Denken.Kunst.Frieden.: Annäherungen an das Menschsein 9783110589894, 9783110589269

Warum Frieden? Menschen können ihr Denken zur Gestaltung der Welt verwenden; Kunst eröffnet neue Perspektiven. Beide

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Denken.Kunst.Frieden.: Annäherungen an das Menschsein
 9783110589894, 9783110589269

Table of contents :
Inhalt
VORWORT
KREATIVITÄT IST MACHT!
KULTUREN DER FRIEDEN
FRIEDEN ALS VORSTELLUNG UND WIRKLICHKEIT
WARUM FRIEDEN?
FACETTEN ÖKONOMISCHSTRUKTURELLER GEWALT
GEFAHR VON WAHRHEIT
KUNST UND NIEDERTRACHT
DEN FRIEDEN IN DIE WIRKLICHKEIT DENKEN!
PARZIVAL UND ARJUNA
GEMISCHTER SATZ
FRIEDENSLEHRE IM KUNSTUNTERRICHT
EIN FRIEDENSKREUZ ALS MAHNMAL SEINER SELBST
EN/ACTING PEACE
FRIEDENSWEGE
DIE AUTOR_INNEN
Impressum

Citation preview

DENKEN. KUNST. FRIEDEN.

Edition Angewandte – Buchreihe der Universität für angewandte Kunst Wien Herausgegeben von Gerald Bast, Rektor

DENKEN. KUNST. FRIEDEN. Annäherungen an das Menschsein

Herausgegeben von Susanne Jalka

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VORWORT Susanne Jalka

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KREATIVITÄT IST MACHT! Gerald Bast

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KULTUREN DER FRIEDEN Norbert Koppensteiner

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FRIEDEN ALS VORSTELLUNG UND WIRKLICHKEIT Barbara Putz-Plecko

69

WARUM FRIEDEN? Susanne Jalka

89

FACETTEN ÖKONOMISCHSTRUKTURELLER GEWALT Josef Aff

115

GEFAHR VON WAHRHEIT Ruth Mateus-Berr

135

KUNST UND NIEDERTRACHT Konrad Rennert



DEN FRIEDEN IN DIE WIRKLICHKEIT DENKEN!

165

Werner Wintersteiner

PARZIVAL UND ARJUNA

188

Ursula Reisenberger

GEMISCHTER SATZ

213

Dora Kuthy

FRIEDENSLEHRE IM KUNSTUNTERRICHT

231

Marietta Böning, Boriana Karapanteva-Strasser

EIN FRIEDENSKREUZ ALS MAHNMAL SEINER SELBST

257

Martin Krenn

EN/ACTING PEACE

281

Magdalena Fritsch

FRIEDENSWEGE

303

Susanne Jalka

DIE AUTOR_INNEN

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SUSANNE JALKA

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VORWORT

Die Idee zu diesem Buch hat sich in Gesprächen an der Universität für angewandte Kunst entwickelt, während ein europäisches Friedensprojekt Discover Peace in Europe mit Studierenden erarbeitet wurde. In diesem Projekt wurden in sieben Städten in Europa Friedenswege als Themenspaziergänge entworfen. In jeder dieser Städte stellen unterschiedliche Stationen jeweils unterschiedliche Aspekte von Frieden vor. Die Grundidee dieses Projekts ist, Friedensthemen in der Öffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

Frieden wird hauptsächlich immer noch als das

Gegenteil von Krieg verstanden. Mit dem Begriff „Frieden“ wird Harmonie, Sicherheit, konfliktfreie Ruhe, Abwesenheit von Gewalt etc. verbunden. Dieses Verständnis von Frieden nimmt seinen Ursprung im Ereignis des Krieges und der Gewalt. Frieden ist so lang das Gegenteil von Krieg, so lang wir davon ausgehen, dass es Kriege immer gegeben hat und dass es auch in Zukunft weiterhin Kriege geben wird.

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Susanne Jalka

Diese Grundannahme wird selten in Frage gestellt. Die Tatsache, dass es Kriege gibt, bleibt somit Voraussetzung für die Deutungsmöglichkeiten von Frieden, weil diese Annahme nicht bewusst kritisch hinterfragt wird. Frieden anders zu sehen, erfordert eine radikal andere Perspektive, nämlich die Gedanken und Vorstellungen vom Status des Gegensatzes zu befreien.

In diesem Buch wird also von unterschiedlichen

Standpunkten aus untersucht, ob unser Denken als handlungsleitende Kraft neue widerspruchsreiche Vorstellungen von Frieden entwickeln kann. Frieden wird hier als Fähigkeit zur Transformation von Konflikten beschrieben. Diese Transformation ermöglicht Erkenntnisse. Die Energie, die sich als Spannung im Konfliktgeschehen aufbaut, kann entweder in Gewalt oder in Erkenntnisse und Entwicklung von Bewusstsein umgewandelt werden. Andererseits führt das Denken des aktiven Friedens zu Widersprüchen, die sich nicht aufheben oder auflösen lassen. Es geht um die Überwindung des unbedingt Eindeutigen und darum, die Spannung zwischen Differenzen zu halten. Die Unbestimmtheit einer noch nicht erlebten, erfahrenen Realität bringt den Verlust von Anschaulichkeit mit sich. Abstrakte Vorstellungen von diesem aktiven Frieden werden zu einem neuen Denken, einer neuen Bewusstseinsstruktur und neuen Handlungsmöglichkeiten. Vorerst ist jedoch diese Entwicklung nur in ihren Anfängen der Allgemeinheit bewusst.

Wir verfügen noch nicht über Erfahrungen, insofern

auch nicht über Bilder dieses Friedens, ebenso noch nicht über einen entsprechenden Wortschatz und über

Vorwort

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dieses andere Denken. In diesem Verständnis von aktivem Frieden bieten Konflikte die Möglichkeiten für persönliche und gesellschaftliche Entwicklung. Voraussetzung ist allerdings, dass Konflikte nicht als Bedrohung wahrgenommen werden. Dafür wiederum wäre eine bewusste Auseinandersetzung mit Methoden der konstruktiven Konflikttransformation notwendig. Hier setzt der Konjunktiv ein, da das allgemeine Verständnis für die enorme Bedeutung dieser sozialen Kompetenzen noch weitgehend fehlt.

Diese immanent politische Dimension der Beschäf-

tigung mit Frieden wird im vorliegenden Band unter den Stichworten Wirtschaft, Handelsbeziehungen, Demokratiebildung und Auseinandersetzung mit der Unabweisbarkeit der Erinnerung behandelt.

Auch die Forschungen der Neurobiologie werden

erwähnt. Sie untersuchen die wechselseitigen neuronalen Vorgänge von mentalen Phänomenen und materiell nachweisbaren Prozessen, zum Beispiel zum Thema Bewusstsein und zu Gefühlen, Gedanken, Entscheidungen, die wir mit Frieden verbinden. Materielle neuronale Prozesse werden als Ausdruck einer sozialen Realität gedeutet, die sich als kulturelle Evolution ankündigt.

Das erwähnte europäische Friedenswege-Projekt

wird, wie auch andere Texte über Friedensprojekte, hier in diesem Band beschrieben. Diese Projekte wurden in unterschiedlichen Verbindungen mit der Universität für angewandte Kunst Wien durchgeführt. Insofern war Kunst und Kreativität stets ein wesentlicher Faktor für die Auseinandersetzung mit Frieden. Kann also die Kunst ein Motor der Veränderung sein? Kann Kreativität neue Perspektiven

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Susanne Jalka

eröffnen und ein neues Denken über Frieden anregen? Kann Kunst neue Denkräume über Frieden eröffnen? Menschen können ihr Denken zur Gestaltung der Welt verwenden. Kunst und Kreativität eröffnen neue Perspektiven.

Frieden im Sinn sozialer Kompetenz wird in diesem

Buch diskutiert als Abrüstung, Demokratisierung, ziviler Widerstand, Menschenrechte, Gleichberechtigung von Frauen und Männern und anhand von vielen weiteren Aspekten in der Geschichte und in unserer Zeit. Welche Kompetenzen können den Prozess der Entwicklung aktiven Friedens unterstützen?

Dieses Buch bietet unterschiedliche Positionen zu

den drei Themen: Denken. Kunst. Frieden. Es lädt ein zu wechselseitigen Dialogen, bietet keine eindeutigen Antworten und erfüllt nicht Wünsche nach Gewissheiten und klaren Definitionen. Hier melden sich unterschiedliche Gedanken zu Wort.

Ich schließe mit einer Frage an die Leserin und den

Leser: Sind wir für unser Denken verantwortlich?

Karl Jaspers stellte diese Frage 1947 als Überlegung,

zu welchen Gedanken wir berechtigt seien. Ich erinnere an Sophokles, der Ödipus die Verantwortung für seine Taten übernehmen lässt – für alles, was er getan hatte, als er wusste und als er nicht wusste – und als er träumte.

GERALD BAST KREATIVITÄT IST MACHT!

Im Jahr 2015 zertrümmerten Krieger des Islamischen Staats jahrtausendealte Kulturschätze der Menschheit im Museum von Mossul im Irak; sie filmten den barbarischen Akt und stellten das Video auf YouTube. Ähnlich gingen sie in der im heutigen Syrien gelegenen Stadt Palmyra vor. Alexander der Große hinterließ bei seinem Eroberungszug eine Spur der Verwüstung; Persepolis wurde ebenso niedergebrannt wie andere Städte, deren Reste wir heute nur noch als Kulturdenkmäler in Form von Ruinen bewundern können. Die Kunsthistorischen Museen sind voll von Schlachtenbildern, die öffentlichkeitswirksam der ästhetisch verklärten Verherrlichung kriegerischer Erfolge glorreicher Herrscher dienen. Was ist der Grund dafür?

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Gerald Bast

Kunst war und ist ein Instrument zur Demonstration von politischer und wirtschaftlicher Macht. Mit Kunst wird Identität generiert, und die Zerstörung von Kunst ist ein Angriff auf Identitäten – kulturelle, religiöse, ethnische und politische Identitäten, die oft genug Kombinationen davon sind. Und weil Kunst meist generationenübergreifend wirkt, ist deren Zerstörung besonders nachhaltig. Wer Kunst zerstört, der zerstört Erinnerung und mit ihr die Möglichkeit, Erinnerung als Basis für die Konstruktion von Gegenwart und Zukunft zu nutzen. Die Zerstörung von Kunst im Zusammenhang mit gewaltsamen politischen und religiösen Konflikten ist also mehr als eine symbolische Handlung, mehr als ein Racheakt am besiegten Feind. Hinter der Zerstörung von Kunst liegt die Einsicht, dass der Kunst eine Kraft innewohnt, die jenseits der physischen Stärke von Menschen und Waffen liegt. Die Zerstörung von Kunst ist nicht ein bloßer Akt des Vandalismus. Die Zerstörung von Kunst zielt nicht auf die Beschädigung und Zerstörung von Gegenständen ab, sondern auf die Vernichtung jener immateriellen Wirkungsmacht, die durch Kunst vermittelt wird. Das ist der Grund, warum Kunst zu allen Zeiten zum Ziel gewaltsamer politischer Auseinandersetzungen wurde und noch immer wird. So schrecklich diese Erkenntnis auch sein mag, so klar ist auch, dass Kunst als solche unbesiegbar ist. Kunst ist eine unverzichtbare Komponente der menschlichen Evolution, argumentiert der bedeutendste Evolutionsbiologe unserer Zeit, Edward O. Wilson, in seinem Buch Die soziale Eroberung der Welt. Kunst ist notwendig für den Evolutionsprozess, weil und insofern sie Identität, Gemeinschaft und Kommunikation stiftet.

Kreativität ist Macht!

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In den nächsten fünf Jahrzehnten wird sich die Welt, das Leben der Menschen, dramatisch verändern. Noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit erfolgte die Veränderung der Lebensumstände gleichzeitig so rasch und so tiefgreifend, wie es die nahe Zukunft erwarten lässt. Die Europäische Völkerwanderung dauerte 200 Jahre und wirkte in ihren politischen, religiösen und kulturellen Disruptionen noch einmal einige Jahrhunderte nach. Politischer und religiöser Extremismus, Klimawandel und wachsende Ungleichheit machen gewalttätige Konflikte und große Migrationsbewegungen in Richtung der ökonomisch wohlhabenden und politisch stabilen Industriestaaten in den kommenden Jahrzehnten mehr als wahrscheinlich. Wer die Analysen der Migrationsforschung kennt, der weiß um die zeitliche und quantitative Dimension dieser bereits angelaufenen Entwicklung. Der Begriff „Kulturelle Diversität“ wird in Europa immer mehr zur herausfordernden Realität. Diese Realität wird multikulturellen Polit-Romantizismus ebenso ad absurdum führen wie rechts-nationale Forderungen nach einem mono-kulturellen, christlich-abendländischen Europa. Dennoch – oder gerade deshalb – können und werden sich an diesen Widersprüchen soziale und politische Konflikte entzünden. Digitalisierung und Automatisierung werden die Wirtschaft in nie gekanntem Ausmaß und in nie gekannter Geschwindigkeit verändern, weil Roboter und Computer schneller, billiger und zuverlässiger arbeiten als menschliche Arbeitskräfte. Wie weit diese Entwicklung gediehen ist, erkennt

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Gerald Bast

man daran, dass in den sogenannten Billiglohnländern Asiens die höchsten Robotisierungsquoten zu verzeichnen sind. Dort sind in den nächsten zehn Jahren bis zu 70 Prozent der jetzt bestehenden Arbeitsplätze gefährdet. Weil die Digitalisierung der Arbeitswelt sich nicht auf die Produktionindustrie beschränkt, sondern auch den Handel, die Transportwirtschaft, den Dienstleistungssektor, die Versicherungs- und Finanzwirtschaft, Rechtsberufe und sogar Medizinberufe erfasst, sind in den USA und in Europa bis zu 50 Prozent der bestehenden Arbeitsplätze in den nächsten 20 Jahren gefährdet. Was das für den sozialen Frieden einer Gesellschaft bedeutet, wenn innerhalb einer Generation die Hälfte des Arbeitsmarktes bis tief hinein in die gut gebildete Mittelschicht wegbricht, braucht man nicht näher zu beschreiben. Mit Artificial Intelligence und Machine Learning ersetzen erstmals in der Geschichte Maschinen nicht nur menschliche Muskelarbeit, sondern komplexe, autonome Denkprozesse, die bislang als ausschließliche Domäne des Menschen galten. Genetic Engineering macht den Weg frei, die biologische Entwicklungspotenziale des Menschen neu zu definieren und die Grenze zwischen natürlicher und synthetischer Biologie sowie zwischen Mensch und Maschine aufzulösen.

Naturwissenschaft und Technologie stellen damit die

Conditio Humana, die Identität des Menschen und seine Rolle im Universum in neuer und fundamentaler Weise zur Diskussion.

Kreativität ist Macht!

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Wir leben in einer Welt, die mehr denn je geprägt ist von Ungewissheit, Unsicherheit und großen sozialen, politischen sowie wissenschaftlichen Umwälzungen. Die Komplexität der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen nimmt dramatisch zu. Das liegt insbesondere daran, dass sich diese Herausforderungen auf dem Boden einer Wissensgesellschaft entfalten, und zwar einer zunehmend fachlich fragmentierten Wissensgesellschaft. Alle 20 Sekunden wird weltweit ein wissenschaftliches Paper in einem peer-reviewed Journal publiziert. Der wissenschaftliche Fortschritt hat im letzten Jahrhundert rasant an Fahrt aufgenommen, hat sich aber fast ausschließlich innerhalb der Grenzen einer Disziplin oder Sub-Disziplin definiert. Während die realen Folgen des Erkenntnisfortschrittes zwischen den Disziplinen miteinander in Wechselwirkung getreten sind und sich immer mehr vernetztes Wirkungspotential auftut, hat dies auf der Erkenntnisebene kaum eine Entsprechung. Unsere Bildungssysteme vermitteln eine Kultur der Antworten und Gewissheiten: Ja oder nein. Richtig oder falsch. Diese Kultur wird der Komplexität unserer Realität nicht mehr gerecht. Die Reaktion der auf Gewissheiten konditionierten Menschen sind Verunsicherung, Angst und Aggression. Wen wundert es, wenn Menschen, die durch ein Bildungssystem auf klare Antworten sozialisiert wurden, trotz zunehmender Komplexität der Herausforderungen und Ambiguität der Realität von der Politik auch klare, eindeutige Antworten einfordern. Das Delegieren von Verantwortung und die tiefe Sehnsucht nach einfachen Lösungen, das sind durchaus nachvollziehbare Strategien,

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Gerald Bast

mit der Angst vor Ungewissheit und Kontrollverlust in Zeiten überhandnehmender Unübersichtlichkeiten umzugehen. Allerdings führt die Logik diese Strategie nicht zu besseren oder klaren Lösungen, sondern zur Verschärfung von Konflikten. Lösungen für die überwältigenden Herausforderungen unserer Zeit erfordern kreative Ansätze, die global skaliert, aber auf die Herausforderungen lokaler Kontexte zugeschnitten sind. Es geht heute um die Frage der Neudefinition real existierender, sich auflösender Identitäten. Dabei sollten nicht nationale, ethnische oder religiöse Parameter die sinngebenden und einander ausschließenden Elemente sein, sondern die Suche nach der globalen Rolle des Menschen in Zeiten von Artificial Intelligence und Genetic Engineering und die Suche nach der Bestimmung des Individuums im lokalen sozialen Umfeld. „Wer bin ich?“ ist nicht nur eine Frage, die seit Jahrtausenden die Philosophie beschäftigt, sondern auch eine existenzielle Frage der individuellen Konstruktion von Identität. Die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ enthält auch die Antworten auf die Fragen: „Wie kann ich leben?“, „Was passiert, wenn bisher bestimmende Determinanten bei der Konstruktion von Identität, wie Nation, Religion und Arbeit, ihre Kraft verlieren?“ Die Verhandlung und Neudefinition von Identitäten ist eng verbunden mit den meisten der sogenannten Global Challenges: Urbanisierung, Migration, Klimawandel, alternde Gesellschaft und die Zukunft der menschlichen Arbeit. Entscheidend für die Bewältigung dieser Herausforderungen, die gleichzeitig globale

Kreativität ist Macht!

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Zusammenhänge und lokale Wirkung aufweisen, wird sein, ob und wie schnell es gelingt, Kreativkompetenz (creative skills) als die zentralen Kulturtechniken des 21. Jahrhunderts zu etablieren. Kreativkompetenz bedeutet:

Umgang mit Mehrdeutigkeit und Ungewissheit



Imaginations- und Assoziationsfähigkeit

Intuitionsfähigkeit

Denken in Form von Alternativen



Hinterfragen bestehender Strukturen



und Erscheinungsbilder



Unkonventionelle Zusammenhänge herstellen



Den Status quo in Frage stellen



Zukunftsszenarien entwickeln



Neue Perspektiven suchen



Die Tatsache anerkennen, dass es andere Formen



der Kommunikation als die verbalen gibt

Ist es nicht auffallend, dass alle diese Fähigkeiten und Methoden zur Domäne künstlerischen Arbeitens zählen?

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Gerald Bast

Angesichts der Wirkungspotenziale einer bereits angelaufenen technologischen Revolution, die an disruptiver Kraft ohne Vorbild ist, stellen sich heute ganz andere Herausforderungen an unser Denken und Handeln als im vordigitalen Zeitalter.

Die Gestaltungsmacht des Menschen wird sich nicht

mehr so sehr durch die Umsetzung seiner Gedankenleistungen in materialisierter Form ausdrücken, sondern sie wird sich in der Verknüpfung intellektueller, intuitiver, sozialer und emotionaler Prozesse manifestieren. Das können Maschinen nicht – oder zumindest noch nicht. So paradox es klingt: Ausgerechnet eine tiefgreifende technologische Revolution wird zu einer Renaissance des Nachdenkens über die Evolution des Menschen jenseits von Materialität und Virtualität führen, zum Nachdenken über Zivilisation als kultureller Prozess. Die von Aristoteles aufgestellte und von Hannah Ahrendt und ihren Epigonen aktualisierte Vorstellung von der Dichotomie einer vita activa und einer vita contemplativa, die eine Aufteilung der Menschen in Bürger und Sklaven zur Vorbedingung hatte, könnte im Digitalen Maschinen-Zeitalter ein völlig neues Interpretationspotenzial erlangen. Die Antwort auf die Herausforderungen des Digitalen Zeitalters kann nicht sein: Mehr Informatik, Technik und Naturwissenschaften in die Bildung. Die Antwort muss sein, möglichst viele Teile der Gesellschaft mit Kreativkompetenz auszustatten. Nur damit werden wir in der Lage sein, destruktive und womöglich sogar gewaltsame Konsequenzen der dramatischen Veränderung unserer gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu vermeiden. Das bedeutet, dass die aktive

Kreativität ist Macht!

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und rezeptive Beschäftigung mit Kunst, die Anwendung genuin künstlerischer Methoden, die zur Kreativkompetenz führen, zu unverzichtbaren Elementen von Bildung auf allen Ebenen unseres Bildungssystems gehören müssen. Der Prozess der Zivilisation ist das Gegenteil eines Abwehrkampfes.

Der Prozess der Zivilisation ist ein kultureller Entwicklungsprozess. Manchmal ist es nützlich und erhellend, sich mit dem Ursprung eines Begriffes zu beschäftigen. Gerade jene, die in unseren Tagen den Begriff „Kultur“ wie einen Schild, primär geeignet als Instrument der Abwehr und Abgrenzung, vor sich hertragen, sollten das tun.

„Kultur“ kommt aus dem Lateinischen und hatte ur-

sprünglich eine landwirtschaftliche Bedeutung im Sinne der Pflege von Pflanzen. Cicero stellte den Begriff in einen weiteren Zusammenhang, indem er von „cultura animi“ sprach. Von der Pflege, also Kultivierung des Geistes bzw. der Seele. Angst ist keine Nahrung für die Seele. Angst essen Seele auf heißt ein wunderbarer Film von Rainer Werner Fassbinder. Durch Verbreitung von Angst kann man Kultur weder bewahren noch weiterentwickeln. Man zerstört sie. Es ist keine Schande, Angst zu haben. Aber es ist schändlich, mit Angst Politik oder Geschäfte zu machen. Es geht nicht um den Kampf der Kulturen, sondern um den Wettstreit zwischen Ideen und Wertesystemen. Ersterer findet gewaltsam statt, Letzterer am Feld der Bildung. Denn den Wettstreit um Ideen und Werte kann man nur in den Köpfen gewinnen.

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Gerald Bast

Norbert Elias beschreibt in seinem Standardwerk Über den Prozeß der Zivilisation die Affektkontrolle als wesentliches Zeichen von Zivilisierung. Affektkontrolle heißt, dass zwischen spontanem emotionalem Impuls und tatsächlicher Handlung, zum Beispiel einer Presseaussendung, einem Gesetzesantrag, einer Twitternachricht, immer ein Zurückhalten dieses Impulses und ein Überdenken und Abwägen der Wirkungen des eigenen Handelns tritt. Die aktuelle Politik scheint heute von dieser Definition des Prozesses der Zivilisation in erschreckender Weise abzudriften. Abwägen, Differenzieren, Relativieren, Hinterfragen, Abstrahieren und Kontextualisieren – die Anwendung solcher klassischen kreativen Methoden sind zwar kein absoluter Garant für zivilisatorischen Fortschritt, aber sie scheinen zumindest eine Grundbedingung dafür zu sein. Der Krieg der Worte war nur allzu oft die Vorstufe zum Krieg der Waffen. Auch wenn die Geschichte zeigt, dass die Kunst immer ein oszillierendes Verhältnis zu Krieg und Frieden hatte, darf man diese Tatsache nicht ohne den Blick auf Art und Umfang des Bildungsgrades einer Gesellschaft bewerten. Propaganda, Kriegshetze und Fremdenfeindlichkeit arbeiten mit Verkürzung, Pauschalisierung und Simplifizierung. Abwägen, Differenzieren, Relativieren, Hinterfragen, Abstrahieren und Kontextualisieren, mit Mehrdeutigkeit umgehen können, also Kreativkompetenz als Grundeigenschaft einer modernen Gesellschaft – das macht den Unterschied zwischen Zivilisation und Barbarei. Die Tatsache, dass auch kulturell gebildete Menschen zu Barbaren geworden

Kreativität ist Macht!

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sind, dass Despoten sich der Kunst zur Sicherung ihrer Macht bedienen, spricht nicht gegen die Kunst, sondern gegen die Monopolisierung des Zugangs zum Verständnis der Methoden und Wirkungsmechanismen von Kunst. Es geht um die Implementierung kultureller Bildung in allen Bereichen der Bildungssysteme und der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Nur dann sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass kulturelle Bildung – wie auch andere Bildungsinhalte – als oligarchisches Herrschaftsinstrument missbraucht werden. „Wissen ist Macht!“ hieß es einst, und die Geschichte hat die Wirksamkeit dieser Formel mehrfach bewiesen. Heute, an der Schwelle des Übergangs von der Informationsgesellschaft zur Kreativgesellschaft, wo ein enzyklopädischer Wissensbegriff von der Kompetenz zur kreativen Interpretation und Verknüpfung von Information abgelöst wird, ist diese Formel entlang der Rahmenbedingungen des Digitalen Zeitalters neu zu definieren. „Kreativität ist Macht!“ lautet die Formel in einer Zeit, da jedem ungeahnte Mengen von Information in digitaler Form zugänglich sind. Es geht um die kreative Kontextualisierung und Rekombination von bloßer Information. Und je breiter diese Kreativkompetenz in der Gesellschaft verbreitet ist, desto besser die Voraussetzungen für die positive Entwicklung einer Gesellschaft zum Vorteil möglichst vieler ihrer Mitglieder.

NORBERT KOPPENSTEINER KULTUREN DER FRIEDEN: EINE TRANSRATIONALE PERSPEKTIVE

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24

Norbert Koppensteiner

Die kulturelle Wende in den Friedensstudien In einer 1980 in Tokio gehaltenen Rede im Rahmen der Asian Peace Research Association argumentiert Ivan Illich, dass Kultur dem Frieden schon immer seine konkrete Bedeutung gegeben hat und dass Frieden daher genauso vernakulär und kontextgebunden ist, wie es Kultur und Sprache selbst sind. Im Gegensatz zu einem universellen Friedensverständnis, welches von allen geteilt würde, konstatiert Illich, dass es in den Begriffen von Frieden keine Identität gibt1. Er erhebt damit Kultur zum Schlüsselbegriff dafür, wie Frieden konkret gelebt wird. In einer oft zitierten Passage erklärt er: Der Krieg tendiert dazu, die Kulturen einander anzugleichen, während der Friede jener Zustand ist, in dem jede Kultur auf ihre eigene, unvergleichliche Weise blüht. Es wird den Großteil zweier Dekaden dauern, bis die Friedensstudien diesen Faden aufnehmen, bis die

1

Illich, 2006: 16–17

kulturelle Wende in der Disziplin ankommt. Raimon Panikkar (1995) bereitet den Weg in diese Richtung, wenn er die unvermeidliche Interkulturalität aller gelebten Friedensbegriffe thematisiert. Für Panikkar ist Frieden immer beziehungshaft und daher an die konkreten Lebensbedingungen derjenigen gebunden,

Kulturen der Frieden

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in deren Erfahrung er sich manifestiert. Durch die Einführung des Begriffs der Harmonie in die Dis-

kussion öffnet er einen Weg jenseits des mehrheitlich modernen und postmodernen Denkens und Gemütszustandes der Friedensforschung. In Wolfgang Dietrichs Denken findet dieser State of the Art Mitte der 1990er seinen Ausdruck im Abgesang auf den einen universellen Frieden der Moderne durch das Plädoyer für die vielen Frieden2, wie der ursprünglich 1996 veröffentlichte Aufsatz im deutschen Original heißt. Dieser Aufsatz ist die Initialzündung, um Frieden als Pluralwort zu verstehen. Er ist ein Aufruf dazu, diese Frieden in ihrer kulturellen Vielfalt wissenschaftlich zu erforschen. Francisco Muñoz argumentiert wenig später in die gleiche Richtung, wenn er eine epistemologische Wende in den Friedensstudien fordert. Eine Disziplin, meint Muñoz, die sich Friedensforschung nennt, kann sich nicht mit der Erforschung von Gewalt und Krieg zufriedengeben, sondern muss sich auch mit den kleinen, unabgeschlossenen, vernakulären und

der im positiven Sinne unvollkommenen menschlichen Natur und den menschlichen Beziehungen entspricht, die permanent zwischen Konflikt und Kooperation oszillieren. Unvollkommen ist dann

3

das Bild eines unvollkommenen Friedens3, welcher

Dietrich, 2006 

lichen Daseins ausmachen. Was so entsteht, ist

2

welche die überwiegende Mehrheit des mensch-

Muñoz, 2006  

alltäglichen Prozessen des Friedens beschäftigen,

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Norbert Koppensteiner

keine Vorstufe der Vollkommenheit mehr, sondern das bezeichnende Merkmal menschlichen Daseins und der vielen Frieden, die als solche gesehen und angenommen werden wollen. Zur ungefähr gleichen Zeit veröffentlicht Elise Boulding (2000) ihr Werk über die Cultures of Peace, welches einen signifikanten Beitrag dazu leistet, dass die UNESCO4 die erste Dekade des 21. Jahrhunderts zur International Decade for the Culture of Peace and Non-Violence for the Children of the World erklärt.a Der britische Friedensforscher Adam Curle zählt zu den Pionieren der Friedensstudien, mit einem beeindruckenden Lebenslauf: Offizier im Zweiten Weltkrieg und später Professor in Harvard und Oxford, wird er schließlich der erste Professor für Peace Studies an der Universität Bradford. Parallel zu seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ist er als Mediator in vielen der bewaffneten Konflikte seiner Zeit aktiv5. Der Schlüsselbegriff, den er in die Diskussion einführt, berührt viele der tiefsten Aspekte des Mensch-

4

Unesco, 2016b  

5

Mitchels, 2006

seins und ist doch – mit wenigen Ausnahmenb – ein Tabu, wenn nicht gar ein Unwort in intellektuellen und wissenschaftlichen Kreisen: Liebe. Adam Curle’s The Fragile Voice of Love (2006) fußt auf Quellen des Buddhismus sowie der christlichen Mystik. Auch a

  Der Begriff Culture of Peace ist in der Verwendung im UN-Kontext älter. Er geht

auf die peruanische Initiative cultura de paz (1986) sowie das berühmte Seville Statement on Violence (aus demselben Jahr) zurück (vgl. Verdiani, 2008: 50).  B

  Eine solche ist die bemerkenswerte Arbeit von Erich Fromm (2006): The Art of

Loving.

Kulturen der Frieden

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sein Hintergrund in der Religious Society of Friends – besser bekannt als Quäker – spielt eine zentrale Rolle, wenn Curle dafür plädiert, diese Stimme der Liebe hörbar zu machen. Curle sieht ihre einfache und klare Botschaft als probates Gegenmittel gegen die „schwarze Wolke“, die als Fleck auf dem kollektiven menschlichen (Un)-Bewusstsein durch die akkumulierte Gewalt, menschengemachte Katastrophen und Verbrechen entsteht. Diese schwarze Wolke manifestiert sich, so Curle, in der Beeinträchtigung und Vernebelung des menschlichen Geistes. Sie führt individuell zu einem verwirrten und vernebelten Selbst, welches diese Verwirrung in Form von Gewalt zum Ausdruck bringt und in das Kollektiv zurück speist. Aber es ist derselbe menschliche Geist, in welchem sich Liebe als klarster Ausdruck der Ganzheit und All-Verbundenheit menschlichen Daseins manifestiert. Adam Curle spiegelt hier den Slogan der UNESCO6 building peace in the minds of men and women wider.c Die UNESCO selbst hat die Dekade 2013–22 zur International Decade for the

C

  Das häufig zitierte Original aus der Präambel der UNESCO-Verfassung von 1946

lautet: „Since wars begin in the minds of men, it is in the minds of men that the defenses of peace must be constructed“ (UNESCO, 2016a). Die Formulierung wird dem US-Schriftsteller Archibald McLeish gemeinsam mit dem britischen Premier Clement Attlee zugeschrieben (Verdiani 2008: 44) und spiegelt den damaligen Zeitgeist. Der neue Slogan kann als Versuch der UNESCO verstanden werden, ihre Grundlagen für das 21. Jahrhundert zu erneuern.

7

nommen universeller Gültigkeit und der Pluralität,

UNESCO, 2016d 

zwischen weltweiten Deklarationen von ange-

6

ration zeigt zugleich auch die paradoxe Spannung

UNESCO, 2016c

Rapprochement of Cultures erklärt7. Diese Dekla-

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Norbert Koppensteiner

Differenz und oft Unvereinbarkeit der lokalen Kontexte, in welchen diese Kulturen gelebt werden und an die Deklarationen dieser Art sich letzten Endes richten. Der Wechsel von einer Culture of Peace hin zum Plural einer Rapprochement of Cultures zeugt auch vom wachsenden Verständnis für diese Spannung innerhalb des UN-Systems. Die Innsbrucker Schule der Friedensforschung nimmt sich diese Überlegungen zu Herzen. Der Arbeit von Wolfang Dietrich folgend, widmet sie sich der wissenschaftlichen Erforschung der vielen Frieden in ihren historischen, linguistischen und kulturellen Ausformungen. Sie sucht die vielgestaltigen Kulturen der Frieden zu verstehen. Ein Ergebnis dieser Arbeit ist die Systematisierung der vielen Frieden in unterschiedlichen Friedensfamilien8. In Form der energetischen, moralischen, modernen und postmodernen Friedensfamilien schlägt dieser Ansatz eine Klassifizierung vor, welche aus der reichen Quelle gelebter menschlicher Erfahrung und Inter-

8

Dietrich, 2008; Dietrich et al., 2014

aktion schöpft. Wie auch jede reale menschliche Familie stellen auch diese Friedensfamilien keine monolithischen Blöcke oder zivilisatorische Regionen dar. Im Gegensatz dazu kennen sie eine Vielzahl von Differenzierungen. Sie erscheinen in hybriden Formen, Schattierungen und Verwandtschaftsgraden und existieren oft zeitgleich, ortsgleich und oftmals auch in derselben Person. Konflikt und Frieden sind so nicht länger Gegenbegriffe, sondern zeitigen sich

Kulturen der Frieden

29

wechselseitig als vitale Ausdrucksformen menschlichen Daseins. Die Innsbrucker Schule fasst diese Einsichten in einer fünften Familie zusammen – den transrationalen Frieden, dessen Erforschung und didaktischen Umsetzung sie sich widmet.

Im folgenden Aufsatz möchte ich (1) exempla-

risch einen Aspekt aus jeder der ersten vier Friedensfamilien hervorheben und (2) beleuchten, was dies für das Selbstverständnis einer Friedensarbeiterin bedeutet, die sich in dieser Tradition befindet. Im Anschluss daran diskutiere ich (3) die Frage der Kulturen der Frieden aus einer transrationalen Perspektive und erörtere gleichermaßen (4), was dies für eine Friedensarbeiterin bedeutet, die mit einem solchen Rahmen arbeitet. Im Lichte des Interesses des gegenwärtigen Sammelbandes stelle ich dabei besonders den Konnex zu religiösen und spirituellen Aspekten der Friedensbilder in den Vordergrund sowie deren entsprechende Symbolik in der Vermittlung.

