentlich in den Textbestand eingegriffen hat, bemängelt Paris de Grassis zwar ebenso, erscheint gegen den generellen Einwand der Profanierung und Entweihung durch die Veröffentlichung aber quasi unerheblich. Doch gerade der Abschnitt zur Genese des Papstwahlzeremoniells steht in einem krassen Gegensatz zur Originalfassung. Den Text Patrizis tauscht Marcello an dieser Stelle komplett aus und fügt stattdessen eine neue Version der Geschichte der Papstwahl ein: Demnach installierte niemand geringerer als Petrus selbst an Stelle der Apostel einen Senat, bestehend aus dem römischen Klerus, dem von diesem Zeitpunkt an die Wahl des Papstes anvertraut war und es gegenwärtig in Form des Kardinalats immer noch ist.10 In dieser glatten Geschichtsfiktion wird deutlich, wie problematisch der tatsächliche historische Hintergrund des Papstwahlverfahrens angesichts seiner aktuellen Form sein konnte. Marcello schien daher seinen Text für eine größere Öffentlichkeit anzupassen, indem er wohlmeinend die historischen Brüche in der Papstwahl durch eine neue Erzählung ausbesserte und die Wahl durch die Kardinäle mit einer erfundenen Geschichte legitimierte. Dass er in diesem Punkt nicht dem Original folgte, hatte in der weiten Verbreitung schwerwiegende Konsequenzen. Nicht nur aus früher wissenschaftlicher Perspektive folgte Kritik an dieser Fassung des Caeremoniale Romanum. Schon in der Kirchen- und Papstkritik der Reformation bot die Verbreitung dieses vermeintlich maßgeblichen Werkes der Zeremonialreform des 15. Jahrhunderts Anlass für Spott und Hohn.11 Wenzeslaus Linck, einem deutschen 9 Aus dem Diarum Paris de Grassis‘ gedruckt bei Jean Mabillon und Michele Germain, Museum Italicum seu collectio veterum scriptorum ex bibliothecis Italicis, t. 2, Paris 1724, S. 588 f. »Dum enim illi summos Pontifices non tamquam mortales homines, sed tamquam deos in terris existimant et credunt. […] Quod si sacrorum arcana pandanture et sacrae publicentur ceremoniae, ilico futurum est, ut omnis opinio minuatur, ut pontificia auctoritas elanguescat necesse est.« 10 Rituum ecclesiasticorum, S. 8: »Ius itaque eligendi summi pontificis a Christo Domino derivatum est. Ipse enim Christus primum denominatione successorem instituit […]. Senatus autem Romanae ecclesiae a Petro divina inspiratione institutus est […] videlicet collegium xxiiii senatorum ex presbyteris et diaconibus Romanae urbis […]. Hos enim Petrus loco assistentium apostolorum […] elegerat et designaverat, ac consiliarios Romanae ecclesiae coadiutoresque atque Romani pontificis electores instituit.« 11 Nikolaus Staubach, »Honor Dei« oder »Bapsts Gepreng«? Die Reorganisation des Papstzeremoniells in der Renaissance, in: Rom und das Reich vor der Reformation, hg. von Nikolaus Staubach, Frankfurt am Main 2004 (Tradition – Reform – Innovation 7), S. 91–136, S. 125 f.

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lutherischen Theologen, genügte die Anfertigung einer bloßen Übersetzung des Marcello-Caeremoniale, um 1539 die Abläufe der Zeremonien in Rom als »Bapsts Gepreng« abzutun und insbesondere die Fassung der Papstwahlgeschichte (zu Recht) als »eytel Gedicht« zu diffamieren. Allerdings zeigt es sehr gut die Diskussion um Normen und Legitimität angesichts der historischen Genese der Papstwahl und ihrer aktuellen Verfassung  – auch außerhalb des Konklaves. Tradierte Normen und alte Gewohnheiten sind es in der Frühen Neuzeit nicht mehr allein, welche die Form der Papstwahl bestimmen sollten. Nun darf die Bedeutung der Epochenscheide hier nicht absolut gesetzt werden: Auch das Papsttum des 16. und 17. Jahrhunderts erdenkt die Reformen des ihm zugrunde liegenden Wahlverfahrens nicht rein auf Basis rationalistischer oder gar verfahrenstheoretischer Diskurse. Zwar gelingt es den Reformern des 17. Jahrhunderts, den Wahlmodus systematisch und eben zielorientiert, nicht mehr unter der Verwendung bloß älterer Topoi, sondern durchaus in der dezidierten Neuschaffung von Verfahrensformen zu verändern: Auch der frühneuzeitliche Wahlmodus aber ist geprägt durch gesellschaftliche Abhängigkeiten, die wir in hohem Maße – und häufig sehr zu Unrecht – als spezifisch »vormodern« denken möchten. Es gilt dies für die Zeit vor der großen Konklavereform von 1621/22 ebenso wie für die Zeit danach. Zunächst jedoch: Welche Reform tritt hier in Kraft und welcher Formen bedient sie sich? Die päpstliche Bulle Aeterni patris filius12 vom 15. November 1621, entschieden vorangetrieben durch den erst seit Februar desselben Jahres als Gregor XV. im Pontifikat stehenden Alessandro Ludovisi sowie seines ­Nepoten Ludovico und in ihrer Ausführung präzisiert durch das im März des Folgejahres veröffentliche Zeremoniale Caeremoniale in electione Summi ­Romani Pontificis observandum13, gestaltet die Papstwahl in dreierlei Hinsicht neu: Einerseits durch die überhaupt erstmalige vollständige schriftliche Kodi­ fizierung des Wahlzeremoniells, zweitens durch die Einführung der geheimen schriftlichen Abstimmung durch die Kardinäle und drittens durch die mit ihr zusammenhängende zeremonielle, öffentlichkeitswirksame Gestaltung des Wahlaktes14. 12 Ediert bei Wassilowsky, Konklavereform Gregors XV., S. 345–350. 13 Ediert ebd., S. 350–360. 14 Vgl. ebd., S. 339.

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122 Kevin Hecken und Stefan Schöch Ganz wie schon die großen Papstwahlreformen des Mittelalters, welche der Papstwahl mit der Einführung von Konklave, kardinalizischem Wahlkollegium und Abstimmungswahl seine noch heute grundlegende Erscheinung gegeben haben, reagiert sie damit auf ein bestehendes Problem, welches die Legitimität des Wahlaktes selbst zu gefährden schien: Günther Wassilowsky hat in seiner grundlegenden Schrift zur Konklavereform Gregors XV.15 den historisch-theologischen Kontext sowie die Entstehung der Neuregelung von 1621/22 erforscht und herausgestellt, dass es sich bei der dominierenden Wahlform des genannten Zeitraums um die zuvor nirgends normativ festgehaltene, dafür aber ganz hervorragend an die soziokulturellen Gegebenheiten ihrer Umwelt angepasste »Adorationswahl« gehandelt habe. Obwohl das Caeremoniale Romanum von 1488 die Regelung des im Rahmen des IV. Laterankonzils im Jahre 1215 erlassenen Dekretes Quia propter, welches nur die Wahl durch Stimmenbefragung (per scrutinium) sowie diejenige durch Kompromiss zwischen den Teilnehmern (per compromissum) kannte, nochmals bekräftigt hat, wurde seit 1503 jedoch bis zur Konklavereform kein einziger Papst tatsächlich mehr durch Stimmzettel (oder durch Kompromiss) gewählt. Quia propter deutet daneben noch eine dritte Wahlform an, nämlich diejenige durch göttliche In­spiration.16 Erstere beiden Verfahrensformen dominierten zunächst die Wahl des Papstes, wobei die Kompromisswahl, soweit die verfügbaren Quellen eine derartige Interpretation überhaupt zulassen, im 13. und die Skrutinalwahl im 14. und 15. Jahrhundert vorgeherrscht hat.17 Bis auf zwei für den Trend wenig aussagekräftige Ausnahmen – die Wahl Julius II. durch Stimmenkauf und Pius III.

15 Wassilowsky, Konklavereform Gregors XV. 16 »Aliter electio facta non valeat, nisi forte comminiter esset ab omnibus quasi per inspirationem divinam absque vitio celebrata« (Conciliorum Oecumenicorum Decreta, hgg. von Giuseppe Alberigo u. a., Bologna 31973, S. 246). 17 Vgl. Wassilowsky, Konklavereform Gregors XV., S. 50 f., 103 f. »Ausführungsbestimmungen«, welche die Wahlarten zeremonialpraktisch konkretisieren, sind, etwa als Ordo Romanus XIV, u. a. aus der Hand Kardinal Jacobus Gaetani Stefaneschis aus dem frühen 14. Jahrhundert, auf uns gekommen, siehe auch die Edition Marc Dykmans, Le cérémonial papal de la fin du moyen âge à la renaissance. Tome II: De Rome en Avignon ou le cérémonial de Jacques Stefaneschi, Brüssel 1977 (Bibliothèque de l’Institut Belge de Rome, Fascicule XXV), S. 257–269. Eine Neuordnung liegt im Caeremoniale Romanum des päpstlichen Zeremonienmeisters Agostino Piccolomini Patrizi von 1488 vor, siehe Marc Dykmans, Le cérémonial papal de la fin du moyen âge à la renaissance. Tome IV: Le retour à Rome ou le cérémonial du Patriarche Pierre Ameil, Brüssel 1985 (Bibliothèque de l’Institut Belge de Rome, Fascicule XXVII). Dazu insgesamt: Staubach, »Honor Dei«, S. 98–106.

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mit bereits beschriebenen Stimmzetteln18  – kommen in der Tat alle Wahlen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts entweder durch mündliche Stimmabgabe oder, in mindestens 12 von 20 Fällen, durch Huldigung, per viam adorationis, zustande. Die Wahl fand hier nicht per Stimmzettel oder in irgendeiner anderen Form der allgemeinen Befragung (per viam scrutinii) statt, sondern durch öffentliche Verehrung eines Kardinals durch seine Kollegen. An der eigentlichen Wahlentscheidung waren also nicht alle anwesenden Kardinäle beteiligt. Die Kür des Papstes lag vielmehr bei einem informellen Kreis führender Kardinäle, die untereinander am Vorabend der Wahl eine Einigung erzielten. Trotz dieses Einigungscharakters handelt es sich hier nun jedoch nicht um eine »Kompromisswahl« (per viam compromissi) im Sinne des Caeremoniale Romanum, weil der Kompromiss erstens nicht zwischen allen Wählenden geschlossen wurde, sondern bloß von einer kleinen Gruppe, und weil der Schluss dieses Kompromisses zweitens eben nicht den rechtskonstitutiven Akt der Papstwahl ­darstellte. Um die Integrität der Wahl sicherzustellen, wird nämlich am nächsten Morgen eine Abstimmung durchgeführt.19 Das eigentliche agenda setting, die Auswahl des zu wählenden Kandidaten, übernahmen die führenden Kardinäle der entweder durch ihre Beziehung zu den auswärtigen Kronen Frankreichs und Spaniens oder durch den sie kreierenden Papst geeinten »Faktionen«, denen die übrigen Kardinäle gesellschaftlich, im Rahmen eines Wertekanons von pietas und gratitudine20, verpflichtet sind. Die Papstwahlreform von 1621/22 setzt hier an: Die geheime Wahl soll es den Faktionsführern unmöglich machen, die Stimmabgabe mindermächtiger Kardinäle zu kontrollieren und auf diese Weise die Stimmfreiheit sowie die Würde des Kardinalats als Wahlkörperschaft wiederherstellen, um zugleich dem Wahlakt selbst den Ruch der Mauschelei, eines abgekarteten Spiels, einer rein politischen Entscheidung zu nehmen. Zu seinem Recht kommen soll statt18 Wassilowsky, Konklavereform Gregors XV., S. 102. 19 Kardinal Sigismondo Gonzaga, Bischof von Mantua, berichtet dazu in einem Brief an seinen markgräflichen Bruder: »[…] anci essendoni certificato seressimo ad adorare mons.re antedetto de Medici, il medesimo feceron tutti loro et osi circa una hora di nocte cum gracia del spirito sancto è stato facto papa. Domatina per observare la forma della electione si farà il scrutinio et si publicerà.« zitiert und übersetzt bei Wassilowsky, Konklavereform Gregors XV., S. 87. 20 Ebd., S. 114.

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124 Kevin Hecken und Stefan Schöch dessen der durch die Kardinäle in ihrem Wahlakt wirkende Heilige Geist. In diesem Zusammenhang steht auch die Einführung eines Konklaveschwurs vor Michelangelos Jüngstem Gericht in der Sixtinischen Kapelle, die 1623 zu diesem Zwecke erstmals die päpstliche Wahlkapelle wird. Der Wahlort verpflichtet die Kardinäle auf die Theologie der Reform: Der Heilige Geist nämlich, nicht irgendein Faktionsführer, ist es, der den Papst erwählt. Und das tut er durch das Gewissen der Kardinäle, das ohne Zwischenstation auf den Stimmzettel und in den Wahlkelch übertragen wird. Da er den Schwur im Angesicht der aufbrechenden Gräber des Jüngsten Tages und der zur ewigen Höllenqual verdammten Sünder leistet, werden dem Kardinal die Schwere seiner Wahlentscheidung und insbesondere auch die Konsequenzen vor Augen geführt, die ihm am Ende der Zeit drohen, wenn er sich der Wahlbulle Gregors zum Trotz nicht für den Würdigsten entscheiden sollte, sondern im Sinne weltlicher, klientelärer und letztlich eigensinniger Interessen votiert. Ebenfalls zur öffentlichen Inszenierung der Wahl dient die komplizierte Gestaltung der Stimmzettel: Ihre Beschriftung, Faltung, Versiegelung und Abgabe ist genau festgelegt und wird als Folge von Verfahrenssequenzen im Rahmen einer »Inszenierung des Geheimen« zelebriert: »Durch die symbolische Darstellung von Regelhaftigkeit und Geordnetheit soll sich die göttliche Dignität des Verfahrens erweisen und die Identifikation der Öffentlichkeit mit dem produzierten Ergebnis gesteigert werden, was wiederum der Stabilisierung des gesellschaftlichen, religiösen politischen Systems diente.«21 Die Konklavereform sollte praktisch erstmals 1623, im Anschluss an das sehr kurze Ludovisi-Pontifikat, erprobt werden und seitdem, in ungebrochener Folge, im Kern ihre Gültigkeit behalten. Sie stellt einen bedeutenden Eingriff in das Zeremoniell der Papstwahl dar, der nicht mehr mit dem Rückgriff auf die Geschichte, mit der Wiederherstellung eines erstrebenswerten Urzustandes gerechtfertigt und ausgestaltet wird, sondern in der Einführung seiner Handlungssequenzen auf die Öffentlichkeitswirkung zielt, die zunächst bloß eine

21 Ebd., S. 340.

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konklaveinterne Öffentlichkeit ist, jedoch rasch, vermittels der weit verbreiteten Konklaveberichte und -pläne eine europäische Öffentlichkeit wird.22

Erstes Zusammentreten der Generalkongregation der Kardinäle in der Sala dei Paramenti (Detail eines Kupferstichs aus dem 17. Jahrhundert) Die Macher der Konklavereform verweigerten sich nicht mehr, wie noch de Grassis, einer Öffentlichmachung des Geschehens, sondern spielten bewusst mit der Macht der Bilder und der Inszenierung. Maffeo Barberini, der 1623 schließlich erwählte Nachfolger Ludovisis, verwendet die in der Reformbulle von 1621/22 begründete Vorstellung einer Erwählung durch die Göttliche Vorsehung im Laufe seines Pontifikats geschickt als Motiv von Bau- und Kunstpolitik. Insbesondere zu erwähnen ist dabei das große Deckenfresko im Gro22 Dass die versammelten Kardinäle, und insbesondere die durch die Bulle gewissermaßen entmachteten Faktionsführer, auch in den Folgekonklaven nicht auf die öffentliche Inszenierung ihrer klientelären Verpflichtungen verzichten konnten und darum einen Weg finden mussten, mit den Regelungen der Bulle in ein kreatives Verhältnis zu treten, und dass es in Folge zu einer variablen Veränderung und situationalen Anpassung des Zeremoniells kommen sollte, ist von immenser Bedeutung für unsere nach wie vor häufig allzu rechtspositivistische Vorstellung frühneuzeitlicher Reformpolitik. Vgl. dazu Kevin Hecken, Das Konklave im 17. Jahrhundert. Praxeologie einer Wahlkörperschaft (Dissertation, in Vorbereitung).

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126 Kevin Hecken und Stefan Schöch ßen Salon des Palazzo Barberini in Rom.23 Eine Reihe von Wandteppichen, ursprünglich ebenfalls für den Gran Salone des römischen Barberini-Palais vorgesehen, aber aufgrund der turbulenten Familiengeschichte, die auf den Tod des einstigen Oberhauptes im Jahre 1644 folgen sollte, erst 1679 fertiggestellt24, zeigen Szenen aus dem Leben Urbans VIII. Der vierte jener insgesamt zehn Wandbehänge wiederum stellt den Moment der Wahl Barberinis dar. Im Zentrum des Teppichs steht dabei Maffeo selbst, die Tiara, die ihm die Zeremonienmeister anbieten, zurückweisend, wie er auf den Tisch mit den Wahlzetteln zeigt.25 Hier wird auf eine Episode in der Wahl von 1623 angespielt, in welcher der spätere Papst, der Tatsache zum Trotz, dass er bereits genügend Stimmen sein Eigen nennen konnte, aufgrund eines Formfehlers auf der Wiederholung des Wahlganges bestanden hatte. Barberini, der sofort Papst werden könnte, zeigt sich hier als erfüllt von Bescheidenheit und Großmut26, demonstriert aber zugleich, dass seine Wahl eben nicht allein der göttlichen Erwählung geschuldet ist, sondern zudem auch in kanonischer Weise zustande kam. Hier zeigten sich also der Heilige Geist und das Kardinalskollegium, so könnte man beide Bildwerke thematisch zusammenfassen, einig.27 Diese öffentliche Präsentation des Konklavegeschehens und seines Zeremoniells steht in hartem Kontrast zur Abwehrhaltung, wie sie die Enttarnung des Konklavegeschehens als Arkandisziplin, seine Sichtbarmachung durch die Veröffentlichung des Wahlzeremoniells durch Marcello im 16. Jahrhundert hervorgerufen hatte. Ihr kommt in diesem Sinne in gewisser Hinsicht eine epochenscheidende Wirkung zu. Das Zeremoniell des 17. Jahrhunderts wird bewusst für eine Öffentlichkeit (und für eine mediale Verbreitung des Geschehens) gestaltet. Die schnöden Handlungssequenzen, das Profane wird nun nicht mehr verschämt geduldet, sondern explizit so manipuliert, dass die 23 Wassilowsky, Konklavereform Gregors XV., S. 324–331. 24 Ebd., S. 329. 25 Ebd., S. 330. 26 Ebd., S. 331. 27 Wie wichtig das Konklave für die Herrschaftsideologie Urbans VIII. gewesen ist, ergibt sich nicht zuletzt aus seiner Erwähnung in Widmungsschreiben, etwa demjenigen Girolamo Ghettis in seinem Trattato dell’elettione del Sommo Pontefice, wo es heißt: »Il primo Conclave pratticato con le regole della nuova Bolla fatta dalla felicissima memoria di Gregorio XV, ha rasserenato gli animi degli huomini prudenti, che considerando lo stato delle cose temevano o della lunghezza, o di qualche esito fastidioso.« BA, ms. 2320, 2r–128v, 2r. Vgl. Maria Antonietta Visceglia, Morte e elezione del papa. Norme, riti e conflitti. L’Età moderna, Rom 2013 (La corte dei papi. Collana diretta da Agostino Paravicini Bagliani, 23), S. 175.

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Papstwahl in ihrer legitimatorischen Funktion umso deutlicher hervorscheine. Das Papsttum der Frühen Neuzeit arbeitet sich dabei nicht mehr an der historischen Korrektheit des Geschehenen ab, sondern nutzt das Zeremoniell entlang praktischer Überlegungen zur Generierung von Legitimation. Es wird in der Reform von 1621/22, die den endgültigen Bruch mit der älteren Praxis darstellt, in jenem Moment, in welchem die Auszählung der entscheidenden Stimme die Einwirkung des Heiligen Geistes auf die Wahl des Papstes signalisiert, eine einmalige Verschmelzung von nüchternem, bürokratischen Vorgehen einerseits und empathischer, religiöser Verherrlichung andererseits intendiert und letztlich auch erzielt, wie sie allein das frühneuzeitliche Papsttum hervorbringen konnte. In der epocheübergreifenden Analyse jedoch erweist sich die Entwicklung der Papstwahl – stets unter der Prämisse, geistgeleitetes Geschehen zu sein – über die Jahrhunderte hinweg als dynamischer Prozess mit zwei Gesichtern: als historisch geworden und zielgerichtet gestaltet.

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Auf der Suche nach dem ­Richtigen – Wahrsagerei als ­Faktor in der ­Personalpolitik ­unter Kurfürst August von ­Sachsen (1526–1586) Ulrike Ludwig Die richtigen Leute zu finden war schon immer eine Herausforderung, auch in der Frühen Neuzeit. Dies zeigt bereits ein kurzer Blick in die verschiedenen Fürstenspiegel dieser Zeit, in denen die Auswahl der Bediensteten am Hof und hier vor allem der richtigen Berater, geheimen Räte und obersten Richter ein früh standardisiertes Thema war. Einig waren sich die Autoren zunächst darin, dass gute Herrschaft gerade nicht dem Herrscher allein gelingen könne. Vielmehr brauchte ein Fürst eine mit Bedacht ausgewählte Gruppe oberster Bediensteter oder sagen wir etwas anachronistisch: oberster Beamter, um mit diesen gemeinsam die Geschicke von Land und Leuten zum allgemeinen Besten zu lenken. Auch über die Frage, welche Eigenschaften diese so dringend benötigten Beamten mitbringen mussten, bestand weitgehend Einigkeit. Zumindest gleichen sich die Ratschläge der Autoren in den Fürstenspiegeln in diesem Punkt auffallend. Hier sei als Beispiel lediglich der Fürstenspiegel herausgegriffen, der für Kurfürst August von Sachsen persönlich bestimmt war. Verfasst hatte ihn ein Beamter, der sächsische Jurist Dr. Melchior von Ossa (1506–1557). Ossa hatte bei verschiedenen sächsischen Herzögen und Kurfürsten in Diensten gestanden, in seinen letzten Lebensjahren war er dann als Hofrichter und Rat von Haus aus unter August tätig, und in dieser Zeit, konkret im Jahr 1556, schrieb er für ebendiesen, gerade an die Macht gekommenen Herrscher einen Fürstenspiegel. Darin heißt es mit Blick auf jene Bedienstete, die in Verwaltung und

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Rentkammer tätig waren, dass es »hoch vonnoten« sei, die Verwaltungsaufgaben nur »gotfurchtigen, frommen, ehrlichen vorstendigen leuten« anzuvertrauen, die in »ihr[em] wesen und wandel wol kundbar« seien, die man also gut kenne. Sie sollten weder »mit dem laster des geiz[es] […] befleckt sein« noch »rachgierikeit, neid, haß« oder gar »eigennotzigkeit brauchen«.1 Was hier im Ratschlag Melchior von Osses aufscheint, ist jener Tugendkatalog, der von Michael Stolleis als frühneuzeitliche Beamtenethik bezeichnet wurde. Frömmigkeit und Integrität, Unbestechlichkeit und Anpassungsfähigkeit, Verschwiegenheit und Treue, gute Ausbildung und regionale Verwurzelung der Familie waren in der Zeit zwischen 1550 und 1650 feste Größen bei der Auswahl der »richtigen« Beamten und Bediensteten eines Fürsten.2 Im Fall konkreter Auswahlentscheidungen waren die genannten Kategorien allerdings nicht alle gleichermaßen einfach überprüfbar und damit als Kriterien in einem Auswahlverfahren einsetzbar. Lediglich einige ließen sich damals wie heute recht leicht greifen: Dies trifft vor allem auf regionale und soziale Herkunft sowie die Ausbildung zu. Die Herkunft fungierte dabei als recht unkomplizierte Form der »Varietätenbeschränkung«, denn hiermit ließ sich die Gruppe möglicher Kandidaten leicht eingrenzen: Man kam entweder aus Sachsen oder eben nicht. Gleiches gilt für die adlige Herkunft, die mitunter zwingend vorausgesetzt wurde – etwa für bestimmte Posten des Hofgerichts – oder doch immerhin nicht von Nachteil, wie im Fall der geheimen Räte, sein musste. Eine bestimmte Ausbildung ließ sich ebenfalls gut vergleichend heranziehen und immerhin auch selbst erwerben. Für den sächsischen Fall kann man dabei schon recht früh feststellen, dass für gewisse Positionen im landesherrlichen Dienst das Durchlaufen feststehender Ausbildungs- und Karrierestationen erforderlich war. So etwa für die Position eines Schöffen, also Urteilers, an den landesherrlichen Schöffenstühlen in Leipzig und Wittenberg. Hier waren nach einem Studium der Rechte mehrere Jahre Dienst als außerordentlicher – 1 Melchior von Osse, Politisches Testament. An herzogk Augustum churfursten zu Sachssen ein unterteniges bedenken (…) Welchergestalt ein christliche obrikeit ingemein in irem regement mit gots hulfe ein gotselige, weisliche, vornunftige und rechtmeßige justicien erhalten kann (1555/56), in: Schriften Dr. Melchiors von Osse, hg. von Oswald Artur Hecker, Leipzig, Berlin 1922 (Schriften der Sächs. Komm. f. Gesch. 26), S. 269–475, hier S. 316 f. 2 Michael Stolleis, Grundzüge der Beamtenethik (1550–1650), in: Ders., Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts, Frankfurt am Main 1990, S. 197–231.

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130 Ulrike Ludwig und damit unbezahlter – Assessor die Regel, um sich in die sächsische Spruchpraxis einzuarbeiten und auch insgesamt die eigenen Qualitäten als Jurist unter Beweis zu stellen.3 Doch selbst wenn man über Ausbildung und Herkunft den Kreis der Kandidaten eingegrenzt hatte, blieben in der Regel immer noch mehrere Kandidaten für eine Stelle: alle gut ausgebildet, in der sächsischen Spruchpraxis bewandert und mit tadellosem Herkommen. Unter ihnen galt es den Besten, den Geeignetsten zu finden. Hier konnten nun die anderen, eingangs genannten Tugenden zum Zuge kommen. Doch Integrität und Treue, Frömmigkeit oder Verschwiegenheit ließen sich nicht gleichermaßen leicht überprüfen wie Ausbildungswege und Herkunft. Selten kam ein Kandidat daher ohne eine Empfehlung aus, eine »Versicherung« Dritter, dass dieser für ein Amt bestens geeignet wäre, er weithin als fromm und unbestechlich bekannt sei und von ihm künftig Integrität und Treue erwartet werden könnten. Mal versicherte dies der Vater eines Kandidaten, der womöglich sogar schon selbst über Jahre dem sächsischen Herrscherhaus treu gedient hatte und nun für seinen Sohn bürgte. Aber auch klienteläre Beziehungen werden erkennbar: Sie spiegeln sich in den vielen Empfehlungsschreiben von ehemaligen Studienkameraden und väterlichen Freunden. Es gab Angehörige eines regionalen Adelsnetzwerkes, die für einen Landsmann baten, und Gönner eines jungen Bewerbers, die sich spätere Gegenleistungen erhofften. In all diesen Fällen fungierte die Familie oder aber ein mehr oder weniger mächtiger Patron als Garant für die Qualität des Kandidaten. Doch die Empfehlungsschreiben konnten die Gruppe möglicher Kandidaten für ein Amt häufig nur eingrenzen. Denn es wurde nie nur für einen einzigen Kandidaten gebeten und ob man den Empfehlungen Dritter in jedem Fall Glauben schenken konnte, war auch nie ganz klar. Die im Ansatz verfahrensförmigen Auswahlmechanismen stießen hier an ihre Grenzen. Denn eine Entscheidung über die Glaubwürdigkeit der eingegangenen Empfehlungen blieb ebenso wie die endgültige Auswahl zwischen den verbliebenen Kandidaten notwendig und sie lag, zumindest bei der Gruppe der oberen Beamten, beim Kurfürsten persönlich. Damit rückt der Fürst als zentraler Faktor im Prozess der Personalentscheidung in den Blick, konkret der Fürst im Entscheidungsstress. Auf den Um3 Siehe dazu Ulrike Ludwig, Das Herz der Justitia. Gestaltungspotentiale territorialer Herrschaft in der Strafrechts- und Gnadenpraxis am Beispiel Kursachsens 1548–1648, Konstanz 2008, S. 79.

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stand, dass in solchen Entscheidungsprozessen mit einem K ­ ontingenz­pro­blem umzugehen ist, wurde in der Forschung zuletzt immer wieder verwiesen. Denn bei Entscheidungen kommen gerade nicht einfach die besseren Argumente zum Tragen  – solche Fälle werden gemeinhin als Ableitung verstanden und sind gerade kein Problem, denn die bessere Option ist ja klar erkennbar. Im Unterschied dazu zeichnen sich Entscheidungen im engeren Sinne dadurch aus, dass sie zwischen gleichwertigen Optionen fallen. In Entscheidungssituationen kann man so, aber genauso gut auch anders entscheiden; für den einen Kandidaten spricht ebenso viel wie für den anderen. Ob die getroffene Wahl richtig ist, wird letztlich erst die Zukunft weisen. In der Gegenwart der Entscheidung aber ist es völlig offen, welche Option die bessere, die richtige ist.4 Und genau das ist das Problem! Denn angesichts dieser Kontingenz eine Entscheidung zu treffen war eine Zumutung. Für Zumutungen dieser Art hatten die Fürstenspiegel letztlich keinen Rat. Hier hieß es lediglich lapidar, um noch einmal von Ossa hinzuzuziehen, dass bei derartigen Personalentscheidungen angesichts ihrer Wichtigkeit »aufsicht und vorsicht von noten«5 seien. Eine wirkliche Hilfe im Entscheidungsprozess boten solche Hinweise wohl kaum. Hinzu kam zudem noch ein zweites, ein Folgeproblem jeder Personalentscheidung: Denn die richtigen Personen auszuwählen war immer nur der erste Schritt. Die Fähigkeiten eines einmal ausgewählten Beamten und damit seine Qualität im Amt regelmäßig zu überprüfen der notwendige zweite. Und dazu schwiegen sich die Fürstenspiegel gänzlich aus. Alles in allem zeigt sich also: die Herausforderungen für einen Herrscher bei der Personalauswahl und bei der Personalüberprüfung waren groß. Und um ihnen zu begegnen, griff Kurfürst August von Sachsen auf eine womöglich unerwartete, aber ausgesprochen potente Strategie zurück: die Wahrsagerei. Konkret nutzte er eine in der Forschung bislang kaum betrachtete Form der Wahrsagerei: die Geomantie oder Punktierkunst.6 4 Zu diesem Verständnis von »Entscheiden« siehe Barbara Stollberg-Rilinger, Cultures of Decision-Making, London 2016. 5 Osse, Politisches Testament, S. 317. 6 Grundlegend zur Geomantie und deren Funktionsweise: Emilie Savage-Smith, Geomancy in the Islamic World, in: Encyclopaedia of the History of Science, Technology, and Medicine in Non-Western Cultures, hg. von Helaine Selin, Dordrecht 2008, S. 998 f.; Thérèse Charmasson, Recherches sur une technique divinatoire. La géomancie dans l‘occident medieval, Genève 1980; Alessandro Palazzo und Irene Zavattero (Hgg.), Geomancy and Other Forms of Divination, Florenz 2017 (Micrologus Library, Bd. 87).

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132 Ulrike Ludwig Bei der Geomantie wird mit vierzeiligen Punktfiguren gearbeitet, die per Zufall generiert und zu einem Tableau aus 15, manchmal auch 16 einzelnen Punktfiguren verbunden werden. Dieses Tableau wird anschließend mit Hilfe von entsprechenden Nachschlagewerken gedeutet. Der geomantische Zugang vereinfachte im Vergleich zur Astrologie die Prognostik also deutlich, da man auf Berechnungen von genauen zeitlichen und räumlichen Konstellationen am Sternenhimmel verzichten konnte. Stattdessen ließ man den Kosmos quasi in und durch sich wirken. Die Grundprinzipien der Geomantie sind ohne weitere Vorkenntnisse ungefähr in einer Viertelstunde gelernt.7 Der wichtigste strukturelle Unterschied zur besser bekannten Astrologie besteht dabei darin, dass die Geomantie keine Expertenkunst ist, sondern kinderleicht. Wenn man eine Frage hat, kann man diese mit Hilfe der Erstellung eines geomantischen Tableaus und dessen Interpretation, für die es entsprechende Nachschlagewerke gibt, mühelos selbst beantworten. Und genau das tat auch Kurfürst August. Tausende der von August gestellten Fragen und deren geomantisch bestimmte Antworten sind überliefert, die – und das ist natürlich ein besonderer Clou – zu einem großen Teil vom Herrscher persönlich niedergeschrieben worden waren. Diese persönlichen Aufzeichnungen der wahrsagerischen Befragungspraxis durch den Kurfürsten gewinnen, zumindest phasenweise, einen tagebuchartigen Charakter, und sie geben in spektakulärer Weise Aufschluss über die Interessen, Sorgen und Ängste eines Herrschers. In diesem Fall eines Herrschers mit erheblichem politischem Gewicht: Denn August war als einer der sieben Kurfürsten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation nicht nur einer der Königswähler und damit auch Kaisermacher, sondern der Sachse beanspruchte für sich auch die Führungsposition innerhalb der protestantischen Reichsstände. Während seiner Regierungszeit erlebte Kursachsen durch Silberbergbau und hohe Steuereinnahmen, eine exzellente Verwaltung und politisch umsichtiges Taktieren in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht eine

7 Zum technischen Prozedere siehe etwa Wim van Binsbergen, The Astrological Origin of ­ Islamic Geomancy, 1996, unter: http://www.quest-journal.net/shikanda/ancient_models/ BINGHAMTON %201996.pdf, (zuletzt 14.08.2018), S. 5–10.

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absolute Blütezeit. Und in all diesen Bereichen und damit auch für Fragen der Personalentscheidungen setzte er auf die Wahrsagerei.8 Wie hat man sich nun eine solche, geomantisch beeinflusste Personalpolitik vorzustellen und welchen Stellenwert hatten die via Geomantie gefundenen Antworten auf konkrete Personalentscheidungen? Betrachtet man die geomantischen Anwendungen Kurfürst Augusts, lassen sich mit Blick auf Formen und Zuschnitt geomantisch gestützter Personalentscheidungen und Personalüberprüfungen drei wesentliche Gruppen unterscheiden. Eine erste Gruppe bilden Fragen, in denen ohne Rekurs auf konkrete Eigenschaften einfach nach einem binären Schema abgefragt wurde, ob sich eine Person für einen bestimmten Posten eignen würde. Hierher gehören Fragen wie: »Soll ich Paul von Gröbeln zum jegermeister machenn?«9 Diese Personalie erscheint auf den ersten Blick vielleicht eher banal. Doch August war ein leidenschaftlicher Jäger, der über Jahre zwei- bis dreimal in der Woche zur Jagd ging. Der Posten des Jägermeisters am sächsischen Hof war entsprechend hoch angesehen und der bis 1579 bestallte Jägermeister Cornelius von Rüxleben hatte nicht nur ein stattliches Gehalt von 3 000 Gulden jährlich erhalten, sondern auch Geldgeschenke im Wert von 60 000 Gulden. Wer auf diesem Posten saß, konnte sich also nicht nur der Nähe des Kurfürsten gewiss sein, sondern er wurde auch ein reicher Mann. Solchen Fragen mit Ja-Nein-Schema ging in der Regel ein Auswahlverfahren voraus, an dessen Ende ein Kandidat übrig blieb, den der Kurfürst persönlich bestätigen und erheben musste. Für Paul Gröbel dürfte August daher ein entsprechender Vorschlag des Geheimen Rates vorgelegen haben, den er befürworten oder ablehnen konnte. Im konkreten Fall fiel die Entscheidung für Gröbel aus, der bis zu seinem Tod 1591 Jägermeister blieb. Aber solche nicht

8 Eine Gesamtwürdigung des Bestandes steht bislang aus. Hinweise zum Überlieferungskontext finden sich bei: Sybille Gluch, Die mathematisch-astronomisch-astrologische Irene Spezialbibliothek des Kurfürsten August von Sachsen, in: Sudhoffs Archiv 95 (2011), S. 48–65; Otto Richter, Die Punctirbücher des Kurfürsten August von Sachsen, in: Forschungen zur deutschen Geschichte 20 (1880), S. 13–35. Siehe zudem Ulrike Ludwig, Himmlisch gut beraten. Wahrsagerei als Ressource herrscherlichen Entscheidens bei Kurfürst August von Sachsen (1526–1586), in: Unterstützung bei herrscherlichem Entscheiden. Experten und ihr Wissen in transkultureller und komparativer Perspektive, hg. von Michael Grünbart, Göttingen 2021, S. 145–159. 9 Sächsische Landesbibliothek  – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (künftig: SLUB), Mscr. Dresd. K 60, Bl. 25b.

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August von Sachsen (1526–1586). Gemälde von Lucas Cranach der Jüngere

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weiter spezifizierten Ja-Nein-Entscheidungen waren eher selten, eben weil es selten nur einen einzigen Kandidaten für einen Posten gab. Wenn aber mehr als ein Kandidat für eine Stelle zur Auswahl stand, wenn es um eine Personalentscheidung im eigentlichen Sinne ging, halfen unspezifische Ja-Nein-Schemata nicht wirklich weiter. August versuchte daher, in Fällen mit mehreren Kandidaten die Auswahloptionen via Geomantie einzuschränken. In gewisser Weise unterstützten hier die wahrsagerischen Befragungen den Verfahrensgang, denn es ging um Nachfragen, mit denen bestimmte Aspekte oder Eigenschaften einer Person erforscht wurden. Auch Überprüfungen, die in diese zweite Gruppe fallen, konnten recht allgemein gehalten sein: So fragte Kurfürst August etwa geomantisch nach, ob ihm Burckhardt Graf von Barby, der als einer der Kandidaten für das Amt des Statthalters in Dresden im Gespräch war, auch treu ergeben sein würde. Ihm wurde darauf die erfreuliche Auskunft erteilt, dass der Graf ihm »jn dyssen amptte eyn ser nuzer vnd threuer dynner seynn« werde.10 Und die Entscheidung fiel dann später auch zugunsten Barbys aus. Interessant ist, dass August sich nicht nur mit den verschiedenen Kandidaten für die höchsten Posten in Verwaltung und Hofstaat befasste, sondern in den Quellen auch immer wieder Fragen zu den unteren Chargen auftauchen. Diese Überprüfungen waren allerdings deutlich unpersönlicher gehalten und fragten ganz systematisch bestimmte Eigenschaften ab. In der Regel fehlen hier konkrete Namen, stattdessen finden sich nur Amtsbezeichnungen. Typische Beispiele hierfür sind diese Fragen: »jst der den ich zum Amptmann brauchen will ein eingetzogen oder verschwendter mensch?« oder »jst [er] fleissig oder vnfleissig« oder »habe ich an [ihm] einen aufrichtigen oder verrätherischen diener?«11 Eine besondere Stellung im Feld der Personalentscheidung nimmt schließlich die geomantisch abgesicherte Personenauswahl im Feld der Diplomatie ein. Da hier nicht selten besonders heikle Spezialfragen verhandelt wurden, ging es bei der Auswahl der Diplomaten nicht allein darum, wer prinzipiell geeignet sei oder wem man generell vertrauen konnte. Stattdessen musste man für jeden Einzelfall klären, ob sich ein Kandidat in der konkreten Verhandlung geschickt verhalten würde. Es ging also um die Auswahl eines Vertrauten aus 10 SLUB, Mscr. Dresd. K 19, Bl. 36a. 11 SLUB, Mscr. Dresd. N. 47, Nr. 129, 242, 268, 276.

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136 Ulrike Ludwig einem bestehenden Pool an generell für diplomatische Missionen infrage kommenden Personen. Typisch für diesen Bereich ist etwa folgende Frage: »Soll Jch Tammen von Sybottendorff jn […] der Madeburgischenn sachenn zu J[hrer] K[aiserlichen] M[ajestät] abfertygenn?« Hintergrund der Nachfrage waren die Verhandlungen über das lutherisch gewordene Bistum Magdeburg, für das Kursachsen die Administration beanspruchte. Auf die gestellte Frage erhielt August seinerzeit die Antwort, »das[s] Tam von Sibottendorff dyse sachen balde gelucklich vnd mitt nutze bey der K(aiserlichen) M(ajestät) wyrtt erhalttenn vnd ausrichtten, darzu gebe der Almechtige seyne genade vnd segenn, Ammenn«. Im Gefolge dieser Befragung wurde Sebottendorf dann tatsächlich zum Kaiser geschickt, und er erreichte auch, dass Kursachsen erneut die Administration für Magdeburg zugesprochen bekam. Ein Erfolg, den der Kurfürst im Übrigen gewissenhaft in seinen geomantischen Aufzeichnungen vermerkte: »Solliches ist also erfolgett vnd hat Tam von Sibiottendorff denn neuen consens vber dye statt Magdeburck mitt brachtt.«12 Tam beziehungsweise eigentlich Damian von Sebottendorf (1519–1585) war als Gesandter immer wieder im Auftrag Kurfürst Augusts unterwegs. Die häufiger erfolgenden geomantischen Checks seiner Person zielten also ganz offensichtlich nicht auf eine generelle Überprüfung Sebottendorffs. Fragen zu einzelnen Beamtentugenden fehlen dann auch. Vielmehr sind derartige geomantische Befragungen im Vorfeld einzelner diplomatischer Reisen ein Nachweis dafür, dass August bei solch heiklen Aufträgen nichts dem Zufall überlassen wollte. Es wurde dann auch nicht nur via Geomantie nach dem jeweils passendsten Diplomaten gesucht, sondern auch nach den erfolgversprechendsten Geschenken für die Gegenseite oder dem besten Zeitpunkt für den Beginn der Reise. Für viele wichtige diplomatische Missionen lassen sich solche vorbereitenden geomantischen Befragungen nachweisen. Und zumindest wenn man die außenpolitischen Erfolge August zum Maßstab nimmt, fuhr der Kurfürst recht gut damit. Eine dritte Gruppe von Fragen bilden schließlich geomantische Überprüfungen bereits bestallter Bediensteter. Hier ging es typischer Weise wieder entlang der Tugenden wie Rechtgläubigkeit, Treue, Verschwiegenheit oder Fleiß darum, ob eine einmal bestallte Person auch wirklich jene Eigenschaften aufwies, die man sich seinerzeit bei der Einstellung erhofft hatte. In langen Listen 12 SLUB, Mscr. Dresd. K 338, Bl. 13b.

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wurden vom Küchenschreiber und Kopisten, über Hofrichter und geheimen Rat bis hin zum Kanzler der Landesregierung alle dem Kurfürsten relevant erscheinenden Personen aufgeführt und mithilfe von wahrsagerischen Befragungen deren Charakter in einem Spektrum von Eigenschaften verortet, die für die Beamten in dieser Zeit zentral waren. Zugespitzt ließe sich hier vielleicht von divinatorisch erstellten Personalakten sprechen. Abgefragt wurde entlang von Gegensatzpaaren wie fromm – böse, willig – unwillig, fleißig – faul, treu – untreu, vorsichtig – unachtsam, nützlich – schädlich oder beständig – unbeständig. Es ist kaum zu klären, wie regelmäßig solche Gesamtüberprüfungen stattfanden. Mutmaßlich für das Jahr 1575 findet sich die umfangreichste dieser Überprüfungslisten mit immerhin 235 Namen.13 Für andere Jahre lassen sich zumindest verschiedene Fragmente oder kürzere Listen nachweisen, einiges dürfte aber auch verloren gegangen sein, da August solche Überprüfungen nur auf losen Bögen notierte. Aber schon an diesen Beispielen wird erkennbar, dass der Kurfürst hier einen bemerkenswerten Aufwand betrieb. Denn auch wenn die Geomantie im Vergleich zu anderen wahrsagerischen Verfahren eine vergleichsweise schnelle Ergebnisproduktion möglich machte, dürfte August für die Überprüfung seines Personals in diesem Umfang doch mehrere Tage aufgewandt haben. Abgesehen von solchen listenförmigen Gesamtprüfungen des Personals finden sich aber auch Einzelüberprüfungen, gerade bei wichtigen Positionen in der landesherrlichen Administration. Neben der Loyalität spielte hier vor allem die Rechtgläubigkeit eine zentrale Rolle. So klärte August etwa geomantisch ab, ob sein Rat Laurentius Lindemann »eyn Calvenist« sei.14 Hier wurde August, zum Glück für Lindemann, negativ beschieden, denn zur gleichen Zeit setzte im lutherischen Kursachsen eine neuerliche Calvinisten- beziehungsweise Kryptocalvinistenverfolgung ein. Aber offenbar blieb trotz der anders beschiedenen geomantischen Befragung ein Verdacht an der Person Lindemanns hängen. Denn der einstige Rat und Unterhändler des Kurfürsten auf zahlreichen Reichs-, Fürsten- und Landtagen wurde kurz nach dieser Befragung als Landrat in die Provinz abgeschoben. Aber immerhin blieb ihm eine Verhaftung erspart.

13 SLUB, Mscr. Dresd. N 37, Bl. 20a–24a. 14 SLUB Mscr. Dresd. K 20, fol. 3a, Frage vom 18. Aug. 1576.

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138 Ulrike Ludwig Da hatten andere weniger Glück: etwa der Theologe und Leipziger Professor Andreas Freyhub (1526–1585), der zwischenzeitlich auch als Berater Augusts im Feld der vorhin bereits erwähnten Konkordienformel tätig war. Ende Mai 1576 waren nun plötzlich Gerüchte im Umlauf, dass Freyhub calvinistischen Lehren zugeneigt sei. Daraufhin wurde er am 26. Mai inhaftiert und gerichtlich befragt. Wahrscheinlich noch vor der Verhaftung klärte August geomantisch die Schwere von Freyhubs Verfehlungen ab. Zunächst wollte er ganz grundsätzlich wissen, ob Freyhub wirklich ein Calvinist sei und wenn ja, ob er von anderen Leuten verführt worden wäre und ob er seinerseits andere zum Abfall von der »wahren lutherischen Lehre« bewogen habe. Außerdem versuchte August zu klären, ob Freyhub mit anderen Personen in Kontakt stehe, die ebenfalls calvinistischer Umtriebe verdächtig waren.15 Im Ergebnis erschien Freyhub als ein störrischer, streitsüchtiger und nicht besserungsfähiger Theologe, der sich »als eyne leychtfertige vnbestendige pershonn […] von dem Calvinisten abgott zu Heydelberck« – gemeint war Kurfürst Friedrich III. von der Pfalz (1515–1576) – »und seinem anhange« verführen lassen habe.16 Die einzig »gute« Auskunft, die August über Freyhub via Geomantie erhielt, war die, dass er wenigstens darauf verzichtete hatte, unter den Studenten in Leipzig zu missionieren. Freyhub wurde schließlich nach erfolgtem Strafverfahren und öffentlichen Widerruf freigelassen und am 3. August 1576 des Landes auf ewig verwiesen. Er starb 1585, nun wohl endgültig zum Calvinisten geworden, in Heidelberg. Fasst man das bisher Vorgestellte an dieser Stelle kurz zusammen, so sind zunächst einmal drei Punkte festzuhalten: Erstens ist herauszustellen, dass Kurfürst August die Geomantie einerseits als Auswahlverfahren (wenn auch selten) sowie andererseits und sehr viel häufiger als Verfahrenselement bei Personalentscheidungen und Personalüberprüfungen nutzte. Wahrsagerei diente ihm dabei zweitens vor allem dazu, bestimmte Eigenschaften einer Person zu kontrollieren, die auf anderen Wegen gerade nicht mit Sicherheit zu prüfen waren – etwa Rechtgläubigkeit, Fleiß oder Treue. Schließlich ist drittens zu betonen, dass August bei Personalfragen punktuell in einem erheblichen Ausmaß auf die Geomantie zurückgriff. Allerdings verbietet die fragmentierte Überlieferungslage letztlich Aussagen darüber, wie systematisch solche geomantisch gestützten Personalentscheidungen und -überprüfungen durchgeführt wur15 SLUB Mscr. Dresd. K 338, 26. Mai 1576. 16 SLUB Mscr. Dresd. K 338, 26. Mai 1576, erste Frage.

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den. Aber dass die Personalpolitik am kursächsischen Hof durch die divinatorischen Überprüfungen geprägt, mitunter wohl auch entscheidend geprägt wurde, dürfte als sicher gelten.17 Was macht man nun mit diesem Befund? Wie lässt er sich deuten? Man könnte durchaus argumentieren, dass der Einsatz der Wahrsagerei als skurriles, ja irrationales Moment zu gelten habe und eben typisch für vormoderne Kontexte sei, denen entsprechend formalisierte Verfahren abgingen. Eine Position, der frühere Forschungen durchaus zuneigten. An dieser Stelle soll allerdings für eine andere Sicht auf die Dinge plädiert werden: Denn es finden sich gute Argumente dafür, dass die wahrsagerisch gestützten Personalentscheidungen und -überprüfungen gerade nicht als fatalistisch oder irrational zu deuten sind. Vielmehr zeigen verschiedene Einträge in den kurfürstlichen Fragebüchern, dass der Herrscher recht reflektiert mit seinen Befragungen und den dabei gewonnenen Ergebnissen umging. Dies soll an einem letzten Beispiel vorgeführt werden: Am 15. Oktober 1576 klärte August geomantisch folgende Frage: »Wyrtt sych Heynrych vonn Eynsydell zu eynem Canzler brauchen lassen?« Diese Frage wurde negativ beschieden. Dass überhaupt nach der prinzipiellen Bereitschaft zur Amtsübernahme gefragt wurde, ist sicherlich eine spezielle Variante im Kontext von Personalentscheidungen. Aber im Fall von adligen Beamten war sie nicht selten, da ­viele Adlige die letztlich finanziell nur bedingt den Arbeitsaufwand aufwiegenden Posten in der Regierung oder auch an den Oberen Gerichten scheuten. Da musste man schon ein wenig drängen, um überhaupt die Zusage eines möglichen Kandidaten zu erhalten. Und gedrängt hatte der Kurfürst im Fall von Einsiedel offenbar. Denn kurz nach dieser Befragung taucht Einsiedel in den Bestallungslisten als Kanzler auf. Als nun die Amtserhebung Einsiedels erfolgt war, trug August unterhalb der am 15. Oktober 1576 notierten geomantischen Frage folgenden Zusatz ein: »Darauff ist erfolgett, das[s] er«  – also Einsiedel  – »vngeachtett seyner entschuldygunck seyner vngelegenheytt, sych im namen gottes zum kantzler ampt hatt bestellen vnd vormugenn lassen. Gott gebe im vnd myr geluck vnd seynnen segen dazu ammen.« Und nach diesem Nachtrag zum wirklichen Gesche17 Genauer zu diskutieren wäre vor diesem Hintergrund, inwieweit sich die als ausgesprochen sprunghaft und von Teilen der Forschung auch als völlig unerklärlich geltende Personalpolitik Kurfürst Augusts mit solchen divinatorischen Überprüfungen erklären lässt.

