Emotionen und Geschlecht sind reziprok codiert - ein Zusammenhang, den dieser interdisziplinäre Sammelband aus einer kul
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German Pages 184 Year 2015
Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Zur Einleitung: Die aufklärerische Dynamik der Gefühle
Konjunkturen der Emotionsforschung
Auflösung der Dichotomie von Rationalität und Emotionalität? Wissenschaftssoziologische Anmerkungen
Weibliches Leiden – männliche Leidenschaften. Zum Geschlecht in älteren Affektenlehren
Selbstverhältnisse und Intersubjektivität
Geschlechtliche Liebe als Basis philosophischer Ethik – Reflexionen zu Christian Thomasius’ Konzept einer ›vernünftigen Liebe‹
Gewusst wie: Richtig Lieben und Leiden
Selbst(für)sorge und Gefühle. Emotionale Anforderungen in subjektivierten Arbeitsverhältnissen
Sprache der Gefühle
Der Fall Achilles: Begehren und gender-Dynamik im mittelalterlichen Antikenroman
von liebe und von leide – Begehren und Leid(en) des Gralskönigs Anfortas im Parzival von Wolfram von Eschenbach
»Ein herz bedenket nichts/das Lieb’ und Eifers=voll.« Liebe und Intrige in Friedrich Christian Bressands. »Hercules unter denen Amazonen« (1693)
Autorinnen und Autoren
Sabine Flick, Annabelle Hornung (Hg.) Emotionen in Geschlechterverhältnissen
2009-09-07 12-05-13 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02fb220218644334|(S.
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2009-09-07 12-05-13 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02fb220218644334|(S.
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Sabine Flick, Annabelle Hornung (Hg.)
Emotionen in Geschlechterverhältnissen Affektregulierung und Gefühlsinszenierung im historischen Wandel
2009-09-07 12-05-13 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02fb220218644334|(S.
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) T00_03 titel - 1210.p 220218644398
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und die Universität Kassel
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Sabine Flick, Annabelle Hornung Satz: Jörg Burkhard, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1210-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
2009-09-07 12-05-13 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02fb220218644334|(S.
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Inhalt
Vorwort
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Zur Einleitung: Die aufklärerische Dynamik der Gefühle Christel Eckart
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Auflösung der Dichotomie von Rationalität und Emotionalität? Wissenschaftssoziologische Anmerkungen ................................. Katharina Scherke
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Weibliches Leiden – männliche Leidenschaften. Zum Geschlecht in älteren Affektenlehren .................................. Catherine Newmark
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Konjunkturen der Emotionsforschung
Selbstverhältnisse und Intersubjektivität Geschlechtliche Liebe als Basis philosophischer Ethik – Reflexionen zu Christian Thomasius’ Konzept einer ›vernünftigen Liebe‹ ....................................................................... Frauke Annegret Kurbacher Gewusst wie: Richtig Lieben und Leiden Nina Degele/Stephanie Bethmann
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Selbst(für)sorge und Gefühle. Emotionale Anforderungen in subjektivierten Arbeitsverhältnissen ........................................ 105 Sabine Flick
Sprache der Gefühle Der Fall Achilles: Begehren und gender-Dynamik im mittelalterlichen Antikenroman .............................................. 125 Andrea Sieber
von liebe und von leide – Begehren und Leid(en) des Gralskönigs Anfortas im Parzival von Wolfram von Eschenbach .................................... 141 Annabelle Hornung »Ein herz bedenket nichts/das Lieb’ und Eifers=voll.« Liebe und Intrige in Friedrich Christian Bressands »Hercules unter denen Amazonen« (1693) ................................... 157 Jennifer Villarama Autorinnen und Autoren
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Vor wor t
»PURE VERNUNFT DARF NIEMALS SIEGEN…« (Tocotronic 2005)
Die vorliegende Publikation ging dem interdisziplinären Workshop »Affektregulierung − Gefühlsinszenierung − Intimität. Emotionen und Geschlecht vom Mittelalter bis zur Gegenwart« im Mai 2008 an der Universität Kassel hervor. Dieser wurde im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Graduiertenkollegs »Öffentlichkeiten und Geschlechterverhältnisse – Dimensionen von Erfahrung« veranstaltet, das vom Cornelia Goethe Centrum an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. und der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität Kassel getragen wurde. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft verdanken wir die großzügige Förderung des Graduiertenkollegs und auch dieser Veröffentlichung.
In einer Art work in progress haben sich die Workshopteilnehmerinnen auf interdisziplinärem Terrain den »Emotionen in Geschlechterverhältnissen« – und umgekehrt – angenähert. Dabei fanden nicht nur ›heiße‹ Diskussionen über die »Konjunkturen der Emotionsforschung« statt, sondern es kam auch zu einem intensiven gedanklichen Austausch über »Selbstverhältnisse und Intersubjektivität« sowie die »Sprache der Gefühle«, was die Einteilung dieses Bandes in gleichnamige Kapitel erklärt. Für alle diese fruchtbaren Anregungen und neuen Gedanken, die auch besonders in den Texten dieses Sammelbandes wieder zu finden sind, danken wir den Referentinnen.
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IN
G E SCHLECHTERVERHÄLTNIS SEN
Außerdem danken wir Christel Eckart für die Einleitung und die intensiven Diskussionen zum Inhalt dieses Buchs sowie Claudia Brinker-von der Heyde für die ihre Unterstützung als Kasseler Sprecherin des Graduiertenkollegs. Sabine Flick und Annabelle Hornung
Zur Einleitung: Die aufklärerische Dynamik der Gefühle Christel Eckart
Gefühle zu Objekten wissenschaftlicher Erkenntnis zu machen, ist ein schwieriges Unterfangen. Das Verhältnis der Gefühle zur Wissenschaft scheint beinahe ein ironisches, so Hartmut Böhme: »Immer wo diese ist, sind jene gerade nicht. Das kann nicht verwundern: Wo Affekteneutralisierung die Tugend des Wissenden ist, werden sich ihm die Gefühle entziehen, so sehr er sie erkennen möchte. Indessen geht es um dieses Wissen. Seit der Antike zählt die Einsicht in das Leben der Gefühle zu den erstrangigen Erkenntniszielen. Wir können dieses Ziel beinahe so wenig aufgeben wie das Fühlen selbst. Wir fühlen und wir wollen uns über unser Fühlen klar werden.« (Böhme 1997: 525f.)
Die Frauen- und Geschlechterforschung geht diese fundamentale Schwierigkeit beherzt an, sind doch Geschlechterverhältnisse ohne Gefühle kaum denkbar, und die Beschreibung und Analyse der Geschlechterverhältnisse kommt ohne Begriffe mit Empfindungsgehalt (vgl. Margalit 1999) nicht aus. Das »Unbehagen der Geschlechter« (Butler 1991) verweist schon in seinem Titel auf ein emotionales Motiv, das die dekonstruktiven Anstrengungen eines »Entnaturalisierungsprogramms« (Degele/Bethmann i. d. Band) gegenüber den Gefühlen nährt. Gefühle sind nicht nur Gegenstand, sondern auch Mittel der Erkenntnis. Den evaluativen Charakter von Gefühlen haben auch feministische Wissenschaftskritikerinnen betont (vgl. Nussbaum 2001; Fox-Keller 1985) Gefühle involvieren Urteile und veranlassen dazu,
10 | C HRISTEL E CK ART gewohnte Denkstile in Frage zu stellen und neue Fragen in der Wissenschaft aufzuwerfen. Die tut sich als Institution mit professionalisierten Denkgebäuden schwer, diese produktiven Irritationen zu begrüßen (vgl. Scherke i. d. Band). Im Mittelpunkt des interdisziplinären Workshops, aus dem diese Publikation hervorging, stand die soziale Dimension unseres affektiven Lebens. Die Beiträge, zum großen Teil aus work in progress der Referentinnen, erlaubten eine offene und interdisziplinär assoziative Diskussion. Daraus sollen hier einige Facetten gebündelt werden, die vor allem die Dynamik und Interpersonalität von Gefühlen spiegeln und wie diese Dynamik starre Dichotomien und Zuschreibungen im Geschlechterverhältnis in Schwingungen versetzt. Durch Gefühle statten Menschen die erlebte Wirklichkeit unmittelbar mit einer eigenen Bedeutung aus, und die soziale Wirklichkeit liefert Anlässe für Gefühle. So ist das scheinbar ganz persönliche Gefühlserleben vermittelt durch gesellschaftliche Bedingungen und wirkt auf diese ein. Gefühle sind elementare Bestandteile der Prozesse, mit denen Menschen ihrer Welt Sinn verleihen und ihre sozialen Beziehungen und ihr Verhältnis zu Institutionen gestalten. Die Untersuchung kultureller Ordnungen der Gefühle und von normativen Entwürfen geschlechterdifferenter Gefühlsmuster stößt auf die Spannungen und Diskrepanzen zwischen kulturellen Normen und individueller Praxis emotionaler Erlebnisweisen. Die Matrix von Geschlechterdifferenzen gibt dabei häufig eine Strukturierung der Interpretation und Regulierung vor, und sie ist selbst wandelbarer Teil gesellschaftlicher Mechanismen, Ordnung zu schaffen. Die Suche nach einer omnipräsenten Hierarchisierung der Geschlechterdifferenzen entlang der Dichotomie von Gefühl und Vernunft, guten und schlechten Emotionen übersieht leicht, dass die aufdringlichen Geschlechterbilder die Dynamik, Intersubjektivität und soziale Relationalität von Gefühlen, wozu das Erleben und Denken der Differenz gehört, verdecken. Innerhalb der Gefühlskulturen, die Gesellschaften ausbilden, sind die emotionalen Distinktionen nach Geschlecht ein wesentlicher Teil der Geschlechterordnung jeder Gesellschaft (vgl. Kessel 2006). Untersuchungen zu den kulturellen Ordnungen der Gefühle aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zusammen zu tragen, verspricht eine vielseitige Anschauung von der Dynamik, die Gefühle als Auslöser, Ausdrucksmittel und Kategorie kultureller Praxis haben. Mit dem Fokus auf das Geschlechterverhältnis wird der kommunikative Charakter von Gefühlen deutlich, wenn etwa durch die Beschreibung der Unordnung, Verletzung, Zurückweisung von Gefühlen artikuliert
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wird, was bis dahin als sprachlos selbstverständliche Voraussetzung für gelungenes Zusammenleben angenommen wurde. Zuschreibungen von Gefühlen als Charakterisierungen von Weiblichkeit und Männlichkeit variieren in historischen, sozialen und kulturellen Kontexten mit Unterschieden und Widersprüchen, die die intuitive Alltagsannahme bestärken, dass Gefühle im Geschlechterverhältnis eine vermeintlich ›naturwüchsige‹ Kraft darstellen, deren Regulierung ein wesentlicher Teil im Prozess der Zivilisation und Individuierung ist. Andersherum betrachtet: Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit scheinen sich gut zu eignen, dichotome Konstruktionen von Gefühlen und des Umgangs mit ihnen zu veranschaulichen. Die Erfahrung der »Geschlechterspannung« scheint eine unmittelbare Plausibilität für den Diskurs der Selbstkontrolle zu bieten. Die Erfahrung kindlicher Abhängigkeit und Angewiesenheit von einer fürsorglichen (mütterlichen) Person am Beginn menschlicher Entwicklung wiederum nährt die Erwartung, erwachsene (männliche) Unabhängigkeit müsse sich von emotionalen Bindungen frei machen. Die Redundanz, mit der die Beschreibung von Gefühlen mit Geschlechterbildern verbunden wird, ist selbst erklärungsbedürftig. Eine durch die Geschlechterforschung geschärfte wissenschaftliche Aufmerksamkeit sucht sie daher auch da, wo Geschlechterdifferenzen nicht formuliert werden und entdeckt nicht selten, dass hinter den Vorstellungen vom Allgemeinmenschlichen eine Verallgemeinerung des Männlichen steht. Die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern tritt dann auf der anderen Seite des menschlichen Vermögens auf: im Gebrauch der Vernunft und variiert die Vorstellung weiblicher Vernunftferne, die seit Platon die Ideengeschichte durchzieht (vgl. Newmark i. d. Band). Nicht die Annahme eines geschlechtlichen Charakters der Gefühle selbst, sondern die Art des vernünftigen Umgangs damit, die Fähigkeit zur Kontrolle und zur Inszenierung der Gefühle werden geschlechtlich codiert. Auch auf dieser Ebene können die Analysen der Geschlechterverhältnisse die Dynamiken beleuchten, durch die die kulturellen Bedeutungen von Emotionen und soziale Beziehungen miteinander verflochten sind. Die Dimension affektiver Interaktionen, die beim Blick auf das Geschlechterverhältnis sogleich aufscheint, beleuchtet die Bedeutung von Intersubjektivität und emotionalen Erfahrungen in der Entwicklung von Subjektivität und Sozialität. In Gefühlen wie Liebe und Trauer werden uns nicht nur Eigenschaften einer anderen Person zugänglich, die wir aufgrund unserer Gefühle als wichtig schätzen. Vielmehr ist auch das eigene Vermögen zu lieben und zu trauern gebunden an eine jedem Urteil vorgängige Verwiesenheit auf andere, zu
12 | C HRISTEL E CK ART der wir uns positiv oder negativ verhalten können. Gefühle sind Ausdruck von Bedürftigkeit und Abhängigkeit, sie bedeuten, dass Dinge für den Menschen wichtig sind, die außerhalb seiner selbst liegen und von ihm nicht völlig gesteuert werden können. Die Beachtung der Gefühle ist Teil der Beachtung menschlicher Fähigkeiten und Lebensgestaltung. Im Abwägen des Verhältnisses von Gefühlen und rationalen Urteilen steht zur Frage, mit wie viel Unsicherheit und Abhängigkeit ein Mensch leben und dennoch eine intakte Identität bewahren und seine praktische Vernunft gebrauchen kann. Der Umgang mit Gefühlen ist Teil einer Lebenshaltung die unter bestimmten sozialen Bedingungen erworben wird (vgl. Nussbaum 1999). Die Perspektive von »Intersubjektivität und Selbstverhältnissen« ist eine in der modernen Gesellschaft entwickelte und lässt sich doch als analytisches Instrument auf andere historische Kontexte richten. Welche Bedeutung haben persönliche soziale und emotionale Beziehungen für das Verständnis vom Individuum? Welche Bedeutung haben die konkreten autobiografischen Beziehungserfahrungen für das Selbstverhältnis von Frauen und Männern? Feministische Theorien von der menschlichen Entwicklung in und durch intersubjektive Beziehungen wurden in Abgrenzung von Theorien entwickelt, die in der Tradition polarisierter Geschlechtscharaktere das Streben nach Verbundenheit und das Streben nach Autonomie mit Repräsentationen von Mütterlichkeit/Weiblichkeit und Väterlichkeit/Männlichkeit verbinden und aufteilen. Theorien der Intersubjektivität suchen nach den Begriffen und der Praxis von Beziehungen, die die »Balance zwischen Anerkennung und Selbstbehauptung« und eine »Dynamik der Wechselseitigkeit« beider menschlicher Strebungen im Einzelnen vermittelt (vgl. Benjamin 1990). In den Theorien zur Sorge und Fürsorge wird mit dem Blick auf die Intersubjektivität fürsorglicher Beziehungen die Wahrnehmung und Anerkennung von Bedürftigkeit, Verletzlichkeit, existenzieller Abhängigkeit und von Bindungswünschen zu stärken gesucht gegenüber einem heute dominanten Diskurs von Selbstoptimierung und Selbstregulierung, in dem Fürsorge als Ausdruck von zu überwindender Schwäche gilt und durch den die Furcht vor dem Scheitern, die Scham vor eigener Unzulänglichkeit und die Angst vor dem Absturz Gefühle der Vereinsamung und Isolierung werden. Fürsorge ist jedoch ein unerlässlicher Teil unserer Persönlichkeit und Ressource bedeutungsvollen, kreativen Handelns und ist mit Emotionen für konkrete Personen verbunden. Die Fähigkeit der Selbstwahrnehmung und die Art der »Selbstzugänglichkeit« (Jaeggi 2005) erwächst in intersubjektiven Beziehungen. Die Möglichkeit und die Fähigkeit zur liebevollen Sorge um sich ist kulturell davon geprägt,
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wie fürsorgliche reziproke Bindungen in der Praxis erfahren und in die Identitätsbildung und in das individuelle Selbstverständnis integriert werden können. Der Wechsel von Perspektiven, die Fähigkeit sich in eine andere Lage versetzen zu können, ist eine Voraussetzung dafür, Freude aus Verunsicherung ziehen zu können und der Kreativität und ungewissen Entwicklung in der Beziehung mit anderen Raum geben zu können. Zur Analyse von Gefühlskulturen und der darin eingebetteten Geschlechterordnungen sind die sozialen Bedingungen in Gesellschaften zu beachten, ob und wie sie den Menschen ermöglichen, Gefühle zu erleben und als menschliche Fähigkeiten zu entfalten. Gefühle können bestehende Regelungen des Zusammenlebens bestärken oder über diese hinauswirken und eine Auseinandersetzung mit dem Möglichen anstoßen. Gefühle ermöglichen eine Distanz zu Anforderungen und die Kraft, Konventionen zurückzuweisen. Die Macht der Konvention bestimmt nicht nur, dass man etwas so oder so zu tun hat; sie prägt auch die Möglichkeit, bestimmte Wünsche, Ideen, Vorstellungen und Lebensweisen überhaupt erst denkbar werden zu lassen. Gefühle geben einen Anstoß dafür und kulturelle Ordnungen suchen dieses »Transgressionspotenzial« (Sieber i. d. Band) zu kontrollieren. Geschlechtlich normierte Erlebnisweisen und Ausdrucksformen von Gefühlen gehören zum Repertoire der Affektregulierung der Moderne (vgl. Klein/Liebsch 1997). Die literarischen und dramaturgischen Inszenierungen von deren Misslingen, Gelingen und Neujustierung zeugt von der sozialen Energie, die den ausbrechenden Gefühlen als Grenzerfahrung von Sozialität und zur Destabilisierung »normierter Begehrensmuster« (Sieber i. d. Band) zugeschrieben wird. Die Inszenierung solcher Erschütterungen der sozialen Ordnung als emotionale Geschlechterkonflikte und als Konflikte weiblicher oder männlicher Selbstkontrolle vereinfacht und reduziert die komplexe Relationalität von Gefühlen als genuinem menschlichen Weltbezug. Die Suche nach Diskursen des gendering oder degendering in den Analysen der Gefühlskulturen kann sich nicht mit der Feststellung solcher Diskurse begnügen, sondern muss zur Artikulation dessen, was fehlt, was verschwiegen, was exkommuniziert wird, Anstoß geben. Auch danach wurde auf dem Workshop gesucht. Die Allgegenwart und Beweglichkeit von Gefühlen machen das Durchlüften von Dichotomien, das Verflüssigen von Einhegungen immer wieder zur wissenschaftlichen Aufgabe. Geschlechterverhältnisse werden zur Ordnung der Gefühle genutzt. Geschlechterspannungen sind Anlässe und Energie, die Ordnungen zu verändern. Sie nähren die Sensibilität
14 | C HRISTEL E CK ART für Versagtes und Motive für die Suche nach einer Verständigung, die der gesellschaftlichen Gewalt nicht unmittelbar zugänglich ist. Die kritische Suche nach Herrschaftsstrategien im Geschlechterverhältnis, die sich auch der Gefühle bedienen, darf nicht selbst den Blick für das Vieldeutige, Sinnenhafte und eigenständig Ästhetische des Gefühlslebens einengen. Auch Theorien der Funktionalisierung von Gefühlen für Herrschaftsverhältnisse und für Techniken der Selbstkontrolle etwa in Arbeitsverhältnissen sehen in ihnen Potenziale zur Gestaltung sozialer Beziehungen. Wenn Gefühle nicht als naturwüchsiges Rohmaterial verstanden werden, das nur einmal vernutzt werden kann, sind sie auch Potenzial zur kreativen Gestaltung sozialen Wandelns. Gefühlsreaktionen auf Missachtung, auf Verletzung des eigenen Selbstwertgefühls und Behinderung eigener Identitätsansprüche erfasst die Anerkennungstheorie als individuelle Erfahrungen, die zur kritischen Analyse sozialer Verhältnisse Anlass geben (vgl. Flick i. d. Band). Die Empfindungsfähigkeit und das Empfinden füreinander verleihen dem menschlichen Zusammenleben Sinn. Sie charakterisieren die Zugehörigkeit zu einer moralischen Gemeinschaft, sie machen einen Anderen zu einem von uns. Konstruktionen der Geschlechterdifferenz über Gefühlszuschreibungen haben in verschiedenen Kontexten den Ausschluss von Frauen aus der Gemeinschaft von mit öffentlichen Rechten ausgestatteten politisch handelnden Subjekten festgelegt oder sie im Status sexueller Objekte in der Entwicklung sexueller Subjektivität gehindert. Je differenzierter die emotionalen Geschlechterzuschreibungen mit der Absicht, Frauen aus einer gesellschaftlich handlungsfähigen Position auszuschließen, ausfielen, desto deutlicher wird die wechselseitige Abhängigkeit der getrennten Eigenschaften im realen sozialen Leben. Der Einsatz der strengen Vernunft zur Legitimation der Hierarchisierung der Unterschiede zeugt davon, dass Rationalität als Instrument für das Streben nach Kohärenz der Fähigkeit zur Erkenntnis im Wege stehen kann. Die Auszeichnung des Menschen durch die Vernunft war eine starke Selbstbehauptung des Individuums gegen die religiöse Weltdeutung. Doch auch die Emotionen gehören zu den menschlichen Kräften und Fähigkeiten der Selbstverständigung, zu den Bedingungen und Möglichkeiten des Umgangs mit uns selbst, dem Anderen und der Welt. Christian Thomasius hat diese menschliche Bestimmung in der Frühaufklärung in seiner Liebesethik entfaltet (vgl. Kurbacher i. d. Band). Aus der geschlechtlichen Liebe von Frau und Mann, der Anerkennung von Körperlichkeit und Andersartigkeit entwickelt Thomasius einen säkularisierten Liebesbegriff als Teil einer Theorie möglicher weltli-
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cher Gemeinschaft. Kurbacher sieht darin den Beitrag von Thomasius zu einer Theorie von Interpersonalität, in der Menschen als Personen innerhalb von Gemeinschaften begriffen werden. Geteilt wird das Menschsein in Anerkennung der Andersheit, auch der Geschlechtlichkeit und Körperlichkeit, nicht nur durch vernünftige Erkenntnis, sondern durch die Erfahrung von Liebe als Haltung und Affekt. Gefühle werden in diesen frühaufklärerischen Gedanken als eine Grundlage säkularer menschlicher Gemeinschaften verstanden, als ein Streben nach Reziprozität und Vertrautheit direkt in menschlichen Beziehungen, ohne den Umweg der geteilten Liebe zu Gott und der Liebe Gottes zu den Menschen. Dominant für die säkulare Bestimmung des Menschseins wurde Kants Verständnis, die strenge Vernunft zeichne den Menschen aus. Die behauptete Priorität dieser Charakterisierung bleibt Anstoß für wiederkehrende Kritik und Versuche, das Verhältnis von Vernunft und Gefühlen als solches zu begreifen und nicht in einer eindeutigen Hierarchie fest zu schreiben. Der Streit darum in den Wissenschaften ist stets noch von deren Tradition im (männlichen) Selbstverständnis von vernünftiger, emotionsloser Erkenntnis und der Selbstbehauptung durch Denken geprägt. Die sozialen Bedingungen, Empfindungsfähigkeit und Sensibilität für den Anderen entfalten zu können, sind Gegenstand sozialen und politischen Handelns. Die modernen Bemühungen um eine Ausweitung der Menschenrechtskultur – als Erweiterung der säkularen Gemeinschaft – sind abhängig von einer wachsenden Fähigkeit, als Menschen für einander empfinden zu können. So beinhaltet auch die Forderung: Frauenrechte sind Menschenrechte, die Forderung nach der empfindsamen Wahrnehmung, dass etwa Vergewaltigungen von Frauen im Krieg nicht »Kollateralschäden« des Krieges sind, sondern Demütigung und Zerstörung einzelner Menschen. Richard Rorty pointiert die Auszeichnung der Menschen durch ihre Empfindungsfähigkeit in einer weltpolitischen Dimension in Abgrenzung zum Kantschen Verständnis: nicht das wachsende Bewusstsein für die Erfordernisse des Sittengesetzes, sondern die Entfaltung einer anpassungsfähigen Empfindsamkeit könne die Verbreitung der Menschenrechte fördern. Wir wissen, dass wir in einem Zeitalter leben, in dem die Menschen dafür sorgen können, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Die Empfindungen für einander stiften die Zugehörigkeit zu unserer moralischen Gemeinschaft. (Rorty 1994) Der Mensch als moralische Person hat das Recht auf Schutz durch das Gesetz als Mensch, nicht erst als Staatsbürger. Diese Empfindungsfähigkeit und die Möglichkeit ihrer Entfaltung und ihres Ausdrucks sind konstitutiv für das Selbst in seinen Welt-
16 | C HRISTEL E CK ART bezügen. Sie ist Teil der Art und Weise, wie Menschen ihre Lebensbedingungen wahrnehmen und wie sie sich diese aneignen. Diese Aneignungsweisen sind durch Konventionen, also dem Wissen über den Umgang mit Gefühlen beeinflusst und beeinträchtigt, dabei bringt dieses Wissen zugleich Gefühle hervor (vgl. Degele/Bethmann i. d. Band). Anschaulich hat Hochschild (1990) den strategischen Einsatz vom Gefühlsausdruck in verschiedenen Berufen dargestellt. Gefühlsmanagement ist in persönlichen Dienstleistungsberufen als professionelle Expertise Ziel der beruflichen Qualifizierung und Gegenstand der Leistungsbewertung. Die Beurteilung der »Gefühlsarbeit«, die Koordination von Verstand und Gefühl an einem Arbeitsplatz für kommerzielle Zwecke, scheint Frauen und Männer als Arbeitskräfte anzugleichen. Wird die berufliche Performanz in einem bestimmten Beruf bei Frauen und Männern in einem weiteren lebensweltlichen Kontext betrachtet, dann macht die »Geschlechterdifferenz […] aus einem Beruf zwei verschiedene« (ebd.: 147). Die ›Herkunft‹ von Frauen und Männern aus verschiedenen Positionen geschlechtlicher Arbeitsteilung in der gesellschaftlichen Geschlechterordnung beeinflusst die Beurteilung ihrer beruflichen Performanz als Personen und sie prägt als biografische Erfahrung die Wahrnehmung und Bewertung des Umgangs im Beruf durch die Berufstätigen selbst. Entwicklungen von beruflichen Arbeitsanforderungen, die in der Soziologie mit der »Subjektivierung von Arbeit« beschrieben werden (vgl. Flick i. d. Band) und Diagnosen von einem »emotionalen Kapitalismus« (Illouz 2006) heben hervor, dass für berufliche Arbeit wie für das private Beziehungsleben die soziale Kompetenz der Einzelnen zunehmend als kommunikative und emotionale Kompetenz gefordert werde. Die Konstitution des modernen Selbst und der modernen Identität verwendet ein Vokabular der Emotionen, das Geschlechterdifferenzen scheinbar ebenso auf hebt wie die konventionelle Trennung von öffentlicher und privater Sphäre. »Niemals zuvor ist das private Selbst derart öffentlich inszeniert worden, niemals zuvor ist es so sehr auf die Diskurse und Werte der ökonomischen und politischen Sphäre zugeschnitten worden«, urteilt Eva Illouz (2006: 12) nach ihrer Aufdeckung der Emotionen als der »nicht allzu verborgenen Dimension der Moderne« (ebd.: 9). Mit dem Blick auf Techniken gegenüber dem »Humankapital« zur Steigerung der ökonomischen Produktivität stellt Eva Illouz für das 20. Jahrhundert fest, es gebe eine »zunehmende Androgynisierung der Frauen und Männer, die mit der Tatsache zusammenhängt, dass der Kapitalismus die emotionalen Ressourcen der Dienstleistungsarbeit angezapft und mobilisiert hat. […] Wo
Z UR E INLEITUNG | 17 es in der Produktionssphäre also darum ging, Emotionen ins Zentrum der sozialen Beziehungen zu stellen, fi xierten sich intime Beziehungen zunehmend auf politische und ökonomische Modelle des Handelns und des Tauschs.« (Ebd.: 60f.)
Die Wechselwirkung zwischen kapitalistischer Arbeitsorganisation und privater Lebensführung wird von Illouz sehr eng geführt. In ihrem Blickfeld stehen die Techniken des Umgangs mit Gefühlen und Formen des Ausdrucks z.B. von romantischer Liebe, die der Konsumkapitalismus bietet (Illouz 2003). Deren individuelle Aneignung und Verwendung und die Erzählformen, in denen Menschen ihre autobiografischen Erinnerungen an Liebeserlebnisse beschreiben, lassen jedoch erkennen, dass medienvermittelte Klischees zwar eine Sprache für Gefühle vorgeben, die Verwendung dieser Sprache aber nicht zugleich das ganze eigene Erleben ausdrückt. Die »Sprache der Gefühle« ist auch jenseits der öffentlichen Diskurse zu suchen. Was für die Interpretation von literarischen Kunstwerken und theatralischen Inszenierungen gilt – über Jahrhunderte hinweg verschieden, wie an historischen Beispielen in diesem Band gezeigt wird – findet sich auch für die Sprache der Selbstbeschreibungen in der Gegenwart: Sie muss Raum lassen für ein Bewusstsein von ausgeschlossenen Anteilen des Gefühlslebens, die in einem vorherrschenden Sprachgebrauch nicht zum Ausdruck kommen. Eine solche Hermeneutik des Möglichen braucht keine feste Idee von wahren Gefühlen oder vorgängiger Authentizität, sondern ein untrügliches Wissen darum, dass Öffentlichkeiten und öffentliches Sprechen über Gefühle sich der Ausdrucksmittel der Subjektivität bedienen, dass aber diese Mittel durch den öffentliche Gebrauch entleert werden und ihre Ausdruckskraft verlieren und die Menschen in der Intimität eigene Formen suchen und schaffen. Mit der Sprache der Ökonomie und Effektivität, die Hochschild und Illouz mit ihrer Wirkung auf die Selbstverständigung darstellen, ist eine Quelle vermeintlicher Angleichung der Geschlechter benannt, der beide als kritische Analytikerinnen des Kapitalismus weitreichende Wirkung in die Gesellschaft und in die Subjekte hinein attestieren. In der Terminologie einer kritischen Arbeitssoziologie könnte man sagen: Die Anforderungen an Frauen und Männer als selbstverantwortliche Arbeitskräfte gleichen sich darin an, dass Fähigkeiten, die zu Beginn des bürgerlichen Kapitalismus als ›Geschlechtscharaktere‹ polarisiert und mit großem sozialen, politischen und pädagogischem Aufwand auseinander dividiert wurden, nun in einer weiteren Umdrehung des gesellschaftlichen Rationalisierungsprozesses die ideale abs-
18 | C HRISTEL E CK ART trakte Arbeitskraft qualifizieren. Das Leiden des »flexiblen Menschen« (Sennett 1998) ist vor allem eines an der Erosion eines männlichen Sozialcharakters, dem die komplementäre Partnerin als Expertin der Gefühle abhanden zu kommen droht, während diese selbst sich im strategischen Handeln der Berufswelt qualifiziert und ihrerseits an den Partner wachsende Erwartungen an die aktive Gestaltung der emotionalen Beziehung stellt. Die emotionale Unordnung der Geschlechter ist eine von wachsenden Ansprüchen auf Respekt und Anerkennung von Gefühlen, deren Missachtung nicht mehr mit geschlechtsspezifischen Eigenschaften und Gewohnheiten entschuldigt werden kann. Eine ›soziale Androgynität‹, die durch die beruflichen Anforderungen an Selbstoptimierung und Selbstvermarktung aufscheint, ist ein Zerrbild dessen, was die Emanzipation von Geschlechterstereotypen und Heteronormativität als individuelle Entfaltung von Empfi ndungsfähigkeit und Gefühlsausdruck zum Ziel hat. Diese Skizze gibt einige Verstrebungen in einem Interpretationsrahmen für die Entwicklungen im Geschlechterverhältnis wieder, die auch die gegenwärtige »Konjunktur der Emotionsforschung« antreiben. Denn Geschlechterbeziehungen sind ein Erfahrungsraum, in dem Lebensprobleme vor allem auch als Probleme im Umgang mit Gefühlen erlebt werden, sodass die Emotionsforschung stets mit breiter Aufmerksamkeit rechnen kann. Der Interpretationsrahmen hat im Workshop neue Blicke auf historische Konstellationen und Umbrüche gelenkt und neue Lesarten historischer Literatur nahegelegt. Die Eigenständigkeit von deren künstlerisch ästhetischem Ausdruck und ihre Bildsprache inspirieren in umgekehrter Richtung auch gegenwärtige Gefühlsinszenierungen, wie etwa die Popularität von geheimbündlerischen Romanen wie »Sakrileg« im Gefolge der Gralsliteratur und die Faszination von Amazonen in neuen Zonen des Geschlechterkampfes zeigen. Diese theoretischen Konzepte, entwickelt aus Analysen gegenwärtiger Gefühlskulturen, in denen wir, die Wissenschaftlerinnen, leben, erwiesen sich als fruchtbare heuristische Mittel, die Dynamik der Gefühle und ihre Wirkung in Geschlechterverhältnissen auch in historischen literarischen Inszenierungen zu umschreiben. Die Begrenztheit solcher Deutungs- und Übersetzungsversuche blieb in den Diskussionen allen bewusst. Der Prozess der interdisziplinären Erweiterung von Beobachtungsweisen war die gemeinsame Erfahrung in dem Workshop und der Respekt vor dem »Gegenstand«, der sich dem szientifischen Festnageln entzieht. Die »Sprache der Gefühle« – die in den literarischen Beispielen in diesem Band von Sieber, Hornung und Villarama dargestellt werden – weiß auch um deren a-sozialen Charak-
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ter und ihre Kraft, feste Identitäten aufzulösen. Wo Götter sich nicht mehr helfend einmischen, werden Retter gesucht, und wir beobachten in den literarischen Inszenierungen die Strategien zur Herstellung von Ordnung, auch durch Intrigen, Verrat und Barrieren gegen das »Transgressionspotenzial« (Sieber i. d. Band) des Gefühlsaufruhrs, und stets ist die Ordnung der Geschlechter ein Rahmen der Inszenierung. Sie provoziert Interpretationen, die gespeist werden von den zeitgenössischen Konflikten und Sehnsüchten aus der Geschlechterspannung, die allen Aufforderungen zur Selbstregulierung zum Trotz von der Intersubjektivität von Gefühlserfahrungen sprechen. Was die »Sprache der Liebe« angeht, so mag die Suche nach ihr hinter den schalen Veröffentlichungen von Intimitäten in den Medien heute von dem glühenden Motiv getragen sein, das Roland Barthes für seine Sammlung der »Fragmente einer Sprache der Liebe« beansprucht: »[D]ass der Diskurs der Liebe heute von extremer Einsamkeit ist. Dieser Diskurs wird wahrscheinlich (wer weiß?) von Tausenden Subjekten geführt, aber von niemandem verteidigt; er wird von den angrenzenden Sprachen vollständig im Stich gelassen: entweder ignoriert oder entwertet oder gar verspottet, abgeschnitten nicht nur von der Macht, sondern auch von ihren Mechanismen (Techniken, Wissenschaften, Künsten). Wenn ein Diskurs, durch seine eigene Kraft, derart in die Abdrift des Unzeitgemäßen gerät und über jede Herdengeselligkeit hinausgetrieben wird, bleibt ihm nichts anderes mehr, als der wenn auch winzige Raum einer Bejahung zu sein.« (Barthes 1988:13)
Literatur Barthes, Roland (1988): Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Benjamin, Jessica (1990): Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht, Basel/Frankfurt a.M.: Stroemfeld/ Roter Stern. Böhme, Hartmut (1997): »Gefühl.« In: Christoph Wulf (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim/Basel: Beltz, S. 525-548. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Fox-Keller, Evelyn (1985): Refl ections on Gender and Science, New Haven/London: Yale University Press.
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Konjunkturen der Emotionsforschung
Auflösung der Dichotomie von Rationalität und Emotionalität? Wissenschaf tssoziologische Anmerkungen Katharina Scherke
Einleitung In den jüngsten Dekaden lässt sich ein verstärktes Interesse an Emotionen in wissenschaftlichen Kontexten sowie der alltäglichen Lebenswelt feststellen (vgl. Scherke 2007; 2009). Hervorzuheben ist hierbei insbesondere die durch die Erkenntnisse der Neurowissenschaften aufgebrachte Infragestellung des lange Zeit in der Philosophie und den Sozialwissenschaften dominant gewesenen Menschenbildes, das von einer klaren Unterscheidbarkeit rationaler und emotionaler Verhaltensdispositionen ausgegangen ist. Die Dichotomie von Rationalität und Emotionalität wurde immer wieder auch geschlechtsspezifisch aufgeladen, in dem Sinne dass Emotionalität und Empfindsamkeit (explizit auch auf die Sinnesfähigkeiten bezogen) als Domäne der Frauen betrachtet wurden, während rationales, verstandesgemäßes Handeln als männliche Spezialität gesehen wurde – etwa in den Schriften der Sensualphilosophen des 18. Jahrhunderts. Aktuelle neurobiologische Befunde legen nun eine enge Wechselwirkung zwischen Denken und Fühlen nahe und liefern somit neues Material für die Kritik an dichotom gehaltenen Vorstellungen von Rationalität und Emotionalität (vgl. Damasio 2001; LeDoux 2001). Die Dominanz eines rein rationalen Menschenbildes scheint jedoch noch nicht gebrochen zu sein, wenn man einen Blick in die in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften
24 | K ATHARINA S CHERKE prominent vertretenen Rational-Choice-Ansätze wirft. Welche Auswirkungen die aktuelle Infragestellung des Gegensatzes von Rationalität und Emotionalität für die unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen und auch für die heute im Alltag noch wirksamen geschlechtsspezifischen Konnotationen der Gefühlsqualitäten hat, gilt es einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Hierbei ist eine interdisziplinäre Perspektive unverzichtbar, denn die lange Zeit unhinterfragte Aufrechterhaltung geschlechtsspezifischer Zuschreibungen von Rationalität und Emotionalität kann nur erklärt werden, wenn man neben neurobiologischen Studien auch die Arbeiten der Sozial- und Kulturwissenschaften, die sich etwa mit Fragen des Emotionsmanagement und der Geschichte kultureller Symbole beschäftigen, beachtet. Die Rahmenbedingungen des Wissenschaftssystems müssen mitbedacht werden, wenn es gilt, die Chancen einer derart interdisziplinären Emotionsforschung abzuschätzen. Im Folgenden soll daher zunächst ein Überblick über die im Laufe der Geistesgeschichte vertretenen Positionen zum Verhältnis zwischen Emotionalität und Rationalität skizziert werden, bevor mögliche Linien interdisziplinärer Zusammenarbeit anhand einer Darstellung verschiedener Dimensionen des Emotionsgeschehens diskutiert werden. Ein näherer Blick auf die durch die Rahmenbedingungen des Wissenschaftssystems im 20. Jahrhundert geprägte wechselhafte Konjunktur der Emotionsforschung – explizit aufgezeigt anhand der deutschsprachigen Soziologie – rundet den Beitrag ab.
Verschiedene Haltungen zum Verhältnis z wischen Rationalität und Emotionalität Zum Verhältnis zwischen Rationalität und Emotionalität gibt es innerhalb der Geistesgeschichte sehr unterschiedliche Haltungen, die sich weder linear entwickelten noch in ihrer wertenden Stellungnahme für einen der beiden Bereiche ein einheitliches Bild zulassen. Auch die Aufmerksamkeit, die die Affekte überhaupt innerhalb der Wissenschaft(en) erlangten, weist einen stark variierenden Konjunkturverlauf in den letzten Jahrhunderten auf. Die im 18. Jahrhundert vertretene Haltung zum Verhältnis zwischen Rationalität und Emotionalität, inklusive der dabei vorgebrachten geschlechtsspezifischen Zuschreibungen, kann somit nur als eine Spielart unter vielen verstanden werden. Allerdings erwiesen sich die sensualphilosophischen Vorstellungen des 18. Jahrhunderts als äußerst haltbar, indem sie Ein-
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gang in den Alltag der Geschlechterverhältnisse fanden und diese bis heute beeinflussen. Das weibliche Geschlecht besaß Autoren, wie etwa Henri Fouquet (1727-1806), zufolge, eine stärkere Empfindsamkeit (vgl. Jütte 2000). Ergänzt wurde diese These durch die Annahme, dass Frauen aufgrund ihrer stärkeren Reizbarkeit zu verstandesmäßiger Tätigkeit nicht in der Lage seien. Die angeblich stärkere Neigung zum Affekt, die unter Hinweis auf den weiblichen Körper und seine Funktionen begründet wurde, und die damit verbundene angenommene Unfähigkeit zur Verstandesleistung wurde vor allem zur Legitimierung des Ausschlusses des weiblichen Geschlechtes von höheren Schulen verwendet. In den 1740er Jahren setzte sich bereits Dorothea von Erxleben (1715-1762), die als erste Frau in Deutschland zum Dr. med. promovierte, in ihrer Schrift »Gründliche Untersuchung der Ursachen, die das weibliche Geschlecht vom Studieren abhalten« (1742) mit den angeblich beim weiblichen Geschlecht verstärkt vorkommenden Gemütsbewegungen auseinander und dokumentierte hierbei in kritischer Absicht das weitverbreitete Vorurteil dass Frauen weniger Verstand besäßen als Männer. Wiewohl die Sinne im 18. Jahrhundert unter den Sensualphilosophen im Gegensatz zu früheren Zeiten also Wertschätzung erfuhren (welche sich auch auf die angenommenen höheren Leistungen des weiblichen Geschlechtes in diesem Bereich bezog), hatte diese Haltung für Frauen jedoch negative Konsequenzen hinsichtlich der Teilhabe an Bildungschancen. Als Kennzeichen der im 18. Jahrhundert vertretenen Vorstellungen kann festgehalten werden, dass sinnliche Wahrnehmung und Verstand zumeist als zwei verschiedene, hierarchisch eindeutig gegliederte Bereiche aufgefasst wurden, wobei diese Sichtweise eine lange Vorgeschichte hat, es jedoch auch seit der Antike immer wieder gegenläufige Positionen gab, die auf die untrennbare Verbundenheit von Affekt und Vernunft hinwiesen, was im 19. Jahrhundert dann auch durch Verweis auf die körperliche Basis beider begründet wurde (etwa bei William James). Ein Blick in die Geistesgeschichte zeigt auch, dass die Überlegenheit der Rationalität gegenüber den Affekten und die Kodierung der Emotionen als spezifisch weibliche Domäne eine seit dem 18. Jahrhundert zwar sehr wirksame Denkfigur war, die jedoch stets von gegenläufigen Sichtweisen begleitet war. Zur besseren Strukturierung eines Überblicks über die Rationalitäts-Emotionalitäts-Debatte erweisen sich die von Jack Barbalet vorgeschlagenen folgenden drei möglichen Haltungen als sehr nützlich: Der konventionelle Zugang zum Thema, der in den letzten Jahren zunehmend in Frage gestellt wurde, der kritische Zugang, der in jüngs-
26 | K ATHARINA S CHERKE ter Zeit vor allem durch einen Einbezug neurowissenschaftlicher Erkenntnisse gekennzeichnet ist und eine enge Verbindung von Rationalität und Emotionalität postuliert, und der radikale Zugang, der die Unterscheidung zwischen Emotionalität und Rationalität komplett aufgibt (Barbalet 1998: 29; vgl. Scherke 2009). In konventioneller Sicht sind Rationalität und Emotionalität zwei getrennte Bereiche menschlichen ›In-der-Welt-Seins‹. Emotionen stellen diesem Ansatz zufolge außerdem zumeist eine Behinderung für rationales Handeln dar. Diese Denkrichtung hat eine lange Tradition. Erste Wurzeln eines derartigen Verständnisses der Affekte finden sich bereits in der Antike. Die negative Einschätzung der Vorsokratiker, die die Weckung von Affekten zu vermeiden rieten, wird etwa auch von Platon vertreten, wiewohl dieser bereits ein differenziertes nicht ausschließlich negatives Bild der Affekte zeichnet und Lust in Eintracht mit der Vernunft als wesentlichen Teil des Lebensglücks betrachtet. Auch Aristoteles strebt nicht die vollkommene Freiheit von Affekten an, sondern sieht im rechten Maß derselben eine erstrebenswerte Tugend (vgl. Lanz 1971; Wassmann 2002). Die eher negative Sicht der Affekte als zu vermeidende vernunftwidrige Regungen findet sich sodann vor allem bei den Vertretern der Stoa. Während beispielsweise Zenon fehlerhafte Verstandesurteile als Ausgangspunkt der Affekte sieht, die er jedoch als von der Vernunft prinzipiell zu unterscheidende Phänomene betrachtet, sind für Chrysippos Affekte nicht von der Vernunft zu trennen, aber als mangelhafte Ausübung derselben zu bewerten: »Der Affekt ist Vernunft […], der nur schlecht und zügellos ist infolge eines üblen und verfehlten Urteils, das von Ungestüm und Heftigkeit befallen ist.« (Lanz 1971: 90) Im Mittelalter wird diese Haltung aufgegriffen und auf die Frage hin zugespitzt, inwieweit Affekte bewusste Willensentscheidungen zu beeinflussen vermögen. Thomas von Aquin betont, dass Affekte an sich weder gut noch böse seien; wenn sie von der Vernunft im rechten Maß gehalten werden, würden sie zur Tugend gehören, wenn nicht, würden sie zur Sünde führen, wobei sie dem menschlichen Willen nicht vollständig unterworfen seien (vgl. ebd.). Das in der Antike und dem Mittelalter teilweise noch vorhandene umfassende Verständnis der Affekte, sowohl als – plötzlich hervorgerufene oder dauerhaft anhaltende – Zustände der Seele als auch als Strebungen derselben, wird in der neuzeitlichen Diskussion allmählich differenzierter, indem zwischen den dauerhafteren Begierden des Menschen und seinen spontanen Gemütsbewegungen deutlicher unterschieden wird. Die bei manchen antiken Denkern und auch bei
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Thomas von Aquin noch vorhandene Vorstellung einer weitgehenden Einheit von Leib und Seele wird in der Folgezeit außerdem durch die Vorstellung einer strikteren Trennung der beiden abgelöst. Descartes ›cogito ergo sum‹ rückt aus Sicht Barbalets den Verstand ins Zentrum der menschlichen Existenz, während Emotionen nun vor allem in Relation zum Verstand und in ihren möglichen destruktiven Wirkungen für denselben betrachtet werden. Der Wille müsse die leidenschaftlichen vom Körper ausgehenden Impulse in den Griff bekommen (vgl. Descartes 1984). Emotionen und Verstand werden in dieser Sichtweise als konträre Phänomene aufgefasst, wobei der mit dem freien Willen des Menschen assoziierte Bereich – der Verstand – Wertschätzung erfährt, während die Emotionen als körperliche vernunfthemmende Phänomene zu unterdrücken seien. Nicht übersehen werden darf bei dieser Darstellung der descartesschen Sichtweise der Emotionen jedoch, dass Descartes sich sehr ausführlich mit den körperlichen Prozessen des Emotionsgeschehens beschäftigt hat. Die Wertschätzung des Verstandes also nicht mit einer Vernachlässigung der (oder einem mangelnden Interesse an) Emotionen verknüpft war (vgl. Wassmann 2002; Ulich/Mayring 1992). In der Rezeption Descartes’ wurde allerdings die in seinem Werk eigentlich angelegte grundlegende Verbindung von Körper und Seele (die auch die Beherrschung der Leidenschaften erst ermöglicht) häufig übersehen und einseitig seine Darstellung der Leidenschaften als vernunftwidriger Phänomene betont. Die kritische Sicht des Verhältnisses von Rationalität und Emotionalität betont der konventionellen Vorstellung gegenüber, dass Emotionen der Kognition, d.h. der rationalen Überlegung, überhaupt erst ein Ziel geben. Gefühl und Verstand werden zwar auch in dieser Sichtweise als zwei verschiedene Phänomene betrachtet, allerdings wird eine engere Zusammenwirkung zwischen ihnen angenommen. Das cartesianische Menschenbild wurde etwa im 18. Jahrhundert von Seiten der schottischen Moralphilosophen kritisiert, die eine Rehabilitation der Sinne und Leidenschaften des Menschen anstrebten (vgl. Streminger 1994). Barbalet beschreibt den kritischen Ansatz unter Bezugnahme auf David Hume. Hume ging davon aus, dass die Leidenschaften den Willen steuern und somit menschliches Handeln auf ein Ziel hin ausrichten, wobei allerdings nach wie vor Emotionalität und Rationalität als zwei differenzierbare Haltungen angesehen werden. Darüber hinaus findet sich bei Hume bereits auch die Grundidee des weiter unten vorgestellten radikalen Ansatzes, demzufolge Rationalität selbst als ein bestimmtes Gefühl betrachtet werden kann (vgl. Barbalet 1998).
