Selbstwerdung in Würde: Philosophisch-theologisches Nachdenken über das Menschsein heute 9783534403004, 9783534403028, 9783534403011

Die menschliche Individualität, die seit Beginn der Neuzeit als eigener Wert betrachtet wurde, hat durch die Einebnung d

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Selbstwerdung in Würde: Philosophisch-theologisches Nachdenken über das Menschsein heute
 9783534403004, 9783534403028, 9783534403011

Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
1. Kapitel Individualität und Vermassung am ‚Ende der Neuzeit‘
1. Zur Diskussion um die Frage einer epochalen Wende
2. Grundlegende Kennzeichen der Neuzeit
2.1 Die Entdeckung des Raumes und der Perspektiveund ihre Folgen
2.2 Der Ausgang des Denkens in der Subjektivität
3. Einige Kennzeichen der heutigen Zeit
4. Menschsein am ‚Ende der Neuzeit‘
4.1 Der genormte und nivellierte Mensch
4.2 Der Mensch als Verbraucher in einer technisierten Welt
4.3 Der Mensch als Ware und Gebrauchswert
4.4 Der anonym entmachtete Mensch
4.5 Die Daseins-Angst des heutigen Menschen
2. Kapitel Vom Geschenk der Freiheit zur erstrebten Selbstbestimmung
1. Der neutestamentliche Freiheitsgedanke
1.1 Die Befreiung vom Leisten-Müssen und nicht Leisten-Können
1.2 Der Erbe Martin Luther: Die Freiheit eines Christen
2. Die allmähliche Eindringung des Ideals der Selbstbestimmung in das kollektive Bewusstsein
2.1 Im Überschwang des Freiheitsbewusstseins: Giovanni Pico (Conte) della Mirandola
2.2 Die ‚Maxime‘ der Selbstbestimmung im 18. Jahrhundert
3. Authentisch leben – mit Blick über sich hinaus
3. Kapitel Menschenwürde: unantastbar oder antastbar?
1. Das Grundgesetz und die Frage nach der Unantastbarkeit der Menschenwürde
1.1 Die Erosion des Würdebegriffs
1.2 Die Unmöglichkeit von Begründungen der absoluten Personwürde in der Metaphysik?
1.3 Die Gottesbildlichkeit des Menschen und die Menschenwürde im biblischen Kontext
1.4 Der unbedingte Anspruch durch den Anderen nach Emmanuel Levinas
4. Kapitel Selbstüberschreitung: auf der Suche nach Sinn
1. Die Sinnfrage auf der Suche des Menschen nach Lebensbewältigung
1.1 Begriffliche Klärung
1.2 Der Ausgriff nach dem Sinnganzen in der Neuzeit
2. Die Frage nach dem Gesamt- und dem Leidenssinn in der Bibel
2.1 Die Frage nach dem Sinn des Lebensganzen: Kohelet der Prediger
2.2 Ijob und das Leid
2.3 Lösung der Frage nach dem Sinn des Leidens aus dem christlichen Erlösungsglauben?
3. Absurdes Dasein und Sinnverlangen heute
3.1 Die Verlorenheit des Menschen in der Industriegesellschaft an sich selbst
3.2 Konsumhaltung und Sinnverlust
4. Die sinnzentrierte Heil- und Lebenskunst V. E. Frankls
4.1 Das Menschenbild Frankls: Die Transzendenz ihrer selbst gehört zum Wesen der menschlichen Existenz
4.2 Eine notwendige Klärung: Was heißt Aufgehen in einer Aufgabe und Hingabe an einen Menschen?
4.3 Keine Sinngebung, sondern Sinnfindung
4.4 Logotherapie und Glaube
Fazit: Eine grundlegende Dialektik: der Weg über den Anderen zu sich selbst
1. Von der Not, ich sein und nicht ich sein zu wollen
2. Drei Namen – drei Modelle zur Selbsttranszendenz
3. Leerwerden des Selbst in der Mystik als ein universales Element
4. Eine offene Dialektik zur Selbstwerdung in der christlichen Tradition
Nachwort
Literaturverzeichnis
Personenverzeichnis
Sachverzeichnis
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Klaus Rohmann

Selbstwerdung in Würde

Klaus Rohmann

Selbstwerdung in Würde Philosophisch-theologisches Nachdenken über das Menschsein heute

Helga, meiner Ehefrau

Gedruckt mit Unterstützung des Eugène und Louis Michaud-Fonds des Instituts für Christkatholische Theologie der Universität Bern

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar

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Inhalt Einleitung ............................................................................................................. 9  1.   Kapitel  Individualität und Vermassung am ‚Ende der Neuzeit‘ .............................. 16  1.   Zur Diskussion um die Frage einer epochalen Wende ................... 16  2.   Grundlegende Kennzeichen der Neuzeit .......................................... 19  2.1   Die Entdeckung des Raumes und der Perspektive und ihre Folgen ........................................................................... 19  2.2   Der Ausgang des Denkens in der Subjektivität........................ 26  3.   Einige Kennzeichen der heutigen Zeit ............................................... 30  4.   Menschsein am ‚Ende der Neuzeit‘ .................................................... 33  4.1   Der genormte und nivellierte Mensch ...................................... 33  4.2   Der Mensch als Verbraucher in einer technisierten Welt ...... 41  4.3   Der Mensch als Ware und Gebrauchswert ............................... 44  4.4   Der anonym entmachtete Mensch............................................. 46  4.5   Die Daseins-Angst des heutigen Menschen ............................. 50  2.   Kapitel  Vom Geschenk der Freiheit zur erstrebten Selbstbestimmung .................. 53  1.   Der neutestamentliche Freiheitsgedanke .......................................... 53  1.1   Die Befreiung vom Leisten-Müssen und nicht Leisten-Können ............................................................................ 53  1.2   Der Erbe Martin Luther: Die Freiheit eines Christen ............. 62  2.   Die allmähliche Eindringung des Ideals der Selbstbestimmung in das kollektive Bewusstsein ............................. 64  2.1   Im Überschwang des Freiheitsbewusstseins: Giovanni Pico (Conte) della Mirandola.................................... 64 

2.2   Die ‚Maxime‘ der Selbstbestimmung im 18. Jahrhundert ..... 67  3.   Authentisch leben – mit Blick über sich hinaus............................... 70  3.   Kapitel  Menschenwürde: unantastbar oder antastbar? ............................................. 77  1.   Das Grundgesetz und die Frage nach der Unantastbarkeit der Menschenwürde ............................................................................ 77  1.1   Die Erosion des Würdebegriffs.................................................. 80  1.2   Die Unmöglichkeit von Begründungen der absoluten Personwürde in der Metaphysik? .............................................. 84  1.3   Die Gottesbildlichkeit des Menschen und die Menschenwürde im biblischen Kontext ................................... 87  1.4   Der unbedingte Anspruch durch den Anderen nach Emmanuel Levinas ...................................................................... 93  4.   Kapitel  Selbstüberschreitung: auf der Suche nach Sinn .......................................... 105  1.   Die Sinnfrage auf der Suche des Menschen nach Lebensbewältigung ............................................................................. 105  1.1   Begriffliche Klärung .................................................................. 105  1.2   Der Ausgriff nach dem Sinnganzen in der Neuzeit .............. 108  2.   Die Frage nach dem Gesamt- und dem Leidenssinn in der Bibel .......................................................................................... 111  2.1   Die Frage nach dem Sinn des Lebensganzen: Kohelet der Prediger ................................................................. 112  2.2   Ijob und das Leid ....................................................................... 114  2.3   Lösung der Frage nach dem Sinn des Leidens aus dem christlichen Erlösungsglauben?....................................... 118  3.   Absurdes Dasein und Sinnverlangen heute .................................... 119  3.1   Die Verlorenheit des Menschen in der Industriegesellschaft an sich selbst .......................................... 119  3.2   Konsumhaltung und Sinnverlust ............................................ 120 

4.   Die sinnzentrierte Heil- und Lebenskunst V. E. Frankls ............. 122  4.1   Das Menschenbild Frankls: Die Transzendenz ihrer selbst gehört zum Wesen der menschlichen Existenz........... 122  4.2   Eine notwendige Klärung: Was heißt Aufgehen in einer Aufgabe und Hingabe an einen Menschen? ................. 124  4.3   Keine Sinngebung, sondern Sinnfindung ............................... 126  4.4   Logotherapie und Glaube.......................................................... 129  Fazit  Eine grundlegende Dialektik: der Weg über den Anderen zu sich selbst .............................................................................................. 131  1.   Von der Not, ich sein und nicht ich sein zu wollen ....................... 131  2.   Drei Namen – drei Modelle zur Selbsttranszendenz ..................... 133  3.   Leerwerden des Selbst in der Mystik als ein universales Element................................................................................................. 136  4.   Eine offene Dialektik zur Selbstwerdung in der christlichen Tradition......................................................................... 138  Nachwort .......................................................................................................... 140  Literaturverzeichnis ........................................................................................ 141  Personenverzeichnis ....................................................................................... 148  Sachverzeichnis................................................................................................ 150 

Einleitung Im Untertitel dieses Buches ist angezeigt, dass es um Erwägungen zum Menschsein geht, um eine Anthropologie, und zwar in theologischer wie in philosophischer Hinsicht. Gegenwärtig denkt man gewöhnlich bei Abhandlungen zur Anthropologie allerdings eher an Darlegungen der Humanwissenschaften, etwa der Humanbiologie oder der Psychologie. Daher bedarf es besonders der Begründung, warum das Menschsein ein Thema der Theologie, ein zentrales gar, sein soll. Selbstverständlich muss auch die Rolle der Philosophie in diesem Zusammenhang geklärt werden. Zunächst erscheint dem Leser hier möglicherweise ein Sonderbereich betreten zu werden, der mit den Sichtweisen der anderen Fachwissenschaften nichts zu tun hat, gar im widersprüchlichen Gegensatz steht. Besonders eine Dreiheit von grundsätzlich verschiedenen Sichtweisen, nämlich der religiösen, der naturwissenschaftlichen und der gesellschaftskritischen, scheint unversöhnt nebeneinander zu bestehen, wobei sich die Vertreter dieser drei Denkweisen mit Misstrauen begegnen, wie der Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker festzustellen meint, der selber von der Quantenphysik Heisenbergs herkommt. Er hat sich selber zur Aufgabe gemacht hat, die drei Weisen zusammenzubringen: „Der traditionell religiöse Beurteiler hält die naturwissenschaftliche Anthropologie für die Reduktion des Höheren auf das Niedere; irrelevant, wenn sie in ihren Grenzen bleibt, verbrecherisch, wenn sie diese überschreitet. Er hält die gesellschaftskritische Anthropologie für die Revolte menschlichen Eigenwillens gegen göttliche Ordnung. Der durchschnittliche naturwissenschaftliche Beurteiler hält die religiöse Anthropologie für die auf den Kopf gestellte Welt, und er hält die Vormeinungen der gesellschaftskritischen Anthropologie für die leichtfertige Nichtachtung der Fakten biologischer Erblichkeit. Der engagierte gesellschaftskritische Beurteiler hält die religiöses Anthropologie für eine Priesterintrige, um die Menschen unmündig

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zu halten, und die naturwissenschaftliche Anthropologie für die Ideologie der Rassisten und Technokraten; schon der Begriff ‚Anthropologie‘ steht ihm unter dem Verdacht, ein Ablenkungsmanöver vom Blick auf gesellschaftliche Strukturen zu sein.“1

Gewiss klingen diese Worte wie eine Karikatur. Sie zeigen dennoch an, dass gewisse Vorurteile unter den Vertretern der verschiedenen Wissenschaftsgebiete, wenn auch wohl nicht in dieser krassen Form, gehegt werden, um die Denkart der Anderen nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen. Eine Verständigung erscheint schon deswegen nicht leicht, weil die verschiedenen Wissenschaften eine eigene Sprache ausgebildet haben, die einander nicht vertraut ist. Meiner eigenen Arbeit liegen mehrfache Erfahrungen vor etlichen Jahren mit einer ‚integrierten‘ Lehrveranstaltung zur Anthropologie zugrunde, also mit Vorlesungen und Übungen, die ich nebeneinander mit Kollegen aus der Psychologie und der Soziologie gehalten habe. Sie sollten den Studierenden helfen, verschiedene Sichtweisen in Zusammenhang bringen zu können. Dabei konnte es allemal aus grundsätzlichen Gründen nicht darum gehen, ein ganzheitliches (integrales) Bild zu gewinnen. Denn die Ansätze und Methoden der einzelnen Disziplinen sind zu verschieden. Vor allem ist nicht zu erwarten, dass es das Menschenbild der Psychologie und das der Soziologie gäbe, das mit dem der Theologie verglichen werden könnte, damit hernach ein möglichst einheitliches erarbeitet werden könnte. Ja, grundsätzlich kann es überhaupt kein Menschenbild der Psychologie oder Soziologie oder auch der Humanbiologie geben, da Einzelwissenschaften sich methodisch immer auf einen Einzelbereich und eine bestimmte Fragestellung beschränken. Was geschehen ist, als sich die Einzelwissenschaften aus der Philosophie lösten und verselbstständigten, lässt sich bildlich mit Veränderungen von Beleuchtungssituationen erläutern: In einem Zimmer haben wir etwa durch die Deckenbeleuchtung ein diffuses Licht, das heißt, das Licht wird gestreut, so dass es (fast) überall gleich hell ist. Dieses Licht ist normalerweise völlig ausreichend, um mit den Gegenständen des Zimmers am Abend umzugehen. Will ich aber auf einer Arbeitsplatte eine besonders knifflige Arbeit verrichten oder auf dem Schreibtisch

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C. F. V. WEIZSÄCKER, Der Garten des Menschlichen, München – Wien (Neuausg.) 1992, 19.

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schreiben, dann bedarf ich einer anderen Lichtquelle, die das Licht bündelt. Auf meiner Arbeitsfläche sehe ich in dem gebündelten Licht ungemein mehr als im gestreuten Zimmerlicht. Ja, hatte ich die Zimmerleuchte ausgeschaltet, so schaue ich, wenn ich den Blick von der Arbeitsfläche nach links oder rechts schweifen lasse, nur Dunkelheit. Mit der Situation in der normalen Beleuchtung des Zimmers könnten wir unsere Alltagserfahrung vergleichen. Ist das ganze Zimmer besonders hell ausgeleuchtet, dann entspräche dies bildlich der Möglichkeitsbedingung philosophischer Erkenntnis, die sich auf das ‚Ganze des Seins‘ richtet. Das stark gebündelte Licht ermöglichte in diesem Vergleich die Forschung der Einzelwissenschaften. Ihr Vorteil ist, dass sie ihre Gegenstände ungeheuer genau, wenn nicht punktgenau, beobachten können. Dafür wird der ‚Nachteil‘ gern in Kauf genommen: dass es links und rechts düster ist und das Ganze nicht mehr in den Blick kommt. Will man sich aber mit seinem Nachbarn darüber unterhalten oder aber das, was man auf seiner Arbeitsplatte in den Blick genommen und durchforscht hat, auf seine Bedeutung für das Ganze diskutieren, dann muss man halt wieder die Zimmerleuchte einschalten. Ohne Bild gesagt: Dann bewegt man sich nicht mehr auf dem Boden der eigenen Wissenschaft, sondern auf dem Terrain einer Philosophie2. Man müsste sich dann nur einigen, welche Philosophie herangezogen werden soll. Das Gesagte trifft vor allem für die ‚exakten‘ Naturwissenschaften3 zu. Das Forschungsinteresse des Physikers richtet sich auf formale Strukturen; seine ‚eigentliche‘ Sprache ist die mathematischer Funktionsgleichungen. Darum kann man beispielsweise die Grundannahmen der Quantentheorie, die sich den kleinsten Teilchen und ihren Feldern zuwendet, „für einen mathematisch gebildeten Leser

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Dementsprechend sieht auch v. Weizsäcker klar, dass die genannten drei Bereiche von Religion, Naturwissenschaft und Gesellschaftskritik nicht unmittelbar miteinander ins Gespräch gebracht werden können, sondern nur vermittels der Philosophie. Vgl. ebd., 18. Vgl. H.-P. DÜRR, Das Netz des Physikers. Naturwissenschaftliche Erkenntnis in der Verantwortung, München – Wien 1988; ferner H.-D. MUTSCHLER, Physik, Religion, New Age, Würzburg, 1990. Mutschler hat in seinem Buch besonders die Aussagen von Naturwissenschaftlern, die dem ‚New-Age‘- Kreis zugerechnet werden, auf unzulässige Ausweitungen über den eigenen Fachbereich hinaus und auf unreflektiertes Betreten eines philosophischen Bodens untersucht.

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auf einer Druckseite darstellen“4. Will der Physiker diese Grundannahmen einem Laien verständlich machen, so muss er sich umständlich der Alltagssprache bedienen und kann nur Annäherungen der Verständigung erreichen. Soll aber aus den Einzelerkenntnissen eine umfassende Deutung konstruiert werden, dann verlässt der Physiker ‚sein‘ Gebiet und begibt sich auf den Boden der Philosophie5. Bei verschiedenen Problemen werde ich immer wieder entsprechende Themen aus verschiedenen Einzelwissenschaften zu theologischen Ausführungen in Beziehung setzen. Nach dem oben Gesagten kann es hierbei selbstverständlich nicht darum gehen, Gesamtentwürfe miteinander zu vergleichen, sondern Einzelthemen, auf die jeweiligen Brennpunkte bezogen, zu behandeln. Zunächst aber muss vor allem die Rolle der Theologie in anthropologischen Zusammenhängen geklärt werden. Hat die ‚Gotteswissenschaft‘ etwas über den Menschen zu sagen? Der Theologie geht es keineswegs darum, Erkenntnisse über Gott an sich zu gewinnen; ihn zu begreifen ist schlechterdings unmöglich. Gegenstand der Theologie ist vielmehr die Beziehung zwischen Gott und den Menschen. Das ‚Für uns‘ ist von Belang. Damit kommt notwendigerweise eine Sicht des Menschen ins Spiel. Zudem sind Aussagen über den göttlichen Bereich nur mit Bildern und Begriffen aus der Menschenwelt möglich. Überhaupt sind, wie die Scholastiker des Mittelalters ausdrücklich festgehalten wissen wollten, alle sinnlichen Wahrnehmungen und jede geistige Erkenntnis immer nach der Wesensart des Wahrnehmenden oder Erkennenden denkbar. 6 Das gilt selbstverständlich auch für die Annahme einer göttlichen Offenbarung. Jede Wahrheitserkenntnis ist von der artgemäßigen menschlichen Fähigkeit grundsätzlich ermöglicht, zugleich aber auch begrenzt. Allein schon deshalb muss die Theologie immer auch einen kritischen Blick auf das Menschliche in ihrem Verstehenshorizont haben.

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C. F. V. WEIZSÄCKER, Der Mensch in seiner Geschichte, (München 1991) dtv München 1993, 12. Die Begründer der Quantenphysik hatten eine Vorliebe für die Philosophie Platons. Vgl. W. HEISENBERG, Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, München 1969. Zum Beispiel: „Quidquid recipitur modo recipientis recipitur.“ (Jede Aufnahme geschieht nach Art und Weise des Aufnehmenden.) THOMAS VON AQUIN, Sentenzenkommentar 4,48,1.3.4.

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Ein anthropologischer Aspekt haftet jeder Theologie innerlich an. In unserem Zusammenhang hier werden speziell anthropologische Vorentscheidungen über die Freiheit des Willens oder seine Abhängigkeit eine Rolle spielen. Ausführungen über die Willensfreiheit werden sich jedoch wiederum als vielfach abhängig von theologischen Themen, wie der Lehre von der Gnade bzw. Rechtfertigungslehre, erweisen. Im Folgenden soll es zu einer Begegnung theologischer Aussagen vor allem mit der Philosophie kommen, und zwar mit der jeweiligen philosophischen Position der darzustellenden Autoren. Es wird sich erweisen, dass sie mit entsprechenden theologischen Aussagen eine gemeinsame Grundlage, wenn nicht darin ihre Herkunft haben. Um dies vorab zu konkretisieren: Das neuzeitliche Freiheitsbewusstsein hat tiefe Wurzel im biblischen Schöpfungsverständnis des Menschen. Die Erkenntnis darüber ist allerdings insofern tragisch, als die Kirche in der Geschichte das Bestehen auf Freiheitsrechte sehr lange verdächtigt und bekämpft hat. Sah man doch darin eine Erschütterung ihrer eigenen Autorität. Nach der Vorgehensweise eine Bemerkung zum Buchtitel und zum Inhalt. Der Titel deutet an, worum es mir in dem Buch geht. Ich behandle einen meiner Meinung nach wichtigen Aspekt des Menschseins. Wenngleich ich den Menschen dabei grundsätzlich nicht isoliert sehe – im Gegenteil –, so klammere ich zunächst thematisch seinen Gemeinschaftsbezug aus und betrachte ihn als Individuum. Bei dessen Bestimmung suche ich seine zeitliche Verortung. Das Thema soll nicht abstrakt-zeitlos beantwortet werden. Vielmehr möchte ich in einer Bestimmung „des Lebendig-Konkreten“ (ROMANO GUARDINI) das Ganze in den Rahmen der gegenwärtigen Zeit stellen, mithin nach dem Menschsein und seiner möglichen Gefährdung heute am ‚Ende der Neuzeit‘ fragen. Zur genaueren Bestimmung dieses Standortes werde ich das gesamte erste Kapitel konzipieren, ehe ich zur eigentlichen Thematik komme. Die Neuzeit ist gekennzeichnet durch die Entdeckung des Individuums und – in der Philosophie – durch den Ausgang des Denkens beim Subjekt. Dies ist unbestrittenes Gemeinverständnis. Heute wird allenthalben von einer Krise der neuzeitlichen Grundannahmen gesprochen. Ihr gilt es in der Arbeit zunächst nachzuspüren. Die Individualität erweist sich in unserer Zeit als bedroht u.a. durch eine Einebnung in die Masse. Dies führt zu einem Selbstbehauptungswillen des Einzelnen und gleicherweise zu einer Beeinträchtigung seines Selbstwertgefühls. Diese sucht er dadurch zu kompensieren, dass er der Selbstbestimmung des Menschen und der Betonung seiner Würde großen Raum gibt. 13

Zugleich sucht er einen Sinnverlust auszugleichen. Mit diesen drei Gegebenheiten sind drei Grundthemen für die folgenden Ausführungen vorgezeichnet. Erfährt der Mensch seine Individualität als bedroht, so schwankt er einerseits zwischen der Suche nach Selbstbestätigung und Selbstverwirklichung und der Selbstverunsicherung andrerseits. Darin zeigt sich, dass Identität im Verlauf des menschlichen Lebens keine stets sich gleichbleibende Selbigkeit bedeutet. Es geht um Selbstwerdung. Diese ist aber – so meine Hypothese – nur vom Gegenteil unter (intentionaler) Absehung von sich selbst zu erreichen, und zwar nicht einmal unbedingt in ausdrücklicher Absicht. Es handelt sich dabei um einen Rückbezug, den ich dialektisch nenne. Der Prozess zur Selbstwerdung soll aber nicht lediglich methodisch als ein Denkvorgang, der sich zwischen Gegensätzen bewegt, beschrieben werden; die Selbstwerdung selbst geschieht durch einen solchen Rückbezug. Es handelt sich dabei sozusagen um eine offene Realdialektik. Gleichzeitig mit der Thematik, also mit den Zielen und möglichen Inhalten des Buches, muss ich mir über den Leser klarwerden. Einmal möchte ich mich an einen Leserkreis wenden, der nicht notwendig theologische oder philosophische Vorkenntnisse mitbringt, der sich aber für das Thema interessiert und die Anstrengung des Mitdenkens durchaus nicht scheut. Für diesen Leserkreis muss das Buch vom Umfang her zumutbar und vom Inhalt her auch zu bewältigen sein. Ich werde mich daher bemühen, möglichst nicht zu viel von dem, was dem Fachmann durchaus vertraut ist, ohne weiteres als selbstverständlich vorauszusetzen und fachliche Begriffe, so sie denn überhaupt nötig sind, nicht ohne Erklärung zu benutzen, kurzum: allgemein verständlich zu schreiben. Ich hoffe, dass es mir gelingt und ich nicht zu häufig betriebsblind sein werde. Das Ganze heißt allerdings nicht, dass die theologische ‚Zunft‘ als Leserkreis ausgeschlossen sei und dass eine bestimmte Sichtweise, wie verschiedene Sachverhalte in einen Zusammenhang gebracht werden, für sie gegebenenfalls nicht auch anregend sein könnte. (Die Anmerkungen sind vor allem für sie gedacht.) In meinen theologischen Ausführungen werde ich mich im Wesentlichen auf biblische Darlegungen beschränken und auf spätere kirchenoffizielle Sprachregelungen einer Glaubensbotschaft verzichten. Letztere wird im Rahmen meiner Thematik nicht notwendig sein. Das heißt nicht, dass ich einem reinen Biblizismus frönen möchte, bei der jede Verbindung zu einer Tradition geleugnet wird. Es wäre ohnehin naiv, anzunehmen, dass ein Blick auf biblische Aussagen möglich 14

wäre, ohne dass das Auge durch die Tradition entsprechend trainiert und eingestellt wäre.7 Beginnen werde ich, wie gesagt, mit einer Bestimmung der gegenwärtigen Situation. Diese kann allemal nur in einem geschichtlichen Zusammenhang erfolgen. Die geschichtliche Standortbestimmung soll indes möglichst von verschiedenen Perspektiven erfolgen und die gegenwärtige Lage von verschiedener Seite beleuchtet werden; und so wird neben dem Kulturphilosophen der Religionsphilosoph, neben dem Psychologen und Psychoanalytiker der Soziologe zu Worte kommen. Zur Erläuterung herangezogen werden aber auch Kunst, Musik und Literatur. Abschließend möchte ich jetzt noch eine technische Ankündigung machen. Selbstverständlich bediene ich mich der neuen deutschen Rechtschreibung. In Zitaten hingegen verwende ich wortgetreu die Schreibweise der jeweiligen Autoren. Dies gebietet, wie ich meine, die Achtung vor ihren Schriften.

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Christliche Fundamentalisten meinen, die Bibel wirklich ‚wörtlich‘ zu nehmen; sie sind sich aber über ihr Vorverständnis nicht im Klaren. Ließen sie sich die Brille abnehmen, wäre es ein leichtes, ihnen Schliff und Tönung der Gläser nachzuweisen.

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1. Kapitel Individualität und Vermassung am ‚Ende der Neuzeit‘ 1. Zur Diskussion um die Frage einer epochalen Wende Zweifellos leben wir gegenwärtig in einer Zeit, in der ein bestimmtes Grundvertrauen, das noch vor nicht langer Zeit das Lebensgefühl bestimmt hat und das sich auf den naturwissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlich-sozialen Bereich bezieht, abhandengekommen ist: das Vertrauen in die Unbegrenztheit des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts; die Annahme, dass die erfolgreiche Bestätigung dieser Erkenntnisse durch ihre technisch-praktische Anwendung wirklich zur Naturverbesserung führe; sodann der Glaube, dass die Unabhängigkeit und Wohlfahrt aller in dem Maße wachse, wie die Welt den Gesetzen aufgeklärter Vernunft unterworfen würde. Ein Glaube an einen unbegrenzten Fortschritt scheint vorüber zu sein. So sehr ist heute die Utopie des Fortschritts und stetigen Wachstums im Schwinden und wird die absolute Schlüsselrolle der Wissenschaft, wie sie die Neuzeit durch und durch geprägt hat, in Frage gestellt, dass sich bisweilen der Eindruck aufdrängen kann, wir lebten in einer Zeit des Übergangs oder schon an der Schwelle einer neuen Zeit. Dementsprechend wird im Wissenschaftsbetrieb und philosophischen Bereich eine Debatte um die Frage geführt, ob die gegenwärtige Situation lediglich eine Fortführung des Bisherigen unter veränderten Bedingungen ist oder als etwas grundlegend Neues betrachtet werden muss. Die Verfechter des Gedankens, dass 16

eine neue Zeit im Anbruch ist, haben dafür schon einen Begriff geprägt, den der ‚Postmoderne‘. Dieser Begriff ist mittlerweile kaum mehr auszutreiben: Der Ausdruck wird nicht mehr nur auf Literatur, Architektur, Design und andere Kunstsparten angewandt, er hat sich mittlerweile vielmehr ökonomisch wie soziologisch, philosophisch wie theologisch gut eingeführt; und er findet sich in Schriften zur Anthropologie wie zur Pädagogik. Keinesfalls aber ist schon klar, was mit diesem Ausdruck gemeint sein soll; vielmehr herrscht eine allgemeine babylonische Sprachverwirrung. Denn schließlich gibt es nicht einmal ein Einvernehmen über die Kennzeichen8 der Postmoderne. Selbst die geläufige Formel ‚anything goes‘ (alles ist möglich/statthaft/vertretbar) wird von Befürwortern dieser Bezeichnung als zutreffend bestritten9. Vor allem fehlt eine Übereinkunft, was die Moderne sein soll, auf welche dieses ‚Nach‘-Moderne folgen soll. Die Verteidiger dieser Bezeichnung scheinen damit nicht eine vierte Epoche in der Grobeinteilung von Altertum – Mittelalter – Neuzeit (englisch: modern times) zu meinen10, sondern eher eine bestimmte Geisteshaltung seit Beginn unseres Jahrhunderts oder auch später, wie immer sie inhaltlich bestimmt wird. Wenngleich die Bezeichnung ‚Postmoderne‘, wie gesagt, kaum mehr auszurotten ist, möchte ich im 8

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HANS JOACHIM TÜRK kommt in seiner Erörterung der verschiedenen Inhaltsbestimmungen, wie Ganzheitlichkeit oder Irrationalität, zum Ergebnis, dass solche Bestrebungen untergründig die gesamte europäische Geistesgeschichte durchziehen, und er zieht das Fazit, dass allein eine Pluralität im allgemeinen Bewusstsein den Begriff der Postmoderne rechtfertige: „Von allen Abgrenzungs-, Einteilungs- und Definitionsversuchen zur Postmoderne erscheint nur einer als gelungen: Die Zahl der Menschen, die über die Künstler und Intellektuellen hinaus die radikale Pluralität unseres Denkens, Tuns und Lebens bejahen, nimmt zu. Nur das soll hier noch als Postmoderne bezeichnet werden.“ H. J. TÜRK, Postmoderne, Stuttgart – Mainz 1990, 119. Vgl. W. WELSCH, Postmoderne oder Ästhetisches Denken – gegen seine Mißverständnisse verteidigt, in: G. Eifler/O. Saame (Hg.), Postmoderne – Anbruch einer neuen Epoche? Eine interdisziplinäre Erörterung, Wien 1989, 237–289. Dort auch Ausführungen zur Geschichte des Begriffs ‚Postmoderne‘ und eine kurze Darstellung des Wortgebrauchs in den verschiedenen Disziplinen und bei mehreren Autoren. Vgl. WELSCH, ebd. u.a. dort. Anders HANS KÜNG. Er spricht von einem globalen Epochenumbruch und sieht im Ende des Ersten Weltkriegs 1918 die „Wasserscheide“, welche die Neuzeit – die Epoche etwa seit dem 17. Jahrhundert – von der Postmoderne trennen soll. Vgl. H. KÜNG, Projekt Weltethos, München 1990, 20–22.

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Folgenden auf den Gebrauch des Begriffs verzichten, eben weil er noch keinen einvernehmlichen Bedeutungsgehalt hat. Vieles scheint mir aber dafür zu sprechen, dass wir uns weltweit an der Schwelle einer neuen Zeitepoche befinden. Ob dies allerdings wirklich der Fall ist, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen, da epochale Einschnitte erst aus der zeitlichen Entfernung richtig eingeschätzt werden können. Außerdem dürften die Übergänge fließend sein und sich erfahrungsgemäß über eine längere Zeit, möglicherweise über ein Jahrhundert oder mehr, erstrecken. Bedenkenswert im Zusammenhang eines möglichen gegenwärtigen Epochenwechsels ist (immer noch), was ROMANO GUARDINI in einem kleinen Buch nach dem Zweiten Weltkrieg über das Ende der Neuzeit11 ausgeführt hat und was zur gleichen Zeit in ähnlicher Weise der Kulturphilosoph JEAN GEBSER, mit umfassenden Belegen aus fast allen Bereichen des Geisteslebens12 dargelegt hat. Wandlungen in der Kultur führt GEBSER auf Mutationen im kollektiven Bewusstsein zurück. Entsprechend spricht er von einer Umwandlung unseres Bewusstseins in unserer Zeit, und er möchte diesbezüglich keineswegs bloße Spekulationen anstellen. Vielmehr versucht er, seine Aussage durch Untersuchen und Vergleichen der Bewusstseinslagen in den verschiedenen Menschheitsepochen zu erhärten. Wenn wir hier im Rahmen einer Anthropologie nach möglichen Gefährdungen des Menschlichen in der gegenwärtigen Lage, die wie gesagt vermutlich eine Umbruchsituation ist, fragen und nach Antworten suchen, dann erscheint es sinnvoll, dasjenige etwas näher anzuschauen, was die zu Ende gehende Epoche im Wesentlichen geprägt hat. Alles Neue ist nämlich grundsätzlich auch hervorgebracht worden durch das Vorhergehende und lässt sich vollends nur verstehen, wenn wir Letzteres mit in den Blick nehmen. Was das Ende der Neuzeit bedeuten kann, lässt sich nur ermessen, wenn wir uns vergegenwärtigen, was die Bewusstseinslage der Neuzeit ausgemacht hatte. In der Erörterung dessen möchte ich mich zunächst den Gedanken GEBSERS anschließen.

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R. GUARDINI, Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung, Würzburg 81950. J. GEBSER, Ursprung und Gegenwart, 2 Teile und 1 Kommentarbd., dtv München 2 1985.

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2. Grundlegende Kennzeichen der Neuzeit 2.1 Die Entdeckung des Raumes und der Perspektive und ihre Folgen Der Anfang der Neuzeit wird im Allgemeinen im 17. Jahrhundert mit Vorläufern bereits im 15. Jahrhundert angesetzt. Orientierungspunkt ist vor allem das Aufkommen der Naturwissenschaften. Oder es wird sinnvollerweise von vornherein 200 Jahre früher ein Einschnitt gemacht und die Renaissance als Anhaltspunkt angegeben. Letztere ist selbstverständlich in erster Linie eine Stilrichtung der Kunst. Was in dieser Zeit an charakteristischen Wandlungen in der Malerei vor sich gegangen ist, ist allerdings nicht nur für diese bedeutsam, sondern betrifft auch das Bewusstsein im Allgemeinen wie das neue naturwissenschaftliche Denken. Anhand dessen, was sich in der Malerei vollzog, lässt sich darum – auch ohne schwierige wissenschaftstheoretische Darlegungen – ausführen, was das eigentlich Neue der Neuzeit ist. Künstlerisch ist die Renaissance geprägt von der Auseinandersetzung mit der Perspektive. Wie zufällig begegnen wir zwar der Perspektive, vielfach noch ungelenk, auch in Darstellungen der Spätantike und gelegentlich in verschiedenen Versuchen des Hochmittelalters. Charakteristisch für das Mittelalter aber ist eine flächenhafte Darstellung. Den Gestalten wird etwa ein Goldhintergrund unterlegt. Denn die flächenhafte Welt lebt aus dem Symbolgehalt, nicht aus dem, was wir heute Realitätsgehalt nennen. Früheste kunsttheoretische Abhandlungen zur perspektivischen Darstellung finden sich nicht eher als in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit erlangte die Perspektivmalerei entsprechend eine gewisse Perfektion – etwa bei den Brüdern VAN EYCK. Bis zum Ende dieses Jahrhunderts gab es dann eine Fülle verschiedener Abhandlungen zur Perspektivkunst mit maltechnischen Anweisungen, bis sie durch die unübertroffenen Ausführungen LEONARDO DA VINCIS, auf die sich auch Dürer stützte, abgeschlossen waren. In einem von Leonardos Schülern aus verschiedenen Aufzeichnungen zusammengestellten Traktat „findet sich“, wie Gebser ausführt, „die erste nicht 19

nur theoretische, sondern wissenschaftliche Beschreibung aller möglichen Perspektiven und zum ersten Mal auch eine eingehende Auseinandersetzung mit dem Licht als Realität unserer Augen (und nicht wie vorher als Symbol des Geistes Gottes)“13. Alle bis dahin noch bestehenden Dunkelheiten hinsichtlich der Perspektive werden darin aufgehellt. Bedeutsam ist vor allem die Entdeckung dessen, was man im Gegensatz zur ‚Linearperspektive‘ die ‚Luft- oder Farbenperspektive‘ nennt. Verwirklicht die eine die perspektivische Täuschung auf der Bildfläche durch die Zeichnung, so ermöglicht die andere die raumerfassende und raumwiedergebende Darstellung durch malerische Mittel. Die ‚Luft- oder Farbenperspektive‘ wird durch Mittel wie Graduierung der Farben, Schattengebung und farbliche Behandlung des Horizontes zustande gebracht. „Darüber hinaus war aber die Aufstellung der Perspektivgesetze durch LEONARDO DA VINCI insofern epochemachend, als sie die technische Zeichnung ermöglicht, die den Ausgangspunkt für die technische Entwicklung unserer Zeit darstellt“ 14. Wenn wir an perspektivische Malerei denken, so fällt uns vielleicht das Bild einer Allee ein, wo die Bäume am Straßenrand zum Horizont hin immer kleiner werden, aufeinander zulaufen und sich in einem Fluchtpunkt verlieren. Die Fluchtlinien bilden sozusagen eine Pyramide, die ihre Basis im Betrachter hat und die Spitze irgendwo im Horizont. Genau genommen aber wird eine Perspektive, wie LEONARDO DA VINCI darlegt, von zwei Pyramiden gebildet. Die zweite – von der Sache her die erste – hat mit unserem Blickfeld zu tun: Es ist die Pyramide, durch die die Welt auf uns ‚einstrahlt‘. Sie hat ihre Spitze im Auge des Betrachters und die Basis irgendwo am Horizont. Beide Pyramiden zusammen konstruieren die Perspektive. Das Gesagte ist, wie schon angedeutet, keineswegs nur von kunstgeschichtlichem Belang. Vielmehr bestimmt die bewusst erlebte Perspektive das Lebensgefühl der Menschen zu dieser Zeit wie das aufkommende naturwissenschaftliche Denken15. Parallel mit der Erfindung der Perspektive, die die Tiefendimension 13 14 15

Ebd., Teil 1, 53. Ebd. Vgl. H. DOLCH, Kausalität im Verständnis des Theologen und der Begründer neuzeitlicher Physik, Freiburg 1954. Der Quantenphysiker und Theologe DOLCH erweist den Ansatz GEBSERS als brauchbar zur Erklärung eines neuen Kausalitätsverständnisses seit dem 15. Jahrhundert. und behandelt in einem ganzen Kapitel das „neuzeitliche Denken als wesentlich perspektivisches Denken“, 25–40.

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darstellt, geht nicht zufällig die Entdeckung des Raumes. Kopernikus beispielsweise sprengt den begrenzten geozentrischen Himmel und entdeckt den um die Sonne zentrierten Raum. Kolumbus weitet den Erdraum, den man sich bis dahin vom Ozean umgrenzt dachte. Keppler sprengt das kreis- und flächenhafte Weltbild der Antike, von dem selbst Kopernikus noch geprägt war, indem er statt Kreisbewegungen der Planeten ihre elliptischen Bahnen im Raum nachwies. GALILEI schließlich vertieft den Einbruch in den Raum durch die Anwendung des Fernrohres, das er perfektionierte. Neben diesen allgemein bekannten Beispielen sei hier auch noch etwas erwähnt, was weniger gewusst ist: eine neue Sichtweise in der Medizin. Vésale, der erste große Anatom entdeckt den Körperraum, Harvey den Blutkreislauf. GEBSER spricht davon, dass den Menschen zu Beginn des 16. Jahrhundert, nachdem er sich des Raumes endgültig bewusst geworden sei, geradezu ein ‚Raumrausch‘16 befallen habe, der sich in der Malerei schließlich in perspektivischem Schwelgen äußere. Mit der Bewusstwerdung des Raumes und der Perspektive geht der Mensch zu den Dingen auf Distanz. Er nimmt nicht einfach nur teil am Gefüge dieser Welt, sondern stellt sich den Dingen gegenüber. Der Gegenstand wird als Gegenstand, als Objekt, deutlich. Es geschieht eine Objektivierung der Wirklichkeit. Zugleich wird sich der Mensch seines Ichs in der Weise bewusst, dass es den Objekten gegenübersteht. Wie in der Malerei von den beiden genannten Perspektivpyramiden alsbald diejenige die wichtigere geworden ist, die ihre Basis im menschlichen Auge hat und deren Strahlen sich im angeschauten Objekt treffen, so wird auch im Denken die Perspektive am wichtigsten, die der Mensch der Wirklichkeit anlegt. Die Welt, die einfach ist und auf den Betrachter ‚einstrahlt‘, verliert an Bedeutung und wird zum Material, das erkennend ‚bearbeitet‘ wird. Die Erkenntnis wird entscheidend subjektiv, freilich nicht in dem Sinne, als ob sie jeweils eine nur persönliche, mithin private Erkenntnis wäre, die nicht allgemein gültig und nicht nachprüfbar wäre. Sie ist aber insofern subjektiv, als das erkennende Subjekt nicht einfach nur wahrnimmt, sondern der Wirklichkeit seine ‚Perspektive‘ auferlegt. Mit dem Auseinanderfall von Subjekt und Objekt genügt dem Menschen nicht einfach die Wahrnehmung. Er trachtet vielmehr danach, die eigenen Denkstrukturen auf die Wirklichkeit zu beziehen. Besonders deutlich wird diese Art zu denken

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J. GEBSER, Ursprung und Gegenwart, Teil 1,54.

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im Werk des Philosophen RENÉ DESCARTES, der neben FRANCIS BACON und ISAAC NEWTON zu den Begründern der neuzeitlichen Physik gilt. Er begnügt sich nicht damit, Vorhandenes zu vernehmen. Eine Wahrheitserkenntnis wird für ihn nur dann gewiss, wenn ein Zusammenhang mit einem vorher gedachten System hergestellt werden kann. Alles, was sich nicht innerhalb eines Gedankensystems erfassen lässt, weist DESCARTES in den unermesslichen Bereich des Irrationalen, der vom Rationalen streng getrennt wird17. Das Kriterium für die Wahrheitsgewissheit einer philosophischen wie naturwissenschaftlichen Aussage, nämlich, dass sie nur dann zutrifft, wenn sie in das System des zuvor Gedachten und Erkannten passt, ist letztlich nur im perspektivischen Denken sinnvoll. Diesem ist eben auch eigentümlich, dass es zu einem einheitlichen und einförmigen, alle Erkenntnisbestände umfassenden Gedankengebäude voranschreitet, genauso, wie in der Malerei alle Fluchtlinien auf einen Pol auszurichten sind18. Die verschiedenen beobachteten Erscheinungen werden jeweils zu einem allgemeinen Satz zusammengefasst; und die gesamte Wirklichkeit wird möglichst aus einem Prinzip heraus zu erklären versucht. Einheit ist aber nicht schon Ganzheit. Ja, in der neuzeitlichen Wissenschaft schwindet eine ganzheitliche Sicht. In der Perspektive gibt es nur noch Ausschnitte, Sektoren. „Das Ganze ist […] aus der perspektivischen Sicht der Welt heraus nicht mehr anzunähern“, schreibt GEBSER; „statt dessen verleiht man dem bloßen Sektor ‚Ganzheitscharakter‘, und die Folge davon ist die sattsam bekannte ‚Totalität‘“19. Totalitär wird die naturwissenschaftliche Methode selbst. Sie wird als die einzig gültige ausgegeben. Als ‚wissenschaftlich‘ und ‚objektiv‘ soll nur noch gelten, was in Entsprechung zur Physik erklärt werden kann, welche die alsbald einzig anerkannte Methode anwendet. Diese Art zu denken kann allerdings für sich verbuchen, überaus erfolgreich gewesen zu sein. Hat sie doch die naturwissenschaftliche Entwicklung in Gang gesetzt und in deren Konsequenz die gegenwärtigen technischen Errungenschaften ermöglicht. Damit hat der Mensch sich zu einer bis dahin nie dagewesenen Bemächtigung der Natur emporgeschwungen.