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140 Ulrike Ludwig henem folgt schließlich die Erklärung, wieso er damals die Entwicklung der Ereignisse nicht zutreffend aus dem geomantischen Tableau abgelesen hatte. Hier heißt es: »vnd ist jn dyssem exempel auff dye connductio des Richters vnd rechtten Zeugen gutt achtunck zu geben, den[n] dasselbyge Ja ist fyll starcker dann dye andern beyde neyn.«18 Gemeint ist damit, dass für die Deutung des Tableaus der Aussagen der letzten zwei geomantischen Zeichen, die Richter und Zeuge genannt werden, eine größere Bedeutung beizumessen ist, als es die von ihm angewandten geomantischen Deutungsschemata offenbar nahegelegt hatten. Das Beispiel Einsiedels zeigt damit zweierlei: Zum einen wird deutlich, dass August bemüht war, die geomantisch gewonnenen Informationen zu überprüfen. Immer wieder finden sich dann auch nachträglich eingefügte Kommentare, in denen sowohl der »tatsächliche« Ausgang der Sache als auch mögliche Konsequenzen für die »richtige« Deutung der Figur notiert wurden. Das heißt, August versuchte aus seiner tagtäglichen geomantischen Praxis zu lernen und entwickelte ausgehend von seinen Erfahrungen auch eigene und damit neue Nachschlagewerke, mit denen er geomantische Tableaus deuten konnte. Hierher gehört etwa ein Verzeichnis mit einer Übersicht zu wesentlichen Bedeutungen der letzten drei Zeichen im Tableau für alle politisch zentralen Belange, unter denen sich natürlich auch Fragen zum Personal finden.19 Zum anderen wird aber auch erkennbar, dass die einmal erhaltene geomantische Auskunft offenbar nicht zu einem Abbruch jeglicher Bemühungen um Einsiedel geführt hatte. Vielmehr wusste August nach der geomantischen Befragung erst einmal nur, dass Einsiedel keineswegs erfreut über die ­Anfrage sein und versuchen würde, die Anfrage abzuwimmeln. Und dass er damit richtiglag, zeigt letztlich Augusts späterer Kommentar zu dieser Befragung, in dem es heißt, dass sich Einsiedel »vngeachtett seyner entschuldygunck seyner vngelegenheytt« – also trotz seiner Versuche, sich mit vielfältigen anderen Aufgaben, die er zu erledigen hätte, zu entschuldigen und das Angebot dankend abzulehnen – schließlich doch noch zur Übernahme des Postens bereitgefunden habe. Diese Weiterverfolgung einer Sache trotz anderslautender wahrsagerischer Auskunft zeigt wiederum, dass die geomantisch erhaltene Information von August nicht als unumstößlicher Fakt, als letzte Wahrheit begriffen wurde, 18 SLUB Mscr. Dresd. K 20, 2. Frage vom 15. Oktober 1576. 19 Ein Beispiel hierfür findet sich etwa in SLUB, Mscr. Dresd. N 13, Bl. 69a–70a.

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sondern vielmehr als eine Information unter anderen. So groß die Bedeutung der Geomantie für Kurfürst August auch war, sie ersetzte gerade nicht andere Verfahrenselemente. Sie kam vielmehr als zusätzliche Entscheidungsressource zum Einsatz. Allein auf die Geomantie gestützte Entscheidungen dürften daher die absolute Ausnahme sein. Unternimmt man es nun zu guter Letzt, die hier versammelten Beobachtungen thesenhaft zu bündeln, lassen sich drei Punkte festhalten: Erstens ist deutlich herauszustellen, dass die Wahrsagerei für Kurfürst August eine allgegenwärtige Strategie des Handelns war, nicht nur, aber gerade auch bei Personalentscheidungen. Als zweite Beobachtung ist festzuhalten, dass die Geomantie im Speziellen und die Wahrsagerei im Besonderen gerade kein Modus des Entscheidens war, sondern vor allem als Instrument der Informationsgewinnung zum Einsatz kam. Sie diente also in erster Linie dazu, im Kontext von Entscheidungsprozessen brauchbare beziehungsweise notwendige Informationen zu generieren, mit denen eine eigentliche Entscheidung möglichst obsolet wurde, weil man auf diese Weise hoffte, genügend Argumente zusammenzutragen, die klar und deutlich für den einen oder aber den anderen Kandidaten sprachen. Im Rahmen der divinatorischen Befragungen ging es dabei typischerweise um Informationen, die nicht oder nur bedingt auf anderen Wegen erlangt werden konnten. Dem entsprechend finden sich immer wieder Nachfragen zu Treue, Rechtgläubigkeit oder Fleiß, aber keine zur Qualität der Ausbildung oder dem Herkommen, denn um diese Punkte einzuschätzen, brauchte man keine wahrsagerische Expertise. Daraus folgt zugleich und drittens, dass die Geomantie andere Verfahrenselemente zur Kandidatenauswahl gerade nicht ersetzte, sondern diese nur ergänzte. Der Stellenwert der Wahrsagerei in Prozessen der Personalentscheidung kann daher nur sinnvoll im Zusammenspiel mit anderen Strategien und Ressourcen bewertet werden. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass zwar selbstverständlich auf die Wahrsagerei als Informationsquelle zurückgegriffen wurde, aber die frühneuzeitlichen Nutzer der Wahrsagerei kamen deshalb noch lange nicht auf die Idee, sich ausschließlich auf diese zu verlassen.

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Kritik an der kurialen Personal­ politik im 18. Jahrhundert – Der Predigerorden an den ­Schaltstellen römischer Macht oder wie ein Jesuit sich selbst zensieren musste Andreea Badea Herrschaftskritik ist so alt wie Herrschaft selbst und die Kurie in Rom wurde davon zu keinem Zeitpunkt ausgenommen. Die Ansicht, dort säßen stets die Falschen, die von einer Fehlentscheidung zur nächsten schlitterten, scheint viele über die Jahrhunderte hinweg gegen das Papsttum vereint zu haben. Die konfessionelle Binnenkritik adressierte allerdings seltener das System an sich oder die Person des Papstes, sondern oft das kuriale Personal in der Annahme, dass Missstände in erster Linie durch eine stringente Personalpolitik zu beseitigen wären. In Anbetracht der komplexen Verfahren der Ämtervergabe in Rom war es naheliegend, sofort Vetternwirtschaft zu vermuten, wenn das jeweils eigene Netzwerk nicht ausreichte, um die erstrebte Position zu erhalten. Dabei hätten selbst den Kritikern die in Rom etablierten Kriterien der Ämter-

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vergabe1 grundsätzlich ausgereicht. Sie machten sich aber die Unterstellung zu eigen, dass Vetternwirtschaft die Auswahl geeigneter Amtsleute gefährde und das gesamte System in Misskredit bringe. Solche Vorwürfe bezogen sich nicht nur auf die klassischen Patronagenetzwerke2 sondern nahmen unterschiedliche Gestalt an. Der Jesuit Giambattista Faure (1702–1779) bettete beispielsweise seine Kritik in die Auseinandersetzungen seines Ordens mit dem Predigerorden ein.3 Deshalb trafen seine romkritischen Schriften zwar auch den Papst und die kurialen Strukturen, denen er unterstellte, blind für die Machenschaften der Dominikaner zu sein, vor allem aber versuchte er damit die Schieflage zu erklären, in die die katholische Kirche im Zeitalter der Aufklärung geraten war. Die Schuld daran gab er der Vergabepraxis von Spitzenpositionen in der römischen Inquisition und in der Indexkongregation  – also in den für die universale Wissens- und Glaubenskontrolle zuständigen Dikasterien. Fast durchgehend erhielten Mitglieder des Predigerordens diese wichtigen Ämter. Deshalb warf er in seinem 1750 anonym 1 Eine Erörterung der Frage nach der Grundlage von Personalentscheidungen findet sich bei Andreas Fahrmeir, Personalentscheidungen für gesellschaftliche Schlüsselpositionen. Forschungsprobleme, Dynamiken, Folgen, in: Personalentscheidungen für gesellschaftspolitische Schlüsselpositionen. Institutionen, Semantiken, Praktiken, hg. von Andreas Fahrmeir, Berlin, Boston 2017 (Historische Zeitschrift, Beiheft 70), S. 9–32, bes. S. 20–22. Allgemein zu den römischen Karriereoptionen und zu den individuellen Bemühungen um päpstliche Aufmerksamkeit vgl. Renata Ago, Carriere e clientele nella Roma barocca, Bari 1990 (Quadrante Laterza, 35), besonders S. 73–75. Mit den aus Patronagenetzwerken abgeleiteten kurialen Handlungsräumen beschäftigt sich Birgit Emich, Staatsbildung und Klientel. Politische Integration und Patronage in der Frühen Neuzeit, in: Integration, Legitimation, Korruption. Politische Patronage in Früher Neuzeit und Moderne, hgg. von Ronald G. Asch, Birgit Emich und Jens Ivo Engels, Frankfurt am Main u. a. 2011, S. 33–48, besonders S. 46–47. Zur Rolle der religiösen Orden für die Besetzung hierarchisch nachgeordneter kurialer Ämter vgl. Jyri Hasecker, »Decet enim de artibus solos artifices iudicare«. Beobachtungen zum Konsult der Indexkongregation im 18. Jahrhundert, in: Inquisition und Buchzensur im Zeitalter der Aufklärung, hg. von Hubert Wolf, Paderborn u. a. 2011 (Römische Inquisition und Indexkongregation 16), S. 67–86, hier S. 76. 2 Zur Formalisierung des Informellen und der Institutionalisierung von Klientelpolitik vgl. Birgit Emich, »Der Hof ist die Lepra des Papsttums« (Papst Franziskus). Patronage und Verwaltung an der römischen Kurie der Frühen Neuzeit, in: Soldgeschäfte, Klientelismus, Korruption in der Frühen Neuzeit. Zum Soldunternehmertum der Familie Zurlauben im schweizerischen und europäischen Kontext, hgg. von Hans Kaspar von Greyerz, André Holenstein und Andreas Würgler, Göttingen 2018 (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit), S. 71–83, besonders S. 73–75. 3 Mein besonderer Dank gilt meinem früheren Münsteraner Kollegen Jyri Hasecker, der mir sein Manuskript zu Faure als Indexkritiker und seinen Verstrickungen mit dem Heiligen Offizium freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat: Jyri Hasecker, Art. Giovianni Battitsta Faure, unveröffent. Ms. Münster 2010.

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144 Andreea Badea veröffentlichten Commentarium in Bullam Pauli III. licet ab Initio4 den Domi­ nikanern vor, die katholische Kirche über die Inquisition infiltriert und zu einem globalen Schandfleck umgestaltet zu haben. Folgt man Faures Argumentation, so ging es im Rom des 18. Jahrhunderts nicht darum, »möglichst gut geeignete Personen«5 für die höchsten Zensurämter innerhalb der Inquisition und der Indexkongregation zu rekrutieren, sondern ausschließlich darum, dienstwillige Dominikaner zu finden, die der theologischen Linie ihres Ordens blind folgten und die kuriale Kontrolle an sich rissen. Das Heilige Offizium reagierte auf seine Beleidigungen, indem es ein Zensurverfahren einleitete und das Buch letztlich 1757 verbot. Im Folgenden wird erstens auf die Konzeption der Kritik eingegangen, die Faure auf zwei Ebenen entwickelte: Auf der historischen Makroebene verbindet er zentrale Niederlagen in der katholischen Kirchengeschichte mit der jeweiligen päpstlichen Entscheidung, dem Predigerorden Handlungsspielräume einzuräumen. Die Mikroebene verwaltungspolitischen Handelns kommt zum Tragen, wenn es darum geht zu zeigen, wie wichtig fundierte Personalentscheidungen für abgesicherte, legitimationsfähige Verfahren innerhalb der einzelnen kurialen Dikasterien waren. Die kritisierten Praktiken der Dominikaner stellten keinesfalls allein ein Charakteristikum ihres Ordens dar, sondern gehörten vielmehr zum Alltag innerkatholischer Positionierung und Selbstbehauptung. Der Predigerorden war jedoch besonders erfolgreich, weshalb er in einem zweiten Schritt als Beispiel für eine langfristige, über Generationen hinweg geplante ordensinterne Personalpolitik herangezogen wird. Nun soll dort angesetzt werden, wo Faure zum ersten Mal ins Rampenlicht trat und seinen Orden vor Angriffen der Dominikaner verteidigte. Auseinandersetzungen zwischen den beiden Orden gehörten seit der Gründung der

4 Anonym [Giambattista Faure], Commentarium in bullam Pauli III licet ab initio, datam anno 1542 quâ romanam Inquisitionem constituit & ejus regimen non regularibus sed clero seculari commisit […] accessit appendix historico-theologica de proscriptione sub annum 1725 extortâ contrà duacenam academiam sanctae romanae sedi addictissimam. – [S.l.] : [S.n.], 1750. 5 Fahrmeir, Personalentscheidungen, S. 13.

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S­ ocietas Jesu zum Alltag innerkatholischer Dispute und lassen sich zugleich als katholische Theologiegeschichte lesen.6 Den Anlass für Faures Einsatz boten die Reaktionen auf die Dissertatio in casus reservatos Venetae dioeceseos,7 die der venezianische Jesuit Bernardino Benzi (1688–1768) 1743 veröffentlicht hatte. Dieser vertrat eine großzügige Auslegung derjenigen Sündenfälle, die als Todsünden der bischöflichen Absolution bedurften und für die also diejenige eines Pfarrers nicht ausreichte. Benzi hatte seine Meinung allerdings mit einem skandalträchtigen Beispiel belegt; modern gesprochen, ging es ihm um die Relativierung sexueller Übergriffe im Beichtstuhl. Er unterschied anhand eines Beichtvaters, der die Oberschenkel und den Busen einer beichtenden Nonne streichelte, zwischen der verderblichen Berührung aufgrund körperlichen Begehrens und dem seiner Meinung nach durchaus möglichem unachtsamem oder freundschaftlichem Berühren. Im zweiten Fall sah er eine lässliche Sünde – peccatum veniale – die keiner gesonderten Absolution bedürfe.8 Eine solch prononciert laxe Kategorisierung von Todsünde und lässlicher Sünde am Beispiel eines auch in der Vormoderne äußerst strittigen Falles forderte rigoristischen Widerstand geradezu heraus. Dieser kam auch sofort vom Dominikaner Daniele Concina (1687–1756) in zwei Epistolae theologico-morales.9. Er beließ es aber nicht nur bei der Polemik gegen Benzi, sondern griff darüber hinaus die Kasuistik als Methode an, anschließend den Laxismus und überhaupt die Gesellschaft Jesu. Schon bald befanden sich die beiden Orden erneut inmitten eines veritablen Streits, in dem die jesuitische Kasuistik als

6 Einen stringenten Überblick über die wohl größte und am längsten anhaltende Kontroverse der beiden Orden und dessen Weiterführung jenseits des Predigerordens bietet Markus Friedrich, Die Jesuiten. Aufstieg, Niedergang, Neubeginn, München u. a. 2016, S. 166–178. Zu den interkonfessionellen Implikationen dieses Streits vgl. Jordan Ballor, Matthew Gaetano und David Sytsma (Hgg.), Beyond Dordt and De Auxiliis. The Dynamic of Protestant and Catholic Soteriology in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, Boston u. a. 2019, (Studies in the History of Christian Tradition, 192). Vgl. Jean Pascal Gay, Morales en conflit. Théologie et polémique au Grand Siècle (1640–1700), Paris 2011, S. 373–515. 7 Bernardino Benzi, Dissertatio in casus reservatos Venetae dioeceseos, Venetiis 1743 Apud Joannem Mariam Lazaroni Sub Signo S. Cajetani, Superiorum Permissu. 8 Vgl. Benzi, Dissertatio, S. 22. 9 Daniele Concina, Epistolae theologico-morales ad illustrissimum et reverendissimum episcopum N. N. adversus librum inscriptum: Dissertatio in Casus Reservatos, Venetae Dioecesis. Apud Joannem Mariam Lazzaroni, Venetiis, 1744. Apud Simonem Occhi, sub Signo Italiae. Superiorum permissu, ac privilegio.

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146 Andreea Badea »Brustwarzentheologie« verhöhnt wurde.10 Es ging hier aber nicht nur um Pole­mik, sondern darum, Fakten zu schaffen und den Gegner zu inkriminieren, denn Concina zeigte Benzis Buch auch beim Sekretär der Indexkongregation, Giuseppe Agostino Orsi (1692–1761), an. Sofort informierte dieser den Papst, der die Verurteilung des Buches durch die Inquisition einleitete.11 Die Ansichten des Jesuiten wurden als so grundlegend falsch eingestuft, dass die Inquisitionskardinäle das Verbot am 16. April 1744 in Anwesenheit des Papstes aussprachen und noch am selben Tag veröffentlichen ließen.12 An dieser Stelle trat Faure auf den Plan, weil er Concinas Angriff nicht nur auf Benzi, sondern auf seinen Orden bezog. Umgehend verfasste er zwei Büchlein, die er noch 1744 anonym veröffentlichen ließ, auch wenn seine Autorschaft wohl sehr schnell allseits bekannt gewesen sein muss.13 Zu diesem Zeitpunkt kannte man ihn bereits in gelehrten Kreisen, da er seit seinem Ordenseintritt 1728 Philosophie, Theologie und die Heilige Schrift am Collegio Romano der Jesuiten unterrichtete und als Autor über einen gewissen Namen verfügte.14 Er wies Concina darauf hin, dass Benzis Ansatz in einer durchaus langen theologischen Tradition stünde15, und warf ihm vor, diesen unbedeutenden Fall aufzubauschen, indem er dessen Ansichten als Quintessenz der jesuitischen Theologie verkaufe, obwohl sich der Orden gegen solche Thesen verwahre.16 Auch Faure selbst distanzierte sich vehement von Benzi und er10 Guiseppe Pignatelli, Benzi, Bernardino, in: Dizionario Biografico degli Italiani 8 (1966), https://www.treccani.it/enciclopedia/bernardino-benzi_(Dizionario-Biografico), (29.12.2020). 11 Vgl. Pignatelli, Benzi, vgl. ferner zum Verfahren vor der Inquisition: Hubert Wolf (Hg.), Systematisches Repertorium zur Buchzensur. Inquisition 1701–1813, bearb. v. Bruno Boute, Cecilia Cristellon und Volker Dinkels, Paderborn 2009 (Römische Inquisition und Indexkongregation Grundlagenforschung II: 1701–1813), S. 273. 12 Vgl. Hubert Wolf (Hg.), Römische Bücherverbote. Edition der Bandi von Inquisition und Indexkongregation 1701–1813. Auf der Basis von Vorarbeiten von Herman H. Schwedt bearb. von Ursula Paintner und Christian Wiesneth, Paderborn 2009 (Römische Inquisition und Indexkongregation Grundlagenforschung I: 1701–1813), S. 544. 13 Anonym [Giambattista Faure], All’autore delle due Epistole contro la dissertazione dei casi riservati in Venezia. Avviso salutevole acciò conosca se stesso [etc.], in Palermo 1744 (1); Ders., All’autore delle due Epistole contro la dissertazione dei casi riservati in Venezia. Secondo avviso salutevole acciò conosca se stesso, Napoli 1744 (2). Zur Frage der Autorschaft vgl. Guiseppe Pignatelli, Faure, Giambattista, in: Dizionario Biografico degli Intaliani, 45 (1995), https://www. treccani.it/enciclopedia/giambattista-faure_(Dizionario-Biografico), (29.12.2020). 14 Pignatelli, Faure, Giambattista. 15 Anonym [Giambattista Faure], All’autore delle due Epistole (1), S. 6–15. 16 Anonym [Giambattista Faure], All’autore delle due Epistole (1), S. 19. In diesem Sinne interpretiert es auch Hasecker, Art. Giovianni Battitsta Faure.

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klärte, dass er das Verbot sogar begrüße und dass auch innerhalb des Ordens Partei gegen das Buch ergriffen worden sei.17 Sein profilierter Einsatz im Namen der Gesellschaft und zu deren Ehrenrettung brachte den Streit erst recht auf die abstrakte Ebene grundsätzlicher Divergenzen und führte dazu, dass sich sogar Benedikt XIV. einschaltete. Dem Papst missfiel der Eindruck, der gesamte Orden würde sich hinter einem vom Weg abgekommenen, darüber hinaus auch noch vom Heiligen Offizium verurteilten Autor stellen und diesen zu Unrecht verteidigen. Deshalb verlangte er vom Ordensgeneral der Jesuiten, er möge ein ermahnendes Gespräch mit Faure führen, um von weiteren – auch strafenden Maßnahmen – abzusehen.18 Die illustre Intervention hielt jedoch nur Faure selbst vom Verfassen weiterer Streitschriften ab, die Polemiken der beiden Orden gingen noch zwei Jahre weiter und widmeten sich stets anderen Fragen, bis das Heilige Offizium 1746 jedwede weitere Veröffentlichung in diesem Streit verbot.19 Was vielen auf den ersten Blick als überparteiische Entscheidung galt, wurde innerhalb der Gesellschaft Jesu als weitere Sanktion gegen den eigenen Orden und zugleich als Verteidigung des Jansenismus wahrgenommen.20 Beim Jansenismus handelte es sich um eine des Öfteren der Häresie bezichtigte und dafür verurteilte, innerkatholische Strömung, die auf den einstigen Bischof von Ypern, Cornelius Jansen (1585–1638), und dessen Auslegung des Heiligen Augustin zurückging. Seine Theologie richtete sich vor allem gegen die jesuitische Gnadenlehre und begründete so eine breite Front gegen den Orden, der sich zahlreiche prominente Theologen anschlossen und deren Ausrichtung es bisweilen schwierig machte, die Grenze zwischen jansenistischer, rigoristischer oder dominikanischer Doktrin auszumachen. In der Folgezeit kam es dementsprechend auch zu ermüdenden Debatten zwischen kaum klar definierten Parteien, während

17 Anonym [Giambattista Faure], All’autore delle due Epistole (1), S. 44–46. Zum Lob des Verbots vgl. Anonym [Giambattista Faure], All’autore delle due Epistole (2), S. 50. 18 Pignatelli, Faure, Giambattista, (29.12.2020). 19 Pignatelli, Faure, Giambattista (29.12.2020). 20 1749 verbot die Indexkongregation die Bibliotheque Janseniste Dominique de Colonias, vgl. dazu Hubert Wolf (Hg.), Systematisches Repertorium zur Buchzensur. Indexkongregation 1701–1814, bearb. von Andrea Badea, Jan Dirk Busemann und Volker Dinkels, Paderborn 2009 (Römische Inquisition und Indexkongregation Grundlagenforschung II: 1701–1813), S. 1137– 1138.

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148 Andreea Badea derer das jeweilige gegnerische Lager mit Zuweisungen wie »Jansenismus« oder »Laxismus« zur Zielscheibe polemischer Angriffe wurde.21 Die nach 1746 weitergeführten Polemiken ließen auch Faure erneut zur Feder greifen und den Commentarium in Bullam Pauli III. licet ab Initio 1750 anonym veröffentlichen. Darin prangerte er alle Fälle an, in denen die Kirche durch die Inquisition Jesuiten auf das Schärfste verurteilt hatte, und kontrastierte dies mit dem vermeintlich milden Umgang der Kongregation mit den Jansenisten.22 Den Grund für solche Fehlentscheidungen hatte er schnell ausgemacht: Schuld an allem war der Predigerorden und dessen kuriale Personalpolitik! Die erlebten Ungerechtigkeiten seien überhaupt erst möglich geworden, weil die Dominikaner die zentralen Instanzen der Wissens- und Glaubenskontrolle über Jahrhunderte hinweg besetzt hatten. Damit wurde Faures Buch viel mehr als bloß »eine der schärfsten Streitschriften gegen die Dominikaner«,23 sondern zum Rundumschlag gegen die Kurie, also gegen die Obrigkeit und ihre Personalentscheidungen überhaupt. Folgt man dem Untertitel des Buches, so befand sich diese Obrigkeit seit mehr als 200 Jahren im Unrecht, denn der Wille Pauls III. wäre es gewesen, die 1542 wieder ins Leben gerufene Inquisition in die Obhut der Säkular- und nicht der Ordenskleriker zu geben. Auf diese Weise hätte die Möglichkeit bestanden, stets unabhängige Amtsleute auszusuchen, die frei von den Partikularinteressen einzelner Orden entschieden hätten. Allerdings sei dies nicht geschehen, obwohl es in der Gründungsbulle Licet ab Initio vorgesehen gewesen sei.24 Vielmehr beherrschten die Dominikaner nun die Inquisition und würden vor allem durch ihre Unfähigkeit auffallen, eine so sensible und gewichtige Aufgabe wie die Glaubens- und Wissenskontrolle zu erfüllen. Die fehlende Kompetenz der Ordensmitglieder liefere in der Konsequenz den Hauptgrund für alle großen Niederlagen der abendländischen Kirche. Faure folgt hier der klassischen antidominikanischen Polemik, wenn er den Orden sogar für die Kirchenspaltung verantwortlich macht und ihn beschuldigt, den Anlass für die Neugründung der Inquisition selbst erschaffen zu

21 Zur Verästelung der Gegner der Societas Jesu zwischen Predigerorden, Jansenismus und Rigorismus, vgl. Friedrich, Jesuiten, S. 166–178, 526–547. 22 Vgl. Faure, Commentarium, S. 100–136 und S. 199–225. Vgl. dazu ebenfalls Friedrich, Jesuiten, S. 135. 23 Franz Heinrich Reusch, Der Index der verbotenen Bücher. Ein Beitrag zur Kirchen- und Literaturgeschichte, 2 Bde., Bonn 1882 (ND Aalen 1967), hier: Bd. 1, S. 178. 24 Faure, Commentarium, S. 8–31.

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haben. Es sei schließlich die Gier und Anmaßung des Dominikanerinquisitors Tetzel gewesen, die Luther dazu gebracht hatte, zur Reformation aufzurufen.25 Darüber hinaus gingen auch alle zentralen Ereignisse, die die Versöhnung mit der Ostkirche verhindert hätten, auf das Konto des Predigerordens.26 Faure folgte damit gängigen Mustern frühneuzeitlicher Polemik und blieb im Streit der beiden Orden auch mit der Wahl seiner Beispiele innerhalb üblicher Argumentationsstrategien. Dementsprechend sieht er auch die Schuld am Gnadenstreit, am Ritenstreit und damit am Verlust der chinesischen Mission für Franzosen, Spanier und Deutsche allein bei den Dominikanern, zumal sie aufgrund ihrer Wut und Unbesonnenheit nicht fähig gewesen seien, adäquate Kommunikationswege zu entwickeln.27 Jenseits ihres ordensimmanent ungezügelten Temperaments hätten sie aber eine viel schlimmere Sünde auf sich geladen, da sie mit ihrer rigoristischen Theologie dem Quietismus wie dem Jansenismus Tür und Tor geöffnet hätten, obwohl die Wortführer dieser Strömungen und ihre Werke immer wieder verurteilt worden seien. All die päpstlichen Bullen zur Unterbindung solcher Auswüchse seien jedoch unnütz, da sich sowohl die verschiedenen Kommissare des Heiligen Offiziums als auch die Magistri Sacri Palatii, die Hoftheologen des Papstes, intensiv für die Jansenisten eingesetzt und somit die Päpste verraten hätten.28 Deshalb gäbe es mittlerweile auch keinen härteren »Schild der Jansenisten gegen die Päpste als die Dominikaner in Rom«.29 Zu dieser Ohnmacht der Kurie habe es nur kommen können, weil ihr Wille gebrochen worden sei. Paul III. habe nämlich befohlen, die erneuerte römische Inquisition nach spanischem Muster zu gestalten.30 Dort sei die rabies (Tollwut) der Dominikaner nämlich früh erkannt worden, weshalb ihnen der König sofort Einhalt gebieten und so diese wichtige Einrichtung in die Hände der Bischöfe legen konnte.31 In der Konsequenz stünden 25 Faure, Commentarium, S. 35–39. 26 Faure, Commentarium, S. 168–173. 27 Faure, Commentarium, S. 114–116. 28 Faure, Commentarium, S. 100–110. 29 Faure, Commentarium, S. 121. Zu den jansenistischen Tendenzen des Predigerordens vgl. Herman H. Schwedt, Fra giansenisti e filonapoleonici. I domenicani al S. Offizio romano e alla Congregazione dell’Indice nel Settecento, in: Praedicatores, Inquisitores III. I domenicani e l’Inquisizione romana. Atti del III seminario internazionale su »I domenicani e l’inquisizione« 15–18 febbraio 2006 Roma, hg. von Carlo Longo, Roma 2008 (Institutum historicum fratrum praedicatorum Romae, dissertationes historicae, XXXIII), S. 591–613. 30 Faure, Commentarium, S. 100–137. 31 Faure, Commentarium, S. 234.

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150 Andreea Badea der viel besser funktionierenden Behörde auch nur Säkularkleriker und keine Ordensleute vor. Faures Kritik bezieht sich einerseits auf den Orden als Ganzes, andererseits richtet sie sich auch an seine Mitglieder als einzelne Akteure. Besonders deutlich lässt sich dies in seiner Beschreibung der drei Ämter belegen, die er als Schlüsselpositionen der dominikanischen Infiltration betrachtet: an dem Kommissar des Heiligen Offiziums, dem Magister Sacri Palatii und dem Sekretär der Indexkongregation. Alle drei haben maßgeblich mit der Buchzensur zu tun, und in allen drei Fällen hinterfragt er den umfangreichen und über die Zeit auch systematisch ausgebauten Kompetenzrahmen des jeweiligen Amtes nicht,32 sondern moniert lediglich die Besetzungspraktiken. Dass er damit immer wieder die eigentliche Entscheidungsebene, also den Papst und die Kurien­kardinäle, angreift, bleibt auffällig diffus. Die Päpste spielen nur eine Rolle, wenn ihre Erlasse ignoriert worden waren und ihre Autorität somit übergangen wurde. Dort, wo der Predigerorden sie aber befolgte, weil sie eben seine Interessen bedienten, bleiben sie unerwähnt. So beharrt Faure einerseits darauf, dass Sixtus V. beschlossen hätte, das Amt des Magister Sacri Palatii dauerhaft mit einem Franziskaner-Minoriten zu besetzen.33 Dass aber der Dominikanerpapst Pius V. einen wichtigen Meilenstein für die Vormachtstellung seines Ordens in der Inquisition gelegt hatte, erwähnt Faure nicht, zumal es nicht in seine Argumentationslinie bezüglich der illegitimen Machtergreifung passt. Pius V. hatte bestimmt, dass der Kommissar des Heiligen Offiziums immer ein Dominikaner aus seiner Heimatprovinz, der Lombardei, sein musste.34 Zwar gehörte der Kommissar der nachgeordneten Verwaltungsebene an, allerdings war sein Handlungsspielraum aufgrund seiner Expertenposition so umfangreich, dass nicht die Kardinäle, sondern er über die wichtigsten Kom-

32 Besonders deutlich wird dies beim Inquisitionskommissar, vgl. Faure, Commentarium, S. 11. 33 Faure, Commentarium, S. 2. 34 Andrea del Col, Commissario del Sant’Uffizio, Italia, in: Dizionario storico dell’Inquisizione. Vol. 1, hgg. von Adriano Prosperi, Vincenzo Lavenia und John Tedeschi, Pisa 2010, S. 351– 352, hier S. 351.

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petenzen innerhalb der Kongregation verfügte.35 In der Konsequenz oblag ihm die Kontrolle über das Verfahren der Inquisition. Er leitete die Voruntersuchungen zu jedem Prozess, nahm die Anzeigen und Zeugenaussagen auf, womit er die Auswahl der zu verhandelnden Fälle traf, und er kümmerte sich anschließend um die Umsetzung der verhängten Urteile beziehungsweise Strafen.36 Darüber hinaus entschied er, welche Konsultoren mit der Begutachtung des jeweiligen Sachverhalts betraut werden sollten, wodurch auch die Möglichkeit bestand, Einfluss auf das Urteil zu nehmen. Papst und Kardinäle waren in ihrer Arbeit notgedrungen auf die Gutachter und ihre Expertise angewiesen, weshalb dieser Aspekt von Faure besonders hervorgehoben wird, um zu zeigen, wie inquisitoriale Entscheidungen – ob in Anwesenheit des Papstes oder nicht – auf das Gutdünken des einzelnen Dominikaners in diesem Amt zurückgingen. Während der gemeinsamen Montagssitzungen des Kommissars mit den Gutachtern konnte dieser sie jeweils einzeln kennenlernen, sich ein Bild ihrer theologischen Ausrichtung machen und anschließend entscheiden, ob er sie zur Begutachtung weiterer Fälle einteilt oder nicht. Daraus schließt Faure, dass diejenigen, die nicht auf einer Linie mit den theologischen Überzeugungen des Predigerordens lagen, auch nicht mehr angefragt wurden.37 In der Konsequenz sei es selbstverständlich, dass der Kommissar die Urteile der Konsultoren nach seinem Ermessen zusammenfasse, zumal diese nicht zur Mittwochssitzung der Kardinäle eingeladen seien. Damit gäbe er letztlich die Grundlage für die Entscheidung der Kardinäle vor. Dass diese sich darüber ­hinaus »in domo ipsam Dominicanorum«, also im Haus der Dominikaner

35 Dass die »Vorstellung von der Kongruenz zwischen Herrschafts- und Verwaltungshandeln […] sich bei näherem Betrachten als äußerst problematisch« erweist, konnte Birgit Näther in ihrer Studie zu herrschaftlichen Verwaltungspraktiken zeigen. Sie gelangt zum Schluss, dass solche Praktiken in der Regel nicht auf hierarchisch-lineare Strukturen angewiesen waren, sondern dass sie sich vor allem im Kompetenzbereich nachgeordneter Instanzen sammelten, vgl. Birgit Näther, Die Normativität des Praktischen. Landesherrliche Visitationen im frühneuzeitlichen Bayern, Münster 2017 (Verhandeln, Verfahren, Entscheiden. Historische Perspektiven, 4), S. 20. Die Rolle dieser nachgeordneten Instanzen innerhalb der kurialen Administration arbeitete bereits Emich am Beispiel der Kongregationssekretäre heraus, vgl. dazu Birgit Emich, Bürokratie und Nepotismus unter Paul V. (1605–1621). Studien zur frühneuzeitlichen Politik in Rom, Stuttgart 2001 (Päpste und Papsttum, 30), S. 226–227. 36 Vgl. del Col, Commissario, S. 350. Dies beschreibt auch Faure, Commentarium, S. 2. 37 Faure, Commentarium, S. 3.

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152 Andreea Badea selbst, in der Sakristei der Kirche Santa Maria sopra Minerva trafen, ist in den Augen des Jesuiten ein weiteres Indiz ihrer Abhängigkeit von dem Orden.38 Im weiteren Verlauf treibt Faure seine Vorwürfe auf die Spitze, indem er behauptet, dass selbst der Papst der Informationskontrolle durch den dominikanischen Amtmann zum Opfer falle, da ihm nichts anderes übrig bleibe, als die zu Beginn einer jeden Woche vom Kommissar vorbereiteten Fälle in den

Apsis und Altar der Basilica Santa Maria sopra Minerva, Rom

38 Faure, Commentarium, S. 3.

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Donnerstagssitzungen abzunicken.39 Diese Sitzungen waren das Herzstück des Heiligen Offiziums, fanden immer in Anwesenheit des Papstes statt und widmeten sich komplexen und strittigen theologischen beziehungsweise politischen Fragen der Theologie.40 Als zweite komplementäre Kraft zum Kommissar nennt Faure den Magister Sacri Palatii, zu dessen Aufgaben die Kontrolle des stadtrömischen Buchmarktes gehörte.41 Auch dieses Amt war seit mehr als 150 Jahren durchgehend an Mitglieder des Predigerordens vergeben worden. Deshalb wirft ihm Faure vor, dass er für die Verbreitung dominikanischer Doktrin mit päpstlicher Druckerlaubnis zuständig sei und stets Mitglieder seines Ordens beziehungsweise deren Freunde bei der Erteilung von Druckprivilegien begünstigen würde.42 Der letzte im Bunde der Wissenswächter ist der Sekretär der Indexkongregation, der in der gesamten Geschichte des Amtes nur einmal von einem ­Minoriten gestellt worden war, ansonsten bekleideten stets Dominikaner dieses Amt. Auch die Indexsekretäre des 18. Jahrhunderts verfügten über umfangreiche Kompetenzen, in deren Besitz sie durch die systematische Aushöhlung der kardinalizischen Befugnisse um 1700 gekommen waren.43 Faure reduziert diesen Sachverhalt auf die Aussage, dass es in diesem Fall ebenfalls, genau wie bei der Inquisition, der subalterne Beamte ist, der letztlich über Norm und ­Devianz und somit über die Zusammensetzung des Index der verbotenen Bücher entscheidet.44 Damit trifft das Fazit des Buches nicht nur den Orden, sondern auch die Spitzen der kurialen Hierarchie. Ihr wirft der Jesuit vor, nicht gemerkt zu haben, wie viel Hass und Häme sie durch ihre marionettenhafte Führungsweise auf sich gezogen hätten.45 Diese Anklagen hatten sich für sechs Jahre im Umlauf befunden, als sie während einer der regelmäßigen Buchkontrollen der päpstlichen Zollbeamten 1756 aufgestöbert wurden. Dem Ballen mit Faures Schriften lag ein Begleit39 Faure, Commentarium, S. 3–4. 40 Diese Praxis wurde bereits im 16. Jahrhundert eingeführt, vgl. ACDF SO Decreta 1548– 1558, fol. 176v, vgl. darüber hinaus Jyri Hasecker, Quellen zur päpstlichen Pressekontrolle in der Neuzeit (1487–1966), Paderborn 2017 (Römische Inquisition und Indexkongregation), S. 99. 41 Hasecker, Quellen, S. 131–139. 42 Faure, Commentarium S. 4. 43 Eine Auswertung diesbezüglicher Daten bereite ich als Teil meiner geplanten Habilitation Wahrheitsanspruch und Wissensautorität. Die römische Kurie und die Geschichte der Kirche vor. 44 Faure, Commentarium, S. 287–288. 45 Faure, Commentarium, S. 288.

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154 Andreea Badea schreiben des Modeneser Jesuiten Stanislao Bardetti bei.46 Der Hoftheologe des Herzogs Francesco III. d’Este adressierte darin einen römischen Advokaten namens Bellandi, den er darum bat »tutta l’immaginabile sicurezza« aufzubringen, um die Bücher sicher bei Faure abgeben zu können.47 Diese Zeilen bestätigten den Zöllner sicherlich nur darin, alles an den Magister Sacri Palatii zu übergeben, der wiederum die kompletten Unterlagen an das Heilige Offizium weiterleitete.48 Vermutlich hatte man an den entscheidenden Stellen sofort angenommen, dass Faure auch gleichzeitig der Autor des Buches sein musste. Der Kommissar Alessandro Pio Sauli (1693–1760) reagierte mit einer Reihe von Maßnahmen, die den Rahmen des üblichen Verfahrens eindeutig sprengten. Dazu gehörte, dass er ein Gutachten des römischen Druckers Niccolò Pagliarini einholte, um möglichst umfangreich über das Druckerzeugnis an sich informiert zu werden. Dieser identifizierte Mailand oder Turin als Druckort und nahm an, dass die vorliegenden Exemplare nur wenige Monate alt waren, weil die verwendete Tinte noch immer frisch roch.49 In der Forschung geht man davon aus, dass der Nachdruck aus den höchsten Kreisen der italienischen Gelehrsamkeit finanziert wurde.50 Der Kommissar jedenfalls schien die kritisierte dominikanische Allmacht möglichst nachhaltig in Szene setzen zu wollen, indem er die engen Verbindungen der Kongregationen für Faure besonders sichtbar machte. Deshalb übergab er den Auftrag zur Erstellung eines Gutachtens an den Sekretär der Indexkongregation, Tommaso Angelo Ricchini (1695–1779), der ihn sicherlich nicht zufällig dem Jesuiten weiterleitete. Ihm blieb vermutlich wenig anderes übrig, als den Auftrag anzunehmen und sich selbst zu zensieren. In dem Begleitschreiben für sein Gutachten vom 8. Oktober 1756 erläuterte er jedoch, dass ihm die nötige Kompetenz fehle, um qualifiziert in dieser Frage zu urteilen. Er verstehe nicht viel von Kirchengeschichte, beziehungsweise Ordensgeschichte, zumal 46 Der Brief befindet sich im Archivio della Congregazione per la Dottrina della Fede (ACDF), SO CL 1757–1758, Nr. 4, fol. 81r–85r. Zu Bardetti vgl. Luigi Moretti, Bardetti, Stanislao, in: Dizionario Biografico degli Italiani 6 (1964), https://www.treccani.it/enciclopedia/stanislaobardetti_%28Dizionario-Biografico%29/ (29.12.2020). 47 Vgl. ACDF, SO CL 1757–1758, Nr. 4, fol. 85r. 48 ACDF, SO CL 1757–1758, Nr. 4, unfol. 49 ACDF SO CL 1757–1758, Nr. 4, unfol. 50 Vgl. dazu Pietro Stella, Alle origini del movimento giansenista: gli anni cruciali tra Benedetto XIV e Clemente XIII, in: Ders. (Hg.), Il Giansenismo in Italia. II: Il movimento giansenista e la produzione libraria, hg. von Pietro Stella, Rom 2006 (Storia e Letteratura, 2), 1–59, S. 22, Anm. 55 und S. 26. In diesem Sinne urteilt auch Hasecker, Faure.

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seine Kompetenzen  – wenn überhaupt  – in der Theologiegeschichte lägen.51 Das mag demütig oder ängstlich klingen, es kann aber auch als trotzig gedeutet werden: Immerhin illustrierte das Zensurverfahren genau Faures Kritik an der Allmacht der Dominikaner. Bei ihm selbst könnte demnach nur die Schuld liegen, nicht sauber recherchiert und damit vielleicht den einen oder anderen historiografischen Fehler gemacht zu haben. Der Ton des Gutachtens selbst klingt wie eine Kapitulation, denn darin schlussfolgert Faure, dass man das/sein Buch dringend verbieten müsse, weil es von einem oberflächlichen, unwissenden, ja sogar aufrührerischen Autor verfasst worden sei.52 Für die Legitimität des Verfahrens und weil man sich in der Inquisition gegen den Jesuiten rüsten wollte, vergab Sauli ein weiteres Gutachten an den Hieronymiten Felice Maria Nerini (1705–1787), der sich über einen Monat später, am 16. November 1756, ebenfalls für ein absolutes Verbot aussprach. Warum der Fall in der Folgezeit für mehr als ein halbes Jahr ruhte, kann nicht mehr nachvollzogen werden. Am 17. Juli 1757 jedenfalls empfahl die Versammlung der Konsultoren, nicht nur die Schrift kategorisch zu verbieten und anschließend zu verbrennen, sondern – im Wissen darum, dass es sich um Faure handelte – auch ein Strafverfahren gegen ihn und alle seine Komplizen einzuleiten.53 Zu diesen gehörten jedoch viele wichtige Persönlichkeiten wie Bardetti und andere prominente Kontakte des Jesuiten in Italien,54 weshalb die Weiterführung eines Strafverfahrens viel zu viel Aufsehen erregt und letztlich auch die Beschuldigungen des Autors bestätigt hätte. Wahrscheinlich ignorierten die Kardinäle die Empfehlung der Gutachter deshalb und verhängten am 21. Juli 1757 lediglich das Buchverbot; zudem ließen sie es einfach in der viel weniger dramatischen Verbotsliste der Indexkongregation am 21. November desselben Jahres veröffentlichen.55 51 ACDF SO CL 1757–1758, Nr. 4, fol. 94r. Die archivalische Dokumentation des Verfahrens findet sich bei Wolf (Hg.), Systematisches Repertorium zur Buchzensur. Inquisition 1701–1813, S. 353. 52 ACDF SO CL 1757–1758, Nr. 4, fol. 96v. Vgl. ebenfalls ACDF SO Vota CL I (1740–1757), Nr. 29. 53 ACDF SO CL 1757–1758, Nr. 4, fol. 120v. 54 Pietro Stella geht davon aus, dass Muratori und Scipione Maffei die Drucklegung finanziert haben, vgl. Stella, Origini, S. 22, Anm. 55. 55 Hubert Wolf (Hg.), Römische Bücherverbote. Edition der Bandi von Inquisition und Indexkongregation 1701–1813. Auf der Basis von Vorarbeiten von Herman H. Schwedt bearb. von Ursula Paintner und Christian Wiesneth, Paderborn 2009 (Römische Inquisition und Indexkongregation Grundlagenforschung I: 1701–1813), S. 207.

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156 Andreea Badea Faures Kritik ist weder als Verschwörungstheorie noch als Angriff eines David auf den übermächtigen Goliath zu verstehen. Dass ideologische Profilierung am effektivsten durch Interaktion und durch Akquise geeigneter Akteure zu erreichen ist, war seinen Zeitgenossen nicht neu und gehörte letztlich zur katholischen Alltagspraxis in der Mission sowie in der Einrichtung und Strukturierung von Kollegien und Priesterseminaren. In diesem Sinn sind auch das Collegio Romano in Rom sowie die seit dem 17. Jahrhundert erfolgreichen Maisons de Retraite der Jesuiten zu verstehen. Gerade Letztere sicherten dem Orden den Zugang zu möglichst umfangreichen Teilen der Gesellschaft und so die Verbreitung der eigenen Doktrin auf breiter Ebene.56 Der Predigerorden war keine Ausnahme, wenn es darum ging, Katholizismus möglichst breitflächig im Sinn der eigenen Doktrin auszulegen. Er hatte sich aber in Rom auf die Verbreitung von oben eingestellt, weshalb der Fokus des Ordens auf der Elitenrekrutierung lag, um so letztlich nicht nur die bereits beschriebenen karrieretechnischen Trampelpfade des Ordens zu konsolidieren, sondern zugleich, um eine Art Thinktank zu etablieren, der dogmatisches Wissen generierte und gegnerische Ideologien isolierte. Den Grundstein bildete das Erbe des mächtigen Kardinals Girolamo C ­ asanate (1620–1700), der testamentarisch verfügte, eine öffentlich zugängliche Bibliothek und ein Kolleg einzurichten. Das nach ihm benannte Wissens- und Kontrollzentrum widmete sich dem Studium und der Lehre von Thomas von Aquin und Augustinus und diente so dem Schutz und der Verbreitung der dominikanischen Doktrin.57 Dieser Einrichtung stand ein dauerhaft festgelegtes Gremium von sechs Angehörigen des Predigerordens vor, wozu der Ordensgeneral, der Magister Sacri Palatii, der Kommissar des Heiligen Offiziums, der Sekretär der Indexkongregation, der Generalprokurator des Ordens und der Prior der Hauptkirche des Ordens, der Santa Maria sopra Minerva, gehörten.58 Ihnen oblag die Auswahl von jeweils zwei Bibliothekaren und zwei Professoren aus den italienischen Provinzen des Ordens und von sechs besonders kompetenten Doktoren, 56 Vgl. dazu Friedrich, Jesuiten, S. 216–229. Eine umfangreiche Untersuchung nimmt gerade Judith Lipperheide in ihrer bei Markus Friedrich entstehenden Dissertation Rückzug aus der Welt? Die Maisons de retraite der Jesuiten zwischen Tradition und Innovation vor. 57 Biblioteca Casanatense, MS 5549, fol. 57v. Vgl. Margherita Palumbo, La Casanatense, una biblioteca al servizio della »santa dottrina«, in: A dieci anni dall’apertura dell’archivio della Congregazione per la Dottrina della Fede: Storia e archivi dell’Inquisizione (Roma, 21–23 febbraio 2008), Rom 2011 (Atti dei convengi dei Lincei, 260), S. 455–479, besonders S. 461–467. 58 Biblioteca Casanatense, MS 5549, fol. 65r.

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die aus allen europäischen Provinzen rekrutiert wurden.59 Alle zehn hatten sich nach Möglichkeit durch umfangreiche Publikationslisten auszuweisen und in verhältnismäßig jungen Jahren nach Rom zu kommen, um so genügend Zeit zu haben, um sich für weiterführende kuriale Karrieren zu qualifizieren. Ihre Aufgaben überschnitten sich im Komplex der Biblioteca Casanatense mit den nötigen Qualifikationsschritten für die Tätigkeit im Dienst der römischen Kongregationen. In diesem Sinne waren die sechs Doktoren ausschließlich damit beschäftigt, häretische, oft auch nur dominikanerfeindliche Bücher zu widerlegen und die so entstandenen Streitschriften systematisch zu publizieren. Darüber hinaus hatte Casanate testamentarisch verfügt, dass sie gleichzeitig als Gutachter im Dienst der Ritenkongregation, der Indexkongregation und der Inquisition angenommen werden mussten.60 Damit war es ihnen möglich, Quintessenzen ihrer Publikationen als Gutachten in den jeweiligen Dikasterien einzureichen, und so einerseits auf publizistischer und andererseits auf juristischer Ebene gegen andere Meinungen vorzugehen. Dafür, dass es überhaupt zu dieser Überschneidung in der Arbeit der Doktoren kommen konnte, waren die zwei Bibliothekare zuständig. Zu ihren Aufgaben gehörte es, die verfänglichen Bücher aufzustöbern, zu kaufen und anschließend bei der Indexkongregation oder der Inquisition anzuzeigen. Nach dem Ende des Verfahrens und dem Verbot des jeweiligen Werks erstanden sie eine Leselizenz dafür und nahmen das Buch wieder zurück in den gesperrten Bereich der Bibliothek.61 Die Struktur des direkt mit der Sakristei der Santa Maria sopra Minerva verbundenen Komplexes, die Zusammensetzung des Leitungsgremiums und der Aufgabenzuschnitt der Mitarbeiter war von Anfang an darauf angelegt, mit der Besetzung der Positionen in der Casanatense zugleich den Nachwuchs für die zentralen Ämter in der Inquisition und der Indexkongregation zu rekrutieren. Bereits die erste Generation der aufgenommenen Gelehrten stellte binnen kürzester Zeit nach der 1701 stattgefundenen Bibliothekseröffnung den Sekre-

59 Biblioteca Casanatense, MS 5549, fol. 21r und fol. 35r–40v. 60 Biblioteca Casanatense, MS 5549, fol. 46v. 61 Biblioteca Casanatense, MS 5549, fol. 24r.