28 | K ATHARINA S CHERKE Aus Sicht des kritischen Ansatzes sind Emotionen notwendig, um den Verstand zu dirigieren, was heute vor allem auch im Hinblick auf eine Revision der modernen Rational-Choice-Theorien von Bedeutung sein kann. In jüngster Zeit haben vor allem die Erkenntnisse der Biowissenschaften Belege für den kritischen Zugang erbracht, die mittlerweile ansatzweise auch in der Ökonomie Gehör gefunden haben (vgl. Barbalet 1998; Elster 1998; Frank 1992). Es konnte seit den 1980er Jahren nachgewiesen werden, dass auf der neuronalen Ebene bei menschlichen Denkprozessen sowohl der Neocortex als auch ältere, mit dem Gefühlshaushalt der Menschen assoziierte Hirnregionen (Hypothalamus, Hypophyse) aktiviert werden (vgl. Damasio 2001; LeDoux 2001). Auch auf der endokrinologischen Ebene konnte gezeigt werden, dass Botenstoffe (Neurotransmitter, Hormone), die den Gefühlshaushalt regulieren, überall im Körper, d.h. auch im Gehirn, erzeugt und rezipiert werden (vgl. Pert 2001). Eine Wechselwirkung zwischen Denken und Fühlen ist also sehr naheliegend. In einer Art Arbeitsteilung zwischen emotionalen und rationalen Komponenten des menschlichen ›In-der-Welt-Seins‹ wird es somit möglich, Ziele zu bestimmen und diese dann mittels vernünftiger Handlungen anzustreben. Die radikale Sicht geht davon aus, dass Rationalität und Emotionalität nichts grundlegend Verschiedenes sind, sondern dass Rationalität selbst als Konglomerat spezieller Emotionen angesehen werden kann. Die Vorstellung einer untrennbaren Verbundenheit von Vernunft und Affekt fand sich bereits, wie oben erwähnt, in negativer Konnotation bei Chrysippos. Bei den Denkern der Aufklärung lässt sich mitunter ebenfalls diese Verknüpfung von Verstandesleistung und Affekt, zum Teil in positiver Wertung der durch den Affekt angeleiteten Welterkenntnis, finden. Im Hinblick auf das Gefühl als Ausdruck für sinnliche Erfahrungen findet sich beispielsweise eine solche Vorstellung bei Alexander Gottlieb Baumgarten. Für ihn kann die aus der gefühlsmäßigen ästhetischen Weltvergegenwärtigung resultierende Erkenntnis als etwas zur Verstandeserkenntnis Analoges gesehen werden. Auch in der Diskussion der sogenannten moralischen Gefühle kommt dem Gefühl eine Erkenntnisfunktion im weitesten Sinne zu (vgl. Franke/Oesterle 1974). Gefühle werden hier zum eigentlichen Träger menschlicher Entscheidungen und erhalten damit eine mitunter als der Verstandeserkenntnis überlegen angesehene Bedeutung, etwa bei Anthony Ashley Cooper Shaftesbury oder Francis Hutcheson (vgl. Pohlmann 1974). Auch in der Phänomenologie Max Schelers findet sich eine derartige emotionale Fundierung gewisser Erkenntnisleistungen (vgl. Sander 2001) Gefühle spielen vor allem bei der Er-
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schließung von Werten und darauf auf bauenden sittlichen Entscheidungen eine wichtige Rolle. Die radikale Position, die Barbalet unter Bezugnahme auf Hume und William James schildert, geht über eine gleichrangige Sichtweise bzw. einer Höherbewertung des Gefühls (wodurch Gefühl und Verstand im Prinzip weiterhin als distinkte Phänomene betrachtet werden) hinaus, indem Verstand und Gefühl – vor allem aufgrund ihrer Gebundenheit an den Körper – quasi eine Gleichsetzung erfahren. Hume erörterte das Verhältnis von Verstand und Affekt vor allem im Zusammenhang mit dem menschlichen Willen. »Es erscheint demnach als das Prinzip, welches unserem Affekt entgegentritt, nicht die Vernunft selbst; dies Prinzip wird nur in uneigentlichem Sinne so genannt. Wir drücken uns nicht genau und philosophisch aus, wenn wir von einem Kampf zwischen Affekt und Vernunft reden. Die Vernunft ist nur der Sklave der Affekte und soll es sein; sie darf niemals eine andere Funktion beanspruchen, als die, denselben zu dienen und zu gehorchen.« (Hume 1973: 153)
In diesem Zitat Humes klingt deutlich die Rehabilitierung der Affekte an (die weiter oben als zentrales Motiv der kritischen Position geschildert wurde). Folgt man Hume weiter, wird deutlich, dass hinter der herkömmlichen Gegenüberstellung von Verstand und Affekt ein Missverständnis bezüglich der eigentlichen Triebkraft menschlichen Willens steht, die in den Affekten zu suchen sei. Hume meinte, dass Tätigkeiten des Geistes, die mit Besonnenheit und Ruhe ausgeführt werden, als Vernunft bezeichnet würden. Hinter dieser Bezeichnung würde jedoch das Wirken der ruhigen Leidenschaften – die nicht weniger als die heftigen Leidenschaften zu den Affekten zählen – verborgen bleiben (vgl. Hume 1973; Barbalet 1998). James wies zudem auf die körperlichen Veränderungen hin, die vor sich gehen, wenn wir bestimmte Emotionen erleben (James 1956: 63f.). Seiner Meinung nach kann der Geist des Menschen nicht losgelöst von diesen körperlichen Zuständen betrachtet werden. Insofern ist auch Rationalität durch bestimmte Körperempfindungen gekennzeichnet. Das Gefühl der Rationalität ist laut James vor allem durch eine Ausrichtung auf den gegenwärtigen Moment gekennzeichnet, der nicht weiter rechtfertigungs- oder erklärungsbedürftig erscheint und somit die Konzentration des Denkens gestattet. Gleichzeitig weist Rationalität jedoch auch eine auf die Zukunft gerichtete Komponente auf, die darin besteht, dass die diesbezügliche Ungewissheit reduziert und der Fortgang der Handlung ermöglicht wird (vgl. Barbalet 1998).
30 | K ATHARINA S CHERKE In Situationen, in denen wir eine unmittelbare Entscheidung treffen müssen, haben Gefühle die Funktion, Gegenwart und Zukunft miteinander zu verbinden. ›Hintergrundgefühle‹ sind auf diese Weise quasi untrennbar mit menschlichem Handeln verknüpft. Eine positive Haltung der Zukunft gegenüber führt zu anderen Konsequenzen als eine negative Haltung. Rationalität ist in dieser Sichtweise lediglich eine spezielle Form der gefühlsmäßigen Ausrichtung auf die Zukunft (als von Gelassenheit und Ruhe gekennzeichnet beschreibbar), jedoch nicht prinzipiell von anderen gefühlsmäßigen Ausrichtungen auf die Zukunft zu unterscheiden. Bereits seit der Antike wurden also in der Geistesgeschichte unterschiedliche Einschätzungen der Bedeutung der Affekte für menschliches Denken und Handeln vertreten. Die Dominanz eines rationalen Menschenbildes, die von manchen AutorInnen als kennzeichnend für das 20. Jahrhundert angesehen wird (vgl. Kemper 1990), ist keineswegs eine exklusiv für dieses Jahrhundert zutreffende Charakterisierung, ebenso wenig wie die stärkere Beachtung der Leidenschaften des Menschen kein Phänomen ausschließlich der letzten cirka 30 Jahre ist. Bei oberflächlicher Betrachtung dieses Wandels wissenschaftlichen Interesses legt sich der Verdacht einer Pendelbewegung nahe: Auf Zeiten, die die rationalen Aspekte der menschlichen Existenz betonten, folgten immer wieder Zeiten, die den Affekten des Menschen mehr Aufmerksamkeit schenkten; so wurde der Rationalismus der Auf klärung beispielsweise durch den Versuch einer »Emanzipierung der Sinnlichkeit« im 18. Jahrhundert abgelöst (Streminger 1994: 184). Es stellt sich die Frage, ob die (Über-)Betonung der Rationalität also stets einen Ausgleich verlangt, im Sinne einer (erneuten) Hinwendung zur Wertschätzung des Affektiven als zentraler Antriebskraft menschlichen Handelns? Das Wirken derartiger Mechanismen – im Sinne langfristiger Wellen- oder Pendelbewegungen eines Themas – soll nicht völlig ausgeschlossen werden, jedoch lässt sich zeigen, dass die Rahmenbedingungen des wissenschaftlichen Systems der letzten 100 Jahre einen wesentlichen Einfluss darauf hatten, welche Erklärungsmodelle in einer bestimmten Phase zur Durchsetzung gelangen konnten. Festzustellen ist außerdem, dass die Einseitigkeit der Betrachtung niemals vollständig gegeben war, sondern, dass im Hinblick auf die Bedeutung der Affekte für Denken und Handeln von AkteurInnen eine Parallelexistenz unterschiedlicher Menschenbilder möglich war. Die Frage, warum einige davon zeitweise mehr Wertschätzung und damit Sichtbarkeit erfuhren als andere, bedarf zusätzlicher Erklärungen und kann nicht restlos durch das Bild einer Pendelbewegung wissenschaftlichen Interesses beschrieben werden.
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Die Dimensionen des Emotionalen Bei der Emotionsthematik handelt es sich, wie oben bereits angedeutet, um eine im Prinzip nur interdisziplinär zu erforschende Thematik. Anhand verschiedener Dimensionen des Emotionalen sollen im Folgenden mögliche bzw. bereits derzeit beschrittene Linien der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Disziplinen beschrieben werden. Es können folgende das Emotionale betreffende Dimensionen unterschieden werden (denen allerdings in den zahlreichen Definitionsversuchen der »Emotionen« jeweils unterschiedliches Gewicht zukommt):1 Erstens, die körperliche Dimension, die sich auf alle im Zusammenhang mit Emotionen ablaufenden physiologischen Prozesse bezieht (von neuronalen bis hin zu endokrinologischen Prozessen reichend). Zweitens, die Ausdrucksdimension, die sich auf das für andere Menschen sichtbare körperliche Erscheinungsbild einer Emotion, das teilweise aktiv von der betroffenen Person beeinflusst werden kann, bezieht. Das Thema der Gefühlsinszenierungen, d.h. der hauptsächlich für andere zum Ausdruck gebrachten Gefühle (im Sinne des surface-acting), wäre an dieser Stelle zu verorten. Drittens, die Erlebnisdimension, die das bewusste Erleben (und teilweise auch dessen Verbalisierung) einer Emotion durch die Person, die sie verspürt, umfasst. In diesem Bereich kommt das Thema der Affektregulation zum Tragen, d.h. die aktive Beeinflussung des eigenen Empfindens gemäß sozialer oder kultureller Gefühlsregeln (im Sinne des deep-acting) (Hochschild 1990: 53). Viertens, die Bewertungsdimension, die einen emotionalen Bezug zwischen der betroffenen Person und ihrer Umwelt herstellt, indem äußere Reize eine Einstufung erfahren, das heißt im einfachsten Sinne als angenehm/unangenehm bewertet werden. Die Bewertungsdimension kann sich auch auf das Individuum selbst beziehen, indem beispielsweise das subjektive Erleben einer Emotion selbst eine weitere emotionale Bewertung erfährt.2 Schließlich, fünftens, die Handlungsdimension, die sich auf die aus einer Emotion folgende Motivation oder Tendenz zu einem bestimmten zukünftigen Verhalten bezieht.3 Diese fünf Dimensionen sind auf unterschiedliche Art und Weise miteinander verknüpft, wobei die Meinungen in der Literatur darüber auseinander gehen, ob und welche determinierenden Beziehungen zwischen ihnen existieren. Einige Bemerkungen zur Verschränkung
32 | K ATHARINA S CHERKE der Dimensionen müssen an dieser Stelle genügen, um die Komplexität des Phänomens aufzuzeigen: Die körperliche Dimension ist – aufgrund der Leiblichkeit des Menschen – naturgemäß mit allen anderen Dimensionen verknüpft, allerdings kann trotzdem keine einseitige Wirkung ihrerseits auf die anderen Dimensionen festgestellt werden. Das Ausdrucksbild einer Emotion (etwa in der Mimik) basiert selbstverständlich auf physiologischen Voraussetzungen (etwa der Gesichtsmuskulatur und ihrer Steuerung durch neuronale und endokrinologische Prozesse). Die Facial-Feedback-These zeigt aber, dass auch die willentliche Präsentation eines bestimmten Ausdrucksbildes (bei der bestimmte Gesichtsmuskeln bewegt werden, ohne dass aktuell ein entsprechendes Gefühl vorliegt) physiologische Mechanismen und teilweise schließlich auch das Erleben der damit assoziierten Gefühle auslösen kann (vgl. Wassmann 2002). Auch die Erlebnisdimension, das heißt das subjektiv bewusste Empfinden eines Gefühlszustandes kann körperliche Mechanismen in Gang setzen beziehungsweise beeinflussen, wie die Arbeiten der Psychoneuroimmunologie nahelegen (vgl. Pert 2001). Ausdrucks- und Erlebnisdimension wiederum müssen nicht miteinander übereinstimmen, wie die Studien zur Manipulation des Gefühlsausdrucks gemäß kultureller oder sozialer Gefühlsregeln belegen (vgl. Hochschild 1990; Flam 2002). Bewertungs- und Erlebnisdimension wiederum sind, wenn man etwa den Annahmen von Magda Arnold folgt, zwar eng miteinander verknüpft, jedoch kann auch eine emotionale Bewertung der Umgebung vorgenommen werden, ohne dass sich dies im bewussten subjektiven Erleben der Person niederschlägt (man denke an die entsprechenden Experimente Robert Zajoncs zum priming, das heißt den Folgen der unbewussten Wahrnehmung nur sehr kurz dargebotener Sinnesreize) (LeDoux 2001: 58ff.). Die Handlungsdimension, das heißt die durch eine Emotion ausgelöste Verhaltenstendenz, kann mit einem bewussten Erleben der Emotion einher gehen beziehungsweise von diesem ausgelöst werden, aber, wie etwa die Studien Joseph LeDouxs zur automatischen Furchtreaktion auf konditionierte Reize zeigen, auch unbewusst aktiviert werden (vgl. ebda). Bei allen genannten Dimensionen des Emotionsgeschehens muss außerdem die soziale Existenz des Menschen mitberücksichtigt werden. Wir reagieren auf unsere soziale Umgebung, indem wir diese emotional bewerten und wir handeln in dieser Umgebung auf der Grundlage unserer emotionalen Gestimmtheiten, wobei die erlernten sozialen und kulturellen Regeln eine wichtige Rolle für die Art und Weise unserer Bewertungen und Handlungstendenzen spielen. Worüber wir uns beispielsweise ärgern, hängt eng mit den von uns
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erlernten Gerechtigkeitsvorstellungen zusammen, deren Verletzung erst zu unserem Gefühl des Ärgers führt. Ob es sodann gestattet ist, diesen Ärger offen auszuleben oder ob wir gezwungen sind, ihn zu unterdrücken, hängt ebenfalls von der Zeit und Gesellschaft, in der wir leben, ab. Anhand des konstruktivistischen (oder interaktionistischen) Ansatz der Soziologie der Emotionen (vgl. Flam 2003) kann dies näher dargelegt werden. Arbeiten dieses Ansatzes beschäftigen sich mit der konkreten Ausformung, Prägung und Modulation von Emotionen in sozialen Interaktionen. Im Hintergrund dieser Arbeiten steht die Überzeugung, dass Emotionen keine fi xen ›Programme‹ sind, die, einmal aktiviert, unabänderlich ablaufen, sondern dass Emotionen, und vor allem ihr Ausdruck, soziale beziehungsweise kulturelle Filter durchlaufen (vgl. Shott 1979; Harré 1986). Eine wichtige Rolle spielt in diesem Ansatz die Analyse der sprachlichen Repräsentationen des Emotionsgeschehens, inklusive ihres Wandels. Dahinter steht die Idee, dass es letztlich das ›Reden‹ über Emotionen ist, das der sozialund auch kulturwissenschaftlichen Analyse zugänglich ist und das auch die Ausgestaltung emotionalen Erlebens im Alltag wesentlich mitbestimmt. Normalerweise versuchen AkteurInnen ihr Empfinden und Verhalten auf die im jeweiligen sozialen Kontext gültigen Gefühlsregeln abzustimmen. Passt das eigene Empfinden nicht zu den sozial erwarteten Gefühlsäußerungen, werden Anpassungsschritte gesetzt (vgl. Hochschild 1990; Flam 2003). »Sich ein Lächeln verkneifen«, »die Tränen unterdrücken« oder »die Wut hinunterschlucken« sind sprachliche Hinweise für die Existenz dieser Art von Gefühlsmanagement. Die Beachtung von Gefühlsregeln stellt einen Teil der Anerkennungsund Respektbekundungen im Rahmen des sozialen Austausches dar. Oder wie Hochschild dies ausdrückt: »Wir verbeugen uns nicht nur mit dem Körper, sondern auch mit dem Herzen voreinander« (Hochschild 1990: 85). Im Rahmen dieser Aktivitäten bemühen sich die AkteurInnen vor allem darum, Diskrepanzen zwischen dem von ihrer Umgebung erwarteten Gefühlsausdruck und ihrem tatsächlichen Empfinden zu minimieren. Die hierbei beachteten Gefühlsregeln stehen in engem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Rollenvorstellungen. Sie stellen Richtlinien dafür da, welcher Gefühlsausdruck in speziellen Situationen (etwa bei einer Hochzeit oder bei einer Beerdigung) zu zeigen ist, und variieren zudem nach der jeweils eingenommenen Rolle (so gibt es etwa geschlechts-, alters- und berufsgruppenspezifische Gefühlsregeln). Ein Wandel der Rollenbilder hat zumeist auch einen Wandel der Gefühlsnormen zur Folge – wobei es sich al-
34 | K ATHARINA S CHERKE lerdings zumeist um sehr langwierige Prozesse des Wandels handelt (vgl. Hochschild 1990). Die angebliche stärkere Neigung der Frauen zum Gefühl fand und findet etwa ihren Niederschlag in Vorstellungen zur geschlechtsspezifischen Gefühlsarbeit (vgl. ebda; Scherke 2009). Die Langlebigkeit der geschlechtsspezifischen Konnotationen von Rationalität und Emotionalität im Alltag kann anhand der Arbeiten von Hochschild und ihrer NachfolgerInnen aufgezeigt werden. Trotz unterschiedlicher Positionen in der Geistesgeschichte zur Einschätzung des Verhältnisses zwischen Rationalität und Emotionalität und der in Anbetracht aktueller biowisssenschaftlicher Befunde verstärkten Kritik an strikt dichotomen Vorstellungen hierzu, spielen in der Alltagspraxis der Geschlechter dichotome Kodierungen nach wie vor eine Rolle. Dies näher zu analysieren kann nur im Zusammenspiel zwischen Bio-, Sozial- und Kulturwissenschaften sinnvoll erfolgen. Die Voraussetzungen für eine derartige Zusammenarbeit scheinen derzeit gegeben zu sein, wie die Ausführungen des folgenden Abschnitts zeigen sollen.
Zum Einfluss der Struk turen des Wissenschaf tssystems auf die (Nicht-) Behandlung der Emotionsthematik – am Beispiel der deutschsprachigen Soziologie Emotionen sind wie eben gezeigt kein rein physiologisches Phänomen, sie können aber ebenso wenig als ausschließliches Ergebnis sozio-kultureller Prozesse betrachtet werden. Eine derart beschaffene Thematik ist nicht leicht in den traditionellen Strukturen des Wissenschaftssystems unterzubringen, die sich durch den Versuch klar voneinander abgegrenzte Aufgabenbereiche zu bestimmen auszeichnen. Es verwundert daher nicht, dass die Emotionsthematik erst in einer Phase wiederum vermehrt Aufmerksamkeit erfahren konnte, in der diese Strukturen des Wissenschaftssystems selbst im Umbruch begriffen waren und interdisziplinäre Unterfangen eine breitere Beachtung erfahren haben. »Ein Leben ohne Emotionen ist kaum denkbar. Wir leben für sie, indem wir die Umstände so einrichten, dass sie uns Lust und Freude schenken, und indem wir Situationen meiden, die zu Enttäuschung, Kummer oder Leid führen« (LeDoux 2001: 25f.). Die Bedeutung des Emotionalen für das menschliche Leben kommt in diesem kurzen Zitat des Neurobiologen LeDoux sehr gut zum Ausdruck. Es liegt auf der Hand, dass ein derart zentrales movens menschlichen Handelns auch
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in der Soziologie Beachtung finden müsste. Umso erstaunlicher ist es, dass über lange Zeit hinweg Gefühle aus soziologischen Erörterungen weitgehend ausgeklammert wurden – und dies obwohl sie bei den Gründervätern der Soziologie durchwegs Beachtung erfahren haben (vgl. Williams/Bendelow 1998). Man kann in der soziologischen Literatur vor allem zwei Begründungen für die Ausklammerung der Emotionen aus der soziologischen Debatte beziehungsweise für deren Wiederentdeckung finden: Häufig wird der ›Zeitgeist‹ zur Erklärung der Konjunktur wissenschaftlicher Themen herangezogen. Diesem Argument zufolge sind es vor allem allgemeine gesellschaftliche Veränderungen gewesen, die dazu führten, dass Emotionen durch die Soziologie vernachlässigt und später wiederentdeckt wurden. So plausibel die Verankerung soziologischen Denkens in der alltäglichen Lebenswelt ist, 4 so wenig reicht diese für sich genommen aus, um die Konjunktur bestimmter Themen in der Soziologie erklären zu können. Ein anderer Erklärungsansatz versucht in den institutionellen Strukturen des Wissenschaftssystems Gründe für die Vernachlässigung bzw. Wiederentdeckung der Emotionen zu finden. Festzuhalten ist, dass beiden Argumentationsketten Relevanz zukommt. Während jedoch die ›Zeitgeistargumente‹ in der Literatur zur Soziologie der Emotionen bisher häufig vertreten wurden, wurden die institutionellen Argumente in diesem Zusammenhang eher selten beachtet, sie erscheinen jedoch besonders geeignet zu sein, um zum Beispiel das Nachhinken der deutschsprachigen Soziologie (für die erst seit den späten 1980er Jahren eine Wiederentdeckung der Emotionsthematik festgestellt werden kann) gegenüber der anglo-amerikanischen erklären zu können. Das Aufgreifen möglicherweise vom ›Zeitgeist‹ aufgeworfener Themen ist offenbar erst dann in größerem Maßstab möglich, wenn die institutionellen Rahmenbedingungen des Wissenschaftssystems ein derartiges Aufgreifen ›gefahrlos‹ für die Position wissenschaftlicher AkteurInnen innerhalb dieses Systems ermöglichen. Disziplinbildungsprozesse und die damit einhergehenden Abgrenzungsversuche zwischen Fachgebieten waren es, die seit dem 19. Jahrhundert zu einer Vernachlässigung all jener Themen führten, die nicht klar einer der sich etablierenden Disziplinen zugeordnet werden konnten. Ich möchte dies kurz anhand der deutschsprachigen Soziologie illustrieren. In der Frühphase der Soziologie in Deutschland stammten viele Wissenschaftler aus Nachbardisziplinen. Aufgrund des Fehlens etablierter Definitionen, was unter Soziologie oder soziologischer Forschung zu verstehen sei, waren die sich für das Gebiet der Soziologie
36 | K ATHARINA S CHERKE interessierenden Wissenschaftler relativ frei in der Bestimmung der Inhalte ihrer Forschung. Zudem begann die bewusste Abgrenzung von anderen Disziplinen erst allmählich eine Rolle zu spielen. So konnte eine ganze Bandbreite von Themen von den Klassikern (etwa Max Weber oder Georg Simmel) bearbeitet werden und ihre Sozialtheorien schlossen, obwohl auch um die Erklärung von Makrophänomenen bemüht, eine Behandlung der Emotionen noch nicht aus. Die Phase der Etablierung der Soziologie auf universitärer Ebene in Deutschland (intensiviert ab ca. 1921) war sodann stark durch die Auseinandersetzung mit ihren Nachbardisziplinen gekennzeichnet. Zur Ausdifferenzierung einer Disziplin aus dem vorhandenen wissenschaftlichen Kanon gehört es, dass sie kognitive Trennschärfe entwickelt – d.h. sich hinsichtlich ihrer Erkenntnisgegenstände, Methoden und wissenschaftlichen Kriterien von anderen Fächern unterscheidet; nur so wird ihre Institutionalisierung und Professionalisierung möglich. Emotionen, die auch in anderen Wissenschaftsdisziplinen bearbeitet werden, eignen sich nicht für eine derartige Abgrenzung der Soziologie. Gerade diese Abgrenzung und die Fundierung eines eigenen, unumstrittenen Gegenstandsbereiches stellen aber im akademischen Kontext Voraussetzungen für die Rekrutierung universitärer Ressourcen (Lehrstühle etc.) dar. Erst nach der erfolgreichen Etablierung als Disziplin können auch wieder Themen aus dem Grenzbereich zu anderen Wissenschaften als Forschungsgegenstand der Soziologie aufgegriffen werden. Durch die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg wurden die Etablierungsversuche der Soziologie in Deutschland zunächst unterbrochen und erst nach dem Krieg wieder aufgegriffen. Nach 1945 wurde unter Einfluss der amerikanischen Soziologie vor allem der Ausbau der empirischen Sozialforschung forciert. Verstärkte Diskussionen über die theoretischen und methodischen Grundlagen des Faches begannen erst Mitte der 1950er Jahre und wurden später im Rahmen des sogenannten Positivismusstreites (der als Wiederaufnahme der zu Beginn des Jahrhunderts – ebenfalls unter Etablierungsbemühungen – geführten Werturteilsdebatte interpretiert werden kann) heftig geführt. Mit dem Bildungsboom der 1960er Jahre und dem damit einhergehenden Universitätsausbau kam es auch im Bereich der Soziologie zu einem Zuwachs an Lehrkräften und Studierenden. In dieser Etablierungsphase nach dem Zweiten Weltkrieg standen Auseinandersetzungen über den Aufgabenbereich der Soziologie und ihre theoretische Fundierung auf der Agenda der Vertreter und Vertreterinnen des mainstreams des Faches. Erst seit Mitte der 1970er Jahre kam es zu einer Beruhigung dieser fachinternen Debatten und einem weit-
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gehend akzeptiertem Nebeneinander unterschiedlicher theoretischer Modelle. Erst in diesem aufgeschlossenen Klima konnten auch Randthemen bzw. Themen mit interdisziplinären Bezügen (wie etwa die Emotionen) erfolgreich aufgegriffen werden. In den USA kam es schon viel früher zu einer Etablierung der Soziologie, sie musste etwa keine Unterbrechung des Etablierungsprozesses durch die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg, wie es in der Deutschland der Fall war, hinnehmen. Außerdem war die Soziologie in Amerika von Beginn an stärker empirisch-praktisch ausgerichtet (vgl. Fleck 2007), so dass theoretische Diskussionen wie sie in Deutschland im Rahmen der Werturteilsdebatte oder des Positivismusstreites eine Rolle gespielt haben, nicht auf kamen. Die Öff nung gegenüber Randthemen fällt in einem solchen Klima leichter als in den stärker durch die Abgrenzung akademischer Disziplinen gekennzeichneten deutschsprachigen Hochschulen. Auch die Soziologie der Emotionen konnte von diesen anderen institutionellen Rahmenbedingungen in den USA profitieren, wo ab ca. 1975 verschiedenen Autoren zufolge dieses Spezialgebiet Auftrieb erlangte (vgl. Kemper 1990; Barbalet 1998; Flam 2000; Franks 2001). Eine von mir für den Zeitraum von 1949 bis 2003 durchgeführte Zeitschriftenanalyse zeigt folgende Entwicklung der Emotionsthematik im deutschen Sprachraum:5 Die Phase bis 1955 zeichnet sich durch das weitgehende Fehlen relevanter Artikel zur Thematik aus. In der ›Orientierungsphase‹ (19561971) erscheinen erstmals Artikel mit einem engen Bezug zur Thematik. In der ›Vorbereitungsphase‹ (1972-87) kann eine beginnende stärkere Beachtung des Themas festgestellt werden, während in der ›Durchsetzungsphase‹ (1988-2003) schließlich regelmäßig mehrere Artikel pro Jahr zur Thematik in den deutschsprachigen Fachzeitschriften erscheinen. Die ›Vorbereitungsphase‹ ab 1972 fällt in einen Zeitraum, in dem sich aus dem ›methodologischen Schisma‹ der ausgehenden 1960er Jahre in der Soziologie allmählich eine weitgehende Akzeptanz der modelltheoretischen Vielfalt (vor dem Hintergrund des mittlerweile als erfolgreich einzustufenden Etablierungsprozesses der Disziplin) herauszubilden begann. Dieses Klima – zusammen mit der gleichzeitig stattfindenden Renaissance des interpretativen Paradigmas – dürfte nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, dass auch der Stellenwert der Emotionen für soziale Zusammenhänge neu erkannt und thematisiert wurde. Bereits in dieser Phase wurden auch erste Ansätze einer Soziologie der Emotionen aus dem anglo-amerikanischen Raum in den Zeitschriften des deutschen Sprachraumes publik gemacht. Der von
38 | K ATHARINA S CHERKE mir als ›Durchsetzungsphase‹ bezeichnete Zeitraum 1988-2003 ist in der deutschsprachigen Soziologie gekennzeichnet durch eine zunehmende Spezialisierung und interdisziplinäre Öffnung des Faches, die auch dem Thema der Emotionen zu Gute kam (vgl. Scherke 2009). Nicht nur die Emotionen konnten seit den 1980er Jahren (erneut) Aufmerksamkeit in der Soziologie erlangen, sondern auch andere Themen, die ähnlich starke interdisziplinäre Bezüge aufweisen – so etwa die Themen: Kultur,6 Geschlecht 7 und Körper.8 Die Wechselwirkungen zwischen der Frauenbewegung, dem akademischen Interesse an Fragen der Geschlechtsidentität und damit verbunden auch an der Körperthematik wurden von verschiedenen Autoren und Autorinnen bereits als Entstehungshintergrund der anglo-amerikanischen Soziologie der Emotionen skizziert (Williams/Bendelow 1998: XXII; Williams 2001: 8). Eine ähnliche Wirkung kann zeitverzögert, wie meine Zeitschriftenanalyse zeigt, auch für die deutschsprachige Soziologie angenommen werden. Wie die Arbeiten der seit den 1980er Jahren reüssierenden Soziologie der Emotionen – etwa im Hinblick auf das Emotionsmanagement – zeigen, gibt es keine einseitige Determination des Gefühlslebens durch die Biologie, allerdings kann die geschlechtsspezifische Konnotation von Emotionen und entsprechendes Emotionsmanagement auch zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung traditioneller Geschlechterarrangements beitragen und diese somit quasi natürlich gegeben erscheinen lassen. Ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte trägt zur Relativierung der dichotomen Vorstellung zwischen Rationalität und Emotionalität bei, indem die Vielfalt unterschiedlicher Sichtweise im Verlauf der Geistesgeschichte deutlich wird. Die wissenschaftssoziologische Analyse kann zudem dabei helfen, Erklärungen für das phasenweise gegebene Vorherrschen mancher dieser Sichtweisen zu liefern. Die derzeitige Infragestellung des Gegensatzes von Rationalität und Emotionalität in ihren Konsequenzen für den Lebensalltag der Geschlechter zu erforschen, ist als Herausforderung für die sich derzeit entwickelnde interdisziplinäre Emotionsforschung zu sehen.
Anmerkungen 1 2
Zur Vielzahl der Definitionsversuche von Emotionalität bzw. der unterschiedlichen Emotionen (vgl. Mandl/Huber 1983). Zu denken wäre hier etwa an die von Thomas Scheff skizzierten SchamScham-Spiralen, in denen das subjektive Erleben der Emotion Scham seinerseits wiederum Scham auslöst (Scheff 1990: 285). Die Vertreter und
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Vertreterinnen der Bewertungstheorie der Emotionen in der Psychologie (etwa Magda Arnold oder Richard S. Lazarus) gehen davon aus, dass die Bewertungsfunktion das Hauptcharakteristikum von Emotionen ist (nicht zuletzt auch aufgrund der angenommenen adaptiven Funktion von Emotionen) (vgl. Ulich/Mayring 1992). Emotionale Verhaltenstendenzen können im Übrigen auch darin bestehen, keine offensichtlichen Handlungsschritte zu setzen, was aber ebenfalls entscheidende Konsequenzen für den Akteur beziehungsweise seine soziale Umgebung haben kann. Gerade die Handlungsdimension zieht in den letzten Jahren besonderes Interesse vonseiten der Soziologie auf sich. Emotionen werden hier gewissermaßen auf ihre Funktion als ›Motor‹ für bestimmte Handlungen und damit auf ihre sozialen Konsequenzen hin untersucht (vgl. Barbalet 1998). Zur angenommenen Verknüpfung zwischen soziologischem Denken und lebensweltlichen Veränderungen vgl. Smelser (1992: 44). Berücksichtigt wurden die Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, die Zeitschrift für Soziologie und die Soziale Welt (vgl. Scherke 2009). Zum interdisziplinären Charakter der Kultursoziologie vgl. Gebhardt (2001). Zur Entwicklung der Kultursoziologie im deutschen Sprachraum vgl. Gebhardt (2001); Kirchberg/Wuggenig (2004); Lichtblau (1996). Zum Bedeutungszuwachs der Frauen- und Geschlechterforschung in den 1980er und 1990er Jahren vgl. Korte (2004). Geschlechtersoziologie und Soziologie der Emotionen weisen prinzipiell auch eine Nahestellung zum Thema ›Körper‹ auf, das ebenfalls (auch international gesehen) erst seit den 1980er Jahren verstärkt von der Soziologie aufgegriffen wurde, wiewohl es erste Ansätze hierzu bereits seit den 1960er Jahren im Umkreis der feministischen Soziologie gegeben hat vgl. Shilling (2003).
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Weibliches Leiden – männliche Leidenschaften. Zum Geschlecht in älteren Af fektenlehren1 Catherine Newmark
Einleitung Kaum etwas erscheint der Gegenwart selbstverständlicher, als dass zur Geschlechterdifferenz wesentlich auch emotionale Unterschiedlichkeit gehöre. Dass Frauen emotional-sensibler und Männer rational-technischer seien, ist nicht nur einer der Hauptklagepunkte gegenwärtiger Geschlechterbeziehungen und Hauptthema einschlägiger Frauenzeitschriften, sondern ein so tief verankerter kultureller Gemeinplatz, dass es ernsthaft Versuche gibt, ihn neurowissenschaftlich zu untermauern. Auch wenn man die Sache nicht naturwissenschaftlich angeht, lässt sich zumindest von einer geschlechtlich unterschiedlichen sozialen Prägung innerhalb des Geschlechterarrangements unserer Gesellschaft sprechen. Psychoanalytisch etwa kann der Status quo unterschiedlichen emotionalen Verhaltens mit einer Erziehung von Männern zu Emotionsferne und Gefühlsarmut und fehlenden emotionalen Identifi kationsmöglichkeiten des kleinen Jungen mit seinem Vater in der isolierten Kleinfamilie erklärt werden (vgl. z.B. Meier-Seethaler 2000). Dass dieses traditionelle und noch immer weitertradierte Geschlechterarrangement mit seiner starken Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« allerdings erst ein Produkt des bürgerlichen Zeitalters ist, ist längst bekannt. Karin Hausen hat bereits 1976 die historische Herausbildung gegensätzlicher Geschlechtscharaktere ab dem 19. Jahrhundert, zu denen die exklusive Zuweisung der Emotio-
44 | C ATHERINE N E WMARK nen an das weibliche Geschlecht gehört, zugleich als wissenschaftliche Zuschreibung und als gesellschaftliches Ideal analysiert (vgl. Hausen 1976). Dass Emotionen vor allem im Zuge bürgerlicher Geschlechterideologien im Verlauf des 19. Jahrhunderts nachhaltig feminisiert und im gleichen Zuge Frauen emotionalisiert wurden, ist historisch gezeigt worden (Trepp 2002: 92). »Meyer’s großes Konversationslexikon« fasst 1904 den Stand der Dinge folgendermaßen zusammen: »Auch psychische Geschlechtscharaktere finden sich vor; beim Weib behaupten Gefühl und Gemüt, beim Manne Intelligenz und Denken die Oberhand« (zitiert nach Hausen 1976: 366). Wie verhält es sich aber vor dem 19. Jahrhundert? Gibt es vor der Durchsetzung bürgerlicher Geschlechterordnungen bereits eine geschlechtliche Zuordnung oder nur schon Konnotation von Emotionen oder »Passionen«? Dieser Frage möchte dieser Aufsatz nachgehen, und zwar im Rahmen einer Spurensuche in den klassischen philosophischen Passionslehren, einem zwar nicht vollständig einheitlichen, aber doch stark auf Tradierungen auf bauenden Gebiet der philosophischen Psychologie und Ethik. Als Spurensuche muss man wohl jede geschlechterkritische Lesart von Philosophie verstehen, insofern Philosophie traditionell und notorischerweise bis heute die Kategorie Geschlecht explizit kaum berücksichtigen will. Dass diese Suche trotzdem sinnvollerweise in der Philosophie stattfinden muss, lässt sich damit begründen, dass vor dem 19. Jahrhundert und der Herausbildung der Einzelwissenschaften die Philosophie allgemein und auch spezifisch für die Emotionslehre Leitwissenschaft ist. Die aristotelisch-thomistische Seelenlehre und deren Begriff der passio animae, des »Erleidnisses der Seele«, wird auch von rhetorischen und moralistischen Traktaten, von literarischen Schriften und Benimmliteratur zugrunde gelegt. Während letztere von Sozial- und Literaturgeschichte immer wieder und gerade in neuster Zeit häufiger auf ihre Emotions- und Geschlechtervorstellungen untersucht worden sind, stehen solche Untersuchungen für die Philosophiegeschichte noch weitgehend aus (vgl. Baum 2000; Benthien et al. 2000; Opitz et al. 2000; Perfetti 2005). Es geht also im Folgenden um die ganz allgemeine Frage, inwiefern Emotionen in ihrer Theoriegeschichte geschlechtlich konnotiert sind. Dazu werde ich zunächst ganz kurz den Theoriekontext der Passionslehren umreißen, um sodann Elemente expliziter und impliziter geschlechtlichen Markierung in ihnen diskutieren und abschließend kurz den Umschwung am Ende des 18. Jahrhunderts umrisshaft in den Blick zu nehmen.
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Die philosophische Lehre von den Passionen Die menschlichen Emotionen werden in der Philosophie ebenso wie in den meisten anderen damit befassten Bereichen von der Antike bis weit ins 18. Jahrhundert mit der Begrifflichkeit passio animae gefasst. Alternativ wird auch von affectus animae, französisch und englisch von den »passions« oder »affects« gesprochen, deutsch von Affekten und Leidenschaften. Erst seit Ende des 18. Jahrhunderts und auf Grundlage eines veränderten Verständnisses der Seele wird Emotionalität mit Begriffen wie »sentiment«, »feeling« und »Gefühl« thematisiert. Die Lehre von den passiones animae kann trotz Wandlungen über die Jahrhunderte in vielem als relativ einheitliches Lehrstück aufgefasst werden. Die wichtigsten Stationen in der Entwicklung dieser philosophischen Emotionstheorie sind in der Antike die Psychologie und Ethik des Aristoteles sowie die stoische Moralphilosophie, und im Mittelalter die ausführliche Passionslehre des Thomas von Aquin, welche die Konzeption auf Jahrhunderte hinaus für die scholastische Philosophie fi xiert. Im 17. und bis Mitte des 18. Jahrhunderts knüpfen alle wichtigen philosophischen Affektenlehren – etwa diejenigen von Descartes, Hobbes, Spinoza, Wolff, Hume – ebenso wie die zahlreichen moralistischen Traktate daran an (vgl. James 1997; Newmark 2008). Das Modell, nach dem die Emotion in dieser philosophischen Tradition gedacht wird, bleibt sich von der Antike bis ins 18. Jahrhundert im Wesentlichen gleich: die »Passion« oder »Leidenschaft« ist eine Bewegung der Seele durch sinnlich wahrgenommene Lust und Unlust. Sie ist das sinnliche Pendant zum Willen, der die Bewegung der Seele durch das intellektuell erkannte Gute und Übel ist. Die Seele ist dabei zunächst passiv dem auf sie einwirkenden Sinneseindruck ausgesetzt und gibt dann diese Bewegung aktiv an den Körper weiter. Passionen werden also passiv und unwillkürlich erlitten, sind aber zugleich auch, sofern sie den Körper bewegen, handlungsauslösend – die Passion gehört zum Strebevermögen. Es ist nun gerade ihr Doppelcharakter als zugleich passive und aktive Phänomene, als zugleich Erleiden und Handeln, welche die Passionen moralisch problematisch macht, stellt dieser doch die Freiheit von Handlungen in Frage. Die Lehre von den Passionen ist dementsprechend – trotz ausführlicher physiologischer und psychologischer Definitionsleistungen – als philosophisches Lehrstück durchgängig in den Ethiken verankert. Immer geht es um den Umgang mit den Passionen, um ihre Kontrolle und Entschärfung, vom aristotelischen Gebot der Mäßigung bis hin zu der radikalen stoischen Forderung nach Ausrottung der Passionen.
46 | C ATHERINE N E WMARK In dieser Theorietradition ist die Geschlechterfrage nun auff ällig abwesend. Eine explizite Zuweisung der verhandelten Problemfelder – etwa der seelischen Passivität und der moralisch problematischen Bestimmung von Handlungen durch die Passionen – an ein Geschlecht, zum Beispiel das weibliche, findet sich in den maßgebenden philosophischen Theorien der Emotionen nirgends. Auff ällig ist dies nicht nur in Bezug auf spätere selbstverständliche Vergeschlechtlichungen, sondern auch im Hinblick auf das Theoriegenre, um das es sich bei den Emotionslehren handelt: diese sind wesentlich dadurch charakterisiert, dass ihre relativ knappen und die Vielfalt der emotionalen Phänomene nur unzureichend abdeckenden Definitionen durch ausführliche, empirisch-deskriptive oder auch traditionelles Material referierende Passagen ergänzt werden – Werkteile, deren anekdotischer Charakter sich sehr gut für plaudernde Auslassungen der meist männlichen Philosophen zu den Geschlechtern allgemein und insbesondere zum weiblichen eignen würden. Davon findet sich aber kaum etwas, und schon gar nichts Prinzipielles. Soweit ich das Material überblicke, lassen sich nur zwei Momente ausmachen, in denen Geschlechterzuweisungen eine gewisse Rolle spielen und ansatzweise tradiert werden.
E xplizite geschlechtliche Zuweisungen von Passionen Erstens gibt es von der Antike her eine Tradition, die Zorn und Begehren als die beiden Inbegriffe der Passion oder auch Hauptemotionen einander gegenüberstellt. Die nachhaltigste Fixierung dieser Zweiteilung wird von Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert vorgenommen, wenn er Zorn und Begehren als die beiden Unterarten des sinnlichen Strebens schlechthin versteht: er teilt das sinnliche Strebevermögen (appetitus sensitivus) und damit alle Passionen in die zwei Arten concupiscibilis und irascibilis, also in »begehrende« und »zornige« (Thomas von Aquin 1891: Q. 23). Dieser thomistischen Aufteilung bedienen sich viele scholastische und moralistische Passionstraktate bis ins 17. und 18. Jahrhundert. Thomas’ Aufteilung geht auf spätantike und frühmittelalterliche Aristoteles- und Platon-Überlieferungen zurück. Aristoteles bestimmt in seiner Seelentheorie das Strebevermögen der Seele als »Begierde (epithymía) und Zorn (thymós) und Wollen (boúlesis)« (Aristoteles 1995: II, 3, 414 b1 ff ). Das heißt, es gibt zwei Sorten sinnlichen, unvernünftigen Strebens – Begierde und Zorn – nebst dem vernünftigen Streben,
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dem Willen. Diese beiden Sorten des sinnlichen Strebens sind für Aristoteles zugleich die wichtigsten Passionen – Begierde und Zorn werden etwa in der Nikomachischen Ethik als zentrale Beispiele für Emotionen eingesetzt. Diese Unterscheidung hat nun eine geschlechtliche Konnotation, welche weder bei Aristoteles noch bei Thomas in den Emotionstheorien explizit auftaucht, wohl aber beim ursprünglichen Platonischen Vorbild. Platon hat selbst keine ausführliche Emotionslehre verfasst; in seinem »Timaios« erwähnt er aber das Thema und unterscheidet dabei zwischen unsterblichem und sterblichem Seelenteil: während ersterer im Kopf zu finden ist, ist letzterer im Körper, spezifischer in der Brust, angesiedelt und in ihm gibt es »mächtige und unumgängliche Leidenschaften (pathémata)« (Platon 1972: 69c-d). Diese sterbliche Seele ist aber ihrerseits wiederum in zwei Teile aufgeteilt: »Und da von Natur ein Teil von ihr besser, einer schlechter war, teilten sie wiederum die Höhlung des Brustkastens in zwei Räume, wie man die Wohnung der Frauen von der der Männer trennt, indem sie zwischen beiden das Zwerchfell als Scheidewand errichteten. Den Teil der Seele also, der an Mannheit und Zornesmut (thymós) teilhat und ehrgeizig ist, siedelten sie näher dem Kopfe, zwischen Zwerchfell und Hals an, damit er der Vernunft gehorche, und gemeinschaftlich mit ihr gewaltsam das Geschlecht der Begierden (epithymíai) im Zaum halte.« (Platon 1972: 69e70a).
Platon hierarchisiert also die leiblich-emotionalen Teile der Seele in vernunftnahen Zorn oder Mut (thymós) und vernunftfernes Begehren (epithymía), das die unteren und geschlechtlichen Dinge betriff t und er weist diesen eindeutig ein Geschlecht zu: Der vernunftnahe Zorn ist männlich, das vernunftferne Begehren weiblich. Die Hierarchisierung – nicht aber die explizite geschlechtliche Zuordnung – lässt sich bei Aristoteles zumindest stellenweise finden, etwa wenn er in der Nikomachischen Ethik dem Zorn größere Vernunftnähe als der Begierde zuspricht (Aristoteles 2001: VII, 7, 1149 a 25-b 26). Auch in spätantiken Texten wird sie gelegentlich aufgegriffen, inklusive der Geschlechtermarkierung etwa beim späten stoischen Philosophen und römischen Kaiser Marc Aurel, der sich wiederum auf den Aristoteles-Schüler Theophrast beruft: »In seiner ›Vergleichenden Untersuchung unmoralischen Verhaltens‹ sagt Theophrast auf philosophische Weise, wie man wohl üblicherweise derartige Vergleiche anstellt, dass die Verfehlungen aufgrund einer Be-
48 | C ATHERINE N E WMARK gierde (epithymía) schwerer wiegen als die Verfehlungen aus Zorn (thymós). Denn der Zornige setzt sich offensichtlich unter Schmerzen und in unbewusster Niedergeschlagenheit über die Vernunft hinweg. Wer aber aufgrund einer Begierde einen Fehler begeht und von Lust überwältigt wird, ist offensichtlich irgendwie ungehemmter und weiblicher in seinen Verfehlungen.« (Marc Aurel 1998: II, 10, 33).
In den neuzeitlichen Emotionslehren dürfte diese Unterscheidung wohl in neuplatonischen und eventuell auch neustoischen Kontexten wieder auftauchen; Beispiele sind mir aber nicht bekannt. Sie scheint hingegen bei denjenigen philosophischen Passionstheorien des 17. Jahrhunderts, die das Begehren als zentrale Emotion ansehen, keine Rolle mehr zu spielen: Hobbes’ oder Spinozas Auffassung des Menschen als begehrenden Triebwesens, dessen Streben nach Selbsterhaltung (conatus) sein Wesen ausmacht und mit dem Begehren (desire, cupiditas) zusammenfällt, ist nicht mit einer Feminisierung des Begehrens oder des durch diesen gesamthaft bestimmten Menschen verbunden. Als zweite explizite Geschlechterzuweisung einer Emotion in der philosophischen Passionslehre findet sich im 17. und 18. Jahrhundert sehr häufig die Zuschreibung des Weinens an das weibliche Geschlecht – wobei Weinen meist nicht als eigenständige Passion, sondern als Auswirkung der Passion der Trauer, manchmal auch des Zorns, verstanden wird. Hobbes weist es den Frauen zu: »women are more apt to weep than men« (Hobbes 1889: I, 9, 42). Descartes behauptet umgekehrt, aber sich offensichtlich auf einen Diskussionsstand beziehend, dass Weinen und Trauer nicht nur weiblich seien: »Ich gehöre nicht zu denen, die meinen, dass Tränen und Traurigkeit nur den Frauen zugehörten, und dass man sich zwingen müsse, immer ein ruhiges Gesicht zu zeigen, um als beherzter Mann zu erscheinen.«2 Wolff wiederum beiläufig, dass besonders Frauen weinen, wenn sie zornig sind (Wolff 1983: § 484). Die Begründungen für diesen Sachverhalt sind – zumindest im 17. Jahrhundert – noch fast immer sozialer Natur: bei Hobbes etwa wird die stärkere Geneigtheit von Frauen zum Weinen auf ihre größere soziale Abhängigkeit zurückgeführt. Deutlich normativer schon taucht der Topos dann bei Kant am Ende des 18. Jahrhunderts auf: »Lachen ist männlich, Weinen dagegen weiblich (beim Manne weibisch)« (Kant 1983: § 76). Neben diesen beiden nicht sehr weitreichenden Geschlechtermarkierungen lässt sich, soweit ich sehe, in den klassischen Passionstheorien keine explizite geschlechtliche Zuordnung der Emotionen fi nden. Auf impliziter Ebene kann allerdings sehr wohl von Vergeschlechtli-
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chung der Passionen gesprochen werden, allerdings von zwei unterschiedlichen.
