Ueber die Lehrmethode Schleiermacher's: Ein Vortrag in der pädagogischen Gesellschaft zu Berlin den 14ten Juni 1834 [Reprint 2019 ed.] 9783111460048, 9783111092867

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Ueber die Lehrmethode Schleiermacher's: Ein Vortrag in der pädagogischen Gesellschaft zu Berlin den 14ten Juni 1834 [Reprint 2019 ed.]
 9783111460048, 9783111092867

Table of contents :
Vorwort
Ueber die Lehrmethode Schleiermacher's

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Ueber die

Lehrmethode Schleiermacher's.

Ein Vortrag, in der pädagogischen Gesellschaft zu Berlin den 14t-" Juni 1834 gehalten von

Dr.

F. A. W. Dieftertveg.

Berlin. Gedruckt und verlegt bei G. Reimer 18 34.

Die nachfolgenden anspruchslosen Worte wurden, wie der Titel besagt, zu einem Vortrage in

der Sitzung der hiesigen pädagogischen Gesellschaft am I4ten Juni d. I. benutzt.

Die Mitglieder

derselben wünschten ihren Druck.

Da kein Grund

vorliegt, darauf nicht einzugehn, so gebe ich sie dazu her, obgleich der Gegenstand, den sie be­

handeln, durch sie keinesweges erschöpft ist.

Eine

vollständigere Darstellung der Lehrmethode

Schleiermacher's muß ich Andern überlassen. Auch

IV

ist es nicht dieses Ortes,

aus dem Gegebenen

die nahe liegenden Folgerungen zu ziehen, durch welche die Methodik des eigentlichen Schul-Unter­

richts vervollkommnet werden kann.

Der Verfasser.

Ueber

die Lehrmethode Schleiermacher's. «Den Vortrag, den ich zu halten im Begriff stehe, könnte

ich, ohne die Wahrheit zu verletzen, mit den Worten be­

ginnen: ein Scepter ist gebrochen in der Hand eines Kö­ niges, eine Krone ist gefallen von einem fürstlichen Haupte,

ein Selbstherrscher ist gestorben, ein Hoherpriester ist einge­

treten in das Allerheiligste, und ein Stern ist untergegan­ gen; aber ich würde um des Zweckes willen, den ich mir

gesetzt, in solcher Weise nicht fortfahren können, daS Ende

würde daher dem Anfänge nicht entsprechen; ich werde da­ her in simpler Rede die Gedanken vortragen, die mich be­ wegen.

Bewegen sage ich, denn ich will von Fried­

rich Schleicrmacher reden, jenem Manne, den der An­ fang dieses Jahres uns geraubt, dessen Andenken daher

noch nicht zur stillen, betrachtenden Ruhe gelangt ist, den wir, ach noch so schmerzlich! vermissen.

6 Aber, werden Sie gleich fragen, wie komme ich dazu, in einer pädagogischen Gesellschaft von ihm, der doch eigent­ lich nicht in dem Fache, in dem Schullehrer arbeiten, thä­ tig gewesen, zu redm?

Sie haben Recht, er, der Unver­

geßliche, wird gewöhnlich als Alterthumssorscher und Phi­

losoph, als Geistlicher und Professor aufgefaßt, und in sofern stand seine Thätigkeit mit dem Wirken der Schul­ lehrer nicht in unmittelbarer Beziehung. Aber als Docent

über Pädagogik hat er schon ein näheres Verhältniß zu unserm Beruf, ja in letzterer Hinsicht ist er unser Lehrer

gewesen.

Ich bin nicht so glücklich gewesen, das Wort

„unser" in Betreff der Pädagogik auch auf mich beziehen

zu können, denn die Vorsehung raubte ihn uns, ehe er nach langer Unterbrechung auch wieder einmal über Päda­ gogik lesen wollte.

Ich hatte mich darauf sehr gefreut.

Aber mit Erhebung sage ich es: er ist auch mein Lehrer

gewesen, nicht bloß als Schriftsteller, oder als Pfarrer, sondern ich benutzte, seitdem ein gütiges Geschick mich noch zu seinen Lebzeiten hieher versetzte, so weit es meine Be­ rufspflicht nur zulassen mochte, freudigst die Gelegen­

heit und die Gunst, die er mir gewährt hatte, seine Vor­ lesungen zu besuchen und mich an ihm zu bilden und zu

erbauen.

Darum habe ich im Sommer 1832 seine Vor­

träge über Politik, im Winter 18-j-j die über Psycho­ logie besucht.

