Die Effektivität von Recht als Rechtsproblem: Vortrag gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 17. März 1993 9783110893342, 9783110142150

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Die Effektivität von Recht als Rechtsproblem: Vortrag gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 17. März 1993
 9783110893342, 9783110142150

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Brun-Otto Bryde Die Effektivität von Recht als Rechtsproblem

Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin Heft 135

w DE

G_ 1993 Walter de Gruyter · Berlin · New York

Die Effektivität von Recht als Rechtsproblem

Von Brun-Otto Bryde

Vortrag gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 17. März 1993

w G DE

1993

Walter de Gruyter · Berlin · New York

D r . iur. Brun-Otto

Bryde,

o. Professor an der Universität Gießen

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

Bryde, Brun-Otto: Die Effektivität von Recht als Rechtsproblem : Vortrag gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 17. März 1993 / von Brun-Otto Bryde. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1993 (Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin ; H. 135) ISBN 3-11-014215-5 NE: Juristische Gesellschaft (Berlin): Schriftenreihe der Juristischen

© Copyright 1993 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Saladruck, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Dieter Mikolai, Berlin

Die Effektivität von Recht als Rechtsproblem 1. Paradoxe

Fragestellung?

Dem einen oder anderen Zuhörer mag die Überschrift des Vortrages banal erscheinen: Natürlich hat die Ineffektivität von Recht juristische Bedeutung, sie führt nämlich in der Regel zum Rechtswidrigkeitsurteil über die Handlungen, die den Rechtsbefehl verfehlen. Ebenfalls nicht besonders aufregend ist die rechtliche Bedeutung empirischer Effektivität, wo diese ausdrücklich zum Tatbestandsmerkmal von Rechtssätzen gemacht wird, wie verhältnismäßig häufig im Wirtschaftsrecht, früher bei der Preisbindung zweiter Hand und heute bei der Vertriebsbindung. Die Frage, der ich nachgehen will, ist nicht ganz so banal. Mich interessiert, welche Auswirkungen die Ineffektivität von Recht auf seine Geltung, im Verfassungsstaat der Bundesrepublik kann man auch sagen, auf seine Verfassungsmäßigkeit, hat. In diesem Verständnis mögen nun wieder andere Zuhörer, vor allem, wenn sie (noch) eine Einführung in die Rechtswissenschaft in der Tradition Radbruchs genossen haben, das Fragezeichen hinter meinem Thema vermissen. Sie haben dann nämlich im 1. Semester gelernt, daß für Rechtsregeln, anders als für Naturgesetze, die Nichteinhaltung die normative Geltung unbeeinflußt läßt. Allerdings weiß ich nicht, ob diese theoretisch akzeptierte Feststellung für das juristische Unterbewußtsein jemals mehr war als eben ein rechtstheoretisches Axiom, das man nur deshalb akzeptiert, weil man in Wirklichkeit ganz fest auf die Effektivität des Rechts vertraut. Dafür würden einige Indizien sprechen: Aus dem interdisziplinären Gespräch die Vorbehalte von Juristen gegen rechtssoziologische Untersuchungen über Vollzugsdefizite, die die Marginalität des Rechts für die Lösung sozialer Konflikte in diesem oder jenem Bereich behaupten (ich werde sehr bald zeigen, wie unberechtigt auf der anderen Seite das Vergnügen der Soziologen ist, die dem Juristen die Ineffektivität seiner Regeln unter die Nase reiben möchten), aus dem Gespräch zwischen den juristischen Fächern der Hochmut, mit dem der nur-nationale Jurist dem Völkerrechtler wegen der behaupteten Ineffektivität des Völkerrechts gegenübertritt, vielleicht auch wegen dieser Ineffektivität dessen Rechtsnatur leugnet.1

1 Fundierte Auseinandersetzung mit den Völkerrechtsleugnern bei Hart, The Concept of Law, 1961, S. 208 ff.

H.L.A.

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Effektivität von Recht also einerseits als etwas, was für den Juristen irrelevant ist, weil es die Geltung von Recht nicht berührt, andererseits als etwas, was beruhigt vorausgesetzt werden kann. Hier sind wir nun an der Stelle, wo ich meine Fragezeichen machen werde. Ausgangspunkt ist dabei, wie Sie sich bei der Lektüre der Vortragsankündigung vielleicht bereits gedacht haben, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Zinsbesteuerung. 2 Dies gehört zu den Urteilen des Gerichts, die soviel populäre Zustimmung finden, daß der schon fast revolutionäre Umgang des Gerichts mit dem Recht, insbesondere dem Verfassungsprozeßrecht, gar nicht besonders auffällt. Den Grundtenor des Urteils brauche ich, glaube ich, in diesem Kreis nicht vorzustellen. Im wesentlichen sagt das Gericht, daß eine in der Sache verfassungsrechtlich unangreifbare Regelung der Besteuerung von Kapitalerträgen wegen eines eklatanten Vollzugsdefizits verfassungswidrig ist. Im Ergebnis mußte nur zahlen, wer es freiwillig tat. Dadurch sah das Gericht den dem Gleichheitssatz zugeordneten Grundsatz gleichmäßiger Besteuerung als verletzt an. Um zu diesem, wie gesagt weithin begrüßten, Ergebnis zu kommen, (ich bin gerne bereit zuzugeben, daß ich die vom Gericht beanstandete Regelung ebenfalls für einen politischen Skandal halte, der allerdings dadurch ein wenig abgemildert wird, daß die Besteuerung von Kapitalerträgen ohne Berücksichtigung von Kapitalentwertung durch Inflation verfassungsrechtlich nicht ganz so unanfechtbar ist, wie das Gericht glaubt) 3 , um also zu diesem Ergebnis zu kommen, mußte das Gericht eine ganze Reihe von Hürden in seiner eigenen Rechtsprechung, aber auch in der akzeptierten verfassungsrechtlichen Dogmatik überspringen. Verfassungsprozessual ist die Beschwerdebefugnis eines Bürgers für eine Verfassungsbeschwerde, mit der er rügt, daß andere Bürger die Steuern nicht zahlen, natürlich prinzipiell ausgeschlossen. 4 Die Stichworte „keine Gleichheit im Unrecht" und vom „fehlenden Recht auf Fehlerwiederholung" fallen uns sofort ein. Die Vorinstanz, das FG Baden-Württemberg, teilte die Bedenken unter dem Gesichtspunkt der Lastengleichheit, meinte aber, daß die Berücksichtigung zugunsten der Beschwerdeführer „die gesetzliche Norm und den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung auf den Kopf stellen würde". 5 Damit sind zugleich die materiellen Verfassungsprinzipien angeBVerfGE 84, 239 ff. B.-O. Bryde, in: von Münch/Kunig, G G K , 4. Aufl., Art. 14 Rdn. 66 - Steueru. Abgabenrecht. 4 BVerfGE 49, 1, 7 ff. 5 Zitiert in BVerfGE 84, 239, 255. 2