Energetische Frieden

Yin-Yang als Ausdruck eines taoistischen Friedensbildes. In seinen Ursprüngen vielleicht bis zu fünftausend Jahre alt9 ist es auch heute noch handlungsleitend für das friedliche Zusammenleben einer Viel-

9

tiefenkulturellen Friedensymbole ist das gängige

vgl. Cooper, 2010: 19

Eines der wohl bekanntesten und zugleich ältesten

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Norbert Koppensteiner

zahl von Menschen. Ein oberflächlicher Blick zeigt eine Einteilung in zwei gegensätzliche Elemente – dunkel (schwarz, Yin) und hell (weiß, Yang). Die Tränenform, in der die entsprechenden Flächen üblicherweise repräsentiert werden, indiziert Bewegung und Dynamik. Frieden entsteht so als dynamische Balance zwischen gegensätzlichen Elementen. Während sich dieser Eindruck der Dynamik auch bei längerer Betrachtung hält, stellt sich die Gegensätzlichkeit von Hell/Dunkel als nur scheinbarer Dualismus heraus. Der weiße Punkt im Schwarzen und der schwarze im Weißen führen die Betrachterin zu der widersprüchlichen Einsicht, dass das Licht bereits die Dunkelheit in sich birgt, gleichermaßen wie Dunkelheit den Samen des Lichts. In der taoistischen paradoxen Logik ist es daher nicht nur zulässig zu sagen, dass Licht Licht ist und Dunkelheit Dunkelheit, sondern auch das Gegenteil: nämlich, dass Dunkelheit Licht ist und Licht Dunkelheit. Was auf ersten Blick dualistisch oder dialektisch gedacht scheint, entbirgt sich so als nondual, unberührt von der Aristotelischen Logik und ihrer Verbannung der Widersprüchlichkeit. Der Kreis schließlich umfängt sowohl Licht wie auch Dunkelheit in seiner all-umschließenden Umarmung. Der Kreis deutet das Geborgensein in der Einheit an. Alles ist Teil, nichts ist ausgeschlossen. Tao, das unfassbare All-Eine, hält und birgt alle Seinsformen und weltlichen Muster. Alles, das manifest ist, alles, das existiert, ist ein flüchtiges Spiel von Mustern.

Kulturen der Frieden

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Wie es das Lao Tzu zugeschriebene Tao Te Ching10 poetisch ausdrückt: See all things flourish and dance in endless variation And once again merge back into perfect emptiness Their true repose Their true nature Emerging, flourishing, dissolving back again This is the eternal process of return Die taoistische Sicht ist eine umfassende, in welcher das Kulturelle schwerlich vom Spirituellen, Ökonomischen oder Politischen getrennt werden kann. Mensch sein und in Frieden zu leben, bedeutet, die unterschiedlichen Aspekte des Daseins dynamisch auszubalancieren, ohne die Polaritäten in einen Dualismus von Entweder-oder auseinanderfallen zu lassen oder den vergänglichen und wechselhaften Charakter des Lebens zu fixieren suchen. Nichts ist ausschließlich weiß oder schwarz, weiblich oder männlich, gut oder schlecht. Die geübte Praktizierende hält die scheinbaren Gegensätze zusammen. Der verwirklichte Mensch birgt sowohl die lichten

beidem ausschließlich, sondern in sich ändernder Balance sowohl das eine wie auch das andere.

10

wie auch das Männliche, und ist daher nichts von

Lao Tzu, 2008: 19

wie auch dunklen Qualitäten, sowohl das Weibliche

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Norbert Koppensteiner

Energetische Frieden – wie die des Taoismus – sind vergänglich und sich verändernd, sie wollen jeden Tag aufs Neue gezeitigt werden. Sie geben nur wenig an Stabilität und schon gar keine Sicherheit, keine Handlungsrezepte, moralische Dogmen oder Glaubenssätze. Sie tragen nur leichtes normatives Gewicht und empfehlen den Menschen, nur leicht von der schweren Kost der Gewissheit zu versuchen. Damit erscheinen sie kurzlebig. Doch sie bereiten die Ausübenden rigoros auf das Handeln im Einklang mit der gegebenen Situation vor, im jeweiligen Moment und Einklang mit dem Kairos der sich zeigenden Ereignisse. Sie schärfen den Blick für die Beziehungshaftigkeit alles Seienden und die Verbundenheit, welche auch zutiefst spannungsgeladene soziale Gegensätze zusammenhält. Im Bereich der Konfliktarbeit formt ihre Wu Weid Haltung die Meisterinnen der minimalen Intervention. Die taoistischen Frieden, die so entstehen, sind die Frieden der Transformation. Sie trinken tief vom Fluss der Veränderung. Sie gehören in das Hier und Jetzt, in die Präsenz des gegenwärtigen Moments, anstelle der Anhaftung an Vergangenheit und Zukunft. Spontaneität und Weisheit sind ihre Tugenden, Balance ihre Medizin und Harmonie ihre Frucht.

  Wu Wei beschreibt die taoistische Tugend des Geschehen-lassens oder der

d

dass Harmonie dadurch entsteht, dass der Mensch den natürlichen Fluss der Dinge so wenig wie möglich stört. (vgl. Dietrich, 2008: 71f.)

Kulturen der Frieden

33

Moralische Frieden Die christliche Pax bietet ein anderes Friedensbild. Die Anfangszeilen der Enzyklika Pacem in Terris – Frieden auf Erden – von Papst Johannes XXIII. fassen dieses Friedensbild zusammen: Der Friede auf Erden, nach dem alle Menschen zu allen Zeiten sehnlichst verlangten, kann nur dann begründet und gesichert werden, wenn die von Gott gesetzte Ordnung gewissenhaft beachtet wird.11 Friede wird hier zur Frucht der korrekten Interpretation von und strikten Befolgung der Ordnung Gottes. Diese manifestiert sich in Form von Gesetzen, die in

Experten zusteht. Die Frage des Friedens entscheidet sich daher nicht mehr beziehungshaft zwischen den Menschen im konkreten Augenblick, sondern ist abstrakt vorgeschrieben durch absolute Normen, deren Wahrhaftigkeit von eben diesem Schöpfergott garantiert ist12. Solch ein Frieden hat eine universale Reichweite und lässt sich eher wenig auf Diskussionen ein. Er antwortet auf die Anforderungen der Welt anders als die energetischen Frieden

12

te Interpretation einer Kaste von professionellen

Der Heilige Stuhl, 2017 

Texten niedergeschrieben sind und deren korrek-

11

direkt von Gott offenbart und verbindlich in heiligen

vgl. Dietrich, 2008: 139–153

allen der drei großen monotheistischen Religionen

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Norbert Koppensteiner

aus Harmonie. Ein solcher Frieden verleiht dem Gläubigen Sicherheit und macht ihn dadurch stark. Materiell ist ein solcher Frieden an der Gerechtigkeit orientiert. Er stellt die doppelte Frage, wie denn Gerechtigkeit hier auf Erden herzustellen wäre. Dies wird in der christlichen Tradition nach Augustinus pax apparens genannt – der Friede, der in dieser von Sünde bedrohten Welt hergestellt werden kann. Dieser pax apparens stellt Augustinus einen zweiten, auf Transzendenz des Urteils Gottes gerichteten Friedensbegriff gegenüber, der sich in der Frage ausdrückt, wie denn das menschliche Dasein gelebt werden muss, um dem Frieden Gottes gerecht zu werden. Augustinus nennt diese Art von Frieden pax vera, den metaphysisch verbrämten wahren Frieden, welcher nicht auf Erden zu haben ist, sondern nur in dem Reich Gottes13.

In seiner Chronosophie ist ein solcher Frieden

auf die Zukunft gerichtet, gebaut auf der Hoffnung der Gläubigen auf die Verbesserung ihrer Lage durch die Befolgung der Gebote. Er verspricht die endzeitliche Lösung aller Konflikte und das Verschwinden der Ungerechtigkeit am Ende aller Zeiten,

13

vgl. Dietrich, 2008: 156–158

wenn dereinst alle guten und schlechten Taten gerecht belohnt und bestraft werden. Er verspricht Erlösung und droht mit Verdammnis, wenn die Menschen zu weit vom wahren Weg abweichen. In der Zwischenzeit bietet er den Gläubigen eine klare Handlungsanleitung mit Regeln, welche die Komplexität des Lebens reduzieren und in überschaubare

Kulturen der Frieden

35

Kategorien einordnen. Dadurch entsteht ein normativer Rahmen für das gerechte Leben.

Ein solcher Frieden stattet die Friedensarbei-

terin mit einem starken moralischen Kompass aus, der die Beurteilung einer Situation als richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht, wahr oder falsch ermöglicht. Friedensarbeit erhält dann oft eine aktivistische Komponente, in der sich die Friedensarbeiterin auf die Seite derjenigen stellt, die als unterdrückt oder ungerecht behandelt wahrgenommen werden. Von dort aus rechtfertigt sie manchmal das militante Vorgehen gegen Unterdücker, ungerechte Strukturen, Täter oder Top-Dogs.

Moderne Frieden Die Figur der Pax machte allerdings noch in einem anderen Kontext Karriere. Etymologisch lässt sie sich zurückverfolgen zu der römischen Gottheit gleichen Namens, welche wiederum die latinisierte Version der früheren griechischen Gottheit Eirene ist. In den kriegerischen Zeiten der griechischen Stadtstaaten ist die Eirene mythologisch die Tochter von Zeus und



In römischer Zeit erhält sie einen imperialen

Anstrich als Pax Victoria, den siegreichen Frieden nach der Unterwerfung der Barbaren durch das Römische Reich. Spätestens mit Cicero vervoll-

14

Stärke und Ordnung14.

Dietrich, 2008: 141

Themis (Gesetz), also das Resultat von militärischer

36

Norbert Koppensteiner

ständigt sich die Einheit von Pax und Staat durch die Satzung des Friedens als Vertrag – die Pax Romana –, gültig für alle diejenigen Völker, welche sich mit dem Römischen Reich verbinden oder sich ihm unterwerfen. Das Versprechen dieser Pax ist nicht Gerechtigkeit, sondern Sicherheit. Ihre Domäne wird später die vertragliche Satzung im zwischenstaatlichen Bereich und das Völkerrecht.

Diese ursprünglich mediterrane Tradition bleibt

in Europa unangefochten. Durch die gewalttätige Ausdehnung in Imperialismus und Kolonialismus des europäischen Expansionismus verbreitet sie sich schließlich bis in alle Ecken der Welt. Durch die Vereinten Nationen wird sie festgeschrieben in der universellen Deklaration der Menschenrechte. Zwischenzeitlich wird sie bestärkt durch das Erbe der europäischen Aufklärung, den Fortschritt der Naturwissenschaften und den damit verbundenen Glauben an Fortschritt, Entwicklung, Zivilisation. Als säkularisierte Version von Gottes Gesetzen baut sie auf dem Gedanken, dass es der Vernunft möglich ist,

15

vgl. Martínez, 2001 

16

Capra, 1988

die Welt als Ablauf von kausalen Gesetzmäßigkeiten zu verstehen. Die Dominanz der Vernunft reduziert den Menschen auf seine intellektuellen Fähigkeiten und gebiert den Glauben, dass Frieden machbar ist15, wenn es die Menschheit nur will und dafür arbeitet. Das entsprechende Weltbild ist mechanistisch16, atomistisch und kompetitiv.

Im Gegensatz zu energetischen Frieden be-

nötigen moderne Frieden Experten. Sie brauchen

Kulturen der Frieden

professionelle Friedensarbeiter, welche die Weltmaschine verstehen, am Laufen halten, sie reparieren oder verbessern. Moderne Frieden sind angewiesen auf Friedenstechniker, welche die sozialen Gesetzmäßigkeiten und Regeln des menschlichen Zusammenlebens verstehen und Konfliktursachen analysieren können. Eine solche Analyse soll sie dann in die Lage versetzen, eine leidenschaftslose Diagnose zu erstellen und die entsprechenden Therapien zu entwerfen. Wie ein Arzt, der um die richtige Intervention weiß, da er das universelle Funktionieren des menschlichen Körpers und die Ursachen seines Versagens verstanden hat, soll auch eine professionelle Klasse von modernen Friedensarbeiterinnen in der Lage sein, Konflikte überall auf der Welt zu lösen. Während die moralischen Frieden die Lösung aller Konflikte einer transzendenten Sphäre zuschreiben, will die Moderne die Sicherung allen Lebens schon hier auf Erden erreichen, vermittels der voranschreitenden Durchdringung der Welt und des menschlichen Wesens mit der Kraft des Verstandes.

Postmoderne Frieden Postmoderne Frieden proben den Aufstand gegen die universalisierenden und homogenisierenden Tendenzen der modernen Pax. Kulturell und politisch kanalisieren sie den zweifelnden und skeptischen Widerspruch zu den modernen Heilsversprechen.

37

38

Norbert Koppensteiner

Wo moderne Frieden Sicherheit versprechen und die Geschichte der einen Menschheit als kohärente und lineare Geschichte des Fortschrittes erzählen, als Geschichte der Zivilisation und der Entwicklung, bezweifeln postmoderne Frieden den ausschließlichen Wahrheitsanspruch dieser hegemonialen Narrative, ohne deshalb ein gleichermaßen mächtiges Gegennarrativ anbieten zu wollen. In Gestalt des Postkolonialismus stellen sie die schwierigen Fragen nach dem Erbe und Weiterwirken des Kolonialismus, welcher einstige Zentren und Peripherien auch heute noch asymmetrisch verbindet; in Form des Third Wave Feminism demaskieren sie das heteronormative Geschlechtsideal als machtvolles Konstrukt; in den vielfältigen Formen des Widerstands mobilisieren sie die kulturellen, ökonomischen und politischen Grassroots gegen die Verstümmelung durch eine globale Wirtschaft und (inter)nationale Politik. Der Geist dieses Protestes ist auch symbolisch ausgedrückt in den heterogenen sozialen Bewegungen der vergangenen Jahre und den Protesten gegen die Gipfel von G7 und G20 sowie in der Occupy-Bewegung in New York. Postmoderne Frieden nehmen auch oft aktivistische Formen an, doch befreien sie den Aktivismus vom moralischen Einschlag. Anstelle moralischen Geboten, Idealen oder Dichotomien von gerecht/ungerecht oder Opfer/Täter zu folgen, verstehen postmoderne Friedensarbeiterinnen die Kontextgebundenheit der eigenen Wahrnehmung und hinterfragen kritisch die eigenen Annahmen

Kulturen der Frieden

39

und versteckten Vorurteile in Bezug auf diejenigen, mit denen sie arbeiten. Anstelle im modernen Sinne Konfliktlösungen vorzugeben, will postmoderne Friedens- und Konfliktarbeit Räume öffnen, in denen auch jene marginalisierten, subalternen oder Minderheitenpositionen ihre Stimme finden, die sonst im dominanten Diskurs zum Schweigen verurteilt sind. Anstelle für andere zu sprechen, will postmoderne Friedensarbeit der Vielfalt der Stimmen Gehör verschaffen und lässt sich damit auf jenen unsicheren und gefährdeten Akt der Kommunikation ein, der das Ergebnis nicht vorwegnimmt und Konsens und Übereinstimmung nicht zum Ziel erhebt. Wo immer moderne Frieden erscheinen, finden sich früher oder später auch ihre kritischen postmodernen Gegenstücke. Damit stellen postmoderne Frieden keinen Bruch mit der Moderne dar, sondern denjenigen kritischen, zweifelnden und rebellischen Teil, welchen die modernen Frieden immer schon latent in sich tragen. Jean François Lyotard17 beschreibt dann auch den postmodernen Gemütszustand in aller Kürze als einen, in dem den Metaerzählungen kein Glauben mehr geschenkt wird. Postmoderne Frieden propagieren einen kulturellen Pluralismus, welcher die

Der Übergang von einer Kultur des Friedens zu den heterogenen und divergenten Kulturen des Friedens kann auch als Anerkennung dieses postmodernen Moments verstanden werden.

17

nen Diskurs des Universalismus zu schützen sucht.

Lyotard, 1984, xxiv

vielen divergenten Perspektiven gegen den moder-

40

Norbert Koppensteiner

Transrationale Frieden Transrationale Frieden entstehen aus diesem reichen kulturellen Boden. Sie nehmen den modernen Ruf nach einer Kultur des Friedens und dessen postmoderne Variante als Kulturen des Friedens auf und verwandeln diesen in den doppelten Plural zu den Kulturen der Frieden.

Transrationale Frieden integrieren den moder-

nen Fokus auf die Vernunft, doch, bereichert um das postmoderne Wissen, beziehen sie erneut die energetischen Lehren um die Frieden mit ein. Sie zielen auf eine holistische Perspektive im Sinne einer andauernden Differenzierung unterschiedlicher Friedensbilder und deren gleichzeitiger Integration. In der Bewegung zwischen integrierenden und differenzierenden Momenten wird soziale Interaktion als Oszillation zwischen Frieden und Konflikten verstanden und beide gleichermaßen als Ausdruck vitaler Energie und potenzielle Quelle von Kreativität. Damit erlauben transrationale Frieden eine synoptische Sicht der eben beschriebenen Friedensfamilien, ohne eine davon als grundlegend zu verstehen. Alle Friedensbegriffe haben Konsequenzen in ihren jeweiligen Kontexten. Die kompetente Friedensarbeiterin versteht sie als solche und ist in der Lage, mit den Differenzen zu arbeiten. Sie tut dies ohne das psychologische oder intellektuelle Bedürfnis, Widersprüche in einem homogenisierenden Rahmen zu beurteilen, aber mit dem Anspruch, die konfliktive

Kulturen der Frieden

Energie kreativ frei zu setzen und gewaltlos zu transformieren.

Transrationale Frieden verstehen Beziehungs-

haftigkeit als zentrale Kategorie. Diese beschränkt sich nicht auf die Beziehungen zwischen Menschen, sondern kann gleichermaßen auch die Beziehungen zur umgebenden Mitwelt einschließen, wie dies etwa in der Großen Triade des Taoismus, bestehend aus Gesellschaft, Natur und Kosmos, geschieht. Transrationale Frieden beziehen die natürliche Welt ein und verstehen Spiritualität als Ausdruck eines vitalen menschlichen Bedürfnisses nach Verbindung zu einem größeren Ganzen. Sie sind daher nicht anthropozentrisch. Nachdem sie allerdings beziehungshaft sind, bedürfen sie eines wahrnehmenden Subjektes. Dies hat weitreichende Konsequenzen. Zum einen werden Frieden als subjektiv und durch den beziehungshaften Kontext der Wahrnehmenden entstehend verstanden. Wenn wir über den Frieden sprechen, sprechen wir daher auch immer über uns selber und unsere eigene Wahrnehmung. Damit sind Frieden keine objektiven äußeren Phänomene, die als irgendwo dort draußen in einer materiellen Welt befindlich beschrieben werden könnten. Wie es auch die UNESCO meint, können Frieden nicht allein über die materiellen Bedingungen erschaffen werden, sondern müssen sich anderswo gründen, in den Köpfen der Menschen selbst. Zu dem fügt die Transrationalität hinzu, dass diese sich auch im Herzen, im Körper und Geist formieren. Beziehungs-

41

42

Norbert Koppensteiner

haftigkeit hat noch eine weitere Konsequenz. Während die Quelle der Frieden so im Inneren liegt, kann die innere Beschaffenheit eines beziehungshaften Wesens nie von der äußeren getrennt werden. Die inneren und äußeren Aspekte des Daseins sind so nie getrennt, sondern in Entsprechung zueinander. Für die Erforschung und Wahrnehmung der Frieden

18

vgl. UNESCO Chair for Peace Studies, 2014 

19

Maslow, 1976 & Daniels, 2006 

20

Koppensteiner, 2009

ist daher die intrapersonale Komponente genauso wichtig wie die interpersonale, und die eine kann nie von der anderen getrennt werden18. Der Mensch wird nicht mehr als in sich geschlossene vereinzelte Einheit, als modernes Subjekt, wahrgenommen, sondern als Resonanzraum der interpersonalen und intrapersonalen Schichten. Zusätzlich integriert Transrationalität die energetische Einsicht der Verbundenheit mit dem All-Einen. Die Innsbrucker Schule folgt daher dem Vorschlag der Psychologie, die intra- und interpersonale Komponente um eine transpersonale zu ergänzen19.

Das Transpersonale erkennt es als gültig an,

den Menschen in ein größeres Ganzes eingebettet wahrzunehmen, in dem All-Einen der energetischen und moralischen Traditionen. Dadurch kommt die spirituelle Dimension, welche von der Moderne abgelehnt wird, erneut in die Diskussion. Es befreit die entsprechenden gelebten Erfahrungen von der modernen Diagnose als pathologisch oder abergläubisch und die Perspektive der Friedensforschung vom Cognizentrismus und Anthropozentrismus20. Der doppelte Plural der Kulturen der Frieden der

Kulturen der Frieden

transrationalen Friedensphilosophie entsteht immer in einem konkreten Setting. Die Kulturen der Frieden sind für kulturübergreifende Befruchtung, Hybridisierung und Inspiration offen, nicht jedoch für Universalismus. Die Aufgabe der Friedensarbeiterin ist es, den Boden zu nähren, aus dem neue Transformationsstrategien und Frieden wachsen. Die Frieden existieren überall, wo Menschen sind, die diese wahrnehmen und sie im täglichen Handeln mit Leben füllen. Sie ändern sich gemeinsam mit den Kontexten, aus denen sie emergieren. Schlussendlich werden sie verwirklicht durch den Verstand, aber gleichermaßen durch Körper, Herzen und Geist derjenigen Menschen, die sie erleben und leben.

43

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BARBARA PUTZ-PLECKO

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FRIEDEN ALS VORSTELLUNG UND WIRKLICHKEIT

Dieser Essay entwickelt sich aus Fragen nach Bildern vom Frieden und entlang einer dadurch angestoßenen assoziativen Dynamik, auf gedanklichen Wanderungen zwischen verschiedenen Quellpunkten.1

Gefragt wird nach dem Frieden als Vorstellung und

Wirklichkeit. Nach der Möglichkeit, Frieden bildhaft zu fassen – möglichst abseits von Klischees und Stereotypen. Nach Übersetzungsprozessen, die unsere inneren Bilder nach außen bringen, sie anderen öffnen, sie (mit)teilen und sie einbringen in ein kollektives Gefüge. Nach der Bedeutung individueller Bilder für eine gemeinsame Vision. Und schließlich nach Kraft und Wirkung eines kollektiven Bildes für die reale Handlungsorientierung.

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Barbara Putz-Plecko

Die verschiedenen Quellpunkte bieten dafür Erfahrung und Wissen an. Eine erste Quelle ist meine langjährige Beschäftigung mit Bedingtheiten und Wirksamkeiten von inneren Bildern, respektive mit den Konsequenzen und Potenzialen ihrer Externalisierung in gestalterischen Prozessen und Alltagshandlungen im Kontext von therapeutischen Beziehungen.

Eine weitere Quelle fand ich in dem anregenden

Buch des deutschen Neurobiologen und Sozialwissenschaftlers Gerald Hüther (Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern2), das mir nochmals Anregung gab, individuelle und kollektive Bildspeicher genauer anzusehen.

Eine dritte Quelle ist das in meiner Studienzeit (vor

allem von der Kunsthistorikerin Daniela Hammer-Tugendhat) geweckte starke Interesse an der Vielschichtigkeit und Feinstofflichkeit künstlerischer Resonanzen auf komplexe und komplizierte Verhältnisse und die daraus resultierende Freude am ganz genauen Schauen3.

Die vierte Quelle ergibt sich aus der langfristigen

Beschäftigung mit dem transformatorischen Potenzial Kunst und Kreativität in Bezug zum aktuellen Werte- und Systemwandel – abseits eines neoliberalen kreativen Imperativs, der Entleerung des Kreativitätsbegriffs als politische Worthülse sowie der Vergesellschaftung und Engführung von Kreativität als nationaler Wettbewerbsfaktor.4



Frieden als Vorstellung und Wirklichkeit

49

Wanderung 1  Frieden_privat_öffentlich Erlauben Sie mir, Sie nun zu einem kleinen gedanklichen Ausflug einzuladen, um gemeinsam in das Thema einzutauchen. Wenn Sie Frieden denken, wenn Sie nach einem Bild in sich suchen, das Frieden versinnbildlicht: Welches Bild taucht vor Ihrem inneren Auge auf? Wenn Sie es genauer zu erfassen versuchen: Wen bzw. was zeigt es? Wo und wie erscheinen Sie selbst im Bild? In welchem Umfeld befinden Sie sich? Gibt es Menschen um Sie? Was tun diese Menschen? Was charakterisiert den Ort und die Situation atmosphärisch? Was macht das Spezifische dieses Bildes aus? Gibt es ein leitendes Motiv? Was sind die wesentlichen Anteile, die es zu einem Bild des Friedens werden lassen? Welchen Ausschnitt von Welt zeigt es? Wo endet es, was bildet seinen Horizont? Zeigt das Bild eine eher offene oder geschlossene Situation? Zeigt sich im Bild ein Bedürfnis? Wodurch wird der Frieden im Bild erhalten? Ist er zu gefährden? Wenn ja – wodurch könnte er bedroht werden?

Vielleicht gelingt es Ihnen, die wesentlichen Aspekte

dieses imaginierten Bildes gedanklich zu bewahren und sie zu einem späteren Punkt Ihres Lesens nochmals innerlich aufzurufen. Erlauben Sie mir nun, Ihrem persönlichen Bild ein gewissermaßen „allgemeines“ Verständnis von Frieden, ein Spektrum von Definitionen beizustellen. Frieden wird verstanden als:  der heilsame Zustand der Stille oder

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Barbara Putz-Plecko

Ruhe  .  Abwesenheit von Störung oder Beunruhigung, von Selbstjustiz und besonders von Krieg, also als der allgemeine Zustand zwischen Menschen, sozialen Gruppen oder Staaten, in dem bestehende Konflikte in rechtlich festgelegten Normen ohne Gewalt ausgetragen werden  .  der Zustand in der Beziehung zwischen Völkern und Staaten, der den Krieg zur Durchsetzung von Politik ausschließt, also als Zustand des inner- oder zwischenstaatlichen Zusammenlebens in Ruhe und Sicherheit  .  Seelenfrieden und Geborgenheit in Gott  .  Abwesenheit von Konflikten, von kultureller und struktureller Gewalt (als Fehlen repressiver und ausbeuterischer Strukturen)  .  als eine konkrete Utopie  .  die Fähigkeit, Konflikte mit Empathie (mit der Bereitschaft und dem Vermögen, sich in die Einstellung und Mentalität anderer Menschen einzufühlen), mit Gewaltlosigkeit und mit Kreativität spielerisch zu klären und zu lösen  .  die aktive Arbeit an einer wertschätzenden Kommunikation und kritischen Auseinandersetzung mit Ursachen Streit erzeugenden Verhaltens  .  geistige Streitbarkeit  .  Versöhnung der Differenz  .  Werk der Gerechtigkeit.5

Wir können in diesen Aussagen durchaus unter-

schiedliche Blickwinkel erkennen, die das Friedensthema atmosphärisch und inhaltlich jeweils etwas anders fassen. Interessant könnte nun sein, das eigene innere Bild und das veröffentlichte, allgemein verhandelte Aussagenspektrum zu vergleichen: In welchem Verhältnis steht also das persönlich entworfene Bild zu den gesellschaftlich vermittelten Definitionen? Können wir unser eigenes Bild in einer der angeführten Definitionen wiederfinden?

Frieden als Vorstellung und Wirklichkeit

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Gibt es denn eine Differenz zwischen dem Individuellen, Privaten und dem Kollektiven, Öffentlichen? Wenn ja – was macht diese Differenz aus? Birgt sie ein Potenzial, das fruchtbar gemacht werden könnte?

Die Beantwortung dieser Fragen ist meines Erach-

tens wichtig, wenn wir darüber nachdenken wollen, wie sich ein gemeinsames Zeichen für den Frieden sinnvoll entwickeln ließe. Uns die Bedeutung unserer inneren Bilder bewusst zu machen, diese zu bergen und kritisch zu reflektieren, erscheint mir als eine notwendige Voraussetzung dafür, ein tragfähiges kollektives Bild zu entwerfen und in ein dementsprechendes Handeln zu finden.

Wanderung 2  Innere Bilder_Selbsterfahrung_Welterfahrung_Resonanz Innere Bilder, beschreibt Gerald Hüther, bestimmen unser Denken, Fühlen und Handeln. Es sind Selbstbilder, Menschenbilder und Weltbilder, die wir in uns herumtragen. Sie sind in Form synaptischer Verschaltungen in unserem Gehirn gespeichert. Die Art und Weise, wie wir denken, fühlen und handeln, bestimmt darüber, welche dieser Verschaltungen von Nervenzellen durch häufige Aktivierung in unserem Gehirn stabilisiert und ausgebaut oder durch unzureichende Nutzung gelockert und sogar aufgelöst werden. Deshalb sei es „alles andere als belanglos, wie innere Bilder beschaffen sind, die sich ein Mensch von sich selbst macht, von seinen Beziehungen zu anderen und zu der ihn umgebenden Welt, und nicht zuletzt von

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Barbara Putz-Plecko

seiner eigenen Fähigkeit, sein Leben nach seinen Vorstellungen zu gestalten.“6 Letztendlich entscheiden genau diese (unbewussten) Bilder, die nachhaltig die Nutzung unserer Gehirne bestimmen, wesentlich darüber, wie wir unsere Lebenswelt zu gestalten vermögen. Sie leiten und steuern unsere Reaktionen und Handlungen. Und – wenn sie bei anderen Menschen auf verwandte Visionen treffen und sich mit diesen verbinden – können sie zu „kollektiven inneren Orientierungen und Leitbildern ganzer Epochen und Kulturen“7 werden. Unsere inneren Bilder besitzen Macht. Sich das bewusst zu machen, ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass künftig „wir die Bilder und nicht die Bilder uns bestimmen“8; zumal wir schnell – etwa unter Druck und bei Bedrohung des inneren Gleichgewichts – auf die alten handlungsleitenden und orientierenden Muster zurückgreifen, also Eingeübtes wiederholen. Um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, braucht es den Mut, Routinen und Grenzen zu überwinden; das heißt, an den inneren Mustern – vor allem, wenn sie uns bedrängen, Angst erzeugen, Verengungen hervorrufen, in Sackgassen führen, mutlos machen oder Aggressionen schüren – zu arbeiten, um diese zu lockern und zu öffnen. Die Psychotherapie ist ein professionelles Feld, das dafür konkrete Methoden anbietet. Ein anderes ist die Kunst, die als Ästhetik der Veränderung mit neuen Bildern und durch den Wechsel von Perspektiven Routinen hinterfragt bzw. diese überwindet und in ungesicherte, unbekannte Dimensionen vorstößt.

Unsere Vorstellungen vermögen sich zu verändern,

weil neben bereits in uns angelegten Bildern neue Sinnes-

Frieden als Vorstellung und Wirklichkeit

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daten synaptisch verankert werden können. Neue Bilder werden gewissermaßen an ältere innere Muster angehängt. Dafür bedarf es einer Leistung unseres Gehirns, und es ist eine Frage seiner Wachheit, inwiefern es „das neue Aktivierungsmuster mit dem bereits vorhandenen, älteren Muster abgleichen und zu einem neuen inneren Bild zusammenfügen“9 kann. Die Hirnforschung hat festgestellt, dass nur der Mensch in der Lage ist (oder wäre), „seine Handlungen auf der Grundlage dieses inneren Bilderschatzes bewusst und vorausschauend zu planen“10.

Wie andere Lebewesen, haben wir von früheren

Generationen eine strukturgebende innere Matrix übernommen, die uns Kommunikationsstrukturen und ein Gefüge von Beziehungen aufbauen und erhalten lässt. Sie stellt eine stärkende und ordnende Ressource dar, die Halt bietet und uns Verunsicherung und Angst überwinden hilft. Verfügten wir nicht über diese kulturellen Muster, würden Triebstrukturen und Instinktprogramme unsere Entscheidungen und Handlungen bestimmen. Die immense Formbarkeit des menschlichen Gehirns ist wichtige Voraussetzung für einen Generationen übergreifenden Transfer jener als wichtig bewerteten Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kenntnisse, Regeln, Vorstellungen und Visionen. Bei starker emotionaler Belastung und großem Druck greifen wir reflexartig auf solche geübten „Verschaltungsmuster“ und vertrauten inneren Bilder zurück. Leben existiert nur als Veränderung. Jede Weiterentwicklung, jeder materielle und geistige Wachstumsprozess bedarf der Modifikation bzw. Neuordnung. Dass wir Menschen nach und nach zum Gestalter der Erde wurden, resultiert

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Barbara Putz-Plecko

aus eben dieser Fähigkeit, das Spektrum unserer inneren Bilder kontinuierlich zu erweitern, diese neu zu strukturieren und unsere Vorstellungen, Ziele und Visionen mittels entsprechender Strategien und Techniken umzusetzen. Allerdings verantworten wir damit auch die äußerst bedrohlichen Konsequenzen der Verhärtung innerer Bilder zu deterministischen Instrumenten, wie die fragwürdigen Zielen, blinder Optimierung und grenzenloser Gier geopferten Lebens- und Entwicklungsräume, die Auflösung sozialer Strukturen und den Verlust von Zusammenhalt, Empathie und Solidarität. Den eigenen Vorteil zu Gunsten des Gemeinwohls zumindest vorübergehend zurückzustellen, geschieht am ehesten in Notlagen, häufig ausgelöst durch Angst. Auch wenn wir wissen, wie konstruktiv und (lebens-)wichtig ein Miteinander ist und dass größere Gemeinschaften auch mehr Ressourcen für den Umgang mit Problemen anbieten, geben oft genug erst massive Krisen ausreichend Anstoß dafür, aufeinander zuzugehen und gemeinsam Lösungsstrategien zu entwickeln. Leider häufig nur vorübergehend. Alte Gesetze, Verhaltensregeln und Glaubenssätze erweisen sich als durchsetzungsstark und beharrlich und wirken oft einer Öffnung und Neuorientierung entgegen. Denn erlernte, vertraute Beziehungsmuster bieten Halt, Geborgenheit und Orientierung. Sie versprechen Konsolidierung und Stabilisierung nach alten, bekannten Mustern und perpetuieren damit die Pflege gewisser Menschen-, Welt- und auch Feindbilder. Differenzerfahrung ruft dann Angst und Widerstand hervor. Sie blockiert eine unvoreingenommene Offenheit gegenüber Unbekanntem und evoziert Abschottung, Aggression

Frieden als Vorstellung und Wirklichkeit

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und schließlich Gewalt. Aus Angst und Abwehr entsteht schließlich die Gefahr einer transgenerationalen Verengung, die (konsequent weitergedacht) letztendlich in den Stillstand führen muss.

Unsere Lebenswelt zu verändern, bedarf also gewis-

ser Voraussetzungen. Zum einen brauchen wir einen Pool an Ressourcen, aus dem wir schöpfen können, bestehend aus Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen. Dabei geht es nach Gerald Hüther nicht allein um jene Ressourcen, die offensichtlich das Überleben sichern können, sondern um ein wesentlich reicheres „kreatives Schatzlager“11 an inneren Bildern, die gar nicht einschlägig zweckmäßig sind, aber eine wertvolle Ressource darstellen, wenn die Verhältnisse sich ändern und neue Denk- und Handlungsweisen notwendig werden. Gerade dieser scheinbar unnütze Überschuss bietet die Möglichkeit zur kreativen Adaption und neuen Orientierung. Zum anderen braucht innovatives Handeln die Fähigkeit querzudenken, also viele und ganz unterschiedliche Bilder miteinander verknüpfen und neue Verbindungen herzustellen zu können. Dafür haben vor allem jene Menschen gute Voraussetzungen, die über ein eher generalistisches Weltverständnis verfügen und daher Bilder gut miteinander zu kombinieren und auszutauschen vermögen. (Spezialistentum organisiert sich im Vergleich dazu eher systemimmanent.) In diesen Einschätzungen decken sich die Ergebnisse der Hirnforschung mit jenen der Soziologie und der Zukunftsforschung. So betont das European Research Area Board die dringende Notwendigkeit einer intensiven Förderung holistischen Denkens und Handelns bzw. führt das World Economic Forum in

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Barbara Putz-Plecko

Hinblick auf die Global Challenges und eine sich radikal verändernde Arbeitswelt, das Erfassen komplexer Zusammenhänge, kritisches Denken und Kreativität als die wirklich relevanten Fähigkeiten an.