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158 Andreea Badea tär der Indexkongregation und den Kommissar des Heiligen Offiziums.62 Der Theologe Giuseppe Maria Tabaglio (1652–1715) übernahm 1707 die Geschäfte der Inquisition und ein Jahr später trat sein einstiger Kollege, Gregorio Selleri (1654–1729), das Sekretariat der Indexkongregation an, um 1711 sogar Beichtvater des Papstes und 1729 zum Kardinal ernannt zu werden.63 Auch wenn der Orden bereits vor der Gründung der Casanatense der am stärksten vertretene an der Kurie gewesen war, so schärften die neuen Rekrutierungs- und Ausbildungsformen einerseits das jeweilige ideologische Profil der Kandidaten systematisch in einer Weise, wie es davor kaum möglich gewesen war. Andererseits brachten sie so mehr innerdominikanische Vielfalt für die Auswahl der kurialen Positionen ein und stärkten gleichzeitig die Stellung Roms als Zentrum akademischer Karrieren auf Kosten der bis dahin etablierten Universitäten in Spanien, Belgien oder Frankreich. Die Casanatense wurde schnell zum intellektuellen Repositorium der römischen Buchzensur und stellte nicht nur das nötige Personal für die betreffenden Dikasterien, sondern beeinflusste auch den römischen Wissenskanon. Sie bediente sich der inquisitorialen Mechanismen, um letztlich auch die Gestaltung der moralischen und religiösen Welt der Gläubigen zu beeinflussen. Der institutionelle Charakter, den die dominikanischen Strategien zur Einbindung in die römischen Dikasterien dadurch annahmen, besiegelte somit die Verwobenheit des Predigerordens mit dem Papsttum auf eine Weise, die seine Konkurrenten nicht dulden konnten, wollten sie sich ähnlich nachhaltig an der religiösen und ideologischen Prägung der frühneuzeitlichen Gesellschaft beteiligen.

62 Vgl. Alberto Guglielmotti, Catalogo del Collegio Casanatense nel Convento della Minerva dell’ordine de’ Predicatori in Roma dal principio di loro istituzione sino al presente raccolto da sicuri documenti e corredato di note biografiche, cronologiche, e bibliografiche, Rom 1860, S. 20 und S. 27. 63 Vgl. Hubert Wolf (Hg.), Prosopographie von Römischer Inquisition und Indexkongregation 1701–1813, M–Z., bearb. von Jyri Hasecker, Dominik Höink und Judith Schepers, Paderborn 2009 (Römische Inquisition und Indexkongregation Grundlagenforschung II: 1701– 1813), S. 1151–1152 und 1217–1218.

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Fazit Die Auseinandersetzung zwischen der Gesellschaft Jesu und dem Predigerorden verlief entlang mehrerer Schwerpunkte im Laufe der Jahrhunderte. Streitpunkte, wie sie Faure ins Feld geführt hatte, betrafen vor allem den Vorsprung, den die Dominikaner innerhalb der Kurie für sich gesichert hatten. Dieser Vorsprung konnte sich durch die dominikanisch besetzten Kontrollmechanismen nur noch ausbauen und Kritik am Orden zur Kritik am System und damit sanktionsfähig werden lassen. Absicherung war dabei eine gezielte Personal­politik innerhalb des Ordens, die erfolgreich in die kurialen Stellenbesetzungen integriert werden konnte. An dieser Stelle setzt die Kritik des Jesuiten an, der jenseits historiografischer Polemik gegen den Orden vor allem auf die Konsequenzen einer langfristig im dominikanischen Sinne geführten Personalpolitik abhebt. In diesem Sinne handelt es sich weniger um die Enthüllung korrupter Zustände, sondern vielmehr um die Klage des Verlierers im innerkirchlichen Streit um die ideologische Kontrolle über Spitzenpositionen der Glaubens- und Wissensverwaltung.

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Der unbequeme Philosoph – ­Hippolyte Taine (1828–1893) und der Concours d’Agrégation von 1851 Annika Klein Im August 1848 tritt der brillante Schüler Hippolyte Taine zum Concours d’en­ trée, der Aufnahmeprüfung der Pariser École normale supérieure an. Der Concours ist nicht einfach eine Prüfung, er ist auch eine Personalentscheidung, durch die die besten Kandidaten für das System der öffentlichen Bildung, die Instruction publique, ausgewählt werden sollen. Wer hier Erfolg hat, wird Teil einer Bildungselite und hat Chancen auf die höchsten Posten. Taine, dessen bisherige Schullaufbahn voller akademischer Erfolge ist, scheint ein idealer Kandidat zu sein. Oder? Bei der École normale supérieure (ENS) handelt es sich um eine der sogenannten »Grandes écoles«1, spezialisierte Hochschulen, die Schüler nach dem Besuch des Lycées für verschiedene Bereiche des Staatsdienstes weiter ausbilden. Im 19. Jahrhundert existieren diese Hochschulen zeitweise statt einer Universität, heute bestehen beide Systeme parallel zueinander. Der Druck auf die Kandidaten ist groß: Da alle Grandes écoles nur über eine begrenzte Anzahl von Plätzen verfügen, die sich am voraussichtlichen Bedarf der entsprechenden Institutionen orientiert, durchlaufen die Kandidaten harte Aufnahmeprüfun1 Die ersten Grandes écoles wurden bereits im Ancien Régime gegründet. Bis heute existiert keine genaue Definition oder offizielle Liste, die spezifizieren würde, welche Hochschule eine Grande école ist und welche nicht. Das französische Bildungsministerium definiert Grandes écoles als Institutionen, die ihre Schüler durch Wettbewerb auswählen und eine Ausbildung auf Hochschulniveau garantieren (»Etablissement d’enseignement supérieur qui recrute ses élèves par concours et assure des formations de haut niveau«, vgl. Arrêté du 27 août 1992 relatif à la terminologie de l’éducation, in: Journal officiel de la République française, Nr. 211, 11, September 1992.).

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gen in Form eines Wettbewerbes (Concours d‘entrée): Es genügt also nicht, eine bestimmte Punktzahl zu bekommen; man muss besser als die anderen sein, denn nur die Ranglistenvorderen können sich einen Platz sichern. Auf diese Concours bereiten sich die Kandidaten oft jahrelang vor, denn Scheitern gehört zum System. Ziel der ENS ist die Ausbildung von Lehrenden für die obersten Posten der Instruction publique, die Lehrstühle der weiterführenden Schulen (Lycées und Collèges) sowie der verschiedenen Hochschulen.2 Die Absolventen, genannt Normaliens, begreifen sich selbst als Bildungselite, denn der Concours d’entrée der ENS ist schwer zu bestehen, pro Jahr stehen im 19. Jahrhundert in der Regel weniger als 25 Plätze in den Geistes- und unter 20 in den Naturwissenschaften zur Verfügung, um die jeweils bis zu 200 Kandidaten kämpfen.3 Die Aufnahme an die Schule bedeutet gleichzeitig auch den Eintritt in den öffentlichen Dienst. Wer die Schule erfolgreich abschließt, legt damit also den Grundstein für eine lebenslange akademische Karriere, auch wenn vor den höchsten Posten noch ein weiterer Concours, die sogenannte agrégation steht. Auch auf diese Prüfung werden die Eleven der ENS allerdings gezielt vorbereitet. Der akademische Wettbewerb bestimmt also einen großen Teil der Ausbildung der Normaliens. Dieses System der Personalauswahl grenzt sich, vor allem rhetorisch, entschieden von dem des Ancien Régime ab. Es geht darum, die »Besten« auszuwählen: Nicht mehr Geburt und Sozialstatus sollen über den Karriereweg entscheiden, sondern allein Leistung und Eignung. Dementsprechend formalisiert ist das Auswahlsystem: Die Regeln der verschiedenen Concours werden klar kommuniziert, und die Ergebnisse der Prüfungen werden öffentlich bekannt gegeben, sodass jeder sehen kann, wo er sich im Vergleich zu seinen Mitstreitern einordnet. Vielleicht lässt die Betonung von Transparenz und Meritokratie aber vergessen, dass es nicht nur um bisherige Leistungen geht, sondern auch um die zukünftige »Eignung« für den Lehrerberuf. Ob die Kandidaten ihre zukünftigen 2 Die »Universität« bezeichnet in dieser Zeit nicht eine einzelne Institution, sondern die Gesamtheit dieses Bildungssystems. Die »Hochschul-Ebene« dieses Systems setzt sich aus den verschiedenen Fakultäten (Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften, Recht, Medizin) sowie einer Reihe von spezialisierten »Grandes écoles«, wie der ENS, zusammen. All diese Institutionen befinden sich in Paris, eine Dezentralisierung setzt erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. 3 Ende des 19. Jahrhunderts führt die ENS detaillierte Listen über Kandidaten, welches Lycée wie viele Kandidaten entsendet etc., vgl. z. B. Archives Nationales: AN 61AJ/17ENS  – Concours d’entrée.

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162 Annika Klein Aufgaben tatsächlich in der gewünschten Weise erfüllen werden, ist natürlich schwer vorherzusagen. Die Eignung (aptitude) bemisst sich daher nach Kriterien, die für Kandidaten oft weniger transparent sind. Als Hippolyte Taine 1848 zum Concours der ENS antritt, hat er bereits einen für Concours-Kandidaten typischen Weg absolviert. Geboren im April 1828 in Vourziers (Département Ardennes) entstammt Taine einer kleinbürgerlichen Familie. Er besucht in Paris mit großem Erfolg das Collège royal Bourbon, eine der Pariser Schulen4, aus denen sich die meisten Schüler der ENS rekrutieren. 1848 gibt es an der ENS 24 Plätze in den Geistes- und 16 in den Naturwissenschaften, Hippolyte Taine tritt im Concours der Geisteswissenschaften an und hat im ersten Versuch5 Erfolg: Er wird als Ranglistenerster aufgenommen.6 Auch die drei Jahre, die Taine an der ENS verbringt, sind von akademischen Erfolgen geprägt. Sein Philosophielehrer Étienne Vacherot bezeichnet Taine als den »fleißigsten und kultiviertesten Schüler, der mir an der École je begegnet ist«, und prognostiziert, er werde nicht nur einen hervorragenden Professor abgeben, sondern auch einen großen Gelehrten. Allerdings bemängelt Vacherot auch, dass Taine dazu neige, sich zur sehr in Definitionen und Formeln zu verstricken und dabei die Realität aus den Augen zu verlieren. Von einmal gefassten Überzeugungen sei er kaum wieder abzubringen.7 Diese Mischung aus akademischer Brillanz und einer gewissen Starrköpfigkeit geht aber nicht mit einem in anderer Hinsicht unangenehmen Charakter einher. Taines Lehrer loben sein sanftes Gemüt, seine Freunde schätzen ihn als großen, aber stets hilfs-

4 Gemeinsam mit den Lycées Henri IV, Charlemagne und St. Louis. Das bedeutet nicht, dass Kandidaten von anderen Schulen prinzipiell keine Chance haben, aber die Teilnahme- und Aufnahmelisten des Concours der ENS zeigen eine eindeutige Dominanz der großen Pariser Lycées. 5 Mehrere Versuche sind nicht nur möglich, sondern werden auch nicht als Zeichen akademischen Versagens gewertet, nach dem ersten Versuch ist man mit den Prüfungsabläufen vertraut und kann beim erneuten Besuch der classes préparatoires gezielter an den eigenen Schwachstellen arbeiten. 6 Vgl. Archives Nationales: 61AJ/1 – Tableau chronologique des promotions, 1810–1879, S. 16. 7 »L’élève plus laborieux, le plus distingué que j’aie connu à l’École. […] Aime trop les formules et les définitions auxquelles il sacrifie trop souvent la réalité […] Taine sera un professeur très distingué, mais de plus et surtout un savant de premier ordre, si sa santé lui permet de fournier une longue carrière […] Avec une grande douceur de caractère et des formes très aimables, une fermeté d’esprit indomptable, au point que personne n’exerce d’influence sur sa pensée«, zitiert nach Gabriel Monod, Renan, Taine, Michelet. Les maîtres de l’histoire, Paris, 1894, S. 67.

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Hippolyte Taine (1828–1893) bereiten Geist, dessen weitgefächertes Wissen sie zur Prüfungsvorbereitung zu »durchblättern« pflegen wie ein Lexikon.8 Nach Abschluss der ENS können die Absolventen in verschiedenen Fächern zum Concours der Agrégation antreten, in dem erneut eine begrenzte Anzahl von Posten durch Wettbewerb vergeben wird. Da sich aus der Gruppe der Agrégés die zukünftigen Lehrstuhlinhaber rekrutieren9, wird die Agrégation deutlich stärker vom politischen Kontext beeinflusst, als dies für den Concours d’entrée der ENS gilt. Vor allem der Einfluss der Kirche auf die Agrégation, insbesondere die der Philosophie, unterliegt starken politischen Schwankungen: Nach der Juli-Revolution 1830 verliert die Kirche ihre Vertreter in der Prüfungskommission, der für nahezu die gesamte Dauer der Julimonarchie der 8 Vgl. Jean-Paul Cointet, Hippolyte Taine. Un regard sur la France, Paris 2012, S. 35 ; Monod, Renan, Taine, S. 59 f. 9 Agrégés sind damit noch nicht automatisch Professoren, die Agrégation stellt aber einen zwingenden Schritt auf dem Weg zum Professorenposten dar, eine Art »Nachrückerposition«.

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164 Annika Klein Philosoph und Normalien Victor Cousin vorsteht.10 Cousin prägt sowohl den Concours als auch die Vorstellung von der Rolle des Philosophen im Staatsdienst: »Ein Philosophieprofessor ist ein Beamter der moralischen Ordnung, dem vom Staat die Pflege der Geister und der Seelen übertragen wurde«.11 Nach der Februarrevolution von 1848 nimmt unter der Präsidentschaft L ­ ouis Napoleon Bonapartes der Einfluss der Kirche jedoch wieder zu. 1851 sitzt in der Prüfungskommission der Agrégation de philosophie mit dem Abbé Noirot erneut ein Vertreter des Klerus und Victor Cousin wird durch den Grafen Joseph-­Marie Portalis abgelöst. Hippolyte Taine meldet sich 1851 gemeinsam mit 19 anderen Kandidaten zum Concours der Philosophie an, fünf Posten sind im Wettbewerb zu vergeben. Auf einen schriftlichen Teil folgen öffentliche Debatten und eine Unterrichtsprobe. Anatole Prévost-Paradol, ein Normalien und langjähriger Freund Taines, sitzt dort unter den Zuschauern und schildert seine Eindrücke später in einem Brief an seinen Freund Octave Gréard. In der ersten Runde der Debatten seien, durch das Los bestimmt, Taine und Édouard de Suckau, ebenfalls Normalien und Freund Taines, gegeneinander angetreten. Thema ist der Gottesbeweis bei Descartes. Taine habe sich zwar deutlich überlegen gezeigt, aber ohne seinen Freund in irgendeiner Weise herabzuwürdigen – offenbar spielte man sich gegenseitig die Fragen zu.12 In der zweiten Runde trifft Taine mit Benjamin Aubé erneut auf einen Normalien, mit dem er einen weiteren Gottesbeweis diskutieren soll, diesmal im Werk Jacques Bénigne Bossuets. An diesem Punkt beginnt der Concours für Taine möglicherweise einen ungünstigen Verlauf zu nehmen. Laut Prévost-Paradol sei Taines Argumentation unangreifbar gewesen, und Aubé habe ihm daher böswillig unterstellt, in seinen Ausführungen nicht Bossuet erörtert zu haben, sondern Baruch Spinoza. Das ist ein gefährlicher Vorwurf, denn Spinozas Thesen gelten als radikal und hatten ihm und sei10 Jahrgang 1810 an der ENS, damals noch »Pensionnat normal«, vgl. Archives Nationales: 61AJ/1, S. 1. Cousins Präsidentschaft wird lediglich durch die Revolution 1848 unterbrochen, bereits im Folgejahr übernimmt er aber erneut den Vorsitz der Prüfungskommission, vgl. André Chervel, Histoire de l‘agrégation. Contribution à l’histoire de la culture scolaire, Paris 1993, S. 94 f. 11 »Un professeur de philosophie est un fonctionnaire de l’ordre moral, préposé par l’État à la culture des esprits et des âmes«. Aus einem Bericht Cousins von 1850, zit. n. Chervel, Histoire de l’agrégation, S. 96. 12 »Te dire la douceur, l’amitié et la persuasion avec laquelle Taine se montra supérieur à lui, sans le rabaisser d’une ligne, serait impossible. Bref cette épreuve leur faisait beaucoup d’honneur à tous deux, mais Taine avait le dessus«, Brief von Prévost-Paradol an Gréard, 7. September 1851, in: Octave Gréard, Prévost-Paradol. Études suivie d’un choix de lettres, Paris 1894, S. 168.

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nen Anhängern den Vorwurf des Pantheismus oder gar des Atheismus eingehandelt.13 Aber Aubés Attacke bleibt ohne Wirkung: Die Jury stuft Taine auch nach dieser Prüfung als Ranglistenersten ein und lobt sein profundes Wissen und seine sichere Argumentation.14 Es folgt die Unterrichtsprobe, in der Taine als Thema die Frage des Zusammenhangs von Moral, Philosophie und Religion gewählt hat. Prévost-Paradol ist sich sicher, diese brillante und außergewöhnliche Lektion werde dem Freund nun endgültig den Spitzenplatz sichern. Er irrt sich. Die Prüfungskommission stuft Taine keineswegs als Ranglistenersten ein, sie kommt zu dem Schluss, er sei gänzlich »unfähig Philosophie zu unterrichten« und verweigert ihm den Titel des Agrégé.15 Der Spitzenplatz geht an Édouard de Suckau; Taine, den seine Freunde und Lehrer als sicheren Sieger gesehen hatten, ist gescheitert. In einer Notiz, die Prévost-Paradol wenig später für die Zeitschrift La ­Liberté de penser16 unter dem Pseudonym »Jacques« verfasst, macht er politische Gründe für dieses Entscheidung verantwortlich: Man habe Taine abgelehnt, weil er seinen Ansichten über die Unabhängigkeit von Philosophie und Moral von der organisierten Religion treu geblieben sei, statt dem von oben vorgegebenen Kurs zu folgen. Die Entscheidung der Prüfungskommission bezeichnet »Jacques« als ein »offensichtliches Unrecht«, durch das auch der Universität Verluste entstünden, denn man habe den Beweis erbracht, dass Mittelmäßigkeit Vorrang vor Intelli-

13 »X… l’attaque alors avec une emphase ridicule sur l’omission de la Providence dans sa thèse, sur la tendance implicite qu’il semblait avoir à confondre Bossuet avec Spinoza«, Gréard, Prévost-Paradol, S. 169 (Prévost-Paradol nennt Aubé nicht namentlich, der Name geht aber aus dem Prüfungsprotokoll hervor). 14 Vgl. Bericht des Präsidenten der Prüfungskommission, Joseph-Marie Portalis, nach Chervel, Histoire de l’agrégation, Annexe 4, S. 264. 15 Vgl. Monod, Renan, Taine, S. 71. 16 Die Zeitschrift wurde 1848 von den drei Normaliens Amédée Jacques (ENS-Jahrgang 1832), Jules Simon und Émile Saisset (beide Jahrgang 1833) gegründet und setzt sich, dem Titel gemäß, für eine Philosophie frei von staatlicher oder religiöser Kontrolle/Doktrin ein. Das führt im November 1851 zum Verbot der Zeitschrift. Schon einige Monate vorher war Jacques die Lehrerlaubnis entzogen worden, er wandert daraufhin nach Südamerika aus, vgl. Amédée Jacques: »La liberté de penser«, in: La Liberté de Penser 1 (1848), Nr. 1, S. 1–6.; Arturo Andrés Roig, Amédée Jacques, un ecléctico francés en el rio de la Plata. Un capítulo de la influencia del pensiamiento francés en América Latina, in: Cahiers du monde hispanique et luso-brésilien 19 (1972), S. 143–156., S. 146.

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166 Annika Klein genz, Wissenschaft und Talent habe. Auf zukünftige Agrégations-Anwärter könne dies nur eine abschreckende Wirkung haben.17 Auch ein Posten in oder wenigstens in der Nähe von Paris bleibt Taine nach dieser Niederlage verwehrt: Das Ministerium entsendet ihn nach Nevers  – aus Sicht der Pariser höchst provinziell und dazu schlecht bezahlt.18 Taine schwankt in Briefen an seine Freunde zwischen der Hoffnung, diese Lehrerfahrung werde ihn auf die Agrégation des Folgejahres besser vorbereiten, und der Befürchtung, er werde erneut scheitern. Aus der Diskussion um die etwaigen politischen Motive seiner Ablehnung scheint er sich dagegen herauszuhalten.19 Sowohl für Taine als auch für seine Lehrer und Freunde steht jedoch fest, dass er erneut antreten werde. Jules Simon, Philosophielehrer an der ENS, versichert Taine, er und seine Kollegen seien fest von der Eignung Taines zum Agrégé überzeugt.20 Auch Taines Mentor Étienne Vacherot versucht seinen Schützling zu ermutigen. Es sei einfach Pech gewesen, dass sich gerade der kleingeistige Abbé Noiret in der Prüfungskommission befunden habe, nichtsdestotrotz werde Taine im nächsten Jahr mit Sicherheit Erfolg haben.21 17 Vgl. Auszug aus »La liberté de penser«, Band VIII, S. 600, abgedruckt bei Gréard, PrévostParadol, S. 175. 18 Vgl. »Mouvement du personnel. Collèges des départements», in: Revue de l’Instruction publique, Nr. 172, 16. Oktober 1851, S. 2042; Brief Taines an de Suckau, 22. Oktober: In Nevers verdient er 1200 Francs pro Jahr, nach seiner Ankunft stellt Taine allerdings fest, dass man ihm noch einen weiteren Kurs zu 500 Francs übertragen hat, sodass das Gehalt doch weniger niedrig ist, als erwartet, vgl. Hippolyte Taine, H. Taine, sa vie et sa correspondance. Correspondance de jeunesse, Paris 1904, S. 137. 19 Vgl. Brief an de Suckau, 22. Oktober 1851: »Je ne verrai guère de monde; je suis trop aristocrate d’esprit, et l’air nivernais est trop béotien. Je feuilletterai seulement de temps en temps mes voisins ou mes collègues. Je fais ma classe avec soin et prudence, tâchant d’introduire quelques idées dans ces cervelles novices, cela me prépare à l’agrégation«. Taine dankt de Suckeau für seine Unterstützung bei der Agrégation-Prüfung, äußert aber gleichzeitig auch seine Befürchtungen vor einer Wiederholung seines Scheiterns: »ma carrière interrompue, mon avenir incertain; j‘ai voulu passer sous les fourches caudines; repoussé une première fois, réussirai-je? Ma foi, tant pis, et d’avance je suis préparé à un second malheur«, Taine, Vie et correspondance de jeunesse, S. 138–140. 20 Vgl. Brief Simons an Taine, 6. September 1851: »Si le témoignage d’un maître, qui est en même temps votre amis, peut vous aider à reprendre courage, je vous assure que j’ai eu peu d’élèves plus capables que vous d’être reçus agrégés«, Taine, Vie et correspondance de jeunesse, S. 128. 21 Vgl. Brief Vacherots an Taine, September 1851: »Mais vous étiez déjà suspect de mauvaises tendances, été puis vous avez eu le malheur de rencontrer N pour juge. Vous n’avez pas à vous inquiéter de l’avenir: quoi qu’il arrive, vous reprendrez votre place l’année prochaine.«, Taine, Vie et correspondance de jeunesse, S. 128–130.

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Aber Taine und seine Freunde haben die Gefahren der politischen Um­ bruchssituation offenbar unterschätzt. Louis Napoleon Bonaparte sichert sich am 2. Dezember 1851 durch einen Staatsstreich das Fortbestehen seiner »Präsidentschaft«. Nur ein Jahr später lässt er sich den Kaisertitel verleihen, die Zweite Republik geht in das Zweite Kaiserreich über. Sowohl Étienne Vacherot als auch Jules Simon verlieren im Laufe des Jahres 1851 ihre Posten an der ENS. Anatole Prévost-Paradol, der im Namen des Abschlussjahrgangs der ENS gegen den Staatsstreich protestiert hatte, entscheidet sich, die Schule zu verlassen. Die als nicht regimetreu eingestufte ENS wird in den Folgejahren zum Objekt strikter Kontrolle durch den Staat.22 Ende Dezember 1851 setzt der neue Minister der Instruction publique, Hippolyte Fortoul, den Concours der Philosophie für 1852 aus, sodass Taine eine erneute Teilnahme verwehrt wird. Im April des Folgejahres werden im Rahmen umfassender Veränderungen des Bildungssystems sämtliche Agrégations-Concours abgeschafft, an ihre Stelle tritt eine einfache Prüfung, die sich inhaltlich ausschließlich am Unterrichtsstoff der Lycées und Collèges orientiert. Ein neuer Lehrplan eliminiert die Philosophie nicht nur als Agrégations-Fach, sondern auch als eigenständiges Schulfach, an der ENS soll sie fortan lediglich als »Untersuchungsmethode« in den Geistes- und Naturwissenschaften dienen.23 Eine universitäre Karriere scheint für Taine zunehmend aussichtslos zu werden. Er hatte geplant, parallel zu den Vorbereitungen auf die Agrégation 1852 auch seine Dissertation24 fertigzustellen. Die von Taine vorgeschlagenen philosophischen Dissertationsthemen werden jedoch von der Sorbonne abgelehnt, und man legt ihm dort nahe, sich doch lieber den politisch unverfänglicheren Literaturwissenschaften zuzuwenden.25 Und auch in Nevers eckt Taine mit seinen philosophischen Ansichten, die er offenbar nicht aus seinem Unterricht heraushalten kann, an. Schüler und Eltern beschweren sich und Taine 22 Vgl. Hippolyte Monin, La dernière leçon de Jules Simon en Sorbonne (Décembre 1851), in: La Révolution de 1848. Bulletin de la Société d’histoire de la Révolution de 1848 3 (1906), Nr. 13, S. 43–52, hier S. 44 ; Cointet, Taine, S. 36. 23 Vgl. Nouveau plan d’études pour les lycées et les Facultés, in:  Bulletin administratif de ­l’instruction publique. Bd. 3, 1852, S. 53–58. 24 Während die Agrégation keinen universitären Titel im eigentlichen Sinne verleiht – Agrégé ist eine Stellenbeschreibung – handelt es sich beim doctorat um den höchsten Hochschulabschluss, der aber wiederum keinen Posten garantiert und nicht durch Wettbewerb vergeben wird. 25 Vgl. Cointet, Taine, S. 35 f.

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168 Annika Klein wird an den Lehrstuhl für Rhetorik des Lycée von Poitiers versetzt. In dem begleitenden Schreiben des Ministeriums heißt es, man wolle ihm noch eine Chance geben, sich auf einem Posten zu bewähren, der »weniger gefährlich für seine Zukunft« sei, weise Taine aber auch darauf hin, dass es sich hier um die letzte Verwarnung handele, bevor er aus dem Schuldienst entlassen werde.26 Aber wie war es überhaupt möglich, dass ein Kandidat, dessen Brillanz und dessen profunde Kenntnisse von der Jury ausdrücklich gelobt worden waren und der bis zu diesem Punkt eine exzellente akademische Laufbahn absolviert hatte, nun »unfähig« sein sollte, diese Kenntnisse auch an Schüler zu vermitteln? War dieses Urteil so unvorhersehbar, wie es auf Taines Freunde den Anschein hatte? Und was sagt der Fall Taine über dieses Auswahlsystem aus? Um eine Antwort zu finden, muss zunächst eine andere Frage beantwortet werden, eine, die schon Taine und seine Freunde 1851 bewegt: Wer in der Jury ist verantwortlich für die Ablehnung Taines und warum? Dass diese Ablehnung politische Gründe hat, scheint offensichtlich: Die Prüfungskommission äußert zu keinem Zeitpunkt Kritik an Taines akademischen Fähigkeiten und auch die späteren Schreiben des Ministeriums betonen stets, dass man Taine für einen vielversprechenden Wissenschaftler halte. Nach Taines Scheitern verbreiten sich daher schnell Gerüchte um die Motive der Jury. Es heißt, Victor Cousin – der eine gänzliche andere Strömung der Philosophie repräsentiert als Taine – habe gesagt, man müsse Taine entweder den ersten Rang zusprechen oder ihn ablehnen. Cousin hatte aber 1851 gar nicht den Vorsitz der Prüfungskommission, sodass er deren Entscheidung kaum hätte beeinflussen können.27 Étienne Vacherot, Taines Mentor, hält den Abbé Noiret, das klerikale Mitglied der Jury, für den Hauptverantwortlichen. Da sich die Kritik der Jury offenbar an Taines philosophischen Positionen entzündet hatte, scheint Noiret ein offensichtlicher Kandidat zu sein. Wäre der Abbé nicht bestrebt, einen Vertreter unliebsamer und kirchenkritischer Positionen aus dem Schuldienst fernzuhalten? Noirets eigene Aussage widerspricht dem jedoch. Taines Freund Édouard de Suckau schreibt in einem Brief vom November 1851, er habe Noiret aufge26 Brief des Ministre de l‘Instruction publique an Taine, 30. März 1852  : »C’est après avoir pris une connaissance attentive des notes qui vous concernent que j’ai résolu de vous essayer dans un enseignement moins périlleux pour votre avenir […] Si cet avertissement ne répondait pas à mon attente, je me verrais dans la nécessité de me passer de vos services.« Taine, Vie et ­correspondance de jeunesse, S. 230 f. 27 Vgl. Monod, Renan, Taine, S. 69.

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sucht und ihn nach den Ereignissen bei der Agrégation befragt. Laut Noiret habe er lediglich das zu hohe Niveau von Taines Unterrichtsprobe, nicht aber deren Inhalt kritisiert. Diese Kritik sei von Joseph-Marie Portalis, dem Präsidenten der Kommission, gekommen.28 Die Berichte der Prüfungskommissionen werden normalerweise in der Revue de l’instruction publique publiziert. Der Bericht der Agrégation de philosophie von 1851 fehlt jedoch. Das Dokument sei zu lang und nicht fertiggestellt, gibt das Ministerium an, lediglich ein erster Teil liege vor.29 Der Bericht Portalis’ wird nie veröffentlicht, und Gabriel Monod stellt in seiner Taine-Biografie von 1894 fest, er sei außerdem weder in den Akten des Ministeriums noch in denen des Nationalarchivs auffindbar.30 Gut hundert Jahre später hat ihn dort André Chervel für seine Histoire de l’agrégation doch gefunden.31 Auch Portalis lobt in seinem Bericht Taines profunde Kenntnisse, seine Eloquenz und sein gesamtes Auftreten. Aber, so urteilt Portalis: »Es reicht nicht, wenn eine Lektion gut gemacht ist, das Wichtigste ist, dass sie gut ist.«32 Taine habe mit seiner Unterrichtsprobe eine schlechte Wahl getroffen, wohl in dem Versuch eines ehrgeizigen jungen Mannes, sich um jeden Preis hervorzutun. Solche Bestrebungen müssten aber unbedingt unterbunden werden, es sei wichtig, den zukünftigen Philosophielehrern klarzumachen, dass Talent und Wissen ihnen nicht die Erlaubnis gäben, sich über die Grundsätze der etablierten öffentlichen Moral hinwegzusetzen, denn solche Denkweisen stellten eine Gefahr für die Gesellschaft dar.33 Die Jury habe Taine daher den Titel des Agrégé verweigert und damit »die Sache der gesunden Philosophie verteidigt und einem jungen Mann, der vollständig dazu in der Lage ist, dem Unterrichtswesen gute und nützliche Dienste zu leisten, eine heilsame Warnung erteilt«.34 Taine solle nun 28 Vgl. Taine, Vie et correspondance de jeunesse, S. 128 f., Anm. 2. 29 Vgl. Ministère de l’Instr. Publique. Concours d’agrégation. Agrégation de Philosophie. Avis, in: Revue de l’Instruction publique, Nr. 174, 30. Oktober 1851, S. 2072. 30 Vgl. Monod, Renan, Taine, S. 70, Anm. 1. 31 Vgl. Chervel, Histoire de l’agrégation, S. 265–267 mit Verweis auf die Bestände F/17/7071 und F/17/7108 des Nationalarchivs. 32 »Mais il ne suffit pas qu’une leçon soit bien faite, l’essentiel est qu’elle soit bonne«, Auszug aus dem zweiten Bericht Portalis’ an den Minister der Instruction publique, nach Chervel, Histoire de l’agrégation, S. 264. 33 Vgl. Chervel, Histoire de l’agrégation, S. 265 f. 34 Vgl. Chervel, Histoire de l’agrégation, S. 267: »Nous avons défendu par cette mesure la cause de la saine philosophie et donné à un jeune homme parfaitement en état de rendre à l’enseignement de bons et utiles services, un avertissement salutaire«.

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170 Annika Klein im Interesse der Instruction publique dabei unterstützt werden, seine Positionen zu korrigieren. Prévost-Paradols Vorwürfe als »Jacques« waren also zutreffend: Man hat Taine in der Tat den Titel des Agrégé verweigert, weil er die Unabhängigkeit der Philosophie und der Moral von der Kirche proklamiert hatte, und man wollte bewusst ein Zeichen für zukünftige Agrégations-Anwärter setzen. Es scheint demnach nicht in erster Linie die Angst der Kirche vor häretischen Philosophen gewesen zu sein, die Taine bei der Agrégation zu Fall brachte, es war die Befürchtung der Akteure in der Instruction publique, er könnte als Lehrer mit diesen Ansichten seine Schüler negativ beeinflussen. Der Philosophieprofessor fungiert als Beamter der (etablierten) moralischen Ordnung, wie Victor Cousin es genannt hatte, und Taine, so befürchtet Portalis, würde versuchen, eine neue, »falsche« moralische Ordnung zu vermitteln. Vor solchen Einflüssen müssen Schüler und Gesellschaft geschützt werden, und solange man Taine nicht vertrauen kann, ist er aus Perspektive des Ministeriums in der Tat »unfähig«, einen Lehrstuhl für Philosophie zu bekleiden. Interessant daran ist aber auch, dass Taine als Person und als Philosoph nicht zwingend den Kern des Problems darstellt. Niemand stellt seine akademischen Fähigkeiten infrage und die warnenden Briefe des Ministeriums fordern ihn nicht einmal explizit dazu auf, seine persönlichen Einstellungen zu ändern, nur dazu, sie im Unterricht nicht zu äußern – wozu Taine nicht bereit zu sein scheint. Insofern wird das fehlende Vertrauen des Ministeriums in Taines Fähigkeit, »linientreuen« Unterricht abzuhalten, durch sein Verhalten weiter bestätigt. Man könnte die Entscheidung der Prüfungskommission also durchaus als »richtig« bezeichnen: Wenn die Agrégation dazu dient, Personen für die gehobenen Posten im Unterrichtswesen auszuwählen, die sowohl die notwendigen akademischen Kenntnisse mitbringen als auch in der Lage sind, diese in einer Weise an Schüler zu vermitteln, die zuverlässig konform mit den vom Ministerium vertretenen Positionen ist, dann wäre Taine 1851 die falsche Wahl gewesen. Das wirft allerdings die Frage auf, warum Taines Lehrer das Ausmaß dieses Problems nicht vorher erkannt haben, denn Verweise auf Taines Unfähigkeit, sich von einmal gefassten Überzeugungen zu lösen, tauchen ja schon in Bewertungen aus seiner Zeit an der ENS auf. Haben Étienne Vacherot und Jules Simon die Gefahren des politischen Umbruchs für ihren Schüler unterschätzt, obwohl er sie selbst schon direkt betroffen hatte und obwohl Taines Positionen nicht einmal mit der von Victor Cousin vertretenen Philosophie vereinbar wa-

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ren? Oder waren sie – was ja der Kritik Portalis’ entspräche – tatsächlich der Meinung, dass Taines Talente seine fehlende Konformität mit den etablierten Strömungen der Philosophie wettmachen würden, und haben sie damit die Bedeutung des Faktors »Eignung« radikal unterschätzt? Aus den Quellen ergeben sich leider keine direkten Antworten auf diese Fragen, es lässt sich allenfalls spekulieren, ob sich hier nicht neben persönlichen Fehleinschätzungen auch die Probleme dieses wettbewerbsbasierten Systems der Personalentscheidungen manifestieren. Was also sagt der Fall Taine über dieses System aus? Zuallererst zeigt er, dass es auch bei einem meritokratischen Auswahlsystem, zumindest in einer Zeit häufiger politischer Umbrüche, nicht nur um rein akademische Fähigkeiten geht und gehen kann. Die »Besten« sind diejenigen, bei denen sich Talent und Eignung verbinden, und die Eignung ist zu einem großen Teil vom Faktor des Vertrauens bestimmt. Vertrauen darin, dass Lehrer, die weit von der Hauptstadt entfernt die Positionen des Ministeriums repräsentieren sollen, das auch wirklich tun werden, dass man sich also auf sie verlassen kann. Daran scheitert Taine. Der Fall zeigt aber auch, dass die Entscheidungen nicht ausschließlich politischer Natur sind. Zur guten Lektion gehört es eben doch, um Portalis’ Ausspruch aufzugreifen, dass sie auch gut gemacht ist. Taines Potenzial wird auch von denen, die ihn ablehnen, nicht infrage gestellt. Sie fordern nicht, Taine jede weitere Karriereoption in der Instruction publique zu verwehren. Seine Fähigkeiten, die in den Augen des Ministeriums durch zahlreiche Prüfungen bestätigt worden sind, sollen nicht verschwendet werden. Dafür ist man auch bereit, für Taine nach einem Umfeld zu suchen, in dem er diese Fähigkeiten entfalten, aber möglichst wenig Schaden anrichten kann. Taine ist damit auch ein gutes Beispiel für die Personalentscheidungen zwangsläufig innewohnende Kontingenz. Ob sich eine Personalentscheidung schlussendlich als »richtig« erweisen wird, ob die Kandidaten oder Kandidatinnen die in sie gesetzten Erwartungen bis zum Schluss erfüllen werden, ist niemals mit absoluter Sicherheit vorauszusagen. Im Fall Taines wird die erste Personalentscheidung mit seiner Aufnahme an die ENS getroffen, die gleichzeitig den ersten Schritt einer Karriere in der Instruction publique bedeutet. Dort erfüllt Taine alle in ihn gesetzten Erwartungen, die Entscheidung, ihn an der ENS aufzunehmen, scheint sich also als gut zu erweisen. Die Vorfälle bei der Agrégation verdeutlichen den Entscheidenden jedoch, dass es zu diesem Zeitpunkt nicht »richtig« wäre, Taine eine weitere Karrierestufe erklimmen zu lassen, lässt sie

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172 Annika Klein aber gleichzeitig glauben, dass eine Modifikation seines Verhaltens noch möglich ist. Die Erwartungen, dass Taine zu dieser Verhaltensänderung bereit sein würde, erfüllen sich jedoch ebenfalls nicht. Schließlich macht der Fall Taine das Zusammenspiel von Transparenz und Intransparenz im System der Concours deutlich. Die Prüfungsregeln sind vorher bekannt, die Prüfungen sind zumindest teilweise öffentlich, Ranglisten und Prüfungsthemen sind üblicherweise für die Beteiligten einsehbar. Aber das bildet nur eine Seite des Auswahlprozesses ab. Erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten sind durch Examina überprüfbar, die Komponente »Eignung« lässt sich dagegen kaum in Prüfungsszenarien einbinden. Das Ministerium muss seinen Lehrern vertrauen können, aber was dieses Vertrauen genau begründet, welche politischen oder moralischen Positionen vertreten werden sollen, ist stark kontextabhängig. Obwohl sich die Bewertung der Eignung aber weniger »sauber« in Notenpunkte und Ranglistenplätze fassen lässt, als das beispielsweise bei den Lateinkenntnissen der Kandidaten der Fall ist, fällt sie keineswegs willkürlich aus. Portalis’ Bericht erläutert umfassend, warum die Kommission Taines Positionen als problematisch erachtet hat. Weshalb wird der Bericht also nicht veröffentlicht, zumal man damit auch die offensichtlich brodelnde Gerüchteküche zum Schweigen hätte bringen können? Vielleicht, weil der Bericht wirklich nicht fertig wird, bevor man ohnehin weitreichende Veränderungen im gesamten Bildungssystem beschlossen hatte. Vielleicht aber auch, so zumindest die Einschätzung des Abbé Noiret gegenüber de Suckau,35 weil man seitens des Ministeriums die genauen Gründe der Ablehnung nicht publik machen wolle und die Schuld lieber implizit Taine und der ENS zuweise. Folgt man dieser These, so hätte eine Veröffentlichung des Berichtes vielleicht nicht nur Zweifel an der Einzelentscheidung im Fall Taine geschürt, sondern auch Zweifel an der Transparenz und der Meritokratie des Wettbewerbes und damit letztlich an seiner Legitimität. Gabriel Monod, dem Portalis’ Bericht ja nicht vorlag, spekuliert, die Ereignisse bei der Agrégation 1851 hätten entscheidend zur Abschaffung des Concours ab 1852 beigetragen.36 Das tatsächliche Gewicht des Falles Taine für die Umgestaltung der Instruction publique, die ja weit über den 35 »Ce qui empêche la publication du rapport [de M. Portalis], pensait-il, c’est le désaccord des membres du bureau sur les motifs de ton exclusion; et le désir de laisser tomber [dans l’oubli] un blâme injuste tombé sur toi et sur l’enseignement philosophique de l’École«, vgl. Taine, Vie et correspondance de jeunesse, S. 129, Anm. 36 Monod, Renan, Taine, S. 73.

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Concours ­d’agrégation de philosophie hinausgeht, ist auf Grund der Quellenlage schwer zu beurteilen, es scheint aber zumindest plausibel, dass er den Akteuren im Ministerium die Gefahren eines Systems, in dem akademisch brillante, aber nicht zwangsläufig »vertrauenswürdige« Kandidaten nur schwer zu stoppen sind, noch einmal besonders deutlich vor Augen führt. Und was wird nach 1851 aus Hippolyte Taine? Taine tritt nie wieder zum Concours der Agrégation an.37 1852 lässt er sich vom Schuldienst beurlauben und reicht 1853 seine Dissertation über die Fabeln La Fontaines ein.38 Die Dissertation stellt die letzte Etappe von Taines universitärer Karriere dar, er macht sich in den folgenden Jahren vor allem einen Namen als Schriftsteller. Taine schreibt für bedeutende Pariser Zeitschriften und publiziert Bücher über englische Literaturgeschichte und die Entstehung des modernen Frankreichs.39 Er lehrt an verschiedenen Hochschulen, kehrt jedoch nie in den regulären Schulbetrieb zurück. 1878 wird Taine in die Académie française aufgenommen, erreicht damit also gleichsam den Gipfel einer französischen Intellektuellenkarriere. Wie es üblich ist, hält Albert Sorel, der nach Taines Tod 1893 im Sessel 25 Platz nimmt, die Laudatio auf seinen Vorgänger: »Er hat sein Leben – und welch ein Leben voller fruchtbarer und verbissener Arbeit! – dem Versuch gewidmet, die Ideen, die er spontan in seiner Jugend gefasst hatte, zu beweisen.« Taine sei ein Vorbild gewesen für alle, die »für die Wissenschaft und für die Wahrheit« leben wollten.40 Étienne Vacherots Einschätzung hat sich damit zumindest zur Hälfte bewahrheitet, Taine ist vielleicht kein hervorragender Professor geworden – zumindest nicht im Schuldienst –, aber sicherlich ein großer Gelehrter.

37 Der Concours der Agrégation und die Philosophie als eigenständiges Fach werden erst 1868 unter Minister Victor Duruy wieder eingerichtet, vgl. Chervel, Histoire de l’agrégation, S. 150. 38 Vgl. Hippolyte Taine, La Fontaine et ses fables, Paris 1860. 39 Vgl. Hippolyte Taine, Histoire de la littérature anglaise, Paris 1864 ; ders., Les origines de la France contemporaine, Paris 1876–1894. 40 Albert Sorel, Discours de réception d’Albert Sorel, 1895, http://www.academie-francaise.fr/ discours-de-reception-dalbert-sorel: »Il a consacré sa vie  – et quelle vie de travail fécond et acharné – à vérifier et à prouver les idées qu’il avait conçues spontanément dans sa jeunesse. […] enfin il a donné, par l’admirable tenue de son existence, un modèle de l’art de vivre, à qui se propose de vivre pour la science et pour la vérité«.

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Das Alter des Surendranath ­Banerjea – Von der Schwierigkeit der (Un-)Gleichheit Andreas Fahrmeir Vom 16. März bis zum 1. April 1869 hatte Surendranath Banerjea viel zu tun. An acht Tagen verbrachte er die Stunden zwischen 10 und 13 Uhr sowie zwischen 15 und 18 Uhr in Prüfungen. Es ging um englische Geschichte und Literatur, Mathematik, lateinische Sprache und Literatur, Sanskrit, Naturwissenschaften und moralische Wissenschaften. Er konnte etwa seine Gedanken über die Frage, warum es kein englisches Nibelungenlied gab, obgleich die Engländer doch eine »teutonische Rasse« waren, zu Papier bringen, oder der Aufforderung folgen, anhand englischer Beispiele die Aussage, der »Glaube einer Epoche sei der Aberglaube der nächsten« zu belegen. Er konnte seine Kenntnisse der Lage der arbeitenden Klassen unter Heinrich VIII., der Gesetze und Prozesse zum Hochverrat oder der Feldzüge des Herzogs von Wellington dokumentieren. Er musste aus dem Lateinischen und ins Lateinische übersetzen und komplexe mathematische Gleichungen vereinfachen oder lösen, naturwissenschaftliche Geräte und Formeln beschreiben und auf Sanskrit Konversation betreiben. Ein weiterer Teil der Prüfung war ein längerer englischer Aufsatz zu einem vorgegebenen Thema. Zur Wahl standen eine Abhandlung über die Pflichten der englischen Krone gegenüber den von ihr abhängigen »Nationalitäten und Rassen«, über die Vor- und Nachteile der normannischen Eroberung oder über den relativen Ruhm des Rhetors und des Dichters.1 Um diese Prüfungserfahrung zu machen, die einigen Beobachtern als so anstrengend galt, dass sie zumindest vorrübergehende körperliche Beeinträch-

1 Die Angaben zur Prüfung von 1869 stammen aus Fourteenth Report of Her Majesty’s Civil Service Commissioners; Together With Appendices, London 1869, ab S. 310.

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tigungen zu diagnostizieren glaubten,2 war Banerjea extra aus Indien angereist. Ziel der Reise war, zwei Jahre später mit einem Amt nach Indien zurückzukehren, um das man sich nur in London bewerben konnte: Den Männern, die sich bei diesem Examen als die Besten erwiesen und die zwei Jahre später weitere Prüfungen bestanden, winkte eine lebenslange Anstellung im Indian ­Civil Service, dem exklusiven Zirkel von Verwaltungsbeamten, die das Schicksal des Subkontinents in Händen hielten und die dafür fürstlich entlohnt wurden. Bislang war es nur einem Mann aus Indien, dessen Vater nicht seinerseits der britischen Verwaltung angehörte, gelungen, dieses Ziel zu erreichen; Banerjea ­hoffte, einer der Nächsten sein zu können. Leider ist nicht überliefert, welche Fragen er auswählte, ob er also etwas zur britischen Herrschaft in Indien sagte oder ob er sich eher auf politisch unverfänglichere Themen konzentrierte. Dokumentiert ist nur das Ergebnis, und das war durchaus positiv: Unter den 356 Kandidaten des Jahres kam er an 38. Stelle und war damit dank seiner hervorstechenden Leistungen in Englisch, Latein, Sanskrit und moralischen Wissenschaften sowie zusätzlicher Punkte in Mathematik und Naturwissenschaften unter den 54 Auserwählten – zunächst.3 In der später im Jahr 1869 publizierten Liste der Ergebnisse stand in der Tabelle statt seines Namens nur ein Stern, beim Alter ein Strich.4 Etwas hatte den Traum des jungen Mannes, in den seine Familie gewiss erhebliche Summen investiert hatte, zunichte gemacht – vorerst. Was stand also hinter dem Wettbewerb, der Altersfrage und dem Ergebnis? Und was hatte die Fähigkeit, Formulierungen wie »In Ostia hatte er (Marius) ein Fahrzeug bestiegen, um nach Africa sich einzuschiffen« ins Englische zu übersetzen (der in Fraktur gedruckte Text war Teil der Prüfungsaufgabe im Fach Deutsch) überhaupt mit der Frage zu tun, ob man sich für die indische Administration eignete?

2 Thirty-Third Report of Her Majesty’s Civil Service Commissioners; Together With Appendix, London 1889, S. xii, xv. 3 Pall Mall Gazette, 3. Mai 1869, S. 9. 4 Fourteenth Report, S. 450. Die Identifikation ergibt sich aus der Gesamtpunktzahl, die nur einmal vorkam.

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Unbekannte Talente – und wie man sie (nicht) findet Eine der Eigenheiten der Regierungszeit Königin Viktorias war eine wachsende Begeisterung für Prüfungswettbewerbe. Das für spezialisiertere Bildungsangebote im Kern privatwirtschaftlich oder über gemeinnützige Stiftungen organisierte Schulwesen funktionierte zwar insgesamt recht gut, aber es verfügte nicht über standardisierte, benotete Abschlüsse, die Auskunft über bestimmte Kenntnisse und Fähigkeiten gegeben und den Vergleich zwischen Kandidaten ermöglicht hätten. An den Universitäten gab es zwar normierte Abschlüsse, aber für diese setzte sich eine vergleichende Benotung zunächst nur in Cambridge durch. Arbeitgeber, die auf der Suche nach Beschäftigten mit bestimmten intellektuellen Fähigkeiten waren und sich nicht die Mühe machen wollten, diese selbst zu bewerten, waren also auf ihre Kenntnis der Ausbildungsstätten verwiesen, von deren Lehrenden sie informelle Einschätzungen und Empfehlungen erhoffen konnten. Ein Angebot untereinander vergleichbarer Prüfungsergebnisse stand erst seit 1857 zur Verfügung, als die Universität Oxford damit begann, gegen Gebühr lokale Prüfungen anzubieten, in denen die Leistungen von männlichen Jugendlichen zwischen 15 und 18 Jahren in bestimmten Fächern bewertet wurden.5 Sehr große Arbeitgeber hatten freilich bereits vorher die Option, eine Schule zu errichten, die ihren Bedürfnissen entsprach und die es erlaubte, Ausbildung und Bewertung zu kombinieren; die East India Company, bis 1857 die staatliche Aktiengesellschaft, die British-Indien verwaltete, gründete zu diesem Zweck 1806 das East India College. Nach Hailey in Hertfordshire, wo es sich befand, war es auch als Haileybury College bekannt. Es war ein Internat für junge Männer, das sich auf Fächer konzentrierte, die für künftige writers, wie die höheren Verwaltungsbeamten der Company hießen, relevant waren; zu dem üblichen Kanon an Schulfächern kamen also indische Sprachen, Kenntnisse des indischen Rechtssystems und der indischen Geschichte. Der Zugang zu dieser Bildungseinrichtung erfolgte im Kern durch Patro­ nage; Plätze wurden durch Direktoren der East India Company an die Söhne von Freunden und Bekannten vergeben, wobei allerdings unterstellt werden 5 Vgl. Andreas Fahrmeir, Profitabel prüfen. Examination boards als Unternehmen, in: Moderner Kapitalismus. Wirtschafts- und Unternehmenshistorische Beiträge, hgg. von Jan-Otmar Hesse, Christian Kleinschmidt, Roman Köster und Tim Schanetzky, Tübingen 2019, S. 125–140, hier S. 128–131.