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sprochen, unter denen das Urteil sensationell ist.6 Das Gericht ist sich dieser Sensationalität wahrscheinlich bewußt. Das merkt man weniger dem Text der Entscheidung an, als dem Bemühen, das Anwendungsfeld der neuen Doktrin möglichst stark einzuschränken. Sie soll nur bereichsspezifisch, d.h. nicht für den allgemeinen Gleichheitssatz, sondern nur für dessen Unterfall des besonders qualifizierten Grundsatzes gleichmäßiger Besteuerung gelten7, und das Gericht beschränkt sein Urteil über die Verfassungswidrigkeit des nicht-effektiven Gesetzes auf Fälle, in denen der Gesetzgeber den Vollzug seines Gesetzes so organisiert, daß ein gleichmäßiger Vollzug praktisch ausgeschlossen ist.8 Ich möchte die revolutionäre Natur der Entscheidung nun aber nicht gleich verharmlosen, indem ich auf diese engen Restriktionen verweise, unter die das Gericht seine Rechtsprechung stellt. Ich möchte sie vielmehr zunächst einmal ganz radikal als allgemeine Regel denken und überlegen, ob die Ineffektivität eines Gesetzes zu seiner Verfassungswidrigkeit führen kann, und ob vom Dogma der Gleichheit im Unrecht Abstriche zu machen sind. Dafür soll zunächst gezeigt werden, auf welches methodische Abenteuer sich die Rechtswissenschaft einläßt, wenn sie die empirische Effektivität von Rechtsnormen zur Voraussetzung ihrer Rechtmäßigkeit macht. Das soll in der Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Wissenschaft geschehen, die sich seit langem dem Thema der Effektivität des Rechts als einem ihrer wesentlichen Gegenstände widmet, nämlich der Rechtssoziologie.9 2. Effektivität

in der

Rechtssoziologie

Als Vorsitzender der Vereinigung für Rechtssoziologie würde ich natürlich gerne eine Aufwertung des Fachs begrüßen, die sich daraus ergeben müßte, daß die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen jedenfalls auch von rechtssoziologischen Gutachten über ihre empirische Wirksamkeit abhängt. Es ist jedoch durchaus offen, was die Rechtssoziologie auf diesem Gebiet tatsächlich leisten kann. Der Jurist, der sich in der Rechtssoziologie nach Hilfe umsieht, stößt dort nämlich zunächst einmal auf erhebliche theoretische und methodische Schwierigkeiten. So auch H. Goerlich, Urteilsanmerkung, J Z 1991, S. 1139. BVerfGE 84, 239, 268. 8 BVerfGE 84, 239, 271. ' Das Thema der Effektivität von Recht ist klassisches Thema der Rechtssoziologie, vgl. T. Raiser, Rechtssoziologie, 1987, S. 252 ff.; H. Rottleuthner, Rechtssoziologie, 1987, S. 54ff.; K. F. Röhl, Rechtssoziologie, 1987, S. 243 ff.; L. Friedman, The Legal System, 1975, S. 45 ff.; die gründlichste deutschsprachige Studie stammt von K. Ziegert, Zur Effektivität der Rechtssoziologie: die Rekonstruktion der Gesellschaft durch Recht, 1975; vgl. auch B.-O. Bryde, The Politics and Sociology of African Legal Development, 1975, S. 127 ff., alle m . w . N . 6

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a) Rechtssoziologisches Urteil über die Effektivität juristischer Normen? Dabei braucht uns die grundlegendste dieser Schwierigkeiten für unsere Fragestellung, die möglichen juristischen Folgen von Ineffektivität von Recht, weniger Sorge zu machen als der rechtssoziologischen Theorie. Mit dieser Schwierigkeit meine ich das erkenntnistheoretische Grundproblem, daß soziologische Aussagen über die empirischen Folgen von Normen gemacht werden, über deren Inhalt ein hochspezialisierter juristischer Fachdiskurs stattfindet. Eine scharfsinnige Kritik rechtssoziologischer Effektivitätsstudien unter diesem Aspekt hat Donald Black in seinem wichtigen Essay über die „Boundaries of Legal Sociology", die Grenzen der Rechtssoziologie 10 , formuliert. Da er soziologische Aussagen über den Inhalt juristischer Normen (von möglichen Ausnahmen bei sehr eindeutig formulierten Normbefehlen, z.B. manchen Straftatbeständen, einmal abgesehen) für grundsätzlich unzulässig hält, fehlt der soziologischen Effektivitätsstudie der Ausgangspunkt. Man braucht, glaube ich, nicht Blacks radikal jede Wertung als unwissenschaftlich ausschließenden positivistischen Standpunkt zu teilen, mit dem er sich selbst einen Teil der Wirkung genommen hat, um das Problem zu erkennen. Man kann auch milder und abstrakter formulieren, daß seinswissenschaftliche Aussagen über Sollensvorschriften auf Grenzen stoßen.11 Wenn ich sage, daß diese Grundsatzkritik an der Leistungsfähigkeit rechtssoziologischer Effektivitätsstudien uns für unsere juristische Fragestellung nicht zu kümmern braucht, dann deshalb, weil wir bei dieser Fragestellung ja bereits ein juristisches Urteil über den Inhalt der auf ihre Effektivität zu überprüfenden Norm voraussetzen: Der Richter, ζ. B. das Bundesverfassungsgericht, aber auch der Wissenschaftler, der eine Norm auf ihre Effektivität überprüfen möchte, hat die Norm im Rahmen rechtswissenschaftlicher Methodik konkretisiert, die empirische Effektivitätsstudie hat damit einen sicheren Ausgangspunkt. Zumindest in interdisziplinärer Arbeitsteilung läßt sich dieses Problem also sicher bewältigen. h) „Debunking-approach " und das Recht als kontingente Ordnung Der Jurist trifft auf ein sehr viel ernsteres Problem, wenn er sich mit der empirischen Effektivität seiner Normen beschäftigt, weil er sehr schnell 10 D.J. Black, The Boundaries of Legal Sociology, 81 Yale Law J. 1086 (1972). 11 Plastisch formuliert Ν. Luhmann dieses erkenntnistheoretische Grundproblem: „Wie solle man ζ. B. prüfen, ob die soziale Herkunft des Richters seine Rechtsprechung beeinflusse, wenn man nicht beurteilen könne, ob er seine Argumente und Entscheidungen richtig oder falsch oder mit rechtlich gerade noch tragbarer, aber signifikanter Verbiegung einsetze" (Rechtssoziologie, Bd. 1, 1972,

S.lf.).