Damit wird die Wichtigkeit eines transversalen Den-

kens und einer daraus entwickelten Handlungsfähigkeit offensichtlich. Transversalität ist die konsequente Befragung und Dekonstruktion von dominanten Perspektiven, Narrativen und systemischen Logiken eingeschrieben. Es bedarf der Öffnung von Domänen und der Herstellung von neuen Verbindungen und Synergien zwischen ihren Feldern, transdisziplinärer Praxen und neuer Formen der Kooperation. Genau darauf verweist auch der amerikanische Kultursoziologe Richard Sennett. Gerade angesichts einer massiv von Ungleichheit geprägten Welt, in der die einseitige Sicherung von Ressourcen ohne jeden Skrupel geradezu selbstverständlich durch Kriege entschieden wird, schätzt er die Fähigkeit zur Zusammenarbeit als die zukünftig wesentlichste ein.12 Dafür sei eine notwendige Voraussetzung, unser dialogisches Kommunikationsvermögen zu vertiefen. Erst durch einen ergebnisoffenen Austausch, in dem Erfahrungen, Vorstellungen, Wissen, Bedürfnisse und Emotionen zusammenwirken und zum Ausdruck gebracht werden können, werden Resonanz und Empathie möglich und kann Beziehung entstehen. Resonanz als „spezifischer Modus von Weltbeziehung“13 ist eine unmittelbare Erfahrungswirklichkeit, eine Antwortbeziehung, die mit ihrem Gegenpol, der Entfremdung, eine alltägliche Spannungs- und Antriebsquelle darstellt. Im dynamischen Geschehen einer Resonanzerfahrung öffnen

Frieden als Vorstellung und Wirklichkeit

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sich Innen und Außen zueinander, werden innere Bilder und Weltwahrnehmung miteinander in Beziehung gebracht. Diese Beziehungsdynamik – nicht die verfestigte Behauptung, sondern die wache, achtsame, gleichermaßen sensible wie kraftvolle, facettenreiche und wandlungsfähige Bewegung und Begegnung – erschafft einen fruchtbaren Entwicklungs- und Erfahrungsraum für etwas, das wir als Frieden denken und leben können.

Wanderung 3  Imagine peace: Bilder_Symbole_Visionen Was uns eingeschrieben ist und formt, vermittelt sich in unserem Denken und Handeln. Einen spezifischen und wertvollen Übersetzungsprozess leisten in diesem Sinne künstlerische Prozesse. Sie können uns näherbringen, wie wir Frieden erfahren und entwerfen. Was wir als eine Voraussetzung für Frieden erkennen. Wie er sich im Großen wie im Kleinsten ausdrückt. Wie wir ihn schaffen bzw. finden, wie wir ihn erhalten, wodurch wir ihn gefährden.

Die Recherche bezüglich konkreter Bildprodukti-

on in großen kunsthistorischen Bilddatenbanken stimmt zuallererst nachdenklich. Während eine immense Zahl von Darstellungen kriegerischer Handlungen und ihrer Folgen quer durch die Kunstgeschichte aufscheint, sind im Vergleich dazu Darstellungen, die explizit ein Bild vom Frieden entwerfen, deutlich rarer. Es scheint, als würden wir sehr vielfältige, tiefgehende Erfahrungen und Vorstellungen vom Krieg und seinen Folgen auszudrücken ver-

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Barbara Putz-Plecko

mögen, aber im Vergleich weitaus weniger detailreich ein erfülltes Leben in einer guten Spannung, in dem sich der Frieden als wesentlichste Voraussetzung vermittelt.

Die Kriegskunstgeschichte ist untrennbar mit der

Herrschaftsfunktion des Krieges verbunden und präsentiert sich vor allem aus der Perspektive der Macht. Über Jahrhunderte haben Kriegsbilder (wie Kriegsmusik) als Herrschaftsinstrument den Krieg vorbereitet, ihn ästhetisiert (und damit gerechtfertigt) und ihn als heroisches Menschheitsspektakel gefeiert, um den realen Schrecken, die unendliche Not, den Schmerz und schließlich den Tod zu verdecken. Erst relativ spät beginnt sich die Kunst (mit zunehmender Autonomie) gegen die Herrschaftsperspektive aufzulehnen und die Seite der Opfer bzw. Antikriegspositionen einzunehmen. Und gar erst im 20. Jahrhundert werden politische Antinomien der Herrschaft und der ihr unterworfenen Subjekte bzw. die wahren Fronten hinter den Kriegen Inhalt der Darstellungen.

Im Vergleich sind historische Repräsentationen des

Friedens vor allem Darstellungen von Friedensstiftungen und dienten der medialen Begleitung von realen Friedensprozessen. Diese wurden, häufig emblematisch, in Ereignisdarstellungen und als Allegorien festgehalten. Es lassen sich nur wenige Kunstwerke finden, die als ausgewiesene Friedensdarstellungen – unabhängig von einem historischen Anlass – entstanden sind und eine den Kriegsdarstellungen vergleichbare dichte Durcharbeitung aufweisen. Viele von ihnen reproduzieren gewissermaßen klischeehafte Idyllen und konstruieren ästhetisch wie inhaltlich eher kraftlose Harmonien. In der Publikation Bil-

Frieden als Vorstellung und Wirklichkeit

59

der vom Frieden schreibt Thomas Kater dazu unter dem Titel Der Friede ist keine leere Idee ... Zur Transformation von Friedensbildern am Beginn der Politischen Moderne, dass „Frieden“ für sich weder Bedeutung noch Bild- und Vorstellungspotenz besitze. Ihm müssten erst Attribute beigegeben werden; er bedürfe der Kontextualisierung.14 Diese Einschätzung scheint sich durch diverse Bildrecherchen zu bestätigen.

Selbst Picasso, der 1937 für die Weltausstellung in

Paris mit Guernica eines der großen Antikriegsbilder europäischer Kunstgeschichte von ungeheurer Kraft und Dichte geschaffen hat, wird im Vergleich dazu in Darstellungen wie Der Frieden überraschend verhalten. Ein kindlicher Seiltänzer balanciert ungleiche Gewichte – wohl Ausdruck für die Empfindlichkeit des Gleichgewichts und die Fragilität dieser Idylle. Im Zentrum erscheint, ebenfalls von einem Kind geführt, nach links gerichtet ein Pegasus – jungen Frauen zugewandt, die zur Musik einer Flöte lustvoll unter einem Sonnen- bzw. Friedenssymbol tanzen, während in der rechten Bildhälfte auf einer Wiese eine Familie mit Kleinkind unter einem Orangenbaum entspannt lagert und sich die Zeit vertreibt.15 Trotz konkreter Momente von Ruhe, Konzentration, Zuwendung, Lebensfreude und Gemeinschaft fehlt es dem Bild an Dichte, Intensität und letztendlich an Vision, die viele andere Arbeiten Picassos auszeichnet. Weitaus interessanter in Hinblick auf die Entwicklung des Themas erscheint mir eine etwas später entstandene gleichnamige Tuschezeichnung, die zwar die Motive des Bildes Der Frieden wiederholt, aber sie viel lockerer und lebendiger entwickelt und

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Barbara Putz-Plecko

mehr Freiraum für individuelle Bewegung und Interaktion öffnet.16 Trotzdem werden die Voraussetzungen für ein friedvolles Leben ausgespart (anders im großartigen Freskenzyklus (1338/39) von Ambrogio Lorenzetti, der die Wände des Saals des Friedens im Palazzo Pubblico in Siena schmückt. Dieser zeigt die Allegorie der Guten und der Schlechten Regierung und ihre jeweiligen Auswirkungen. Dort wird detailreich gezeigt, was ein freudvolles und gutes Leben in Sicherheit, in einer blühenden und fruchtbaren Landschaft voraussetzt: eine gute Regierung sowie Klugheit, Mäßigung, Mut, Stärke, Großherzigkeit, Glaube, Liebe und Hoffnung, vor allem aber Gerechtigkeit. Dieses meisterliche Werk ist eines der wenigen Beispiele in der Kunstgeschichte, wo umfassend jene Bedingungen thematisiert werden, die ein Leben in Frieden erst real werden lassen.) Also obwohl Picasso als engagierter Pazifist sein Leben lang für soziale und politische Themen aktiv war und einige der bedeutendsten künstlerischen Werke gegen die Gräuel des Krieges geschaffen hat, bewegt er sich in diesen, explizit dem Frieden gewidmeten Bildern, überraschend formelhaft. Vielleicht mag eine Erklärung dafür sein, dass er neun Kriege erleben musste (immerhin achtundzwanzig Jahre Krieg) und deshalb sein Entwurf von einem Leben in Frieden tatsächlich eher traumhaft und tastend als erfüllt und entfaltet erscheint. Dennoch schuf Picasso, der mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gegen Krieg, Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung auftrat und sich entschlossen und kraftvoll für Gleichheit und Freiheit einsetzte („Ich bin für das Leben gegen den Tod; ich bin für den Frieden gegen den

Frieden als Vorstellung und Wirklichkeit

61

Krieg“17), eines der Schlüsselmotive und Hoffnungssymbole der Friedensbewegung: die Taube. Historisch geht die Taube auf das Alte Testament und die Arche Noah zurück: Sie trägt einen Olivenzweig im Schnabel als Zeichen dafür, dass es Land gibt. Louis Aragon hatte vom Künstlerfreund das Bild für das Plakat zum 1. Weltfriedenskongress in Paris 1949 erbeten. Eine Vielzahl von Veröffentlichungen mit ähnlichen Motiven folgten. Und als ein anderer Freund, Paul Éluard, ein gutes Jahr später sein Gedicht Le Visage de la Paix (Das Antlitz des Friedens) wiederum mit Zeichnungen Picassos publizierte, wurde die Taube mit dem Olivenzweig zu einem der zentralen Symbole der Friedensbewegung und ist es bis heute geblieben (obwohl Picasso selbst, der Tauben liebte, diesen kein besonders friedfertiges Verhalten zuschreiben mochte).

Symbole, Erkennungszeichen, sind Bedeutungs-

träger, die eine Vorstellung versinnbildlichen. Friedenssymbole, wie der Kreis mit der ihm eingeschriebenen Kombination zweier Zeichen aus dem Winkeralphabet (N für nuclear und D für disarmament, Abrüstung), 1958 für die britische Kampagne zur nuklearen Abrüstung entworfen, das Victory-Zeichen, die Handgeste mit dem gespreizten Mittel- und Zeigefinger als Friedensgruß, die PACE-Regenbogenfahne, 1961 für einen Friedensmarsch in Perugia entworfen und durch die

62

Barbara Putz-Plecko

Kampagne Pace da tutti balconi 2002 international bekannt geworden, das von Händen zerbrochene Gewehr, seit den 1920er Jahren als antimilitaristisches und politisch-pazifistisches Zeichen verbreitet, die weiße Flagge, die Kombattanten zur Wahrung der völkerrechtlich garantierten Unverletzbarkeit verpflichtet und als Zeichen des Verzichts auf jegliche gewaltsame Handlung verstanden wird, die zu Pflugscharen transformierten Schwerter, als Aufforderung zur Abrüstung, oder die einander fassenden Hände, als Zeichen der Versöhnung und einer (weltumspannenden) Bereitschaft zur Kooperation, sind neben der Taube uns allen vertraut und vielfach verwendet. Einerseits vermag die sinnbildliche Übersetzung in ihrer Prägnanz und einigenden Kraft viel zur Verständigung und gemeinsamen Handlungsorientierung beizutragen. Andererseits bergen Symbole auch die Gefahr, ihres tieferen Sinns verlustig zu gehen, also als leere Hülse oder nur oberflächlich bedacht schnell hergenommen zu werden, ohne dass dahinter eine differenzierte, persönliche und einigende inhaltliche Vorstellung oder Praxis existiert. Gewissermaßen sind sie also ambivalent. Als vereinbartes, konventionelles Zeichen bemänteln diese schnell ver-

Frieden als Vorstellung und Wirklichkeit

63

fügbaren Symbole zu oft eine fehlende genaue und kontinuierliche Auseinandersetzung. Wir reproduzieren sie wie Emoticons auf unseren Smartphones als An- und Aussage, von der wir annehmen, dass sie verstanden wird. Aber damit haben wir noch nicht geleistet, was tatsächlich für die Sicherung und den Erhalt von Frieden notwendig ist: Ihn täglich neu zu schaffen. Frieden ist kein Synonym für Ruhe. Frieden zu leben und Frieden zu stiften, setzt (auch konfliktbehafte) Tätigkeit und nicht Untätigkeit (Ruhe) voraus. Es geht nicht um Konfliktvermeidung, sondern um gewaltfreie Konfliktaustragung.18 Es kann kein Leben ohne Konflikte geben. Leben ist Veränderung und ist, so Hegel, im Allgemeinen nur durch einen ausreichend guten Umgang mit Widersprüchen möglich: „[...] Etwas ist also lebendig, nur insofern es den Widerspruch in sich enthält, und zwar diese Kraft ist, den Widerspruch in sich zu fassen und auszuhalten. Wenn aber ein Existierendes nicht in seiner positiven Bestimmung zugleich über seine negative überzugreifen vermag, so ist es nicht die lebendige Einheit selbst, nicht Grund, sondern geht in dem Widerspruch zugrunde.“19

Wanderung 4  Conclusio_imagine peace Lassen sich nun aus den verschiedenen gedanklichen Wanderungen Konsequenzen ziehen? Ich möchte mir wichtig erscheinende Punkte nochmals einsammeln: Wenn sich unsere inneren Bilder in den kollektiven Bildern

64

Barbara Putz-Plecko

einer Gesellschaft einschreiben, dann ist es ganz und gar nicht unwichtig, diese zu fassen, um uns selbst und unsere Potenziale zu erkennen und erschließen zu können. Wenn wir begreifen, welche essenzielle Voraussetzung Frieden für ein würdiges, sinnvolles und gutes Leben für alle Menschen hat, wäre es unverständlich, wenn wir nicht jede Anstrengung unternehmen, ihn zu schaffen und ihn zu bewahren. Wenn Bilder und Visionen uns notwendige Orientierung geben, indem sie unsere Denk- und Handlungsmuster leiten, kann nicht gleichgültig sein, ob wir die Fähigkeit haben, uns Bilder vom Frieden zu machen oder nicht. Wenn Frieden sich immer kontextualisiert vermittelt, dann gilt es, ihn in allen seinen kontextuellen Facetten zu erkennen, sichtbar zu machen und zu leben. Wenn Frieden durch Ungleichheit gefährdet ist, erwächst uns aus dieser notwendigen Einsicht die Verantwortung, für Gleichheit und Gerechtigkeit zu kämpfen und unseren persönlichen Beitrag auf verschiedenen Ebenen, auch scheinbar unbedeutenden, dafür zu leisten. Wenn Frieden gewaltfreies Handeln bedeutet, kommt im Sinne einer gut entwickelten Konfliktkultur dem spielerischen Klären und Lösen, also der Kreativität, entscheidende Bedeutung zu.

Da Probleme nicht mit derselben Denkweise gelöst

werden können, aus der sie entstanden sind, brauchen wir eine Orientierung nach neuen Werten, also einen Paradigmenwechsel. Je stärker das Spektrum unserer Handlungsmöglichkeiten sich erweitert und die Lebenszusammenhänge komplexer werden, umso weniger reicht ein allein rationales Denken aus, um sinnvolle Entscheidungen zu treffen, die eine Weiterentwicklung ermöglichen. Für un-

Frieden als Vorstellung und Wirklichkeit

65

sere Zukunft wird entscheidend sein, inwiefern wir analytisches Denken mit assoziativem und experimentellem Denken bzw. Rationalität mit Intuition und Emotion verbinden können. Statt systematisch Gewohntes durchzudeklinieren, müssen wir in uns Raum schaffen für Offenheit für noch Unbekanntes, für Mut zum Experiment und für ein freies Denken, das etwas wagt.

Ich habe noch immer Hoffnung, dass damit schließ-

lich auch jener weiße Raum nach und nach transformiert werden könnte, den Yoko Ono und John Lennon in ihrem Video zu dem legendären Song Imagine (geschrieben 1971 auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges) als Schwellenraum zu einer Welt in Frieden entworfen haben20. Noch immer ist es ein elitärer, ein entrückter Raum (aufgenommen in ihrer Villa in Tittenhurst Park), in dem Lennon sich an den weißen Flügel setzt, während Yoko Ono die Fenster öffnet und das Tageslicht hereinflutet. Der Text des Songs, die Vision von einer Gesellschaft – frei von religiösen Zwängen, Nationalismus und der Gier nach Besitz – und die wunderbar eingängige Melodie, die das Lied zu einer Hymne der Friedensbewegung machten, erreichen uns nach wie vor. Und doch mutet es utopisch an. Und das Video macht es deutlich, dass es (immer) an der Zeit ist, neue Bilder zu entwickeln. Es ist notwendig, das Weiß mit Leben zu färben; Symmetrien aufzugeben, um zu einer neuen, lebendigen Ausgewogenheit zu finden; die Entrücktheit zu überwinden und Farbe zu bekennen. Es ist immer notwendig, uns zu verändern.

66 1

  Siehe dazu: William Kentridge: Five

Themes: Taking a line for a walk auf youtube.com.

Kentridge im Prozess zu folgen

(quer durch die Facetten seines künstle-

6

Gerhard Hüther, 2011, S. 9.

7

  Ibid. S. 11.

     8

  Ibid. S. 10.  

9

  Ibid. S. 24.  

rischen Werks), schafft genau jenen inspirierenden Spannungsbogen zwischen spielerisch anmutenden, neugierigen, humorvollen und überraschenden

 Ibid. S. 30.      

10

Suchbewegugen, einem unbeirrbaren menschlichen Engagement und einer

11

  Ibid. S. 111.  Vgl. Richard Sennett: Zusammen-

politischen Klarheit und Schärfe, der Möglichkeiten und Strategien aufzeigt,

12

selbst komplexeste Themen anzugehen

arbeit. Was unsere Gesellschaft

und jenseits von üblichen Kategorisie-

zusammenhält. Berlin: 2012.

rungen zu bearbeiten.   Vgl. Hartmut Rosa: Resonanz.

13 2

  Gerald Hüther: Die Macht der inn-

eren Bilder. Wie Visionen das Gehirn,

Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: 2016.

den Menschen und die Welt verändern. Göttingen: 2011 (2004).

  Vgl. Thomas Kater (Hrsg.): Bilder

14

vom Frieden. Darin: „Der Friede ist   Ich danke Daniela Hammer-Tugend-

keine leere Idee ...“. Bilder und Vor-

hat für den anregenden Nachmittag im

stellungen vom Frieden am Beginn

3

letzten Herbst, den wir gemeinsam mit

der politischen Moderne. Essen:

der Suche nach Bildern zum Thema

2006.

Frieden in kunsthistorischen Bilddatenbanken verbracht haben. Die daraus

15

resultierenden überraschenden Ein-

x 1011,6 cm; Öl auf Faserplatte; dzt.

sichten, wie spärlich und klischeehaft

Vallauris, Musée National Picasso

das Ergebnis der Suche ausfiel, waren

La Guerre et la Paix.

  Pablo Picasso: Der Frieden. 477,8

ein wichtiger Anstoß für diesen Text. 16 4

Siehe dazu: Doris Rothauer: Krea-

tivität. Der Schlüssel für eine neue

  Pablo Picasso: Frieden. 90,4 x

69,6 cm; Tusche auf Papier; dzt. Paris, Musée Picasso.

Wirtschaft und Gesellschaft. Wien: 2016.

17

  Zitiert in: Frieden und Freiheit:

Pablo Picassos „Waffen“ in der 5

  http://de.wikipedia.org/wiki/Frie-

Albertina; http://diepresse.com/

den und http://dfg-vk-bonn-rhein-

home/kultur/kunst/596344/Frie

sieg.de/index.php/gedanken-zum-

den-und-Freiheit_Pablo-Picassos-

frieden/friedens-zitate-kurz, Albert

Waffen-in-der-Albertina#slide-

Camus (abgerufen am 04. 06. 2018).

596344, 2010 (abgerufen am 04. 06. 2018).

67   Vgl. Fritz Pasierbsky: Krieg und

18

Frieden in der Sprache. Eine sprachwissenschaftliche Textanalyse. Frankfurt am Main: 1983, S. 11ff.   Georg Wilhelm Friedrich Hegel:

19

Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Wesen. Leipzig: 1978, S. 61.   Vgl. youtube.com: Imagine - John

20

Lennon, Original video with lyrics in English (abgerufen am 01. 06. 2018).

SUSANNE JALKA

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WARUM FRIEDEN?

Die einfache klare Antwort, warum ich für Frieden bin, lautet, dass die allgemeinen Menschenrechte allen Menschen ein Recht auf ihr je eigenes Leben zusichern. Dieses Recht hat aber im Fall eines Krieges keine Geltung mehr. Dann geht es um die Vernichtung von Leben und von materiellen Werten. Im Krieg wird getötet und zerstört. Ich kann schon allein die Vorstellung von diesem Töten, von Schmerz und Verzweiflung kaum ertragen. Und die gigantischen Zerstörungen empören mich. Wer kann das in bewusster Absicht wollen? Wie ist es möglich, dass einige wenige Menschen durch Kriege profitieren und Millionen andere diese Kriege dann führen und erleiden müssen? Darf jemand das Recht haben, die Ressourcen unserer Welt so verantwortungslos zu verschwenden?

70

Susanne Jalka

Ich empfinde eine grundsätzliche Ablehnung gegen die Verwüstungen durch Krieg und Gewalt und sehe sie als sowohl intellektuelles als auch ästhetisches Versagen. Die politischen, kulturellen und sozialen Entwicklungen, die wissenschaftlichen, technischen und die geistigen Erfindungen unserer Zeit machen eine neue Haltung zum Thema Krieg nicht nur möglich, sondern notwendig – und damit auch zum Thema Frieden.

Ich beziehe mich auf den Prozess der Entwicklung

von Menschheitsgeschichte, der Entwicklung von Kultur, Zivilisation und Technologien aller Art. Diesem Prozess verdanken wir großartige Erfindungen, ethische und ästhetische Ideale, fantastische Kunstwerke und gedankenreiche Erkenntnisse, höchste Freuden und tiefstes Leid. Enorme Verbesserungen von Lebensbedingung gehen jedoch stets einher mit der Entwicklung immer „besserer“, zerstörungsmächtiger Waffen, gehen ebenfalls einher mit skrupelloser Ausbeutung und Verwüstung von Natur, mit unbegreiflich brutaler Grausamkeit in der Unterdrückung und Vernichtung von Menschen durch Menschen.

Es geht um die Analyse von Bedeutungen und von

Deutungsmacht. Es geht um das Nein als intellektuelle Wurzel der Urteilskraft. Klaus Heinrich, der nach der Macht des Widerstehens fragte, schrieb dazu sinngemäß in Parmenides und Jona: „Nur indem wir nein sagen zum Nichtsein, erfahren wir die Macht des Seins. Sie ist die Macht, die uns wie alles Sein, auch das von uns verneinte, dem Nichtsein widerstehen lässt.”

Selbständig denkende und handelnde Menschen,

Wahrheit Suchende, die sich nicht einschüchtern lassen

Warum Frieden?

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und die Verantwortung übernehmen für gesellschaftspolitische Entwicklungen, sie entlarven Denkverbote, die von Mächtigen ausgehen, den Führern religiöser und von anderen einflussreichen Institutionen. Auch Übergriffe von Staatsgewalt können durch Protest verhindert werden. Willkürliche Gebote und Verbote einer Macht, die mit entsprechenden Strafen ihre Willkür durchsetzt, werden im Lauf der Entwicklung von Demokratie, Rechtsstaat und Gewaltentrennung abgelöst. Bürgerinnen und Bürger übernehmen partizipierend Verantwortung für den Prozess der Emanzipation.

Wir haben uns daran gewöhnt, wir wurden daran

gewöhnt, dass Kriege „stattfinden“, weil es sie angeblich immer schon gab und deshalb auch immer geben wird. Was für ein mutloses Denken. Nach Michel Foucault ist jede Definition abhängig von denen, die definieren, von der Macht der Definierenden, von denen, die Definitionsmacht beanspruchen. Dementsprechend können wir davon ausgehen, dass einflussreiche mächtige Personen Interesse daran haben, Kriege als Ereignisse zu definieren, die geschehen, weil sie notwendig sind. Krieg ist ihnen Profit. Sie beanspruchen also das Recht und sie haben die Macht, die Unvermeidlichkeit von Krieg zu behaupten. Die Deutungsmacht entzieht sich der allgemeinen Aufmerksamkeit, arbeitet subtil und bildet die allgemeine öffentliche Meinung, leitet Denken und Handeln auf einer meist nicht bewussten Ebene. In Bezug auf unser Thema „Frieden“ wird durch die Festlegung, dass Kriege unvermeidbar seien, die Bedeutung von Frieden total fixiert. Die Realität des Krieges definiert Frieden als die Zeit zwischen

72

Susanne Jalka

den Kriegen, nach dem Krieg und vor dem nächsten Krieg. In diesem Frieden „herrscht endlich Ruhe“, und es werden neue, bessere Waffen entwickelt. Das Militär wird aufgerüstet und zur Benutzung dieser neuen Waffen befähigt.

Dieser Frieden wird in erster Linie als Zustand der

Erschöpfung erlebt. Endlich kann wieder Ruhe einkehren, nach dem Töten und dem Sterben und den Zerstörungen. Endlich kann der Wiederaufbau beginnen. Dieser Frieden orientiert sich an den Schrecken des Krieges, erhält seine Bedeutung im Nicht-Krieg-Sein. Dieser Frieden wird nach einem Krieg ausgesprochen. Und trägt in sich bereits die Möglichkeit, die Erwartung des nächsten Krieges.

Mit genau dieser Selbstverständlichkeit wird von

den Jahren 1918 bis 1939 als der „Zwischenkriegszeit“ gesprochen. Diese Selbstverständlichkeit ist ein Baustein der oben angesprochenen Deutungsmacht. Mir wurde die erschreckende Botschaft dieses Begriffs irgendwann, im Zug meiner Friedensarbeit bewusst. Wir benennen eine Zeit von 20 Jahren als „Zeit zwischen den Kriegen“. Die Definition dieser 20 Jahre bezieht sich auf das Leben nach einem schrecklichen Krieg und vor dem nächsten, der dann ebenso oder noch schrecklicher war. Aufrüstung und technische Entwicklungen von immer effizienteren Waffen sind Merkmale dieses Friedens. Ich werde später darauf zurückkommen, dass wir diesen Frieden über Sicherheitslogik definieren. Dieser vorgeblichen Friedenskultur entsprechend, sind Waffen und militärische Waffenbenutzer notwendig, um Sicherheit zu gewährleisten.

Warum Frieden?

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Denken als Prozess im Wandel Das 20. Jahrhundert war eine Zeitenwende. Ich glaube, dass vergleichbare Herausforderungen für Veränderungen des Denkens und des Handelns zur Zeit des Nikolaus Kopernikus stattgefunden haben müssen. Nikolaus Kopernikus entdeckte im frühen 16. Jahrhundert, dass die Erde sich um die Sonne dreht, nicht umgekehrt. Was für eine großartige Erkenntnis! Was für eine mutige Leistung! Er wagte es, uralten Gewissheiten zu widersprechen und stellte das geozentrische Weltbild grundlegend in Frage. Er bezog sich auf seine Beobachtungen von Planetenbahnen und die entsprechenden Schlussfolgerungen und kam zur Erkenntnis, dass die Menschheit auf der Erde nicht das Zentrum des Universums sein könne. Die Erde müsse wohl ein Planet in einem Sonnensystem sein, inmitten vieler Sonnensysteme.

Diese Erkenntnisse von Kopernikus, später von

Giordano Bruno, Galileo Galilei sowie Johannes Kepler und anderen, waren durch die technischen Entwicklungen von geschliffenen Linsen möglich geworden. Fernrohre eröffneten neue Möglichkeiten zur genaueren Beobachtung von Planetenbahnen. Im Fall geschliffener Linsen war das neu gewonnene Erkenntnisspektrum enorm.

Es dauerte sehr lang, bis die Erkenntnis sich durch-

setzen konnte, dass der Planet Erde nicht der Mittelpunkt des einzigen von Gott geschaffenen Universums sei. Die Scholastik hatte Jahrhunderte lang als dogmatisches System die Weiterentwicklung von möglichen kritischen Erkenntnissen gehemmt und unterdrückt. Wissen sollte

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Susanne Jalka

ausschließlich dem Glauben dienen. Das Denken in der Glaubensordnung über die göttlichen Offenbarungen, von der Kirche vorgegeben, durfte nicht von Zweifeln angegriffen werden. (Erst im Jahr 1992 erfolgte nach langjährigen Beratungen einer päpstlichen Kommission eine offizielle Erklärung durch Papst Johannes Paul II., dass nun doch die Lehren des Galileo Galilei als gültig anerkannt würden.)

Damals musste das neue andere Denken enorme

Widerstände überwinden. Neben dem Buch der Offenbarungen bezeichnete Galilei, später auch Kepler, die beobachteten Gestirne am Himmel als Buch der Natur. Die Kirche verfolgte solche kühnen kritischen Thesen mit erbarmungslosen Strafen. Die Trennung zwischen diesen beiden Wissensgebieten, Geist und Natur, setzte sich dennoch als neues Denken durch. Die Deutungsmacht der Kirche musste sich der logischen Reflexion unterwerfen. Das wissenschaftlich empirische Arbeiten, heute Naturwissenschaft genannt, wurde zur Grundlage für die technischen Entwicklungen, die Auswirkungen in alle Lebensbereiche hatten. Wissenschaft bezog sich auf ein in sich geschlossenes System von Kausalketten und konnte, als von keiner religiösen Instanz kontrolliertes Forschen und Denken, Wirklichkeit und Wahrheit über wiederholbare Experimente und nachvollziehbare Berechnungen von beobachtbarer Materie definieren.

Wahrscheinlich waren die Denkleistungen, welche

damals erbracht werden mussten, um trotz scharfer Sanktionen und kirchlicher Bevormundung neue Erkenntnisse zu erarbeiten, mit der Denkleistung heute vergleichbar, die auf ähnliche Weise von uns verlangt, diese mittlerweile

Warum Frieden?

75

Jahrhunderte alten Traditionen von wissenschaftlichen Gewissheiten zu überwinden. Damals ging es um den Mut, die von Gott offenbarte und von der Kirche verwaltete Glaubensordnung anzuzweifeln. Heute erkennen wir, dass diese naturwissenschaftliche Forschung ein materialistisches Weltbild gefestigt hat. Diese Forschung geht von der Hypothese oder der Überzeugung aus, dass alles eigentlich nur Materie sei. Die Auseinandersetzung mit Geist, mit Ethik und Ästhetik wird entwertet. Der mittlerweile dominierenden Erkenntnisarbeit liegt methodischer Atheismus und ein einseitiges materialistisches Weltbild zugrunde. Geistes- und Sozialwissenschaften wurden auf Plätze in den hinteren Reihen verwiesen. Für Kunst und Kultur wurden prominente Positionen im Außen reserviert.

Entwicklungen von Technologien haben seit jeher

ihre Wirkungsgeschichten in allen Bereichen menschlichen Lebens. Heute bewirken immer schneller werdende Entwicklungen von Technik extrem beschleunigte, alles erfassende Veränderungen. Als James Watt am Ende des 18. Jahrhunderts die erste leistungsfähige Dampfmaschine erfand, wurden völlig neue industrielle Produktionsprozesse möglich. Der Innovationsschub war so heftig, dass alle gesellschaftlichen Bereiche davon ergriffen wurden. Die seit jeher üblichen Werkstätten mussten Fabriken weichen. Die Arbeit mittels industrieller Fertigung führte zu Proletarisierung und diese zu sozialen Verwerfungen, die wiederum andere politische Entwicklungen in Gang setzten. Der Fluss des technischen Fortschritts wurde zu einem reißenden Strom und wirbelte die Jahrhunderte alte aristokratische Ordnung der Gesellschaft zu neuen

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Susanne Jalka

Strukturen, zur Herrschaft des Bürgertums. Die angeblich von Gott gewollte soziale Hierarchie und die Macht der Kirche wurden vom alles rational erfassenden „Weltgeist“ abgelöst. Der Klassenkampf wurde in unseren westlichen Ländern institutionalisiert. Die Vorstellung eines den Lauf der Welt ordnenden Gottes verschwand seit dem 18. Jahrhundert aus vielen Bereichen des täglichen Lebens und aus den Naturwissenschaften. Der Mensch wurde als ein Produkt der Evolution gesehen, wie Millionen andere Arten, Tiere und Pflanzen.

Dieser Bruch mit gesellschaftlichen Traditionen,

durch technische Entwicklungen in Gang gesetzt, verlangt wieder, wie vor einigen Jahrhunderten, nach einem neuen Denken. Es geht um ein Denken, das Widersprüche aushalten und Spannungen halten kann. Es geht um die Überwindung des unbedingt Eindeutigen. Es geht um kreatives Denken, das Gegensätze nicht in eindeutige quasi objektive Sicherheiten auflösen muss. Die Psychoanalyse ist ein wichtiger Repräsentant dieses Paradigmenwechsels.

Die Psychoanalyse ist die Erkenntnistheorie, die das

unbegreifliche Unbewusste zum Bestandteil von Vernunft machen will. Das Unbewusste präsentiert sich als eine zwar anders und doch rational agierende Vernunft, die erkenntnisfähig, sprachmächtig und selbstbewusst Entwicklungen beeinflusst und begleitet und damit Einfluss nehmen kann auf emanzipatorische Menschwerdung. Sie ist ein Forschungsobjekt der Phänomenologie, ein Innen nach der Überwindung der absoluten Ordnung im Außen. Es handelt sich um einen unauflösbaren Widerspruch. Und es gilt, dem Paradoxon standzuhalten und dem

Warum Frieden?

77

„Fortschritt“, der auf Verdrängung aufbaut, eben dieses Verdrängte zu präsentieren. Das heißt also, sich dem Konflikt zu stellen und ihn bewusstseinsfähig und damit zum möglichen Ausgangsort für Erkenntnis werden zu lassen. Die im Dienst von Traditionen stehende Harmoniesehnsucht offenbart sich als Lähmung für den dynamischen Prozess einer Entwicklung, den sie beschwört. Es geht für dieses neue Denken darum, Widersprüchliches bewusst zu machen – und sich zugleich der Verlockung zu widersetzen, die Auflösung des Dilemmas mittels einer Rechenoperation zum Ergebnis einer scheinbaren Harmonie hin zu bringen.

Neue Möglichkeiten Im Lauf des 19. Jahrhunderts und in der Zeit der Wende zum 20. Jahrhundert meldeten sich drei neue Wissenschaften zu Wort.

Die Psychoanalyse, die das Unbewusste als aus

dem Verdrängten agierend beschreibt und damit eine neue Dimension einführt. Sie widersetzt sich dem deterministischen Weltbild naturwissenschaftlicher Herangehensweise. Es geht um Bewusstsein, Reflexion und neue Möglichkeiten des Denkens.