Implizite geschlechtliche Konnotationen der Passionen Auf der einen Seite müssen Passionen über die Begriffskonnotationen, die sich aus ihrem Zusammenhang mit der Passivität ergeben, eigentlich als weiblich gelten: passio bedeutet ja gleichzeitig Leiden, Erleiden, Passion und Passivität; die Passionen sind begriffl ich als passive Phänomene konzeptualisiert. Passivität und Weiblichkeit werden aber wiederum seit Aristoteles zusammengedacht. Aristoteles beschreibt in seiner Naturlehre das Weibliche als »in seiner Natur schwächer und kälter« als das Männliche und »als eine natürliche Deformation« (Aristoteles 1953: 775 a 14-17). Das Weibliche ist für Aristoteles zudem »qua Weibliches leidend oder passiv«, während »das Männliche qua Männliches aktiv ist« (Aristoteles 1953: 729 b 13-14). In der Zeugungslehre geht diese Zuordnung einher mit der damit verwandten von Materie und Form: »das Männchen gibt die Form (eídos) und das Prinzip der Bewegung, das Weibchen aber den Körper und die Materie (hýle)« (Aristoteles 1953: 729a 10-12). Der männliche Samen ist mithin aktiv, formgebend und bestimmend, sein weibliches Pendant – bei Aristoteles das Monatsblut – ist passive Materie, die geformt und bestimmt wird. Der männliche Anteil an der Zeugung ist mithin wesentlich bedeutender als der weibliche (vgl. Sissa 1993; Newmark 2005). Diese Theorie ist für die Zeugungslehre insgesamt wenig plausibel, schließlich ist die Reproduktion von Säugetieren in all ihren sichtbaren Stadien durch das austragende und gebärende Weibchen dominiert (Laqueur 1990: 58f.). Sie scheint sich auch weniger auf die Beobachtung des Reproduktionsvorgangs als Ganzen zurückführen zu lassen, als auf ein im antiken Griechenland offensichtlich weit verbreitetes Verständnis des Sexualakts, in dem Aktivität und Passivität aus einer Logik der Penetration abgeleitet werden. Aristoteles spricht in der Nikomachischen Ethik davon, dass Frauen »nicht beschlafen, sondern beschlafen werden«, leitet mithin offensichtlich Aktivität und Passivität im Geschlechtsakt aus penetrieren und penetriert werden ab (Aristoteles 2001: VII, 6, 1148 b 31-33). Auch die griechische Institution der Knabenliebe scheint sich – zumindest dem Ideal nach – wesentlich auf die Unterscheidung von Penetrierendem und Penetriertem, von Liebhaber und Geliebtem, von Aktivem und Passivem gestützt zu haben. Die Vorstellung einer sexuellen und daraus folgend gesamthaften
50 | C ATHERINE N E WMARK Passivität des Weiblichen wird von Aristoteles vor allem in seinen zeugungstheoretischen Schriften theoretisch verfestigt; sie kommt aber auch in den meisten anderen philosophischen Bereichen zum tragen. Aristoteles’ Hierarchisierung der Geschlechter und ihre Assoziierung mit Aktivität und Passivität hat die abendländische Philosophie maßgeblich geprägt. Im Sinne dieser weitreichenden und stabilen Assoziierung von »passio« mit Weiblichkeit, eignet den Passionen zumindest unausgesprochen etwas Weibliches. Auf der anderen Seite lässt sich aber auch vertreten, dass die Passionen implizit männlich seien, sofern nämlich die Anthropologie der Passionslehren eine allgemeinmenschliche ist, das Allgemeinmenschliche aber fühlbar und ohne Skrupel als männlich gedacht wird. Ja mehr noch, die Beispiele der Passionstheorien gehen nicht nur implizit vom männlichen Menschen aus, sondern beziehen sich oftmals auch eindeutig auf männliche Lebenswelten: über weite Teile der Tradition werden diejenigen Emotionen privilegiert, die mit männlichen Lebenssituationen verbunden sind, vorrangig Furcht, Zorn und Mut als Phänomene, die Jagd und Krieg betreffen, also die männlichen – und aristokratischen – Hauptbeschäftigungen. In Aristoteles’ »Rhetorik« steht der Zorn (orgé) an erster Stelle und dient als wichtigstes Exempel, das in allen möglichen Sozialsituationen durchdekliniert wird. In seiner »Nikomachischen Ethik« kommt der eindeutig männlich konnotierte Zorn oder Zornesmut (thymós) wie bereits erwähnt neben dem Begehren als Hauptpassion und als häufigstes Beispiel vor. Auf den Zorn (mênis) des Achilles wird über die Jahrhunderte durchgehend Bezug genommen (z.B. Hobbes 1839: II, 12, 4, 31). Auch Descartes’ Passionstraktat spielt in einem männlichen Universum – und das obwohl es aus einem Briefwechsel mit Prinzessin Elisabeth von der Pfalz hervorgeht, in dem vor allem die gesundheitlichen und emotionalen Probleme der Dame diskutiert werden. Die Emotion, an der Descartes seine Konzeption vor allem illustriert, ist der Schreckaffekt, der beim Anblick des wilden Tieres auftritt (Descartes 1994: aa. 37ff ). Furcht, Mut und Zorn sind weitere wichtige Beispiele. Auch wo umgekehrt über das Begehren und vor allem das sexuelle gesprochen wird, ist, wie bereits festgestellt, die platonische Konnotation mit dem Weiblichen meistens nicht mehr aufzufinden, dafür aber ein stabil männlich gedachter Beispielskontext: Thomas Hobbes etwa fasst die Unterscheidung zwischen freundschaftlicher Liebe und sexueller Liebe lapidar als den Unterschied zwischen der Liebe zum Nachbarn und der Liebe zur Nachbarin und macht damit den implizit angenommenen männlichen Standpunkt sichtbar: »So pflegt man
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den Nachbarn in einem anderen Sinne zu lieben als die Nachbarin […].«3 In den Beispielen des 17. Jahrhunderts finden sich kaum weiblichen Lebenssituationen entnommene Emotionen und Beispielsträger ist fast immer der männliche Mensch; von einer Zuordnung der Emotionen zum weiblichen Geschlecht scheint die Passionstheorie mithin weit entfernt zu sein.
Riche-Sources Disputation über das Geschlecht der Passionen im 17. Jahrhunder t Weder aus den wenigen Geschlechtermarkierungen noch aus den impliziten Konnotationen kann bis hierher also Eindeutigkeit über das Verhältnis von Geschlecht und Emotion in den philosophischen Affektenlehren gewonnen werden. Aber auch da wo explizit nach Emotion und Geschlecht gefragt wird, etwa in minder abstrakten, rhetorischen, moralischen oder literarischen Texten, ist die Antwort nicht eindeutig. Ich möchte hier einen relevanten Text erwähnen, der einerseits beweist, dass – trotz der vornehmlich geschlechterneutralen und selbstverständlich männlich-menschlichen Passionstheorie – die Frage nach Geschlechtlichkeit der Passionen auch ab und an gestellt wurde, andererseits aber auch zeigt, dass in ihr keine Einigkeit herrschte. Es handelt sich um die Veröffentlichung von rhetorischen Debatten an der »Academie des Orateurs« des Sieur de Riche-Source aus dem Jahr 1661. Hier wird unter zahlreichen anderen Fragen auch verhandelt, »ob die Passionen der Frauen stärker seien als diejenigen der Männer«. 4 Interessant ist schon die Formulierung der Frage, die nicht darauf geht, ob Passionen Frauen eher zukommen oder grundsätzlich eher weiblich seien, sondern ausschließlich nach der Stärke fragt. Die Antworten fallen denn auch unterschiedlich aus. Sechs Redner äußern sich, drei bejahend und drei verneinend. Die Argumentationsmuster sind aufschlussreich. Alle Redner gehen grob von einer thomistischen Passionslehre aus, verstehen Passionen also als sinnliche Strebungen. Das am häufigsten angeführte Argument dafür, dass Frauen stärkere Passionen hätten, besteht im Hinweis auf ihre geringere Vernunft, geringere physische und psychische Kraft und geringere Erziehung, welche zu einer insgesamt geringer ausgebildeten moralischen Haltung, Resistenz gegenüber Passionen, Selbstbeherrschung und Möglichkeit zur Kontrolle der Passionen führe. Für die umgekehrte Meinung wird vor allem darauf verwiesen, dass Männer kraft ihrer insgesamt größeren Stärke auch mehr empfinden könnten: »[…] der Mann ist in seinem Wesen mehr dazu befähigt, Eindrücke zu empfangen und durch
52 | C ATHERINE N E WMARK die rüden Erschütterungen der Passionen bewegt zu werden als die Frauen.«5 Das erste Argument zielt auf den Umgang und die Kontrolle der Passionen, während das zweite direkter auf die Empfindung geht. Einige Redner führen die beiden Argumente in misogyner Absicht zusammen: wenn die Passionen grundsätzlich im Mann stärker seien, so habe er doch durch seine anderweitige Überlegenheit auch bessere Möglichkeiten, sie zu beherrschen (Riche-Source 1661: 386). Es gibt aber auch zwei feministisch argumentierende Redner, welche die beiden Argumente zwar ebenfalls benutzen, aber stark auf die soziale Konstituiertheit der Geschlechterdifferenz und ihre Abhängigkeit von tradierten Vorurteilen verweisen. Diese Redner bringen den mäßigenden sozialen Einfluss der Frauen, ihre Position als Vermittlerinnen und die gesellschaftliche Realität der Ehefrau als beruhigender heimischer Instanz gegenüber dem unbeherrschten, emotionalen und auf brausenden Haustyrannen in Anschlag, um zu vertreten, dass Frauen offensichtlich weniger von Passionen »in Mitleidenschaft« gezogen würden. Zum Schluss gibt der Moderator und Lehrer RicheSource selbst zur Auflösung der antagonistischen Positionen seine Lehrmeinung kund: an sich seien die Passionen in allen Menschen gleich; »par accident« hingegen folgten sie der ebenfalls akzidentellen »distinction du Sexe« und seien folglich stärker und schwächer je nach Stärke und Schwäche der geschlechtlichen Individuen (Riche-Source 1661: 392). Die ganze Diskussion ist wie man sieht insgesamt stärker moralisch als psychologisch ausgerichtet und interessiert sich mehr für den Umgang mit Passionen als für ihre Empfindung. Nicht wer stärkere Passionen hat, ist die wichtigste Frage, sondern wer die vorhandenen Passionen stärker zulässt.6 Diese Fokussierung der Debatte auf ihre ethische Dimension unterstreicht den gleichsam äußerlichen Charakter, der den Passionen eignet: obzwar psychologische Phänomene, sind sie doch weniger nah am Wesenskern des Menschen angesiedelt, als spätere Auffassungen der Emotionen. Sie betreffen den Menschen, aber bestimmen ihn nicht. Wenn Frauen mehr Passionen unterliegen sollten, dann nicht aufgrund einer ihnen eigentümlichen Emotionalität, sondern ausschließlich aufgrund ihrer mangelhaft ausgebildeten Rationalität und Moralität, einem vielleicht natürlichen, vor allem aber sozialen Problem. Wenn es also eine geschlechtliche Zuordnung der Passionen gibt, dann über den Umweg der geschlechtlichen Zuordnung der Vernunft. Schon die oben aufgeführte platonische Unterscheidung von männlichem Zorn und weiblichem Begehren beruht ja bei näherem Hinsehen auf der Zuschreibung von Vernunftnähe und
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Vernunftferne, nicht auf der Annahme eines intrinsischen geschlechtlichen Charakters dieser Emotionen. Aufgrund der bis hierhin aufgeführten Elemente muss den älteren Affektenlehren auf der explizit konzeptuellen Ebene eine weitgehende Geschlechtsneutralität der Passionen attestiert werden, während die implizit vorgenommenen Zuordnungen schwanken. Einzig auf Ebene der Handlungsethik kommen Vernunftnähe und Vernunftferne als geschlechtlich zugeschriebene Kriterien zum Tragen – von der platonischen Seelenteilung bis zu den akademischen Rhetorikdiskussionen des 17. Jahrhunderts.
Schluss Das Interesse an der Verbindung von Geschlecht und Emotion bleibt bis mindestens Mitte des 18. Jahrhundert relativ gering. Noch in der großen »Encyclopédie« von Diderot und d’Alembert, die den wissenschaftlichen Stand der Zeit ziemlich ausführlich referiert, findet sich 1765 unter dem Stichwort »Passions« überhaupt kein Hinweis auf die Geschlechter (Jaucourt 1765). Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wird die Geschlechterfrage allgemein und auch was die menschliche Emotionalität betriff t virulenter. Dabei kommt es einerseits mit dem »Gefühl«, der »Empfindung« und »Empfindsamkeit« zu einer – im Vergleich zu den moralisch immer als problematisch gesehenen Passionen – deutlichen Aufwertung des Emotionalen. Andererseits beginnt die dieser Aufwertung gegenläufige Zuordnung der Emotionalität an das weibliche Geschlecht. Sehr deutlich finden sich die beiden widersprüchlichen neuen Elemente bei Rousseau, der gleichzeitig die Emotionen Frauen zuweisen und sie als positive Phänomene Männern vorbehalten will. Die wahre Emotion sei dem in jeglicher Hinsicht überlegenen Mann vorbehalten, so liest man in einem Brief an d’Alembert, die Frau sei der tieferen Regung nicht fähig: »[…] die Schriften von Frauen werden soviel Geist haben, wie Sie wollen, aber niemals Seele; sie werden hundert Mal eher verständig als emotional sein. Sie wissen die Liebe selbst weder zu beschreiben noch zu empfinden.«7 Zugleich mit dieser behaupteten weiblichen Unfähigkeit zum Gefühl, lässt Rousseau aber auch in seinem geschlechterideologischen Hauptwerk »Emile« die Frau zur Passionsspezialistin werden. Die Argumentation ist hier allerdings weitgehend sozial: weil Frauen sonst machtlos sind, bleibt ihnen kein Einflussbereich außer der Manipulationen der Passionen der Männer, von denen sie abhängen. Die Verbindung von Weiblichkeit und
54 | C ATHERINE N E WMARK Emotionalität ist bei Rousseau also eher sozialstrategisch als natürlich (Rousseau 1969: 736-737). Auch Kant hat einen positiven Begriff der Empfindsamkeit, den er explizit mit Männlichkeit zusammenbringt, aber bereits scharf von »bloß leidenden« und implizit femininen Gefühlen abgrenzt: »Empfindsamkeit ist jener Gleichmüthigkeit nicht entgegen. Denn sie ist ein Vermögen und eine Stärke, den Zustand sowohl der Lust als Unlust zuzulassen, oder auch vom Gemüth abzuhalten, und hat also eine Wahl. Dagegen ist Empfindelei eine Schwäche, durch Theilnehmung an anderer ihrem Zustande, die gleichsam auf dem Organ des Empfindelnden nach Belieben spielen können, sich auch wider Willen afficiren zu lassen. Die erstere ist männlich: denn der Mann, welcher einem Weibe oder Kinde Beschwerlichkeiten oder Schmerz ersparen will, muß so viel feines Gefühl haben, als nöthig ist, um anderer ihre Empfi ndung nicht nach seiner Stärke, sondern ihrer Schwäche zu beurtheilen, und die Zartheit seiner Empfindung ist zur Großmuth nothwendig. Dagegen ist die thatleere Theilnehmung seines Gefühls, sympathetisch zu anderer ihren Gefühlen das seine mittönen und sich so blos leidend afficiren zu lassen, läppisch und kindisch.« (Kant 1983: § 62).
Im Laufe des 19. Jahrhunderts wird dann diese Hochschätzung maskuliner Emotionalität aufgegeben: »Während emotionale Befindlichkeiten um 1800 ihren Platz auf den vordersten Rängen des bürgerlichen Wertekanons inne hatten, büßten sie diese Vorrangstellung im Laufe des 19. Jahrhunderts zugunsten von Rationalität – nun offensichtlich als dualistisches Korrelat zu Emotionalität gedacht – ein.« (Trepp 2002: 97) Die Zuweisung von Emotionalität an das weibliche Geschlecht, welche sich im gleichen Zeitraum vollzieht, tritt zumindest zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch nicht als eine psychologische oder »charakterliche« Zuschreibung auf, wie man sie an dessen Ende findet, sondern argumentiert, wie historische Untersuchungen zum frühen 19. Jahrhundert nahe legen, traditionell auf der ethischen Ebene (vgl. Kessel 2000). Auch für die Geschlechterideologie des frühen 19. Jahrhunderts scheint die wesentliche Unterscheidung der Geschlechter im Gebrauch der Vernunft und in deren Maß zu liegen, nicht im Empfinden der Emotionen. Aktualisiert und weitergeführt wird damit die traditionelle Vorstellung weiblicher Vernunftferne, welche die Ideengeschichte seit Platon durchzieht. Vor diesem Hintergrund lässt sich vielleicht allgemein die Frage stellen, ob die bis heute anhaltende Verknüpfung von Emotionen und Weiblichkeit nicht etwa
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immer mehr als eine Abrede von Rationalität zu verstehen ist, denn als eine Zusprechung von Emotionalität.
Anmerkungen 1
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6
7
Wiederabdruck des Aufsatzes: »Weibliches Leiden – männliche Leidenschaften. Zum Geschlecht in älteren Affektenlehren.« In: Feministische Studien, H.1, S. 7-18. »Ie ne suis pas de ceux qui estiment que les larmes et la tristesse n’apartiennent qu’aux femmes, et que, pour paroistre homme de cœur, on se doive contraindre à monstrer tousiours un visage tranquille.« Lettre à Pollot, mi-janvier 1641. (Descartes 1964-1974: III, 278). »Itaque aliter vicinus, aliter vicina amari solet […].« (Hobbes 1959: II, 12, 8, 34). »Si les paßions des femmes sont plus violentes que celles des hommes.« Vingt-sixiesme conference de l’Academie (Riche-Source 1661: 383-392). »[…] l’homme en son essence estant plus capable de recevoir les impressions, & d’estre esmeu de ces rudes secousses des Passions, que les femmes.« (Riche-Source 1661: 385). Der Gleichheitstheoretiker François Poulain de la Barre, der unter anderem auch bei Riche-Source studiert hat, liegt ganz auf dieser Linie, wenn er in feministischer Absicht die Möglichkeit eines rationalen Zugangs von Frauen zu Passionen verteidigt und schreibt, dass Frauen ebenso fähig seien, ihre Passionen zu verstehen wie Männer (Poulain de la Barre 1984: 62). »[…] ils [sc. les écrits des femmes] auront tant d’esprit que vous voudrez, jamais d’ame; ils seroient cent fois plustot sensés que passionnés. Elles ne savent ni décrire ni sentir l’amour même.« (Rousseau 1995: 94-95).
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Selbst verhältnisse und Intersubjektivität
Geschlechtliche Liebe als Basis philosophischer Ethik – Reflexionen zu Christian Thomasius’ Konzept einer ›vernünf tigen Liebe‹ Frauke Annegret Kurbacher
»…, weil wir keine andere Tugend als die Liebe kennen, diejenigen Personen nur für tugendliebend zu achten seyn, die mit ihrem Tun und Lassen bezeugen, daß sie die Liebe lieben.« »Liebest du aber wahrhaff tig, so brauchest du keine Regeln, sondern die Liebe wird schon selbst dein bester Lehrmeister seyn.« Christian Thomasius
Motivation Emotionen gehören zusammen mit allen anderen menschlichen Kräften und Fähigkeiten, unseren Bedingungen und Möglichkeiten des Umgangs – mit uns selbst, dem und den Anderen sowie der Welt an. In einer Befragung von Emotionen und Affekten findet insofern Selbstverständigung statt, – klären wir uns selber auf. Dies triff t im abendländischen Kulturraum besonders auf Liebe zu, die – verstärkt durch den christlichen Einfluss – individuelle, gemeinschaftliche wie historische Selbst- und Fremdbilder in auszeichnender Weise prägt. Dabei wird Liebe aber bereits über den Aspekt des Affektiven hinaus als Konzept verstanden. In der Verständigung über die Differenzie-
62 | F RAUKE A NNEGRE T K URBACHER rungen, die Konstitution und Prägungen eines Begriffskonzepts wird so zugleich ganz pragmatisch, eine Auseinandersetzung mit Möglichkeiten, Grenzen und Widersprüchen eigener Lebenswelt vollzogen. Genau darin lässt sich die andauernde Aktualität der sozialphilosophisch relevanten Liebesthematik und ebenso der Thematik von »Emotion und Geschlecht«, ihrer »Codierung und Affektregulierung« begreifen. Die gegenwärtige Debatte ist durch grundlegende Infragestellungen, Überschreibungen bis hin zu Auflösungen aller fi xierenden Momente der Personenkonstitution gekennzeichnet – wie etwa bei der zunehmenden Befragung der ›Geschlechterzuschreibung‹ in ihrer sozialen Konstruktion oder in einem transitorischen Verständnis von ›Identität‹.1 In der Ethik, in der sogenannten »Liebesethik« des Begründers der deutschen Frühauf klärung, Christian Thomasius (16551728), findet sich hingegen ein Beispiel, in dem gerade philosophiekritischer und phänomenaler Gehalt aus dem Differenzquotienten gezogen wird. Die theoretische Einholung geschlechtlicher Differenz bezeichnet innerhalb eines religiösen, sittlichen, kirchlichen durch Sündenfalltheologie und -anthropologie geprägten Reglement keineswegs etwas Selbstverständliches. Genau nur über diese Differenz lässt sich aber das Geschlechtliche und das Erotische erschließen. Beides wird hier ein positiver Angelpunkt eines philosophisch-ethischen Konzepts.
Innovation ›Liebe‹ spielt nun im Selbst-, Fremd- und Weltverhältnis in der westlichen Hemisphäre u.a. genau deswegen eine hervorstechende Rolle, weil sie als Lebensinhalt, Lebensziel und auch als kritischer Maßstab verstanden werden kann. Ihr kommt im christlich geprägten Kontext – dem Christentum als ›Liebesreligion‹ – ein zentraler Status zu. Von einer jeweiligen theoretischen Auffassung von Liebe leiten sich daher nicht unwesentlich auch Vorstellungen vom Verhältnis der Geschlechter zueinander ab, die wiederum den praktischen Umgang miteinander beeinflussen und prägen. In dieser Hinsicht bildet der Entwurf einer praktischen Liebesethik von Christian Thomasius, die auf geschlechtlicher Liebe gründet, eine eigenständige Position, die im Folgenden umrissen und reflektiert wird. Mit Thomasius’ Konzept liegt genau insofern ein einmaliger Entwurf innerhalb der philosophischen Liebestheorien vor, als seine Überlegungen auf einem Verständnis geschlechtlicher Liebe basieren, die – im Zeitkontext keineswegs
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selbstverständlich – nicht nur Frauen im Allgemeinen, sondern die »Freundin« mit einbezieht (Thomasius 1995: 268). Anhand dieses emanzipatorischen Ansatzes des als Hauptbegründer der frühen Aufklärung im Deutschland des 18. Jahrhunderts geltenden Philosophen und Juristen,2 lässt sich darüber nachdenken, was es bedeutet, wenn nicht – wie bis heute üblich – die karitative Liebe als Basis betrachtet wird, sondern die geschlechtliche Liebe Grundstein einer Ethik ist. Hieran knüpft sich nicht nur eine Kritik der Geschlechterverhältnisse und Selbstverständnisse von bestechender Modernität, sondern auch eine ganz grundlegende an der eigenen Innung: Der Philosophie. An der von Thomasius vollzogenen Säkularisierung der Liebesvorstellung im 18. Jahrhundert lassen sich gerade im Hinblick auf eine aktuelle Diskussion von »Emotion und Geschlecht« viele Aspekte der von Thomasius darüber teils explizit, teils implizit vorgebrachten Kritik an geltenden philosophischen Traditionen und religiösen Prätexten fruchtbringend in Perspektive auf eine Philosophie einer letztlich als Interindividualität zu verstehenden Interpersonalität reflektieren. Auf Basis seines Konzeptes werden Selbst-, Fremd- und Weltbezug in produktiver Weise bedacht, wohingegen gerade die christliche Tradition eines Liebesbegriffs sich vielfach – und im Besonderen, wenn sie augustinischer Provenienz ist – konstitutiv in Widersprüchen vollzieht. Thomasius’ Liebesbegriff, wie er sich aus seiner »Einleitung zur Sittenlehre« (1692) erhellt, ist weltlich verortet und meint Liebe als Grundhaltung ebenso wie als spezifischen Affekt. Liebe teilt sich dabei in zwei Formen auf, die es zu kultivieren, zu korrigieren und zu verbessern gilt: Eine erstrebenswerte »vernünftige Liebe« und eine revisionsbedürftige »unvernünftige Liebe«. Sie gehen aber beide auf die Grundform Liebe zurück. In seiner Vorstellung von »vernünftiger Liebe« (Thomasius 1995: 253-313), die Freundschafts- und Liebesbegriff engführt, wird nicht nur Menschenliebe untereinander als allgemeine Menschenliebe wie auch als persönliche, individuierte, besondere Liebe vermittelt fassbar. Dadurch, dass Thomasius sie in geschlechtlicher Liebe begründet, werden Konkretion, Leiblichkeit und Individualität dem Theoretischen eingeschrieben. In diesem Sinn könnte mit Thomasius’ Ansatz in kritischer Absicht auch, eine von Michel de Montaigne und Jacques Derrida geforderte, aber bisher – aus ihrer Perspektive – noch nicht geschriebene Philosophie ihren Anfang nehmen, die unter dem der Philosophie inhärenten Begriff der philia nicht bloß ›Brüderlichkeit‹ und ›Kameradschaft‹ versteht.
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E xposition – Kurzer Aufriss von Thomasius’ Liebesmodell Als Hauptschriften seiner in zwei Teilen ausgearbeiteten Liebesethik können Thomasius’ »Einleitung zur Sittenlehre« (1692) und »Ausübung der Sittenlehre« (1696) gelten. Beide Schriften trennt ein herber Riss in der Auffassung des Willens, dem auch Liebe zugehört, der – kurz gesprochen – in der »Einleitung« noch als guter, oder doch zum Guten befähigt, angenommen wird, wohingegen in der »Ausübung« pessimistisch von einem schlechten Willen ausgegangen wird.3 Es handelt sich dabei um einen Umstand, der die Forschung bis heute beschäftigt, allzumal Thomasius’ Positionen in beiden Schriften in einer Weise divergieren, bei der der gesamte Versuch einer »Verbesserung« – wie ›Aufklärung‹ zeitgenössisch bezeichnet wird – auf dem Spiel steht. Im Folgenden sei weitgehend nur der in der »Einleitung zur Sittenlehre« vorgelegten Liebestheorie gefolgt, weil sich die auch für ein modernes Liebesverständnis maßgebliche Säkularisierung der Liebesauffassung vor allem dort vollzieht. 4 Der vorgestellte Liebesbegriff ist zweifach unterteilt. Einmal gibt es die allgemeine, sozusagen universelle Menschenliebe und dann die besondere, persönliche, individuelle. Thomasius geht hierbei von der anthropologischen Annahme aus, dass weder eine Selbst- noch eine Gottesliebe als vorgängig anzusehen sind, sondern Menschen qua Liebe natürlicherweise auf ›Andere‹ und damit auch spezifische ›Andere‹ bezogen sind.5 Die traditionell aus der Freundschaftsliebe bekannte Gegenseitigkeit und Wechselseitigkeit der Liebe wird auch hier angenommen. Weiterhin untergliedert sich Liebe, die sowohl als Tugend als auch als Affekt – oder übertragen und dabei vereinfachend gesprochen: Als Grundhaltung und als Gefühl angesehen wird – bei Thomasius in eine »vernünftige« und eine »unvernünftige« Liebe.6 Zur Vernünftigkeit von Liebe gehört z.B. die Wechselseitigkeit der Liebe, die Mäßigung der Affekte und der Leidenschaft, und eine damit zu erwirkende Gemütsruhe; zur Unvernünftigkeit hingegen zählt z.B. die unerwiderte, einseitige Liebe und fehlende Maßhaltung der Affekte, die entsprechend eine Unruhe des Gemüts zur Folge hat. Wichtig an dieser Exposition von Liebe ist u.a., dass die allgemeine Liebe und die besondere kein Konfliktpaar bilden, sondern bis hin zu einer gesellschaftlichen Vision, temperierender, vernünftiger Verbesserung in einander verschränkt gedacht und konzipiert sind. Die doppelte Annahme von Liebe als Haltung und als Affekt verbürgt sowohl allgemeine mögliche Geltung als aber auch eine Unerzwingbarkeit. Liebe kann nicht erzwungen werden, ist aber dennoch u.U. richtig und ge-
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recht. Sie folgt auch keiner Regel (Thomasius 1995: 276).7 Sie hat damit einen ganz eigenen anthropologisch gegründeten ethischen Status, der nicht auf einforderbaren Rechten beruht, aber als Liebeshaltung können gleichwohl Einübung und Verbesserung erwirkt werden. Weiterhin sticht heraus, dass mit der besonderen Liebe, persönliche Neigung und individuierte Verhältnisse in das theoretische Konzept mit aufgenommen werden, unter denen dann auch Konkretion und Geschlechtlichkeit von Liebe fallen und bedacht werden können.
Rahmungen Thomasius bietet mit seinem Liebesentwurf auch ein eklektisches Affektkonzept (vgl. Schneiders 1971; Engfer 1998), das sich im Feld von verschiedenen zu seiner Zeit wirksamen Affektenlehren konturiert, als deren letzter Vertreter er gilt. Hierzu zählen einmal die stoischen und epikureischen Affektenlehren, die auf Lust und Schmerz rekurrieren, die aristotelische Vorlage, einer Konzeption der philia sowie die damit verbundene Vermögenspsychologie, dann die cartesische, die letztlich von einer Unvereinbarkeit von Liebe und Hass, und damit einer Zweiteilung der Affekte ausgeht, und die augustinische Affektenlehre, die dagegen letztlich alles auf einen Affekt, ein als Liebe verstandenes Begehren (appetitus) zurückführt. Interessant und problematisch ist die letztgenannte Vorlage aber vor allem deswegen, weil mit Augustinus als Begründer der Autobiographie ein Individualitätsdenken anhebt, dessen Entwicklung mit einer Liebeskonzeption konstitutiv verknüpft ist. In Thomasius’ Entwurf verbinden sich teilweise in kritischer Absicht, teilweise wohl auch unreflektiert verschiedene der genannten Komponenten. Thomasius rekurriert – in Kritik wie in Anlehnung – in seiner sogenannten Liebesethik sowohl auf Aristoteles als auch auf Augustinus, und damit auf zwei folgenreiche Expositionen von Freundschaft und Liebe im abendländischen Kulturraum. In seinem eigenen Entwurf wird er beide, Liebe und Freundschaft, die sich maßgeblich durch christlichen Einfluss zu zwei verschiedenen Konzepten entwickelt haben, deren begründendes Unterscheidungskriterium nunmehr – anders als in den Anfängen – erotische Sinnlichkeit geworden ist, unter reflektierender Anerkennung gerade des erotischen Exklusionsmoments wieder stärker zusammenführen. Insofern handelt es sich bei seinem Versuch um eine Verweltlichung des Liebeskonzepts, auf das die christlich-religiöse und theologische Tradition besonderen Anspruch erhebt. Von frühaufklärerischer Warte aus be-
66 | F RAUKE A NNEGRE T K URBACHER trachtet, ist der religiöse und kirchliche Prätext so stark und bedarf allein daher einer kritischen Überprüfung und einer Säkularisierung dieser für Ethiken zentralen Thematik. Freundschaft und Liebe sind in dieser Verbindung ausdrücklich im Konzept einer »vernünftigen Liebe« zusammen- und enggeführt (Thomasius 1995: 253ff.). In dieser Angleichung von Freundschaft und Liebe im Konzept einer »vernünftigen Liebe«, zeigt sich Thomasius sowohl von Aristoteles, aber auch von der französischen Tradition, im Besonderen französischen Romanen beeinflusst.8 In seiner Bestimmung der Liebe als einer Kraft, die selbst noch den schlechtesten Charakter über sich selbst auf den Anderen hin hinauswachsen lässt, zeigt sich eine Präferenz für die augustinische Vorstellung, Liebe als einen grundlegenden Affekt anzunehmen, aus dem auch die anderen abgeleitet werden können. Einen Grund für die Beschäftigung in der Frühauf klärung mit etwas Kontingentem wie der Geschlechtlichkeit und den Affekten innerhalb einer seit der Antike eher auf das Allgemeingültige und Dauerhafte ausgerichteten Philosophie, findet sich erstaunlicher Weise in einem Vorläufer, auf den gerade in Bezug auf die folgenreichen Einstufungen des Körperlichen und Leiblichen heute eher kritisch zugegriffen wird, nämlich bei Descartes. Die philosophisch zentrale cartesische Rückwendung auf das denkende Ich, aus der selbstbestimmte Autonomie und Freiheit abgeleitet werden, wird frühaufklärerisch ganz konkret und personal als Rückwendung auf denjenigen verstanden, der denkt. Dies dient im Vergleich zum cartesischen Konzept nun einer nur auf Basis von Historizität und Konkretion möglichen eigenen Standpunktbestimmung und kritischen Situationsanalyse, die ihren philosophisch programmatischen Ausdruck im sogenannten »Selbstdenken« findet, das Thomasius im Rahmen einer praktisch orientierten Philosophie entwirft (Thomasius 1998: 306). Dieser Philosophie des Selbstdenkens, die wesentlich durch praktizierte Vorurteilskritik gekennzeichnet ist, sind nun Kontingenz und Konkretion und mit ihnen Affektives und Geschlechtlichkeit von Personen eingeschrieben. Diesen Zug arbeitet vor allem ein Schüler von Thomasius, Johann Georg Walch, deutlich und relativ systematisch heraus (vgl. Kurbacher 1998). Beide tragen damit etwas zu einer bis heute in der Philosophie weitgehend vermissten Grundlegung einer Theorie von Interpersonalität bei. So finden sich einerseits Einflüsse bei Thomasius, die die individualisierenden Aspekte an Liebe deutlich hervorheben, zugleich werden ihnen jedoch – mit den Vorstellungen von Mäßigung und Temperierung – Therapeutika an die Seite gestellt, die die allgemeine und besondere, sozusagen die vernünftige Liebe selbst, in Balance
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halten, damit sie überhaupt als vernünftig gelten kann. Dies markiert vielleicht am deutlichsten den besonderen ›aufklärerischen‹ Zug an diesem Liebeskonzept, dessen Zusammentreffen von Vernünftigkeit und Liebe im Ausdruck der »vernünftigen Liebe« bereits das Therapieprogramm umreisst, und zwar als mögliche Einflussnahme der Vernunftkräfte auf den Liebeswillen, eine Einschätzung, die er schon in der »Ausübung der Sittenlehre« fallen lassen wird.9 Die hier mit Aristoteles und Augustinus bezeichneten, Liebesverständnisse von Reziprozität und Streben, gehören beide dem Liebesphänomen an und finden auch Eingang in Thomasius’ Konzeption. Die Gleichheit und Wechselseitigkeit macht die Basis der Vernünftigkeit bei dem gleichnamigen Liebestypus aus, das Streben zeigt sich wiederum im Liebeswillen, auf dem diese philosophische Konzeption und ihre Möglichkeit zur Verbesserung ruht. Im Verständnis der »Einleitung zur Sittenlehre« werden Vertrautheit und Zärtlichkeit philosophisch relevant, wie sie sich dann teilweise für den französischen Kontext auch im amour sensible gefasst finden. Thomasius’ »vernünftige Liebe« beruht auf Zuneigung, und zwar »Vereinigung der Herzen und Seelen«, »Vertraulichkeit und Weichherzigkeit zwischen zweyen Personen unterschiedlichen Geschlechts«, die auch deren »Vermischung«, d.h. Erotik und Sexualität mit einbezieht und bedenkt (Thomasius, 1995: 325; 262). Und hierbei kommt offenbar beides zum Tragen: Thomasius’ Vorstellung von Liebe als Grundhaltung, in der die Seelen nicht, sondern nur die Körper unterschieden sind, und Liebe als Affektives, in dem es eben doch auf diesen Unterschied ankommt. Bei der auszutarierenden Balance im Sinne von Vernünftigkeit geht es theoretisch und praktisch offenbar um die Vorstellung eines Liebeskonzepts, in dem Allgemeines und Besonderes, wenn nicht immer schon vermittelt, so doch als grundsätzlich vermittel- und vereinbar angenommen werden.
Problematik Besonders der christliche Einfluss auf Liebes- und Affektentheorien erweist sich als problematisch, – und zwar in Bezug auf das eigene Selbstverhältnis und insofern auch als Grundlegung für das Verhältnis zu anderen, obwohl gerade eigener theoretischer Anspruch auf christliche Nächstenliebe erhoben wird. Die Notwendigkeit einer aufklärenden Veränderung sowie die Errungenschaften, die hier durch säkularisierende Verschiebungen erwirkt wurden, sind vielleicht nur
68 | F RAUKE A NNEGRE T K URBACHER sichtbar, wenn die gravierenden theoretischen Schwierigkeiten noch einmal explizit in den Blick gerückt werden. Folgenschwer an der christlichen theoretischen Liebestradition, die sich stark und später auch für beide Konfessionen durch Augustinus geprägt zeigt, ist Dreierlei: Ein problematisches Selbstverhältnis, ein fehlender genuiner Entwurf von Interpersonalität, d.h. ein Verhältnis zum ›Anderen‹, das nicht nur sekundär von einer Gottesliebe abgeleitet, sondern als grundlegendes angenommen wird, sowie eine problematische Auffassung zur Leiblichkeit und zu körperlicher Liebe (zunächst einmal wegen ihrer fehlenden Dauerhaftigkeit und nicht auf Grund von Sexualität), die wiederum Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis hat. Gleichzeitig sind aber durch die augustinischen Grundlegungen der Subjekt- als Individualitätsdiskurs mit der Liebesvorstellung wirkmächtig verschränkt, weil der sich selbst zur Frage Gewordene nur in der Suche nach Gott und der Liebe zu ihm, sein Selbst zu finden vermag. Die problematische Pointe besteht jedoch darin, dass diese Selbstfindung nur unter Selbstverzicht vollzogen wird. So scheinen das Konzept der Liebe und das des Subjekts in einer derart eigenartigen Widerspenstigkeit aufeinander bezogen, die für den christlich abendländischen Kontext ein kritisches Bedenken erfordert. Die bereits zuvor bemerkte Rückführung aller Affekte auf ein als Begehren verstandenes Lieben (appetitus) erfährt gleichwohl im Sinne einer Liebesordnung (caritas ordinata) eine wertende Einstufung je nach dem Ziel, auf das sich dieses begehrende Lieben richtet. Da Gottesliebe als einziges, wahres Ziel erklärt wird, die sich allerdings weltlich gar nicht erlangen lässt, sondern nur jenseitig, sieht das augustinische Konzept in seiner Aufteilung von falschem und richtigem Lieben keine gelingenden weltlichen Möglichkeiten vor. Genau dies bildet ein einschneidendes Problem, denn die Verlegung des Liebesziels ins Außerweltliche hat notwendig eine Abwertung alles Weltlichen und damit auch den Gefühlen, den konkreten Verhältnissen zum Anderen, des Leiblichen etc. zur Folge. Hannah Arendt hat in besonderer Weise auf diese intersubjektive und interpersonelle ›Lücke‹ im Ansatz des Kirchenvaters Augustinus hingewiesen und seine Position mit ungeheurer Schärfe als eine Liebesauffassung kritisiert, in der der Nächste bloß als Mittel zur im Jenseits erhoff ten Gottesliebe funktionalisiert werde und vor allem, dass dementsprechend in der Welt mit dieser Liebeskonzeption kein gemeinschaftliches Leben (vita socialis) zu gestalten sei (Arendt 2006: 75ff; Kurbacher 2006: XI-XLIV).10 Zugleich gilt es aber, neben dieser kritischen gemeinschaftlichen, interpersonellen Perspektive, auch der
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Selbst- und Liebesverschränkung noch weiter kritisch nachzugehen. Denn nach Augustinus kann die erstrebte Gottesliebe nur unter Maßgabe einer positiv verstandenen Selbstverleugnung erhoff t werden. Es wäre also dringend zu fragen, ob es nicht eine Konzeption geben könnte, die ein Liebes- und Subjektivitätskonzept auch in interpersoneller Hinsicht glücklicher zu vermitteln wüsste, und ob dies bei Thomasius nicht bereits der Fall ist. So ist ein Teil der Widersprüchlichkeit im christlichen Kontext deutlich und an Augustinus’ Liebeskonzeption greif bar geworden. Diese Widersprüchlichkeit tritt gerade dann klar zutage, wenn kontrastierend ein anderes signifi kantes Liebeskonzept – wie das von Christian Thomasius – dagegen gehalten wird. Er bietet in diesem Zusammenhang einen kritischen Reflex; zwar teilt er einige Widersprüche der hier mit Augustinus in den Blick gerückten christlichen Tradition, aber gleichzeitig entwirft sein einmaliges Konzept einer Liebesethik, die die erotische Liebe zur Grundlage hat, ein gänzlich anderes Verhältnis zum ›Anderen‹ als das in dem augustinischen Ansatz zu kritisierende.11 Vor dem augustinischen Hintergrund und im Hinblick auf die genannte Fragestellung nimmt sich der Versuch von Thomasius noch einmal besonders aus und hebt sich spezifisch ab. In der Aufteilung der Liebe in eine vernünftige und eine unvernünftige findet sich wohl noch der Widerhall jener auch augustinischen Zweiteilung von richtiger (auf Gott ausgerichteter) und falscher (auf Welt bezogene) Liebe. Doch Thomasius’ Einteilung von Liebe ist durch die anthropologische Grundlegung, in der er sich ausdrücklich einer christlichen »Selbstverläugnung« widersetzt (Thomasius 1995: 10), gänzlich im Weltlichen verortet. Sie wird in ihren weltlichen Wirkungen reflektiert und ist dort auch veränderbar und verantwortbar. Thomasius greift durchaus auch hierfür auf eine Argumentation zurück, die Augustinus in seiner Liebesphilosophie entwickelt. Es handelt sich um den Selbstzweck, der als höchste Wertschätzung für Freundschaft und Liebe seit der Antike gilt, bei Augustinus aber allein Gott zugeschrieben wird. Gott ist aber nicht nur Inbegriff des ewigen Lebens, sondern der Liebe selbst, daher kommt es zu einer selbstreflexiven Doppelung. In der Liebe wird letztlich die Liebe geliebt. Dieser Gedanke und diese Begründung von Eigenständigkeit begegnet bei Thomasius auch, ist aber auf Menschen bezogen, und zeigt im kritischen Reflex, dass in der Liebe keine vorgeschriebenen Regeln gelten, sondern dass sie derer bedarf, die tätig lieben (Thomasius 1995: 276).
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Verschiebungen Die Grundkonstellation für Thomasius’ Entwurf einer Sittenlehre, einer Ethik, basiert durchaus auch u.a. auf christlicher Lehre, setzt jedoch – anders als Augustinus – nicht das Verhältnis Mensch – Gott zum Grund, und auch nicht einfach das von Mensch zu Mensch, sondern das von Mann und Frau. Damit werden Körperlichkeit und Andersartigkeit in dieser Konzeption von vornherein gänzlich anders akzentuiert. Das Liebesmodell ist somit nicht mehr karitativ im engeren Sinn, sondern ein erotisches im Weiteren. Dieses Modell setzt letztlich Mann und Frau als ebenbürtig voraus und fordert ihre Ebenbürtigkeit auch dort ganz pragmatisch und politisch ein, wo sie gesellschaftlich noch nicht verwirklicht ist. Deswegen ist es beispielsweise nur folgerichtig, dass Thomasius auch Frauen an die Universitäten und somit gleiche Bildungsmöglichkeiten für beide Geschlechter fordert, bzw. diese schon im eigenen Philosophieren und Lehren zu realisieren sucht (Thomasius 1998: 13). Wenn das Verhältnis Mann – Frau als Grundlage dient, dann konzentriert sich die philosophische Aufmerksamkeit nicht auf die Andersartigkeit von Gott und Mensch, sondern auf die genauso uneinholbare, aber hier eben unter Menschen innerweltlich bestehende Differenz, die gerade das Phänomen ›Liebe‹ ermöglicht und insofern dafür konstitutiv ist. Diese Liebe entwickelt sich in Zuneigung zu dem- oder derjenigen, der- oder diejenige ich nie sein kann. Die eigene subjektive Fragilität und Labilität, deren Ursache menschliche Unvollkommenheit ist, zieht nicht in ein unendliches, letztlich nie erfüllbares Liebesverlangen nach Unendlichkeit und Vollkommenheit, sondern ist Grund eigener Möglichkeit zu lieben. Zwar unterscheidet auch Thomasius zwei Liebesarten, in denen sich durchaus Spuren der uns hier durch Augustinus nahegelegten zweifachen Ausführung der Liebe finden: Die unvernünftige und die vernünftige Liebe, doch bezieht sich diese Liebeskonzeption nicht auf eine Teilung von Weltlichkeit und Abkehr von der Welt, sondern auf einen spezifischen Umgang mit den eigenen Affekten und denen anderer. Es handelt sich bei Thomasius daher letztlich um einen – im Vergleich zu Augustinus – säkularisierten Liebesbegriff, der seine Möglichkeiten gänzlich und ausschließlich in das Weltliche verlagert, ohne es als zu Überwindendes darzustellen. Insofern findet sich bei Thomasius ein gutes Stück einer Theorie von möglicher weltlicher Gemeinschaft, wie sie das augustinische Liebeskonzept, nicht nur wegen der transzendenten Ausrichtung seiner Konzeption, sondern im Besonderen wegen des problematischen Selbstbezugs in der geforderten Selbstverleugnung nicht
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einzulösen vermag.12 Freilich ist die Selbstliebe auch nach Thomasius nicht allzu wohl gelitten, aber dadurch doch in Maßen zugestanden, dass Menschen von ihm – ganz aristotelisch gedacht – grundsätzlich als Personen innerhalb von Gemeinschaften begriffen werden. So trägt eine Person z.B. Sorge um ihre Gesundheit, um ihren Lieben und Nächsten keinen Kummer zu bereiten etc.13 Die Person und ihre Individualität, die sich gerade auch in ihren Gefühlen zeigt, werden hingegen nicht verleugnet, sondern dieselben dienen immer als Ausgangspunkt der Betrachtung und der intendierten Verbesserung respektive Aufklärung. Offenbar bietet vor allem der Umgang mit dem geliebten ›Anderen‹ eine Konturierung des eigenen Affektprofi ls, dessen Analyse damit zugleich Auskunft über die notwendigen eigen-therapeutischen Maßnahmen gibt, – wenn z.B. versucht wird, mit einer Angst umzugehen, um etwa mutiger zu werden, oder wenn im Fall von Unbeherrschtheit versucht wird, sich zu mässigen. Dies sind Maßnahmen, die jedoch nur vor dem Hintergrund einer Wertschätzung der Vorstellung von Liebe wiederum Sinn erlangen. Dies wird in der Regel um anderer Willen, anderen zuliebe getan. Darin sieht Thomasius das Wesen des Menschen begründet, in dem es »in nichts anders als einer tugendlichen Liebe anderer Menschen bestehe/und daß […] alle Menschen auch sogar die Lasterhaff testen andere Geschöpfe würcklich mehr lieben als sich selbst« (Thomasius 1995: 88). Dieser pragmatische Zugriff auf das Liebeskonzept stellt ein integratives Modell von Liebe und Person dar, deren Subjektivität kein Eigenzweck, aber als Individualität und Persönlichkeit – kurz: als Differenzwert – im Sinne möglicher Aufklärung sehr wohl anerkannt und konstitutiv ist. Vieles an einer auch noch aktuell zurecht eingeforderten Intersubjektivität respektive Interpersonalität im Liebesdiskurs findet sich so im eigenständigen Ansatz einer Liebesethik bei Christian Thomasius, der interindividuell lesbar wird. Besonders deswegen, weil er im Unterschied zu allen Entwürfen, seine Konzeption nicht einfach auf ein Verhältnis von Personen untereinander gründet, sondern explizit auf das erotische Verhältnis von Mann und Frau.14 Damit sind Eigenheit und Andersartigkeit besonders in Form von Leiblichkeit konstitutiv in die Anlage seiner Liebesethik eingegangen. Sie bilden den Grund für ihre Schwierigkeiten wie aber auch für die mögliche und erstrebte Zuneigung und Liebe. Später werden die Figuren des ›Anderen‹ und ›Fremden‹ im Besonderen in der innerhalb der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts vorgebrachten Subjektkritiken herausgearbeitet und bedacht. So können diese Figuren des ›Anderen‹ und des ›Fremden‹ auf das Selbstverhältnis zurück reflektiert werden
72 | F RAUKE A NNEGRE T K URBACHER und aufzeigen, dass sie so auf das Unverfügbare hindeuten, dem wir selber angehören. Das ›Fremde‹ und ›Andere‹ ist uns selbst unverfügbar eigen (vgl. Kristeva 1990; Waldenfels 1997; 2006).15 Bei Thomasius liegt also eine konstitutive Einbeziehung der Geschlechtlichkeit vor, aus der geradezu ›selbstverständlich‹ praktische Forderungen nach Gleichberechtigung und Bildung folgen.