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merken wird, daß Vollzugsdefizite eher die Regel als die Ausnahme sind, oder auch, daß der Beitrag des Rechts zur Verhaltenssteuerung häufig marginal ist. Das liegt nun, und das macht die Sache nicht einfacher, nicht an irgendwelchen überwindbaren Problemen in der Organisation der Rechtsdurchsetzung, sondern hat seinen Grund in der notwendigen Beziehung von Recht und abweichendem Verhalten. Die Zeiten, in denen Rechtssoziologen besondere Freude daraus gewannen, Juristen die Ineffektivität ihrer Normen unter die Nase zu reiben, sind wahrscheinlich vorbei. In den USA bezeichnete man diesen Ansatz treffend als „debunking-approach", das Recht sollte von seinem eingebildeten Sockel heruntergeholt, auf seine natürliche Größe zurechtgestutzt werden. 12 Seinen besonderen Reiz bezog dieser Ansatz (und bezieht ihn teilweise bis heute) fast ausschließlich aus der Bereitschaft von Juristen, sich provozieren zu lassen, und deren ständigen Versuchen, den Gegenbeweis anzutreten. Dabei sollte man sich schnell darauf verständigen können, daß es vollständig effektives Recht nicht nur in der Empirie nicht gibt, sondern theoretisch gar nicht geben kann: Recht ist immer auf kontingentes Verhalten ausgerichtet, hat seinen Grund darin, daß Menschen auch anders handeln können 13 , keine Gesellschaft würde sich die Mühe machen, Normen aufzustellen, die nie gebrochen werden, oder etwas zu gebieten, was alle freiwillig tun. Schon bei der Grundlegung der Rechtssoziologie hat ihr trotz Marx und Weber wohl größter Klassiker, Emile Durkheim, die Devianz als notwendigen Integrationsfaktor jeder Gesellschaft herausgestellt. 14 Kai Erikson ist dem für eine besonders fromme und regeltreue Gruppe, die Puritaner der Massachusetts Bay Colony, nachgegangen und hat gezeigt, wie auch die Heiligen auf Außenseiter angewiesen sind. 15 Vor allem hat aber die kriminologische Forschung (insbesondere die Dunkelfeldforschung) gezeigt, wie selektiv und gering die Chance der Sanktionierung abweichenden Verhaltens ist. 16 Auch wenn die Ergebnisse dieser For-

12 Zur Kritik R. L. Abel, Law Books and Books about Law, Stanford Law Review, 26 (1973), S. 175ff., 187ff. 13 Grundlegend N. Luhmann, Rechtssoziologie, Bd. 1, S. 31 ff. 14 E.Durkheim, Les regles de la méthode sociologique (1895), hier zitiert nach der 3. Aufl., Paris 1904, S. 83; ders., La division de travail (1893), 8. Aufl. 1967, S.70Í. 15 K. Erikson, Wayward Puritans, A Study in the Sociology of Deviance, 1966. 16 Vgl. zur Dunkelfeldforschung zusammenfassend G.Kaiser, Kriminologie, 2. Aufl. 1988, §42, Rdn.34, und H.-D. Schwind, Kriminologie, 4. Aufl. 1992, §2, Rdn.53.

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schung inzwischen weitgehend auch bei Nicht-Kriminologen bekannt sind, löst es - zumindest bei Studenten - immer wieder Verblüffung aus, wie gering die Aufklärungs- und wieviel kleiner noch die Sanktionsquote ist. Als in einer fiühen Gießener Studie, die ich hier als Lokalpatriot zitiere, in den 60er Jahren festgestellt wurde, wie weit verbreitet Ladendiebstähle unter Jugendlichen sind, daß aber von 89 Jugendlichen, die solche begangen hatten, gerade einmal 4 der Polizei bekannt geworden waren, erregte das noch Aufsehen. 17 Inzwischen dürfte die Aufklärungsquote noch weit niedriger liegen. Die Erforschung der Jugendkriminalität ist dabei ein besonders interessantes Feld, weil sie gleichzeitig den Schluß erlaubt, daß diese geringe Effektivität von allergrößter Bedeutung ist: Kleinkriminalität in der Jugend ist weit verbreitet, wenn nicht ubiquitär. Frühere Generationen hatten nur, wie Helmut Schmidt einmal bemerkt hat, das Glück, daß sie sie an Apfelbäumen ausüben konnten, was Teil der Folklore und romantisch ist und anders als der Ladendiebstahl nicht vor den Jugendrichter führt (eine moderne Variante des Apfelklauens, was die soziale Akzeptanz angeht, dürfte das Raubkopieren von Computerspielen sein). Sie wächst sich gerade dann aus, wenn sie nicht sanktioniert wird: erst die Sanktion steht oft am Beginn der kriminellen Karriere. 18 Andererseits ist es unter Gleichheitsgesichtspunkten natürlich schon nicht ganz unbedenklich, eine Handvoll von generalpräventiven Opferlämmern für etwas zu schlachten, was alle tun. Ebenso kriminologisches Allgemeingut wie die hohen Dunkelziffern und, bezogen auf manche Delikte, schon fast lächerlich kleinen, Effektivitätsraten ist die selektive Natur rechtlicher Sanktionen. 19 Daß Angehörige bestimmter Gruppen nicht unbedingt krimineller sind, aber schärfer beobachtet und daher auch häufiger „auffällig" werden, ist ein Gemeinplatz und wird gerade im Augenblick wieder in der Diskussion um Ausländerkriminalität deutlich. 20 Anders als bei der Jugendkriminalität, wo das Fortbestehen der Ineffektivität von erheblicher sozialer Bedeutung ist, ist solche Selektivität sicher für das Gerechtigkeitsbewußtsein ärgerlich, muß bekämpft und verhindert werden. Das Verhalten bewußt selektionierender Sanktionsorgane ist häufig auch rechtswidrig (in dieser Hinsicht ist die These von 17 Zitiert bei E.Blankenburg, Die Selektivität rechtlicher Sanktionen, KZSS 21 (1969), S. 805 ff., 811. 18 F. Schaff stein /W. Beulke, Jugendstrafrecht, 11. Aufl. 1993, S. 180. 19 E.Blankenburg, Die Selektivität rechtlicher Sanktionen, KZSS 21 (1969), S. 805 ff. 20 P.A. Albrecht, Die strafrechtliche Auffälligkeit des „Ausländers", Strafverteidiger 1990, S. 272 ff.