Boll großer Bewunderung saß ich in der

Regel vor dem kleinen Manne,

folgte seinen Gedanken

i

und Entwickelungen, und genoß das unendliche, hohe,

höchste Vergnügen (freudig sage ich es, daß ich kein hö­ heres kenne), den Hon'zont meiner Erkenntniß sich erwei­

tern, dunkle Gegenstände an das Licht der Klarheit her­ vortreten zu sehen. Leider wurden die beiden Vorlesungen,

die ich von Schleiermacher gehört, unterbrochen, die erste, weil meine Gesundheit mir gebot, den Sommer zu einer Badereise zu benutzen; die zweite zu endigen, war ihm selbst

nicht mehr vergönnt. Aber mit Genugthuung betrachte ich

die Notizen, die ich mir nach den Stunden der Psycholo­ gie ausgeschrieben, denn aus keiner der Vorlesungen, die

er vom 21. Oct. bis zum 6. Febr., acht Tage vor seinem Ende, mit heldenmüthiger Tapferkeit und wahrer Lehrer­ treue gehalten, fehlen die Bemerkungen.

zu den fleißigsten Zuhörern zählen.

sein, dazu gehörte nichts. muthigung.

Ich durfte mich

Bei ihm fleißig zu

Zu dem Gegentheil gehörte Er-

Es war bei allen, die sich von ihm angezo­

gen fühlten, Sitte, ihn immer zu hören; so in seinen Vor­

lesungen, wie in seinen Predigten.

In seiner Kirche sah

man immer dieselben Menschen an denselben Plätzen, in

seinem Hörsaale saß jeder an einer festen Stelle. Wie hin­ gen dort die Blicke der Hörenden an seinem Munde, wie

oft habe ich, besonders in dem Antlitz von Frauen, (was mich am meisten überraschte, da ich nach seinen Schriften nicht vermuthen konnte, daß er denselben so viel und so

Vieles sein möchte); nicht bloß Andacht und Erbauung,

8

sondern die Innere Freud« über dir Gedanken und ihren Lauf in dem System des großen Redners, gesehen, und wie

wenig ermüdeten die Federn von 150 Studenten, eine ganze Stunde lang den schweren Versuch zu machen, die Ent­

wicklung, den Denkprozeß,

der sich vor ihren Augen und

vor ihren Ohren in der seltensten Weise begab, festzuhal­ ten und sich wie einen köstlichen Schatz zu bewahren, zum

Genuß für künftige Stunden!

Ich will es nicht läugnen,

mit einigem Vorurtheil oder mit manchem Zweifel belastet, wie seine Schriften und einige Nachrichten, mit denen man

sich Herumtrug, sie mir eingeflvßt hatten, besuchte ich An­ fangs seine geistlichen und seine philosophischen Vorträge. Aber wie Schuppen siel es von meinen Augen, als mir die

Wahrheit im objectiven wie im subjectiven Sinne lebendig

vor Augen stand!

Ach

mit Wehmuth

denke ich daran,

daß mein Geschick mich nicht früher in seine Nähe geführt — ich würde mich einer andern Bildung zu erfreuen haben

— nicht kann ich es schildern, mit welcher Besorgniß ich

Zeuge davon war, daß er Kotz fortschreitender heftiger Brustaffection in

den

feuchtkalten

morgens

Februartagen

um

7 Uhr zu lesen fortfuhr, bis — — — .

Ja ein Stern ist untergegangen, vielleicht Jahrtausende,

ehe er wieder

werden verfließen,

erscheint; denn seit Sokrates Tod Kunde reicht,

und Jahrhunderte,

hatte,

so weit mein«

also seit 22 Jahrhunderten hatte dir Welt

nichts Aehnliches oder Gleiches mehr gesehen.

9 Sir verzeihen, Hochzuehrende!

diese subjectiven Be-

merkungen; ich konnte mich nicht ganz ihrer enthalten, breche aber mit Gewalt hier ab, um zu dem eigentlichen

Der zuletzt

Gegenstände dieses Vortrages zu kommen.

ausgesprochene Vergleich führt mich unmittelbar zu ihm hinüber, indem ich von Schleiermacher dem Methodiker, von der Methode Schleiermacher'sEiniges sagen will, so

viel, als ich in didaktischer Hinsicht von ihm aufgefaßt und mir zum Bewußtsein gebracht habe.

Schwer wird es

Einem werden, ihn, den Vielseitigen und Reichbegabten, von allen Seiten aufzufassen.

Darum sei es mir ver­

gönnt, einen kleinen Beitrag zur Charakterisirung desselben zu liefern, indem ich die Methode schildere, deren er sich in

den beiden obengenannten Vorlesungen bediente. von einem so tiefen Geiste ausgcht, würdig.