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Vgl. H. GLOCKNER, Die europäische Philosophie von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 1958, 428–438. Vgl. DOLCH, Kausalität, 37. GEBSER, Ursprung und Gegenwart, Teil 1, 51.

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Genau darin zeigt sich aber auch die Kehrseite der Medaille, von der hier noch nicht weiter gesprochen werden soll: die Bedrohung der Erde und des Menschen. Die genannte Sektorisierung bedeutet auch eine Einschränkung des Gegenstandes der Forschung. Gerade aber der Sachverhalt, dass der neuzeitliche Mensch sein Forschen auf einen Teil der Wirklichkeit beschränkte, so dass er sich tiefer hineindenken konnte, ließ ihn ein genaueres Wissen erreichen. Wichtiger aber als die materiale Beschränkung war für die Intensivierung der Forschung die formale Beschränkung in der Fragestellung: Man suchte nicht mehr das Wesen eines Dinges zu ergründen. Man fragte nicht mehr, was es sei, sondern allein noch danach, wie es sei, d. h. nach dem (formalen) Beziehungsgefüge der Dinge untereinander, die sich in Funktionsgleichungen darstellen lassen20. Allerdings fragt man nicht nur nach den Beziehungen der Dinge untereinander, um so beispielsweise UrsacheWirkungs-Verhältnisse als Gesetzmäßigkeiten mathematisch zu formulieren, sondern auch nach den Beziehungen zum fragenden Menschen, mithin nach der Funktion der Dinge für uns. Bereits für die Begründer der Physik, wie FRANCIS BACON, galt: Eine Sache kennen heißt wissen, was man damit tun kann. (Wie beispielsweise ein elektrischer Strom entsteht, habe ich erst verstanden, wenn ich Elektrizität im Prinzip erzeugen und nutzen kann.) Wie sich ein solch funktionales Denken schließlich für unser Menschensein heute auswirkt, werde ich noch darlegen. Suchte man nun, wie gesagt, nicht mehr bis zum Wesen der Dinge vorzustoßen, so stellte man erst recht nicht mehr die Frage nach dem wesentlichen Sein schlechthin, nach Gott. Gewiss waren die Begründer der Naturwissenschaft, wie NEWTON, noch der Meinung, dass die Frage nach dem Schöpfer, der macht, dass etwas sei und in der Existenz gehalten werde, einmal gestellt werden müsste. Hatte man sich aber dessen vergewissert, dann konnte davon abgesehen und das Denken ganz ins Erforschen dessen, wie etwas sei, eingesetzt werden21. Der Forscher wandte sich nun in methodischer Einschränkung, ‚als ob es Gott nicht gäbe‘, ausschließlich den Erscheinungen dieser Weltzeit (lat. saeculum) zu, um sie einsichtig zu machen, und leitete so eine Säkularisierung ein, welche die Zeit bis heute bestimmen sollte. Eine gewisse Säkularisierung, nämlich im Sinne einer ‚Entzauberung‘

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Vgl. DOLCH, Kausalität, 145–153. Ebd., 177–180.

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der Welt, wie MAX WEBER es formulierte, enthielt bereits der jüdisch-christliche Glaube selbst: Ist doch nach biblischem Glauben der Schöpfergott nicht Bestandteil der Welt, wie solche Gottheiten, welche die Schöpfung beseelen und sie somit unantastbar machen; vielmehr ist er ihr jenseitiges Gegenüber und ihr souveräner Herrscher. Hatte er zudem Menschen einen Herrscherauftrag über die Erde gegeben, dann war es möglich, die Natur, ohne etwa einen Frevel zu begehen, zur Auskunft zu zwingen und sie nach den von ihm gesetzten Maßstäben zu gestalten. Der Forscher hatte freie Hand. Dementsprechend ist die neuzeitliche Naturwissenschaft und Technik nicht nur zufällig oder tatsächlich im christlichen Abendland entstanden 22 und nicht anderswo; die genannte jüdisch-christliche Säkularisierung war vielmehr die bedingende Voraussetzung für das Entstehen der neuen Wissenschaften. Damit sie aber durch diese Vorbedingung ermöglicht werden konnten, bedurfte es gewiss noch anderer Bedingungen: so die Übernahme der mathematischen Kenntnisse von den Arabern im Hoch- und Spätmittelalter. Auf diese Weise erklärt es sich, dass die gegebenen Voraussetzungen im christlichen Abendland sich so spät auswirkten. Nachdem alle notwendigen Bedingungen erfüllt waren, konnte sich der Forscher voll und ganz als Schöpfer fühlen; und auch schon im Sprachgebrauch empfindet sich der Mensch nicht mehr nur als jemand, der an der Schöpfung Gottes mitwirkt, sondern als Schöpfer schlechthin. Nicht nur das naturwissenschaftliche Methodenbewusstsein gab sich säkularisiert, sondern auch die wichtigsten gesellschaftlichen Bereiche, vor allem der Staat und die Wirtschaft. Ich sagte: Im perspektivischen Sehen gibt es nur noch Ausschnitte, Sektoren. Dementsprechend bieten sich auch die gesellschaftlichen Bereiche als selbständige Sektoren dar, die für sich Selbstbestimmung, Autonomie, beanspruchen und nicht auf das Angebot christlicher Daseinsdeutung zurückgreifen. In diesem Zusammenhang wird auch die Kirche allmählich selbst zu einem speziellen Teilbereich innerhalb der gesellschaftlichen Wirklichkeit, wobei sie mit ihrem nicht-säkularisierten Selbstverständnis den vielen Sektoren säkularisierter Art gegenübersteht. Ausgehend von vielen verschiedenen Bereichen der Wirklichkeit, die ausdrücklich als säkular (d. h. nicht-religiös) bestimmt werden, beginnt nun in geschichtlicher Einmaligkeit ein Säkularisierungsprozess, der mit

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Ebd., 99.

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der Zeit die biblischen Wurzeln, die ihn mit hervorgebracht haben, verneint und zur Entchristlichung und Entkirchlichung führt. Kehren wir zunächst aber noch zum perspektivischen Denken am Beispiel der Naturwissenschaften zurück! Lässt sich dies als Triumph des distanzierenden und objektivierenden Wirklichkeitssinns begreifen, so bedeutet es auch eine Ausweitung der Ichsphäre in die Außenwelt, nämlich dadurch, dass der Mensch seine ‚Perspektive‘ an die Außenwelt anlegt. Mit der Überbetonung des Raumes, der schließlich als unendlich gedacht wird, geht schließlich eine Überbetonung des Ich einher. Um der sich ausweitenden Raumerschließung gewachsen zu sein, muss das Ich sich wichtig nehmen, schließlich überbetonen23. Die Folge ist letztlich ‚am Ende der Neuzeit‘ eine sich ausbreitende extreme Ichbezogenheit, eine Egozentrik. Andererseits bringt eine allmähliche Ausweitung des Ichs als Folge der Raumerweiterung schließlich ein sich Verlieren und eine Auflösung des Ichs mit sich – und damit die Möglichkeit zu seiner Vermassung, auf die wir sogleich zu sprechen kommen. Wird die Subjektivität des einzelnen Ichs auf die Spitze getrieben und die ausschnitthafte Sicht der Wirklichkeit total individualisiert, dann schwindet das Gemeinsame und der Gemeinsinn, und die Folge ist eine Vereinsamung. Zunächst jedoch erscheint der Mensch in der Neuzeit in der angenommenen Unendlichkeit des Raumes in nahezu unmenschlicher Größe.

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Damit braucht man noch nicht dem Gedanken FREUDS an eine Kompensation folgen. FREUD hatte bekanntlich gesagt, die neuzeitliche Betonung der Subjektivität rühre aus drei geschichtlichen Kränkungen des Menschen: aus der Kränkung durch Kopernikus, dass die Erde und mit ihr der Mensch nicht Mittelpunkt der Welt sei; aus der DARWINS, dass die Tiere Vettern des Menschen seien; und schließlich der Kränkung durch FREUD selber: „Die dritte und empfindlichste Kränkung aber soll die menschliche Größensucht durch die heutige psychologische Forschung erfahren, welche dem Ich nachweisen will, daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vorgeht“. (S. FREUD, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. XVIII. Vorlesung: Die Fixierung an das Trauma, das Unbewußte, Gesammelte Werke, Bd. 1, London 1940, 295.) Vgl. hierzu auch: J. ILLIES, Die drei Demütigungen durch die Naturwissenschaft, in: E. Stammler (Hg.), Wer ist das eigentlich – der Mensch? München 1973, 41–58.

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2.2 Der Ausgang des Denkens in der Subjektivität Im Hause der Medici in Florenz, einer Stadt, die wie keine andere von der Renaissance-Kunst geprägt ist, sind Generationen männlicher Familienmitglieder als Statuen an der Wand aufgereiht. Das Besondere an diesen Figuren ist ihre Größe: Sie übersteigen das normale natürliche Maß, und zwar nicht etwa, weil die Entfernung des Betrachters dies erforderte, wie bei Heiligengestalten hoch oben in gotischen Domen. Vielmehr kommt in der übermenschlichen Größe der Figuren ein neues Lebensgefühl zum Ausdruck. Es zeigt sich darin, dass ein Ich-Erlebnis neuer Art vorherrschte. „Der Mensch wird sich selbst wichtig“ wie ROMANO GUARDINI bemerkt; „das Ich, vor allem das ungewöhnliche, geniale, wird zum Maßstab für den Wert des Lebens“24. Subjektivität als ein „Grundelement der neuzeitlichen Daseinsdeutung“ erscheint vor allem als „Persönlichkeit“. Eine Persönlichkeit im Sinne neuzeitlichen Denkens ist ein Mensch, der sich aus eigener Anlage und eigenem Antrieb voll entfaltet hat, der „etwas aus sich gemacht hat“25. Da die Persönlichkeit als ein Letztwert aufgefasst wurde, konnte es keine Maßstäbe zu ihrer Beurteilung außerhalb ihrer selbst geben. „Besonders die große Persönlichkeit muss aus ihr selbst heraus verstanden werden und rechtfertigt ihr Tun mit ihrer eigenen Ursprünglichkeit. Die ethischen Normen erscheinen ihr gegenüber relativ. Am ungewöhnlichen Menschen entdeckt, wird der Maßstab auf den Menschen überhaupt angewendet, und das Ethos des objektiv Guten und Wahren wird durch jenes der Echtheit und

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GUARDINI, Ende der Neuzeit, 47. In der gegenwärtigen Alltagssprache wird ‚Persönlichkeit‘ und ‚Person‘ oftmals unterschiedslos gebraucht. In der Psychologie wird Persönlichkeit gewöhnlich in die Nähe des Charakters gerückt. „Beide sind Ausdrücke, die heute zwar jeder Psychologe verwendet, von denen aber keiner genau sagen kann, was sie richtig bedeuten. Aber der Charakterbegriff hat das statische Element mehr betont, dagegen legt der P.-Begriff den Akzent mehr auf das Funktionelle, Dynamische, Sichwandelnde, Prozeßhafte.“ (T. TAKUMA, Art. „Persönlichkeit II“, in: Lexikon der Psychologie II/2, Freiburg 1976, 748–750, Zit. 749.)

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Wahrhaftigkeit verdrängt“26. Sobald ein Verhalten sich als persönlichkeitsgemäß erweist, ist es gerechtfertigt. Wenngleich die Persönlichkeit in sich selbst nicht begreifbar ist, so wird doch das, was aus ihr verstanden und von ihr her begründet werden kann, als in Ordnung angesehen. Selbstverständlich konnten nicht alle Menschen das Ideal der Persönlichkeit erreichen. Die von der Alltäglichkeit gebundenen Durchschnittsmenschen bildeten den Hintergrund, von dem die großen Persönlichkeiten sich abhoben; doch suchten auch sie sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten ein Eigenleben zu schaffen. GOETHE hat diesen Gedanken des Ideals der großen Persönlichkeit später in die dialogische Versdichtung „West-östlicher Divan“ im Buch „Suleika“ aufgenommen. Dieses Buch ist der Niederschlag eines realen Briefwechsels in Versform zwischen GOETHE und der 35 Jahre jüngeren MARIANNE VON WILLEMER, die aus der Ferne ein schwärmerisches Verhältnis zu der genialen Persönlichkeit des Dichterfürsten unterhielt, welche sie nachahmenswert fand. Den Briefwechsel hat GOETHE, wie die germanistische Forschung an den Tag brachte, wörtlich in die Dichtung übernommen und den Part, der aus der Feder der verehrenden Freundin stammt, mit dem Namen „Suleika“ versehen.27 Suleika Volk und Knecht und Überwinder Sie gestehn, zu aller Zeit: Höchstes Glück der Erdenkinder sei nur die Persönlichkeit. Jedes Leben sei zu führen, Wenn man sich nicht selbst vermißt; Alles könne man verlieren, Wenn man bliebe, was man ist.

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GUARDINI, Ende der Neuzeit, 7–48. Die Information über die Mitautorenschaft der MARIANNE VON WILLEMER verdanke ich MICHAEL SERRER, Leiter des Literaturbüros NRW.

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Hatem Kann wohl sein! so wird gemeinet, Doch ich bin auf andrer Spur: Alles Erdenglück vereinet Find ich in Suleika nur. Wie sie sich an mich verschwendet, Bin ich mir ein wertes Ich; Hätte sie sich weggewendet, Augenblicks verlör ich mich.28

Während Suleika irdisches Glück im Erreichen des Zieles einer großen Persönlichkeit sieht, weist der Gesprächspartner ein solches Ideal höchstens der Meinung einer Allgemeinheit zu. Er selbst findet den Eigenwert und das Glück in der menschlichen Beziehung: im Geliebtwerden und in der Anerkennung und ‚verschwenderischen‘ Bewunderung der Liebenden. – Mit der Zitation dieser Verse hier, in denen es um die Überschreitung des Selbst auf den Anderen hingeht, bin ich allerdings bereits in einem Gedankengang, den ich später ausführen werde. Das Lebensgefühl, das sich in den ersten beiden Strophen ausdrückt, hatte aber zu GOETHES Zeiten längst schon die neuzeitliche Philosophie mitgeprägt, die sich ganz auf das Ich konzentriert oder auf das menschliche Subjekt. Das Subjekt bezeichnet dabei das Ich, insofern es Träger von Handlungen und Zuständen ist, vor allem aber unter dem Aspekt, dass sich das Ich erkennend, strebend oder fühlend auf einen Gegenstand, ein Objekt richtet. Man könnte fast die gesamte neuzeitliche Philosophie als eine Philosophie der Subjektivität bezeichnen. DESCARTES nimmt den Augustinischen Gedanken wieder auf, dass bei allem möglichen Zweifel unseres Erkennens in der unbezweifelbaren Behauptung der eigenen Existenz ein Ausgangspunkt aller Wahrheitsfindung gegeben ist und drückt dies in seinem bekannten Satz aus: „Ich denke, also bin ich.“ KANT führt alle Erkenntnis auf das Ich nicht nur als den Ausgangspunkt des Denkens zurück. Sein überindividuelles ‚transzendentales‘ Ich ist der ermöglichende Grund allen Wissens. Das Ich ist also für ihn ein Erstes, hinter das nicht mehr zurückgefragt und gedacht werden kann. 28

J. W. V. GOETHE, Gesammelte Werke (Hamburger Ausgabe), Bd. 1, München 1988, 71f.

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Seine Nachfolger im sogenannten Deutschen Idealismus führen – bei unterschiedlichen Ansätzen und Abschlüssen – zu Ende, was der gesamten Neuzeit ‚im Blut lag‘: Sie setzten das menschliche Ich absolut (J. G. FICHTE) und mit der (göttlichen) All-Einheit gleich (GEORG W. F. HEGEL), wodurch es schlechthin schöpferisch wird. Eine geistesgeschichtliche Entwicklung ist selbstverständlich niemals gleichförmig. In einer Art Gegenströmung plädiert SCHOPENHAUER für die Auslöschung des Ich für das Höchste. Ihre letzte Aufgipfelung hat die neuzeitliche Philosophie mit ihrer unaufhörlich wachsenden Betonung der menschlichen Subjekthaftigkeit und Individualität in unserem Jahrhundert im Existentialismus SARTRES gefunden, namentlich in dessen Vorstellung von einer absoluten, schrankenlosen Freiheit. Demnach ist dem Menschen nichts mehr vorgegeben; jeder ist das, wozu er sich macht. Der Mensch verwirklicht in seiner Existenz nicht ein vorausgehendes, noch zu entfaltendes Wesen, sondern entwirft in Freiheit sein je eigenes und ebenso die führenden Werte des Daseins. „Der Mensch ist, was er vollbringt“ 29 ; mit dieser Aussage bringt SARTRE seine Auffassung auf den Punkt. Der Mensch bestimmt sich demnach selbst durch die Gesamtheit seiner Handlungen. Die Anforderung, sich selbst ständig neu entwerfen zu müssen, aber wird im Existentialismus als Überverantwortlichkeit erlebt und als eine Quelle der Angst und des Gefühls der Absurdität. Widersinnig ist der Freiheitsauftrag, weil er eigentlich unumschränkt gilt – im Rahmen eines endlichen Daseins. So sehr SARTRE die Individualität des Menschen in seiner Auffassung von Freiheit geradezu übersteigert, so verweist er andererseits das Ich des Menschen in seine Endlichkeit zurück. Damit geschieht ein Bruch mit einer Grundvoraussetzung neuzeitlichen Denkens mit der Annahme der Unendlichkeit der Welt und der Subjektivität. Nun erfährt der Mensch in der Enge des Daseins, die vor allem durch seine Vergangenheit bedingt ist, die Bürde der Freiheit und sich selbst als „zur Freiheit verdammt“. Er vermag sich selbst nicht auszuhalten. Davon zeugt für SARTRE das durchgängige Daseinsgefühl des Ekels30. Angesichts eines Daseins ohne Sinn hilft nur noch das heroische Durchhalten.

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J. P. SARTRE, Ist der Existentialismus ein Humanismus?, in: ders., Drei Essays, Frankfurt a. M. 1960, 7–51, Zit. 23. Vgl. J. P. SARTRE, Der Ekel, Reinbeck b. Hamburg 1977.

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3. Einige Kennzeichen der heutigen Zeit Alle Unendlichkeitsträume sind mittlerweile ausgeträumt. Im alltäglichen Leben werden wir uns immer mehr bewusst, dass unsere Erde endlich ist: dass die meisten von uns verbrauchten Rohstoffe nicht nachwachsen und nicht grenzenlos zur Verfügung stehen; dass mit einem stetigen wirtschaftlichen Wachstum nicht gerechnet werden darf; dass die Erde am Rande einer Überbevölkerung steht31 und viel mehr Menschen nicht verkraften kann. Zudem bringen uns die elektronischen Medien den fernsten Ort der Erde ins Haus, so dass von unermesslichen Räumen absolut keine Rede sein kann. Den Ausbruch eines Vulkans, die Überschwemmung in fernen Kontinenten, den Granatenangriff im Krieg erlebe ich gleichzeitig mit, so dass die vorherrschende Kategorie der Zeit die Gleichzeitigkeit geworden ist. Vielleicht ist gerade unser Endlichkeitsbewusstsein, das in krassem Gegensatz zu der Vorstellung der Unendlichkeit des Raumes in der Neuzeit steht, das deutlichste Anzeichen dafür, das eine neue Epoche beginnt. Dieses Endlichkeitsbewusstsein kommt nicht nur aus unserem gegenwärtigen Lebensgefühl, es spielt auch in den Naturwissenschaften eine Rolle. Unbestritten gilt in der Physik, dass die Welt (und damit unsere Erde) ihre Zeit hat, dass sie einmal entstanden ist und ein gewisses Alter hat, wenngleich dieses noch verschieden bestimmt wird. Die Auffassung, dass die Welt endlich sei, ist eine der Grundannahmen (Axiome) der Einsteinschen Relativitätstheorie. So wenig diese zum allgemeinen Bildungsgut gehört und auch nur schwerlich allgemein verständlich zu machen ist, so ist doch bekannt, dass Einstein eine vierte Dimension einführte, die Zeit. Damit sprengte er alle Raumvorstellungen, wie sie in der Neuzeit galten. Seine Relativitätstheorie bezieht sich sowohl auf den Raum wie auf die Zeit. Darin kommt auch eine neuartige Zeitauffassung zur Geltung, die sich von 31

Erstmals ist jüngst auch in der römisch-katholischen Kirche in einer amtlichen Aussage von der Gefahr einer Überbevölkerung die Rede, nämlich in dem Dokument „Bevölkerungswachstum und Entwicklungsförderung“ der Kommission Weltkirche der deutschen Bischofskonferenz von Dezember 1993; vgl. die Dokumentation in KM 2 (1994), 59–61.

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der der Neuzeit wesentlich unterscheidet. Diese kannte nur eine Zeit, die in Analogie zum Raum steht, die wie eine Fläche – sichtbar gemacht in der analogen Uhr – ausgemessen werden kann, die wie ein Gefäß ‚gefüllt‘ werden und schließlich – „Zeit ist Geld!“ – auch materialisiert werden kann. In der neuen Physik spielt die Gegenwart und die Gleichzeitigkeit eine beherrschende Rolle. Ein neues Zeitverständnis lässt sich aber auch in den Geisteswissenschaften und in der Kunst ausmachen32 . Anhand der Kunst kann dies dem Nichtfachmann auch leichter einsichtig gemacht werden. Man denke nur an die Porträts PICASSOS (seit etwa 1918)! Was auf den ersten Blick, dem gewohnten Schönheitsverlangen widersprechend erscheint, wie eine Verzerrung oder Verrückung, etwa der Augen, erklärt sich aus dem Willen, eine Person zugleich frontal wie im Profil darzustellen. Was wie eine Verunstaltung aussieht, „wird zu einer sich ergänzenden Überschneidung zeitlicher Faktoren und räumlicher Sektoren durch das Wagnis, sie auf eine Bildfläche gleichzeitig und gleichräumig zu bannen“ (J. GEBSER)33. Das Dargestellte bekommt auf diese Weise einen Ganzheits- und Gegenwartscharakter. Ähnliches findet sich in PICASSOS Landschaftsmalerei. Da sehen wir beispielsweise eine dörfliche Dächerlandschaft, in der die Schatten, wie sie in den Farbtönen erkennbar sind, nicht den Sonnenstand in einem bestimmten Augenblick anzeigen. Vielmehr hat PICASSO es gewagt, alle Bewegungsmomente, wie sie durch den sich ändernden Sonnenstand ausgelöst werden, mitzumalen, solange er an dem Bild arbeitete. In dem Bild kommt nicht ein bestimmter Augenblick zum Ausdruck, sondern eine ‚ewige‘ Gegenwart. Die Perspektive, die die Malerei (und das Denken) der Neuzeit bestimmte, wird bewusst überwunden. Dies ist gewiss kein Rückschritt in eine vor-perspektivische Zeit; es ist aber eine Entscheidung für die nicht-perspektivische oder aperspektivische Darstellung. Ähnliches lässt sich auch in der gegenwärtigen Musik finden. Das Auffälligste in der sogenannten E-Musik ist der fehlende Wohlklang. Der ungewohnte Klang ergibt sich einmal aus der Atonalität etlicher Komponisten, angefangen mit ARNOLD SCHÖNBERG, d. h. die Töne einer Oktave streben nicht mehr ‚perspektivisch‘ auf einen Grundton wie auf einen Fluchtpunkt hin. Damit hängt zusammen, 32

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Eine Fülle von Einzelbelegen aus den Naturwissenschaften, der Philosophie und Psychologie, der Soziologie und Ökonomie, des Rechts und der Künste finden sich bei J. GEBSER, Ursprung und Gegenwart, im zweiten Teilband. Ebd., 1. Teilband, 65.

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dass die Musik kein erwartbares Ende hat. Man hat beim Hören das Gefühl, dass es endlos so weitergehen könnte. Ohne einen ‚richtigen‘ Anfang, ohne Ende ist alles Gegenwart. Anstelle von Harmonien, bei denen die Töne in bestimmten Bezügen zueinanderstehen, wird mit Klangfarben und Klangflächen gearbeitet. Irgendwie hat man allerdings das Gefühl, dass die Tonalität in der Musik zum Menschsein gehöre und die Atonalität künstlich sei. Es hängt aber mit unseren Hörgewohnheiten zusammen. Herausgebildet wurde die uns geläufige Tonalität mit einer Leiter von sieben Tönen in einer bestimmten Anordnung von Halbund Ganztonschritten zur Zeit der Renaissance, mithin zeitgleich mit der Perspektive. Zugleich geschah zu dieser Zeit eine Einschränkung einer Vielfalt, wie sie in den Kirchentonarten bestand, auf die beiden Tongeschlechter Dur und Moll. Da die Hörgewohnheiten offenbar tiefer als die Sehgewohnheiten sitzen, kann die Mehrzahl der Menschen mit der neuen Musik heutzutage weniger anfangen als mit der modernen Malerei. Für die Perspektive mit ihrem Auseinanderfallen von Subjekt und Objekt in eine Zweiheit war die Dualität in jeder Hinsicht bedeutsam. Die Dualitäten aber werden in der modernen Musik (wie parallel dazu in der Physik die Zweiheit von Materie und Energie) verneint: die Dualitäten von Dur- und Moll, Konsonanz und Dissonanz … Auch die neue Musik ist also ausgesprochen aperspektivisch. Bedenkenswert ist ferner, wie sich fast alle großen Komponisten seit Strawinski auch theoretisch mit dem Thema ‚Zeit‘ auseinandergesetzt haben. Dementsprechend spielt in der Musik selbst das Zeitmaß, das Metrum, eine bedeutende Rolle. Ein deutliches Beispiel hierfür ist der populäre „Bolero“ von Ravel, in dem ein immer neu ansetzendes melodisch-rhythmisches Thema von einem metrischen Trommelthema ‚gebannt‘ wird. Diesem stampfenden Trommelthema kann die Melodie während des ganzes Stückes nicht entkommen34. Meisterhaft hat es meiner Meinung nach BÉLA BARTÓK verstanden, verschiedene Metren gleichzeitig gegeneinander zu setzen (Polymetrik), um so einen schwebenden Eindruck einer nicht mehr fließenden Zeit, sondern einer ‚ewigen‘ Gegenwart zu vermitteln. Die Metrik spielt die zentrale Rolle in der Unterhaltungsmusik der Gegenwart, in der entsprechend die Schlaginstrumente eine führende Aufgabe haben. War die Melodik und Harmonik bis vor kurzem noch der herrschenden Hörgewohnheit verpflichtet, so ist nun zu bemerken, wie die Melodie schwindet oder sich in Fragmente

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Vgl. hierzu J. GEBSER. ebd., Kommentarband, 144.

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auflöst. Eine Aufgipfelung der Herrschaft der Perkussionsinstrumente, die, voll wirksam nur in beträchtlicher Lautstärke, alles durchdröhnen und den Körper vibrieren lassen, geschieht in der Heavy Metal Music. Charakteristisch dabei ist, dass die Metrik genormt, schematisch und einförmig ist. Die Metrik erinnert einerseits an das Stampfen von Fabrikmotoren, so als fänden sie eine Ausdehnung in die Freizeit hinein; sie ist andererseits geeignet, Menschen in Trance zu versetzen, wie sich in Diskotheken leicht beobachten lässt. Den Zustand der Trance durch eine monotone Metrik suchten auch die Menschen in Epochen des magischen Denkens. Ziel war, eine Bewusstseinsvertiefung zu erlangen, indem sie sich selbst transzendierten auf eine tiefere Einheit mit dem umfassenden, bergenden Ganzen der Wirklichkeit, aus der sie – vor allem als Medium – überindividuelle Kräfte zu schöpfen hofften. Ein Auslöschen des Ichs sucht auch der heutige MusikFan, wie vor allem auf Großveranstaltungen ins Auge springt. Von einer Bewusstseinsvertiefung kann allemal keine Rede sein; gesprochen wird auch ausdrücklich nur von einer Bewusstseinserweiterung: Es ist das Bewusstsein des Einsseins mit den Vielen, die wie eine einzige Person reagieren, des Aufgehens in der Masse.

4. Menschsein am ‚Ende der Neuzeit‘ 4.1 Der genormte und nivellierte Mensch Im Vorhergehenden habe ich versucht, den gegenwärtigen geschichtlichen Standort zu bestimmen, an dem sich unser Menschsein vollzieht. Ich habe ihn als einen Ort des Umbruchs zu einer neuen Epoche zu charakterisieren gesucht, in der das Alte in manchen Bezügen noch nachwirkt oder sich verschärfend auswirkt und Neues heraufdämmert, – vielleicht noch nicht in klaren Konturen erkennbar, aber gerade doch im Vergleich mit dem Vorigen identifizierbar. Zeiten des Umbruchs erweisen sich naturgemäß als ungefestigt. Sie bergen in sich einerseits Chancen zur Bewährung und Bewältigung, andererseits aber auch die Gefahren des Entgleitens und Scheiterns. Gerade darum ist es in solchen Zeiten besonders wichtig zu fragen, wie das Menschsein unter den Bedingungen der Zeit zu verstehen ist und gelingen kann. 33

Der Mensch der Gegenwart – darin sind sich GEBSER wie GUARDINI einig – ist weitgehend der Mensch der Masse. Vor allem GUARDINI betont dabei, dass es sich mit dieser Kennzeichnung nicht um eine Abwertung handle. Das Wort ‚Masse‘ bedeute nichts Unwertes, sondern eine menschliche Struktur, die mit Technik und Planung verbunden und gerade darum die unserer Zeit gemäße sei – in Abgrenzung zur Neuzeit etwas total Neues. So schreibt er: „Nun hat es auch früher die Vielen gegeben, die sich als formlose Menge vom hochentwickelten Einzelnen unterschieden, aber sie drückten die Tatsache aus, dass es dort, wo dieser die Wertnorm bildete, als Hintergrund und Wurzelboden die von der Alltäglichkeit gebundenen Durchschnittlichen geben müsse. Doch suchten auch sie zu Einzelnen zu werden und sich ihr Eigenleben zu schaffen. Die Masse im heutigen Sinn ist etwas anderes. Sie bildet nicht eine Vielzahl unentwickelter, aber entwicklungsfähiger Sondergestalten, sondern steht im vorhinein einer anderen Struktur: dem Gesetz der Normung, welche der Funktionsform der Maschine zugeordnet ist. Dieser Charakter erhält sich auch in ihren höchst entwickelten Individuen. Ja letztere sind sich seiner ausdrücklich bewusst, bilden sein Ethos und formen ihn zum Stil. Andererseits ist aber die Masse im gemeinten Sinn auch keine Entwertungs- und Zerfallerscheinung, wie etwa der Pöbel im alten Rom, sondern eine menschlich-geschichtliche Grundform, die zu voller Entfaltung im Sein wie im Werk gelangen kann – vorausgesetzt allerdings, dass man dieser Entfaltung nicht den neuzeitlichen Maßstab zugrunde legt, sondern jenen, auf den ihr Wesen bezogen ist“35.

Das Entfaltungsziel der Neuzeit war, wie oben ausgeführt, die große Persönlichkeit. GUARDINI meint, dass dieses Ziel grundsätzlich nicht mehr erreichbar sei, der Mensch heute vielmehr die Gebrauchsdinge und Lebensformen einfach annehme, wie sie ihm von den genormten Maschinen angeboten würden, – und dies im Gefühl, sich dabei vernünftig zu verhalten. Ja, GUARDINI behauptet, dass der Mensch heute gar keine Persönlichkeit im neuzeitlichen Sinne mehr sein wolle, dass er gar nicht den Willen habe, in seiner Lebensführung originell zu sein und

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GUARDINI, Ende der Neuzeit, 66.

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eine ihm ganz und gar entsprechende Umwelt zu schaffen. Es sei für ihn gar kein ursprünglicher Wert, aus eigener Initiative zu leben, vielmehr füge er sich der Organisation der Masse und gehorche ihren Programmen. Er scheue sich, als Eigener hervorzutreten und suche anonym zu bleiben. Sogar eine politische Führergestalt sei nicht mehr eine Persönlichkeit im genannten Sinn; „denn der Führer, wie er der Masse zugeordnet ist, scheint gerade dadurch charakterisiert zu sein, dass er keine schöpferische Persönlichkeit im alten Sinne, keine unter Ausnahmebedingungen sich entfaltende Individualgestalt, sondern das Kompliment der Vielen ist; von anderen Funktionen als sie, aber gleichen Wesens mit ihnen“36. GUARDINI hat gewiss Recht, wenn er die Masse als etwas Genormtes ansieht. Schon das Wort selbst hat von der Herkunft eine verwandtschaftliche Nähe zu „Maß“, mithin zur Norm. Wir brauchen es uns auch nicht mehr bewusst zu machen, dass unsere Gebrauchsdinge maschinengenormt sind, oftmals aus Gründen eines lauteren Wettbewerbs etwa einer DIN-Norm entsprechen oder, damit sie austauschbar bleiben können von einer Richtlinie, wie der EU-Norm, betroffen sind. Eine Einzelanfertigung ist für uns in der Regel gar unerschwinglich. Der Gebrauch derselben Technologien und die Benutzung derselben Medien – wir mögen heute konkretisieren: der Besitz der gleichen Mobiltelefone mit von jedem abrufbaren, genormten Apps – schaffen notgedrungen einheitsförmige Geschmäcker und Lebensformen. Bedeutet dies aber, dass der Mensch mittlerweile gar nicht mehr den Willen hat, „eigen in seiner Gestalt und originell in seiner Lebensführung zu sein“37 und als Individuum gar nicht in Erscheinung zu treten, wie GUARDINI meint? Können wir doch beobachten, wie im Rahmen des Möglichen oft nach individueller Ausgestaltung gestrebt wird: in der zuweilen ausgefallenen Einrichtung des eigenen Wohnraums, mit (zwar vorgefertigten) Gegenständen und Bildern, die etwas vom Ich ausdrücken sollen, in der Zusatzausstattung des eigenen Autos oder in einer möglichst individuellen Tätowierung. GUARDINI hat einerseits Vorbehalte gegen das, was Masse bedeutet, und zwar aus recht verständlichen Gründen: Aus der zeitlich zu großen Nähe der Nachkriegszeit hat er konkret die Massen der NS-Zeit vor Augen. Darauf weist das zuletzt angeführte Zitat über den der Masse zugeordneten Führer hin. Er denkt offenbar an die großen Aufzüge

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Ebd., 67. Ebd., 66.

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und die marschierenden Männer, die eben nichts Eigenes verraten, und an Menschen, die sich wie es scheint willenlos den Programmen einer Massenorganisation fügen. Einen Hang, Autokraten für die beste Verwirklichung einer Regierungsform anzusehen, lässt sich aber auch heute noch in verschiedenen Staaten oder Volksgemeinschaften ausmachen. Hinzuweisen ist auch, wie bei Protestmärschen von der Masse oft gefährliche Gewalt ausgeht. Auch die „sozialen Medien“ bieten Gelegenheit, anonym in die Masse unterzutauchen. Dabei machen Menschen die Erfahrung, dass es sich nicht lohnt, sich zu mäßigen, um Beifall („Likes“) zu erheischen, dass Erfolg und Gefolgschaft vielmehr garantiert ist, wenn den Emotionen freien Lauf gewährt und drastische Ausdrucksweisen gebraucht werden. Wenngleich GUARDINI auch sieht, dass Menschen immer selbstverständlicher als Objekte behandelt werden, angefangen von der behördlich-statistischen Erfassung bis zu den Vergewaltigungen des Einzelnen und ganzer Völker, nicht nur in den Widersinnigkeiten eines Krieges, sondern als eine normale Form des Regierens, so deutet er die Erscheinung der Masse überwiegend positiv. Die Masse versteht er ja als eine Struktur, die an die Stelle des neuzeitlichen Persönlichkeitkultes getreten ist. Dem Persönlichkeitsideal aber kann er nichts abgewinnen. Darum ist für ihn die entscheidende Frage, „ob die Einebnung, welche mit der Vielzahl gegeben ist, nur zum Verlust der Persönlichkeit, oder auch zu dem der Person führt. Das Erste darf geschehen; das Zweite niemals“38. Ja, er sieht gerade in einer Massengesellschaft und Massenkultur eine hervorragende Bedingung gegeben, dass sich das Bewusstsein vom Menschen als Person entwickelt. Ihre unverlierbare Würde, das Wissen um die Unvertretbarkeit ihrer Verantwortung trete mit einer Deutlichkeit hervor, wie es vorher nicht möglich gewesen sei. Der Anspruch der relativ kleinen Zahl, eine Persönlichkeit zu sein, habe die Würde der Vielen und je Einzelnen nicht klar erscheinen lassen. „So seltsam es klingen mag: die gleiche Masse, welche die Gefahr der absoluten Beherrschbarkeit und Verwendbarkeit in sich trägt, hat auch die Chance zur vollen Mündigkeit der Person in sich“ 39 . Der Mensch der kommenden Zeit, so meinte er, verzichte auf das Besondere und nehme eine gemeinsame Form an, die

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Ebd., 71. Ebd.

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sich in der Solidarität vor allem dem Nachbarn in der Arbeit zeige. Wenn alle inhaltlichen Werte zerfielen, bliebe als formaler Rest die Kameradschaft. „Wird diese Kameradschaft aus der Person heraus begriffen, dann ist sie das große Positivum der Masse. Von ihr aus können – immer unter den veränderten Bedingungen, welche diese Masse schafft – die menschlichen Werte der Güte, des Verstehens, der Gerechtigkeit wiedergewonnen werden“40. Im Gegensatz zu GUARDINI sieht GEBSER in dem Erscheinungsbild der Masse keineswegs schon den Anbruch einer neuen Epoche, sondern eine letzte Auswirkung der Neuzeit, namentlich eine Nachwirkung der Raumausdehnung in der Neuzeit. Konkret: Der Mensch lebt nicht mehr in der Geschlossenheit einer familiären und dörflichen Gemeinschaft, wo er ‚ich‘ sein durfte; er lebt vielmehr mobil in vielen Räumen, wo er nur teilweise anwesend ist, Funktionen ausübt und letztlich nur in der großen Zahl zählt. GEBSER sieht zwar zu allen Zeiten einen steten Wechsel von Qualitäten zu Quantitäten und umgekehrt und nennt dies den „Atmungs-Charakter der Strukturen“41: Der Wechsel ist wie ein Ein- und Ausatmen. Im besonderen Maße aber kennzeichnet unsere Zeit ein Vorherrschen der Quantitäten. „Im Alltag zwingt die Motorisierung, Maschinisierung, Technisierung den Menschen in quantitätsbedingte Abhängigkeiten, wobei das Unmaß an Freiheitspreisgabe den wenigsten bewußt wird. Maschine, Film, Presse, Radio: meistens führen sie zu nivellierenden Abhängigkeitsverhältnissen und zu zunehmender Entindividualisierung, also zur Ich-Atomisierung. Wie weit das gehen kann, zeigt der heutige Sport. In der Art, wie er heute betrieben wird, kommen diese Gefahren immer stärker zum Ausdruck. Was einst Spiel war, wurde zum Rekordrausch. Die Hingabe des in der Zuschauer-Masse untergehenden einzelnen an ein wertloses Phänomen ist für die heutige Übergangssituation symptomatisch. Die Schnelligkeitssucht zeugt von der tiefgreifenden Angst vor der Zeit: jeder neue Rekord ist ein Schritt weiter in Richtung auf die Tötung der Zeit (und damit auch des Lebens). Die Rekordbegeisterung ist ein deutlicher Hinweis auf die

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Ebd., 73. GEBSER, Ursprung und Gegenwart, 1. Teilband, 193.

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prädominante Rolle des Zeitproblems: auch die Massenpsyche ist der Zeit verfallen; sie sucht sich ihrer durch eine negative Überwindung zu entledigen; jeder neue Rekord nähert uns dem Zeittod an, statt zur Zeitfreiheit zu führen. Diese Sucht, die Zeit negativ zu überwinden, wird überall sichtbar. Überall werden die bisherigen zeitlichen Schwellenwerte überschritten; nicht nur durch das Radio, auch durch die Ultraschall-Flugzeuge oder (ein anderes extremes Beispiel) durch die medizinischen Bemühungen, die menschliche Lebensdauer zu verlängern; gerade auch diese Anstrengungen, ins Quantitative zu fliehen, sind aus Zeitangst geborene Zeitflucht, die vordergründig unseren Alltag beherrscht“42.

Ergänzend sei dazu an dieser Stelle noch etwas zu der Art des Denkens angemerkt, die dem Überwiegen des Quantitativen entspricht. In der klassischen Naturwissenschaft beschäftigte man sich ja mit dem Zählbaren, Messbaren und Berechenbaren. Das an den Naturwissenschaften orientierte Denken galt als Ideal. Bezeichnend ist die Definition Hobbes’: „Denken ist Rechnen in Worten“43. Ein solches Denken bezeichnete man eben als rational. [Man beachte: Die Grundbedeutung des lateinischen Wortes ratio ist Rechnung und hängt mit Teilen zusammen; als rationale Zahlen werden darum Brüche und Dezimalzahlen, also Teile von ganzen Zahlen bezeichnet.] Für GEBSER gilt es heute als geboten, ein derartiges rationales Denken zu überwinden. Damit redet er keineswegs einer Irrationalität das Wort oder einem ‚Denken aus dem hohlen Bauch‘, das allein mit eigenen Befindlichkeiten argumentiert. Vielmehr will er das rationale Denken an seinen ihm zukommenden, aber eingeschränkten Ort verweisen und ergänzt wissen durch andere Verstandeskräfte, so dass eine ganzheitliche Sicht 44 , genauer: eine verschiedene Verstandeskräfte und emotionale Strebungen integrierende Sicht, ermöglicht wird. Nur so kann das Quantitative auf Qualität überschritten werden.

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Ebd., 2. Teilband, 682–683. Zit. nach GEBSER, ebd., 1. Teilband, 163. Selbstverständlich hat es während der ganzen Neuzeit auch eine Gegenbewegung gegen eine so verstandene ‚reine‘ Rationalität gegeben. Erwähnt seien Denker wie SCHOPENHAUER, NIETZSCHE, BERGSON, SCHELER. Um Ganzheitlichkeit in der Erkenntnis war vor allem die deutsche Romantik bemüht.