Eine andere Wissenschaft, die Quantenphysik tritt

als eine andere Art der Revolution besonders für die Naturwissenschaften auf. Sie entwickelt ein grundlegend neues Theoriegebäude und kann als eine Physik der Beziehungen und Möglichkeiten bezeichnet werden. Das

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Susanne Jalka

Denken wird von quantenphysikalischen Erkenntnissen intensiv herausgefordert. Auf experimenteller Basis werden spannende Fragen und philosophische Rätsel gestellt, zum Beispiel: wie kann ein Molekül „zugleich“ an verschiedenen Orten sein? Wie kann etwas, was nach herkömmlichen Vorstellungen überhaupt nicht mit etwas anderem zu vereinbaren ist, ein und dasselbe sein? Dieses Grundprinzip gilt für das Licht ebenso wie für alle Elementarteilchen. Möglicherweise sind die Elementarteilchen also nicht Materie im für uns vertrauten Sinn. Sie zeigen sich uns je nach Versuchsanordnung als Energie oder als Entfaltung des Geistigen, das sich in vielfältigen Molekülen zu unglaublich komplexen Strukturen entwickelt hat. Jede Beobachtung, jede Versuchsanordnung, ja sogar das Denken kann das Ergebnis beeinflussen.

Görnitz & Görnitz (Der kreative Kosmos. Geist und

Materie als Quanteninformation) beschreiben die Möglichkeit, mittels Quantenphysik die Evolution des Geistigen zu erklären. Quanteninformationen werden als die Grundlage, als Urstoff unserer Welt gesehen. Das Bewusstsein, als bisher höchste Evolutionsstufe, vermag als sich selbst reflektierender Geist die Entwicklung der Evolutionsstufen zu erkennen. In der Quantenphysik wird eine gemeinsame Grundlage für Materie, Energie, Bewusstsein angenommen, wobei Kooperation das wesentliche Grundprinzip der Entwicklung ist.

Die Psychoanalyse und die Quantenphysik bilden

radikale Herausforderungen für unser Denken, Verstehen und für die Entwicklung von Vorstellungen. Sie verändern als neue Wissenschaften unser Weltbild seit dem Anfang

Warum Frieden?

79

des 20. Jahrhunderts. Weniger spektakulär hat sich zur selben Zeit auch eine andere, dritte Wissenschaft entwickelt: Die Friedenswissenschaft.

Frieden interessiert im Allgemeinen vorwiegend

nur im Zusammenhang mit aktuellem Kriegsgeschehen. Frieden ist dann die Erlösung. Erlebte strukturelle und kulturelle Gewalt, eskalierende Konflikte im Lebensalltag werden im Sprachgebrauch durchaus als „unfriedlich“ benannt; trotzdem wird Frieden und die Beschäftigung mit Frieden selten im Zusammenhang mit persönlichen und oder gesellschaftlichen Fähigkeiten des Umgangs mit Konflikten und mit Gewalt gesehen. Generell ist die Auseinandersetzung mit Frieden wenig attraktiv. Allgemeine Geringschätzung von Themen im Kontext von Frieden, von Menschen, die sich mit Frieden befassen, und von einer Wissenschaft des Friedens ist weit verbreitet.

Gedanken und Vorstellungen im Zusammenhang mit

Frieden sind in unseren inneren Bildern noch an Kriegsthemen gebunden. Dieser Bedeutungszusammenhang ist aber nicht bewusst. Die Friedenswissenschaft, die sich oft Friedensforschung nennt, will Frieden als eine Kultur untersuchen, als Gegensatz oder auch unabhängig von Gewalt und Krieg. Alle Formen von Gewalt, die direkte, die strukturelle, also personenunabhängige Ausübung von Macht, oder die kulturelle Gewalt – die als Legitimationssystem die Deutung liefert, was als Gewalt verstanden wird – alle diese Formen von Gewalt bilden das Gegenteil dessen, was wir unter einer Kultur des Friedens verstehen. Der Umgang mit Konflikten, die gewaltfreie Bearbeitung von Konflikten ist ein zentrales Thema dieser Entwicklung

80

Susanne Jalka

einer Kultur des Friedens. Das Ziel ist auch hier, Bewusstsein für Komplexität zu entwickeln, eben für die Komplexität von Konfliktstrukturen. Es geht darum, Konflikte nicht als Bedrohung, sondern als Potential für Erkenntnisse zu verstehen. Es geht also darum, Fähigkeiten zu erwerben für die Transformation von Konfliktenergie in Erkenntnis fördernde Gespräche. Es geht darum, bereits im Denken diese Fähigkeiten einzuüben und entstehende Widersprüche als Spannung fruchtbar zu machen.

Dieser Umgang mit Konflikten wird als „gewaltfreie

Kommunikation“ beschrieben. Ich bemühe mich, diese Formulierungen zu vermeiden. Den Hinweis auf Gewalt, die dann negiert werden soll, halte ich für ein Symbol der uns bisher fehlenden Fähigkeit, dieses andere Denken, Sprechen und Handeln mit positiven Begriffen zu benennen. Wir Menschen verfügen noch nicht über innere Bilder, Vorstellungen und entsprechende Begriffe für diese konstruktiven Fähigkeiten. Dieses andere Denken erkennt im Konflikt Möglichkeiten und realisiert sie in der Transformation von Spannungen in Erkenntnisse.

In vielen Seminaren, Vorträgen und Veranstaltungen

zum Thema Frieden habe ich die Teilnehmenden gebeten, ihre inneren Bilder wahrzunehmen, wenn sie „Frieden“ denken. Das Ergebnis ist, selbst für Menschen, die in der Friedensarbeit tätig sind, dass verschiedene Vorstellungen von heilsamer Ruhe, konfliktfreier Harmonie und Sicherheit als Friedensbilder entstehen.

Die inneren Bilder, also unsere Vorstellungen und

unser Denken über Geschehnisse, bestimmen unser Verhalten. Unsere Vorstellungen und unser Denken sind

Warum Frieden?

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Produkte sowohl der individuellen Entwicklung als auch der gesellschaftlichen, und der Kultur, in der wir leben. In der Friedensarbeit und Friedensbildung muss es also darum gehen, Konflikte nicht mehr als Bedrohung zu sehen, konfliktfreie Harmonie nicht als den zu ersehnenden Glückszustand vorzustellen, sondern Konflikte als die Möglichkeiten für Entwicklung zu begreifen. Dieses andere Denken ist ein Denken von Möglichkeiten, wird zur Voraussetzung in der Psychoanalyse, in der Quantenphysik und in der Friedenswissenschaft. Dieses neue Denken verlangt nach Freiheit, nach Infragestellen von Gewissheiten, kann grundsätzlich umdenken und kann die Spannung von Pluralität, von Differenzen konfliktfähig und kreativ halten.

Auch in der Neurowissenschaft wird dieses Denken

untersucht. Neuronale Prozesse, die bei konstruktiven Denk- und Handlungsereignissen ablaufen, sollen zum Aufbau von Vernetzungen und neuen Verbindungen quasi ermutigt werden. Gesucht werden Impulse zur Vernetzung von Hirnarealen, die im Sinne von sozialen Kompetenzen aktiv werden. Forschungsprojekte zur Förderung dieser neuronalen Prozesse werden unter anderem von FriedensOrganisationen betrieben. (Z. B.: Re-Wiring the Brain for Peace, 2016, Alliance for Peacebuilding, USA)

Friedenswissenschaft Alfred Hermann Fried war ein Pionier der Friedenswissenschaft. Er entwickelte die sozialwissenschaftliche Friedens-

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Susanne Jalka

forschung, ohne selbst über eine akademische Ausbildung zu verfügen. Mit dem Motto „Organisiert die Welt!“ wollte Fried auf die Notwendigkeit verweisen, sich selbst und sein Land als Teil einer gleichberechtigten Gemeinschaft zu sehen. „Internationalismus ist Patriotismus auf höchster Stufe“, meinte er. In „Die moderne Friedensbewegung“, beschrieb er 1907 die Rechtsordnung und Exekutive, die das Zusammenleben der Völker und Staaten regeln sollten.

Die ersten Friedenskongresse noch im 19. Jahrhun-

dert und seither widmen sich der Auseinandersetzung mit historischen, kulturellen und sozialen Formen des Friedens. Der britische Friedensforscher Adam Curle, der sein Friedenszeugnis aus der Tradition der Quäker, der religiösen Gesellschaft der Freunde, herleitete, wurde der erste Professor für Friedensstudien, Peace Studies, an der Universität von Bradford in England, auf einem von den Quäkern gestifteten Lehrstuhl.

Im Lauf des 20. Jahrhunderts hat sich die Friedens-

wissenschaft als eigene Disziplin durchgesetzt. Durch die Arbeiten verschiedener Disziplinen, die Friedensforschung betreiben, wurden Internationale Institutionen, wie die Vereinten Nationen als mögliche, den Frieden stärkende Organisationen konzipiert. Voraus gingen die Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907, wo um verbindliche Regelungen zur Abrüstung und zu friedlichen Bearbeitung von internationalen Konflikten gerungen wurde. 1920 wurde der Völkerbund als erste völkerrechtliche internationale Organisation gegründet. Der KelloggBriand Pakt folgte 1928. Die Vereinten Nationen sind dann, nach dem 2. Weltkrieg, nach den Vernichtungs-Gräueltaten

Warum Frieden?

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dieser Kriege, als neuerlicher Versuch der Institutionalisierung von Friedensförderung entstanden. Alle diese völkerrechtlichen Vertragswerke bemühen sich um Sicherung des Weltfriedens, den Schutz der Menschenrechte und die Förderung internationaler Zusammenarbeit.

Diese Gründungen von friedenserhaltenden inter-

nationalen Strukturen waren stets wichtige Anliegen der Friedenswissenschaft. Es geht um Überwindung der Gewalt durch die Übertragung der Macht an eine übergeordnete Institution, die durch Gesetze als Zentralgewalt über Autorität verfügt. Unter Berufung auf die von allen Beteiligten bestimmten ideellen Einstellungen können diese zentralen Institutionen die Macht der Ideen in reale Macht übertragen.

In der Geschichte der Menschheit sind solche

Delegierungen von machtpolitischen Entscheidungen nie unternommen worden. Insofern sind unsere internationalen Friedensorganisationen erste Versuche, den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle zu verurteilen und auf Kriege in den gegenseitigen Beziehungen zu verzichten und Abrüstung zu initiieren. Es ist ein Projekt der Moderne und beruht auf Verantwortung, die von der Gemeinschaft entwickelt und getragen werden muss. Sigmund Freud hat diesen Prozess „Kulturentwicklung“ genannt. Wir sprechen in diesem Sinn von Frieden als „Geisteshaltung“. Was bedeutet Geisteshaltung als Kultur des Friedens? Hier komme ich auf die oben erwähnte „Sicherheitskultur“ zurück. Es geht um die Unterscheidung zwischen Friedenskultur und Sicherheitskultur. Beide diese Ansätze wollen Kriege und alle Formen physischer Ge-

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Susanne Jalka

walt vermeiden. Allerdings unterscheiden sie sich sowohl in der Wahrnehmung als auch in ihrer Interpretation von Weltgeschehen.

Die Friedenskultur will Bewusstsein fördern für die

Möglichkeiten die aus Differenzen entstehen können. Die Spannung von Differenzen entwickelt sich durch Konflikte, die neue Entwicklungen ermöglichen. Konflikte werden, so gesehen, nicht als Bedrohung, sondern als Potential erkannt. Die Transformation von Konflikten in Erkenntnis gelingt, wenn die Fähigkeiten für konstruktive Bearbeitung von Konflikten zur selbstverständlichen sozialen Kompetenz wird. Das gilt für individuelle ebenso wie für nationale und internationale Konfliktszenarien. Die Entwicklung dieser Fähigkeiten setzt Bildungsangebote für soziale und demokratiepolitische Kompetenzen voraus. Die entsprechenden Bedingungen dafür sind staatlicherseits und auch von zivilgesellschaftlichen Akteurinnen zu entwickeln.

Die Sicherheitskultur nimmt im Gegensatz dazu die

gleichen Geschehnisse als Bedrohung wahr. Konflikte werden aus der Perspektive einer Ordnung, die auf Sicherheit baut, als Bedrohung erlebt. Bedrohungen bewirken dann generell abwehrendes und schützendes Verhalten. Im Sinn von Sicherheit müssen daher bereits vorbeugend Maßnahmen für den möglichen Fall einer Bedrohung getroffen werden. Waffen und Militär sollen in dieser Sicherheits-Sichtweise als Garanten möglicherweise notwendiger kriegerischer Austragung von Konflikten stets dem neuesten Stand militärischer Strategien entsprechen.

Sicherheitsdenken geht im Konfliktfall immer von

Bedrohung aus und definiert Schutz als Maßnahmen der

Warum Frieden?

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Abwehr, Verteidigung und Gegendrohung. Die Geschichte unserer Kulturen berichtet von den Kriegen, die aus der Verteidigung für oder als Angriff gegen die Sicherheit geführt wurden. Auf Konflikte wird mit militärischer Macht oder anderen Signalen der Stärke reagiert. Die seit Jahren immer häufigere Nennung von Sicherheit als Aufgabe der Politik verweist auf die dahinter liegende Logik der Notwendigkeit von Bewaffnung, von Militär und generell von Kontrolle. Sicherheits-Denken unterscheidet sich fundamental vom Frieden-Denken im Umgang mit Konflikten. Die Betonung von Sicherheitsthemen lässt daher nicht erwarten, dass es um die Stärkung von Friedensbildung gehen soll. Die Unterscheidung zwischen Friedenskultur und Sicherheitskultur ist ja bisher noch keineswegs allgemein bekannt. Friedensthemen erhalten weder medial noch in der Bildungsarbeit besondere Wichtigkeit.

Der historische Sitzungssaal des 1883 eröffneten

Reichsratsgebäudes, das wir heute Parlament nennen, bot für die Abgeordneten von der Bukowina bis Dalmatien Platz, wird aber mittlerweile nur noch für Sitzungen der Bundesversammlung und für Staatsakte genutzt. In dem Sitzungssaal befindet sich ein Gemäldefries von August Eisenmenger (1830–1907). Es handelt sich um den Zyklus friesartiger Kompositionen „Über die Entstehung des modernen Staatswesens aus ungeordneten Verhältnissen“. Ein Abschnitt über die „Segnungen des Friedens“ verweist auf die Bedeutung von Frieden, der im ausgehenden 19. Jahrhundert Bezugspunkt engagierter Politik, höchstes Ziel der Hoffnungen auf eine neue gesellschaftliche Ordnung war. Frieden war ein unverzichtbarer Faktor für alle

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Susanne Jalka

Reformbestrebungen. Reform als zentrale Anliegen einer gesellschaftlichen Entwicklung war unverzichtbar für Kunst und Wissenschaft, Handel und Verkehr, Technik und Wirtschaft. Wir kennen aus der Geschichte des Friedens die Beschwörungsrituale, die die Bedeutung von Frieden betonen, nicht erst seit den Anfängen des Parlamentarismus. In der Realität von Staaten bedeutete Frieden aber immer Bewaffnung, Drohung oder gar Vorbereitung zum Krieg. Theologen, Religionsgruppen und Philosophen haben die Notwendigkeit und Vorteile von friedlichem Zusammenleben beschrieben. Erasmus von Rotterdam verurteilte als fortschrittlicher Denker bereits 1517 in seinem Friedenskonzept jeglichen Krieg. Pax, die Friedensgöttin, beschrieb er als Klagende, die unermüdlich und sehnsüchtig nach einem Ruheplatz suchte. Diese Pax hoffte, trotz aller traurigen Erfahrungen, dass es der Menschheit gelingen werde, in Frieden zusammen zu leben.

Friedenskonzepte aus philosophischer, religiöser

und aus ökonomischer Sicht wurden im Lauf der seither vergangenen 500 Jahre erarbeitet. Verbindliche Vereinbarungen wurden gefordert. Seit dem 19. Jahrhundert entwickelten sich die Auseinandersetzungen mit dem Thema Frieden in Europa und in den USA breit. Künstler, Philosophen, Politiker und Juristen formulierten ihre Konzepte, in denen oft begeistert, im Sinne des neuen Fortschrittsglaubens, eine friedvolle Welt beschworen wurde, in der die Menschen in Gemeinschaft zum Nutzen aller leben würden. Friedensgesellschaften wurden und werden gegründet. Das Thema Frieden wird wissenschaftlich von unterschiedlichen Disziplinen untersucht.

Warum Frieden?

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Trotz weiterhin wütender Kriegshandlungen, trotz grauenvoller Gewalt, die weltweit ständig geschieht, wird Frieden als eigene soziale Kompetenz erkannt, die individuell und gesellschaftlich zu neuen Formen menschlichen Zusammenlebens führen wird. Emanzipation als Entwicklung von Bewusstsein, Gleichstellung von Frauen in allen Rechtsund Moralangelegenheiten, Menschenrechte als Geltung für alle Menschen weltweit – und letztlich das Menschenrecht auf Frieden, das sind die Bausteine auf dem Weg zur Friedensbildung. Ich schließe mich Johan Galtungs Ansicht an, wonach nicht Abrüstung zum Frieden, sondern möglicherweise erst Frieden zur Abrüstung führen wird. Frieden wird, davon bin ich überzeugt, in einem neuen Denken möglich werden, einem Denken, das Konflikte nicht als Bedrohung und das Widersprüche als Bereicherung erlebt.

88 Brandstätter, Ursula: Erkenntnis durch Kunst, Wien: Böhlau, 2013 Einstein, Albert, Sigmund Freud: Warum Krieg?, Zürich: Diogenes, 1972 Frauen Netzwerk für Frieden: Vom Frieden her denken und handeln – Alternativen zur Sicherheitslogik und Gewaltkultur, Dokumentation, Bonn: 2017 Görnitz, Brigitte, Thomas Görnitz: Der kreative Kosmos, Heidelberg: Spektrum, 2002 Heinrich, Klaus: Parmenides und Jona, Frankfurt: Stroemfeld, 1982 Jalka, Susanne (Hrsg.): Frieden entdecken in Wien, Berlin: Business, 2011 Mann, Frido, Christine Mann: Es werde Licht, Frankfurt: S. Fischer, 2017

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FACETTEN ÖKONOMISCHSTRUKTURELLER GEWALT

Ausgehend von einem Friedensverständnis, das in Anlehnung an Galtung vor allem auf die Ursachen für Kriege wie strukturelle Gewalt – zum Beispiel in der Konfiguration einer sehr ungerechten Verteilung der globalen Ressourcen und Einkommen – fokussiert, werden zuerst unterschiedliche Konfliktursachen im Spektrum zwischen ökonomischen bis zu ethnischen und politischen thematisiert. Es wird exemplarisch aufgezeigt, dass (kriegerische) Konflikte in der Regel die Folge einer Verknüpfung unterschiedlicher Formen struktureller Gewalt sind sowie am Beispiel des Südsudan und des Kongo die multifaktorielle Dimension von struktureller und militärischer Gewalt transparent gemacht. Anschließend werden ökonomische Varianten struktureller Gewalt aufgezeigt. Zum Schluss werden Überlegungen thematisiert, wie gegengesteuert werden kann – als Beitrag einer konkreten Friedensarbeit.

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Analysiert man aktuelle kriegerische Auseinandersetzungen wie beispielsweise die blutigen Bürgerkriege in Afrika – denken wir nur an den Südsudan oder den Kongo – dann wird deutlich, dass das Spektrum möglicher Ursachen breit gestreut ist. Es umfasst: ökonomische, politische, ökologische, religiöse, ethnische, historische, kulturelle Ursachen, die vielfach in ihrer Vernetzung für Armut und Hunger, Ausbeutung von Frauen und Kindern, für Massensterblichkeit auf Grund von Seuchen und Unterernährung und generell für Perspektivlosigkeit sorgen. Bei näherer Betrachtung vieler Konfliktherde wird deutlich, dass ökonomische Interessen und Motive von zentraler Bedeutung sind und vor allem politische und ökologische Konfliktursachen „befeuern“, jedoch auch ethnische, historische und andere Faktoren beeinflussen. Demnach kann von einem Primat der Ökonomie zur Erklärung kriegerischer Auseinandersetzungen sowie unterschiedlicher Formen struktureller Gewalt ausgegangen werden.

Es wird ein positives Friedensverständnis vertreten,

wonach Frieden begrifflich nicht (nur) durch die Abwesenheit kriegerischer Konflikte ausreichend „vermessen“ werden kann. Vielmehr wird die im Jahr 1973 von Willy Brandt

Facetten ökonomisch-struktureller Gewalt

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vor der UNO-Vollversammlung formulierte These geteilt, wonach Hunger und Not strukturelle Gewalt bedeuten. Diese Überlegung hat Brandt in seiner berühmten Rede wie folgt auf den Punkt gebracht: „Wer den Krieg ächten will, muss auch den Hunger ächten“. Ähnlich argumentiert der Schweizer Soziologe Jean Ziegler, wenn er u. a. feststellt: „Der jährliche Hungertod von mehreren zehn Millionen Männern, Frauen und Kindern ist der Skandal unseres Jahrhunderts. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren, und das auf einem Planeten, der grenzenlosen Überfluss produziert“. Pointiert fasst er diesen erschreckenden Befund wie folgt zusammen: „Jedes Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet und wir sind die Mörder“. Bei der Suche nach den Tätern wird Jean Ziegler vor allem im ökonomischen Umfeld fündig, zählen doch für ihn die Banken und Hedgefonds, die an den Rohstoffbörsen mit Agrarrohstoffen spekulieren und die Preise hochtreiben, zu den Haupttätern dieser Variante struktureller Gewalt. Als Folge der durch Spekulation stark gestiegenen Lebensmittelpreise können nämlich die rund 1,25 Milliarden Menschen in den Slums, die mit weniger als 1,50 Dollar am Tag auskommen müssen, nicht mehr genug Nahrung kaufen. Dazu kommt die Dominanz der Finanzwirtschaft über die Realwirtschaft – Ziegler spricht vom Raubgesindel des Finanzsystems. Der Primat der Finanzwirtschaft über die Realwirtschaft hat u. a. zur Folge, dass zur Bewältigung der durch Spekulation ausgelösten Finanzmarktkrise im Jahr 2008 mehr als 1.000 Milliarden Dollar aus Steuergeldern zur Eindämmung der Krise „locker“ gemacht wurden,

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während man gleichzeitig die Beiträge für das UN-Welternährungsprogramm kürzte.

Anmerkungen zum Wirtschaftsfaktor Rüstungsindustrie & Kriege Bevor anhand von Beispielen die Bedeutung der Ökonomie zur Erklärung struktureller Gewalt fundiert wird, werden einige Aspekte des „Krieges als Wirtschaftsmotor“ aufgezeigt, also der Kontext zwischen direkter Gewalt (John Galtung) und Ökonomie. Dieser Zusammenhang wurde vom Ökonomen Rothschild treffend wie folgt beschrieben, wonach man „Aktien kaufen sollte, wenn die Kanonen donnern“. Die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung geht davon aus, dass zwischen 1945 und 2005 insgesamt 216 Kriege stattgefunden haben, sowohl zwischen den Staaten – denken wir nur an den Vietnamkrieg oder den indisch-pakistanischen Konflikt um Kaschmir – wie auch innerhalb der Staaten (Bürgerkriege). Diese fanden vor allem in Afrika und Asien nach der Entkolonialisierung statt, aber auch in Europa, wenn wir uns an die Balkankriege nach dem Zerfall Jugoslawiens erinnern oder an den aktuellen Konflikt in der Ostukraine. In der Regel ist der größte Profiteur von Kriegen die Rüstungsindustrie. Beispielsweise betrugen im Jahr 2010 die weltweiten Militärausgaben 1,33 Billionen Euro, im selben Jahr wurden weltweit Rüstungsgüter in Höhe von rund 305 Milliarden Euro gehandelt. Der Waffenhan-

Facetten ökonomisch-struktureller Gewalt

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del ist eines der korruptesten Geschäftsfelder der Welt, daher gelangen u. a. trotz Embargos tausende Waffen in Krisengebiete wie den Kongo oder den Sudan. Es gilt das Motto: „Gewalt bringt immer Gewinn“ und ein blühender Waffenhandel Arbeitsplätze in den großen Waffenexportländern. So arbeiten in den USA, dem weltweit größten Waffenexportland, rund 3,6 Millionen Menschen im Rüstungsbereich und zusätzlich rund 2,1 Millionen im Verteidigungsministerium. Die amerikanische Rüstungsindustrie revanchiert sich für die milliardenschweren öffentlichen Militäraufträge mit großzügigen Spenden in Millionenhöhe an amerikanische Parteien und Kongressabgeordnete, vor allem an die Republikaner. Der (ökonomische) Wirtschaftsfaktor „boomende Rüstungsindustrie durch Kriege“ ist nur im Joint Venture mit der Politik möglich,

die einerseits Steuergelder für die Militäraus-



gaben flüssig macht und dafür mit Wahlkampf-



geschenken und Arbeitsplätzen der Rüstungs-



branche in den jeweiligen Wahlkreisen der



Abgeordneten belohnt wird und andererseits



durch eine „aktive Außenpolitik der Terror-



bekämpfung“ für kriegerische Interventionen



und damit für „Absatzmärkte“ (wie im Irak



bzw. in Afghanistan) sorgt.

Die Erschließung von Waffen-Absatzmärkten durch die amerikanische Außenpolitik – und dieser Befund gilt ebenso für andere Großmächte wie Russland und China –

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kann auch durch die Ausstattung von Verbündeten mit Rüstungsgütern erfolgen, die dann einen Stellvertreterkrieg für (regionale) Großmächte führen. Ein Beispiel dafür ist die indirekte Beteiligung der USA über Saudi-Arabien sowie Russlands über den Iran am blutigen Bürgerkrieg im Jemen, der primär mit amerikanischen und russischen Waffen geführt wird und beiden Großmächten Exporterfolge und damit belebende Wirtschaftsimpulse sichert. Die zentrale Bedeutung der Rüstungsindustrie und indirekt kriegerischer Auseinandersetzungen für die Wirtschaft hat exemplarisch Winslow Wheeler vom Center for Defense Information in Washington wie folgt zusammengefasst: „Die Kriege und die Angst vor neuen Anschlägen sind der Motor unserer Wirtschaft“.

Kriegerische Auseinandersetzungen und strukturelle Gewalt – Ursachenforschung unter besonderer Berücksichtigung der Ökonomie Vielfach sind wirtschaftliche Motive die wichtigste Erklärungsvariable für Kriege, etwa der Kampf um strategisch wichtige Rohstoffe oder Ressourcen wie Wasser. Dafür gibt es historische Beispiele wie die napoleonischen Kriege. Die damalige Not Frankreichs wurde maßgeblich durch die englische merkantilistische Wirtschaftspolitik einer aggressiven Förderung der Exporte durch Subventionen sowie der Beschränkung von Importen durch Zölle

Facetten ökonomisch-struktureller Gewalt

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verursacht. Die negativen Folgen für Frankreich wurden durch die beginnende Industrialisierung um 1770 massiv verstärkt. Es ging in erster Linie um die Kontrolle und Beschaffung wichtiger Rohstoffe, die in englischen Fabriken weiterverarbeitet wurden. Da der englische Markt für die Massenfertigung zu klein war, wurde Frankreich mit englischen Fertigprodukten überschwemmt. Mit den Exporterlösen finanzierte England u. a. den Militärapparat zur Sicherung der Kolonien und seiner Vormachtstellung in Europa. Für Napoleon bestand ein zentrales Ziel seiner Kriegszüge gegen England darin, eine weitere Überschwemmung des Kontinents mit englischen Waren zu unterbinden. Napoleon verhängte drastische Einfuhrzölle auf englische Fertigprodukte und trug dadurch wesentlich zum kriegerischen Konflikt mit England bei.

Fallbeispiel Sudan

Der Krieg im Sudan veranschaulicht exemplarisch die Vielfalt an Faktoren für kriegerische Auseinandersetzungen und Massaker sowie strukturelle Gewalt in Form von Hungersnot, extremer Armut, systematischen Vergewaltigungen, Kindersterblichkeit durch Mangelernährung etc. Nach der Unabhängigkeit des Sudan im Jahr 1956 folgten Jahrzehnte des Krieges mit rund 2,5 Millionen Toten. Sehr rasch kam es zu einem Konflikt zwischen dem Norden mit einer primär islamisch-arabischen Bevölkerung sowie dem Süden mit einer primär christlich-schwarzafrikanischen Bevölkerung, die sich in zwei größere

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ethnische Gruppen und darüber hinaus in rund 200 Ethnien aufgliedert. Diese kriegerische Auseinandersetzung endete 2011 mit der Gründung eines eigenen Staates Südsudan – der blutige Konflikt zwischen 1956 bis zur Abspaltung des Südens im Jahr 2011 war vor allem bestimmt durch:    religiöse Faktoren, den Kampf zwischen Moslems und Christen, ethnische Faktoren, den Konflikt zwischen den zahlreichen ethnischen Gruppen des Nordens und Südens,    historische Faktoren, die (problematische) Grenzziehung des Sudan als Folge militärischer Interventionen Englands, Ägyptens sowie des osmanischen Reiches und    wirtschaftliche Faktoren, weil der rohstoffarme Norden nicht den rohstoffeichen Süden aufgeben wollte. Bereits rund zwei Jahre nach der erfolgreichen Abspaltung und der Staatsgründung Südsudan entbrannte 2013 ein blutiger Bürgerkrieg zwischen den Anhängern des Staatspräsidenten Salva Kiir, der der größten ethnischen Gruppe im Südsudan, den Dinka, angehört und jenen seines ehemaligen Vizepräsidenten Riek Machar, der ein Vertreter der zweitgrößten ethnischen Gruppe, der Nuer,

Facetten ökonomisch-struktureller Gewalt

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ist. Beide waren bis 2005 aktiv im Befreiungskrieg gegen den Norden vereint. Inzwischen forderte dieser Bürgerkrieg laut UN-Angaben mehr als 50.000 Tote und rund 1,5 Millionen Flüchtlinge.

Es handelt sich nur auf den ersten Blick um einen

primär ethnischen Konflikt. Bei näherer Analyse zeigt sich, dass es beiden führenden Politikern ganz wesentlich um die potenziellen Öl-Einnahmen von 6–7 Milliarden Dollar pro Jahr geht – nicht zuletzt, um sich selbst zu bereichern sowie die Pfründe für die eigene Ethnie zu sichern. Zur Realisierung ihrer wirtschaftlichen Interessen schrecken die Machthaber des Südsudan vor keiner Variante realer und struktureller Gewalt zurück. So ist der Hunger im Südsudan längst zu einer Waffe geworden, mit der die Regierung ihre Gegner bekämpft. Sie vertreibt die Bevölkerung von ihren Feldern und riegelt sie von Hilfslieferungen ab. Sie investiert die Staatseinnahmen nicht in Lebensmittel, sondern in Rüstungsgüter. Allein 2016 hat der Südsudan für 262 Millionen Dollar Waffen gekauft. Ohne den Krieg hätte es den Hungernotstand, den die Vereinten Nationen am 20. Februar 2017 ausgerufen haben, nicht gegeben. Sanktionen der UN gegen diese menschenverachtende Politik im Südsudan gehen ins Leere, weil China gegen mögliche Sanktionen oder den Einsatz von effizienten Friedenstruppen als UN-Vetomacht stimmt.

Dafür sind vor allem wirtschaftliche Interessen ver-

antwortlich, ist doch China der wichtigste Erdöl-Bezieher sowie größter Investor im Südsudan. Diese ökonomische Interessenslage erklärt die politische Unterstützung Pekings für die Regierung in Juba, der Hauptstadt des Süd-

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sudan. Das Land ist ein Beispiel dafür, wie sich durch die Vernetzung wirtschaftlicher, politischer und ethnischer Einflussfaktoren ein Szenario furchtbarer kriegerischer und struktureller Gewalt bilden kann.



Fallbeispiel Kongo

Der Rohstoffreichtum des Kongo hat sich als Fluch erwiesen. Zuerst wurde der Kongo von der Kolonialmacht Belgien ausgebeutet. Ende der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts beschloss der belgische König Léopold II. im Herzen Afrikas einen besonders großen und rohstoffreichen Privatbesitz (!!!) zu erwerben – nämlich den Kongo, in dem das Mutterland Belgien 75 Mal hineinpasste. Erst 1908 wurde der Status des Kongo verändert – vom Privatbesitz der belgischen Könige zu einem Staat mit einer eigenen Regierung. Sehr bald nach der Unabhängigkeit des Kongo im Jahr 1960 wurden vor allem in den rohstoffeichen Provinzen Katanga und Kasai fast ohne Unterbrechung Kriege geführt, die bis heute andauern. Ausländische Großmächte wie die USA, die – neben Belgien – an den üppigen Rohstoffvorkommen interessiert waren, unterstützen politische Rebellionen, um ihnen genehme Politiker an die Macht zu putschen. So wurde der legendäre Premier und Kämpfer für die Unabhängigkeit Patrice Lumumba im Jahr 1965 mit CIA-Hilfe vom korrupten Armeechef Joseph-Désiré Mobutu entmachtet. Dieser verwandelte den Kongo in einen Selbstbedienungsladen für den eigenen Clan sowie für die ausländischen Unter-

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stützer. Beispielsweise sicherten günstige Schürfrechte ausländischen Konzernen hohe Gewinne. Dadurch erkaufte sich der Diktator die Akzeptanz des Westens. Nach dem Ende des Kalten Krieges endete die Mobutu-Ära – der Rebellenchef Laurent Kabila gründete 1997 die Demokratische Republik Kongo. Sehr bald nach der Machtübernahme Kabilas unterstützten die Nachbarstaaten Ruanda und Uganda neue Rebellionen. Es folgten Bürgerkriege in den rohstoffreichen Provinzen, und unterschiedlichste Rebellengruppen – einschließlich der Regierungstruppen – plünderten die Reichtümer des Kongo, wobei dieser Prozess bis heute andauert.

Der Kongo besitzt geradezu ein Füllhorn an strate-

gisch wichtigen Rohstoffen und wertvollen Metallen – der Bogen reicht von dem für die Herstellung von Handys und Laptops so wichtigen Coltan bis zu Diamanten, Gold, Kupfer, Kobalt, Uranium und Zinn. Trotzdem leben die meisten seiner Einwohner in Armut. Weniger als die Hälfte der Bevölkerung hat Zugang zu sauberem Trinkwasser, jedes siebte Kind erlebt seinen fünften Geburtstag nicht. Dutzende Rebellengruppen kämpfen im Ostkongo um den Zugang zu den kostbaren Rohstoffquellen, dabei zählen sexuelle Gewalt und die Rekrutierung von Kindersoldaten zu ihren Waffen. Die Rebellen fallen über Dörfer her und versuchen die Bewohner von ihrem Land zu vertreiben. Die dahinterliegende „Logik“ wird von der Sozialarbeiterin Thérèse Mema Mapenzi wie folgt beschrieben: „Wenn man eine Frau vergewaltigt, zerstört man sie und das heisst, dass man die ganze Familie zerstört“. So gibt es Fälle, wo Rebellen ganze Dorfgemeinschaften zwingen,

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bei einer Vergewaltigung zuzusehen und zu klatschen. Sie fordern u. a. Väter auf, vor den Augen aller ihre Töchter zu vergewaltigen. Wer sich weigert, wird getötet. Danach entführen sie die Frauen in die Wälder, machen sie zu Sexsklaven und lassen sie zugleich in den Minen Coltan, Gold und Kupfer schürfen. Diese perfide Verknüpfung von realer und struktureller Gewalt bedeutet maximale Ausbeutung von Menschen und Ressourcen und hohe Profite. Nicht nur diverse Rebellengruppen beteiligen sich an der Plünderung des Landes, sondern ebenso die korrupte Regierung der Familie Kabila. Diese These wird an Hand des folgenden Beispiels illustriert: 2009 wollte das kanadische Bergbauunternehmen First Quantum dem Staat der Demokratischen Republik Kongo die fälligen Steuern für den Kupferabbau in Höhe von 60 Millionen Dollar zahlen. Eine solche Steuerleistung ist für ein Land – so würde man vermuten –, dessen Einwohner durchschnittlich weniger als 500 Dollar pro Jahr verdienen, besonders nützlich. Die kongolesischen Steuerbehörden teilten dem Unternehmen jedoch mit, es solle dem Behördenchef vier Millionen bezahlen, der Regierung sechs Millionen und den Rest behalten. Als sich das Unternehmen weigerte, auf diesen Deal dreister Korruption einzugehen, wurde die Mine von der Regierung verstaatlicht und einem israelischen Bergbautycoon verkauft, der mit der Regierung eng befreundet ist. Korruption bildet – so die Schlussfolgerung – ebenso eine Variante struktureller Gewalt, weil die fehlenden Steuergelder u. a. bei der Bekämpfung von Not, Hunger, schlechter Schulbildung und mangelnder bzw. völlig unzureichender Infrastruktur im Gesundheitsbereich fehlen.