Folgerungen Die Selbstverleugnung hat im christlichen Kontext, zurückgehend auf Augustinus, der sie affirmiert und ausdrücklich fordert – generiert zu einer Bedingung für die ›richtige‹ Liebe – durchaus einen Platz. Selbst ihre Erlangung ist jedoch letztlich wieder als Gnadenakt zu verstehen. Thomasius wendet sich in seiner Vorrede der »Einleitung zur Sittenlehre« dezidiert gegen eine solche Auffassung, er wolle schließlich niemanden zu »Christen«, sondern »zu Menschen machen«, denn wie könne überhaupt von Gottesliebe gehandelt werden, »wenn nicht einmal der Bruder geliebt wird« (Thomasius 1995: 4). Er vertritt in der anthropologischen Grundlegung seiner Liebesethik eher eine gemäßigte Position bezüglich des Selbstverhältnisses, in dem auch ein Absehen von der eigenen Person, aber im Sinne einer Selbstlosigkeit gewertschätzt wird. Aber auch wenn Thomasius ein viel freundlicheres und lebenszugewandteres Konzept vorlegt, findet selbst er nicht ausdrücklich zu einer positiven Konzeption von Selbstannahme wie sie beispielsweise Aristoteles in seiner Auffassung der philia in der »Nikomachischen Ethik« vorgibt. Für Thomasius gereicht im Grunde ebenso noch das selbstverleugnende, selbstübersteigende, selbstvergessende Moment der Liebe zur besonderen positiven anthropologischen Auszeichnung des Menschen. Es wird überdies zum egalitären Moment zwischen Menschen, denn sich selbst vergessen und sich selbst übersteigen können – nach Thomasius – alle in der Liebe, gute wie schlechte Charaktere. Dies deutet sowohl auf einen Zug am Menschen wie auch auf eine besondere Befähigung, die durch das Erleben von Liebe aufzuleuchten scheint und daher dem Phänomen selbst zugeschrieben werden muss. Gänzlich anders jedoch erfolgt die Einstufung der zu erlangenden »Gemütsruhe« und damit des Begehrens selbst. Sie wird bei Thomasius stärker mit epikureischen Anleihen versehen und damit dem direkten Bezug auf Gottesliebe enthoben und letztlich säkularisiert. Unvernünftige Liebe sucht unruhiges Vergnügen, vernünftige ruhiges, beide aber lassen sich in der Welt finden. Liebe als Haltung bezieht sich immer ›nur‹ auf den zwischenmensch-
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lichen, interpersonellen Kontext und kritisch selbstreflexiv auf den innersubjektiven Zusammenhang; und das Gleiche gilt für das Begehren. Die positiven wie negativen Ausformungen eines jeden Menschen bilden jene Basis, auf der jeder beginnen kann, das eigene Leben zu verbessern, sie bilden das Sprungbrett zur (Selbst-)Aufklärung. Wie auch schon bei Aristoteles darf für die beste Form der Liebe und Freundschaft, Lust keine alleinige Begründung derselben sein, aber gebilligt ist sie darin sehr wohl. Über die geschlechtliche Differenz tritt der ›Andere‹ in besonders verletzbarer Andersheit, seiner Körperlichkeit hervor, was die Modi des Vertrauens und der Zärtlichkeit in den philosophischen Stand der Reflexion erhebt. Bei Thomasius gehen im besten Fall die Vereinigung der Seelen mit dem Wunsch nach der »Vermischung des Leibes« zusammen, letztere sind »Proben von der Zuneigung« (Thomasius 1995: 181f.). Es lassen sich noch weitere entscheidende Ergebnisse aus Thomasius’ einzigartigem Versuch ziehen, sein Konzept von Sittlichkeit auf die geschlechtliche Liebe zu gründen.16 Mit seiner auf Geschlechtlichkeit basierenden Liebeskonzeption wird nicht nur der Liebesbegriff neuzeitlich säkularisiert, sondern es tritt in eigener Weise der Bezug zum ›Anderen‹ hervor. Geteilt wird das Menschsein, insofern ist der ›Andere‹ nicht fremd, aber dadurch, dass er als ›Anderer‹ des anderen Geschlechts gesucht wird, 17 ist er doch auch fremd und uneinholbar der ›Andere‹. Uneinholbar der ›Andere‹ ist er vor allem über die andere Geschlechtlich- und damit Körperlichkeit, die aber zugleich nur zusammen mit der ebenso emotionalen wie rationalen Anders- und Eigenheit des ›Anderen‹ Anlass empfundener Zuneigung ist. Jede Eigenheit weist sich so letztlich als Andersheit aus und ist zugleich Voraussetzung für mögliche Liebe. Auf diese Weise sind auch Emotionalität und Körperlichkeit von vorne herein grundlegende Bestandteile dieser Liebestheorie. Insofern tritt mit dem thomasianischen Konzept einer Haltung der Liebe durchaus der Bezug zur Denkfigur des ›Anderen‹ und zum ›Fremden‹ konstitutiv, und keineswegs abstrakt, sondern konkret zu Tage. Denn genau eine weltliche, persönliche Verbindung zwischen zweien – und daher auch immer prüfungsbedürftig – wird nun zum Anwärter für die seit Augustinus in einer bestimmten Haltung gesuchte Gemütsruhe. Diese ursprüngliche, bei Aristoteles auf eine Daseinsbestätigung zielende Struktur von Liebe und Freundschaft behält ihr Moment des Affirmativen, aber im Laufe der Rezeption wird ihr Gegenstand und damit die Zuweisung von Selbstzweckhaftigkeit zunehmend beliebiger bis hin zur Loslösung des Liebes- vom Haltungsdiskurs seit Kant. Die Zuschreibung von Selbstzweck kann eben auch zur regelrechten Willkürformel ausarten. Genau dieses Gefahrenpotential wähnt Tho-
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Quer verbindungen In dieser Hinsicht ist es so verständlich wie besonders aufschlussreich, dass Thomasius einer der Philosophen ist, vielleicht bisher der einzige, der ausdrücklich von einer »Freundin« und nicht bloß vom Freund spricht (Thomasius 1995: 268).18 Bei Michel de Montaigne, ist genau die Freundin – auch aufgrund der geltenden Normen, Sittenvorstellungen und gesellschaftlichen Umstände – in seinem berühmten Essay »De l’amitié« noch unerreichbare Freundschafts- und Liebesutopie, die erst in einem Zusammenschluss von Freundschaft und Liebe erreicht wäre.19 Vorerst kommt er jedoch nur zu folgendem traurigen Ergebnis: »Die Liebe zu den Frauen kann man, obwohl sie ebenfalls unserer Wahl entspringt, genausowenig mit wahrer Freundschaft vergleichen noch überhaupt dieser Rangstufe zuordnen« (Montaigne 1962: 202; 1998: 289; Eichler 2000: 86f.). Montaigne, hat damit Jacques Derrida berechtigten Anlass zur Kritik an aller Freundschaftsphilosophie,20 aber auch Philosophie überhaupt gegeben, die die philia konstitutiv in ihrem Namen trägt (Derrida 1994: S. 159ff.). Und zwar, weil sie letztlich bislang nur unreflektiert in Form von ›Brüderlichkeit‹ und ›Kameradschaft‹ auftrat. Als vollständige, beide Geschlechter umfassende, wäre sie allererst noch zu denken und auszuarbeiten. Damit stellt sich die Frage nach dem Status von Emotion, Geschlecht- und Leiblichkeit noch einmal über den zumeist und unzureichend als Freundschaft verstandenen Begriff der philia als konstitutive Generalfrage für Philosophie überhaupt (vgl. Kurbacher 2008). Ein guter, kritischer Anfang für dieses noch weiter zu Denkende ist mit Thomasius’ Entwurf einer »vernünftigen Liebe« gemacht und liegt mit seiner Liebeskonzeption vor.21
Ausblicke Bei aller Singularität, die Thomasius gleichwohl großzügige Anlage seiner Liebesethik haben mag, ist doch eine Reflexion auf die progressive Einzigartigkeit seines ethischen Versuchs und Vorstoßes im Punkt der geschlechtlichen Liebe philosophisch weittragend.
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Zurecht wird wohl daran festgehalten – auch entgegen allem empirischen Mißlingen, dass gelebte Partnerschaften zu einem guten Leben gehören. Es bedarf ihrer zur Selbstkonstitution, die grundlegend ein interpersonelles Geschehen ist. Hierbei darf der Bezug zum ›Anderen‹ in seiner Leiblichkeit bis hin zum körperlichen Austausch, oder der »Vermischung der Leiber« wie Thomasius es in Anlehnung an den antiken Gebrauch nennt (vgl. Gödde 2009: 18), nicht fehlen, weil daran – wie sonst kaum – das Selbst als Option in seinem transgressiven Potential so sichtlich und produktiv wird. Mit dem Thema Liebe verbindet sich in ethisch-sozialphilosophischer Perspektive die Vorstellung, gemeinsames Leben, ob als Paar- oder Gemeinschaftsbeziehung gedacht, nicht nur auf, in und durch Abhängigkeiten gegründete funktionale Zusammenhänge zu bauen. Thomasius’ Liebesethik steht im Zusammenhang mit der praktisch wie theoretisch zu stellenden Frage: ›Wie wollen wir mit einander leben?‹ Die konkrete wie theoretische Dimension des geschlechtlichen Liebesbegriffs erschließt sich in dieser freien Weise allerdings nur, wenn Liebe nicht nur als Emotion oder als bloßes Begriffskonzept verstanden wird, sondern als Liebeshaltung, in der sich eine Person in ihrer interpersonell verfassten Lebensweise verantwortlich zeichnet. Bei der Frage nach der Codierung von Emotion und Geschlecht geht es im Anschluss an Thomasius eher um eine Codierung von Geschlechtlichkeit überhaupt in anthropologischer Hinsicht. Allgemeines und Besonderes fügen sich hier ineinander, denn Geschlechtlichkeit kommt jedem in prägender Weise zu, – sie ist nicht neutral. Noch Sarah Kofman, als eine philosophische Stimme der Postmoderne im 20. Jahrhundert, wird in ihren grundsätzlichen auch auf das 18. Jahrhundert rekurrierenden Überlegungen zur Philosophie etwas zu bedenken geben, das an ein frühaufklärerisches Verständnis anknüpf bar ist. Es sei ganz gleich, »ob man der Autor eines ›Erziehungsromans‹, eines philosophischen Systems oder eines psychoanalytischen Werks mit wissenschaftlicher Prätention ist«, in jedem Fall ist man »niemals ein transzendentales oder objektives, sexuell neutrales Subjekt« (Kofman: 1986: 36).22 Ein Ansatz thomasianischer Provinienz ist dieser Art konkreten Differenzdenkens verhaftet und verpflichtet.
Anmerkungen 1
Siehe hierzu die nach wie vor maßgeblichen und den Diskurs bis heute prägenden Überlegungen von Butler 1991 und exemplarisch den Sammelband von Straub/Renn 2002 und darin für den vorliegenden Zusammen-
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hang besonders Quante 2002. Im Punkt der Geschlechterzuschreibung betriff t die derzeitige kritische Infragestellung bis hin zur Auf hebung derselben, die soziale Konstruktion, die letztlich auf der von Butler getroffenen Unterscheidung von biologischem und gesellschaftlichem, sozialen Geschlecht, sex und gender, beruht. Im Anschluß an Thomasius’ Differenzierung tritt vor allem die auf klärerische, vorurteilskritische Anstrengung hervor, eingedenk bestehender Differenzen, Ausgleich im Sozialen und Politischen zu suchen und gleichwohl weiterhin philosophischen, phänomenologischen Gehalt aus den Unterschieden zu gewinnen. In diesem Kontext mag auch die Saulus-Paulus-artige Entwicklung von Thomasius interessieren, der als Jurist vom Vertreter der Hexenprozesse zu ihrem entschiedenen und einflussreichen Gegner wurde. Siehe hierzu auch Lieberwirth 1967. Sabine Doyé betont bei Thomasius’ Neujustierung des Willens, die durch den Pietismus ermöglichte Veranschlagung der Innerlichkeit, die hier sozusagen als persönlicher Freiraum fungiert (vgl. Doyé, 2008: 112f.). Diese Funktion findet sich auch bei Thomasius’ Auslotung von Indifferenz als persönlicher Raum, der weder staatlicher, noch kirchlicher Macht unterliegt (Kurbacher 2005: 206f.; 266). Zur umstrittenen Rolle des Pietismus bei Thomasius siehe auch Buchholz 1988. Die Problematik der »Ausübung der Sittenlehre« gehört weitaus stärker einer allgemeinen Voluntarismus-Debatte als einer speziellen Liebesthematik an, aufgrund dessen sie hier auch nicht weiter ausgeführt wird. Zur kontrovers debattierten Stellung des Willens bei Thomasius siehe Schneiders 1971; Grunert (2000: 208); Kurbacher (2005: 182f.); Doyé (2008: 112f.). Diese so schlicht anmutende Einordnung, die Thomasius vornimmt, hat jedoch Sprengkraft, denn »die subjektive Wirkmacht des anthropologisierten Liebeswillens bedarf des göttlichen Ordnungsplans nicht mehr« (Doyé 2008: 115). Zum weiteren Verständnis von Haltung, nämlich ebenfalls in eudäimonistischer Rahmung, aber in ästhetischer Hinsicht im 18. Jahrhundert siehe Dethlefs 2008. Zum Zusammenhang von Liebe und Haltung siehe Kurbacher 2002; 2005; 2006. Zu modernen Thematisierungen des Verhältnisses von Liebe und Person siehe Quante 2007 und seinen demnächst 2009 in den »Kongressakten zum XXI. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Philosophie« in Essen 2008, hg. v. Carl Friedrich Gethmann veröffentlichten Beitrag »Identifi kation in Relation«, dessen Manuskript er mir freundlicher Weise zur Verfügung gestellt hat, wofür ich ihm an dieser Stelle herzlich danken danken möchte. Diese Regellosigkeit der Liebe begründet einerseits ihren ethischen Sonderstatus, andererseits wird in genau dieser Regellosigkeit auch ein ästhe-
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tisches, selbstreflexives Moment deutlich. Bereits Montaigne greift diese Wendung auf und reflektiert sie ästhetisch, vgl. Montaigne (1962, Bd. 2: 327). Paul Ricœur entwickelt aus diesem phänomenologischen Potential von Liebe eine konstitutive Widerständigkeit von Liebe gegenüber ethischen Vereinahmungen, vgl. ders., 1990. Letztlich dreht es sich hier um ihren selbstbegründenden, selbstzweckhaften Charakter. Zur Thematik der Selbstzweckhaftigkeit siehe auch Kurbacher 2008; 2009. 8 Hier zeigt sich, dass die »Nachahmung der Franzosen« bei Thomasius nicht bloße Strategie ist, sondern er auch in dieser französischen Tradition einen eigenständigen Individualitätsdiskurs fi ndet, der zu seinem programmatischen und kritischen Verständnis von Philosophie als Selbstdenken passt. Zu den literarischen Querverbindungen siehe auch Borgstedt 1997. 9 In der »Einleitung in die Philosophie« des Thomasius Schülers Johann Georg Walch spielt die »vernünftige Liebe« entsprechend der »Ausübung der Sittenlehre« in den Abschnitten zur Moral und Tugend kaum mehr eine Rolle. Die negativen Affekte: Wollust, Ehrgeiz und Geldgier hingegen wohl (vgl. Walch 2007). Die Verbindung von Affektivität und Vernünftigkeit wird von Walch ebenfalls personenkonstituierend gewendet, aber viel begrenzter auf das als »judicieuse Erkenntnis« verstandene thomasianische Programm des Selbstdenkens reflektiert (vgl. Kurbacher 1998; 2000). 10 Bemerkenswerter Weise zeichnet sich aber auch Arendts eigener Liebesbegriff durch eine durchaus auch augustinisch geprägte Widersprüchlichkeit aus. Die Vorzeichen von Welthaftig- und Weltlosigkeit drehen sich bei ihr im Vergleich zu Augustinus um. Welthaftigkeit wird schlechthin ein Positivum und Kriterium bei ihr, dem allerdings die Liebe als Nahbeziehung zwischen zweien aufgrund der ihr zugeschriebenen Weltlosigkeit nicht standhält. Diese Einschätzung gipfelt in Arendts Einstufung der Liebesbeziehung als »weltzerstörend« in der Vita activa (Arendt 2006: 308). Siehe hierzu auch Kurbacher: »Zur Intimität des Abwesenden«. In: www. theomag.de, Heft 53, Juni 2008. Zum Verhältnis von Welt und Person siehe die eingehende Arbeit von Jaeggi 1997. 11 Hier sind vor allem seine »Einleitung zur Sittenlehre« und die »Ausübung der Sittenlehre« zu nennen. Und siehe auch: Schneiders 1971. Wobei jedoch – wie eingangs bemerkt – zu bedenken ist, dass, bedingt durch eine Krise von Thomasius, beide Werke seiner Liebesethik durch einen differierenden Willensbegriff von einander getrennt sind. Seine Auffassung vom Willen ändert sich vom ersten zum zweiten Band in einer Radikalität negativ, die letztlich seine ganze auf klärerische Konzeption einer »vernünftigen Liebe« aus dem ersten Band seiner Sittenlehre unterläuft und fast scheitern läßt.
78 | F RAUKE A NNEGRE T K URBACHER 12 Dies gilt freilich nur für die »Einleitung zur Sittenlehre«, da die »Aus-
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übung der Sittenlehre« nurmehr auf einer negativen Einschätzung des menschlichen Willens basiert. Vgl.: Thomasius (1995: 343). Siehe hierzu: Thomasius 1995; 1998 und: Schneiders 1971. Sie kommt zu einem gewichtigen Schluß: »Désormais, nous nous savons étrangers à nous-mêmes, et c’est à partir de ce seul appui que nous pouvons essayer de vivre avec les autres«. Vgl. Julia Kristeva: »Etrangers à nous-mêmes.« Paris 1988, S. 250 bzw. in der deutschen Ausgabe: Dies. (1990: 184): »Fortan wissen wir, daß wir uns selbst fremd sind, und es ist allein dieser Rückhalt, von dem aus wir versuchen können, mit den anderen zu leben«. Insgesamt aber zeigt sich der Diskurs des ›Fremden‹ und ›Anderen‹ im 20. Jahrhundert durchaus recht abstrakt und oftmals weitenteils dem Subjektdiskurs verhaftet. Von allen hier Genannten wird Liebe nicht vornehmlich in dem seit Platon interessierenden Zusammenhang von Liebe und Erkenntnis betrachtet. Ein gänzlich anderer Ansatz fi ndet sich z.B. in Max Schelers Versuch einer Verobjektivierung von Liebe in Form einer erkenntniskritischen Haltung, der die Vorstellung einer objektiven Wertewelt zugrunde liegt. Thomasius fügt hier keine ausdrücklichen Reflexionen über Homosexualität an, wie es unsere Zeit wohl erfordern würde. Er geht in seinem Zeitkontext von heterosexueller Partnerschaft aus, bedenkt aber sehr wohl auch die grundsätzliche Geschlechtlichkeit des Menschen, die sich in all’ seinen zwischenmenschlichen Beziehungen niederschlägt, und damit auch den gleichgeschlechtlichen (Thomasius 1995: 334f.). Dies sieht im Vergleich zum philosophischen Diskurs für den literarischen Diskurs bereits etwas anders aus. Siehe hierzu exemplarisch: Wolfram Mauser/Barbara Becker-Cantarino (Hg.) (1991). »Freilich, wenn das anders wäre und man mit den Frauen eine derart freie, freiwillige und vertrauenssinnige Beziehung auf bauen könnte, dass darin nicht nur Geist und Seele ihren vollen Genuß fänden, sondern auch die Körper an der Vereinigung teilnähmen und folglich der ganze Mensch sich hingäbe, dann würde das gewiß eine noch umfassendere und erfülltere Freundschaft sein.« (Montaigne 1998: 290f.; Eichler 2000: 88.) Und Montaigne (1962: 201f.): »Joint qu’à dire vray, la suiffisance ordinaire des femmes n’est pas pour respondre à cette conference et communication […] Et certes, sans cela, s’il se pouvoit dresser une telle accointance, libre et volontaire, où non seulement les ames eussent cette entiere jouyssance, mais encores où les corps eussent part à l’alliance, où l’homme fust engagé tout entier, il est certain que l’amitié en seroit plus pleine et plus comble.« Siehe hierfür Michel Eyquem de Montaigne: »De l’amitié« aus seinen Essays. Über die Freundschaft. In: Ders. (1998). Ebenso: Derridas Beitrag:
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»The Politics of Friendships.« In: The Journal of Philosophy, LXXXV, 11, November 1988, S. 632-622, sowie Eichler (2000: 88ff.). Für Hinweise und Kritik möchte ich an dieser Stelle Michèle Marik und Sebastian Jung danken, für tatkräftige, technische Hilfe Marcell Hübner, Annabelle Hornung und Sabine Flick. 21 Dabei steht außer Frage, dass natürlich auch Thomasius’ Konzeption ihrerseits in einigen Punkten kritisierenswert ist. 22 Diese Abwehr und darin dargebotene Kritik bezieht sich zunächst ausdrücklich auf das transzendentale Subjekt bei Kant. Siehe auch Sarah Kofman: »Rousseau und die Frauen«, Dt. 1986: S. 39. Und: Kurbacher, Artikel: »Sarah Kofman«. In: Kilcher (2003: 459ff.).
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Gewusst wie: Richtig Lieben und Leiden Nina Degele/Stephanie Bethmann
Lieben und Leiden Wenn Liebe weh tut, wird uns schmerzlich bewusst, welche Macht sie über uns hat. Mit Argumenten ist Liebeskummer nicht beizukommen. Ähnlich geht es uns, wenn Liebe berauscht, wenn sie euphorisch oder blind macht oder wenn sich Schmetterlinge im Bauch einquartieren. Schmerz, Rausch, Blindheit, Bauchgefühle – in der Liebe spielt die Unmittelbarkeit der leiblichen Erfahrung eine entscheidende Rolle. Liebe hat eine ganz eigene Evidenz und präsentiert sich gegenüber Einwänden und vermeintlich besserem Wissen als resistent. Auf dem Werbeplakat zur Liebestragödie »Brokeback Mountain« heißt es: »Liebe ist eine Naturgewalt« – machtvoll, unkontrollierbar und ganz natürlich also. Herzschmerz und andere psychische und physische Leiden haben gemeinsam, dass sie im Innern verortet und körperlich empfunden werden. Sie scheinen damit dem Einfluss des Sozialen entzogen. Wenn wir unsere Gefühle schon selbst nicht im Griff haben, wie sollen wir denn im Fühlen oder gar im Schmerzen Leiden sozialen Regeln folgen? Diesem Anschein der Natürlichkeit und A-Sozialität von Liebe und Schmerz möchten wir näher auf den Grund gehen. Mit Pierre Bourdieus Worten gesprochen, geht es uns darum, einen »Bereich der Verleugnung der sozialen Welt schlechthin« (Bourdieu 1987: 796) zu entschleiern und das Soziale unter dem Deckmantel des Natürlichen sichtbar zu machen. Wir versuchen, einige Schichten Naturalisierungsrhetorik abzutragen und die sozialen Konstruktionsprozesse in den Blick zu bekommen, die definieren, was in der Liebe und im
84 | N INA D EGELE /S TEPHANIE B E THMANN Schmerz in unserer Gesellschaft und zu unserer Zeit als normal gilt, was Liebe und Schmerz ist, sein kann und sein darf. Uns interessieren gerade diese beiden Phänomene, weil die Akteur/innen sie – zum Preis der Ausblendung des Sozialen – als natürlich und individuell konstruieren. Unser Entnaturalisierungsprogramm werden wir in folgenden Schritten ausführen: Zu Beginn legen wir knapp dar, wie Subjekte mit Hilfe von Wissen normales (im Sinne von sozial anerkanntem) Lieben und Leiden herstellen. Aus diesen Überlegungen leiten wir den methodischen Zugang ab, den wir zur Erforschung von Liebe und Schmerz gewählt haben. Im Anschluss unterscheiden wir auf der Grundlage empirischer qualitativer Daten vier Wissensebenen, mit deren Hilfe Akteur/innen Liebe und Schmerz für sich verfügbar machen. Daraus ziehen wir den Schluss, dass Liebes- und Leidenskompetenzen beispielhaft die Normalisierung sozial konstruierter Gefühlswelten sichtbar machen. Abschließend möchten wir zeigen, dass die Konstruktion emotionaler Normalität eng mit der Konstruktion von Geschlecht und weiteren Ungleichheitskategorien in Zusammenhang steht.
Liebe und Schmerz als sozial konstruier te Gefühlswelten Bei der Analyse von Schmerz und Liebe begreifen wir das leibliche Erleben dieser Phänomene nicht als etwas originär Individuelles, sondern als etwas Soziales. Wir betrachten die liebenden und leidenden Akteur/innen als Subjekte, die in ihrem Wissen von der Welt, ihren Bedürfnissen und »Wunschstrukturen«, ihren »körperlichen Routinen« und »psychisch-affektiven Orientierungen«, also im Kern ihres je individuellen Erlebens Produkte einer spezifischen gesellschaftlichen Ordnung sind (Reckwitz 2008: 10). Denn jede Gesellschaft, jede (Sub-)Kultur, jedes Milieu bringt solche Subjekte hervor, die ihren jeweiligen Anforderungen entsprechen, inklusive der sozial richtigen und normalen Art zu fühlen. In der historischen sowie in der kulturvergleichenden Rekonstruktion lassen sich entsprechend erhebliche Unterschiede zum Beispiel ›emotionaler Kulturen‹ nachweisen (vgl. historisch: Elias 1969; Luhmann 1982; kulturvergleichend: Nussbaum 2002; Röttger-Rössler 2004; milieuvergleichend: Bourdieu 1987; Illouz 2003). Von Natürlichkeit kann also keine Rede sein. Uns geht es hier um die Bedeutung gesellschaftlicher Wissensordnungen und ihrer Einschreibungen in die Herzen und Körper der Subjekte für die Konstruktion von Liebe und Schmerz. So versuchen
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Akteur/innen mittels reflexiven Wissens, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen, der Hingabe Grenzen zu setzen, oder klug und gut informiert mit Schmerzen umzugehen. Sie eignen sich Wissen an, das ihnen zur Bewältigung emotionaler Erfahrung zur Verfügung steht, z.B. das Wissen um Atemtechniken, die den Geburtsschmerz erträglicher machen, das 12-Punkte-Programm gegen Liebeskummer, das in Helen Fishers (2007) populärwissenschaftlichem Liebes-Ratgeber den Leser/inne/n ans (gebrochene) Herz gelegt wird, ein Hausmittel der Großmutter oder die Erfahrungswerte einer Freundin. Es sind jedoch überwiegend nicht explizit gewusste Selbstverständlichkeiten, die unbemerkt strukturieren, wo die Grenzen normalen und damit richtigen Fühlens verlaufen. Die Akteur/innen wissen gar nicht, »was sie da eigentlich alles wissen« (Bohnsack et al. 2001: 11). Doch ohne unser (ungewusstes) Wissen wäre auch unser Fühlen so nicht denkbar: Würde man von Liebe nichts wissen, würde man sie wohl gar nicht erst empfinden (vgl. Luhmann 1982). Geteiltes Wissen schaff t eine Orientierung stiftende Gemeinsamkeit und Normalität emotionaler Erfahrungen und damit Bedürfnisstrukturen sowie Empfindungsweisen in den sozial modellierten Subjekten. Der Eindruck einer natürlichen und unkontrollierbaren Empfindung bleibt bestehen, weil diese Prozesse sich auf einer subtilen Ebene abspielen. Diese Macht, die soziale und kulturelle Wissensbestände meist unsichtbar über unser Lieben und Leiden ausüben, nennen wir Normalisierung.
Liebe und Schmerz er forschen Die soziale Dimension des individuellen Erlebens wird methodisch unter anderem dort zugänglich, wo Kommunikation über Liebe und Schmerz stattfindet. Da es uns um die Bedeutung sozialen Wissens für die Konstitution von Liebe und Schmerz geht, stützen wir unsere Analyse auf das Wissen derer, die sich am besten damit auskennen: die liebenden und leidenden Subjekte. Gemäß dem Credo ›Die wissen gar nicht, was die alles wissen‹, rekonstruieren wir deren implizite Konzepte von Liebe und Schmerz. Um vermeintlich Vorsoziales wie Körpergebundenes, Privates und Individuelles als Soziales sichtbar zu machen, ist ein Verfahren erforderlich, das tiefl iegende (und oftmals gut gehütete) Überzeugungen und Orientierungsmuster explizit macht. Dazu bietet sich das Verfahren der Gruppendiskussion an (Bohnsack 2000). Wir beziehen uns im Folgenden auf empirische Daten aus zwei Forschungsprojekten am Institut für Soziologie der Universität Frei-
86 | N INA D EGELE /S TEPHANIE B E THMANN burg. Zur Frage »Was bedeutet für Sie/Euch Schmerz?« haben 26 Gruppen, die ganz unterschiedliche Bezüge zum Thema Schmerz haben, diskutiert (Degele 2006, 2007).1 In der Studie über Liebe führten wir bislang 18 Gruppendiskussionen mit Realgruppen durch, die sich in Schichtzugehörigkeit, Geschlecht, Alter, sexueller Orientierung und Beziehungsbiografien unterscheiden.2 Die so gewonnenen Daten haben wir mit den Interpretationsschritten der Integrativen Texthermeneutik (Helfferich/Kruse 2007) sowie den Prinzipien der dokumentarischen Methode (Bohnsack 2000) rekonstruktiv ausgewertet. Soziale Dimensionen, so unsere These, bedingen das je individuelle Erleben von Liebe und Leiden in grundlegender Weise. Wie sich das subjektiv anfühlt, ist nur mit Blick auf die Wissensordnungen, an denen Subjekte ihr Empfinden ausrichten, zu verstehen. Wir möchten exemplarisch zeigen, welches Wissen Akteur/innen in der Kommunikation über Liebe und Schmerz wie aktivieren und welche Bedeutung diesem in der Normalisierung dieser Phänomene zukommt. Zunächst ist aber zu klären, welche impliziten Ziele die Akteur/innen verfolgen, wenn sie sich auf verschiedenste Formen von Wissen beziehen: Die Orientierung an (immer schon normativem) Wissen erlaubt ihnen ein positives oder sinnhaftes Erleben aus subjektiver Perspektive. Im Falle der Liebenden ist eine ›funktionierende‹ Liebe Grundlage positiven Liebeserlebens. Was in der Liebe funktioniert und was nicht, dafür gibt es soziale Erfolgsrezepte: Sei es zur Umsetzung des Wertes ›Dauerhaftigkeit‹ oder auch für den rechtzeitigen Partner/innen/ wechsel, wenn das Ideal der Intensität nicht mehr verwirklicht werden kann. Das Normale und das Ideale stellen positives Erleben in Aussicht, und zwar dann, wenn die Beteiligten eine Kongruenz zwischen sozialen Normalitätserwartungen und eigenem Empfinden herstellen können. Ebenso zielt auch Schmerzerleben auf Normalität und soziale Anerkennung. Der soziale Kontext definiert, ob etwas überhaupt als Schmerz empfunden wird und ob das Erleben negativ besetzt ist oder ein Rahmen zur positiven Deutung zur Verfügung steht. Kategorien dessen, was als Schmerz gilt und was als normaler und richtiger Umgang mit Schmerz gilt, unterscheiden sich erheblich zwischen sozialen Gruppen. Auch hier stellen die Akteur/innen eine Kongruenz zwischen den jeweiligen Normalitätsvorstellungen und persönlichem Erleben her. Im Wechselspiel von sozialer Kontrolle und Selbstkontrolle vollziehen sich Normalisierungsprozesse. Aus der Perspektive der Akteur/ innen verläuft dabei eine klare Grenze zwischen (eigenem) Innen und (sozialem) Außen. Diese wollen wir zunächst als rein analytische
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Trennung mitverfolgen, indem wir Wissensquellen auf vier Ebenen rekonstruieren: (1) verkörpertes Wissen (Körpererfahrungen, Können, Kompetenzen), (2) Wissen vom Selbst (Selbsterkenntnis, Selbstbeobachtungen, persönliche Erfahrungen), (3) geteiltes Wissen (Erfahrungen aus zweiter Hand, persönliche Vorbilder, professionalisierte Beratungen) und (4) generalisiertes Wissen (Mediendiskurse, Ratgeber, (populär-)wissenschaftliche Diskurse). Auf den ersten beiden Ebenen aktivieren die Befragten Wissen über Liebe und Schmerz, das sich auf die Autorität der innerlichen Erfahrung stützt. Auf den letzten beiden Ebenen beziehen sie sich auf im bewussten Austausch mit anderen generiertes und gesellschaftlich generalisiertes Wissen, das jeweils eindeutig auf eine Außenorientierung verweist und eine überindividuelle Autorität beansprucht. Diese Grenzkonstruktionen zwischen verschiedenen Ebenen des Wissens werden wir in der Analyse jedoch immer wieder durchbrechen, um zu zeigen, dass die Grenze zwischen individuellem Inneren und gesellschaftlichem Außen der näheren Betrachtung nicht standhält. Alle vier Ebenen sind im Kern sozial, wenngleich sie in unterschiedlichem Maße eine Autorität des Eigenen oder des Gesellschaftlichen in den Vordergrund stellen.
1) Verkörper tes Wissen Auf der ersten Ebene spielen verkörperte und als individuell erlebte Formen praktischen Wissens – Fühlen, Können und Kompetenzen – eine zentrale Rolle. Diese sind ganz eng an die Person gebunden und können nur unmittelbar erfahren werden. Die in solchem Wissen impliziten sozialen Imperative sprechen gewissermaßen mit der unhintergehbaren Autorität des genuin Erlebten. Eine solche Autorität im Hinblick auf Schmerz beanspruchen etwa die befragten Mütter nach der Erfahrung, ein Kind zur Welt gebracht zu haben: »Das ist, wie wenn du Fahrlehrer bist und selber kein Auto fährst.« Dieser Schmerz ist für einige nicht mit anderen Erfahrungen vergleichbar, ein absoluter Ausnahmezustand: »Es sprengt jede Vorstellungskraft, was da kommt.« Diese Frauen haben sich zuvor mitunter intensiv mit der bevorstehenden Geburt auseinander gesetzt, dennoch wussten sie nicht, wie sich anfühlen würde, was sie erwartete. Die Geburtserfahrung wird zu verkörpertem Wissen und als solches unhintergehbar und von außen nicht anzweifelbar. Für die Diskussionsgruppen mit Sporttreibenden ist verkörpertes Wissen ein Lehrmeister im konstruktiven Umgang mit Schmerz. Für einen Kampfsportler gilt: »Schmerz zeigt Dir, das Du was falsch gemacht hast« und er erklärt weiter: »aber andererseits hilft er mir,
88 | N INA D EGELE /S TEPHANIE B E THMANN besser, schneller zu werden.« Für einen Triathleten ist Schmerz eine »direkte Rückkopplung von meinem Körper«, die er aufgrund seiner Erfahrung direkt als Handlungsanweisung (»langsamer machen«) deuten kann. So wird die eigene Körpererfahrung mittels trainingswissenschaftlichem, also generalisiertem Wissen in praktisches Wissen transformiert. Die erfahrungs- und wissensbasierte Bewertung eines körperlichen Signals ist ausschlaggebend für den Umgang mit und Einsatz von Schmerz. Nicht nur professionell Sporttreibende, auch ambitionierte Freizeitsportler/innen setzen ihr persönliches Körperwissen ein, um mit Schmerz umzugehen: »Ich hab halt ein Jahr lang auf das Ganze trainiert und weiß, mit dem Schmerz da kann ich jetzt umgehen. Mit dem kann ich jetzt eine Stunde lang rennen, das ist jetzt nichts, was mich großartig einschränkt, ja. Aber ich empfinde das schon als Schmerzen, wo ich dann wirklich auch kämpfen muss, wo ich beißen muss, aber wo ich weiß, das dauert jetzt noch ne Stunde und dann ist’s vorbei. Und am nächsten Tag oder in der nächsten Woche ist wieder alles wie vorher.«
Die Erfahrung, dass »wieder alles wie vorher« wird, ermöglicht zudem eine Normalisierung der Schmerzerfahrung. Schmerz ist ein Ausnahmezustand, der mit dem Verweis auf Normalität und Routine gerahmt und dadurch auch rhetorisch relativiert wird. Das ist interessant, da jede Gruppe den eigenen Umgang mit Schmerz mit dem Verweis auf eine/n pathologische/n Andere/n (z.B. durch eine Abgrenzung von Masochist/inn/en) als normal legitimiert. Kompetentes Lieben ist für eine Gruppe von Frauen zwischen 59 und 66 Jahren erst durch persönliche Reife aufgrund von Lebenserfahrung möglich: »Das sind dann schon Menschen die […] ab vierzich oder fünfundreißich, vierzich, solche Liebe pflegen können […] Aber ich denke, is en Unterschied zu jungen Menschen, die sich lieben, oder beginnen zu lieben. Und erst noch in bestimmte Zustände sozusagen hineinwachsen müssen, um des als Ideal zu empfinden, des als Ideal zu empfinden, was sie als ideal fühlen oder glauben, dass es ideal für sie ist.«
Eingangs setzt die Sprecherin eine Altersgrenze, die die Befähigung (»können«) zu idealer Liebe (denn um diese dreht sich die Passage) erst möglich macht. Es folgt eine Abgrenzung gegenüber »jungen Menschen, die sich lieben« und gleich darauf eine Relativierung (»oder
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beginnen zu lieben«), die deutlich macht, dass hier von eigentlicher Liebe nur im »noch« zu entwickelnden Anfangsstadium die Rede sein kann. Die erforderliche Entwicklung wird am Alter festgemacht und durch eine Wachstumsmetapher unterstrichen: Mit dem Alter muss man »erst noch« in »Zustände« hineinwachsen. Die Metaphorik deutet außerdem eine Selbstläufigkeit der Entwicklung an und nimmt diese verallgemeinernd für die Jüngeren, die sie »noch« nicht durchlaufen haben, vorweg. Die Sprecherin formuliert dies als Imperativ (»müssen«): ohne Reife keine ideale Liebe. Es kommt also zu einer überindividuellen Generalisierung der persönlichen Erfahrung und damit zu einer sozialen Definition dessen, was (alterstypisch) normal sei. Die Kompetenz, die sich mit Lebenserfahrung einstellt, bezieht sich nicht auf Beziehungshandeln, sondern auf eine Gefühlskompetenz (»zu empfinden«). Es geht also ganz klar um einen Wandel in der Empfindungsfähigkeit. Die Sprecherin erklärt im weiteren Verlauf der Diskussion erst eine »eigenständige gereifte Persönlichkeit, die mit sich selber umgehen kann« für liebeskompetent. Wer diesen Anspruch nicht erfülle, agiere »aus Defiziten heraus« und könne keine dauerhafte Verbundenheit auf bauen. Der normative Unterton: Wer nicht die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt (Reife) und dadurch das entsprechende Können (»können«, »kann«) erworben hat, ist als Liebende/r defizitär. Wie sich aber richtiges Lieben anfühlt, so lässt sich aus dem Gesagten folgern, das kann letztlich nur die Autorität der persönlichen Erfahrung verbürgen. Ein normativer Anspruch (an richtige Liebe) wird an individualbiografisch gewonnene, verkörperte und nicht ohne weiteres produzierbare Empfindungskompetenzen geknüpft – Lieben will eben gekonnt sein.
2) Wissen vom Selbst Auf der zweiten Ebene ist ebenfalls das Individuelle und Persönliche die Autorität, die die Gültigkeit des Wissens verbürgt. Im Unterschied zur Ebene des verkörperten Wissens wird diese Innerlichkeit hier stärker zum Objekt selbstdistanzierter Beobachtungen und Reflexionen gemacht. Durch diese Objektivierung wird die Durchdringung des Inneren mit sozialen Wertmaßstäben, Klassifi kationssystemen und Wissensordnungen deutlicher. Liebes-Kompetenz versucht etwa eine 38-jährige Akademikerin in einem Prozess der Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis zu gewinnen. Sie sucht in der eigenen Persönlichkeitsentwicklung nach Ursachen für eine gescheiterte Beziehung:
90 | N INA D EGELE /S TEPHANIE B E THMANN »Und das hat viel damit zu tun, wie ich mich bewegt habe; es hat was mit meinem Beruf zu tun, mit dem, wie ich Sachen betrachte, wie ich reflektiere oder auch nicht, es hat was damit zu tun, wie sehr ich mal formuliert habe, was ich eigentlich möchte vom Partner, ich glaube das hab ich nie so formulieren können für mich.«
Die entscheidende Liebeskompetenz, welche die Sprecherin sich selbst hier retrospektiv abspricht, ist eine logozentrisch gedachte Selbsterkenntnis. Man muss herausfinden und »formulieren können«, was man vom Partner will. Dabei steht nicht die Kommunikation mit dem Partner im Vordergrund, sondern das persönliche Erfassen von Bedürfnissen mit sprachlichen Kategorien (»formulieren können für mich«). Sie macht das Wissen über eigene Bedürfnisse zur Voraussetzung für kompetentes Lieben und rekurriert außerdem auf einen gesellschaftlichen Imperativ der Selbstfindung – auch dies eine Form sozialen Wissens, die zudem an Praktiken geknüpft ist, wie die Befragte an anderer Stelle weiter ausführt: »Da muss ich irgendwie mit mir was machen und an mir arbeiten.« Die Sprecherin, die offenbar unter dem Scheitern ihrer Partnerschaft leidet, versucht die richtige (Erfolg versprechende) Art zu Lieben auf Grundlage von Wissen und Tun herzustellen. Denn erst durch die Arbeit am Selbst kann ihrer Darstellung zufolge das abstrakte Wissen (der Imperativ, sich mit sprachlichen Mitteln zu erkennen, als Bedingung geglückter Liebe) in praktisches Wissen umgesetzt und die notwendige Kongruenz von Wissen und Fühlen hergestellt werden. In solchen Prozessen ständiger Selbstbeobachtung werfen einige Gruppen der Studie sehr bewusst einen objektivierenden Blick auf ihre Gefühle und setzen diese in Relation zu ihrem Wissen über Liebe. Dies gestaltet sich z.B. als introspektive Suche nach Indizien, die auf Liebe hinweisen, als Suche nach »Zeichen«, die auf Grundlage des Wissens um ihre Bedeutung interpretiert werden – zum Beispiel als Liebe: »Und dann fange ich an, sie zu vermissen und denk, ›Jetzt könnte sie aber mal wiederkommen‹. Und das finde ich, ist dann ein Zeichen, dass es noch Liebe gibt, und dass es schön ist.« Es existiert eine Art Kriterienkatalog, der abgearbeitet wird und anzeigt, ob alle »Gewürze« vorhanden bzw. alle »Erwartungen« erfüllt sind, um ein Gefühl »als Liebe« »qualifizier[en]« zu können, oder nicht.3 Ausschlaggebend für das Erleben von Liebe ist eine Vorstellung davon, was Liebe ist, was als Liebe »qualifizier[t]« werden kann und welche Art von Gefühlen Dauerhaftigkeit oder Glück versprechen und welche nicht. Gerade die zuletzt zitierte Gruppe von Akademiker/inne/n, die Selbsterkenntnis zum wichtigen Maßstab machen, bemüht
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zugleich ganz selbstverständlich das soziale Umfeld sowie professionelle Quellen als Orientierungshilfen von außen, z.B. Paartherapie, Ratgeberliteratur und wissenschaftliche Diskurse. Die Diskutierenden akzeptieren und suchen explizit Außenperspektiven als Ressource kompetenten und informierten Fühlens. Die subjektive Perspektive steht konsequent mit den Ebenen des Wissens vom Selbst, mit geteiltem und interaktiv erzeugtem Wissen (Paartherapie) sowie mit generalisiertem Wissen (Ratgeberliteratur) in Abgleich. Beim Thema Schmerz dient das Objektivieren und Klassifizieren den Betroffenen bei ihrem Versuch, Kontrolle herzustellen und ihre Autonomie zu behaupten: »Die Wehe hat nicht mich, sondern ich hab die Wehe« so eine Frau über die Geburtserfahrung. Wissen vom Selbst erlaubt es schließlich sogar, Schmerz gezielt einzusetzen, auch um ihn genussvoll zu erleben. So stellt eine SM praktizierende Frau fest, »dass für mich der Schmerz ein Stück weit ein Mittel ist, um in einen Zustand reinzukommen, wo ich das Gefühl hab, ich bin ganz dicht an mir selber dran, auch, den Körper zu spüren. Aber dass ich das irgendwann, dass sich das irgendwann in einen Zustand verändert, der einfach unglaublich intensiv ist und der dann in dem Maße nicht mehr weh tut. […] Und das ist was, für was ich diesen Schmerz auch benutze, wenn ich in der bottom-Rolle [die Rolle der Passiven, Anm.d.Verf.] spiele. Also im Endeffekt auch nicht als Ziel: je mehr, noch mehr, noch mehr, noch mehr, was noch geht. Sondern dass das für mich ein Stück weit n bissel ist, das Gefühl zu haben, ganz intensiv im Körper drin zu sein. Und dann aber auch eigentlich in die Entspannung zu kommen. Also auch wenn ich jetzt Frauen beobachte, mit denen ich spiele, manche bauen unheimlich viel Spannung auf, krallen sich fest. Das Gesicht verändert sich. Während ich eher das Gefühl habe, wenn ich so eine bestimmte Dosis hatte, fange ich an, mich zu entspannen, ich werde total weich. Und das ist eigentlich auch das, was ich dann haben will. Dann auch […] schon ein Gefühl zu haben, nicht wie im Orgasmus, sondern wie nach dem Orgasmus. Also so ein Gefühl zu haben, ich bin ganz dicht bei mir.«
Nicht nur wird in diesem Beispiel das Schmerzerleben zum Gegenstand von objektivierender Erkenntnis, Schmerz fungiert als Mittel der Selbsterkenntnis, um »ganz intensiv« und »dicht« bei sich zu sein. Diese Form der Selbsterkenntnis ist eng mit der ersten Ebene verkörperten Wissens verbunden, sie ist Körpersein bzw. »im Körper drin […] sein«. Wehtun kann zwar »Spannung« erzeugen, kann aber auch in Intensität und Weichsein transformiert werden. Die positive Deutung des eigenen Schmerzes kommt durch einen doppelten Vergleich – und
92 | N INA D EGELE /S TEPHANIE B E THMANN damit durch eine Einordnung in bekannte Kategorien – zustande: Die Beobachtung der anderen Frauen schärft die Klassifi zierung des eigenen Erlebens als »weich« und entspannt. Der Vergleich mit anderen Gefühlszuständen, nämlich der Entspannung »nach dem Orgasmus«, hilft ebenfalls dabei, Schmerz positiv zu erleben. Erst das in Fremdund Selbstbeobachtung sowie Kategorisierungen gewonnene Wissen macht es möglich, das gewollte Maß an Schmerzempfinden zu initiieren, indem die »bestimmte Dosis« erkannt und aktiv gesucht werden kann.