Alles, was

ist der Beachtung

In Schleiermacher war, ungeachtet der Freiheit

und Leichtigkeit seiner Bewegung, nichts Zufälliges, blind

Angenommenes, Unüberlegtes; Alles war durchdacht, all­

seitig geprüft und untersucht, das Einzelne paßte zu dem Ganzen, in Allem war er selbst, der ausgeprägte, voll­

endete Mensch.

Gehalt und Form, Gedanke und Dar­

stellung desselben, Sache und Methode bildeten ein voll­

endetes Ganze, ein erhabenes Kunstwerk.

Andere mögen

seinen Lehrinhalt prüfen und darstcllcn,

wir Methodiker

wollen und dürfen uns mit der Form oder der Methode

beschäftigen, in welcher der liefe Gehalt erschien.

Wohl

10 mag es an der Zeit sein, an die Reform der Universitäten im Ernste zu denken. Die Zeit verlangt es. Nach mei­ nem Ermessen darf dabei die Untersuchung, ob die Form der Vorträge der Professoren, die Methode derselben, dem Zwecke der Universitätsbildung entspricht, (obgleich bei kei­ nem der Vorschläge zur Reform, von denen ich Kunde er­ halten, davon die Rede gewesen,) und ob die hergebrachte Methode jetzt noch genügt, nicht als überflüssig erscheinen. Für wichtiger halte ich diese Rücksicht, als die Reform im Aeußeren, als Landsmannschaft und Burschenschaft, oder Nicht: Landsmannschaft und Nicht - Burschenschaft. Das Innere ist überall wichtiger als das Aeußere. Halten wir es darum nicht für Zeitverlust, unsre Aufmerksamkeit einige Augenblicke bei der Methode Schleiermacher's verweilen zu lassen. Von ihr können nicht bloß Universitäts-, sondern auch wir Schullehrer etwas lernen. Die Methode der Universitätslehrer ist die Vortragende oder akroamatische. Der Lehrer spricht, die Schüler hören zu. Natürlich kann dieser Vortrag in mannigfaltiger Weise geschehen. Es giebt Professoren, welche Alles, was sie mitthcilcn wollen, vorher niedergeschrieben haben, sie le­ sen. Diese Manier ist so weit verbreitet oder verbreitet gewesen, daß man das Dociren der Professoren überhaupt lesen nennt. Man besucht die Vorlesungen, auch wenn gar nicht darin gelesen wird, und: „der Professor liest oder liesst nicht", heißt es von je^em Vortrage oder jeder Un-

11

terbrechung desselben. Manche lesen nach Compendien, An­ dre nach Heften, Einige dictiren sogar (borrcndum dictu) die Weisheit, Andre halten freie Vorträge. Letztere»unterscheiden sich wesentlich darin von einander, je nachdem der Gegenstand, was fteilich zum Theil von seiner Natur ab­ hangt, entweder vor den Zuhörern entwickelt, ihnen in sei­ ner historischen oder rationellen Genesis vorgeführt, oder in systematischer Abfolge gegeben wird. Die letztere Me­ thode ist die gewöhnliche; sie wird die wissenschaftliche im engeren Sinne des Wortes genannt, weil die Systeme der Wissenschaften sich ihrer bedienen; sie ist die leichtere für den Professor, die schwerere für den Studenten; die andre, die entwickelnde, macht größere Ansprüche an den Geist des Lehrers, verlangt unausgesetzt geistige Anstren­ gung von ihm, und erleichtert dem Studirenden die Durch­ dringung des Gegenstandes; denn er sieht ihn werden. Die­ selbe nöthigt Lehrer und Schüler zur Selbstthätigkeit, wo­ gegen di« systematische in geistiger Passivität von Seiten des Docenten und des Hörers ausgeübt und hingenommen werden kann. Ist die Entwicklung der Selbstthätigkeit und geistigen Selbstständigkeit des Akademikers auch die höchste Aufgabe der Hochschulen, so muß ihr der Preis zuerkannt werden. Zu allen Zeiten haben sich die größten Universi­ tätslehrer ihrer befleißigt, sei es nun, daß sie mehr histo­ risch oder mehr dialektisch verfuhren. Schleiermacher's Me­ thode war die dialektische. Worin sie bestand, werden wir aus genauerem Eingehen in dieselbe ersehen.

l> Sobald Schleiermacher nach Ablauf des „akademischrn Viertels", das seinen Zuhörern oft recht langsam ver­ floß, und an dessen Abstellung oder Beschränkung wohl

auch zu denken sein dürste, mit jugendlich raschen Schrit­ ten das Katheder bestiegen, sich auf den Lehrstuhl nieder­ gelassen und eine kleine zusammengedrehte Papierrolle ent­

faltet oder ein beschriebenes Papierstreifchen oder auch gar nichts herausgenommen hatte, begann er mit leiser Stimme

seine Rede.