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darf, dass die Eignung ebenfalls eine gewisse Rolle spielte: Allein aus finanziellen Gründen mussten die Patrone ja an fähigen Klienten interessiert sein. Allerdings geriet auch Haileybury College Mitte der 1850er-Jahre in den Sog einer Krise, die weite Bereiche des englischen öffentlichen Dienstes tangierte, weil er seinen Kritikern als grundlegend reformbedürftig galt.6 Ein Parlamentsbericht verwies dabei auf die fatalen Folgen, die Patronage als Auswahlprinzip zu zeitigen schien. Die Tatsache, dass die oberen Ämter in der Verwaltung jeweils durch »Freunde« der zuständigen Minister besetzt wurden, verhindere Karriereperspektiven für langjährige Mitarbeiter und mache den Dienst für ehrgeizige Personen prinzipiell unattraktiv. In Verbindung mit der Tatsache, dass die weniger interessanten, bescheideneren Einstiegsposten Geschenke für Klienten waren, führe dies dazu, dass in den Ministerien und Ämtern nur Personen landeten, die sich an anderer Stelle nicht bewährt hatten oder nicht bewähren konnten – eine Ansammlung fauler, kränklicher Nichtskönner also, die erwartungsvoll ihrer Pension, die den einzigen Vorteil dieser Posten darstellte, entgegensahen. Als Gegenmaßnahmen empfahlen die – besonders mit der indischen Verwaltung vertrauten – Reformer um Northcote und Trevelyan 1854 einen festen Karriereweg: Die Aussichten für Personen, die neu in den öffentlichen Dienst eintraten, dürften nicht durch Quereinsteiger gefährdet werden. Zudem solle die Eignung der Bewerber vor der Einstellung objektiv überprüft werden, und zwar durch ein theoretisches oder gegebenenfalls praktisches Examen in relevanten Fächern ebenso wie eine ärztliche Expertise über die Gesundheit, den Nachweis eines bestimmten Alters und eines guten Leumunds.7 Das Prinzip der Patronage wurde nicht völlig außer Kraft gesetzt, denn die Vorgesetzten durften weiterhin ihre Untergebenen aussuchen, indem sie sie nominierten. Die Nominierung führte aber nicht mehr unmittelbar zur Einstellung, sondern nur zur Zulassung zur Prüfung, deren Bestehen die Voraussetzung der Übernahme eines Postens mit Pensionsberechtigung war. Insgesamt zielten die Vorschläge darauf, die Qualität der Kandidaten zu erhöhen und die Kosten zu senken; die Altersschranke und die ärztliche Expertise zielten vor allem darauf, sicherzustellen, dass der Pensionierung möglichst viele Dienstjahre vorausgingen.

6 Callie Wilkinson, The East India College Debate and the Fashioning of Imperial Officials, 1806–1858, in: Historical Journal 60 (2017), S. 943–969. 7 Report on the Organisation of the Permanent Civil Service, Together With a Letter from the Reverend B. Jowett, London 1854.

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178 Andreas Fahrmeir Im indischen öffentlichen Dienst, der 1858 mit der Auflösung der East India Company unter direkte staatliche Kontrolle geriet, war das zu diesem Zeitpunkt schon selbstverständlich. Seit 1853 bewarben sich Kandidaten in einem wettbewerblichen Verfahren, begannen  – wenn sie dort erfolgreich waren  – eine spezialisierte Ausbildung und wurden nach einer abschließenden Kompetenzprüfung, die spätestens nach zwei Jahren erfolgen sollte, nach Indien entsandt. Die Ausbildung zwischen Auswahlwettbewerb und Abschlussprüfung fand zunächst noch in Haileybury statt, nach der Schließung des Colleges 1858 war es in das Belieben der ausgewählten Kandidaten gestellt, ob sie sich alleine, mit Tutoren oder an Universitäten vorbereiten wollten. Ob und wie lange Universitäten die Gelegenheit haben sollten, die bereits mit einem Stipendium ausgestatteten Anwärter auf einen Posten in der East India Company als zahlende Kundschaft zu rekrutieren, prägte fortan Debatten über die Frage, bis zu welchem Alter der Eingangswettbewerb absolviert sein musste. War das Alter zu niedrig, sodass die Abschlussprüfung bereits absolviert sein musste, bevor man an einer Universität aufgenommen werden konnte, gingen die Universitäten leer aus; war es hoch genug, um den vorherigen Erwerb eines Universitätsabschlusses zu ermöglichen, musste die indische Administration auf Arbeitszeit verzichten. Der naheliegende Kompromiss, die Vorbereitung auf das Abschlussexamen an Universitäten zu ermöglichen, setzte wiederum voraus, dass Universitäten Fächer einrichteten, in denen – wegen der Kürze der Vorbereitungszeit – kaum ein regulärer Abschluss erworben werden konnte.8 Für den englischen öffentlichen Dienst wurden die Vorschläge der Northcote-Trevelyan Kommission 1855 übernommen. Der neuen Kompetenzprüfungsbehörde, der Civil Service Commission9, wurde fortan auch die Organisation der Prüfungen für den Indian Civil Service übertragen; deren Format erschien den Behördenleitern als so einleuchtend, dass sie sich dafür einsetzten, das Modell auch für Posten in England zu übernehmen, indem die Prüfung bereits nominierter Kandidaten oder ein eingeschränkter Wettbewerb zwischen zwei oder drei nominierten Bewerbern durch einen offenen Wettbewerb ersetzt wurde, der nicht mehr auf die Besetzung spezifischer Posten, son8 Twentieth Report of Her Majesty’s Civil Service Commissioners; Together With A ­ ppendices, London 1876, S. 474 f.; Twenty-Fourth Report of Her Majesty’s Civil Service Commissioners; ­Together With Appendices, London 1880, S. 561. 9 Richard A. Chapman, The Civil Service Commission 1855–1991. A Bureau Biography, London 2004.

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dern auf die Rekrutierung von Personen zielte, die einem bestimmten Anforderungsprofil entsprachen. 1869, als sich Banerjea am »offenen Wettbewerb« für den indischen öffentlichen Dienst beteiligte, war dieses Ziel fast erreicht: Ab 1870 gab es offene Wettbewerbe auch für den Eintritt in den Karriereweg, der zu Leitungsposten des englischen öffentlichen Dienstes führen würde.10 Das Prinzip der Wettbewerbe war immer dasselbe: Den Kandidaten wurden Fragen aus einer Reihe von Schulfächern präsentiert, die sie überwiegend schriftlich beantworten mussten, wobei den Personen, die die Arbeiten korrigierten, die Identität der Wettbewerber nicht bekannt war; sie bewerteten Prüfungsnummern. Die Leistungen wurden von Prüfern bewertet, deren Namen bekannt waren (im Fall des Indian Civil Service waren das zunächst ehemalige Dozenten des East India College, die ihre Pensionen unter der Auflage erhalten hatten, solche Prüfungen kostenlos abzunehmen), und die zugleich für die Qualität der Bewertung bürgten. Für jedes Fach war eine Maximalpunktzahl festgelegt. Das Urteil bestand in einer Zahl, die angab, in welchem Verhältnis die erbrachte Leistung zu dem stand, was für möglich gehalten wurde; eine qualitative Rückmeldung wie im französischen Fall gab es nicht. In dem Wettbewerb für den Indian Civil Service stand es den Kandidaten frei, in wie vielen Fächern sie antreten wollten. Die Summe der in den gewählten Fächern erzielten Punkte bildete die Gesamtbewertung, und die Rangfolge spiegelte die Gesamtnoten in absteigender Reihenfolge. Ein gutes Ergebnis belegte somit entweder besonders breite oder besonders intensive Kenntnisse; um zu verhindern, dass besonders dürftige Kenntnisse belohnt wurden, wurden sehr niedrige Ergebnisse in einzelnen Fächern nicht gezählt. Die Gewichtung der Disziplinen war unterschiedlich: Der Aufsatz und die Fragen zur englischen Geschichte und Literatur konnten zusammen 1500 Punkte einbringen; das war ebenso viel, wie durch Latein und Griechisch insgesamt zu gewinnen war. Mathematik war maximal 1250 Punkte, Naturwissenschaften 1000 Punkte wert, moderne Fremdsprachen wie Deutsch, Französisch und Italienisch dagegen nur 350. Allerdings waren diese Werte rein theoretisch, und zwar nicht nur, weil die Prüfer in den Geisteswissenschaften sicher immer glaubten, selbst einen viel besseren Aufsatz schreiben zu können als den, der ihnen vorgelegt wurde. Auch im Fach Mathematik war die höchste 1869 erzielte Wertung 10 Sixteenth Report of Her Majesty’s Civil Service Commissioners; Together With Appendices, London 1871, S. 3–14.

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180 Andreas Fahrmeir 797 der nominellen 1250 Punkte (der Kandidat kam, da er sonst nur noch wenige Punkte in Naturwissenschaften und englischer Geschichte holte, nur auf Rang 86); von den theoretisch insgesamt erreichbaren 7875 Punkten erzielte der Spitzenreiter 1288, Banerjea 1125. Was war aber nun das Ziel eines solchen, mit erheblichem Frustrationspotenzial verbundenen Wettbewerbs? Schließlich war die zentrale Einsicht, dass alle Kandidaten deutlich schlechter waren als der theoretische Idealfall eines Jugendlichen, der sich in vielen Disziplinen auskannte und dazu noch sprachbegabt war. Liest man die Jahr um Jahr in den Berichten der Civil Service Commission vorgebrachten Begründungen für die Überlegenheit des neuen, vor allem mit Blick auf England durchaus umstrittenen Systems, so wird deutlich, dass die Prüfung nicht eigentlich auf die Inhalte zielte, sondern etwas anderes quantifizieren sollte, nämlich »industry and intelligence«, Fleiß und Intelligenz.11 Die Fähigkeit, bei der Prüfung gute Leistungen abzurufen, gründe auf der Fähigkeit und der Bereitschaft, sich über längere Zeit intensiv mit einem Thema zu beschäftigen und profunde, und nicht nur oberflächliche, Kenntnisse des Gegenstands zu erwerben. Es gehe gar nicht darum, auf welchen Gegenstandsbereich sich das Interesse richte; entscheidend sei das durch die erworbenen Fähigkeiten dokumentierte Talent, sich in neue Themenbereiche umfassend einzuarbeiten – und zwar besser als andere Bewerber. Es war nicht das Ziel, für eine Prüfung zu büffeln; daher gab es wenige Fragen, die Wissen abfragen sollten, sondern es ging darum, Transferleistungen zu erzwingen. Gesucht waren also nicht Personen mit spezialisiertem Wissen, sondern solche, die geistig wendig waren. Ob die Prognose zutraf, wurde in den folgenden zwei Jahren überprüft, in denen sich die erfolgreichen Kandidaten neue Themen erschließen mussten, für die ihnen die Lehrbücher bereits mit der Einladung zum offenen Wettbewerb bekannt gemacht wurden. Der Wettbewerb war daher so etwas wie eine Mischung aus Konzentrationsübung, Ausarbeitung einer Fallstudie und Intelligenztest – Elemente, die sich auch heute in Assessmentcenter-Verfahren finden. Ergebnis der Rangfolge war eine Prognose, die im Abschlussexamen überprüft wurde und sich meistens als zutreffend erwies: Die Tatsache, dass sich die Kandidaten bei dieser allgemeinen, unspezifischen Prüfung hervortaten, sagte 11 Sixth Report of Her Majesty’s Civil Service Commissioners; Together With Appendices, London 1861, S. xix.

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in der Tat voraus, dass sie auch bei den spezifischen Prüfungen reüssieren würden – obgleich diese stark auf Kenntnisse in Sprachen, Geschichte und Recht Indiens bezogen waren und damit Themengebiete und Methoden umfassten, die man im Auswahlwettbewerb durch eine Konzentration auf Mathematik und Naturwissenschaften vermeiden konnte. Auch die Wahl der angebotenen Prüfungsfächer ergab sich nicht aus ihren Inhalten, sondern aus ihrer Verfügbarkeit: Englisch, Geschichte, Mathematik, Naturwissenschaften, Latein und Griechisch, Deutsch, Französisch und Italienisch konnte man, so das Argument, überall (zumindest überall in der englischsprachigen Welt) lernen, und zwar an jeder besseren Schule oder im Selbststudium. Das stellte sicher, dass die Zugangsvoraussetzungen für alle im Prinzip gleich waren – und daher die Prüfung wirklich Talent, nicht die Qualität der besuchten Schule, ermittelte. Konzediert wurde allenfalls, dass die klassischen Sprachen Griechisch und Latein kulturell spezifisch waren. Um Kandidaten aus Indien nicht prinzipiell zu diskriminieren, wurden daher Sanskrit und Arabisch als Alternativen angeboten – allerdings nur wie moderne Fremdsprachen gewichtet, sodass es sich trotzdem mehr auszahlen konnte, auf den westlichen Kanon zu setzen. Das Wettbewerbssystem war somit offen – die Listen, die den sozialen und regionalen Hintergrund der Kandidaten aufschlüsselten, indem sie Schulen und die Berufe der Väter nannten, legen in der Tat die Annahme nahe, dass alle Angehörigen der oberen Mittelschichten, die sich die entsprechende Bildung leisten konnten, zumindest eine Chance hatten. Allerdings hatte das System erkennbar geografische Grenzen: Anders als bei den »local examinations«, bei denen Prüfungen dezentral abgelegt, aber konsolidiert korrigiert wurden, sodass sie alsbald weltweit angeboten werden konnten, sollte bei den Wettbewerben für die indische Verwaltung Gleichheit dadurch hergestellt werden, dass dieselben Prüfer dieselben Kandidaten zur gleichen Zeit vergleichend bewerteten. Da einige Prüfungsfächer mündliche Teile hatten, war das nur möglich, wenn sich alle Kandidaten zur gleichen Zeit am gleichen Ort befanden. Eine Anregung der Regierung Neuseelands, den dortigen Interessenten die Reise nach England zu ersparen und eine Prüfung vor Ort zu ermöglichen, wurde beispielsweise 1887 mit diesem Argument zurückgewiesen.12 Somit wuchs der Aufwand mit wachsendem Abstand 12 Thirty-Second Report of Her Majesty’s Civil Service Commissioners; Together With Appendix, London 1888, S. 15–17.

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182 Andreas Fahrmeir vom Prüfungsort, was nicht nur indische Kandidaten, zumal solche ohne familiäre Verbindungen nach England, benachteiligte, sondern auch Anwärter etwa aus Australien oder Neuseeland, die beklagten, dass ihr möglicher Tätigkeitsort Indien deutlich näher liege als ihr möglicher Prüfungsort London. Wenn man in der Lage war, diese Distanz zu überwinden, ließ sich eine Teilnahme ermöglichen, und die anonyme Korrektur mochte immerhin einige Optionen für Diskriminierung ausschließen. Freilich schuf sie ihrerseits Probleme.

Identitätsfragen Ein anonymes Examen hat den Vorteil der – zumindest scheinbaren – Objektivität: Persönliche Sympathien oder Antipathien können das Ergebnis nicht beeinflussen. Es setzt aber, da die Noten ja am Ende doch Personen zugeordnet werden, eine Identitätskontrolle voraus. Nun mag es unwahrscheinlich sein, dass eine Person sich einem Examen aussetzt, ohne von den Ergebnissen profitieren zu wollen; auf der anderen Seite war dieses Wettbewerbsmodell immer wieder von Korruptionsvorwürfen begleitet  – es bestand nicht nur der Verdacht, dass einzelne Kandidaten versuchen könnten zu betrügen; die Entstehung eines umfangreichen Coaching-Programms, in dem in Chiffre-Anzeigen in großen Tageszeitungen Vorbereitungskurse angeboten wurden, die sich auf frühere Erfahrungen mit den Wettbewerben beriefen, begleiteten das System sehr bald. Dabei war unklar, ob die Werbung, man habe bereits gute Resultate erzielt, den Tatsachen entsprach; allerdings wurden solche Repetitoren offenbar häufig genutzt und sie galten auch den Betreibern der Wettbewerbe insgesamt als erfolgreich und empfehlenswert.13 Die Existenz solcher Dienstleistungen verwies nicht nur auf den kommerziellen Aspekt dieser Wettbewerbe: Prüfer profitierten nicht nur durch die Prüfungsgebühren, die ein bedeutendes Einkommen darstellen konnten,14 sondern auch durch den Verkauf ihrer Bücher zum Thema und gegebenenfalls durch das Angebot von Kursen, die sich wiederum mit der Vermietung von Zimmern oder der Bereitstellung von Verpflegung kombinieren ließen. Es zog auch die These in Zweifel, dass die 13 Twentieth Report of Her Majesty’s Civil Service Commissioners; Together With Appendices, London 1876, S. 484–513. 14 Fahrmeir, Profitabel prüfen, S. 136.

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Wettbewerbe etwas verglichen, was sich nicht antrainieren ließ: Sollten die Absolventen der Vorbereitungskurse wirklich besser abschneiden als ihre Konkurrenten, dann war das scheinbar so neutrale und objektive Verfahren eben doch an einer bestimmten Bildungsbiografie orientiert, die sich nicht, oder nicht allein, durch Talent kompensieren ließ. Auch das Insistieren auf einer Konkurrenz innerhalb derselben Altersgruppe sprach dafür, dass es dann doch nicht nur auf Talent ankommen sollte; das Pensionsargument rechtfertigte ja streng genommen allenfalls eine Ober-, nicht aber eine Untergrenze für die Teilnahme am Wettbewerb. Für solche Bedenken spricht vielleicht auch, dass es zwar möglich war, sich im Vorfeld über Format und Inhalt der Prüfungen zu informieren; als Banerjea sich dem Wettbewerb stellte, wurden die Fragen nach dessen Ende publiziert. Was allerdings geheim blieb – und ein Jahr nach dem Wettbewerb durch Verkauf an Papierhersteller vernichtet wurde – waren sowohl die Antworten als auch die Korrekturen und Bewertungen;15 daher ist nicht möglich, zu sagen, welche Fragen er auswählte und wie diese im Einzelnen bewertet wurden. Die Teilnehmer erhielten als Rückmeldung immer nur die erzielten Punktzahlen und ihren Platz in der Rangfolge, keine Begründung. Was eine gute Antwort war und was diese von einer besseren unterschied, ließ sich somit allenfalls erahnen; insofern war das Wissen von Prüfungsexperten in der Tat entscheidend, aber es bleibt unklar, wie sie es erwarben. Es ist vielleicht nicht völlig überraschend, dass die Prüfungsbehörde wenig Interesse daran zeigte, solchen Fragen nachzugehen; dadurch fiel es ihr aber auch schwer, von außen kommender Kritik mehr entgegenzusetzen als den Verweis auf die Logik des Verfahrens. Dagegen ging sie mit großer Leidenschaft möglichen Verstößen gegen die Regeln nach. Denn es war zwar unwahrscheinlich, aber durchaus denkbar, dass das Verfahren nicht nur durch zusätzliches Training – die Auswahl des richtigen Tutors konnte man ja gegebenenfalls als Ausweis einer gewissen pragmatischen Intelligenz deuten – sondern auch durch direkten Betrug manipuliert wurde. Denn es gab in der Tat gewisse Sollbruchstellen: Die Übereinstimmung zwischen der Identität der Kandidaten und der Person, über deren Leumund und Charakter Zeugnisse vorlagen, ließ sich beispielsweise nur durch den Vergleich zwischen der Handschrift auf Prüfungsbögen und den begleitend eingereichten Formularen ­belegen.16 In diesem 15 The National Archives, Kew (TNA), CSC 8/4, S. 71 f. 16 TNA, CSC 3/138 Prevention of personation.

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184 Andreas Fahrmeir Bereich war bei der Prüfungsbehörde ein erhebliches Misstrauen vorhanden: Hatte das System der Patronage darunter gelitten, dass zu viele persönliche Beziehungen bestanden, erwies sich nun die Tatsache, dass es zu wenige gab, als mögliches Problem. Schriftliche Nachweise sollten dagegen helfen – aber diese basierten wiederum auf Treu und Glauben, da notwendigerweise die Zahl der Respektspersonen (Ärzte, Geistliche, gegebenenfalls Lehrer), die aus intimer Kenntnis über den Leumund eines Kandidaten berichten sollten, der nicht nur in England, sondern irgendwo im Empire, in den USA oder in Europa zur Schule gegangen sein konnte, sehr groß sein musste. Und genau hier lag das Problem Banerjeas: Die Prüfungsbehörde warf ihm vor, unter einer falschen Identität angetreten zu sein und daher gegen die aus der Sicht der Kommission aus Gründen der Gleichberechtigung so wichtige Altersregel verstoßen zu haben. In dem Jahr, in dem Banerjea antrat, war zum Wettbewerb nur zugelassen, wer nicht jünger als 17 und nicht älter als 20 war, und zwar genau am 1. März 1869. Das klingt nach einer einigermaßen objektiven Angabe; allerdings war der Nachweis nicht immer ganz einfach. In England und Wales wurden Geburten, Ehen und Todesfälle seit 1838 zentral erfasst; dort geborene Kandidaten konnten also inzwischen eine offizielle Urkunde vorlegen. In Irland gab es solche Urkunden nur für Geburten, die nach dem 1. Januar 1864 stattgefunden hatten, sodass andere Quellen als Belege dienen mussten: Auszüge aus Kirchenbüchern, Familienbibeln, in denen Geburten notiert worden waren, gegebenenfalls Erinnerungen an bestimmte Ereignisse, die zum Zeitpunkt der Geburt passiert waren. Banerjea war am 10. November 1848 geboren wurden, also im März 1869 noch jünger als 20 Jahre. Allerdings kamen der Kommission daran Zweifel: Banerjea hatte möglicherweise Bildungseinrichtungen besucht, die ein höheres Alter voraussetzten; zudem erwähnte ein Dokument indirekt eine Geburt im Februar 1848. Banerjea wurde – ebenso wie ein weiterer Mitbewerber namens Thakur – mit dem Betrugsvorwurf konfrontiert, sein Verweis auf eine andere Datierung in Indien schien der Kommission nicht glaubhaft, entsprechend wurde er disqualifiziert und aus der namentlichen Liste der erfolgreichen Kandidaten gestrichen. Wäre Banerjea ein durchschnittlicher Bewerber gewesen, so hätte die Geschichte damit ein Ende gehabt. Jedoch verfügte er über die materiellen Ressourcen und gesellschaftlichen Kontakte, gegen diese Entscheidung vorzugehen. Er und seine Anwälte konnten ein Gericht dazu bewegen, der Kommission

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aufzugeben, sich mit dem Fall erneut auseinanderzusetzen; im Juli 1870 wurde auch im Parlament gefragt, ob die Civil Service Commission die Altersfrage gezielt nutze, um »asiatische« Kandidaten vom Wettbewerb auszuschließen.17 Zu diesem Zeitpunkt hatte die Kommission ihre Position allerdings schon geräumt: Nach rund 600 Blatt Argumenten, Prozessakten und Korrespondenz war sie dann doch davon zu überzeugen, dass es in der Tat eine konkurrierende indische Berechnung des Geburtsdatums gab, nämlich nach dem Datum der weiblichen Empfängnis; daher gab es nicht zwei Kandidaten mit unterschiedlichen Geburtsdaten, die irgendwo die Identitäten getauscht hatten, auch keinen Kandidaten, der sich jünger gemacht hatte, als er war, sondern zwei Formen der Beschreibung des Alters derselben Person, die damit nach den Regeln formal qualifiziert war.18

Surendranath Banerjea (1848–1925) 17 The Times, 29. Juli 1870, S. 7, Sp. 2. 18 TNA, CSC 11/14 (3 Bände); TNA, CSC 8/4, S. 114–124.

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186 Andreas Fahrmeir Entsprechend durfte Banerjea sich weiter auf die Abschlussprüfung vorbereiten, die vom 16. Mai bis 6. Juni 1871 stattfand. Gegenstand der Prüfung war vor allem Recht (maximal 1250 Punkte), Geschichte und Geografie Indiens (350 Punkte), politische Ökonomie (350 Punkte) sowie mindestens zwei indische Sprachen (je 400 Punkte). Allein die Klausuren im Recht zogen sich über vier Tage hin; sie umfassten allgemeine Fragen ebenso wie Detailfragen zu Beweisrecht, zum hinduistischen und islamischen Recht sowie zu einzelnen indischen Gesetzen. Als Sprachen wählte Banerjea Hindustani und Bengali. Wie zu erwarten war, bestand er – wie alle anderen Kandidaten – die Prüfung; in seinem Jahrgang qualifizierten sich drei weitere Inder in London für den Verwaltungsdienst in ihrer Heimat. In der zweiten Prüfung verbesserte Banerjea seinen Rang von 38 auf 20. Zugeordnet wurde er seiner Heimatprovinz Bengal.19

Eine erfolgreiche Personalentscheidung? Allerdings war das nicht der Beginn einer erfolgreichen Karriere, zumindest nicht in dem Sinne, wie sie geplant gewesen war. Vor Ort wurden Banerjea schon 1874 Unregelmäßigkeiten vorgeworfen, deren Ausmaß unklar blieb; sie waren offenbar weder so eindeutig noch so schwerwiegend, dass es keine ­Alternative zur Amtsenthebung gegeben hätte. Trotzdem verlor Banerjea seinen Posten, und er sah sich fortan gezwungen, seinen Unterhalt als Professor für englische Literatur zu verdienen. Mit der Zeit entwickelte er sich zu einem der führenden Redner der indischen Unabhängigkeitsbewegung – in den Worten der Times hatte der Amtsträger, der Banerjea aus dem Amt warf, ihr »its greatest platform asset for more than a generation«, ihren begnadetsten Redner, zur Verfügung gestellt.20 Diese Personalentscheidung war damit zum mindesten ambivalent. Offenbar war der Wettbewerb in der Tat gut darin, Talente, sogar Ausnahmetalente, zu identifizieren. Das Verfahren war aber – das machte die Erfahrung Banerjeas deutlich – weder so neutral noch so objektiv, wie es schien, da es manchen Kandidaten deutlich größere Hürden in den Weg legte, als es nötig war. Und 19 Sixteenth Report of Her Majesty’s Civil Service Commissioners; Together With Appendices, London 1871, ab S. 476. 20 The Times, 7. August 1925, S. 14, Sp. 1.

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es wurde offenbar auch nicht so sehr wertgeschätzt, wie es seine Initiatoren in London vermuteten – sonst hätte man sich vermutlich mehr Mühe gegeben, die mühsam identifizierten Talente nicht gleich wieder zu verlieren. Man kann darin unterschiedliche Dimensionen der Personalentscheidungen sehen, die (nicht) gut funktionierten. Auf der einen Seite waren die meisten der auf dem Weg des Wettbewerbs ausgewählten Personen im Sinne sowohl der Erfinder des Verfahrens als auch der Vorgesetzten vor Ort erfolgreich; insofern war Banerjea eine Ausnahme. Auf der anderen Seite war es zweifellos eine Eigenart, möglicherweise auch eine Schwäche, dass das Verfahren den künftigen Vorgesetzten kein Mitspracherecht bei der Auswahl ihres Personals gab; das galt übrigens für den Indian Civil Service ganz genauso wie für den englischen öffentlichen Dienst nach 1870 oder das Verfahren für alle imperialen Verwaltungsposten, das sich nach 1900 kurzzeitig ergab: Nachdem die Entscheidung gefallen war, mussten sich beide Seiten aneinander gewöhnen. Das mochte dadurch erleichtert werden, dass man – solange das Vertrauen in das Verfahren bestand – tatsächlich glauben konnte, es mit den besten Köpfen zu tun zu haben; es wurde auch dadurch erleichtert, dass im Laufe der Zeit immer stärker betont wurde, Politik oder Ideologie dürften keine Rolle spielen, sodass man in Nordirland bewusst auch in der katholischen Presse annoncierte.21 Betont wurde auch, dass die Bewertung von Meinungen außen vor bleiben müsse: Die Prüfung sei ein Test, der gerade nicht nur die langweiligen Kandidaten bevorzugen sollte, die keine Meinungen hätten, an denen man sich reiben könne, und sie dürfe daher keineswegs zur Loyalitätsprüfung werden; somit könne man der indischen Regierung – so eine Auskunft aus dem Jahr 1926 – nichts darüber mitteilen, wie sich Kandidaten politisch geäußert hätten.22 Voraussetzung dafür, dass dieses Wissen überhaupt verfügbar war, war allerdings eine subtile Veränderung des Verfahrens, das nun allgemein mündlichen Interaktionen mehr Raum gewährte und sich dadurch – so zumindest skeptische Beobachter – mehr in Richtung einer Kooptation entwickelte, die vom Prinzip der strikten Objektivität abwich. Die Hoffnung, diese erreichen zu können, verlagerte sich nun mehr auf die zahlreicheren, daher leichter statistisch vergleichbaren Posten wie Typistinnen, für die komplexe Rechnungen angestellt wur21 TNA, CSC 3/28. 22 TNA, CSC 5/214, Brief der Civil Service Commission an den Under-Secretary of State for India, 15. Oktober 1926.

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188 Andreas Fahrmeir den, die die Differenzen zwischen den Bildungsangeboten in London und der Provinz ausgleichen sollten. Allerdings zeigte sich dort ein anderes Problem: Die vermutete Korrelation zwischen den Ergebnissen der »objektiven« Befähigungsprüfungen und der tatsächlichen Leistung erwies sich als schwach, und es deutete sich an, dass ähnliches für andere Prüfungen gelten könnte: Empirisch konnte 1936 nachgewiesen werden, dass die Korrekturen derselben Klausuren durch dieselben Prüfer zu anderen Zeiten zu völlig unterschiedlichen Noten führten,23 was den Übergang zu Auswahlgesprächen, die die Leistungsfeststellung eher den Universitäten und Schulen überließen und sich stärker auf Eignung konzentrierten, erleichterte. Im Rückblick war der Abschied von der ­Patronage und die Begeisterung für den Wettbewerb nur ein weiterer Schritt auf dem Weg zur nächsten Reform der Personalentscheidungen gewesen.

23 Philip Hartog und E. C. Rhodes, An Examination of Examinations, London 1936.

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Wer zahlt, schafft an? – ­Akademische Personal­ entscheidungen und ­wirtschaftliche Interessen Werner Plumpe

Einführung Personalentscheidungen1 fallen in der Regel in Organisationen, die selbst wiederum bestimmte Zwecke verfolgen oder zu deren Erfüllung speziell geschaffen wurden. Sie unterliegen damit einer doppelten Konditionierung, nämlich einerseits der mikropolitischen Auseinandersetzung der beteiligten Akteure innerhalb der Organisation, andererseits aber folgen sie ihrer jeweiligen Aufgabenlogik, der sie zumindest offen nicht widersprechen dürfen, soll ihre Legitimität unbezweifelt sein. Dass hier ein Konfliktpotenzial gegeben ist, das je nach Kon­ stellation erheblich sein kann, ist ebenso offenkundig wie die Tatsache, dass Konflikte im Grunde unvermeidlich sind, zumal dann, wenn für eine zu besetzende Stelle konkurrierende Bewerber existieren. Bei der Besetzung von Professuren an Universitäten ist Streit daher der zu erwartende Regelfall, zumal es eben nicht allein um die ohnehin nicht leichte Feststellung der jeweiligen akademischen Eignung geht, sondern Personalentscheidungen hier zugleich programmatische Selbstfestlegungen namentlich in der Forschung implizieren, die gegebenenfalls jahrzehntelange Auswirkungen haben können.2 Die schon an sich nicht einfache organisatorische Konstellation, immerhin sind die jeweiligen Fakultäten, die 1 Grundsätzlich Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, Wiesbaden 2000. 2 Einschlägig etwa Fred Becker, Akademisches Personalmanagement, Bd. 2: Berufungsverfahren, Personalbeschaffung und -auswahl an Hochschulen, Münster 2019 (Studienreihe Bildungs- und Wissenschaftsmanagement, 20).

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190 Werner Plumpe Universitätsspitze und die Ministerien als Aufsichts- und Letztentscheidungs­ instanz beteiligt, wird vor allem dann noch komplizierter, wenn an der Personalentscheidung weitere Interessenten direkt oder indirekt beteiligt sind, Interessenten, die sich von der Stellenbesetzung nicht nur entsprechende akademische Ergebnisse, sondern ganz konkret materielle Vorteile erhoffen, da die Verwertung wissenschaftlicher Forschungen unter Umständen eine materiell überaus attraktive Angelegenheit sein kann. Das ist spätestens seit der sogenannten wissenschaftlich-technischen Revolution der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Fall, mit der die i­ ndustrielle Produktion auf eine wissenschaftliche Basis gestellt wurde, die wiederum erhebliche Bedeutung für die Innovations- und Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen gewann. Seit dieser Zeit ist der Zugang zu universitären Wissensressourcen für viele Unternehmen entscheidend, sei es bezüglich innovativer Forschungsergebnisse, sei es, was die Rekrutierung entsprechend qualifizierten Nachwuchses betrifft.3 Seither lassen sich zahlreiche Beziehungen von Industriellen zu einschlägigen Hochschulinstituten beobachten, die eine teilweise enge Verbindung von Unternehmen und einzelnen Professuren ebenso anzeigen wie intensiven Austausch in gemeinsamen Gremien oder Fachgesellschaften, in denen Unternehmen zugleich als Sponsoren auftraten.4 Das wurde zwar frühzeitig als interessengeleitet gesehen und kritisch kommentiert, aber in der Regel wurden industrielle Interessenten keineswegs ignoriert – wie sollten chronisch unterfinanzierte Bildungseinrichtungen derartigen Chancen auch widerstehen –, zumindest formal aus den akademischen Entscheidungsprozessen allerdings herausgehalten, da Interessenvertreter kein Mandat in den Entscheidungsverfahren besaßen und somit nicht berücksichtigt werden mussten, ja nicht berücksichtigt werden durften, wollte sich das Entscheidungsgremium nicht dem Vorwurf potenzieller Korruption aussetzen. In formaler Hinsicht war das Verfahren hier auch ganz eindeutig. Personalentscheidungen fielen im Rahmen des Selbstrekrutierungsrechts der Fakultäten grundsätzlich autonom durch deren vollberechtigte Professoren (Ordinarien), die insofern allei3 Vgl. Johann Peter Murmann, Knowledge and Competitive Advantage. The Coevolution of Firms, Technology, and National Institutions, Cambridge 2003. 4 Das musste nicht so weit gehen wie im Falle der Universität Jena, die erst durch die Mittel der Zeiss-Stiftung überhaupt zur modernen Forschungsuniversität werden konnte, aber enge Kooperation von naturwissenschaftlichen Instituten und einzelnen Unternehmen waren seit den 1880er-Jahren keine Seltenheit; vgl. Sebastian Demel, Auf dem Weg zur Verantwortungsgesellschaft. Ernst Abbe und die Carl Zeiss-Stiftung im deutschen Kaiserreich, Göttingen 2014, S. 447–504.

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nige akademische Herren des Verfahrens waren. Als staatliche Einrichtungen unterlagen (und unterliegen) Universitäten und ihre Organe allerdings staatlicher Aufsicht und Organisationsgewalt, sodass die Fakultäten den zuständigen Ministerien Berufungslisten vorschlugen, aus denen dann ein Kandidat ausgewählt und durch den Minister ernannt wurde. Die Ministerien hielten sich in der Regel an die Vorschläge der Fakultäten, die zumeist im Vorfeld bereits abgestimmt waren, waren im strengen Sinne aber nicht an sie gebunden, sondern konnten sich, wie es geradezu legendär der langjährig zuständige preußische Ministerialbeamte Friedrich Althoff vor dem Ersten Weltkrieg wiederholt tat, auch über die Berufungsvorschläge hinwegsetzen. Da es bis in die 1960er-Jahre keine Ausschreibungen gab, waren die Fakultätsentscheidungen relativ intransparent, auch wenn der interessierte Nachwuchs natürlich wusste, welche Stellen wo zur Besetzung anstanden. In der Regel wurden rechtzeitig zum Ausscheiden eines Stelleninhabers Fakultätskommissionen gebildet, die den Kreis möglicher Kandidaten eingrenzten und sie im Zweifelsfall auch schon einmal zu einem Vortrag baten, um sich ein konkretes Bild der infrage kommenden Person machen zu können. In dieser Phase kam es immer wieder zu »Interventionen«, sei es, wenn sich potenzielle Kandidaten ins Gespräch zu bringen versuchten, vor allem aber, wenn Kommissionsmitglieder um Rat und Informationen über infrage kommende Personen nachsuchten. Dabei bildeten sich in den verschiedenen Fakultäten durchaus unterschiedliche Berufungskulturen aus, doch ähnelten sie sich in der Substanz sehr.5 Gerade in den naturwissenschaftlichen und technischen Fächern, die enge Beziehungen zur Industrie unterhielten, waren daher zumindest informelle Möglichkeiten gegeben, dass auch rein formal nicht zu berücksichtigende Gesichtspunkte von externen Interessen in den Verfahren selber eine Stimme bekamen. Letztlich war das auch kaum zu beanstanden, denn die Kooperationen waren häufig eng und durchaus nicht nur einseitig. Denn je nach Fach hatten die einschlägigen Professuren mit den beteiligten Interessenten früher oder später intensiv zu tun, sei es über die wirtschaftliche Nutzung von Forschungsergebnissen, sei es über die Forschungsförderung durch Dritte oder sei es schlicht, um Arbeitsplätze für die eigenen Absolventen zu finden. Gute 5 Vgl. mit zahlreichen Beispielen etwa Notker Hammerstein, Die Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt am Main. Von der Stiftungsuniversität zur staatlichen Hochschule, Bd. I: 1914 bis 1950, Neuwied, Frankfurt am Main 1989. Einschlägige Beschreibungen auch bei Jan-Otmar Hesse, Wirtschaft als Wissenschaft. Die Volkswirtschaftslehre in der frühen Bundesrepublik, Frankfurt am Main u. a. 2010, S. 196–248.

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192 Werner Plumpe einschlägige Beziehungen waren also keineswegs allein eine Sache der Industrie, auch die jeweiligen Hochschulinstitute waren um enge Kontakte bemüht, spätestens seit der Finanzaufwand für die moderne naturwissenschaftliche Forschung um die Wende zum 20. Jahrhundert derart groß geworden war, dass reguläre Universitätsinstitute ihn ohne Hilfe nicht mehr darstellen konnten. So jedenfalls war es im Bereich der im Folgenden näher betrachteten universitären Chemieinstitute. Hier bestand im Grunde seit der Entstehung der modernen experimentellen Forschung eine enge faktische Verbindung von Forschung und chemischer Industrie, die von beiden Seiten aus guten Gründen angestrebt wurde. Die junge chemische Industrie, namentlich die Industrie der Farbstoffherstellung und später hiermit zusammenhängend die pharmazeutische Industrie, war im harten Wettbewerb auf industriell verwertbare Forschungsergebnisse angewiesen, die zunächst fast ausschließlich aus Universitätslaboratorien kamen. Zwar begannen seit den 1880er-Jahren die großen Firmen eigene Laborkapazitäten aufzubauen, doch stieg hierdurch der Bedarf an akademisch qualifizierten Chemikern, die nur von den Universitäten beziehungsweise technischen Hochschulen zu gewinnen waren, zu denen daher ein möglichst enger Kontakt auch weiterhin fast zwingend war.6 Überdies blieben wichtige Forschungsrichtungen weiterhin eine Domäne der Hochschulforschung; die Industrielabore waren zwar rasch in der Lage, die Farbstoffdarstellung zu übernehmen, bei komplexeren Produkten, namentlich im Bereich der Pharmaforschung aber war die enge Zusammenarbeit mit einschlägigen Hochschulinstituten weiterhin von wesentlicher Bedeutung. Im Gegenzug waren auch die Universitätsinstitute an möglichst guten Kontakten interessiert, davon war die Rede. Mit dem Aufkommen der naturwissenschaftlich-technischen Großforschung um die Wende zum 20. Jahrhundert bekam diese Kooperation eine überaus große Dynamik. Herkömmliche Hochschulinstitute waren nun kaum noch dazu in der Lage, den notwendigen Forschungsaufwand allein zu leisten. Unterschiedliche Formen der Kooperation mit externen Geldgebern wurden seit der Jahrhundertwende fast zwingend. Die Entstehung entsprechender, privater Forschungsinstitutionen (etwa die Physikalisch-Technische Reichsanstalt oder die Reichsanstalt für chemische Forschung) und schließlich die Gründung und Entwicklung der Kaiser Wil6 Vgl. etwa Carsten Reinhardt, Forschung in der chemischen Industrie. Die Entwicklung synthetischer Farbstoffe bei BASF und Hoechst, 1863–1914, Freiberg 1997 (Freiberger Forschungshefte, Reihe D: Wirtschaftswissenschaften, Geschichte, 2002. Vol 202).

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helm-Gesellschaft und ihrer Institute in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts trugen dieser Entwicklung Rechnung. Wissenschaft, Staat und Industrie definierten gemeinsam wichtige zukünftige Arbeitsfelder, für die die Kaiser Wilhelm-Gesellschaft (KWG) eine entsprechende institutionelle Infrastruktur bereitstellte, während große Industrieunternehmen durch laufende Spenden und Zuschüsse deren Finanzierung weitgehend trugen.7 Die Gremien der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft und ihrer Institute hatten insofern einen hybriden Charakter, weil hier Staat, Wissenschaft und Industrie in einer Organisation gemeinsam vertreten waren. Zwar besaßen die Industrie beziehungsweise die beteiligten Industriellen in den entscheidenden Gremien keine Mehrheiten, die sie auch gar nicht beanspruchten, da die Autonomie des wissenschaftlichen Forschens die gemeinsame Überzeugung war. Die akademischen Institutsleitungen waren hingegen an einer reibungslosen Kooperation mit ihren aus Vertretern des Staates, der Wissenschaft und der Industrie zusammengesetzten Verwaltungsräten nicht nur interessiert, sondern hiervon faktisch abhängig.8 Die Industriellen hatten in diesen Räten zwar ebenfalls keine Mehrheiten, doch waren sie es, die über die Mobilisierung zusätzlicher Mittel entschieden; ihre Stimme hatte daher auch ohne förmliche Mehrheiten in Finanzfragen ausschlaggebendes Gewicht. Und da die Institutsleitungen in der Regel zugleich von den örtlichen Universitätsinstituten in deren Lehrkörper kooptiert waren, war dieser Einfluss auch nicht auf die Institute begrenzt; er reichte weit darüber hinaus. So lagen die Dinge auch beim Kaiser Wilhelm-Institut (KWI) für Chemie, das seinen Sitz in Berlin-Dahlem hatte. Die chemische Industrie spielte als Geldgeber im Verwaltungsrat des Instituts eine wichtige Rolle, nahm auf das wissenschaftliche Programm des Hauses aber nur begrenzt Einfluss. Das war so lange unproblematisch, solange sich die beteiligten Personen über die Richtung der wissenschaftlichen Arbeit im Grundsatz einig waren und es vorrangig um die Auswahl geeigneter Kandidaten für einzelne Forscherstellen ging. Zu großen Konflikten aber konnte es kommen, wenn mit der Personalentscheidung zugleich Richtungsentscheidungen in der Forschung verbunden waren. 7 Jeffrey Allan Johnson, The Kaiser’s Chemists. Science and Modernization in Imperial Germany, Chapel Hill 1990. 8 Zur Kaiser Wilhelm-Gesellschaft vgl. Rudolf Vierhaus und Bernhard vom Brocke (Hgg.), Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der KaiserWilhelm-/Max Planck-Gesellschaft, Stuttgart 1990.

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Nobelpreisträger Emil Fischer (1852–1919) am Experimentiertisch Und genau das war der Fall, als 1920 die zentrale Professur am Chemischen Institut der Universität Berlin neu zu besetzen war. Hier hatte lange ­Jahre der Nobelpreisträger Emil Fischer die Forschungsschwerpunkte im Bereich der organischen Chemie, der Pharmaforschung und der beginnenden Biochemie gesetzt.9 Seine Nachfolge war heftig umstritten, ja es kam zu einem offenen Konflikt zwischen den beteiligten Gruppen, in denen Carl Duisberg, der als führender Mann der I.G. Farbenindustrie zugleich Vorsitzender des Verwal-

9 Emil Fischer (1852–1919), an Krebs erkrankt, hatte sich 1919 das Leben genommen; Horst Remane, Emil Fischer, Leipzig 1984, S. 64 f.

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tungsrates des KWI für Chemie in Berlin-Dahlem war, eine herausragende Rolle spielte.

Carl Duisberg Das entschiedene Eintreten Carl Duisbergs in der Fischer-Nachfolge ist nicht unentdeckt geblieben, sondern hat ihm wegen des Konflikts mit Fritz Haber nicht nur in dessen Äußerungen, sondern auch in der chemiehistorischen Literatur einen zweifelhaften Ruf eingetragen.10 Wie weit die Urteile berechtigt sind, kann hier erst einmal dahingestellt sein; unstrittig ist, dass Duisberg mit der chemischen Industrie im Rücken die Berufung Fritz Habers auf den großen Berliner Chemie-Lehrstuhl verhinderte. Insofern ist allein diese Tatsache bei der Analyse universitärer Personalentscheidungen von eminenter Bedeutung; auf ihre historiografische Bewertung wird später allerdings zurückzukommen sein. Carl Duisberg, seit 1900 Mitglied im Vorstand der Farbenfabriken Bayer & Co und seit 1912 deren Generaldirektor, war auch der ausschlaggebende Mentor des Zusammenschlusses der großen deutschen Teefarbenhersteller zur I.G. Farbenindustrie, die im Rahmen des Krieges 1916 feste Gestalt angenommen hatte und 1925 mit der endgültigen Fusion der Unternehmen zur I.G. Farbenindustrie AG ihren Abschluss fand.11 Sein Aufstieg war eng mit dem Aufstieg der Farbstoffchemie verbunden, der er im Grunde alles verdankte. Der Erfolg von Bayer an der Spitze der deutschen chemischen und pharmazeutischen Indus­trie war in seinen Augen das positive Ergebnis der engen Kooperation der Farbstoffhersteller mit der akademischen Chemie, die es um jeden Preis zu erhalten galt. Das Engagement des Hauses in der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft, die Förderung des Dahlemer Instituts und insbesondere die enge, freundschaftliche Zusammenarbeit mit Emil Fischer war Duisberg in der Tat eine Herzensangelegenheit, der er große Aufmerksamkeit widmete. Aber weit darüber hinaus engagierte er sich in der Förderung der Belange der chemischen Forschung und der Interessen der Chemiker. Lange Zeit war er Vorsitzender des Vereins deutscher Chemiker, ein Amt, das er mit großem Eifer wahrnahm, 10 Vgl. insbesondere Margit Szöllösi-Janze, Fritz Haber 1868–1934. Eine Biographie, München 1998, S. 438–446. 11 Gottfried Plumpe, Die I. G. Farbenindustrie AG. Wirtschaft, Technik und Politik 1904–1945, Berlin 1990, S. 96–105.

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196 Werner Plumpe wodurch nicht zuletzt eine enge Verbindung zu einer Vielzahl akademischer Chemiker entstand, die ihm schon vor dem Krieg eine einflussreiche Stellung in zahlreichen Berufungsverfahren ermöglichte.12 Denn die Berufung an eine deutsche Universität war nicht öffentlich; vielmehr begannen die Fakultätsgremien bei sich abzeichnender frei werdender Stelle nach geeigneten Kandidaten Ausschau zu halten, die dann zu unverbindlichen Vorträgen gebeten wurden. So grenzten die Fakultäten den Bewerberkreis nach und nach ein, bis schließlich eine Liste gebildet und dem zuständigen Ministerium zur Berufung vorgeschlagen wurde. Die Ministerien hielten sich nach der Ära Althoff,13 der in Preußen als zuständiger Verwaltungsbeamter häufig auf eigene Faust entschieden hatte, zumeist an die Vorschläge der Fakultäten, sodass die eigentliche Entscheidungsphase in das Vorfeld der Listenbildung in den Universitäten fiel. Potenzielle Interessenten setzten alle Möglichkeiten in Bewegung, um in den internen Diskussionen berücksichtigt zu werden; die entscheidungsberechtigten Fakultätsmitglieder wiederum waren an Informationen über potenzielle Kandidaten, deren akademisches Profil, deren Forschungspotenzial und deren Verbindungen überaus interessiert. Als wichtiger Industrieller, Vorsitzender des Vereins deutscher Chemiker und enger Kooperationspartner zahlreicher Universitätschemiker war Duisberg daher vor dem Krieg in zahlreichen Berufungsverfahren ein gesuchter Gesprächspartner mit engen Verbindungen bis zu den zuständigen Kultusbürokratien, die Duisberg nicht selten um Hilfe oder Ratschläge baten. Er hütete sich dabei sehr, seinen Einfluss durch Parteinahme für Kandidaten, denen er nicht viel zutraute, zu gefährden. In der Regel suchte er selbst durch Anlehnung etwa bei Emil Fischer oder anderen Koryphäen wie dem jüngeren Richard Willstätter sein Urteil abzusichern, was ihm schließlich eine recht unangefochtene Stellung als Berater ermöglichte. Der bayerische Kultusminister war 1913 Gast auf der Feier zu seiner silbernen Hochzeit in einem Münchener Grandhotel, wo man am Rande der Feier anstehende Berufungen in München durchsprach. Der letzte königlich-preußische Kultus­

12 Werner Plumpe, Carl Duisberg 1861–1935. Anatomie eines Industriellen, München 2016, Kap. 15. 13 Friedrich Althoff (1839–1908) war für seine Personalpolitik ebenso legendär wie für seine »einsamen« Entscheidungen; vgl. Bernhard vom Brocke, Friedrich Althoff, in: Wissenschaftspolitik in Berlin. Minister, Beamte, Ratgeber, hgg. von Wolfgang Treue und Karlfried Gründer, Berlin 1987, S. 195–214.