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Korruption hat jedoch zwei Seiten, weil das Geld, das die bestochene Regierung erhält, einer Quelle bedarf – und das sind im Kongo meist ausländische Bergbaukonzerne wie das Schweizer Unternehmen Glencore, das nicht nur Schmiergeldzahlungen in Millionenhöhe über Mittelsmänner „locker macht“, um begehrte Schürfrechte zu Dumpingpreisen zu erhalten, sondern zusätzlich die hohen Profite über Briefkastenfirmen im Steuerparadies Bermudas „steuerschonend“ veranlagt, wie die Enthüllungen der Paradise-Papers dokumentieren. Dabei steht die Formulierung „steuerschonend“ für eine verharmlosende Diktion einer moralischen Steuerhinterziehung. Der Name Glencore taucht mehr als 3.000 Mal in den Daten der Paradise Papers auf.

Diese ökonomische Plünderungsstrategie – politisch

ermöglicht und unterstützt durch korrupte Regierungen und lokale Rebellenführer – führt nach Angaben des UNKinderhilfswerks dazu, dass 4 Millionen Kinder im Kongo Waisen sind. Fast ein Viertel der kongolesischen Kinder ist untergewichtig. Hunger und die Folgekrankheiten sind bei Kindern für die Hälfte aller Todesfälle verantwortlich.

Historische Altlasten, massive wirtschaftliche Inter-

essen auf Grund des Rohstoffreichtums sowie politische Faktoren wie korrupte Regierungen, unterstützt und „angefüttert“ durch ausländische Bergbaukonzerne sowie Rebellengruppen, teilweise gesteuert von Nachbarländern wie Uganda, führen im Kongo – neben ethnischen und kulturellen Aspekten – zu einem Biotop realer und struktureller Gewalt. Dieses „kongolesische Biotop“ ist hauptverantwortlich für die Not und Perspektivlosigkeit der

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Mehrheit der Bevölkerung, wobei besonders bitter ist, dass der Kongo wegen des unglaublichen Reichtums an Bodenschätzen und Ressourcen ein Modell für eine prosperierende Entwicklung und damit auch für Frieden sein könnte.

Metamorphosen struktureller ökonomischer Gewalt Ohne Zweifel bildet eine kreative und wettbewerbsfähige Wirtschaft eine elementare Voraussetzung für Wohlstand, soziale Absicherung der Schwächsten und damit für Lebensperspektiven der Bevölkerung – all diese Faktoren sind ganz wesentlich für eine friedliche Entwicklung. Insofern sind gerechte und wettbewerbsorientierte wirtschaftliche Strukturen prophylaktische Maßnahmen für die Förderung und Erhaltung von Frieden.

Die Ökonomie ist jedoch „janusköpfig“ und kann

ebenso in unterschiedlichen Konfigurationen das Gegenteil fördern bzw. geradezu „produzieren“ – Gewalt, Ausbeutung, Hunger und vieles mehr. Diese Antinomie von Wirtschaft als zentrale Säule von Frieden bzw. als „Beschleuniger von Gewalt und Kriegen“ kann wie folgt exemplarisch illustriert werden: Eine blühende Rüstungsindustrie und ein prosperierender Waffenhandel sorgen nicht nur in den Herkunftsländern für hohe Profite, Arbeitsplätze und Wohlstand, sondern „fördern“ an vielen „Absatz-

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märkten“ Tod und Elend, weil dadurch Kriege und bürgerkriegsähnliche Konflikte noch effizienter und damit brutaler und menschenverachtender geführt werden können – denken wir nur an den aktuellen militärischen Konflikt im Jemen. Verstärkte Investitionen großer europäischer Konzerne in Afrika könnten ohne Zweifel einen wirksamen Beitrag zur Entwicklung der Infrastruktur und Wirtschaft in Afrika leisten. Gerade Afrika als ärmster und am schnellsten wachsender Kontinent benötigt Arbeitsplätze und damit Lebensperspektiven für die junge Bevölkerung. Wieviel „Luft nach oben“ in Bezug auf die Investitionsbereitschaft der deutschen Wirtschaft in Afrika vorhanden ist, betont der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller, wenn er kritisiert, dass von den rund 400.000 deutschen Firmen im Jahr 2017 nicht einmal 1.000 auf dem afrikanischen Kontinent aktiv sind. Investitionen haben jedoch ebenfalls einen antinomischen Charakter, weil sie nur dann hilfreich sind und einen Beitrag zu einer friedlichen Entwicklung leisten, wenn die Abgaben nicht in Steueroasen verschoben, sondern vor Ort ausbezahlt werden, Know-how für eine Veredelung von Rohstoffen transferiert wird und keine ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse geschaffen werden bzw. die Eliten in den afrikanischen Ländern bestochen werden, um günstig an die wertvollen Rohstoffe heranzukommen bzw. die Umwelt „staatlich toleriert“ zerstören zu können. Das Umweltdesaster im Nigerdelta in Nigeria in Westafrika kann als ein Beispiel

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für durch Bestechung der Eliten staatlich geduldete schwerwiegende Umweltsünden angeführt werden. Dafür ist ganz wesentlich der Ölriese Shell mit seinen ausgeprägten wirtschaftlichen Interessen zu Gunsten einer Gewinnmaximierung verantwortlich. Die Zerstörung der Umwelt im Mündungsgebiet des Niger war/ist so verheerend, dass es zu Unruhen in den ölverseuchten Gebieten kam. Nach einer im August 2011 veröffentlichten Studie des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) ist im Delta des Nigerflusses die Umweltzerstörung infolge lecker Pipelines und mangelnder Sicherheitsstandards so schwerwiegend, dass eine Sanierung der Region 25 bis 30 Jahre in Anspruch nehmen und Kosten von bis zu 1 Mrd. Dollar verursachen wird. Diese Antinomie zwischen Frieden und Gewalt, Entwicklung und Zerstörung ist – so lautet eine These dieses Beitrages – der Ökonomie immanent. Friedensarbeit bedeutet demnach (auch), nicht nur anhand von Fallbeispielen (vgl. Südsudan und Kongo) auf ökonomisch strukturelle Gewalt hinzuweisen, sondern ebenso deren globale Dimension transparent zu machen.

Wohlstand und Friedenssicherung



durch freien Handel?

In Zeiten der Globalisierung spielt der Handel eine entscheidende Rolle für Wachstum. Dieser wird durch

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Abkommen erleichtert. Im Kern geht es immer darum, möglichst viele Handelsbeschränkungen wie Zölle abzubauen und Standards im Industrie-, Dienstleistungs- und Umweltbereich anzugleichen.

Es wird von einer Win-Win-Situation aller Handels-

partner ausgegangen, und ohne Zweifel profitiert Österreich vom freien Welthandel, weil weit mehr als jeder zweite österreichische Arbeitsplatz vom Export abhängig ist. Wenn ein Warenaustausch zwischen Staaten auf gleicher ökonomischer Augenhöhe wie beispielsweise zwischen Österreich und Deutschland bzw. der EU und Japan erfolgt, gilt die von den Begründern der akademischen Volkswirtschaftslehre, Adam Smith sowie David Ricardo, aufgestellte These, wonach von einem freien Handel alle Beteiligten profitieren. Zu Zeiten von Smith und Ricardo, die ihre Thesen während der beginnenden industriellen Revolution aufstellten, war dieser Befund für England sicherlich zutreffend. Damals war England die führende technologische Wirtschaftsmacht und benötigte Absatzmärkte für die Massenproduktion zum Beispiel im Textilsektor. Ob damals tatsächlich alle Handelspartner Englands vom freien Handel profitierten bzw. der Handel tatsächlich so frei war, kann durchaus kritisch hinterfragt werden.

So illustrierte Ricardo seine These von den Vorzü-

gen des Welthandels für alle Beteiligten am Beispiel des damaligen Textil-Wein-Handels zwischen England und Portugal. Damals wurde Portugal von englischen Tuchwaren überschwemmt, und zwar so einseitig, dass es die offenen Rechnungen nur mehr mit brasilianischem Gold

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bezahlen konnte. Zur Zeit Ricardos war England die größte Seemacht der Welt, das britische BIP-Einkommen pro Kopf war zehnmal so hoch wie das portugiesische. Dazu kam, dass Portugal ein Protektorat Englands war. Vor diesem Hintergrund erweisen sich die von Ricardo gelobten freien Handelsbeziehungen zwischen England und Portugal als Mythos. Das Beispiel, das Ricardo zur Veranschaulichung seiner Theorie wählte, verdeutlicht bis heute die Grenzen der Freihandelsdoktrin. Durch die Arbeitsteilung „Wein gegen Textilien“, die Ricardo vorschlug, wurde Portugal auf die Weinproduktion „einzementiert“, während England von den Lernpotenzialen seiner innovativen Industrie profitierte. Ebenso machte die politische Abhängigkeit Portugals von England (Protektorat!) deutlich, dass dieser Handel zwischen ungleichen Partnern – politisch und ökonomisch – erfolgte. Bei einer derartigen Konstellation profitiert der stärkere Partner ungleich mehr vom „freien Handel“ als der schwächere, weil der stärkere die Regeln bestimmt und gegebenenfalls (einseitig) abändert. Diese Politik praktizierte England zu Zeiten Ricardos, beispielsweise mit den Navigation Acts, mit denen der Handel der englischen Kolonien in das Mutterland beschränkt wurde. Heute agieren die mächtigen Wirtschaftsräume wie die USA, China, Japan oder die EU ähnlich, vor allem in ihren Handelsbeziehungen zu den armen Ländern des Südens.

So könnte der von der EU propagierte Freihandel mit

Afrika die regionalen Märkte zerstören. Durch den Abbau der Zölle auf 86 Prozent der europäischen Importe würden afrikanischen Regierung auf Milliarden Euro Zollein-

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nahmen verzichten, gleichzeitig würden sich durch den Zollabbau die europäischen Waren verbilligen. Besonders dramatisch für die wirtschaftlich schwachen Märkte des Südens ist jene Variante von „freiem Handel“, wenn beispielsweise die EU oder die USA Exporte nach Afrika subventionieren und mit Billigprodukten die heimischen Märkte ungehindert überschwemmen. In Westafrika importierter Reis ist etwa billiger als lokal produzierter. Ein besonders einprägsames Beispiel bilden die Hühnerfleisch-Exporte der EU nach Afrika, die sich seit 2009 von 199.000 Tonnen auf 592.000 Tonnen verdreifacht haben.

Laut Angaben der Organisation Brot für die Welt kos-

tet europäisches Hühnerfleisch in Westafrika nur rund die Hälfte der Produktionskosten (etwa 1,80 €/kg) der lokalen Bauern. Auch Südafrika leidet unter den Geflügelexporten der EU und USA. Nachdem die USA drohten, alle Exporte aus Afrika zu stoppen, wenn sich Afrika weiterhin weigert, Geflügelprodukte aus den USA zu importieren, landen nun tonnenweise Hühner aus den USA in Afrika – mit allen verheerenden Folgen für die regionale Geflügelwirtschaft, deren Bauern in die Armut getrieben werden.

Konfigurationen globaler strukturell



ökonomischer Gewalt (veranschaulicht



am Boom von Soja und Palmöl)

Ein markantes Beispiel für strukturelle ökonomische Gewalt mit vielfältigen ökologischen und sozialen Folgen, die u. a. Hunger und Gewalt fördern, bildet der weltweite

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Boom der Sojaproduktion. Da die europäische Massentierhaltung, vor allem in Deutschland und Frankreich, in Bezug auf die verfügbaren Anbauflächen für Futtermittel überproportioniert ist, müssen Futtermittel für Nutztiere importiert werden, vor allem Soja. Sojabohnen werden auf riesigen Plantagen in Südamerika auf Flächen angebaut, die ehemals Tropenwälder waren. Es wird vor allem an Schweine, Geflügel und Rinder verfüttert, die, metaphorisch gesprochen, den Regenwald auffressen. Allein Brasilien hat 2011 33 Millionen Tonnen Sojabohnen exportiert. Gleichzeitig leiden rund 60 Prozent der Bevölkerung an Mangelerscheinungen, die auf schlechte Ernährung zurückzuführen ist. Während viele Brasilianer hungern, floriert der Sojaexport, der in Europa zu rund 80 Prozent an Nutztiere verfüttert und zu 10 Prozent für „Biokraftstoff“ verwendet wird. Die Regenwälder werden demnach nicht gerodet, um die eigene Bevölkerung zu ernähren, sondern für die Anlage riesiger Weideflächen für Rinder sowie Soja-Plantagen. Während vor allem die Großgrundbesitzer und Konzerne von der Exportstrategie „Soja“ profitieren, sind Vertreibungen von Kleinbauern Alltag – mit allen sozialen Folgen wie Landkonflikte, Arbeitslosigkeit und Armut. Nicht nur die sozialen, auch die ökologischen Konsequenzen sind schwerwiegend, weil u. a. artenreiche Regenwälder Monokulturen weichen müssen und das in den Regenwäldern gebundene Kohlendioxid in großen Mengen freigesetzt wird. Dadurch wird der Klimawandel „befeuert“, der beispielsweise in der Region südlich der Sahara oder in Ostafrika für Dürren und Hungersnöte maßgeblich verantwortlich ist.

Facetten ökonomisch-struktureller Gewalt

109

Das Beispiel veranschaulicht, dass die überproportionale Massentierhaltung in Europa sowie die Subventionierung von „Biokraftstoff“ die Soja-Produktion sowie den Export u. a. nach Deutschland und Österreich ankurbelt. Diese Produktions- und Handelsstrukturen implizieren ein strukturelles Gewaltpotenzial, weil primär die Ärmsten in Brasilien und indirekt in Afrika die Kosten zu tragen haben.

Die EU fördert „Biosprit“ – und damit Hunger und

Umweltzerstörung. Etwa verabschiedete die deutsche Bundesregierung 2006 das sogenannte Biokraftstoffquotengesetz, das die Mineralölwirtschaft verpflichtet, dem „schmutzigen“ Dieseltreibstoff bis zu zehn Prozent Diesel aus Pflanzenöl beizumischen. Da die heimischen Rapsfelder bei weitem nicht genug Mengen für die „Biosprit“-Produktion liefern, wird vor allem Palmöl nachgefragt. Dafür brennen u. a. in Borneo Torfmoore, um bewaldete Flächen zu roden und trockenzulegen. Es werden bis zu 8.000 Jahre alte Wälder gerodet, die bis zu 6.000 Tonnen Kohlenstoff pro Hektar speichern, also rund 50 Mal so viel, wie es ein Regenwald ohne Torfboden vermag. Durch die rücksichtslosen Abholzungen entweichen riesige Mengen an Treibhausgas. Das führt zu der absurden „Ökobilanz“, dass für jede in Deutschland durch Biodiesel eingesparte Tonne Kohlendioxid in Indonesien bis zu 30 Tonnen freigesetzt werden. Biodiesel aus Palmöl heizt die Erde auf. Es trägt dazu bei, dass die Gletscher schmelzen und der Strom der „Ökoflüchtlinge“ anschwillt. Mehr als 400 Lobbyisten der Agrarindustrie in Brüssel sorgen jedoch dafür, dass die Bioenergiepolitik der EU nicht geändert wird. Oft kommt es zu einem Joint Venture der Aus-

110

Josef Aff

beutung. Holzfirmen, deren Mutterkonzerne sich meist im Ausland befinden, erwerben bei der indonesischen Regierung Konzessionen, um edle Tropenhölzer zu fällen. Häufig entnehmen sie weit mehr Holz als zulässig und ruinieren den Wald. Dann wird der Boden für Palmölplantagen endgültig abgefackelt und die Gewinne aus den Abholzungen wertvoller Tropenhölzer um die Palmöleinnahmen potenziert.

Während der Nahrungsmittelkrise 2007/08 trieben

die explodierenden Weltmarktpreise für Nahrungsmittel 100 Millionen Menschen in den Hunger. Das US Landwirtschaftsministerium schätzt, dass die Biosprit-Produktion zu einem Drittel für die enormen Preissteigerungen bei Mais verantwortlich war. So gesehen produziert Biosprit (auch) nicht nur enorme Umweltschäden, sondern ebenso Hunger. Die Förderung der Biospritproduktion in der EU und die dadurch induzierte Nachfrage nach Soja und Palmöl führen u. a. zu    Vertreibungen von Kleinbauern in den Anbaugebieten der „Spritpflanzen“ in Brasilien, Indonesien, Borneo und anderswo,    zu einer Verknappung von Nahrungsmitteln und damit zu Hunger sowie    zu einem Anschwellen der Handelsströme, weil ja Soja und Palmöl von der EU importiert werden, und obendrein zu einem Umweltdesaster.

Facetten ökonomisch-struktureller Gewalt

111

Dieser Kreislauf verdeutlicht exemplarisch die Funktionsweise sowie die vielfältigen Auswirkungen globaler ökonomisch-struktureller Gewalt. Es wird deutlich, dass freier Handel bei näherer Analyse nicht immer frei ist, vor allem wenn er – wie zwischen der EU und den rohstoffreichen „Ländern des Südens“ – durch asymmetrische Machtverhältnisse bestimmt wird. „Freier“ Handel ist demnach kein „Selbstläufer“ für mehr Entwicklung, Wohlstand und damit für Frieden.

Plädoyer für eine um ökonomisch-strukturelle Aspekte erweiterte Friedensarbeit

Ohne Zweifel sind zentrale Ziele der klassischen Friedensbewegung wie die Abschaffung der Kriege, die Schaffung atomfreier Zonen, der Kampf gegen nukleare Aufrüstung sowie generell die kritische Beurteilung der Rüstungsindustrie nach wie vor wichtig – ebenso „traditionell“ erprobte Aktionen wie Ostermärsche, Antikriegstage oder Friedenslehrpfade. Die in Kirchen verankerten Friedensgruppen leisten häufig eine wertvolle Friedensarbeit, indem sie auf globale Missstände hinweisen oder vor Ort aktiv sind. Aktuell gibt es eine wachsende Vernetzung zwischen Gruppen der Friedensbewegung mit globalisierungskritischen Bewegungen, Umwelt-, Flüchtlings-, Bürgerrechts- und Eine-Welt-Gruppen, die ebenfalls begrüßenswert ist.

112

Josef Aff

Aus der Sicht des Autors wäre es jedoch überlegenswert, wenn in die „klassische“ Friedenserziehung der Friedensbewegung eine didaktisch aufbereitet Aufklärung über komplexe Formen struktureller Gewalt (verstärkt) integriert wird, wie sie in diesem Beitrag versucht wird. Pointiert formuliert wird die These vertreten, dass ohne elementare Kenntnisse der Zusammenhänge struktureller Gewalt, vor allem der ökonomischen Perspektive, eine realistische Friedenserziehung, die über Appelle und wohlgemeinten Hoffnungen hinausgeht, nur bedingt möglich ist.

In der Friedensarbeit ist anzuerkennen, dass funda-

mentalistische Positionen wenig hilfreich sind. Friedensstiftende Arbeit wird erst durch Einsicht in die Komplexität der Konfliktfelder und eine daraus resultierende Offenheit für Kompromisse möglich. Beispielsweise wäre es falsch, den freien Handel generell abzulehnen, wie das manche globalisierungskritische Aktivist_innen befürworten. Vielmehr geht es darum, den Handel fairer zu gestalten, also die Losung „free trade“ durch „fair trade“ zu ersetzen. Friedenserziehung bedeutet demnach, den Aktivist_innen zuzumuten, dass unsere globalisierte Welt sehr komplex ist und der Wunsch nach einfachen Antworten zwar verständlich, aber trotzdem wenig hilfreich für eine wirksame Friedensarbeit ist. Beispielsweise sind die Überlegungen für einen Marshallplan für Afrika des deutschen Bundesministeriums für wirtschaftliche Entwicklung komplex. Sie vermögen jedoch wertvolle Impulse und Strategien für eine Entwicklungsperspektive in Afrika zu eröffnen, ohne die eine nachhaltige Friedensperspektive für den ärmsten Kontinent unseres Planeten Rhetorik bleibt. Friedensarbeit

Facetten ökonomisch-struktureller Gewalt

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bedeutet jedoch ebenso, dass man sein eigenes Leben – Stichwort: ökologischer Fußabdruck, bewusster Konsum, reflektierter Umgang mit Mobilität – so gestaltet, dass es einen winzigen Mosaikstein zu einer gerechteren und damit friedvolleren Welt beiträgt – oder, pointiert formuliert, ein Stück Utopie vorwegnimmt. Der große italienische Philosoph Antonio Gramsci hat das Dilemma, in dem sich Aktivist_innen für eine gerechtere und friedvollere Welt befinden, sehr treffend beschrieben. Laut Gramsci benötigen sie den Pessimismus des Intellekts und den Optimismus der Tat.

Pessimismus des Intellekts ist mehr als nachvollzieh-

bar, wenn man über die vielen „Baustellen“ auf unserem Planeten Bescheid weiß, die – wie im Beitrag skizziert – in ihrer Vernetzung die Plünderung der Ressourcen, Armut, Hunger, Gewalt, Klimawandel und vieles mehr bedingen.

Optimismus der Tat steht jedoch für eine Haltung,

derzufolge Resignation nichts verändert. Daher kann nach dem Prinzip „Trotz alledem“ die Welt nur durch Einmischung und Engagement in Richtung mehr Gerechtigkeit und Frieden verändert werden.

Diese Grundhaltung, die vom Autor befürwortet wird,

beschreibt der große Lyriker Erich Fried so: Aber es kommt darauf an nicht nur klagend oder erstaunt den Kopf zu schütteln über diese Verbrechen sondern endlich etwas dagegen zu tun

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Josef Aff

Es kommt nicht darauf an Was man ist Moslem, Christ, Jude, Freigeist Ein Mensch der ein Mensch ist kann nicht schweigen zu dem was geschieht.

RUTH MATEUS-BERR

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GEFAHR VON WAHRHEIT

Der Beitrag zu diesem Buch umfasst einen kleinen Einblick in einen ganz persönlichen Zugang zum Thema Krieg und Frieden bzw. Frieden und Krieg und zur Gefahr von Wahrheit. Nach einem Diskurs über die Herkunft der Worte sowie ihre Bedeutung folgen Assoziationen zu Beiträgen der zeitgenössischen Kunst in Form eines philosophischen Gedankenspiels. Es geht dabei nicht um die Wahrheit einer Interpretation als vielmehr um die Absicht, Denkvorgänge auszulösen.

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Ruth Mateus-Berr

Herkunft & Dialektik Die Reflektion zur Herkunft und ursprünglichen Wortwurzel der Wörter „Frieden” und „Krieg” führte zu einem dialektischen Gedankenspiel: Kluge1 bemerkt in seinem Etymologischen Wörterbuch, dass es beachtenswert sei, dass erst das Germanische eine Bezeichnung für „Friede” hervorbrachte und dass es in den indogermanischen Sprachen keine gemeinsame Benennung für „Friede“, doch auch nicht für „Krieg“ gibt.

Dialektik bedeutet Beziehung zwischen ver-

schiedenen, sich auf der Suche nach dem Realitätsverständnis befindenden Elementen. „Dia“ bedeutet auf Griechisch soviel wie „durch“ in einem kommunikativen Sinn2. Genau diese Spannung, dass es sich nämlich um zwei Wörter handelt, die sich gegenseitig zu bedingen scheinen, möchte ich auf den folgenden Seiten diskutieren und Beispiele aus

1

1905: 124–125 

2

vgl. Dietrich & al, 2006: 263 

der zeitgenössischen Kunst hierzu finden. John Kelly (2013) schrieb in seinem Artikel Root causes – Peace and Conflict, dass die Linguistik unser Verständnis der Realitäten eines Konflikts zeigt und uns hilft, Frieden wertzuschätzen. Zudem hilft die Etymologie, Geschichten über die Worte zu finden, und sie zeigt, wie Konflikte unterschiedlich verstanden und konstruiert werden. Was verbirgt sich hier symbolisch hinter den Worten? Und welche Symbole haben unterschiedliche Kulturen hierfür? Wie hängt Sprache mit Konflikt zusammen?

Gefahr von Wahrheit

117

Sind Krieg und Frieden Wörter des Gegensatzes oder der gegenseitigen Bedingung? Ohne Frieden kein Krieg und ohne Krieg kein Frieden, so scheint es. Der Aufruf Georg Büchners (1813–1837) „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ war eine Kampfansage gegen die Reichen und wurde zur Parole und zum Motto seiner radikaldemokratischen Kampfschrift Hessischer Landbote (1834). Er übernahm hierbei jedoch die Losung der Französischen Revolution von 1789: „Guerre aux chateaux! Paix aux chaumières!“ und drehte einfach die Reihenfolge um. Wiewohl trägt es an Bedeutung, welches Wort zuerst genannt wird und Schwingungen in uns erzeugt: ein Schlachtruf oder ein Mahnruf zum Frieden. Im Rahmen sämtlicher Symposien zum Thema Frieden entstand das Buch Friedensdiskurs aus verschiedener weltanschaulicher Sicht, herausgegeben u. a. vom Universitätszentrum für Friedens-

wie sie in der biblischen, rabbinischen und späten Literatur verwendet wird3. Dass aber der Friede etwas anderes als Nicht-Krieg sei und werde, dazu gehört kausale wie erst recht finale Aufklärung ohne Unterlass – laut Ernst Bloch4.

4

net hiermit eine informelle Definition von „shalom“,

vgl. Friedensdiskurs, 1988: 90 

schöpferischen menschlichen Kräfte“ und bezeich-

3

nicht einfach die Abwesenheit von Krieg, sondern „das Vorhandensein und stetige Wachstum aller

vgl. Brose, 1988 

forschung in Wien. Der Friede, der gesucht wird, ist

118

Ruth Mateus-Berr



Etymologie und Bedeutung:



Friede

Nach dem Etymologischen Wörterbuch von Kluge5 stammt das Wort „Friede“ von der germanischen Wortwurzel „fri“ (hegen, schonen). Schrader bemerkte in der Zeitschrift für Socialwissenschaft I, 3426, dass versippt, stammverwandt ein Mittelbegriff zwischen „lieb“ und „frei“ ist. Die Bedeutung „lieb“ wird laut Kluge durch die verfolgbare ältere Geschichte des Worts gesichert, nämlich gotisch: „frija“– wiederum herzuleiten aus dem vorgermanischen „priyó“. Das ist durchaus naheliegend, da im Altindischen die feminine Neigung des Adjektivs „priyá“ lautet und zugleich „Gattin und Tochter“ bedeutet. Auch im Altsächsischen steht das Wort „fri“ und im Angelsächsischen das Wort „fréo“ für „Weib“. Im Altslovenischen bedeutet „prijaja“ (prijati) „beistehen“ und „prijatelji“ „Freund“. Das Wort „Friede“ gelangte zu seiner heutigen Schreibweise, abgeleitet

5

1905: 124–125 

6

vgl. Kluge, 1905: 124–125

vom Mittelhochdeutschen „vride“ und dem Althochdeutschen „fridu“, dem Altsächsischen „frithu“ und dem Angelsächsischen „freodo, fridu“. Im Gotischen war eigentlich nur Friedrich, eigentlich „Friedensfürst“ bezeugt und stand äquivalent zu „versöhnen“. Interessant hier zu erwähnen ist, dass die germanische Wortform „fripu“ das Suffix „pu“ wie das gotische „daupu-s“ enthält, das „Tod“ bedeutet. „Pritu-s“ bedeutet Friede und stammt aus der indogermanischen Wurzel „pri“.

Gefahr von Wahrheit



Etymologie und Bedeutung:



Peace

119

Das Wort „Peace“ ist in der englischen Sprache seit der Mitte des 12. Jahrhunderts bekannt und bedeutete ursprünglich „freedom from civil disorder (Freiheit von bürgerlicher Unordnung)“. Das Wort dürfte über das Anglo-Französische „pes“, Alt-Französische „pais“: „peace, reconciliation, silence, permis sion“ aus dem Lateinischen „pacem“: compact, agreement, treaty of peace, tranquility, absence of war7 entsprungen sein. Das lateinische Verb „pacisci“ bedeutete soviel wie: verhandeln, einen Pakt schließen. Laut Harper8 ersetzte das Wort „peace“ das Alt-Englische „frið“ und „sibb“, was soviel wie Glück bedeutete. Die Entwicklung zum heutigen „peace“ beschreibt er vor allem durch die Lautverschiebung im 15. Jahrhundert. Im 12. Jahrhundert verstand man darunter etwa Peace of mind; es wurde auch in unterschiedlichen Grußformen seit dem 13. Jahrhundert angewandt. Im Latein der Bibel finden wir „pax“ im Griechischen „eirene“. Nach Harper wurden diese beiden Worte hier verwendet, um dem hebräischen Begriff „shalom“ in der Bedeutung von safety, welfare, prosperity Ausdruck zu verleihen.

gewiesen werden kann, und Beendigung von Krieg oder Feindschaft meinte.

7/8

von Stille quiet, die ab dem 13. Jahrhundert nach-

Harper, 2017

Des Weiteren beschreibt Harper die Bedeutung

120

Ruth Mateus-Berr

Hainamoration, eine Dialektik „Friedenschluss“ wird beschrieben bei Plutarch, in der Biografie über Caius Martius Coriolanus, und auch in The Tragedy of Coriolanus, einer Tragödie von William Shakespeare9. Dieses Stück beschreibt zeitgenössische Politik besser als viele andere, mit ihrer Strategie, Menschen in verschiedene Klassen aufzuteilen (arm vs. reich), was zu einer Erstarrung und sozialer Immobilität führt. Folgendes Zitat von Marcius wurde ausgewählt zur Veranschaulichung der inneren Zerrissenheit des Menschen: Marcius. He that will give good words to thee will flatter Beneath abhorring. What would you have, you curs, That like nor peace nor war? The one affrights you, The other makes you proud. He that trusts to you, Where he should find you lions, finds you hares; Where foxes, geese; you are no surer, no, Than is the coal of fire upon the ice Or hailstone in the sun. Your virtue is To make him worthy whose offence subdues him, And curse that justice did it. Who deserves greatness Deserves your hate and your affections are A sick man’s appetite, who desires most that Which would increase his evil. He that depends Upon your favours swims with fins of lead,

9

1608: 8

And hews down oaks with rushes. Hang ye! Trust ye? With every minute you do change a mind And call him noble that was now your hate,

Gefahr von Wahrheit

Him vile that was your garland. What´s the matter That in these several places of the city You cry against the noble Senate, who, Under the gods, keep you in awe, which else Would feed on one another? What´s their seeking? In diesem Ausschnitt wird der unendliche Konflikt, der sich in allen Gesellschaften wiederholt, vortrefflich angesprochen: Die Ambivalenz der menschlichen Eigenschaft, nämlich die Sehnsucht (desire) nach Frieden und das Evozieren von Krieg. Ralph Fiennes produzierte 2011 einen Film über The Tragedy of Coriolanus, der keinen Satz der Originalversion veränderte, aber laut Slavoj Žižek (2011) einen interessanten Standpunkt vertritt, den er im Artikel Sign of the New Statesman beschreibt: Fiennes stellt Coriolanus hier als radikalen Linken dar, indem er ihn zuerst in einen ganz anderen geopolitischen Kontext transferiert. Žižek beschreibt in diesem Kontext das post-jugoslawische Trauma.

Verantwortung der Künstler_innen für den Frieden Im Artikel Sign of the New Statesman gibt Žižek den Künstlern (Poeten) die Schuld, die „den Samen des aggressiven Nationalismus geprägt hätten“ im Sinne Hegels: „silent weaving of the spirit“. Hier werden im Untergrund ideologische Koordinaten – für das

121

122

Ruth Mateus-Berr

öffentliche Auge unsichtbar – verändert, anschließend explodieren sie, und jeder ist überrascht. Žižek beschreibt hier die politische Dimension des künstlerischen Ausdrucks und überträgt sie neben Jugoslawien ebenso auf die politische Situation in Ruanda, wo der Journalist Hassan Ngeze Tutsi-Hasspredigten über die Zeitung Kangura verbreitete, und lässt auch das Naziregime in Österreich nicht aus (wo bereits Karl Kraus im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg über Deutschland gesagt hatte,

10

vgl. Shakespeare: alle Organe werden gegen den Bauch/Magen aufgehetzt 

11

2008: 487

dass das Land der Poeten und Dichter zu einem Land der Richter und Henker geworden war). Bei Coriolanus ergreift Menenius Agrippa die Rolle des Hetzers, indem er beispielsweise eine politische Metapher verwendet10, der eine „träge Oligarchenposition“ einnimmt. Die armen einfachen Menschen werden angesprochen und sollen empowert werden. Slavoj Žižek11 vergleicht hier Agrippa mit Che Guevara (1967): „Hatred is an element of struggle; relentless hatred of the enemy that impels us over and beyond the natural limitations of man and transforms us into effective, violent, selective and cold killing machines. Our soldiers must be thus; a people without hatred cannot vanquish a brutal enemy.“

Diese Beispiele zeigen, dass der Mensch zum

manipulierten Objekt wird und die Sprache und/ oder der Text wesentliche Bedeutung tragen. Aber der Mensch ist nicht bloß Opfer, sondern trägt Eigenverantwortung. Machthaber und „Führer“ beeinflussen jedoch selbstverständlich das Verhal-

Gefahr von Wahrheit

123

ten der Bürger_innen und ihrer Soldat_innen. Egal von welcher politischen Seite die Gefahr droht, es geht hier um die Achtsamkeit und um die Frage der Verantwortung der Künstler_innen im politischen Kontext von Krieg und Frieden. Žižek sieht hier das Christentum als verantwortlichen und erklärenden Hintergrund, der beides miteinander vereint, wie auch Kierkegaard oder Lacan dies mit der sogenannten „Hassliebe“ beschreiben. Liebe ist – nach Žižek – eine Form der Gewalt. In seinem Buch Violence schreibt er sogar: „All is war.“12, und die Soziologin und Anthropologin Niza Yanay13 schreibt: „The persistence of war (or prejudice and hatred) is a signification of a symptomatic reality or a world where desire has become the nodal point of ideology“.

Heute wird vor allem den Journalist_innen und

Medien (mitunter auch berechtigt) vorgeworfen, Hasspostings zu evozieren. Bereits ab den 1980er Jahren beschrieb Sam Keen, der amerikanische Philosoph und Autor von Faces of the Enemy. Reflections of the Hostile Imagination, wie die Konstruktion von Feindbildern funktioniert. Nach dem Soziologen Frank Furedi erfinden Menschen Feind-

onen unterschiedlicher Parteien und Nationen in verschiedenen Zeiten, ähnlich wie es Ruth Wodak in ihrem Buch The Politics of Fear dokumentiert:

13

die bildlichen Darstellungen von Feindkonstrukti-

Žižek, 2009: 29 

in Hand geht mit der Angst. Er untersuchte vor allem

12

zeln von Feindschaft und Hass, was wiederum Hand

2013: 46

bilder. Keen untersuchte die psychologischen Wur-

124

Ruth Mateus-Berr

Hier analysiert sie die angewandten Strategien der rechts-populistischen Parteien und zeigt jene Muster auf, die Angst mit der bewussten Verwendung von falscher Information und fantasierten Bedrohungen schüren.