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der rechtlichen Bedeutung von Ineffektivität tatsächlich banal). 21 Aber berührt sie die Geltung des Gesetzes, macht sie das selektiv angewandte Gesetz verfassungswidrig? Wenn wir die Thesen des Zinsbesteuerungsurteils auf das Strafrecht anwenden würden, verfiele ein großer Teil der Strafrechtsnormen diesem Verdikt. Das Bundesverfassungsgericht

hat einen

Gleichheitsverstoß

angenommen, weil es von einem Befolgungsgrad von nur 10-30 % ausging. Das ist gegenüber einer vermuteten Dunkelziffer von 9 9 % bei einfachem Diebstahl 22 schon fast bemerkenswert viel, von Allerweltsdelikten wie Verstößen gegen die S t V O ganz abgesehen. Grundsätzlich gehört Ineffektivität also eher zum Alltag des Rechts, als daß es eine spektakuläre Ausnahme wäre. Dabei habe ich mich noch bewußt auf Beispiele beschränkt, die heute so sehr die juristische Zunft sich anfangs gegen den Nachweis der Ineffektivität ihres beruflichen Handwerkszeuges wehrte - zum akzeptierten Allgemeinwissen gehören. Ich könnte mit wohl inzwischen ähnlicher Evidenz das Vollzugsdefizit im Umweltschutzrecht hinzufügen. 23 Eine völlig neue Problematik ergibt sich schließlich, Ihnen hier in Berlin wahrscheinlich plastischer als mir, aus den Vollzugsdefiziten bei der Anwendung des Rechts der Bundesrepublik in den neuen Bundesländern. 24 Ich verzichte dagegen darauf, auf neuere systemtheoretische und ökonomische Ansätze einzugehen, die die Regulierbarkeit von Wirtschaft und Gesellschaft durch Recht viel radikaler in Zweifel ziehen. 25 Dies nicht nur deshalb, weil selbst der knappste Abriß dieser Diskussion um „autopoietisches Recht" diesen Vortrag schlicht sprengen würde, sondern vielmehr, weil ich sie in ihrer Radikalität für falsch halte 26 , obwohl sie natürlich auch so viel richtiges Beweismaterial für „Rechtsversagen" zu Tage fördern, daß ich ihnen weitere Beispiele entlehnen könnte.

W.Berg, Keine Gleichheit im Unrecht, JuS 1980, S.418ff., 419. G.Kaiser, a.a.O., §42, Rdn.33. 23 Grundlegend K.Mayntz, Vollzugsprobleme der Umweltpolitik, 1978; G. Winter, Das Vollzugsdefizit im Wasserrecht, 1975. 24 H. Goerlich, Legislative Vollzugsdefizite und ihre Kontrolle am Beispiel der deutschen Vereinigung, Zeitschrift für Gesetzgebung 1992, S. 303 ff., der auch die Verbindung zum hier diskutierten Zinsbesteuerungsurteil herstellt. 25 Souverän zusammenfassend G. Teubner/ H. Willke, Kontext und Autonomie: Gesellschaftliche Selbstbesteuerung durch reflexives Recht, ZfRSoz 1984, S. 4 ff. 26 Zur Kritik vgl. etwa G.F. Schuppen, Grenzen und Alternativen von Steuerung durch Recht, in: D. Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben - Sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts 1990, S.217, 224 ff.; ders., Der Staat 28 (1989), S.91, 100. P.Nahamowitz, Steuerung durch Recht und Steuerung des Rechts, ZfRSoz 1992, S. 271 ff. 21 22

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Mit diesem Nachweis der Grenzen rechtlicher Steuerungsfähigkeit kann die Rechtssoziologie zumindest eines für unser Thema, die Effektivität von Recht als Rechtsproblem, leisten: Vor den Gefahren, für die normative Geltung von Recht warnen, die entstehen, wenn wir die Geltung von Recht zur Disposition seiner Effektivität stellen.

c) Instrumentelles

und symbolisches

Recht

Die Rechtssoziologie ist bei der Erkenntnis regelmäßiger Vollzugsdefizite nicht stehengeblieben (auch wenn der debunking-approach noch nicht aus allen Köpfen verschwunden ist), sondern fragt auch, welche Funktionen im herkömmlichen Sinn ineffektives Recht haben könnte. Besonders wichtig ist dabei die Erkenntnis, daß Recht nicht nur instrumentelle, sondern auch symbolische Funktionen haben kann. Joseph Gusfield hat in einer bekannten Studie über die Prohibitionsgesetzgebung in den USA 2 7 gezeigt (besser: zu zeigen versucht, denn unbestritten ist sein Ansatz nicht geblieben) 28 , daß Recht nicht notwendig auf Verhaltensänderung gerichtet ist, sondern auch der symbolischen Bestätigung von Werten dienen kann. Der Begriff der symbolischen Rechtssetzung ist begeistert aufgenommen und weithin akzeptiert worden, allerdings wird er in zwei deutlich unterschiedenen Akzentuierungen verwandt: Eher positiv i. S. der Bedeutung von Symbolen für die gesellschaftliche Integration 29 , eher negativ im Sinne von Volksbetrug durch den Gesetzgeber (Klischeegebrauch der Politik, double-talk). 30 Die klassische Studie ist hier die von Aubert über die Funktionen der Gesetzgebung am Beispiel des norwegischen Hausgehilfinnengesetzes, das ganz offensichtlich so konstruiert wurde, daß es zwar das Mitgefühl des Parlaments mit den Betroffenen deutlich machen konnte, gleichzeitig aber seine Anwendung von niemandem gefürchtet zu werden brauchte. 31

3. Rechtsprobleme symbolischen Rechts Während für den Sozialwissenschaftler das Konzept des symbolischen Rechts ein recht zufriedenstellendes Konstrukt zur Erklärung brauchba-

27 J. Gusfield, Moral Passage: The Symbolic Process in Public Designations of Deviance, Social Problems 15 (1967), S. 175. 28 L.Friedman, a.a.O., S.51. 29 T. Raiser, Rechtssoziologie, S. 255; S. Tönnies, Symbolische Gesetzgebung: Zum Beispiel §175 StGB, ZRP 1992, S.411, 412f. 30 E. Blankenburg, Rechtssoziologie und Rechtswirksamkeitsforschung, in: W. Schreckenberger (Hrsg.), Gesetzgebungslehre, 1986, S. 109, 110. 31 V. Aubert, Some Social Functions oí Legislation, in: ders., Sociology oí Law, 1969, S. 35.