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minister Friedrich Schmidt-Ott,14 dem Duisberg nach dem Krieg den Vorsitz im Bayer-Aufsichtsrat verschaffte, wurde sein persönlicher Freund, was die »gemeinsame Wissenschaftspolitik«, die von der Forschungsförderung über die Kaiser Wilhelm-Gesellschaft bis hin zur Deutschen Forschungsgemeinschaft reichte, deren erster Präsident Schmidt-Ott wurde, sehr erleichterte.

14 Friedrich Schmidt-Ott, Erlebtes und Erstrebtes 1860–1950, Wiesbaden 1952.

Carl Duisberg (1861–1935)

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198 Werner Plumpe Diese Vernetzung gestatte Duisberg keineswegs Alleingänge oder gar eine bestimmende Position; aber sie verlieh ihm Gewicht und versah ihn, da er Angehöriger des Verwaltungsrates des KWI für Chemie in Berlin-Dahlem war, auch mit einem förmlichen Mandat. Und diese Position gedachte er in der Frage der Nachfolge Emil Fischers auch in die Waagschale zu werfen, denn für Duisberg ging es um sehr viel mehr als nur um die Ersetzung Emil Fischers. Er wollte unbedingt die Ausrichtung der chemischen Forschung für die organische Chemie auch weiterhin offenhalten, die bis zur Jahrhundertwende unstrittig dominiert hatte, seither aber gegenüber der physikalischen und der technischen Chemie (auch anorganische Chemie genannt), die hinter der neuen Ausrichtung der chemischen Industrie auf die Großsynthese stand, deutlich an Boden verloren hatte. Sollte die Nachfolge Emil Fischers in Berlin, der ja von der organischen Chemie geprägt worden war und hier seine Forschungsschwerpunkte gehabt hatte, zugunsten eines physikalischen Chemikers entschieden werden, drohte die bisherige Bastion, die Duisberg für den Fortschritt der chemischen Industrie unersetzlich hielt, wegzubrechen. Seine »Personal- und Strukturpolitik« war daher schon lange vor der Auseinandersetzung um die Fischer-Nachfolge daran orientiert, den akademischen Aufstieg der physikalischen Chemie zumindest zu bremsen und so die Bedeutung der organischen Chemie zu sichern. Er ließ an keiner Stelle die Chance aus, um auf die Bedrohung der Industrie durch eine zu starke Akzentverschiebung in der chemischen Forschung aufmerksam zu machen. Als Fritz Haber, einer der bekanntesten physikalischen Chemiker Deutschlands, ihn 1915 fragte, ob der Verein Deutscher Chemiker tatsächlich vor Promotionen in physikalischer Chemie warne, bestritt er dies, nicht aber, dass es reine physikalische Chemiker in der Industrie schwer haben dürften. Die Technik lehne alle Bewerber ab, »die statt einer gründlichen chemischen Experimentalarbeit nur rein messende Untersuchungen vorgenommen haben, wie sie vielfach in physikalisch-chemischen Laboratorien üblich sind. Diese jungen Chemiker tun mir immer leid, denn sie versuchen überall in der Technik anzukommen und werden höchst selten genommen«, während ihre Konkurrenten rasch Arbeit fänden.15 Für die Zeit nach dem Krieg spürte Duisberg so etwas wie eine besondere Fürsorgeverpflichtung gegenüber der Organik, zumal die physikalische Chemie während des Krieges mit dem Aufbau der Stickstoffsynthese in großem Maßstab an Bedeutung gewonnen hat15 Carl Duisberg an Fritz Haber, 4.10.1915, BAL AS.

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te: »Wir müssen unbedingt, besonders nach dem Kriege, neben der anorganischen Chemie mit ihren großen Leistungen in letzter Zeit, auch die neuerdings etwas stiefmütterlich behandelte organische Chemie, der wir in der Vergangenheit technisch so viel verdanken und die sich auch im Krieg so glänzend bewährt hat, weiter hochhalten«16, bemerkte er gegenüber Alfred Stock, einem aus der Anorganik stammenden Dahlemer Abteilungsleiter, nicht zuletzt weil ihr wirtschaftliches Potenzial noch nicht erschöpft schien, gerade in den von Emil Fischer und Richard Willstätter betriebenen Arbeiten zur Biochemie. Andere Lösungen, das war klar, würden auf Duisbergs entschiedene Kritik stoßen.

Der Streit um die Fischer-Nachfolge Eine seiner folgenreichsten wissenschaftspolitischen Handlungen ist nur vor diesem Hintergrund verständlich.17 Nach Fischers Freitod 1919 stellte sich die Frage, wer die »erste Chemieprofessur« (Carl Duisberg) des Deutschen Reiches in Zukunft besetzen sollte. Duisberg hatte sich darüber frühzeitig Gedanken gemacht; aus privaten Kontakten zu Fischer wusste er, dass dieser mit der Überlegung schwanger ging, sich von seinem Berliner Ordinariat zurückzuziehen. Es kann als sicher angenommen werden, dass Fischer und Duisberg bei einem der häufigen »Plauderstündchen«, die sie während des Krieges in Fischers Wohnung miteinander hatten, dessen Nachfolge erörterten. Bezeichnend ist, wie Duisberg im Mai 1918 reagierte, als er um die Beurteilung möglicher Kandidaten für eine Chemieprofessur in Straßburg gebeten wurde. Vom KWI-Abteilungsleiter Alfred Stock riet er ab; der sei zwar einer der besten Anorganiker überhaupt, aber er habe gute Chancen, »einer der beiden Nachfolger zu werden, die sich wahrscheinlich bei dem nicht mehr allzu fernen Rücktritt 16 Carl Duisberg an Alfred Stock, 15.7.1915, BAL AS. 17 Der ganze Vorgang ist anhand der Korrespondenz Duisbergs dargestellt bei Hans-Joachim Flechtner, Carl Duisberg. Vom Chemiker zum Wirtschaftsführer, Düsseldorf 1959, S. 318–322. Ausführlich hierzu auch Margit Szöllösi-Janze, Fritz Haber, S. 438–446, die freilich Duisbergs Position zu sehr aus der Sicht seiner Gegner sieht. Dass Duisberg sich nur durchsetzen konnte, weil er auch in der Sache zumindest erwägenswerte Argumente besaß, geht so ein wenig unter bzw. erscheint allein als Folge des wirtschaftlichen Gewichts der chemischen Industrie, was schon Flechtner insinuiert hatte. Der Vorgang ist auch geschildert bei Walter Ruske, 100 Jahre Deutsche Chemische Gesellschaft, Weinheim 1967, S. 130 f. der sich, was die Quellen betrifft, weitgehend auf Flechtner stützt und den Vorgang eher nüchtern schildert.

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200 Werner Plumpe Emil Fischers in das große Universitätslaboratorium Berlin teilen sollen.«18 Duisberg ging mithin zunächst von einer Teilung der Berliner Professur zwischen Organik und Anorganik aus, ließ diesen Plan nach dem Tod Emil Fischers aber wegen der Möglichkeit fallen, Richard Willstätter, in dem er nicht nur den aussichtsreichen Chemiker, sondern auch den herausragenden Lehrer sah, für Berlin zu gewinnen. Willstätter, Nobelpreisträger wie Fischer, hatte bis 1915 am KWI in Dahlem gearbeitet und war dann einem Ruf nach München auf die Nachfolge von Adolf von Bayer gefolgt. Schon in dem Telegramm, mit dem er Willstätters Brief zu Fischers Tod beantwortete, schrieb Duisberg so, als gäbe es hier bereits einen Konsens: »Sie, verehrter lieber Freund, müssen seine Nachfolge übernehmen. Darauf rechnen wir.«19 Die Angelegenheit schien zunächst auch in der Tat völlig unproblematisch, weil die Fakultät Willstätter wünschte und die preußischen Behörden ihm großes Entgegenkommen signalisierten.20 Dieser aber zögerte: »Wie wird’s mit Berlin?«, fragte Duisberg nach. »Die Opfer, die Ihnen zugemutet werden, sind groß; trotzdem glaube ich, müssen Sie sie bringen. Wer soll sonst an Ihre Stelle treten? Je mehr der Einheitsstaat bei uns Fortschritte macht, umso mehr wird und bleibt Berlin der Mittelpunkt. Es gibt zurzeit nur Einen, der Führer der wissenschaftlichen Chemie sein kann, das sind Sie. Ich bin gespannt, demnächst Näheres von Ihnen zu hören.«21 Willstätter telegrafierte zu Duisbergs Überraschung im Januar 1920 allerdings, dass er nicht nach Berlin gehen werde. Er habe Bayers Stelle übernommen und könne den Neuaufbau in München nicht einfach im Stich lassen. Außerdem habe er in Berlin kaum genügend Muße zur eigenen Forschung.22 Duisberg reagierte mit Verständnis.23 Es sei schade, aber er könne die Gründe, weshalb Willstätter in München bleibe, nachvollziehen, zumal sein eigener Sohn Walther, der bei Willstätter an seiner Doktorarbeit saß, davon ja profitiere.24 Andere Stimmen waren da skeptischer und mutmaßten, was Willstätters 18 Carl Duisberg an Max Delbrück, 26.5.1918, BAL AS. 19 Carl Duisberg an Richard Willstätter, 19.7.1919, BAL AS. 20 Richard Willstätter, Aus meinem Leben. Von Arbeit, Muße und Freunden, Weinheim 1949, S. 314 f. Walter Jaenicke, 100 Jahre Bunsen-Gesellschaft, 1894–1994, Darmstadt 1994, S. 81. 21 Carl Duisberg an Richard Willstätter, 17.12.1919, BAL AS. 22 Richard Willstätter an Carl Duisberg, 21.1.1920, BAL AS. Das entspricht in etwa auch dem, was Willstätter Ende der 1930er-Jahren in seinen Erinnerungen notierte, Willstätter, Aus meinem Leben, S. 314 f. 23 In einem Schreiben an Friedrich Schmidt-Ott vom 13.2.1920, BAL AS, pflichtete Duisberg Willstätter sogar bei, dass die Lage in München für ihn wissenschaftlich einfacher sei. 24 Carl Duisberg an Richard Willstätter, 21.1.1920, BAL AS.

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Absage ausgelöst haben könnte. Friedrich Schmidt-Ott, ehemaliger preußischer Kultusminister und jetzt im Auftrag seines sozialdemokratischen Nachfolgers Haenisch Staatskommissar bei der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft25, den Willstätters Absage sehr »schmerzte«, sah vor allem die drohenden Auseinandersetzungen mit dem amtierenden KWI-Direktor Beckmann, der kurz vor der Pensionierung stand, als Grund für Willstätters Absage.26 Wie dem auch sei. Mit Willstätters Absage war die Lage in Berlin wieder offen. Duis­berg äußerte gegenüber Schmidt-Ott27 die Hoffnung, man könne nun verfahren, wie es Emil Fischer immer vorgehabt habe, nämlich die Stelle in je eine Professur für organische und anorganische Chemie zu teilen. Duisberg hatte auch bereits genaue Vorstellungen, welche Kandidaten infrage kämen, nämlich Alfred Stock für die anorganische und Heinrich Wieland beziehungsweise Wilhelm Schlenk für die organische Chemie.28 Doch dann kam alles ganz anders. Die Berliner Fakultät favorisierte für Duis­ berg völlig überraschend, offenkundig unter dem Einfluss des theoretischen Chemikers und Nobelpreisträgers Walther Nernst und des amtierenden KWI-Direktors Beckmann, Fritz Haber als Fischers Nachfolger. Fritz Haber war ein großer Name, hatte er doch nicht nur den Ruhm der Stickstoffsynthese auf seiner Seite, sondern war auch der entscheidende Mann bei der Gaswaffenherstellung im Krieg gewesen und hatte zudem noch die chemische Abteilung des Demobilmachungsamtes geleitet.29 Dass er als Leiter des KWI für physikalische Chemie die Voraussetzungen für die umfassende Professur Fischers nicht besaß, glaubten die Berliner Fakultätsvertreter dadurch umgehen zu können, dass man den physikalischen Chemiker Haber kurzerhand zum Anorganiker machte und ihm die entsprechenden Vorlesungen bis zum Verbandsexamen (eine Art Abschluss des Grundstudiums, das durch den Verband der Laboratoriumsvorstände abgenommen wurde) auftrug, während die organische Ausbildung danach durch einen 25 Bernhard vom Brocke, Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in der Weimarer Republik, in: Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der KaiserWilhelm-/Max Planck-Gesellschaft, hgg. von Rudolf Vierhaus und Bernhard vom Brocke, Stuttgart 1990, S. 197–355, hier S. 209. 26 Friedrich Schmidt-Ott an Carl Duisberg, 10.2.1920, BAL AS. Schmidt-Ott vermutete einen Zusammenhang zu dem Leiter des KWI für Chemie, Beckmann, der sein Amt nicht mehr ausfüllte, aber auch nicht aufgeben wollte. 27 Carl Duisberg an Friedrich Schmidt-Ott, 13.2.1920, BAL AS.  28 Carl Duisberg an Friedrich Schmidt-Ott, 13.2.1920, BAL AS. 29 Zu Haber ausführlich Margit Szöllösi-Janze, Fritz Haber.

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202 Werner Plumpe weiteren Kollegen, nämlich den bisherigen KWI-Chef Beckmann erfolgen sollte. Eine solche Lösung, die im Grunde darauf hinausgelaufen wäre, die Fischer’sche Professur zumindest in ihrem Forschungsprofil vollständig neu zu definieren, ohne das offiziell zu sagen, war für Duisberg, den der Präsident der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft Adolf von Harnack von der beabsichtigten Berufung Habers informierte, nicht akzeptabel. Er sprach das offen aus: »Gegen die Person Habers habe ich an sich nichts einzuwenden; er ist ein tüchtiger Kerl und guter Organisator. Ob auch ein guter Lehrer, vermag ich noch nicht zu sagen. Das Schlimme nur ist, dass er von organischer Chemie sehr wenig versteht. […] Damit würde die organische Chemie in Preussen wenigstens in die zweite Linie und in die abhängige Stellung gedrängt.«30 Duisberg setzte in den kommenden Wochen alle Hebel in Bewegung, um eine Berufung Habers zu verhindern; insbesondere bemühte er sich erfolgreich um eine geschlossene Front der Geldgeber aus der chemischen Industrie, die das KWI für Chemie in Berlin-Dahlem trugen. Neben den preußischen Behörden war es der Präsident der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft, Adolf von Harnack, von dem Duisberg mehr oder weniger ultimativ forderte, es dürfe nichts geschehen, bevor nicht die Vertreter der Industrie gehört worden seien. SchmidtOtt, der eine Beschädigung Habers nicht wünschte, fand das alles sehr bedauerlich. Er teilte zwar Duisbergs Auffassung, eine derartige Umwidmung der bedeutendsten Chemie-Professur in Deutschland sei nicht in Ordnung, aber er opponierte keineswegs so scharf wie Duisberg und weitere namhafte Vertreter der chemischen Industrie.31 Auch in der KWG lehnte man eine Berufung H ­ abers nicht ab. Insbesondere Adolf von Harnack, dem Duisberg in einem langen Schreiben vom 26. Februar 1920 seine Position erläuterte, war von 30 Carl Duisberg an Johannes Walther, 27.3.1920, BAL 46/9.1. Wortgleich schrieb Duisberg am gleichen Tag auch an seinen Sohn Walther in München, dem er zudem noch aufgab, Willstätter zu grüßen; BAL AS. Wahrscheinlich ging er davon aus, dass sein Sohn Willstätter von der Ablehnung Habers durch Duisberg berichten würde. 31 Duisberg schildert sein Vorgehen in einem Schreiben an Alfred Stock, 29.3.1920, BAL AS: »Gegen die Übernahme der Gesamtprofessur Emil Fischers durch die physikalische Chemie habe ich mich kräftig gewehrt und die Interessengemeinschaft steht wie ein Mann hinter uns. Wir haben eine Kommission gebildet, bestehend aus Haeuser, Arthur von Weinberg, Plieninger, Oppenheim und mir, die an den massgebenden Stellen Einspruch erheben soll. Zuerst erfuhr ich von dieser für jeden Chemiker unverständlichen Absicht durch Harnack. Ich habe darauf sofort energisch geantwortet und Abschrift meines Briefwechsels an Unterstaatssekretär Becker und Staatsminister Dr. Schmidt gesandt und um Vertagung der Angelegenheit gebeten, bis wir in Berlin gewesen sind.« Der Bitte wurde entsprochen.

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Duisbergs Argumenten, eine vollständige Umwidmung der Berliner Professur führe zu einer schweren Schädigung der chemischen Industrie, keineswegs überzeugt. Er verteidigte Haber als einen Praeceptor Berolinensis und sprach sich auch gegen Duisbergs Vorschlag einer Teilung der Professur aus. Haber sei vielmehr der Mann, der, obwohl er Anorganiker sei, das alles gut organisieren könne, insbesondere, indem er die richtigen Männer an die entsprechenden Positionen bringe. Duisberg ließ das nicht gelten, sondern antwortete scharf, indem er Harnack schlicht die Kompetenz absprach, das beurteilen zu können. Entscheidend aber war etwas anderes: »Ich fürchte deshalb auch, daß sich dann die Industrie, die bis jetzt in erster Linie und hauptsächlich die großen Mittel für Forschung und vor allem für die chemische Ausbildung bereit gestellt hat, zurückziehen (wird) und nicht mehr, wie sie es vorhatte, für solche Zwecke zu haben ist.«32

Die Verhinderung Habers Das war deutlich. Die KWG und das preußische Kultusministerium zeigten sich nicht zuletzt wegen dieser Drohung in der Frage der Fischer-Nachfolge unentschlossen. Der Rückzug der chemischen Industrie aus der Forschungsfinanzierung war eben keine leere Drohung; die händeringend nach neuen Geldquellen suchenden Berliner Forschungseinrichtungen wollten sich einen derartigen Konflikt gerade jetzt nicht leisten, und Duisbergs Aussage, in dieser Frage stehe die chemische Industrie geschlossen hinter ihm, war alles andere als unglaubwürdig.33 Der Staatssekretär im preußischen Kultusministerium Becker signalisierte schließlich, dass man die Industrie anhören wolle.34 Deren Demarchen zeigten dann auch die gewünschte Wirkung. Obwohl im A ­ pril 1920, wie Margit Szöllösi-Janze schreibt, ganz Berlin davon ausging, H ­ aber

32 Carl Duisberg an Adolf von Harnack, 26.2.1920; Adolf von Harnack an Carl Duisberg, 28.2.1920, Carl Duisberg an Adolf Harnack, zit. nach Flechtner, Carl Duisberg, S. 319–322. 33 Das war de facto auch so. Gegen eine Berufung Habers auf den Lehrstuhl Emil Fischers wehre sich »die ganze I.G.«, schrieb Duisberg am 7.4.1920 an Henry Theodor Böttinger, ­BAL AS. 34 Nach der Erinnerung Willstätters war Becker gegenüber industriellem Druck offensichtlich zum Einlenken bereit, wie er Haber und ihm gegenüber eingeräumt habe; Willstätter, Aus meinem Leben, S. 272.

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204 Werner Plumpe werde den Ruf erhalten, kam dieser nicht.35 Im Mai 1920 verzichtete H ­ aber von sich aus, als auch aus der Akademie der Wissenschaften, die als Eigentümerin des chemischen Laboratoriums der Universität am Verfahren beteiligt war, Stimmen laut wurden, Haber sei nicht durchsetzbar.36 Selbst Walther Nernst, der zunächst eine Berufung Habers unterstützt hatte, war mittlerweile umgeschwenkt. Haber führte die Ablehnung, die ihm entgegenschlug, darauf zurück, dass Duisbergs Hand die Zügel geführt habe, wie er ein Jahr später an Richard Willstätter schrieb.37 Der Rückzug Habers wurde nach dessen eigener Aussage allerdings diskret behandelt, um zu verhindern, dass nach der Absage Willstätters der Ruf der Berliner Stelle beschädigt würde.38 In der Forschung ist so der Eindruck entstanden, Carl Duisberg sei vor allem aus Voreingenommenheit für die Schwierigkeiten und schließlich für den Rückzug Habers verantwortlich gewesen. Im Hintergrund habe eine persönliche Abneigung der beiden Männer gegeneinander gestanden. Das ist zunächst keineswegs völlig von der Hand zu weisen. Schon während des Krieges hatten beide in der Gaswaffenentwicklung gleichzeitig kooperiert und konkurriert. Nach dem Ende des Krieges vertrat Haber als Chef der Chemieabteilung des Demobilmachungsamtes eine sehr viel weitergehende Vorstellung von staatlicher Bewirtschaftung, als es Duisberg gefiel, der Habers Rückzug vom Amt 1919 daher begrüßte, ja ihm zur Rückkehr in die Forschung gratulierte.39 Das alles mag zu einem gespannten Verhältnis der beiden Männer beigetragen haben, zumal sie auch in der entstehenden neuen Struktur der Wissenschaftsförderung de facto als Konkurrenten auftraten.40 Die Situation war aber sehr viel 35 Ob es einen förmlichen Ruf an Haber gab, ist unklar. Es ist nicht einmal klar, ob je mit Haber offiziell gesprochen wurde. Lediglich die Absicht der Berliner Fakultät, einen solchen Ruf zu veranlassen, scheint sicher zu sein. Vgl. Richard Willstätter, Fritz Haber zum 60. Geburtstag, in: Die Naturwissenschaften 16 (1928), Heft 50, abgedruckt in: Willstätter, Aus meinem Leben, S. 241–255, hier S. 252. Auch in den Lebenserinnerungen Willstätters wird die Lage nicht wirklich klarer, Aus meinem Leben, S. 272: Zu ihrer »Bestürzung« habe Becker, der mit Willstätter und Haber in dieser Sache in Kontakt stand, Haber gegenüber Duisberg preisgegeben. 36 Szöllösi-Janze, Fritz Haber, S. 443 f. Auch bei Szöllösi-Janze wird nicht klar, ob Haber den Ruf wirklich erhielt oder ob er nur als Kandidat im Gespräch war. 37 Szöllösi-Janze, Fritz Haber, S. 445. Richtig böse auf ihn war er aber zu dieser Zeit offenbar nicht, denn im Juli 1920 informierte Haber Duisberg sehr freundlich über die Verhandlungen mit Heinrich Wieland, der mittlerweile für die Nachfolge Fischers in Aussicht genommen war, Fritz Haber an Carl Duisberg, 10.7.1920, BAL AS. 38 Fritz Haber an Carl Duisberg, 2.8.1920, BAL AS. 39 Plumpe, Carl Duisberg, S. 579–591. 40 Zum Streit um die Finanzierung der NDW Plumpe, Carl Duisberg, S. 619 ff.

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komplizierter. Folgt man Friedrich Schmidt-Ott, war die Sache von Anfang an verkorkst, da die Fischer-Nachfolge an Haber, der sie gar nicht angestrebt habe, ohne jede Vorabklärung herangetragen worden war.41 Es spricht manches dafür, dass in der Berliner Fakultät und im KWI für Chemie in Dahlem der eine oder andere die Aufforderung des Ministeriums, nach der Absage Willstätters erneut einen renommierten Kandidaten zu präsentieren, dazu nutzen wollte, um mit der Berufung Habers Duisberg, von dem man wusste, dass er die physikalische Chemie skeptisch sah und eine entsprechende Umwidmung des Lehrstuhls von Emil Fischer als schwere Niederlage empfinden musste, zurechtzustutzen. Auf Habers Wünsche wurde dabei offensichtlich wenig Rücksicht genommen.42 Nernsts zeitweilige Unterstützung einer Berufung Habers ist dabei noch am wenigsten rätselhaft, war er doch wie Haber physikalischer Chemiker. Margit Szöllösi-Janze betont völlig zutreffend, dass die Berufung Habers aus Sicht der KW-Institute für Chemie und physikalische Chemie der Versuch war, sich aus der Umklammerung durch die Industrie und aus den Unwägbarkeiten der Finanzierungssituation durch Anlehnung an die Universität zu befreien. Das trifft es zweifellos, es kommen aber weitere Gesichtspunkte hinzu. Denn eine der treibenden Kräfte hinter der Haber-Berufung war der bisherige Direktor des KWI für Chemie Ernst Beckmann, der auch das Schreiben der Fakultät an den Minister mitunterzeichnet hatte, in dem Habers Berufung vorgeschlagen wurde. Beckmann nun hatte sehr persönliche Gründe, sich zu engagieren. Mit Habers Berufung, und das war aus Beckmanns Sicht deren großer Vorteil, war ein ganzes Paket auf den Weg gebracht, denn Haber würde die Fischer-Professur nicht völlig ausfüllen können. Ernst Beckmann bot sich folgerichtig an, die organischen Vorlesungen und den entsprechenden Teil der Ausbildung zu übernehmen, wodurch auch »sein« KWI, das bisher vollständig von der chemischen Industrie abhing, in nähere Verbindung zur Universität getreten wäre. Da dem Haber’schen Institut die Auflösung drohte, hätten sich 41 Friedrich Schmidt-Ott an Carl Duisberg, 3.4.1920, BAL AS: »Vertraulich gesagt bedauere ich, wie die Fischernachfolge an Haber, der sie nicht angestrebt hat, herangetragen ist, ehe irgendwelche Klärung erfolgt ist.« Schmidt-Ott teilte Duisbergs Haltung, wollte aber »jede Verstimmung des wertvollen Mannes [Fritz Haber] vermeiden. Dazu habe ich aber auch den Weg, worüber ich nicht schreiben möchte.« Wahrscheinlich war es Friedrich Schmidt-Ott, der schließlich durch die Verleihung einer persönlichen Professur an Fritz Haber die Sache zumindest diplomatisch klärte. 42 Szöllösi-Janze, Fritz Haber, schreibt, aufgrund der Quellenlage sei nicht klar, »wie wichtig Haber die Fischer-Nachfolge tatsächlich war«, S. 445.

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206 Werner Plumpe unter Umständen auch noch dessen Stiftungsmittel an die Universität umleiten lassen.43 Dass der bisherige Leiter des KWI für Chemie, Beckmann, auf diese Weise Fritz Haber womöglich ohne dessen Wissen als Waffe gegen Carl Duisberg einsetzte, hatte einen einfachen Grund. Duisberg betrieb seit einiger Zeit offen die Ablösung Beckmanns, mit dem er sich zunächst gut verstanden hatte,44 den er mittlerweile allerdings für eine Belastung des Dahlemer Instituts hielt.45 Als Vorsitzender des Verwaltungsrates des KWI für Chemie war Duisberg hier direkt betroffen und besaß auch das entsprechende Mandat. Die Überlegungen, zu einer Änderung der personellen Konstellation zu kommen, gingen anfänglich nicht einmal von Duisberg aus, sondern von Friedrich Schmidt-Ott, der vor seiner Ernennung zum Minister die für die KWG zuständige Abteilung im Ministerium geleitet hatte.46 Der Krise der chemischen Forschung in Berlin liege, so Schmidt-Ott, nicht allein der Geldmangel, sondern vor allem die »Tatsache zu Grunde, […] daß das KW Inst. für Chemie nicht so viel leistet, wie Sie und wir erwarteten. Die Person des Direktors ist ohne Frage daran Schuld. Sie erinnern sich selbst, daß, als ich mit der Frage des KW Instituts an den Verein Chem. Reichsanstalt herantrat, die Direktorenfrage bereits durch den Verein entschieden war. Staatlich oder von Seiten der KWGesellschaft wären wir nie zu dieser Entscheidung gekommen. Willstätters Berufung war ein Ersatz, aber vorübergehend. Wir mußten den überwiegenden Hochschulinteressen wei-

43 Szöllösi-Janze, Fritz Haber, S. 441 f. 44 Der Briefwechsel zwischen Duisberg und Beckmann besteht nach einer etwas dichteren Korrespondenz aus Beckmanns Leipziger Zeit seit seiner Berufung an das KWI Berlin (1912) nur aus ganz wenigen Glückwunsch-Schreiben und ist gerade in dieser Hinsicht aussagefähig; ein Vertrauensverhältnis bestand hier offenkundig nicht mehr. 45 Szöllösi-Janze, Fritz Haber, S. 246, führt den Niedergang der Bedeutung Beckmanns auf den aufgehenden Stern Richard Willstätters zurück, der Beckmann nach 1912 am KWI für Chemie offensichtlich in den Schatten stellte. Die Lage war zumindest aus Duisbergs Sicht anders. Solange Willstätter am KWI für Chemie in Berlin war, war dort die organische Chemie gut vertreten und die Schwäche des alt gewordenen Beckmann, ebenfalls Organiker, hinnehmbar. Erst mit Willstätters Weggang und der Berufung des Anorganikers Alfred Stock zu seinem Nachfolger trat das Problem der Leistungsfähigkeit Beckmanns in den Vordergrund: »Neben Ihnen [Duisberg schrieb an Alfred Stock, dem er zum Gang nach Berlin gratulierte, W. P.] hätte ich aber gern noch einen jungen Organiker. […] Wenn diese nun auch durch den Direktor des Instituts vertreten ist, so bedarf sie doch bei dem Alter, das die Direktoren zu haben pflegen, der Auffrischung durch die neue Wege wandelnde Jugend.« Carl Duisberg an Alfred Stock, 15.7.1915, BAL AS.  46 Siehe hierzu Friedrich Schmidt-Ott, Erlebtes und Erstrebtes, S. 115–166.

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chen. Trotzdem wäre es bei der Bedeutung der Chemie nach dem Kriege jammerschade, wenn das Institut einginge.«47 Duisberg teilte die Kritik an Beckmann zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Die Krise des Instituts liege nicht nur am vielleicht aus Altersgründen nicht mehr so leistungsfähigen Direktor, den hatte Duisberg ja mit berufen, sondern auch an den Zeitverhältnissen. Die zukünftige Finanzierung sei zudem gesichert. Mit Alfred Stock, Otto Hahn und Lise Meitner habe man sehr gute Abteilungsleiter; es komme darauf an, die Organik zukünftig zu stärken, was im Verwaltungsrat des KWI im Übrigen unstrittig war.48 Aber auch Duisberg war klar, dass die Frage der personellen Leitung des Dahlemer Instituts nicht mehr zu umgehen war. Der Tod Emil Fischers machte das gesamte Problem schließlich aktuell. Duisberg ging es in der ganzen Angelegenheit gar nicht darum, gegen Haber etwas vorzubringen, sondern eine Berufungskonstellation zu verhindern, die in jeder Hinsicht kontraproduktiv gewesen wäre – und zwar in wissenschaftlicher Hinsicht! Auch vom Verlauf des Berufungsverfahrens her wird das überdeutlich. Anfang 1920 schien die Situation günstig, um mit der Fischer-Nachfolge auch die Frage der Leitung des Dahlemer KWI zu klären und damit in Berlin einen völligen Neuanfang zu ermöglichen: »Findet die für Wissenschaft und Lehre so wichtige Besetzung der Berliner Chemieprofessur ihre Erledigung, so wird damit auch die Frage des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie aufgerollt. In dieser Voraussicht habe ich als Vorsitzender des Verwaltungsrats zusammen mit dem Schatzmeister, Herrn Geheimrat Dr. F. Oppenheim, in voriger Woche in Dahlem eine Besprechung mit den 3 Abteilungsleitern des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie gehabt. Wir haben die Frage der Zukunft des Instituts schon eingehend erörtert und den Direktor des Instituts, also Ernst Beckmann schon fühlen lassen, dass es so nicht weiter geht.« Für Alfred Stock, Lise Meitner und Otto Hahn werde man das Geld in der Industrie zweifellos zusammenbekommen49, aber die Lage sei nicht einfach, da das Kapital der Gesellschaft zur Förderung der chemischen Forschung, des ehemaligen Vereins chemische Reichsanstalt, bald aufgezehrt sei. Die Industrie sei aber nur bereit zu zahlen, »wenn das geleistet wird, was früher unter Willstätter und auch heute unter Stock, Hahn und Meitner 47 Friedrich Schmidt-Ott an Carl Duisberg, 29.3.1919, BAL AS. Die kritische Beurteilung Beckmanns auch bei Friedrich Glum, Zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Erlebtes und Erdachtes in vier Reichen, Bonn 1964, S. 286. 48 Carl Duisberg an Friedrich Schmidt-Ott, 7.4.1919, BAL AS. 49 Finanzielle Details im Brief von Carl Duisberg an Alfred Stock, 17.2.1920, BAL AS.

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208 Werner Plumpe g­ emacht wird. Man wird also wahrscheinlich den Rücktritt des Herrn Beckmann fordern, wie dies schon ganz offen in der chemischen Industrie ausgesprochen wurde.« Dann sprach Duisberg kühl aus, worum es eigentlich ging. Beckmann war nach seiner Auffassung schlicht pensionsreif: »Hätten wir schon das in Aussicht genommene Gesetz, nach welchem jeder Hochschullehrer oder auch, wie es geplant ist, jeder Beamter mit dem 65. Lebensjahr zurücktreten muss, so wäre die Lösung einfach.« Da das noch nicht so sei, müsse man eine andere Lösung oder einen Kompromiss suchen. Auf jeden Fall aber müsse das Niveau im KWI gehalten und gesteigert werden.50 Das Spiel, das mit der Nominierung Habers exakt zu dem Zeitpunkt einsetzte, als sich Duisberg und Schmidt-Ott über eine Ablösung Beckmanns verständigt hatten, war daher vor allem der Versuch, unter Ausnutzung des ministerialen Wunsches nach einem großen Namen eine Entmachtung Beckmanns zu verhindern und damit zugleich Duisbergs direkten Draht nach Berlin abzuschneiden. Duisberg ließ sich dabei leicht als Interessent disqualifizieren, dessen Einfluss auf das KWI für Chemie begrenzt werden müsse, auch wenn zumindest den informierten Beteiligten um Schmidt-Ott völlig klar war, dass es sich bei diesem Argument nur um eine Nebelkerze handelte. Denn der Hauptnutznießer einer Berufung Habers wäre nicht Haber selbst gewesen, der sich ja gar nicht um die Fischer-Nachfolge bemüht hatte, sondern Ernst Beckmann, der seinen fälligen Abschied hätte hinauszögern können und seinen schärfsten Kritiker losgeworden wäre. Duisberg konnte Haber wiederum nur verhindern, weil seine Argumente nicht völlig aus der Luft gegriffen waren: Weder war eine Umwidmung der Fischer-Professur eine wissenschaftliche Notwendigkeit noch war die Weiterbeschäftigung Beckmanns zwingend. Schließlich, und das dürfte eine große Rolle gespielt haben, war Duisberg keineswegs gegen alle Veränderungen in Berlin, sondern »gegen die Übernahme der Gesamtprofessur Emil Fischers durch die physikalische Chemie.«51 Walther Nernst, der zunächst eine Berufung Habers positiv sah, schwenkte auch rasch auf Duisbergs Kurs ein, nachdem sich beide ausgesprochen hatten: »Mit diesen Zeilen möchte ich nur noch ganz kurz zum Ausdruck bringen, dass ich nach weiterem Überdenken in allen Punkten Ihnen vollkommen zustimmen möchte, nur in der mehr unterrichts-technischen Frage der Möglichkeit einer Teilung des 50 Carl Duisberg an Friedrich Schmidt-Ott, 13.2.1920, BAL AS. 51 Carl Duisberg an Alfred Stock, 29.3.1920, BAL AS.

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Instituts Fischer möchte ich meine Bedenken aufrechterhalten und womöglich noch unterstreichen.«52 Die von Duisberg favorisierte Teilung der Professur nach Willstätters Absage ebenso wie Nernsts Bedenken hiergegen zeigen klar an, dass Duisberg gerade keinen Durchmarsch plante. Er war aber auch nicht bereit, einen »Putsch« der anderen Seite hinzunehmen. Auffällig an der Fischer-Nachfolge ist vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der sich Carl Duisberg, der mit der Berliner Universität nichts zu tun hatte und dort kein formales Mandat besaß, in die Stellenbesetzung einmischte. Diese Einmischung war aber vor allem durch den Versuch der Fakultät, die Stelle auf kaltem Wege umzuwidmen und zugleich mit der Zukunft der Kaiser WilhelmInstitute zu verknüpfen, provoziert. Es ging daher keineswegs um irgendeine »autokratische« Volte Duisbergs, die über Willstätters spätere Erinnerungen in die Literatur eingesickert ist und seither dauerhaft kolportiert wird.53 Duisberg war vielmehr von Anfang an Teil der Neukonfiguration der Berliner Chemischen Forschung; er sah sich wohl zum Teil auch als Testamentsvollstrecker Emil ­Fischers. Daher kam er überhaupt nicht auf die Idee, sich zurückzuhalten, sondern intervenierte von Anfang an ganz offen. Vom formalen Verfahren her war das nicht in Ordnung, zumindest die Demarche bei Staatssekretär Becker war ein Akt ohne Mandat. Die deutlichen Schreiben an Adolf von Harnack, den Präsidenten der KWG, waren hingegen rein formal nicht zu beanstanden, da Duisberg als Vorsitzender des Verwaltungsrates des Dahlemer KWI und Senator der KWG in der Tat bei der zukünftigen Gestaltung der Berliner Forschungslandschaft ein Wörtchen mitzusprechen hatte. Dass hier das Geld eine große Rolle spielte, folgte keiner Willkür Duisbergs, sondern die Finanzierung der KWG und ihrer Institute stand zu dieser Zeit auf der Tagesordnung, und es war klar, dass man von der Industrie Unterstützung erwartete. Dass diese dann auch ihre Stimme erhob, sollte nicht verwundern. Bei der Verhinderung der Berufung Habers ging es auch keineswegs um eine Intrige, wie Jaenicke in seiner Geschichte der Bunsen-­ Gesellschaft nahelegt. Duisberg hatte überhaupt keinen Grund, hier über Bande zu spielen oder hinten herum tätig zu werden. Er äußerte sich ganz offen gegenüber dem zuständigen Staatssekretär, gegenüber dem Präsidenten der KWG und 52 Walther Nernst an Carl Duisberg, 20.4.1920, BAL AS. 53 Zu den Erinnerungen von Richard Willstätter s. o. In der Frage der Berufung Habers äußerte er sich Duisberg gegenüber gar nicht. Das freundschaftliche Verhältnis zwischen Duisberg und Willstätter war im Sommer 1920 jedenfalls nicht getrübt. Die negative Charakterisierung Duisbergs ist daher nur im Lichte der späteren Entwicklung zu verstehen.

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210 Werner Plumpe anderen und fand damit Gehör. Wenn jemand eine Intrige im Sinn hatte, war es Ernst Beckmann – eine Intrige, für deren Fehlschlag Fritz Haber die Kosten zu tragen hatte. Duisberg hatte Intrigen nicht nötig, da er ohnehin davon ausgehen konnte, gehört und gegebenenfalls respektiert zu werden. Gerade diese Nonchalance, mit der er sich in den Kampf stürzte, ja sich selbst noch in die Berufungsverhandlungen einmischte, als Haber längst nicht mehr zur Debatte stand,54 war es, die einigen Mitgliedern der Berliner Fakultät gar nicht gefiel, was man ihn dann auch wissen ließ. Die Sitzung der Laboratoriumsvorstände, also der Ordinarien der chemischen Institute im Herbst 1920 besuchte er nicht: »Es ist vielleicht auch besser, wenn ich bei diesen Beratungen der Verbandsmitglieder fern bleibe, wurde mir doch sowieso schon, so zuletzt bei Veranstaltungen in Berlin von Nernst vorgeworfen, dass ich mich um Berufungsangelegenheiten kümmere, die ausschliesslich Sache der Fakultäten seien. Dabei habe ich mich niemals um Personenfragen bekümmert, sondern nur darauf gesehen, dass rein sachlich die für unsere Industrie so wichtige organische Chemie nicht unter die Räder kommt.«55 Die Berliner Professur wurde schließlich, wie Fischer es selbst noch geplant hatte, geteilt, doch war die Gewinnung großer Namen für die im Bürgerkrieg versinkende Hauptstadt nicht einfach. Jetzt verkrachten sich Duisberg und Haber allerdings wirklich, weil Duisberg vermutete, Haber behindere die Berufung von Wieland, was dieser empört zurückwies. Erst 1921 kehrte langsam der akademische Frieden in die Berliner Universität und das Dahlemer Institut zurück; die latenten Spannungen zwischen Duisberg und Haber blieben, zumal Duisberg eine der Stützen von Schmidt-Otts Autokratie in der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft (NDW) war, die Haber entschieden ablehnte.56

Fazit Diese Spannungen bestimmten auch das Bild der Erinnerung, in der die Verhinderung Habers letztlich als Folge einer Intrige Duisbergs gegen eine ihm persönlich unangenehme Forscherpersönlichkeit erschien, obwohl Duisbergs Intervention so gerade nicht motiviert war. Wäre es so gewesen, hätte der am 54 Flechtner, Carl Duisberg, S. 322. 55 Carl Duisberg an Theodor Curtius, 6.9.1920, BAL AS. 56 Notker Hammerstein, Die Deutsche Forschungsgemeinschaft in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Wissenschaftspolitik in Republik und Diktatur 1920–1945, München 1999.

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Verfahren ja nur peripher beteiligte Duisberg kaum das Gewicht gehabt, sich gegen die Fakultät, die Wünsche des Ministeriums und die Spitze der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft durchzusetzen. Und es wäre ihm auch keineswegs gelungen, die maßgeblichen Kreise der chemischen Industrie für einen rein persönlich motivierten Feldzug gegen einen anerkannten Chemiker zu mobilisieren. Persönliche Animositäten, Unverträglichkeiten und auch gegenteilige Auffassungen im Bereich der Forschungsförderung gab es zweifellos; doch sollten ­diese persönlichen Konflikte nicht das historiografische Urteil über die in diesem Fall erkennbare Personalentscheidung trüben. Deutlich wird vielmehr die Diskrepanz zwischen einem im Kern klaren und transparenten Prozedere und seiner empirischen Füllung, der gerade diese Transparenz notwendig fehlte. Denn der Kreis der Beteiligten war faktisch deutlich größer als der enge Fakultätsrahmen es vorsah. Und das Gewicht der jeweils vorgetragenen Argumente verdankte sich jedenfalls nicht allein ihrer prozeduralen Verankerung, sondern folgte auch faktischen Gesichtspunkten, namentlich der industriellen Finanzierungsbereitschaft, die nicht unberücksichtigt bleiben konnten. Dabei wurden die prozeduralen Regeln gleichwohl zumindest offen nicht verletzt. Sie bildeten vielmehr den stets respektierten Entscheidungsrahmen und legten auch die formalen Entscheidungsschritte fest, deren praktische Ausfüllung indes wiederum völlig situativ und in Abhängigkeit von Gewicht und Bedeutung der beteiligten Personen geprägt war. Denn die Entscheidungsvoraussetzungen und -prämissen konnten ja durch das formale Prozedere nicht festgelegt werden; sie kamen notwendigerweise auch nicht allein aus den fachlichen Deliberationen der beteiligten akademischen Kreise, sondern reflektierten in umfassender Weise die kommunikativ relevanten oder zur Relevanz erhobenen Gesichtspunkte, die sich schließlich in spezifischen Entscheidungsvorschlägen und deren Debatte kristallisierten. Der Verweis auf die Regeln des Verfahrens war zwar ein Standardargument, wenn es darum ging, unerwünschte, aber einflussreiche Positionen zu delegitimieren; doch bedurfte es hierfür nicht nur formal stichhaltiger Befunde wie Befangenheit, Vorteilsnahme oder Ähnlichem, die so ohne Weiteres eben nicht zu finden waren. Der hybride Charakter der Organisation der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft, die in materieller Hinsicht weitgehend von der Finanzierungsbereitschaft der Industrie abhing, machte ein derartiges Vorgehen im Grunde von Anfang an aussichtslos, da diese Finanzierungsbereitschaft auf Freiwilligkeit beruhte, jederzeit also auch widerrufen werden konnte. Die Berufung Fritz Habers, dessen wissenschaftliche Bedeu-

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212 Werner Plumpe tung auf seinem engeren Gebiet unstrittig war und der auch eine Fakultätsmehrheit gefunden hätte, war jederzeit möglich; sie hätte freilich vorausgesetzt, dass die zuständigen bürokratischen Stellen, die Fakultätsangehörigen und die Vertreter der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft auf das Finanzierungsargument der Industrie anders reagiert hätten, doch dem zu erwartenden Konflikt mit der möglichen Konsequenz, die entsprechende Forschung in Berlin nur noch unzureichend ermöglichen zu können, gingen jene, die die formale Entscheidung schließlich trafen, aus dem Weg. Stattdessen denunzierten sie die Industrie, ihre Finanzierungszusage geradezu erpresserisch benutzt zu haben, so als habe eine moralische Verpflichtung bestanden, Geld zu geben, ohne auf dessen Nutzung Einfluss zu nehmen. Doch mäzenatisch waren die industriellen Zusagen ja nie gewesen, und entsprechende Erwartungen, die Friedrich SchmidtOtt und Fritz Haber im Vorfeld der Gründung der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft (der späteren DFG) und ihres Stifterverbandes aus der deutschen Industrie hatten, wurden ebenso enttäuscht. Auch hier finden sich in der Literatur Vorwürfe, die Industrie habe aus Machtwillen etwas nicht getan, was doch ihre vermeintliche moralische Pflicht gewesen wäre,57 aber auch das ist nur Camou­flage eines im Grunde einfachen Zusammenhangs. Die beteiligte Industrie gab Geld, wenn und solange es der einschlägigen Forschung, die zugleich Voraussetzung und Bedingung industrieller Innovationsprozesse war, zugutekam; mäzenatisch war sie explizit nicht, und zwar vor allem wegen des von Carl Duisberg hier und in anderen Zusammenhängen stets vorgetragenen (und schwer bestreitbaren) Arguments, die Zahlungsbereitschaft der Unternehmen korreliere mit der einschlägigen Bedeutung der Forschung, ein Argument, das sich mehr oder weniger unverhohlen vor allem gegen die kulturwissenschaftliche Verwendung industrieller Finanzmittel richtete.58 Sicher spielte eine Rolle, dass Carl Duisberg nach und nach eine Art Schlüsselstellung im Rahmen des industriellen Wissenschaftsengagements übernahm; doch fiel ihm diese Rolle auch deshalb zu, weil außer ihm wenige bedeutende Industrielle bereit waren, überhaupt hier aktiv zu werden. Carl-Friedrich Siemens war stets im Gespräch, hielt sich aber praktisch zurück; an der Tatsache, dass es nicht um Mäzenatentum, sondern um gezielte Forschungsförderung ging, 57 Siehe etwa die Darstellung bei Winfried Schulze, Der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft 1920–1995, Berlin 1995. 58 Plumpe, Carl Duisberg, S. 632–637.

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ließ auch er keinen Zweifel. Albert Vögler, später Chef der Vereinigten Stahlwerke, dachte und handelte ganz ähnlich. Hugo Stinnes beließ es bei ­vagen Zusagen, an die sich praktisch wenig anschloss. Mehr noch: Duisbergs umfassendes Engagement zur Förderung der naturwissenschaftlichen Forschung in Deutschland war selbst in der Industrie, ja sogar in der I.G. Farbenindustrie hoch umstritten, gerade weil man die Vermutung hatte, der Staat wolle sich seine Aufgaben von der Indus­trie finanzieren lassen, ohne dass diese ein angemessenes Mitspracherecht habe. Angesichts der Zeitumstände sei es zudem kaum möglich, größere Summen zu mobilisieren; dazu gehe es den Unternehmen einfach nicht gut genug, argumentierten etwa die führenden Herren der Höchster Farbwerke. Die Ironie ist: So sehr Duisberg in Berlin auf dem Standpunkt beharrte, die industriell geförderte Forschung habe einschlägige technisch-naturwissenschaftliche Ausrichtungen zu verfolgen, so energisch drängte er die Herren im eigenen Hause wie in anderen Unternehmen, ihre Finanzmittel im Sinne einer freien naturwissenschaftlichen Forschung unkonditioniert zur Verfügung zu stellen, da nur so die Grundlagen für industrielle Innovationen überhaupt entstünden. Diese Position gewann in den geschilderten Personalentscheidungsprozessen auch deshalb an Momentum, weil man Duisberg zwar als Interessenvertreter hinstellen konnte, de facto aber seine Bereitschaft zur Forschungsförderung gleichwohl nicht bestreiten konnte. Dazu war Duisberg auch innerhalb der chemischen Forschung viel zu angesehen; selbst seine Widersacher Haber und Willstätter stellten ihn hier nicht infrage, sondern sorgten wenig später für seine Aufnahme als korrespondierendes Mitglied in die Preußische Akademie der Wissenschaften. Denn in der Auseinandersetzung um die Fischer-Nachfolge bewegte sich Duisberg durchweg in einer akademisch anschlussfähigen Auswahlsemantik, die er zu keinem Zeitpunkt aufgab. Es ging eben nicht um die Durchsetzung eines (akademisch möglicherweise inferioren) Kandidaten der Industrie; das war und blieb völlig ausgeschlossen. Die akademischen Personalentscheidungen waren daher auch durch Duisbergs Einfluss beziehungsweise seine Intervention nicht denaturiert, zu reinen Schauveranstaltungen zur Verbergung der realen Machtverhältnisse verkommen, wie Kritiker des Industrieeinflusses in den Universitäten seit jeher vermuten. Auch die anstelle von Fritz Haber berufenen Forscher hatten Nobelpreisniveau und waren in ihren jeweiligen Teildisziplinen völlig unstrittig. Der von Duisberg favorisierte Organiker Heinrich Wieland, der den Ruf erhielt, ihn aber nach längeren Verhand-

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214 Werner Plumpe lungen ablehnte, erhielt 1927 den Nobelpreis für Chemie; der Ruf ging dann an den Spezialisten für metallorganische Chemie Wilhelm Schlenk. Der von Duis­ berg geförderte Alfred Stock war wissenschaftlich unstrittig renommiert; 1921 übernahm er zusätzlich die Leitung des Dahlemer KWI, bevor er 1926 an die TH Karlsruhe wechselte. Das Ausgangsplädoyer Duisbergs für Richard Willstätter war ohnehin außerhalb jeder Kritik. Insofern könnte man resümieren, dass Duisberg nicht in die Kandidatenauswahl eingriff; bei den schließlich in die engere Wahl kommenden, akademisch mithin unstrittigen Kandidaten plädierte er (zumeist in beratender Funktion) für diejenigen Chemiker, die seinen Vorstellungen von der Förderung der Innovationsfähigkeit der chemischen Industrie am meisten entsprachen. Das tat er zumeist in informellen Gesprächen, deren Bedeutung sicher nicht zu unterschätzen ist, da industrielle Kontakte für zukünftige Ordinarien etwas waren, was weder Fakultäten noch Hochschulleitungen oder Ministerialbürokratien einfach ignorieren konnten, geschweige denn ignorieren wollten. Ausschlaggebende Bedeutung hatten diese Ratschläge, das wusste Duisberg, nicht, zumal sich namentlich in Preußen die Ministerialbürokratie nicht gerne in ihre Berufungspolitik hineinreden ließ. Aber auch der ihm gut bekannte bayerische Kultusminister von Knilling hatte stets darauf geachtet, nicht gegen die entsprechenden Fakultäten zu entscheiden, was externen Rat nicht ausschloss, aber in seiner Reichweite deutlich begrenzte. Im Fall der Fischer-Nachfolge war die Lage insofern anders, als es hier gleichzeitig um die Neubesetzung des Leiters des KWI für Chemie in Dahlem ging, das von der Finanzierung durch die Industrie abhing. Als dessen Verwaltungsratschef besaß Duisberg ein Mandat, das er wie geschildert energisch nutzte, dessen Gewicht aber von der prekären Lage der Wissenschaftslandschaft nach dem Krieg bestimmt wurde, in der industrielle Forschungsförderung alternativlos erschien. In allen anderen Verfahren war Carl Duisberg zwischen den 1900er-Jahren und dem Beginn der Weimarer Zeit ein Mann, auf dessen Wort die suchenden Fakultäten schon Wert legten, wobei der informelle Charakter der Berufungsverfahren es schwer macht, dieses Gewicht im Einzelnen zu bestimmen. Aus Duisbergs Korrespondenz wird immerhin klar, dass er auch Kandidaten, die er stützte, nichts garantieren konnte. In den informellen Suchund Abstimmungsgeschehen, die einer Berufung vorangingen, aber war Duisberg ein gesuchter Gesprächspartner, der sowohl über Sachkenntnis wie über industriellen Einfluss verfügte. Da fragte der eine oder andere Professor und/ oder Wissenschaftspolitiker schon einmal gerne um Rat und Hinweise nach.