3) Geteiltes Wissen Auf der dritten Ebene wird der Bezug auf soziale Quellen des Wissens noch expliziter, wenngleich es sich nur um eine andere Variante sozialen Wissens handelt als bei den vorangegangenen Beispielen. Dieses Wissen wird ausdrücklich in Interaktionen und Kollektiven erarbeitet. Da geteiltes Wissen auf bestimmte Autoritäten verweist, kommt der Frage, welche Wissensquellen für welche Gruppen legitim sind, und welche nicht, eine grundlegende Bedeutung zu. So heterogen die legitimen Quellen auch sind – von allen Gruppen wird geteiltes Wissen zur Steigerung der Chancen auf eine ebenso funktionierende wie auch sinnstiftende Liebespraxis und Schmerzbewältigung gesucht und herangezogen. Deutlich wird geteiltes Wissen in einer Diskussion von Hebammen, die in ihrer beruflichen Tätigkeit immer wieder Bezüge zu ihren eigenen Erfahrungen des Gebärens herstellen. Sie wollen ihr Erfahrungswissen mit ihren Klientinnen teilen – um ihnen den Schmerz bei der bevorstehenden Geburt erträglicher zu machen. Im Vordergrund steht dabei das Wissen um die eigene Belastungsfähigkeit: »Sie können mehr als dass sie selber vielleicht denken. Dass ich das Vertrauen habe, dass sie das Vertrauen in sich auch kriegen sollte. Dass sie mehr aushalten kann, als sie es vorher denkt.« Mit dieser message will die zitierte Hebamme Erfahrung in Form von Wissen vermitteln, es teilen. Gruppe wird die Interpretation von Schmerz als Sporttreibenden ermöglicht geteiltes Wissen, Schmerz als sinnhaft zu erleben. In der Lehrmeister (vgl. oben) weitergegeben, in der Sprache einer Kampfsportgruppe: »No pain, no gain!«. Das geteilte Wissen um die leistungssteigernde Funktion von Schmerz lässt sich wie bei einem Triathleten als protestantische Arbeitsethik auf den Punkt bringen: »Je mehr wir uns quälen, und dann am Ende eine gute Leistung rauskommt, umso höher ist eigentlich das Glücksgefühl.« Das »wir« verweist auf ein
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kollektives Erleben. Und nimmt man die Äußerung ernst, wurzelt das Glücksgefühl nicht in der guten Leistung, sondern im Schmerzertragen – Schmerz wird dadurch positiv bewertet. Die Mitglieder eines Männerchors berufen sich auf der Ebene geteilten Wissens zum Thema Liebe auf die Autorität überlieferten und vorgelebten Wissens in Form von Traditionen: »Also, da muss ich eine Episode sagen von meinem Opa, wenn da so die Junge Tingeltangel do, ne? Und denn hätt er die so gsähe wie sie so rumgturtelt hänn und dann hätt er zu mir gsagt’ wart nur mal bis abgschleckt isch ne (lachen)? Also (lachen) bis die Farbe unte isch und dann sieht die Welt wieder andersch aus, ne? Des isch immer so, ne?«
Dass an dieser Stelle der »Opa« zitiert wird, verweist auf den mimetischen Bezug zu Traditionen und den Erfahrungsvorsprüngen, die die Älteren den Jüngeren voraushaben. Von solchem Wissen aus zweiter Hand kann man profitieren, um eigene Gefühle und Bedürfnisse realistisch einzuschätzen und in ihrem Verlauf zu antizipieren (»wart nur mal«). Die Übertragbarkeit individueller Erfahrung wird durch die Generalisierung »immer so« unterstrichen. Es gibt einen als allgemeingültig geltenden Wissensschatz über den Verlauf von Liebesgefühlen. 4 Die soziale Gebundenheit solchen Orientierungswissens fällt in der komparativen Analyse ins Auge. Nicht jede Art von second handErfahrung kann für alle gleichermaßen Gültigkeit beanspruchen. Während für den Männerchor die intergenerationale Mimesis unproblematisch ist, löst dieses Thema in einer Gruppe junger internationaler Studierender eine Kontroverse aus. Ein Teilnehmer hat eine langjährige Beziehung, die zunehmend ernst wird. Die Ehe seiner Eltern und deren Erfahrungsvorsprung sind für ihn nützliche Quellen von Wissen, um die ihm noch relativ neue Beziehungsphase zu gestalten: »For me you know it’s interesting for example to talk with the parents because you can (lacht) you can you can try to understand them more, sie mehr zu verstehen weil because our parents know each other for hundreds of years no ne? And […] [ask them] about vielleicht über das, was Liebe ist. About what love can be or love is. Maybe because they know they live together, they make family, everything, they have a lot of problems with their children and with each other, and so on.«5
Die anderen Teilnehmer/innen der Diskussion, darunter auch seine Partnerin, weisen diese Perspektive immer wieder entschieden zu-
94 | N INA D EGELE /S TEPHANIE B E THMANN rück, bis der Sprecher eine neue Legitimationsstrategie entwirft: Er beschreibt sein Interesse an der elterlichen Beziehung nicht länger als Orientierungssuche, sondern als Selbstfindungsprogramm: »This is interesting for me because now I make some experience for myself. And with this experience I can learn and I want to know how they live, how they live together, these things. And then when you wenn man das kapiert, kann man auch wieder selber, then you can compare with yourself, and maybe I’m similar, to my father, to my mother, and you can find yourself again.«
Damit ist eine für die Gruppe legitime und relevante Wissensquelle aktiviert (Selbsterkenntnis), auf die er zurückgreifen darf, um den Umbruch in der eigenen Beziehungsbiografie informiert und kompetent zu gestalten. Normalisierung ist an dieser Stelle auf zwei Ebenen beobachtbar: Zum einen orientiert sich der Sprecher an einem tradierten Modell des Zusammenlebens, nämlich der Beziehung der Eltern. Zum anderen ist er in der Peergroup einem starken Konformitätsdruck ausgesetzt; er muss seine Vorstellungen von Liebe den Freund/inn/en und der Partnerin gegenüber angemessen legitimieren, er muss sie vor ihnen als etwas Eigenes (und nicht Übernommenes) ausweisen. In der Liebe ist eben nicht, wie das Sprichwort suggeriert, alles erlaubt, sondern nur das, was einem gesellschaftlichen Erwartungsdruck standhalten kann. Tradition (Ebene 3) und Selbstkenntnis (Ebene 2) haben in diesem Normalisierungsprozess je eine vergleichbare Funktion als soziales Orientierungswissens; sie unterschieden sich aber, insofern sie unterschiedliche Ebenen der Autorität und Legitimation darstellen.
4) Generalisier tes Wissen Auf der vierten Ebene machen die Akteur/innen die Autorität generalisierten Wissens geltend, das vor allem aus Medien- und populärwissenschaftlichen Diskursen stammt. Mit solchem Wissen werden naturalisierende Vorstellungen von Liebe und Schmerz plausibilisiert und legitimiert. Wegen der vermeintlichen Objektivität des Wissens auf dieser vierten Ebene, kann sie besonders wirkungsvoll zur Konstruktion und Naturalisierung als evident erlebter Geschlechterdifferenzen herangezogen werden. Hier hat das generalisierte Wissen die Funktion, subjektivem, auf Erleben und Erfahrung gegründetem Wissen zusätzliche Autorität zu verleihen.
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»B: Und dann isch eins, was sicher isch. Also so isch, unsere Fraue versuche uns ja immer zu biege, ne? Des isch, wie soll ich sage? Wenn des net dene tät was fehle, wenn sie das nit könnte. Mehrere: Ja D: Des liegt ja in de Gene der Frau, ne? B: Ja, ja D: Das sie also entsprechend auch den Mann forme muss. so wie sie die KinderB: Isch au gar nit schlecht. Ich find des au gar nit schlecht. Des kann maDes kann sie ruhig, ne? D: A ja.«
Sprecher B kündigt seinen Redebeitrag mit einer Sicherheitsmarkierung an. Die Gültigkeit seiner Feststellung wird durch den folgenden Satzanfang »also so isch« noch unterstrichen. Mit der Verallgemeinerung »unsere Fraue« spricht er für die ganze Gruppe und wirbt um deren Bestätigung (»ne?«). Es ist die Autorität der gemeinsamen, geteilten Erfahrung, für die er hier Geltung beansprucht. Die postulierte weibliche Disposition (»wolle«, »dene tät was fehle«) zum »biege« (manipulieren, erziehen) wird als stabile Eigenschaft der Frauen diagnostiziert (»immer«). Die Beobachtung fi ndet große Zustimmung in der Gruppe; das geteilte Wissen lässt sich als Instanz der Verifizierung persönlicher Erfahrung geltend machen. D ergänzt die Beobachtung um einen naturalisierenden Erklärungsansatz (»Gene der Frau«), für den er populärwissenschaftliches Geschlechterwissen relevant macht. Nachdem D’s These von den anderen bestätigt wird, führt er sie weiter aus: Sie (also die Frau als generalisierte Kategorie) folge einem inneren Imperativ: Sie »muss« ihren Mann »forme«. Die darauf folgende Analogie zur Kindererziehung (»so wie sie die Kinder-«) naturalisiert und legitimiert die weibliche Erziehungsaufgabe und damit die Arbeitsteilung der Geschlechter. Geschlechterdifferenz wird in der eigenen Beziehung beobachtet und subjektiv als wahr erlebt (»isch so«), in der Kommunikation mit den Peers intersubjektiv validiert (»unsere Fraue«), durch einen generalisierten Diskurs naturalisiert und legitimiert (»Gene der Frau«) und abschließend positiv evaluiert. So tragen alle Ebenen zur Stabilisierung der Differenzkonstruktion bei, wobei die ›höheren‹ Ebenen zur Fundierung des persönlichen Erlebens dienen. Beim generalisierten Wissen im Hinblick auf Schmerz ist der Rekurs auf die Steinzeit besonders beliebt:
96 | N INA D EGELE /S TEPHANIE B E THMANN »A: Aber wenn wir uns jetzt überlegen, was wir bei der Langdistanz machen und wenn du in der Natur zurückgehst. Der Mensch war nicht dafür geschaffen, was weiß ich, sich 12 Stunden oder nach 12 Stunden solchen Belastungen auszusetzen. B: Doch! C: Aber der Mensch ist das ausdauerndste Wesen überhaupt! D: Und wenn der Steinzeitmensch 12 Stunden dem Mammut hinterher gerannt ist? A: Der ist aber nicht hinterher gerannt. Der hat das anders gemacht. Der ist gerannt und gegangen, gerannt und gegangen. Da wars bei ihm, bei 30, 40 Kilometer war Schluss. Und nicht das, was wir machen. Der hat das nicht, der ist nicht 12 Stunden lang gerannt. (andere lachen) Das hat er nicht gemacht, wie wir. 100prozentig nicht. Der hat einen viel kleineren Radius gehabt. E: Zumindest die Frauen nicht (Lachen)«
Für den Triathleten C ist ganz klar: »Der Mensch ist das ausdauerndste Wesen überhaupt!«. Das eigene Ausreizen der Belastungsgrenze wird so auf eine natürliche Eigenschaft der menschlichen Spezies zurückgeführt. A’s Statement, Langdistanzlaufen entspreche nicht der menschlichen Natur, wird damit entschieden abgewehrt. Das Erleben und Überschreiten körperlicher Leistungsgrenzen wird von beiden Sprechern an einem generalisierten Wissen von der Natur des Menschen gemessen. Diese repräsentiert der »Steinzeitmensch«. Nicht nur Leistungsgrenzen werden durch die Rede vom ursprünglichen Menschen und seinen natürlichen Eigenschaften ontologisiert. Denn an E’s Beitrag wird deutlich, wer mit der Analogie zum Mammutjäger eigentlich gemeint ist: der Steinzeitmann. Implizit macht er hier durch den Rückgriff auf populärwissenschaftliches Wissen auch die Geschlechterdifferenz als Gradmesser der Belastungsfähigkeit relevant und kraft der wissenschaftlichen Autorität werden vermeintlich natürliche, unhinterfragbare Tatbestände geschaffen. Generalisiertes Wissen als Mittel sinnhafter und positiver Schmerzdeutung lässt sich bei Diskussionen um SM, Sport oder Geburt gleichermaßen nachzeichnen. Weit verbreitet ist dabei der Rekurs auf die schmerzlindernde Wirkung körpereigener Endorphine, die zum Beispiel als Anreiz zum Durchhalten oder für die Bewältigung von Verletzungen oder Erschöpfung instrumentalisiert werden können. Dabei werden Verlaufskurven des Schmerzes antizipiert: Der Körper müsse sich langsam an die kommenden Belastungen gewöhnen, der Schmerz habe einen Beginn, einen Höhepunkt, ein Ende, sei es das geborene Kind, das Erreichen des Zielstrichs oder ein Orgas-
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mus. Man müsse sich auf die erwarteten Prüfungen einlassen, ›ja‹ sagen zu einem Schmerz, der nicht das eigentliche Ziel sei, den man für das jeweilige Ziel aber (mehr oder weniger gern) in Kauf nehme. Der Rückgriff auf Biologie ermöglicht und legitimiert eine Positivbewertung von Schmerz, über das generalisierte Wissen wird Schmerz antizipierbar und aushaltbar gemacht, sogar als geil oder wohltuend, als Lust und Fliegen empfunden.
Schluss: Geschlecht auf allen Vieren Wie wir gezeigt haben, spielen bei der Konstruktion dessen, was als richtiges, normales und gesundes Lieben und Leiden wahrgenommen wird, unterschiedliche soziale Wissensbestände eine Rolle. Von diesem Wissen geht eine normalisierende und (im Falle der Verfehlung der Norm) eine pathologisierende Macht aus. So unterscheiden Akteur/ innen auf der Basis gruppenspezifisch gültigen Wissens zwischen gesund und ungesund, diagnostizieren bei Personen mangelnde Liebesfähigkeit und ›emotionale Armut‹, bezeichnen Lust bei Schmerzempfinden als ›abnormal‹ und ähnliches. Auf Grundlage des jeweils ›besseren Wissens‹ werden also Personengruppen oder Gefühle und Handlungsweisen aus dem Bereich des normalen und gesunden Liebens und Leidens exkludiert. An diesem Punkt der Differenzkonstruktion (normales vs. abnormales Empfinden) kommen vielfach Achsen sozialer Ungleichheit ins Spiel, die sich unter den Oberbegriffen Klasse, Geschlecht, Rasse und Körper subsumieren lassen (zur Begründung dieser vier Kategorien siehe Winker/Degele 2009). Dabei interagieren alle vier von uns beschriebenen (nur analytisch getrennten) Ebenen des Wissens; die Ungleichheitskonstruktionen betreten den Diskurs auf allen Vieren. Dies geschieht, weil die genannten Differenzkategorien mit verschiedenen (z.B. vergeschlechtlichten) Normalitätserwartungen an Gefühle einhergehen und sich zudem auf allen vier Ebenen in unterschiedlicher Weise mit Legitimität aufladen können. In unserem abschließenden Beispiel eines gemischtgeschlechtlichen Singkreises werden Geschlecht und Kultur als Kategorien des Wissens eingesetzt, um über Aus- und Einschlüsse Normen der Liebe zu definieren. Deutlich wird in der Analyse nochmals die Verflechtung der vier Ebenen. Vor allem die weiblichen Diskutantinnen behaupten eine radikale Geschlechterdifferenz bis hin zu einem Motiv des Geschlechterkampfes. Schon den Einstieg in die Diskussion bildet eine Kritik an der
98 | N INA D EGELE /S TEPHANIE B E THMANN mangelnden Liebesfähigkeit von Männern; ein ausgeprägter Emanzipationsdiskurs mit dem Motiv des ›sich Wehren‹ einerseits und der prekären weiblichen Position in einem hierarchischen Geschlechterverhältnis6 andererseits bilden einen Mittelpunkt der Diskussion. »H: Zurzeit werde so viele Fraue von ihre Männer umgebracht. Und dann hab ich gsagt’ was geht denn in dene Männer vor? Mehrere: Ja A: Des will ich au wisse, ja. H: Dann hätt der Mann gsagt ›Die Männer liebe ihre Fraue über alles.‹ A: Abgöttisch, ja? H: Ja und deshalb bringe sie sie um. Ja, was isch denn das für e Liebe? Umgekehrt hörscht doch nit, dass die Fraue ihre Männer umbringe, wenn sie sich von ihne abwende, oder? J: Des hat doch mit Liebe nichts zu tun. H: Ich denk manchmal, wenn ich nit selber drei Söhne hätte und die vom ganzen Herzen liebe und (lacht) gut mit ihne auskomm und sie mit mir, ich glaub, dann tät ich manchmal nen Hass auf die Männer kriege, sie mache Krieg, (zustimmendes Gemurmel), sie bringe die Leut um, ja? Das isch doch keine Liebe, was die da empfinde? Das isch was Vorgemachtes. Sie möchte besitze. Mehrere: Ja. J: Besitzen, ja. H: Sie möchte besitze und sage das wär Liebe.«
Das Motiv des Geschlechterkampfes findet hier seinen Höhepunkt in der Adaption eines medialen Topos: dem Eifersuchtsmord. Dieser Topos beruht zwar in seiner Drastik nicht auf persönlich erfahrenem Wissen, fungiert aber als überzeichnete Metapher eben solchen Wissens. Die persönlichen biografischen Erfahrungen eines massiv gespannten Geschlechterverhältnisses, also verkörpertes, reflexives und geteiltes Wissen der Frauen, werden auf der Ebene generalisierten Wissens verarbeitet, abstrahiert und verabsolutiert. Zentrales Thema ist dabei die in der Diskussion von den teilnehmenden Frauen wiederholt behauptete Tendenz der Männer zur Liebesunfähigkeit. Hierin steckt ein Anspruch auf verkörperte, personalisierte Erfahrung: Als Frauen können wir Liebe ganz anders empfinden! (Wenn einem Mann dies gelinge, so konstatiert eine Sprecherin gleich eingangs der Diskussion, so sei dies das »Höchste und Edelste«.) H’s »Hass« ist ein gefühlter Ausdruck ihres subjektiven, biografisch akkumulierten Differenzwissens. Sie definiert eine Liebe, die Besitzansprüche impliziert, als männlich, weist sie rigoros zurück und beantwortet schließlich die
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selbst gestellte rhetorische Frage »Ja was isch denn das für e Liebe?«: Das ist eben keine Liebe. Im Kontrast dazu steht die von den teilnehmenden Frauen als primär weiblich deklarierte Liebesfähigkeit. Als Ursache für den dramatischen Geschlechterkonflikt in Liebesbeziehungen vermuten die Diskutierenden im Anschluss an die zitierte Passage die Emanzipation von Frauen, die viele ›Machos‹, so nehmen sie an, nicht verkrafteten. Mit diesem Topos knüpfen sie wieder an beides an: an generalisiertes Wissen, aber auch an ihre persönlichen und geteilten Erfahrungen. Nach der Exklusion des anderen Geschlechts aus dem Feld der richtigen (also nicht vorgemachten) Liebe, wertet H kurz darauf die Männer mittels einer neuen Differenzkategorie wieder auf: »H: Wege Kulturkreise andere, ich hab des selber in der Familie. Mein jüngschte Sohn hätt eine Frau vor em Jahr geheiratet aus Kolumbie und die isch hier hergekomme, hätt sich alles angekuckt, die lernt die Sprache und jetzt sind sie vor em viertel Jahr zurück zu ihre Schwester und die hätt auch e Mann und da hätt sie gsagt zu dem Mann ›Ihr könnt von den europäischen Männern noch sehr viel lernen.‹ Mehrere: Mhm H: Und diese Macho- des Machogehabe, wie ihr des hännt, des kommt da nit mehr in Frage. Mehrere: Mhm H: Da isch man gleichwertig. Und da hätt sie gsagt’ du sollscht mal kucke wie des bei uns isch. Die Männer die helfe genauso mit, sie gehe die Kinder wickeln, sie gehe mit ihne spaziere. C: Unsere hier ja H: Sie mache ihren Urlaub, wenn das Kind auf die Welt kommt und versorge des Kind, so was gäbs dort drübe nit. Mehrere: Mhm H: Also von wege (lacht) Kulturkreis, es kann auch ganz ganz gut sein, auf der andren Seite, ja?«
Kultur wird zum Differenzmarker, der Machos nun in andere Kulturkreise verschwinden lässt und damit eine (angesichts des Diskussionsverlaufs überraschend) positive Evaluierung des hiesigen Geschlechterverhältnisses ermöglicht. Damit ist gleichzeitig eine Aufwertung der eigenen Rolle im zuvor kritisch bewerteten Geschlechterverhältnis implizit: denn »da isch man gleichwertig«. Diese Verschiebung in der Argumentation, die nun eine deutlich positivere Rahmung für die eigenen Erfahrungen bereitstellt, unterstreicht H durch die Autorität der Erfahrungen Dritter, durch (mit-)geteilten Wissens also. Die
100 | N INA D EGELE /S TEPHANIE B E THMANN Sprecherin deutet bringt diese Erfahrungen aus zweiter Hand dann mit Bezugnahme auf klischeehafte (generalisierte) Kultur- und Geschlechterstereotype. Als Ergebnis wird am Ende der Passage die Identifi kation als Frau im Gegensatz zum Mann, durch ein kulturell konstruiertes Wir – wir Europäer (»bei uns«) – abgelöst. Diese Grenzziehung, die sowohl eine kulturelle Hierarchie (wir modernen Europäer vs. die rückständigen Anderen) herstellt als auch eine Verschleierung von Emanzipationsdefiziten in der eigenen Gesellschaft ermöglicht, ist ein dank postkolonialer Analysen bekanntes Muster (vgl. Pinn/ Wehner 1995; Nader 1989)7. Mithilfe der Abgrenzung von so konstruierten ›Anderen‹, gelingt eine Aufwertung und damit Re-Normalisierung der zuvor von richtiger Liebe ausgenommenen Männer – die schließlich auch die Ehepartner der befragten Frauen einschließen. Dieses letzte Beispiel verdeutlicht nochmals die enge Verflechtung aller vier Wissensebenen in der Normalisierung sozial konstruierter Gefühlswelten. Die Diskutierenden definieren normales und richtiges Lieben bei gleichzeitiger Exklusion von Personen, die die entsprechenden Kriterien nicht erfüllen. Geschlechtliche Ungleichheit wird dabei diskursiv konstruiert, aber auch als subjektive, lebensweltliche Evidenz verarbeitet. Die Analyse basiert auf der vorhergehenden analytischen Trennung und gesonderten Darstellung der vier Wissensebenen. Dieses Vorgehen schärft den Blick dafür, welche sozialen Autoritäten und Wissensquellen die Deutung von Liebe und Schmerz, ja sogar das höchstpersönliche und psychisch-körperliche Erleben dieser Phänomene, informieren und bedingen. Auf der Grundlage der analytischen Trennung können wir die verschiedenen Wissensquellen als Produkte einer konstruierten Innen/Außen- (bzw. Persönlich/Sozial-) Dichotomie entlarven. Sie lassen sich in den Diskursen der Befragten zwar unterscheiden, sind aber erstens eng miteinander verwoben, zweitens alle gleichermaßen sozial und erfüllen drittens in ihrer separaten Konstruktion je spezifische Funktionen zur Herstellung von Normalität und Natürlichkeit im individuellen Lieben und Leiden. Die Unterscheidung der Ebenen ist damit ein nützliches Analyseinstrument, um den Schleier der Privatheits- und Natürlichkeitsideologie zu lüften und den sozialen Charakter von scheinbar privaten, persönlichen, nicht-sozialen Phänomenen dahinter sichtbar zu machen.
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Bei den folgenden Ausführungen beziehen wir uns schwerpunktmäßig auf Mütter nach der Geburtserfahrung, Hebammen sowie verschiedene Sport- und SM-Gruppen. DFG-gefördertes Projekt »Wie wir uns die Liebe erzählen. Zur Normalisierung eines einzigartigen Gefühls.« Textstelle im Zusammenhang: »Also früher hatte ich da andere Ideale, ja? Da musste da auch noch toller Sex dabei sein, so irgendwie verschiedene Gewürze, ja? Sonst habe ich das als Liebe nicht, war das nicht komplett. Inzwischen bin ich eigentlich auch so (lachend (in nem Stadium)) mit den Erwartungen runtergegangen und (lachend (qualifizier das schon als Liebe)) wenn ich so auch mit dem ersten Gedanken oder auch beim einschlafen, wenn ich mich auch mit dem Gedanken an jemand beruhigen kann, ja?« Der starke Bezug auf Traditionen, der für diese Gruppe charakteristisch ist, steht im Zusammenhang mit einer engen sozialen Kontextualisierung und lokalen Verwurzelung. Diese kommen in der gesamten Diskussion zum Ausdruck. Zur Ergänzung des Gesamtmotivs sei hier noch auf die engen Bindungen im lokalen Verein, die explizite Identifi kation als »Sozialwesen« und ›Vereinsmenschen‹ sowie die Dialektsprache verwiesen. Im Kontrast dazu betont die hierauf folgend zitierte Gruppe ein kosmopolitisches Selbstverständnis, was sich auch dort im Umgang mit Sprache niederschlägt und vertritt einen starken Autonomieanspruch (vgl. Fußnote 5). Die Begriffe Tradition und Autonomie sind keinesfalls als wertende Dichotomie zu verstehen, ebenso wenig die sprachlichen Varietäten (hier regionentypische und feldtypische Sprachstile), die soziolinguistisch als gleichwertige Instrumente der Herstellung und Symbolisierung sozialer Zugehörigkeit insbesondere auch in der konkreten Interviewsituation gedeutet werden (vgl. Birkner 2002). Wie im Weiteren noch näher zu zeigen ist, geht es bei den genannten Gruppen nicht um ein Mehr oder Weniger an Autonomie, sondern vielmehr um verschiedene Legitmierungsstrategien. Gruppen mit starkem Autonomiemotiv greifen gleichermaßen auf soziale Wissensbestände zu, neigen aber stärker dazu, die jeweiligen sozialen Kontexte ihrer Handlungsorientierung auszublenden. Gruppen mit einem deutlichen Traditionenbezug gehen mit diesen Kontexten vielfach ›hellsichtiger‹ um und bringen sie in dialektalen Modalisierungen sehr treffend auf den Punkt. Es handelt sich um eine gemischte spanisch-deutsche Gruppe mit einem stark kosmopolitischen Selbstverständnis, das u.a. durch Code-Switching zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Birkner 2002); obwohl alle ausreichend Deutsch verstehen, wechseln auch die deutschen Sprecher immer wieder
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zwischen Englisch und Deutsch; die englischen Passagen wurden im Original belassen. »Es gibt aber auch Männer die sind halt auch Machos. (…) Gegen die kommt e Frau auch nit an. Da kann se machen was se will.« Nader (1989: 323) kennzeichnet diesen Kunstgriff zur Legitimation und Verschleierung struktureller Ungleichheiten im Geschlechterverhältnis treffend als »positional superiority«.
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Selbst(für)sorge und Gefühle. Emotionale Anforderungen in subjektivier ten Arbeitsverhältnissen Sabine Flick
»Ich hab mir immer gewünscht, dass ich immer ich bleibe, dass ich immer das, was ich als wichtig im Leben, was ich als Sinn im Leben empfinde, was ich so als Ausrichtung hab, dass ich das auch umsetze und dass ich nicht irgendwann so eingewackelt bin in alle möglichen Strukturen, dass ich an nichts anderes mehr denke, als zu funktionieren.« (Helen, 41, Bankerin)
Im Folgenden soll der Gedanke entfaltet werden, dass im Rahmen der so genannten Ökonomisierung der Emotionen in der subjektivierten Arbeit allein individualisierende Dimensionen ihren normativen Ausdruck finden. Dies geht einher mit der De-Thematisierung struktureller und somit überindividueller Anforderungen. Grundlage für diese Ausblendung bietet, so die Argumentation, das Deutungsmuster, dass authentische Gefühle und Selbstverwirklichung in der Lohnarbeit ihren Platz finden sollen. Letztere ist dann keine funktionale Anpassungsleistung der Subjekte, sondern intrinsisch motivierte Tätigkeit des Selbstseins. Einigkeit besteht darüber, dass im Kontext der Subjektivierung von Arbeit Gefühle mitsamt ihrer Regulierung und Hervorbringung eine präsentere Rolle spielen als im Rahmen fordistischer Normalarbeitsverhältnisse. Die offene Frage dabei ist, wie diese Ökonomisierung der Gefühle sich in der konkreten Praxis der Subjekte
106 | S ABINE F LICK darstellt und warum dies jeweils so ist. Der vorliegende Beitrag richtet daher eine Perspektive auf relationale Dimensionen. Vor dem Hintergrund einer empirischen Untersuchung wird gezeigt, dass mit einem auf das Selbstverhältnis ebenso wie interpersonale Beziehungen gerichtetem Zugang, sich ein differenzierteres Bild der Umgangsweisen mit den Anforderungen der subjektivierten Arbeit ergibt.1 Überdies ermöglicht dieser Zugang eine Re-Thematisierung von Beziehungen und vor allem, der Gefühle, die darin eine Rolle spielen. Dies geschieht in drei Schritten: Zunächst werden knapp die Diagnosen zur Vermarktlichung der Gefühle im Rahmen der Subjektivierung von Arbeit dargelegt. Im Anschluss daran soll deutlicher werden, was unter einer ›relationalen‹ Perspektive zu verstehen ist. Vor dem Hintergrund der empirischen Analyse werden dann zwei Fälle beschrieben, die einen sehr unterschiedlichen Umgang mit den emotionalen Anforderungen zeigen. Man selbst sein, der Wunsch nach Kohärenz oder Authentizität, der im obigen Zitat steckt, verweist meiner Ansicht nach auf ein Dilemma der Emotionsforschung: was eigentlich sind ›echte‹ Gefühle, wann ist man ›man selbst‹? Hier stehen sich Zugänge, welche die Authentizität von Gefühlen hervorheben denen, die den performativen Charakter der Gefühle betonen gegenüber. Diese Zugänge können nicht einfach in eine Richtung hin aufgelöst werden, nimmt man den im eingangs genannten Zitat geäußerten Wunsch ernst. Vielmehr sollen die folgenden Überlegungen von der Verknüpfung diese beiden Perspektiven begleitet werden: Authentizität verlangt geradezu nach ihrem Ausdruck und setzt somit Performativität sogleich voraus. Der zentrale Gedanke dabei ist, dass dieser Ausdruck von Authentizität insbesondere eine normative Individualisierung erfährt, in dem von den Subjekten verlangt wird, sich selbst gegenüber authentisch zu zeigen. Dies wiederum spricht allein eine individuelle oder stärker intrapersonale Ebene an und blendet die Ebene von interpersonalen Beziehungen aus. Die normative Anforderung an emotionale Selbstprogrammierung vernachlässige, so Neckel, zudem zwei Dimensionen von Emotionen: deren Leibgebundenheit sowie deren Unbewusstheit (vgl. Neckel 2005). Die vorliegende Argumentation zielt überdies auf die Vernachlässigung der Beziehungsdimension in der Debatte. Die derzeitige soziologische Diagnose zu den Gefühlen im Postfordismus lautet: der Gegensatz zwischen Disziplinierung und Informalisierung löse sich auf. Emotionale Selbststeuerung sei die heutige Forderung an die Subjekte und dies beinhalte sowohl eine Regulierung der Affekte als auch ein Hervorbringen von spezifischen Gefühlen. Diese Forderung baut auf die Annahme, dass »jeder auf die Ent-
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stehung seiner Gefühle planvoll einwirken kann« (Neckel 2005: 421) – und dieses auch tun soll. Gefühlsmanagement scheint, folgt man diesen Diagnosen, ein zentraler Bestandteil der Arbeit ›am Selbst‹ zu sein. Boltanski/Chiapello beschreiben dies als »Ökonomisierung des Authentischen« (Boltanski/Chiapello 2003: 478). »Soziale Wertschätzung und gesellschaftliche Vorteile erhalten danach Akteure, die Arbeit als Entfaltung ihrer Persönlichkeit interpretieren […] ein authentisches Selbst im Berufsleben zeigen und sich hierfür all ihrer mentalen Fähigkeiten bedienen« (Neckel 2005: 422). Im Folgenden werden die Diagnosen zur Ökonomisierung der Emotionen im Rahmen der Subjektivierung von Arbeit im Hinblick auf die Indienstnahme der Gefühle vorgestellt.
Ökonomisierung der Gefühle in der subjek tivier ten Arbeit Im Zentrum meiner empirischen Forschung steht die Lebensgestaltung von vermeintlich ›zeitsouveränen‹ BankerInnen in so genannten »subjektivierten« Arbeitsverhältnissen. Als Hauptanforderungen an die von mir befragten Beschäftigten wird im Rahmen der Debatte um die »doppelte Subjektivierung von Arbeit« die kontinuierliche aktive auch emotionale Selbstregulierung der anfallenden Arbeiten identifiziert (Voswinkel 2002). Ein wesentliches Element vieler Diskussionen über die Subjektivierung von Arbeit ist die Annahme, dass deren zeitlicher und örtlicher Rahmen nicht länger durch Unternehmensleitungen und Vorgesetzte bestimmt, sondern von den Beschäftigten selbst festgelegt werde, um Zielvereinbarungen zu erreichen. Der Formenwandel der Erwerbsarbeit rufe die Subjekte verstärkt zu Selbstkontrolle, Selbstrationalisierung, Selbstökonomisierung auf, so die vielleicht prominenteste These, vorgetragen von Pongratz und Voß (Pongratz/ Voß 2003; 2004). Damit einher gehen verschiedene Affekte und Gefühle, die der Anforderung gemäß reguliert oder hervorgebracht werden müssen. Diese Subjektivierung hat dabei zwei Bedeutungsgehalte: Zum einen bezeichnet Subjektivierung von Arbeit die Selbstverwirklichungsansprüche von Beschäftigten an ihre Arbeit, zum anderen die Anforderungen der Unternehmen, an die subjektive Arbeitsleistung, die Fähigkeit zur Selbststeuerung. Mit letzterer ist vor allen Dingen gemeint, dass subjektive Eigenschaften wie kommunikative und affektive Praktiken (Emotionen) vermehrt im Arbeitsprozess eine Rolle spielen, während sich zugleich die fi xen Grenzen zwischen Lohnarbeitszeiten und freien Zeiten auflösen (Hochschild, 2002). Überdies werde
108 | S ABINE F LICK den Subjekten ein erhöhtes Maß an »Souveränität« aufgebürdet, da sie aufgrund von flexiblen Arbeitszeiten bis hin zur Vertrauensarbeitszeit und Zielvereinbarungen ihre Arbeitszeit und -inhalte größtenteils selbst einteilen können und sollen.2 An die Stelle von Verfahrensvorgaben treten Zielvorgaben, wobei es den Beschäftigten überlassen (und abverlangt) wird, die Organisationsformen zur Zielerreichung selbst zu bestimmen. Zudem habe sich durch die Aufnahme psychologischer und insbesondere psychoanalytischer Ideen in den Managementdiskurs eine neue Form eines emotionalen Kapitalismus etabliert, so Eva Illouz (2006; 2008). Dieser basiert darauf, dass er vom Einzelnen die Bereitschaft verlangt, persönliche und emotionale Kompetenzen und emotionale Ressourcen im Dienst eigenverantwortlich gesetzter Ziele einzusetzen. Zwei sich gegenüber stehende Hypothesen haben sich im Anschluss an die Diagnose einer Erosion von Disziplinierung und Informalisierung herausgebildet: Der strategisch-ökonomische Einsatz von Gefühlen führe zur Entfremdung, die Kolonialisierung der Emotionen habe pathologische Folgen (vgl. Hochschild 2002). Demgegenüber vertritt manch soziologischer Beitrag die These, dass die Entwicklung hin zur Informalisierung der Gefühle neue Freiheiten im Sinne persönlicher Autonomie für die Subjekte schaff t. Neckel und andere verbinden diese Diagnosen zur These eines paradoxalen Effektes der Ökonomisierung der Gefühle, die ihrer Meinung nach nicht nur Gefühle ermögliche und hervorrufe, sondern eben auch zu emotionaler Verarmung führe, da der Zwang zu emotionaler Selbststeuerung nicht zu mehr gefühlten Freiheiten führe, sondern vielmehr zur Standardisierung und Funktionalisierung von Gefühlen und somit zu einer sozialen Erwünschtheit von nur bestimmten Gefühlen (Neckel 2005). Das wichtigste Anzeichen für Authentizität sind die ›unverfälschten‹ Gefühle einer Person, die mit ›natürlichen‹ Emotionen zeigen soll, dass Selbstverwirklichung und funktionale Anpassungsleistungen an die Erfordernisse der Erwerbsarbeit keine Gegensätze sind (ebd.). Die Subjekte sind also widersprüchlichen Anforderungen ausgesetzt. Die Zunahme von Arbeitsausfällen aufgrund von psychischen Erkrankungen korrespondiert m.A.n. mit dieser Anforderung, die, so erscheint es, zur seelischen und körperlichen Überforderung wird.3 Nötig wird also immer mehr, sich Selbst zu organisieren und dabei gut auf sich zu achten und sich im Rahmen der externen Anforderungen nicht selbst zu überfordern. Die Frage ist, wie sich die Subjekte den Anforderungen der Subjektivierung gegenüber verhalten können, ohne diesen ausgeliefert zu sein. Wie könnten sie ›gut zu sich selbst‹ sein und welche Gefühlsdimensionen sind dabei relevant?
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Relationalität und Selbstfürsorge Eine Annahme ist, dass eine »Sorge um sich« heute paradoxe Kraft entfaltet: Zum einen stellt, wie deutlich wurde, Selbstsorge als Technologie des Selbst die derzeitige Anrufung an die Erwerbsarbeitssubjekte dar, zum anderen kann Selbstsorge womöglich zur Distanz von sozialen Anforderungen verhelfen und zur Kritik werden. Hier nun setzt Eva Illouz in ihrem Zugang zu Emotionen an, indem sie Emotionen definiert, als »kulturellen Träger von Bedeutung einerseits und soziale Beziehung zu sich selbst und zu anderen« andererseits (Illouz 2006: 10). Selbstsorge beschreibt theoretisch ein fürsorgliches Selbstverhältnis, welches die selbstreflexiv gewendete Form der Erfahrung von verschieden gearteter Fürsorge beschreibt und somit intersubjektiv zu verstehen ist: Es geht dabei sowohl um eine sich stets aktualisierende soziale Beziehung zu sich selbst als auch zu anderen. Dieses Konzept steht somit in der Tradition der Theorien der Sorge (Care) und knüpft an anerkennungstheoretische Zugänge an. Die konkrete Erfahrung des ›Anderen‹ ist in diesem Sinne Bedingung des Selbstverhältnisses. Bei diesem Ansatz gilt es zudem zu berücksichtigen, dass Sorge und Unterstützung zwischen Individuen hin und her gegeben werden kann, zwischen denen keinerlei biologische, rechtliche oder sozial anerkannte Verbindung besteht. 4 Selbstsorge verweist somit auf eine Beziehungsdimension. Überdies kann Selbstsorge als Praxis der Selbstzugänglichkeit theoretisch konzipiert werden als Praxis der »Aneignung des eigenen Lebensvollzugs«. Dieses Konzept schließt damit an die sozialphilosophische Aktualisierung der Entfremdungsdebatte Rahel Jaeggis (2005) an. Bei dieser geht es jedoch nicht um eine substantielle Bestimmung dessen, von was man sich entfremdet – wie dies bei älteren marxistisch inspirierten Entfremdungskritiken noch der Fall war –, sondern um den Charakter einer Beziehung zu sich Selbst und zur Welt. Entfremdung begreift Jaeggi als gestörtes Aneignungsverhältnis. Für deren Aufhebung ginge es darum, sein eigenes Leben zu leben (ebd.), d.h. sich auf bestimmte Weise mit sich und der Welt zu identifizieren und sich diese aneignen zu können. Selbstsorge zielt also nicht allein auf ein normatives Konzept von Gesundheitshandeln sondern um eine den eigenen Deutungen und Prioritäten angemessen adäquate Praxis der Aneignung des Lebens im Sinne einer salutogenetischen Perspektive. Die damit verbundene Aneignungspraxis ist in meinem Zugang eingebettet in soziale Bindungen und Sorge für und von Anderen. Selbstsorge bezeichnet bezogen auf den Wandel der Arbeit dann eine Praxis der Integration verschiedener über Beziehungen vermittelter An- und Herausforderungen. Selbstsorge ist Be-
110 | S ABINE F LICK wältigung der Anforderungen und Praxis des guten Lebens zugleich und impliziert dabei stets eine mögliche Kritik an den gegenwärtigen Lebensbedingungen.
Zwischen Selbstreferentialität und Relationalität Da inzwischen einige Studien über die konkrete Arbeitssituation von Personen mit Vertrauensarbeitszeit und Zielvereinbarungen vorliegen und sich meine Ergebnisse damit größtenteils decken, fokussiert das Folgende auf die Emotionen in der Arbeit und der subjektive Umgang mit den daraus sich ableitenden Gefühlserfahrungen.5 Im Rahmen der Arbeitsorganisation dieser Leute sind die Leitprinzipien moderner Organisation umgesetzt: Flache Hierarchien, Teamstrukturen, flexible Arbeitszeiten, Selbstorganisation. Die Arbeitssituation ist von permanenter Mehrarbeit (Extensivierung) gekennzeichnet, dabei gibt es auch keine nennenswerten Unterschiede zu TeamkollegInnen mit Zeiterfassung. Die Arbeitsabläufe sind von dauerhaftem Informationsaustausch mit anderen abhängig (KundInnen, KollegInnen, Vorgesetzten). Unrealistische Zielvorgaben erhöhen den Leistungsdruck (Intensivierung), dieser wird in fast allen Fällen aufgrund der Ergebnisorientierung internalisiert. Es kommt zu einer Entgrenzung von Lohnarbeit in vielerlei Hinsicht (permanente Erreichbarkeit, Arbeiten zu Hause, am Wochenende, im Urlaub). Zusammengefasst deuten die Befragten ihre Arbeitsanforderung als fremdbestimmte Selbststeuerung. Die Belastung der Befragten liegt also in der Fremdbestimmung, welche Selbststeuerung strukturiert, nicht in der Anforderung an Selbstorganisation per se. Die konkreten Beschreibungen der Selbstsorgepraxen und Deutungen verweisen in den Interviews auf mehrere Dimensionen: Es geht um kontrastierende Alltagserfahrungen und Präsenzerfahrungen (wie Reisen oder Naturaufenthalte), Genuss (Shoppen, Weinverkostungen etc.), leibgebundene Praxen (körperbezogene und psychisch-kognitive Praxen, wie insbesondere Sport, Sauna, Entspannung etc.). Darin angelegt ist immer die Frage nach der Beziehungsgestaltung, den sozialen Bindungen. Dabei kommen jeweils Aspekte von Gefühlen zur Sprache, die sich der Vermarktlichungsstrategie entziehen.6 Grundsätzlich geht es in allen Dimensionen um darin jeweils angelegte Grenzziehungen und Entgrenzungen: Räumlich/zeitlich, die Erreichbarkeit betreffend, die Anforderungen betreffend, die Strukturierung betreffend. Diese Grenzen vermitteln sich wiederum im Rahmen spezifischer interpersonaler Beziehungen. Zentrales Thema der
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Befragten ist ihre Authentizität und Selbstbestimmung und damit verknüpft der Wunsch nach Anerkennung als sie selbst. Dies geht einher mit Gefühlen und dem Wunsch nach eigener Selbstwirksamkeit. Damit verbunden ist die Angst vor der eigenen Unzulänglichkeit. Die daraus resultierenden Selbstverhältnisse und je subjektiven Umgangsweisen mit den Anforderungen werden folgend anhand zweier Fällbeispiele, Paul und Helen,7 erläutert.
Paul: »Ich bin eigentlich immer erreichbar« Paul, 35 Jahre, arbeitet in einem Team mit zwei Leuten bei der Investmentabteilung einer großen Bank. Er ist zuständig für die Fondsentwicklung, die in der Bank etabliert werden soll, im Rahmen dieser Tätigkeit und ist er mehr unterwegs im Hotel als im Büro und in seiner Wohnung. Er betreut ca. 150 GroßkundInnen dieser Bank zu den Themen Investment und Vermögen und auch bei sogenannten »Incentives-Events«.8 An Tagen, an welchen er im Büro in Großstadt tätig ist, steht er um 5.30 Uhr auf, trainiert eine Stunde auf seinem Crosstrainer und geht dann nach einem Frühstück zwischen acht und halb neun ins Büro. Um 19 Uhr verlässt er das Büro um sich mal mit befreundeten Kollegen zum Abendessen oder Pokern zu treffen, mal direkt nach Hause zu gehen. An den Tagen, an denen er für seine Bank Veranstaltungen durchführt, übernachtet Paul im Hotel vor Ort und beginnt den Tag gegen 8 Uhr mit den Vorbereitungen der Veranstaltung. Diese dauern meist von 10 bis 17 Uhr und er selbst referiert bei diesen Veranstaltungen über neue Produkte der Bank. Den Rest der Zeit muss er als Ansprechpartner für die KundInnen zur Verfügung stehen und danach endet der Abend gemeinsam mit den KundInnen beim Büffet. Alle vierzehn Tage besuchen ihn am Wochenende seine beiden Söhne, die bei seiner geschiedenen Frau leben, die anderen Wochenenden verbringt er mit Sport. Mit seinen Söhnen verreist er zweimal im Jahr in die Ferien, zusätzlich dazu macht er ein Mal im Jahr eine vierwöchige Urlaubsreise mit Freunden, entweder zum Tauchen, Motorrad- oder Radfahren. Neben dem täglichen Training auf dem Crosstrainer, einem Lauftreff alle zwei Wochen samstags und den sportlichen Aktivitäten im Urlaub startet Paul auch bei Marathon Wettbewerben und würde gerne beim Triathlonwettbewerb IronMan mitmachen. Dieses intensive Sportpensum betreibt Paul erst seit der Trennung von seiner Frau, da er seit der Geburt der Söhne kaum Zeit fand, um Sport zu treiben. Er selbst bringt das Scheitern seiner Ehe mit seiner starken beruflichen Orientierung in Zusammenhang. Im Rahmen der Beschreibung dieser Beziehung betont Paul häufig, dass
112 | S ABINE F LICK seine Frau stets diejenige war, die ihm vorwarf, er arbeite zu viel und würde sich zu wenig an der Kinderbetreuung beteiligen »also mein Beruf is irgendwo mein Hobby also ich geh glaub ich zu 100 % in dem Job schon mit auf«
Pauls hauptsächliches Arbeitsmittel ist ein Smartphone (mit Mailprogramm), mit dem er telefonisch und per Mail erreichbar ist und sich in das interne Netz der Bank einloggen kann, um von unterwegs oder zu Hause aus, seine Mails zu bearbeiten. Für Paul ist dieses Smartphone seine zentrale Verbindung zur Umwelt, er schaltet es nie aus, auch nicht, wenn er im Urlaub ist, dann »schaff t« er es nach eigenen Worten nach einiger Zeit, nicht mehr auf Anfragen zu antworten.9 Innerliches Abschalten gelingt Paul erst nach mindestens einer Woche im Fernurlaub. Die reale Praxis des Abschaltens gestaltet sich jedoch anders: das Smartphone bleibt an, Paul ist erreichbar und bekommt Anfragen. Die Erreichbarkeit dient seiner Selbstvergewisserung. Sein »Abschalten« bedeutet lediglich, keine Anfragen zu beantworten, nicht etwa, das Gerät auszuschalten. Dass es inzwischen zu den Standards der Arbeitsorganisation mit Vertrauensarbeitszeit gehört, die Angestellten mit dem Zweck der permanenten Erreichbarkeit mit Smartphones auszustatten und dieses auch im Urlaub oder in der vermeintlichen »Freizeit« zu kontaktieren wird von Paul nicht thematisiert. Er begründet dies mit seinem Verhältnis zu seiner Arbeit, die seiner Ansicht nach seinem Hobby entspricht. Er geht zu 100% darin auf und verwirklicht sich darin selbst. Seine authentische Art steht nicht im Widerspruch zu den funktionalen Anforderungen aus der Erwerbsarbeit, viel mehr wird die damit verbundene hier unausgesprochene Affektregulierung ihm Rahmen seiner Erwerbsarbeit gratifiziert. Pauls sportliches Engagement dient ihm als Erfahrung der eigenen Leistungsfähigkeit. Er erfährt durch die sportliche Leistung seine Selbstwirksamkeit und dies hat selbst-immunisierende Wirkung (vgl. Schallberger 2004). Diese Selbstvergewisserung ist eine Strategie, die Furcht vor der eigenen Unzulänglichkeit in Schach zu halten. Überdies sind die Sportarten, die Paul betreibt, spezifisch. Es sind Sportarten, die man gemeinsam unternimmt, bei denen man aber nicht zusammen Sport treibt, anders als beim Mannschaftssport.10 Die eigene Leistungsfähigkeit wird im Sport erprobt und individuell erlebt. Nur Paul selbst ist Dreh- und Angelpunkt der Selbstvergewisserung, unabhängig vom Einwirken Anderer. Das Gefühl, immer erreichbar zu sein ist zentral für Pauls Erleben der eigenen Selbstwirksamkeit. Die damit verbundene Beziehung
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zu anderen Personen rückt in den Hintergrund. Es geht um das Aufrechterhalten einer Verbindung, welche die Relevanz seiner eigenen Person bestätigt. Diese Beziehungsform ist wenig intersubjektiv. Sie hat einen in diesem Sinne eher funktionalen Charakter, die Anderen sind relevant, da sie die eigene Existenz bestätigen, nicht, weil man sich in nähestiftender Verbundenheit zu ihnen fühlt. Im Rahmen seiner Selbstsorge sorgt Paul also dafür, erreichbar zu sein und sich permanent organisatorische Ziele zu stecken, die autonomiewirksame Effekte haben sollen. Sowohl in der Bank und im Kontakt mit den KundInnen ist Paul der Ansprechpartner als auch für seine Söhne und Freunde, für die er überdies die Organisation verschiedener Aktivitäten übernimmt. Es spielt dabei zudem keine Rolle für Paul, ob die Kontakte persönlich oder virtuell verlaufen. Paul favorisiert, so scheint es, virtuelle Kontakte, und meine Deutung ist, dass diese seinem Muster der Selbstzentrierung in Verbindung mit dem Ausblenden von Abhängigkeiten und dem Zurückwirken anderer Subjekte entspricht, welche womöglich Konflikte in den Blick rücken würde. Per Mail oder Telefon bleibt die Reaktion der anderen Person unscharf und der eigenen Deutung überlassen, diese versachlichte Kommunikation ist konfliktfrei und die dabei erlebten Gefühle geben kaum Anlass für Reflexion. Darüber hinaus blendet Paul die für eine intersubjektive Beziehung bedeutsamen Aspekte von Abhängigkeit und Ohnmacht aus. Dadurch, und dies stellt eine weitere Dimension Pauls Selbstsorge dar, sind diese Kontakte für ihn äußerst kalkulierbar und somit vermeintlich kontrollierbar. Hier ist gemäß der zu erbringenden Leistung und den Rahmenbedingungen von Anerkennung in der Arbeit oder beim Marathon, die sich ja an messbarer Leistung orientiert, Kontrolle und Planung möglich. Diese Kontrolle wird aufgrund der Arbeitsorganisation zudem als autonom erlebt, da sowohl Arbeitsort als auch der Zeitpunkt, wann welche Dinge erledigt werden sollen, von Paul selbst bestimmt werden können. Autonomie bedeutet für Pauls Fall nicht die Freiheit und Selbstbestimmung in Beziehungen, sondern das Ausblenden von Beziehungen. Paul erlebt dadurch keine Beziehungen, die außer Kontrolle geraten könnten. Für diese Deutung spricht auch die zeitnahe Erfahrung einer außer Kontrolle geratene Beziehung: die Ehe. Es scheint als wäre die Ehe unkontrollierbar geworden und daher in die Krise geraten. Die Krise bestand für ihn womöglich vor allem im Erleben seiner eigenen Abhängigkeit und der damit verbundenen Erfahrung von Unkontrollierbarkeit und Ohnmacht.11 Hier kommen Gefühle ins Spiel. Intersubjektivität beschreibt ein Verhältnis zweier Subjekte zueinander, mit je eigenen Dynamiken. Diese Beziehungen sind aufgrund der Dynamiken nicht kontrollierbar und ermöglichen
114 | S ABINE F LICK Erfahrungen mit offenem Ausgang und den entsprechenden Gefühlen dabei. Letztere wiederum können Anstoß zur Selbstreflexion geben. Der Fall zeigt das Zusammenspiel zwischen Pauls subjektiven Beweggründen und Prioritäten für seine Selbstsorge und den Anforderungen aus der Erwerbsarbeit. Dabei geht es insbesondere um den Aspekt der permanenten Erreichbarkeit, die sowohl eine Anforderung der Arbeitswelt als auch eine Praxis der Selbstgewissheit Pauls darstellt. Pauls Umgang mit der Integration der Anforderungen aus den verschiedenen Lebensbereichen gestaltet sich zu Lasten seiner nahen Beziehungen und Bindungen. Der Bezug zu anderen Personen hat eher instrumentellen Charakter. Pauls Selbstsorge kreist um Kommunikation und Erreichbarkeit in all seinen Lebensbereichen. Es geht bei Paul nicht um eine Grenzziehung den Anforderungen der Erwerbsarbeit gegenüber. Pauls Selbstsorge entspricht in der Terminologie der Arbeitssoziologie gesprochen vielmehr einer bewusst herbeigeführten subjektiven Entgrenzung von Lohnarbeit im zeitlichen und kommunikativen Sinne. Seine Strategie des Umgangs mit den verschiedenen Anforderungen ist ihre Vereinheitlichung: Arbeiten wird zu Hobby. Obwohl bei Paul Selbstsorge und subjektivierte Arbeitsanforderung ineinander wirken, kann man bei ihm nicht von einer unvermittelten Internalisierung der externen Anforderungen sprechen. Vielmehr entspricht sein Selbstverhältnis und daraus folgend seine Selbstsorge dem Leistungsimperativ der Ökonomisierung. Lautet seine persönliche Losung »ich bin erreichbar«, so kommt die seiner Arbeitsorganisation entgegen. Es ist ein Zusammenspiel, keine bloße Verlagerung von äußerem Zwang ins Innere des Subjekts. Der Schritt zur Internalisierung von externen Zwängen verläuft über die Selbstzentrierung und damit verbunden über die Ausblendung von Beziehungen. Das bedeutet, die subjektive und durchaus damit zunächst eigensinnige Aneignung des eigenen Lebensvollzugs nach eigenen Kriterien, um es mit Jaeggi zu formulieren, führt in Pauls Fall zu einer Zentrierung um sein Selbst, welches sowohl positiv als auch negativ als Hauptverantwortlicher für die äußeren Lebensbedingungen gedeutet wird. Sowohl der Blick auf die eigene Leistungsfähigkeit als auch die eigene Unzulänglichkeit entsprechen dieser selbst zentrierten Betrachtungsweise.