In der ersten Stunde eines Semesters oder

auch in mehreren beschäftigte er sich mit dem Begriff des Gegenstandes und dem Worte, das ihn bezeichnete.

Die­

ses nahm er zuerst in dem Sinne und in der Geltung, den es im gemeinen Leben hat, um auf dem Standpunkte an­

zuknüpfen, auf welchem der Zuhörer stand.

Fast alle in

den Umtrieb des Lebens übergegangenen, ursprünglich wissen­ schaftlichen Ausdrücke haben eine Bedeutung, in der sie in den weiter ausgebildeten Wissenschaften oder in dem Ge­

dankenlaufe eines einzelnen wissenschaftlichen Forschers nicht mehr vorkommen, so daß ihr populärer Begriff dem Begriff in der Wissenschaft nicht mehr adäquat ist.

Anstatt nun, wie

die Systematiker, leider! es lieben, eine gemachte, auf

wissenschaftlichen Voraussetzungen, die aber nicht vorliegen,

ruhende Schuldesinition zu geben, suchte Schl, die Verschie­ denheiten in der Bedeutung des Wortes auf, stellte sie fest, und zeigte die abweichenden Ansichten, die darin verborgen

liegen.

Wie alle tüchtigen Lehrer war er in der Namenge-

13 bung äußerst genau, scharf, beinahe ängstlich, und er warnte

vor einseitiger Auffassung und leichtem Gebrauch der Termino­ logie.

Darum legte er gleich auseinander, in welchem Sinne

er ein Systemwort, z. B. Politik, Psychologie, Seele rc. vorab gebrauchen wolle, baden ganzen Inhalt des Wor­

tes erst die ganze Untersuchung bringen könne.

Willkürliche

Begriffs- und Namenbestimmung vermied und tadelte er. Der Wiffenschastner habe sich, meinte er, möglichst genau und ge­

treu an den herkömmlichen Sprachgebrauch zu halten und nur

da von ihm zu entfernen, wo die Sache es erfordre, solches aber jedesmal genau anzugeben.

Die in einem Worte liegen­

den Berschiedenheiten waren zunächst der Anhalt, den er fest­ hielt.

Er verfolgte dieselbe consequent weiter, zeigend, wie

sie auseinander gingen, wohin sie führten oder was sie voraus­

setzten.

So gelangte er in der Regel an die Extreme der An­

sichten über einen und denselben Gegenstand, stellte dieselben fest und einander gegenüber, verglich sie, und gelangte so zur Bestimmung eines Maximum oder Minimum, welches Dop­

pelte in seinem Gegensatz und seiner höheren Einheit, wie seine

Zuhörer wissen, in seinen Borlesungen eine fast durchgreifende

Rolle spielte und überall wiederkehrte. Begreiflicher Weise ließ sich bei dieser Divergenz, da er nichts Positives, vielweniger Wissenschaftliches, sondern nur

das Bewußtsein der alltäglichen Erfahrung voraussetzte, nicht Alles gleich vollständig erörtern und begründen.

Denn Alles

hängt mit Allem zusammen. Eines ist durch das Andere, und

14

das Eine muß mit dem Andern gedeihen «nd reifen. Er blieb daher bei vorläufigen Bestimmungen stehen, indem erzeigte, wie die Sache auf dem Standpunkte, den er mit den Zuhörern einnahm, aussah und sich feststellen ließ, machte die Fragen namhaft, die sich dem Nachdenken von selbst präsentirten, und welche beantwortet sein müßten, bevor sich eine viel­ seitigere Entwickelung des zu erörtemden Gegenstandes geben lasse, und ging zur näheren Untersuchung einer solchen über, das bereits Festgestellte benutzend und auf dasselbe fu­ ßend. Da er der entwickelnden, untersuchenden, kritischen Methode folgte, so löste sich Alles in einzelne Fragen auf, die er nach einander behandelte, indem er jede bis zu ihren Extre­ men verfolgte, die Gegensätze hervorhob und ihr Verhalten zu einander zeigte. Dadurch kam er von einer Frage auf die andre, ging von der einen zu der andern über, jede Entwicklung bil­ dete für sich ein kleines Ganze, hing aber mit andern zusam­ men, zu welchen er, nach gewisser relativer Vollendung der einzelnen, fortschritt. So nahm der ganze Vortrag die Form eines Netzes an, das aus einzelnen Maschen bestand, von welchen jede in mehrere andre eingriff. Da jede Entwicklung zuerst nur eine vorläufige war, und er sie als solche hinstellte, so fand keine zuerst eine bestimmte, abgeschlossene Vollendung, sondern er kehrte zu den vorläufig erörterten, sobald eine neue Entwicklung gegeben war, zurück, um die schon besprochenen Gegenstände durch das neu gewonnene Licht zu beleuchten. Sv knüpfte er das Spätere immer wieder an das Frühere an,

15 Eines durch das Andere der Vollendung der Ansicht allmählig

entgegenführend.