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Duisbergs Rolle ermöglicht daher zugleich einen Einblick in universitäre Personalentscheidungen jener Jahre, die durch Duisbergs Beitrag eben nicht pervertiert wurden, sondern zumindest für den heutigen historischen Blick überhaupt erst transparent werden. Diese Personalentscheidungen folgten dabei nicht der Unterscheidung von Akkuratheit und Korruption, wie es durch Beobachter und Interessenten immer wieder insinuiert wurde. Formelle Verfahren und deren informelle Füllung waren vielmehr der eigentliche Kern jeder akademischen Personalentscheidung, wobei diese informelle Füllung dort, wo es um industriell bedeutende Forschungskomplexe ging, ihre spezifische Ausrichtung hatte, in der Geld eine Rolle spielte. Diese Rolle des Geldes hatte mit Korruption nichts zu tun, sondern war ein ganz offener Sachverhalt, der so lange Bedeutung besaß, solange die Finanzierungsbereitschaft der Industrie freiwillig war, also gegebenenfalls auch zurückgenommen werden konnte. Genau diese Konstellation bestimmte die Kontroverse um die Fischer-Nachfolge, die anders verlaufen wäre, hätte man auf das Geld der Industrie verzichtet. Doch das wollte niemand.

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Ungeeignet – Persönlichkeits­ profile nicht beförderter ­Führungskräfte im Spiegel von Eignungsuntersuchungen (ca. 1965–1990) Jörg Lesczenski Das rasche Wachstum deutscher Industrieunternehmen seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu Großorganisationen mit einem ausdifferenzierten System von Abteilungen und Positionen verlangte aufstiegsorientierten Führungskräften gewissermaßen Qualitäten eines »Pyramidenkletterers« ab.1 Die berufliche Karriere führte im 20. Jahrhundert häufig über die stufenweise Bewährung Schritt für Schritt nach oben. Eine ambitionierte Nachwuchskraft musste bei der Laufbahnplanung damit zwei wesentliche Grundvoraussetzungen in Rechnung stellen. Die Pyramidenstruktur des Unternehmens führte, erstens, zwangsläufig dazu, dass die nächsthöhere Hierarchiestufe längst nicht mehr allen Managertalenten Platz bot. Die »Luft nach oben« wurde mit jeder Beförderung dünner. Darüber hinaus lassen sich Karriereverläufe, zweitens, als ein mehrstufiger Wettbewerb beziehungsweise ein fortlaufendes Turnier verstehen. Die Mitglieder einer Alterskohorte, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in ein Unternehmen eintreten, stehen in Konkurrenz um die erste prestigeträchtige Beförderung; die Gewinner der ersten Runde erwerben die Berechtigung, an der zweiten Turnierrunde teilzunehmen usw. Anders gewendet: Das System des Bewährungsaufstiegs brachte, unabhängig von der Art und Weise

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Vance O. Packard, Die Pyramiden-Kletterer, Düsseldorf 1963.

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der konkreten Auswahlmodi, auf allen Organisationsstufen regelmäßig Verlierer hervor.2 Typische Eigenschaften von nicht beförderten Führungskräften zu rekon­ struieren ist per se eine diffizile Aufgabe. Warum einem Jung-Manager der nächste Karriereschritt verwehrt wurde, geht aus den schriftlich überlieferten Quellen der Unternehmen nur selten hervor. Überdies geht es bei Personalentscheidungen stets um konkrete individuelle Einzelfälle, die sich auch in Summe nur mit Vorsicht verallgemeinern lassen. Gleichwohl bleibt zu vermuten, dass es im 20. Jahrhundert, neumodisch gesprochen, auch bei fachlich qualifizierten Nachwuchskräften zeittypische »No-gos« gab, die den Sprung auf die nächste Stufe der Pyramide verhinderten beziehungsweise deutlich erschwerten. Rückschlüsse auf signifikante Ausschlusskriterien für die Zeit der »alten« Bundesrepublik lassen indes Eignungsuntersuchungen von Führungskräften zu, die als US-amerikanischer Import seit den frühen 1960er-Jahren die herkömmlichen Instrumente der Personalbeurteilung und -auslese in deutschen Großunternehmen zunehmend ergänzten.3

2 Zum Turniercharakter des innerbetrieblichen Aufstiegs siehe vor allem: Josef Brüderl, Mobilitätsprozesse in Betrieben. Dynamische Modelle und empirische Befunde, Frankfurt am Main, New York 1991; James E. Rosenbaum, Career Mobility in a Corporate Hierarchy, Orlando 1984. 3 Das Archiv für Zeitgeschichte in Zürich verwahrt den Bestand einer psychologischen Praxis, die zwischen 1963 und 2000 rund 3.500 Gutachten über deutsche und Schweizer Führungskräfte erstellt hat, die im Auswahlverfahren für leitende Positionen u. a. in deutschen und anderen westeuropäischen Großunternehmen standen. Der Bestand ist für die wissenschaftliche Forschung freigegeben, allerdings unterliegt die Präsentation von Ergebnissen einigen Auflagen. Getestete Personen dürfen ebenso wenig namentlich erwähnt werden wie die Auftraggeber. Ihre Branchenzugehörigkeit darf hingegen benannt werden.

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Die Anfänge der Eignungsdiagnostik und die Gründung der Assessment-Praxis in Zürich Der Beginn der wissenschaftlich-psychologischen Eignungsdiagnostik lässt sich auf den Anfang des 20. Jahrhunderts datieren.4 Ihre Verfahren wurden bis in die 1930er-Jahre hinein nicht bei der Auswahl von leitenden Angestellten, sondern bei der Besetzung von Positionen in der Produktion sowie im Dienstleistungssektor ohne Führungsverantwortung eingesetzt. Zu den Behörden und Unternehmen, die nach dem Ersten Weltkrieg ihr Personal unter anderem per Eignungsprüfung auswählten, gehörten etwa Arbeitsämter, die Bahn, die Post und die Großunternehmen AEG, Siemens und Bosch. Vorläufer der heutigen Assessment-Center finden sich erstmals 1926/27 bei der Reichswehr, die ihre Offiziere über das sogenannte »Rundgespräch« und Gruppendiskussionen auswählte. Hinzu kamen Intelligenztests, Sprechanalyse, grafologische Tests, oder auch Prüfungen, die heute als »Stresstests« gelten. Die Frage, ob es unter Führungskräften in der Wirtschaft ein spezifisches Persönlichkeitsprofil gibt, nahm in den 1920er-Jahren auch zusehends die soziologische und psychologische Fachliteratur auf. Es wurden »Eigenschaftslisten« erstellt, die zum Beispiel Merkmale wie Initiative, Energie, Wille, Ausdauer, Konzentrationsfähigkeit und Beurteilungsvermögen als besondere Dispositionen des Führungspersonals herausstellten. Derartige Ansätze standen freilich früh in der Kritik, da ihren Ergebnissen keine systematischen Erhebungen, sondern wenig strukturierte Gespräche mit Führungskräften oder etwa die langjährige Beobachtung von hochrangigen Entscheidungsträgern zugrunde lagen. Darüber hinaus gab es auch keine Einigkeit darüber, welche der persönlichen Eigenschaften und in welchem Umfang die ermittelten Merkmale den individuellen beruflichen Aufstieg konkret mitbestimmen. Die ersten umfassenden, methodisch ausgefeilten Assessment-Verfahren führten Unternehmen in den USA durch. Wegweisend waren hier die ersten 4 Zur Geschichte der psychologischen Eignungsdiagnostik u. a.: Friedrich Dorsch, Geschichte und Probleme der angewandten Psychologie, Stuttgart 1963; Fred W. Schmid, ManagementTests als moderne Hilfsmittel für die Auslese und Beratung der Führungskräfte, in: Handbuch der Führungskräfteauswahl, -förderung, -bezahlung, hgg. von Rolf Buchholz und Karl-Hanns Maier, München 1970, S. 242–247; Heinz Schuler und Klaus Moser, Geschichte der Management-Diagnostik, in: Management-Diagnostik, hg. von Werner Sarges, Göttingen u. a. 1990, S. 18–26.

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Testreihen der Standard Oil Company 1955 und der American Telephone & ­Telegraph Company ein Jahr später, die beide rund 400 Nachwuchskräfte aus den eigenen Reihen psychologisch untersuchen und über Einzel- und Gruppentests ihre Führungsqualitäten und ihr Entwicklungspotenzial überprüfen ließen. Der Transfer des Einzel-Assessments von den USA nach Europa war nun eng mit dem Lebenslauf des Schweizers Fred W. Schmid verbunden.5 Schmid absolvierte in Zürich zwischen 1952 und 1955 zunächst eine kombinierte Ausbildung; er nahm das Psychologiestudium auf und war gleichzeitig am privaten Institut für Angewandte Psychologie tätig. Während seiner Mitarbeit in einem Projekt mit der Swissair – es ging um die Auswahl von zukünftigen Piloten – erhielt er vom American Institute for Research das Angebot, sein Studium in Pittsburgh fortzusetzen, wo er sich in Verfahren zur Leistungsbeurteilung und vor allem zur Personalauswahl einarbeitete. Nach Abschluss des Studiums kehrte er 1958 in die Schweiz zurück und übernahm in Zürich zunächst die private Berufsberatungspraxis eines Freundes. 1962 erhielt er schließlich die Anfrage des US-Konzerns International Telephone & Telegraph (ITT), ob er nicht Interesse hätte, Anwärter für Führungspositionen in Europa auf ihre Eignung hin zu beurteilen. Bereits erprobte Tests würden zur Verfügung gestellt und die Berichte müssten in englischer Sprache verfasst werden. Schmid nahm das Angebot gerne an und passte die Testreihen den regionalen Besonderheiten an. Und das mit Erfolg: Die Assessment-Praxis führte die ersten Eignungsuntersuchungen 1963 durch und entwickelte sich in den nächsten Jahren zu einer der ersten Adressen in Europa, wenn es um die Begutachtung von Führungskräften über das Einzel-Assessment ging, das die Absicht verfolgt, über verschiedene Testverfahren an einem Tag möglichst viel über jene Persönlichkeitsmerkmale der Probanden zu erfahren, die als notwendig galten, um der ausgeschrieben Stelle gerecht zu werden.

5 Zum Folgenden siehe: Fred W. Schmid, Motivation und Beruf. Eine autobiographische Skizze (I), in: Küsnachter Jahrheft 51 (2011), S. 48–59; ders., Motivation und Beruf. Eine autobiographische Skizze (II), in: Küsnachter Jahrheft 52 (2012), S. 59–68.

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Personalpolitik deutscher Großunternehmen in den 1960er-Jahren zwischen Tradition und Aufbruch Als die Assessment-Praxis ihre Begutachtungen aufnahm, war in westdeutschen Unternehmen der Boden für neue Ansätze in der Personalauslese bereitet. Der beschleunigte wirtschaftliche Strukturwandel, der rasche technische Fortschritt (Einführung der EDV), veränderte Produktionsformen (zum Beispiel zunehmende Arbeitsteilung), und die Internationalisierung zahlreicher Konzerne (etwa in der Eisen- und Stahlindustrie) erforderten offenkundig eine Führungskraft neuen Typs, die nicht mehr per Befehl ihre Abteilung führt, sondern Aufgaben koordiniert und delegiert. Seit etwa Mitte der 1950er-Jahre gab es auch in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie in den einschlägigen Printmedien eine breite Debatte über die zukünftigen Anforderungen an eine Führungskraft, die gleichfalls patriarchalisch-autoritären Führungsstilen jede Zukunft absprach.6 Bis dahin gab es in den deutschen Industriekonzernen, bei allen Unternehmens- und branchenspezifischen Differenzen, durchaus ähnliche Formen der Personalauswahl und -beurteilung.7 War eine vakante Führungsposition zu besetzen, fand bei internen und externen Kandidatinnen und Kandidaten über die gewissenhafte Prüfung der Bewerbungsunterlagen (Anschreiben, Lebenslauf, Zeugnisse) eine erste Vorauslese statt. Für eine Vorauswahl unter hauseigenen Bewerberinnen und Bewerbern standen den Entscheidungsträgern bisweilen weitere Instrumente zur Verfügung: das Urteil der direkten Vorgesetzten, die aktive Mitarbeit in Kursen und Seminaren, das sachkundige Engagement im Vorschlagswesen oder auch Personalkarteien, die zumindest Auskunft über die wesentlichen Eckpunkte der bisherigen Laufbahn gaben. Die größte Bedeutung bei der Personalbeurteilung hatte das persönliche (Vorstellungs-)Gespräch, das nach Ansicht zahlreicher Personalreferenten besonders geeignet war, die Stärken und Schwächen der Kandidaten und Kandidatinnen kennenzulernen. Während in den USA bei der Personalauswahl zusätzliche Eignungstests in den frühen 1960er-Jahren mittlerweile in fast jedem Groß­ 6 Dazu ausführlich: Bernhard Dietz, Der Aufstieg der Manager. Wertewandel in den Führungsetagen der westdeutschen Wirtschaft, 1949–1989, Berlin 2020, S. 139–202. 7 Aus der Fülle der zeitgenössischen Publikationen sei hier exemplarisch nur verwiesen auf: Elmar Bötcher, Die Beurteilung der Mitarbeiter und die Auslese des Schlüsselpersonals, Bad Harzburg 1965, S. 77–90.

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unternehmen an der Tagesordnung waren, galten die modernen psychologischen Testverfahren in westdeutschen Betrieben häufig als ein nicht zumutbarer Eingriff in die Persönlichkeitssphäre. Es gab in Deutschland lediglich eine ergänzende Methode der Personalauslese, die weithin Zuspruch fand: die Grafologie, die als eine wenig aufwendige Methode galt, mehr über die Persönlichkeit von Führungskräften zu erfahren. Zahlreiche Großunternehmen gingen in den 1960er-Jahren nun dazu über, ihre Methoden der Personalbeurteilung zu reformieren. Nachwuchskräfte wurden regelmäßiger und systematischer beurteilt. Die Verfahren hoben vor allem darauf ab, ihr Persönlichkeitsprofil und ihr Entwicklungspotenzial genauer zu erfassen. Betriebsintern lag die anspruchsvolle Aufgabe auf den Schultern der Abteilungsleiter beziehungsweise des jeweiligen Vorgesetzten, die freilich häufig davor zurückschreckten, die Persönlichkeit enger Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu beurteilen. Darüber hinaus integrierten Großunternehmen, in Westdeutschland anfangs vor allem Tochtergesellschafen US-amerikanischer Konzerne, immer häufiger externe Institutionen wie die Züricher AssessmentPraxis in den Prozess der Personalauswahl.

Das Einzel-Assessment in der Praxis – Ablauf und Stellenwert bei der Personalauswahl Im Frühjahr 1967 konkurrierten in der deutschen Niederlassung eines global aufgestellten US-Elektronik-Konzerns Herr B. und Herr S. um die Besetzung der neu eingerichteten Stelle des »Comptrollers«, eines »Finanzcontrollers«, der das Rechnungswesen im Geschäftsbereich Anlagen leiten sollte.8 Die Kandidaten hatten ihre Laufbahn zwar nicht in dem Konzern begonnen, gehörten ihm aber mittlerweile mehrere Jahre an und hatten mehrere »Bewerber-Turniere« erfolgreich absolviert. Eine Vorauswahl für die ausgeschriebene Position hatte durch Vorgesetzte und die zuständige Personalabteilung bereits stattgefunden. Als zusätzlicher Akteur, als zusätzliche externe Beobachter und Sachverständige kamen nun die Psychologen der Assessment-Praxis hinzu, die den Ausgang des Kandidaten-Wettbewerbs mit beeinflussten.

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Archiv für Zeitgeschichte, Zürich, Bestand: IB Assessment-Praxis Zürich, Fallakte Nr. 83.

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222 Jörg Lesczenski Am Anfang des Verfahrens übermittelte der Auftraggeber stets die genaue Stellenbeschreibung der vakanten Position und teilte dem Gutachter mit, welche Persönlichkeitsmerkmale der Kandidaten vorrangig überprüft werden sollen. So heißt es in dem Schreiben des Elektronikunternehmens an Fred W. Schmid vom 12. Mai 1967: »Wir bitten, Ihre Untersuchung insbesondere auf die Frage auszurichten, ob Herr B. in der Lage ist, die Comptroller-Funktion unseres Geschäftsbereiches Anlagen zu übernehmen. […] Die Funktion reicht in die Vorstandsebene; demnach müssen wir insbesondere die Frage beantworten, ob von der Persönlichkeit her […] sein Niveau ausreicht, um die mit dieser Funktion verbundenen Anforderungen zu erfüllen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass es sich im Rahmen unserer Organisation um eine neue Funktion handelt, die ein besonderes Maß an Einfallsreichtum, an Durchsetzungsvermögen und an Beweglichkeit verlangt.« Herr B. und Herr S. wurden mit ihrer Einladung zu einer Eignungsuntersuchung darum gebeten, vorab einen umfangreichen Personalbogen auszufüllen, der unter anderem Angaben zur sozialen Herkunft, zum Karriereverlauf, zum Freizeitverhalten, zum Gesundheitszustand und den zukünftigen beruflichen Zielen abfragte. Die beiden Einzel-Assessments, die vor Ort in Zürich durchgeführt wurden, begannen jeweils mit einem ausführlichen biografischen Interview. Es schlossen sich umfangreiche schriftliche psychologische Tests an, die das logische, kritische und produktive Denken sowie die persönliche Selbstdarstellung ausleuchteten. Die Kandidaten mussten unter anderem Rechenaufgaben lösen, Sätze ergänzen, Kurzgeschichten schreiben und persönliche Eigenschaften festlegen, die sie ihrer Ansicht nach im beruflichen Alltag auszeichneten. Unter Berücksichtigung der vom Unternehmen formulierten Zielsetzung der Untersuchung analysierte Schmid im Kern die drei Persönlichkeitsbereiche Arbeitshaltung (Antrieb, Energie, Disziplin, Belastbarkeit, Aufgeschlossenheit etc.), Intelligenz (Aufnahmevermögen, logisches Denken, Urteilskraft, Weitblick, Vorstellungsgabe etc.) sowie den »Umgang mit Menschen« (Kontaktstreben, soziale Anpassung, Überzeugungskraft, Führungsanspruch, Empathie, Kooperationsfähigkeit etc.). Fast genauso wichtig wie die Testergebnisse war das Verhalten der Probanden in der für sie unbekannten Testsituation, das von einem Assistenten beziehungsweise einer Assistentin in einem Protokoll festgehalten wurde. Wie geht er unbekannte neue Aufgaben an? Konzentriert, nervös, ruhig, ironisch oder eher fahrig? Dass ergänzend auch ein grafologisches

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Gutachten zu Herrn B. und Herrn S. eingeholt wurde, um das Bild abzurunden, war nicht außergewöhnlich. Nach dem Einzel-Assessment ging ein rund sieben- bis zehnseitiger Abschlussbericht an den Auftraggeber, der die wesentlichen Ergebnisse zusammenfasste und mit einem abschließenden Urteil über die Eignung des Kandidaten für die offene Position endete. In der Regel fertigte Fred W. Schmid über jeden Probanden ein Einzelgutachten an; standen zwei Kandidaten im Wettbewerb um die gleiche Stelle, wurde bisweilen auch, wie im Fall von Herrn B. und Herrn S., ein unmittelbar vergleichendes Gutachten verfasst. Wie fiel der Kandidaten-Vergleich nun aus? Beide waren nach Meinung von Fred W. Schmid gut qualifizierte Kandidaten, die auch im Hinblick auf ihre Einsatzbereitschaft und Durchsetzungsfähigkeit ungefähr ebenbürtig seien. Ihre Persönlichkeitsprofile verwiesen aber auf »recht verschiedene Typen«. Herr B. sei stärker an Bildungs- und kulturellen Werten interessiert, aber weniger zielstrebig und präzise in seinem Denken. Er geht weniger geordnet und systematisch vor. Herr S. überzeugte durch seine Fähigkeit, sich bei neuen Aufgaben auf das Wesentliche zu beschränken, seine Rationalität und eine auffallende Wirtschaftlichkeit des Denkens. Herr B. habe dafür »Außendienst- und Repräsentationsqualitäten«, die Herrn S. fehlten. Allerdings bestehe bei ihm das »Risiko, dass er fachlich und menschlich doch etwas mehr Eigenart und Substanz vortäuscht, als er tatsächlich mitbringt«. Seine Kontaktfreude stelle er überdies »weitgehend in den Dienst seiner nicht immer uneigennützigen Interessen«. Im »Gefühlsbereich« zeige Herr B. »wenig echte Zuwendung«, sondern eher eine »berechnende« Gesinnung. Herrn S. fehle dagegen die Fähigkeit, schnell neue Kontakte anzubahnen. Er zeige eher Züge eines »Einzelgänger[s]«, der sich aber sehr wohl »kameradschaftlich, menschlich absolut lauter und gerade« verhalte. Schmid sah in beiden Kandidaten »keine ausgesprochenen Ideenmenschen«, allerdings: Herr B. schien stärker an »traditionellen Werten orientiert und konventioneller im Denken [zu sein] als Herr S., der eher auf das Grundsätzliche geht und nichts gegen Veränderungen einzuwenden hat, solange sie nur in eine klare Strategie hineinpassen.« Daher schien Herr S. auch besser geeignet, eine weitreichende Reorganisation durchzuführen und wurde für die Stelle empfohlen. Zum Verfahren gehörte schließlich die Diskussion der Befunde mit dem Auftraggeber, der dem Urteil folgte und Herrn S. mit der Position des Comptrollers betraute. Daneben räumte Fred W. Schmid jedem Proban-

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224 Jörg Lesczenski den die Option auf ein Feedback-Gespräch ein, in dem er seine Begutachtung nochmals detailliert begründete und mit den Kandidaten diskutierte (Herr B. und Herr S. verzichteten auf die Möglichkeit). Auch wenn sich das Fallbeispiel nur mit Vorsicht generalisieren lässt, geben die Testergebnisse zumindest einige Hinweise auf Eigenschaften von Führungskräften, die nach einem Einzel-Assessment nicht für eine Beförderung empfohlen wurden. Grundsätzlich hatten diejenigen Probanden in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre schlechte Chancen, die unbefriedigende Ergebnisse in der Kategorie »Arbeitshaltung« erzielten und wie Herr B. ihre beruflichen Aufgaben nicht diszipliniert nachgingen und eher impulsiv aus einem Bauchgefühl handelten. »Verlierer« von Personalentscheidungen dachten eher kurzfristig und ließen ähnlich wie Herr B. die intellektuelle Flexibilität vermissen, die als notwendig betrachtet wurde, um neue berufliche Herausforderungen zu bewältigen. Darüber hinaus galten diejenigen Probanden für höhere Aufgaben als kaum geeignet, die ihre Fähigkeiten und Voraussetzungen deutlich überschätzten, die wichtige Entscheidungen in ihrem Bereich nicht selbst trafen, sondern an den nächsten Vorgesetzten weitergaben oder denen unter zeitlichem Druck die notwendige Stressresistenz fehlte. Rund zwanzig Jahre später, im August 1985, ließ ein deutscher Konzern der Nahrungs- und Genussmittelbranche in Zürich drei Kandidaten für den Vorstandsbereich Betriebswirtschaft testen.9 Gegenüber den 1960er-Jahren traten nun weitere Akteure bei der Personalauslese hinzu. Das norddeutsche Unternehmen platzierte zunächst eine anonyme Stellenanzeige in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und beauftragte eine Personalberatung mit der Vorauswahl von Kandidaten und Kandidatinnen. Der Vorstandsausschuss des Aufsichtsrats führte anschließend ebenso Gespräche mit drei externen Bewerbern wie die Mehrheitseigentümer. Kurzum: Der Auswahlprozess war schon weit fortgeschritten, als die Assessment-Praxis mit den Eignungsprüfungen beauftragt wurde. Den Prüfungen der Herren H., N. und K. lag auch hier die Stellenbeschreibung und das Anforderungsprofil zugrunde. Da die gegenwärtige Arbeitssituation innerhalb des Vorstands durch eine »totale physische Überlastung« der einzelnen Mitglieder gekennzeichnet sei, soll das Gremium personell erweitert werden. Neben einschlägigen Kenntnissen in der Warenwirtschaft und im 9 Archiv für Zeitgeschichte, Zürich, Bestand: IB Assessment-Praxis Zürich, Fallakten Nr. 2023, 2078, 2099.

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Umgang mit vertriebswirtschaftlichen Informationssystemen wurden von den Bewerbern spezifische Persönlichkeitsmerkmale verlangt: Das zukünftige Vorstandsmitglied müsse gegenüber den Kollegen den eigenen Standpunkt aus betriebswirtschaftlicher Sicht überzeugend vertreten, bereit sein, kooperativ zu arbeiten, eine »natürliche Führungsautorität mit ausgeprägter Kommunikationsbereitschaft« sowie Kritikfähigkeit mitbringen. Hinzu kamen noch spezielle, auf die persönlichen Voraussetzungen der drei Bewerber gemünzte Fragen. Im Fall des ersten Kandidaten, Herrn H., interessierte es den Auftraggeber, ob er seine beruflichen »Erfahrungslücken durch seine Persönlichkeitsstruktur und seinen Arbeitsstil kurzfristig schließen« könne. Ferner sollte Fred W. Schmid sein Führungspotenzial, die Motivationsfähigkeit und seine Entscheidungskraft abschätzen, die groß genug sein müsse, »um sich in einem Team starker Vorstandskollegen durchzusetzen«. Die Personalverantwortlichen hatten augenscheinlich den Verdacht, dass die Kooperationsbereitschaft von Herrn H. letzten Endes »durch eine signifikante Anpassungsmentalität« überlagert werde. Die Ergebnisse der Eignungsuntersuchung fielen eindeutig aus. Herr H. würde sich engagiert darum bemühen, mithilfe seines ausreichenden theoretischen Wissens die beruflichen Erfahrungslücken zu schließen. Allerdings sei er nicht so begabt, um hier schnelle Fortschritte zu erzielen. Er habe gerade bei fachfremden Aufgabenstellungen, wo er seine Qualitäten als Generalist hätte beweisen können, nicht gut abgeschnitten. Bei Herrn H. müsse mit einem »längeren Lern- und Reifeprozess« gerechnet werden. Gemessen an der anspruchsvollen Position sei seine Motivationskraft bestenfalls durchschnittlich. Fred W. Schmid beobachtete bei ihm eine »gewisse Unselbständigkeit seines Charakters«, die seine Fähigkeit, selbständige Entscheidungen zu treffen und umzusetzen, begrenze. Herrn H. neige dazu, Konflikten auszuweichen und sei alles in allem eher für eine Position auf zweiter Ebene im Finanzbereich geeignet. Damit war der Kandidat aus dem Rennen – der Auftraggeber folgte der Begutachtung Schmids und sagte Herrn H. mit Verweis auf die zu große Diskrepanz zwischen Anforderungsprofil und Persönlichkeitsbild ab. Der zweite Bewerber um den Vorstandsposten, Herr N., wurde im Vorfeld von den Entscheidungsträgern im Nahrungs- und Genussmittelunternehmen als fachlich sehr geeignet eingeschätzt. In Zürich sollte nun vor allem abgeklärt werden, wie es um sein langfristiges Entwicklungspotenzial, seine Führungsqualitäten, sein »Realisierungsvermögen« und sein »Anpassungsvermögen an

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226 Jörg Lesczenski eine pragmatische Umwelt« bestellt ist. Schmid bescheinigte Herrn N. in seinem Gutachten aus dem Januar 1986 Führungseigenschaften, die »Bereitschaft zuzugreifen«, Durchsetzungsvermögen und »Wirklichkeitssinn«. Weniger eindeutig stellte sich der Befund »hinsichtlich der Fähigkeiten zur Kommunikation und der Zusammenarbeit im Team« dar. In Bezug auf die »menschliche Flexibilität sowie der Toleranz und Überlegenheit, die nötig ist, um Menschen nicht nur zu nehmen, wie sie sind, sondern das Beste aus ihnen herauszuholen und sie nach ihren Möglichkeiten zu fördern«, habe der Bewerber einen »echten Nachholbedarf«. Bei Herrn N., der sich »menschlich noch nicht gefunden« habe, lägen »noch jugendlich wirkende Ambivalenzen« vor. Als Vorstandsmitglied würde er voraussichtlich »mehr den Typus des ehrgeizigen Mitstreiters als denjenigen der vermittelnden und ausgleichenden Integrationsfigur verkörpern«. Schmid beurteilte Herrn N. insgesamt in vieler Hinsicht als »sehr fähigen und interessanten Kandidaten« und hätte gerne ein zweites Mal mit ihm gesprochen, um zu erfahren, ob er in der Lage ist, seine Schwächen selbstkritisch zu erkennen und an ihnen zu arbeiten. Zu einem weiteren Gespräch kam es aber nicht mehr. Nach Auffassung des Auftraggebers, der mittlerweile unter Zeitdruck stand und die Personalentscheidung gemäß den juristischen Vorschriften bis zum April 1986 abwickeln wollte, zögerte Herr N. weitere Verhandlungen um seine Berufung zu lange hinaus und erteilte ihm eine Absage. Den Zuschlag bekam schließlich der dritte Kandidat im Bunde, Herr K., der einen eher ungewöhnlichen Lebenslauf für ein Vorstandsmitglied in einem deutschen Großunternehmen vorzuweisen hatte. Herr K. absolvierte eine erfolgreiche Uni-Karriere vom Assistenten zum Professor für Betriebswirtschaft, wurde 1980 Hauptabteilungsleiter in einem großen Versandhaus und nun von einem Personalberater zur Bewerbung um den Vorstandsposten bewogen. Entsprechend sollte in erster Linie abgeklärt werden, ob er Herr K. nicht ein »weltfremder Theoretiker« sei und ob er in der Alltagspraxis über ein genügendes Maß an Führungsautorität verfüge. Das Gutachten sah die Anforderungen »als genügend bis hervorragend erfüllt« an. Die Vorzüge von Herr K. lägen in seinem herausragenden Intellekt, in seiner »geistigen Flexibilität«, einem bemerkenswerten praktischen Verständnis und seiner »persönlichen Unkompliziertheit«. Leichte Schwächen sah Schmid in der Entscheidungs- und Verantwortungsbereitschaft und empfahl, Herrn K. vorerst als stellvertretendes Vorstandsmitglied zu berufen. Der Auf-

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traggeber folgte dem Rat und stellte Herrn K. überdies nur unter einer weiteren Bedingung ein: Er sollte sich nach seiner Beauftragung möglichst schnell zu einem Feedback-Gespräch in Zürich einfinden, das im Mai 1986 auch stattfand. Herrn K. fiel es in den ersten Monaten offenkundig nicht leicht, den Erwartungen der Vorstandsmitglieder umfänglich gerecht zu werden. Anlass zur Kritik boten sein technokratischer Führungsstil und seine Neigung, Aufgaben, für die er zuständig war, an Mitarbeiter zu delegieren. Gleichwohl erwies sich die Personalentscheidung als ansprechende und längerfristige Lösung. Herr K. blieb bis zum Januar 1998 im Vorstand. Auch das zweite Fallbespiel lässt sich gewiss nur behutsam generalisieren. Gleichwohl fallen zunächst die Kontinuitäten im Katalog unerwünschter Eigenschaften von Top-Führungskräften auf. Wer im Spiegel der Eignungsuntersuchungen nicht seine Fähigkeit dokumentierte, Entscheidungen zu treffen und auch durchzusetzen, dem blieben die Türen zum Vorstand verschlossen. Das galt auch für diejenigen Kandidaten, die bei der Umsetzung ihrer Entscheidung ohne jede Kompromissbereitschaft und ohne diplomatisches Geschick vorgingen. Bei ihrem Sprung auf die höchste Managementebene hatten auch weiterhin Anwärter einen schweren Stand, die in Drucksituationen nicht belastbar waren und den sprichwörtlichen kühlen Kopf verloren. Daneben wird aber auch ein Wandel der Auswahlkriterien deutlich. Mitte der 1980er-Jahre hatte der ,,Umgang mit Menschen«, das Sozial- und Kommunikationsverhalten der Probanden, für die Beurteilung ihrer Führungsqualitäten an Bedeutung gewonnen. Testpersonen, die nach Meinung der Gutachter nicht zu einer kooperativen Zusammenarbeit und zu einer offenen und toleranten Kommunikation mit den Nachwuchskräften fähig waren, denen es an selbstsicherer Gelassenheit mangelte und die dem Mitarbeiterstab nur mit Mühe ihre eigene Motivation und Begeisterung vermitteln konnten, galten in der Regel als ungeeignet für einen Aufstieg an die Spitze der Pyramide.

Schlussbemerkungen Anders als mehrtägige Assessment-Verfahren in Kleingruppen, die ebenfalls seit den 1960er-Jahren als ein Instrument der Personalauslese an Bedeutung gewannen und sich an junge Nachwuchskräfte im Alter von 20 bis 35 Jahren richteten, war das Einzel-Assessment eine Angelegenheit für bewährte Füh-

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228 Jörg Lesczenski rungskräfte. Wenn es darum ging, offene oder neu eingerichtete Positionen auf höheren Hierarchiestufen zu besetzen, die den »Pyramiden-Kletterern« neue Anforderungen abverlangten, ließen deutsche Großunternehmen seit etwa Mitte der 1960er-Jahre die Eignung von internen und externen Kandidaten immer häufiger an Instituten wie der Züricher Assessment-Praxis überprüfen. Sollte etwa ein technischer Leiter nunmehr Aufgaben mit größerer Anweisungs-, Führungs- und Verwaltungskompetenz übernehmen, war es für den Auftraggeber beispielsweise von Interesse, ob er über seinen technischen Horizont hinaus auch die Qualitäten eines Generalisten besaß. Vor der eintägigen Eignungsprüfung fand bereits eine Vorauswahl des Kandidaten-Pools statt. Die Aufgabe des Gutachters blieb zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren in ihrem Kern unverändert. Von einem ausführlichen Interview ausgehend, wurde anschließend mit einem Set unterschiedlicher Testverfahren überprüft, ob das Persönlichkeitsprofil der Probanden mit den Anforderungen der zu besetzenden Stelle in Einklang stand. Während die Abläufe und Testmethoden im Untersuchungszeitraum unverändert blieben, verschob sich hingegen der Stellenwert der einzelnen Analysekategorien. Im Zeitverlauf wurde das Gesamturteil über die Eignung immer deutlicher von den Testergebnissen etwa in den Bereichen »Kontaktstreben«, »Extraversion« und Überzeugungsfähigkeit bestimmt.10 Die erfolgreiche Führungskraft sollte ihre Ziele transparent kommunizieren, ihren Sinn vermitteln, seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf dem Weg zu strategischen Zielen miteinbeziehen sowie Vertrauen und Zuverlässigkeit vermitteln. Fred W. Schmid sah sich im Kontext des Auswahlprozesses selbst als »Zünglein an der Waage« – gewiss nicht zu Unrecht, war sein Urteil in einer Phase, in der sich die Zahl der Kandidaten langsam auf »Eins« reduzierte, doch unbestritten hoch. Auch wenn er wiederholt entschieden darauf verwies, dass seine Gutachten nur zusätzliche Auskünfte bieten würden und nicht zur eigentlichen Grundlage für Personalentscheidungen werden dürften, folgte die große Mehrheit doch seinen Empfehlungen. Die Arbeit des Gutachters war für die Unternehmen bei der Personalauswahl ein zusätzlicher Faktor der Risikominderung. Daneben fiel ihm möglicherweise auch die Funktion eines »kommunikativen 10 Barbara Koller, Psychologie und Selektion. Die Entwicklung der persönlichkeitsbezogenen Anforderungsprofile an die Wirtschaftselite seit den sechziger Jahren, in: Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert. Kontinuität und Mentalität, hgg. von Volker Berghahn u. a., Essen 2003, S. 347.

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Blitzableiters« zu, der die Personalverantwortlichen in gewisser Hinsicht nach dem Kandidaten-Wettkampf entlastete. Es stand ein Sachverständiger bereit, der unterlegenen Bewerbern in Feedback-Gesprächen die Gründe seiner Beurteilung detailliert erläutern konnte. Wie der weitere berufliche Werdegang von nicht beförderten Führungskräften verlief, lässt sich nur selten rekonstruieren. Grundsätzlich waren die Auftraggeber nicht darauf aus, unterlegene Kandidaten zu entlassen. In ihre Aus- und Fortbildung hatten die Unternehmen bis dahin viel Zeit und Geld investiert. Auch wenn sie bei Personalentscheidungen den Kürzeren zogen, handelte es sich gleichwohl um fachlich kompetente Führungskräfte, die ein Unternehmen nur ungern verlieren wollte. Führungskräfte aus dem mittleren Management schieden zumeist nicht unwiderruflich aus dem Wettkampf um den hierarchischen Aufstieg aus und wurden mit der Aussicht auf die nächste Turnierrunde im Unternehmen gehalten. Bisweilen hielten auch »Aufstiegssurrogate«11 (zusätzliche Urlaubstage, ein besser ausgestattetes Büro, ein neuer Dienstwagen etc.) die Motivation aufrecht. Alles in allem hing der Umgang mit nicht beförderten Führungskräften stark von der Organisationsstruktur des Unternehmens ab. Gab es zum Beispiel Positionen in Tochtergesellschaften oder Niederlassungen im Ausland, die dem unterlegenen Bewerber dennoch die Möglichkeit boten, sich seinen Fähigkeiten entsprechend zu entfalten? Gab das Organisationsgefüge Stellen her, auf die sich Verlierer von Personalentscheidungen quasi »wegloben«, gegebenenfalls auch »kaltstellen« ließen, etc.? Allerdings: Ging es um die Top-Positionen in einem Unternehmen (Vorstandsposten oder Posten direkt unterhalb des Vorstands beziehungsweise der Geschäftsführung) orientieren sich Unterlegene eher beruflich neu. Die Chance, den eigenen Ehrgeiz nun noch im angestammten Unternehmen zu befriedigen, gab es faktisch nicht mehr. An der Spitze der Pyramide gibt es kaum noch eine Möglichkeit, unterlegene Bewerber auf nahezu gleichwertigen alternativen Positionen zu »parken«.

11 Friedrich Fürstenberg, Grundfragen der Betriebssoziologie, Köln, Opladen 1964, S. 118–122.

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Gérard Depardieu und der ­Präfekt Muriel Favre

Wie Gérard Depardieu dazu kam, sich in delikate ­Angelegenheiten einzumischen Jacques Barthélémy lernte Gérard Depardieu um die Jahrtausendwende kennen, als er Präfekt in Angers war. Depardieu war der prominenteste Weingutsbesitzer im Departement. Jedes Jahr veranstaltete er zum Abschluss der Weinlese ein großes Fest auf seinem Gut, in den Jahren 2002 und 2003 gehörte Jacques Barthélémy zu den Gästen. Gleich bei seinem ersten Besuch sah er sich in ein intimes Zwiegespräch mit dem »gutmütigen Riesen«, der seine Gegenüber automatisch duzte, verwickelt: Die anderen Gäste vernachlässigend, berichtete Depardieu ihm ausschweifend von seinem schwierigen Verhältnis zu seinem Sohn Guillaume. Bei ihrem zweiten Treffen kündigte Depardieu Bar­ thélémy beim Abschied an, dass er ihn wegen einiger administrativer Probleme demnächst besuchen werde – ausländische Erntehelfer müssten offizielle Papiere erhalten. Eines Tages erschien Depardieu, wie angekündigt, zum Mittagessen in der Präfektur. Es war ihm sofort anzusehen, dass es ihm nicht gut ging; der Grund dafür war nun seine Trennung von einer Schauspielkollegin. Jacques Barthélémy versuchte, ihn während des Essens aufzuheitern, sie unterhielten sich über dies und das, bis sie beim Nachtisch schließlich auf den Beruf des Präfekten zu sprechen kamen. Gérard Depardieu beteuerte seinem Gastgeber, wie sehr er sich freue, einen Präfekten zu seinen Bekannten zählen zu dürfen, und fragte dann: »Ja, und sag‘ du mal, Jacques, wo möchtest du nach deinem Posten in Angers gerne hin?« »Nach den Informationen, über die ich verfüge«, antwortete Jacques Barthélémy, »könnte es sein, dass ich für einen Posten in der Region Île-de-France vorgesehen werde.« Depardieu erwiderte daraufhin, dass er den Staatspräsidenten sehr gut kenne und Jacques Barthélémy ihm Bescheid sagen solle, falls er in der Angelegenheit helfen könne. Der in Verlegenheit geratene Präfekt wollte gerade erläutern, dass Stellenbesetzun-

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Gérard Depardieu und der ­Präfekt

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gen und Beförderungen im Präfektenkorps nicht so verliefen, doch dazu kam er nicht: Anstatt ihm zuzuhören, hatte Gérard Depardieu nach seinem Mobiltelefon gegriffen, den Elysée-Palast angerufen und darum gebeten, mit Jacques Chirac verbunden zu werden. Zunächst plauderten die beiden Freunde. Als Jacques Chirac Depardieu fragte, wo er sich gerade befinde – als sei er daran gewöhnt, von ihm zu jeder Zeit aus jedem Erdteil angerufen zu werden –, kam dieser zur Sache: Er sitze zusammen mit Jacques Barthélémy, »einem sehr sympathischen Präfekten«, den er übrigens gerne für eine Beförderung empfehlen wolle, »am besten gebe ich ihn dir.« Plötzlich hatte der noch stärker peinlich berührte Präfekt den Staatspräsidenten am Apparat. Dieser beruhigte ihn: »Mein lieber Herr Präfekt, ich kenne Gérard, machen Sie sich keine Gedanken […] und wenden Sie sich bitte an meinen Stabschef, falls etwas geklärt werden soll.« Einige Monate später traf Jacques Barthélémy auf einem Empfang in Paris Jacques Chiracs Stabschef, der ihn mit einem leicht neckischen Lächeln ansprach: »Dir muss es neulich unwohl gewesen sein!«  – »Mache Dir keine Sorgen«, fügte er hinzu, »Du wirst in die Region Île-de-France wechseln. Sagen kann ich dir jedoch weder zu welchem Zeitpunkt noch wohin genau.« Jacques Barthélémy wurde im Januar 2004 in Melun ernannt, genau in dem Departement, das er sich gewünscht hatte. Seine ganz persönliche Schlussfolgerung lautete: Auch wenn Gérard Depardieu nicht direkt dafür verantwortlich gemacht werden konnte, so musste er doch sein »guter Stern« gewesen sein.1 Es ist auf den ersten Blick eine witzig-erheiternde Geschichte, die Jacques Barthélémy in seinen Memoiren erzählt. Die beiden Hauptfiguren wirken überaus sympathisch. Im Hinblick auf Personalentscheidungen für die Spitze des Staates im Gegenwartsfrankreich erweist sich allerdings das, was als Anekdote gedacht war, als außerordentlich vielschichtig. Die Geschichte bringt zwei Kernfragen der Rekrutierungs- und Beförderungspolitik im französischen Präfektenkorps zum Vorschein. Es geht zum einen um die Rolle von Beziehungen und Netzwerken: Gérard Depardieu steht für den Glauben an deren Wirksamkeit, während Jacques Barthélémy, Jacques Chirac und dessen Stabschef die Achtung der Regeln verkörpern. Angesprochen wird zum anderen die ­Gestaltung der Entscheidungskommunikation: Jacques Barthélémy scheint in 1 Jacques Barthélémy, La Comédie du pouvoir. Mémoires et souvenirs d’un préfet de la République, Besançon 2017, insbes. das Kapitel »Salut Gégé !«, S. 175–179. Ich danke Lisa Winter für ihre Hilfe beim Verfassen dieses Beitrags.

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232 Muriel Favre Bezug auf seine berufliche Laufbahn einer höheren Gewalt ausgeliefert zu sein, als deren Botschafter der schweigende Stabschef angesehen werden kann. Der vorliegende Beitrag möchte beiden Fragen nachgehen. Zunächst soll aber das Amt des Präfekten kurz vorgestellt werden, dessen Alleinstellungsmerkmal es ist, verfassungsrechtlich garantiert zu werden.

Der Beruf des Präfekten Präfekten gehören zu den wenigen hohen Beamten Frankreichs, die ausdrücklich in der Verfassung der Fünften Republik erwähnt werden: Art. 13 schreibt fest, dass sie im Ministerrat ernannt werden; laut Art. 72 Abs. 3 sind sie die »Vertreter der Regierung« in den Departements. Daraus folgt, dass das Amt ohne Verfassungsänderung nicht abgeschafft werden kann. Es wurde im Jahr 1800 von Napoleon eingeführt und ging auf die Überzeugung zurück, dass eine erfolgreiche Politik auf einer gut geführten Verwaltung beruhe. Der Begriff selbst ist auf das Interesse der damaligen Eliten für die Antike zurückzuführen. Die napoleonischen Präfekten waren in ihrem jeweiligen Departement mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet – Napoléon soll sie als »Kaiser im Kleinen« (»empereurs au petit pied«) oder auch »Paschas« bezeichnet haben.2 Der »préfet« wird manchmal mit dem Begriff »Regierungspräsident« ins Deutsche übersetzt (und umgekehrt der »Regierungspräsident« ins Französische mit dem Begriff »préfet«), doch beide Ämter sind nicht deckungsgleich. Den Staat vertreten bedeutet im Gegenwartsfrankreich erstens, eine repräsentative Funktion auszuüben: Präfekten halten bei zahlreichen Anlässen Reden, sei es auf der Eröffnungsfeier einer Messe, auf der Einweihungsfeier für ein neues Rathaus oder auf der Gedenkveranstaltung für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs jeden 11. November. Immer dann bekleiden sie den höchsten protokollarischen Rang, vor den Vertretern des Militärs und der Kirchen, aber auch vor den gewählten Vertretern im Departement, und sind an ihrer Uniform zu erkennen. Immer wieder geben sie ihrerseits Empfänge für die politischen, 2 Vgl. Vincent Cuvilliers, Des empereurs au petit pied entre exigences départementales. L’ exemple des préfets du Pas-de-Calais (1800–1815), in: Annales historiques de la Révolution française, 362, 2010, S. 121–130, hier S. 121 und 123.

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wirtschaftlichen oder sozialen Akteure des Departements; es sei erstaunlich, schreibt Barthélémys Kollege Raymond Jaffrézou in seinen Memoiren, wie viele Probleme sich bei einem Glas Champagner lösen ließen.3 In beiden Fällen, in der Präfektur wie auch auswärts, ist das der Weg, den Puls der Bevölkerung zu messen, um dann gegebenenfalls darüber in Paris Auskunft geben zu können. Präfekten sind es, die den Staatspräsidenten, den Premierminister oder Minister begleiten, wenn diese dem Departement einen Besuch abstatten; sie waren im Vorfeld an den Vorbereitungen beteiligt und müssen für einen einwand­ freien Verlauf des Besuchs sorgen. Präfekten sind zweitens für die öffentliche Sicherheit und den Katastrophenschutz verantwortlich. Sie sollen drittens sicherstellen, dass der durch die Regierung in Paris festgelegte politische Kurs umgesetzt wird. Dies betrifft seit dem Beginn der 1980er-Jahre in erster Linie den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Präfekten könnten nicht selbst Arbeitsplätze schaffen, darüber sind sich all diejenigen, die über ihren Beruf berichtet haben, einig; ihre Rolle bestehe vielmehr darin, die neuen Hilfsmaßnahmen bekannt zu geben und die im D ­ epartement angesiedelten Unternehmen dazu zu bringen, davon Gebrauch zu machen. Seit 1982 ist es die Aufgabe der gewählten Vertreter des Departements, und nicht mehr diejenige des Präfekten, die wirtschaftliche Entwicklung des Departements im Allgemeinen voranzubringen. In den Bereichen, in denen der Staat als Geldquelle fungiert, bleiben Präfekten jedoch zentrale Ansprechpartner. In anderen Bereichen wie zum Beispiel dem Umweltschutz dürfen sie in umstrittene Projekte eingreifen und ein Machtwort sprechen.4 2001 betrug die Zahl der Präfekten 230.5 Die Hälfte davon stand an der Spitze einer Präfektur. Die übrigen wurden in die Pariser Ministerialverwaltung abgeordnet oder waren als Regierungsberater tätig, was sich in der Regel positiv auf den Karriereverlauf auswirkt. Weitere Präfekten standen in Reservebereitschaft ohne weitere Beschäftigung, was einer Absetzung gleichkommt. Präfekten, die einen Territorialposten innehaben, werden von Subpräfekten unterstützt. Engste Mitarbeiter in der Präfektur sind der Generalsekretär und der 3 Raymond Jaffrézou, »Ça vous suivra dans votre carrière…«. Les Mémoires d’un préfet, Paris 2000, S. 522. 4 Einige komplexe gesetzliche und administrative Aufgaben und Tätigkeiten lasse ich beiseite. 5 Vgl. Bernard Larvaron, Le Préfet face au XXIe siècle, Paris 2001, S. IX.