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Eine quantitative, also mengenmäßige Abhängigkeit des Menschen, etwa die Abhängigkeit von der Stückzahl einer Maschine, – das will der obige Text sagen – führt zur Nivellierung dessen, der die Maschine bedient, zu seiner Einebnung und Normung und damit zu seiner Entindividualisierung. Im Grunde nämlich ist es gleichgültig, wer die Maschine bedient, wenn nur bestimmte Normen eingehalten werden. Am Arbeitsplatz hat gewöhnlich auch die Zeit einen rein quantitativen Charakter: Kommt es doch darauf an, in einer vorgegebenen Frist eine bestimmte Stückzahl zu produzieren oder eine Anzahl von Akten zu bearbeiten. Gerade aber im Umgang mit der Zeit entscheidet sich nach GEBSER unsere Zukunft. Mit der Vorherrschaft des quantitativen Denkens besteht die Versuchung, auch die Zeitproblematik quantitativ zu lösen, wie es nach GEBSER beispielsweise im Rekordrausch zum Ausdruck kommt, wo es oft nur um winzige Quantitäten Unterschied auf der Stoppuhr ankommt. Wir haben Angst, dass uns die Zeit davonläuft, haben ‚Zeitangst‘. Wir suchen die Zeit zu ‚füllen‘, finden dabei aber keine erlebnismäßig erfüllte Zeit, sondern haben sie mengenmäßig, wie auf dem Kalenderblatt ersichtlich, ausgefüllt. Wir sind ‚schnelllebig‘, erleben aber das, was wir in die Zeit gepackt haben, nur flüchtig und vergessen es alsbald. Flüchtig erleben wir die Zeit, weil wir vor dem Wesentlichen fliehen: die Zeit intensiv zu erleben, ihre Qualität zu erfahren. Das meint GEBSER, wenn er sagt, unsere „Anstrengungen, ins Quantitative zu fliehen, sind aus Zeitangst geborene Zeitflucht“. Neben der Nivellierung des Menschen, wie sie sich aus der letzten Auswirkung rein quantitativen Denkens ergibt, sieht GEBSER nach wie vor die Gefahr einer Überbetonung der Individualität des Menschen, wie sie für die Neuzeit prägend war. Gleichzeitig und im Gegensatz dazu besteht die Tendenz der Auflösung der Individualität ins unpersönliche Kollektiv. GEBSER drückt dies mit einem grundlegenden Gegensatz aus, wie ihn der Psychoanalytiker ERICH FROMM aufgezeigt hat, den von Haben und Sein: „Die heutige Situation zeigt einerseits einen ins Extrem gesteigerten Individualismus rein egozentrischen Charakters, der alles haben will, andererseits einen ins Extrem gesteigerten Kollektivismus vermassenden Charakters, der alles zu sein sich anmaßt; hier herrscht eine völlige Geringschätzung des Individuums, das nicht einmal mehr als Nummer bewertet wird, dort eine Überbewertung des Individuums, dem alles gestattet wird, dessen es irgend fähig ist[…] es wird immer deutlicher, dass 39

das Individuum in die Isolation getrieben wird und das Kollektiv in die Vermassung hineinsinkt“45. GEBSER sieht also Gefahren für das Menschsein heute, die mit den Stichworten gekennzeichnet werden können: Versäumen eines integrativen Denkens; die Versuchung einer rein quantitativen Orientierung, deutlich sichtbar im verfehlten Angehen der Zeitproblematik; Nivellierung des Menschen; egozentrische Überfrachtung der Individualität. Es sind Gefahren, die unter den heutigen Bedingungen späte Auswirkungen der Neuzeit sind. Damit ist keineswegs die Neuzeit, ihr Lebensgefühl und ihre Art zu Denken, in Verruf gebracht. Das meiste von dem, was sie hervorgebracht hat, muss unbedingt gerettet werden; so auch die Freiheitsrechte, von denen in einem anderen Zusammenhang gesprochen wird. Es geht aber um die ‚Ausläufer‘ der Neuzeit unter veränderten Bedingungen. Um es in einem Bilde zu sagen: Die Wellen eines Ozeans in ihrem Auf und Ab sind in ihrem gewöhnlichen Verlauf ganz normal; wo sie sich aber brechen – und das ist nicht nur, aber immer an den Rändern der Fall, also dort, wo der Ozean endet und die Wasser auf Sandbänke und Felsen stoßen – können sie eine gefährliche Gischt aufschäumen. Zur Überwindung der Gefahren kann es allerdings nicht darum gehen, in eine frühere Zeit und ihre Denkmentalität zurückzukehren, etwa nach dem Motto: Zurück zu den Ursprüngen. Das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen. Es geht aber darum, die nachwirkende Vergangenheit aufzuarbeiten, und das heißt, diese (und alle Epochen der Geschichte zuvor) geplant zu integrieren und sie so ‚aufzuheben‘, in einem angepassten Zustand aufzubewahren. Der Übergang in eine neue Epoche geschieht aber keineswegs automatisch ohne unsere Anstrengung. Augenscheinlich aber brauchen wir, um ans Werk zu gehen, ein beträchtliches Maß an Leidensdruck. Die Gefahren aber müssen gebannt werden. „Wird ihnen nicht allmählich durch die Erfüllung der uns gestellten Aufgabe Einhalt geboten, so führen sie zur Selbstaufgabe, zum endgültigen Verlust des Menschlichen durch Atomisierung und Auflösung“46. 45

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Ebd., 1. Teilband, 27. Vom „Sein“ ist in diesem Zitat nur im Sinne einer Anmaßung die Rede. Geschichtlich ordnet GEBSER die Haltung des Seins im eigentlichen Sinne einer vorperspektivischen Zeit des „Man“ oder „(Sippen-)Wir“ zu; die perspektivische Zeit ist auf das Ich bezogen; „die eine Welt ist im Sein zu Hause, die andere, die in der Renaissance begann, im Haben“; ebd. Ebd., 2. Teilband, 683.

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Lichtzeichen einer Änderung sind aber gegenwärtig in Teilbereichen schon zu erblicken. In der Arbeitswelt wird immer mehr eine Menge von Eigeninitiative und Teamgeist gefordert. Die Computervernetzungen lassen Unternehmen von morgen, um mit dem Bild eines Baumes zu sprechen, wohl nur noch mit einer Stammbelegschaft auskommen; die Krone wird aus kleinen selbständigen Unternehmerteams gebildet, die mit dem Unternehmen und untereinander vernetzt sind. So sind möglichst viele an Entscheidungen beteiligt. Eine hierarchische Führung erscheint unter diesen Bedingungen nicht mehr sinnvoll und wirkungsvoll. Die Tages- und Wochenarbeitszeit wird sich einerseits an den Aufträgen orientieren; Anfang und Ende können andererseits von der persönlichen Tagesplanung bestimmt werden47. So bleibt die Möglichkeit, Gewichtungen in der Verwendung der Zeit vorzunehmen. Im Team sieht der Einzelne das ganze Werk entstehen. Die Arbeit ist weniger sektorisiert. Solch flexible Planungen sind freilich noch die Ausnahme; sie könnten mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshof zur Arbeitszeitenerfassung (2019) schwieriger werden. Mittlerweile ist es möglich und von der Industrie sogar erwünscht, Autos in allen Einzelheiten nach den Wünschen des Käufers herzustellen. Ermöglicht wird dies durch eine Computertechnik, die (selbstverständlich nur innerhalb eines Programmspektrums) die zuzuliefernden Teile in der gewünschten Form und Farbe bei Bedarf abrufen lässt und die Montage insgesamt nach dem eingegebenen Programm, wie es den Kundenwünschen entspricht, gestattet. Die Fertigung nach Wunsch erübrigt zudem eine kostspielige Lagerhaltung. Der Konsument ist somit nicht mehr unbedingt nur passiver Abnehmer.

4.2 Der Mensch als Verbraucher in einer technisierten Welt Grundsätzlich vollendet sich in der gegenwärtigen Industriegesellschaft, was sich seit Beginn der Neuzeit angebahnt hat. Charakterisiert es das neuzeitliche Denken, dass der Mensch die Welt um seiner selbst ausschließlich auf sich bezieht 47

Vgl. zu diesem Komplex die Fernsehsendung des Bayerischen Rundfunks „Man wird sich trauen müssen. Signale aus der Arbeitswelt von morgen“ (von N3 gesendet am 9.2.1994 um 23.45), als Videokassette erhältlich bei Via Film & TV, 85609 Dornach bei München.

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und den Dingen seine eigene Perspektive anlegt, so wird dies am deutlichsten sichtbar in der Technik. In ihr werden die Dinge ausschließlich in ihrer Funktion für uns gesehen. Es zählt nicht die Frage nach dem Wesen einer Sache oder ihrem Seinsgehalt („Was ist dies?“), sondern nach deren Nutzen und Brauchbarkeit („Was habe ich davon?“, „Was bringt mir dies?“). Darum konnte HEIDEGGER das der Technik zugrundeliegende Bestreben als ein „Herausfordern“ kennzeichnen. Denn darin nimmt der Mensch die Dinge nicht mehr einfach entgegen, sondern stellt sie unter ein „Ansinnen“, zum Beispiel das der Energiegewinnung. Dieses „Stellen im Sinne der Herausforderung“48 wird beispielsweise in der Veränderung sichtbar, die eine Landschaft unter dem technischen Zugriff erfährt. So umfassend sind die Eingriffe gar, dass der Mensch einer unveränderten Natur kaum mehr begegnet. So schrieb der Physiker WERNER HEISENBERG: „In früheren Epochen sah sich der Mensch der Natur gegenüber; die von Lebewesen aller Art bewohnte Natur war ein Reich, das nach seinen eigenen Gesetzen lebte und in das er sich mit seinem Leben irgendwie einzuordnen hatte. In unserer Zeit aber leben wir in einer vom Menschen so völlig verwandelten Welt, dass wir überall, ob wir nun mit den Apparaten des täglichen Lebens umgehen, ob wir eine mit Maschinen zubereitete Nahrung zu uns nehmen oder die vom Menschen verwandelte Landschaft durchschreiten, immer wieder auf die vom Menschen hervorgerufenen Strukturen stoßen, dass wir gewissermaßen immer nur uns selbst begegnen“49. In diesem Sachverhalt sieht HEISENBERG „Verschiebungen in den Fundamenten unseres Daseins“. Technologiefeindlichkeit wird man dem Begründer der Quantenphysik gewiss nicht vorwerfen können. Er befürchtet aber, dass die mögliche, ja notwendige Beherrschung der Natur zu einer Weltsicht führt, in der alles nur noch Bestand des technischen Bestellens ist und sich das einfache Seinlassen des Anderen nicht mehr ereignen kann. In genauer Entsprechung zu dieser Haltung, in der alles auf seinen Nutzwert hin betrachtet wird und das Gepräge der Verfügbarkeit bekommt, entwickelte sich das Konsumverhalten. Dabei geht es nicht nur um materielle Dinge, um Geldverdienen, sinnlichen Genuss und oberflächliche Zerstreuung. Auch geistige Werte

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M. HEIDEGGER, Die Frage nach der Technik, in: Bayerische Akademie der schönen Künste (Hg.), Die Künste im technischen Zeitalter, Darmstadt 1959, 58. W. HEISENBERG, Das Naturbild der heutigen Physik, in: ebd., 41.

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können konsumiert werden. Dass sich die Konsumhaltung auch im kulturellen Leben durchsetzen kann, hat eindrucksvoll MAX FRISCH in seinem Tagebuch aufgezeigt. Darin findet sich die Beschreibung einer Kultur während des Zweiten Weltkriegs, die in die Unverbindlichkeit des bloßen Konsumierens gesunken ist, wie es in den geistreichen Gesprächen über Bach, Händel, Mozart, Beethoven und Bruckner von KZ-Schergen offenbar wird. Ich habe oben darauf hingewiesen, dass JEAN GEBSER der neuzeitlichen Mentalität die Haltung des Habens zuordnet50. In seinem Buch „Haben oder Sein“ stellt ERICH FROMM zwischen der Haltung des Habens und dem Konsumieren einen Zusammenhang her. In der heute vorherrschenden Existenzweise des Habens „zählt einzig und allein die Aneignung und das uneingeschränkte Recht, das Erworbene zu behalten“51. Genauer unterscheidet er zwischen einem existentiellen Haben, das zum Überleben notwendig ist, wie das Besitzen, Pflegen und Gebrauchen von Kleidung und Werkzeugen, und das von unserer Natur gefordert ist, und einem charakterbedingten Haben, das einen nicht angeborenen, leidenschaftlichen Trieb zum Raffen bezeichnet. Die Haltung des Seins lässt sich demgegenüber nicht so einfach beschreiben; sie kann erfahren werden, wo ein Mensch seine Selbstsucht ablegt und gewissermaßen bedürfnisarm oder ‚leer‘ wird, wie die Mystiker sagen52. Sodann steht die Haltung des Seins der des Scheins gegenüber. Konsumieren nun „ist eine Form des Habens, vielleicht die wichtigste in den heutigen ‚Überflussgesellschaften‘. Konsumieren ist etwas Zweideutiges. Es vermindert die Angst, weil mir das Konsumierte nicht weggenommen werden kann, aber es zwingt mich auch, immer mehr zu konsumieren, denn das einmal Konsumierte hört bald auf, mich zu befriedigen. Der moderne Konsument könnte sich mit der Formel identifizieren: Ich bin, was ich habe und was ich konsumiere“53. Dem Konsum haftet nach dem Gesagten unausweichlich der Charakter der Maßlosigkeit an: „Der Konsumentenhaltung liegt der Wunsch zugrunde, die

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Vgl. Anm. 36. E. FROMM, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, dtv München 211992,79. Vgl. dazu E. FROMM, ebd., 89. Ebd., 37.

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ganze Welt zu verschlingen, […]“54. Es können aber nur sachhafte Dinge einverleibt werden. Darum wird auch nicht Materielles im Konsum versachlicht. Die während der Arbeit, des Autofahrens oder während irgendeines Freizeitverhaltens als Kulisse mitgehörte Musik hat keinerlei das eigene Sein bereichernden Erlebniswert. Vielmehr dient sie wie eine Droge zur Stimmungserhellung oder zum Wohlbefinden in der Langeweile. Augenblickliches Wohlbefinden aber bedeutet keineswegs schon Wohl- oder Glücklichsein. Identifiziert der Mensch nun sein Ich mit dem Haben und Konsumieren, wie in der Formel FROMMS ausgedrückt, dann bestimmt er sich selbst vom Dinghaften her und wird zwangsweise selber verdinglicht. Da eine solche Verdinglichung des Menschen nicht unserem Wesen entspricht, können wir im Haben und Konsum nicht unser Glück finden. Das geht, wie FROMM sagt, auch aus den verfügbaren Daten hervor: „Wir sind eine Gesellschaft notorisch unglücklicher Menschen: einsam, von Ängsten gequält, deprimiert, destruktiv, abhängig – jene Menschen, die froh sind, wenn es ihnen gelingt, jene Zeit ‚totzuschlagen‘, die sie ständig einzusparen versuchen“55.

4.3 Der Mensch als Ware und Gebrauchswert Hat der neuzeitliche Mensch sich selbst als Subjekt in aller Bewusstheit der Welt als einer Welt von Objekten gegenübergestellt, so läuft er schließlich Gefahr, selber verdinglicht und als Objekt angesehen zu werden, das sich schließlich nur noch von seinem Gebrauchswert bestimmt. Ja, ERICH FROMM spricht – vielleicht in einer hellsichtigen Übertreibung – von einem neuen Charaktertyp, der sich allmählich herausgebildet hat: dem Marketing-Charakter, der den eigenen Wert nur noch als einen Tauschwert wahrnimmt: Er ist zur Ware auf dem Persönlichkeitsmarkt geworden. „Das Bewährungsprinzip ist dasselbe wie auf dem Warenmarkt, mit dem einzigen Unterschied, dass hier ‚Persönlichkeit‘ und dort Waren feilgeboten werden. Entscheidend ist in beiden Fällen der Tauschwert, für den der ‚Gebrauchswert‘ eine notwendige, aber keine ausreichende Voraussetzung ist“56. Was

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Ebd. Ebd., 17. Ebd., 142.

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FROMM noch nicht ahnen konnte: Mit dem Gebrauch digitaler Medien liefert der Mensch eine Fülle von Daten über sich mit seinem Konsumverhalten und mit seiner Informationsselektion. Diese besitzen für Warenanbieter einen Geldwert. Der berufliche Erfolg hänge in großem Maße davon ab, wie ein Mensch sich auf dem Markt verkaufen könne, ob er oder sie gewinnend und anziehend sei oder aggressiv und abstoßend. Gewiss hänge es von dem Berufszweig ab, in dem jemand arbeiten möchte, welche Persönlichkeit er verkörpern müsse; und die sei bei einem Börsenmakler oder einer Verkäuferin eine je andere. Jedenfalls reichten die Einstellung und die Fähigkeit, eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, nicht aus. Da es entscheidend darauf ankomme, sich gegen alle Konkurrenz als der in jeder Hinsicht Qualifizierteste darzustellen, erlebe man sich als Verkäufer und Ware zugleich. „Der Mensch dieses Typs hat nicht ein Ich […], an dem er sich festhalten könnte, das ihm gehört, das sich nicht wandelt. Denn er ändert sein Ich ständig nach dem Prinzip: ‚Ich bin so, wie du mich haben möchtest.‘ […] Sie haben ihr großes, sich ständig wandelndes Ich, aber keiner von ihnen hat ein Selbst, einen Kern, ein Identitätserleben“57. Da das Verhalten eines „Marketing-Charakters“ nur auf der verstandesmäßigen Ebene funktioniere, meide er positive wie negative Emotionen. Das rein verstandesmäßige, manipulative Denken trete seine Herrschaft an mit einem Schwund des Gefühlslebens. Beziehungen zu Anderen und auch zu sich selbst seien „dünn“. Da dieser Charaktertyp weder zu sich noch zu Anderen eine tiefe Bindung habe, gehe ihm nichts wirklich nahe. Aufgrund seiner allgemeinen Beziehungsunfähigkeit sei er auch Dingen gegenüber gleichgültig. Dies erkläre das Phänomen, dass heute Menschen zwar gern kauften und konsumierten, aber an dem Erworbenen so wenig hingen. Was für den „Marketing-Charakter“ zählt, „sind vielleicht das Prestige oder der Komfort, den bestimmte Dinge gewähren, aber die Dinge als solche haben keine Substanz. Sie sind total austauschbar, ebenso wie Freunde und Liebespartner, die genauso ersetzbar sind, da keine tieferen Bindungen an sie bestehen“58. Die alltägliche Erfahrung kann bestätigen, dass es in der Tat Menschen gibt, die sich sehr gut zu verkaufen wissen. Es ist aber zu hoffen, dass der von FROMM

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Ebd., 142–143. Ebd., 144.

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skizzierte Menschentyp in reiner Form die Ausnahme bildet. Ich meine aber, dass diese Zeichnung, auch wenn sie plakativ sein sollte, die Gefahr aufzeigen kann, wie es um den Menschen bestellt ist, der sich selbst schließlich als Ware betrachten muss. Dabei geht es um eine funktionale Betrachtungsweise des Menschen, die fast nur noch nach dem Gebrauchswert fragt. Überall wo sie vorherrscht, gerät der Einzelne von selbst unter Druck, seinen Wert immer wieder durch Leistung unter Beweis stellen zu müssen. Das aber stellt eine mögliche Bedrohung nicht nur für Alte und Kranke, für Ungeborene und Behinderte dar, sondern gefährdet unser Menschsein im Allgemeinen. Die dem technischen Denken zugrunde liegende Frage, welche Funktion eine Sache für uns hat, muss sich verheerend auswirken, wenn nichts mehr – nicht einmal mehr der Mensch – einfach sein gelassen und in seinem Eigenwert anerkannt werden kann.

4.4 Der anonym entmachtete Mensch Die rasante technische Entwicklung seit Beginn der Neuzeit ist in Gang gesetzt worden von dem Bestreben, das menschliche Leben zu erleichtern. Technische Mittel sollten sozusagen der verlängerte Arm des Menschen sein, ihm zu Diensten. Wollte der Mensch mit Hilfe der Technik die Natur besser beherrschen, so müssen wir heute feststellen, dass wir weithin von der Technik beherrscht werden, ohne es schon richtig zur Kenntnis zu nehmen. Wenn die Technik die Mittel bereitstellen sollte, um die Natur verfügbar und menschlich zu machen, so sind diese Mittel dem menschlichen Zauberlehrling längst über den Kopf gewachsen. Er plagt sich damit herum, die Geister, die er rief, zu Vollstreckern seines Willens zu machen. Die Mittel drohen mehr über uns zu verfügen, als dass wir über sie verfügten. Im Gegenteil, wir scheinen immer mehr zu Ausführungsorganen und Durchgangsstadien von Prozessen zu werden, die ihren Grund nicht in uns selber haben. Unsere Tageszeiteinteilung wird beispielsweise von vorgeschriebenen Arbeitszeiten bestimmt; die Arbeitsprozesse sind von Maschinen vorgegeben. Wir fühlen uns beherrscht von oftmals nicht identifizierbaren unpersönlichen Mächten. Was von der Technik gilt, trifft auch hinsichtlich unserer Erfahrung mit einer totalen Bürokratisierung unserer Gesellschaft zu. „Die Grunderfahrung, die man dabei macht, lässt sich als das Erlebnis, ‚verwaltet‘ zu werden, bezeichnen“, sagt 46

der Soziologe PETER L. BERGER im Anschluss an MAX WEBER, der wohl als Erster das Phänomen der bürokratischen Gesellschaft untersucht hat. Das Verwaltetsein bedeutet, „daß man als einzelner in straff regulierte und unpersönliche Prozeduren mit anonymen Organen verwickelt wird“59. In der modernen Gesellschaft sind formale Organisationen mit Bürokratie fast deckungsgleich, einfach deshalb, weil die meisten von ihnen ihrem Wesen nach bürokratisch sind. Denn die Bürokratie hat sich als die ‚rationalste‘ Form sozialer Organisation erwiesen, das heißt, die Beziehung zwischen Mittel und Zweck sozialen Handelns ist dabei am wirkungsvollsten. Darum haben sich auch die Gesellschaften weltweit im Hinblick auf die Bürokratisierung einander angeglichen. Dadurch ist der Verkehr miteinander auf vielen Gebieten erleichtert. Grundmerkmale der Bürokratie sind nach BERGER einmal ein eigener Stab von Mitarbeitern, die in einem hierarchisch straff gegliederten Verhältnis zueinander stehen, mit genauen Zuständigkeitsbereichen; die Bürokratie setzt sodann ein Sachkundigkeitssystem voraus, wobei jeder für seine Stellung sachgemäß ausgebildet ist; schließlich pflegt sie als Ideal eine Arbeitsweise, bei der keine persönliche Einflussnahme der Mitarbeiter erfolgt und nichts von deren persönlichen Launen und Gefühlen abhängt, mithin eine Moral der Objektivität, deren Ergebnis die Kalkulierbarkeit ist. Angefangen hat die Bürokratisierung der Gesellschaft – wie Naturwissenschaft und Technik– zu Beginn der Neuzeit, genauer im 17. Jahrhundert, als Folge des fürstlichen Absolutismus, zuerst in Frankreich, dann auch in anderen europäischen Ländern. „Von staatseigenen Bereichen wanderte die Bürokratie dann bald in alle Gruppen, die in irgendeiner Form am politischen Prozeß teilhatten. So kam sie auch in die politischen Parteien und die Gewerkschaften. Die Herrschaft kleiner bürokratischen Eliten über solche Gruppen steht natürlich in einem gewissen Widerspruch zu ihrer demokratischen Ideologie in westlichen Ländern“60. Allgemein aber herrscht unter Soziologen die Auffassung, dass diese Art von Herrschaft unvermeidlich ist und „das eiserne Gesetz der Oligarchie“ zur Geltung bringt. „In allgemeinster Form bedeutet das, daß immer die wenigen über die vielen herrschen.

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P. L. BERGER/B. BERGER, Wir und die Gesellschaft. Eine Einführung in die Soziologie – entwickelt an der Alltagserfahrung, Reinbeck bei Hamburg (1972) 1993, 141. Ebd., 147.

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Bei modernen Gesellschaften sind die wenigen diejenigen, die die Kontrolle über bürokratische Apparate haben“61. Dabei bleibt es vielfach denen, die verwaltet werden, unklar, wer eine solche Kontrolle ausübt. Die Bürokratie stellt sich als eine anonyme, undurchschaubare Macht dar. Dies kommt in den unteren Gesellschaftsschichten besonders zum Ausdruck, wenn von „denen da oben“ die Rede ist. Menschen der Mittelklasse meinen zwar festere Vorstellungen zu haben, wer ‚die da oben‘ eigentlich sind, welche gesellschaftliche Macht ausüben, doch müssen sie nicht ohne weiteres zutreffen. Unklar bleibt das Verhältnis der politischen Ordnung zu anderen bürokratischen Systemen, vor allem der Wirtschaft, ganz zu schweigen von der vielfach undurchsichtigen Finanzwelt. Die Kategorie „die dort oben“ ist also nicht den unteren Schichten vorbehalten. „Die Soziologen haben zwar bisher nur wenig Gelegenheit gehabt, die obersten Regionen der Gesellschaft unter die Lupe zu nehmen, in denen Macht eine Sache des ‚wir‘ statt des ‚die‘ ist. Gleichwohl dürfen wir ruhig den Verdacht hegen, dass selbst in jenen gesellschaftlichen Höhen gelegentlich Zweifel darüber bestehen, wer genau ‚wir‘ sind und ob nicht vielleicht doch gewisse finstere Mächte als mögliche ‚die‘ im Hintergrund lauern“62. Kaum ein Bereich kann sich mittlerweile einer Bürokratisierung erwehren. Dies gilt auch für das Bildungswesen wie für die Kirchen, die sogenannte organisierte Religion. Zu den beiden Partnern in der Bildung, dem Lehrenden und dem Lernenden hat sich längst eine dritte Partei gesellt, die Verwaltung. Mehr noch, sie hat sich die Kontrolle darüber erobert, was tatsächlich vor sich geht. Interessant ist, dass unter den Kirchen sogar die Baptisten, die stärkste protestantische Denomination in Amerika, die sich traditionell immer gegen jede zentrale Autorität gewehrt hat, einer durchgehenden Bürokratisierung nicht entkommen konnten. Ist die Bürokratisierung so allumfassend, so nimmt es nicht wunder, dass die Menschen sie leid geworden sind. Darum gibt es gegenwärtig nicht nur eine Politikverdrossenheit, von der heute allenthalben die Rede ist, sondern auch ein Misstrauen gegenüber allen bürokratisierten Institutionen. Die vielfache Ablehnung einer ‚Amtskirche‘ ist hierfür ein Beispiel.

61 62

Ebd. Ebd., 190.

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So sehr sich die Bürokratie als wirkungsvoll erwiesen hat, so sehr birgt sie auch die Gefahr einer Entpersönlichung. Dazu führt PETER BERGER aus: „Dank der Bürokratie ist es zu einer Gewichtsverlagerung von (soziologisch ausgedrückt) ‚primären‘ auf ‚sekundäre‘ Beziehungen gekommen, das heißt von echten persönlichen Begegnungen zwischen Menschen zu entfernten, anonymen Beziehungen, die sich rigoros auf bestimmte Sachbestände beschränken. Damit führt die Bürokratisierung zu einer allgemeinen Entpersönlichung des Alltagslebens und vermehrt die Gefahr, daß entsteht, was Emile Durkheim Anomie genannt hat, eine menschliche Verfassung also, in der man das Gefühl hat, keine festen sozialen Bindungen mehr zu irgend jemandem zu haben und in einer Welt zu leben, die man nicht mehr begreifen, geschweige denn kontrollieren kann“63.

Der amerikanische Jude Richard L. Rubenstein, der sein Lebenswerk der theologischen und soziologischen Auslotung des Holocausts gewidmet hat, ist nach Auswertung des historischen Materials überzeugt, dass gerade die zunehmende Bürokratisierung eine Judenvernichtung in diesem Ausmaß ermöglicht hat: „In Auschwitz haben die Deutschen neue Potenzen in der menschlichen Fähigkeit zu herrschen, zu versklaven und auszulöschen gezeigt“64. Er führt weiter aus, dass „es das organisatorische Geschick der Nazis war und nicht so sehr die Tatsache ihrer neuen Waffen, das die Gesellschaft einer totalitären Herrschaft Wirklichkeit werden ließ. Und die meisten organisatorischen Mittel, mit denen eine solche Gesellschaft errichtet werden kann, sind seit dem Zweiten Weltkrieg mächtig verbessert worden. Als eine Waffe bürokratischer Herrschaft ist der moderne Computer von größter Bedeutung. Kaum eine Waffe war der Gestapo so unentbehrlich wie ihre Kartei.“ Rubenstein befürchtet ferner, dass solch „ein Herrschaftssystem, wenn es sich einmal als eine wirksame Regierungsform erwiesen hat, zur Wiederholung einlädt. Es gibt eine Reihe von Umständen, unter denen ein künftiger Herrscher in einem modernen Staat versucht sein könnte, seine eigene Version eines solchen

63 64

Ebd., 149. R. L. RUBENSTEIN, The Cunning of History. Mass Death and the American Future, New York 1975, 79. (Übers. K. R.)

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Systems einzurichten“65. Überhaupt könnten die Menschen nach Rubenstein in einer hoch-bürokratischen Gesellschaft ihr eigenes Geschick nicht unter Kontrolle haben. Vielmehr „entfaltet sich ihr grausames und verzehrendes Schicksal jenseits ihrer Absichten und hinter ihrem Rücken“66. Auch wenn wir nicht geneigt sein sollten, RUBENSTEIN in den Konsequenzen, die er aus den Umständen der deutschen Judenvernichtung zieht, zu folgen, so ist schon die oben angesprochene Gefahr einer Entpersönlichung erschreckend. Wie sehr sich im Laufe eines Lebens die Beziehungen zu organisierten Bürokratien mehren, lässt sich an den Kennziffern ablesen, die man zugeteilt bekommt, angefangen von der Identitätsnummer schlechthin, der Steuernummer, der Nummer der Versicherung, der Konto- und Scheckkartennummer, der IBAN-Nummer bis zu verschiedenen persönlichen Geheimnummern. Die eigene Identität erscheint aufgelöst in verschiedene PINs (Persönliche Identifizierungs-Nummern). Der Schriftverkehr mit Behörden ist oftmals nicht möglich ohne die Angabe einer Kennzahl mit manchmal astronomischen Ziffernfolgen. Außerhalb des privaten Bereichs wird das Erlebnis immer stärker, eine Nummer und kein Ich zu sein.67

4.5 Die Daseins-Angst des heutigen Menschen Es mag bezeichnend sein, dass die Geschichte der Philosophie des Altertums und des Mittelalters dem Thema Angst kaum Aufmerksamkeit gewidmet hat. Einschließlich bis zu HEGELS Annahme einer Weltvernunft wächst zunächst das Vertrauen auf Ordnung und Fortschritt in der Welt. Erst SCHELLING 68 zweifelt an ihrer vernünftigen Erklärbarkeit: Der wahre Grundstoff allen Lebens und Daseins ist das Schreckliche , das mit der Vernunft undurchdringbare, über den Menschen hereinbrechende Chaos. Angst und Freiheit in ihrer Wechselwirkung innerhalb 65 66 67

68

Ebd. Ebd., 87. Näheres hierzu: K. ROHMANN, From Authority to Absolute Dominion in our Administered World, in: R. L. Rubenstein (Hg.), Modernization. The Humanist Response to Its Promise and Problems, Washington 1982, 163–173. Vgl. F. W. J. SCHELLING, Historisch-kritische Ausgabe, Thomas Buchhein u.a. (Hg.), III/8, Stuttgart –Cannstatt 1974ff., 13.

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der menschlichen Existenz werden bei SÖREN KIERKEGAARD69 zum großen Thema seiner Philosophie. Die Freiheit des Menschen besteht in der Selbstgestaltung und Entscheidung. Vor ihrer Möglichkeit aber ängstigt sich der Mensch unausweichlich. Einen Ausweg aus solcher Ängstigung durch die Freiheit sieht Kierkegaard im christlichen Glauben. Dazu gleich mehr. Hingegen ist für HEIDEGGER das „Wovor“ der Angst das „In-der-Welt-Sein“ selbst. Ins Dasein geworfen, ist der Mensch ins Nichts ausgehalten. Darin erfährt er die Ungesichertheit, aber eben auch die Eigentlichkeit seines Daseins. In seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“70 ängstigt sich das Subjekt (das „Dasein“) vor der „Geworfenheit“, der Faktizität, im Grunde vor seiner Ohnmacht. Wie KIERKEGAARD unterscheidet HEIDEGGER Angst und Furcht. Das Wovor der Angst ist kein innerweltliches Seiendes. Die Angst ist vielmehr eine Grundbefindlichkeit des Menschen als solchen, eine existentiale Wirklichkeit. Sie erweist sich als Sorge, die eine Grundstruktur ist und nicht identisch mit dem alltäglichen Besorgen und Fürsorgen ist. Die Sorge säumt den Weg vom „Man“ als Subjekt der Alltäglichkeit zum „eigentlichen Selbst“, wenn das eigene Dasein vor dem Nichts gestellt scheint. Das Verstehen der Angst wird durch die Zeitlichkeit bedingt und ermöglicht, insofern Zukunft und Vergangenheit in die Gegenwart gezogen werden. Diese Anschauung lässt es erklärlich sein, dass die als existentiale, mithin überzeitliche Grundhaltung des Menschen gedachte Angst in der Analyse einer bestimmten Zeit erscheint, eben im Werk HEIDEGGERS. Sie scheint sich in den Zeitläuften der Gegenwart als Befürchtungen und Ängste zu konkretisieren. Dem galt freilich nicht mehr dem Interesse HEIDEGGERS. Die Weisen des alltäglichen Seins, wie Besorgen und Fürsorge, nennt er in seiner Sprache „Gerede“. In der durch ihn von Angst unterschiedenen Furcht können wir allerdings gewiss eine Konkretisierung der Angst erblicken. Die Unterscheidung von Angst und Furcht kann hier, wenngleich sie nicht allgemein üblich geworden ist, doch hilfreich sein und zur Beschreibung dienen. Im Gegensatz zur Angst ist die Furcht, wie gesagt, jeweils auf ein bestimmtes und benennbares Objekt bezogen.

69

70

Vgl. S. KIERKEGAARD, Der Begriff Angst, in: Gesammelte Werke, Bd. 5, Düsseldorf – Köln 1950, 40ff. Vgl. M. HEIDEGGER, Sein und Zeit, Tübingen 15 1979, 143.

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Und sie erscheint als zeitliche Konkretisierung jener Grundbefindlichkeit. In ihrer Bedeutung ist heute oft von Ängsten im Plural die Rede. Beispielsweise angesichts der Globalisierung, die hierzulande zweifelsfrei vielen Wohlstand gebracht hat, entstehen wegen ihrer Unüberschaubarkeit Ängste. Bei dem oft unüberschaubaren Geflecht der Kapitaleigner etwa der Daxunternehmen und deren spezifischen Interessen, erscheinen die Arbeitsplätze unsicher. Davor schützt auch nicht mehr die eigene Leistung im Unternehmen. Andererseits zählt für die eigene Geltung nicht mehr die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Abstammung oder Klasse. Des Menschen Schicksal soll auch nicht mehr ein allmächtiger Gott bestimmen. Es gilt nur noch die eigene Leistung. Die einmal erbrachte Leistung garantiert aber nicht einmal einen guten Platz im Leben. Es kommt immer wieder aufs Neue darauf an, wie gut man die eigene Leistung verkauft. Dabei ändern sich die Bewertungskriterien ständig. So ist der Mensch immer wieder genötigt, sich nach Kriterien außerhalb seiner selbst auszurichten. Das Bestreben, aus sich etwas zu machen, erfährt eine Grenze darin, dass der Mensch seinen Wert in den oft gnadenlosen Augen der Anderen bestimmen muss. Dies erzeugt Stress und Ängste. Eine unbestimmte Angst entlädt sich bei manchen in einer Furcht vor dem Fremden in der Gestalt von Migranten und Flüchtlingen. Sie erscheinen als eine Bedrohung der kulturellen Beheimatung, die dem Dasein Geborgenheit gibt. Diese Beheimatung könnte durch Fremde in zunehmender Zahl Risse bekommen. Wir haben Ängste vor Terror. Wir befürchten, dass ein dschihadistischer Extremist sich eine Bombe um den Leib schnürt und wahllos Menschen tötet. Solcherart Frucht belastet die Gemüter. Wir wollen Sicherheit und befürworten eine Überwachung aller möglichen Gefährdungen und Gefährder. Aus Furcht verschließen wir uns vor dem Anderen und schließlich vor uns selbst. Aus diesen Ängsten könnte der christliche Glaube befreien, wie Kierkegaard grundlegend ausführt. Der Glaubende weis sich bei Gott geborgen und bejaht zu sein, so dass er aus dem Anerkennungswettbewerb aussteigen kann. Angesichts des gnädigen Gottes weiß er, dass er auch wenig vorzeigbare Momente seines Lebens in das Gericht Gottes einbringen kann. Denn wenn Gott richtet, richtet er nicht zugrunde, sondern richtet er heilend auf und zurecht.

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2. Kapitel Vom Geschenk der Freiheit zur erstrebten Selbstbestimmung 1. Der neutestamentliche Freiheitsgedanke 1.1 Die Befreiung vom Leisten-Müssen und nicht LeistenKönnen Nach dem Gesagten wird es verständlich, warum gerade heute und mit Nachdruck das Problem des Menschlichen verhandelt wird. Am ‚Ende der Neuzeit‘ ist der Mensch sich selbst fragwürdig geworden. Eine Reihe von Verunsicherungen haben ihn befallen: Er empfindet sich als nivelliert und genormt, in der Rolle des Konsumenten, als jemanden, der einen Warenwert darstellt, als verwaltet und von anonymen Mächten beherrscht. Der Mensch ist weitgehend verdinglicht worden. In dieser Lage ist der Mensch einerseits bemüht, sein Ich zu retten, geradezu verzweifelt seine Identität zu sichern; andererseits ist er den Tendenzen zum Unpersönlichen ausgeliefert. In dieser Lage scheint das Ideal der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung Aktualität bekommen zu haben. Seine Wurzeln hat das Ideal in den Anfängen der Neuzeit im 15. und 16. Jahrhundert. Um dieses Ideals besser zu verstehen und sein Überleben um mehr als eines dürftigen Rests zu sichern, dürfte es sich allemal lohnen, zu den Wurzeln zurückzugehen. Die Menschen dieser Zeit waren sich freilich noch bewusst, dass sie in einer Freiheitsgeschichte stehen, die mit dem Neuen Testament einen Anfang nahm. 53

Ich möchte im Folgenden mithin zunächst einen Blick auf den Apostel Paulus werfen, damit der Bezug zur Freiheitsgeschichte in Erinnerung bleibt. Im Brief an die Gemeinde im kleinasiatischen Galatien formuliert Paulus einen programmatischen Satz: „Christus hat uns zur Freiheit befreit.“ (Gal 5,1) Die Freiheitsthematik ist „kein ‚Nebenkrater‘ in der paulinischen Theologie, sondern steht in ihrem Zentrum, und sie kann, von Paulus aus gesehen, geradezu als ‚die Mitte des Evangeliums‘ angesehen werden. Man darf sagen: Die paulinische Theologie ist in ihrem tiefsten Wesen ‚Theologie der Freiheit‘.“71 Freiheit ist für Paulus zunächst Freiheit vom (jüdischen) Gesetz. Die Ablösung von einer aus heutiger Perspektive empfundenen ‚Gesetzesreligion‘ mag indes gegenwärtigen Christen nur als eine Sache von historischem Interesse erscheinen oder, besser gesagt, als eine Angelegenheit, die heute niemand mehr zu fesseln vermag. Auch das Ringen der frühchristlichen Gemeinden um die Trennung vom Judentum stellt sich als ein vor zwei Jahrtausenden gelöstes oder doch heute überholtes Problem dar. Dennoch muss die paulinische Sicht, die zweifellos zeitbedingte und persönlich-lebensgeschichtliche Elemente enthält, auf ihre zeitlose und auch heute bedeutsame Aussage befragt werden. Es ist schon erstaunlich, wie Paulus, in seiner früheren Existenz ein Lehrer des Gesetzes, sich im Galater- und Römerbrief vom jüdischen Gesetz distanziert. Als ein Jude, der die Tora, die Weisung, in jeder Hinsicht zu erfüllen gesucht hatte und deswegen zum Verfolger der damaligen jüdischen Sekte der Christen geworden war, ist ihm eine bewältigende Lichterscheinung, die er als Christusbegegnung deutete, zur Wende geworden. Unter der Wucht dieser Erscheinung ist ihm zum Kehricht geworden, was ihm zuvor kostbar war: das mosaische Gesetz. Als große Kostbarkeit wurde so gut wie im gesamten Alten Testament die Tora, die Weisung, wie das Gesetz dort genannt wird, betrachtet. Keineswegs sah man die Tora als etwas an, das den Menschen knechtet, sondern im Gegenteil als etwas Befreiendes. Bezeichnenderweise werden die Zehn Gebote in den zwei Fassungen jeweils mit einem Hinweis auf den befreienden Gott eingeleitet: „Ich bin JHWH, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.“ (Ex 20,2; Deut 5,6) Die Befolgung des Dekalogs soll den Menschen frei atmen lassen und nicht einengen. Im fünften Buch Moses wird zudem die Verpflichtung zur Sabbat-

71

F. MUßNER, Theologie der Freiheit nach Paulus, Freiburg – Basel – Wien 1976, 14.

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ruhe mit der Sklavenzeit und mit der Befreiung begründet. So sollen die Menschen und sogar ihre Arbeitstiere nicht von der Arbeit geknechtet werden, sondern Freiraum haben. Die umfangreichen Weisungen im Alten Testament, die ja nicht nur das sittliche Leben bestimmten, sondern auch Anweisungen für die Gottesdienste und das religiöse Leben des Alltags waren und sogar Rechtsnormen einschlossen, bestimmten das gesamte Leben bis ins Einzelne. Sie gaben dem menschlichen Leben festen Halt bietende Strukturen und erleichterten es so. Noch wichtiger aber war, dass der Mensch nahezu auf Schritt und Tritt mit Gott verbunden war. Von der gehorsamen Befolgung der Weisungen erwartete man sodann auch das Wohl des Volkes und des Einzelnen. Die euphorische Rühmung der Weisungen beispielsweise in den Psalmen dürfte wohl kaum eine Übertreibung darstellen. Vielmehr gilt für die Dichter: „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.“ (Mt 12,34; Lutherübersetzung) Im 19. Psalm werden die Weisungen neben die Verlässlichkeit der Naturgesetze gestellt und – konkret – neben das Wunder des täglichen Sonnenaufgangs und des Laufes der Sonne: „Die Himmel rühmen die Herrlichkeit Gottes, vom Werk seiner Hände kündet das Firmament.“ Von der Tora heißt es sodann: Die Weisung des Herrn ist vollkommen, sie erquickt den Menschen. Das Gesetz des Herrn ist verlässlich, den Unwissenden macht es weise. Die Befehle des Herrn sind richtig, sie erfreuen das Herz; das Gebot des Herrn ist lauter, es erleuchtet die Augen. (Ps 19,8.9)

In der Spätzeit des Alten Testaments kamen aber auch kritische Fragen auf, wie es besonders im Buch Kohelet ansichtig ist. Die Erfahrung, dass Menschen, die sich nicht an die Weisungen hielten, im Wohlstand lebten und offensichtlich dabei glücklich waren, irritierte. Zudem hatten Kontakte zu Ausländern die Attraktivität eines anderen Lebensstiles bezeugt. Der griechische ‚way of life‘, wie er im ganzen Mittelmeerraum praktiziert wurde, imponierte im 3./2. Jahrhundert v. Chr. viele. Es mag aber erstaunen, dass sich sogar in der Bibel, eben bei Kohelet, dem ‚Prediger (Salomons)‘, diese Worte finden: 55

„Es kommt vor, dass ein gesetzestreuer Mensch trotz seiner Gesetzestreue elend endet, und es kommt vor, dass einer, der sich nicht um das Gesetz kümmert, trotz seines bösen Tuns ein langes Leben hat. Halte dich nicht zu streng an das Gesetz, und sei nicht maßlos in dem Erwerb von Wissen [beim Studium der Tora]! Warum solltest du dich selbst ruinieren? Entfern dich [andererseits] nicht zu weit vom Gesetz, und verharre nicht im Unwissen. Warum solltest du vor der Zeit sterben? Es ist am besten, wenn du an dem Einen festhältst, aber auch an dem Anderen nicht loslässt. Wer Gott fürchtet, wird sich in jedem Fall richtig verhalten.“ (Koh, 7,15–18)

Die Hauptsache ist also, dass der Mensch ein erfülltes und glückliches Leben führt. Zu diesem Zweck sind die Weisungen Gottes ja ursprünglich geschenkt worden. Unter veränderten Lebensumständen aber kann nach Kohelet die Tora nicht mehr die einzige Norm sein, an der sich der Mensch ausrichtet. Damit Leben gelingt, kann es nötig sein, sich teilweise von der Tora zu lösen, vorausgesetzt man bewahrt seinen Glauben an Gott. Letztlich ist es ja Gott, der alle Ereignisse bestimmt und dessen Handeln sich nicht nach bestimmten Regeln festlegen lässt. Ein ganz bestimmtes Verhalten des Menschen kann sein Wohlwollen und dementsprechend menschliches Wohlergehen nicht erzwingen. Andere Weisheitslehrer sahen freilich in der Übernahme fremder Lebensformen, wie sie in popularphilosophischen Anschauungen namentlich der Stoa formuliert wurden, große Gefahren für ein gelingendes Leben. Beispielsweise im Buch der Sprüche und bei Jesus Sirach wird herausgestellt, dass die Tora, von Mose gegeben, in einer Entsprechung zur Urordnung stehe, wie sie sich in der Schöpfung zeige. Für diese Weisheitslehrer stellt sich darum die Frage, wie denn ein Leben wirklich gelingen könne, wenn es in seiner Führung im Gegensatz zur göttlichen Urordnung stehe. Ein Nichtbefolgen der Tora ist so, als würde man die Gesetze der Natur missachten. Die modischen Lehren, wie sie allenthalben in Jerusalem zu hören waren, brandmarkten sie als Torheit: „Frau Torheit fiebert nach Verführung; das ist alles, was sie versteht.“ (Spr 9,13) Unter anderem auch in der Abwehr der fremden Einflüsse bildete sich schließlich im Mittelstand unter der Führung von Schriftgelehrten die neue geistliche Laienbewegung der Pharisäer, die von einer beeindruckenden Gesetzesfrömmigkeit geprägt war. Das geschriebene Gesetz wurde bei ihnen noch ergänzt durch eine mündliche Tora, so dass das Leben noch strenger reguliert wurde. Offenbar 56

aber war nun aber auch das Gesetz an den Rand der Lebbarkeit getrieben, so dass es, um praktikabel zu sein, der ständigen Auslegung bedurfte. Dies ist der Grund, warum Jesus, der ihnen doch innerlich nahestand, den Pharisäern des öfteren Heuchelei vorwarf. Auswege scheinen aber immer dann unvermeidbar, wenn Gesetze als gänzlich unverfügbar angesehen werden. An einem Beispiel aus dem gegenwärtigen orthodoxen Judentum sei dies verdeutlicht. Betrachtet man es als nicht erlaubt, am Sabbat Feuer anzufachen und analog dazu einen elektrischen Schalter zu betätigen, so bietet es sich an, über Nacht in der Diele das Licht anzulassen, so dass man nur die Zimmertür zu öffnen braucht, um bei Bedarf in der Schlafkammer etwas Licht zu haben. Solche Auswege sind, wie gesagt, nötig, will man der Befolgung der Gesetze keine Ausnahme zugestehen. Zumindest dem Buchstaben nach war auch die Gesetzespraxis der Pharisäer kompromisslos. Unnachgiebig und untadelig lebte nach eigener Aussage auch der Pharisäer Paulus, Lehrer des Gesetzes, nach den Weisungen im pharisäisch festgesetzten Umfang. Von jung auf war er dazu erzogen worden, sich in einem Leben nach den Gesetzen Gottes zu bewähren. Sie betrachtete er als auch ins Herz geschrieben und somit in Einklang stehend mit der menschlichen Natur und nicht als etwas fremd Bestimmendes. Dennoch können wir vielleicht aus der Schilderung in Röm 7 schließen, „daß Paulus in der Zeit vor seiner Berufung unter dem Gesetz auch gelitten hat. Dies würde – zumindest teilweise – zugleich erklären, weshalb Paulus nach seiner Berufung auch seinen früheren untadeligen Lebensstil unter dem Gesetz so extrem abwertete“, meint MEINRAD LIMBECK72 „Doch wie dem auch immer sei: Paulus muß seine Begegnung mit dem auferweckten Christus nicht zuletzt als eine große und anhaltende Befreiung erlebt haben (Gal 5,1), die verständlicherweise (mit der Zeit?) auch seine Einstellung zum Gesetz nicht unberührt lies. Und trotzdem dürften wir seinem dadurch veränderten Gesetzesverständnis kaum gerecht werden, erblickten wir in ihm nun doch nur eine Folge seines eigenen, früher unbewußten Gesetzeskonfliktes.“

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M. LIMBECK, Das Gesetz im Alten und Neuen Testament, Darmstadt 1997,118f. Eine Parallelität zum eigenen Weg vom orthodoxen zum liberalen Judentum sieht der amerikanische Theologie RICHARD L. RUBENSTEIN in seinem Buch mit dem bezeichnenden Titel: My Brother Paul, New York – Evanston – San Francisco – London, 1972.