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rer Ineffektivität ist, kann es sich der Jurist mit dem symbolischen Recht so einfach nicht machen. Das gilt insbesondere für vom Gesetzgeber bewußt als symbolisch gesetztes, nicht ernsthaft auf Vollzug angelegtes Recht. Die Rechtswissenschaft hat keine greifbaren Kriterien für den Umgang mit Recht, das in der Intention des Gesetzgebers nicht vollzogen werden soll. Der Richter kann schwer seine Anwendung mit der Begründung ablehnen, es sei nur symbolisch gemeint, der Wissenschaftler wird sich verzweifelt bemühen, einen Sinn in das Gesetz hineinzuinterpretieren, den der Gesetzgeber ihm gar nicht zugedacht hat. Gerade dadurch kommt es aber zu Gleichheitsproblemen, und zwar gerade im Rechtsstaat, während wir uns im Nicht-Rechtsstaat leichter vorstellen können, daß symbolisches Recht auch tatsächlich nur auf dem Papier steht, also zwar ineffektiv, aber auch ungefährlich ist. 32 Im Rechtsstaat kann der Richter hingegen wegen seiner Gesetzesbindung die Anwendung von Gesetzen, die vom Gesetzgeber nicht auf Vollzug programmiert sind, nicht unangewendet lassen.

a) Gleichheit im Unrecht Die Gleichheitsprobleme, die sich damit für den Bürger ergeben, sind aber prozessual kaum zu rügen, weil sich gegen seinen Anspruch auf Gleichbehandlung die Doktrin von der fehlenden Gleichheit im Unrecht stellt. 33 Nun gibt es wenige Bereiche, in denen populäres und juristisches Rechtsbewußtsein so auseinanderfallen, wie bei der Doktrin von der fehlenden Gleichheit im Unrecht. 3 4 Ich weiß nicht, ob ich dafür empirische Belege bringen muß, die es natürlich gibt 35 , es reicht wahrscheinlich, 32 Zu den Problemen „teileffektiven" Rechts in den Entwicklungsländern vgl. B.-O. Bryde, Die Rolle des Rechts im Entwicklungsprozeß, in: B.-O. Bryde/ F. Kubier (Hrsg.), Die Rolle des Rechts im Entwicklungsprozeß, S. 9 ff., 22 ff. 33 Zur Gleichheit im Unrecht vgl. BVerwGE 34, 278 ff.; G.Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 3 Rdn. 164 ff., 437 ff.; C.Starck, in: von Mangoldt/Klein, 3.Aufl., Art.3, Rdn.l84f.; M.Gubelt, in: von Münch/Kunig, GGK, 4. Aufl., Rdn. 42; Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, S.385ff.; W.Berg, Gleichheit im Unrecht, JuS 1980, S.418ff., alle m.w.N.; differenzierend: A.Randelzhofer, Gleichbehandlung im Unrecht?, JZ 1973, S.536ff.; V.Götz, Der allgemeine Gleichheitssatz und die Rechtsanwendung im Verwaltungsrecht, NJW 1979, S. 184 ff.; H.-W. Arndt, Ungleichheit im Unrecht, in: FS f. H. Armbruster, 1976, S. 233 ff. 34 So auch A.Randelzhofer, a.a.O., S.537; W.Berg, a.a.O., S.418; M.Völlmeke, Die Gleichheit, das Unrecht und die Richtervorlage an das BVerfG, NJW 1992, S. 1345. 35 Bei Studien über das Rechtsbewußtsein von Kindern in der Kohlberg'schen Tradition steht die gleichmäßige Anwendung immer ganz oben bei den Kriterien, die eine faire Regel kennzeichnen: }. L. Tapp & F.J. Levine, Persuasion to Virtue, Law and Society Review 4 (1970), S. 565.

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auf Ihre eigenen Erfahrungen zu verweisen. Gerade die unter dem Stichwort „kein Recht auf Fehlerwiederholung" diskutierten Fälle werden unter dem Gesichtspunkt „warum ich und nicht der Nachbar" als besonders ungerecht empfunden. Es bedarf auch keines Hinweises, daß selektive Anwendung von Recht die größten Ungerechtigkeiten verursachen kann. Unter den Aktionen, die zum Impeachment-Prozeß von Richard Nixon führten, befand sich die sogenannte „enemy list", d. h. eine Liste politischer Gegner, die die Administration nach der Vorstellung des Weißen Hauses zum Gegenstand ausnahmslos rechtmäßiger, aber gezielt selektiver Maßnahmen wie Steuerprüfungen machen sollte. Die amerikanische Öffentlichkeit betrachtete solchen Einsatz rechtmäßiger Mittel gegen den politischen Gegner mit Recht als Skandal. Mildere Formen solchen selektiven Vollzugs von Gesetzen gibt es tagtäglich. Sie bilden das Fallmaterial für die Diskussion der „Gleichheit im Unrecht", z . B . im Baurecht, die Abbruchverfügung gegen das Ferienhaus im Außenbereich, dessen Nachbarn, mit besseren Beziehungen zur Behörde, unbehelligt bleiben. Die juristische Schwierigkeit liegt in diesen Fällen nicht in der Feststellung der Rechtswidrigkeit. Es ist auch nicht besonders schwer, sich Sanktionsmöglichkeiten „von oben" (Maßnahmen der Aufsicht, der Disziplinargewalt oder der politischen Kontrolle) vorzustellen, die auf einen gleichmäßigeren Vollzug hinwirken. Unter Geltung des Gesetzmäßigkeitsprinzips dürfte das aber, zumindest wenn kein Ermessensspielraum der Behörde vorliegt 36 , immer nur zu der für den betroffenen Bürger nicht besonders attraktiven, vor allem aber prozessual nicht einklagbaren Forderung führen, die anderen genauso schlecht zu behandeln wie ihn. 37 Bedenkt man, daß die Sicherung der Rechtmäßigkeit der Verwaltung im Rechtsstaat letztlich, das Grundgesetz ist da in Art. 19 Abs. 4 ganz realistisch, in den Händen betroffener Bürger liegt, stoßen wir bei der Durchsetzung eines solchen Gleichheitsanspruchs schon deshalb schnell auf Grenzen, weil kein subjektiv-öffentliches Recht betroffen ist. Solange das Gesetz gilt, muß der Richter es anwenden, die Argumente gegen die Anerkennung eines Rechts auf Fehlerwiederholung unter dem Gesichtspunkt der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sind unwiderlegt, die Verwaltung darf nicht das Recht erhalten, ein Gesetz durch selektive Nichtanwendung völlig unanwendbar zu machen.