Helen: »Dann ruf t der mich um 22.15 Uhr an, da krieg’ ich immer schon so’n Hals« Helen, 41, von der die eingangs zitierte Interviewpassage stammt, ist ebenfalls im Fondsgeschäft tätig. Ihr Mann durchläuft zum Zeitpunkt des Interviews eine bereits andauernde berufliche Sinnkrise. Er wur-
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de von seinem Kollegium sabotiert, was ihn nervlich so sehr belastete, dass er psychosomatisch erkrankte. Daraufhin beschloss er, ganz zu kündigen und ist zum Zeitpunkt des Interviews seit einem Monat ohne Stelle. Helen finanziert beide, sowie die Wohnung, die sie sich gemeinsam gekauft haben. Sie steht an einem gewöhnlichen Arbeitstag gegen 6.30 Uhr auf, verbringt eine halbe Stunde im Bad und bereitet ein gemeinsames Frühstück vor. Dann frühstückt sie eine Stunde lang mit ihrem Mann und schaut dabei Börsennachrichten im Fernsehen. Anschließend fährt sie mit der U-Bahn in die Bank. Mittags verlässt sie für gewöhnlich das Gebäude, um in der Nähe eine Kleinigkeit zu essen und mal »ums Carree« zu gehen. Nach der Pause arbeitet sie weiter bis 19 Uhr. An den meisten Tagen der Woche geht sie anschließend direkt nach Hause. Manchmal nimmt sie jedoch auch Termine beim Friseur oder im Fitnessstudio nach der Arbeit wahr. Wenn sie zu Hause ankommt wechselt sie die Kleidung und setzt sich dann mit ihrem Mann zusammen, um sich mit ihm über den Tag auszutauschen. Am Wochenende verbringt Helen die meiste Zeit mit ihrem Mann. Das Wochenende wird mit einem Ritual eingeleitet. Sie kauft auf dem Weg von der Bank nach Hause etwas für das Abendessen ein und wenn sie mit dem Kochen beginnt, trinken die Beiden dabei ein Glas Sekt. Sie erledigt Samstags die Einkäufe für den Haushalt, manchmal wird sie dabei von ihrem Mann begleitet. In den Sommermonaten fährt sie gemeinsam mit ihm und ihren beiden Kollegen Rennrad. Sie betont, dass sie wenig ausgehen. Helen beschäftigt seit »kurzer Zeit« eine Putzfrau, die einmal in der Woche kommt.12 Ihren jetzigen Vorgesetzten kennt Helen bereits aus einer früheren Anstellung und erlebt ihn als kontrollierend und zum Teil sehr übergriffig. Er ruft sie desöfteren spät abends auf dem Smartphone an, um etwas Berufliches mit ihr zu besprechen, was sie wütend macht. Diese Wut dient Helen als Folie, vor der sie ihre Kritik an der von ihr so empfundenen Übergriffigkeit thematisieren kann. Sie deutet das Verhalten ihres Vorgesetzten als subtilen Versuch, seine hierarchisch höhere Position deutlich zu machen: In der Aussage »da krieg ich immer schon so’n Hals« (oben) steckt Helens Verärgerung über dieses Verhalten. Sie identifiziert die Anfragen klar als externe Anforderung und aus ihrem Gefühlserleben heraus begründet sie für sich auch, in Ruhe gelassen werden zu wollen. Gleichzeitig sieht sie sich dadurch, dass sie ihn bereits kennt, in einer ambivalenten Position in Konfliktsituationen, die sich ab und an mit dem Vorgesetzten und ihren Kollegen ergeben. Sie sucht nach einer Vermittlerposition, da sie sich nicht einfach solidarisch
116 | S ABINE F LICK mit ihren Kollegen »gegen« ihren Chef stellen kann, da sie diesem gegenüber ebenfalls eine Verpflichtung verspürt. Sie deutet sich hier stark in verschiedene Beziehungen eingebettet und fühlt sich dabei »zwischen allen Stühlen«. Sie ist verschiedenen Anforderungen ausgesetzt, die sich über diese Beziehungen vermitteln. Sie beschreibt sich als eine empathiefähige Person, die immer weiß »wo anderen der Schuh drückt« und in dieser Selbstwahrnehmung möchte sie auch zwischen verschiedenen Positionen vermitteln und das »Verbindende« schaffen. Sie weiß, welche Probleme die von ihr unterstützen Vermögensspezialisten bei der Arbeit haben, und wie sie sie jeweils unterstützen könnte. Diese eigene »verbindende« Persönlichkeit möchte sie angesichts der externen vor allem beruflich vermittelten Strukturen nicht verlieren Dies ist, was sie als »Sinn« im Leben wichtig betrachtet und was ihrer Wahrnehmung nach immer häufiger in ihrem Beruf auf der Strecke bleibt. Auch Helen folgt also dem Deutungsmuster, dass Selbstverwirklichung und funktionale Anpassungsleistung an die Erwerbsarbeit nicht im Widerspruch zueinander stehen sollten. Auch sie möchte ›sie selbst‹ sein im Beruf. Die beruflichen interpersonalen Beziehungen werden von Helen jedoch als konfliktreich, da übergriffig, und fremdbestimmend erlebt. Dies begründet ihre Angst, nicht mehr sie selbst sein zu können und führt zu einer innerlichen Trennung der verschiedenen Sphären. Da sie also die verschiedenen Lebensbereiche als mit unterschiedlichen Möglichkeiten zur selbstbestimmten Beziehungsgestaltung erlebt, wird auch deutlich, warum sie eine klare Trennung zwischen »Beruf« und »Privatleben« wahrnimmt. Diese Deutung prägt ihre Praxis, mit den verschiedenen Anforderungen aus den verschiedenen Lebensbereichen umzugehen und ihre Gefühle bilden dabei die Grundlage ihrer Urteilsfähigkeit. Dabei geht es Helen darum, zum Schutze ihres »privaten« Raumes, alles andere »fern zu halten«, d.h. klare Grenzziehungen vorzunehmen. Wie bereits deutlich wurde geht es bei den Anforderungen denen Helen ausgesetzt ist um verschiedene Beziehungsformen, Kommunikationsanforderungen, die sie belasten. Weniger um konkrete Arbeitstätigkeiten, die Helen beinahe gar nicht erwähnt. Aus dieser Motivation heraus, die beiden Lebensbereiche möglichst getrennt zu halten, strukturiert Helen ihren Alltag klar über Zeit und Ort. Sie arbeitet nur unter der Woche und nur im Büro vor Ort. Sie schaltet das Smartphone aus oder »überhört« es in ihrer Zeit zu Hause oder immer, wenn sie nicht im Büro ist. Die Grenzziehung bezogen auf Zeit und Ort lässt sich entlang kleinerer Rituale als Praxis festmachen. So wechselt sie beispielsweise ihre Kleidung beim Nachhause kommen und dies dient der Idee, zu Hau-
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se »privat« sein zu wollen und dementsprechend die Berufskleidung abzulegen. Auch in anderer Richtung: So schauen beide Partner gemeinsam morgens die Börsennachrichten im Fernsehen an und sie »stimmt sich dabei ein bisschen ein«, d.h. sie gestaltet den Übergang aus der einen in die andere Sphäre. Auch das Ritual, Freitagabends ein Glas Sekt zu trinken, folgt dieser Idee. Man hat »Feierabend« und begrüßt das Wochenende, welches hier als klar erwerbsarbeitsfreie Zeit konzipiert ist. Vor dem Hintergrund der Diagnose einer Entgrenzung von Lohnarbeit kann also in dieser Grenzziehung eine Praxis der Bewältigung und Selbstsorge identifiziert werden, die selbst organisiert von Helen hergestellt wird. Angeleitet von der Idee und dem Wunsch, sie selbst sein zu können, ist Helens Praxis der Selbstsorge eine Integrationsleistung der verschiedenen Anforderungen der Bereiche Erwerbsarbeit und Privatleben. Eine Hauptrolle bei der Praxis des »man selbst Seins« spielt für Helen dabei ihr Mann. Seine Gegenwart, seine Anerkennung bietet ihr die Möglichkeit zu Hause »privat zu sein, frei zu sein« und ihre Beziehung gemäß ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten. Die Integration dieser Anforderung an ihr Leben als gutes Leben soll im Rahmen von Ritualen der Grenzziehung auf verschiedenen Ebenen gelingen. Sie macht eine klare Unterscheidung zwischen externen Anforderungen des Berufs und ihren eigenen Wünschen. Dazu gehört auch der Wunsch etwas Sinnvolles mit zu gestalten, dies jedoch hat sie für sich bereits geklärt: Im Rahmen ihres jetzigen Berufes ist dies nicht möglich. Helen Selbstsorgemuster steht also paradigmatisch für den darin angelegten Wunsch nach selbstbestimmter Beziehungsgestaltung im Sinne fürsorglicher Beziehungen. Sie ist bestrebt, etwas »Sinnvolles« im Leben zu erleben und dabei »sie selbst« bleiben zu können und in Beziehungen etwas »Verbindendes« zu schaffen. Dieser Wunsch prägt ihre Selbstsorgepraxen und findet sich bei Helen chiffriert als Wunsch nach »Authentizität«. Der Sinn, der ihr Dasein authentisch macht, ist die Gestaltung von Beziehungen. Die Fremdbestimmung, die Helen im Rahmen der Beziehungsführung/-anforderung in der Bank erlebt wird von als Entfremdung ihrer Person erlebt. Sie wünscht sich Autonomie in diesen Beziehungsgestaltungen, die An- und Herausforderungen in der jetzigen Position haben jedoch eher ausführenden und fremdbestimmten Charakter. Arbeitsanforderung treten mittels Kommunikationstechnologie oder in Form der Vorgesetzten oder anderer Kollegen an sie heran und in diesen Situationen gilt es, diese Anforderungen abzuwehren. Es ist eine resignative Erfahrung von Fremdbestimmung,
118 | S ABINE F LICK die Helen die Entfremdung als Angst vor der Selbstentfremdung erleben lässt, bzw. ihre Angst davor prägt. Angeleitet ist auch diese Beschreibung von der Vorstellung, seine ›ganze Persönlichkeit‹ in den Arbeitsprozess einbringen zu können. Die Erfahrung der Fremdbestimmung und Angst vor Selbstentfremdung geht einher für Helen mit der Nicht-Anerkennung bzw. Missachtung von unsichtbarer Emotionsarbeit im Rahmen ihrer Beziehungsgestaltung. Helens besondere Leistung besteht ihrer Selbstdeutung zu Folge gerade in ihrer vermittelnden Art, die das Team zusammen hält und größere Spannungen zwischen den verschiedenen Hierarchieebenen überbrückt und ausgleicht. Diese Selbstdeutung korrespondiert schließlich mit anderen Studien (Hochschild 1990), die diese vermittelnde fürsorgliche Art als »Emotionsarbeit« bezeichnen. Hier allerdings in ihrer unsichtbaren und nur subtil geforderten Form. Diese emotionale Art, Beziehungen zu ihrer Umwelt zu unterhalten geht nun im Rahmen ihrer Erwerbswelt für Helen nicht mit Anerkennung dafür einher, dass sie »sie selbst« ist. Diese Beziehungserfahrung der Missachtung prägt Helens Gefühlserleben und gibt zugleich Anstoß zur Erkenntnis über ihre Situation. Anerkennung für ihre Art, Beziehungen zu gestalten, wird ihr nur im Rahmen ihrer privaten Beziehungen, vor allem der zum Ehemann zu teil, was wiederum deutlich macht, warum Helen so viele Anstrengungen unternimmt, diese Beziehung zu pflegen und sich im Rahmen dieser Anerkennungssphäre zu engagieren.
Schluss Zusammenfassend beschreiben die Fälle zwei Varianten des Umgangs mit den emotionalen Anforderungen der subjektivierten Arbeit. Während Helen insbesondere wünscht, ihre Beziehungen gestalten zu können, um sie selbst sein zu können, sie also ihre Perspektive auf ihr authentisches Selbst auch in Bezug auf andere und damit verbundene Gefühle deutlich macht, treten bei Paul stärker die bereits als prototypisch beschriebenen Emotionen und Selbstbezüge in den Vordergrund die ebenfalls selbstreferentiell sind, aber dabei Bindungen und damit verbunden auch reale Abhängigkeiten ausblenden. Obwohl es also darum geht, durch die Erreichbarkeit im Job Selbstwirksamkeit zu erleben (und zu erfühlen), liegt der Fokus und Kern seines Selbstverhältnisses in ihm selbst. Somit ist es auch sein eigenes Defizit, nicht abschalten zu können. Insbesondere die Angst vor der eigenen Unzulänglichkeit beinhaltet sowohl die Angst, externen Anforderun-
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gen nicht zu genügen, weil man es selbst nicht schaff t (nicht etwa, weil die Anforderungen zu hoch sind) als auch den internen Wunsch, man selbst zu sein, nicht zu verwirklichen. Dieser Selbstbezug verunmöglicht eine Reflexion vorhandener Herrschafts- und Abhängigkeitsbeziehungen. Demgegenüber erlebt sich Helen aufgrund der mangelnden Möglichkeit ihre Beziehungen gemäß eigener Vorstellungen zu gestalten, als fremdbestimmt, bis hin zur Angst vor der Selbstentfremdung. Sie grenzt sie sich auf der Grundlage dieser Gefühlswahrnehmung von externen Übergriffen ab und erlebt die damit verbundenen Gefühle als Anstoß zur Kritik ihrer eigenen Situation. Autonomie bedeutet also in diesem Zusammenhang nicht die Abwesenheit von Beziehungen, sondern deren Reflexions- und Gestaltungsmöglichkeit. An Helens Beispiel wird deutlich: Das Nicht-Anerkennen, oder stärker Missachten ihrer Beziehungsgestaltung und emotionaler Arbeit ist Teil des individualisierenden normativen Programms der Ökonomisierung der Emotionen. Nur bestimmte, selbstreferentielle Emotionen geraten in den Blick, beziehungsstiftende oder gar herrschaftsthematisierende werden ausgeblendet. Gefühle werden also, so sollte deutlich werden, im Rahmen der Ökonomisierung der Emotionen strategisch in den Dienst der Anforderungen aus der Arbeit gestellt, sie entstehen aber zugleich im Rahmen von Beziehungerfahrungen dabei und können dann Ursprung für eine Bewertung der eigenen Lebenssituation sein. Selbstsorge ist eine Praxis, externe Anforderungen zu meistern und dabei gleichzeitig eine Idee vom guten Leben zu folgen, die womöglich zur Distanz von sozialen Anforderungen verhilft und zur Kritik werden kann. Durch eine Perspektive, die die Relationalität von Emotionen in den Fokus rückt, werden also überindividuelle Strukturen re-thematisiert. Gefühle stellen dabei eine Grundlage für Urteilsfähigkeit dar. Diese muss nicht zwangsläufig zur Kritik führen, sie eröffnet aber zumindest die Möglichkeit dafür.
Anmerkungen 1
2
Zugrunde liegt diesem Text mein Dissertationsprojekt, in welchem ich die Selbstsorgepraxen der Prototypen des Formenwandels der Arbeit untersucht habe. »Vertrauensarbeitszeit« ist ein Arbeitszeitmodell, bei welchem der Arbeitgeber komplett auf die Kontrolle der geleisteten Arbeitszeit verzichtet und allein die Arbeitsergebnisse mittels Zielvereinbarungen festlegt. Die Befragten arbeiten also rein ergebnisorientiert. Die Zielvereinbarung ent-
120 | S ABINE F LICK sprechen in der Praxis eher Zielvorgaben, die Beschäftigten können diese nicht wirklich vereinbaren. 3 Depression ist zu einem Massenphänomen geworden. Die Zahl der Fehltage von Beschäftigten auf Grund von psychischen Leiden, wie beispielsweise Burn-Out Erkrankungen oder auch Tinnitus sind gestiegen (IGES Institut für Gesundheits- und Sozialforschung GmbH 2006; Weber et al. 2006). 4 Es sind nicht nur die vertrauten Personen, die Teile des heterosexuellen Paares oder der Kernfamilie, die sorgen oder umsorgt werden. Sasha Roseneil argumentiert eher dafür, dass Bild des Sorgens zu queeren, und auch Praxen der Freundschaft als fürsorgliche Beziehungen ernst zu nehmen (Roseneil/Budgeon 2004). 5 Ich habe mit Frauen und Männern, die als InvestmentbankerInnen arbeiten, im Alter von 30 – 50 Jahren 18 leitfadengestützte Interviews durchgeführt (je 9) Diese BankerInnen stellen Prototypen des beschriebenen Formenwandels der Subjektivierung von Arbeit dar und arbeiten mit neuen Steuerungsformen wie Vertrauensarbeitszeit und Zielvereinbarungen. Zentrale Frage ist, welche Praxen des Umgangs mit sich und den Anforderungen, welche Selbstfürsorgepraxen sich also bei den Befragten beschreiben lassen. Da ich hier meine Ergebnisse nicht in ihrer Fülle präsentieren kann, fasse ich nur die im Hinblick auf meinem heutigen Fokus relevanten Ergebnisse zusammen. 6 Aus Gründen der Zuspitzung kann an dieser Stelle nicht weiter auf die konkreten Praxen eingegangen werden. 7 Die Personen und Ortsnamen wurden geändert. 8 ›Incentives‹ sind Geld- und Sachprämien, Veranstaltungen oder Reisen, die von Unternehmen eingesetzt werden, um Einzelpersonen (zum Beispiel MitarbeiterInnen, Geschäftspartner und Politiker) zu beeinflussen, zu motivieren oder zu belohnen. 9 Relevant ist dabei, dass er es sich selbst zuschreibt, hier zu versagen und es nicht zu »schaffen«. 10 Das Laufen ist ein zwar gemeinsam betriebener Sport, der aber sehr selbst zentriert und zunächst wenig kompetitiv ist; man läuft gemeinsam, misst aber die »persönliche Bestzeit« usw. 11 Paul erwähnt erst nach dem Interview beiläufi g, dass er wieder eine »Freundin« habe. 12 Beinahe alle Befragten betonen, dass sie erst »seit kurzer Zeit« eine Haushaltshilfe beschäftigen.
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Sprache der Gefühle
Der Fall Achilles: Begehren und gender-Dynamik im mittelalterlichen Antikenroman Andrea Sieber
Inszenierungscharak ter Konstellationen illegitimen oder irrealen Begehrens stellen in Antikenromanen des Mittelalters innovative Erzählmuster für personale Bindungen bereit. Beziehungen, die in diesem Kontext eingegangen werden, gelten als Experimentierfelder, um emotionale Extremzustände auszuloten und vielfältige Reaktionsmöglichkeiten durchzuspielen.1 Als Grenzerfahrungen von Soziabilität werden sie in besonderer Weise szenisch und literarästhetisch arrangiert. Dies kann im Rückgriff auf die Kategorie der ›Inszenierung‹ genauer erläutert werden. Der ursprünglich aus der Theaterwissenschaft stammende Begriff erlebte in der kulturwissenschaftlichen Forschung der letzten Jahre eine Hochkonjunktur und hat sich auch in der mediävistischen Literaturwissenschaft bereits als besonders leistungsfähig bei der Analyse von Gefühlsdarstellungen erwiesen. Man definiert Inszenierungen als »ein räumliches Geschehen von Objekten und Körpern, Bewegungen und Berührungen, Gesten und Stimmen, Lauten und Klängen« (Seel 2001: 59), das sich prozessual vor einem Publikum in intentionalen Handlungskontexten ereignet. Momentanität, Produktion von Präsenz, Unverwechselbarkeit in der Iteration, aber mitunter auch Einmaligkeit sind Merkmale, die Inszenierungen in der Moderne kennzeichnen. Für Auff ührungen mittelalterlicher Texte
126 | A NDRE A S IEBER können diese Aspekte als konstitutiv angesehen werden. Ereignischarakter und Flüchtigkeit von Inszenierungen bedingen ihre spezifische Historizität, die immer auf mediale Fixierung in Schrift und Bild angewiesen ist. Literatur avanciert in diesem Kontext zu einem privilegierten Medium, um zum einen Inszenierungen zu dokumentieren und zum anderen – und das ist die wesentliche Innovationsleistung von volkssprachlicher Literatur – Wirklichkeit ästhetisch zu entwerfen. Dabei ist von einem komplexen Zusammenspiel von historischer Realität und Fiktion auszugehen, das nach Wolfgang Iser nicht als Abbildungsverhältnis missverstanden werden sollte. »Ist Darstellung phantasmatische Figuration, dann wird sie zum Modus der Inszenierung, die das zur Erscheinung bringt, was seiner Natur nach nicht gegenständlich zu werden vermag. […] Nun beinhaltet Inszenierung, daß ihr etwas vorausliegen muß, welches durch sie zur Erscheinung kommt. Dieses Vorausliegende vermag niemals vollkommen in Inszenierung einzugehen, weil sonst dieses selbst das ihr Vorausliegende wäre. Anders gewendet ließe sich auch sagen, daß jede Inszenierung aus dem lebt, was sie nicht ist. Denn alles, was sich in ihr materialisiert, steht im Dienste eines Abwesenden, das durch Anwesendes zwar vergegenwärtigt wird, nicht aber selbst zur Gegenwart kommen darf.« (Iser 1991: 504ff.)
Literarische Inszenierung erweist sich in diesem Sinne als ein »grundsätzlich arbiträres Arrangement« (Seel 2001: 52), als »Form der Dopplung schlechthin« (Iser 1991: 511), die es als produktionsästhetische und rezeptionsästhetische Dimension zu differenzieren gilt. Aus diesen grundlegenden Beobachtungen lässt sich eine auf den historischen Untersuchungsgegenstand abgestimmte Definition für ›Gefühlsinszenierungen‹ entwickeln: Literarische Inszenierungen von Emotionen sind fi ktionale Entwürfe möglicher Gefühle und emotionaler Ereignisse, bei denen »Arrangements von Sprache, Körper, Material in Relation zu Zeit und Raum« auf intentionale Handlungen einer Figur oder auf ästhetische Strategien eines Autors »zur Erzeugung bestimmter Effekte oder im Dienste bestimmter Darstellungsinteressen« (Eming/Kasten 2001: 227) zurückzuführen sind. Daraus resultierende Spannungsverhältnisse zwischen Handlungs- und Reflexionsebene sowie Produktions- und Rezeptionsästhetik lassen sich anhand der Gewichtung der verschiedenen Inszenierungselemente beschreiben, die einander dominieren, durchkreuzen oder bestätigen können. In exemplarischen Textanalysen zu Konstellationen des illegitimen oder irrealen Begehrens kann nachgewiesen werden, dass durch das Arrangement von Inszenierungselementen wie Körperlich-
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keit, Raum-Zeit-Relationen oder Sprechakte ein entsprechendes Spannungsverhältnis zwischen Figuren- und Rezipientenwahrnehmung konstituiert wird. Außerdem ist im Detail mit einer weiteren Komplexitätssteigerung des szenischen Arrangements zu rechnen, wenn die verbalen und nonverbalen Interaktion der Figuren und die selbstreflexive Innensicht auf ihre Gefühle und Wahrnehmungen mit sozialen Verhaltensstandards und gender-Distinktionen kollidieren.
Begehrensmuster Begehren, wie es plötzlich von Dido oder Achilles im Körper- oder Blickkontakt mit Aeneas oder Polyxena Besitz ergreift,2 gehört nach Iser zu den menschlichen »Evidenzerfahrungen« und stellt einen »zentrale[n] Sachverhalt literarischer Inszenierung« (Iser 1991: 509) dar. In Antikenromanen des Mittelalters unterliegt die inszenatorischnarrative Logik von Begehren vielfältigen diskursiven Einflüssen, die in einem Spannungsfeld von antiker Philosophie, biblischen und patristischen Modellen, medizinhistorischen Vorstellungen sowie zeitgenössischen literarischen Liebeskonzeptionen angesiedelt sind. Das Erkenntnisinteresse des Beitrages richtet sich jedoch nicht auf die detaillierte Rekonstruktion derartiger diskursiver Wirkmechanismen, sondern konzentriert sich zunächst auf die allgemeine Konturierung von Begehren als ein Komplex unterschiedlicher emotionaler Zustände, der offener und überdeterminierter als die Konstellation heterosexueller Liebe erscheint (Bausch/Eming 2004: 282ff.; Klinger 2002: 279ff.).3 Darstellungsmodi und Funktionen von Begehren bezüglich Codierung und Prozessualität, Handlungscharakter und Körpergebundenheit, Kommunizierbarkeit und Intentionalität ermöglichen es, Begehren im Sinne sozial-konstruktivistischer Emotionstheorien als sozial geprägte »Skripts« zu begreifen, »die durch Regeln definiert sind, welche die jeweils angemessenen Auslösebedingungen, Attributionen, Verhaltensweisen, Ausdrucksformen und andere soziale Praktiken festlegen« (Weber 2000: 144). Wenn im Folgenden der Begriff ›Begehrensmuster‹ gegenüber den Begriffen Affekt, Gefühl oder Emotion bevorzugt wird, trägt dies einschlägigen Vorstellungen Rechnung, dass Begehren verschiedene emotionale Zustände impliziert und infolge dessen nur als komplexer Handlungsvollzug und transitorischer Prozess, nicht aber als Einzelemotion oder ein Gefühl verstanden werden kann.4 Dagegen erscheint es sinnvoll, die allgemeine »Idee eines regelgeleiteten emotionalen Verhaltens« (Weber 2000: 144), das sich in
128 | A NDRE A S IEBER »prototypische[n] Szenarien oder Situationen« (Winko 2003b: 341) vollzieht,5 für das Problemfeld des Begehrens zu konkretisieren. Dabei gilt es, »alle Phasen des Auslösens, Wahrnehmens und Bewertens von Emotionen wie auch ihren Ausdruck« (Winko 2003a: 82) als abhängige Variablen anthropologischer Gegebenheiten des Menschen sowie historischer Normierungen und durch die Literarisierung auch als medial vermittelte Komponenten zu betrachten. Begehrensmuster umfassen demnach sowohl soziale Codes, Normen, Regeln und Standards für das Erleben und das Verhalten in mikro- und makrosozialen Arrangements (z.B. Liebe, Freundschaft, Vertrauensallianzen) als auch eine soziale Energie, die sich auf Lebewesen der Natur, Dinge, Tätigkeiten, abstrakte Werte, Macht oder imaginäre Strukturen richten kann und sich nicht zwangsläufig in sexuellen Handlungen realisieren muss (Bausch/Eming 2004: 284). Im vorliegenden Argumentationszusammenhang ist außerdem zu berücksichtigen, dass die Modi des Illegitimen und des Irrealen grundsätzlich zur Destabilisierung und Transgression bereits normierter Begehrensmuster beitragen oder neue Begehrensmuster provozieren können. Dabei werden affirmative, subversive oder destruktive Dynamiken entfaltet, die in einem Spannungsfeld von Innovation und Tabuisierung angesiedelt sind.
Der Fall Achilles Achilles erscheint bedingt durch seine vielfältigen personalen Beziehungen als ein polyvalenter Held. Seine Identität wird nicht nur durch die transvestische Bindung an seine Jugendliebe Deidamia (zuletzt Moshövel 2009: 353ff.) oder die tödlich endende Liebe zur verfeindeten Trojanerin Polyxena geprägt, sondern er ist außerdem durch seine empathischen oder agonalen Verbindungen mit dem Freund Patroclus (vgl. Krass 1999) oder dem Feind Hector (vgl. Sieber 2005) als ein Protagonist mit ambivalenten, wenn nicht gar kontradiktorischen Empfindungen konturiert. An seinen Fall wird ein Spektrum ›extremer‹ und irrealer Begehrenskonstellationen gewissermaßen wie ›Modellstudien‹ durchgespielt. Am Beispiel der Polyxena-Episode aus Herborts von Fritzlar »Liet von Troye« (nach 1195 oder 1210)6 möchte ich dies exemplarisch erörtern. Der Plot der Handlung basiert auf den spätantiken lateinischen Trojaberichten des Dictys Cretensis und Dares Phrygius (vgl. Merkle 1990): Die Liebeshandlung setzt mit den Trauerfeierlichkeiten zu Hectors erstem Todestag ein. Achilles erblickt Polyxena am Grab ihres
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Bruders und verliebt sich augenblicklich in sie. Er schickt einen Boten zu Hecuba, der für ihn um die Hand ihrer Tochter bittet. Im Gegenzug bietet er an, den Kampf zu beenden und nach Griechenland heimzukehren. Priamus willigt in das Heiratsvorhaben ein, wenn dadurch der Frieden mit den Griechen geschlossen werden könne. Um diese Bedingung zu erfüllen, agitiert Achilles seine Kampfgefährten den Krieg abzubrechen. Als diese den Friedensschluss ablehnen, zieht er seine Truppen von der Front ab und verbarrikadiert sich aus Liebe zu Polyxena in seinem Zelt. Paralysiert durch sein Begehren, bemerkt er nicht, wie die tausende Griechen wegen seiner Kampfabstinenz getötet werden. Erst als auch seine Myrmidones der Niederlage nahe sind, gerät er in den Kampfrausch des Berserkers und erschlägt zahlreiche Trojaner insbesondere seinen potenziellen Schwager Troilus. Den Tod ihres Sohnes wertet Hecuba als Verrat an den ausgehandelten Heiratsbedingungen. Um sich zu rächen, arrangiert sie ein vermeintliches Treffen mit Polyxena im Apollo-Tempel. Der unbewaffnete Achilles und sein Begleiter werden aus dem Hinterhalt ermordet. Polyxena wird nach dem Sieg der Griechen von Pyrrhus auf dem Grab seines Vaters hingerichtet. Die Achilles-Polyxena-Episode zeichnet sich maßgeblich durch eine destruktive, konkret tödliche Dynamik aus, die kausal auf das Muster irrealen Begehrens nach einer Frau aus dem verfeindeten Lager rekurriert (vgl. King 1987). Nach mittelalterlichen Vorstellungen wird Begehren vorrangig durch visuelle Wahrnehmung hervorgerufen (vgl. Kasten 2002), wie auch in anderen Kontexten von einer affizierenden sowie infizierenden Wirkung des Blickkontaktes ausgegangen werden kann. Dieser Logik folgend arrangiert Herbort zunächst eine Konstellation überschießender Neugier des Protagonisten. Er lässt Achilles das verfeindete Lager der Trojaner durch schouwen [aus Schaulust] (V. 11157) aufsuchen und setzt zuvor die Rezipienten über die negative Dynamik dieser Form des Begehrens in Kenntnis: Des er da gerte/Daz wart im vnsanfte da [Was er dort begehrte, das brachte ihn in Schwierigkeiten] (V. 11154f.). Es bedarf lediglich der hyperbolischen Präsenz einer weiblichen Figur und eines männlichen Blicks, um dem destruktiven Konnex von Schaulust, Begehren und Schmerz Evidenz zu verschaffen: Die selbe maget im nam Daz beste daz er hete Sterke vnd stete Im half mannes herze niet […]
130 | A NDRE A S IEBER Im was gar entrunnen Der tugende der er ie gwan Vnz dar was er gewesen ein man Do zv ginc im der manheit Er bleip in einer cranheit Durch polixenen minne (V. 11160-11173) [Dieselbe Jungfrau nahm ihm das Beste, das er hatte: Stärke und Zuverlässigkeit. Sein männliches Herz half ihm nicht mehr. […] Alle Tugenden, über die er immer verfügte, solange er ein Mann war, die waren ihm gänzlich abhanden gekommen. Nun war seine Männlichkeit zu Grunde gerichtet. Wegen der Liebe Polyxenas wurde er krank.]
Achilles’ Blick triff t auf Polyxenas Aura, die als aktive Macht imaginiert wird und eine radikale Transformation des Protagonisten bewirkt. Neben dem Verlust von Körperkräften und Tugenden fällt auf, dass die Energie des von der Frau verkörperten und zurück gespiegelten Begehrens auf das männliche Herz als Sitz der Gefühle aber auch der Seele und des Verstandes zielt. Der Vorgang impliziert Dekonstruktion von Männlichkeit und wird in topischer Manier als defizitärer Krankheitszustand beschrieben (vgl. exemplarisch Haage 1990). Die negative Kollision von minne [Liebe] und manheit [Männlichkeit] bereitet Herbort langfristig vor: Die übermächtige Präsenz des Protagonisten auf dem Schlachtfeld benutzt er für erklärende Rückblenden auf Achilles’ außergewöhnliche Ausbildung bei dem Centauren Chiron. Er inszeniert seinen Helden dabei als perfektes Produkt einer männlich forcierten Sozialisation (vgl. V. 6287-6308; 7395ff.). Dennoch vermag Achilles’ extrem konditioniertes mannes herze [männliches Herz] (V. 11163) nichts gegen das Transgressionspotenzial seines begehrenden Blicks auszurichten. Der Protagonist erlebt das Einsetzen der Liebeskrankheit zwar als überwältigende, transpersonale Macht, aber nicht nach geläufigen Mustern als körperliche Symptomatik, sondern in eklatanter Weise als Verlust männlicher Identität, der ihn zudem mit Nachdruck emotional belastet: Ich mac mich harte wol schamen Daz mir durch eines wibes namen Mannes herze ist engan Ich forchte ich mvzze den namen han Daz ich heizze ein wibe tore (V. 11177-11181)
D ER FALL A CHILLE S | 131 [Ich muss mich in höchstem Maße schämen, dass mir wegen einer Frau mein männliches Herz abhanden gekommen ist. Ich fürchte, ich muss ab jetzt ein Weibernarr genannt werden.]
Herbort schildert in anderen Begehrenskonstellationen etwa bei Diomedes minutiös die körperlichen Defekte, die aus der irrealen Begehrenskonstellation resultieren (vgl. V. 9418-9428). Umso brisanter erscheint es mir, dass im Fall von Achilles der Körper zunächst a-thematisch bleibt und stattdessen Defizienzen im mentalen Zentrum (Herz) und im Bereich der Selbstidentifizierung (Name, Weibernarr) aufgezeigt und als emotionales Problem (Scham) konturiert werden. Damit sind Dimensionen angesprochen, die im Sinne Judith Butlers als gender-Distinktionen fungieren und hier in Achilles’ Selbstreflexion als ein undoing oder engendering von Männlichkeit vollzogen werden.7 Die gesteigerte Aufmerksamkeit des Ich, die durchlebte emotionale Transformation und die männliche Dekonstruktion führt nach der Bewusstwerdung in der Figurenperspektive zu signifi kanten Verhaltensänderungen, die von der Umwelt wahrgenommen und normativ bewertet werden. Achilles’ Selbstdiagnose, ein Weibernarr (wibe tore) zu sein, wird sukzessive durch nachgereichte Details pathologisiert und im weiteren Handlungsverlauf als Zustand des Wahnsinns konturiert (vgl. Matejowski 1996).8 Achilles büßt seine drei wichtigsten Sinneskompetenzen Hören, Sehen und Sprechen ein. Herbort beschreibt dies als gestuften Regressionsprozess, der in einem Zustand des IchVerlusts kulminiert (vgl. V. 11193-11198). Nach Jan-Dirk Müller kollabiert in einer Identitätskrise, ausgelöst durch Wahnsinn, Liebeskrankheit, Zauber oder Gewaltübergriffe »ein basales, ganz und gar rudimentäres Ich-Gefühl, das jeden Menschen darüber versichert, daß es sein Körper ist, den er fühlt, daß er es selbst ist, ganz gleich, wie dieses ›Selbst‹ dann inhaltlich gefüllt wird, welche Rolle er sich zuschreibt und wie er sein Verhältnis zu den anderen begreift« (Müller 2004: 297). Selbstverlust und Einschränkung des IchGefühls spiegeln sich bei Achilles in der subjektiv erlebten Störung seines männlichen Begehrens wider und führen zu einer weiteren Selbstidentifizierung des Protagonisten mit dem Mythos von Narcissus:9 Mir were also mere Daz ich narcizzvs were Der harte schone iungelinc Der vber einen brunnen ginc Vnd sine schone dar inne sach
132 | A NDRE A S IEBER Vnd wider in sprach Er wonde ein wip ersehen han Vffe gnade vnd vffe wan Vf dem brunnen er lac Einen svmerlangen tac Vnd fl ehete vnd bat Vnz er an der selben stat Von swere vnd von leiden Muste vurscheiden (V. 11209-11222 [Mir ist außerdem so, als wäre ich Narcissus. Der außerordentlich schöne Jüngling, der sich über einen Brunnen beugte, und als er darin seine Schönheit erblickte, mit seinem Spiegelbild sprach, weil er es mit einer Frau verwechselte. In der Hoff nung auf ihre Zuneigung blieb er einen Sommer lang an der Quelle. Er flehte und bat solange, bis er an dieser Stelle aus Schmerz und Leid sterben musste.]
Sein irreales Begehren setzt offenbar einen bemerkenswerten Reflexionsvorgang bei Achilles in Gang. Treffend charakterisiert er die narzisstische Grundstruktur seines Begehrens als gestörte Wahrnehmung und Leiden bis in den Tod. Durch die Evokation defizitärer Männlichkeit korreliert seine Existenz auf den ersten Blick in effectu mit der Figur des Narcissus. Die diagnostizierte Einbuße von manheit nähert ihn aber nicht einem Seinszustand an, der tatsächlich als Weiblichkeit zu beschreiben wäre,10 sondern verleiht ihm lediglich den Status eines wibe tore, der weiterhin an einen Männlichkeitsentwurf gebunden bleibt und konstitutiv ein weibliches, übermächtiges Liebesobjekt voraussetzt. Im Gegensatz dazu erliegt Narcissus der trügerischen Identifi kation seines Selbst mit dem vermeintlichen Abbild einer weiblichen Figur. Liebendes männliches Subjekt und geliebtes weibliches Objekt fallen in einer transgender-Phantasie zusammen, was möglicher Weise mit einem radikalen Männlichkeitsverlust in der Imagination gleichgesetzt werden könnte. Bei Achilles dagegen wird die männliche Geschlechtsidentität vor allem dadurch aufrechterhalten, dass Polyxena als Objekt des Begehrens existiert und dem entsprechend die heteronormative Matrix nicht außer Kraft gesetzt wird. Achilles’ Selbstvergleich mit Narcissus erweist sich demnach als brüchig. Er dient zum einen der hyperbolischen Übertreibung seines emotionalen Verwirrungszustandes und deutet zum anderen trotz der Fehlidentifi kation genau auf das tödliche Potential hin, das auch der Struktur seines ›realen‹, aber deplazierten und somit als ir-
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real zu qualifizierenden Begehrens innewohnt. Die epistemologische Durchdringung seiner Gefühle benutzt Achill dabei als eine Art Bewältigungsstrategie, denn die bloße Idee eines dem unerfüllten Begehren zuvorkommenden Todes genügt ihm, seinen Liebesschmerz emotional und rational zu verarbeiten.11 Die pathologische Dynamik der Liebeskrankheit wird auf der Ebene des Denkens und der Selbsterkenntnis gestoppt und eine pragmatische Haltung der Figur in eigener Sache entwickelt. Konform mit der Selbstidentifizierung als wibe tore imaginiert sich Achilles in der genealogischen Nachfolge der Minnesklaven Samson, Absalon und Salomon (Schnell 1985: 264; Huschenbett 1990: 315f.). Er bereut seinen Spott über jene Männer, die sich wie diese mythischen Vorbilder weiblicher Macht ergeben haben. Für sich selbst entwickelt er eine erstaunliche Unterwerfungsphantasie, mit der er sich zunächst dem Willen und der Befehlsgewalt Polyxenas übereignet (vgl. V. 1124111249). Diese topisch anmutende Unterwerfung unter die Gewalt der Minnedame wird jedoch sukzessive als sado-masochistisches Begehren nach Gewaltausübung durch ihre Mutter Hecuba übercodiert: Sie mac mich heizzen ob sie wil Von der swarten vnz an daz swil Zv houwen vnd zv sniden Daz wil ich gerne liden (V. 11281-11284) [Wenn es sie danach verlangt, soll sie befehlen, mich vom Kopf bis zu den Füßen zu geißeln und zu zerschneiden. Das werde ich gerne erdulden.]
Achilles’ Begehren gerät ihm zur Folterphantasie. Durch die imaginierte Schindung der Haut bis in das Muskelfleisch räumt Achilles einer Frau eine außergewöhnliche Verfügungsgewalt über seinen Körper ein. Die vorgestellte Zerstörung seiner Körpergrenze symbolisiert dabei eine radikale Destruktion von Männlichkeit, die auff ällig quer zum mythischen Körperphantasma seiner unversehrbaren Hornhaut steht (Benthien 1999: 158ff.). Kombiniert wird seine Bereitschaft zu extremer körperlicher, entmännlichender Verausgabung durch Selbstmorddrohungen: Mir enwerde polixena/Da horet anders nicht zv/Wen daz ich mir den tot tu [Wenn ich Polyxena nicht bekomme, dann werde ich mich umbringen] (V 11264-11266). Aus der paradoxen Idee, dem tödlichen Muster des Narcissus-Mythos durch den Tod zu entkommen, ist eine ernst gemeinte, strategisch kalkulierte Drohung geworden, denn mit den Informationen über seine radikale Unterwerfung
134 | A NDRE A S IEBER und seinen Selbstmordwünschen schickt Achilles einen Boten ins feindliche Lager, um seiner Brautwerbung um Polyxena Nachdruck zu verleihen. Zwar gelingt dies, weil Hecuba Achilles’ Selbstentmächtigung außerordentlich gut gefällt (vgl. V. 11330f.) und Priamus glaubt, den griechischen Heerführer auf diese Weise zur Kampfabstinenz zwingen zu können, aber die Griechen verweigern sich bekanntlich dem Ehe- und Friedensvertrag und stürzen ihren Vorkämpfer dadurch erneut in eine Identitätskrise. Achilles’ Selbstexklusion vom Kampf bedeutet unter diesen zugespitzten Voraussetzungen nun de facto den Verlust der heroischmännlichen Identität, was vom Erzähler als autistischer Rückzug und als Regression in ein frühkindliches Entwicklungsstadium beschrieben wird (vgl. V. 11930-11934). Die destruktive Dynamik des irrealen Begehrens erzeugt jetzt außerdem körperliche Defekte, die Achilles erneut einer Selbstdiagnose unterzieht:12 Mine wangen die sint mir fal Vnd min varwe bleich sal Vnd wibel var min mvnt Min herze vil vngesunt Verdorret min lunge Zv cloben min zvnge Vergangen alle min macht (V. 12865-12871) [Meine Wangen sind verwelkt und meine Schönheit ist verblichen und getrübt, ebenso verblasst ist mein Mund. Mein Herz ist krank, meine Lunge verdorrt, meine Zunge gespalten, meine körperliche Kraft vollkommen zerstört.]
Wieder irritiert die Rationalität, mit der Achilles einem qualifizierten Arzt gleich seine Krankheitssymptome erfasst und das Ausmaß seines Statusverlustes definiert. Er ist wahnsinnig, unmännlich, schwach und machtlos (vgl. V. 12828-12841). Trotz der Selbsterkenntnis seiner körperlichen und seelischen Verfassung bleibt er diesmal der destruktiven Dynamik seiner Gefühle ausgeliefert. Achilles steigert sich nächtelang klagend in einen Zustand vollkommener Paralyse hinein. Erst als die Myrmidones vor seinen Augen abgeschlachtet werden, durchbricht sein Berserkerzorn diese pathologische Lethargie (vgl. V. 1299413003).13 Wie ein ausgehungerter, nach Schafen gierender Löwe stürzt sich Achilles in den Kampf, als hätte es Polyxena nie gegeben.14 Wieder kommt der visuellen Wahrnehmung eine Schlüsselfunktion bei
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der emotionalen und gender-distinkten Re-Transformation des Helden zu. Gegenläufig zur infizierenden und lähmenden Wirkung des begehrenden Blickkontaktes führt in einer Situation absoluter Handlungsstarre der traumatisierte Blick auf die getöteten Kampfgefährten plötzlich zur Affektentladung und zur befreienden Rückkehr in die männliche Sphäre des Krieges.15 Achilles ist wieder, wer schon immer war, ein zorniger Heros von omnipotenter Männlichkeit.16
Fazit Am Beispiel der Achilles-Polyxena-Episode zeigt sich, dass gender-distinkte Dimensionen von Identität und damit verknüpfte Handlungsund Machtpotenziale sich als instabile Konstrukte erweisen, sofern sie mit Konstellationen irrealen Begehrens verschränkt werden. Herbort hat dies nicht nur zur kreativen Umgestaltung der antiken Liebesgeschichte genutzt, sondern auch im Sinne eines undoing oder engendering von Männlichkeit durch extreme Emotionslagen produktiv gemacht. Seine Neuakzentuierungen sind auf unterschiedliche inszenatorische Strategien zurückzuführen. Die Zurückdrängung von Körpersymptomen zugunsten einer rationalen Gefühlszergliederung in der Psychonarration des Protagonisten wird dabei in eklatanter Weise nach dem kulturellen Wissensmuster des Narcissus-Mythos stilisiert und entgrenzt. Deutlich wird außerdem, dass durch die differenzierte Gewichtung einzelner Inszenierungselemente die vermeintliche Körpergebundenheit von Gefühlen durch Sprech- und Reflexionsakte nach innen verschoben werden kann und gleichzeitig neue Möglichkeiten des strategischen Umgangs mit Gefühlen als körperliche Destruktionsphantasien nach außen freigesetzt wurden. Die vorliegenden Beobachtungen zu einer solchen gegenläufigen Außen-Innen-Dynamik mit der vorübergehenden Konsequenz einer programmatischen Männlichkeitsdekonstruktion haben jedoch hypothetischen Charakter und müssten ausführlicher hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit auf andere mittelalterliche Texte und mit Blick auf Effekte des diachronen Wandels verifiziert werden. Weitere Bedeutungsdimensionen erschließen sich außerdem durch den Einbezug von Gattungskonventionen oder meta-narrativen Elementen wie Fiktions- oder Ironiesignale, die den Experimentalcharakter der Texte genauer fokussieren, aber in dem Beitrag nicht berücksichtigt werden konnten.