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Ein entscheidendes Argument gegen das Gesetz ist, dass niemals ein Mensch das gesamte Gesetz hat erfüllen können. Unabweislich ist mit dem Gesetz, obwohl es den Willen Gottes kundtut und daher an und für sich heilig ist, eine Vergeblichkeitserfahrung verbunden. Paulus bringt seine eigene Erfahrung wie folgt zum Ausdruck: „Ich begreife mein Handeln nicht: Ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse. Wenn ich aber nicht das tue, was ich nicht will, erkenne ich an, dass das Gesetz gut ist. Dann aber bin nicht mehr ich es, der so handelt, sondern die in mir wohnende Sünde.“ (Röm 7,15–17) Von einer Verherrlichung menschlicher Willensfreiheit ist Paulus meilenweit entfernt, wenngleich er sie nicht grundsätzlich für unmöglich hält. Er klagt nicht nur über einen begrenzten Mangel an Selbstverfügung, sondern versteht die Unfreiheit viel radikaler. Es ist gerade die Existenz des schwarz auf weiß vor uns liegenden Gesetzes, die es dem Menschen unmöglich macht, seinem Tun sogar vor sich selbst den Anschein des rechten Verhaltens zu geben. „Diese Möglichkeit dem Menschen zu nehmen und die Sünde als Sünde erkennbar zu machen war (und ist) eine der gottgewollten positiven Funktionen des Gesetzes (Röm 3,20b)!“73 Mir geht hiernach gerade, wenn ich mir das Gesetz vor Augen halte, auf, wie wenig ich meiner selbst mächtig bin. Für ein Rühmen meiner selbst und das Gefühl der Selbstgerechtigkeit ist dann kein Platz. Dies sei besonders betont, weil oftmals vor allem in der protestantischen Auslegungspraxis behauptet wurde, das jüdische Gesetz führte und führe zur Selbstgerechtigkeit. Diese Meinung wird allerdings immer weniger vertreten. Auch vor seiner Bekehrung wird Paulus ebensowenig wie seine Zeitgenossen das Gesetz nicht deswegen eingehalten haben, um sich etwa selbst zu erlösen. Es kam schlicht und einfach darauf an, dem Willen Gottes zu entsprechen und Gott so zu dienen und mit ihm verbunden zu bleiben. Ja, die Erfahrung mit dem Gesetz und der eigenen Ohnmacht, es wirklich zu erfüllen, lässt für eine Selbstbehauptung vor Gott in der Tat keinen Raum. Den Blick dafür aber hat Paulus anscheinend so richtig bekommen, als ihm aufgegangen war, dass ein Gott wohlgefälliges Leben ein Geschenk eben dieses Gottes ist. Es ist Gnade. „Durch die Gnade Gottes bin ich, was ich bin.“ (1 Kor 15,10) Ein Leben nach dem Gesetz aber bot Paulus wie unzählig anderen unbestreitbar einen Halt im Leben, ein Geländer, an dem der Lebensweg sicher war. Die Aufgabe der Gesetzesbefolgung aber führt erst einmal in einen total dunklen Raum.

73

M. LIMBECK, Das Gesetz, 121.

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Dort aber braucht der Mensch Orientierungsmöglichkeiten. Paulus findet sie, wie er auch der Gemeinde in Philippi empfiehlt, in der Nachfolge der Gesinnung Christi: „Seid so gesinnt, wie es auch dem Leben in Christus Jesus entspricht.“ (Phil. 2,5) Um aufzuzeigen, was dieses Leben bestimmt, zitiert Paulus einen Christushymnus, in dem von der Entäußerung Jesu Christi, wörtlich. einer „Entleerung“ seines Selbst bis zum Kreuzestod die Rede ist. Die Erniedrigung aber findet ihr Ziel in der Erhöhung bei Gott. Es fällt auf, dass im frühesten paulinischen Brief, dem ersten an die Gemeinde in Thessaloniki, eine Polemik gegen das Gesetzt völlig fehlt. Mit Vehemenz und Leidenschaft hingegen redet Paulus von den Schattenseiten des Gesetzes im Galater- und Römerbrief. Dazu gab es offenkundig konkrete Anlässe. In den beiden Gemeinden nahmen fundamentalistische Gruppen aus dem Judentum eine einflussreiche Stellung ein. Sie waren bemüht, in den Gemeinden eine vollständige Gesetzestreue durchzusetzen, wohl aus Angst, die Solidarität mit dem Willen Gottes zu verlieren. Vielleicht aber steckte hinter ihren Aktivitäten auch etwas, das wir desgleichen heute bei christlichen Fundamentalisten finden. Das Leben ist einfacher, wenn man weiß, wo es entlanggeht. Eine mögliche Orientierungslosigkeit ist hingegen unerträglich. Einfacher und scheinbar sicherer aber ist, wenn der Lebensweg nicht erst gesucht werden muss und man im Einzelnen gesagt bekommt, in welche Richtung man zu gehen hat. Die Angst aber ist das Gegenteil des Vertrauens und der Feind des Glaubens. Darum musste Paulus die „unvernünftigen Galater“ (Gal 3,1) rügen, dass sie das Vertrauen in die Führung des Geistes Gottes zugunsten einer Gesetzesfrömmigkeit aufzugeben bereit waren. Die Übernahme solcher Gesetzesfrömmigkeit durch die aus dem Heidentum stammenden Galater sieht Paulus interessanterweise in Parallelität zu ihrem früheren heidnischen Gottesdienst, zu dem auch die sklavische Verehrung von ‚Weltelementen‘ gehörte. Die judenchristlichen Fundamentalisten verführten sie mithin zu einem Rückfall. Somit ist für Paulus das Gesetz kein speziell jüdisches Thema, das für Christen mit der Ablösung vom Judentum geschichtlich überholt ist, sondern ein allgemeinmenschliches Problem. „Das Gesetz ist also für Paulus nicht eine für den Glaubenden ein für alle Mal erledigte Angelegenheit, sondern bleibende unmögliche Möglichkeit. Von da her wird ansatzweise bei Paulus ‚Gesetz‘ zum allgemein-menschlichen Phänomen, und das mosaische Gesetz Gottes kann über seine historische Gestalt hinaus andere Ausdrucksformen in anderen Kulturbereichen gewinnen. 59

Damit stehen wir vor der Frage nach der Übersetzung der paulinischen Gesetzesdialektik in eine andere kulturgeschichtliche Situation. Paulus selbst hat durch seine Verallgemeinerungen diese Aufgabe gestellt.“ (U. LUTZ)74 Auch deshalb ist es gerechtfertigt, dass wir in diesem Zusammenhang die Gesetzesproblematik bei Paulus dargestellt haben. Wie die angesprochene Problematik auch in unseren Staat und unsere Gesellschaft übertragen werden kann, zeigen unbestreitbare Erfahrungen.75 Die Heilserfahrung als Befreiung vom Gesetz, von der Paulus spricht, zeigt gerade in der heutigen Gesellschaft, die man gemeinhin für eine Leistungsgesellschaft hält, ihre Relevanz. Die Freiheit vom Gesetz bedeutet indessen auch Befreiung vom Leisten-Müssen. Damit wird heute freilich nicht einer Spaßgesellschaft, die sich zum Gegenpol einer Leistungsgesellschaft entwickelt, das Wort geredet. In der Wahrnehmung von Verantwortung dem Anderen gegenüber, gewinnt der Mensch, wie im nächsten Kapitel ausgeführt, gerade seine Würde. Erbrachte Leistung trägt zudem viel dazu bei, dass der Mensch zur Annahme seiner selbst fähig wird. Sie muss nicht unbedingt zu überheblichem Stolz führen. Verderblich aber ist es, wenn der Mensch im Zwiespalt zwischen Leisten-Müssen und Nicht-Leisten-Können steht. Dabei wird man zuerst, aber nicht nur, an Behinderte, Kranke und Alte denken. Da es bereits möglich ist, eine genetische Beeinträchtigung der Gesundheit schon im embryonalen Frühstadium zu erkennen und Behinderte zu selektieren, wird in der Bevölkerung die Überzeugung wachsen, dass dies auch geschehen müsse. Eltern von behinderten Kindern – so steht zu befürchten – werden in der öffentlichen Meinung unter Druck gesetzt werden, da sie leistungsunfähige und darum die Allgemeinheit belastende Wesen nicht verhindert haben, obgleich Behinderungen meist nicht genetisch bedingt sind, sondern durch Komplikationen während der Geburt und später durch Unfall entstehen. Wenngleich viele Ethiker heute ‚utilitaristisch‘, d. h. am Nutzen der meisten orientiert sind, so denkt kaum jemand von ihnen unmenschlich an den größten wirtschaftlichen Nutzen. Dies könnte sich aber ändern. Angesichts möglicher Stimmungen gegen Behinderungen, die sich zu Überzeugungen verfestigen

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75

U. LUTZ / R. SMEND, Das Gesetz (Kohlhammer-Taschenbücher – Biblische Konfrontationen 1015), Stuttgart 1981, 111, zit. n. M. LIMBECK, Das Gesetz, 225. Vgl. dazu auch M. LIMBECK, Das Gesetz, 123.

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können, muss es bedenklich stimmen, wenn NIDA-RÜMELIN mit seiner Einschätzung ethischer Theorien Recht haben sollte: „Theorien stützen sich auf gemeinsame Überzeugungen und sind von diesen abhängig, auch wenn sie, auf diese rückwirkend, sie am Ende modifizieren. Dies gilt für jede Theorie, auch für ethische Theorien.“76 Sollte am Ende alles leistungsunfähige menschliche Leben dann jedes Lebensrecht verloren haben? Der Maßstab der paulinischen Freiheit vom LeistenMüssen spielt aber nicht nur bei den gewichtigen bioethischen Fragen der Gegenwart eine Rolle. Im ganz alltäglichen Leben des Christen kann das Prinzip, nicht immer leisten zu müssen, zu einer Entlastung und zu großer Gelassenheit führen. Beispielsweise bei jedem Engagement für die großen sozial-politischen Aufgaben, wie Arbeitslosigkeit, Ökologie, Frieden und Entwicklungshilfe, muss der Christ nicht mit Verbissenheit kämpfen. Ja, er muss sich dafür einsetzen. Er kann sich aber engagieren, ohne den zwanghaften Gedanken zu hegen, es komme auf ihn allein an, und ohne Misserfolge als Scheitern des Ganzen zu sehen. Der paulinische Freiheitsgedanke steht in einem endzeitlichen Zusammenhang. Dementsprechend kann der Christ all sein entschiedenes Tun unter den Vorbehalt stellen, dass nicht er das Reich Gottes heraufzuführen habe und dass die Vollendung seines Bemühens nicht von ihm selbst, sondern von Gott erwartet werden darf. Ein solches Vertrauen ermutigt gerade den Einsatz in der Problemlösung, da nicht erwartet wird, dass alles von ihm geleistet werden muss und Frustrationserfahrungen nicht vorprogrammiert sind. Diese Ge-Lassenheit, bei der wir uns um die Dinge der Welt kümmern und sie zugleich gelassen betrachten, wie wir es später bei MEISTER ECKHART ansprechen werden, führt bei Paulus allgemein zu einer Freiheit von der Existenzsorge und Existenzangst. So fordert der Apostel die Christen auf: „Sorgt euch um nichts!“ (Phil 4,6) Oder er sagt: „Ich möchte, dass ihr ohne Sorge seid.“ (1 Kor 7,32). Wie ist diese Freiheit, zu der uns Christus frei gemacht hat, zu verstehen? Mit den Worten FRANZ MUßNERS ausgedrückt, kann man sagen: „Sorglosigkeit meint Freiheit von angstvoller Sorge. Von dieser soll der Christ sich freihalten, was nicht bedeutet, daß nicht auch er arbeiten und sein Brot verdienen muss, wie es der

76

J. NIDA-RÜMELIN, Ethische Begründungen. Ein kritischer Überblick, in: Ethica. Wissenschaft und Verantwortung 6, 1998, 1, 7–36, z. St. 29.

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Apostel selber tut […] Aber er soll seine ‚Wünsche‘ nach Phil 4,6 vor Gott ‚mit Danksagung‘ tragen, dann wird er von der ängstlichen Sorge um das Irdische befreit werden.“ Im Gebet gewinnt der Beter „so Freiheit von sich selbst und der Sorge um sich selbst, und der Friede Gottes kann in sein Herz einziehen (vgl. Phil 4,7). Er wird frei für das ‚Sorgen füreinander‘ (1 Kor 12,25), d. h. für die Liebe.“77

1.2 Der Erbe Martin Luther: Die Freiheit eines Christen Durch die Lektüre der paulinischen Briefe erlebt Luther eine Lebenswende hin zu einem von Gott selbst eröffneten Freisein vom Leistungsdruck durch religiöse Forderungen zu Frömmigkeitsübungen und auch im Verhalten zu anderen Menschen. Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Mit dieser existentiellen Frage ist Luther bei seiner Lektüre des Römerbriefs auf die erlösende Antwort gestoßen: allein durch die gnädige Zuwendung Gottes selbst. Nicht auf unser Tun, sondern auf die göttliche Zusage kommt es an: „Willst du alle Gebote erfüllen, deine böse Begierde und Sünde loswerden, wie die Gebote erzwingen und fordern, steh auf, glaube an Christus, in dem ich dir alle Gnade, Gerechtigkeit, Friede und Freiheit zusage. Glaubst du, so hast du; glaubst du nicht, so hast du nicht.“78 Nun kennt die Heilige Schrift, besonders das Alte Testament viele Gebote und Vorschriften. „Die Gebote lehren und schreiben uns mancherlei gute Werke vor; nur sind sie damit noch nicht geschehen. Sie geben wohl Anweisung […], geben aber keine Stärke dazu. Darum sind sie nur dazu verordnet, dass der Mensch daran sein Unvermögen zum Guten sieht und an sich selbst zu verzweifeln lernt.“ 79 Hat der Christ genug an seinem Glauben, so ist er von der Erfüllung aller Gebote entbunden. „Ist er entbunden, so ist er gewiss frei.“80

77 78

79 80

F. MUSSNER, Theologie der Freiheit, 42. M. LUTHER, Von der Freiheit eines Christenmenschen, in: K. Bornkamm/G. Ebeling (Hg.): Martin Luther. Ausgewählte Schriften, Bd. 1 [WA 7,20–38], Frankfurt a. M. 1982, 243. Ebd. Ebd. 244.

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Die Freiheit, von der Luther hier spricht, ist die Freiheit des Gewissens. Sie entbindet aber keineswegs vom Handeln. Darum kann Luther sagen, dass die guten Werke zu verwerfen und zugleich nicht zu verwerfen sind. Zu verwerfen sind sie, sofern wir durch gute Werke „fromm und selig werden wollen“.81 Dann nämlich „schmähen sie die Gnade Gottes, die allein durch den Glauben fromm und selig macht.“82 Statt auf den Gewinn der eigenen Seligkeit zu blicken, kommt es darauf an, den Mitmenschen zu dienen und nützlich zu sein. Als ein Exempel, wie dem Nächsten zu dienen ist, führt Luther mit Paulus den Christushymnus im Philipperbrief an. Danach hat Christus sich seines Seins und Wesens entäußert und sich, obwohl er frei war, um uns zu dienen, wie ein Knecht verhalten. Seinem Beispiel entsprechend fließt auch für uns „aus dem Glauben die Liebe und die Lust zu Gott und aus der Liebe ein freies, williges, fröhliches Leben, dem Nächsten umsonst zu dienen.“83 Die Liebe zum Nächsten braucht keine Leitliniern und Vorschriften. Sie weiß, was der Nächste benötigt und was ihm zum Besten dient. Mit Paulus hält Luther daran fest, das nicht nur dem unmittelbaren Nächsten, sondern auch der jeweiligen Obrigkeit zu dienen sei, und zwar nicht, um verdienstvoll die ewige Seligkeit zu erlangen, sondern um den Willen der weltlichen Gewalt „aus Liebe und Freiheit zu tun“.84 Um den Gehorsam gegenüber der staatlichen Obrigkeit einzuschärfen, der sich bekanntlich schon zu Lebzeiten Luthers als verhängnisvoll erwiesen hat, muss Luther eine Inkonsequenz in Kauf nehmen. Betonte Luther, dass die Liebe zum Nächsten (im Sinne Augustins) ohne Vorschriften wisse, was zu tun und wie dem Nächsten zu dienen sei, so soll der Mensch im Falle der weltlichen und auch der kirchlichen Gewalt den Anordnungen der Obrigkeit, eben äußeren Geboten, „aus Liebe und Freiheit“ folgen. Dies sei geboten, auch wenn die Anweisungen eines Tyrannen unrechtmäßig seien, sofern sie sich nur nicht gegen Gott richteten. Auf die politischen Auswirkungen möchte ich hier nicht näher eingehen. Seine Ausführungen in dieser Schrift fasst Luther mit den Worten zusammen, dass „ein Christenmensch nicht in sich selbst

81 82 83 84

Ebd. 257. Ebd. Ebd. 260. Ebd. 261.

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lebt, sondern in Christus und in seinem Nächsten; in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe.“85

2. Die allmähliche Eindringung des Ideals der Selbstbestimmung in das kollektive Bewusstsein 2.1 Im Überschwang des Freiheitsbewusstseins: Giovanni Pico (Conte) della Mirandola Während die Propheten des Alten Testaments sich in der Regel an das gesamte Volk wandten, richtete sich das Christentum mit seinem Umkehrruf an die je Einzelnen, deren Entscheidung in Freiheit zu treffen waren. Dementsprechend musste, wie aufgezeigt, das Thema Freiheit die Gedankenwelt des Paulus aus Tarsus wesentlich prägen. Die menschliche Freiheit wurde dann auch durch die griechischen Kirchenväter thematisiert, wenngleich schon verhaltender. Das Hochmittelalter sah die Welt charakteristischerweise in einem festen Ordnungsgefüge, in dem alles einen festen Platz und gesellschaftlich einen bestimmten Stand hatte. Darin hatte auch die menschliche Freiheit ihren zugewiesenen Ort und erfuhr darin auch ihre Begrenzung. Mit dem Herbst des Mittelalters im 15. Jahrhundert fand jedoch eine Bewusstseinsänderung statt. Der Mensch nimmt nicht einfach nur teil am Gefüge dieser Welt, sondern stellt sich den Dingen gegenüber, wie ich im ersten Kapitel dargelegt habe. Die Dinge treten dem Menschen als Objekte entgegen. Es geschieht eine Objektivierung der Wirklichkeit. Zugleich wird sich der Mensch seines Ichs bewusst, das den Objekten gegenübersteht. Nicht nur das! Er vermag nun ausdrücklich auch sich selbst gegenüber zu treten und entdeckt ganz bewusst seine eigene Körperlichkeit. Auch

85

Ebd. 263.

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die Anfänge der Psychologie lassen sich hier ausmachen. 86 Damit wird der Mensch sich auch des Wertes seiner Freiheit bewusst. Die neue Haltung zur Freiheit zeigt sich wie bei keinem Anderen bei dem jungen gebildeten italienischen Grafen GIOVANNI PICCO DELLA MIRANDOLA (1463– 1494). Als ein herausragendes Beispiel für die Literatur des Humanismus der Renaissance ist seine Rede Oratio de hominis dignitate87, die wegen äußerer Umstände freilich niemals gehalten oder von ihm selbst veröffentlicht wurde. Sie hat aber inhaltlich für die Folgezeit Bedeutung erlangt und gilt geradezu als das Credo des Renaissancehumanismus. Stellt sie doch das theologische Denkschema des Mittelalters geradezu auf den Kopf. Für das scholastische Denken fließen alle Eigenschaften, alles Tun und Verhalten aus der von Geburt vorgegebenen Natur eines Lebewesens (nasci , das der Natur zugrunde liegende lat. Verb, bedeutet geboren werden!). PICO aber denkt in seiner Deutung der biblischen Schöpfungserzählungen die menschliche Natur als auftragsgemäß vom Menschen selber zu gestalten. Konnte sich der mittelalterliche Mensch noch als Mitschöpfer Gottes begreifen, so wird der Renaissancemensch uneingeschränkt zum Schöpfer. Dies geschieht bei PICO freilich als Auftrag des göttlichen Schöpfers. Der hat allen Geschöpfen ihre Natur und ihren Ort zugewiesen. Von Natur aus sind sie mit Eigenschaften ausgestattet, die ihren Handlungsspielraum festlegen. Nicht so der Mensch. Als letzter geschaffen, besitzt er keinen ihm eigenen Lebensraum und und keine ihm wesenseigenen Eigenschaften. Man könnte von einem physiologischen Mängelwesen sprechen. Er darf jedoch – das ist sein Vorzug – seine Natur selber bestimmen. Die Ansprache des Schöpfers an den Menschen, den er nach Genesis 1,27 als sein Bild erschaffen hat, legt PICO folgendermaßen in gänzlich freier Ausführung dar: „Wir haben dir keinen bestimmten Aufenthaltsort noch ein eigenes Gesicht noch irgendeine Gabe verliehen, o Adam, damit du einen Aufenthaltsort wo auch immer, jedes beliebige Gesicht und alle von dir gewünschten Gaben auch nach deinem Willen und nach deiner eigenen Meinung haben

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87

Vgl. R. VAN DÜLMEN, Die Entdeckung des Individuums 1500–1800, Frankfurt a. M. 1997, 70–79. G. PICO DELLA MIRANDOLA, De hominis dignitate, E. Garin (Hg.), Firenze 1942.

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und besitzen mögest. Den übrigen Wesen ist ihre Natur im Rahmen der von uns vorgeschriebenen Gesetze eingeschränkt. Du bist durch keinerlei einengende Schranken gehemmt, du sollst vielmehr deine Natur, die ich dir in die Hand gegeben habe, nach deinem eigenen Urteil festlegen. Ich habe dich mitten in die Welt gestellt, damit du dich von dort aus zutreffender umsehen kannst, was es in der Welt gibt. Wir haben dich weder himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du dir selbst in freier Entscheidung und zu deiner Ehre sozusagen als Bildner und Erbauer eine Gestalt gäbest, wie du magst. Du könntest entarten und dich zum Tier erniedrigen oder aber dich nach dem Urteil deines Geistes zum Göttlichen erheben und so erschaffen.“88

Die Natur des Menschen ist keineswegs durch seine Entscheidung ein für alle Mal festgelegt. Der Mensch kann sich, unzufrieden mit der Rolle eines Geschöpfes, schließlich mit der Gottheit selbst zu vereinen bemühen. Bemerkenswert ist, dass PICO diese Wahlfreiheit im Schöpfungsauftrag an den Menschen verankert, den Sündenfallmythos aber nicht einmal erwähnt. Die Willensfreiheit bleibt damit uneingeschränkt bestehen. Diese Auffassung teilen auch alle anderen Renaissancephilosophen. Die Verteidigung des freien Willens bestimmte auch die kurze briefliche Auseinandersetzung des ERASMUS VON ROTTERDAM mit LUTHER. Der Wille des Menschen ist nach LUTHER durch den Sündenfall verderbt und nur durch die Gnade Gottes, die im Glauben erlangt werden kann, heilbar. Der unerschütterliche Grund für den freien Willen besteht nach PICO gerade darin, dass der Mensch als Bild Gottes geschaffen worden ist. Darum ist der Mensch bleibend befähigt, sich selbst zu gestalten. Diese Befähigung lässt sich zu Recht als das Vermögen zur Selbstbestimmung bezeichnen, wenngleich dieses Wort bei PICO noch nicht gebraucht wird und wohl erstmals bei IMMANUEL KANT vorkommt. In der wunderbaren Gegebenheit, als Bild Gottes geschaffen zu sein, liegt nach PICO gerade die Würde des Menschen begründet. Die Freiheit ist mithin ein Zeichen der Würde, keineswegs eine belastende Bürde. Aus diesem Gedankengang heraus wird auch in der Folgezeit Selbstbestimmung und Menschenwürde im engen Zusammenhang gesehen.

88

Ebd. 104, übers. K.R.

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Wenngleich die Richtung der Selbstbestimmung nach PICO nicht festgelegt ist, so sind die Möglichkeiten selbstverständlich nicht gleichwertig. Der Mensch hat in Verantwortung die richtige Entscheidung zu treffen. Die Verantwortung aber kann nur wahrgenommen werden durch das Urteil des Geistes. Dafür muss der Mensch immerzu seine Bildung vertiefen und seine Einsichtsfähigkeit schärfen. Die richtige Entscheidung setzt für PICO freilich ein nötiges Wissen voraus. Ja, der hochgebildete Graf aus dem italienischen Mirandola wertet den Bildungsstand eines Menschen höher ein als den herkunftsbedingten Adelsstand. Die Bildung war mittlerweile keineswegs elitär. Im aufstrebenden Bürgertum (in allen europäischen Gesellschaften) entstand regelrecht eine Kultur des Lesens und Disputierens.89 Und die Gedanken PICOS erlebten einen Widerhall, weil sie auf eine entsprechende allgemeine Stimmungslage trafen. Die Frage, ob seine Gedanken wirklich originär oder etwa ein Rückgriff auf antike Vorbilder seien, erübrigen sich in diesem Zusammenhang.90 Entscheidend ist, dass PICO sie zu einer Zeit äußerte, in der ein allgemeiner Bewusstseinswandel stattfand. Die neue Bewusstseinslage bot den Resonanzboden für seine Gedanken.

2.2 Die ‚Maxime‘ der Selbstbestimmung im 18. Jahrhundert Eine Resonanz seiner Idee der Selbstbestimmung findet sich, ob von ihm abhängig oder auch nicht, bei allen Philosophen der Folgezeit. Den stärksten Widerhall erfuhr der Gedanke im 18. Jahrhundert namentlich bei IMMANUEL KANT mit seiner Forderung zum Selbstdenken. „Selbstdenken heißt den obersten Probierstein

89 90

Vgl. R. VAN DÜLMEN, Die Entdeckung des Individuums, a.a.O., 148. TH. KOBUSCH unternimmt es in einem Beitrag zu PICO DELLA MIRANDOLA, die Eigenständigkeit des Willens gegenüber der Natur oder dem Wesen bei Origines und dessen Einfluss auf PICO aufzuzeigen: Die Würde des Menschen – ein Erbe der christlichen Philosophie, in: R. Gröschner/O.L. Lembcke (Hg.), Des Menschen Würde – entdeckt und erfunden im Humanismus der italienischen Renaissance, Tübingen 2008, 234– 2015. V. GERHARDT stellt dar, dass für PICOS Schöfungsgeschichte der Mythos, den PLATON im Protagoras erzählt, Pate stand. Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 2. erw. Aufl. 2018, 136.

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der Wahrheit in sich selbst (d.i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung. […] Sich seiner eigenen Vernunft bedienen will nichts weiter sagen, als bei all dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl tunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatz seines Vernunftgebrauchs zu machen?“, heißt es in der Kant’schen Schrift „Was heißt: sich im Denken orientieren?“91 Selbstdenken bedeutet, das eigene Urteilen und Handeln nicht mehr an traditionell vorgegebene Normen zu orientieren. Vielmehr kommt es darauf an, durch die Tätigkeit der eigenen Vernunft selbst neue Normen zu entwickeln. Insofern ist Selbstbestimmung bei KANT letztlich identisch mit der Forderung nach Autonomie. Ende des 19. Jahrhundert. findet die Selbstbestimmung zunehmend Eingang in das Rechtswesen. Mittlerweile haben auch die Vereinten Nationen die Selbstbestimmung unter ihre Ziele aufgenommen. Allerdings fehlt ihr die bindende Kraft für die Mitgliedstaaten; ihre Verletzung ist nicht sanktionsfähig. Die Selbstbestimmung ist ein Grundsatz, nicht aber ein Rechtssatz. Die Schwierigkeit der Ahndung besteht darin, dass durch die Selbstbestimmung „primär innerstaatliche Probleme berührt sind; von außen ist schwer über Selbstverwaltungsfragen im Innern eines souveränen Staates zu entscheiden. […] Hinzu kommt die politische Dynamik des S[elbstbestimmungs]-Anspruchs, der sich auch von nicht staatsfähigen Minderheiten erheben läßt. Nachdem die Vereinten Nationen die S[elbstbestimmung] auch als individuelles Menschenrecht anerkannt und damit auch den moralisch-praktischen Ursprung des Begriffs rechtsfähig gemacht haben, ist die S. gleichermaßen ein völkerrechtliches und ein verfassungsrechtliches Grundprinzip.“ (V. GERHARDT) 92 Die Selbstbestimmung ist jedenfalls mittlerweile zu einem Grundprinzip einer philosophischen Ethik geworden. Das heißt allerdings nicht, dass allein mit dem Aufweis einer selbstbestimmten Entscheidung eine Handlung schon als ethisch relevant gerechtfertigt wäre. Vielmehr bedarf es der Abwägung konkurrierender Ansprüche. Als aktuelle Probleme sind heute besonders Fragen der 91

92

I. KANT, Was heißt: sich im Denken orientiren, Werke Bd. IV (Schriften 1783–1788), Berlin 1913, 349–366., Anm. 7. V. GERHARDT, Art. Selbstbestimmung, in: J. Ritter u.a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, 345, Darmstadt 2007.

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Sexualität und der Schwangerschaft bzw. des Schwangerschaftsabbruchs sowie der Sterbehilfe zu nennen. Das Problem bringt K. HILPERT folgendermaßen auf den Punkt: Das Leitwort, das in den aktuellen Debatten um Sterbehilfe am häufigsten in Anspruch genommen wird, ist das der Autonomie bzw. Selbstbestimmung. Auch die vier Entwürfe für ein diesbezügliches Gesetz, die dem Deutschen Bundestag derzeit vorliegen, habe diese Forderung nach Selbstbestimmung aufgenommen und machen sie sich zu eigen, verknüpfen damit aber durchaus unterschiedliche Schlussfolgerungen. Autonomie gilt in der Medizinethik international als ein zentrales Prinzip für die Beurteilung der Einzelfälle und spielt auch im Medizinrecht und in der Rechtsprechung über die Bewertung von Therapieentscheidungen eine wichtige Rolle. Dabei handelt es sich aber weder von seiner Herkunft noch von seiner Geltung her um ein spezifisch auf medizinische Probleme fokussiertes Prinzip, sondern um eines, das ein wichtiges Element des normativen Selbstverständnisses des Menschen in der Moderne insgesamt zum Ausdruck bringt. Es wird für alle Lebensbereiche und -vollzüge bis hin zur Partnerschaft und Sexualität geltend gemacht. Es wäre also eine verkürzte Wahrnehmung, würde man die Forderung nach Autonomie und Selbstbestimmung isoliert in Bezug auf Krankheit und Tod erörtern, ohne zu berücksichtigen, dass es auch um eine normative Orientierung für die gesamte Lebensführung geht, die mit der Forderung verknüpft wird, auch das Sterben solle in der Konsequenz und Weiterführung dessen liegen, wie ein Mensch sein Leben bisher geführt hat, und nicht einen Ausnahmezustand darstellen, in dem alles preisgegeben wird, was für die Gestaltung der Biographie bisher maßgeblich war.“93

Autonomie und Selbstbestimmung erfahren allerdings in der Sterbehilfe eine gewisse Bedeutungsverschiebung: Hier geht es ja um die Willensbildung von Menschen, die von schwerer Krankheit gezeichnet sind. In diesem Zustand kann von 93

K. HILPERT, Schlüsselbegriffe und Argumentationsfiguren in der aktuellen Debatte um Sterbehilfe, in: K. Hilpert/J. Sautermeister (Hg.), Selbstbestimmung auch im Sterben? Streit um den assistierten Suizid, 97–114, Freiburg 2015, Zit. 99f.

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Autonomie in vollem Umfang selten gesprochen werden. Im Verlauf der Krankheit und erst recht in einem Sterbeprozess kann sie noch stärker beeinträchtigt werden oder weitgehend verloren gehen. Wenn dennoch bis zuletzt von Selbstbestimmung die Rede ist, so könnte dabei vor allem das Unbehagen gemeint sein, dass letztlich die medizinisch-technische Rationalität das Handeln bestimmt. Als entscheidend für die Erwägung der Beendigung des eigenen Lebens muss die aktuelle Fähigkeit des Schwerkranken angesehen werden, seine Situation und die Konsequenzen seines Handelns realistisch einschätzen zu können. „Diese Gleichzeitigkeit von Freiheit, Verantwortungsübernahme und voller Zurechenbarkeit wird in der Sprache des Rechts […] durch den Begriff der Freiverantwortlichkeit bezeichnet. 94 Diese kann natürlich nicht aus einer einmaligen Äußerung erkundet werden; sie muss sich vielmehr dauerhaft im Laufe eines längeren Geschehens zeigen.

3. Authentisch leben – mit Blick über sich hinaus Das Ideal der Selbstbestimmung ist mittlerweile nicht nur ein Prinzip des moralischen Handelns und des Rechts, sondern bestimmt mehr oder minder die gesamte Lebensführung. Es hat sich so etwas wie eine Kultur der Authentizität herausgebildet, die der kanadische Philosoph CHARLES TAYLOR in seinem Buch „Das Unbehagen an der Moderne“ 95 diskutiert. Im Begriff der Authentizität schwingt hier noch die Grundbedeutung aus dem Griechischen mit, nach der es auf das Hervorbringen aus sich selbst ankommt. Insofern ist er mit dem der Selbstbestimmung eng verwandt. „Die Entwicklung des Authentizitätsbegriffs läßt sich so beschreiben, daß man ihren Ausgangspunkt in der im 18. Jahrhundert aufkommenden Vorstellung erblickt, die Menschen seien mit einem moralischen Sinn ausgestattet, einem intuitiven Gefühl für das, was richtig und was falsch ist.“96 Die Entwicklung bringt TAYLOR mit HERDER in Verbindung, der zwar nicht

94

Ebd. 103.

95

CH. TAYLOR, Das Unbehagen an der Moderne (The Malaise of Modernity, 1991), übers. von J. Schulte, Frankfurt a. M. 1995. Ebd. 34.

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ihr eigentliche Urheber sei, aber die Stimmung seiner Zeit gut artikuliere. Er zitiert: „Jeder Mensch hat ein eigenes Maß, gleichsam eine eigene Stimmung aller seiner sinnlichen Gefühle zueinander.“97 Wenn jeder Mensch mithin seine eigene originelle Weise Mensch zu sein habe, dann sei ich dazu aufgefordert, mein Leben in meiner Weise zu führen, ohne das Leben einer anderen Person nachzuahmen. Der Treue zu sich selbst, werde so besondere Wichtigkeit verliehen. „Wenn ich mir nicht treu bleibe, so verfehle ich den Sinn meines Lebens; mir entgeht, was das Menschsein für mich bedeutet. Dies ist das einflussreiche moralische Ideal, wie es uns überliefert ist.“98 Dabei ist die innere Stimme wichtig; sie gibt an, welche Handlung die richtige ist. Die Sicherheit, von der hier von der inneren Stimme gesprochen wird, ist heute geschwunden. In manchen heutigen Formen der Authentizitätskultur geschieht geradezu ein Abgleiten in einen Subjektivismus. Der Akzent wird darin von den Inhalten auf die Wahl als solche gelegt. Alle inhaltlichen Alternativen seien gleichwertig. Sie bekämen gerade dadurch ihren Wert, dass sie frei und selbstbestimmt gewählt würden.99 Dies führt zu einem „milden Relativismus“ als moralischem Prinzip, wie TAYLOR es nennt: Keiner habe dabei das Recht, meine Werte und Entscheidungen oder die des Anderen zu bemängeln. Solche ichbezogenen Formen der Authentizitätskultur aber führen in zweierlei Hinsicht auf Abwege. „Sie neigen dazu, das Individuum in den Vorgang der Erfüllung zu stellen, wodurch seine Bindungen zu etwas rein Instrumentellem werden. Mit anderen Worten, sie drängen in Richtung eines sozialen Atomismus.“ Sodann bewirken sie eine Vernachlässigung der Forderungen, „die aus Bereichen jenseits unserer eigenen Wünsche oder Bestrebungen stammen, einerlei, ob es sich um Geschichte, Überlieferung, Gesellschaft, Natur oder Gott handelt.“100 Können wir jedoch denen, die in der Kultur der Authentizität solchermaßen aufgehen, irgendwelche Vorhaltungen machen, fragt TAYLOR. „Kann man berechtigte Gründe nennen, wenn man sich mit denen auseinandersetzt, die am milden

97

98 99 100

J. G. HERDER, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: B. L. Suphan (Hg.), Sämtliche Werke, Bd. 13, Berlin 1877–1887, 291. TAYLOR, a.a.O. 38. Ebd. 47. Ebd. 68.

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Relativismus Geschmack gefunden haben oder keine höhere Loyalitätsbeziehung als ihre eigene Weiterentwicklung gelten lassen?“ TAYLOR verweist darauf, dass unser menschliches Leben grundlegend einen dialogischen Charakter hat. Durch die Sprache (im weitesten Sinn) kommt der Mensch zum Verständnis seiner selbst und wird durch sie fähig, die eigene Identität zu begreifen. Dies sei kein Faktor, der die Genese betreffe und später außer Acht gelassen werden könne. Die Bestimmung der eigenen Identität „definieren wir stets im Dialog und manchmal in streitbarer Auseinandersetzung mit den Identitäten, die die signifikanten anderen in uns erkennen wollen.“101 In der Natur der Sache liege es, dass es so etwas „wie eine monologisch aufgefasste Erzeugung im Inneren“ gar nicht geben könne. „Gemeint ist, dass ich meine Identität durch den teils offenen, teils verinnerlichten Dialog mit anderen aushandle.“ Darum gewinnt auch die Anerkennung durch andere Bedeutsamkeit. „Meine eigene Identität ist entscheidend abhängig von meinen dialogischen Beziehungen zu anderen.“102 Darum könne es kein authentisches Leben in der isolierten Fokussierung auf die eigene Weiterentwicklung geben. Diesen Gedankengang möchte ich weiterführen durch ein Beispiel aus der deutschen Literatur, und zwar aus dem Werk des Schriftstellers MAX FRISCH.103 Die Identitätsproblematik ist für FRISCH das Thema, das sein ganzes Werk durchzieht. Dabei wendet sich FRISCH gegen ein Verhalten des Menschen, von sich und vom Anderen ein Bild machen zu wollen. Er hält dies für genauso verwerflich wie den Versuch, sich von Gott ein Bild zu machen. Bilder legen fest. Sich von einem Anderen ein Bild zu machen, bedeutet, ihn als jemanden ganz Bestimmten haben zu wollen, als jemanden, der er selber gar nicht ist. Andererseits bedeutet dies für FRISCH nicht, dass der oder die andere gesichtslos bleiben müssten. Ganz im Gegenteil beklagt FRISCH die Antlitzlosigkeit des Menschen in der Gegenwart, wie sie sich gerade in der Überfülle oberflächlicher Abbilder zeigt, die das wahre Antlitz verdecken. Wie aber kann die Antlitzlosigkeit überwunden werden? Wie FRISCH in seinem Roman „Stiller“104 darlegt, kann dies nur durch wirkliche menschliche

101 102 103

104

Ebd. 42. Ebd., Vgl. F. A. LUBICH, Max Frisch: „Stiller“, „Homo Faber“ und „Mein Name sei Gantenbein“, München 31996. M. FRISCH, Stiller, Frankfurt a. M.1954.