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234 Muriel Favre Kabinettsdirektor; die anderen leiten die Behörden, die für die Verwaltungs­ gebiete unterhalb des Departements zuständig sind. Die Krönung der beruf­ lichen Laufbahn eines Präfekten ist die Ernennung zum Regionalpräfekten, was aufgrund der geringen Zahl der Regionen (22 im Jahr 2001) die wenigsten erreichen. Vorher gilt es, sich entlang einer informellen Hierarchie zwischen den Posten hochzudienen, der zufolge ein Departement mit größeren Städten oder Ballungsräumen und dem entsprechenden wirtschaftlichen Gewicht wichtiger ist als ein ländliches, bevölkerungsleeres Departement. Unter diesem Gesichtspunkt ist Jacques Barthélémys Versetzung von Angers (im Nordwesten Frankreichs) nach Melun (in der Nähe von Paris) als eine Beförderung anzusehen; auch das ist ein Grund, warum er sich so dankbar zeigt. Präfekten unterstehen dem Innenministerium, ernannt werden sie jedoch vom Staatspräsidenten in der mittwochs stattfindenden Kabinettssitzung. Dieser feierliche Rahmen unterstreicht die Bedeutung des Amtes: Die Übertragung der staatlichen Gewalt findet an höchster Stelle statt, wenn auch in Abwesenheit der Betroffenen.6 Der Beruf zeichnet sich durch kurze Amtszeiten und eine hohe Rotation aus. 2001 blieb ein Präfekt im Durchschnitt drei Jahre auf demselben Posten. Dieser ständige Wechsel wird zum einen mit der Aufgabendefinition begründet: Als Vertreter der Regierung sollten Präfekten in der Lage sein, dem Druck der lokalen Verhältnisse standzuhalten, was umso schwieriger würde, je länger sie in einem Departement blieben. In Jacques Barthélémys Fall heißt das zum Beispiel, dass er in keinem Fall Depardieu einen Freundschaftsdienst erweisen darf, indem er dessen ausländischen Erntehelfern automatisch Papiere ausstellt. (Wie er diesbezüglich vorging, verrät die Geschichte nicht.) Präfekten stellen zum anderen das dar, was man in Deutschland einen politischen Beamten nennt: Sie müssen das Vertrauen der Exekutive genießen. Dies führt dazu, dass nach einem politischen Wechsel Präfekten oft scharenweise ausgetauscht werden. Manche, die eindeutig dem gegnerischen Lager zuzurechnen sind, fallen in Ungnade und werden in Reservebereitschaft ohne weitere Beschäftigung gestellt. Dies bedeutet nicht zwangsläufig das Ende ihrer beruflichen Laufbahn; haben sie Glück, wird ihr politisches Lager bald wieder an die Macht kommen und sie aus der Verbannung holen. Andere, neutral ein6 Im Folgenden wird ausschließlich von »Präfekten« gesprochen, da um die Jahrtausendwende nur wenige Frauen dieses Amt bekleideten. 1995 waren es sechs. Vgl. Pierre Contet, Les Préfets de la Cinquième République. Le recrutement social et politique d’un corps de l’État (1958–1995), Montpellier, Diss., 2000, S. 334.

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gestellte Präfekten wechseln lediglich das Departement; es wäre ungünstig, so die Begründung, wenn sie an ein- und demselben Ort heute eine Politik rechtfertigen müssten, welche dem diametral entgegengesetzt ist, wofür sie gestern Rede und Antwort gestanden haben. Wie man sieht, haben Personalentscheidungen im Präfektenkorps einen zutiefst strukturellen Charakter. Interessant ist nicht nur ihre zentrale Rolle im Leben der Betroffenen und für das Funktionieren des Staates insgesamt, sondern auch ihre begrenzte Revidierbarkeit. Diese führt dazu, dass die Karten immer wieder neu gemischt werden. Umso dringender stellt sich die Frage nach den Spielregeln: Gibt es welche oder darf jeder sich einmischen und mitreden? Kann ein Außenstehender wie Gérard Depardieu den Gewinner ausmachen?

Verfahren versus »Vitamin B«? Jacques Barthélémys Antwort lautet »Nein«, was an diversen Indizien erkennbar ist. Da sind zunächst Jacques Barthélémy selbst, Jacques Chirac und dessen Stabschef. Der Erste lehnt verängstigt Depardieus Angebot ab, der Zweite beruhigt ihn und verweist auf seinen Stabschef, dieser weist später auf das tiefe Unbehagen des Präfekten hin. Alle drei kennen die Regeln und stehen für deren Beachtung. Aber auch Gérard Depardieus Versuch, Entscheidungen zu beeinflussen, erscheint nach näherem Betrachten nicht weiter gravierend, ist der Schauspieler doch eine außerordentliche und unberechenbare Persönlichkeit (die jede und jeden duzt, sich Fremden anvertraut und den Staatspräsidenten anruft, wann immer ihr danach ist). Sein Verhalten, legt Jacques Barthélémy nahe, habe nichts mit einer gängigen Praxis oder einem strukturellen Problem bei der Besetzung von Spitzenposten in der öffentlichen Verwaltung zu tun, sondern mit den Charakterzügen des »gutmütigen Riesen«. Befasst sich die Zeitgeschichtsforschung mit diesem Themenkomplex, kommt sie zu einem differenzierteren Bild. Das Amt des Präfekten gehört zu der Kategorie der »emplois discrétionnaires«, jenen politisch-administrativen Posten, bei denen die Exekutive Ernennungen nach Belieben vornehmen kann. Es handelt sich darüber hinaus um Ernennungen bis auf Widerruf (»ad nutum«). Während die meisten Beamten mit zunehmender Berufserfahrung aufsteigen, gilt also hier das Prinzip der Beförderung nach Wahl. Darin soll für

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236 Muriel Favre Politiker:innen an der Spitze des Staates die Quintessenz der Macht liegen;7 Jacques Attali, François Mitterrands langjähriger Sonderberater, spricht sogar von einem Machtrausch.8 Bei Beförderungen – ebenso wie bei Ver- und Absetzungen – genießt die Exekutive uneingeschränkte Freiheit. Bei Ersternennungen setzt eine Verordnung vom 29. Juli 1964 dieser Freiheit gewisse Grenzen; in der 2004 gültigen Fassung besagt sie, dass 80 Prozent der neu ernannten Präfekten aus dem Pool der Subpräfekten stammen müssen, die mindestens zwei Jahre Berufserfahrung als Generalsekretär oder als Behördenleiter vorweisen können.9 Die übrigen 20 Prozent dürfen mit Personen aus der Gruppe der »anderen Bewerber« besetzt werden. Die Verordnung vom 29. Juli 1964 war das Ergebnis diverser Bemühungen seit 1945 sowohl Personalentscheidungen im Präfektenkorps zu formalisieren als auch die professionelle Qualifikation der Präfekten zu sichern. Dazu gehörte die geforderte Berufserfahrung, aber auch die Tatsache, dass immer mehr Subpräfekten Absolventen der École nationale d’administration (ENA) waren, was einen Nachweis für ihre intellektuellen Fähigkeiten darstellen sollte. Es müssen ferner juristische Aspekte beachtet werden. Um formal unangreifbar zu sein, muss die Ernennung eines Präfekten zugleich vom Staatspräsidenten, vom Premierminister und vom Innenminister getragen werden. Dieses Entscheidungsgremium bildet jedoch keine monolithische Einheit. In der Regel übernehmen der Staatspräsident und der Innenminister den aktiven Part. In den bisherigen drei Kohabitationsphasen, in denen der Staatspräsident politisch dem gegnerischen Lager angehörte, waren es der Premierminister und sein Innenminister. Die von ihnen bevorzugten Namen mussten sie dem Staatspräsidenten zur Annahme vorlegen. In den Memoiren der politischen Akteure der ersten und zweiten Kohabitationsphase (1986 bis 1988 zwischen François Mitterrand und Jacques Chirac, 1993 bis 1995 zwischen François Mitterrand und Édouard Balladur) ist nachzulesen, wie manche Ernennung

7 Vgl. Pierre Favier und Michel Martin-Roland, La Décennie Mitterrand. Bd. 1: Les Ruptures (1981–1984), Paris 1990, S. 518. 8 Jacques Attali, Verbatim I. 1981–1986, Paris 1993, S. 169. 9 Verordnung Nr. 64–805 vom 29 Juli 1964, Art. 2 der revidierten Fassung vom 6. März 1996, https://www.legifrance.gouv.fr/loda/id/LEGIARTI000006351641/1996-03-09/#LEGIARTI000006351641 (02.02.2021).

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hart ausgehandelt wurde.10 Es bestanden zwei Möglichkeiten: Entweder gab der Staatspräsident in Anbetracht dessen, dass die ihm feindlich gegenüberstehende Regierung die Wahlen gewonnen hatte und den Volkswillen repräsentierte, nach oder er legte sein Veto ein und der Premier- und der Innenminister mussten sich fügen. Schließlich treten vor der Personalauswahl durch das Entscheidungsgremium und die daran anschließende Ernennung im Ministerrat gewisse Mechanismen konkreter Entscheidungsfindung in Gang. Dies erklärt, warum in der Geschichte Jacques Chirac an seinen Stabschef verweist. An der Entscheidungsvorbereitung beteiligt sind zum einen die Personalverwaltung des Innenministeriums, zum anderen  – gegebenenfalls mit unterschiedlichem Gewicht – die Berater des Staatspräsidenten, des Premierministers und des Innenministers. Beide Instanzen urteilen unterschiedlich und ihrer Wesensart gemäß: erstere eher nach administrativen, letztere vordergründig nach politischen Kriterien. Beide Instanzen sind allerdings lediglich dafür zuständig, die Entscheidung einfacher zu gestalten. Sie sondieren den Markt, treffen eine Vorauswahl, unterbreiten Vorschläge. Die eigentliche Personalentscheidung kann durchaus anders ausfallen. Und dennoch: Trotz dieser Regeln und Mechanismen erweisen sich Beziehungen und Netzwerke als essenziell. Ein Potpourri von Beispielen aus der Memoirenliteratur soll das veranschaulichen. Es treten zahlreiche Akteure auf: die Mitglieder des Entscheidungsgremiums, deren Berater, die Leitung der Personalverwaltung im Innenministerium, Lokalpolitiker … Da sind erstens parteipolitische Erwägungen, die sich auf einen Satz reduzieren lassen können: »Er ist einer von uns«. In der Forschungsliteratur werden für die Entstehung eines französischen »Beute-Systems« für Schlüssel­ positionen im höheren Staatsdienst zwei Momente genannt: entweder die Wahl Valéry Giscard d’Estaings zum Staatspräsidenten 1974, welche die gaullistische Ära beendete, oder diejenige François Mitterrands 1981 und die Rückkehr der Sozialisten an die Macht nach 23 Jahren in der Opposition. Von nun an beeinflussten parteipolitische Gesichtspunkte die Besetzung von Posten im Präfektenkorps genauso wie von Führungspositionen in der Ministerialverwaltung 10 Vgl. u. a. Charles Pasqua, Ce que je sais… Mémoires, Paris 2007, insbes. S. 169–171 und Pierre Favier und Michel Martin-Roland, La Décennie Mitterrand. Bd. 2: Les Épreuves (1984– 1988), Paris 1991, insbes. S. 574–576.

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238 Muriel Favre oder in den zu Beginn der 1980er-Jahre verstaatlichten Großunternehmen. Offiziell eingeräumt wurde das nicht. Einem Minister, der sich nach einem Vorfall nach dem Schicksal des involvierten »sozialistischen Präfekten« erkundigte, erwiderte François Mitterrand: »Es gibt keinen sozialistischen Präfekten.«11 Zweitens existieren Patronagepraktiken, wie im Falle jenes sozialistischen Lokalpolitikers, der als Parteigröße direkten Zugang zu François Mitterrand hat und auf dessen Geheiß einen seiner Schützlinge zum Präfekten »seines« Departements ernennen lassen will, obwohl dieser nicht das passende Profil hat. Der Innenminister – ebenfalls ein Sozialist – wehrt sich höchstpersönlich dagegen und kann seinen eigenen Kandidaten durchsetzen. Der Lokalpolitiker gibt sich dennoch nicht geschlagen: Kaum hat sein Parteikollege das Innenministerium verlassen und ein neuer Innenminister sein Amt angetreten, interveniert er wieder und erreicht die Versetzung des ihm nicht genehmen Präfekten.12 Von Klientelismus kann in einem anderen, dieses Mal das rechte politische Lager betreffenden Fall die Rede sein. Während der ersten Kohabitationsphase muss der Innenminister Charles Pasqua die Ernennung eines Präfekten erkämpfen, nicht weil er von ihm überzeugt ist, sondern weil der ehemalige Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing über einen »Gesandten«, Michel d’Ornano, darum gebeten hat. Da der Kandidat eindeutig rechts einzuordnen ist und in der Vergangenheit François Mitterrand unangenehm aufgefallen ist, verweigert dieser zunächst die Ernennung. Pasqua kommt erst in einem zweiten Durchgang zum Ziel, was er wie folgt kommentiert: »Ich hatte François Mitterrand gezeigt, dass ich genau so hartnäckig sein konnte wie er; nebenbei würde d’Ornano endlich aufhören mich zu belästigen.«13 Die Erforschung der Hintergründe und Motive konkreter Ernennungen im französischen Präfektenkorps am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts offenbart die Unüberwindbarkeit von klientelistischen Netzwerken. Im Falle der »emplois discrétionnaires« ist der legale Rahmen für die Postenbesetzung zwar sehr weit gefasst und Kategorien wie Vertrauen und Loyalität wiegen besonders schwer. Wer denkt, die Personalpolitik orientiere sich dann aber ausschließlich an objektiven Kriterien wie Hard und Soft Skills, Erfahrung oder der bisher erbrachten Leistung, der irrt. Im Zentrum der hier unternom11 Pierre Favier und Michel Martin-Roland, La Décennie Mitterrand. Bd. 4: Les Déchirements (1992–1995), Paris 1999, S. 109. 12 Vgl. Gilbert Carrère, Mémoires d’un préfet. À la traverse du XXe siècle, Paris 2012, S. 170. 13 Pasqua, Ce que je sais, S. 171.

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menen historischen Betrachtung von Personalentscheidungen stehen gewissermaßen der Mensch und dessen Unzulänglichkeit. Die These einer unaufhaltsamen ­Rationalisierung von Personalentscheidungen in der Moderne, wie sie in manchen betriebswirtschaftlichen oder soziologischen Studien vertreten wird, erweist sich als eine Fiktion.

Personalentscheidungen als Ausdruck ­göttlichen Willens? Kehren wir zu Jacques Barthélémys Geschichte zurück. Wenn wir sie aus einem anderen Blickwinkel lesen und uns nunmehr fragen, wer sich passiv verhält und wer als handelndes Subjekt auftritt, stellen wir fest, dass auch da die beiden Hauptfiguren einander entgegenstehen. Jacques Barthélémys Passivität fällt ins Auge; auf Depardieus Frage, wohin er nach seiner Zeit in Angers gerne gehen möchte, antwortet er höchst vorsichtig und mit Rückgriff auf die Passivform: »Nach den Informationen, über die ich verfüge, könnte es sein,14 dass ich für einen Posten in der Region Île-de-France vorgesehen werde.«15 Dagegen ergreift Depardieu die Initiative und bietet nicht nur seine Hilfe an, sondern lässt seinen Worten Taten folgen, indem er umgehend seinen Freund Jacques Chirac anruft. Jacques Barthélémys Zurückhaltung mutet insofern paradox an, als sie nicht mit dem professionellen Selbstbild von Präfekten übereinstimmt: Die Memoirenliteratur und die Sachbücher über den Beruf des Präfekten, die von ihnen selbst verfasst worden sind, verbreiten das Bild von charakterstarken und immer aktionsbereiten Männern. Mut, Geschicklichkeit und Ausdauer zeichnen den idealen Präfekten aus. Der Widerspruch soll an dieser Stelle nicht mit einer Dekonstruktion dieses Idealbildes aufgelöst, sondern mit Rückgriff auf die Gestaltung der Entscheidungskommunikation erklärt werden. Wie bei allen »emplois discrétionnaires« bedürfen Ernennungen im Präfektenkorps keiner Begründung. Solange sie im gesetzlich festgelegten Rahmen stattfinden – hier die Verordnung vom 29. Juli 1964 über Ersternennungen –, sind sie legitim. Der Öffentlichkeit kommuniziert wird lediglich das Ergebnis der Personalentscheidungen. Die Namen 14 Von mir kursiv hervorgehoben. 15 Ebenso.

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240 Muriel Favre der gerade ernannten Personen werden im Journal Officiel16 veröffentlicht, bis in die 1990er-Jahre erschienen darüber hinaus bei Wechseln in großer Zahl (auf Französisch »mouvements préfectoraux«) kurze Notizen mit dem jeweiligen Lebenslauf in Le Monde. Die Namen der übrigen Kandidaten, die Faktoren zugunsten der einen und zuungunsten der anderen, die möglichen Verhandlungen zwischen den Mitgliedern des Entscheidungsgremiums: All das wird dagegen unter Verschluss gehalten. Nicht einmal den Betroffenen wird der Grund für ihre Beförderung oder Versetzung (schlimmstenfalls für ihre Absetzung) erläutert. Auch über das Timing wird keine Rechenschaft abgelegt. Die hohe Rotation im Präfektenkorps führt dazu, dass dessen Mitglieder ein Gespür dafür entwickeln, wann es für sie an der Zeit wäre, den Posten zu wechseln. Sie wissen jedoch nicht, ob sie dann auch tatsächlich als Kandidaten in Betracht gezogen werden. Manche werden kurz vor der Kabinettssitzung darüber unterrichtet, dass ihnen ein Departementwechsel bevorsteht. Den anderen wird die Entscheidung gleich danach per Anruf mitgeteilt, wobei eine Regel lauten soll, dass die Identität der anrufenden Person den Inhalt der Nachricht verrät: Melden sich der Innenminister oder sein Stabschef, handelt es sich um eine erfreuliche Nachricht. Ruft der Leiter der Personalverwaltung im Innenministerium an, ist es kein gutes Zeichen; ihm werde gerne die Übermittlung schlechter Nachrichten überlassen.17 Die Ungewissheit, in der Präfekten gelassen werden, verkörpert in Jacques Barthélémys Geschichte der schweigende Stabschef, den der Erzähler auf einem Empfang in Paris trifft. Zwar deutet jener an, dass Barthélémy bald einen Posten in der Region Île-de-France übernehmen werde, gleich aber fügt er hinzu, dass er ihm weder den Zeitpunkt noch das Departement nennen könne. Möglicherweise weiß er nicht mehr als das; weiß er mehr, darf er es nicht preisgeben; eine verbindliche Auskunft kann er ohnehin nicht geben, da er nicht zum Entscheidungsgremium gehört. Ein weiteres Fortschrittsnarrativ unserer Zeit besagt, dass Personalentscheidungen in der Moderne durch ein steigendes Maß an Transparenz und Kommunikation geprägt seien. Dem muss ebenfalls widersprochen werden: Man hat es im Falle des Präfektenkorps im Gegenteil mit einem äußerst intransparenten System zu tun, wofür die Bezeichnung »Ge-

16 Vergleichbar mit dem Bundesgesetzblatt. 17 Vgl. Jaffrézou, Ça vous suivra, S. 668.

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heimverfahren« nicht übertrieben erscheint. Auch hier zeigt sich, wie sehr vormoderne Traditionen bis in die Gegenwart weiterwirken. Je nach Temperament versuchen Präfekten auf unterschiedliche Weise, auf die Entscheidungsfindung Einfluss zu nehmen: Manche lassen sich in regelmäßigen Abständen einen Termin beim Stabschef des Innenministers, dem Leiter der Personalverwaltung des Innenministeriums oder sogar dem Stabschef des Staatspräsidenten geben, um eine Zwischenbilanz über ihren Karriereverlauf zu ziehen; andere nutzen die Gelegenheiten, die sich ihnen bieten (Empfang in Paris, Besuch des Staatspräsidenten, des Premierministers, des Innenministers in ihrem Department), um ins Gespräch zu kommen … Am Ende gilt jedoch für alle: Es wird so oder so über sie verfügt. Diese Tatsache hat den ehemaligen Präfekten Paul Bernard dazu gebracht, in einem für ein breiteres Publikum verfassten Sachbuch von einem Damoklesschwert zu sprechen, das über jedem schwebe und jeden Mittwoch herunterstürzen könne.18 In der Literatur ist auch von »Gottes Hand« die Rede.19 Jacques Barthélémy selbst bezeichnet Depardieu als seinen »guten Stern«. Die Ausdrücke weisen nicht auf eine aufsässige Haltung hin, sondern vielmehr auf die Bereitschaft, das System in Kauf zu nehmen. Haben sich Präfekten zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn als Subpräfekten bewusst darauf eingelassen, einer höheren Instanz ausgeliefert zu werden? Finden sie sich irgendwann damit ab? Folgt man Paul Bernard, liegt die Erklärung für diese allgemeine Akzeptanz eigentlich anderswo: Die Unsicherheit des Berufs mache seine Größe aus, damit umgehen zu können, gehöre zum Ehrenkodex des Präfektenkorps.20 Dazu muss man freilich anmerken, dass das von einem Mann behauptet wird, der mit Zufriedenheit auf eine lange Karriere zurückblicken kann. Wer weniger erfolgreich war, wer es als Subpräfekt nicht zum Präfekten gebracht hat, der sieht dies möglicherweise anders.

18 Paul Bernard, Le Préfet de la République. Le Chêne et l’olivier, Paris 1992, S. 77. 19 Ebd., S. 75. Siehe auch Larvaron, XXIe siècle, S. 237. 20 Bernard, Le Chêne, S. 75.

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Eignungserwartung und Scheitern Christoph Cornelißen, Birgit Emich, Hartmut Leppin, Jörg Lesczenski, Daniela Rando, Davide Scotto und Camilla Tenaglia

Fachliche Eignung und Führungskompetenz Die Entscheidungen zur Besetzung von gesellschaftlichen Schlüsselpositionen unterlagen seit jeher spezifischen Eignungserwartungen. In allen historischen Epochen konstituierten sie ein semantisch offenes Feld, das schon allein deswegen zahllose Deutungskonflikte hervorrufen musste, weil Eignungserwartungen zu keinem Zeitpunkt ausschließlich offen und verbindlich oder grundsätzlich schriftlich deklariert worden sind. Im Gegenteil, sehr oft kamen und kommen informelle Absprachen oder nie dokumentierte Konflikte innerhalb der Gruppe der Entscheidenden zum Tragen, und immer wieder wandelte sich das, was als Eignung definiert wurde, im Laufe der Entscheidungsprozesse. Außerdem veränderten sich die Wege, wie Eignung geprüft werden sollte. Daher wird hier keine Geschichte der Eignungserwartungen nachgezeichnet, sondern exemplarisch ein Problemfeld beleuchtet, nämlich das Verhältnis von fachlicher Eignung und Führungskompetenz oder besser: der Erwartung von Führungskompetenz, die oft von persönlichen und moralischen Eigenschaften, vormodern gesprochen: von Tugenden, abgeleitet wurde. Intuitiv scheint es aus moderner Sicht selbstverständlich, dass beides zusammengehört, doch die historische Analyse zeigt, dass dies mitnichten der Fall war. Während »Eignung« im Sinne des deutschen Beamtenrechts die Persönlichkeit und die charakterlichen Eigenschaften eines Bewerbers bezeichnet, die neben der Befähigung sowie der fachlichen Kompetenz gegeben sein müssen, wird der Begriff hier weiter verstanden: Er schließt sowohl die charak­ terlich-moralische Eignung als auch die formale Befähigung ein (die etwa ­einen bestimmten Status oder auch Habitus voraussetzt), darüber hinaus meint er fachliche Kompetenz (Wissen, Erfahrung, Fertigkeiten). Die angeführten Dimen­sionen stehen insgesamt in einem komplexen Verhältnis

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z­ ueinander, das sich entsprechend den historischen Kontexten fortlaufend wandelte. In welchem Maße sich Eignungserwartungen änderten und welche Faktoren dabei eine Rolle spielten, zeigen die Ergebnisse der Forschungsgruppe zu verschiedenen historischen Epochen. Sie reichen von den Beamten und Mili­ tärs der römischen Antike über Bischofsernennungen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit bis hin zur Besetzung von Führungspositionen in privatwirtschaftlichen Unternehmen und in der höheren staatlichen Verwaltung in der zweiten Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts. Der interepochale Zugang zielt darauf ab, die Gemengelage aus fachlichen Eignungserwartungen, Kriterien der formalen Befähigung und moralischen Aspekten zu durchleuchten, um sowohl die immer wieder auftretenden und zuweilen sehr weitreichenden Verfahrensunsicherheiten als auch die zugrunde liegenden Interessenslagen herauszuarbeiten. Entgegen herkömmlicher Annahmen münden die Fallbeispiele keineswegs in eine fortschrittsorientierte oder gar modernisierungstheoretisch begründete Erzählung, sondern sie verweisen eindringlich auf immer wieder neue Spannungen zwischen formalisierten Eignungserwartungen und generellen Ansprüchen auf Führungskompetenz. So genossen hohe römische, senatorische Magistrate der Kaiserzeit eine intensive rhetorische Ausbildung, die sie – aus moderner Sicht – nur begrenzt fachlich auf ihre Funktion als Richter und Militärs in den Provinzen oder vergleichbare Tätigkeitsfelder vorbereitete. Gleichwohl wurden sie darüber mit allgemeinen Techniken der Erfassung und Formulierung von Problemen vertraut, was offenbar als Ausweis einer allgemeinen Kompetenz für Führungspositionen galt, namentlich bei Provinzstatthaltern. Übrigens zeigt sich in einer sehr viel späteren Zeit eine ähnliche Konstellation im Fall britischer Kolonial­ beamter, von denen viele eine »fachfremde« Ausbildung für ihre künftigen Aufgaben durchlaufen hatten, denen aber vor allem eine Führungskapazität bescheinigt worden war. Wie in der Antike ging man offenbar davon aus, dass die Amtsinhaber aufgrund ihrer Herkunft und Sozialisation die intellektuellen Voraussetzungen und die nötigen charakterlichen Eigenschaften für die Ausübung einer gesellschaftlichen Führungsposition haben würden. Die aus moderner Sicht mangelnde fachliche Kompetenz war aber oft schon deswegen für antike Betrachter zumeist kein Stein des Anstoßes, weil sich die Berufenen auf Fachpersonal stützen konnten, das teils unfreier Herkunft war. Zudem erwarben die Magistrate dadurch Erfahrung, dass sie in jun-

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244 Cornelißen, Emich, Leppin, Lesczenski, Rando, Scotto und Tenaglia gem Alter andere Amtsträger, typischerweise Verwandte, bei der Ausübung ihrer Pflichten begleiteten. Phasenweise kann man jedoch auch eine stärkere Berücksichtigung fachlicher Kompetenz beobachten, etwa in der justinianischen Zeit (527–565), als der Herrscher sich teils bewusst über aristokratische Prätendenten hinwegsetzte und geeignetes Personal aus niederen Ständen für Führungspositionen rekrutierte. Schon früher, im Principat, achtete man bei Rittern, unterhalb der Senatoren der zweite Stand, dessen Angehörige mit vielfältigen administrativen und militärischen Aufgaben betraut waren, insgesamt mehr auf fachliche Kompetenz. Bewährte Funktionäre erhielten besondere Aufstiegschancen, namentlich erfolgreiche Militärs, soweit deren Ruhm nicht den des Princeps zu überstrahlen drohte.  Die Entscheidung über die Besetzung von Funktionen innerhalb der imperialen Eliten lag beim Herrscher, auch wenn aristokratische Netzwerke eine wichtige Rolle spielten. Wahlen dienten dagegen vor allem als Konsensrituale. Die Christianisierung der Eliten seit der Spätantike brachte ein neues Kriterium der persönlichen Eignung mit sich, Frömmigkeit und ein heiligmäßiger Lebenswandel. In der Spätantike, im Mittelalter und teils auch in der Frühen Neuzeit entstand eine Fülle von Texten, die Modelle für einen mit spezifischen Kompetenzen gedachten Herrscher oder Bischof darlegten; dabei spielten spirituelle Eigenschaften eine wichtige Rolle. Nach Vorbildern aus der Antike, der Bibel und frühchristlichen Hagiografien skizzierten Werke verschiedenster literarischer Gattungen, aber auch Konzilstexte oder Urkunden, besonders eingehend aber Fürsten- und Bischofsspiegel die Kriterien für die Eignung und Fachkenntnisse eines idealen Fürsten oder Bischofs; entsprechende Kriterien finden sich ebenso in kritischen Texten und Herrschersatiren. Die Leitbilder fallen insgesamt sehr vielfältig aus und variieren entsprechend dem Standpunkt des Autors. Anders gesprochen: Es gab keine einheitliche Entwicklung, vielmehr einen Reichtum und eine Vielfalt an Eignungserwartungen.  Gerade das Bischofsamt vereinte in sich eine Vielzahl von Funktionen, weltliche wie geistliche, und war von daher unterschiedlichen Erwartungen ausgesetzt. Das betraf sowohl die bischöfliche oder päpstliche Administration als auch die Seelsorge; es bezog sich auf das Patrimonium wie auf den Vollzug der Liturgie bis hin zur Pflege der Paramente, Messformulare und Kirchenmusik. Seit dem 12. Jahrhundert verfeinerten sich im Zuge der Ausdifferenzierung der weltlichen und geistlichen Rechtssphären die Kriterien für die Eignung der Kandidaten für kirchliche Ämter; das Regelwerk blieb jedoch

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elastisch genug, um in den konkreten Entscheidungsprozessen Dispensationen von diesen Anforderungen zuzulassen. In welchem Ausmaß die persönlichen Qualitäten des Kandidaten die Entscheidungen beeinflussten, ist auf der Grundlage der Quellen schwer zu erfassen, wobei es weiterhin Ausnahmen gab, etwa bei Ordensmännern, die schon von den Zeitgenossen als »heilig« verehrt wurden. Trotz der Thematisierung »objektiver« Kriterien blieb bei der Wahl ein subjektives Moment bestehen. Fachliche und persönliche Eignung wurden also immer vorausgesetzt, aber oft nicht expliziert. Nur bei Streitfällen wegen der Ausübung des Amtes werden sie hinterfragt und durch die Untersuchung präzisiert, damit aber auch transparenter.  Im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit verstärkte sich unter dem Druck der Städte und Fürsten der Anspruch an einen Bischof als guten Verwalter der Besitztümer. Diese Debatte machte auch vor dem Bischof von Rom nicht halt. So wurde die Frage nach der Ausübung des Papstamtes auf dem Konzil von Konstanz 1414 zur Beendigung des Großen Schismas als Kriterium für die Absetzung der regierenden Päpste thematisiert. Unter anderen Vorzeichen geschah Ähnliches in der Endphase des Basler Konzils (1431–1449) im Kontext der Beschwerden gegen Papst Eugen IV. Auch nach dem Konzil von Trient (1545–1563) bestand bei der Auswahl der Bischöfe durch die römische Kurie ein Nebeneinander konkurrierender, je unterschiedlich akzentuierter Eignungserwartungen. Im Bewusstsein, dass eine Reform der Institution Kirche nur durch die Reform ihrer Personalentscheidungen gelingen könne, wurde in der Zeit nach dem Konzil zunächst die Seelsorge ins Zentrum gerückt, was Bischofsspiegel belegen. In dem Maße aber, in dem das Papsttum auf seine italienische Herrschaft zurückgeworfen wurde, verschoben sich die Eignungserwartungen an die Bischöfe. Bei den Bistümern, deren Besetzung weiterhin Rom oblag, überwog im 17. Jahrhundert das Interesse an den Fähigkeiten und Erfahrungen des Kandidaten in der päpstlichen Verwaltung ‒ spirituelle Verklärtheit galt eher als Ausschlussgrund. Im Verfahren der Personalauswahl und -bestellung durch die Kurie wurden indes alle ­Varianten der Eignungserwartung berücksichtigt. So zielte der seit dem Trienter Konzil zunehmend detailliert geregelte Informativprozess, in dem Auskünfte über den Bewerber gesammelt und über Zeugenbefragungen abgesichert wurden, auf die soziale und moralische Eignung des Kandidaten. Der Überprüfung der fachlichen Kompetenz diente hingegen seit dem Jahr 1602 ein

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246 Cornelißen, Emich, Leppin, Lesczenski, Rando, Scotto und Tenaglia eigens geschaffenes Examen vor dem Papst, dem sich grundsätzlich jeder Kandidat für ein Bistum in römischer Vergabe stellen musste. Bei der päpstlichen Besetzung von Bistümern in der Frühen Neuzeit fällt auf, dass Mängel eines für ein Bistum vorgesehenen Kandidaten, die im Informativprozess vor Ort zutage getreten waren, keineswegs zu dessen Ausschluss führen mussten. Vielmehr konnten im anschließenden Definitivprozess (das heißt im formalen Abschluss des Verfahrens an der Kurie selbst) die Mängel gezielt angesprochen und durch päpstliche Dispense »geheilt« werden. Allerdings darf auch die zunehmende Formalisierung und Differenzierung der Verfahren nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Prüfung eines Kandidaten erst dann in Gang gesetzt wurde, wenn seine Auswahl für eine bestimmte Position schon getroffen war: Offensichtlich spielten zugleich andere Formen von Eignung eine Rolle, deren Einfluss auf die Personalentscheidung in der Sache zwar klar zu erkennen, dem aufwendigen Prüfverfahren und seinen Akten aber nicht zu entnehmen ist. Ähnliche Schwierigkeiten zeigen sich in den Analysen zu Unternehmen und behördlichen Organisationen im 19. und 20. Jahrhundert. So gab es keine Ausbildung »zum Unternehmer«, dem letztlich allein aufgrund charakterlicher Eigenschaften Führungsqualität unterstellt wurde. Seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts änderten sich jedoch im Gefolge der zunehmenden Ausdifferenzierung der Unternehmensorganisation die Eignungsvoraussetzungen für eine unternehmerische Laufbahn, außerdem fiel nun die jeweilige Marktsituation der Unternehmen stärker ins Gewicht. Genügte es im 19. Jahrhundert bisweilen, der Gründerfamilie anzugehören, um im eigentümergeführten Betrieb an die Spitze zu rücken, wurden seit dem frühen 20. Jahrhundert andere Eignungskriterien wichtiger: eine fachspezifische Formation, ein spezielles Studium oder andere Qualifikationen, die freilich keine Garantie für eine erfolgreiche Karriere boten, gleichwohl aber »Eintrittskarten« in die Organisation gleichkamen. Die konkreten Eignungserwartungen wurden seit etwa den 1950er-Jahren (in den USA rund 10 bis 15 Jahre früher) in Arbeitsplatzbeschreibungen festgelegt. Überdies veränderten sich in Unternehmen die Eignungserwartungen von Hierarchie- zu Hierarchiestufe. Sehr vereinfachend ausgedrückt bedeutet dies, dass vom mittleren Management in erster Linie die fachspezifisch einwandfreie Arbeit, von einem Mitglied des Topmanagements eher allgemeine Führungseigenschaften, Denken in größeren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen und anderes mehr verlangt wurden. Welche Kandidaten mit welchen Eignungen zu welchem Zeitpunkt eine Führungsposi-

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tion in einem spezifischen Unternehmen suchten, hing von zahlreichen Faktoren ab: unter anderem von der Größe und Komplexität des Unternehmens, der Marktsituation (Erfolg/Misserfolg, Expansions- und Wachstumsziele), Umweltdynamiken (zum Beispiel »Technologieschocks«), Branchencharakteristika sowie Rekrutierungstraditionen. Darüber hinaus erhielt nun auch die Strukturierung des Auswahlprozesses ein höheres Eigengewicht. Denn je mehr dieser Zwischenschritte beinhaltete, desto mehr konnte die charakterlich-moralische Haltung an Bedeutung gewinnen. Die Loyalität gegenüber der Institution stieg dann zu einem wichtigen Kriterium der Personalentscheidung auf. Alle diese Gesichtspunkte weisen eine hohe Relevanz ebenso für Personalentscheidungen zur Bestellung von Führungspositionen in der höheren staatlichen Verwaltung in der Spätmoderne auf. Zwar postuliert das webersche Idealbild des »Staatsdieners« einen geregelten beruflichen Werdegang in Laufbahnen, die allein auf der professionellen Formierung der neu berufenen Beamten aufbauen sollten; aber die Untersuchungen der Forschungsgruppe zur Bestellung von höheren Verwaltungspositionen geben in der Praxis mehrerer Länder Europas ganz andere Einflüsse zu erkennen. So konnten in Italien Bewerber um das Amt des Präfekten einen spezifischen Ausbildungsgang an einer staatlichen Verwaltungsschule und in den Präfekturen besuchen, aber sie mussten es nicht, denn es wurden auf diese Posten immer auch Personen ohne einen entsprechenden Nachweis berufen. Und sosehr im französischen Fall der erfolgreiche Abschluss an der höheren nationalen Verwaltungsschule (École nationale d’administration, ENA) ein wichtiges entrée billet für den Aufstieg in höhere staatliche Verwaltungspositionen abgab und immer noch abgibt, lassen sich zahlreiche Abweichungen von dieser Regel dokumentieren. Weiteres kommt hinzu: Oft wurden und werden Präfekten zusätzlich in Kursen geschult, die zuvorderst auf die Schaffung eines esprit de corps zielen und darüber eine Loyalität zum System begründen, was sich dann als eine entscheidende Voraussetzung für ihre Ernennung erweist. Dies führt im italienischen Fall dazu, dass das Recht zur Ernennung von Präfekten formell in der Verantwortlichkeit der politischen Verantwortungsträger liegt, in der Praxis nehmen jedoch ebenfalls die amtierenden Präfekten einen erheblichen Einfluss darauf. Dahinter scheinen die Grundzüge einer sozialmoralischen Praxis auf, die in ihrer engen Anbindung an Werte sowie soziale Konventionen des Bürgertums eine spezifische Kultur ausbilden, ohne deren Anerkennung die Kandidaten:innen keine Berufung auf eine Führungsposition erhalten können.

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248 Cornelißen, Emich, Leppin, Lesczenski, Rando, Scotto und Tenaglia Diese Praxis garantiert gleichzeitig einen starken Corpsgeist, der sich auf alle anderen Verwaltungsebenen niederschlägt. Auch in den stärker weberianisch geprägten staatlichen Verwaltungen Deutschlands und Großbritanniens lassen sich entsprechende, eher infor­melle Eignungserwartungen identifizieren. Seit den 1970er-Jahren sorgten hier die Debatten um eine stärkere »Managerialisierung« staatlicher Verwaltungsstrukturen (Stärkung des »Leistungsprinzips«) für eine Abkehr von überkommenen Prinzipien (»Juristenmonopol« in Deutschland, strikte politische Neutralität in Großbritannien) bei der Bestellung von höheren Beamten. Gleichzeitig verweist die stark aufbrandende Kritik an der Ineffizienz sowie der Intransparenz der staatlichen Verwaltungen in vielen westeuropäischen Ländern auf das wachsende Gewicht des Faktors »Öffentlichkeit« in der Umformung von Eignungserwartungen. Nicht mehr Effizienz, Zuverlässigkeit, Neutralität und Leistungsfähigkeit bestimmten nun in erheblichem Maße die gesellschaftliche Sicht auf die Staatsverwaltung, sondern es verbreiteten sich stattdessen Bilder von der Ineffizienz, Unfähigkeit und Unmenschlichkeit des Verwaltungs-»­Apparats«. Vor diesem Hintergrund kam international der Appell nach einer »modernen« Leistungsverwaltung beziehungsweise neuen, effizienten Techniken des »Führens, Leitens, Entscheidens und Kontrollierens« auf. In Großbritannien erfasste ab Mitte der 1980er-Jahre eine Reformwelle das Personalwesen in der öffentlichen Verwaltung mit voller Wucht; seit Anfang der 1990er-Jahre wurden dann auch die höchsten Dienstgrade davon erfasst, sodass die Personalpolitik in weiten Teilen den Ministerien selbst übertragen wurde, die somit ihre Einstellungs- und Beförderungspraxis speziell auf die eigenen Bedürfnisse zuschneiden konnten. Wahlweise wurde die Rekrutierung auch an kommerzielle Agenturen delegiert. Es darf daher nicht verwundern, dass bei Personalentscheidungen in den obersten Rängen des Senior Civil Service zunehmend manageriale Fähigkeiten und unternehmerische Qualitäten eine wichtige Rolle spielten. Obwohl diese Schritte keine umfassende Politisierung der obersten Staatsbürokratie zur Folge hatten, diagnostizierten Kritiker bereits früh, dass die Rekrutierungsprozesse sehr viel stärker als in den vorangegangenen Jahren charakterliche beziehungsweise moralische Kriterien berücksichtigten. Noch mehr, das offizielle Auswahlverfahren für höhere Verwaltungsstellen kann als Teil eines komplexen Systems aus Beziehungen, Hintergrundgesprächen und Kompromissabmachungen gesehen werden. Die parallelen Entwicklungen in Deutschland zeigen jedoch gegenläufige Prozesse auf. Hier blieb in der Praxis trotz vieler Reformappelle vieles beim

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Alten, auch weil die Inhaber von Führungsstellen oder Interessengruppen (nicht zuletzt die Gewerkschaften) starken Widerstand gegen die Reformen aufbrachten. Gleichwohl spiegelt sich in den verstärkt seit den 1990er-Jahren aufkommenden Regelungen zur besonderen Förderung von sozialen Gruppen mit Diskriminierungserfahrungen, dass bei den Eignungserwartungen nun stärker politische und gesellschaftliche Motive zu Buche schlugen. In vielen Funktionsbereichen führte dies zu einem nur langsamen Umbau struktureller Ungleichheitsdimensionen.  Die formalen Anforderungen an eine auf Weber zurückführende idealtypisch gedachte Besetzung von Personalstellen in der höheren staatlichen Verwaltung stehen somit weiterhin in einem deutlichen Spannungsverhältnis zur Praxis. Die Fallbeispiele zeigen insgesamt eindringlich auf, dass die Eignungserwartungen an gesellschaftliche Führungspositionen einem ständigen zeitlichen Wandel unterlagen. Zum einen ergeben sie sich als das Resultat eines Spannungsfelds zwischen gewandelten fachlichen Anforderungen, etablierten sowie lange für gut befundenen Prozeduren und den Interessen von Gruppen, die Ansprüche auf Schlüsselstellungen erheben. Zum anderen zeigt sich in der Bestimmung von Eignungserwartungen regemäßig das Gewicht kultureller Faktoren, die in erheblichem Maße die Auswahlkriterien und ihre jeweilige Hierarchisierung beeinflussen. So sorgt das komplexe Beziehungsgeflecht aus Bildung und kultureller Prägung, aber auch Ideologien und Weltsichten sowie Machtkonstellationen dafür, dass immer wieder aufs Neue spezifische Kriterien für die Berücksichtigung oder den Ausschluss von Bewerbern oder Bewerberinnen definiert worden sind, die wiederum von kulturell bestimmten Eignungserwartungen abgeleitet wurden. Das Konzept der Eignung in dem breiten, hier definierten Sinne ist transepochal die Voraussetzung für die Bekleidung eines Amtes, doch geht es keineswegs zwingend um eine spezifische fachliche Eignung, sondern um Tugenden, die Führungsfähigkeit erwarten lassen. Eine epochenübergreifende lineare Geschichte von Eignungserwartungen lässt sich, wie die Fallbeispiele zeigen, nicht erzählen. Nicht selten ist ein Wechsel zwischen Schwerpunkten von Erwartungen zu beobachten, die auch von kontingenten Faktoren, etwa persönlichen Interessen, Machtverhältnissen, Krisen und anderem mehr abhängen konnten. Allerdings spricht einiges dafür, dass es bezüglich der Semantik und Normen eine Entwicklung in der Moderne gibt, die fachliche Kompetenz (etwa durch die Vergabe von Bildungspatenten) betont und das »subjektive Moment«

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250 Cornelißen, Emich, Leppin, Lesczenski, Rando, Scotto und Tenaglia z­ urückzudrängen sucht. In der Praxis aber werden diese Ansprüche oft unterlaufen, was einen erhöhten Rechtfertigungsbedarf hervorruft. So ist es in der Moderne anders als etwa im Falle der antiken Rhetorikausbildung notwendig, die spezifische Relevanz einer Vorbereitung auf die angestrebte Tätigkeit zu betonen. Allerdings sind derartige Ansprüche keineswegs ein Monopol der Moderne. Die verschiedenen Modi der Personalentscheidung ermöglichen typischerweise die Berücksichtigung unterschiedlicher Aspekte der Eignung. Möglicherweise tendieren aristokratische Gesellschaften mehr als andere dazu, dem, was als charakterliche Eignung wahrgenommen wird, einen höheren Stellenwert zuzuschreiben. Prüfungen etwa rücken die fachliche Kompetenz in den Mittelpunkt, wohingegen die Modi des Losverfahrens und der Herkunft die Eignung auszublenden scheinen. Da sich als ein klares Ergebnis der Forschungsgruppe zeigt, dass sich bei Personalentscheidungen stets verschiedene Modi verbinden, ist dies weniger folgenschwer, als man erwarten würde. Hier erweist wieder die Unterscheidung der Stufen von Entscheidungsprozessen einerseits und den Voraussetzungen sowie vorbereiteten Modi der Reduzierung der Bewerbergruppe andererseits ihren Nutzen und zeigt sich die Notwendigkeit, mikrohistorisch zu argumentieren. Was die Akteure, die die Erwartungen an Personalentscheidungen formulieren, angeht, so besteht eine komplexe Beziehung zwischen Erziehung, kultureller Prägung, Ideologie, Erfahrung und Interessen. In Krisensituationen kann ein unterschiedlich großer Druck entstehen, Personalentscheidungen zu begründen, doch wäre es kurzschlüssig anzunehmen, dass die in den Quellen gut fassbaren, wandelbaren Begründungen mit den Motiven identisch seien. Doch haben die Grenzen des Sagbaren durchaus einen Einfluss auf das Machbare; es war außerordentlich riskant, einem nach den jeweiligen Kriterien ungeeigneten Kandidaten zum Erfolg zu verhelfen. Wenn sowohl die Kriterien der persönlichen Eignung als auch ihr Verhältnis zu fachlichen Kriterien wandelbar sind, stellt sich die Frage nach den Gründen der Dynamik. Der Rechtfertigungsbedarf gerade in Situationen des Wandels kann einen Druck zur Formalisierung und Verschriftlichung erzeugen, zu sehen am Beispiel der amerikanischen Unternehmensführungen in den 1950er-Jahren. Das ist aber nicht durchgängig für alle Fälle zu beobachten. So fanden im Falle der Präfekten in Frankreich und auch Italien die Veränderungen hauptsächlich auf informeller Ebene statt.

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Die Verschriftlichung von Erwartungen verstärkt den normativen Druck, ob sie als Gesetz beziehungsweise administrative Verordnung daherkommen oder aber als theoretischer Text und als Empfehlungsschreiben oder Herrscherspiegel, oder auch als Rede, die im Gestus der Affirmation Erwartungen formuliert. Die Explikation und letztendliche Formalisierung von Erwartungen spiegeln einen spezifischen Moment wider, ihnen liegt aber typischerweise zugleich der Anspruch zugrunde, unabhängig von oder jenseits des Zeitpunkts und Kontexts der Entstehung in verschiedenen und zukünftigen Zeiten und Umständen zu bestehen und Gewicht zu haben. Daher scheint es sinnvoll, in jedem historischen Kontext den Moment zu identifizieren, in dem im Prozess der Diskussion und der Formulierung der Auswahlkriterien die Erwartungen eine schriftliche Form finden und in dieser Form im öffentlichen Raum zirkulieren.