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Anmerkungen 1
Insgesamt gilt der Antikenroman als »Probier-Stadium« (Lienert 2001: 186) der Gattung Roman. 2 Im Folgenden werden für antike Figuren die normalisierten lateinischen Namensformen verwendet. Vgl. die Lemmata bei Kern/Ebenbauer 2003. 3 Zur enger gefassten Betrachtung von Liebe vgl. Sieber 2008. 4 Zum Forschungsstand aus mediävistischer Perspektive vgl. Eming 2007; Koch 2008. 5 Vgl. außerdem Vester 1991; sowie zum Konzept der paradigm scenarios de Sousa 51997. 6 Zitiert nach der Edition von Frommann 1837 [ND 1966]. Abkürzungen wurden aufgelöst, neuhochdeutsche Paraphrasen A.S. Für Basisinformationen zum Werk Lienert (2001: 111ff.); zur Spätdatierung vgl. Bauschke 2003. 7 Der Begriff des undoing gender betont, dass sogar die scheinbare Irrelevanz von gender eine konstruktive Leistung darstellt und tritt dabei methodologisch in ein Spannungsverhältnis zur Grundannahme des engenderings ästhetischer Praktiken, wonach auch ein zunächst nicht gender-bezogener Sachverhalt immer an der Erzeugung von Geschlechtszuschreibungen beteiligt ist (Butler 2004 [2009]: 75ff. [123ff.]) vgl. dazu auch Helduser 2004; Petersen 2004; sowie zuletzt zur Verschränkung von historischer Emotionalitätsforschung mit gender-theoretischen Ansätzen Rosenwein 2008. 8 Lengenfelder (1975: 40), deutet diesen pathologischen Zustand als mangelnde Affektbeherrschung. Dagegen muss eingewendet werden, dass Achilles im weiteren Handlungsverlauf sehr wohl vernünftig und Ziel orientiert handelt. 9 Der Narcissus-Mythos stellt in mittelalterlicher Literatur ein beliebtes Sujet dar, um Aporien des Begehrens zu veranschaulichen. Vgl. Walde 2002. 10 Vgl. dagegen Huschenbett (1990: 317), der mit der Selbstidentifizierung Achilles’ »Gewißheit« verbindet, »daß er sich im Spiegelbild als ein wip sehen würde.« 11 Zur Relation von Emotionalität und Rationalität vgl. Kasten 2008. 12 Herbort variiert diesen desolaten Zustand ideenreich und vor allem ironisch: Achillen sie vonden/Er gebarte in den stunden/Als er hette den zan swern/Er enwiste was er solde gern/Oder wes er geren mochte/Die minne in so drochte/Vnd hette in so sere gedrocht/Lege er an einer socht/Im wer vil baz gewesen [Als sie Achilles fanden, verhielt er sich so, als ob er Zahnschmerzen hatte. Er wusste weder, was er begehren durfte, noch wen er begehren konnte. Die Liebe bedrückte ihn so und hatte ihn so sehr gefesselt, dass es im besser ergehen würde, läge er krank dar nieder] (V. 12077-12085).
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Fromm (1993: 266), bezeichnet die »Zahnschmerzen des verliebten Achill« als Travestie. Das Berserker-Modell durchkreuzt auch an anderen Konstellationen Achilles’ Handlungsdistanz. Vgl. Sieber 2005: 89ff. Zur ›naturalistischen‹ Drastik vgl. zuletzt Herberichs 2008. Die programmatische Verwendung des Affekt-Begriffs bei Ridder 2003 entspricht der besonderen Dynamik dieser Szene gender-distinkter ReTransformation. Damit bestätigt sich scheinbar das hartnäckige gender-Stereotyp angry = male. Exemplarisch für die kritische Reflexion aus moderner Perspektive Shields (2002: 139ff.).
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von liebe und von leide – Begehren und Leid(en) des Gralskönigs Anfor tas im Parzival von Wolfram von Eschenbach Annabelle Hornung
Einleitung Schon im Mittelalter scheinen Gefühle und ihre Ausdrucksweisen geschlechtlich zugeschrieben. In der Inszenierung von Emotionen in der vormodernen Literatur sind hierbei vor allem »›(n)egative‹ Gefühle wie Angst, Trauer, Schmerz oder Scham […] vorzugsweise weiblich codiert.« (Benthien et al. 2000: 10) Aus gendertheoretischer wie emotionsanalytischer Perspektive sind in diesem wechselseitigen Verhältnis von Geschlecht und Gefühl besonders die Beispiele aus der mittelalterlichen Literatur interessant, bei denen die Inszenierungen der Emotion und der Geschlechtsidentität nicht kongruent oder dichotom dargestellt werden. Wenn beispielsweise ein ›negatives‹ Gefühl wie Leid nicht an einer weiblichen, sondern an einer männlichen Figur inszeniert wird, wenn ein Mann statt einer Frau leiden muss. Was geschieht, wenn der Gralskönig Anfortas im »Parzival« von Wolfram von Eschenbach leidet? Wie ändern sich dabei Ausdruck und Codierung der Emotion Leid und wie wirkt sich dies möglicherweise auf die Geschlechtsidentität der leidenden (männlichen) Figur aus? ›Leid‹, ›leiden‹, Leid ertragen und zugleich auch dieses anderen zufügen, sind Hauptmotive im »Parzival« von Wolframs von Eschenbach.1 Um zu verstehen, warum Leid(en) programmatisch für diesen mittelhochdeutschen Roman ist, muss die Handlung kurz zusammen
142 | A NNABELLE H ORNUNG gefasst werden:2 Nach dem Tod seines Vaters im Ritterkampf wächst Parzival bei seiner Mutter Herzeloyde fernab von jeglicher höfischen Umgebung in der Einöde Soltane auf. Herzeloyde hält ihr einziges Kind vom Leben am Hof (und als Ritter) fern, da sie Angst hat nach ihrem Ehemann auch noch den Verlust ihres Sohns zu erleiden. Doch Parzivals Entwicklung zum Ritter ist weder durch seine Mutter noch durch den Ausschluss vom höfischen Leben Einhalt zu gebieten. Als der Junge Rittern des Artushofs begegnet, beschließt er auch ein solcher werden zu wollen. Parzival verlässt seine Mutter, die sogleich nach seinem Aufbruch stirbt. Doch bevor der Knabe sich am Artushof und als Ritter profilieren kann, muss ihm erst die richtige Art und der angemessene Umgang bei Hof beigebracht werden. Dieses lehrt ihm der Adlige Gurnemanz. Die wichtigste (und – wie sich zeigen wird – ›verhängnisvollste‹) Regel, die Parzival von diesem lernt, ist, dass bei Hof nicht ständig gesprochen wird, sondern auch beizeiten geschwiegen werden soll. Das Schweigen – statt des Redens – wird schließlich zu Parzivals Verhängnis werden und leitet dann auch für diesen eine leidvolle Zeit ein. Nachdem dieser – wie es sich für einen höfischen Ritter, zu dem er sich nun entwickelt hat, gehört – eine schöne und adlige Frau gefunden hat, beschließt er seine Mutter zu besuchen. Dass diese tot ist, weiß er zu dem Zeitpunkt noch nicht. Auf dem Weg zu Herzeloyde begegnet er dann dem kranken Burgherren Anfortas und erlebt auf dessen Schloss ein geheimnisvolles Ritual, in das auch ein seltsames Gefäß – der Gral – eingebunden ist. Eingedenk Gurnemanz Lehren schweigt Parzival lieber zu diesen Geschehnissen und verpasst dadurch die Gelegenheit, nach dem Gral zu fragen und zugleich durch dieses Fragen, selbst Gralskönig zu werden. Nachdem Parzivals Versagen vor dem gesamten Artushof öffentlich bekannt gemacht und ihm prophezeit wurde, dass er erst wieder glücklich wird, wenn er ein zweites Mal auf die Gralsburg gelangen darf, beginnt das Leiden des Gralssuchers. Erst nach fünfjähriger Irrfahrt und nicht geglückten Versuchen wird Parzival wieder die Gelegenheit bekommen, auf die Gralsburg zu gelangen. Nachdem er bei einem Einsiedler mit Namen Trevrizent tiefere Einblicke in die Sphäre (und Eigenschaften) des Grals und dessen Gesellschaft gewonnen hat, darf er sein früheres Versagen wieder gut machen: Parzival befreit den amtierenden Gralskönig von dessen Leiden und tritt dadurch dessen Nachfolge an. Parzival verwandelt somit sein eigenes Leid durch Erlösung von Anfortas wieder in Glück. Zusammenfassend handelt es sich bei diesem mittelalterlichen Gralsroman um eine Abenteuer- und Entwicklungsgeschichte rund um den Protagonisten Parzival. Dieser – und das betont auch der Prolog – ist eine Geschichte von liebe und von leide [von Liebe und von Leid]
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(V. 3, 28ff.). Der Protagonist und (spätere) Gralssucher Parzival gilt in der mittelhochdeutschen Literatur tatsächlich als exemplarische Figur, an der die Leid-Mitleid- bzw. die Sünde-Schuld-Thematik verhandelt und untersucht wird.3 Während seiner Entwicklung vom unwissenden Jungen zu einem höfischen Ritter, dann Gralssucher und schließlich Gralskönig, die der Text nachvollzieht, ist Parzivals Verhalten (oder falsche Reaktion) die Ursache für so manches Leid anderer Personen. Er tötet beispielsweise einen seiner Verwandten und verschuldet den Tod seiner Mutter. Doch das Leid, das Parzival selbst zufügt und/oder erfährt bzw. die Schuld, die er daran trägt, soll nicht im Vordergrund dieser Analyse stehen. Es geht vielmehr um ein Leid, das Parzival zwar nicht unmittelbar verursacht, aber unwissentlich verlängert: Das Leid(en) des Gralskönigs Anfortas. Diesen sollte Parzival in der Funktion als Gralserlöser bei seinem ersten Besuch auf der Gralsburg durch Fragen von seinem Leiden befreien. Anfortas’ Kummer (kumber) und freudloses Dasein sind laut Angaben des Textes in erster Linie in einer siechheit [Krankheit] seines Körpers begründet (vgl. V. 231, 1). Diese Krankheit wiederum wirkt sich nicht nur auf Anfortas selbst aus, sondern bedeutet zudem Jammer für seine ganze Umgebung, v.a. seine männliche Entourage. Der Grund für das Leiden des Gralskönigs, so lässt uns der Text wissen, ist unkeusches Begehren gewesen: die hôchvart im ze lône bôt. Sîn jugent unt sîn rîcheit Der werlde an im fuogte leit, unt daz er gerte minne ûzerhalp der kiusche sinne. (V. 472, 25-30, Hervorh., A.H.) [Hoffart hat ihm [die Qualen] zum Lohne gegeben. Seine Jugend und seine Macht haben ihn und damit die ganze Menschheit mit Unglück geschlagen, und schuld daran war auch, dass er von unreiner Leidenschaft getrieben hinauszog, Liebe zu gewinnen]
Mit anderen Worten heißt das, dass wenn man das Leid des Gralskönigs analysieren möchte, man sich zugleich mit dem Gefühl des Begehrens auseinander setzen und es ist dabei zu klären, wie die beiden Emotionen Leid und Begehren zusammen wirken bzw. in welchem Verhältnis die beiden Gefühle stehen. Begehren als Emotion ist ein Konglomerat verschiedenster Empfindungen und auch in ihrer Expression nur schwer greif bar. So stellt auch C. Stephen Jaeger in seinen Vorüberlegungen zum Sammelband »Codierungen von Emotionen im Mittelalter« fest:
144 | A NNABELLE H ORNUNG »Desire for instance cannot be defi ned and categorized in anything approaching the fullness of the experience. The word points to a wide spectrum of sensations and motivations in the area of love; a chaos of conflicting emotions rides along with desire, ranging from greed and lust to religious devotion.« (Jaeger 2003: VI)
Zugleich ist Begehren eine feste Größe der Trias sex, gender und ›Begehren‹ und somit auch ausschlaggebend für die Zuschreibung von Geschlechtsidentitäten wie seit Judith Butlers Analyse in »Das Unbehagen der Geschlechter« bekannt ist (Butler 1991). 4 Wie Begehren im mittelalterlichen Gralsroman, genauer am Beispiel des (leidenden) Gralskönig Anfortas inszeniert wird, soll im Folgenden gezeigt werden. Begehren, das nach Jaegers Einordnung dem ›privateren‹ Bereich der Emotionen angehört,5 ist von einem breiten Spektrum anderer, widerstreitender Gefühle (»conflicting emotions«) begleitet und weder in seinem Kern noch in seiner Ganzheit (»fullness«) im literarischen Text zu vermitteln (Jaeger 2003: VIf.). Begehren bedient sich folglich Erscheinungs- und Ausdrucksformen anderer Emotionen wie Liebe oder Leid (vgl. ebd.). Die Aussage des Werkes »Parzival« bezüglich des Zusammenhangs zwischen Leid und Begehren scheint erstmals deutlich: Zuerst war das unkeusche Begehren, dem als Strafe das Leid folgte – eine Emotion löst die andere ab und ersetzt diese scheinbar.6 Der Lesart, die von ›nur‹ einem einmaligen (unkeuschen) Begehren ausgeht, in dessen Folge Anfortas sein Leid ereilt, möchte ich widersprechen. Es sollte oder müsste gerade auch im Hinblick auf die widerspenstige Inszenierung von Geschlecht, die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass das Leid des Gralskönigs nicht nur durch ein einmaliges falsches Begehren ausgelöst wurde. Der Grund für sein Leiden ist langwieriger, denn das (unkeusche) Begehren kommt durch die wiederholte Inszenierung des Leidens immer wieder an die Oberfläche und widerspricht einer eindimensionalen Lesart des Verhältnisses von Leid und Begehren. Das bedeutet außerdem, dass Leid nicht nur Folge sondern zugleich Ausdruck und Erscheinungsform des Begehrens ist. Leid scheint somit in jedem Ausdruck des Begehrens präsent und umgekehrt. Da sowohl Begehren als auch Leid zwei Emotionen sind, die direkt mit der Konstruktion und Codierung von Geschlecht zusammenhängen, werden im Fall von Anfortas, aufgrund seines Begehrens und dessen Vermischung mit Leid, Brüche sichtbar. Begehrensstrukturen und (männliche) Geschlechtsidentität werden uneindeutig verhandelt.
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Den Brüchen und Widerständigkeiten in der Geschlechtszuschreibung und der Codierung von ›falschem‹ Begehren in der Inszenierung des Leids, will die vorliegende Analyse durch ein queer reading von Anfortas’ Leid(en) nahe kommen.7
von leide – Erste Schilderungen des Leids Das Leid des Anfortas wird dem Leser des »Parzival« schon bei dessen ersten Auftritt angedeutet. Der Ritter Parzival triff t an einem See zufällig auf einen prächtig gekleideten Fischer.8 Dieser wird trotz seines augenscheinlichen Reichtums als ein trûric man [trauriger Mann] (V. 225, 18) charakterisiert. Auch im Folgenden zieht sich eine Spur von Leid sowie Traurigkeit trotz weltlicher Pracht durch die Schilderung der Vorgänge auf der Burg des Fischerkönigs, deren Zeuge Parzival wird. Als er auf der Burg ankommt, herrscht zwar auf den ersten Blick Überfluss, Pracht und Lebendigkeit. Dieser Eindruck wird jedoch durch die Trauer der Burgbewohner gebrochen: Sie werden zum einen als trûregen [Trauernde] (vgl. V. 228, 26) bezeichnet. Zum anderen wird Parzival von ihnen an anderer Stelle aufgeklärt, müsse er wegen eines scherzenden Narrens nicht zornig werden, sie hätten ›sonst nichts zu lachen‹: ez ist ein man der schimpfes kraft/hât, swie trûrc wir anders sîn [er hat das Amt und Privileg zu scherzen, so traurig es sonst hergeht bei uns] (V. 229, 16-18 Hervorhebungen A.H.). Der Kummer des Burgherren (V. 230, 30: wirt jâmers rîch) hat Auswirkungen auf seine Gefolgschaft. Er selbst hat alles Glück verloren: ez was worden wette/zwischen im und der vröude [Die beiden waren fertig miteinander: Er und das Glück] (V. 230, 18f.). Der Grund dafür ist eine Krankheit, an der er leidet (u.a. V. 231, 1). Während seines Aufenthalts auf der Burg des Fischerkönigs wird Parzival Zeuge einer Prozession, die sich rund um ein mysteriöses Ding, den Gral, dreht. Während dieses Rituals hätte Parzival der Krankheit und dem Leiden des Anfortas ein Ende bereiten können. Selbst die Pracht der Prozession und der Überfluss der Speisen, die aufgetragen werden, lässt bei dem leidenden Hausherren keine Heiterkeit aufkommen (V. 237, 8). Parzival wundert sich zwar über die Dinge, die um ihn herum geschehen und fragt sich zudem, was es mit dem ominösen Gral und dem kranken König auf sich hat, stellt jedoch keine dieser Fragen laut. Das wird besonders durch den Erzähler enttäuscht kommentiert: ôwê daz er niht vrâgte dô…(V. 240, 3f.). Der junge Ritter Parzival verharrt somit in der Position des – durchaus neugierigen – Beobachters, aber begreift weder die Geschehnisse um
146 | A NNABELLE H ORNUNG den Gral, noch bemerkt er das Leid seines Gastgebers, des Gralskönigs (Mertens-Fleury 2006: 137). Er findet erst sehr viel später den Zugang zur Gralssphäre. Bei diesem ersten Besuch auf der Gralsburg werden ihm tiefergehende Einblicke jedoch von sich selbst verwehrt, weil er nicht nach den geheimnisvollen Geschehnissen bzw. dem Leiden des Gralskönigs fragt. Auff ällig bei dieser ersten Schilderung des Leids von Anfortas ist zudem, dass er selbst an keiner Stelle darüber spricht. Entweder kommentiert der Erzähler das Leid des Gralskönigs, man beobachtet es durch die Augen anderer oder es wird in deren Aussagen angedeutet. Die Anteilnahme von Anfortas’ Gefolge an seinem Kummer spiegelt sich zudem in deren eigenem Kummer wieder. Seine Umgebung und seine Untergebenen leiden mit: in was wol herzen jâmers kunt [in ihrem Herzen war der Kummer daheim] (V. 227, 16). Besonders interessant ist dabei die Reaktion der Hofgesellschaft, als eine blutende Lanze als Teil der Gralsprozession herein getragen wird. Beim Anblick dieses Gegenstands beginnt ein unvermitteltes lautes Klagen und heftiges Weinen: dâ wart geweinet unt geschrît (V. 231, 23). Diese schmerzliche Reaktion der Masse wird eindeutig mit der Lanze in Verbindung gebracht, denn das Jammern und Wehklagen bricht ebenso schnell ab, wie es begonnen hat, als diese wieder hinaus getragen wird (vgl. V. 232, 1ff.). »Da das Objekt selbst das Leiden repräsentiert, was sich im Text in einer metonymischen Beziehung – da man jâmer für si truoc (V. 231, 16) – ausdrückt, darf die Reaktion der Gralsgesellschaft auch als Leidensinteraktion bezeichnet werden.« (Mertens-Fleury 2006: 142) Die Lanze ist, wie sich in der Folie von Anfortas’ Gefolge spiegelt, ein Symbol des Leids und zugleich – wie sich zeigen wird – Ursache und Linderung des körperlichen und seelischen Leidens des Gralskönigs. Diese zweifache Ausprägung des Leids findet sowohl Ausdruck in einem ›körperlichen‹ Leiden – im Sinne eines körperlichen Schmerzes (siechheit) – als auch in einem ›innerlichen‹ Leid – im Sinne von jâmer und kumber. Auch als Parzival seiner Cousine Sigune begegnet, die ihn noch weiter über den Zustand des Anfortas auf klärt und ihm diesen vergegenwärtigt, wird sowohl körperliches als auch seelisches Leid betont. Der jâmer [Kummer] (V. 251, 12) des trûrgen man(s) [traurigen Mannes] (V. 253, 21) beruht darauf, dass er die wichtigsten körperlichen Tätigkeiten eines Ritters nicht mehr ausüben kann: Er könne weder reiten, noch gehen, weder stehen noch liegen (vgl. V. 251, 16f.). Sigune ist es auch, die Parzival darauf aufmerksam macht, dass er Anfortas von diesem erbärmlichen Leid hätte befreien können (vgl. V. 251, 24), indem er die Fragen nach dem Gral und dem Leiden des Burgherren gestellt hätte. Da Parzival aber zugibt dieses versäumt zu
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haben, wendet sich seine Cousine von ihm ab und prophezeit ihm zudem zukünftiges Unglück. Dieses bricht schon bald über ihn herein, als die Gralsbotin Cundrie am Artushof erscheint und ihn verflucht. Der Grund für diese öffentliche Bloßstellung sei, so betont die Gralsbotin, dass Parzival den trûrge vischaere [traurigen Fischer] (V. 315, 28) nicht von seiner Last befreit habe, obwohl ihm Anfortas’ Leid deutlich vor Augen geführt worden ist: Er [Anfortas] truoc iu für den jâmers last [Vor Euer Augen hat er seines Jammers Last Getragen] (V. 316, 1).
von liebe – Begehren und Geschlecht Erst nach einer fünf Jahre andauernden Irrfahrt, auf der Parzival weder den Gral finden konnte noch dem Gralskönig wieder begegnet ist, erfährt er alle Umstände von Anfortas’ Leid. Nachdem er sich aufgrund des Unglücks, das der erste Besuch auf der Gralsburg mit sich gebracht hatte, von Gott verlassen gefühlt und sich deswegen vom Glauben abgewendet hat, kehrt Parzival dann doch zur Buße beim Klausner Trevrizent ein, der sich als sein Onkel und Anfortas’ Bruder erweist. Der Eremit schildert Parzival im Verlauf ihrer Gespräche Art und Auswirkungen von Leiden (V. 472, 21ff.). Hier wird erstmals auch der genaue Grund für die herzebære not [Qualen, die ihm das Herz abschnüren, Übers. A.H.] (V. 472, 25) des Gralskönigs angeführt. Anfortas habe sich und seiner Umwelt Kummer und Leid zugefügt, weil er nicht im keuschen Sinne begehrt habe: der werlde an im fuogte leit,/unt daz er gerte minne/ûzerhalp der kiusche sinne (V. 472, 27-30). Falsches oder unkeusches Begehren hat folglich das Leid bzw. die Krankheit des Gralskönigs ausgelöst und sei eine Bestrafung des Grals selbst: swelch grâles hêrre ab minne gert anders dan diu schrift in wert, der muoz es komen ze arbeit und in siufzebæriu herzeleit (V. 478, 13-16) [Wenn aber der Herr des Grals Verlangen hat nach Liebe, nach einer Liebe, die ihm nicht jene Schrift ausdrücklich erlaubt hat, dann muß ihm das Kummer bringen und Seufzen und Schmerzen.]
Als Folge dessen, dass Anfortas der Schrift bzw. dem Gral kein Gehorsam bezeugt hat und nicht im Sinne des Grals (= falsch) begehrt, wird ihm bei einem Kampf der vergiftete Speer in den heidruose [Hoden] gerammt (V. 479, 11f.). Diese Verwundung nun sei es, die dem Gralskö-
148 | A NNABELLE H ORNUNG nig auf körperlicher wie seelischer Ebene so sehr zusetzt, dass er sich das Ende seines Daseins herbei sehnt. Doch der erlösende Tod wird wiederum auch durch den Gral verhindert, denn wer immer diesen anblickt, vermag nicht zu sterben, sondern wird am Leben erhalten (V. 480, 25ff.). Alleine Parzival, der vom Gral erwählte Nachfolger sei es, der Anfortas von seinen Schmerzen erlösen könne (V. 483, 20ff.). Anfortas hat dem Gral zuwider – mit anderen Worten falsch – begehrt. Seine Strafe dafür ist, dass er entmannt wird und große Schmerzen zu leiden hat. Entmannung oder Kastration, die der Grund für sein Leid ist, ist im Mittelalter direkt mit ›Impotenz‹ verbunden (vgl. McCracken 2001). Männlichkeit und Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht jedoch definiert sich über Potenz: »Potency came to be not only the way in which a male defined himself, but how he was defined by society […]« (Boulloug 1994: 41).9 So kann man die durch die Entmannung instabile, männliche Geschlechtsidentität als Effeminisierung des Gralskönigs lesen (vgl. Klosowska 2005; Michaelis 2007). Effeminisierung galt zudem im Mittelalter als eine der ›prehomosexuellen Kategorien‹ (vgl. Halperin 2002).10 Die Wunde des Anfortas zeigt somit zum einen den Verlust seiner Männlichkeit, die sich zudem auch in der Unmöglichkeit zeigt, typisch ritterlich-männlich codierten Tätigkeiten wie reiten, kämpfen und jagen nachzugehen. Zum anderen weist diese ›gezwungene‹ Abwendung von (einer männlichen) Geschlechtsidentität auch eine vom normativen Begehren hin (McCracken 2001: 137). Somit können am Beispiel von Anfortas weder Geschlechtsidentität noch Begehrensstrukturen eindeutig zugeschrieben werden. Seine Wunde ist Ausdruck seiner nicht klar definierbaren Geschlechtsidentität (ebd.: 138),11 denn seine Entmannung effeminisiert ihn. Dies drückt sich auch im besonderen Maße darin aus, wie Anfortas’ Wunde charakterisiert wird. Sie zeichnet sich in ihrer Beschreibung dadurch aus, dass sie aus dem mittelalterlichen Medizindiskurs entlehnte weibliche Attribute besitzt. Sie ist effeminisiert, weiblich konnotiert (V. 490, 1-491, 18): Sie ist nach innen gestülpt, wie ein Loch, kalt und feucht (vgl. besonders V. 491,8: durch sîner sûren wunden gruft [denn faulig geht es von der Höhle seiner Wunde].12 Über viele Verse wird bis ins Detail beschrieben, wie die männlichen Mitglieder der Gralsgesellschaft versuchen, die Wunde zu heilen, um diesem dadurch Linderung zu verschaffen. Es werden Zweige, Steine und Kräuter daran gerieben oder hinein gesteckt,13 wirkliche Besserung verschaff t jedoch nur die blutende Lanze der Gralsprozession, die in sie gebohrt wird: daz sper muos in die wunden sîn:/dâ half ein nôt für d’andern nôt/des wart daz sper bloutec rôt [Da mußte nun das
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Eisen des Speers in seine Wunde hinein: Das eine Übel sollte für das andere helfen. Da wurde der Speer blutig rot] (V. 489,30-490,2). »Given the nature of treatment of Anfortas’s wound – repeated penetration, intense and prolonged attention from the male entourage – this figure bridges seemingly opposed characteristics: uxoriousness, philandering, and homoeroticism. While the reason for the wound is an excess of heterosexual activity, the treatment requires male – to male genital manipulation.« (Klosowska 2005: 30)
Parzival erhält nun endlich eine Erklärung, warum ausgerechnet die Lanze bei der Gralsprozession so großen Jammer und heftiges Weinen ausgelöst hat.14 Sie muss von Zeit zu Zeit in die Wunde gebohrt werden, um Anfortas ein wenig Linderung seines Leids zu verschaffen (V. 489, 30-491,18). Da sein Gefolge als Spiegel von Anfortas’ Schmerzen fungiert, spürt es wiederum diese Penetration nach: Es ist so, als ob ihnen die Lanze ins Herz gebohrt würde (V. 493, 11f.). Ihr Jammer und ihre Tränen (vgl. V. 232, 2f.) erinnern in der Intensität an die erste Vorführung der Lanze. Hierbei zeigt sich, dass während die Wunde des Anfortas weiblich konnotiert ist, die Linderung der Schmerzen durch Penetration mit männlich konnotierten Heilmitteln erfolgt: »In Wolfram the wound is feminine, and masculine elements are applied to cure it, producing the ultimate paradox: the effeminate man is cured by contact with the masculine element, or (if one were willing to read the cure of Anfortas as a sexual metaphor), by having sex with a man.« (Klosowska 2005: 27)
So analysiert auch Renée Meyer zur Capellen in seiner psychologischen Betrachtung »Die Hohe Frau im Minnesang und im Parzival« den Zusammenhang zwischen der Wunde des Gralskönigs und der Rolle der (verletzenden) Lanze: »Die blutige Lanze ist die verletzende Waffe und verletzter Körperteil, verletzendes Glied und kastriertes Glied zugleich; und die immer aufs neue blutende Wunde verweist auf die weibliche Wunde: Ein Mann kastriert mit der Lanze bohrend, den Rivalen und macht ihn zur Frau. Bohrt man die Waffe in die Wunde, bringt sie Erleichterung der Schmerzen. Ich denke, daß damit auf die homoerotische-homosexuelle Komponente der ritterlichen Zweikämpfe verwiesen wird: die durchbohrende Lanze, die Unterwerfung unter den Gegner.« (Meyer zur Capellen 1993: 117)
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Von liebe und von leide – Ver flechtung von Begehren, Leid und Geschlecht Da bei Anfortas Begehrensstruktur und Geschlechtsidentität nicht deckungsgleich funktionieren, wird Heteronormativität in Frage gestellt: »(T)he Fisher King [Anfortas] is cast as queer, genitally transgendered, an ›emotive transvestite‹« (Klosowska 2005: 44). Seine Entmannung, sein Begehren gegen die normative Ordnung, aber auch sein Leid sind Hinweise auf den ›queeren Charakter‹ des Gralskönigs.15 In der Inszenierung seines Leidens sind Spuren seines nicht-normativen Begehrens zu finden und diese sind zugleich die Bestrafung desselben. Sein Leiden betriff t nicht nur seinen eigenen Körper innen wie außen, sondern wird (semi-)öffentlich vor seinem Gefolge zelebriert, wobei dieses passiv als Abbild seines Leids und aktiv in ihren (vergeblichen) Versuchen als Heiler dessen fungieren. Durch Leid und Wunde wird Anfortas’ Identität als Mann in Frage gestellt und zugleich auch die als Gralskönig, da dieser der einzige in der Gralsgesellschaft ist, der den Fortbestand sichern könnte. Mit Ausnahme des Gralskönigs und seiner vom Gral bestimmten Frau ist Fortpflanzung in der Gralssphäre untersagt. Die Gralsgesellschaft füllt sich dadurch auf, dass neue Mitglieder per Schrift auf dem Gral in diese berufen werden (V. 495,1-12). Das Problem des Fortbestehens der Gralsgesellschaft wird am Ende durch die Übergabe des Amts von Anfortas an Parzival gelöst. Nachdem Parzival von Trevrizent über den Grund von Anfortas’ Verwundung aufgeklärt ist und sein eigenes Verhalten eines Gralskönigs würdig ist, hat er die Möglichkeit ein zweites Mal zur Gralsburg zu gelangen und die versäumte Frage zu stellen. Auch hier so kurz vor dem guten Ende wird noch einmal der jâmer (V. 789, 20; 792, 8), kumber (V. 788, 6; 788, 13) und die qual (V. 789, 11) des traurigen Gralskönigs (V. 794, 26) betont. Das erste Mal spricht auch Anfortas selbst über sein Leid (V. 787, 9-788, 12; 795, 2-19) und macht dabei keinen Hehl daraus, dass er am liebsten sterben würde. Doch sein Gefolge und der Anblick des Grals halten ihn solange am Leben, bis Parzival ihn mit der Frage, oeheim, waz wirret dier [Oheim, was tut dir weh] (V. 795, 29), heilt. So wird das Leiden des amtierenden Gralskönig Anfortas durch die Frage des zukünftigen Gralsherren Parzival beendet. Mit dem Leid als Ausdrucksmöglichkeit ist auch das Begehren als möglicher Analysegegenstand verschwunden. Anfortas hat seine Rolle zu Ende gespielt und ebenso die mit seiner Person verknüpfte widerständige Geschlechtsinszenierung. Die Präsenz des ›queeren Begehrens‹ in der mittelalterlichen Literatur jedoch, welche der Gralskönig Anfortas verkörpert, ist jedoch nur ein erstes Indiz dafür, dass es sich bei der Sphäre des
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Grals16 um eine »eigentümlich queere Ordnung« handelt (Michaelis 2007: 38), die eine queere Lesart des »Parzivals« fördert.17
Ausblick Zwei Aspekte sollen nach der Analyse dieses einen Beispiels der Kopplung von Leid und Begehren, wie es im mittelalterlichen Gralsroman »Parzival« inszeniert wird, noch zur Diskussion gestellt werden. Diese sollen möglicherweise Anregung sein, um den Bogen zu anderen Phänomenen zu schlagen, in denen nicht-normatives Begehren mit Leid einher geht und die möglicherweise die moderne Emotionsforschung anregen könnten. Der erste Aspekt ist die Einordnung der Nobilitierung von nichtnormativem Begehren, die in der Darstellung des Anfortas sichtbar gemacht werden kann. Er wird zum einen als Gralskönig durch die an die Eucharistie erinnernde Gralsprozession und deren christlich aufgeladene Gegenstände (Gral und Lanze) in die Nähe von Jesus gerückt. Zum anderen vollzieht Anfortas in seinem Leid und Leiden die Passion Christi nach. Das Leiden des Gottessohns nachzuahmen, war im Mittelalter eine verbreitete religiöse Praxis und nobilitierte den Gläubigen. Da Leid(en) im Fall von Anfortas jedoch untrennbar mit queerem Begehren verbunden ist, könnte man nun behaupten, dass beide Emotionen gleichermaßen als erstrebens- und nachahmenswert hervorgehoben werden und nicht nur im literarischen, sondern auch im religiösen Kontext Leid im Begehren und umgekehrt liegt. Der zweite Aspekt ist, wie die Verbindung der beiden Emotionen Leid und Begehren im Verhältnis vormodern-modern zu beleuchten ist: Sind heutzutage, da ›Homosexueller‹ eine Identitätskategorie geworden ist, die es im Mittelalter nicht gab,18 Leid und queeres Begehren immer noch so stark verbunden? Leid scheint, wenn es nach Lacan geht, jeglichem Begehren inhärent zu sein: Begehren (désir) ist die Kluft zwischen dem Bedürfnis (besoin) und dem Verlangen/der Bitte (demande) (vgl. Lacan: 1986) . Diese Kluft eröffnet sich in den Menschen schon seit der Geburt und wird immer als Mangel wahrgenommen. Dieser schlägt sich vor allem darin nieder, dass das Begehren niemlas befriedigt werden kann. Mit anderen Worten hat Begehren auch immer etwas mit Passion und Leiden zu tun.19 Wenn dies nach wie vor der Fall sein sollte, können dann Abwertung, Verleugnung, Schweigen20 sowie widerspenstige Praktiken wie Sadomasochismus als Indiz der bis heute andauernden Kopplung der beiden Gefühle gedeutet werden? Dies könnte der Gegenstand einer anderen Analyse sein.
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Anmerkungen 1
Wird im Folgenden zitiert nach: Wolfram von Eschenbach (2003): Parzival. Die Versangaben erfolgen im Text. 2 Im Folgenden wird die Handlung zum besseren Verständnis der Gralsgeschichte in diesem interdisziplinären Band paraphrasiert wieder gegeben. Für diesen Hinweis und alle anderen fruchtbaren Anregungen möchte ich Sabine Flick herzlich danken. 3 Um hierfür einige Studien zu nennen: Mauer (1951); Auch Alois Wolf bezeichnet im ›Parzival‹-Kapitel seines Buchs den jâmer als »Leitwort« des Romans. Vgl.: Wolf (1985: 12f., 27, 49); ebenso: Mertens Fleury (2006); Zur Schuldproblematik von Parzival siehe: Bumke (2004), Mohr, (2002) und Green (2002). 4 Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan prägte den Begriff des Begehrens. Vgl. hierzu z.B. Lacan, (1986); Zu Begehren und Geschlechtsidentität vgl. Butler (1991): Hierin verweist Butler v.a. auf die Konstruiertheit von Geschlechtsidentitäten, die es aufzudecken gilt, um dadurch die Einheit von sex, gender und Begehren und die Dichotomie von Geschlecht in Frage zu stellen. Wann immer die Einheit nicht deckungsgleich funktioniert und Brüche aufweist, ergeben sich Möglichkeiten mit widerständigen Praktiken in die heterosexuelle Matrix zu intervenieren. 5 Jaeger unterscheidet zwischen den privateren Gefühlen, die er »emotions« nennt und den öffentlich inszenierten, die er als »sensibilities« bezeichnet. In: Jaeger (2003: VI). 6 Zur Idee der mittelalterlichen Affektenlehre, dass neben der Kontrolle auch die Ersetzung eines Affekts durch einen anderen statt fand, vgl. Eming (2006: 43 bzw. FN 41). Diese Ideen finden sich auch im Trieb-EmotionsVerhältnis der Psychoanalyse wieder, vgl. dazu: »Historische Psychologie und Psychoanalyse« in: Eming (2006: 46ff.) und »Traditionelle Emotionskategorien: Trieb, Begehren, Affekt, Gefühl«. In: Ebd. (2006: 59ff.). 7 Queer reading ist ein Lektüreverfahren, das sich laut Andreas Krass auf alle kulturellen Texte anwenden lässt. Vgl. Ders. (Hg.) (2003: 22); Zum queer reading in den Philologien siehe auch den Bericht der Tagung Queer Reading, die vom 2.-6.11.2006 an der Universität Wien statt fand: www.univie. ac.at/queer-studies/fi les/tagungsbericht_lang.pdf (29.02.2008). 8 Der Fischer(-könig) ist mit Anfortas identisch. 9 Siehe dazu auch: Boulloug (1994: 43): »[…] masculinity is equated with potency«. 10 Siehe: Halperin (2002: 93): »Effeminacy […] is also one of the main ›prehomosexual‹ categories.« Wobei Halperin zudem an anderer Stelle darauf hinweist, dass auch diese Kategorie ihre Geschichte hat. Was beispielsweise in der modernen Gesellschaft als männlich gilt, wie der amerikanische
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Football-Kapitän, der aus schnelle Autos und leichte Mädchen steht, wäre in der Antike, in der Disziplin und Zügelung des Appetits vorgeherrscht hat, als effeminisiert wahrgenommen worden (Ders. (2003: 181ff.). In der mittelalterlichen Literatur war Männlichkeit sehr eng mit Ritterlichkeit verbunden und meistens in einem heterosozialen Verhältnis inszeniert. Der Kreis um die uneindeutige Geschlechtlichkeit des Gralskönigs Anfortas schließt sich dann, wenn Carolyn Dinshaw in ihrem Buch »Getting Medieval« zudem schreibt, dass auf Sodomie (Homosexualität) im Mittelalter Kastration bzw. Entmannung stand: »[…] (T)he punishment for sodomy was castration for the first offense.« In: Dinshaw. (1999: 185). Vgl. McCracken (2001): Der Kastrierte/Entmannte ist weder vollkommen männlich (»fully male«) aber auch nicht weiblich (»fully female«) (ebd.: 138). Feuchtigkeit, nach innen gestülpte Form und Kälte sind im Mittelalter Attribute des weiblichen Geschlechts, während Trockenheit und Hitze den Männern zugeordnet sind. Vgl. Cadden (1993). Im Einzelnen sehen die Heilungsversuche wie folgt aus: Zweige werden an der Wunde gerieben: do gewunne wir daz selbe ris/dar ûf Sibille jach/ Enêas für hellesch ungemach [Wir verschaff ten uns den Zweig, den Sibille dem Enêas empfohlen hat als Mittel gegen die Gefahren der Hölle](V. 481,30-482,2); sie wird mit dem Blut eines Vogels bestrichen: ein vogel heizt pellicânus:/[…]/do gewunnen wir des vogels bluot,/[…]/unt strichens an die wunden [Es gibt ein Vogel, der heißt pellicânus. […] Das Blut des Vogels haben wir uns verschaff t […], und wir strichen es an die Wunde] (V. 482,12-21); das Herz des Tieres monîcirus, ebenso wie ein Stein, der unter dessen Horn wächst, wird benutzt: ein tier hiezt monîcirus:/[…]/wir gewunn des tieres herzen/über des künges smerzen./wir nâmen den karfunkelstein/ûf des selben tieres hirnbein/[…]/wir bestrichen die wunden vorn,/und besouften den stein drinne gar [Ein Tier heißt monîcirus […] Wir haben uns das Herz von diesem Tier verschaff t gegen die Schmerzen des Königs. Wir nahmen den Karfunkelstein, der auf dem Stirnbein dieses Tieres wächst […] und bestrichen die Wunde von vorn und tauchten den Stein ganz hinein] (V. 482,24-483,3); und schließlich ein seltenes Kraut: wir gewunn ein wurz heit trachontê [Wir verschaff ten uns ein Kraut das heißt trachontê] (V. 483,6). Häufig, obwohl der Texte es nicht explizit aussagt, wird die Lanze der Gralsszene mit der des Longinus verglichen und die geschilderten Leiden als Erinnerung an die Passion Christi. Vgl. hierzu auch Wenzel (1995: 69); Mertens Fleury (2006) bezeichnet die Lanze auch als »Memorialzeichen«, das »über die Blutstropfen an die Wunde und das Leiden erinnert.« (Dies. 2006: 143f.; zur Erläuterung: 143, FN 150). Vgl. dazu: »(H)ow dominant medieval culture would perceive a queer char-
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acter. Anfortas is scripted so as to inspire pity and abjection.« (Klosowska 2005: 32). Zugehörig zur ›Sphäre des Grals‹ zähle ich alle Bereiche, in denen der Gral wirkt: Die Gralssuche, die Gralsburg, die Gralsfamilie, die Gralsdynastie bzw. die Gralsgesellschaft. Auch das Begehren anderer Figuren der Gralsfamilie wird nicht normativ inszeniert und hängt unmittelbar mit Leid zusammen. Um nur ein weiteres Beispiel kurz zu skizzieren: Parzivals Cousine Sigune verschuldet den Tod ihres Geliebten und dessen Verlust lässt sie leiden bis zu ihrem eigenen Tod. Während sie jedoch noch (mehr schlecht als recht) am Leben ist, begehrt sie den toten Leib ihres Geliebten in fast nekrophiler Art. Die Unterscheidung zwischen Homosexualität und Sodomie wie wir sie heute treffen, war im Mittelalter noch nicht existent. ›Homosexualität‹ – als Bezeichnung für die Liebe und den Sex zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern – wurde erst im 19. Jahrhundert vom Schriftsteller Karl Maria Kertbeny als Wort neu geschöpft und von Richard von Kraff t-Ebing in seiner »Psychopathia sexualis« ab 1886 berühmt gemacht (siehe dazu: Brunner, et al. (2005: 13f.). Im Mittelalter dagegen wurde Sex mit einem gleichgeschlechtlichen Partner ›Sodomie‹ genannt. Vgl. hierzu: Bossinade (2000), die feststellt, dass »das Begehren nichts weniger denn eine Passionsgeschichte sein kann.« Bzw. bemerkt: »Als Passion kann das Begehren aber schon deshalb konnotiert werden, weil es mit Mangel zu tun hat.« (In: Bossinade (2000): 57); Vgl. auch: Evans (1996: 37): »Desire is not a relation to an object, but a relation to a LACK.« Vgl. hierzu den programmatischen Titel eines der Unterkapitel von Heinrich Detering: »Wie sollte ich reden können.« In: Ders (1994: 9ff., Hervorh. A.H.).
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»Ein herz bedenket nichts/ das Lieb’ und Eifers=voll.« Liebe und Intrige in Friedrich Christian Bressands »Hercules unter denen Amazonen« (1693) Jennifer Villarama
Die Amazone als Leit- und Idealbild des 17. Jahrhunder ts Die Darstellung von starken Frauen, den so genannten femmes fortes, war im Kontext der querelle des femmes im 17. Jahrhundert äußerst populär (vgl. Baumgärtel/Neysters 1995). Mit ihnen verbunden wurde vor allem der Typus der Amazone, »der mannhaft mutigen, frei und entschlossenen handelnden Frau« (Schlumbohm 1978: 78), die zudem Liebe und Ehe ablehnt. So stilisierte sich Christina von Schweden (1626-1689) als Amazone (Baumgärtel 1997: 165), um ihre Stellung als regierungsfähige und den männlichen Monarchen ebenbürtige Frau zu bekräftigen, während die ›Grande Mademoiselle‹, Anne Marie Louise d’Orléans (1627-1693), mit der mythischen Kriegerinnenfigur ihr Selbstbild als heroische Feldherrin betonte (Schlumbohm 1978: 84). Selbstinszenierungen als Amazonenköniginnen Myrina (vgl. Hübner 1615) oder Penthesilea (Schnitzer 1999: Abb. 192) bei höfischen Feierlichkeiten sowie die Beliebtheit des Amazonenmotivs in der Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts (vgl. Frenzel 1999: 19ff.) bekräftigen nicht
158 | J ENNIFER V ILL ARAMA nur die Popularität dieses mythologischen Weiblichkeitsentwurfes, sondern erklären auch dessen häufiges Vorkommen in Opernlibretti des Barock (vgl. u.a. Pallavicini 1689; Postel 1690).1 Doch wie werden Amazonen in der frühen Oper dargestellt? Welche Eigenschaften und Affekte (im Sinne von Passionen und Gemütsbewegungen2) werden ihnen zugeschrieben? Worin sind spezifische Charakterisierungen der Figuren begründet? Vor dem Hintergrund von Operntheorien und den Aufgaben eines Librettisten soll am Beispiel des Singspiellibrettos »Hercules unter denen Amazonen«3 im Folgenden erläutert werden, in welcher Weise dessen Autor Friedrich Christian Bressand (1670-1699) auf das gerade im 17. Jahrhundert so beliebte Amazonenmotiv rekurrierte, es für seinen Operntext nutzbar machte und diesen zu einer affektgeladenen Darbietung verarbeitete. Dabei richtet sich das Augenmerk nicht nur auf die Theatralität 4 von Affekten und die sprachliche Dimension der barocken Liebesrhetorik, sondern insbesondere auf die speziellen Konflikte, die das Thema Liebe bei den Kriegerinnen auslöst; rufen diese doch seit den antiken Mythen nicht nur die Vorstellung einer solidarischen Frauengemeinschaft, sondern auch die der Männerfeindlichkeit hervor.
Der Librettist als Schöpfer der Intrige Form und Inhalt barocker Bühnenwerke wurden maßgeblich von ästhetischen Vorstellungen der Zeit und den Erwartungen geprägt, mit denen der Operndichter konfrontiert war. Zu dessen primären Aufgaben gehörte, das Publikum – ob an höfischen oder kommerziellen Spielstätten5 – zu unterhalten (vgl. Smart 1992). Welche Regeln für die Konzeption eines Singspiellibrettos als dramatische Gattung6 zu beachten waren, äußerten insbesondere Christian Friedrich Hunold (1681-1721) – auch unter seinem Pseudonym Menantes als galanter Dichter bekannt – und Barthold Feind (1678-1721), ebenfalls ein bedeutender Autor um 1700. Als Librettisten der Hamburger Oper am Gänsemarkt formulieren sie in ihren Werken Operntheorien, in denen auch das Selbstverständnis eines Opernpoeten zur Geltung kam. So betont Feind in seinem Aufsatz »Gedancken von der Opera« (1708) den Stellenwert des Librettisten, der im Barock höher bewertet wurde als zu späteren Zeiten (Leopold 1991: 75): »Denn eine Opera ist ein aus vielen Unterredungen bestehendes Gedicht/ so in die Music gesetzet/als welche der Verse wegen allhier gebraucht wird/nicht aber uemgekehret/weil der Poet den Musicum zu allerhand In-
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ventionen veranlasset/und der Musicus dem Poeten folgen muß.« (Feind 1989: 80)
Als Operndichter reichte es jedoch nicht, nur »[e]in rechtschaffener Poet« (Menantes 1706: 88) zu sein; darüber hinaus musste er sich als »Kenner des Theatri« (ebd.) auszeichnen, also mit der Bühnenausstattung und -technik vertraut sein, um durch Szenenwechsel die Aufmerksamkeit der Zuschauer nicht zu verlieren (Smart 1992: 186). Im Zentrum stand aber die Handlung, mit der der Librettist unter Beweis stellen konnte, dass er »[e]in geschickter Intriguen=Macher« (Menantes 1706: 88) war. Folglich gehören »zur Schoenheit einer Opera […]: Gute Intriguen oder Verwirrungen.« (ebd.: 126). Wichtigste Ingredienz eines wünschenswert spannenden Geschehens war neben der Intrige die Liebe, denn, so schrieb Hunold 1707 in »Die Allerneueste Art«, »[w]as die Invention betriff t/so muß sie wohl/weil es einmal so eingeführet ist/nach der vornehmsten Materie, etwas Verliebtes seyn.« (Zitiert nach Degen 1935: 13) Aus der Bedingung, die Liebe als Dreh- und Angelpunkt der Handlung zu versehen, resultierte entsprechend die »Ausbeutung der ganzen Affektskala« (Smart 1992: 192). Leidenschaft, Freude, Eifersucht, Zorn, Hass, Hoffen und Bangen – mit diesen und anderen Gemütserregungen sollte das Auditorium einer Oper sowohl sprachlich als auch musikalisch gerührt und unterhalten werden,7 denn »[w]o keine Affecten sind/da sind auch keine Actiones, und wo keine Actiones sind/da wird es auf dem Theatro sehr frieren.« (Feind 1989: 106)
Liebe als Problem: Emotionalität als Konflik tpotenzial für Amazonen Müsste man den Inhalt von literarischen Werken des Barock, in denen Amazonenfiguren aus den antiken Mythen eine wesentliche Rolle spielen, kurz zusammenfassen, käme man nicht umhin, die Themen Geschlechterkampf, Liebe und (Männer-)Hass stets miteinander zu verknüpfen: So handeln die Texte von Amazonen und Kriegern, die sich gegenseitig provozieren, bekämpfen und missverstehen, sich (insgeheim) jedoch auch lieben und nach langen Verwicklungen endlich zusammenfinden. Emotionalität8 und Intrigen sind demnach wesentliche Elemente des Plots, die in verschiedener Form in Amazonen-Opern oder in höfisch-historischen Romanen (vgl. Imperiali 1705; Kormart 1685ff.)9 um 1700 zu finden sind. Dabei wird durch das Handlungsschema und die Figurenkonzeption (Staatsaktionen, Liebesgeschich-
160 | J ENNIFER V ILL ARAMA ten, Personen hohen Ranges) in den höfisch-historischen Romanen, die auch als heroisch-galante bezeichnet werden (Meid 1974: 48), nicht nur die Vorbildfunktion des Heliodorschen »Aithiopika«-Romans aus der Spätantike deutlich (ebd.: 13). Vielmehr zeigt sich gerade »unter dem Aspekt der ›Liebesbegebenheiten‹« (Vosskamp1973: 76) die »Parallelisierung von Oper und Roman« (ebd.). Darüber hinaus ist der Rekurs auf bestimmte antike Mythologeme in beiden literarischen Gattungen unverkennbar, da man mindestens seit den Ausführungen Homers, Herodots und Diodors nicht nur Kriegskunst und Wehrhaftigkeit, sondern dezidiert auch sexuelle Anziehungskraft und Männerfeindlichkeit mit den Amazonenfiguren verbindet (Homer 1989: III, 189 und VI, 186; Herodot 1983: IV, 110-117; Diodorus 1993a: II, 45, Diodorus 1993b: IV, 16). Auch Bressands Singspiellibretto ist in diesen Punkten keine Ausnahme. Schon aus dem »Vorbericht« des Textbuchs geht hervor, dass die Handlung an die zwölf Taten des Halbgottes Hercules anlehnt, die ihm von Eurystheus, dem König von Mykene, auferlegt wurden (Bressand 1693a: Vorbericht, n.p.; Hunger 1984: 164ff.). Die neunte Tat ist der Gürtel- bzw. Waffenraub der Amazonenkönigin Antiope,10 der einen Kampf zwischen Amazonen und Griechen auslöst und zugleich die erste Szene im Libretto einführt. Resultat dieses Gefechtes ist die Niederlage der Kriegerinnen, die Gefangennahme der Amazonenprinzessin Menalippe (Schwester der Antiope und Hippolyta) durch Hercules, die Rettung der Hippolyta durch Prinz Theseus, der zum griechischen Gefolge gehört, und schließlich die Inhaftierung des »Kriegs=Oberst[…]« Ismenus durch die amazonischen »Obristinnen« Marpesia und Termessa (vgl. Bressand 1693a). Wie nicht anders zu erwarten, führt diese Personenkonstellation genau zu den gewünschten Effekten der Liebesverwicklungen, mit denen die RezipientInnen unterhalten werden wollten. Und dennoch bot Bressand seinem Publikum eine Besonderheit, weil die Darstellung der Eifersucht zu einer neuen Dimension in der Konzeption einer mythischen Kriegerinnenfigur führt: Der intriganten Amazone.11 Sicherlich ist das Umschlagen von unerfüllter Liebe zu Eifersucht ein gängiges Motiv in der Literatur (Radmehr 1980: 53), das sich auch in anderen Amazonen-Werken des 17. und 18. Jahrhunderts wieder findet (vgl. u.a. Ziegler 1698; Columbini 1715). Jedoch führen Missgunst und Neid aus Liebe dort nicht zu Zwietracht unter den Amazonen, da sich die Rivalität auf konkurrierende Männer beschränkt oder sich die Eifersucht einer Amazone auf eine Prinzessin richtet, die nicht zum Kreis der Kriegerinnen gehört. Mit »Hercules unter denen Amazonen« liegt nun ein Operntext vor, in dem die Emotion der (unerfüllten) Liebe als Sprengsatz unter den Amazonen fungiert. Die den wehrhaften
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Frauen schon seit den antiken Mythen zugeschriebene Männerfeindlichkeit wird durch sie nicht nur konterkariert, sondern führt zu Konflikten, die die Solidarität unter den Kriegerinnen schwinden lassen.