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Begegnungen geschehen. Die Voraussetzung dafür, dass solche Begegnungen gelingen können, bleibt aber der strenge Verzicht, uns selbst und andere durch ein selbst gemachtes Bild dingfest zu machen. Durch eine offene Begegnung, in der nichts festgelegt ist, kann ich meine eigene Identität erfahren. Dazu muss ich aber aufhören, jemand Bestimmtes sein und den anderen als einen Bestimmten haben zu wollen. Wie schwierig aber eine solche Haltung ist, scheint sich in FRISCHS Roman „Mein Name sei Gantenbein“ zu erweisen. Im Mittelpunkt steht ein Mensch auf der Suche nach seiner Identität, der verschiedene Modelle von Lebenssituationen durchspielt, in denen er sich möglicherweise finden kann und die er in seinem eigenen Leben unterbringen kann. Es sind aber keine lebendigen Menschen, denen er begegnet; vielmehr erfindet er Lebensgeschichten, um auszuloten, ob sie zu ihm passen könnten. Nach verschiedenen Erlebnissen, die er erdenkt und Revue passieren lässt, meint er schließlich, dass die Geschichte des Herrn Gantenbein zu ihm passe. Darum beschließt er: „Mein Name sei Gantenbein.“ Obwohl viele Unterund Obertöne mitschwingen, die hörbar gemacht werden müssten, um dem Dichter gerecht zu werden, möchte ich mich auf einen Gedanken in diesem Roman beschränken. Anscheinend ist FRISCH nun davon überzeugt, dass die Offenheit einer Begegnung, von der im Stiller die Rede war, so nicht möglich ist oder kaum angestrebt wird. Die Geschichten, die der Mann im Gantenbein durchtestet, beschreiben ja nicht die Erlebnisse wirklicher Menschen, denen er unbefangen und aufgeschlossen begegnen kann. Er selbst legt den Geschichten sozusagen seine Perspektive an, macht sich selbst zum Kriterium dafür, ob sie für ihn überhaupt bedeutsam sein könnten. Die Frage also, ob die Geschichten zu ihm passten, bedeutet doch, dass er von sich bereits ein Bild haben muss. Keine Rede also davon, dass er selbst erst einmal leer, ein Niemand würde, der in der Begegnung zu einem Jemand werden könnte. Im Grunde ist also über die eigene Identität schon durch eine Vormeinung entschieden, wenn der Mann die Geschichten an sich vorüberziehen lässt. Die Hauptperson in diesem Roman wird so zum Spiegelbild des Menschen heute, der verzweifelt auf der Suche nach seiner eigenen Identität ist, der aber weder sich noch den Anderen so akzeptieren kann, wie er ist, und darum für eine offene Begegnung, die ihn erst zu einem Ich machte, unfähig ist. Es wurde deutlich, dass die Selbstbestimmung die zu einem authentischen Leben führen soll, nicht durch ein ‚monologisches‘ Selbst geschehen kann. Der Mensch kann nicht das Maß aller Dinge in sich finden. Die Monade des Selbst 73

muss aufgesprengt werden auf ein Du, von dem Anregung und Anerkennung erhofft werden darf. Das Woraufhin der Selbstbestimmung ist die Selbstverwirklichung. Auch sie gelingt nicht, wenn allein ichbezogene Wünsche erfüllt werden sollen, die die soziale Umwelt außer Acht lassen oder gar gegen sie durchgesetzt werden sollen. Das Ziel der Selbstverwirklichung an sich ist eine Konsequenz des Ideals der Selbstbestimmung und keineswegs schlechthin verwerflich. Wenn von Selbstverwirklichung gesprochen wird, ist allerdings nicht immer klar, was damit gemeint sein könnte. Ist es die Suche nach Entfaltung der eigenen inneren Anlagen? Oder geht es darum, sich ein Eigenprofil – geradezu von außen her – zuzulegen? Oder darum, sich einen eigenen freien Lebensraum zu schaffen? Es gilt selbstverständlich, den Zusammenhang, da von Selbstverwirklichung gesprochen wird, sehr genau zu beachten. Um Selbstverwirklichung geht es beispielsweise der Frau, die in der zweiten Lebensphase eventuell zeitgleich mit ihren erwachsen gewordenen Kindern zu studieren beginnt, nachdem sie vielleicht in frühen Jahren ihre Berufstätigkeit aufgegeben hatte, um geographisch ihrem Mann zu folgen. Sie kann ihr eigenes Ich nicht in der Rolle der Nur-Hausfrau oder der Frau-an-seiner-Seite finden, so selbstverständlich solches für sie einmal gewesen sein mag, und sucht nun nach Möglichkeiten, sie ganz und gar selbst zu sein. Sie möchte sich nicht mehr länger von etwas Äußerem definierten. Sich selbst verwirklichen möchte aber auch der junge Schauspielschüler in seinem Beruf, der nicht aufgibt, obgleich er die Arbeitsmarktlage realistisch einschätzt. Er ist von seinem eigenen Talent überzeugt, das er weiter entwickeln möchte. In diesen Fällen geht es bei der Suche nach einem authentischen Leben gerade darum, das eigene innere Maß, von dem oben die Rede war, in sich zu finden und in Treue zu realisieren. Voraussetzung aber ist, dass die persönliche Mitwelt nicht die Kosten dafür tragen muss. Eng verwandt mit dem Wert der Selbstverwirklichung ist das Emanzipation. Der Begriff stammt aus dem römischen Recht und bezeichnete hier bekanntlich den rechtlichen Akt der Entlassung des erwachsenen Sohnes aus der väterlichen Gewalt, ferner die Freilassung eines Sklaven. Emanzipation ist mittlerweile – über den Kontext des Kampfes um Frauenrechte hinaus – allgemein der Name für eigenverantwortliche Mündigkeit. Das Wunschbild des sich in Freiheit und mündiger Verantwortung verwirklichenden Menschen drückt das Verlangen nach einer Rückkehr aus, nämlich nach der Heimkehr aus der Verzerrung des eigenen Wesens, das als bislang von außen bestimmt erfahren wird, zum eigentlichen Selbst. 74

Das Gefühl, sein eigentliches Ich verloren zu haben und wiedergewinnen zu müssen, mag sich auch in dem Ruf nach Arbeitszeitverkürzung und Ausweitung des Freizeitraumes ausdrücken. Dadurch möchte der Mensch Gelegenheit finden, öfter einmal auch ‚zu sich selbst‘ zu kommen und der von ihm empfundenen Entfremdung in der Arbeitswelt entgegenzusteuern. Es bleibt aber die Frage, ob es ihm in der Freizeit gelingt. Schließlich ist die Freizeit in der Regel auf Zerstreuung und nicht auf Sammlung ausgerichtet. Dem eigenen Selbst begegnen zu können, bei sich sein zu können, könnte eine glückliche Erfahrung sein. Schweigend mit sich allein zu sein, empfinden hingegen wohl nicht wenige als eine Qual. Es kann Ängste hervorrufen. Die Fähigkeit, allein sein zu können, ist übrigens auch eine wichtige Voraussetzung, um Beziehungen leben zu können. Beziehungen, die nur eingegangen werden, weil man es mit sich allein nicht aushält, bringen nicht die Lösung des Problems und führen unweigerlich zur Enttäuschung. Je mehr der Mensch fähig ist, als ein Ich zu leben, das sich bejaht und aushält, umso mehr kann er sich dem Anderen öffnen.105 Wenn TAYLOR, um auf ihn zurückzukommen, sinngemäß von der Notwendigkeit spricht, das eigene Selbst zu überschreiten, dann meint er allerdings nicht ausschließlich die Einbeziehung eines anderen Du. Ihm ist auch daran gelegen, das „größere Ganze“ in den Blick zu nehmen. Dieses Ziel kann in unserer pluralistischen Welt in einem ganzen Spektrum säkularer oder religiöser Herkunft bestehen. Dazu gehört nach ihm vor allem die Ökologie, der er persönlich einen Vorzug zu geben scheint. „Wenn Authentizität so viel heißt wie Treue zu sich selbst und Wiedergewinnung der eignen ‚Gefühle des Daseins‘, dann können wir sie zur Gänze vielleicht nur in dem Fall erreichen, in dem wir erkennen, daß wir durch dieses Gefühl mit einem umfassenderen Ganzen in Verbindung gebracht werden. Da war es womöglich kein Zufall, daß das Gefühl fürs Selbst und das Gefühl der Zugehörigkeit zur Natur zur Zeit der Romantik miteinander verknüpft waren.“106 Das Gefühl fürs Selbst und das Gefühl für die Zugehörigkeit zur Natur sieht TAYLOR in JEAN JACQUES ROUSSEAU verkörpert.

105

H. Thielicke, Menschsein – Menschwerden. Entwurf einer christlichen Anthropologie, 3 1981, 53. 106 TAYLOR, a.a.O., 104. 75

Das Gemeinte lässt sich am besten erläutern durch dessen „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“107, auf die TAYLOR verweist. 1765 lebte ROUSSEAU vom 12. September bis zum 25. Oktober auf der St. Petersinsel im Bielersee, die, wie er bekennt, die glücklichsten Monate seines Lebens waren. Er zog sich in die Natur zurück, suchte auf der Insel Einsamkeit, und begann die Pflanzenwelt zu erkunden. Wohin seine „einsamen Träumereien“ ihn brachten, wenn er auf einem Boot liegend sich treiben ließ oder wenn er bei heraufziehendem Wetter am Seeufer saß oder an einem über Kies murmelden Bach hockte, beschreibt er folgendermaßen: „Was eigentlich genießen wir in solch einer Stimmung? Nur uns selbst und unser eigenes Dasein, nichts jedenfalls, das außerhalb von uns wäre. Solange dieser Zustand währt, sind wir, wie Gott, uns selbst genug. […] Schon dieses Gefühl sollte uns genügen, dass wir unser Dasein als wert und reizvoll empfinden. Freilich, darf, wer dies will, sich nicht den vielen irdisch-sinnlichen Eindrücken ausliefern, die uns hienieden immerfort zerstreuen und ablenken.“108 Zu den Träumereien (rêveries) schreibt JÜRGEN VON STACKELBERG (im Nachwort der Reclam-Ausgabe): „Rêver […] bedeutet im 17. Jahrhundert noch ‚tief nachdenken‘. […] Bei ROUSSEAU ist ‚rêver‘ ein zweckfreies Meditieren, in dem der Geist sich selbst überlassen bleibt, eine Beschaulichkeit in beiderlei Sinn, als Geruhsamkeit und als Anschauung, das heißt als ein Blick nach innen, der von einer bestimmten Außenwelt, der der Pflanzen, Blumen und Bäume angeregt wird.“ 109 Die Anregung könne auch vom Plätschern eines Bachs oder vom Schaukeln des Boots kommen. In der Meditation vergisst er allerdings nicht sein Ich, wie es etwa bei MEISTER ECKHARD der Fall ist; im Gegenteil wird er sich gerade seiner Existenz bewusst. Dennoch ist er nicht in seinem Ich eingeschlossen; er weiß sich eingebettet in ein „größeres Ganzes“, wie TAYLOR sagte. „Die Authentizität ist keine Widersacherin der Forderungen aus dem Bereich jenseits des eigenen Selbst.“110

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108 109 110

J. J. ROUSSEAU, Träumereien eines einsamen Spaziergängers, übers. von U. Bossier, Reclams Universal-Bibliothek Nr. 18244, Stuttgart 2003. Ebd. 93. Ebd. 207. TAYLOR, a.a.O., 51.

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3. Kapitel Menschenwürde: unantastbar oder antastbar?111 1. Das Grundgesetz und die Frage nach der Unantastbarkeit der Menschenwürde Mit dem Zusammenbruch einer durchgängig hierarchisch geprägten Gesellschaft ist ein gesellschaftlicher Wert, der mit Ungleichheit verknüpft war, in unseren westlichen Gesellschaften nahezu verschwunden: der Begriff der Ehre. Damit Ehre bestimmten Menschen zukommt, ist es unerlässlich, dass nicht jeder sie besitzt. (Dies ist anders in muslimischen Gemeinschaften.) Ihrem Wesen nach beruht Ehre auf Vorrechten. Dies trifft heute noch für eine öffentliche Auszeichnung eines Menschen zu, etwa für eine Ordensverleihung. Sie besitzt gerade darin ihren Wert, dass nicht alle sie bekommen. „Im Gegensatz zu diesem Ehrenbegriff verfügen wir nun über den modernen Begriff der Würde, der heute in universalistischer und egalitärer Bedeutung gebraucht wird.“112 (TAYLOR)

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Dieses Kapitel ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung meines Beitrags: Ist die unbedingte Geltung der Menschenwürde noch begründbar? in: A. Holling/E. Ockel/ R. Siedenbiedel (Hg.), Identität als Lebensthema (FS für Arnold Schäfer), Vechta– Langförden 2007, 403–426. Zustimmung des Geest-Verlags am 15.03.2019 zur Übernahme. TAYLOR, a.a.O., 55.

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Die Würde des Menschen wurde freilich zu Beginn der Neuzeit mit der menschlichen Freiheit in engem Zusammenhang gesehen, wie ich im letzten Kapitel dargelegt habe. Für PICO DELLA MIRANDOLA zeigte sich die Würde, die aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen herrührt, in der Fähigkeit und Ausübung der Freiheit. Auch KANT sieht einen engen Begründungszusammenhang zwischen Autonomie und Würde. Das Ideal der Menschenwürde hat mittlerweile den Denkraum der Philosophie verlassen und soll die Kränkungen des Selbstwertgefühls heilen, von der im ersten Kapitel die Rede war. Dabei hat sich das Anspruchsdenken im Namen dieses Ideals oft ins Unermessliche geweitet. Mit diesem Ideal begründen Einzelne wie auch Lobbygruppen ihre Wünsche und Forderungen an die Justiz und Politik. Verbunden mit der Forderung der Gleichheit und Gleichberechtigung wird es zur allumfassenden Mehrzweckwaffe gegen wirkliche und vermeintliche Missstände in Stellung gebracht. Die Schärfe des Würdearguments wird aus der Unantastbarkeit bezogen; in der Argumentation wird damit die Unwiderlegbarkeit behauptet. Durch die Anwendung des Begriffs der Menschenwürde auf alles und jedes droht er freilich allmählich verbraucht und entleert zu werden. Das Neue im Gebrauch des Würdebegriffs heute ist also die Betonung der absoluten Unantastbarkeit. Man beruft sich dabei in der Bundesrepublik Deutschland meistens auf das Grundgesetz. Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland als Portal zu einer Auflistung von Menschenrechten spricht eben bekanntlich von der Unantastbarkeit der Menschenwürde. Bereits vor Abfassung des Grundgesetzes, in etwa zeitgleich mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen 1948, erarbeitete der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee einen Katalog von Menschenrechten, der unverändert in das Grundgesetz eingegangen ist. Anders als noch in der Weimarer Verfassung sind die Menschenrechte aber nicht nur Deklarationen und Programmsätze, sondern unmittelbar geltendes Recht. In Art. 1, Abs. 3 holt nämlich das Grundgesetz die Menschenwürde und die Menschenrechte „aus den Sternen“113 (GÜNTER DÜRIG) in den positivrechtlichen Verfassungstext. 113

GÜNTER DÜRIG, „Einführung“, in: Grundgesetz (mit Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, Menschenrechtskonvention, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Parteiengesetz und Gesetz über den Petitionsausschuß), dtv München 26., neubearbeitete Aufl. 1990, 7–24, Zit. 9.

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Während noch in Weimar die Grundrechte nach Maßgabe der Gesetze galten, besteht nun ein umgekehrtes Verhältnis: Die Gesetze müssen sich an den Grundrechten messen lassen. Diese „binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“ (Art. 1, Abs. 3). Das Grundgesetz lässt die Menschenrechte, wie sie bis zum Art. 19 entfaltet werden, hervorgehen aus der Würde des Menschen. Das Bekenntnis zu unveräußerlichen und unverletzlichen Menschenrechten geschieht wegen der Menschenwürde. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1, Abs. 1 GG) wird aber nicht mehr begründet. Die Väter der Verfassung waren sich in der Frage der Begründung nicht einig.114 Man einigte sich über einen Wortlaut, nicht aber über die Bedeutung. Aus sich heraus wirksam kann ein Grundsatz allerdings nur werden, wenn ein Sinnrahmen mitgeliefert wird. Andernfalls ist er auf die Interpretation von außen angewiesen. Überlässt der Gesetzgeber die Ausdeutung der Rechtsprechung, wie es tatsächlich der Fall ist, so wird faktisch der Grundsatz der Gewaltenteilung (zwischen Legislative und Judikative) verletzt.115 Auf diese Weise haftet dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der unantastbaren Menschenwürde ein Problem an. Ungelöst ist auch die Frage, wie die in den folgenden Artikeln aufgeführten Menschenrechte in dem Grundsatz im ersten Artikel wurzeln können. Die Menschenwürde ist ein Wert, der es mit dem Wollen zu tun hat, die Menschenrechte sind Nomen, in denen es um das Sollen geht. Nichtsdestoweniger hält der ehemalige Bundesverfassungsrichter ERNST BENDA die Verwurzelung der Menschenrechte, die ja Individualrechte sind, in der Menschenwürde für bedeutsam. „Aus dieser wichtigsten Entscheidung der Verfassung ergibt sich das ‚Menschenbild‘

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CARLO SCHMID hatte dafür plädiert, das traditionelle Argument der Freiheit anzuführen. Dagegen wurde gefragt, ob die Freiheit, zu tun und lassen, was man will, tatsächlich ein Postulat der Menschenwürde sein kann. Der christlich-konservative Politiker H ANS-CHRISTOPH SEEBOHM wollte verdeutlicht wissen, dass Freiheit hier verstanden werden müsse als die Freiheit, der Stimme Gottes zu folgen, die sich im Gewissen äußere. Der liberale THEODOR HEUSS Schließlich setzte es durch, dass die Würde als „nicht-interpretierte These“ in das Grundgesetz aufgenommen würde. Vgl. dazu P. TIEDEMANN, Was ist Menschenwürde? Eine Einführung, 2. akt. Aufl., Darmstadt 2014, 28f. So TIEDEMANN, a.a.O., 50.

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des Grundgesetzes als eines nicht isolierten souveränen, sondern gemeinschaftsbezogenen und -gebundenen Menschen, dem dennoch ein unantastbarer Eigenwert zukommt,“ wie er sagt116. Die deutsche Verfassung soll weltanschauungsneutral, aber nicht wertneutral sein. Dies setzt aber einen weitgehenden Wertekonsens in der Gesellschaft voraus. In Bezug auf die nicht eigens begründete Würde des Menschen bedeutet dies: Die Verfassung besitzt ihre Grundlage nur ‚auf Pump‘ aus dem gesellschaftlichen Einvernehmen. Nur im Rahmen dieses Konsenses kann letztlich positivrechtlich durch die Gesetzgebungsorgane der Schutz der Menschenwürde garantiert werden. Was geschieht aber, wenn das gesellschaftliche Einvernehmen abhandenkommt?

1.1 Die Erosion des Würdebegriffs Wenn in der Öffentlichkeit das grundsätzliche verbale Bekenntnis zur Menschenwürde nicht hinterfragt wird, so darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass in unserer Gesellschaft der Konsens darüber bröckelt, wo die Würde des Menschen anfängt und aufhört. Besonders an den Rändern des Lebens, etwa im Bereich der Reproduktionmedizin und Sterbehilfe, scheinen Würde und Wert des Menschen fragwürdig geworden zu sein. In konkreten Entscheidungsfragen stellt sich oftmals heraus, dass die Menschenwürde auf tönernden Füßen steht. Dass eine unbedingte Geltung der Menschenwürde aus dem Bereich fragloser Selbstverständlichkeit herausfallen kann, zeigt beispielhaft der Fall des Frankfurter PolizeiVizepräsidenten WOLFGANG DASCHNER. Worum ging es dabei? Erinnern wir uns: Am 29. September 2002 wurde der elfjährige Bankierssohn Jakob von Metzler auf dem Heimweg von der Schule entführt. Als Entführer konnte der damalige Jurastudent MAGNUS GÄFGEN nach einer Lösegeldübergabe ausgemacht und festgenommen werden. Um die Preisgabe des Aufenthaltsortes des entführten Jungen zu bewirken, hatte ein Polizeipsychologe eine Gegenüber-

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ERNST BENDA, „Grundwerte aus verfassungsrechtlicher Sicht“, in: Grundwerte (Vortragszyklus 1979/1980 Schule der Bundeswehr für Innere Führung), Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 168, Bonn 1980, 115–134, Zit. 118.

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stellung von GÄFGEN und der ihm bekannten Schwester des Entführten angeraten. Stattdessen ordnete DASCHNER einem Kommissar an, Magnus GÄFGEN im Verhör Folter anzudrohen. Auf diese Weise wollte er das Versteck des vermeintlich noch lebenden Kindes erfahren. Angesichts dieser Drohung gestand GÄFGEN, den Jungen bereits getötet zu haben. Wie sollte man den Fall beurteilen? Aus der Befürwortung der absoluten Geltung der Menschenwürde hätte man mit der ausnahmslosen Geltung des Folterverbotes argumentieren müssen, wie es in der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Antifolterkonvention der Vereinten Nationen, aber auch im Grundgesetz und der Strafprozessordnung niedergelegt ist, wo nicht nur die Ausführung, sondern auch die Androhung als schwere Verletzung gewertet wird. Vielfach aber wurde Verständnis für den Polizei-Vizepräsidenten geäußert: Er habe in einer ‚Notlage‘ gehandelt, für die das Notwehrprinzip oder sogar der ‚rechtfertigende Notstand‘ gelte. Das ‚geschützte‘ Interesse überwiege das ‚beeinträchtigte‘; das Recht des entführten Kindes auf Leben stehe über dem Recht des Entführers auf körperliche Unversehrtheit, seinem Recht auf Menschenwürde. Der Fall war von starkem Medieninteresse und bewegte die deutsche Öffentlichkeit. Nach einer ZDF-Umfrage erklärten 68 Prozent der Deutschen, DASCHNER verdiene einen Freispruch. Als er schließlich zu einer Geldstrafe verurteilt worden war, hielten nicht wenige die Rechtslage für unangemessen.117 Sollte die Rechtslage mithin, sollte das Grundgesetz diesbezüglich geändert werden? Dass der Bundestag ein Foltergesetz beschließt, das Folterungen und Gewaltandrohungen – selbstverständlich nur in bestimmten Fällen und unter definierten Bedingungen – erlaubt, erscheint gegenwärtig noch als eine nicht denkbare Schreckensvision. Dennoch ist es nicht selbstverständlich, dass es so bleibt. Dass schließlich auch von unseren Volksvertretern die Menschenwürde allem Anschein nach nicht mehr als absolut und unantastbar angesehen wird, zeigt ein weiteres Beispiel: das Luftsicherungssgesetz, am 18. Juni 2004 vom Bundestag beschlossen und vom Bundesverfassungsgericht 2006 für verfassungswidrig erklärt. Ein entführtes und gegebenenfalls mit Passagieren voll

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Zur Frage der Menschenwürde und des aktuellen Volkswillens im Fall Daschner siehe: D. BOGNER, Ausverkauf der Menschenrechte? Warum wir gefordert sind, Freiburg 2007, 70–77.

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besetztes Flugzeug hätte demnach auf Befehl des Verteidigungsministers abgeschossen werden dürfen, wenn es als Waffe gegen andere Menschen eingesetzt zu werden drohte. Das Gesetz erlaubte also das Leben unschuldiger Menschen gegen das Leben anderer Unschuldiger, Menschenwürde gegen Menschenwürde abzuwägen. Was aber gegeneinander aufgewogen werden kann, ist nicht mehr absolut. Das Prinzip der Abwägung bestimmt aber immer mehr die Gesetzgebung und Rechtsprechung. 118 Damit rückt das unantastbare Fundament der Menschenrechte in die Rolle eines bloßen Grundrechts. Jedes Grundrecht aber, wie zum Beispiel das Recht auf Meinungs- oder Religionsfreiheit, hat Grenzen, ja muss sie haben, soll die Rechtsordnung funktionieren, und unterliegt Abwägungen. Der Wandel wird sichtbar in einer Neukommentierung des Artikels 1 GG in dem Lose-Blatt-Kommentar von THEODOR MAUNZ und GÜTER DÜRING, dem Standardwerk zum Grundgesetz schlechthin. Die Kommentierung der Artikel 1 und 2 durch GÜNTER DÜRIG, mit der das Kommentarwerk 1958 startete, war der Sockel, auf dem sich der Kommentar insgesamt entfaltete. Hatten sämtliche Artikel sonst angesichts neu auftretender Probleme mittlerweile eine Zweit- oder gar Drittbearbeitung erfahren, so blieb der Kommentar zu Artikel 1 und 2 unangetastet auf dem Stand von 1958. Niemand hatte sich an eine Änderung herangewagt. Nun liegt die Neulieferung zu Artikel 1 Absatz 1 vor, für die MATTHIAS HERDEGEN verantwortlich ist. „Diese Neukommentierung markiert einen Epochenwechsel“, urteilt der Staatsrechtler und ehemaliger Bundesverfassungsrichter ERNST-WOLFGANG BÖCKENFÖRDE. 119 „Gegenstand der Kommentierung ist nicht mehr, wie bei DÜRIG, das Legen eines Fundaments und die Ausarbeitung von Gerüststangen der Verfassungsordnung; an ihre Stelle tritt ein Ausgreifen in die Fläche und die Aufarbeitung reichen Materials aus Rechtspraxis und Literatur. Zum Leit-

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P. TIEDEMANN stellt einige ‚Hilfsregeln‘ zusammen, nach denen man im Falle ‚Würde gegen Würde‘ eine Handlungsalternative besser rechtfertigen könnte als die andere. A.a.O. 155–162. E.-W., BÖCKENFÖRDE, „Die Würde des Menschen war unantastbar. Abschied von den Verfassungsvätern: Die Neukommentierung von Artikel 1 des Grundgesetzes markiert einen Epochenbruch“, in: F.A.Z. vom 3. September 2003, 33 u. 35.

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faden der Interpretation werden die Aufnahme und Mitteilung der Deutungsvielfalt, ein Abstellen auf das, was sich dabei als Konsens zeigt, und die zurückhaltend-skeptische Suche nach Evidenzurteilen.“120 Die Kommentierung stellt weithin heute faktisch Gegebenes in Rechnung, spricht die Würde erst dem geborenen Menschen zu und kennt im pränatalen Bereich höchstens einen gestuften Würdeschutz. Aus der Menschenwürde wird ferner das Recht abgeleitet, in selbstverantwortlicher Entschließung dem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Es werde wohl festgehalten, die Menschenwürde „gelte zwar absolut und ohne die Möglichkeit eines Güterausgleichs. Jedoch die Konkretisierung des Würdeanspruchs im einzelnen Fall lasse Raum für die Berücksichtigung anderer hochrangiger Verfassungsbelange, insbesondere von Würde und Leben anderer. Und erst der so konkretisierte Würdeanspruch habe die geforderte absolute Geltung.“ BÖCKENFÖRDE bemerkt dazu: „Es fällt schwer, diese Argumentation für in sich konsistent zu halten.“121 Die fehlende Konsistenz erwächst daraus, dass der Kommentar einerseits dem überkommenen Würdebegriff Respekt zollen möchte, andererseits auf die sich verändernde Rechtslage abstellt. Mit der Öffnung für Flexibilität, Abwägung und Angemessenheitsgesichtspunkte kann diese Kommentierung, die der gegenwärtigen Mentalität entspricht und zweifelsfrei die Gesetzes- und Gerichtspraxis bestimmt, aber nicht mehr von einer absoluten Geltung der unantastbaren Menschenwürde sprechen. Zweifellos ist der Würdebegriff, wie er Eingang ins Grundgesetz gefunden hat, kein juristischer Begriff, er soll ja eben nicht positivrechtlich, nicht einmal naturrechtlich, wie ein Grundrecht, verstanden werden. Ihm haftet gewissermaßen eine metaphysische Qualität an. Mit der aber kann eine gegenwärtige Generation nicht mehr viel anfangen. Matthias Herdegen gibt in seiner Kommentierung einen erstaunlich kenntnisreichen Ausflug in die geistesgeschichtlichen Hintergründe des Würdebegriffs. Der Gegenstand aber ist für ihn, wie für viele, ‚nur‘ geschichtlich. Wenn die Philosophie heute nicht mehr eine absolute Würde des Menschen begründen kann, muss allerdings gefragt werden, ob sie es je gekonnt habe.

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Ebd., 33 Ebd., 35.

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1.2 Die Unmöglichkeit von Begründungen der absoluten Personwürde in der Metaphysik? Wie lässt es sich begründen, dass eine unantastbare Würde jedem Menschen ausnahmslos und abgesehen von seiner persönlichen Haltung zukommt? Dass sie geschlechts-, schichten- und rassenunabhängig gilt? Wie lässt sich die Würde des Menschen stichhaltig begründen unter Einschluss der Behinderten und der verwirrten Alten? Der Begriff der Würde ist in der abendländischen Philosophie geprägt worden. Seine Ausweitung über eine politische Elite hinaus auf alle Bürger geschah näherhin im Anschluß an die Philosophie der Stoa. Die gemeinsame Würde wurde hier in der Teilnahme an der einen Weltvernunft verankert. Für die Philosophie stellt sich aber in der Begründung der absoluten Geltung menschlicher Würde ein großes Problem. Diese soll ja eben nicht nur unter bestimmten Voraussetzungen, wie denen einer bestimmten Rasse oder Kulturstufe, oder unter gewissen Bedingungen, wie bei einem bestimmten anerkannten sozialen Verhalten, gelten. Die menschliche Würde darf nicht nur in fest umrissenen menschlichen Relationen – also relativ – zählen, sondern in jeder Beziehung, eben absolut und unbedingt. Nun sind wir als Menschen endliche Wesen. Die Frage spitzt sich demgemäß darauf zu, wie endliche Wesen zugleich absolut sein können122. Den Griechen war es schlechterdings unmöglich, den Menschen insgesamt in Absolutheit zu denken. Für Aristoteles beispielsweise kam Absolutheit wohl dem Geist zu; der aber war gewissermaßen überindividuell und ragte sozusagen nur mit einem ‚Zipfel‘ in den Einzelnen hinein, solange dieser lebte. Der Einzelne als solcher konnte

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Zu den widersprüchlichen Konzeptionen des Personbegriffs in der Philosophiegeschichte stellt M. THEUNISSEN als Resumee fest: „Als das eigentlich Strittige in den Streitigkeiten […] hat sich in der Tat die Frage erwiesen, ob menschliche Personalität den Charakter der Absolutheit oder der Endlichkeit, d. h. der radikalen Angewiesenheit habe.“ Skeptische Betrachtungen über den anthropologischen Personbegriff, in: HEINRICH ROMBACH, Die Frage nach dem Menschen. Aufriß einer philosophischen Anthropologie [FS Max Müller], Freiburg 1998, Zit. 461.)

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somit keinen absoluten Wert haben. So nimmt es nicht wunder, dass die griechische Philosophie, genauer die Metaphysik, die sich der Wirklichkeit hinter allem Sichtbaren zuwandte und nach dem substanziell Wesentlichen in allem Einzelnen fragte, noch keinen Personbegriff kannte, der ja für absolute Würde des Einzelnen steht. Ein solcher ist bekanntlich erst auf dem Boden des Christentums geprägt worden. Anders als viele Begriffe und Bildworte, die das Christentum vom Menschen genommen und in Entsprechung auf Gott übertragen hat (wie ‚Hirt‘ und ‚König‘), verhält es sich mit dem Personbegriff umgekehrt. Er erhielt seinen Inhalt über die ursprüngliche Grundbedeutung (vermutlich von Maske und Rolle) in der lateinischen Sprache hinaus in der Anwendung auf Jesus Christus, um die Einheit von Menschlichem und Göttlichem in ihm festzuhalten. Sodann wurde der Begriff auf die Dreiheit von Vater, Sohn und Geist in Gott bezogen, ohne mit den drei Personen auch drei Individuen, also drei Götter, zu meinen. Erst in Entsprechung dazu wurde der Personbegriff auf den einzelnen Menschen übertragen, um dessen unveräußerliche Würde als Einzelnen mitzufassen. Davon werde ich gleich ausführlicher sprechen. Festzuhalten ist: Absolute Würde kommt dem Menschen nicht als endlichem Geschöpf, sondern seiner Personalität zu. Menschenwürde ist mithin Personwürde. Die abendländische Philosophie hat, seitdem der Personbegriff geprägt war, immer daran festgehalten. Von ihren Anfängen aber war sie Geistmetaphysik. Immer wieder war sie darum geneigt, die Personalität in der Geistigkeit des Menschen zu verankern. Der Geist allein wurde als etwas Absolutes angesehen, vielfach so, dass er den Einzelnen übersteigt. Dabei bestand immer die Gefahr, dass dabei der endliche Einzelne letztlich geopfert würde. „Die geschilderte Gefahr der antiken Metaphysik“, stellt MAX MÜLLER, Vertreter einer personalen Anthropologie123, fest, „zeigt sich […] als die Gefahr aller Metaphysik überhaupt, wenn diese sich nicht an der Offenbarung und der an der in der religiösen Offenbarungsgeschichte erstmalig zu Tage getretenen Selbsterfahrung des Menschen orientiert; auch hier wird die Auflösung der endlich-absoluten Person zugunsten des Geistes als des Gültigen und Absoluten Wirklichkeit“124.

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Vgl. M. MÜLLER, Philosophische Anthropologie, W. Vossenkuhl (Hg.), München 1974. M. MÜLLER, Person und Funktion, in: Philosophisches Jahrbuch, 69 (1961) 2, 371–404, Zit. 391f. Vgl. auch: Ders., Sein und Geist, Tübingen 1940, passim.

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Einen großen Anteil an der Einschätzung menschlicher Würde hat der Philosoph IMMANUEL KANT mit seiner Aussage, dass der Mensch niemals als Mittel zum Zweck gebraucht werden dürfe. Dennoch zeigt auch der Ansatz seines Denkens hinsichtlich menschlicher Würde ein gewisses Ungenügen, denn auch er steht letztlich in der skizzierten Linie des abendländischen Denkens. Die Würde des Menschen hat er an dessen normgebender Vernunft festgemacht, durch die dieser die Menschheit als solche repräsentiert. Die Selbstzwecklichkeit des Menschen ist nach KANT also nicht in der Individualität begründet, sondern im gemeinsamen menschlichen Wesen. Damit ist die absolute Würde des Menschengeschlechts („in mir“) festgemacht; sie ist aber noch nicht für den Einzelnen garantiert.125 KANT verbleibt im Raum des Denkens, mithin im Allgemeinen. Es lässt sich von diesem Ansatz nicht ohne weiteres einsichtig machen, dass dem Menschen als konkretem Einzelwesen absolute Achtung zukommen muss; dass sie ihm unabhängig davon zustehen muss, „wie angemessen er die den Menschen im Horizont der Geschöpfe auszeichnende Selbstzwecklichkeit repräsentiert oder nicht repräsentiert. Sie gilt [aber] ohne Rücksicht auf jeglichen äußeren oder inneren Wert, den er an sich oder in der menschlichen Gesellschaft haben mag“, wie INGOLF U. DALFERTH und EBERHARD JÜNGEL feststellen126. In der Nachfolge der Kant’schen Philosophie verankert man mithin die Menschenwürde im Allgemein-Menschlichen. Indem man die gesamte Menschheit zum Träger der Menschenwürde erklärt, tritt das Individuum jedoch in den Hintergrund. Und der Begriff der Menschenwürde wird so allgemein, dass er schließlich im konkret Einzelnen erklärungsbedürftig wird. Die Begründung der Menschenwürde im gemeinsamen menschlichen Wesen hat sich nichtsdestoweniger auf Jahrzehnte durchgesetzt.127 125

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V. GERHARDT legt dar, dass nach KANT die „Menschheit als Zweck an sich selbst“ begriffen werden muss. Er fährt fort: „Aber dieser Begriff ist praktisch wirkungslos, wenn er nicht in das Selbstverständnis des jeweils handelnden Individuums eingeht.“ Dieser Schritt muss aber erst geleistet werden. Selbstbestimmung, a.a.O., 141. I. U. DALFERTH/E.JÜNGEL, Person und Gottebenbildlichkeit, in: F. Böckle u.a. (Hg.), Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, 24, Freiburg – Basel – Wien 1981, 57–99, Zit. 85. Auf die Ethik KANTS griffen auch das Bundesverfassungsgericht und der Bundesgerichtshof zurück, als sie sich bald nach Inkrafttreten des Grundgesetzes gezwungen sahen,

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Der Gebrauch des Begriffs in vielfältigen Zusammenhängen in gegenwärtigen Diskussionen kann verdeutlichen, dass sich die Philosophie im Hinblick auf die Begründung absoluter Achtung des einzelnen Menschen von ihren geschichtlichen Voraussetzungen her schwertut. Wenn es aber so ist, dass die abendländische Philosophie die absolute Würde des Menschen nicht begründen kann, liegt es nahe, bei der Theologie nachzufragen, umso mehr, als der Personbegriff ursprünglich aus der christlichen Theologie stammt.

1.3 Die Gottesbildlichkeit des Menschen und die Menschenwürde im biblischen Kontext Um über den Wert und die Würde des Menschen in der Bibel zutreffende Aussagen zu machen, bedürfte es der Besprechung vielfältiger Texte zur Schöpfung im Alten und Neuen Testament, nicht nur der bekannten am Anfang der Bibel. In diesem Zusammenhang aber ist eine gewisse Konzentration erforderlich. Wesentlich möchte ich mich auf ein Wort beschränken, das in der theologischen Lehre vom Menschen traditionell eine entscheidende Rolle spielt, das ein sogenannter locus classicus ist: Gott sprach: ‚Lasst uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich. Sie sollen walten über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere, die auf der Erde kriechen.‘ Gott erschuf den Menschen als sein Bild; als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und Weiblich erschuf er sie (Gen 1,26f.).

In der Vätertheologie wurde der Gedanke der Gottesbildlichkeit aufgegriffen, um den Grundsatz der Menschenwürde, wie er in der Stoa aufgestellt worden war, schöpfungstheologisch zu ergänzen und zu deuten. Es scheint, dass dieser Gedanke

eine weltanschaulich neutrale Definition der Menschenwürde zu geben. Die Würde des Menschen liege danach in der Vorstellung begründet, dass er ein vernunftbegabtes Wesen sei, das darauf angelegt sei, sich in Freiheit, aber gemeinschaftsbezogen zu bestimmen. Gleiches trifft für die Kommentierung des Art. 1 durch GÜNTER DÜRIG zu.

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noch weiter ausschöpfbar ist. Der von der gegenwärtigen Problemlage geschärfte Blick mag dabei auch eines Neuen ansichtig werden. Es muss in diesem Zusammenhang letztlich um die Lösung des Problems gehen, ob und wie dem Menschen als einem endlichen Wesen absolute Würde zukommen kann. Was aber bedeuten in diesem Zusammenhang die Wörter Gottesbildlichkeit? Darüber sind in der Geschichte vielfältige Spekulationen angestellt worden. Und diese Textstelle erwies sich vielfach als ein Einfallstor für philosophische Anschauungen über das, was man jeweils gerade für das Wesentliche des Menschseins hielt, in die theologische Systematik128. So sah man den aufrechten Gang, die Zweigeschlechtlichkeit, die Geistigkeit oder die Selbstbestimmung und den freien Willen des Menschen in der Gottesbildlichkeit begründet, aber sogar auch – so in der jüdischen Mystik – dämonische Züge des Menschen129. Zur Entscheidung, was denn wirklich zutreffe, müssen wir genauer auf den Text schauen. Die Erschaffung des Menschen hebt sich vom ihrem Kontext ab. „Lasst uns den Menschen machen“ – mit dieser Aussage setzt die Schöpfungserzählung im ersten Kapitel in Genesis ganz neu ein. Der Aufbau, wie wir ihn von der Erschaffung der anderen Werke kennen, fehlt hier. Und es wird nicht davon gesprochen, dass der Mensch durch das Wort oder den Schöpfungsbefehl „Es werde“ geschaffen wird. Ja, es wird hier überhaupt nicht gesagt, wie der Mensch entstanden ist. (Danach zu fragen, ist ja auch grundsätzlich der menschliche Forschungsgeist aufgerufen.) Die genannte Besonderheit der literarischen Darstellung im Hinblick auf den Menschen könnte ihren Grund vielleicht darin haben, dass diese Geschichte ursprünglich selbständig im Umlauf war und mit der anderen von der Welterschaffung

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Zur Wirkungsgeschichte von Gen 1,26ff. vgl. O. LORETZ, Die Gottebenbildlichkeit des Menschen, München 1967, 9–41; eine Blütenlese von Originaltexten findet sich in: G. LANGEMEYER, Anthropologie, Texte zur Theologie: Dogmatik, Bd. 8, Graz u.a. 1998. Zu be-Zelem-Elohim, „im Ebenbild Gottes“, einer Ausdrucksweise, mit der das bildlose Judentum immer Schwierigkeiten gehabt hat, führt SCHALOM BEN-CHORIN aus: „Aber ist Zelem denn wirklich Ebenbild? […] Nun ergibt sich freilich die Möglichkeit, das Wort Zelem von Zel = Schatten abzuleiten, so daß der Mensch im Schattenbilde Gottes geschaffen worden wäre. […] So gesehen, müßten wir sagen, daß der Mensch nach der Nachtseite, der Schattenseite Gottes hin geschaffen ist, daß also das Dämonische im Menschen liegt […]“. SCH. BEN-CHORIN, Was ist der Mensch. Anthropologie des Judentums, Tübingen 1986, Zit. 15–17.

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zusammengebracht worden ist130. Sie scheint überdies Spuren außerisraelitischer Vorstellungen im Lande zur Königszeit zu tragen. Darauf deutet die Reflexion: „Lasst uns …“ Sie zeigt die Vorstellung eines Gottes, der von einem Hofstaat umgeben ist, mit dem er sich – wie ein irdischer Herrscher – berät. Dies ist eine Ansicht, die noch im Buch Ijob in der Erzählung des vom Leid geprüften Menschen wiederkehren wird. Geradezu als Korrektur einer solchen Vorstellung erscheint dann die nachgesetzte Aussage: „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild.“ Ohne diese Korrektur hätte man mit Recht fragen können: Bezieht sich die Ähnlichkeit auf Gott selbst oder auf die himmlischen Wesen, die hier seinen Thron umgeben? Der Plural „uns“ verwehrte im letzten Fall, die Ebenbildlichkeit ganz direkt allein auf Gott zu beziehen. Dem Menschen ginge so eine abbildhafte Ähnlichkeit mit dem einen Schöpfer verloren131. Mit der Korrektur aber lässt der Text keinen Zweifel. Die in umständlicher Sprache erfolgte Ergänzung der Ebenbildlichkeit mit der Ähnlichkeit soll wohl das Verständnis einer Gleichheit ausschließen. Was aber ist nun mit der Ebenbildlichkeit inhaltlich gemeint? Einen Überblick über die alttestamentliche Forschung zur Frage gibt WALTER GROß in einem Bericht132; und er fasst andernorts zusammen: „Seit 1961 […] wird die Gottesbildlichkeit des Menschen nach Gen 1 sachgemäß vom altorientalischen Hintergrund und textnäher […] interpretiert, und so setzt sich zunehmend die […] funktionale weltverantwortungs- und handlungsbezogene Deutung durch. Gen 1,26.27 spricht nicht von Gottebenbildlichkeit, sondern von Gottesbildlichkeit“133 (Hervorh. K.R.). ERICH ZENGER sagt im Anschluß an GROß, dass nach der überwiegenden Mehrzahl der Forscher die Abbildlichkeit des Menschen „funktional“ zu verstehen sei: 130

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Vgl. C. WESTERMANN, Schöpfung. Wie Naturwissenschaft fragt – was die Bibel antwortet, (Stuttgart 1973 u. 1983) Freiburg – Basel – Wien 1989, 73f. Vgl. auch die Aussage in Psalm 8,5.6: „Was ist der Menschen, dass du an ihn denkst, / des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? / Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, / hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt.“ W. GROß, Die Gottebenbildlichkeit des Menschen nach Gen 1,26.27 in der Diskussion des letzten Jahrzehnts, Bd. 68 (1993), 33–48. Ders., Die Erschaffung des Menschen als Bild Gottes, in: R. KOLTERMANN (Hg.), Universum – Mensch – Gott. Der Mensch vor den Fragen der Zeit, Graz u.a. 1997, 157–163, z. St. 163.

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„Entgegen den früheren Deutungen, die hier eine Wesensaussage über den Menschen, insbesondere über seine Beziehung zu Gott, sahen, gibt es heute fast einen bibelwissenschaftlichen Konsens darüber, dass eine Funktionsaussage vorliegt, die die gottgewollte Beziehung des Menschen zu den anderen Lebewesen und zur Erde insgesamt ausdrückt. Dieser wichtige Unterschied zeigt sich schon in der Übersetzung, denn die Menschen sind nicht nach dem Bild Gottes, sondern als Bild Gottes geschaffen“134. In der Antike war es eine gewohnte Erscheinung, dass Herrscher in ihren Gebieten, vor allem in neu erworbenen Regionen, ihr Bild oder ihre Statue aufstellen ließen. Ähnliches kennen wir auch noch aus unserer Zeit, vor allem aus autoritär regierten Staaten, wo in den Straßen unübersehbar das Konterfei der Regierenden hängt oder wo eine Statue auf öffentlichen Plätzen ein Anrecht kundtut. Bilder solcherart verkörpern einen Herrschaftsanspruch. Die Pflichten des königlichen Amtes in der ägyptischen und mesopotamischen Kultur wurden häufig mit der Vorstellung vom König seinerseits als dem Abbild des Schöpfergottes beschrieben. Er ist somit ein lebendiges Bild des Schöpfers. Seine Aufgabe ist es, die Lebensordnung gegen jede innere und äußere Bedrohung zu schützen. In unserem biblischen Kontext erscheint aber nicht der König, sondern der Mensch schlechthin als Bild Gottes, d. h. als Repräsentant der Herrschaft Gottes auf Erden. Im Hebräischen ist hier adam, Mensch, als Gattungsbezeichnung gewählt. Erst allmählich und bis dahin immer noch doppeldeutig wird Adam in Kapitel 5 der Genesis zu einem Eigennamen. Unverkennbar aber handelt es sich an dieser Stelle um einen Herrscherauftrag an die Menschheit. Eine gewisse Demokratisierung prägt das Verständnis. Die hebräischen Verben, die an dieser Stelle das Herrschen und Unterwerfen ausdrücken, sind dabei ganz und gar nicht im Sinne von Willkür und Ausbeutung zu verstehen. Sie stehen hier vielmehr im Zeichen der Sorge und der Verantwortung, welche die Menschen in Stellvertretung des Schöpfers wahrnehmen sollen. „Die Menschen werden von Gott ermächtigt, ‚das Haus‘ zu betreten, es zu schützen und zu verteidigen: als Haus des Lebens gegenüber allen Mächten des Chaos – und zwar zum Wohl aller Lebewesen, 134

K., LÖNING/E., ZENGER, Als Anfang schuf Gott. Biblische Schöpfungstheorien, Düsseldorf 1997, 146. Die korrigierte Einheitsübersetzung folgt dem exegetischen Forschungsstand und übersetzt: „Gott schuf den Menschen als sein Bild“ (Gen. 1,27).