Humor und Ironie Die 2006 in Ungarn gegründete, sogenannte DogParty (Magyar Kétfarkú Kutya Párt; MKKP) beispielsweise versucht mit Humor und Ironie die politische Elite mittels Street Art zu parodieren. Sie verspricht etwa: ewiges Leben, Weltfrieden, einen Arbeitstag pro Woche, zwei Sonnenuntergänge in verschiedenen Farbschattierungen pro Tag, reduzierte Schwerkraft, Freibier und geringere Steuern, um auf leere und vor allem populistisch intendierte Versprechen anzuspielen.

Das Böse aus der Welt schaffen Eine berühmte talmudische Geschichte über den

14

Klapheck, 2014: 102

Versuch, das Böse aus der Welt zu schaffen, kommt zu dem Schluss, dass dies nicht möglich ist, sondern es vielmehr darum geht, sich „dem Leben, den sozialen Beziehungen, dem ethischen Verhalten zum Guten hin dienstbar zu machen“14. Nathan der Weise löst bei Lessing diesen dualistischen Konflikt in

Gefahr von Wahrheit

der Ringparabel. Dieses Tertium comparationis (auf eine andere Situation übertragbar) erzählt von einer Vaterliebe, die drei gleich geliebte Söhne mit drei gleichen Ringen beschenken möchte, und ebenso über die in Folge entstehenden Konflikte um das wirkliche Erbe. In der Ringparabel sind beispielsweise die monotheistischen Buchreligionen gemeint. Diese „bekriegen sich“ nach einem Friedensschluss. Auch wenn Friede und Liebe das Ziel war, provozierten die drei Opalringe Krieg um Eigentum und Erbe, und viel entscheidender eigentlich: Liebe.

Beispiel zeitgenössischer Kunst zum Thema Frieden und Krieg

DIE GLOCKE. Schiller und Hiwa K.

Friedrich Schiller beendet sein berühmtes Gedicht von der Glocke mit einem Friedenswunsch, nachdem er zuerst den Kampf im Leben beschreibt und mit der handwerklichen Praxis des Gießens einer Glocke vergleicht. Die Glocke tauft er Concordia und beendet das Gedicht mit „Freude dieser Stadt bedeute/Friede sei ihr erst Geläute“.

Die von Okwui Enwezor kuratierte Biennale

Venezia 2015 zeigte die Arbeit des irakischen Künstlers Hiwa K. Ausgestellt wurde ein Glockengießverfahren, jedoch wesentlich hierbei waren die Herkunftsmaterialien für den Guss: Hier wurden

125

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Ruth Mateus-Berr

sämtliche Metalle, die von Waffen der Kriege Irak– Iran (1980–1988) und den beiden Golfkriegen (1991, 2003) gesammelt worden waren, verwendet: Minen, Bomben, Kugeln, ja sogar Teile von Flugzeugen oder Panzern. Der Hauptdarsteller Najad15, ein kurdischer Unternehmer, stellte daraus, um überleben zu können, und schließlich aus Leidenschaft, Metallbarren her und wurde mit dieser Produktion sehr vermögend. Dinge des Krieges werden Dinge des Lebens. Der Beitrag der Biennale dokumentiert den Produktionsprozess einer Kirchenglocke für eine italienische Kirche aus eben diesen Barren.

In der Geschichte wurden immer wieder

Kirchenglocken eingeschmolzen für Waffen, aber hier zeigen sich auch Reversfunktionen. Hinzu kommt, dass diese Glocke für einen umfunktionierten Kirchenraum (San Matteo) als Art Space dysfunktional, als überdimensionales Kunstobjekt und nicht für einen tatsächlichen religiösen Raum produziert wurde. Ebenso wird der Weg der Materialien sinnbewusst dokumentiert: Der Text Aus dem Nahen Osten nach Europa. Biennalekritik16 beschrieb die Arbeit

15

vgl. Szylak, 2015 

16

N. N., 2015

als „a sense of catharsis with the resounding peal of the bell“ („eine Art Katharsis durch widerhallende Klänge der Glocke“, Übersetzung der Autorin).

Die theologische Bedeutung des Glockenge-

läuts unterscheidet „weltliches und sakrales Geläut“: sakral = zu liturgischen und gottesdienstlichen Zwecken, weltlich = Zeitangabe mit Stundenschlag. Das Schlagen der Uhrzeit geht bis auf das Mittelalter zu-

Gefahr von Wahrheit

127

rück, als die meisten Menschen noch keine Uhr besaßen und sozusagen von der Turmuhr ausgehend ihr Zeitgefühl und ihre Zeiteinteilung ableiteten. Gleichzeitig wird es jedoch selbst weltlich als liturgisches Zeichen von Vergänglichkeit und Ewigkeit umgedeutet. Ansonsten rufen die Glocken zum Gebet (Angelus domini – katholisch, Bet-Läuten – evangelisch), das 12-Uhr-Mittagsläuten wurde etwa von Kaiser Karl V. zur Zeit der großen Türkengefahr 1529 als Gebets-Läuten um den Frieden in der Welt und um Abwendung der Türkengefahr eingeführt, die Glocken rufen zum Gottesdienst, läuten den Morgen, den Abend, den Sonntag ein, und letztendlich läuten die Glocken für diejenigen, für die „die letzte Stunde geschlagen hat“. Sie läuten, um auf die Hungerkatastrophe in Afrika hinzuweisen oder beim Pontifikatswechsel. Glocken läuten immer wieder auch für konkrete gesellschaftliche und politische Ereignisse17.

Wenngleich die Kirchen dieser Welt allesamt

zum Gebet oder zur Andacht und zum inneren Frieden aufrufen, haben doch Religionen Kriege geradezu provoziert durch einen Machtkampf um das einzig Wahre und Richtige.

Im Rahmen des Projektes MORE, bei dem Flüchtlinge im Wintersemester 2016/17 in Vorlesungen der Universitäten involviert werden sollten, hielt Ruth

vgl. Wuthe, 2017

Politics of Fear Collective

17



128

Ruth Mateus-Berr

Mateus-Berr eine Lehrveranstaltung mit dem Titel: Politics of Fear ab, die das Ziel hatte „Zuhören als künstlerische Praxis“ zu etablieren. Die Gruppe der interessierten Studierenden erweiterte sich, und man beschloss 2016 ein Kollektiv zu gründen18, das aus Lehrenden (Ruth Mateus-Berr, Martin Färber, Christina Schraml) und Studierenden besteht. Bei Thyssen Bornemisza/TBA 21 veranstaltete die Gruppe einen Event mit einem Zaun, der mit Tischen und Bänken durchbrochen wurde, und bei dem Ängste und Hoffnungen als Gedanken und Texte von Passant_innen eingesammelt wurden. In Linz wurde in Kooperation mit der Gesellschaft für Kulturpolitik Oberösterreich und dem Architekturzentrum in Linz (afo) ein Projekt auf dem Herbert-Bayer-Platz gezeigt, bei dem aus einer Art Kaaba orientalische Töne erklangen und man im Inneren über Ängste diskutieren und dazu Plakate gestalten konnte. In weiterer

18

pofcollective.wordpress.com 

19

www.tr-aders.eu

Folge wurde das Projekt mit unterschiedlichen Performances 2016 im Rahmen der Cumulus Design Konferenz in Hongkong, bei der 14. Participatory Design Conference in Aarhus, Dänemark oder im Rahmen der Konferenz MEDIATIONS am Royal College of Art (organisiert von TRADERS19) sowie 2017 im Kunsthaus Wien im Rahmen der Ausstellung No Hope No Fear: Projekte zu Mut und Unerschrockenheit und im Rahmen des Workshops Courage for Democracy in Hasselt/Z33 gezeigt. Das Kollektiv geht kritisch wie ironisch der Frage nach, wer hier eigentlich wem Angst machen möchte. Längst gilt

Gefahr von Wahrheit

129

es, Stärken zu bündeln, neuen Mut zu fassen, diesen als eine demokratische Tugend wiederzuerobern. Das Kollektiv brachte „Courage“ in die Garage des KUNST HAUS WIEN, involvierte sich und das Publikum, hatte eine beunruhigende Bibliothek der Angst angelegt und weiß, dass Mut nie bedeuten kann, furchtlos zu sein. Ganz im Gegenteil: Die Ausstellung forderte zu Mutproben heraus, und sie gab zu verstehen, dass man Hasskampagnen künstlerisch begegnen muss.

Zusammenfassende Worte Hannah Arendt20 schrieb über das Verhältnis von Politik und Moral, im Andenken an den Pazifisten Judah Leon Magnes: „Die alte jüdische Legende von den 36 unbekannten Gerechten, die immer da sind und ohne deren Anwesenheit die Welt in Scherben fiele, sagt letztlich darüber etwas aus, wie notwendig solch ‚edelmütiges‘ Verhalten beim normalen Gang der Dinge ist. In einer Welt wie der unseren, in welcher die Politik in einigen Ländern es längst nicht mehr bei anrüchigen Seitensprüngen beläßt, sondern eine neue Stufe der Kriminalität erklommen hat, hat jedoch die kompromißlose Moralität plötzlich

zur von Verbrechen entstellten und im Grunde nur

20

den, mit dem die eigentliche Realität – im Gegensatz

1948: 687

ihre alte Funktion, bloß die Welt zusammenzuhalten, verändert und ist zum einzigen Mittel gewor-

130

Ruth Mateus-Berr

kurzlebigen Faktizität – erkannt und planvoll gestaltet werden kann. Nur diejenigen, die noch in der Lage sind, sich nicht von den Nebelschwaden beirren zu lassen, die aus dem Nichts fruchtloser Gewalt hervortreten und sich wieder dorthin verflüchtigen, können mit so gewichtigen Dingen wie den ständigen Interessen und der Frage des politischen Überlebens einer Nation betraut werden.“

Bei den Sprüchen der Väter (Pirkej Awot) heißt

es: „Auf drei Dingen beruht die Welt, auf Recht, auf Wahrheit und auf Frieden“21.

Vielleicht gilt es, den Begriff der Wahrheit zu

rekapitulieren. Die Entdeckung, die jeder nach Heinz

21

Rabban Schimon ben Gamliel: 1, 18 

22

1993: 26 

23

Förster & Pörksen, 2008

v. Förster22 für sich selbst machen muss, drückt er wie folgt aus: „Die Umwelt, die wir wahrnehmen, ist unsere Erfindung, unser Konstrukt und Der Erfinder der Wahrheit ist ein Lügner“23. Wir schaffen selbst Bilder von Menschen und Dingen und Vorurteile gegenüber anderen. Genau zuhören, Konstrukte der anderen verstehen lernen, Gefühle und Sinneseindrücke für andere nachvollziehbar machen, ist durch künstlerische Medien, Zeichen und Symbole oft leichter übersetzbar als mit Sprache allein. Dies ist eine eigene Form der Sprache, die Sprache der Kunst, die sich üben muss im kritischen Diskurs, in der Verantwortung, diejenigen Positionen einzunehmen, die andere nicht wählen oder wagen, in diesem Fall für den Frieden.

Der Designer Mirko Ilic eröffnet seinen Vor-

trag The Design of Dissent am 21. März 2018 an der

Gefahr von Wahrheit

Moholy-Nagy University of Art and Design Budapest (MOME) damit, dass er junge Designer_innen dazu auffordert, aus Wut, Frustration, Verdrossenheit, Unterdrückungsgefühlen nicht Palaver, sondern Kunst zu produzieren.

131

132 Arendt, H. ([1948] 1991), Frieden oder

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KONRAD RENNERT

135

KUNST UND NIEDERTRACHT

Wir Kinder im Österreich der 1950er und 1960er Jahre sind in einer Gesellschaft aufgewachsen, die uns suggerieren wollte, Krieg sei etwas Exotisches, Entferntes, etwas für uns Überwundenes. Wollten uns die Erwachsenen bewusst täuschen?

136

N

Konrad Rennert

ein, sie täuschten sich selbst. Es herrschte eine Form kollektiver, beleidigter Autoanästhesie. Wenn die Welt unseren Beitrag zum arischen Heil partout

nicht haben wolle, dann müsse sie eben ohne ihn auskommen. Und wir ohne sie. Wir kämen auch so zurecht. Wir hatten genügend potenzielle Staatenlenker: Wir konnten

sie zu Dutzenden aus den Kerkern der Nationalsozialisten herausholen – brave Sozialisten genauso wie aufrechte Austroklerikalfaschisten (von welchen mancher im Gefängnis tatsächlich gelernt hatte zu reden anstatt zu schießen) – und schon fühlten wir uns rehabilitiert! Freilich waren wir aus dieser Weltkatastrophe nicht ganz unbeschadet hervorgegangen: Wir haben auch unsere massiven blauen Hämatome davongetragen, die sich, an ihren Rändern zuweilen schwärzlich, rötlich, da und dort auch grünlich, immer aber braun verfärbt, bis in die heutigen Tage als chronisch erwiesen haben. Doch damals kümmerte uns das nicht so sehr, dass wir wirklich effektiv Konsequenzen zu ziehen bereit gewesen wären. Vergangenheit, Krieg und institutionalisierter Massenmord wurden ausgeblendet. Wir waren mit Wichtigerem beschäftigt, nämlich mit unserer Zukunft!

Wir hatten fleißige „Trümmerfrauen“ en masse, die

das Chaos, das sie selbst und ihre Männer und Söhne unter Einsatz ihres Lebens verschuldet hatten, aufräumten und die wir für die Legende über den „Wiederaufbau aus eigener Kraft“ gut missbrauchen konnten. Diese Geschichte mit dem Marshall-Plan, der immensen, beispiellosen Unterstützung durch die Alliierten, die Deutschland und Österreich letztendlich an die Spitze der reichsten

Kunst und Niedertracht

137

Länder der Welt zu katapultieren half, war schnell vergessen, da für unser Selbstverständnis hinderlich.

In einer Zeit, in welcher furchtbare Kriege in Afrika,

in Südamerika oder in Südostasien tobten, waren wir – womöglich ein wenig erstaunt, dass einmal nicht wir auf der Verursacherseite standen – damit beschäftigt, unsere kleine, unschuldige Welt wieder heilzumachen. Wenig kümmerte uns, was da draußen vor sich ging. Wohl waren Zeitungen abseits der österreichischen Bunt- und Schundblätter da oder dort erhältlich, wohl gab es auch in unserem kleinen Liliput die Möglichkeit, an ausführlichere Informationen aus der großen, weiten Welt zu gelangen, doch hinterließen solche Nachrichten nach der Wahrnehmung des jungen Buben aus der Rückkehrerfamilie und auch im Rückblick keine tiefen Spuren im Bewusstsein der hiesigen Bevölkerung.

Es schien ein großer Konsens zu herrschen in den

Jahrzehnten nach Ende des zweiten großen „verlorenen“ Krieges – allgemein gerne auch als „Zusammenbruch“ charakterisiert –, ein Konsens unter jenen, die ihn überlebt hatten. Alle hier hatten ihn überlebt – die anderen, die Toten, konnte und musste man glücklicherweise nicht mehr befragen. Auf deren Einschätzung der Situation brauchten wir also keinen Wert mehr zu legen. Was vergangen sei, verdränge man besser. Es gebe keine Probleme, die nicht gelöst werden könnten; in unseren Breiten wisse man sehr gut, wie mit Bedrohungen, wie mit Meinungsverschiedenheiten umzugehen. Ein bisschen Lavieren, ein wenig Unschuldslamm, ein Alzerl Charme: Uns war ja sogar gelungen, uns aus der nationalsozia-

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Konrad Rennert

listischen Begeisterung und der Mitschuld an der Zerstörung der halben Welt herauszureden. So gründlich, dass wir es nicht als notwendig erachteten, die Abertausenden aktiven Nazis in unserer Mitte zur Rechenschaft zu ziehen, die nach kürzester Zeit fast vollzählig wieder auf ihren Posten saßen: Die Blutrichter, die Euthanasieärzte, die KZ-Mörder, die unzähligen beamteten Schreibtischtäter, die Massen von Nachbarschaftsdenunzianten und -denunziantinnen und die Lehrer. Letztere ließen wir dann noch jahrzehntelang mit ihren giftigen Ausflüssen und mit totalitärer Härte und Grausamkeit die Hirne und Herzen der Nachkriegskinder kontaminieren.

Ja, der Kalte Krieg war in anderen Weltgegenden ein

durchaus heißer, realer und mörderischer. Und auch in unserem kleinen Land am Rande Westeuropas verspürten wir die permanente Anspannung, die allgegenwärtige Bedrohung durch das ins Surreale ausufernde Wettrüsten, eine Bedrohung jedoch, mit der wir offenbar gelernt hatten umzugehen – mental wie politisch. Auch wenn wir uns immer wieder sorgten, wie dieser oder jener Konflikt zwischen Ost und West jemals gelöst werden könne, hatten wir uns an die Hoffnung gewöhnt, dass es zumindest in Europa nicht zum Schlimmsten kommen würde. Spätestens seit Ende der Kubakrise hatten wir trotz augenscheinlicher Unberechenbarkeit mancher der Protagonisten Vertrauen in das Augenmaß der weltpolitisch maßgeblichen Personen. Trotz in ihrem Verhalten nicht abschätzbarer Politiker, trotz undurchsichtiger Situation hinter dem Eisernen Vorhang wollten wir uns in Sicherheit wiegen. Trotz mannigfacher Unwägbarkeiten, dort auf der östlichen Sei-

Kunst und Niedertracht

139

te der großen Barriere, hatten wir es uns schon auch recht bequem gemacht in unserem kuscheligen Westeuropa.

Doch was war mit dem vielgefürchteten Roten Knopf,

durch welchen Ost oder West mit einem Handgriff den Atomkrieg auslösen konnten? Nun ja. – Aber stand nicht gleich daneben das berühmte Rote Telefon, vermittels dessen Ost wie West ihn sicher ebenso schnell in letzter Sekunde verhindern würden? Eben.

Das sind die Legenden des Atomzeitalters: verant-

wortungsvolle Politiker, die das Wohl des gesamten Erdballs stets im Blick behalten, die das jeweils rüpelhafte Gegenüber – sei es US-Präsident, sei es Staats- und Parteichef der UdSSR – zum Wohle der Menschheit besonnen und souverän in die Schranken zu weisen vermögen. Legenden, oder der erstaunlich naive und vertrauensselige Blick des kleinen Buben, der ich einmal war?

W

eit entfernt, im Normalfall tief unterhalb der Wahrnehmungsgrenze dieser großen Verantwortungsvollen, der wohlwollenden und

besonnenen Staatenlenker in Ost und West, die immer noch im letzten Moment die gegenseitige (und damit auch

die eigene) Auslöschung aufschoben und sich nach reiflicher Abwägung immer wieder doch noch einmal gegen den Untergang des Erdballs entschieden, lag die Kunst: Wenn nicht gerade zu Propagandazwecken oder aber zur persönlichen Erbauung der Potentaten abkommandiert, schien für diese die Bedeutung künstlerischen Schaffens weit in den Hintergrund zu rücken. Doch für uns andere, Junge, Kinder, mit großen Augen und Ohren Staunende,

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Konrad Rennert

noch Suchende, für jene, die sich ihres Suchens noch nicht zu schämen gelernt hatten, war die Rolle, die Funktion dieses Zaubers, die wir erst später lernten Kunst zu nennen, nicht festzumachen. War sie Flucht? Ausflucht? Zuflucht? Handlungsanweisung? War sie Trost?

Für den kleinen Buben war sie Heimat. Die Familie

war der schützende Hafen, doch die Musik die innerste Heimat. Sie war ein Ort, den man nicht hinterfragen musste. Sie war eine Zufluchtsstätte, wo man nichts falsch machen konnte. Die Kunst – Literatur vom Vater vermittelt, Musik von der Mutter und den großen Brüdern vorgelebt – gab Sicherheit innerhalb einer traumatisierten, mehrfach entwurzelten Rückkehrerfamilie, die hier jedoch niemanden mehr vorgefunden hatte, zu dem sie zurückkehren hätte können. In einem als kalt und feindselig empfundenen Umfeld, dessen Spielregeln du zu begreifen suchtest, dachte niemand im Traum daran, auch nur das geringste Angebot, nicht die geringste Geste des Willkommens zu machen, uns auch nur ein winziges Hölzchen zuzuwerfen.



Wenn du aber zu Hause still unter dem Klavier lagst

und Mutter und Bruder erlebtest, wie sie mit manchen Unzulänglichkeiten, aber mit Inbrunst Schubert interpretierten, war alles gut. Du in deinem Kokon, in völliger Sicherheit. Die Musik unendlich großzügig, solange sie erklang; du konntest sie einfach nehmen, sie einatmen, durch die Poren deiner Haut sie verinnerlichen, zu einem Teil von dir machen. Sie trug den absoluten Frieden in dein Herz. Die spottenden Klassenkameraden, die mobbende Lehrerin, die die anderen Kinder zum Verächtlichmachen aufhetzte, die feindseligen Nachbarn und die drohenden, granitenen

Kunst und Niedertracht

141

Gesichter, die dir auf der Straße begegneten und dir sagen wollten, warte, dich erwischen wir auch noch, diese alle waren weit, weit weg; der tägliche seelische und emotionale Überlebenskampf des kleinen, schmächtigen vermeintlichen „Ausländerkindes“ für eine kurze Zeit abgeschaltet. Die Katastrophe der Shoah, die permanent hinter der großen, fröhlichen, freundlichen, zu Wissbegierde animierenden, aber oft auch schwermütigen Gestalt des Vaters hervorlugte, die familiäre Apokalypse, von der du noch wenig wusstest, jedoch vieles spürtest und ahntest, war in diesen Momenten weitgehend ausgeblendet.

Auch dem Vater selbst brachten solche kurze musi-

kalische Stunden sichtlich einen Hauch von Frieden. Die Kunst war Trost und Balsam in einer Zeit, in der dem kleinen Kind noch gar nicht wirklich klar war, wie sehr es ihn brauchen konnte. Sie war die größte vorstellbare, gute Macht.



Erst später erkannte ich, dass ich auch geben, mich

darum bemühen müsse, um aber umso reichhaltiger schöpfen zu können. Und noch später dämmerte mir, dass die Gestalten, die die meisten dieser Schubertlieder durchzogen, ebenso getriebene, heimatlose Ausgestoßene waren wie der Vater, dem es auch bis zu seinem Tode nicht mehr gelingen sollte, sich zugehörig zu fühlen.

Und wie aus dem Paradies vertrieben, stand ich bald

darauf benommen, als ich erkannte, dass auch sie, die Kunst, wenn sie es wirklich ernst meint – so wie wir alle, wenn wir es wirklich ernst meinen –, ewig gegen Windmühlen zu kämpfen verdammt ist.

142

A

Konrad Rennert

ußerhalb dieses Kokons unter dem Klavier, außerhalb dieser meiner eigentlichen, heimlichen frühkindlichen Heimat – wozu war die Kunst dort

draußen fähig? Was war ihre Funktion, wo ihre Grenzen? Wozu verstieg sie sich? Wie wenig ich doch damals begriff – doch war das Verständnis des jungen Buben nicht trotzdem ein tieferes, umfassenderes, weil unschuldigeres als das heutige, nach einem Leben voller zweifelnder

Gedanken, Teilerkenntnisse und resultierender weiterer Schleier und Unklarheiten? Was für eine Rolle hat die Kunst gespielt? War sie Spiegel? Illustratorin? War sie Mahnerin? Oder war sie Verstärkerin, Verbreiterin, Propagandistin der Despotie und Gewaltherrschaft? Erlangte sie auch dort draußen mitunter den Status einer mächtigen, vorantreibenden Größe – und in Händen der Skrupellosen vielleicht doch auch wieder nur jenen eines Schmiermittels für deren Eigennutz? Was aber formt aus ihr die Hand der Nachdenklichen?



Die Kunst war und ist wohl etwas von allem. In

hohem Maße war sie eine Gegenwelt, eine Parallelwelt, in welche man sich flüchten konnte, die Nachdenklichkeit beschwor. Sie hatte ebenso die Kraft, die Menschen massenweise zu den Fahnen zu rufen, der gewaltigen Macht der Kirche oder des Staates einschüchternd Ausdruck zu verleihen. Diese Fähigkeit und Funktion hat sie sich über die Jahrhunderte erhalten, ja in dem Maße, in der die Möglichkeiten immer einfacherer und weiterer Verbreitung gewachsen sind, ausgebaut.



Doch der Wert mancher Kunst war und ist auch im-

mer ein versteckter, ein defensiver. Und manchmal, selten

Kunst und Niedertracht

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genug, entzieht sich die Kunst jeder Kategorisierung, sie ist nicht offensiv, nicht defensiv, sie ist nicht einmal subversiv, sie lebt nicht von und rechtfertigt sich nicht durch äußere Ereignisse, sondern genügt sich selbst und führt ein eigenes Leben. Das ist vielleicht der Idealfall.



Wir sprechen hier über die Kunst, als wäre sie ein

Lebewesen, eines mit vielen Gesichtern. Einmal ist sie ein mächtiger Koloss, angesichts dessen es uns die Sprache verschlägt, und der uns überwältigen will; ein anderes Gesicht ist ein feingliedriges, das uns mit inquisitiver Miene entgegenkommt und uns auffordert, uns selbst unsere eigenen Fragen zu stellen; sie hilft uns, vielleicht eine Weile zu überleben, weil sie unter widrigen Umständen unseren Geist am Atmen hält. Und wieder ein anderes Mal ist sie eine zarte Pflanze, die nur aus sich selbst heraus und nur für sich selbst spricht, die es in Frieden zu lassen, zu beschützen und auch zu bestaunen oder zu beweinen gilt – im Falle, dass wir sie überhaupt erkennen.



Immer muss die Kunst auf der Hut sein, es braucht

nicht viel, und sie muss sich doch verstecken. In dem Maße, in dem der Missbrauch der Gewalt vonseiten der Mächtigen zunimmt, sucht sie sich Verstecke, nutzt Hohlräume, Blasen – oft von enormer Kraft und Reißfestigkeit –, um zu überleben. Sie ermöglicht auf diese Weise manchen ein Überwintern des Geistes in Zeiten, in welchen alles andere, als sich und den Seinen das rein physische Überleben zu erkämpfen, zum absoluten Luxus wird. Im besten Falle stählt sie die Widerstandskraft der Bedrängten – doch gegen Schwert und Brand kommt sie nicht an. Die Kunst – sei es die Dichtkunst, sei es die Musik oder

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Konrad Rennert

eine andere – erlangt für die Betroffenen einen hohen Stellenwert, eine enorme Bedeutung und wird von vielen der Wenigen, die die physische Gewalt letztendlich überlebt haben, als derjenige Aspekt identifiziert (und manchmal auch verklärt), welcher ihnen am meisten geholfen habe, die ansonsten unerträgliche Not und Bedrängnis zu überdauern.



Machen wir uns nichts vor. Auf nachhaltige Weise

war die Ausübung von Kunst kaum jemals ein wirksames Mittel, den Frieden zu fördern. Was Künstler – ob weiblich oder männlich – aber tatsächlich noch nie geschafft haben, war, den Krieg dauerhaft zu verhindern. Vielleicht war es möglich, da oder dort den offenen Ausbruch des einen oder anderen Konfliktes für kurze Zeit zu verzögern.

Unter günstigen Konstellationen erlangt die Kunst

eine gewisse Macht, Reflexion zu initiieren, uns zu nötigen innezuhalten, Fragen zu stellen: Was haben wir bloß angestellt? Und wie ehre ich – wenigstens im Nachhinein – die Opfer?



Viel öfter jedoch und viel unbekümmerter finden wir

die Kunst im Handumdrehen hier: Wie ehre und rechtfertige, oder wie übertünche ich die Handlungen der Täter und Täterinnen? Musik, Literatur, ja jede Kunst kann ein hervorragendes Vehikel werden, grauenhafte Vorgänge durch Verklärung und nachträgliches Heroisieren schönzureden und die Besiegten zu dämonisieren – im Vorfeld aber Angst vor den jeweils zu Ermordenden zu schüren.

Eine der wesentlichen und am häufigsten gebrauch-

ten ihrer Funktionen ist und war die Propaganda. Ob wir die menschenverachtenden Hetzkarikaturen des

Kunst und Niedertracht

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„Stürmer“ nun als pervertierte Ausformung von „Kunst“ hier dazurechnen wollen oder nicht, die große Aufgabe, die von den jeweils Mächtigen der Kunst zugedacht wurde, war – wie immer in großen, heroischen Zeiten – jene, die Täter, die Henker und Henkersknechte von der Wichtigkeit der für sie vorgesehenen Aufgabe zu überzeugen, um dann im Nachhinein ihre Mordtaten bei den Gedenkveranstaltungen von Kameradschaftsbünden, SS-Nostalgievereinen oder bei öffentlichen burschenschaftlichen Nazibeweinungsfeierlichkeiten und (selbstverständlich ganz privaten) musikalisch-fröhlichen Judenausrottungsliedertafeln et cetera pompös zu rechtfertigen.

U

m eine Gesellschaft in Richtung Krieg zu hetzen, brauchst du keine große Konzentration, sondern vor allem ein gutes timing. Du musst wissen, wann

und wie du Unruhe, Neid und Missgunst unter eine Bevölkerung streust. Dann wirst du ziemlich sicher in der Lage

sein, eine Menge von guten, rechtschaffenen und auch – und besonders auch – gottesfürchtigen Subjekten, denen ja eingetrichtert wurde, höheren Instanzen zu gehorchen, zu einer hasserfüllten, kriegsgeilen Horde umzuformen. Mit einigen wohlplatzierten Nebensätzen zur richtigen Zeit kannst du Wunder wirken. Denn wie sehr jedes einzelne Subjekt vielleicht auf seine eigene rechtschaffene Lebensführung und seinen eigenen Fortschritt und den seiner Familie auch konzentriert sein mag – und viele von uns sind ja schon das überhaupt nicht, sondern in ihrem allzu „normalen“ Leben vor allem gelangweilt –, als Masse

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Konrad Rennert

sind wir schon überhaupt nicht konzentriert, sondern ein diffuser Haufen, welcher sich leicht in jede Richtung gängeln und manipulieren lässt. Tief drinnen waren wir doch immer schon der Meinung, dass endlich durchgegriffen gehört – gegen wen oder was oder welchen Zustand auch immer, ob gegen Zuwanderer, Bettler, Juden oder Nachbarstaaten. Unfähig auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, sind wir als Masse gerade noch in der Lage, Slogans und Parolen nachzuplappern oder zu skandieren. Zu träge, um sie als solche zu entlarven, entrüsten wir uns über die populistischen Märchen, die uns die extremen bis sanften Verführer auch heute auftischen; wir lassen uns von ihren NLP-artigen oder sonstigen manipulativen Gesprächsstrategien und Ablenkungsmanövern, mit welchen sie jede ernsthafte Diskussion verhindern und die sie uns als durchdringende Argumentation verkaufen, binnen kürzester Zeit ablenken und – so wir eines hatten – völlig aus dem Konzept bringen. Am Ende eines solchen NLP-„Dialogs“ stehen wir, obwohl die Rechtsextremen oder auch die rabiaten linksradikalen Hezbollah- und Hamas-geilen angeblichen Israelkritiker, welche sich in den meisten Fällen schlicht als Antisemiten in neuem Gewande entpuppen – am Ende stehen wir angeschüttet und als Trottel da, obwohl diese allen Gegenargumenten konsequent vernebelnd und durch unbewiesene Rundumattacken ausgewichen sind und nicht einen einzigen ihrer Punkte belegen konnten.



Warum nennen wir – quasi en passant – gerade

diese Beispiele? Sind wir vom Thema abgekommen? Nein, kaum: Sind es nicht gerade diese Krankheiten des Geistes

Kunst und Niedertracht

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und der Seele, für welche wir in unserer nach wie vor postnazistisch durchdrungenen Gesellschaft am ehesten anfällig sind und welche aber auch jede Gesellschaft, nicht zuletzt gerade auch unsere europäische, an den Rand der Spaltung und letztendlich auch des Krieges führen können? Und sind es nicht eben diese Krankheiten, die allzu viele von uns als solche nicht erkennen, sondern fälschlich als Tugenden diagnostizieren?



Doch sprachen wir von Kunst! Selten wohl hat also

Kunst geholfen, Krieg zu verhindern. Öfter vielleicht kann Kunst beitragen, einen Schwebezustand zwischen Waffenruhe und Krieg zu prolongieren. Sie kann als Ablenkungsmanöver dienen, die auf Gewinn fokussierten Gedanken der jeweiligen Kriegstreiber für kurze Zeit gewissermaßen zu zerstreuen.

Auf dem Weg zum Krieg und zur Verfestigung und

Rechtfertigung von Kriegszuständen und Gewaltherrschaft – welche wir auch als eine besondere Form von Krieg betrachten müssen – hat die Kunst allemal unschätzbare Dienste geleistet und tut dies, wie wir nun ausführen wollen, noch heute.

E

ines der vielen Worte, die in diesem Zusammenhang gerne verwendet werden, und die heimlich und unbemerkt unsere Sprache und damit auch

unser Denken pervertieren, ist jenes von den „Kampfhandlungen“: Gewalt kann ich gegen jemanden ausüben,

oder das Gegenüber entscheidet sich oder fühlt sich gezwungen, mir Gewalt entgegenzusetzen. Gewalt kann

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also gegen eine wehrlose oder aber gegen eine sich wehrende Person ausgeübt werden. Kämpfen allerdings kann ich nur mit jemandem, die oder der sich wehrt. Wenn ich also jemanden erschlage, übe ich Gewalt aus. Wenn die Person – oder sei es auch ein toller Hund oder von mir aus ein Drache – sich wehrt, oder wenn ich mich gegen sie wehre, wird das zu einem Kampf.

Wehrt die Person, die ich erschlage, sich aber nicht,

oder ist sie dazu nicht in der Lage, dann kann ich das nicht als Kampf bezeichnen, sondern leider nur schlicht und einfach als Mord. Eine Hinrichtung ist keine Kampfhandlung – nicht einmal, wenn ich in Srebrenica gleich achttausend Männer und Buben auf einmal „hinrichte“; oder wenn ich ein russisches oder französisches Dorf mit allen seinen Einwohnern dem Erdboden gleich mache. Oder wenn ich ein jüdisches Ghetto „liquidiere“, hunderte Männer, Frauen und Kinder in die Synagoge oder in die Kirche sperre, um diese dann anzuzünden. Auch wenn ich mehr „nachhaltig“ agiere, das Dorf nicht zusammen mit seiner jüdischen Bevölkerung niederbrenne, sondern diese nur zur weiteren Beamtshandlung ins nächste Todeslager deportiere, um in den verlassenen Häusern die nächste Tranche von „jüdischem Ungeziefer“ auf ihrem Weg ins Gas für kurze Zeit zwischenzulagern, führe ich wohl Krieg, verrichte jedoch keine Kampfhandlung. Warum machen das überhaupt Soldaten? Das ganze Drumherum haben doch auch alles Beamte erledigt: Polizeibeamte, Bahnbeamte, Standesbeamte et cetera.