36 Bei Ermessensentscheidungen wie der Abbruchverfügung kann die Forderung nach geordneter Planung (VGH Kassel HessVGRspr 1978, 29, 30) oder auch die in Berlin erfundene Rechtsfigur der Duldung (A. Randelzhofer/D. Wilke, Die Duldung als Form flexiblen Verwaltungshandelns, 1981) helfen. 37 Weitergehend V G H Kassel ESVGH 35, 287·, dazu P.Rechenbacb, Verfassungsanspruch auf „Gleichbehandlung im Unrecht"?, NJW 1987, S. 383ff.

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Eine juristische Lösung des Problems empirischer Ineffektivität könnte es hingegen sein, wenn wir die Geltung des Gesetzes selbst in Frage stellen, weil wir den Gesetzgeber selbst für das Vollzugsdefizit verantwortlich machen. Ist ein solches Gesetz, wie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu verstehen ist, verfassungswidrig, dann beruft sich der vom selektiven Vollzug Betroffene nicht auf Gleichheit im Unrecht, sondern wendet sich gegen seine Belastung durch ein verfassungswidriges Gesetz. Das ist dann auch verfassungsprozessual nicht besonders schwierig: daß eine Steuer nicht auf der Grundlage eines verfassungswidrigen Gesetzes erhoben, eine Strafe nicht auf seiner Grundlage verhängt werden darf, ist offensichtlich. Ein kleines verfassungsprozessuales Problem ergibt sich allenfalls wegen der Praxis des Bundesverfassungsgerichts, Gesetze (und besonders Steuergesetze) fast schon regelmäßig nicht für nichtig, sondern in der Regel nur für unvereinbar mit dem Grundgesetz und für nachbesserungspflichtig zu erklären. 38 D a in diesem Fall der Betroffene unmittelbar keinen Vorteil erlangt, könnte man die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde bzw. einer Richtervorlage durchaus bestreiten. Genauso, wie umgekehrt die Rüge gleichheitswidriger Begünstigung nur entscheidungsrelevant ist, wenn vorausgesehen werden kann, daß das Gericht das angegriffene Gesetz nur für unvereinbar, nicht aber für nichtig erklären wird. 39 Eine effektive Verteidigung des Gleichheitssatzes erfordert m. E., daß die Zulässigkeit von Spekulationen über den Tenor unabhängig ist, die Zulässigkeit also zu bejahen ist, wenn entweder die Nichtigkeitserklärung oder die Unvereinbarkeitserklärung die Rechtsposition des Bürgers verbessert. b) Verfassungsgebot symbolischen

Rechts?

Bevor wir aber dieser naheliegenden Frage nach der juristischen, insbesondere verfassungsrechtlichen Zulässigkeit symbolischen Rechts nachgehen, müssen wir uns mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts auseinandersetzen, das möglicherweise sogar ein Verfassungsgebot zur symbolischen Rechtssetzung annimmt. Ein Urteil, dessen Harmonisierung mit der Zinsbesteuerungsentscheidung noch aussteht (da die Zuständigkeit im Gericht gewechselt hat, muß der 2. Senat diese Harmonisierung demnächst selber leisten), ist nämlich die Abtreibungsentscheidung. 40 Während die an diese Entscheidung

38 39 40

Dazu B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 176 m. w.N. Dazu M. Völlmeke, a.a.O. BVerfGE 39, 1.

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anknüpfende Diskussion vor allem um die aus Grundrechten abgeleiteten Schutzpflichten, insbesondere aber um die postulierte Strafpflicht des Staates aufgrund von Grundrechten geht, ist für unser Thema zunächst interessant die Betonung der symbolischen Bedeutung des Rechts, und zwar in einem positiven, affirmativen Sinn: Fast wie von Gusfield entlehnt (eine Vermutung, die wohl als widerlegt gelten kann) erscheint die Formulierung, das Gesetz sei nicht nur Instrument, sondern auch „bleibender Ausdruck sozialethischer und - ihr folgend - rechtlicher Bewertung menschlicher Handlungen". 41 Wenn wir einmal davon ausgehen, daß die damalige Richtermehrheit im 1. Senat nicht so naiv war, sich über die Effektivität des von ihr dem Gesetzgeber anempfohlenen Indikationenmodells Illusionen zu machen, wenn wir also davon ausgehen, daß sie nicht wirklich die viel kritisierte Strafpflicht durchsetzen wollte, sondern sich darüber klar war, daß nach dem Indikationenmodell Schwangerschaftsabbrüche genauso wenig verfolgt werden würden wie nach dem Fristenmodell, dann enthält die Entscheidung in der Tat eine verfassungsrechtliche Pflicht zur symbolischen Gesetzgebung. Das Gericht sieht zwar, daß die gewünschte Auswirkung auf das Rechtsbewußtsein wohl nur eintreten wird, „wenn der Staat diese Fälle nicht nur für strafbar erklärt, sondern sie auch in der Rechtspraxis verfolgt und bestraft" (S. 50), aber andererseits spricht für eine doch bloß symbolische Strafpflicht die weitgehende Verweisung der Entscheidung im Rahmen eines Indikationenmodells in das, letztlich unüberprüfbare (so in derselben Entscheidung auf S. 48), Gewissen von Schwangerer und Arzt: Ein solches Abtreibungsrecht ist dann von einem Steuerrecht, das die Steuerzahlung in das Belieben des Steuerpflichtigen stellt, bei aller Verschiedenheit der Lebensbereiche, nicht so weit entfernt. Symbolische Gesetzgebung erhält in diesem Kontext natürlich eine deutlich positivere Bedeutung als in Äußerungen, die „symbolisch" an die Grenze zum Wählerbetrug rücken. Ein solcher Einsatz des Gesetzes zur Gestaltung der sozialethischen Werte einer Gesellschaft ist nun nicht einfach als juristische Überheblichkeit oder Illusion zu kritisieren: Empirische Forschung legt im Gegenteil die Annahme nahe, daß die rechtliche Bewertung von Verhalten moralische Wertvorstellungen prägen hilft. Im Rahmen der Forschung über moralische Werturteile bei Jugendlichen hat man ζ. B. festgestellt, daß sich die Bewertung eines zunächst positiv beurteilten Verhaltens deutlich zum Negativen hin ändert, wenn den Befragten mitgeteilt wird, das betreffende

41

BVerfGE 39,1, 59.