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für die die Erde als Lebensraum bestimmt ist“, wie Erich ZENGER es formuliert135. Das Wort „Bild“ steht noch an anderer Stelle im weiteren Textzusammenhang. Ein wenig später lesen wir: „Adam […] zeugte einen Sohn, der ihm ähnlich war, wie ein Bild.“ (Gen 5,2) „Damit wird“, nach ZENGER, „die Beziehung Vater-Sohn als eine Beziehung gekennzeichnet, in der ein Sohn durch sein Denken und Handeln zur Wiederholung seines Vaters wird. Die Aussage ‚Bild Gottes‘ charakterisiert demnach die Abhängigkeit des Menschen von Gott als eine Art Gottesverwandtschaft, die sie verpflichtet, wie gute Töchter und Söhne Gottes zu handeln, nämlich die Erde als Haus ihres Vaters zu schützen und zu pflegen“ 136. Das Neue Testament nimmt das Motiv der Gottesbildlichkeit auf, indem es dies auf den „geliebten Sohn Gottes“ überträgt. Er ist das „Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15; vgl. auch 2 Kor 4,4). Diese Aussage hat die Wesensaussagen über Jesus Christus der frühen Konzilien und das Bekenntnis im Credo: „eines Wesens mit dem Vater“, zweifellos mit inspiriert. Von der späteren Ausfaltung, die in einen anderen Kontext gehört, aber kann die Ebenbildlichkeit in diesem Text nicht zutreffend erklärt werden. Im unmittelbaren Textzusammenhang dieses Wortes geht es wie in Gen 1 um die Schöpfung: „Alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen. / Er ist vor aller Schöpfung, / in ihm hat alles Bestand“ (Kol 1,16.17). Die Bestandssicherung der Schöpfung und die Wiederherstellung und Vollendung der Herrschaft Gottes angesichts der Mächte des Chaos ist eine Aufgabe des Sohnes. Dementsprechend ist für Jesus von Nazareth das Reich oder die Herrschaft Gottes das Generalthema seiner Predigt, das über all seine Gleichnisse gesetzt werden kann, und sie ist der Generalschlüssel für sein Handeln und Heilen. Das MarkusEvangelium formuliert darum gleich zu Beginn die Lehre Jesu summarisch so:

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Ebd., 150. Vgl. auch CLAUS WESTERMANN, Am Anfang, 1. Mose (Genesis), Teil 1: Die Urgeschichte, Abraham, Neukirchen – Vluyn 1986, 22. K. LÖNING/E. ZENGER, a.a.O.,148. Den inneren Zusammenhang zwischen den Vorstellungen von der Gottebenbildlichkeit und der Gottessohnschaft des ägyptischen Pharaos hat besonders O. LORETZ (a.a.O.) herausgearbeitet.

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„Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,14)137. Als Messias, d. h. als Gesandter, der sich von Gott ganz und gar in Anspruch genommen weiß, repräsentiert er einzigartig die Herrschaft Gottes in dieser Welt. Er tut dies, indem er sich gänzlich mit dem Willen Gottes, des Vaters, identifiziert: “Ja, ich komme, um deinen Willen zu tun” (Hebr 10,11). Dies vermag er, weil der Vater sich seinerseits mit ihm identifiziert, so dass gilt: „Wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat“ (Joh 12,45). Im Lebensausgang Jesu von Nazareth erweist Gott, was seine Herrschaft inmitten der Todesmächte und der noch nicht befriedeten Welt bedeutet: Gottes Herrschaft besteht im Dienen bis zum Äußersten (vgl. Phil 2,6). Dies ist auch als Beispiel für alle Menschen in der Nachfolge Jesu gedacht. Damit ist die Aussage von der Gottesbildlichkeit des Menschen in Gen 1 als des verantwortlichen Repräsentanten des Schöpfers und Herrschers auf dieser Erde letztlich präzisiert. Kehren wir aber noch einmal zum Textzusammenhang oben in Gen 1 zurück. Der Mensch erhält dort, wie gesagt, eine besondere Aufgabe erteilt. In seine Verantwortung sind das Wohl und Gedeihen der übrigen Kreatur gelegt. Vom Menschen wird hier ganz allgemein im Sinne von Menschheit geredet. Kein gegenwärtiger oder zukünftiger Mensch erscheint ausgeschlossen; mithin sind auch die Schwachen, Kranken, Behinderten mit ihren bescheidenen Möglichkeiten gemeint. Die Auftragsvergabe setzt voraus, dass der Beauftragte und in Anspruch Genommene angesprochen wird. Darum wird der Auftrag auch eingeleitet mit der Aussage: „Gott sprach zu ihnen“ (Gen 1,28). Angesprochen werden kann aber letztlich immer nur der je Einzelne, wenn er sich denn gemeint wissen soll. Um ihn geht es, freilich – darauf deutet die männliche und weibliche Zweiheit – niemals in der Vereinzelung. Er steht unter dem An-Spruch Gottes im doppelten Sinn. Er wird von Gott angeredet und ist zur Antwort im verantwortlichen Tun beansprucht.

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Interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis von K. LÖNING auf „Schöpfungstheologische Motive in der Rahmenkonzeption des Markusevangeliums“ und „[…] in der Exposition (Joh 1,19–2,11) und im ersten Buchschluß (20,30f) des Johannesevangeliums“, ebd. .69–78 und 104–109.

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Die Gottesbildlichkeit begründet damit die absolute Würde des Einzelnen: Der Mensch wird, um es in herkömmlicher philosophischer Begrifflichkeit zu sagen, von dem Absoluten angesprochen. Dieser ist sein Gesprächspartner, wenngleich in einer Asymmetrie, d. h. in einem Beziehungsgefälle. Indem er für wert erachtet wird, von dem Absoluten angesprochen und in Anspruch genommen zu werden, besitzt jeder einzelne Mensch eine absolute Würde. Nach dem Bibeltext, wie er hier interpretiert wurde, kann die absolute Würde des Menschen nicht in einer besonderen Qualität und nicht in einer metaphysischen Wesenseigenschaft (die ja immer allgemein wären) gesucht werden. Das Absolute kann in diesem Sinne nicht im (endlichen) Menschen gefunden werden. Wir treffen es gewissermaßen in einem Zwischen, nämlich in einem Beziehungsgefüge, in dem der Mensch mit dem Gesicht seiner Lebenswirklichkeit auf dieser Erde zugewandt ist – mit dem unbedingten An-Spruch des Schöpfers im Rücken.

1.4 Der unbedingte Anspruch durch den Anderen nach Emmanuel Levinas Die dargelegte Begründung wird in unserer Gesellschaft allerdings keine allgemein verbindliche Geltung bekommen können, da sie den Gottesglauben voraussetzt. Ein Einverständnis über den Sinn und die Bedeutung der Menschenwürde wird man allenfalls schnell mit der islamischen Welt erzielen können, da der Koran vom Menschen ebenfalls als dem Stellvertreter Gottes auf Erden, dem Khalifa138, spricht. Damit steht es hinsichtlich der Menschenwürde besser als mit verschiedenen Menschenrechten, denen anders gewichtete Pflichten (Faraid) 139 für den Muslim übergeordnet sind. In einer Gesellschaft, die sich weltanschaulich neutral gibt, wird sich aber die Argumentation, wie sie hier dargelegt wurde, wohl nicht durchsetzen können. Geschichtlich ist das Motiv der Gottesbildlichkeit immerhin unbestreitbar letztlich die Quelle für die Überzeugung der unantastbaren Würde des Menschen. Sie hat die Philosophen der Renaissance in ihrer

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Koran 2,40. Vgl. BASSAM TIBI, Im Schatten Allahs. Der Islam und die Menschenrechte, München – Zürich u.a. 1994, 25.

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Anschauung von der Würde des Menschen inspiriert. Die Anschauung von der Unantastbarkeit der Würde konnte sich in der Rechtsgeschichte allerdings erst im letzten Jahrhundert etablieren, sie droht freilich daraus auch wieder zu verschwinden. In der Anschauung vom Menschen als Bild Gottes lässt sich, wie ich zu zeigen versucht habe, – den Glauben vorausgesetzt – immerhin die Absolutheit der Würde jedes Einzelnen folgerichtig begründen. Dies ist gewiss so in der anderen, erst neuzeitlich sprudelnden Geltungsquelle für die Menschenwürde nicht der Fall. Nach ihr, der Kant’schen, ist sie ja in der Vernunft des Menschen, seiner Fähigkeit zu moralischer Selbstbestimmung begründet. Sie kommt, wie oben gesagt, dem Menschen als Menschen zu. Damit die Würde jeweils auch der einzelnen Person zutrifft, muss sie diese Fähigkeit, strenggenommen, auch zu eigen bekommen haben. In dieser Lage erscheint es angemessen, Ausschau zu halten nach einer Philosophie, die nicht geistmetaphysisch orientiert ist und der es an der Würde der einzelnen Person gelegen ist. Diesbezüglich ließe sich an EMMANUEL LEVINAS denken, der als jüdischer Philosoph von Erfahrungen in der Bibel inspiriert ist und bei dem sich teilweise eine Vermittlung der dargelegten Gedanken – in einer Zuspitzung auf eine intersubjektive Beziehung – findet. Gibt es Übereinstimmungen zwischen der religiösen Tradition seiner Herkunft und der philosophischen Tradition, in der er denkt, „so wahrscheinlich deshalb“, wie er selber sagt, „weil jedes philosophische Denken auf vor-philosophischen Erfahrungen beruht und die Lektüre der Bibel bei mir zu diesen Erfahrungen gründender Art gehört hat. Sie hat also bei meiner Art, philosophisch zu denken, das heißt zu denken, indem man sich an alle Menschen wendet, eine wesentliche Rolle gespielt – und das größtenteils, ohne dass ich es wußte“140. Mit LEVINAS haben wir zugleich einen Philosophen, der von den Erfahrungen der Zeit angeregt ist und der im Horizont der schrecklichen Menschheitsverbrechen im 20. Jahrhundert denkt. Angesichts der Schrecken unserer Zeit ist es bemerkenswert, dass LEVINAS die Ethik in den Mittelpunkt des Denkens rückt. Sie wird für ihn zur ersten Philosophie anstelle einer Ontologie, einer Lehre vom Sein. Zentraler Begriff ist die Verantwortung. Ursprünglich in der philosophischen Schule der Phänomenologie

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E. LEVINAS, Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, Wien (1982) 21992, 16.

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beheimatet, die von den beobachtbaren Erscheinungen der Dinge ausgeht, um sie auf Wesentliches zurückzuführen, lässt sich das Denken LEVINAS als ethisch-phänomenologisch kennzeichnen. „Das Ethische erscheint mir […] als der Anfang des Sinnes“, schreibt LEVINAS zur Kennzeichnung seiner Position.141 „Im Ethischen geht es nicht“, wie LEVINAS fortfährt, „um Behauptung, Antwort – sondern um Verantwortung. Denn das Ethische versteht sich ja keineswegs von selbst. Meiner Meinung nach ist aber gerade das Ethische als Struktur noch nie genügend bewundert worden. Für HEIDEGGER beispielsweise war die Moral immer etwas Sekundäres, etwas Zweitrangiges, etwas Späteres, etwas das schon eine gewisse Ontologie voraussetzt. HEIDEGGER lehnte es deswegen ab, eine Ethik zu schreiben. In diesem Sinn bin ich ganz gegen ihn. Denn meiner Meinung nach ist immer das Ethische, das Verhältnis zum Anderen maßgebend für den Begriff des Seins. Deswegen lautet der Titel meines Hauptbuches ‚Autrement qu’être‘: Anders als Sein, nicht Anderssein. Das Verhältnis zum Anderen, ist etwas Originäres. Das Ethische ist vor-ontologisch. Es ist nicht eine Schicht, die das Ontologische bedeckt. Es steht vorher als der Anfang des Sinnes. Es ist ein Versuch, nicht von der Welt her zu denken, sondern vom Anderen – von der Nacktheit des Gesichts, das mir begegnet.“142 Das Ethische bestimmt LEVINAS mithin als „das Verhältnis zum Anderen“. Vom Anderen her soll dabei alles andere gedacht werden. „Das Verhältnis zum Anderen“ aber ist nichts anderes als Verantwortlichkeit. „Ich verstehe Verantwortlichkeit als Verantwortung für den Anderen, das heißt als Verantwortung für das, was nicht meine Sache ist oder mich sogar nichts angeht (ne me regarde pas); oder auch gerade für das, was mich etwas angeht (me regarde), dem ich mich als seinem Antlitz annähere“.143 LEVINAS gebraucht hier das französische Verb regarder in seinem Doppelsinn: ansehen und angehen. Das Antlitz des anderen schaut mich an – oder nicht. In beiden Fällen besteht Verantwortlichkeit. Auf die Bedeutung des Antlitzes für LEVINAS werde ich sogleich zurückkommen.

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142 143

Ders., Das Ich kann nicht vertreten werden. Die Ethik als die Verantwortlichkeit für den Anderen, Auszug aus einem Gespräch mit (dem Salzburger Philosophen) H. Kohlenberger, F.A.Z. (Bilder und Zeiten), 15.04.1995. Ebd. Ders., Ethik und Unendliches, 72.

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Lief die abendländische Philosophie besonders in der Neuzeit auf die Wertschätzung des Selbstbewußtseins, der Freiheit und den Primat der Subjektivität zu, so möchte LEVINAS diese Denkbewegung umkehren: „Der Sinn der Welt entspringt aus dem Sinn des Anderen. […]. Die Hauptsache ist nicht das Selbstbewußtsein, sondern das Verhältnis zum Anderen. Die ganze Philosophie im Westen war die Philosophie des Selbstbewußtseins, des Zu-sich-Kommens. Das in Wahrheit Menschliche und Geistige ist aber nicht das Zu-sich-Kommen, sondern eigentlich das Aus-sich-Heraustreten, das Zum-Anderen-Kommen. Auch die vielen Weisen der Rede von Einfühlung deuten darauf hin. Die Einfühlung setzt voraus, dass ich mich an die Stelle des Anderen setzen kann. Das geht so weit, dass das Sein des Ich Sühne ist. Das scheint utopisch, ist aber in Wirklichkeit die Bedingung der Möglichkeit jedes wahrhaft menschlichen Verhaltens. Also ist der letzte Wert der Andere. Wo ich dem Anderen begegne? Überall, überall. Das mag vielleicht an Christus erinnern. Doch im Christentum wird delegiert. Aber jeder ist gemeint. Mich erinnert diese Betrachtung des Seins an Jesaja 53, an das Lied vom Gottesknecht: ‚Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet; wir schätzten ihn nicht. – Aber er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Zu unserem Heil lag Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt. Der Plan des Herrn wird durch ihn gelingen.‘“144

Das Verhältnis zum Anderen ist in dieser Konstellation grundsätzlich das Verhältnis eines Gefälles. Es ist asymmetrisch. Der Andere erscheint mir als geradezu mir ausgeliefert. Sein Antlitz, das mir als erstes auffällt, ist nackt und darum vor dem Vertrauen verletzenden Blick nicht schützbar. LEVINAS betont, dass es natürlich eine Metapher für den ganzen Menschen sei, der mir ungeschützt begegnet. Darum habe ich das Antlitz richtig wahrgenommen, wenn ich nichts über die Augenfarbe zu sagen weiß. Sein flehender Blick ist womöglich auf mich gerichtet. Er fordert: Du sollst nicht töten! Diese Forderung begegnet mir unbedingt. Ich

144

Ders., Das Ich kann nicht vertreten werden.

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spüre, dass ich ihm gegenüber unvertretbar bin. Ich bin gefordert, absolut. „Hier ist die Solidarität Verantwortung, als ob das ganze Gebäude der Schöpfung auf meinen Schultern ruhte. Die Einzigkeit des Ich liegt in der Tatsache, dass niemand an meiner Stelle antworten kann“145. Nicht, dass es bloß ums Wort ginge. „Das Sprechen genügt ja nicht. Das In-die-Augen-Schauen genügt nicht. Man soll nicht mit leeren Händen kommen.“ Jede Geistesbewegung sei (nach Maine de Biran) auch eine Muskelbewegung. Möglicherweise heißt es für mich, dass ich mich – eben wie der geheimnisvolle Gottesknecht – an die Stelle des vielleicht gesellschaftlich Ausgebeuteten stelle, um dafür alle rechtlichen oder rechtswidrigen Konsequenzen leibhaftig zu tragen. Die Forderung an mich aber ist absolut. Beim ersten Lesen ist es befremdlich, dass LEVINAS das Tötungsverbot so unvermittelt ins Spiel bringt. Es ist aber wesentlich. Denn der extreme Ernstfall lässt mich ganz besonders des Unbedingten des Anpruchs an mich ‚ansichtig‘ werden. Dies geschieht freilich so, dass das Unbedingte letztlich undenkbar und unbeschreibbar bleibt, sich derart entzieht und nur als Antworten-Müssen bezeugt werden kann. [Darum kann von Ansichtigwerden im Sinne LEVINAS‘ (namentlich in seiner zweiten Schaffensperiode) hier auch nur vorbehaltlich gesprochen werden.] Der Grenzfall des flehentlichen Rufes ist aber auch heute eine stets herausfordernde Möglichkeit, wenn wir uns nur die heutige Euthanasiedebatten vergegenwärtigen. Die Grenzsituationen bezeugen, worauf es im Verhältnis zum Anderen in letzter Konsequenz ankommt. Das Geheiß, nicht zu töten, ist aber auch in seiner positiven Entsprechung zu sehen, nämlich in der Forderung, dem Anderen zu geben, was er zum Leben braucht und ihn in einem Sterben nicht allein zu lassen, welches lebenslang währt. Die Weisung, nicht zu töten, führt LEVINAS, wie gesagt, als etwas Unbedingtes an. Sie erinnert uns an das, was man in der abendländischen Tradition das Urgewissen genannt hat und das identisch mit der als absolut empfundenen Forderung ist: Tue unbedingt das Gute, und meide das Böse. Indes bedarf es im Kontext der abendländischen Tradition der weiteren inhaltlichen Auffüllung durch das praktische Gewissen, um zu sagen, was denn das Gute, was das Böse sei. Die Entwicklung eines ethischen Systems aber – wir kommen noch darauf – ist nicht die Sache

145

Ders., Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomelogie und Sozialphilosophie, Freiburg – München 2 1992, 224.

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LEVINAS‘. Seine Aufmerksamkeit gilt dem Verhältnis zu dem jeweils Anderen in der konkreten Situation, und zwar insofern sie nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Die genannte Asymmetrie ist ein wesentliches Unterscheidungsmal LEVINAS` zu dem anderen jüdischen Denker, für den das Verhältnis zum Anderen ebenfalls zentral ist, zu MARTIN BUBER146. Die Gegenüberstellung mit ihm vermag die Position LEVINAS schärfer zu akzentuieren. „BUBERS Auffassung ist […] mit dem Liberalen verbunden. Der Gedanke, dass ich Geisel des Anderen bin, ist mit diesem Denken nicht vereinbar. ‚Ich und Du‘ wurde ja auch schon im Jahre 1923 publiziert – vor Hitler. Mich erinnert diese Philosophie vor 1933 an die Pubertät eines Menschen. BUBER lebte in einer Welt, in der gewissermaßen noch harmonische Beziehungen vorherrschten. Er verkehrte in einer anständigen Welt. In der traditionellen Philosophie kann ich durch Sympathie verstehen, was dem Anderen fehlt. BUBER geht weiter – er spricht von ‚Umfassung‘. Mit ‚Umfassung‘ bin ich beim Anderen nicht in der Reflexion, sondern im Erlebnis selbst. In ‚Ich und Du‘ ist das Miteinander unmittelbar erlebt, nicht nur gewusst. In der Einfühlung vergisst sich das Ich und erscheint sich selbst nicht wie das Du des Du. Ich fühle den Anderen als denjenigen, der mich fühlt. Ich fühle dies, indem ich ihn fühle. Die Reziprozität […] ist hier in voller Entfaltung – sie überspringt das Ursprüngliche. Ursprünglich bin Ich aber derjenige, der für jeden anderen leiden kann. Gerade dies ist unersetzlich.“147 Selbstverständlich anerkannte BUBER auch die Notwendigkeit materieller Hilfeleistung gegenüber dem Bedürftigen; er bestritt aber nach LEVINAS, dass man darin notwendigerweise schon die richtige Beziehung vom Ich zum Du haben müsse. Beide, LEVINAS und BUBER, haben in dieser Frage brieflich keine Einigung erzielen können. „Ich habe MARTIN BUBER hochachtungsvoll vorgeworfen, dass das von ihm entworfene Ich-Du-Verhältnis ätherisch sei – ein rein geistiges Verständnis zweier Menschen, die sich in die Augen schauen.“148 Für LEVINAS selbst gilt:

146

147 148

Zur weiteren und tieferen Auseinandersetzung mit Buber siehe: EMMANUEL LEVINAS, Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie, München – Wien 1991, 11–59. Ders., Das Ich kann nicht vertreten werden. Ebd.

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„Das ökonomische Verhältnis, das Geben, scheint mir also im Mittelpunkt der Beziehung zum Anderen zu stehen. Damit rechtfertigt sich die materielle Welt. Sie macht es möglich, dass eine zwischenmenschliche Beziehung überhaupt zustande kommt. Das Materielle hat diesen Sinn: dass man teilen, mitteilen kann. Mitteilung ist eben Teilung, und dies ist nicht nur im Sinne des rein Kommunikativen zu verstehen. BUBER hat das alles auch gesehen. Aber es gibt bei ihm doch eine gewisse Verherrlichung der Kommunikation, der Gegenseitigkeit, der Reziprozität. Ich bin gewiss der, der gibt. Aber ich bin auch der, der bekommt. Vielleicht ist das der Hauptunterschied zwischen uns beiden. Mir scheint das Zwischenmenschliche nie reziprok zu sein."149

Das Verhältnis von „Ich und Du“ aber assoziiert bei uns nun einmal Partnerschaft und Gleichrangigkeit. Und es scheint oberflächlich, dass beide, BUBER und LEVINAS, einfach unterschiedliche Umfelder meinen: eine partnerschaftliche und eine soziale. Dies würde LEVINAS so nicht gelten lassen. Wir hätten ihn missverstanden, wollten wir in der Zurückweisung der Reziprozität, einer Erwartung von Dankbarkeit und Gegengabe, eine Zielvorgabe sehen, wie denn eine ‚ideale Partnerschaft‘ auszusehen habe. Er sucht vielmehr den ‚Ort‘ aufzuzeigen, wo wir uns dem Anderen gegenüber geradezu unerbittlich als nicht-vertretbar wissen und wo die Unbedingheit aufblitzt. Die Andersheit des Anderen kommt gar „überschwenglich“ im Eros und in der Sexualität zum Ausdruck, wie LEVINAS betont. „Für ein männliches Wesen ist das Weibliche nicht nur aufgrund seiner unterschiedlichen Natur anders, sondern auch insofern die Andersheit in gewissem Sinn seine Natur ist“150. Die geschlechtliche Liebe muss den Anderen als solchen suchen. Alles andere bedeutete, ihn sich zu eigen machen. Das wahrhaft Menschliche bedeutet doch nicht Zu-sich-Kommen, sondern Zum-Anderen-Gehen. „Die Leidenschaftlichkeit der Wollust besteht darin, zu zweit zu sein. Das andere als anderes ist hier nicht ein Objekt, das das unsrige wird oder das wir wird; es zieht sich im Gegenteil in sein Geheimnis zurück“151. Geheimnis hat hier nichts mit Romantik zu tun. Die Bewegung des

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Ebd. Ethik und Unendliches, 49. E. LEVINAS, Die Zeit und der Andere, Hamburg 1989, 57.

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Eros läuft dem Bewusstsein entgegen. Damit ist es nichts Unbewusstes oder Unterbewusstes. LEVINAS sieht „keine andere Möglichkeit als die, es Geheimnis zu nennen“152. Beim Eros geht es nicht um ein Erkennen des Anderen; dies hieße, ihn besitzen zu wollen. Erkennen bedeutet Aneignung und entspringt dem Machtwillen. Noch ist es ein Verschmelzen; das würde die Dualität aufheben. Es muss aufgezeigt werden, wodurch die geschlechtliche Leidenschaft sich vom Besitzen und Können unterscheidet. „Die Liebe ist nicht eine Möglichkeit, sie verdankt sich nicht unserer Initiative, sie ist ohne Grund, sie überfällt uns und verwundet uns und dennoch überlebt in ihr das Ich“153. Entsprechend grundlos ist letztlich die Liebkosung. Sie sucht höchstens vordergründig, aber nicht eigentlich etwa das Samtweiche oder die Wärme. „Dieses Suchen der Liebkosung stellt gerade dadurch, dass die Liebkosung nicht weiß, was sie sucht, ihr Wesen dar. Dieses ‚nicht wissen‘, dieses grundlegende Nicht-hingeordnet-sein-auf ist das Wesentliche an ihr. Sie ist wie ein Spiel mit etwas, das sich entzieht, wie ein Spiel, das absolut ohne Entwurf und Plan ist, ein Spiel nicht mit dem, was das Unsrige und was zu einem Wir werden kann, sondern mit etwas anderem, etwas immer anderem, immer Unzulänglichem, immer Zu-Kommendem“154. In diesem Zusammenhang lassen sich zwei Grundbegriffe LEVINAS‘, die für ihn durch sein ganzes Werk hindurch bedeutungsvoll sind und die vielfach schwer verständlich erscheinen, am besten verdeutlichen. Er spricht von dem Unterschied von Bedürfen (Besoin, oft Großschreibung!) und Sehnen (Désir). Das Bedürfen zielt darauf, sich etwas einzuverleiben oder in Besitz nehmen. Das Sehnen als die Bewegung zum Anderen geht ins Unendliche und findet niemals sein Ziel. So ist beispielsweise die Liebkosung gebildet aus einer „Steigerung des Hungers, aus immer reicheren Verheißungen, die neue Perspektiven auf das Unergreifliche eröffnet. Sie nährt sich von unzählbaren Hungern“155. Auf der Seite des Sehnens steht auch die Verantwortlichkeit für den Anderen, die niemals an ein Ende gelangt.

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Ebd., 59. Ebd. Ebd., 60. Ebd., 60.

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Wenn LEVINAS von der Asymmetrie des Verhältnisses zum Anderen spricht und sich so vehement gegen die Gegenseitigkeit bei BUBER ausspricht, so kann dies – gerade im Verhältnis des Mannes zur Frau – den Eindruck einer vorausgesetzten Ungleichheit hervorrufen, die hinzunehmen wir uns weigern möchten. Unterwerfung aber hat es mit Kampf zu tun; dann aber wird es gerade reziprok. Auf die ihm gestellte Frage, ob der Andere nicht doch auch mir gegenüber Verantwortung habe, antwortete er: „Möglicherweise, aber das ist seine Sache.“ Eines seiner Hauptanliegen ist eben zu vermitteln, „dass die intersubjektive Beziehung eine nicht-symmetrische Beziehung ist. In diesem Sinne bin ich verantwortlich für den Anderen, ohne Gegenseitigkeit zu erwarten, und wenn es mich das Leben kosten würde. Die Gegenseitigkeit, das ist seine Sache. Gerade in dem Maße, in dem die Beziehung zwischen dem Anderen und mir nicht gegenseitig ist, bin ich dem Anderen gegenüber unterworfen“ 156 , bin ich Geisel des Anderen. Dabei komme das Ich niemals aus der Situation des Gebenden her. „Das Ich ist immer derjenige, der verpflichtet ist. Freilich, wenn ein Dritter erscheint, muss man sich entscheiden. Von diesem Augenblick an beginnt eine gewisse Vergleichung des Subjektiven. Und es beginnt, was man Gerechtigkeit nennt – wo ich auch in Betracht komme. Dieses ‚In-Betracht-Kommen des Ich‘, das in der Gesellschaft beginnt, ist immer im Ersten verwurzelt, indem ich der einzig Verpflichtete bin.“ Geht es um die Gemeinschaft der Menschen, muss eine Güterabwägung stattfinden und muss Gerechtigkeit in einer Gesellschaft, in der alle als gleich anerkannt werden müssen, verwirklicht werden. Dazu bedarf es der Ethiksymsteme, die theoretisch Gebote und Verbote begründen. Dies ist aber eine andere Ebene und nicht das Thema LEVINAS‘.157 Zur Verwirklichung von Gerechtigkeit und zur Behebung von Not bedarf es selbstverständlich auch staatlicher Sozialeinrichtungen und anderer Institutionen, die Recht setzen und durchsetzen. Ihnen begegnet 156 157

Ethik und Unendliches, 75. Wenn die lateinamerikanischen Bischöfe in den Dokumenten von Puebla mit der Option für die Armen, wie COMBLIN, anmerkt, sich LEVINAS angeschlossen haben, ohne seinen Namen zu nennen, so kann es sich nur um eine Anregung durch ihn handeln, nicht um ein Weiterfahren auf seiner Schiene. Steht uns heute „in Millionen von Exemplaren der absolut andere gegenüber“, so fordert es uns doch eher zu Systemveränderungen auf. Vgl. J. COMBLIN, Das Bild vom Menschen, Düsseldorf 1987, Zit. 63.

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LEVINAS allerdings mit einiger Skepsis: Es komme darauf an, dass solche Institutionen verhinderten, dass der Mensch des Menschen Wolf werde und sie nicht das Grundlegende verstellten, dass der Mensch für den Menschen da sei. Die entscheidende Frage sei: „Stammt das Soziale mit seinen Institutionen, seinen universellen Formen, seinen Gesetzen daher, dass man die Folgen des Krieges zwischen den Menschen limitiert hat oder dass man die Unendlichkeit limitiert hat, die sich in der ethischen Beziehung zwischen Mensch und Mensch eröffnet?“158. Auch gesellschaftliche Verpflichtungen wurzeln in der Beziehung von Angesicht zu Angesicht. Gegen BUBERS Behauptung, der Born, aus der alle menschliche Sozietät und Sozialität entspringe, sei immer das Prinzip der Gleichheit159, setzt LEVINAS das Ungleichgewicht, und das heißt, dass der Andere immer wichtiger sei als das Ich. „BUBER setzt Ich und Du als Punkte, die zueinander im Verhältnis stehen. Worin aber die Einzigkeit des Ich besteht, sagt er nicht. Das wird nicht zum Problem. Aber das Ich kann nicht ersetzt werden, darauf kommt es an. Das ist Auserwählung!“

Auf Einzigartigkeit und damit auf die Würde des Ichs aber kommt es LEVINAS an; sie aber kommt mir nur vom Anderen zu; ihrer werde ich nur ‚ansichtig‘ von Antlitz zu Antlitz. „In der Erscheinung des Antlitzes liegt ein Befehl, als würde ein Herr mit mir sprechen“160. Die Würde des Einzelnen und Einzigartigkeit besteht, mit anderen Worten gesagt, in der Würde des unbedingten An-Spruchs. Darin kommt immer ein Drittes ins Spiel, eben das Unbedingte, oder ein Dritter, der in der Religion mit Gott benannt wird. „Die Liebe Gottes zur menschlichen Einmaligkeit ist das Gebot der Liebe“161. Die Einmaligkeit rührt also nicht von der Zugehörigkeit zu einer (vielleicht außerordentlichen) Gattung Mensch, 158 159

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Ethik und Unendliches, 62. LEVINAS‘ Aussage, dass für BUBER die Gleichheit Grundlage der Sittlichkeit ist, mag sich schon in dessen (grammatikalisch durchaus möglichen) Verdeutschung des biblischen Gebotes der Nächstenliebe bestätigen: „Halte lieb deinen Genossen – dir gleich (kamocha)“ (Lev 19,18). Ethik und Unendliches, 68. Außer sich, 109.

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von der der Einzelne doch lediglich ein Einzelfall ist162. Es ist diese unendliche Liebe, die den Menschen zur Liebe verpflichtet – und nur die unendliche Liebe kann auch Liebe gebieten –, die ihm Auserwählung und Einmaligkeit als NichtVertretbarkeit verleiht. Fällt nun unwillkürlich Gott ins Denken ein? Gewissermaßen ja, in der ethischen Situation kommt uns Gott nach LEVINAS ‚in den Sinn‘. Aber LEVINAS hält es für unmöglich, Gott zu thematisieren, ihn als einen Gegenstand des Denkens zu behandeln. Er kann nur ‚gedacht‘ werden in der Antwort auf seinen An-Spruch. LEVINAS kann aber nicht umhin, von der Spur der im Antlitz des Anderen anwesenden dritten Person zu reden. Sie ist aber anwesend, indem sie sich entzieht. Denn sie ist kein Zeichen, das einen jenseitigen Dritten vergegenwärtigt. Zeichen heißt Mitteilung. Eine Spur wird gewöhnlich aber ohne Absicht hinterlassen. Eher wird sie absichtlich verwischt. Gott „zeigt sich nur in seiner Spur, wie in Kapitel 33 des Exodus“163. Dies ist die Spur eines, der vorüberzieht, aber nicht geschaut werden kann. Diese Spur bezeichnet insofern nicht etwas oder jemand anderes, als es sie nur zu betrachten und zu deuten gälte; sie bedeutet jedoch etwas: Zu dem anderen Dritten „hingehen, heißt nicht, dieser Spur, die kein Zeichen ist, folgen, sondern auf die anderen zugehen, die sich in der Spur halten“164. Mit anderen Worten: Die Spur des Absoluten erschließt sich mir nicht, wenn ich ihr Aufmerksamkeit schenke, sondern nur, wenn ich einfach wach in das Antlitz des Anderen schaue. Dass Gott nicht abbildhaft habbar ist, ist eine Grundüberzeugung LEVINAS‘. Dennoch kann der Mensch im Anderen des Unbedingten gewahr werden. LEVINAS hegt die Hoffnung, dass dieser deswegen auch in der heutigen Zeit dem unbedingten An-Spruch folgt. „Heute […] werden die Werte nicht umgewertet, sondern schlicht entwertet. Man glaubt fast an nichts. Der einzige Wert, der dennoch besteht, ist der Wert des Anderen. Man kann sagen, dass dies von einem neuen Humanismus zeugt. Neu daran ist, dass nicht der Mensch als solcher Wert hat, sondern als der Andere. Als der Andere geht er meinem Wert vor.“

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Ebd., 200. Die Spur des Anderen, 235. Ebd., 235.

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Die Würde des Menschen ist mithin nicht von der Gattung herzuleiten; sie liegt vielmehr in dem An-Spruch begründet, der vom Anderen an mich ergeht. Und LEVINAS hofft, wie gesagt, dass der Mensch auch gegenwärtig dafür noch ein Gespür hat. Wird aber dieser An-Spruch nicht immer wieder überhört? LEVINAS schließt keineswegs die Augen davor, dass es auch Schuld gibt, ja unermeßliche Schuld. „Das Verbot zu töten macht den Mord nicht unmöglich, selbst wenn die Autorität des Verbotenen im schlechten Gewissen über das verbrachte Böse erhalten bleibt – die Bösartigkeit des Bösen“165Aber auch die Schuld bezeugt letztlich die Unbedingtheit, insofern sie in der Anklage und Einklage zum Vorschein kommt.

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Ethik und Unendliches, 66.

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4. Kapitel Selbstüberschreitung: auf der Suche nach Sinn 1. Die Sinnfrage auf der Suche des Menschen nach Lebensbewältigung 1.1 Begriffliche Klärung „Vor einigen Jahren war auf einem Plakat der Deutschen Bundesbahn zu lesen: ‚Alle reden vom Wetter – wir nicht!‘ Wenn heute ein Werbetext für Theologie und Kirche, aber auch für manche Strömungen der Philosophie, Soziologie und Psychologie entworfen würde, müsste es lauten: ‚Alle reden vom Sinn – wir auch!‘“ So leitet der evangelische Theologe G. SAUTER das Vorwort zu einem Buch über den Lebenssinn166 ein. Dem ist zuzustimmen. Wenn die Frage nach dem Lebenssinn in verschiedenen Bedeutungszusammenhängen auftaucht, dann muss damit gerechnet werden, dass dem Begriff nicht immer der gleiche Wortsinn zugrunde liegen könnte. Um zu vermeiden, dass man aneinander vorbeiredet, muss der eigene Standort in dieser Frage bestimmt werden, – selbstverständlich nicht

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G. SAUTER, Was heißt: nach Sinn fragen?, München 1982. 105

willkürlich, sondern orientiert an der Herkunft und Bedeutungsgeschichte des Wortes ‚Sinn‘.167 Die Tatsache, dass man sich bei der Sinnfrage sprachlich geradezu in einem Labyrinth zurechtfinden muss, ist freilich erst neueren Datums. Das Grimm’sche Wörterbuch zeigt, dass zu früheren Zeiten das Wort noch nicht einen derartig ausgedehnten Gebrauch hatte wie heute. 168 In jedem Fall ist von der Ursprungsbedeutung des Wortes, ‚Reisen‘ (sinnan), immer ein Bezug auf ein Ziel mitgegeben. Das Gerichtetsein ist auch das Gemeinsame, welches den Bedeutungsnuancen, wie sie das Deutsche Wörterbuch von GRIMM anführt, zugrunde liegt. Dies trifft in erster Linie für den Bereich der Wahrnehmung zu. (im Neuhochdeutschen bezeichnet der Sinn, besonders im Plural, dann häufig auch die Organe der Wahrnehmung; so sprechen wir von den fünf Sinnen.) In jedem Fall geht es bei dem Sinn in seiner Grundbedeutung um ein ‚Auf-etwas-Zugehen‘. So hat eine Handlung einen Sinn, wenn sie entsprechend ihrer Intention auf ein Ziel zuläuft. Im Handeln setzen wir, genau besehen, immer Sinn solcherart voraus; andernfalls kämen wir nicht zum Handeln. Mehr noch: Um im Einzelnen überhaupt etwas anfangen zu können, sind wir nicht nur anzunehmen genötigt, es habe als einzelnes Sinn, vielmehr unser Dasein habe überhaupt und im ganzen Sinn. In dieser Hinsicht können wir mit B. WELTE von einem umfassenden Sinnpostulat169 sprechen. Eine Handlung oder eine Aussage (als ‚Sprachhandlung‘) kann aber durchaus auf ein Ziel gerichtet sein und dergestalt ‚Sinn‘ haben, ohne für mich irgendwelche Bedeutung zu besitzen. Im zweiten Fall kommt ein anderer Sinnbegriff zum Vorschein. G. SAUTER schlägt darum vor, konsequent „Sinnhaftes“ von „Sinnvollem“ zu unterscheiden. Eine Handlung ist demnach sinnhaft, wenn sie einen 167

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Den wohl besten Überblick über die gesamte Bedeutungsbreite in philosophischer Sicht gibt R. SCHEFFLER, Art. »Sinn«, in: H. Krings/H. M. Baumgartner/Ch. Wild (Hg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe (Studienausgabe) Bd. 5, München 1974, 1325–1341. Vgl. J. E. HEYDE, Vom Sinn des Wortes Sinn. Prolegomena zu einer Philosophie des Sinnes, in: R. Wisser (Hg.), Sinn und Sein. Ein philosophisches Symposion, Tübingen 1960, 69–94, z. St. 70. Vgl. außerdem J. und W. GRIMM, Deutsches Wörterbuch, Bd. X/1, 1905, Sp. 1103. Vgl. B. WELTE, Religionsphilosophie, Freiburg 1978, 58ff.

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bestimmten Zweck verfolgt; ist sie aber auch für mich bedeutsam, dann ist sie sinnvoll.170 Diese Unterscheidung SAUTERS erscheint mir sehr hilfreich. Dadurch können wir gedankliche Klarheit erlangen. Setzen wir in unserem Tun und im gesamten Handlungszusammenhang Sinn voraus, so vertrauen wir darauf, dass dies alles sinnhaft ist. Um etwas davon Verschiedenes geht es, wenn in der Sinnfrage der Aspekt von Bedeutsamkeit (für uns, die Fragenden) gemeint ist. Dann möchten wir, dass die erfragte Sinnantwort uns beispielsweise den Gesamtzusammenhang, in dem wir leben, als sinnvoll begründet und erklärt. Im ersten Fall fragen wir, was als sinnhaft angenommen werden kann; es geht mithin um das Was allen Handelns und Erlebens. Im zweiten Fall ist die Sinnfrage eine Warum- und Wozu-Frage. Ja, auf der Linie der Frage nach dem Sinnvollen komme ich zu der Warum- und Wozu-Frage schlechthin: Wozu lebe ich? – Warum muss ich leiden? Die uns geläufige Frage nach ‚dem‘ Sinn ‚des‘ Lebens und ‚der‘ Geschichte ist also letzterer Art. Nun gilt es einen auffallenden Tatbestand festzustellen: Für diese Bedeutung des Wortes ‚Sinn‘ gibt der genannte Wörterbuchartikel, der dessen Sprachgebrauch bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts berücksichtigt, keine Belege. Offensichtlich ist demnach die Sinnfrage in der heutigen Bedeutung erst später entstanden. Sie erscheint als Begleitphänomen der Neuzeit, jener Periode also, deren Charakteristik und Probleme ich zu Beginn des Buches ausgeführt habe. Es kann mithin keine Rede davon sein, dass es die Sinnfrage, wie wir Heutigen sie stellen ‚immer schon‘ gegeben habe. Vielmehr können wir in der modernen Sinnfrage nicht nur ein allgemein-menschliches Orientierungsbedürfnis ausgedrückt sehen; wir müssen darin auch ein historisch gewordenes Erklärungsbedürnis171 (‚wozu lebe ich überhaupt?‘) feststellen. Wir kommen mithin auf das erste Kapitel zurück.

170 171

Vgl. G. SAUTER, Was heißt: nach Sinn fragen?, a.a.O., 30. Vgl. G. SAUTER, a. a. O., 35.

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1.2 Der Ausgriff nach dem Sinnganzen in der Neuzeit Gegenüber dem Mittelalter tritt in der Neuzeit, wie im ersten Kapitel dargestellt, eine tiefgreifende Wandlung im Lebensgefühl und in der Denkstruktur auf. Der Mensch fühlt sich nicht mehr wie selbstverständlich eingebunden in das Gesamt des Gefüges der Welt. Er tritt vielmehr in Distanz zur Welt. Damit wird die Problematik des Gegenstandes als eines Gegenstandes deutlich. Mit dem derartigen Auseinanderfall von Subjekt und Objekt genügt dem Menschen nicht mehr einfach die Wahrnehmung; er sieht sich vielmehr genötigt, das Wahrgenommene auf die eigenen Denkstrukturen zu beziehen. Indem der Mensch sich nicht mehr selbstverständlich in die Gesamtstruktur einer geordneten Welt eingebunden weiß, fühlt er sich gänzlich ungeborgen und wird der Zweifel zum durchgängigen Charakteristikum des Denkens seit der Reformation.172 Das Denken des Reformators MARTIN LUTHER wird ursprünglich angestachelt von quälenden Zweifeln an der Barmherzigkeit Gottes. Seine inneren Kämpfe im Kloster ließen als Ausweg aus dem Zweifel an der Barmherzigkeit nur die Alternative der Verzweiflung oder der Heilsgewissheit zu. Die Heilszusage Gottes genügt dabei auch nicht in sich; sie wird bedeutsam erst in dem Bezug ‚auf mich‘, in dem entscheidenden ‚pro me‘ (‚für mich‘): Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Auf den Zweifel an der Barmherzigkeit Gottes bei LUTHER folgte im 18. Jahrhundert der Zweifel an der Gerechtigkeit Gottes. Das Problem der Rechtfertigung des Sünders wurde abgelöst von dem Bemühen der Rechtfertigung Gottes angesichts irdischen Leids, von der sogenannten Theodizee also, die in aller Ausprägung nun zum ersten Mal in der Geschichte erscheint. Während zuvor „im Rahmen des Gottesglaubens gezweifelt wird, vollzieht sich in der Geschichte des Zweifels auf die Neuzeit zu eine tiefgreifende Mutation: Nun beginnt der Zweifel sich auf die Existenz Gottes selbst zu beziehen […] Woran liegt das? Indem man Gott mit einer selbständig ausgebildeten Idee der Gerechtigkeit identifiziert – also

172

Vgl. H. THIELICKE, Glauben und Denken in der Neuzeit. Die großen Systeme der Theologie und Religionsphilosophie, Tübingen 1983, bes. 2. Kapitel, 37–53.