Dabei hatte er die Eigenthümlichkeit, das

Folgende nicht bloß mit dem unmittelbar Vorhergehen­ den, die einzelne Masche des Netzes mit denen, in die sie direct eingriff, zu vergleichen, und den Zusammenhang und ihre gegenseitige Bedingtheit nachzuweisen, sondern jene Haupt­ frage mit dem ursprünglich festen, erfahrungsmäßigen, unmittelbar Gewissen zu verbinden, die Reihe der Entwicke­

lung also überall von vorn an zu beginnen.

Darum glich

auch das Ganze seines Vortrages einem Kreise, die einzelne

Entwickelung einem Radius des Zirkels, welchen er nicht

von dem gemeinschaftlichen Centrum nach der Peripherie zog, sondern umgekehrt von einem einzelnen Punkte des Umkreises

nach dem Mittelpunkte zu.

Dem Wesen, dem Inneren und

Mittelpunkte der Sache, dem eigentlichen Grundprincip der Wissenschaft, näherte er sich dadurch auf den verschiedensten

Wegen, in der mannigfaltigsten Weise.

In solcher Art ent­

faltete sich vor den Augen des aufmerksam nachfolgenden, mitdenkenden, selbstthätigen Zuhörers, allmählig und langsam und unter den vielfachsten Vorbereitungen, das verbundene

Ganze der Wissenschaft, die niederen Einheiten verknüpften sich zu immer höheren, bis die ganze Fläche des Kreises

beschrieben und das mühsam gesponnene Netz in seiner Voll­ endung dem geistigen Auge vorlag. Hatte er so mit seinen

Zuhörern alles Einzelne untersucht, den Zusammenhang des.

selben mit allem Uebrigen nachgewiesen und von den ver-

16 schirdensten Seiten her den Mittelpunkt gefunden, so war der bei weitem größte Theil der Zeit, den er einem Gegenstände

widmete, verflossen, der Grund zu dem System war gelegt,

die allgemeine Einleitung, wie er es nannte, vollendet; aber es war vielmehr als dieses geschehen und gegeben.

Das

ganze System selbst lag in seinen Einzelheiten klar vor den Augen der Mitdenkenden, und es bedurfte nur geringen

Zeitaufwandes und verhältnißmäßig geringer Anstrengung, um die Gliederung der Theile aus dem Mittelpunktes dem

aufgefundenen allgemeinen Princip, aufzustellen und nach» zuweisen.

Hatte er früher untersuchend, regressiv oder ächt

genetisch und elementarisch verfahren, so ging nun seine Me­ thode in die sogenannte wissenschaftliche, systematische, progres­

sive oder constructive über, indem er die wissenschaftliche Ableitung des Einen aus dem Andern gab.

Der constructive

Theil seiner Wissenschaft erschien daher, im Gegensatz gegen

die gewöhnliche Methode, am Ende seiner Vorlesungen. Ein denkender, in den Geist Schleiermacher's eingehender Zuhörer konnte dieses Geschäft selbst vollziehen, und er selbst

betrachtete die Mitgabe desselben nur als die minder wich­

tige Aufgabe seines Lehrgeschäfts. — Dieß war, in kurzen Andeutungen hingestellt, (womit

wir uns hier begnügen müssen, da irgend ein Beispiel viel Raum wegnehmen würde) die Lehrmethode Schleierma­ cher's.

Es war die untersuchende, von der Erfahrung aus­

gehende, entwickelnde, kritische, elementarisch-Wissenschaft»

17

liche, die dialektische Methode.

Schleiermacher hat die ver-

rufene Dialektik wieder zu Ehren gebracht und sie in ihre Rechte wieder eingesetzt.

Vorgesunden hatte er sie in Plato

und Aristoteles, und er hat sie weiter ausgebildet, und die

Wissenschaften der neueren Zeit in diese vollendete Form eingegossen.

Sie allein genügte diesem ungewöhnlichen

Geiste, ja sie war das ursprüngliche Eigenthum desselben. Unter seinen Händen gewann Alles, auch das Alltäglichste, den Reiz der Neuheit und Frische, weil er Alles untersuchte

und von allen Seiten untersuchte.