Mögen alle die zum Beispiel an diesen Taten beteilig-

ten deutschen und österreichischen Wehrmachtssoldaten

Kunst und Niedertracht

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und SSler und alle zugehörigen Schreibtischhenker – denn es waren bei weitem nicht nur die tatsächlich Anwesenden mit der MG im Anschlag beteiligt – mögen sie noch so oft an ihren Biertischen von ihren „tapferen“ und auch „psychisch herausfordernden“ „Kampfhandlungen“ geschwärmt und sich zu rechtfertigen versucht haben; mögen ihre Söhne und Töchter ihre Tradition des Negierens auch nur irgendeiner Schuld fortfeiern auf ihren mit Pomp und Blasmusik und unter großer Politiker- und frommer, nein, gotteslästerlicher Klerikerbeteiligung zelebrierten schwarzen Wehrmachtsmessen auf ihren Ulrichs- und anderen Blocksbergen – sie sind keine Kämpfer, sie sind schlicht und einfach dreckige Massenmörder. Und wüsste ich ihre Namen, so würde ich sie hier alle aufzählen.

Nein. Wenn ich nochmal überlege: Ihre Namen sollen

ausgelöscht sein. So lieb und gut und hilfsbereit sie zu Hause zu ihren Müttern, ihren Familien waren und als Jungen sich eine solche „Karriere“ nicht im Traume vorstellen hätten können – mögen sie für ihre Taten nicht auf tausenden österreichischen und deutschen Kriegerdenkmälern verherrlicht werden, sondern in der Hölle schmoren. Mögen sie, von ihren Kindern und Kindeskindern heroisiert und beweint, in ihrer christlichen und/oder ihrer wie auch immer gearteten Vorsehungshölle schmoren.

Und die dafür mitverantwortlichen Beamten – bis

tief hinab zu unserem einschlägig verehrten ehemaligen Bundespräsidenten – gleich dazu. Und mögen die zuständigen Teufel und Teufelsteufel jedoch lediglich ihre Pflicht erfüllen, nicht mehr und nicht weniger.

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M

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anche werden sagen, wir sollten stolz sein auf unser Erbe. Das will ich auch meinen – wir sollten stolz sein können! Doch wie wollen wir das

bewerkstelligen? Nun, nehmen wir unsere neuzugewan-

derten Freunde aus allen aktuellen Kriegsschauplätzen auf der Welt im Rahmen ihrer „Europäischen Werte-Kurse“ auf eine Exkursion durch unser herrliches Land mit! Nehmen wir sie doch – wenn uns dabei nicht die Schamesröte ins Gesicht steigt – auf eine Reise durch die Bundesländer mit zu den erhebendsten Kriegerdenkmälern, den allgegenwärtigen, jedes Dörfchen und jedes Städtchen verpestenden, mit Kränzen geschmückten marmornen Kothaufen unserer schönen Republik und vermitteln ihnen anhand der hier in Stein gemeißelten Ewiggestrigkeit die unverbrüchlichen europäischen Werte unseres „judeochristlichen Erbes“!

Sie meinen, Kothaufen sei ein zu strenger Ausdruck?

Solange unterschiedslos Mörder aller Kategorien, beseelte Nationalsozialisten, stramme SS-Schlächter, die sich aus Lust an der Gewalt, begeistert und freiwillig zum Dienst an Hitler gemeldet haben, neben jenen, die sich halbherzig oder aus purer Angst haben zwingen lassen, am Krieg teilzunehmen, solange sie alle unterschiedslos namentlich auf diesen Gedenksteinen angeführt sind und dabei auf die von ihnen Ermordeten nicht einmal hingewiesen wird, können wir diesen Denkmälern keine andere Bedeutung beimessen. Denn auf die – oft kunstvolle, wenn auch wohl genauso oft kitschhafte – Weise, wie diese Schandmäler gestaltet wurden, prolongieren wir das Märchen von der Unschuld unseres Volkes bis in alle

Kunst und Niedertracht

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Ewigkeit und tragen seit bald drei Vierteljahrhunderten zu unserer in aller Welt sprichwörtlichen schwammigen Geschichtsauffassung bei. Unsere Kinder gehen tagtäglich an diesen Mälern vorbei und erkennen überhaupt kein Problem, außer vielleicht, dass so viele Menschen aus ihrem Ort einst gestorben sind. Und keine der Erwachsenen – weder Eltern, noch Lehrer – haben Lust, ihnen das Ungeheuerliche, das hinter diesen Monumenten lauert, auseinanderzusetzen: und schon gar nicht den Zusammenhang mit ihnen persönlich und den Familien, denen sie, die Kinder, entstammen.

Erst wenn auf den Denkmälern differenziert die

Namen der Toten in wenigstens vier Abteilungen aufgespaltet würden und ohne Wehleidigkeit aufgelistet würde:

Diese Gruppe unserer gefallenen Männer ist unfreiwillig, zögerlich und gezwungenermaßen in den Krieg gezogen – vielleicht sind manche von ihnen zu Mördern geworden, doch hatten sie immerhin anfangs noch Skrupel. Jene hingegen waren als kleine Buben vielleicht noch lieb, hilfsbereit oder, wie man so gerne sagt, unauffällig. Gut, manche von ihnen haben schon auf dem Schulhof ihre schnell identifizierten Untermenschen (jüdisch oder auf andere Weise „minderwertig“) gemobbt und gepeinigt – das war natürlich (so wie heute) alles nur Spaß und überhaupt

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nicht bös gemeint. Aber leider sind sie schon früh aufgrund ihrer nationalsozialistischen Ideologisierung gekoppelt mit einem Elternhaus von gewalttätigen Vätern und unerbittlichen Müttern zu monströsen Tötungsmaschinen mutiert, nachdem sie sich freiwillig und mit Begeisterung zu einer der notorischen Mordeinheiten gemeldet hatten. Sie haben sich mit Inbrunst, gründlich und mit großer Sorgfalt an den Massenmorden an Polen, Russen, Franzosen, Engländern und Juden jeglicher, nicht zuletzt deutscher und österreichischer Nation hervorgetan. Dieser oder jener von ihnen hat in den letzten Kriegstagen sogar seine eigene Nachbarsfamilie oder allzu unvorsichtig übergelaufene Abtrünnige erschossen oder aufgehängt, weil diese Juden versteckt hatte oder jene ein wenig zu früh ihrer Freude Ausdruck verliehen hatten, dass der Krieg zu Ende gehe.

In dieser dritten Gruppe von Namen sind nun jene aufgelistet, welche aufgrund der aggressiven Kriegs- und Mordtaten ihrer eigenen Männer und Söhne den Alliierten keinen Ausweg ließen, als sie zu bombardieren. Diese bedauernswerten Bombenopfer sind nicht den amerikanischen, russischen oder britischen Bomberoder Artillerieeinheiten anzulasten, sondern haben wir sie uns selbst zuzuschreiben: uns, die wir uns dazu entschlossen hatten, uns

Kunst und Niedertracht

daran zu beteiligen, ganz Europa und die halbe Welt in Schutt und Asche zu legen, sechs Millionen Juden sowie Hunderttausende von Roma und anderen Bevölkerungsgruppen industriell zu ermorden, entweder indem wir unmittelbar dabei waren, oder indem wir sie dazu aufgezogen, ausgebildet und hingeschickt haben. In dieser letzten Abteilung schliesslich listen wir all jene unserer Nachbarn auf, die nicht regimekonformen Nichtjuden, jene in unserer Gemeinschaft, welche sich nicht anpassen konnten oder wollten; weiters unsere jüdischen Mitbürger, die mitten unter uns wohnten und die Roma und Sinti, die in den Slums am Rande unserer hübschen Städtchen hausen mussten; Menschen mit handicaps und sozial Benachteiligte, die wir als lebensunwert erachteten oder die wir in unserer Herrenmentalität für nicht „durchfütterungswürdig“ hielten. Wir haben sie ihres Hab und Guts beraubt und ihrer Heimat. Wir haben sie erniedrigt, gequält und entwürdigt. Wir haben sie auf bestialische Weise zu Tode gebracht, wo immer wir ihrer habhaft werden konnten und haben ohrenbetäubend geschwiegen, wenn sie aus unserer Mitte gerissen und deportiert wurden. Wir haben kaltherzig weggeschaut, um nachher sagen zu können, wir hätten von nichts gewusst. Dabei waren es unsere Nachbarn

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und die Freunde und Freundinnen und Schulkameraden unserer Kinder gewesen. Wir gestehen unsere Schuld und unsere Mitschuld in vollem Umfang ein und geloben, unsere und die unermessliche Schuld unserer Vorfahren nicht kleinzureden und kleinkrämerisch zu relativieren. Wir wollen ihnen, den Mordopfern unserer Väter und Mütter, hier und in jedem unserer Dörfer und Städte, in den Wohnsiedlungen und Kindergärten, die direkt über ihren Massengräbern errichtet wurden, und in den Wäldchen und Äckern, die über diese gewachsen sind, die wir täglich bewirtschaften oder in welchen wir ahnungslos lustwandeln, ein ehrendes Angedenken bewahren, anstatt sie totzuschweigen. Mögen ihre Nachfahren und möge Gott uns verzeihen. Wir wollen alles tun, um die Erinnerung an diese Menschen lebendig zu machen und aufrechtzuerhalten, und wir wollen im Andenken an alle jene von unseren Vorfahren zu Hunderttausenden aus dem Land Gejagten weitherzig und selbstlos neuen Hilfsbedürftigen aus aller Welt, die bei uns Zuflucht und Schutz suchen, unter die Arme greifen. Jene, die wir nicht aufnehmen können, wollen wir überall auf der Welt auf effiziente Art so unterstützen, dass sie in der Lage sind, ein Leben in Würde zu leben – selbst wenn all dies eine geringe Absenkung

Kunst und Niedertracht

unseres eigenen Wohlstandes zur Folge haben sollte. Wir kommen überein, dass diese effektive Hilfe in nationalem Konsens von höchster Stelle beschlossen und großzügig ausgeführt wird und werden jeden Beamten, jeden über Sauställe geifernden kleinen Landesrat, jede Außenministerin und jede Bundesregierung, die solchem Gesetz zuwiderhandelt, aus dem Amt jagen. Und jeden Bundeskanzler, der all das schweigend und kaum widersprechend unter seiner Verantwortung geschehen lässt, während ihm selbst jedesmal, wenn er den Mund öffnet, die Sprechblase von den „geschlossenen Fluchtrouten“ entweicht. Wir geloben weiters, dafür Sorge zu tragen, dass diese unsere neuen, gemeinsamen Denkmäler genauso wie die alten jüdischen Friedhöfe weder von „betrunkenen“ Erbverbrechern, die in ihrem Dusel angeblich „nicht wissen, was sie tun“, noch von nüchternen solchen – sei es Haudegen, sei es Babyface –, die genau wissen, was sie tun, geschändet und zerstört werden. Und wir geloben, endlich unsere Exekutive zu erziehen und ihr klarzumachen, dass solche Verbrechen gerade in unserem Land, über welchem sich der Fluch unserer hartnäckigen Ahnungs- und Gewissenlosigkeit kaum verzogen hat, nicht zu den vernachlässigbaren Kavaliersdelikten, sondern zu den frevelhaftesten in unserer Gesellschaft zählen – nicht

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Konrad Rennert

zuletzt deshalb, weil sie das Krebsgeschwür unserer Schuld ohne Chance auf Erlösung auf ewig zu prolongieren imstande sind. Und schließlich geloben wir, unseren neu zugewanderten Mitbürgern genauso wie uns selbst und unseren eigenen Kindern durch das Vorleben einer Kultur der Null-Toleranz, durch massive, ununterbrochene, über Generationen weitervermittelte Aufklärung, durch ernsthaften diesbezüglichen Unterricht in den Schulen ebenso wie in den „Europäische Werte“-Lehrgängen und nicht zuletzt durch Gesetze, die auch tatsächlich angewandt werden, aber vor allem durch Selbstergründung und bedingungsloses Eingeständnis unserer unermesslichen Schuld, die antisemitische Lügenpropaganda, mit denen sie, unsere neuen Bürger, von klein auf in ihren Heimen und in ihren Schulen aufgewachsen sind genauso wie unsere alltäglichen großen und auch verstohlenen kleinen Antisemitismen, die wir verschmitzt als europäisches Kulturgut hegen und pflegen: all dies geloben wir den neuen und uns selbst, den alten Bürgern abzugewöhnen und auszutreiben! Denn wir wissen genau, dass sie beide – die von unseren Gästen hereingebrachten genauso wie unsere althergebrachten, liebgewonnenen Antisemitismen – im Handumdrehen ihre mörderische Fratze erheben können und im

Kunst und Niedertracht

Gleichschritt mit den anerkannten nahöstlichen Terrororganisationen die Auslöschungsfantasien gegen Israel ebenso wie gegen die Juden Europas beflügeln können. Und nicht minder austreiben wollen wir uns selbst und jenen, die zu uns gekommen sind, den allgemeinen Fremdenhass, die kultartige Verehrung von massenmörderischen Potentaten oder illiberalen, die Demokratie untergrabenden Möchtegern-Alleinherrschern jeglicher Nation und Couleur im Aus- wie im Inland sowie sonstige abstoßende, in unserem Wesen eingefleischte und in unserer ans Kriminelle grenzenden Verblendung die liebgewonnenen niederträchtigen und menschenverachtenden, oft fast zur Folklore gewordenen Traditionen und Angewohnheiten der Erniedrigung anderer, namentlich Schwächerer. Die Nazis sind nicht über uns gekommen wie eine böse Macht, die uns von außen korrumpierte, nein, sie haben in unseren Häusern gewohnt, in unseren Betten geschlafen und von unseren Tellerchen gegessen! Diese böse Macht waren wir, die Nazis waren wir selbst – unsere Väter, unsere Mütter, unsere Ehemänner und unsere Ehefrauen, und unsere Kinder, die wir dazu erzogen haben. Es waren unsere Großmütter und Großväter, auf deren Schoß wir fröhlich ritten, als wir klein waren, Jahre

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nach dem Krieg. Und Jahrzehnte nach dem Krieg waren viele von ihnen Nazis geblieben – und im Herzen sind viele von uns es geworden. Alle müssen wir uns einigen Fragen stellen: Haben wir uns von Nazis auf dem Schoß hutschen und in den Schlaf wiegen lassen? Haben wir aus ihren Brüsten ihre abgestandene, ideologisch verseuchte, stichige Muttermilch gesogen? Und wieviel davon hat auf uns abgefärbt? Was haben wir davon abgekriegt, wieviel von dieser Ideologie schlummert über siebzig Jahre nach Ende des Krieges noch in uns? Und was hat das mit Israel zu tun? Warum entrüsten wir uns jedesmal und reflexartig so maßlos, sobald der Name Israel in den Nachrichten vorkommt? Warum hoffen wir unentwegt genüsslich, die Juden hätten etwa schon wieder etwas angestellt im Nahen Osten oder an der Ostküste? Vielleicht, um im Nachhinein unseren Auslöschungskrieg gegen dieses Volk oder unsere aktuellen Auslöschungsfantasien gegenüber ihrem Land wenigstens ein kleines bisschen zu rechtfertigen? Erst wenn all dies so oder ähnlich auf den marmornen Denkmälern aufgelistet würde, erst wenn diese so beschriftet würden und so beschaffen wären, dass wir und besonders unsere Kinder beginnen könnten, uns tagtäglich und ehrlich, auf dem Weg zur Schule oder zur Arbeit daran vorbeigehend, mit dem Unheil auseinanderzusetzen,

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welches wir und unsere Familien in der Welt und zu Hause angerichtet haben, erst dann könnten wir beginnen, über den Sinn und die Legitimität solcher Monumente nachzudenken. Erst dann würden wir vielleicht einer relevanten Kunst, einer relevanten Denkmalkunst nahekommen, die einen Unterschied bewirken könnte im Versuch, Hass und letztlich auch Krieg zu überwinden.



Erst wenn nicht nur in der Hauptstadt, sondern in

jedem Städtchen und in jedem Dorf und Weiler der Opfer der auf den Denkmälern so minutiös und ehrenvoll aufgelisteten Täter mindestens genauso mit Kränzen und mit – nicht augenzwinkernden, sondern ehrlichen – Trauerveranstaltungen gedacht würde; erst wenn wir uns ohne Wehleidigkeit vor Augen führten, dass die überwiegende Mehrzahl der von unseren heldenhaften „Kämpfern“ in diesem Krieg zu Tode gebrachten unbewaffnete Frauen, Männer und große wie auch kleinste Kinder waren und also nicht in „fairem Kampf“ getötet, sondern wissentlich und mitleidslos ermordet wurden, und dass auch der Rest der Abermillionen Menschen nicht einem fairen Krieg, sondern einem ungerechten, unheiligen, von unserer Seite ausgelösten Aggressionskrieg zum Opfer gefallen ist, wenn wir uns das eingestehen würden und auch unseren Kindern erklären könnten, dann wäre ein wesentlicher Schritt getan.



Wenn die Künstler jener Nachkriegsgenerationen und

ihre Auftraggeber auf Staats-, Landes- oder Gemeindeebene ihr Metier dergestalt missbrauchen, die Kunst in solchem Ausmaß kompromittieren durften und uns genötigt haben, ein Jahrhundert oder fünfundsiebzig Jahre

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lang uns von ihren allgegenwärtigen irreführenden Machwerken manipulieren zu lassen, dann ist es unsere, der Nachgeborenen, Pflicht, diese Ungeheuerlichkeiten zu korrigieren. Kunst ist nicht per se heilig. Kunst ist meist so erhaben, so visionär, aber auch so kleingeistig, so verlogen, so selbstverliebt, so gemeingefährlich und so niederträchtig wie wir, ihre Schöpfer und natürlich oft auch ihre Auftraggeber. Doch hat sie in seltenen Fällen die Gabe, höher zu fliegen, als ihre Schöpferin oder ihr Schöpfer es selbst erdenken könnten. Durch einen offenen Geist und tiefste Demut kann es unserer Kunst vielleicht manchmal gelingen, über unser eitles Selbst hinauszuwachsen und von Dingen zu sprechen, über die wir selbst nichts wissen und die wir selbst nicht verstehen.

E

s gilt zu korrigieren, was versäumt wurde; es gilt auch zu differenzieren zwischen den protzigen, rechthaberischen Denkmälern und jenen, die

auch ein wenig Demut oder gar Reue für die Verbrechen

unserer Vorfahren durchschimmern lassen. Es gilt, das historische und gegenwärtige Unrecht anzuerkennen und in diesem Bewusstsein dem Geiz und den erbärmlichen, verschlagenen, schikanösen Gemeinheiten gegenüber den heute Schutzbedürftigen, welche in unserer unmittelbaren Umgebung und durch populistisch schleimende, verantwortungslose, nur auf ihren und ihres schmissigen Klüngels eigenen Vorteil und ihre eigene Machtgier bedachten hell- oder dunkelblauen oder auch andersfarbigen Parteien oder „Bewegungen“ gang und gebe sind, entgegen-

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zutreten und ihnen aktiv die Stirn zu bieten. Und in dem Bewusstsein, aus unserer Geschichte und den Fehlern unserer Vorfahren gelernt zu haben, könnten wir dann erhobenen Hauptes und mit Stolz auf ein Land blicken, das wir selbst aus eigener Kraft und aus eigenem Willen – für alle sichtbar und für unsere eigene Psyche deutlich spürbar – aus der Jauche der Vergangenheit gehoben haben (um Ruth Klüger zu paraphrasieren) und in welchem wir nicht mehr regelmäßig mehrheitlich die notorisch gestrigen Menschenverachter (und seien sie noch so jung und frisch) glauben wählen zu müssen: der restlichen Welt ein Beispiel! Dieses Bewusstsein könnte uns dann zu Recht mit Stolz erfüllen und uns ermächtigen, aus unserem weinerlichen, immer die anderen beschuldigenden „Einmal muss Schluss sein“-Trotz endlich aufzutauchen.

W

ill man explizit Kunst gegen den Krieg schaffen, so muss man schon genau sein. Sonst fällt sie uns auf den Kopf und wir merken zu spät,

dass sie den Krieg verherrlicht und verklärt, anstatt ihn anzuklagen. War das aber vielleicht gar nicht das Ziel? Wollten wir vielleicht gar nicht in erster Linie die Schrecken des Krieges anklagen, sondern uns und unsere

Vorfahren rechtfertigen? Seht Ihr, wie groß die Opfer sind, die wir gebracht haben, wir Hinterbliebenen? Seht Ihr nicht, dass auch wir Opfer sind? Und wenn wir Opfer sind, müssen die anderen die Täter gewesen sein! Auf simpelste Weise können wir die Tatsachen wieder und wieder verdrehen und der Zauber ist, dass wir alle daran glauben,

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weil wir es glauben wollen. Ist das jetzt schon wieder übertrieben? Ich glaube nicht. Haben wir nicht noch den weinerlichen Spruch des Chefs der notorischen Partei anlässlich einer Protestkundgebung gegen den Ball seiner Freunde und Freundinnen und der NaziversteherInnen in der Wiener Hofburg, „Wir sind die neuen Juden!“, im Ohr? (Verurteilen wir jedoch nicht voreilig: Werden die Gerüchte von Läuterung nicht zusehends stichhaltiger?) Hundert Jahre nach Ende des Ersten und über siebzig nach Ende des Zweiten Großen Krieges des zwanzigsten Jahrhunderts peitscht die Propaganda noch täglich auf uns ein in Form der allgegenwärtigen steinernen Tafeln und pathosschwangeren Skulpturen von heldisch gefallenen, nicht selten fast als Heilige und Märtyrer verehrten Soldaten. Wohin wir auch schauen und noch in den Köpfen und Herzen der Kinder und Kindeskinder schwingt die Glorie jener „Kämpfer“ und der restlichen Mörderbanden, mit deren Hilfe wir die Welt binnen drei Jahrzehnten zweimal mit Vernichtung und Tod überzogen haben.



Und wenn sogar die neuerwachte Republik Öster-

reich einige der monströsesten KZ-Mörder unter Jubel der Bevölkerung und Volksfeststimmung vor Gericht freisprach, und wenn sie so manchen von ihnen für ihre redliche Arbeit, Juden und Jüdinnen zu entmenschlichen, sie nackt ins Gas zu treiben oder nackt und mit ihren Babys in den Armen in die ausgehobenen Massengräber hineinzuschießen – wenn sie ihnen dafür in manchen Fällen bis zu ihrem friedlichen Tod sogar Pensionszahlungen zuwies – worüber sollten wir uns beschweren? Ging nicht alles rechtens vor sich?

Kunst und Niedertracht

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An den Denkmälern werden weiter ohne Unterscheidungen und ohne kritische Worte, aber mit großem Pathos und eifriger Unterstützung durch Politik und Kirche Kränze niedergelegt. Die Kameradschaftsbünde der Brandund Mordbrigaden feiern weiter fröhliche Urständ’, obwohl auch die letzten übriggebliebenen Schlächter und Schlächterinnen allesamt längst unter der Erde liegen. Gibt es ein schöneres Beispiel für die Macht der Kunst? Wer angesichts von Not, Flucht, Behördenwillkür, Innenministerinnen- und Innenministerzynismus und allgemein um sich greifender physischer wie psychischer Verwahrlosung und Desperation noch die Kraft hat, eine – wenn auch kleine – Linderung in der wahren Kunst und in einer nicht allein alltagsbezogenen Gedankenwelt zu suchen und gar zu finden, ist gesegnet. Die Kunst kann uns wohl für eine Weile wie der Griff nach der rettenden Holzplanke inmitten eines Ozeans von Ungeist, Bosheit, Lüge und Wurstigkeit eine Atempause ermöglichen, vorübergehend Linderung bewirken. Vielleicht können wir das Wissen um diese Linderung und deren Notwendigkeit für die Seele auch für eine weitere Generation oder zwei aufrechterhalten und weitervermitteln. Vielleicht kann die Kunst manchen von uns für eine Weile noch Balsam und Erbauung sein. Vielleicht ermöglicht sie sogar noch vielen von uns, in einer Welt von manisch Zerstreuten Etwas-WeiterSehende, ja In-Geringem-Ausmaß-Erkennende zu werden.

Doch da gibt es noch die anderen. Und es gibt noch

unsere eigenen Dämonen. Den nächsten Weltkrieg wird die Kunst nicht abwenden.



WERNER WINTERSTEINER DEN FRIEDEN IN DIE WIRKLICHKEIT DENKEN! Bilder einer Ausstellung

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Werner Wintersteiner

In dieser „Ausstellung“ sind Sätze ausgestellt. Sie fassen wesentliche Grundgedanken schlaglichtartig und leicht fasslich, eben wie ein Bild, zusammen. Die Ausstellung spürt dem Zusammenhang von Frieden und Literatur bzw. Kunst nach, indem sie die verschiedenen Sätze und Ansätze porträtiert, einander gegenüberstellt und vergleicht. Daraus lassen sich einige vorsichtige Schlussfolgerungen ziehen, die schließlich im letzten Raum nochmals plakativ dargestellt werden. Die p.t. Leser_innen werden gebeten, einen Rundgang zu machen, die Eindrücke auf sich wirken zu lassen und in den letzten Räumen zu reflektieren. Nicht alles kann die Kunst – sie kann die Staaten nicht zwingen, den Rüstungswettlauf zu beenden, sie kann die Kriegstreiber nicht dazu bringen, von Gewalt abzulassen. Sie ist eben nicht politisch in einem Sinne, dass sie direkt intervenieren könnte in den Verlauf des Geschehens.

Gibt es etwas, das nicht durch ein Bild/Zeichen dargestellt werden kann? Valie Export

Den Frieden in die Wirklichkeit denken!

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Doch sie kann etwas Wichtigeres und Grundlegenderes – nämlich das System und die Kultur der Gewalt unterminieren, auf denen die Politik der Gewalt und des Krieges beruht. Gerade heute zeigt sich wieder: Es ist wichtig, Kriege zu verhindern, aber es ist aussichtslos, von einer Welt ohne Kriege zu träumen, ohne die kulturellen und anthropologischen Grundlagen anzugehen, die die ständige Reproduktion des Kriegssystems bedingen. Insofern ist die künstlerische Infragestellung der Kriegskultur keineswegs anti-politisch oder unpolitisch, sondern eher protopolitisch und meta-politisch, nämlich die Voraussetzung jeder Politik. Kunst kann ein Faktor der langsamen, nachhaltigen und permanenten Transformation der Gesellschaft sein, auch wenn keineswegs jede Kunst in diese Richtung wirkt. Wie diese Ausstellung zeigen möchte, bieten Kunst und Literatur nicht nur das Programm einer Kultur des Friedens, sondern auch eine Pädagogik und Didaktik, um sie zu erreichen.

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Werner Wintersteiner

Saal 1: Imagination

Alles, woran man glaubt, beginnt zu existieren.  Ilse Aichinger

Dieses Zitat der Schriftstellerin Ilse Aichinger steht paradigmatisch für eine Aktion der Werbeagentur Gewista, die es, wie auch eine Reihe anderer Zitate, im Herbst 2017 in ganz Wien in prominenter Form plakatiert hat. Es steht aber auch programmatisch am Beginn dieser Überlegungen über den Zusammenhang von Frieden und Kunst. Aichingers Satz zielt, so meine Interpretation, auf die die Realität letztlich umgestaltende Kraft der Imagination ab. Mit „Glauben“ ist das Vermögen gemeint, sich eine andere Realität vorstellen zu können. Damit beginnt diese in der Vorstellung zu existieren, eine Voraussetzung dafür, sie unter gewissen günstigen Umständen auch praktisch zu verwirklichen. Diese gestaltende Rolle der Imagination beschränkt sich keineswegs auf die Kunst, doch sie ist deren Voraussetzung. Die Kunst allerdings ist die Domäne des Imaginären in Reinkultur, sie ist sozusagen eine systematische Erforschung nicht des Realen, sondern des Möglichen: „Denn die Kunst befaßt sich nicht mit solchem, was notwendig ist oder geschieht, und auch nicht mit solchem, was sich der Natur gemäß vollzieht; denn dergleichen hat seinen Grund in sich selbst“, sagt Aristoteles in der Nikomachischen Ethik1.

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Think peace into existence. Virginia Woolf

Das zweite „Bild“ in diesem Saal korrespondiert mit dem ersten. In ihren Thoughts on Peace in an Air Raid (1940) verwendet die englische Schriftstellerin Virginia Woolf die bemerkenswerte Formulierung „think peace into existence“. Sie hat, in der schlimmsten Zeit des Zweiten Weltkriegs, dessen Ausgang damals noch ganz ungewiss war, während sie sich vor den Nazi-Luftangriffen in Schutz bringen musste, über die Möglichkeit des Friedens nachgedacht. Vor allem spricht sie dem Denken, man könnte wohl auch hier sagen: der Imagination, eine wirklichkeitsbildende Kraft zu. Sie geht davon aus, dass Frieden zunächst etwas ist, das geistig vorbereitet werden muss – weil Frieden nicht auf das reduziert werden kann, was Galtung „negativen Frieden“ nennt, die bloße Abwesenheit von Krieg.

Beide hier ausgestellten Sätze sind radikal in dem

Sinne, dass sie nicht nur die Bedeutung des Imaginären hervorheben, sondern dass sie dem Imaginären eine die Wirklichkeit verändernde Kraft zuschreiben. Diesen Gedanken hat Cornelius Castoriadis2 systematisch entwickelt in seinem Konzept von der Gesellschaft als „imaginärer Institution“. Das gesellschaftlich Imaginäre ist der Versuch,

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Werner Wintersteiner

dem Chaos der menschlichen Existenz eine Form zu geben, „eine Welt für die Gesellschaft zu schaffen“3. „Es ist diese Institution von Bedeutungen, die […] festlegt, was für eine Gesellschaft ist und was nicht, was Wert hat und was wertlos ist, aber auch wie dasjenige, dem Sein oder Wert zukommen kann, ist oder nicht ist, Wert hat oder nicht hat“4.

Dieser Gedanke, dass Denken und Imagination

einen wichtigen praktischen Beitrag zur Veränderung von Gesellschaft bzw. zur Verwirklichung von Frieden leisten, klingt zunächst sehr „idealistisch“, doch er ist nichts anderes als eine möglichst präzise Beschreibung der Wirkweise der komplexen Mechanismen des Sozialen. Das merkt man sofort, wenn man etwa den zweiten Satz umdreht: Es wird keinen Frieden geben, wenn wir ihn nicht in die Wirklichkeit denken. Frieden kann nicht erreicht werden ohne entsprechende intellektuelle Anstrengung, wobei ihr Ausgangspunkt und ihre Leitlinie der revolutionäre Satz Gandhis ist: „Es ist möglich in Frieden zu leben“. Auch John Lennon und Yoko Ono haben diese Idee auf ihre Weise formuliert: „War is over – if you want“. Thinking peace into reality ist somit keine Formel für Voluntarismus, sondern die Darstellung einer Grundbedingung von Frieden.

Das gesellschaftlich Imaginäre erschöpft sich kei-

neswegs im Ästhetisch-Imaginären, und doch ist Kunst ein besonderer und daher unverzichtbarer Zugang zu der befreienden Kraft des Möglichen. Diese Erkenntnis ist die Basis für die weiteren „Exponate“, die sich stärker auf Kunst beziehen werden.

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Den Frieden in die Wirklichkeit denken!

Saal 2: Wahrnehmung

How to change our habitual ways of seeing that alienate us from each other and our sense of belonging? Wim Wenders, Mary Zournazi

Die „Exponate” dieses Saals beschäftigen sich damit, wie Kunst unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit erweitern und verändern kann. Für Wenders und Zournazi ist es unsere Art, die Welt wahrzunehmen, die dazu führt, dass wir uns gegenseitig entfremden und unseren Sinn für Zugehörigkeit verlieren. Frieden ist daher zunächst auch eine Frage der Wahrnehmung. Wirklich hinzuschauen und zu sehen, bedeutet in diesem Sinne, die menschliche Fähigkeit zu Gewalt und die Existenz des Bösen anzuerkennen, zugleich aber über Gleichgültigkeit und Grausamkeit hinwegzukommen.

Dies gilt für das Phänomen der Wahrnehmung gene-

rell, und umso mehr für die künstlerische Wahrnehmung. An dieser Stelle erweist sich Kunst als ein „Medium“, besser: als ein Weltzugang, der sich mit der Wahrnehmung von Effekten und den Effekten von Wahrnehmung beschäftigt und gerade deshalb in der Lage ist, unsere

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Werner Wintersteiner

Fähigkeiten, den Frieden „zu erfinden“ (Wenders) bzw. „in die Wirklichkeit zu denken“ (Woolf), zu stärken.

Maxine Greene

Look at things as if they could be otherwise.



Dieser Satz war das Motto der amerikanischen Philsophin, die vor allem in der Begegnung mit Kunst die Möglichkeit sah, den „Möglichkeitssinn“ (Robert Musil) zu entwickeln. Das heißt aber auch, dass Kunst nur wirkt, wenn ein Kommunikationsprozess Kunstwerk/Rezipient_in aufgebaut werden kann. Kunst erfordert aktives Hören, Sehen, Lesen, Aufnehmen, ein anspruchsvolles Unterfangen. Deswegen „spricht“ zwar Kunst unmittelbar zu ihrem Publikum, Kunstvermittlung und ästhetische Bildung sind aber dennoch unverzichtbar, damit dieses Sprechen auch „gehört“ wird. Für unser Thema heißt das, dass es eine ästhetisch sensible Friedensbildung braucht.

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Den Frieden in die Wirklichkeit denken!

Immer ist, was einer schreibt, wenn es überhaupt Bedeutung hat, ein Eingriff in die Vorstellungen des Lesers, so wie der Autor selbst mit jedem neuen Text, wenn dieser überhaupt Bedeutung hat, seine eigenen Vorstellungen nicht nur von Kunst, sondern von der Welt erweitert, ändert. Das ist, glaube ich, politisch.  Ernst Jandl

Die Literatur ist für Jandl mehr als ein Beobachtungssystem der Gesellschaft und damit eine „Parallelaktion“ zur Wirklichkeit; sie ist eine Möglichkeit, sich selbst und die Gesellschaft, das menschliche Leben in all seinen Facetten, zu begreifen, zu deuten bzw. sich mit dem Unbegreiflichen auseinanderzusetzen. Das erfordert vor allem eine Schärfung bzw. Änderung unserer Wahrnehmung der und Vorstellung von Wirklichkeit. Damit ist freilich keine

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bestimmte politische Richtung vorgegeben: Literatur kann für den Frieden eintreten oder Gewalt verherrlichen. Im Zuge der Ausdifferenzierung des gesellschaftlichen Lebens ist der Literatur und Kunst die Rolle der reinen Imagination zugefallen, das heißt, dass die Imagination keine zusätzliche, sondern die eigentliche Funktion der Künste ist. In modernen Gesellschaften sind die Künste somit der Ort, wo Funktionales und Imaginäres klar geschieden sind. Die Konzentration auf das Imaginäre in der modernen Kunst etabliert sie als das Andere einer Gesellschaft und enthält dadurch, im Prinzip, auch ein subversives Potential, the Subversive Imagination, von der Kunsttheoretiker_innen wie Carol Becker sprechen.

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Den Frieden in die Wirklichkeit denken!

Saal 3: Kritik

Das Lesen eines Romans muss Ähnlichkeiten mit dem Erlernen einer fremden Sprache haben. Nicht der eines anderen Landes, einer weit entfernten Region, sondern der einer noch unbekannten Sprache in der eigenen, die uns das Leben in den Dingen sichtbar macht.  