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Verhalten sei rechtlich verboten. 42 Eine mir bisher nur aus der Zeitung bekannt gewordene Studie für das Bundesjustizministerium über Drogenkonsum unter Jugendlichen hat nach diesen Berichten ergeben, daß die Strafbarkeit weicher Drogen zu ihrer gesellschaftlichen Achtung beiträgt. Wir können das auch auf anderen Gebieten nachvollziehen:

Im

Umweltrecht ζ. B. hat die Mitteilung, eine rechtliche Grenze sei überschritten, deutliche Auswirkungen auf die Gefährlichkeitsvorstellungen des Publikums. Gegenüber der Feststellung, daß die PCB-Belastung oder Formaldehyd-Konzentration

einen

rechtlichen

Schwellenwert

über-

schreitet, sind beruhigende wissenschaftliche Gutachten machtlos. 43 Fraglich ist bei solchen Beispielen allerdings (und diese Kritik hat das Konzept des symbolischen Rechts seit seiner Grundlegung begleitet), ob die symbolische Wirkung tatsächlich vom Vollzug unabhängig sein kann: Hätten m. a. W . die befragten Jugendlichen ihr moralisches Urteil auch geändert, wenn man ihnen nicht gesagt hätte, das entsprechende Verhalten sei rechtswidrig, sondern es sei zwar rechtswidrig, werde aber mit Sicherheit nicht sanktioniert? Würde auch eine bloß auf dem Papier stehende Strafbarkeit weicher Drogen von ihrem Gebrauch abhalten? Könnten rechtliche Grenzwerte die Meinung des Publikums von der Gefährlichkeit bestimmter Stoffe beeinflussen, wenn feststünde, daß sie aus der Luft gegriffen sind? Ich würde alle diese Fragen hypothetisch verneinen. Ein empirischer Nachweis ist schwer, weil es absolut bloß symbolisches Recht in der Lebenswirklichkeit nicht geben dürfte. Jedenfalls im Rechtsstaat wird auch das ineffektivste Gesetz, wenn es im Gesetzbuch steht, auch gelegentlich angewandt. Auch das deutsche Abtreibungsrecht war nur bis Memmingen bloß symbolisch. c) Verfassungsverbot

symbolischen

Rechts!

Damit wird symbolisches Recht aber im Rechtsstaat gefährlich. Problematisch ist nicht die völlige Ineffektivität, die im Rechtsstaat, wie gezeigt ohnehin kaum vorkommt, sondern die Teilineffektivität, das generell nicht zur Effektivität bestimmte Gesetz, das gelegentlich angewandt wird und gerade dadurch ungerecht wirkt. Ein Abtreibungsrecht, das aus symbolischen Gründen am Unwerturteil über den Schwangerschaftsabbruch festhält, aber nicht angewandt wird, könnte wahrscheinlich auf ziemlich breiten Konsens treffen, aber es müßte eigentlich schon ein

42 L. Berkowitz & N. Walker, Laws and Moral Judgments, Sociometry 30 (1967), S. 111. 43 B.-O. Bryde, Das Recht der Risikogesellschaft, in: H.Grabes (Hrsg.), Wissenschaft und neues Weltbild, 1992, S. 71 ff., 80.

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erhebliches Unbehagen auslösen, wenn angesichts von hunderttausenden Abbrächen unter vergleichbaren Bedingungen genau ein Arzt und 40 Frauen bestraft werden.44 Aber genau das ist die fast zwangsläufige Folge symbolischer Rechtssetzung, wenn sie nicht sehr sorgfältig in der Sicherung der eigenen Ineffektivität ist, dann aber möglicherweise auch ihre symbolische Wirkung einbüßt. Ich formuliere vorsichtig ein zunächst noch unabgesichertes Zwischenergebnis: Im Rechtsstaat ist symbolische Rechtssetzung grundsätzlich unerwünscht, der Gesetzgeber ist verpflichtet, sich auf solche Gesetze zu beschränken, die auch durchgesetzt werden können. Insoweit läßt sich die Zinsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts also durchaus verallgemeinern: Entscheidend für das Gericht war nicht das Faktum eines Vollzugsdefizits. Von dessen Vermeidung dürfen wir, auch nur halbwegs über die Durchsetzungschancen von Recht aufgeklärt, die Geltung von Recht nach wie vor nicht abhängig machen. Entscheidend ist aber auch kein bereichsspezifischer, von anderen Gebieten abweichender besonderer Gleichheitssatz im Steuerrecht. Wenn wir in anderen Rechtsgbieten Vergleichbares finden, d.h. Gesetze, die erkennbar nicht auf Vollzug, sondern auf eine bloß symbolische Wirkung angelegt sind, ohne daß eine bloß symbolische Wirkung auch garantiert ist (wie ζ. B. bei einem in den unüberprüfbaren Beurteilungsspielraum des Arztes gelegten Indikationenmodell), verstößt das gegen den Gleichheitssatz und in aller Regel auch gegen weitere Grundrechte in Verbindung mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, denn der Nachweis der Erforderlichkeit, vor allem aber der Geeignetheit symbolischer Rechtssetzung, dürfte häufig schwerfallen. d) Wann ist ein Gesetz (bloß)

symbolisch?

Bevor nun unter Berufung auf Bryde, Berliner Juristische Gesellschaft 1993, Scharen von Gesetzen für verfassungswidrig erklärt werden, gilt es die Grenzen eines solchen Konzepts näher zu definieren. (1) Entscheidungsprärogative

des

Gesetzgehers

Gleichheitssatz und Verhältnismäßigkeitsprinzip sind Instrumente, die nur mit äußerster Vorsicht eingesetzt werden dürfen, wenn dem Gesetzgeber auch nur halbwegs ein angemessener Spielraum zur politischen

44 Zahlen bei Scbünemann, Quo Vadis §218?, ZRP 1991, S.379, 380, der sie allerdings benutzt, um den Kritikern des Memmin^er Urteils Maßlosigkeit vorzuwerfen und das Gleichheitsproblem nicht sieht.