Es giebt keine Me­

thode, die so den Geist erregt, als die, die er anwandte. Es war ein lebendiger Denkproceß,

der Proceß des Den­

kens stand Jedem, der vor Schleiermacher saß, in der le­

bendigsten, unmittelbarsten, ergreifendsten Anschauung vor Augen; man sah denken, man hörte denken, man fühlte es.

Man erkannte in ihm die lebendige Werkstätte des

zeugenden Geistes, man beobachtete das Werden der Ge­ danken und man fühlte sich selbst zum Gedankenerzeugen erregt und bewegt.

Wer von ihm nicht denken lernte,

konnte es nirgends lernen.

Er war der Sokrates der

Studenten, und wenn es erlaubt ist, nach Personen die Methode zu bezeichnen, so kann man mit eben dem Rechte, wie man von einer sokratischen Methode spricht, auch von

der Schleiermacher'schen reden.

Wie Jener die Zuhörer

fragte und diese antworteten, so fragte Schleiermacher sich selbst und den Menschengeist und — er antwortete. Seine

2

18 Methode war die svkratische in ihrer zeitgemäßen Anwen­ dung auf die Wissenschaften der Gegenwart in den Hör­ sälen der Universitäten des 19ten Jahrhunderts-

Es ist

mir schon als Student zweifelhaft gewesen, ob das Acroama

geeignet sei zur Erreichung des höchsten Zieles der Akade­

mie : geistige Selbstthätigkeit und Selbstständigkeit der Aka­

demiker, und je mehr ich darüber nachdenke, desto zweifel­

hafter wird es mir, ja ich bin eigentlich vom Gegentheile überzeugt; aber wenn die gewöhnlichen Umstände eine an­

dre Methode nicht zulassen, so war die Schleiermacher'sche Methode das vollendeteste, was sich erreichen läßt.

Denn

seine acroamatischen Borträge waren der ganzen innern

Form nach erotematische.

Der Zuhörer antwortete zwar

nicht laut, aber er antwortete im Stillen, und er hörte die

Antworten des Meisters, die er sich gab auf seine Fragen. DaS Wesen der sokratisch-dialecrischen, entwickelnden Me­

thode besteht nicht darin, daß der Lehrer den Schüler

fragt, also nicht in der Auflösung der grammatischen Sähe in Fragen, sondern darin, daß der Gegenstand, der be­

handelt wird, sachlich oder seinem innern Wesen nach in Fragen dargestellt wird.

Wer sich daher des Frageunter­

richts bedient, ist oft noch sehr weit davon entfernt, so­

kratisch zu verfahren.

Oft ist es nur ein leeres und nich­

tiges Spiel, ein Abfragen des Prädikates bei gegebenem Subjecte, oder des Objectes zu einem vorliegenden Prä­

dikate-

Dieses formelle Fragen berührt das Wesen der

19 ächten Sokratik gar nicht.

Diese besteht vielmehr darin,

daß der Lehrer den Schüler, gleichviel, ob durch wirkliche

Fragen oder durch acroamatische Entwicklung, dazu erregt, die Fragen selbst aufzusinden, auf deren Beantwortung es bei einem Denkstoffe ankommt, und ihn mit der Begierde,

diese Fragen gelöset zu sehen,

durchdringet.

Gegebene

Antworten nützen nur dem, der in sich die Fragen nach

ihnen aufgeworfen hat, wie der Genuß der Speisen nur dem Hungrigen schmeckt und ihm wohl bekommt. Darum

ist es die Hauptaufgabe des Sokratikers, in den Schülern den geistigen Hunger zu wecken, und ihnen den Weg an­

zudeuten, auf dem sie mit eigner Kraft die Befriedigung des angeregten Bedürfniffes finden können.

In solcher

Weise erregte und ergriff Schleiermacher die denkende Seele des selbstthätigen Zuhörers, bethätigte die schwache Denk­

kraft in der höchsten Potenz, und bildete Denker und For­ scher.

Eine Schule hat der Meister nicht geschaffen, d. h.

kein System geschaffen, auf das die Jünger gläubig dem

Meister nachschwören könnten, er selbst verpönte und ver­ schmähte alle Autorität, und er wollte nichts weniger sein als eine solche; sein Triumph war cs, die Forschlust in

seinen achten Schülern zu erregen und sie für'» Leben dazu zu

befähigen. Nicht Früchte wollte er erzeugen, sondern Knospen und Blüthen, die reifen möchten in Zeilen, wo er nicht

mehr sei.