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nicht mehr von ihm selber Auskunft darüber empfängt, wer er sei und was er als ‚seine‘ Gerechtigkeit verstanden wissen will –, indem also selbstgesetzte Maßstäbe zum Kriterium des Gottesbildes werden, wird der so in unsere Wertetafeln Integrierte selbst fragwürdig“. 173 Auch hierbei wird deutlich, wie der neuzeitliche Mensch, um im Zweifel Gewissheit zu erlangen, den Gegenstand seines Zweifels, die Gerechtigkeit Gottes, auf sich bzw. sein eigenes Denken bezieht, eben auf selbst gebildete Kriterien und Wertmaßstäbe. Mit der dritten Gestalt des Zweifels stoßen wir auf ein für das 18. und 19. Jahrhundert typisches Problem. Nach den Zweifeln an der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit Gottes geht es um die Fraglichkeit religiöser Erkenntnis überhaupt: Sind die Berichte über zufällige Geschichtswahrheiten, wie die Auferstehung Jesu Christi – so fragt die Aufklärung – derart hieb- und stichfest, dass ich meinen Glauben darauf gründen kann? Die überkommenen Autoritäten müssen sich nun vor dem Forum der Vernunft rechtfertigen. Was soeben für den Bereich der Religion skizziert wurde, gilt für die neuzeitliche Welt des Geistes allgemein. Zu Beginn der Neuzeit fühlte sich der Mensch nicht mehr wie selbstverständlich in ein Ordnungsgefüge eingebunden und er begann, nicht mehr nur nach Wahrheiten zu fragen, sondern nach der Gewissheit der Wahrheitserkenntnis. Und indem mit dem Auseinanderfallen von Objekt und Subjekt ‚objektive‘ Fakten zwangsweise durch menschliches Bemühen auf das erkennende Subjekt und seine Denkprinzipien bezogen werden, ist die Struktur neuzeitliches Denken gegeben. Gerade dieses Denken hat die naturwissenschaftliche Entwicklung in Gang gesetzt.174 Es ist diese Art des Denkens, durch das die

173 174

Ebd., 41. Vgl. H. GLOCKNER, Die europäische Philosophie von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 1958, 428–438. Vgl. bes. H. DOLCH, Kausalität im Verständnis des Theologen und der Begründer neuzeitlicher Physik, Freiburg 1954. Selbstverständlich gilt in der modernen Quantenphysik diese Aufspaltung der Welt in Objekt und Subjekt nicht mehr. Gegenstand der Forschung ist nun nicht mehr die Natur an sich, sondern die den menschlichen Fragestellungen ausgesetzte Natur. Die Natur erscheint nicht abgelöst von den experimentellen Anordnungen. – Darin vollendet sich aber nur die neuzeitliche Haltung, die alles Außermenschliche auf den Menschen und seine Denksysteme zu beziehen begonnen hat.

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Naturwissenschaften mit einem neuen Kausalverständnis begründet wurden. ROGER BACON im 15. Jahrhundert und ISAAC NEWTON im 17. Jahrhundert sind hier

zu nennen. Damit hat der Mensch sich zu einer bis dahin nie dagewesenen Bemächtigung der Natur emporgeschwungen. Genau darin zeigt sich aber auch die Kehrseite der Medaille: die Bedrohung der Erde und der Menschheit. In dem dargestellten Zusammenhang taucht auch die Sinnfrage in ihrer modernen Gestalt als Frage nach dem Sinn des Ganzen und mithin extrapoliert ins Totale auf; und sie trägt ganz die Strukturmerkmale neuzeitlichen Denkens. Es geht um ein letztes Sich-Vergewissern und damit immer um eine Rechtfertigung des eigenen Lebens oder Leidens, der Welt und der Geschichte, also nicht einfach nur um ein urmenschliches Orientierungsbedürfnis. Die Rechtfertigung aber soll geschehen im Rückbezug auf das denkende Subjekt bzw. auf seine gedachten Maßstäbe. Sinnvoll ist nur, was dem Vorentwurf einer theoretischen und praktischen Vernunft entspricht. In dieser Rückbindung des Lebens- oder Weltganzen geschieht ‚der Griff nach den Sternen‘, oder, anders gesagt, die Suche nach Sinn offenbart so den „Willen zur Macht“ (NIETZSCHE). „Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn“, so versucht GOETHES Faust Johannes 1,1 zu übertragen. Diese Aussage wird aber sogleich zurechtgerückt: „Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft! / Doch auch indem ich dieses niederschreibe, / Schon warnt mich was, dass ich dabei nicht bleibe. / Mir hilft der Geist! auf einmal seh ich Rat / Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!“175 Der Sinn erscheint also keineswegs als Ursprung; er wird vielmehr begründet durch die eigenmächtige Stiftung des schöpferischen Tatmenschen. Mit dem Versuch, sogar den Gesamtplan des Ganzen konstruieren zu wollen, hat der neuzeitliche Mensch sich aber übernommen. Denn eine befriedigende und allgemein akzeptierte Antwort darauf hat es nie gegeben; und es hat sie auch nicht geben können, denn in der Geschichte des Zweifels als eines durchgängigen Zuges neuzeitlichen Denkens mussten schließlich auch die Kriterien, welche jeweils Gewissheit vermitteln sollten, in Zweifel gezogen werden. So erscheint ‚die‘ Sinnfrage vom Ursprung ihrer Entstehung antwortlos.

175

J. W. GOETHE, Faust 1 (Ausgabe Büchergilde Gutenberg), Theaterstücke, Frankfurt a. M. o. J., 43f.

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2. Die Frage nach dem Gesamt- und dem Leidenssinn in der Bibel Wenn heute von der Sinnfrage die Rede ist, so handelt es sich in der Regel um eine Frage des ‚gewöhnlichen Lebens‘, also eines Lebens im Horizont von Arbeit, Liebe und Familie. In diesem Zusammenhang wird vielleicht überraschend der Religion im Allgemeinen und dem christlichen Glauben im Besonderen empfohlen, sich als „Kontingenzbewältigungspraxis“176 zu verwirklichen. Damit wird in besonderem Maße die Sinnfrage der Theologie ‚zugeschoben‘. Der christliche Glaube als Sinnlieferant? Die Antwort darauf wird keine uneingeschränkte Bejahung sein. So viel sei jetzt gesagt: Sinn lässt sich nicht als ein Wissenspaket liefern; Sinn lässt sich nur erschließen. Dies zeigt auch ein kurzer Blick in die Bibel. Fragt man, wo in der Bibel vorrangig die Erkenntnis von Gesamtzusammenhängen thematisiert wird, so muss man auf die sogenannte Weisheitsliteratur stoßen. Dahinter stand eine breite Bewegung, der es um die Sammlung von Erfahrungswissen und deren theologischen Aufarbeitung ging. „Weisheit war in Israel und im Alten Orient“, wie G. VON RAD ausführt, „seit je das Wissen des Menschen von der ihn umgebenden Welt, von der Beschaffenheit und den Ordnungen des Lebensraumes.“177 Das Streben der Weisheit ging geradezu ins Enzyklopädische. Innerhalb der Weisheitsliteratur wird die Frage nach dem Leidenssinn zum ausschließlichen Thema im Ijobbuch gemacht; es gilt seitdem als das klassische biblische Buch für die Leidensthematik. Nach dem Sinn des Ganzen der Schöpfung und der Welt des Menschen aber fragt – in einer fast neuzeitlich anmutenden Weise und auch in einer beinahe modernen Grundgestimmtheit – das alttestamentliche Buch Kohelet.

176

177

H. LÜBBE, Religion nach der Aufklärung, in: T. Rendtorf (Hg.) Religion als Problem der Aufklärung, München 1981, 165–184, z. St. 174. Vgl. N. LUHMANN, Funktion der Religion, Frankfurt a. M. 1977. G. VON RAD, Theologie des Alten Testaments, Bd. 2: Die Theologie der prophetischen Überlieferung Israels, München 1965, 317.

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2.1 Die Frage nach dem Sinn des Lebensganzen: Kohelet der Prediger In theologischer Hinsicht erweist sich Kohelet (der Prediger Salomo, wie ihn LUTHER nennt), dessen Buch entsprechend seiner Sprache, der Geistesart und der konkreten Anspielungen gegen Ende des dritten vorchristlichen Jahrhunderts entstanden sein dürfte, viel anspruchsvoller als die ältere Weisheit. Geht es ihm doch nicht nur um die Sammlung von Einzelerfahrungen als vielmehr um das Lebensganze. Betrachtet man das Gesamtwerk, so ergeben sich, wie von Rad herausstellt, „drei grundlegende Einsichten, um die seine Reflexion fortwährend kreisen. 1. Eine rationale Durchforschung des Lebens vermag auf keinen tragfähigen Sinn zu stoßen; es ist alles ‚nichtig‘. 2. Gott bestimmt alle Geschehnisse. 3. Der Mensch vermag diese Setzungen, das ‚Werk Gottes‘ in der Welt, nicht zu erkennen. Es versteht sich, daß sich diese Sätze gegenseitig bedingen, daß also einmal das Schwergewicht einer Aussage nur auf einen fällt, daß sie aber doch unlösbar zusammengehören.“178 Auf den ersten Blick scheint Kohelet an der Schwelle des Nihilismus zu stehen: Das Leben mit allem, was es enthält, ist ein „Windhauch“ (hebr. häwäl), wie es immer wieder heißt, oder eine Ausdünstung, d. h. ein Nichts. Statt Recht herrscht vielfach Unrecht auf Erden. Ein ordentliches Leben lohnt sich nicht immer; denn oft geht es dem Übeltäter besser als dem Rechtschaffenen. Schlimmer noch ist, dass der Mensch nicht über die Zukunft verfügen kann und ihr schutzlos preisgegeben ist. Der Tod aber ist am schlimmsten; macht er doch alle Anstrengungen zunichte. „Mich verdross auch mein ganzer Besitz, für den ich mich unter der Sonne anstrenge und den ich dem Menschen lassen muss, der nach mir kommt.“ (Koh 2,18) Angesichts des Todes verblasst sogar der Wert dessen, was dem Alter zukommt, der Weisheit: „Viel Wissen, viel Ärger, wer das Können mehrt, der mehrt die Sorge.“ (Koh 1,18) Welche Lebenshaltung resultiert daraus für Kohelet? „Also: Iss freudig dein Brot, und trink vergnügt deinen Wein, denn das, was du tust, hat Gott längst so

178

G. VON RAD, Weisheit in Israel, Neukirchen – Vluyn 1970, 294.

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festgelegt, wie es ihm gefiel. Trag jederzeit frische Kleider, und nie fehle duftendes Öl auf deinem Haupt. Mit einer Frau, die du liebst, genieße das Leben alle Tage deines Lebens voll Windhauch, die er dir unter der Sonne geschenkt hat, alle deine Tage voll Windhauch.“ (Koh 9,7–9) Angesichts solcher Empfehlungen muss aber herausgehoben werden, dass sich die Vorstellungen Kohelets vom Lebensgenuss entscheidend abheben von einer modernen Lebensgier, die sich das Vergnügen selber schaffen zu müssen meint und die sogar noch die Grenzen des Menschenmöglichen, etwa durch künstliche ‚Bewusstseinserweiterung‘ hinauszuschieben sucht. Kohelet hingegen weiß, dass alles Schöne im Leben ein Geschenk des Schöpfers ist, dem man darob dankbar sein muss, wie es in dem letzten Zitat und auch sonst vielfach zum Ausdruck kommt. Die Möglichkeiten des weltlichen Daseins sind zwar begrenzt – alles hat seine „Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben“ (3,1f), d. h., unsere Welt besteht in sich jeweils ausschließenden gegensätzlichen Möglichkeiten –; diese begrenzten Möglichkeiten aber gilt es genüsslich oder auch schmerzlich wahrzunehmen, wobei „immer, wenn ein Mensch isst und trinkt und durch seinen ganzen Besitz das Glück kennen lernt, das ein Geschenk Gottes ist.“ (Koh 3,13) Wer solches liest, wird Kohelet nicht eine pessimistische Weltsicht unterstellen können. Alles weiß er aufgehoben in Gott. Er ist fest davon überzeugt, dass das Leben des Menschen und der gesamte Lebensplan in Gottes Hand ruhen. Kohelets Problem aber ist, dass er den Gesamtzusammenhang nicht durchschauen kann – und dies bedeutet für ihn eine wirkliche Denknot: „Da sah ich ein, dass der Mensch, selbst wenn er seinen Augen bei Tag und Nacht keinen Schlaf gönnt, das Tun Gottes in seiner Ganzheit nicht wiederfindet […] Deshalb strengt der Mensch, danach suchend, sich an und findet es doch nicht wieder. Selbst wenn der Gebildete behauptet, er erkenne – er kann es doch nicht wiederfinden.“ (Koh 8,16f.) Die Menschen haben zwar eine Ahnung von dem Zusammenhang aller Dinge im Wirken Gottes, der ihnen ihre „Stunde“ zugewiesen hat; die Beziehung des Handelns Gottes zu unserem Handeln aber können wir weder im Einzelfall noch im Ganzen des Gesamtzusammenhanges ermessen. Deshalb möchte Kohelet den Menschen anleiten, in seiner ihm von Gott zugewiesenen Zeit zu leben. Indem wir erkennen, dass ihre nicht gegenwärtige Gegenmöglichkeit faktisch ausgeschlossen ist, begreifen wir sie als sinnhaft. Ihren Sinn dürfen wir nicht um eines vermeintlich größeren Glücks willen preisgeben: „Es gibt die rechte Zeit für jedes 113

Geschehen.“ (Koh 8,6) Sie anzunehmen, erscheint ihm sinnhaft; er verwahrt sich aber dagegen, nach dem großen Zusammenhang zu fragen, um alles Tun und Erleben als sinnvoll begreifen zu können. Hier also, wo zum ersten Mal im biblischen Kontext die Sinnfrage in einer Prägung aufgeworfen wird, wie sie ihr dann vor allem in der Neuzeit verliehen wurde, wird sie sogleich im Namen des Glaubens verworfen.

2.2 Ijob und das Leid Das Ijobbuch enthält eine ältere (prosaische) Ijoblegende, die ein späterer Verfasser zweigeteilt hat, um in deren Anfang und Ende eine ausführlichere Versdichtung dazwischenzuschieben. Die ältere Legende dient nun als Rahmenerzählung für eine jüngere Versdichtung (die noch zu späterer Zeit korrigierende Ergänzungen von ‚konservativer‘ Hand erfahren hat – Kapitel 32–37). Relativ einfach sieht noch die Ijoblegende das Problem des Leids. Es wird begriffen als Mittel für einen Test Gottes, ob der Mensch nicht gegen ihn aufbegehre. Bewahrt der Mensch aber seine Frömmigkeit und besteht er so die Probe, wird Gott wieder alles zum Guten wenden. Anders denkt der Schöpfer der Versdichtung, die sich schon im Stil vom Rahmen abhebt. Er diskutiert die Frage menschlichen Leids, indem er das ganze theologische Wissen seiner Zeit ins Spiel bringt und auf einem hohen Reflexionsniveau erörtert. Vorgetragen wird es von den drei Freunden ljobs im Gespräch mit dem Leidgeplagten. Selbstverständlich steht im Vordergrund das traditionelle Argument einer Entsprechung von Tun und Ergehen: „Bedenk doch! Wer geht ohne Schuld zugrunde? Wo werden Redliche im Stich gelassen? Wohin ich schaue: Wer Unrecht pflügt, wer Unheil sät, der erntet es auch.“ (Ijob 4,7f) Jeder hat sein Schicksal somit selbst in der Hand. Hat der Mensch Religion („Gottesfurcht“) und einen lauteren Lebensweg, dann muss es ihm gut gehen, denn Gott ist gerecht. Über dieses Traditionsargument einer Korrespondenz von Vergehen und Ergehen geht insbesondere ein anderer Freund, Eliphas mit sublimen Überlegungen hinaus: Kein Geschöpf, nicht einmal ein Engel, kann angesichts des unendlichen Abstandes zu Gott so lauter sein, dass es vor dem Schöpfer bestehen könnte: „Ist wohl ein Mensch vor Gott gerecht, ein Mann vor seinem Schöpfer rein?“ 114

(Ijob 4,17). Ja, möglicherweise hängt das Leid gar nicht mit Schuld zusammen, sondern gehört zum Menschsein als solchem: „Der Mensch ist zur Mühsal geboren.“ (5,7) Es könnte aber auch das pädagogische Ziel Gottes sein, den Menschen vor jeder Überheblichkeit zu retten (5,12–17). Auf jeden Fall gehört zum Wesen Gottes Gericht und Gnade, Ernst und Erbarmen in einem. In dieser Weite der Realität Gottes, die das einsträngige menschliche Denken nicht mit einem Begriff erfassen kann und die nur in der lebendigen Begegnung gespürt werden kann, liegt für den Leidgeprüften der Grund, sich zu demütigen und Hoffnung zu schöpfen: „Denn er verwundet, und er verbindet, er schlägt, doch seine Hände heilen auch.“ (5,18) Die Rede des Eliphas ist nicht nur kunstvoll aufgebaut, sondern auch seelsorglich-psychologisch wirkungsvoll gestaltet. Dieser Freund ist offenbar ehrlich darum bemüht, Ijob zu helfen. Es ist beeindruckend, wie schonend er mit Ijob umgeht: Er beschuldigt den Dulder beispielsweise nicht, sondern sucht in ihm das Bewusstsein seiner Schuld indirekt zu wecken. Auch der seelsorglich-praktische Rat, sich in der Not an Gott zu wenden, wird nicht als eine direkte Vorschrift adressiert; behutsam bringt der Helfer sich vielmehr selbst ins Spiel: „Ich aber, ich würde Gott befragen und Gott meine Sache vorlegen.“ (5,8) Trotz solcher Feinfühligkeit ist aber diese Rede ein Musterbeispiel geistlichen Zuspruchs, dem letztlich das Herz fehlt. Ihre Wahrheiten bleiben in der kühlen Atmosphäre dogmatischer Allgemeinheit. Sie gehen nicht auf die Glaubensnot des Ijob ein, der von Gott lassen möchte, es aber nicht vermag, und können den – bei abgründigem Leid häufig – verschütteten Zugang zu Gott nicht freilegen. Anstatt Ijob durch sein Leid hindurchzutrösten, indem der Freund sich in die Leidens- und Glaubenssituation des Geplagten begibt, um ihn dort ‚abzuholen‘, sucht er ihn über sein Leid hinwegzutrösten, indem er die eigenartige Situation des Ijob in das dogmatisch-rationale Schema z. B. der Vergeltungsgerechtigkeit zwängt. Hinter seinem Eifer für die ‚reine Lehre‘ steht überdies – wie so oft – ein nur dürftig verhehltes Selbstbewusstsein, das letztlich nur die eigene Meinung bestätigt haben möchte, so dass Ijob ihm wie den anderen Freunden die vorwurfsvolle Frage stellen muss: „Wollt ihr für ihn Partei ergreifen, für Gott den Rechtsstreit führen? […] In harte Zucht wird er euch nehmen, wenn ihr heimlich Partei ergreift. Wird seine Hoheit euch nicht schrecken, nicht Schrecken vor ihm euch überfallen? Eure Merksätze sind Sprüche aus Staub.“ (13,8–12) 115

Im Grunde reden die Freunde an Ijob vorbei. Dass sogar der feinfühlige Eliphas Ijob nicht zureden kann, wird gleich zu Beginn seiner Rede deutlich, als er nämlich Ijob daran erinnert, dass er früher selber seelsorgliche Hilfsbereitschaft gezeigt habe: „Dem Strauchelnden halfen deine Woret auf, wankenden Knien gabst du Halt.“ (4,4) Hier zeigt sich, dass Eliphas den ‚Ortswechsel‘ des Ijob nicht wahrgenommen hat: Er hat, während Eliphas und die Anderen sich nach wie vor im Zuschauerraum aufhalten, die Tribüne verlassen und ist in die Arena des Leids gestiegen. Dort aber erweisen sich die sinnvollen Merksprüche nur als Staub. Angesichts dieser Lage wünscht Ijob, mit Gott selbst sein Geschick zu besprechen und von ihm eine Antwort auf seine Leidensfrage zu bekommen: „Da meine Freunde mich verspotten, tränt zu Gott hin mein Auge.“ (16,20) So oder so ähnlich klingt es immer wieder: „Doch ich will zum Allmächtigen reden, mit Gott zu rechten ist mein Wunsch.“ (13,3)179 Nach solchen Worten muss es fast erwartbar sein, dass die Ijobdichtung an ihrem Höhepunkt Gott selbst zu Wort kommen lässt. Von Gott wird ‚die‘ Lösung des Ijobproblems erwartet, ‚die‘ Antwort auf den verborgenen Sinn seines Leides. Nun wird aber vollends deutlich, dass die Lösung sich nicht in einer intellektuellen Erkenntnis vollzieht, die sich in einen Katechismussatz formen ließe, sondern durch eine Begegnung mit Gott. Und in den – im Gegensatz zu früher – sehr kurzen Antworten Ijobs zeigt sich die geballte Wucht des Eingriffes Gottes in dieses Menschenleben. Auf Ijobs Klagen und Fragen geht er gar nicht ein; die ihm zugedachte Rolle des Gefragten übernimmt er nicht, sondern bestimmt selber das Gesetz des Handelns, indem er den Menschen mit einem Schwall von Fragen in Frage stellt. Er stellt bohrende Fragen, die das Geheimnis der Schöpfung betreffen, wie diese: »Wo warst du, als ich die Erde gegründet? Sag es denn, wenn du Bescheid weißt« (38,4). Hat aber nicht Ijob und haben nicht seine Freunde schon früher von den unbegreiflichen Wundern der Schöpfung gesprochen? Biegt die Ijobdichtung hier 179

Vgl. wie bei einem jüdischen KZ-Überlebenden, dem Dichter Elie Wiesel, im Ringen mit Gott aus der Klage Anklage Gottes werden kann: K. ROHMANN, Glaube gegen Gott. Anstöße aus dem Werk Elie Wiesels, in: K. J. Lesch/M. Saller (Hg.), Warum, Gott …? Der fragende Mensch vor dem Geheimnis Gottes, Kevelaer 1993, 226–235.

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nicht zu ihren Anfängen zurück, weil der Dichter sich in einem unlösbaren Problem verfangen hat? Oder was ist das Neue der Gottesreden? Es geht nun nicht mehr einfach um die menschliche Ohnmacht gegenüber dem unergründlichen und allmächtigen Schöpfergott, sondern um die Wahrnehmung der grundsätzlichen Bejahung der Schöpfung durch Gott, wie es auch in Genesis 1 zum Ausdruck kommt: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte, es war sehr gut.“ Ijob bekommt also keineswegs die erfragte Erläuterung des göttlichen ‚Ratschlusses‘. Er wird aber auf die Schöpfung verwiesen, die eine Botschaft hat und von der Zuwendung Gottes zu einer Welt überwältigend Zeugnis gibt, die in ihrer reichen Vielfalt jeder menschlichen Rationalität und Ökonomie spottet. Im Geheimnis dieses Schöpfers weiß auch Ijob nun sein Geschick gut aufgehoben, umso mehr, als auch die Anrede, deren er gewürdigt wurde, keineswegs den Zweck hatte, ihn zu verklagen. In der freudigen Bejahung der gesamten Schöpfung, selbst noch des bedrohlich Chaotischen (Kapitel 40– 42), die Ijob in der Begegnung mit seinem Schöpfer erfährt, findet er Grund, sich letztlich geborgen zu wissen und sogar noch unter dem Zugriff der Hand Gottes, die ihn „in Staub und Asche“ versetzt hat, aufzuatmen, so dass er am Ende der Dichtung seine Klage bei Gott gegen Gott zurückzieht: „Vom Hörensagen nur hatte ich von dir vernommen; jetzt aber hat mein Auge dich geschaut. Darum widerrufe ich und atme auf in Staub und Asche.“ (42,5 1) Die Gottesschau fand selbstverständlich nicht unmittelbar statt. Er weiß sich von Gott angesprochen und muss sich darauf einlassen, die Schöpfung, selbst noch in ihren chaotischen Zügen, sozusagen mit den Augen des Schöpfers zu sehen. Dies schließt aus, die Welt mit eigenen Augen und sich selbst und sein leidvolles Geschick nach den Maßstäben der Welt sehen zu wollen. Am Ende der (jüngeren) Ijobdichtung hat sich also das Geschick des Dulders nicht geändert; und auf seine klagenden Fragen hat er keine Sinnantwort bekommen, anders als im Schluss der Rahmenerzählung, mithin in der älteren Textversion, in der es um die göttliche Wiedergutmachung und Erstattung des Verlorenen geht. Ijob erfährt keine Sinnantwort. Er weiß sich aber getragen von einem verborgenen Sinn seines Lebens in Gott. Damit nimmt der Dichter eine ähnliche Haltung gegenüber der Frage nach ‚dem‘ Sinn ein wie Kohelet.

117

2.3 Lösung der Frage nach dem Sinn des Leidens aus dem christlichen Erlösungsglauben? Es stellt sich nun die Frage, ob nicht das Evangelium, anders als die alttestamentliche Weisheit, mit der Zentralbotschaft von Kreuz und Auferstehung Jesu eine Antwort auf das Menschliche Leid bereithält. Das Kreuz, christliches Zeichen der Hoffnung – Lösung der Sinnfrage? Die ‚Sinnlosigkeit‘ des Kreuzes Jesu bleibt für das Denken unaufhebbar. So sagt Paulus: Wir „verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit.“ (1 Kor 1,23) Gewiss, Paulus fährt im nächsten Vers fort: „für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit.“ Sie ist und bleibt eine Zumutung für unser Denken. Für die Jünger Jesu aber kommen alle Annäherungen an ein Verständnis aus der Erfahrung der Auferweckung Jesu. Sie haben Jesus nach seinem Kreuzestod als lebendig wirkend erlebt. Beispielhaft zeigt dies eine Episode aus der Apostelgeschichte (3,1–10). Petrus und Johannes sind auf dem Weg zum Beten im Tempel. Auf dem Tempelhof sitzt ein gelähmter Bettler und bittet sie um eine Gabe. Petrus muss ihm sagen, dass sie weder Gold noch Silber besitzen. Er könne ihm aber etwas Kostbareres geben. Voll Vertrauen auf die Gegenwart Christi gebietet er im Namen Jesu den Gelähmten aufzustehen und umherzugehen. Als wieder Kraft in dessen Gelenke gekommen war, fanden die Jünger bestätigt: Es ist der Herr, der hier gewirkt hat. Diese und andere Geschichten stehen im Einklang mit solchen, die aus dem Leben Jesu erzählt werden. Um Leib und Leben eines Menschen geht es Jesus bei seinen Krankenheilungen. Um die Förderung des Lebens geht es auch, wenn er von der lebensbedrohenden Sünde errettet. Jesu Taten stehen im Zusammenhang mit seinem Grundanliegen, der Herrschaft Gottes, die dem Menschen neue Lebensmöglichkeiten eröffnet. In der Auferweckung des Gekreuzigten bestätigt Gott den Lebensentwurf Jesu in den Augen der Jünger als richtig. Jesu Tod erscheint dann – unter den Bedingungen der Menschenwelt, wie sie tatsächlich ist, nämlich ungerecht, ja mörderisch – als letzte Konsequenz seines Lebensentwurfes. Der besteht im Loslassen von sich selbst und in unbedingter vertrauenden Hingabe an Gott, selbst dann noch, wenn Menschen ihn in religiöser Selbstgewissheit und Selbstbehauptung, die sie durch ihn bedroht sehen, zu liquidieren 118

suchten. Damit im Einklang können sich für den gläubigen Christen, der sich vertrauensvoll an Gott wendet, zwar nicht wegen seines Leids, dessen Sinn sich nicht erhellt, sondern trotz des Leidens, Hoffnungsperspektiven auftun.

3. Absurdes Dasein und Sinnverlangen heute 3.1 Die Verlorenheit des Menschen in der Industriegesellschaft an sich selbst In der modernen Industriegesellschaft vollendet sich, was sich seit Beginn der Neuzeit angebahnt hat. Um dies darzulegen, müssen wir den Faden wiederaufnehmen, den ich oben gezogen habe, um das Entstehen der Sinnfrage in ihrer historisch gewordenen Gestalt zu erläutern. Charakterisiert es das neuzeitliche Denken, dass der Mensch die Welt ausschließlich um seiner selbst auf sich bezieht und alle beobachteten Fakten auf vorgefasste Denkstrukturen zurückführt, so gilt dies erst recht für das technische Denken. Darum konnte HEIDEGGER das der Technik zugrundeliegende Bestreben als ein „Herausfordern“ kennzeichnen. Darin nimmt der Mensch die Dinge nicht mehr einfach entgegen, sondern stellt sie unter ein „Ansinnen“, z. B. das der Energiebelieferung. Dieses „Stellen im Sinne der Herausforderung“ 180 wird beispielsweise in der Veränderung sichtbar, die eine Landschaft unter dem technischen Zugriff erfährt. So umfassend sind die Eingriffe, dass der Mensch einer unveränderten Natur kaum mehr begegnet. So schrieb der Physiker W. HEISENBERG: „In früheren Epochen sah sich der Mensch der Natur gegenüber; die von Lebewesen aller Art bewohnte Natur war ein Reich, das nach seinen eigenen Gesetzen lebte und in das er sich mit seinem Leben irgendwie einzuordnen hatte. In unserer Zeit aber leben wir in einer vom Menschen so völlig verwandelten Welt, dass wir überall, ob wir nun mit den Apparaten des täglichen Lebens umgehen, ob wir eine mit Maschinen zubereitete Nahrung zu

180

M. HEIDEGGER, Die Frage nach der Technik, in: Bayerische Akademie der schönen Künste (Hg.), Die Künste im technischen Zeitalter, Darmstadt 1956, 58.

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uns nehmen oder die vom Menschen verwandelte Landschaft durchschreiten, immer wieder auf die vom Menschen hervorgerufenen Strukturen stoßen, dass wir gewissermaßen immer nur uns selbst begegnen.“181 Darin sieht er „Verschiebungen in den Fundamenten unseres Daseins“. Man wird einem Manne wie dem Begründer der Quantenphysik Heisenberg gewiss keine Technologiefeindlichkeit unterstellen können. Er befürchtet aber, dass die mögliche, ja notwendige technische Beherrschung der Natur zu einer Weltsicht führt, in der alles nur noch Bestand des technischen Bestellens ist und das „Seinlassen“ des anderen sich nicht mehr ereignen kann. Bei einer solchen fundamentalen Reduktion der Sichtweise erscheint der Sinn des anderen nur noch als Bedeutsamkeit für den Menschen. Werden aber die Maßstäbe, woran sich die Bedeutung misst, wie oben dargelegt, in Zweifel gezogen und schwinden sie dahin, löst sich der ‚Sinn‘ in nichts auf, so dass G. Scherer sagen kann: „Die Dinge, weil nur noch auf den Menschen bezogen, sind wie in den Horizont des Nichts gestellt.“182

3.2 Konsumhaltung und Sinnverlust Von solcherart nihilistischer Grundströmung sind, wie SCHERER fortfährt, auch jene Erscheinungen bestimmt, die man allgemein als ‚praktischen Materialismus‘ bezeichnet. Damit meine man eine Haltung, die in der Abwendung von geistigen Werten bestehe, wie den kulturellen Werten, den Idealen oder auch der Verantwortung. Statt darin „seine Erfüllung zu suchen, wende sich, so sagt man uns, der Mensch heute vor allem dem sinnlichen Genuss, der oberflächlichen Zerstreuung und dem Geldverdienen zu.“183 SCHERER gibt aber zu bedenken, dass einer solchen Charakterisierung eine dualistische Sichtweise des Menschen zugrunde liegt, nach deren Grundüberzeugung der Mensch sich von der Materie und dementsprechend von allem Sinnlichen und der Verhaftung an die Zeit zu lösen habe. 181

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183

W. HEISENBERG, Das Naturbild der heutigen Physik, in: Bayerische Akademie der Schönen Künste (Hg.), Die Künste im technischen Zeitalter, Darmstadt 1956, 41. G. SCHERER, Absurdes Dasein und Sinnerfahrung, Über die Situation des Menschen in der technischen Welt, Essen 1963, 40. Ebd., 41.

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In Wirklichkeit sei aber die Vitalität des Menschen immer vom Geiste geformt; und eine mögliche Verwirrung der Sinne und vitalen Antriebskräfte hätten demgemäß ihre Wurzeln in der geistigen Haltung. SCHERER schlägt darum vor, dass man in diesem Zusammenhang statt von einem ‚praktischen Materialismus‘ von einer Konsumhaltung spricht, um die gesamte geistige Ausrichtung zu verdeutlichen. Sie ist ja auch nicht nur auf das Materielle oder das Sinnliche gerichtet, sondern allumfassend. Kennzeichnend für sie ist, dass alles unter dem Aspekt des Genuss- oder Gebrauchswerts auf den Menschen im Allgemeinen oder den Einzelnen bezogen wird. Darin zeigt sich die Konsumhaltung in einer direkten Entsprechung zum oben charakterisierten technischen Denken. Beispiele für eine allgemeine Konsummentalität lassen sich auf Anhieb reichlich finden und brauchen hier nicht erwähnt zu werden. Dass sich aber die Konsumhaltung auch im kulturellen Leben durchsetzen kann – und dies zeigt, wie Recht SCHERER hat, wenn er ihre Kennzeichnung als praktischen Materialismus für unzureichend hält –, hat besonders MAX FRISCH in seinem Tagebuch, wie bereits oben dargelegt, aufgezeigt, indem er eine Kultur beschreibt, die in die Unverbindlichkeit des bloßen Konsumierens gesunken ist: Während des Zweiten Weltkriegs habe sich gezeigt, dass Menschen, die sich geistvoll über Bach, Händel, Mozart, Beethoven und Bruckner hätten unterhalten können, zugleich als Schlächter aufgetreten seien.184 Auch anspruchsvolle Kultur lässt sich bloß konsumieren. Nun ist es nicht zufällig, dass mit der Konsumhaltung das Gefühl des Sinnverlustes einhergeht. Bezieht der Mensch doch alles, indem er seinen Nutzwert betrachtet, auf sich; und allem gibt er das Gepräge seiner Verfügbarkeit. Damit befindet sich der Mensch letztlich wie in einem Spiegelsaal; darin bekommt er nur sich selbst zu Gesicht, und es fehlt ihm jede andere Perspektive. Indem freilich die neuzeitliche Sinnfrage als umfassendes Erklärungsbedürfnis von vornherein so konzipiert war, dass alles auf den Menschen, auf seine vorgedachten Maßstäbe bezogen werden sollte, war sie schon von Anfang an zum Scheitern verurteilt; und die Sinnfrage stellte sich dar als Sinnkrise, allmählich begleitet von dem Gefühl der Absurdität.

184

Vgl G. SCHERER, a. a. O., 59f.

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4. Die sinnzentrierte Heil- und Lebenskunst V. E. Frankls 4.1 Das Menschenbild Frankls: Die Transzendenz ihrer selbst gehört zum Wesen der menschlichen Existenz Es ist eine ganz alltägliche Erfahrung: Man verrichtet eine Arbeit, die man als langweilig empfindet. Dabei will die Zeit einfach nicht vergehen. Sie dauert eben eine ‚lange Weile‘. Bezeichnenderweise schaut man währenddessen häufig auf die Uhr. Es gibt aber auch eine ganz andere Erfahrung: Bestimmte Arbeiten, die uns sogar gänzlich fordern, die schwer sind und anstrengend, lassen uns nicht nur die Zeit vergessen, sondern auch uns selbst. Es kann sogar geschehen, dass wir körperliches oder psychisches Unbehagen, Schmerzen oder Hunger, einfach nicht mehr wahrhaben. Wir gehen, wie wir sagen, in einer bestimmten Aufgabe oder Arbeit auf. In solchen Augenblicken spüren wir, dass wir keineswegs um uns selbst kreisen. Dennoch haben wir das Gefühl, dass wir ganz und gar bei uns selbst sind und die ausgeübte Verantwortung und die übernommene Aufgabe uns ganz uns selbst sein lassen: Es geschieht Selbstverwirklichung im besten Sinn. Immer wieder ist es eine Freude, Kindern beim Spiel zuzuschauen. Das Spiel nimmt sie oftmals dermaßen in Bann, dass sie die gesamte Umgebung vergessen und manchmal gar erschrecken, wenn sie angesprochen werden. Selbstvergessen aber werden sie gerade sie selbst. Ihre Funktionslust, die Lust, etwas immer besser zu können, ist ihnen anzumerken. Im Außer-Sich-Sein werden sie selbstbewusst. Was auf der Erfahrungsebene wohl plausibel erscheint, weist auf eine grundsätzliche Struktur des menschlichen Wesens. Je mehr der Einzelne über sich hinausgeht, verwirklicht er sein eigentliches Wesen. Der Mensch ist nicht umso mehr bei sich selbst, je verschlossener er in sich selbst ist. Er findet sich vielmehr umso mehr, als er von sich weggeht und sich selbst vergisst. Das Gesagte ist einmal, wie dargestellt, sachbezogen. Gemeint ist ein Sich-Verlieren in einer Arbeit, in einer Aufgabe und Verantwortlichkeit. Es gilt aber vorzüg122

licher noch gegenüber einem anderen Menschen. Der Andere ruft unser Erkennen, Wollen und Handeln zu einer Wertantwort auf. Eine solche Antwort erscheint aufgegipfelt in der vollständigen Bejahung des Anderen und in der Hingabe an ihn. In diese Richtung führt die Arbeit von VIKTOR E. FRANKL, dem Begründer der Logotherapie und der Existenzanalyse, die man als die dritte psychotherapeutische Schule nach der psychoanalytischen FREUDS und der Individualpsychologie Adlers zu nenne pflegt. „Tatsächlich“, schreibt FRANKL, „sind wir heute nicht mehr wie zur Zeit von FREUD mit einer sexuellen, sondern mit einer existentiellen Frustration konfrontriert. Und der typische Patient von heute leidet nicht mehr so sehr wie zur Zeit von Adler an einem Minderwertigkeitsgefühl, sondern an einem abgründigen Sinnlosigkeitsgefühl, das mit einer Leeregefühl vergesellschaftet ist – weshalb ich von einem existentiellen Vakuum spreche.“ 185 Mit seiner Logotherapie konzipierte FRANKL einen Ansatz, der sich an der geistigen Dimension des Menschen ausrichtet, der er gegenüber der leibseelischen Dimension eine hervorgehobene Stellung beimisst. Seine Existenzanalyse beabsichtigt nicht eine möglicherweise abstrakte Analyse von Existenz schlechthin, sondern eine Erarbeitung der konkreten existenziellen Bedingungen eines sinnvollen Lebens. Nach FRANKL scheint heutzutage eine untergründige Sinnkrise bei vielen Menschen den Lebenswillen zu lähmen.186 Jeder Mensch suche in seiner geistigen Dynamik ein herausforderndes und erfüllendes Wozu. Bleibe diese Dynamik unerfüllt, so entstehe ein existentielles Vakuum, das als Leere, Ziellosigkeit, Langeweile, Ekel und Sinnlosigkeit empfunden werde und geradezu zu einer Erkrankung führen könne. Nach FRANKL leidet ein Großteil der Bevölkerung an einem Sinnvakuum. Für sie sieht er eine sinnzentrierte Behandlung angezeigt. Das Wirksame und Erfüllende dieser Therapie liegt darin, dass sie eine positive Hinwendung auf etwas oder jemanden ermöglicht, welche FRANKL Selbsttranszendenz nennt. Darunter versteht er „den grundlegenden anthropologischen Tatbestand, daß Menschsein immer über sich selbst hinaus auf etwas verweist, das nicht wieder es selbst ist, – auf etwas oder auf jemanden: auf einen Sinn, den da 185

186

V. E. FRANKL, Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn (eine Auswahl aus dem Gesamtwerk), München (1979) 30 2018, 141. V. E. FRANKL, Der Wille zum Sinn, Bern – Stuttgart – Wien 1972. Vgl. auch B. GROM, Sinnzentrierte Lebens- und Heilkunst. Die Logotherapie Viktor E. Frankis, in: Stimmen der Zeit, 1985, 181–192.

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ein Mensch erfüllt, oder auf mitmenschliches Sein, dem er da begegnet. Und nur in dem Maße, in dem der Mensch solcherart sich selbst transzendiert, verwirklicht er sich selbst: im Dienst an einer Sache – oder in der Liebe zu einer anderen Person! Mit anderen Worten: ganz Mensch ist der Mensch eigentlich nur dort, wo er ganz aufgeht in einer Sache, ganz hingegeben ist an eine andere Person. Und ganz er selbst wird er, wo er sich selbst – übersieht und vergißt“187 Dies sei die „Essenz menschlicher Existenz“.188 Die Selbsttranszendenz des Menschen reiche bis in die biologischen Grundlagen hinein. Dort zeige sich die Paradoxie, dass auch das Auge selbsttranszendent sei. Seine Fähigkeit, die Welt außer sich wahrzunehmen, hänge wesentlich davon ab, dass es sich nicht selbst wahrnehmen kann – außer im Spiegel. Wenn das Auge aber etwas von sich sehe, handle es sich um einen Defekt. Ist das Auge am grauen Star erkrankt, erblickt es seine Linsentrübung, mithin Nebel. Im Falle des grünen Stars sieht es um die Lichtquelle herum Regenbogenfarben. „Analog verwirklicht der Mensch sich selbst, wenn er sich selbst übersieht, sei es, daß er einem Partner sich hingibt, sei es, daß er in seiner Sache ‚aufgeht‘.“189

4.2 Eine notwendige Klärung: Was heißt Aufgehen in einer Aufgabe und Hingabe an einen Menschen? Ist das Aufgehen in einer Aufgabe mit der Bewältigung alltäglicher Arbeiten zu verstehen? Wir kennen Menschen, von denen wir sagen, sie gingen ganz und gar in ihrem Beruf auf. Deren Leben scheint Tag um Tag nur aus Arbeit zu bestehen. Gewiss kann sich im Rahmen der beruflichen Arbeit in bestimmten Momenten das beglückende Gefühl der Selbsttranszendenz ereignen. „Diese Chance […] gibt jeder Beruf, sofern nur die Arbeit in ihm richtig aufgefasst wird. Die Unersetzlichkeit und Unvertretbarkeit, das Einmalige und Einzigartige liegt jeweils am Menschen, daran, wer schafft, daran, wie er schafft, und nicht daran, was er

187

188 189

V. E. FRANKL, Ärztliche Seelsorge, Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse, (Wien 2005) München 8 1918, 212. Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn, a.a.O., 100. Ärztliche Seelsorge, a.a.O. 214.