Scheitern und Camouflage Eignungserwartungen stehen in einem engen Zusammenhang mit Aspekten des Scheiterns. Dies betrifft einerseits die Bewerber und Bewerberinnen um höhere Führungspositionen, andererseits die Gruppe der Entscheider. Im Hinblick darauf bietet sich die folgende Unterscheidung an: Sind Bewerber im Verfahren gescheitert, das heißt wurden sie nicht ausgewählt, sprechen wir von »verlieren«. »Scheitern« bedeutet hingegen, nach der Personalentscheidung den damit verbundenen Erwartungen nicht zu entsprechen. Anders gewendet: Kandidaten verlieren, Amtsträger scheitern. Die Gründe für das Scheitern sind vielfältig: Amtsträger können an den inhaltlichen Anforderungen scheitern, an den veränderten Bedingungen, aber auch an den »Versuchungen« des Amtes. Letztlich bleibt die Definition des Scheiterns in komplexer Weise mit den Erwartungen an die Eignung verbunden. Die Nicht-Erfüllung von Erwartungen kann Scheitern begründen, doch können die Gründe für das Scheitern auch außerhalb dessen liegen, was als Erwartung im Raum stand, oder es können Erwartungen formuliert werden, die zum Zeitpunkt der Entscheidung gar nicht bestanden. Allgemein ist dafür das von Reinhart Koselleck thematisierte Spannungsverhältnis von Erwartungshorizont und Erfahrungsraum von Bedeutung. Beide Konzepte sind temporal in wechselnder Verschränkung aufeinander bezogen. Das heißt: Die sich ständig verändernden beziehungsweise

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252 Cornelißen, Emich, Leppin, Lesczenski, Rando, Scotto und Tenaglia erweiternden Erfahrungsräume verändern retrospektiv die Sicht auf das, was in einem früheren Stadium entweder explizit oder auch nur informell als Eignungserwartung formuliert worden ist; gleichzeitig prägen zeitlich und kulturell bedingte Erwartungshorizonte die Dimension der Erfahrung, ohne sie tatsächlich auf Dauer stellen zu können. Aus dieser Gemengelage ergibt sich die dynamische und problematische Spannung zwischen den Protagonisten von Erwartungen und Misserfolgen sowie den damit verbundenen Entscheidungen. Die Wahrnehmung von Scheitern ist eng mit einem bestimmten »Moment« verbunden – dem Moment, in dem das Scheitern diskutiert und sanktioniert wird. Um die Tatsachen, die zur Wahrnehmung, Formalisierung und zu den Folgen eines Scheiterns geführt haben, zu verstehen und nachträglich zu rekonstruieren, ist es notwendig, die dem Konzept des Scheiterns innewohnende Wandelbarkeit und Vorläufigkeit zu berücksichtigen. Da ein wichtiges Ergebnis der Forschungsgruppe darin liegt, dass die Entwicklung bestimmter Modi der Personalentscheidung dazu diente, den Erfolg des einen so zu begründen, dass Verlierer ihn akzeptieren konnten, und damit Krisen zu entschärfen, überrascht es nicht, dass Camouflage von Scheitern eine große Rolle spielte, denn sie konnte potenziellen Konflikten vorbeugen. Dies mögen erneut Fallbeispiele aus verschiedenen historischen Epochen verdeutlichen. Bei römischen Magistraten kann man in vielen Fällen feststellen, dass Karrieren nicht weitergingen, doch lässt sich selten sagen, warum, da dies kaum thematisiert wurde. Erkrankung, Tod oder Desinteresse sind ebenso denkbar wie Scheitern. Im Falle eines Scheiterns gab es anscheinend ein starkes Bestreben, allen zu erlauben, ihr Gesicht zu wahren – es sei denn, jemand hatte den Eindruck von Illoyalität erweckt. In solchen Fällen war der (oft vom Kaiser nahegelegte) Suizid ein immerhin ehrenvoller, postum potenziell ruhmreicher Weg, das Scheitern einzugestehen, der zudem den Verwandten das Erbe sicherte. Zu beachten ist dabei, wie Beispiele aus dem Mittelalter verdeutlichen, die Semantik des Scheiterns: Das Adjektiv inutilis (»nutzlos«) bringt die Nichteignung sowohl der weltlichen als auch der kirchlichen Autoritäten auf den Begriff. Neben moral-theologischen Merkmalen wurde so das »Leistungsprinzip« und damit die Verantwortung bei der Verwaltung mitgedacht, indem der kirchliche und der öffentliche Nutzen in eins gesetzt wurden. Auch die Übererfüllung von Erwartungen kann zum Scheitern führen, wenn etwa ein mittelalterlicher Bischof sittliche Anforderungen zu streng auslegte. Weiterhin veranlasste bisweilen der beharrliche Widerstand des

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Volkes einen Bischof zum Amtsverzicht. So konnte ein besonderer Vorfall, scandalum, einen Bischof in seiner Amtsführung scheitern lassen, wenn er dadurch die Akzeptanz beim Volk verlor. Obwohl bisweilen das Scheitern einzelner B ­ ischöfe oder Päpste betont wird, scheint – wie bei antiken Beamten – doch oft ein gemeinsames Interesse daran bestanden zu haben, Scheitern zu invisibilisieren. In Großunternehmen des 20. Jahrhunderts waren, um einen großen zeitlichen Sprung in die Gegenwart zu machen, die personalpolitisch Verantwortlichen in der Regel nicht darauf aus, Führungskräfte, die sich ihrer Aufgabe nicht gewachsen zeigten, zu entlassen. Oft hatten die Unternehmen viel Zeit und beträchtliche finanzielle Mittel in ihre Ausbildung investiert. Vor diesem Hintergrund wurde meistens versucht, für die betroffene Führungskraft eine adäquatere Position zu finden. Das Verhalten der »Verlierer« beziehungsweise »Gescheiterten« hing im Kern von ihrem individuellen Aufstiegswillen und den weiteren Möglichkeiten ab, die das Unternehmen ihnen bot. Bei der Personalauswahl, einer Beförderung oder Ähnliches zu unterliegen, war nicht zwingend mit einem Ende der Karriere und des innerbetrieblichen Aufstiegs verbunden. Häufig gab es für ambitionierte Nachwuchskräfte alternative Wege zur nächsten Hierarchiestufe. Zugleich gilt zumeist: Führungskräfte, die auf der Ebene des Top-Managements bei der Personalauswahl den Kürzeren zogen oder scheiterten, wechselten das Unternehmen.  Bei den französischen Präfekten wiederum gab und gibt es eine ausgeprägte Tendenz, Misserfolge zu verschweigen (öffentliche Skandale sind sehr selten); oft versetzte man sie »freiwillig« in den Ruhestand, wahrscheinlich, weil die Position eines Präfekten infrage gestellt wurde und Skandale das Risiko einer Abschaffung erhöht hätten. Gleichermaßen bedienten sich ihre Vorgesetzten häufig des Instruments der Versetzung, um so vor allem gegen die Korruption in den Reihen der Verwaltung vorzugehen, die bei einer zu großen Enge zwischen den Präfekten und den Einwohnern vor Ort hätte auftreten können. In größeren staatlichen Verwaltungen bot sich für entsprechende Krisen ebenfalls das Instrument der Versetzung an, entweder auf eine adäquatere Position oder, im Gegenteil, auf Stellen, in denen gescheiterte Kandidaten nichts mehr »anrichten« konnten. Scheitern können nicht nur Personen, sondern auch Institutionen, die sich in der Personalauswahl nicht bewähren: Dies zeigte sich besonders eindringlich nach dem politischen Systemwechsel am Ende der 1980er-Jahre in der unter-

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254 Cornelißen, Emich, Leppin, Lesczenski, Rando, Scotto und Tenaglia gegangenen Deutschen Demokratischen Republik. In einer Phase, in der massenhaft Spitzenposten neu besetzt und ein konsequenter Neuanfang gefordert wurde, erwiesen sich die Personalentscheidungen nicht nur als sehr aufwendig, sondern sie waren stets auch Gegenstand öffentlicher Debatten. Unzählige Kandidaten:innen, die in diesem Verfahren zunächst verloren, strengten danach eine richterliche Überprüfung an und waren damit häufig erfolgreich. Schon vorher hatte sich bei der Besetzung von Führungsstellen in der höheren staatlichen Verwaltung gezeigt, dass es im Gefolge der Regierungswechsel auf nationaler Ebene (1969, 1982 und 1998) zu einem tiefgreifenden Wandel der Verwaltungselite kam. Man darf somit davon ausgehen, dass in den entsprechenden Fällen der umfassende Personalaustausch der politischen Loyalitätssicherung diente. Hinter diesen Vorgängen tritt zum Vorschein, dass politische und somit nicht kalkulierbare Erwägungen die Personalentscheidungen anleiteten. Des Weiteren ist seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eine zunehmende Formalisierung der Prüfung von geeigneten Bewerber:innen um Führungspositionen in der staatlichen Verwaltung zu beobachten. Hierbei kam zum Tragen, dass sowohl politisch als auch gesellschaftlich den grundsätzlichen Prinzipien des potenziell gleichen Zugangs und damit allgemeinen (demokratischen) Gerechtigkeitsvorstellungen ein höherer Stellenwert eingeräumt worden ist. Sowohl der Erfolg als auch das Verlieren bei einer Personalentscheidung bedürfen inzwischen einer juristisch stichfesten und damit überprüfbaren Begründung. Die rasch anschwellenden Klagen gegen die Resultate von Personalentscheidungen zeigen unter anderem an, dass die Unterlegenen oftmals den Rechtsweg suchen, um das Entscheidungsverfahren neu aufzulegen. Dahinter deutet sich eine tief reichende De-Legitimierung etablierter Strukturen im Personalwesen an.  Um insgesamt die Folgen und Konsequenzen von »Scheitern« zu bestimmen, empfiehlt es sich, sowohl die Perspektive der Individuen, die im Amt scheiterten, als auch die Perspektive der Entscheider zu berücksichtigen sowie das gemeinsame Interesse der Gesichtswahrung: Ein Scheitern stellte ja nicht nur die betroffene Person infrage, sondern auch das Verfahren der Personalentscheidung. Wenn die Eignungserwartungen nicht erfüllt werden, die Person in der Führungsposition mithin scheitert, kann dies zum Verlust des Postens führen – und sich genau darin manifestieren. Denkbar ist aber ein Camouflieren des Scheiterns durch Versetzung, etwa durch die Abschiebung des Amtsträgers in die Provinz oder auf ein anderes Tätigkeitsfeld sowie schließlich die

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Kaltstellung im Amt durch eine Umorganisation der Kompetenzen oder durch personelle Neustrukturierungen (etwa in Gestalt von zugeordneten »Helfern«). Koadjutoren, die Bischöfen als Helfer zur Seite gestellt wurden und mitunter sogar das Recht auf Nachfolge im Amt erhielten, waren für solche Fälle seit dem Hochmittelalter bis in die Frühe Neuzeit und darüber hinaus ein kirchenrechtlich vorgesehenes Instrument. Strategische Umbesetzungen zur Neutralisierung gescheiterter Kandidaten waren ebenfalls in den staatlichen Verwaltungen gang und gäbe. Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Einfluss der Erwartungen auf die Definition des Scheiterns, umgekehrt aber auch der Einfluss des Scheiterns auf die (Re-)Definition von Erwartungen; selbst wenn im Einzelfall camoufliert wurde, bedeutet das nicht, dass keine Reflexionen über die Personalentscheidungen stattfanden. Anders gesagt geht es darum, den Einfluss des Künftigen (die Erwartungen) auf das Gegenwärtige (das Scheitern) und zugleich den Einfluss des Gegenwärtigen auf das Künftige zu bemessen. Es wäre daher verkürzt, aus den Begründungen für das Scheitern die Erwartungen zum Zeitpunkt der Entscheidung zu extrapolieren oder aus den Semantiken der Erwartungen Semantiken des Scheiterns abzuleiten. Das Scheitern eines Amtsinhabers kann zu Veränderungen von Erwartungen führen, doch sind derartige Lernprozesse nicht zwingend vorauszusetzen, gerade wenn mit persönlichen Charaktereigenschaften argumentiert wurde und die Entscheider das Gefühl äußerten, getäuscht worden zu sein.  Das Verhältnis von Erwartungen und Scheitern ist somit kein direktes. Ein Scheitern kann im Kontext der alten Erwartungen festgestellt, aber auch mit neuen Erwartungen begründet werden, und diese können ihrerseits auf künftige Personalentscheidungen Einfluss nehmen. Doch können sich dabei auch alte Erwartungen ändern. Hier gibt es typisierbare Zusammenhänge, die im Grunde nur durch die Analyse des Einzelfalls erschlossen werden können. Dahinter tritt jedoch zugleich ein Kreislauf von übergeordneter Bedeutung zum Vorschein. Denn die Erwartungshaltungen wirken sich in entscheidender Weise auf die Definition des Scheiterns aus, die umgekehrt die Re-Definition der Eignungserwartungen beeinflusst. In diesem Sinne wirken sich Zukunftserwartungen auf gegenwärtige Zuschreibungen (Scheitern) aus, während gleichzeitig das Scheitern in der Gegenwart über die Zukunft mitbestimmt (neue Erwartungen). Auch die weiter oben erwähnten Bischofsspiegel stellen auf ihre Weise eine schriftliche Variante der Eignungserwartungen dar. Man brauchte

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256 Cornelißen, Emich, Leppin, Lesczenski, Rando, Scotto und Tenaglia nicht bis zum 20. Jahrhundert zu warten, um solche Phänomene zu registrieren. Entscheidend ist vielmehr, immer genau den Moment zu bestimmen, an dem im Prozess der Diskussion und Formulierung der Auswahlkriterien die Eignungserwartungen schriftlich niedergelegt und in dieser Form im öffentlichen Raum verbreitet worden sind. Überdies empfiehlt es sich, die Rolle der (medialen) Öffentlichkeit weiter zu ergründen. Es ginge dann darum, ihre Bedeutung für die Wahrnehmung des Scheiterns einzelner Persönlichkeiten, ihre Bedeutung für den »bestimmten Moment«, ab wann und warum Scheitern thematisiert wird, aber auch ihre Rolle als kritischer Beobachter funktionaler Eliten oder als Tugendwächter öffentlich akzeptierter Leitbilder und Verhaltenspraktiken herauszuarbeiten.

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Meritokratie und Diversität Andreea Badea, Muriel Favre und Annika Klein Mit seinem Buch The rise of meritocracy von 1958 gelang dem britischen Soziologen Michael Young viel mehr als nur eine Satire auf das britische Bildungssystem und auf dessen negative Folgen für moderne Gesellschaften. Er leitete damit eine Debatte über Leistung und Erfolg ein und generierte neue Fragen bezüglich der Partizipation aller gesellschaftlichen Schichten am sozialen Aufstieg. Zudem verselbstständigte sich seine ausdrücklich negativ konnotierte Neuschöpfung »meritocracy« und fand über das Englische Eingang in zahlreiche andere Sprachen. Die wissenschaftlichen und politischen Debatten um die Rechtfertigung der Meritokratie brachten in den 1970er-Jahren zuerst in den USA »Diversität« als Gegenentwurf ins Spiel, sodass die beiden Begriffe im gesellschaftspolitischen Diskurs der letzten fast 50 Jahre als korrelative Größen benutzt wurden. In der Regel schließen sie sich in Abhängigkeit von dem jeweils bemühten Erklärungsmodell gegenseitig aus. In der Bundesrepublik Deutschland ist Diversität erst seit der Jahrtausendwende ein sozialwissenschaftlicher Terminus. Rechtlich verankert wurde er 2006: Das in jenem Jahr verabschiedete »Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz« nennt sechs Gründe der Benachteiligung, die zu vermeiden seien, nämlich »Rasse« oder ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Identität. Das kontrapunktisch zu Young ins Positive gekehrte meritokratische Legitimationsprinzip sieht dagegen Bildung als Voraussetzung für gesellschaftlichen Aufstieg. Die Formel, auf die sich dieser Ansatz reduzieren lässt, lautet: I + E = M (Intelligence and Effort make up Merit). Dies bedeutet, dass (intellektuelle) Leistung und Anstrengung die Faktoren sind, die bei – implizit mitgedachten – gleichen Ausgangschancen den gesellschaftlichen Unterschied ausmachen. In dieser Nichtbeachtung anderer sozialer Faktoren liegt aber gleichzeitig auch der Ansatzpunkt der Kritik an diesem Legitimationsmodell. Sie kommt vor allem aus den Reihen von Bürgerrechtler:innen und Soziolog:innen, die Youngs Argumentation gegen seine Kritiker:innen verteidigen. Sie verstehen »Meritokratie« als über-

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258 Andreea Badea, Muriel Favre und Annika Klein kommenes Produkt moderner Bürokratisierungs- und Formalisierungsmaßnahmen, deren Ziel es zwar gewesen sei, bei der Besetzung von gesellschaftlich, wirtschaftlich oder politisch relevanten Positionen die Fähigsten/Geeignetsten/ Besten auszuwählen, die sich aber letztlich doch wieder in Praktiken der Selbstrekrutierung ein und derselben gesellschaftlichen Gruppe erschöpften. Deshalb setzen sie diesem System »Diversität« als Gegenentwurf entgegen und gehen in ihren Studien davon aus, dass die vom meritokratischen Erklärungs­modell implizit als Ausgangspunkt für die Auswahl der Besten mitgedachte Chancengleichheit nicht existiert. Diese Ungleichheit bedeutet wiederum, dass eine beträchtliche Anzahl talentierter Personen von Anfang an ausgeschlossen wird, weshalb sich das meritokratische Prinzip ad absurdum führt, weil es – ähnlich wie Auswahlprinzipien, die aufgrund von sozialem Status funktionieren – nur innerhalb eines begrenzten Pools appliziert wird. Deswegen müsse man erst die vorhandenen gesellschaftlichen Unterschiede durch adäquate politische Maßnahmen nivellieren, um tatsächliche Chancengleichheit herzustellen und den Zugang aller, unabhängig von Geschlecht, »Rasse« oder sozialer Herkunft, zum Aufstieg über Leistung zu sichern. »Diversität« wäre dann garantiert und damit das Funktionieren der Formel I + E = M gesichert.  Da sich die gesellschaftspolitischen Debatten um »Meritokratie« und »Diver­ sität« auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts konzentrieren, erscheint es w ­ enig produktiv, eine auf die longue durée seit der Antike ausgerichtete geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung auf diese Begriffe zu konzentrieren. Die meisten Projekte der Forschungsgruppe untersuchen Kontexte, in denen diese Begriffe nicht greifen. In den Quellen werden die Begriffe kaum (»Meritokratie«) bis gar nicht (»Diversität«) verwendet. Aber auch als analytische Begriffe sind sie häufig nicht anwendbar, weil die Phänomene, die sie beschreiben sollen, nicht vorkommen. So setzt der starke Bildungsfokus des »klassischen« Meritokratiebegriffs die Existenz eines strukturierten Bildungssystems voraus, in dem die Möglichkeiten herrschen, klar definierte Kompetenzen in einheitlichen Examina abzufragen. Der Begriff der Diversität ist nicht nur politisch stark aufgeladen, er fußt auch auf Normen, die primär für die Gegenwart gültig sind und in anderen Epochen kaum eine Rolle gespielt haben, wie zum Beispiel die Betonung der Gleichwertigkeit der Standpunkte und die Anprangerung hegemonialer Praktiken. Obwohl die Begriffe »Meritokratie« und »Diversität« aus geschichtswissenschaftlicher Sicht problematisch sind, bedeutet das aber nicht, dass sich mit den dahinterstehenden Ordnungskategorien nicht produktive Erkenntnisse gewinnen lassen, vorausge-

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setzt natürlich, man beachtet, mit welchen Praktiken und Rhetoriken die Kategorien jeweils in Verbindung gebracht werden. Das lässt sich besonders in Umbruchphasen beziehungsweise in Konfliktperioden gut erfassen, weil in solchen Situationen der Bedarf besteht, Veränderungen, Innovationen etc. zu erklären, sich von bereits Bestehendem abzugrenzen oder Traditionen und Kontinuitäten diskursiv zu inszenieren. Wenn Konsens über die Art der Entscheidungsfindung herrscht, fehlt es häufig an klaren Definitionen dessen, was für »gute« Personalentscheidungen als essenziell angesehen wird. Wenn es aber darum geht, Missstände zu kritisieren, erfordert das unweigerlich zuerst eine Beschreibung dieser Missstände und anschließend der zukünftigen, diese Missstände überwindenden Entscheidungsverfahren. Konflikte führen also tendenziell zur verschriftlichten Reflexion bestehender Verhältnisse sowie dazugehörender Bürokratisierungsmaßnahmen und legen somit immer wieder Differenzen zwischen einem als unvollkommen angesehenem Alten und einem als besser wahrgenommenen Neuen offen. Auf der Basis dieser Überlegungen wurden drei Gruppen von Ordnungskategorien identifiziert, die in allen Epochen, wenn auch in unterschiedlichen Konstellationen, zentral für das Zustandekommen von Personalentscheidungen sind. Es handelt sich dabei um »Leistung«/»Verdienst«/»Eignung« und »Homogenität«/»Heterogenität«, ergänzt um das Begriffspaar »Vertrauen«/»Loyalität«.

»Verdienst«/»Leistung«/»Eignung« Die Begriffe »Leistung« und »Verdienst« können auf alle untersuchten Epochen angewandt werden und finden sich zudem auch in zahlreichen Situationen als Quellenbegriff wieder. Individuelle Leistungen, Fragen nach dem Verdienst als Summe dieser Leistungen sowie den Qualitäten und den Fähigkeiten gegenwärtiger und zukünftiger Amtsträger, also ihrer Eignung, spielen bei der Legitimation von Personalentscheidungen eine wichtige Rolle. Seit der Antike und bis zur Moderne operierten Akteure mit »Verdienst« und »Leistung« als Gegenkategorien zu »Geburt«, »Herkunft«, »Rang« oder Patronage- beziehungsweise Klientelnetzwerken, um entweder bestehende Verhältnisse, wie schon gefällte Personalentscheidungen, zu validieren oder um sie zu kritisieren und so neue Verfahren für anstehende Entscheidungen einzufordern. »Leistung«/»Verdienst« betreffen dabei nicht nur die unmittelbar für das Amt relevanten Kompetenzen, sondern auch politische, soziale oder religiöse

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260 Andreea Badea, Muriel Favre und Annika Klein Ebenen. In der Regel sind es bereits erbrachte Leistungen und attestierte Verdienste, die bei der Personalauswahl eine Rolle spielen. Beide Begriffe sind also diagnostischer Natur. Die korrelative Größe dazu ist »Eignung«, welche die prognostische Dimension der individuellen Leistungsfähigkeit abdeckt. Die auswählende Person oder das auswählende Gremium geht in diesem Fall von noch zu erbringenden Leistungen und von noch zu erprobenden Kompetenzen des/der Kandidat:in aus, auch bezüglich seiner/ihrer politischen, ideologischen, religiösen oder gesellschaftlichen Positionierung.  »Leistung« und »Eignung« sind eng verbunden mit standardisierter Ausbildung beziehungsweise mit der Herausbildung von Expert:innen in diversen Feldern. Damit wurde seit der Antike der Nachweis einer (seit dem Mittelalter universitären) Ausbildung und/oder konkreter praktischer Erfahrungen im jeweiligen Einsatzgebiet zentral für die Besetzung gesellschaftlich relevanter Positionen. Diese Kategorien sind auch innerhalb von Patronagesystemen von Bedeutung, schließlich hing auch in solchen Systemen die Position der zentralen Figuren eines Netzwerks stets von der Leistung ihrer Klienten ab. Inkompetenz konnte genau wie Illoyalität dem gesamten Netzwerk schaden und ihre Mitglieder aus dem Konkurrenzkampf um Würden und Ämter ausschließen. Leistungsbasierte Personalentscheidung und die Existenz von Patronagesystemen schließen sich also nicht zwangsläufig aus, ganz im Gegenteil: Seit der Antike und für die gesamte Vormoderne ist ein mehr oder weniger ausgeprägtes Nebeneinander von Patronage und Tendenzen von Bürokratisierung beziehungsweise Professionalisierung zu beobachten.  Eine der wohl nachhaltigsten Maßnahmen der Bürokratisierung zielt auf die Messbarkeit von Leistung. Zu diesem Zweck wurden spätestens seit dem 16.  Jahrhundert in Europa zunehmend Prüfungsverfahren eingeführt; beispielsweise entwickelte die nachtridentinische Kirche Examina, die die Besetzung von Priesterämtern mit gut ausgebildeten, moralisch integren Personen garantieren sollten. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts beschäftigten sich dann französische Jesuiten mit den in China üblichen Prüfungsverfahren für den Eintritt in den öffentlichen Dienst und implementierten sie in ihrem Heimatland. Auf diese Weise sollte garantiert werden, dass Ämter ausschließlich mit geeigneten Kandidaten besetzt werden, wobei Eignung entweder intellektuell, sozial und kulturell definiert oder allein mit intellektuellen Fähigkeiten gleichgesetzt wurde. In diesem Falle ging die Einführung von Prüfungsverfahren mit der Abschaffung sozialer Zugangsschranken einher. Im Verlauf des 19. Jahr-

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hunderts etablierten sich zumindest im euro-amerikanischen Raum in zahlreichen Bereichen klar strukturierte, bisweilen sogar höchst unflexible Systeme, die eine präzise Abfolge von Karriereschritten zur Erlangung bestimmter Positionen erforderten. Auf den ersten Blick und auf der Ebene der formalisierten und verschriftlichten Verfahren ließen diese neuen Systeme keinen Raum mehr für andere Methoden der Personalauswahl. Auf den zweiten Blick stellt man dennoch fest, dass auch in der Moderne Patronage und Netzwerke durchaus noch eine Rolle spielen. Der Unterschied zur Vormoderne besteht vor allem darin, dass sie auf die informelle Ebene verschoben wurden: Es ist kaum noch möglich Kandidat:innen auszuwählen, die die auf der Ebene der Verfahren formulierten Kriterien nicht erfüllen, also beispielsweise nicht die geforderten Qualifikationen nachweisen können. Nach dieser ersten Auswahl können aber sehr wohl noch weitere, eher netzwerkbasierte Kriterien zur Anwendung kommen.

»Vertrauen« und »Loyalität« »Vertrauen« und/oder »Loyalität« sind als ergänzende Varianten von »Leistung«/»Verdienst«/»Eignung« zu betrachten. Sie sind häufig sowohl diagnostischer als auch prognostischer Natur: Bereits erwiesene Loyalität führt zu Vertrauen in die künftige Loyalität einer Person. Die Konzepte sind unter jeweils anderen Vorzeichen in allen von der Forschungsgruppe untersuchten Epochen von Bedeutung.  In vormodernen Gesellschaften seit der Antike, in denen vieles auf persön­ lichem Kontakt, Vertrauen und Loyalität nach oben wie unten basierte, machten sie den Kern eines jeden Patronagenetzwerkes aus. Sie waren unentbehrlich bei der Besetzung von gesellschaftlichen Schlüsselpositionen. Solche Netz­ werke lieferten das Gerüst dieser Systeme, innerhalb derer die jeweilige Herrscherfigur ihre Autonomie über die Stellenvergabe an Familienmitglieder und Klienten absicherte. Diese wiederum unterstützten ihre Herrschaft und waren ihr treu ergeben, weil ihnen so sozialer Aufstieg und die jeweilige Beibehaltung der gesellschaftlichen Position und ökonomischer Vorteil garantiert waren. »Vertrauen« bezeichnet hier also ein konkretes Vertrauensverhältnis zwischen Personen.

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262 Andreea Badea, Muriel Favre und Annika Klein  »Vertrauen« und »Loyalität« stellen aber auch in der Moderne eine Grundvoraussetzung für die Besetzung bestimmter gesellschaftlicher Schlüsselpositionen dar. Immerhin handelt es sich bei den neuen Amtsinhaber:innen oft um Vermittler:innen eines bestimmten Staatsbildes, weshalb ihre Regimetreue beziehungsweise ihre Staatstreue zentral ist, ob es sich nun um Lehrer:innen als Vertreter:innen bestimmter Werte eines Staates oder um Präfekt:innen als vertrauensvolle Staatsdiener:innen handelt. Als Vertreter:innen eines Staates haben sie diesem gegenüber loyal zu sein und müssen ihrerseits wiederum das Vertrauen übergeordneter Instanzen besitzen. Will man den Unterschied zwischen Vormoderne und Moderne auf eine Formel bringen, so kann man Folgendes behaupten: In der Vormoderne ist Diensttreue primär Dienertreue, eine Amtspflicht ohne Verankerung in einem personalen Verhältnis bleibt zunächst nicht vorstellbar. In der Moderne wird Loyalität zu einem abstrakten Gebilde wie zum Beispiel einem Unternehmen, einer Regierung oder dem Staat erwartet. Loyalität zu einer konkreten Organisation (wie einer politischen Partei) oder einer bestimmten Person (wie einem einflussreichen Lokalpolitiker) spielt zwar einerseits bei Personalentscheidungen weiterhin eine Rolle, kann nun jedoch auch zu Kritik führen. Sie löst Debatten über Günstlingswirtschaft und Korruption aus, in denen vor allem die politische Opposition diese Art von Loyalität als konträr zu Kategorien wie »Leistung« oder »Verdienst« darstellt. Die Überprüfung gerade der zukünftigen Vertrauenswürdigkeit eines Kandidaten ist, anders als bei »Leistung«, nicht über standardisierte Examina oder Ähnliches möglich. Sie kann, eng gekoppelt an Leistung und Verdienst, über die bisherigen Handlungen eines/einer Kandidat:in erfolgen. Wer sich in der Vergangenheit loyal verhalten hat, wird das wahrscheinlich auch in Zukunft tun. Daneben erfolgt die Überprüfung von »Vertrauen« in der Regel über die – je nach historischem Kontext natürlich sehr unterschiedlich ausfallende – Analyse des Charakters. Die Fähigkeit, sich anzupassen und nicht unruhestiftend aufzufallen, spielt seit der Antike eine wichtige Rolle und wird in den Quellen immer wieder thematisiert. Zumindest seit der Frühen Neuzeit erscheint die Prüfung jeweils individueller »mores« als Teil des Auswahlverfahrens, womit bestimmte Verhaltensweisen, Ansichten etc. zur conditio sine qua non innerhalb der jeweiligen Eliten wurden. Akkreditiertes Benehmen, Wertesystem etc. blieben bis in die Moderne eine wichtige Voraussetzung für die Zulassung zum Auswahlverfahren. Ihre Abfrage wurde bisweilen dem Verfahren vorgeschoben, beispielsweise in Form von Charakterdossiers im Vorauswahlprozess der

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Kandidat:innen. In zeitgenössischen Verfahren, in welchen solche Abfragen gesellschaftlichen Normen widersprechen würden, ist »Vertrauen« eine Größe, mit der jenseits des formalen Verfahrens, im informellen Bereich operiert wird. Auch hier ist ein gewisser Abstraktionsprozess zu beobachten, »Vertrauen« kann auch ein Vertrauen in die eine:n Kanditat:in entsendende Bildungsinstitution oder Ausbildungsstätte sein, bei der man davon ausgeht, dass den von dort kommenden Personen bereits bestimmte Werte vermittelt wurden. Personalentscheidungen sind am leichtesten, wenn die vom Verfahren geforderte fachliche Kompetenz von »Vertrauen« in den/die Kandidat:in begleitet wird. Beide Faktoren treten jedoch nicht unbedingt gemeinsam auf, was Entscheidungsträger zu einer bewussten oder unbewussten Gewichtung von formaler versus informeller Ebene zwingen kann.

»Homogenität«/»Heterogenität«  »Homogenität«/»Heterogenität« ist das Begriffspaar, über das sich in einem langen historischen Zeitraum am schwersten allgemeine Aussagen in Bezug auf Personalentscheidungen treffen lassen. Das liegt nicht daran, dass diese Kategorien keine Rolle spielen, sondern daran, dass sie mit höchst unterschiedlichen Inhalten in Bezug auf die Konstitution homo-/heterogener Gruppen gefüllt werden. Grundsätzlich ist die Frage nach der Gruppenzugehörigkeit der Kandidat:innen für die jeweils untersuchten gesellschaftlichen Schlüsselpositionen in allen Epochen von zentraler Bedeutung, sie kann allerdings sehr unterschiedliche Funktionen erfüllen. So können Personalentscheidungen das Ziel haben, aus einer homogenen Gruppe von Kandidat:innen auszuwählen beziehungsweise eine solche Gruppe durch die Auswahl zu erschaffen, um so die mit Personalentscheidungen einhergehende Kontingenz zu reduzieren. Die angestrebte Minimierung des Risikos ist also mit der Homogenität der Gruppe verbunden, sei es in familiärer, geografischer, sozialer, akademischer oder auch beruflicher Hinsicht. Es wird davon ausgegangen, dass das Teilen von bestimmten Merkmalen (Werte, Verhalten usw.) innerhalb der Gruppe und/oder der Gruppenzwang das Handeln des einzelnen Mitglieds vorstrukturieren und damit ein unerwartetes Scheitern unwahrscheinlicher wird. Homogenität schließt Heterogenität nicht aus: Letztere kann vor Beginn der Gruppenbildung gegeben, Erstere das Ergebnis dieses Prozesses sein (man

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264 Andreea Badea, Muriel Favre und Annika Klein denke zum Beispiel an die Entstehung eines Corpsgeistes). In anderen Fällen werden Heterogenitätsfaktoren (Geschlecht, geografische, soziale Herkunft …) hingenommen, weil sie schließlich als unerheblich angesehen werden, oder sie gelten sogar als produktiv – weil durch sie mehr Perspektiven, Talente, Kenntnisse etc. in die Gruppe einfließen können – und werden bewusst mitberücksichtigt. Während sich dieses Prinzip der Auswahl aus oder Schaffung von homogenen Gruppen seit der Antike bei vielen Personalentscheidungen beobachten lässt, ist »Heterogenität« deutlich schwerer zu fassen. Vielfalt oder eben »Diversität« als Prinzip der Personalentscheidungen scheint auch jenseits der aktuellen politischen Dimension des Begriffs ein Konzept der jüngsten Moderne zu sein. Als Quellenbegriff bietet sich allenfalls »Repräsentation« an, also die in Debatten auftauchende Forderung bestimmter Gruppen nach Anteil an der politischen Willensbildung oder Ämterbesetzung. Politische Umbruchssituationen oder andere gesellschaftliche Verschiebungen können dazu führen, dass vorher marginalisierte Gruppen in Positionen gelangen, in denen sie Zugang zu Machtpositionen fordern. Das kann sowohl zu einer einfachen Durchmischung von Kandidat:innenpools führen als auch zu Überlegungen, in welchem Maße bestimmte Gruppen an der Besetzung gesellschaftlicher Schlüsselpositionen beteiligt werden müssen. Es geht hier also letztendlich um Formen politischer Partizipation und weniger um die Überlegung, dass die Heterogenität von Kandidat:innengruppen grundsätzlich ein Vorteil in sich sein könnte, weil zum Beispiel unterschiedliche Perspektiven zu produktiveren Lösungsansätzen führen könnten. »Meritokratie« und »Diversität« waren scheinbar naheliegende Begriffe, mit denen ursprünglich versucht werden sollte, Personalentscheidungen zu analysieren. Die Notwendigkeit, dieses Phänomen epochenübergreifend zu beschreiben, machte deutlich, dass diese Ter­ mini nicht aus ihrem modernen Kontext gelöst werden konnten. Als Alternative wurden Begriffe eingeführt, die zwar bisweilen in den Quellen vorkamen, die jedoch explizit als externe Ordnungskategorien verstanden werden. Damit soll dem Anspruch der Forschungsgruppe, Personalentscheidungen vom Kon­ klave bis zum ­Assessment-Center strukturell zu untersuchen, Rechnung getragen werden.

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Struktur und Ereignis Andreas Fahrmeir, Kevin Hecken, Werner Plumpe, ­Stefan Schöch und Tristan Schmidt Ein Problem, das bei der Betrachtung von Personalentscheidungen – vor allem von Personalentscheidungen für Schlüsselpositionen  – immer auftritt, ist, in welchem Verhältnis das Ereignis der Personalentscheidung und die Strukturen, in die diese Personalentscheidung eingebunden sind, stehen. Gewiss findet keine Personalentscheidung in einem Vakuum statt: Alle Akteur:innen sind sich der gesellschaftlichen Stellung der Beteiligten, der Erwartungen an Form, Ergebnis und Kommunikation einer Personalentscheidung bewusst, die vor dem Hintergrund der dominanten Wertvorstellungen rezipiert werden wird. Insofern schließen Strukturen bestimmte Personen von vornherein aus und andere von vornherein in die engere Wahl ein. Dennoch muss man festhalten, dass jede Personalentscheidung eine Einzelfallentscheidung ist, die zu einem konkreten Zeitpunkt zwischen einer bestimmten Anzahl von Personen getroffen wird. Sie kann daher nicht vollständig durch den Hinweis auf die Strukturen der Gesellschaft, in der sie stattfindet, beschrieben werden. Allerdings ergeben mehrere Einzelfallentscheidungen, die in Folge oder gleichzeitig für vergleichbare Positionen stattfinden, bestimmte Muster, die vor allem dann, wenn die Kriterien der Inklusion und Exklusion von Kandidat:innen über die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen nicht von vornherein feststehen, Rückschlüsse auf Präferenzstrukturen bei solchen Entscheidungen ermöglichen. Allerdings bleibt ein Dilemma: Während Einzelfallentscheidungen mithin der Annahme (oder Illusion) folgen können, der Beitrag, den diese Entscheidung zur Bewahrung oder zur Beendigung bestimmter Muster leisten kann, habe in diesem Fall gar keine Rolle gespielt (da nur nach »Leistung« oder »Herkunft« oder einem anderen Kriterium entschieden wurde), kann die Analyse der Strukturen der Annahme (oder Illusion) folgen, die Entscheidung sei durch den Wunsch, bestimmte Muster zu bewahren oder zu beenden, vollständig erklärbar, eine Entscheidung zwischen einzelnen Personen habe somit gar nicht stattgefunden.

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266 Andreas Fahrmeir, Kevin Hecken, Werner Plumpe, ­Stefan Schöch und Tristan Schmidt Beide Perspektiven sind erkennbar verzerrt, wobei das Ausmaß der Verzerrung nicht einfach zu bestimmen ist. Das liegt daran, dass die Erwägungen, die in konkreten Personalentscheidungen münden, im Einzelfall schwer zu rekonstruieren sein können, während die Zugehörigkeit der Personen, die bei Personalentscheidungen ausgewählt wurden, zu bestimmten Gruppen leichter zu erheben sein kann. Für die dichter dokumentierten modernen Fälle ist zumindest in der Dokumentation – für die meistens aber die Vorschrift gilt, sich auf die Begründung der Einzelfallentscheidung zu konzentrieren und auf keinen Fall strukturelle Erwägungen als explizite Begründung heranzuziehen – vielfach nachweisbar, dass Qualitäten einzelner Kandidatinnen und Kandidaten im Vordergrund stehen und die beteiligten Akteure zumindest den Eindruck erwecken, nicht oder kaum von strukturellen Erwägungen geleitet gewesen zu sein. Diese Unterschiede in der Quellenlage erschweren es, Aussagen über Trends zu machen. Allerdings scheint die Hypothese naheliegend, dass Eigenschaften, die sich aus einer Gruppenzugehörigkeit ergeben, in der Vormoderne ein größeres Gewicht für die Ausgestaltung einzelner Personalentscheidungen hatten als in der Moderne. Das wird etwa dann augenfällig, wenn an besonders extremen Beispielen thematisiert wird, wie wenig entscheidend die Zugehörigkeit zu einer Gruppe sein dürfe, wobei diese indirekt in ihrer alltäglichen Bedeutung bestätigt wird: etwa mit Blick auf einen blinden byzantinischen General, der im Rückblick trotz perfekter struktureller Voraussetzungen dann doch nicht als die beste Wahl erschien, oder in der Ludwig XV. zugeschriebenen Forderung, wenigstens der Erzbischof von Paris müsse nicht nur den richtigen Familiennetzwerken angehören, sondern zudem auch an Gott glauben – also neben der strukturellen auch eine individuelle Eignung für das Amt besitzen. Auf der Ebene der Normen lässt sich leicht nachweisen, dass in bestimmten Epochen der Vormoderne, also bis ins 19. Jahrhundert hinein, explizite Vorgaben formuliert werden konnten, die den Zugang zu Schlüsselpositionen auf bestimmte Stände oder Ränge einschränkten. Diese Regeln waren nicht absolut – so konnte die Bedingung der katholischen Konfession in Frankreich entweder durch eine nicht näher geprüfte Konversion (John Law) faktisch ausgehebelt oder (wie bei Moritz von Sachsen oder Jacques Necker) ganz fallen gelassen werden –, aber doch von großer Bedeutung. Dagegen wird es seit dem 19. Jahrhundert immer schwieriger, pauschale Ausschlusskriterien zu formulieren. Während das »Geschlecht«, nun nicht im Sinne von Familienzugehörigkeit,

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sondern der Unterscheidung von Frauen und Männern verwandt, noch bis in die Zwischenkriegszeit, in seltenen Fällen darüber hinaus Gültigkeit als pauschales Ausschlusskriterium beanspruchen konnte, sind für Männer seit dem frühen 19. Jahrhundert fast nur noch Ausschlusskriterien denkbar, die auf der Staatsangehörigkeit, dem Alter, bestimmten Bildungspatenten oder dem Nachweis individuellen Fehlverhaltens beruhen. Faktisch existieren weiter aber eine ganze Reihe von Ausschlusskriterien, die auf Habitus, Vermögen oder familiäre Beziehungen bezogen sind; diese können aber nicht mehr als explizite Normen formuliert werden, sondern allenfalls als erwünschte Folge des Insistierens auf bestimmten Bildungspatenten, Vorerfahrungen oder der Fähigkeit, nicht oder nur schlecht bezahlte Qualifikationsperioden auf sich zu nehmen, in die Einzelfallentscheidungen einfließen. Freilich bilden auch in der Vormoderne pauschale explizite Ausschlusskriterien keine abschließende Liste, sondern sie wurden oft durch weitere ergänzt. Ein Beispiel ist die Papstwahl, wo durch implizite Ausschlusskriterien (etwa die Nähe zu einer katholischen Großmacht) nur eine begrenzte Zahl italienischer Adelsfamilien als sozialer Hintergrund wählbarer Kandidaten infrage kommt, zwischen denen dann nach unterschiedlichen Kriterien der Leistung oder Eignung eine Entscheidung getroffen werden kann. In anderen Kontexten konnte die adäquate Repräsentation unterschiedlicher Regionen (oder der Ausschluss von »Fremden«) eine Rolle spielen. Umgekehrt spielen bei modernen Personalentscheidungen bestimmte Regeln des Proporzes eine so starke Rolle, dass sie in konkreten Konstellationen quasi-explizite Ausschlusskriterien darstellen können; das gilt etwa für den Regionalproporz in vielen deutschen Parteiensystemen der Gegenwart, die zwar die Nominierung einer Person für ein bestimmtes Spitzenamt nicht explizit ausschließen, aber nachgerade unmöglich machen, wenn diese regionale Position schon abgedeckt ist. In der Moderne beginnt dagegen – zu einem noch genauer zu datierenden Zeitpunkt – die Beobachtung von Personalentscheidungen unter statistischen Gesichtspunkten eine immer größere Rolle zu spielen. Die Gründe dafür sind offenbar vielfältig und beruhen auf dem Interesse unterschiedlicher Adressaten an Informationen über die Resultate von Personalentscheidungen: der Kandidat:innen selbst, der breiteren Öffentlichkeit, aber auch der Expert:innen für das Personalentscheidungswesen zumal in der öffentlichen Verwaltung. Angestoßen wurde dieses Interesse offenbar durch das mit den Gleichheitsidealen der »Atlantischen Revolutionen« verbundene Versprechen, die Pfründen der

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268 Andreas Fahrmeir, Kevin Hecken, Werner Plumpe, ­Stefan Schöch und Tristan Schmidt Posten im öffentlichen Dienst prinzipiell allen geeigneten Bewerbern zugänglich zu machen sowie durch den Wunsch, die Leistungsfähigkeit von Verwaltung und Militär zu erhöhen (oder ihre Kosten zu senken). Möglich wurde es durch die Tatsache, dass angesichts der steigenden Größe der öffentlichen Verwaltung die Zahl der zu besetzenden Posten auf allen Qualifikationsebenen immer größer wurde und zugleich zumindest die Ergebnisse der Personalentscheidungen sowohl auf einer internen wie auch einer externen Ebene leichter nachvollziehbar waren. Freilich waren die Daten, die erhoben wurden, höchst unterschiedlich; dasselbe galt für die Unterscheidungen zwischen Gruppen, die durch diese Elemente sichtbar werden sollten. So spielten seit dem 19. Jahrhundert regionale Herkunft, Schulbesuch und Beruf des Vaters eine Rolle, Informationen, die durchaus Rückschlüsse auf Klassenzugehörigkeiten einerseits, Beziehungen zwischen Metropolen und Peripherien andererseits erlaubten; seit dem Ende des 20. Jahrhunderts treten solche Informationen hinter dem Geschlecht, der Ethnizität oder »race« sowie der familiären Migrationserfahrung zurück, die auf teilweise verwandte, teilweise erkennbar andere Indikatoren einer möglichen Privilegierung und Diskriminierung verweisen. Charakteristisch ist dabei die Erwartung, dass die aus einer Fülle einzelner (Bewertungs-)Entscheidungen entstehenden Statistiken die erwartete Verteilung spiegeln würde. Dabei wurde nicht unbedingt eine Gleichverteilung angestrebt; eine Überrepräsentation bestimmter Bildungseinrichtungen galt meist als wenn nicht wünschenswert, so doch zumindest verständlich, da durch einen Fokus auf Leistung erklärbar. Allenfalls konnte sie dazu führen, dass die Frage nach den Zugangskriterien zu diesen überproportional erfolgreichen Bildungseinrichtungen pointiert gestellt wurde. Das ändert sich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend. Die Beendigung der an den Zahlen ablesbaren Diskriminierung wurde allerdings auf unterschiedlichen Wegen angestrebt: manchmal durch Quoten oder die explizite Berücksichtigung von Gruppenzugehörigkeiten, manchmal durch den Fokus auf benennbare und dokumentierbare Leistungsunterschiede. Beiden Strategien lagen damit erkennbar unterschiedliche Problemdiagnosen zugrunde. Im ersteren Fall wurde angenommen, dass es in der Tat Leistungsunterschiede zwischen verschiedenen Gruppen geben würde; da diese aber durch ungleiche Startbedingungen verursacht wurden, galt es, diese im Zuge der Bewerbungsverfahren zu berücksichtigen. Das konnte entweder durch die Anhebung individueller ­Testergebnisse um die für den Durchschnitt ermittelte statistische Abweichung geschehen (das

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war in britischen Aufnahmeprüfungen für den öffentlichen Dienst bereits in der Zwischenkriegszeit der Fall, um das Leistungsgefälle zwischen den Schulen Londons und der »Provinz« auszugleichen) oder durch die Reservierung eines Kontingents an Posten oder Studienplätzen. Im zweiten Fall wurde angenommen, dass die unterschiedlichen Ergebnisse nicht durch durchschnittliche Leistungsunterschiede begründet waren, die in Prüfungs- oder Auswahlverfahren manifest wurden, sondern durch eine bewusste oder unbewusste Diskriminierung durch die entscheidenden Personen. Diese Diskriminierung sollte durch eine detaillierte Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen, die gegebenenfalls überprüfbar sein sollten, ausgeschlossen werden. Besonders in der zweiten Konstellation ist freilich nicht klar, wie die Erwartung des durchschnittlichen Ergebnisses eigentlich hergestellt beziehungsweise die Kluft zwischen individuellen Entscheidungen und aggregierten Ergebnissen überbrückt werden kann. In der Spannung zwischen dem Bestreben, eine objektive Entscheidung im Einzelfall zu treffen, und dem Ergebnis, dass diese Entscheidungen dazu neigen können, lediglich Strukturen zu reproduzieren (wenn auch vielleicht nicht die, die man primär im Blick hatte), liegt ein wichtiger Beitrag zur epochenübergreifenden Dynamisierung von Personalentscheidungsverfahren.

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Danksagung und Autor:innen Die in diesem Band präsentierten Studien wurden – mit Ausnahme des ‚Gastbeitrags‘ von Ulrike Ludwig – von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen der Forschungsgruppe 1664 »Personalentscheidungen bei gesellschaftlichen Schlüsselpositionen« gefördert. Dafür sind ihr die Autor:innen zu großem Dank verpflichtet. Andreea-Bianca Badea ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen ­Seminar der Goethe-Universität Frankfurt am Main und dort affiliated researcher der DFG-Kollegforschergruppe »Polyzentrik und Pluralität Vormoderner Christentümer«. Zu ihren Forschungsgebieten gehören Konfessionskulturen, nicht zuletzt der Buchzensur, sowie allgemeine Politik- und Verwaltungsgeschichte der Frühen Neuzeit. Christoph Cornelißen ist Professor für Neueste Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Geschichte, Methoden und Theorien der Geschichtsschreibung, der Erinnerungskultur und der Geschichte Europas im 19. und 20. Jahrhundert. Birgit Emich ist Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der GoetheUniversität Frankfurt am Main. Sie hat einen Forschungsschwerpunkt in der Geschichte des Papsttums als Paradigma europäischer Staatlichkeit und leitet die DFG-Kollegforschungsgruppe »Polyzentrik und Pluralität vormoderner Christentümer«. Andreas Fahrmeir ist Professor für Neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt 19.  Jahrhundert an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Geschichte der Migrationskontrolle sowie der allgemeinen europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.

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Danksagung und Autor:innen

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Muriel Favre ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehört die »Sound History« – Tondokumente als historische Quelle sowie Personalentscheidungen in der höheren Verwaltung Frankreichs seit 1958 am Beispiel des Präfektenkorps. Kevin Hecken ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Dissertationsschrift über die Papstwahlen des 17. Jahrhunderts entsteht am Historischen Seminar der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Annika Klein ist Leiterin des Fachbereichs Politik und Gesellschaft an der Volkshochschule Wiesbaden e. V. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Weimarer Republik, Korruption, Skandale und Personalentscheidungen. Hartmut Leppin lehrt Alte Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte sind politische Ideengeschichte der Antike und Antikes Christentum. Ein Forschungsprojekt im Rahmen des Leibnizprogramms der DFG ist der Polyphonie des spätantiken Christentums gewidmet. Jörg Lesczenski ist zur Zeit Projektmitarbeiter der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte e.V. und Lehrbeauftragter an der Philipps-Universität Marburg. Seine Forschungen bewegen sich im Bereich der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Ulrike Ludwig ist Professorin für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Kriminalitätsgeschichte und Gewaltforschung, der Kulturgeschichte der Verwaltung und der Geschichte der Wahrsagerei. Werner Plumpe ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Neben der allgemeinen Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Neuzeit sind seine Forschungsinteressen die Unternehmens- und Industriegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die Geschichte der Industriellen Beziehungen sowie die Geschichte des ökonomischen Denkens und der ökonomischen Theorien.

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272 Danksagung und Autor:innen Daniela Rando ist Professorin für mittelalterliche Geschichte an der Università degli Studi di Pavia. Sie forscht zur Geschichte des hohen und späten Mittelalters in Italien und Deutschland sowie zur Rolle der Erinnerung an die mittelalterliche Geschichte im gegenwärtigen Europa. Tristan Schmidt ist Adiunkt (Assistant Professor) an der Fakultät der Geisteswissenschaften der Uniwersytet Śląski w Katowicach, Katowice, Polen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Byzantinischen Militärgeschichte, der byzantinischen Aristokratie sowie in der Erforschung von Mensch-Tier-Beziehungen und Umwelterfahrung im Byzantinischen Reich. Stefan Schöch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Historische Theologie am IKT der Humboldt-Universität zu Berlin. In seinem Dissertationsprojekt beschäftigt er sich mit Papstwahlen des Mittelalters. Davide Scotto ist Postdoktorand an der Università di Napoli L’Orientale. Seine Forschungsgebiete sind die Kirchengeschichte des 15. Jahrhunderts, die Beziehungen zwischen Judentum, Christentum und Islam im vormodernen Europa sowie Konversions- und Missionierungsstrategien im Mittelmeerraum. Camilla Tenaglia ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des Bistums Trient im Zeitalter der Weltkriege sowie die Rekrutierung von Präfekten in Italien seit den 1970er-Jahren. Dawid Wierzejski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er erforscht die Geschichte der Spätantike mit einem Schwerpunkt auf Bischofswahlen und Fragen der militärischen Rekrutierung.

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Los, Wahl, Erbe, Prüfung, AssessmentCenter – Wie rekrutiert man das perfekte Spitzenpersonal? Blinde Heerführer, abgesetzte Bischöfe, durchgefallene Nobelpreisträger – Personalentscheidungen konnten schon immer krachend danebengehen! Aber auch in der Moderne, die aus der Suche nach geeignetem Führungspersonal eine Wissenschaft gemacht hat, ist man nicht vor haarsträubenden Fehlgriffen gefeit. Die folgenden sechzehn Fallstudien zeigen unterschiedlichste Auswahlverfahren aus zwei Jahrtausenden – ungewöhnliche Geschichten aus der Welt der Personalentscheidungen.

Vom Konklave zum Assessment-Center

Christoph Cornelißen/Andreas Fahrmeir (Hg.)

Muriel Favre, Hartmut Leppin, Werner Plumpe, Tristan Schmidt, Dawid Wierzejski u. a.

Kommen Sie ins Gespräch mit Leser:innen und Autor:innen auf wbg-community.de wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27379-9

Cornelißen/Fahrmeir (Hg.)

Mit Beiträgen von Christoph Cornelißen, Andreas Fahrmeir,

Vom Konklave zum AssessmentCenter Personalentscheidungen im historischen Wandel