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Entscheidung bleiben soll. Jedes Gesetz wird selektiv angewandt, ohne daß es deshalb gleich wegen Verletzung des Gleichheitssatzes verfassungswidrig ist, und auch die Erforderlichkeit und Geeignetheit von Gesetzen ließe sich immer bezweifeln, wenn wir wirtschaftsregulierende Gesetze durch die ökonomische Analyse des Rechts, oder jede Art von Versuch gesetzgeberischer Sozialgestaltung durch die beschriebenen systemtheoretischen Ansätze, einer strikten Kritik unterziehen ließen. In der parlamentarischen Demokratie hat der Gesetzgeber grundsätzlich auch das Recht, schlechte Gesetze zu machen, und soll dafür vom Volk, nicht vom Bundesverfassungsgericht zur Rechenschaft gezogen werden. Dem Gesetzgeber ist daher, wie es das Bundesverfassungsgericht ja auch in der Regel tut, ein ganz erheblicher Beurteilungs- und Prognosespielraum zu gewähren. Das gilt auch, wenn nicht sogar gerade, für die hier zur Debatte stehende Frage, ob er durch symbolische Gesetzgebung Gleichheitsverletzungen und unverhältnismäßige Eingriffe bei den wenigen, bei denen ein an sich ineffektives Gesetz ernstgenommen wird, programmiert hat. Im Zweifel müssen wir davon ausgehen, daß der Gesetzgeber seine Gesetze ernst meint, die oben zunächst einmal als juristische Hilflosigkeit gegenüber dem Phänomen des symbolischen Gesetzes beschriebene Haltung von Richtern und Rechtswissenschaftlern, das Gesetz - möglicherweise gegen die Intentionen des Gesetzgebers einfach ernst zu nehmen, erweist sich damit als eine Art sinnvolle verfassungskonforme Auslegung. Insofern muß ich meinen Ansatz also jetzt doch verharmlosen: Weder Strafrechtsnormen mit hohen Dunkelziffern noch Umweltschutznormen mit Vollzugsdefizit sind verfassungswidrig. In allen diesen Fällen dürfen wir davon ausgehen, daß der Gesetzgeber sich im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative hält, wenn er davon ausgeht, daß diese Gesetze, wie unvollkommen auch immer, jedenfalls tendenziell in die richtige Richtung zielen, zur Erreichung des in ihnen angestrebten Zieles beitragen werden. Zurückhaltung ist insbesondere dem Bundesverfassungsgericht auch deshalb anzuraten, weil es sich beim Versuch, Effektivität von Gesetzen zu erzwingen, leicht überheben, an die Grenzen seiner Macht kommen kann. Das Gericht hat nämlich praktisch keine Möglichkeiten, einen gleichmäßigen Vollzug von Gesetzen zu erzwingen. Die Nachgeschichte des Zinsbesteuerungsurteils ist ein gutes Beispiel. Wenn der Gesetzgeber aus wirtschaftspolitischen Gründen entschlossen ist, Steuerhinterziehung weiter zu dulden, kann ihn das Bundesverfassungsgericht daran letztlich nicht hindern. Er wird immer neue, noch kompliziertere Wege finden, ein scheinbar gleichmäßig anzuwendendes, tatsächlich aber den Steuerhinterzieher begünstigendes Recht, zu setzen.

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Anders als im klassischen Fall der Gesetzesüberprüfung kann das Gericht in einer solchen Situation nur sehr schwer durch eine ganze Kette von Entscheidungen die Rahmenbedingungen für den Gesetzgeber klären, da der atypische Fall eines wegen Vollzugsdefizits verfassungswidrigen Gesetzes immer nur im absoluten Ausnahmefall festgestellt werden kann. Wenn wir aber diese Restriktionen beachten, nämlich mit einer im großen und ganzen konsistenten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Gleichheitsverstöße und Verletzungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips nur auf einem Evidenzniveau annehmen, der dem parlamentarischen Gesetzgeber seine Entscheidungsfreiheit läßt, dann ist das Urteil zur Zinsbesteuerung verallgemeinerungsfähig: Symbolisches Recht, das seine bloß symbolische Natur nicht auch garantiert, sondern nur den Ehrlichen (oder Dummen, oder Pechvogel) trifft, ist verfassungswidrig. (2) Zurechnung zum

Gesetzgeber

Auf der anderen Seite wird der Gesetzgeber zu wenig in die Pflicht genommen, wenn man nur das bewußt auf Nichtvollzug angelegte Gesetz als Anleitung zum programmierten Gleichheitsverstoß begreift: Auch das Bundesverfassungsgericht tut das nicht, denn im konkreten Fall ist es ja nicht das Gesetz allein, sondern erst die Einbettung in ein vor allem durch den Bankenerlaß gekennzeichnetes Erhebungsverfahren, das den Gleichheitsverstoß hervorruft. Ohnehin wäre es problematisch, bei der Gesetzesauslegung in strafrechtlichen Vorsatzkategorien zu denken. Auch die Uberprüfung eines Gesetzes auf seine Vollzugsgeeignetheit ist objektive, nicht subjektive Gesetzesauslegung. Bei der Feststellung einer solchen Vollzugsungeeignetheit kann die Rechtssoziologie (und ihre bei Juristen i. d. R. angesehenere Schwester, die Verwaltungswissenschaft) durchaus helfen, vor allem seit sie im Rahmen der Implementationsforschung 45 das Gesetz nicht mehr zum Ausgangspunkt von Effektivitätsstudien, sondern selbst bereits als erste Stufe der Implementation von Politik analysiert. Den Gesetzgeber treffen dabei auch Beobachtungs- und Nachbesserungspflichten, wird das Vollzugsdefizit offenkundig, kann er sich nicht schrankenlos auf seine Einschätzungsprärogative zurückziehen. 45 T. Raiser / R. Voigt (Hrsg.), Durchsetzung und Wirkung von Rechtsentscheidungen 1990; B.-O. Bryde, Problems of Measuring the effectiveness of the Council directive on Environmental Impact Assessment, in: H. Steiger (Hrsg.), The Implementation of the E E C Directive 85/337/EEC on Environmental Impact assessment, Beiträge zum Umweltrecht des Forschungsschwerpunkts Umwekrecht Gießen, 1992.

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4. Schluß Ich komme zum Schluß. Die Effektivität von Recht kann dem Recht nicht gleichgültig sein, obwohl sie sehr viel weniger garantiert ist, als wir oft denken. Aber während das jede übertriebene Abhängigkeit des Rechts von seiner Effektivität problematisch machen würde, gibt es Grenzfälle, die rechtlich bewältigt werden können und müssen. Die Handhabe bietet das Verfassungsrecht: Gleichheitssatz und Verhältnismäßigkeitssprinzip erlauben dem Gesetzgeber nicht, Recht zu setzen, das als symbolisches Recht auf Ineffektivität angelegt ist. Als wirklich schwierige Frage erweist sich nicht der Nachweis eines Verfassungsverstoßes bei derartiger Rechtssetzung des Gesetzgebers, sondern der prozessuale Zugang zu seiner Rüge. Grundsätzlich spricht viel dafür am Prinzip, daß es keine Gleichheit im Unrecht gibt, festzuhalten. Für eine wirkungsvolle Verteidigung des Grundrechts der Bürger auf Gleichheit sind jedoch moderate Abweichungen von der strengen Lehre unvermeidlich: das Bundesverfassungsgericht scheint das begriffen zu haben.