Nicht für schwache Jünglinge, die nur nufnel)

wen, nicht verarbeiten kennten oder mochten, war er, ion-

20

dem für die starken.

Bon jenen hörte man wohl die Klage,

daß sein Vortrag fast nur in einer Bewegung oder in analyti­

scher Zerarbeitung bestehe und daß die Resultate fehlten. DaS war die Rede der Schwachen, an dem Gängelbande des her­

kömmlichen Vorsagens Großgezogenen, die sich in ihrer geisti­

gen Impotenz zu stillen und lauten Vorwürfen gegen den gro­ ßen Meister ermuthigten.

Noch Andre meinten, daß er ihnen

in Glaubenssachen Vieles nehme und sie beunruhige.

Wir

wollen diese mild beurtheilen, aber zu den starken Seelen, wie jede Zeit sie braucht, gehörten sie nicht.

Allerdings glichen

seine Vorlesungen nicht glanzend ausgeschmückten Waarenla­ gern, wo man sich mit ererbtem Gelde mit dem nöthigen Vor­ rath für die Lebensreise versehen konnte.

Daß er bei vieldeuti­

gen, schwer verständlichen oder bis heute noch bestrittenen An­

sichten oft nur diese selbst und die Gründe, die für die entge­

gengesetzten sprachen, nicht seine eigne Meinung, die jeden Falls eine bestimmte war, mittheilte, darin mußte ich nach

einiger Ueberlegung einen Beweis der wahren Lehrergröße die­

ses Mannes erkennen.

Tausende hätten ihm nachgebetet, sich

auf seine Autorität berufen, weil es Schleiermacher war, der es gesagt, aber er verschmähte den blendenden Ruhm,

ein Gesetzgeber zu sein; er wollte nur zur Auffindung der Wahrheit anleiten, die Geister nicht von sich abhängig, son­

dern selbstständig machen.

Giebt es Geistes

größe, so ist es diese, oder keine.

wahre Lehrer­

Sein Wirken war ein au­

genblickliches, aber zugleich ein nachhaltiges, für den, der

21 sich dem Meister nachbildete, für's ganze Leben und uach allen Seiten, und Richtungen hin.

Scherzweise sagte

er selbst, daß die Studenten nichts bei ihm lernen könn­ ten.

Er hatte recht; wenig oder nichts nahm man von

ihm hinweg, was unmittelbar im Leben oder an dem

grünen Tische Geltung hatte; er war kein Münzmeister, der jeden mit einer Anzahl von ausgeprägten Geldsorten

versah, aber die Zu-Tage-Förderung edler Metalle aus

dem Schachte des Geistes lernte man bei ihm und die Münzkunst selbst.

Wenn wir im Vorstehenden eine kurze, andeutende Skizze von der Lehrmethode Schleiermacher's zu geben ver­ suchten, so dürfen wir von dem mit der objectiven Me­

thode verbundenen Subjectiven, dem Lehrton oder wie man es nennen will, noch einige Worte sagen.

Eine Methode

ist besser als die andere, aber gewiß liegt weder das Heil der Welt, noch das Heil der Schulen ausschließlich in der

Methode.

Vielmehr ist jede gut, welche, ganz aus der

Eigenthümlichkeit eines lebendigen Menschen hervorgegan­ gen, als ein getreuer Abdruck des sich seines Lebens ent­ äußernden Geistes erscheint (was denn aber nicht von der

Dictir- und Vorles - Methode, dieser wahren Unmethode,

gesagt werden kann), und auch hier gilt das Wort, daß sich nicht Alles schickt für Alle.

Bei Weitem das Meiste,

was die nachhaltige, bleibende Wirksamkeit eines Lehrers

22 auf seine Schüler betrifft, kommt auf den Geist an, von

welchem der Lehrer getrieben wird, 'so daß er mit

Luther sagen darf: ich kann nicht anders, meine Ueberzeu­ gung zwingt mich, so und nicht anders zu sein und zu verfahren, ich muß dieses so und so wollen, weil ich der bin,

der ich bin.

Darum soll die Methode auch nicht von dem

Menschen ersonnen, als ein Außenwerk dem Geiste umge­

schnallt und angefügt werden, sondern sie soll die nothwen­ dige individuelle Form der Manifestation des Geistes sein. Sonst fehlt die

Durchdringung

des Geistes und der

Form, die Macht der Erscheinung des Lehrers und

die umgestaltcnde Kraft desselben auf das Leben der Schü­ ler.

Darum tritt uns in allen Lehrern, deren Wirken von

tiefster Erregung begleitet gewesen, die unbedingte Wahrheil

oder Wahrhaftigkeit entgegen.