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schafft.“190 Im allgemeinen jedoch gilt: „Die Fülle beruflicher Arbeit ist nicht identisch mit der Sinnfülle schöpferischen Lebens.“191 Der Mensch kann sich in die Arbeit wie in einen Rausch stürzen; wir nennen ihn dann bezeichnenderweise einen Workaholic. Es ist möglich, sich an seinem eigenen Schaffen zu berauschen. Der Rausch aber kann ein umfassendes Sinnlosigkeitsgefühl verdecken. „Die eigentliche Inhaltsleere und letzliche Sinnarmut seines Daseins wird aber sofort zutage treten, sobald seine berufliche Betriebsamkeit für eine gewisse Zeitspanne zum Stehen gebracht wird am Sonntag.“192 Um der inneren Leere zu entgehen, stürzt er sich dann in einen Aktionismus als ein Asyl und misst beispielsweise Sportveranstaltungen einen ungebührlich hohen Stellenwert bei, als ob etwa ein Fußballspiel das Wichtigste von der Welt wäre. Nicht nur der Sport auch die Kunst kann auf solche Weise neurotisch missbraucht werden. Was ist nun mit der Hingabe an einen Menschen gemeint? Sie geschieht nicht schon in der mitmenschlichen Begegnung. „Die Begegnung ist eine Beziehung zu einem Partner, in der der Partner als Mensch anerkannt wird.“193 Das bedeutet, dass der Andere niemals als Mittel zum Zweck benutzt wird. Gegenüber einer Begegnung geht die Liebe einen Schritt weiter. Sie sieht den Anderen nicht nur in diesem Sinne als Menschen wie jeden anderen, sondern darüber hinaus in seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit. Aus der Einmaligkeit und Unaustauschbarkeit ergibt sich, dass echte Liebe schon von sich aus ihre Dauer in der Zeit gewährleistet. Sie ist ein intentionaler Akt, sie intendiert das Wesen eines Menschen, sein So-Sein, und kann so über das Dasein hinausreichen. Die Liebe ist stärker als der Tod. Wenn also das Streben sich auf das Wesen eines Menschen richtet, so lässt sich die körperliche Liebe, die Sexualität, als dessen Ausdrucksmittel begreifen. „Je mehr die Aufmerksamkeit vom Partner abgewendet und dem Sexualakt selbst zugewendet wird, umso mehr ist der Sexualakt auch schon gehandikapt.“194 Als Psychiater habe FRANKL immer wieder von seinen Patienten erfahren, dass sie sich aufgrund des Druck einer öffentlichen Meinung gedrängt gefühlt hätten,

190 191 192 193 194

Ebd. 186. Ebd., 174. Ebd. Der Mensch vor der Frage nach Sinn, 93. Ebd., 151.

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sich für das Sexuelle um seiner selbst zu interessieren und eine entpersönlichte Sexualität zu praktizieren. Dies sei dazu angetan, Potenz und Orgasmusfähigkeit zu schwächen. Wir seien heute mit einer sexuellen Inflation konfontriert, die wie jede Inflation mit einer Entwertung einhergehe. „Und wer dann sein Heil in den Raffinements einer Liebes-Technik sieht, den bringt sie nur noch um den Rest jener Spontaneität, jener Unmittelbarkeit, jener Selbstverständlichkeit, jener Unbefangenheit, die eine Bedingung und Voraussetzung normalen sexuellen Funktionierens ist und deren gerade der Sexualneurotiker so sehr bedürfte.“195 In zunehmendem Maße bedarf der Mensch heute einer Therapie. Dabei richtet sich FRANKL anders als FREUD nicht direkt auf die Sexualität, sondern auf eine grundsätzliche Haltungsänderung.

4.3 Keine Sinngebung, sondern Sinnfindung FRANKL hält es für selbstverständlich, dass die Logotherapie es möglicherweise mit Menschen zu tun hat, die im ‚Klinischen‘ eigentlich nicht für krank gehalten werden dürfen. „Ist es doch das Leiden unter der schlechthin menschlichen Problematik, das der Gegenstand einer ‚Therapie vom Geistigen her‘ geworden ist. Aber auch dort, wo tatsächlich klinische Symptome vorliegen, kann es darum gehen, durch die Logotherapie dem Kranken jenen besonders festen geistigen Halt zu vermitteln, den der gesunde Alltagsmensch weniger, der seelisch Unsichere jedoch dringend benötigt, eben zur Kompensation seiner Unsicherheit.“196 In keinem Fall dürfe aber die geistige Problematik lediglich als ein Symptom angesehen werden; sie ist vielmehr grundlegend. In der Behandlung gibt der Logotherapeut aber keinerlei Zielvorgabe. Die sinnzentrierte Therapie hat keine inhaltlichen Sinnantworten zur Verfügung. Das gilt für die Anleitung zur Lebensbewältigung wie für die Therapie echter Neurosen, wie der Angstneurose, der Zwangsneurose oder Schizophrenie, auf die ich in diesem Zusammenhang allerdings nicht eingehen möchte. Gehört sie

195 196

Ebd., 155 Ärztliche Seelsorge, 70.

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doch nicht zur Thematik dieses Buches. Abgesehen davon hat sich die Existenzanalyse inzwischen weiterentwickelt und kann nicht allein innerhalb der Theorien FRANKLS abgehandelt werden. 197 Die Logotherapie als Beratung und Begleitung bietet Hilfestellung für Menschen, die noch nicht erkrankt sind. Sie bietet eine Unterstützung bei Verlusterfahrungen, bei schweren Erkrankungen oder bei der Verarbeitung von Schicksalsschlägen und Lebenskrisen. Sie will den Menschen öffnen und ihm dazu verhelfen, dass er von sich weggehe, sich selbst transzendiere, um so Sinn wahrzunehmen. Es ist offenkundig, dass diese Maßnahme jener Haltung, die zu der neuzeitlichen Sinnfrage und Sinnkrise geführt hat, dem Auf-sich-Bezogensein des Menschen, genau entgegengesetzt ist. Insofern erscheint die Logotherapie FRANKLS gerade als die rechte Entsprechung der historisch gewordenen Sinnkrise. Mit der Ablehnung einer inhaltlichen Sinnantwort hält FRANKL sich an das dem Therapeuten Mögliche. Er stellt darum heraus: „Sinn kann nicht gegeben, sondern muß gefunden werden.“ 198 Ebenso gilt: „Sinn muß gefunden, kann aber nicht erzeugt werden.“ 199 Was sich erzeugen lässt, sei höchstens ein subjektives Sinngefühl. Ein solches Sinngefühl könne sich vor allem im Rausch einstellen. Der Rausch aber bewirke, dass der Mensch am wahren Sinn vorbeigehe, der sich in den echten Aufgaben in der Welt stelle. Sinn freilich muss nicht nur, sondern kann auch gefunden werden. Denn auf der Sinnsuche wird der Mensch vom Gewissen geleitet, das ein Sinnorgan ist „Es ließe sich definieren als die Fähigkeit, den einmaligen und einzigartigen Sinn, der in jeder Situation verborgen ist, aufzuspüren.“200 Selbstverständlich weiß FRANKL, dass das Gewissen des Menschen ihn auch irreführen kann. „Mag das Gewissen auch noch so sehr den Menschen im Ungewissen lassen über die Frage, ob er den Sinn seines Lebens erfaßt und ergriffen hat 197

198 199 200

In der Nachfolge FRANKLS haben sich zwei miteinander konkurrierende Gesellschaften gebildet. Die logotherapeutische Gesellschaft ELISABETH LUKAS‘ schließt sich noch eng an FRANKL an. Die Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse (GLE), die von ALFRIED LÄNGLE geprägt wurde, arbeitet mit einer weiterentwickelten Theorie, die teilweise Elemente des Freudschen Analyse aufnimmt und u.a. auch biographische Elemente des Patienten einschließt. Der Mensch vor der Frage nach Sinn, 155. Ebd. Ebd., 156.

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– solche ‚Ungewissheit‘ enthebt ihn nicht des ‚Wagnisses‘, seinem Gewissen zu gehorchen oder zunächst einmal auf dessen Stimme zu horchen.“201 Um das Wagnis zu verringern, bedarf es – besonders heutzutage – der Gewissensbildung, die allerdings mehr als eine Wissensvermittlung ist. Es gilt, das Gewissen zu verfeinern, so dass der Mensch genug hellhörig ist, „um die jeder einzelnen Situation innewohnende Forderung herauszuhören.“ 202 Gewissenserziehung ist so Erziehung zur Verantwortung. Sobald wir uns in das Wesen der menschlichen Verantwortung vertiefen, empfinden wir allerdings ihre Abgründigkeit. „Es ist etwas Furchtbares um die Verantwortung des Menschen – doch zugleich etwas Herrliches! Furchtbar ist es: zu wissen, daß ich in jedem Augenblick die Verantwortung trage für den nächsten; daß jede Entscheidung, die kleinste wie die größte, eine Entscheidung ist ‚für alle Ewigkeit‘; daß ich in jeden Augenblick eine Möglichkeit […] verwirkliche oder verwirke. […] Was ich durch sie verwirkliche, was ich durch sie ‚in die Welt schaffe‘, das rette ich in die Wirklichkeit hinein und bewahre es so vor der Vergänglichkeit.“203 Darin liegt etwas Herrliches. Sinn ist dabei immer der Sinn einer konkreten Situation. Er ist die Forderung der Stunde. Sie ist auch immer an eine konkrete Person adressiert. Daraus ergibt sich, dass der Sinn von Situation zu Situation und von Person zu Person wechseln muss. „Es gibt keine Situation, in der das Leben aufhören würde, uns eine Sinnmöglichkeit anzubieten, und es gibt keine Person, für die das Leben nicht eine Aufgabe bereithielte. Die Möglichkeit einen Sinn zu erfüllen, ist jeweils einmalig, und die Persönlichkeit, die sie verwirklichen kann, ist jeweils einzigartig.“ 204 FRANKL ist davon überzeugt, dass es keine Lebenssituation gibt, die wirklich sinnlos wäre; in allen Situationen ließe sich ein positiver Sinn finden, sofern ihnen nur mit der rechten Haltung begegnet wird. Ja, selbst der tragischen Trias der menschlichen Existenz, Leid , Schuld und Tod, ließe sich etwas Positives abgewinnen.

201 202 203 204

Ebd. Ebd. 157 Ärztliche Seelsorge, a.a.O., 77f. Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn, a.a.O. 157.

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4.4 Logotherapie und Glaube Wenn der Mensch für die Erfüllung seines Sinns verantwortlich ist, so muss doch im Gegensatz zu der Frage nach dem Wofür, die Frage nach dem Wovor unseres Verantwortlichseins offengelassen bzw. dem Patienten überlassen werden, ob er in dem Wovor die Gesellschaft, sein Gewissen oder Gott sehen mag. Vom Therapeuten ist hier strikte Neutralität verlangt. FRANKL hat allerdings stets anerkannt, dass lebendige Religiosität dem Menschen eine „unvergleichliche Geborgenheit und geistige Verankerung ermöglicht und solcherart ungemein zur Erhaltung seines seelischen Gleichgewichts beiträgt“.205 Ohne Religion durch Psychotherapie oder Psychotherapie durch Religion ersetzen zu wollen, hat er persönlich seinen Glauben an ein göttliches Ur-Du und Ja und dessen Wirkmächtigkeit bekannt. Insbesondere da eine grundlegende Voraussetzung der Selbsttranszendenz und der Hinwendung zu einer Sache oder einer Person ein gewisses Maß an Selbstwertschätzung ist, bringt der gläubige Mensch, der sich von Gott angenommen und bejaht weiß, eine günstige Voraussetzung für die Therapie mit. Das ist auch für die normale Lebensgestaltung bedeutsam. In FRANKLS „Zehn Thesen über die Person“ beschreibt er die Position der Logotherapie so: „Für die Logotherapie ist Religion und kann sie nur sein ein Gegenstand – nicht aber ein Standort. Die Logotherapie muß sich also diesseits des Offenbarungsglaubens bewegen und die Sinnfrage diesseits der Aufgabelung in die theistische und andererseits in die atheistische Weltanschauung beantworten. Wenn sie solcherart das Phänomen der Gläubigkeit nicht als ein Glauben an Gott, sondern als den umfassenden Sinnglauben auffaßt, dann ist es durchaus legitim, wenn sie sich mit dem Phänomen des Glaubens befaßt und beschäftigt.“206 Der Wille zum Sinn setzt letztlich den Sinnglauben des Menschen voraus. Ihn hält FRANKL für eine transzendentale Kategorie im Sinne KANTS (als Bedingung der Möglichkeit des Willens zum Sinn). Das menschliche Sein ist immer schon ein

205 206

Ders., Theorie und Therapie der Neurosen, München 1968, 139. Ärztliche Seelsorge (Aufnahme des selbständigen Textes in die 11. Neuaufl.), a.a.O., 340.

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Sein auf Sinn hin. Mag der Mensch sich dessen bewusst sein oder nicht, er hat, bevor er die Sinnfrage stellt, sozusagen ein Vorwissen um den Sinn. „Eine Ahnung vom Sinn liegt auch dem in der Logotherapie sogenannten ‚Willen zum Sinn‘ zugrunde. Ob er es will oder nicht, ob er es wahrhat oder nicht – der Mensch glaubt an einen Sinn, so lange er atmet.“207

207

Ebd.

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Fazit Eine grundlegende Dialektik: der Weg über den Anderen zu sich selbst 1. Von der Not, ich sein und nicht ich sein zu wollen Ich habe darzulegen versucht, warum gerade heute und heute mit Nachdruck das Problem des Menschlichen verhandelt wird. In einem gewaltigen Umbruch am ‚Ende der Neuzeit‘ ist der Mensch sich selbst fragwürdig geworden. Eine Reihe von Verunsicherungen haben ihn befallen: Er empfindet sich als nivelliert und genormt, in der Rolle des Konsumenten, als jemanden, der einen Warenwert darstellt, als verwaltet und von anonymen Mächten beherrscht. Der Mensch ist weitgehend verdinglicht worden. In dieser Lage ist der Mensch einerseits bemüht, sein Ich zu retten, geradezu verzweifelt seine Identität zu sichern; andererseits gibt er den Tendenzen zum Unpersönlichen nach. Widerstreitende Strebungen treiben ihn um. Es geht um die Lust und die Last des Ichseins. Gemeint ist in diesem Zusammenhang nicht einfach eine Ambivalenz der Individualität, wie sie wohl zu allen Zeiten erfahren werden kann: die Erfahrung beispielsweise, dass es angenehm ist, wenn man überraschend mit seinem Namen angesprochen wird; dass man andererseits sich nicht in vorderster Reihe herausstellen möchte. Die Last des Ichseins hat auch nichts zu tun mit institutionalisierten Formen des Identitätswechsels. Einmal ein Anderer, eine Andere 131

sein: davon haben Menschen wohl zu allen Zeiten geträumt. Die Sehnsucht, sein Ich zu sprengen und sich in einen Anderen zu verwandeln, ist sicherlich der entscheidende Anteil an allen Festen der Kostümierung und der Maske, von den römischen Saturnalien bis zum Karneval bzw. Fastnacht. Sie ist darin begründet, dass wir nicht alle Möglichkeiten, die in uns stecken, ausleben können, sei es, dass uns moralische Schranken hindern, sei es dass die faktische Entscheidung für unseren Lebensweg grundsätzlich viele andere Möglichkeiten ausschließt. Eine derartige Ausweitung der Identität, die wir von Zeit zu Zeit in dieser oder jener Form psychisch brauchen, kann in diesem Zusammenhang nicht gemeint sein. Von dem, worum es hier geht, hat bereits im vergangenen Jahrhundert der Däne SÖREN KIERKEGAARD in seinem Buch „Die Krankheit zum Tode“208 gesprochen. Es gebe eben eine „Krankheit zum Tode“, die sich vornehmlich in zwei Formen der Verzweiflung äußere: einmal verzweifelt man selbst sein zu wollen, sodann verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen. Die Weigerung, man selbst sein zu wollen, hat FRIEDRICH NIETZSCHE wie folgt zum Ausdruck gebracht: „Möchte ich irgendjemand anders sein, …aber da ist keine Hoffnung. Ich bin, der ich bin – wie käme ich von mir selber los? Und doch – habe ich mich satt!“209. Diese Aussage könnte man auch in die Frage kleiden: Muss ich mich als das annehmen, was ich bin? Schließlich bin ich überhaupt nicht gefragt worden, ob ich zur Welt kommen soll, und schon gar nicht, ob ich so oder anders heißen, aussehen und sein soll. Das eigene Ich wird als Last empfunden, vor allem wenn es nicht einer herrschenden Mode oder einer allgemein akzeptierten Norm zu entsprechen scheint. Die entscheidende Frage lautet: Kann ich mich als der/die, welche(r) ich bin, annehmen? Kierkegaard wollte mit seinen Ausführungen zu den beiden Arten einer „Krankheit zum Tode“ allerdings keine Zeitanalyse anstellen, sondern ein menschliches Existential beschreiben, mithin etwas, das zu unserer Existenz als solcher gehört und nicht unbedingt deutlich psychisch erfahren werden muss, was aber, vergleichbar der Angst, als Horizont hinter all unserer Erfahrung steckt. 208

209

S. KIERKEGAARD, Die Krankheit zum Tode, übers., mit Einl. und Kommentar von H. Rochol (Hg.), Meiners Philosophische Bibliothek, Bd. 470, Hamburg 1995. F. NIETZSCHE, Zur Genealogie der Moral, Nr. 14 (Edition Schlechta II), München 1966, 863.

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Ich meine aber, dass der Sachverhalt, dass Menschen in dem Zwiespalt stecken, die eigenen Individualität zu behaupten oder sich in der Masse zu nivellieren im besonderen Maße heute eine ‚Zeitkrankheit‘ ist. Gehört dieser Zwiespalt zu unserer Existenz als solcher, auch wenn er nicht ohne weiteres ansichtig wird, so kann er sich doch unter den Bedingungen einer bestimmten historischen Situation konkret sichtbar auswirken. Wir haben heute im Gegensatz zu Menschen in der Literatur der Renaissance und einer darin aufscheinenden Bewusstseinslage nicht mehr die Möglichkeit, unsere eigene Individualität uneingeschränkt zur Geltung zu bringen. Gerade aber wenn ich mich bewusst oder unbewusst in der Masse als ein Nicht-Ich verliere, bin ich bestrebt, Momente meiner Individualität, die mir wichtig sind und die ich hinüberretten kann, zu beanspruchen. Drei Momente dieser Art habe ich den vorhergehenden Kapiteln aufzuzeigen versucht: die Selbstbestimmung, die Sicherung der Personenwürde und den Willen zum Sinn.

2. Drei Namen – drei Modelle zur Selbsttranszendenz Bei der Erörterung des Themas Freiheit und Selbstbestimmung schien es mir angebracht, den kanadischen Philosophen CHARLES TAYLOR heranzuziehen. In seinem Buch „Das Unbehagen an der Moderne“ setzt er sich mit Autoren amerikanischer Literatur auseinander, die – grob gesagt – den Individualismus als ein grundlegendes Übel unserer Kultur ansehen, und mit anderen, die im Gegenteil dem Individualismus einen weiteren Spielraum verschaffen möchten. TAYLOR ist sich sicher, dass das Ideal des Individualismus, mag es auch beeinträchtigt sein, nicht hintergehbar ist. Damit der Individualismus aber bejahbar ist, muss er sich öffnen und auf ein größeres Ganze ausrichten, mag dies die Gesellschaft, die Ökologie oder Gott sein. Ja, öffnen und über sich hinausgehen müssen die einzelnen Personen mit je verschiedenen sozialen Herkünften und Einbettungen und entsprechenden individuellen Zielsetzungen. Grundsätzlich plädiert TAYLOR für eine Pluralität in einer säkularisierten Gesellschaft. 133

Als in der Renaissance der Freiheitsgedanke mit der Forderung der Selbstbestimmung in den Vordergrund des allgemeinen gesellschaftlichen Bewusstseins trat, war er stets mit dem Gedanken der menschlichen Würde verbunden. Wie das Streben nach Selbstbestimmung hat auch die Forderung nach Beachtung der menschlichen Würde in allen Lebenslagen die heutige Lebensart bestimmt. Der Rückbezug auf Würde geschieht in der Gegenwart aber in einem inflationären Maße. Einerseits ist er zu einem ‚Totschlagargument‘ geworden, andererseits aber gerade dadurch zu einem Allerweltsargument – meilenweit von einer absoluten Geltung. Um der Frage nachzugehen, wie eine absolute Geltung der Menschenwürde begründet werden kann, schien mir die Philosophie Emanuel LEVINAS geeignet. Die Absolutheit sieht LEVINAS in Situationen, in denen ein Mensch sich als unvertretbar herausgerufen fühlt, für einen anderen da zu sein. Dies geschieht immer in einem asymmetrischen Verhältnis zweier Personen, eines Menschen, der Hilfe benötigt, und eines zweiten, der sich unbedingt gefordert weiß. Dieses Verhältnis kann sich in einer veränderten Lage umkehren. Eine Gegenseitigkeit aber darf nicht erwartet werden, wenn ich für den Anderen Verantwortung übernehme. Lief die abendländische Philosophie besonders in der Neuzeit auf die Wertschätzung des Selbstbewußtseins, der Freiheit und den Primat der Subjektivität zu, so möchte LEVINAS diese Denkbewegung umkehren: Es komme nicht auf das Zu-sich-Kommen an, sondern im Gegenteil auf das Aus-sich-Heraustreten, auf das Zum-Anderen-Kommen. Das wahre Selbst erreicht der Mensch nicht, indem er sich auf sich selbst konzentriert, sondern indem er sich an die Stelle des Anderen, möglicherweise des gesellschaftlich Ausgebeuteten setzt. Darin erreicht der Mensch auch seine Würde. Die Würde kann nach LEVINAS nicht im menschlichen Sein verankert werden. Wäre dies der Fall, müssten Aussagen zur Ontologie, zur Seins- und Wesensphilosophie, gemacht werden. Eine Ontologie aber möchte LEVINAS auf keinen Fall betreiben. Für ihn hat die Ethik Vorrang, genauer gesagt, die Situationsethik, nicht aber ein ethisches System. Würde im Sinne LEVINAS ereignet sich jeweils in der Situation, in der der Mensch unbedingt und unvertretbar dem Anderen gegenüber Verantwortung ausübt. Würde ist demgemäß nicht in einer feststehenden Eigenschaft des Menschen festzustellen, sondern ereignet sich existentiell im Lebensvollzug. Die ausgeübte Hinwendung zum Anderen kann freilich durchaus zu einer dauerhaften Haltung (lat. habitus) werden. 134

Neben dem Verlangen nach Selbstbestimmung oder einem authentischen Leben und nach dem Bewusstsein menschlicher Würde gehört zu den Themen, die angesichts der Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls des heutigen Menschen hier behandelt wurden der Sinnverlust und die Sinnsuche. Es ging dabei um den Sinn des ganz gewöhnlichen Lebens, eines Lebens mit Arbeit, Liebe und Familie. Die Frage nach dem Danach wird heute seltener gestellt, sie besitzt zumindest keineswegs den Stellenwert, den sie im Mittelalter und während seines Ausklangs hatte. Generell scheint die Frage nach dem Sinn eine anthropologische Konstante zu sein, zeitlos mithin. Die Tatsache aber, dass sie wohl erst im 18. Jahrhundert thematisiert worden ist, lässt erahnen, dass es zu dieser Zeit und danach zu einer Sinnkrise gekommen ist. Daran schließt VIKTOR FRANKL, den ich in diesem Zusammenhang dargestellt habe, seine Anthropologie an. In dieser seiner Lehre vom Menschsein hat das Geistige den Vorrang vor dem Physischen und Psychischen und genießt seine vorrangige Aufmerksamkeit. Die geistige Dimension lässt im Menschen den Willen zum Sinn entstehen. Ist dieses Bestreben auch zeitlos, so kann besonders der Mensch der Gegenwart ihn in seinem Lebensalltag oftmals nicht zur Geltung bringen. So entstehen bedrückende Sinn- und Wertlosigkeitsgefühle. Diese können psychische oder körperliche Krankheiten auslösen oder verstärken. Deren Heilung sucht FRANKL nicht in direkter Konfrontation zu betreiben. Vielmehr leitet er seine Patienten dazu an, das eigene Selbst zu überschreiten auf eine sinnstiftende Tätigkeit hin oder in selbstloser Hinwendung auf einen Anderen. Gleiches gilt für die alltägliche Lebensbewältigung. Das Überschreiten des Selbst steht bei allen genannten Autoren im Zentrum ihres Denkens. Das Woraufhin des Überschreitens ist bei den dargelegten Autoren zumindest teilweise verschieden. TAYLOR sieht eine Rechtfertigung der Selbstbestimmung heute darin, dass sie auf ein ‚größeres Ganze‘ hingelenkt und der Mensch nicht auf sich selbst zurückgebogen ist. Das größere Ganze muss dabei für die jeweilige Person einen unermesslichen Wert darstellen. FRANKL blickt auf das Ziel einer sinnstiftenden Arbeit oder auf die Hingabe an einen Menschen, auf den Anderen. Der Andere ist für LEVINAS der Bezugspunkt der Selbstüberschreitung schlechthin. Selbstbestimmung – Personenwürde – Lebenssinn: Sie sind nicht Bestandteile des menschlichen ‚Wesens‘, sie ereignen sich vielmehr im Lebensvollzug. Man bleibt dabei in allen Fällen im menschlichen und zwischenmenschlichen Bereich, ohne freilich den göttlichen Bereich auszuschließen. 135

3. Leerwerden des Selbst in der Mystik als ein universales Element In der Bewegung sozusagen in ‚horizontalen Ebene‘ unterscheiden sich diese Positionen von der Entleerung des Selbst in der Mystik, die – auf den ersten Blick – ganz und gar ‚vertikal‘ ausgerichtet ist. Die innere Fülle wird dort erreicht in der Erfahrung des Eins-Seins mit der ‚letzten Wirklichkeit‘. Grob gesagt, haben es die Mystiker immer, wenn auch auf unterschiedliche Weisen mit dem Eins-Werden und Eins-Sein zu tun. Dabei gibt es eine große Vielfalt im Einzelnen. Der Formenreichtum lässt sich kurz so beschreiben: „Fast jede Religion hat in irgendeiner Weise mystische Gestaltungen hervorgebracht: […] So finden sich in den Hochreligionen leuchtende Beispiele höchst vergeistigter und sublimer Mystik. Im Christentum stehen dafür Namen wie etwa Augustin, Meister Eckhart, Theresia von Avila (neben vielen anderen). Im Islam sind (ebenfalls aus einer großen Zahl) vor allem Al-Halladsch und Al-Ghazali zu nennen. Der Brahmanismus und der Hinduismus können auf eine lange Kette großer Seher und Weiser zurückblicken – eine Kette, die durch die Jahrtausende reicht und sich bis in unsere Zeit erstreckt.“210 Von der mystischen Entleerung des Selbst dichtete JOHANN SCHEFFLER (1624– 1677), genannt ANGELUS SILESIUS, in seinem Cherubinischen Wandersmann: „Je mehr du dich aus dir kannst austun und ergießen, je mehr muß Gott in dich mit seiner Gottheit fließen.“211 Radikaler als bei ANGELUS SILESIUS erscheint die Preisgabe seiner selbst zuvor in den Schriften MEISTER ECKARTS (um 1260–1328). Eine ganze Palette von Begriffen wird zur Bezeichnung des Sachverhalts herangezogen: Leersein, Ledigsein, Gelassenheit, Selbstvergessenheit, ja grundtot sein und zunichtewerden. Wenn der MEISTER sogar den Rat gibt, der Mensch solle dem 210

211

J. LINNEWEDEL, Mystik – Meditation – Yoga – Zen. Wie versteht man sie, wie übt man sie, wie helfen sie – heute?, Stuttgart (1975) 3 1984, 17. Zit. nach O. KARRER, Die große Glut. Textgeschichte der Mystik im Mittelalter, München 1926, 421.

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Nichts gleich werden, ist das in dieser Aufzählung die schärfste Formulierung. Bedeutet dies, dass das Dasein des Menschen in dieser Welt ausgelöscht werden soll? Gewiss nicht! Es geht um ein Loslassen des selbstischen Ichs, um das ständige und oft anstrengende Bemühen, das Ego zurückzunehmen, bis das LassenKönnen, die Ge-Lassenheit in allem Denken, Reden und Tun das Selbstverständlichste geworden ist. Leer sein bedeutet offen sein. Damit ist eine gewisse Empfängnisbereitschaft gegeben. Die Aufforderung, sich selbst zu lassen, geschieht so, damit Raum gegeben werde für Gott – im Bewusstsein des Menschen, in seinem Denken und Tun. In einer Gegenbewegung zur Entäußerung bekommt der Mensch sein eigentliches Selbst geschenkt, das Selbst, das in Gott verankert ist: „Entäußere dich deiner selbst und aller Dinge und alles dessen, was du an dir selber bist, und nimm dich in dem, was du in Gott bist.“212 Gewiss sprechen die Mystiker nicht von Selbstentleerung in der ausdrücklichen Absicht, eine größere Fülle zu erlangen; das wäre in ihren Augen Selbstsucht. Sie sprechen aber insgesamt von der gewährten Frucht ihrer Bemühung. Als ein Mensch, der von sich und von den Dingen frei geworden ist, bekommt er auch ein anderes, ein neues Verhältnis zu den Dingen: Es ist nun auch frei für die Dinge. Er kann ihnen in Gelassenheit begegnen. Der Mensch soll also keineswegs weltlos werden. Ausdrücklich warnt MEISTER ECKHARD davor, den Weg der Selbstentleerung mit Weltflucht zu verwechseln und von der Weltverantwortung weg zu Gott flüchten zu wollen. „Bei-Gott-Sein steht nicht im Gegensatz zu BeimMenschen-Sein. Im Gegenteil: Die Welt ist am dichtesten sie selbst, wenn sie in Gott ist; wer sie neben Gott betrachtet, als würde sie von Gott ablenken, verkennt das tiefste Wesen der Welt und auch die Mitte Gottes. Das mystische Gottesverständnis fordert uns, die in der Welt leben, geradezu auf, Gott in allen Dingen dieser Welt zu finden,“213 meint zu Recht JOSEF SUDBRACK.

212

213

DW 1, 419, 6–8; zit. in der Übertragung ins moderne Hochdeutsch nach: A. M. HAAS, Preisgabe seiner selbst. Mystische vernichtigkeit und verworffenheit sein selbs im Geiste Meister Eckarts, in: G. Rager/A. Holderegger (Hg.), Bewusstsein und Person. Neurobiologie, Philosophie und Theologie im Gespräch, Freiburg 2000, 106–123, Zit. 115. J. SUDBRACK, Mystik. Selbsterfahrung – Kosmische Erfahrung – Gotteserfahrung, Mainz – Stuttgart 1992, 56.

137

Das Beispiel der Mystik als eine Erscheinung in allen Religionen in Ost und West und zu allen Zeiten zeigt, dass die Überschreitung des Selbst über sich hinaus darin zeitlos ist. Durch sie kann die erhoffte Erfüllung für den Mystiker erreichbar sein. Was heute in der Krise der Individualität am ‚Ende der Neuzeit‘ zugleich als ein Mittel zur Einschränkung einer Kultur der Individualität zum Zweck ihrer Akzeptanz (TAYLOR) und als Heilmittel in einer diagnostizierten Sinnkrise (FRANKL) gedacht worden ist, besitzt mithin als ein Grundelement zur Selbstwerdung überzeitliche Geltung. Die ‚Medizin‘ hat nicht dieselbe Verortung in einer Zeitspanne wie die ‚Zeitkrankheit‘.

4. Eine offene Dialektik zur Selbstwerdung in der christlichen Tradition Wie die Selbsttranszendenz zur echten Selbstwerdung führt, zeigen auch alltägliche Erfahrungswerte, wie sie auch mehrfach in der christlichen Tradition ausgesagt sind. So spiegeln sie sich in einem Wort Jesu, das in allen vier Evangelien, bei Lukas gleich zweimal, in je verschiedenen Kontexten und entsprechenden Variationen angeführt wird. Ursprünglich lautete dieses Wort vermutlich so, wie es Lukas – hier freilich eingefügt in einen bestimmten Kontext, nämlich den des Endgerichts – formuliert: „Wer sein Leben für sich zu erhalten sucht, wird es verlieren, und wer es verliert, wird es erhalten.“ (Lk 17,33) In der (unrevidierten) LUTHER-Übersetzung beginnt der Satz mit den Worten: „Wer da sucht, seine Seele zu erhalten …“ Und auch aus älteren katholischen Übersetzungen ist uns das Wort vom Verlieren und Erhalten der Seele vertraut. Mit dem zu Grunde liegenden griechischen Wort „psyché“ ist aber nicht nur ein Teil des Menschen gemeint, sondern sein ganzes Leben und nicht einmal zuerst ein Leben, das den Tod überdauert. In einer Wortuntersuchung im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament stellt EDUARD SCHWEIZER zur Stelle fest, „daß zunächst nichts anderes gemeint ist, als was man gemeinhin Leben nennt, also das physische Leben auf der Erde. Doch beweist die Verheißung vom Retten dieses Lebens, daß […] an eigentliches, erfülltes Leben

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gedacht ist, so wie es Gott als der Schöpfer geschaffen und geprägt hat. Damit ist zumindest die Möglichkeit offen gelassen, daß Gott es zu mehr als der stets durch den Tod begrenzten Spanne begrenzt hat. Jesus sagt dem Menschen also, daß erst der voll lebt, der sein Leben nicht mehr festhalten will, sondern es im Hingeben, im Verlieren findet. Das Wort geht damit noch über das von den Vögeln und den Lilien hinaus, die zwar als Vorbilder für die Freiheit von allem krampfhaften Festhalten des Lebens dienen (Mt 6,25–34), aber noch nicht die positive Aussage vom Hingeben illustrieren.“214

Das was hier Leben genannt wird, muss aber noch etwas genauer bestimmt werden: Psyché ist „nicht nur das physische Lebendigsein, aber auch nicht etwas davon Unterschiedenes. Es ist das physische Leben, in dem sich zugleich das Selbst des Menschen ausprägt.“215 Lukas kann darum im Anschluss an diesen Satz in einem anderen Textzusammenhang, wo Markus vom Verlust des Lebens (der psyché) spricht, sagen: „Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber dabei sich selbst verliert und Schaden nimmt.“ (9,25) Kurzum, wer sein Selbst nicht kampfhaft festzuhalten sucht, sondern es hingibt und verliert, bekommt es als ein erfülltes, ‚eigentliches‘ Selbst, das gar den Tod überdauert, zurück. Es handelt sich bei der Selbsthingabe, die letztlich das Selbst gewinnen lässt, nicht einfach um ein Paradox, um scheinbar Widersinniges, sondern um eine dialektische, d. h. jeweils in einen entsprechenden Gegensatz umschlagende, erfahrbare Lebenswirklichkeit. Dabei handelt es sich um eine ‚offene‘ Dialektik, die sich nicht in einer bleibenden Synthese zusammenschließen lässt. Das Geschehen wird sich auf verschiedenen Ebenen – unabschließbar – neu vollziehen. Jeder Abschluss wäre der Tod einer Selbstwerdung. Abschließend möchte ich sagen: Wer sein Selbst unbedingt für sich zu erhalten sucht, wird es verlieren, und wer es loslässt und hingibt, wird es immer wieder als erfülltes Selbst erhalten.

214 215

ThWNT, IX, 641, 9–19. Ebd., 644, 18–20.

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Nachwort Ich danke der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft für die Publikation des Buches. Besonders danke ich Dr. Jens Seeling, der sich dort um die Herausgabe von Anfang an gekümmert hat. Ebenso bedanke ich mich für den Beitrag zu den Druckkosten aus dem Eugène- und Louis-Michaud-Fonds vom Institut für Christkatholische Theologie der Universität Bern. Gewidmet habe ich das Buch meiner Frau. Da sie unter einer außergewöhnlichen Gehbehinderung leidet und auf einen Rollstuhl angewiesen ist, bedeutete ihre Lage eine Herausforderung an mich, eine zeitliche Beanspruchung. Gedanken, die ich in dem Buch dargelegt habe, fanden aber dadurch eine Bewährung in der Alltagswirklichkeit. Meine Frau war dankenswerterweise dennoch bemüht, mir zur Durchführung meiner Arbeit Freiräume, so weit wie eben möglich, auszusparen. Bonn, im Juli 2019

Klaus Rohmann

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Personenverzeichnis Angelus Silesius (= Scheffler), 136 Bacon, F., 22, 24, 110 Bartók, B., 32 Ben-Chorin, Sch., 88 Benda, E., 79f. Berger, B., 47 Berger. P. L., 47f. Böckenförde E.-W., 82f. Bogner, D., 81 Buber, M., 98f., 102 Comblin J., 101 Dalferth. I. U., 86 Daschner, W., 80f. daVinci, L., 19f. Descartes, R., 22f., 28 Dolch, H., 20, 22f., 109 Dürig, G., 78, 81f. Dürr, H.-P., 11 Fichte, J. G., 29 Frankl, V. E., 123–131, 133f., 135 Freud, S., 25 Frisch, M., 49, 72---74 Fromm, E., 38f.,45 Gäfgen, M., 82 Gebser, J., 18---37, 40 Gerhardt, V., 67f. Glockner, H., 22, 109 Goethe, J. W., 27, 110 Grimm, W., 106

Grom, B., 123 Groß, W., 29 Guardini, R., 18, 34f., 37---40 Haas, A.M., 137 Hegel, G. W. F., 29, 50 Heidegger, M., 42, 51f., 95, 119 Heisenberg, W., 12, 42, 119 Herdeggen, M., 82f. Herder, J., 71 Heuss, Th., 79 Heyde, J. E., 106 Hilpert, K., 69f. Illies, J., 25 Jüngel E., 86 Kant, I., 28, 68, 80f. Karrer, O., 136 Kierkegaard, S., 51f., 132 Kobusch, Th., 67 Küng, H., 17 Langemeyer, G., 88 Längle, A., 127 Levinas, E., 94---105 Limbeck, M., 57-60 Linnewedel, J., 136 Löning, K., 90, 92 Loretz, O., 88 Lübbe, H., 111 Lubich, F. A., 72 Luhmann, N., 105, 111 148

Lukas, E., 127 Luther, M., 62---64, 108 Lutz, U., 60 Maunz, Th., 82 Meister Eckhard, 136f. Müller, M., 85 Mußner, F., 54, 61f. Mutschier, H.-D., 11 Newton, I., 21, 110 Nida-Rümelin, J., 61 Nietzsche, F.,132 Paulus, Apostel, 54---63 Picasso, P., 31f. Pico (Conte) della Mirandola, G., 65---67 Rohmann, K., 50, 116 Rombach, H., 84 Rousseau, J. J., 76f. Rubenstein, R. L., 48f. Sartre, P., 291 Sauter, G., 105f. Scheffler, J. = Angelus Silesius, 136 Scheffler, R., 106 Schelling, E., 50 Scherer, G., 120f. Schmid, C., 79 Schönberg, A., 31 Schweizer, E., 138f. Seebohm, H.-Ch., 79 Serrer, M., 27 Sudbrack, J., 132 Takuma, T., 26 Taylor, Ch., 70f., 73–76, 135–139 Theunissen, M., 84 Thielicke, H., 74f., 108

Thomas von Aquin, 12 Tibi, B., 93 Tiedemann, P., 79, 83 Türk, H. J., 17 Van Dülmen, R., 65, 67 van Eyck, 19 von Rad, G., 111f. von Stackelberg, J., 75 von Weizsäcker, C. F., 10---12 von Willemer, M., 27 Weber, M., 24, 47 Welsch, W., 17 Welte, B., 106 Westerman, C., 89, 91 Zenger, E., 89, 91

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Sachverzeichnis Absolutheit der Menschenwürde, 77---103 Andersheit des Anderen, 95---103 Angst, 50---53, 59 An-Spruch Gottes, 93, 97 Antlitzlosigkeit des Menschen, 72 Asymmetrie intersubjektiver Beziehung, 93, 98 Aufklärung, 68 Authentizität, 70---76 Autonomie, 68 Befreiung vom Leistenmüssen, 54---63 Begegnung, 125 Bewusstseinswandel, 18, 33, 67 Bürokratisierung, 46---49 Christushymnus, 59, 63 Dialektik, dialektisch, 138---152 Ehre, 77 Einsamkeit, 44, 75 Eins-Sein mit der Masse, 33 Emanzipation, 74 Ende der Neuzeit, 13, 18 Endlichkeitsbewusstsein, 30f. Entleerung des Selbst, 136 Entpersönlichung, 49f. Ethik als erste Philosophie, 94 Ethische Pflichten im Islam, 93 Ethisches System, 101, 105 Existenzanalyse, 123---127 Existenzangst, 61 Existential, 51, 126, 132 150

Existenzialismus, 29 Existenziell, 29 Existenzielle Leere, 123 Farbperspektive, 18 Freiheit, 13, 29, 54---63, 65 Freiheit des Gewissens, 63 Freiheit vom (jüdischen) Gesetz, 54---63 Freiverantwortlichkeit, 70 Freizeitsaktionismus, 74 Geistmetaphysik, 85 Gelassenheit, 61, 136 Gerechtigkeit, 101 Geschlechtliche Liebe, 125 Gesetzesfrömmigkeit, 59 Gesetz und Heuchelei, 57 Gewissen, 127 Gewissheit der Wahrheitserkenntnis, 109f. Glaube und Werke, 63 Gleichzeitigkeit, 30f., 70 Gnade, 58, 62f. Gott als Spur im Antlitz des Anderen, 103f. Gott, Unthematisierbarkeit, 103 Gottes Herrschaft als Dienst, 92 Gottesbildlichkeit des Menschen, 87---93 Grundgesetz, -kommentierung, 82---84 Haben und Sein, 38f., 43 Humanbiologie, 9 Humanismus, 65, 103 Ichbezogenheit, 25f. Ich-Du-Verhältnis, 99f. Individuum, Individualität, 13f. 25, 132f. Islam und Menschenwürde, 93 Judenvernichtung, 49 Kameradschaft, 37 Konsumhaltungen, 44, 53, 120---122 151

Krankheit zum Tode, 132f. Leid als Folge eigenen Verhaltens, 114---120 Leistung, 60f. Liebe, unbedingte 102f., 125 Logotherapie, 123---130 Malerei, 19---22,31 Man als Subjekt der Alltäglichkeit, 51 Marketing-Charakter des Menschen, 44 Masse, Vermassung, 34---37 Meditation, 76 Mensch als Bild Gottes, 66, 88 Mensch als Nummer, 50 Mensch als Verbraucher, 41---45 Mensch als Ware, 44f. Menschenbild, 10 Menschenrechte, 77---81, 93 Menschenwürde, 77---94 Menschenwürde gegen Menschenwürde, 82 Menschliche Schuld, 104, 114f., 128 Metaphysik, 84f. Metrik, musikalisch, 33 Musik, atonal, 31f. Mystik, 136---138 Nächstenliebe, 102 Natur als Verhaltensvorgabe, 65 Natur des Menschen, 65f. Natur und menschliches Eingreifen, 42 Naturwissenschaften, 11 Objektivierung, 20 Neuzeit, 19 Ökologie, 61, 76 Ontologie, 94f. Personbegriff, 84---87 Personenwürde, 13, 133---135 Persönlichkeit, 26f. 152

Perspektive, perspektivisch, 15, 19---22, 31f.,100, 119---121 Philosophie, 10---15 Physik, 10f. Postmoderne, 17 Psychologie, 9 Quantenphysik, 11 Quantität, quantitatives Denken, 38---40 Rationalität, rational, 38, 70, 112, 117 Raumbewusstsein, 21f. Reich Gottes,61 Religion, Religiosität, 48, 105 Renaissance, 19, 65, 102 Schwangerschaftsabbruch, 69 Sein und Haben, 39---42 Sektorisierung der Forschung, 22---25 Selbstbestimmung, 13, 67---76 Selbstdenken, 67 Selbstentäußerung, 59, 63 Selbstverwirklichung, 74f. Selbstwerdung, 14, 138f. Selbstwertschätzung, 13, 129 Selbstzwecklichkeit, 86 Sexualakt um seiner selbst, 125 Sexualität, 68f., 99, 125f. Sinn des Lebensganzen in Kohelet, 112---114 Sinn- und Wertlosigkeitsgefühle 135 Sinnantwort 126 Sinnfrage als Sinnkrise, 123, 125 Sinnvakuum, 123 Sinnverlust,14, 120, 135 Situationsethik, 134 Sorge, 51, 61f. Soziologie, 9 Subjektivität, 28f. Sündenfallmythos, 66 153

Technologie, 42, 46, 110 Theodizee, 108 Theologie, 9f., 12 Transzendenz des Selbst, 124, 129, 133, 138 Überbetonung der Ichsphäre, 25 Unbedingtheit des Anspruchs, 92f., 102---104 Unendlichkeit des Sehnens, 100 Unvertretbarkeit des Handelnden, 36, 97, 124, 134 Urgewissen 97 Verantwortung, 67, 94f.