Af fek te für das Publikum Anhand ausgesuchter Textpassagen soll nun erläutert werden, in welcher Weise sich Affekte wie Liebe, Eifersucht und Hass in Bressands Singspiellibretto entladen, die darüber hinaus einem bestimmten Menschentypen zugeordnet werden müssen, wie Feind (1989: 105) betont: »Der Poet muß die Vertu eines jeden Subjecti wohl inne haben/und wissen, was er ihm für einen Carakter in der vorzustellenden Person beylegen koenne/ausserdem der Affect unmoeglich kann ausgedruckt werden.« Denn ein »[…] Großmuehtiger, Verliebter, Verzweifelnder, Rasender, Mistraeuischer, Eyfersuechtiger […] etc. muß nach seiner Gemuehts-Beschaffenheit seine Person praesentieren« (ebd.: 86). Um Affekte in ihrer »theatralen Verfasstheit« (Kolesch 2006: 13) jedoch wahrnehmen zu können, müssen sie zunächst gezeigt und »in Szene gesetzt […] werden, um überhaupt zu existieren« (ebd.) Diesbezüglich fungiert die Oper als prädestinierter Ort für die Konstruktion und Inszenierung von Affekten, da bei deren Darstellung nicht nur Rezitative,12 sondern gerade Arien als »Vehikel zur Affektäußerung« (Smart 1995: 192) dazu dienen, die »Ausbreitung des leidenschaftlichen Gemütszustandes einer Person« (Flemming 1933: 58) zu verdeutlichen. Beginnen wir mit der Begegnung zwischen Hercules und der Amazonenprinzessin Menalippe, in die er sich schon beim ersten Gespräch verliebt. So bemüht er sich mit Komplimenten und Überredungskünsten um seine widerspenstige Gefangene und bezeichnet sie als »schoenste Kriegs=Goettinn«, die ihn mit »faesseln« binde, zumal ihr »schoenes prangen« ihn »gefangen« (Bressand 1693a: I, 3, Hervorh. J.V.) halte.13 Der barocken Liebesrhetorik folgend, schildert Bressands Held das Gefühl seiner Verliebtheit in Topoi des Liebeskriegs (Rotermund 1968: 268), die Unfreiheit und Hilflosigkeit suggerieren und eher zur Situation der Amazone passen als zu seiner eigenen.14 Obwohl der Halbgott seine »liebes-pein« (Bressand 1693a: I, 3) betont, hält die Kriegerin das männliche Betören für eine simulatio 15 und versucht es als ein – im 17. Jahrhundert gängiges und daher durchschaubares – Verhaltensmuster zu entlarven. Hier steht im Hintergrund, dass die Liebe, wie Niklas Luhmann hervorgehoben hat, in diesem Fall nicht als ein Gefühl, sondern als ein Kommunikationscode betrachtet werden muss, »nach
162 | J ENNIFER V ILL ARAMA dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen [und] leugnen […] kann.« (Luhmann 1984: 23) Der folgende Textauszug verdeutlicht, dass Hercules’ Werben vergeblich ist, dem tradierten Bild der brutalen und männerverachtenden Amazone entspricht: »Her. Men.
Herc.
Ach! grausame! verletzt dich meine Lieb? Mein herze hasst der Liebe schnoeden trieb. mein feind auch/dem die brust ich wuensche zu durchstechen/ muß nur von haß mit mir/und nicht von Liebe sprechen. Ja/ja/durchstich nur meine brust/ und kuehl dein grausames verlangen/ ich will mit meinem tode prangen/ koemmt er von deiner hand/so ist er voller lust ja/ja/durchstich nur meine brust.« (Bressand 1693a: II, 6; Hervorh., J.V.)16
In dieser Szene erreicht die schier widerstandslose Haltung des Verliebten seinen Höhepunkt, da die Zuschreibung von geschlechterspezifischen Attributen wie ›männlich-aktiv‹ und ›weiblich-passiv‹ scheinbar vertauscht werden (Newmark 2008: 12). Dargestellt werden dabei die der femme forte zugesprochenen männlichen Attribute wie Aktivität, Stärke, Mut und Stolz, die in Verbindung mit weiblicher Schönheit den Konstruktionscharakter dieses Idealtypus verdeutlichen (Kroll 1995: 53). So verachtet Menalippe die Liebe nicht nur als bloßen Trieb (Wollust) und fordert ihren männlichen Feind im Hass aktiv heraus, während Hercules in seiner Dacapo-Arie17 den möglichen Schmerz und Tod durch die Angebetete voller Leidenschaft und Ergebenheit darstellt. Mehr noch: Indem er die ablehnende Haltung der Amazone mit Begriffen der Hingabe und Opferbereitschaft formuliert, betont er seine Passivität. Allerdings ist in der Rhetorik der Passion »die bedingungslose ›Unterwerfung‹ des Mannes zugleich Appell an die Großzügigkeit der Frau«, die als »grausam charakterisiert [wird], wenn sie nicht entgegenkommt« (Luhmann 1984: 85; Hervorh., J.V.). Während dem Publikum zunächst ein verfehltes Werben und der Inbegriff einer männerhassenden Amazone vor Augen geführt wird, die den Liebesfloskeln ihres Verehrers standhält, stellt die Episode zwischen dem Helden Theseus und Menalippes Schwester Hippolyta eine geglückte Begegnung der Geschlechter dar. So kann sich die zweite Amazonenprinzessin – trotz der anfänglichen Abwehrversuche – den Liebesbekundungen des griechischen Prinzen nicht erwehren.
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Das gegenseitige Liebesgeständnis erfolgt in einer auffallend langen Wiedersehenszene mit einer Stichomythie18 von jeweils begonnenen Anreden, nicht ausgeführten Fragen und Interjektionen (Bressand 1693a: III, 3) zum Zweck der gesteigerten Affektdarstellung. Die Stimmung des Augenblicks, die Erregung (Degen 1935: 40) zwischen den Liebenden, wird von Bressand über lange Passagen hin ausgeweitet, um die Spannung dann in ein erlösendes und affektgespicktes Duett kulminieren zu lassen: »Beyde. Hipp. Thes. Beyde. Thes.
Hipp.
Ich liebe dich. O sueßes wort! O anmuts=voller spruch! Dis ist was ich begehr/und alles was ich such’. Euch/ihr schoene wangen/ die ihr mich bestrickt/ gibt sich mein verlangen/ das ihr habt entzueckt/ gefangen: lieben ist nicht gnug gethan/ ich bet’ euch an. Euch/ihr sueßen blicke/ die ihr mich entzuendt/ folget mein geschikke/ weil auf euch gegruendt mein gluekke/ lieben ist nicht gnug gethan/ ich bet’ euch an.« (Bressand 1693a: III, 3)
Neben dem schon bekannten Vokabular aus dem Kriegs- und Kampfeskontext (»schoene wangen/die ihr mich bestrickt/gibt sich mein verlangen/[…] gefangen […]«) wird die gegenseitige Liebe durch die sich wiederholenden Wendungen des Duetts in eine gegenseitige Huldigung erhöht. Hier ist zwar erkennbar, dass Bressand bei dem von ihm vorgeführten Repertoire der Liebesrhetorik keine virtuosen Experimente wagt, sondern sich an die gängige Darbietung der Gefühlsumschreibung hält (Radmehr 1980: 76; Degen 1935: 49). Viel wichtiger scheint es ihm zu sein, anhand dieses Paares, das höfische Liebesideal vorzuführen. Dabei handelt es sich »um eine leidenschaftliche gegenseitige Gefühlsbindung« (Elias 2002: 432) zweier Unverheirateter:
164 | J ENNIFER V ILL ARAMA »Es ist das Verlangen dieses Mannes nach dieser Frau und keiner anderen und umgekehrt dieser Frau nach diesem Mann. Dieses Ideal der Liebesbindung setzt also ein hohes Maß der Individualisierung voraus. Es schließt jede noch so vorübergehende Liebesbeziehung eines der Partner zu einer dritten Person aus.« (Ebd.)
Allein aus diesem Grund ist die Liebe der Amazonenkönigin Antiope zu Theseus zum Scheitern verurteilt. Sie ist dem Helden nicht als Partnerin bestimmt, auch wenn sie sich schon bei der ersten Begegnung in ihn verliebt hat. Ihre Verzweiflung zwischen verbotener Liebe und Vernunft spiegelt sich dabei sehr anschaulich in folgender Szene wider: »Ant.
Meine schnelle Liebes=plage nennt vernunff t nur raserey/ doch wenn ich mein herze frage stimmt es ihren flammen bey. Die vernunff t verbeut zu lieben/ Und das herz ist schon entzuendt/ So bin ich von zweifels=trieben Hoerend=taub und sehend=blind.« (Bressand 1693a: II, 13)
Wie in der barocken Liebesmetaphorik üblich, stellt sich das Gefühl der Liebe für die Amazone als quälende Last (»Liebes=plage«) dar, aber darüber hinaus als unkontrollierbares, unvernünftiges Wüten (»raserey«). Gepaart mit Liebesmetaphern (Herz, das in »flammen« steht bzw. »entzuendt« ist), wie sie auch in dem oben skizzierten Duett zwischen Theseus und Hippolyta zu finden ist, verstärken Oxymora wie »Hoerend=taub und sehend=blind« die Rolle der Liebe als Ursache des inneren Konflikts. Gesteigert wird dieser nun durch das einseitige Begehren der Antiope, das sie zur Intrigantin werden lässt.
Die eifersüchtige und intrigante Amazone »Eifersucht, ist diejenige Gemueths=Beschaffenheit, da man durch die Vorstellung, daß eine von uns geliebte Person einen andern liebt, oder von einem andern geliebet werde, unruhig gemacht wird.« (Zedler 1734: 506). Die Unruhe aus unerfüllter Liebe, die dieses Zitat aus dem »Zedler«, dem wichtigsten deutschsprachigen Universallexikon des 18. Jahrhunderts, beschreibt, äußert sich unter den Amazonen
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allerdings auf verschiedene Weise: So intrigiert Antiope gegen ihre Schwester Hippolyta, die, ebenso wie sie, den Prinzen Theseus liebt, während die Rivalität um Ismenus fast zu einem Gefecht zwischen den Amazonen Marpesia und Termessa führt (Bressand 1693a: V, 11). Bressands Singspiel sticht nicht unbedingt dadurch hervor, dass es die subversive Kraft der Eifersucht betont. Indem Bressand aber gleich mehrere Amazonenfiguren das Los der unerfüllten Liebe erleben lässt, gelingt es ihm, die ›Demontage‹ der amazonischen Solidarität vorzuführen. Kämpfe werden nun nicht mehr primär gegen männliche Feinde geführt, sondern verlagern sich in die Beziehung zwischen den Kriegerinnen. Die unterschiedlichen verbalen Kampfstrategien und damit verbundenen Affektäußerungen verdeutlicht die folgende Eifersuchtsszene: »Term. Marp. Term. Marp. Term. Marp. Beyde. Term. Marp. Beyde.
Vielleichte liebt er [Ismenus] mich. Vielleicht mich mehr als dich. Nur meine blikke/ meine Wangen die halten ihn bestrickt/ die halten ihn gefangen. Betriege dich nicht/ sich selber zu schmeicheln/ sich selber zu heucheln/ ist eine verblendung die ploetzlich zubricht. betriege dich nicht. […].« (Bressand 1693a: III, 7)
Dieser Dialog, der in eine gemeinsame Arie mündet, veranschaulicht die offen geführte Konkurrenz um die Gunst des Ismenus. Beide Amazonen wissen um das Begehren der anderen und versuchen nun, sich gegenseitig zu verunsichern. So suggerieren sie einander, dass die Gefühle des griechischen Kriegers der jeweils anderen gegenüber nur ›gespielt‹ und daher nicht aufrichtig seien (simulatio). Der jeweilige Eindruck sei nur auf Selbstbetrug (»verblendung«) zurückzuführen. Im Gegensatz zu ihren beiden Obristinnen wählt die Amazonenkönigin hingegen eine indirekte Kampfstrategie, um den geliebten Theseus für sich zu gewinnen und ihre Schwester Hippolyta als Konkurrentin zu beseitigen. Anschaulich wird dies zunächst in einem Dialog zwischen den beiden Schwestern, die die Liebe zu Theseus voreinander verbergen. Ausgangspunkt ist die Entdeckung des Griechen im »Koenigliche[n] Pallast der Amazonen« (Bressand 1693a: Veraenderungen des Schauplatz, n.p.), der sich dort heimlich mit Hippoly-
166 | J ENNIFER V ILL ARAMA ta treffen will. Um ihn vor den männerfeindlichen Kriegerinnen zu retten, lässt ihn Antiope in einem Zimmer verstecken, das Hippolyta wiederum ausfindig machen kann. Auf dem Weg in ihre Gemächer stößt sie im Dunkeln allerdings auf ihre Schwester: »Ant. Hipp.
Wer da? Wer da? […] Ant. Was sucht Hippolyta? Hipp. Was sucht die Königin? Ant. Wie? redstu nicht? Hipp. Wird nichts von dir gesprochen? Ant. Suchstu wol huelf? hier wird kein Schiff bruch dich bedreuen. Hipp. Hier ist kein Laerm/hier darfst du niemand nicht befreyen. Ant. Behaget dir kein Schlaf? Hipp. Ist deine Ruhe hin? Ant. u. Hipp.à 2 Ja/ja/ich kenne dich/ich merke deinen sinn.« (Bressand 1693a: IV, 15)
Während Termessa und Marpesia sich unverhohlen um Ismenus bemühen, verdeutlicht diese Szene, dass sich die beiden Geschwister nicht offen zu ihrer Liebe zu Theseus bekennen. Ihr Verhalten einander gegenüber ist vielmehr von Argwohn und Verschwiegenheit, von Affektkontrolle geprägt, wie die ausweichenden Gegenfragen vor Augen führen. Im Hinblick auf die Einbettung des Singspiels in eine höfische Sphäre (heroische und adelige ProtagonistInnen, Szenen in höfischen Wohnstrukturen, adlige Widmungsempfänger) belegt dieser Dialog aber die ›realen‹ Umgangsformen am Hof. Wie sehr das Leben dort vom richtigen Handeln und Auftreten, der Wahl und Abhängigkeit von mächtigen Verbündeten, des bewussten Einsatzes von Affekten, aber vor allem von deren Regulierung beeinflusst war, ist mindestens seit Norbert Elias’ Arbeiten bekannt. Schon in dem erstmals 1939 erschienen Werk »Über den Prozeß der Zivilisation« beschreibt er die »Dämpfung der Triebe« in höfischen Kreisen, um die eigene soziale Stellung nicht zu gefährden: »Überlegung, Berechnung auf längere Sicht, Selbstbeherrschung, genaueste Regelung der eigenen Affekte, Kenntnis der Menschen und des gesamten Terrains werden zu unerläßlichen Voraussetzungen jedes sozialen Erfolgs.« (Elias 2003: 381). In »Die höfische Gesellschaft« führt Elias seine Gedanken zur Affektkontrolle am Beispiel des absolutistischen Hofstaates Ludwigs XIV. schließlich fort und beschreibt die wichtige Kenntnis
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und das Verbergen von Affekten für jedes Mitglied der Hofgesellschaft (Ders. 2002: 181). Vor diesem Hintergrund ist das misstrauische Verhalten der beiden Schwestern, im Sinne der dissimulatio (Verstellung),19 zu betrachten. So fungiert die Selbstkontrolle als strategisches, rationales Element, um die ›wahren‹ Absichten und Emotionen zu verbergen. Die Anspielungen der beiden Schwestern auf den griechischen Prinzen sind jedoch unverkennbar: Während Antiope explizit die einstige Seerettung Hippolytas durch Theseus andeutet, kontert Hippolyta mit Theseus’ Befreiung durch Antiope. Um doch noch Genugtuung für ihre unerwiderte Liebe zu Theseus erfahren, entwickelt Antiope schließlich den perfiden Plan, einen Zweikampf zwischen Hippolyta und Theseus zu initiieren. In diesem soll einer von ihnen auf jeden Fall zu Tode kommen, denn »[e]in Herz bedenket nichts/das Lieb’ und Eifers=voll.« (Bressand 1693a: IV, 20) Wie auch in der frühneuhochdeutschen Erzählprosa üblich, richtet sich die Rache und Zerstörungswut der Verschmähten hier nicht nur auf die geliebte Person, sondern ebenso auf die Nebenbuhlerin (Radmehr 1980: 43). Die Amazonenkönigin lässt ihren Affekten daher in einer Eifersuchtsarie freien Lauf: »Ant.
Der Eifersucht ist nichts an wut zu gleichen: sie ist ein fressend hoellen=feur/ ein nicht verschonend ungeheur/ ein strom/der berg und felsen trennt/ und ueber stock und steine rennt/ doch alles muß ihr noch an staercke weichen: Der Eifersucht ist nichts an wut zu gleichen. […].« (Bressand 1693a: IV, 20)
Gerade dieser Textauszug führt vor Augen, wie stark das Gefühl der Eifersucht mit leidenschaftlichen Bildern grenzenloser Unberechenbarkeit verbunden ist, so dass die Affektentladung nur als unheilsvoll dargestellt werden kann: Sie ist – wie das Dacapo hervorhebt – an »wut« unerreichbar, ein schonungsloses Ungetüm mit der Kraft, selbst eigentlich unzerstörbare Naturphänomene wie »berg und felsen« zu trennen. Im Hinblick auf die schon angesprochenen Feuermetaphern der Liebe verweist gerade das Wortkompositum »hoellen=feur« zwar auf die enge Verbindung zwischen Liebe und Eifersucht, aber auch auf den inneren Konflikt der Amazone.
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Die Läuterung der Amazone Auch wenn der fünfte und letzte Akt mit Kampfszenen zwischen Amazonen und Griechen gespickt ist (Bressand 1693a: V, 7 und V, 11), bleibt dem Publikum das von Antiope grausam ersonnene Szenario am Schluss erspart. Keiner der Beteiligten muss eines grausamen Todes sterben, und auch Theseus, der unerkannt von Hippolyta verletzt wird, überlebt den Zweikampf. Erwartungsgemäß hat Bressand sich ein Ende für sein Opernlibretto erdacht, indem nicht nur Hercules doch noch eine Partnerin in seiner ihm nachgereisten treuen Verlobten Megara findet oder auch andere standesgemäße Paare wie Hippolyta – Theseus und Marpesia – Ismenus endgültig zusammen kommen, sondern das vor allem die Läuterung Antiopes beinhaltet. Da sie die Verwundung Theseus’ durch Hippolyta für seinen vermeintlichen Tod hält, bereut sie ihre Tat, gibt ihre »boßheit« (Bressand 1693a: V, 12) zu und erbittet die Todesstrafe. ›Bestraft‹ wird sie tatsächlich, doch in der Form, die einem erbaulichen Ende entspricht. Antiopes Handeln im Affekt, ihr Racheakt, kann sich allein schon deshalb nicht erfüllen, weil diese »eigennützige und böse Verhaltensweise« (Radmehr 1980: 42) als verwerflich vorgeführt werden muss. Dabei gilt es, die Eifersucht – als zu den ›negativen‹ Affekten gehörend – nicht nur abzulehnen, sondern zu überwinden (Radmehr 1980: 44f.). Als tugendhafter Held tritt am Ende schließlich Hercules in Erscheinung: Indem er Menalippe ihrer Schwester Antiope in seiner Großmut übergibt, wird Frieden zwischen Griechen und Amazonen geschlossen. Aus Pflichtgefühl überlässt die Amazonenkönigin Hercules nun die von ihm ersehnten Waffen, die die erfolgreiche Vollendung seiner Tat besiegeln (Bressand 1693a: V, 14). Den Höhepunkt erreicht die moralische Lehre aber in der abschließenden Chorarie des Librettos, in der die erstrebenswerten Tugenden als Quintessenz betont werden: »Chor.
Es veraendre seine blikke/ wie es will/das leichte gluekke/ endlich siegen jederzeit großmut/treu und dapferkeit. […].« (Bressand 1693a: V, Letzter Auftritt)
Indem Großmut, Treue und Tapferkeit letztlich über Rachsucht und Eifersucht siegen, vollendet diese »Moralarie« (Smart 1992: 204f.) den Singspieltext mit einem erhabenen Ende. Dies korrespondiert durch-
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aus mit Hunolds Kriterien, die er an eine Schlussarie stellt, die »den vornehmsten Inhalt der gantzen Opera/begreiff t/welche dann alle Personen des Spiels/zum wenigsten die meisten/singen können.« (zitiert nach Smart 1992: 205) Im Hinblick auf die barocke Katharsislehre zielt die Repräsentation von Affekten sowohl im Singspiel als auch in anderen literarischen Werken also auf deren nachhaltigen Wirkung beim Publikum, denn »[i]m poetischen Spiel lernen die Rezipienten die Affekte, Möglichkeiten ihrer Beherrschung und ihre vernichtende Macht kennen. Die Literatur kann insofern von Affekten reinigen, indem ihre ungünstigen Folgen vorgeführt und miterlebt werden.« (Niefanger 2000: 42). Folglich ist die »Nachahmung guter und die Verwerfung schlechter Passionen […] Grundlage eigenen richtigen Handelns« (Rotermund 1968: 248).
Besieg te Heldinnen Wie die Ausführungen verdeutlichen konnten, fügt sich Bressands Singspiel in vielerlei Hinsicht in barocke Operntheorien ein. So entspricht es den ästhetischen Forderungen an eine Dramaturgie, die von Affektäußerungen getragen wird und in der Liebe und Intrige im Mittelpunkt stehen sollten. Der Rekurs auf antike Amazonenmythen bot sich dabei geradezu an, um dem Publikum eine affektgeladene Handlung vor Augen zu führen. Allein die den Kriegerinnen zugeschriebene Männerfeindlichkeit, ihre Unbeugsamkeit und ihr Mut bilden ein Spannungsverhältnis zum Affekt der Liebe. Gerade für Amazonen stellt dies einen fundamentalen Konflikt dar, der zu Eifersucht unter ihnen führt und ihre Solidarität unterminiert. Eifersucht als Folge von unerfüllter Liebe, die zur Rache gegen den Konkurrenten bzw. die Konkurrentin führt, ist in der Frühen Neuzeit zwar ein bekanntes literarisches Motiv, originell ist in Bressands Libretto jedoch die Konzeption einer eifersüchtigen und intriganten Amazone. Üblicherweise agieren die mythischen Kriegerinnen in deutschsprachigen Opernlibretti oder Romanen des 17. und 18. Jahrhunderts miteinander gegen den gemeinsam Feind und nicht gegeneinander. Interessanterweise beschränkt sich das Arsenal an eifersüchtigen Figuren in »Hercules unter denen Amazonen« auch nur auf die Kriegerinnen, so dass man Eifersucht und vor allem die Intrige hier als konstruierte und ›weiblich‹ konnotierte Attribute ansehen kann. Führt man sich jedoch vor Augen, dass gerade die Figur der Amazone im Kontext der querelle des femmes als Leit- und Idealbild für Damen des
170 | J ENNIFER V ILL ARAMA Hochadels fungierte, muss man folgendes feststellen: Bressand rekurriert zwar auf den Weiblichkeitsentwurf der femme forte als der »unabhängigen, heroischen, aktiven, ja sogar kriegerischen Frau« (Kroll 1995: 52), doch lässt er seine Amazonenkönigin als weibliches Pendant zum heldenhaften Hercules nicht als gleichwertig erscheinen, da sie den Ansprüchen an eine vernunftgeleitete Affektregulierung nicht in gleicher Weise genügen kann. Auch wenn Antiope ihre Machenschaften gegen Hippolyta und Theseus bereut, eine Läuterung erfährt und nicht für ihre Taten bestraft wird, siegt am Ende der griechische Halbgott über die Amazonen, die durch ihre Lebensform die patriarchalen Geschlechterverhältnisse in Frage stellen. Als ein Indiz für die Vorbildfunktion des männlichen Geschlechts hingegen ist allein die Wahl des Titelhelden anzusehen: So galt gerade im 17. und frühen 18. Jahrhundert die mythologische Figur des tugendhaften Hercules als Idealtypus für hochadelige Männer wie Ludwig XIV. oder August den Starken (Schmale 2003: 113; 129). Im Hinblick auf Bressands Singspiel, das er dem Grafen Albrecht Anton von Schwarzburg-Rudolstadt und dessen Ehefrau widmete, verwundert es demnach nicht, dass Hercules’ Großmut und Tugend so betont hervorgehoben werden. Bressands Inszenierung von verschiedenen Affekten und Antiopes Intrige erhält durch den Schluss eine starke moralische und didaktische Komponente: Das Publikum wird zur Identifi kation mit den beiden Hauptfiguren eingeladen, wobei diese vom Librettisten im Falle der eifersüchtigen und intriganten Amazone negativ angelegt ist, im Falle des Hercules hingegen positiv. Durch die Überwindung der Frauenherrschaft gelingt es dem Helden, die soziale Ordnung der Geschlechter wieder herzustellen. Denn während die griechischen Männer sowohl im Kampf als auch in der Liebe Sieger bleiben, müssen die Amazonen ihre Lebensart aufgeben, die Waffen niederlegen und so symbolisch den Geschlechterkampf beenden. Damit wird die zunächst paradox erscheinende Liebe der männerfeindlichen Amazonen zum Vehikel, die Wiederherstellung der hegemonialen Geschlechterverhältnisse auf der Opernbühne zu inszenieren.
Anmerkungen 1
Neben der Amazone sind als femmes fortes auch weitere – aus den antiken Mythen entlehnte – Figuren wie Medea und Tomyris zu betrachten, die in Opern des 17. und 18. Jahrhunderts zu fi nden sind (vgl. Herr 2000; Hoë 1717). Obwohl das Amazonenmotiv im 18. Jahrhundert zurückging (vgl.
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Frenzel 1999: 25), hatte der Typus der femme forte aber gerade für Hocharistokratinnen nicht an Reiz verloren, wie die Oper »Talestri« aus dem Jahre 1763 belegt. Als Komponistin und Librettistin konzipierte Maria Antonia Walpurgis von Sachsen (1724-1780) dieses musikdramatische Werk, um in der Rolle der Amazonenkönigin und Titelheldin Talestri, ihre Regierungsfähigkeit zu propagieren. Vgl. dazu vor allem Fischer 2007 und Fleig 1998. Als Affekt wird hier »jede menschliche Leidenschaft und Gemütserregung« (Serauky 1949-51: 113) verstanden. An dieser Stelle kann nicht näher auf die Vielzahl von Affektenlehren von der Antike bis in die Frühe Neuzeit (Aristoteles, Thomas von Aquin, Hobbes, Descartes) eingegangen werden, die den Affektbegriff zum Gegenstand hatten und auch auf die Literaten und Komponisten des Barock starken Einfluss ausübten. Exemplarisch sei aber zur frühneuzeitlichen Verwendung und Differenzierung des Begriffs auf Zedlers Universallexikon verwiesen: »Affecten, Passiones, werden die Neigungen in den Gemuethern des Menschen genennet […]« (Zedler 1732b: 717) und »Affectus, sind gewisse Bewegungen des Gemueths und der Sinnen, dem eingebildeten Guten nachzustreben, und das Boese zu meiden.« (Zedler 1732c: 718) Mit Verweis auf die Aristoteliker wird dort unterschieden zwischen den ›positiven‹ Affekten, welche auf den appetitus concubiscibilis zurückgehen (Liebe, Freude, Verlangen, Hoffnung, Gunst, Zuversicht, Barmherzigkeit und Dankbarkeit), und den ›negativen‹, welche vom appetitus irascibilis abgeleitet werden (Zorn, Hass, Kühnheit, Furcht, Traurigkeit, Schamhaftigkeit, Neid, Schande, Aemulatio [Eifersucht, Rivalität] und Verzweiflung). Diese werden jeweils weiter ausdifferenziert in affectus principales [primäre Affekte] und affectus minus principales [von den primären abgeleitete Affekte]. Auch wenn Opern aus Text und Musik – sprich Libretto und Partitur – bestehen, konzentrieren sich meine Ausführungen ausschließlich auf den Text der ›Urfassung‹ von »Hercules unter denen Amazonen«. Dieses musikdramatische Werk, bei dem Johann Philipp Krieger (1649-1725) als Komponist mitwirkte, wurde 1693 zu Ehren des Grafen Albrecht Anton von Schwarzburg-Rudolstadt (1641-1710) und dessen Frau Emilia Juliana (1637-1706) in Braunschweig aufgeführt. Weitere Textbücher belegen, dass die Oper ein Jahr später noch einmal in Braunschweig, aber auch an der Hamburger Oper zur Auff ührung kam (vgl. Bressand 1694b und 1694c). »Unter Theatralität wird die gleichzeitige Verschränkung von Prozessen der Darstellung, Wahrnehmung, Inkorporation und Inszenierung verstanden. Dieses Modell eröffnet die Möglichkeit, Emotionen, Leidenschaften und Begehren als dynamisches Ineinander von Vorführung, Verkörperung, (bewußter oder unbewußter) Gestaltung, Wahrnehmung und Interpretation zu konzeptualisieren.« (Kolesch 2006: 13) Zur Theatralität
172 | J ENNIFER V ILL ARAMA der Affekte gerade im Theater des Barock siehe auch Benthien/Fleig et al.(2000: 12). 5 Als kommerzielle Spielstätte der frühen Oper gilt z.B. die Hamburger Oper (1678-1738), in der Adlige und Bürger zu den Zuschauern zählten (Leopold 2006: 311f.). Auch das durch Herzog Anton Ulrich von Braunschweig unterstütze Braunschweiger Opernhaus am Hagenmarkt (16901861) sollte »neben dem adligen […] ein bürgerliches Publikum anziehen.« (Smart 1992: 183) 6 Der Terminus »Singspiel« wurde im 17. und 18. Jahrhundert als Synonym für »Oper« oder »Dramma per musica« verwendet (Krämer 2003: 437f.). Als »Textvorlage einer Oper« (Gier 2000: 33) werden Libretti aufgrund ihrer Dramenform als literarische Gattung betrachtet. Zur Zugehörigkeit der Oper und des Sprechtheaters im 17. Jahrhundert »zu einer Gattungsfamilie« siehe Niefanger (2000: 164). 7 Für den Librettisten bedeutete dies, »den Affectum natuerlich« darzustellen, so dass »der Leser oder Zuschauer bey der Durchlesung oder Praesentation geruehret wird: wenn ihm die Sache in der That wahr zu seyn vorkoemmt/und er entweder zum Zorn/Furcht/Hofnung/Mitleid oder Rache geleitet wird.« In: Feind (1989: 108) Zur Rolle des Gesangs zur Erzeugung und Darstellung Affekte siehe Herr (2000: 100). Hinsichtlich der Musik zum Mittel der Affekterzeugung war der Komponist und Flötist Johann Joachim Quantz (1697-1773) der Ansicht, dass »die Musik die Leidenschaften bald erregen, bald wieder stillen« könne, da »der Musiker, als Bindeglied zwischen Musik und Rezipienten« die Aufgabe habe, »die auszudrückenden Affekte genau nach[zu]empfinde[n]« (Herr 2000: 100). Folglich schreibt er: »Der Ausführer eines Stückes muß sich selbst in die Haupt- und Nebenleidenschaften, die er ausdrücken soll, zu versetzen suchen. […] [Es] muß auch der Ausführer jeden Gedanken zu beurtheilen wissen, was für eine Leidenschaft er in sich enthalte, und seinen Vortrag immer derselben gleichförmig machen […], und sein Vortrag wird allezeit rührend sein.« (Zitiert nach ebd.) 8 Die Wahl dieses Terminus lehnt sich an den von Anne Fleig, Claudia Benthien und Ingrid Kasten vorgeschlagenen Arbeitsbegriff ›Emotionalität‹ an, der »verschiedene Felder und Ebenen (affektive Reaktionen, psychische Prozesse, Gefühlszustände) umfaßt« (Benthien/Fleig et al. 2000: 10) und hinsichtlich der problematischen Wertung von Begriffen wie Gefühl als ›echt‹ gegenüber Affekt als ›artifiziell‹ eher als neutral zu verstehen ist. 9 Bei Christoph Kormart (1644-1701) handelt es sich um den mehrteiligen »Cassandre«-Roman von Gautier de Coste, Sieur de La Calprenède (ca. 1614-1663), den er ins Deutsche übersetzte. 10 Den frühneuzeitlichen Bekanntheitsgrad dieses Mythos belegt Zedler (1732a: 622f.). Antike Quellen verweisen hingegen nicht auf Antiope als
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Amazonenkönigin, sondern auf Hippolyte, der Herkules den Gürtel rauben soll (vgl. z.B. Diodorus (1993): IV, 16). Diesbezüglich betont Bressand auch, dass er sich zwar an den antiken Literaten orientiert habe, er selber aber »umstaende […] zu mehrer auszierung und angenehmerer vorstellung des Schau Spieles veraendert« habe. (Bressand 1693a: Vorbericht, n.p.) Diese Annahme beruht auf dem mir vorliegenden Textkorpus von deutschsprachigen Amazonen-Werken des 17. und 18. Jahrhunderts. Dabei handelt es sich neben den schon aufgeführten Singspiellibretti und Romanen um Festbücher, Lieder und Flugschriften, in denen auf Amazonenfiguren aus antiken Mythen rekurriert wird. So meint Dammann (1995: 269): »Auch das Rezitativ ist affektuos. Es ist ein […] von der Einzelperson getragener Sprechgesang mit meist dramatischem Grundzug.« »Prangen« kann in diesem Zusammenhang u.a. 1. »sich zieren«, 2. aber auch sich »durch […] [S]chönheit« auszeichnen bedeuten. (Grimm 1984: 2066) Da eine Paginierung des Librettos fehlt, werden im Folgenden der jeweilige Akt (= römische Zahl) und die Szene (= arabische Zahl) angegeben. Zu dieser Form »Liebe in […] Paradoxien zu kleiden«, merkt Niklas Luhmann in seinem Werk »Liebe als Passion« (1984: 71) an: »›Passion‹ meint ursprünglich einen Seelenzustand, in dem man sich passiv leidend und nicht aktiv wirkend vorfindet. […] Aktivität wird als Passivität, Freiheit als Zwang getarnt. Und man bedeutet die Semantik der Passivität rhetorisch aus, um die Frau zur Erfüllung anzuhalten: Schließlich hat ihre Schönheit die Liebe verursacht, und der Mann leidet unschuldig, wenn nicht abgeholfen wird.« (Ebd.: 73) Simulation (simulatio) als »›Stellung‹ oder ›Stellen‹) bedeutet, daß etwas gezeigt wird, das ›in Wahrheit‹ gar nicht vorhanden ist; etwas bloß Erfundenes tritt an die Stelle der Wahrheit und gibt sich […] doch als solche aus.« (Geitner 1992: 25) Hier ist unter »prangen« eher »prahlen« im Sinne von sich »überhebend oder schautragend […] zeigen« gemeint. (Grimm 1984: 2065) In einer Dacapo-Arie wird der erste kurze Teil nach der Einfügung eines längeren Mittelteils wiederholt und ggf. variiert. (Flemming 1933: 58) Die wiederholten Worte oder Sentenzen »dienen der Sinnbekräftigung […][,] sind hochrhetorisiert und haben eine affektuose Zielkraft.« (Dammann 1995: 267) Bei einer »Stichomythie« handelt es sich um eine »Form des längeren Dialogs im Versdrama, bei dem zum Ausdruck innerer Erregung Reden und Gegenreden auf je einen Vers komprimiert sind.« (Delbrück 1990: 443) Dabei ist »die Dissimulation als Affektkontrolle und Affektbeherrschung« (Geitner 1992: 25) im Kontext des frühneuzeitlichen Neostoizismus zu
174 | J ENNIFER V ILL ARAMA betrachten. »Die Bezähmung der Leidenschaften und Affekte führt dort zur Ausbildung einer Vernunft, welche (soziale und staatliche) Ordnung stiftet und erhält […].« (ebd.: 25f.)
Literatur Baumgärtel, Bettina (1997): »Zum Bilderstreit der Frau im 17. Jahrhundert. Inszenierungen französischer Regentinnen.« In: Gisela Bock/Margarete Zimmermann (Hg.), Die europäische Querelle des Femmes. Geschlechterdebatten seit dem 15. Jahrhundert, Stuttgart/ Weimar: Metzler, S. 147-182. Baumgärtel, Bettina/Neysters, Silvia (Hg.) (1995): Die Galerie der Starken Frauen. Regentinnen, Amazonen, Salondamen, München: Klinkhardt und Biermann. Benthien, Claudia/Fleig, Anne et al. (Hg.) (2000): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln et al.: Böhlau. Bressand, Friedrich Christian (1693a): Hercules unter denen Amazonen/ Singe-Spiel/auf dem Schauplatze zu Braunschweig vorgestellet […], Braunschweig: Gruber. Ders. (1694b): Hercules Unter denen Amazonen/Singe-Spiel/Auf dem Schau-Platze zu Braunschweig vorgestellet […], [Braunschweig]. Ders. (1694c): Hercules Unter denen Amazonen/In einer Opera vorgestellt, Hamburg: Neumann. Columbini (1715): Die Lybische Talestris, In einer anmuthigen Staats= und Helden=Geschichte Der Galanten Welt zu wohl=erlaubter Gemueths=Vergnuegung, Copenhagen [Kopenhagen]: Paulli. Dammann, Rolf (1995): Der Musikbegriff im deutschen Barock, 3. unveränderte Auflage, Laaber: Laaber. Degen, Heinz (1935): Friedrich Christian Bressand. Ein Beitrag zur Braunschweigisch-Wolfenbütteler Theatergeschichte, Braunschweig: Oeding. Delbrück, Hansgerd (1990): »Stichomythie.« In: Günther und Irmgard Schweikle (Hg.), Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen, 2., überarbeitete Auflage, Stuttgart: Metzler, S. 443. Diodorus (1993a): Griechische Weltgeschichte, Buch I-X. Erster Teil. Übersetzt v. Gerhart Wirth und Otto Veh. Eingeleitet und kommentiert von Thomas Nothers, Stuttgart: Hiersemann. Ders. (1993b): Griechische Weltgeschichte, Buch I-X. Zweiter Teil. Übersetzt von Gerhart Wirth und Otto Veh. Eingeleitet und kommentiert von Thomas Nothers, Stuttgart: Hiersemann.
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Autorinnen und Autoren Stephanie Bethmann, M.A., Studium der Soziologie und Ethnologie in Freiburg, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie/ Universität Freiburg, Promotion im DFG-Projekt »Wie wir uns die Liebe erzählen. Zur Normalisierung eines einzigartigen Gefühls.« Publikationen: »Liebes(v)erklärungen – ein soziologischer Versuch über die Liebe.« In: Freiburger GeschlechterStudien 23/2008;. Entwürfe von Modernität und Weiblichkeit. ›Westliche‹ Frauen aus Sicht javanischer Studentinnen, Freiburg: Freidok 2007. Nina Degele, seit 2000 Professorin für Soziologie und Gender Studies an der Uni Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Geschlechterverhältnisse, Modernisierung, Körper, Sport, qualitative Methoden. Zuletzt erschienen: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld: transcript 2009 (mit Gabriele Winker)¸ Einführung in Gender/Queer Studies, München: Fink (UTB) 2008. Christel Eckart, Prof. für Soziologie und Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität Kassel. War Mitglied der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Frauen- und Geschlechterforschung, Kassel und des Graduiertenkollegs »Öffentlichkeiten und Geschlechterverhältnisse. Dimensionen von Erfahrung« der Universitäten Frankfurt und Kassel bis zu deren Beendigung. Forschungsschwerpunkte: Wandel der Arbeitsgesellschaft und der Geschlechterverhältnisse, fürsorgliche Beziehungen, neue Formen von Privatheit. Zuletzt erschienen: »Privatheit – Zur Gestaltung von Beziehungen des Sorgens.« In: K. Jurczyk/M. Oechsle (Hg): Privatheit neu denken, Münster: Verlag Westfäl. Dampf boot 2008. Sabine Flick, M.A., Studium der Soziologie, Politikwissenschaften und Psychoanalyse in Frankfurt, wissenschaftliche Mitarbeiterin der FH
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Frankfurt sowie Lehrbeauftragte der Universität Kassel, Doktorandin an der Universität Kassel. 2005 bis 2008 Stipendiatin des Graduiertenkollegs »Öffentlichkeiten und Geschlechterverhältnisse. Dimensionen von Erfahrung.«. Publikation: »Leben durcharbeiten. Selbstverhältnisse von Angestellten in subjektivierten Arbeitsverhältnissen.« In: Camus, Celine/Hornung, Annabelle et al. (2008): Im Zeichen des Geschlechts: Repräsentationen, Konstruktionen, Interventionen, Königstein i.T.: Helmer. Annabelle Hornung, M.A., Studium der neueren und älteren Germanistik sowie Kunstgeschichte in Frankfurt, wissenschaftliche Volontärin am Museum für Kommunikation Frankfurt, Doktorandin der Universität Kassel. 2005 bis 2008 Stipendiatin des DFG-Graduiertenkollegs »Öffentlichkeiten und Geschlechterverhältnisse. Dimensionen von Erfahrung.«. Publikation: »tougen schouwen – Repräsentation von Geschlecht in der Gralsliteratur.« In: Camus, Celine/Hornung, Annabelle et al. (2008).: Im Zeichen des Geschlechts: Repräsentationen, Konstruktionen, Interventionen, Königstein i.T.: Helmer. Frauke Annegret Kurbacher, Dr. phil., Studium der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Münster; 2002 Promotion in Philosophie in Wuppertal, derzeit Habilitationsprojekt zu: Eine Philosophie der Haltung – Kritische Revision der Subjekt- und Personentheorie. Lehrbeauftragte an verschiedenen philosophischen Seminaren (Berlin, Leipzig, Wuppertal, Münster u.a.); 1996 Gründung und Leitung des »Internationalen interdisziplinären Arbeitskreises für philosophische Reflexion« (IiAphR; Schirmherrschaft Vaclav Hável) in Kooperation mit dem KWI Essen; seit 2007 Mitglied des DFG-Netzwerkes »Liebessemantik« (Giessen); 2008 Einrichtung der »Philosophischen Forschungsstelle für Liebestheorien« (PhiFL) in Verbindung mit dem IiAphR. Zahlreiche Publikationen zu sozialphilosophischen Themen, Ästhetik, kritische Studien zur Subjekt- und Personentheorie, Aufklärungsphilosophie, sowie zu Thomasius, Kant und Arendt. Catherine Newmark, Dr. phil., Studium der Philosophie und Geschichte in Zürich, Paris und Berlin, derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. Sie arbeitet schwerpunktmäßig zur Philosophie der Emotionen und zur Philosophiegeschichte sowie zu politischer Philosophie und zu feministischer Philosophie/Gender Studies. Publikationen: »Seelenruhe oder Langeweile, Tiefe der Gefühle oder bedrohliche Exzesse? Zur Rhetorik von Emotionsdebatten.« In: Martin Harbsmeier/Sebastian Möckel (Hg.):
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Pathos, Affekt, Emotion. Transformationen der Antike. Frankfurt a.M.: Suhrkamp/Insel 2009 (zusammen mit Hilge Landweer); Passion – Affekt – Gefühl. Philosophische Theorien der Emotionen zwischen Aristoteles und Kant, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2008. Katharina Scherke, Studium der Soziologie und Kunstgeschichte in Graz, Sponsion 1993, Promotion 1997, Habilitation 2007. Von 1999 bis 2004 Mitarbeiterin des Spezialforschungsbereiches: »Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900«, derzeit Professorin am Institut für Soziologie der Karl-Franzens-Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Kunstsoziologie, Geschichte der Soziologie, Soziologische Theorie, Wissenschaftssoziologie. Zuletzt erschienen: Emotionen als Forschungsgegenstand in der deutschsprachigen Soziologie. Die Geschichte eines lange vernachlässigten Themas und seiner Wiederentdeckung, Wiesbaden: VS-Verlag 2009. Andrea Sieber, Dr. phil., Studium der Germanistik in Berlin, 2006 Promotion, derzeit Habilitation. Seit 2006 Lektorin am Institut für Deutsche Sprache und Niederländische Philologie der FU Berlin. Seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Emotionalität in der Literatur des Mittelalters.« Des DFG-Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen«. Forschungsschwerpunkte: Antikenrezeption, Gender Studies, Historische Emotionalitätsforschung, Mediengeschichte und Mittelalterrezeption im Film. Zuletzt erschienen: »Melancholische Attitüden? Eine Skizze zu Catharina Regina von Greiffenberg.« In: Dies./Antje Wittstock (Hg.): Melancholie – zwischen Attitüde und Diskurs. Konzepte in Mittelalter und Früher Neuzeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 239-257; Medeas Rache. Liebesverrat und Geschlechterkonflikte in Romanen des Mittelalters. Köln et al.: Böhlau 2008. Jennifer Villarama, M.A., Studium der Germanistik, Komparatistik und Geschichte in Kassel und Bonn. 2005-2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Kassel, Doktorandin der Universität Kassel. 2006-2009 Stipendiatin des DFG-Graduiertenkollegs »Öffentlichkeiten und Geschlechterverhältnisse. Dimensionen von Erfahrung«. Publikationen: »›Mich quält ein kalter Geist/mich plagt ein heißer Geist.‹ Repräsentationen von Alter und Liebe in einem Amazonen-Singspiel der Frühen Neuzeit.« In: Camus, Celine/Hornung, Annabelle et al. (Hg.) (2008), Im Zeichen des Geschlechts. Repräsentationen, Konstruktionen, Interventionen, Königstein/Taunus: Helmer.
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Dorett Funcke, Petra Thorn (Hg.) Die gleichgeschlechtliche Familie mit Kindern Interdisziplinäre Beiträge zu einer neuen Lebensform Juni 2010, ca. 350 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1073-4
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Gender Studies Lutz Hieber, Paula-Irene Villa Images von Gewicht Soziale Bewegungen, Queer Theory und Kunst in den USA 2007, 262 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-504-8
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