Das ganze äußere Gepräge,

wie es sich in der Haltung und Bewegung des Körpers, in dem

Ausdruck des Gesickts und dem Blick des Auges, wie in dem Eigenthümlichen des Tones verkündigt, giebt davon Kunde,

und die von dieser Wahrhaftigkeit berührte Seele des sich hin­ gebenden Schülers wird dieser Wahrheit im freudigsten, erhe­ bendsten Bewußtsein gewiß.

Da ist nichts von Gesuchtem,

Künstlichem, Manicrirtem und anderen Erscheinungen der Un­

natur, der Halbheit, des Scheines und der Unwahrheit, son­ dern nichts Anderes, als die ganze Wahrheit und nichts als die

Wahrheit zu schauen, zu empfinden rmd zu genießen, und Je­ der, dessen Seele davon berührt wird, würd dadurch allein

23 schon in der Wahrhaftigkeit, die an und in ihm ist, gestärkt, und das Unwahre in ihm wird geschwächt und vernichtet.

So

wirkte Sokrates in der alten Zeit auf seine Schüler, die nur

wünschten, um ihn zu sein, auch wenn er nicht spräche, um sich seiner reinigenden, beseligenden Nähe zu erfreuen.

war und wirkte Schleiermacher in unsern Tagen.

Und so

Kei­

nem konnte es bei wiederholtem Anhören seiner Predigten und seiner Borträge überhaupt verborgen bleiben: hier stehst

du einer der eigenthümlichsten, ausgeprägtesten, vollendetesten menschlichen Naturen gegenüber, und was er sagt, und was er denkt und wie er empfindet, der ganze Mann erscheint, wie er ist und lebt, in seiner Wahrhaftigkeit.

Wahre Geistesgröße

ist jeder Zeit in das Kleid der Klarheit und Einfachheit einge­

hüllt.

Nichts war an sich simpler, einfacher als die Methode

Schleiermacher's, ungeachtet des durch die Fülle und den Reich­

thum der Ideen oft zusammengesetzten Periodenbaues.

Was

und wie er sprach, so ging es aus der Eigenthümlichkeit seiner Natur hervor. Zumal in seinen Vorlesungen war er unbeküm­

mert um den Ausdruck, er redete bald in der Sprache der Wis­

senschaft, bald in der des gewöhnlichen Lebens. von Pathos, Schwulst oder Bombast.

erhabene Simplicität.

Keine Spur

Alles war einfache,

Seine Rede floß fort wie ein klarer

Wach über blanken Kieseln. Und dennoch, von welchem Effect war dieses einfache Wesen begleitet! Seinen Grund und Halt

hatte das Ganze in der unbedingten Wahrhaftigkeit seines In­

neren.

Die Wahrheit war die Gottheit, der er täglich reine

24 Opfer brachte,

er war ein Verkündiger lauterer Wahrheit,

und er ging als ein geweihter Hoherpriester täglich in ihr Allerheiligstes.

So wirkte Schleiermacher durch den Gehalt wie durch die Form seiner Gedanken, durch seine Wissenschaft wie durch seine Lehrmethode, in sittlicher und intelligenter Hinsicht auf das

Tiefste erregend und bildend auf Alle, die sich nur seines Gei» stes, seines Lebens und seiner Methode theilhaftig machen konn­ ten.

Nicht Allen hat er gelebt, denn zur Erfassung einer so

eigenthümlichen Natur gehörte eine gewisse Gleichartigkeit der Grundanlagen, der Gefühlsstimmung und der Richtung; aber

keiner, der ihn kennen lernte, konnte, auch wenn er seine An­ sichten und Richtungen nicht theilte, ohne Hochachtung von

ihm reden.

Er wird daher in allen folgenden Zeiten und zwar

in der verschiedensten Hinsicht: als Forscher des Alterthums und als Kenner der Philosophie der Gegenwart, als Theologe

und als Volksredner, als Theoretiker wie als Methodiker, den

Sternen erster Größe unseres Geschlechtes beigezählt werden; er war und bleibt ein unsterblicher Lehrer, unvergeßlich al­

len denen,

welche der Entwicklung und Entzündung sich

fähig zeigten,

und bleibend ein Muster akademischer Lehr­

kunst für seine und alle kommenden Zeiten.

Sind der Geist

und das Werk eines Menschen der eigentliche Mensch selbst,

so ist und bleibt Schleiermacher; seine Hülle hat uns ver­ lassen, nicht er selbst, denn er lebt fort in seinen Werken und in dem Geiste von Lausenden seiner Zuhörer und Ver­

ehrer.

Wir freuen uns dessen und wünschen von Herzen

in diesem Sinne: Schleiermacher lebe!