Ulrich Peltzer

Die Welt anderes zu sehen, erlaubt auch, Dinge zu bemerken, die nicht so offensichtlich sind, oder die absichtlich verborgen gehalten werden. Was man unter Literatur für den Frieden versteht, ist im Allgemeinen Literatur, die sich kritisch mit Gewalt und Krieg auseinandersetzt. Der Frieden, der dabei entsteht, ist nicht das Thema oder der Inhalt der Literatur (oder Kunst), sondern er ist der Friedenswille der Leser_innen, der durch die kritische literarische Darstellung erwächst. Er ist Resultat des

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Werner Wintersteiner

Kommunikationsprozesses zwischen Werk und Rezipientin oder Rezipient. Das ist auch das eigentliche Terrain des Künstlerischen, seine besondere Wirkungskraft. Denn kritisches Bewusstsein entsteht nicht automatisch, wenn man mit neuen Fakten konfrontiert wird, sondern erst, wenn man bereit ist, sich diesen Fakten zu stellen und sie an sich heranzulassen. Dann können sie unser Fühlen und Denken beeinflussen. Literatur „verführt“ dazu, sich auf diesen Prozess einzulassen. Das ist ein äußerst komplexes Phänomen, auch wenn es an der Textoberfläche noch so einfach daherkommen mag. Denn in der ästhetischen Gestaltung und ihrer Wahrnehmung laufen politische, sozialpsychologische, wahrnehmungstechnische Faktoren zusammen.

Ein bestimmtes literarisches Verfahren gibt es dabei

nicht – jedes Verfahren ist recht, wenn es kunstvoll genug angewandt wird, ob es der (stilisierte) Realismus in einem Roman wie Im Westen nichts Neues ist, oder das Genre des Schelmenromans wie in den Abenteuern des braven Soldaten Schwejk, in Parabeln wie Ferdinand der Stier oder in der Kinderperspektive, die mehr verrät, als die Erzählfigur selbst versteht, wie etwa in Allah muss nicht gerecht sein. Es gibt unendlich viele Varianten der Kritik an Krieg und Gewalt allein in der erzählenden Literatur bzw. im Film oder im Theater, wo der Zusammenstoß der Protagonisten politischer oder ethischer Natur sein kann, wie in der Antigone. Erst recht bietet die Lyrik die Möglichkeit, politische Einsichten auch sprachkritisch zu formulieren, etwa bei Jacques Prévert oder ganz anders bei Ernst Jandl.

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Wie jede politische Kunst gerät auch Literatur, die Krieg und Gewalt thematisiert, in ein Dilemma. Wird ihre Kritik an den Verhältnissen allzu „politisch“, zu eindeutig, verliert sie ihren Kunstcharakter, der darin besteht, dass sie deutungsoffen und damit anspruchsvoll für die Lesenden ist. Wird sie hingegen allzu deutungsoffen, verliert sie ihre kritische Stoßrichtung – ein Teufelskreis? Oder aber die Eröffnung unzähliger Möglichkeiten?

Im Allgemeinen sieht man in diesem Teufelskreis der kritischen Kunst den Beweis dafür, dass Ästhetik und Politik nicht zusammenpassen können. Es wäre richtiger, darin die Vielzahl der Möglichkeiten zu erkennen, wie sie sich verbinden. Jacques Rancière

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Saal 4: Empathie

Literatur kann unsere Fähigkeit stärken, um Menschen zu weinen, die nicht wir selbst sind und nicht zu uns gehören. Susan Sontag

Die Kunst des Sehens ist auch die Kunst des Ein-Sehens, des Hineinsehens in andere und des Hineinfühlens. Literatur ermöglicht Empathie, dort, wo Politik und Krieg diese strukturell und praktisch zu verhindern suchen. „Krieg lässt sich als ein Geschehen verstehen“, sagt Judith Butler, „das Bevölkerungen aufteilt in einerseits diejenigen, um die getrauert werden kann, und andererseits diejenigen, um die nicht getrauert werden kann. ‚Unbetrauerbar‘ in diesem, von der Logik des Krieges etablierten Sinn sind Leben, die nicht betrauert werden, weil ihnen zuvor bereits ihre Existenz abgesprochen worden ist, weil sie nie als Leben zählten“5. Es ist wichtig zu verstehen, dass diese „Unbetrauerbarkeit“ eine sozialpsychologische Voraussetzung für jede Form von Ausgrenzung ist, die keineswegs immer die extreme Form des Krieges annehmen

Den Frieden in die Wirklichkeit denken!

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muss. Gegenwärtig etwa werden Flüchtende und Migrant_ innen als Menschen zweiter Klasse hingestellt, die nicht nur politisch keine Rechte haben, sondern auch weniger soziale Rechte, wie etwa die diskriminierende Politik der österreichischen Bundesregierung bei der Zuteilung von Sozialleistungen zeigt. Ganz konform mit dieser Logik hat ein österreichischer Politiker in Bezug auf die Abweisung von Flüchtenden festgestellt: „Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen.“ Was ist das anderes als die Forderung, das Mitgefühl für diese Kategorie von „uns nicht zugehörigen“ Menschen herunterzuschrauben? Unter solchen Bedingungen wird die literarisch bedingungslose Empathie zum subversiven Akt: „Wer wären wir, wenn wir kein Mitgefühl für jene aufbringen könnten, die nicht wir selbst sind und die nicht zu uns gehören? Wer wären wir, wenn wir uns selbst nicht – wenigstens zeitweise – vergessen könnten? Wer wären wir, wenn wir nicht lernen könnten? Wenn wir nicht verzeihen könnten? Wenn wir nicht etwas anderes werden könnten, als wir sind?“6

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Saal 5: Handeln

Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt. Erich Fried

„Die Politik der Literatur ist nicht die Politik der Schriftsteller. Sie betrifft nicht deren persönliches Engagement in politischen oder sozialen Kämpfen ihrer Zeit. Sie betrifft auch nicht die Art und Weise, wie sie in ihren Büchern die sozialen Strukturen, die politischen Bewegungen oder die diversen Identitäten darstellen“, hält Jacques Rancière7 zu Recht fest. Dennoch besteht eine enge Verbindung zwischen der Tatsache, die Welt als Schriftstellerin oder Schriftsteller zu sehen und politischem Engagement. Viele Autor_innen setzen sich in ihrem Werk wie als Personen für den Frieden ein und stärken mit ihrer Autorität die Friedens-Bewegungen. Obwohl die Kunst selbst nicht zur Sphäre des politischen Handelns gehört, verwischen sich diese Differenzen immer wieder in der Praxis. Wenn Susan Sontag im belagerten Sarajevo Warten auf Godot inszeniert, ist dies ein politisches Statement. Der Skandal um Thomas Bernhards Stück Heldenplatz hat den ohnehin schon politischen Inhalt des Werks zu einem Thema der Tagespolitik gemacht. Damit hat die Kunst Themen, die im

Den Frieden in die Wirklichkeit denken!

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politischen Raum tabuisiert waren, diskutierbar gemacht. Wie kompliziert das Verhältnis zwischen Kunst und Politik dabei werden kann, wird am Beispiel von Peter Handke deutlich. Er hat im Jugoslawien-Krieg gerade dadurch interveniert, dass er von einer Reise ins Kriegsgebiet erzählte, die den Krieg demonstrativ als Gegenstand der Beschreibung aussparte. Zugleich hat er durch sein persönliches Verhalten bestimmte Interpretationen seiner künstlerischen Texte wiederum dementiert. Ein weiteres Beispiel auf anderer Ebene: Der Friedenspreis des deutschen Buchhandels hebt die friedenspolitische Bedeutung bestimmter literarischer Werke hervor. Auch so wird aus Kunst politische Aktion. Und manche gehen noch einen Schritt weiter: Die beiden Friedenspreisträger David Grossman (Israel) und Boualem Sansal (Algerien) haben 2012 den Straßburger Appell verfasst und die Vereinigung der Schriftsteller für den Frieden gegründet. (Friedens-) politisches Handeln und literarisches Schaffen sind somit vielfältig miteinander verknüpft: „Gemeinsam können wir Einfluss auf die Entscheidungsträger und die öffentliche Meinung nehmen und damit auch auf den Verlauf der Ereignisse, um sicherzustellen, dass die Werte des Friedens in der ganzen Welt gestärkt werden. Unsere Methoden in diesem Kampf sind die Literatur, die Diskussion und unsere Wachsamkeit.“8

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Die Literatur ist unauflöslich eine Wissenschaft von der Gesellschaft und die Erschaffung einer neuen Mythologie.  John Paul Lederach

Diese Fähigkeit, „wissenschaftliche“ und ganzheitliche Zugänge zu verbinden, Analysen mit Visionen zu kombinieren, ist ein herausragendes Charakteristikum von Literatur, und es macht ganz wesentlich ihren politischen Charakter aus.

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Den Frieden in die Wirklichkeit denken!

Saal 6: Reflexion, Rückblick und Ausblick

The complexity of human experience captured in a simple image and in a way that moves individuals and whole societies. The true genius of the moral imagination is the ability to touch the art and soul of the matter.  Jacques Rancière

Frieden kann nur utopisch, das heißt als etwas Werdendes gedacht werden. Alles andere ist unrealistisch. Damit kann denen entgegengetreten werden, die erklären, dass es ganz „unrealistisch“, „utopisch“ und „idealistisch“ sei, für den Frieden einzutreten. Die gesamte Geschichte der Menschheit zeige doch, dass Krieg und Gewalt eine ständige und daher auch unvermeidliche Begleiterscheinung aller Gesellschaften ist. Diesem Argument liegt ein enges Verständnis vom Lauf der menschlichen Evolution zugrunde. Vor allem lähmt es das Nachdenken und Imaginieren

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von neuen sozialen Beziehungen und Organisationsformen von Gesellschaft. Dies ist auch ein Problem der Art, wie unser Wissen produziert wird: „Jede Wissenskultur sieht immer nur einen bestimmten Ausschnitt eines Problems. Der Dialog zwischen verschiedenen Wissenschaftskulturen im Modus einer Handlungslogik, die Schaffung neuer Denk- und Erkenntnisräume auch in experimenteller Form sind geradezu eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Auch eine dialogische Begegnung zwischen Wissenschaften und Künsten, deren Trennung laut David Bohm ohnehin nur eine vorläufige sei, kann ihren Teil dazu beitragen.“9. In diesem Kontext wird eine Maxime wie „den Frieden in die Wirklichkeit denken“ auf einmal zu einem praktischen Ziel. Jean Paul Lederach nennt in seinem Werk The Moral Imagination „aesthetics“ explizit „the art of social change“10. Es ist eine Idee von Frieden, die den Konflikt einschließt und sogar als Grundfaktor gesellschaftlichen Lebens begreift.

Ist Frieden demnach mehr eine kulturelle oder künst-

lerische Kategorie als eine politische? Die Frage ist wohl falsch gestellt. Man sollte vielmehr fragen: Ist Frieden nicht deshalb eine künstlerische Kategorie, weil er eine politische ist? Den Platz, den der Frieden im politischen Gefüge hat, kann er nur ausfüllen als „künstlerische“ Kategorie. Gerade Wim Wenders hat das sehr genau verstanden, wenn das „Erfinden des Friedens“ für ihn kein Eskapismus in das Reich des Guten und Schönen ist, sondern eine Auseinandersetzung mit der allumfassenden Kultur des Krieges und der Gewalt: „To invent peace is to imagine the real, and this imagination requires the consideration of

Den Frieden in die Wirklichkeit denken!

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how war has so thoroughly captured our cultures, as well as how to create an alternative response to it. War has a hold on our cultural imaginations as an inevitable force, it is peace that has no benefactor.” Und dann kommt die entscheidende Fortsetzung: „Unless we imagine peace in its light along with its ‚darkness’, it is difficult to imagine alternative responses to violence”11. Ohne diese soziale Phantasie kann es auch keine nachhaltigen sozialen Veränderungen geben.

Die transdisziplinäre Friedensforschung könnte sich

als kongeniale Partnerin einer ganzheitlichen Friedenskunst erweisen. Dazu muss sie allerdings erst ihre eigenen Schwächen überwinden, die in der Verabsolutierung der jeweiligen disziplinären Verankerung liegen, wodurch die Komplexität des notwendigen Friedens-Prozesses nicht adäquat erfasst werden kann. So vernachlässigt der politikwissenschaftliche Zugang die Dimension des menschlichen Begehrens als Agens der Politik. Ein rein psychologischer Ansatz, selbst wenn er mit Politikwissenschaft kombiniert wird, übersieht die kulturelle Vermittlung unseres Denkens, Fühlens und Handelns. Nicht zufällig hat Cornelius Castoriadis einmal von der „psychoanalytischen Taubheit der Soziologen und der soziologischen Taubheit der Psychoanalytiker“12 gesprochen. Kulturwissenschaftliche Studien wiederum erschöpfen sich oft im Nachweis, dass in Kunst und Kultur ein gesellschaftliches Veränderungspotential steckt. Wie dieses aber zur Wirkung gelangt, das zu erforschen und daraus Schlüsse zu ziehen, wäre die Aufgabe einer umfassend verstandenen Friedens-Bildung, als kreativer Verbindung von Kunst,

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Werner Wintersteiner

sozialen, politischen und psychologischen Zugängen – ein gesamtgesellschaftlicher, partizipativer und kreativer Bildungsprozess: Bildung von Frieden durch Friedensbildung.

Folgende Beiträger_innen haben dankenswerterweise GedankenExponate für diese Ausstellung zur Verfügung gestellt: 1

  Aristoteles (2016): Nikomachische

Ethik. Hgg. von Karl-Maria Guth. Berlin: Hofenberg. S. 125 2

  Castoriadis, Cornelius (1990):

Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt: Suhrkamp. 3

  Ders. (1999): Figures du pensable

(Les carrefours du labyrinthe VI). Paris: Seuil. S. 103, Hervorhebung im Original, eigene Übersetzung.    Ders. (1990): S. 602, Hervorhebung

4

im Original.

5

  Butler, Judith (2009): Krieg und

Affekt. Zürich/Berlin: diaphanes. S. 18.   Sontag, Susan (2003): Die Barbarei

6

der Missachtung. In: Der Standard, 13. 10. 2003. 7

  Rancière, Jacques (2008): Politik

der Literatur. Wien: Passagen. S. 13.   www.fr.de/politik/meinung/

8

strassburger-appell-die-wertedes-friedens-staerken-a-801491 (abgerufen am 24. 10. 2017). 9

  Ingrisch, Doris/Marion Mangels-

dorf/Gert Dressel (Hg.) (2017): Wissenskulturen im Dialog. Experimentalräume zwischen Wissenschaft und Kunst. Bielefeld: Transkript. S. 11.

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Den Frieden in die Wirklichkeit denken!

The arts, it has been said, cannot change the world, but they may change human beings who might change the world. Maxine Greene

10

Aufsätze und Reden. München:

moral imagination: the art and soul

Luchterhand Literaturverlag, S. 61.

  Lederach, John Paul (2010): The

of building peace. Oxford: Oxford University Press. S. 65.

Kaukoreit, Volker und Klaus Wagenbach (Hg.) (1993): Erich Fried: Gesam-

11

melte Werke. Gedichte und Prosa (4

(2013): Inventing Peace. A dialogue

Bände). Berlin: Wagenbach.

  Wenders, Wim/Zournazi, Mary

on perception. London/New York. I. B. Tauris. S. 107.

Peltzer, Ulrich (2009): 25 Thesen. In: Wilfried F. Schoeller/Herbert

12

Wiesner (Hg.): Widerstand des Textes.

Figures du pensable (Les carrefours

Berlin: Matthes & Seitz, S. 14–22.

  Castoriadis, Cornelius (1999):

du labyrinthe VI). Paris: Seuil. S. 112. Rancière, Jacques (2016): Das Greene, Maxine (2007): Imagination

Unbehagen in der Ästhetik. Wien:

and the Healing Arts. https://maxine

Passagen.

greene.org/uploads/lIbrary/imagination_ha.pdf (abgerufen am 24. 10. 2017).

Woolf, Virginia (1940): Thoughts on Peace in an Air Raid. https://newre public.com/article/113653/thoughts-

Jandl, Ernst (1999): Aufgaben. In:

peace-air-raid (abgerufen am 20. 10.

Ernst Jandl: Autor in Gesellschaft –

2017).

drona, der unbesiegbare, soll glauben, sein sohn sei gefallen. ein elefant wird auf dessen namen „ashwathama“ getauft und getötet; yudishtira, der gerechte könig, überbringt die nachricht von seinem tod. der verzweifelte vater will sie nicht glauben und fragt nach. doch yudishtira bestätigt: „ja, ashwathama ist tot.“ unhörbar fügt er hinzu „ashwathama, der elefant“. seine berühmte ehrlichkeit macht das unglaubliche glaubhaft, und der zerstörte drona beschließt zu sterben. yudishtiras streitwagen aber, der bis dahin geschwebt war, setzt hart auf dem boden auf. der gerechte ist auf der erde angekommen.1

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parzival und arjuna über ursprung und früchte des handelns

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the storyteller will tell you a story here, then skip one or two and tell you another story, then tell you another. no two people hear the complete story from one man. that is the way it is. you cannot tell everything. this protects you and shields you. you walk behind this shield. it protects you, and you walk behind it. it is like that. 2

ich liebe geschichten. sie enthalten verdichtetes leben. etwas, das in der sprache des alltags schwer zu fassen ist. sie sind ein ort für das numinose. das unsagbare, nicht verstehbare.

in vielen indigenen kulturen ist das erzählen von

geschichten deshalb ein heiliger akt. ein für das gemeinwesen enorm wichtiger vorgang, der von tabus streng geschützt wird; das größte ist das der verschriftlichung. die exakte reproduzierbarkeit einer geschichte, die existenz einer autorisierten version wird nicht nur nicht erwartet, sie soll sogar um jeden preis vermieden werden. bewusst werden lücken eingebaut, widersprüche, irritationen.

in der literaturtheorie gibt es das auch. dort heißt

es „leerstelle“: der moment in einer erzählung, der „die erwartbare geordnetheit des textes unterbricht“.3

un-geordnetheit, un-eindeutigkeit ist also eine qua-

lität. dort, wo sich widersprüche ergeben, brüche, ambi-

parzival und arjuna

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valenzen, geht ein raum auf, in dem sich die geschichte

verändern darf über die zeiten. ein raum, in den immer neue erzähler und erzählerinnen, zuhörer und zuhörerinnen ihre eigenen geschichten hineinlegen können. ein raum auch, aus dem heraus sie sich selbst und ihre welt neu verstehen. vor mir liegen zwei solche geschichten. beide spielen in einer umgebung von kampf und krieg; dort also, wo es immer um leben und tod geht, wo jede moral an ihre äußerste grenze stößt. zwei große erzählungen über zwei große krieger – einer kämpft im westen, einer im osten. beide sind sie bestimmt, recht und ordnung wiederherzustellen. und beide zweifeln sie. an sich selbst, an gott und an der welt.

die fragen, die sie sich stellen, sind mir nicht fremd.

sie beschäftigen auch mich immer wieder. woraus entsteht handeln? woher nehme ich die gewissheit, dass ich recht handle? gibt es diese gewissheit überhaupt? habe ich es je in der hand, der „gerechte mensch“ zu sein? oder geht das leben immer wieder über meine kategorien hinaus?

gemeinsam mit parzival, dem französischen artus-

ritter, und arjuna, dem helden des indischen mahabharata, mache ich mich auf den weg. auf die suche nach dem, was in den leerstellen liegt, was uns verbindet über die jahrtausende hinweg. vollständig wird die geschichte nicht werden; aber vielleicht begegnen wir uns in ihren zwischenräumen.

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ist zwîvel herzen nâchgebûr, daz muoz der sêle werden sûr.4 zeit: um 1000 n. chr.  ort: frankreich, england, deutschland u.a. sowie indien gachmureth, einer der glanzvollsten ritter aus des englischen königs artus tafelrunde, fällt im kampf. seine ehefrau (es ist die zweite) trägt ihr schicksal schon im namen: herzeloyde. sie trauert so sehr um ihren gemahl, dass sie sich schwört, das kind, das sie erwartet, solle nie ein ritter werden, nie kämpfen und also auch nie im kampfe sterben. sie zieht in die wildnis. parzival, der sohn, wächst als waldkind auf, ohne andere kenntnisse als die, die er braucht, um wild zu erjagen oder einen unterstand zu bauen. das leben ist heil in den augen der mutter – bis der heranwachsende eines tages vor sie tritt und verkündet, er werde sie verlassen. ritter wolle er werden. alle vorsicht war umsonst: auf einem streifzug ist er rittern begegnet (die er für engel hielt). die mutter weiß, dass sie ihn nicht halten kann. in der hoffnung, das schicksal möge ihn bald wieder in ihre sichere hütte zurückbringen, stattet sie ihn aus wie einen bettler: mit einer räudigen mähre, einem geflickten kittel und zu großen schuhen. wie ein tölpel soll er aussehen, zu seinem eigenen schutz. doch parzival ist zu etwas anderem bestimmt, als bei der mutter zu sitzen: er ist ein starker junger mann, der bald überall aufsehen erregt. von der ritterlichen welt weiß er allerdings nicht mehr, als dass er pferd und rüstung brau-

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chen wird. – da kommt ihm der berühmte herr ither in seinem glänzend roten harnisch gerade recht: überrascht von der unritterlichen kampfweise seines gegners, unterliegt der erfahrene recke, und parzival tötet ihn. die rüstung legt er über seinem narrenanzug an. aber auch wenn er äußerlich nun einem der besten aus könig artus’ tafelrunde gleicht – innen ist noch viel nachzuholen. gurnemanz, ein edelmann, erkennt die gaben des jungen helden und nimmt ihn in die zucht. und parzival lernt schnell: er legt das narrenkleid ab und wird tatsächlich zum ritter. ein perfekter und edelmütiger kämpfer von hervorragenden umgangsformen, zieht er in die welt hinaus, bewährt sich in ritterlichen abenteuern, befreit die schöne conduiramur und heiratet sie. doch schon nach kurzer zeit bricht der held wieder auf: die mutter will er besuchen. auf dem weg zu ihr kommt er an eine seltsame burg: sie ist voll von reichtümern und wunderdingen, aber ihre bewohner bedrückt eine große traurigkeit. beim abendessen klärt sich, warum: ihr könig anfortas leidet an einer schrecklichen wunde. parzival fühlt mit ihm, erinnert sich jedoch an die lehren des gurnemanz, die ihm zurückhaltung auferlegen – und fragt nicht nach seinem befinden. nachdem alle aus einem geheimnisvollen stein gespeist worden sind, geht man zu bett. am nächsten morgen findet parzival das schloss leer: sein pferd ist das einzige im stall, alles rufen und suchen führt zu nichts. mit dem unbestimmten gefühl, einen schweren fehler begangen zu haben, reitet er schließlich davon.

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die erklärung für die seltsamen vorgänge auf der burg wird ihm umgehend gegeben: an artus’ tafel erscheint kundrie, eine ausnehmend hässliche botin, die ihn verflucht, weil er, der der auserwählte gewesen wäre, die möglichkeit vergeben hat, anfortas, den „gralskönig“, zu heilen. fragen hätte er müssen nach seinem befinden. parzival ist betroffen – und aufgebracht. hat er sich doch gewissenhaft an die lehren gehalten, die er empfangen hat. gott selbst hätte ihn vor so einem fehler bewahren müssen! verbittert wendet er sich von ihm ab und macht sich auf, die gralsburg erneut zu suchen und das versäumte nachzuholen. lange irrt er umher. besteht er abenteuer um abenteuer – aber seine seelenruhe findet er nicht. dunkel ist es in seinem inneren, und noch immer hadert er mit gott. da trifft er an einem karfreitag auf trevrizent, einen einsiedler. für mehrere tage teilt er mit ihm sein karges brot, seine kalte höhle – und hört zu. langsam legt ihm der weise die zusammenhänge seines lebens auseinander. nicht nur er, trevrizent, ist sein oheim, sondern auch anfortas, der kranke gralskönig. ither, der ritter, den er um rüstung und pferd erschlagen hat, ist ebenfalls ein enger verwandter. und die mutter, zu der er sich eigentlich noch immer auf dem weg befindet, ist schon lang aus gram um sein fortgehen gestorben. schuld über schuld. und dann erzählt trevrizent vom gral. er sei ein wundertätiger stein, der jedem genau das gebe, was er brauche. wer ihn sehe, könne nicht sterben. einmal im jahr, am karfreitag, komme eine taube vom

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himmel und lege eine hostie auf ihn; dann nähre er wieder alle für ein weiteres jahr. die ritter, die ihm dienen, dürfen wohl heiraten, aber um keine andere frau minnen. gegen diese regel hat anfortas verstoßen – und wurde prompt von einer vergifteten lanze auf den tod verletzt. weil er aber den gral vor sich habe, könne er nicht sterben. einmal jedoch werde einer kommen, der nach seinem leiden fragen müsse; der werde ihn und die ganze gralsgesellschaft erlösen und der neue könig sein. parzival ist zerstört. kaum wagt er, sich zu erkennen zu geben. er ist entschlossen, den gral noch einmal zu finden, eine zweite chance zu ertrotzen. doch trevrizent belehrt ihn, dass keiner den gral erzwingen kann. nur wer ihn nicht sucht, wird ihn finden. der einzige weg ist, das eigene scheitern in demut anzuerkennen und auf die gnade gottes zu hoffen. parzival hat mir schon immer gefallen. der wilde knabe, der sich einfach aufmacht. die tatsache, dass er einen fehler nach dem anderen begeht. und dabei immer aus einer nachvollziehbaren, von seinem momentanen horizont aus völlig gerechtfertigten motivation handelt. ein guter junge – selbst dort, wo er mordet und stiehlt wie bei ither.

seine erziehung, die immer komplexer wird. sein

scheitern immer wieder, auf jedem entwicklungsstand aufs neue. und schließlich seine frustration, seine düsternis, als er vor der ganzen welt angeklagt wird, weil er sich an die ihm vermittelten werte gehalten hat. sein trotz, es noch einmal zu versuchen. weiter zu gehen – genau wie

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bisher. „parzival“ heißt nach einer interpretation „mitten durch“. und so ist er mir immer vorgekommen: hinein ins leben, in die herausforderungen – auch dort noch, wo er sie als ganz ungerecht empfindet.

oh sanjaya, berichte mir, was geschah auf kurukshetra, dem feld des dharma!5 zeit: um 1000 v. chr.  ort: nordindien die pandavas und die kauravas stehen einander auf dem schlachtfeld der schlachtfelder, dem kurukshetra, gegenüber. nach jahrzehnten von rivalität und intrigen soll es zum entscheidenden kampf kommen. die feindlichen heere bestehen aus landsleuten, verwandten, freunden. die kauravas sind die söhne des blinden königs dritarashtra; sie wurden geboren als ein stück fleisch. auf anweisung von vyasa – einem mythischen weisen, der auch als autor unserer geschichte gilt – schnitt die mutter den klumpen in hundert stücke, und nach neun monaten gingen hundert prinzen daraus hervor. eigentlich sollten sie gemeinsam mit den pandavas in frieden regieren. die pandavas sind söhne von dritarashtras bruder. aufgrund eines fluches konnte ihr vater pandu keine kinder zeugen, und unterschiedliche götter haben diese aufgabe für ihn übernommen: arjuna ist sohn des götterkönigs indra, yudishtiras vater ist der totengott yama, der

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vater des starken bhima ist der windgott vayu, und zwei weitere brüder haben paradieselfen zu vätern. nach dem tode pandus wurden seine söhne gemeinsam mit ihren vettern am hof dritarashtras erzogen. die lehrer der prinzen, unter ihnen die berühmten krieger bhishma und drona, sind vollkommene meister in allen waffen und leuchtende vorbilder an edler gesinnung. ihre besondere liebe gilt arjuna, dem begabtesten ihrer schüler. mit der zeit entwickeln die kauravas, allen voran ihr anführer duryodhana, einen obsessiven hass auf die vettern und bekämpfen sie mit allen mitteln. doch als diesen ein wüster landstrich zur herrschaft übergeben wird, verwandeln sie ihn in eine blühende stadt. und auch verbannung, mordanschläge und andere intrigen können ihnen nichts anhaben. die kriegerische, aber auch die moralische überlegenheit der pandavas macht alle pläne der kauravas zunichte. duryodhana ist dennoch nicht bereit, ihnen ihren rechtmäßigen platz einzuräumen. und auch der blinde, alte könig nimmt partei für seine söhne und gegen die neffen. selbst als die pandavas anbieten, sich mit je einem dorf zu begnügen, lehnt duryodhana ab. so scheint nur ein mittel zu bleiben, um die gerechte ordnung und eine glückliche herrschaft für das reich wieder herzustellen. die armeen stehen einander gegenüber. arjuna, der wichtigste anführer im heer der pandavas, lenkt seinen streitwagen zwischen die fronten. er hebt das große muschelhorn, um das zeichen zum angriff zu geben – und lässt

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es wieder sinken. aufgewühlt wendet er sich an seinen wagenlenker: wie soll er kämpfen gegen freunde und verwandte? wie gegen seine geliebten lehrer? sein ganzer sagenhafter mut ist dahin. doch arjuna hat glück: sein wagenlenker ist krishna, ein ihm verwandter könig – und inkarnation von vishnu. gott selbst. im moment der höchsten spannung, in dem moment, in dem der apokalyptische kampf endlich beginnen soll, schickt krishna sich an, dem zweifelnden auseinanderzulegen, was richtiges handeln ist. still soll arjuna werden. sitzen auf einem hirschfell und seine gedanken auf ihn, den schöpfer des alls, richten. mehr braucht es nicht. dann wird er wissen, was er tun soll. – aber arjuna ist nicht zufrieden. der kampf kann nicht gerecht sein. es kann nicht sein, dass es recht ist, seine eigenen verwandten und lehrer zu töten! doch krishna sagt, dein blick ist zu klein. du kannst das ganze nicht sehen. deshalb beschränkt sich deine verantwortung darauf, deinem dharma zu folgen. dem, was dir wesensgwmäß ist. so, wie es das wesen des feuers ist zu brennen, so ist es dein wesen, arjuna, zu handeln in der welt. dafür bist du geboren. schüler, freund, vetter, neffe zu sein, sagt nichts darüber aus, wer du wirklich bist. du bist ein teil von mir, so wie alles andere auch. aus dieser verbindung sollst du handeln; alles weitere sind rollen ohne bedeutung. frei von allem begehren, von allem urteil sollst du sein. in gleichmut die ereignisse deines lebens ertragen und handeln im einklang mit mir, deinem innersten selbst. ich bin der ursprung. die früchte deines handelns gehören dir nicht.

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lang sprechen die beiden zwischen den heeren von kurukshetra. und immer wieder fragt arjuna nach. geduldig erläutert ihm krishna sein dharma, zeigt sich ihm sogar in seiner göttlichen gestalt. schließlich fordert er den freund auf, nun selbst zu entscheiden, was er tun will. – und arjuna bläst in die muschel. sein bruder yudishtira aber, der könig der pandavas, geht zwischen die feindlichen linien hinein, auf seine lehrer zu, und bittet sie um ihren segen für den kampf. und drona, der große krieger, sagt, ich hätte dich verflucht, wenn du nicht gekommen wärst; so aber segne ich dich. sein onkel shalya verspricht ihm sogar, für seinen sieg zu beten, obwohl er auf der anderen seite kämpft. und so beginnt der krieg. er dauert viele tage, und mitten im schlachten finden immer wieder begegnungen statt, die mehr von achtung zeugen als von hass. eines nachts, am höhepunkt der kämpfe, schleichen die pandavas ins lager der gegner und besuchen bhishma, ihren geliebten lehrer. er ist der wichtigste rückhalt in dritarashtras armee; solang er lebt, kann der krieg nicht gewonnen werden. er freut sich, seine schüler zu sehen – und als sie ihn fragen, wie sie über ihn siegen können, erklärt er es ihnen. er weigert sich nicht, für seinen könig, dem er loyalität schuldet, zu kämpfen. er sucht auch die pandavas nicht auf. aber als sie ihm eine frage stellen, beantwortet er sie. und am nächsten tag fällt er, wie es seinem dharma entspricht: als krieger auf dem schlachtfeld. auch unzählige andere helden sterben; viele von ihnen als folge von flüchen, die sie vor langer zeit, vielleicht

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sogar in einem früheren leben, getroffen haben. das alte handeln wirkt in die gegenwart herein. karma. der „fluch der bösen tat“ wird nicht sistiert; er muss sich erschöpfen. der krieg findet statt. es gibt keine abkürzung. in all dem schrecken ist meine sympathie bei arjuna. wenigstens einer, der die richtigen fragen stellt. der verzweifelt am wahnsinn dieses schlachtens. – und dann kommt gott und bringt ihn in 700 versen dazu, doch zu kämpfen. das ist mir nicht angenehm. selbst wenn ich akzeptiere, dass der krieg vielleicht die einzige möglichkeit ist, dem treiben der kauravas ein ende zu setzen.

yudishtira macht es mir leichter. er gilt als der „ge-

rechteste unter den menschen“; manchmal wird sogar dharma selbst als sein vater genannt. – und er eröffnet in dem ausweglosen entweder-oder ein überraschendes sowohl-als-auch. er folgt dem, was er tun muss. wenn daraus ein widerspruch entsteht, ist es nicht an ihm, den zu lösen. im gegenteil: nur wenn er das widersprüchliche aushält, es nicht zu glätten versucht, kann er handeln, wie es seiner inneren wahrheit entspricht.

wand an im sint beidiu teil, des himels und der helle.6 und parzival? warum ist für parzival der ganze umweg überhaupt nötig? wie sich herausstellt, war er ohnehin ein mitglied der gralssippe, der einzige seiner generation. also – mit oder ohne auserwähltheit – der logische nach-

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folger. warum der ganze aufwand mit frage und geheimnis und warten auf den unbekannten erlöser?

was wäre anders gewesen, wenn er einfach als

nachkomme in sein recht getreten wäre? der ganze prozess seiner reifung wäre nicht passiert, ja. sein lernen, scheitern, wieder lernen… aber andererseits, wenn ihn herzeloyde gleich schon angemessen aufwachsen hätte lassen, wäre er zu all den tugenden erzogen worden, die er sich so mühsam erwerben muss. parzivals geschichte beginnt mit einem widerstand gegen den lauf der dinge: herzeloyde, die den schmerz um ihren toten gatten kaum ertragen kann und ihr kind retten will. ziemlich verständlich. und ziemlich ähnlich dem wunsch arjunas, seine verwandten und lehrer nicht zu töten.

krishna würde sagen, auch herzeloyde hat sich von

ihrem und parzivals dharma entfernt, weil ihre bindung an die familie größer war als ihre verbindung zum ganzen. wenn sie das leben annimmt auch im schmerz, dann weiß sie, dass parzival ihr nicht gehört. dass sie ihn nicht für sich bewahren kann. aber sie hat angst. und versucht das, was sie fürchtet, zu verhindern.

genau davor warnt krisha den freund: selbst wenn

er entscheiden sollte, den kampf nicht zu führen, würde ihn seine eigene natur in ihn treiben. sein wesen kann er nicht ändern. und aus dem wunsch, ihm zu entkommen, entsteht nur neue verstrickung. genauso wie herzeloydes versuch, parzival seiner natur zu entfremden, diesen in eine ganze reihe unschuldig-schuldhafter beziehungen wirft.

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auch anfortas‘ wunde, der unerträgliche schmerz, ist so eine folge alten handelns. und parzival tritt in diese verwicklung hinein. seine natur ist empathisch; das kommt in vielen episoden seiner geschichte zum ausdruck. und doch kann er die erlösende frage nicht stellen. das ungelöste, widersprüchliche zu benennen, ist ein tabu. so hat er es gelernt.

vielleicht steht dasselbe tabu auch am anfang von

parzivals eigener geschichte. was, wenn jemand seiner mutter herzeloyde die mitleidsfrage gestellt hätte? wenn jemand ihren schmerz um den gatten in seiner ganzen größe gewürdigt hätte? wäre sie dann geblieben? hätte sie ihn dann ertragen? hätte sie dann die gefahr für ihren sohn annehmen, parzival zum ritter erziehen können?

neulich habe ich in einem roman einen satz gelesen,

der mich sehr berührt hat. eine mutter sollte ihre tochter aus dem haus geben, in eine situation, die ihr gefährlich werden konnte. sie stimmte zu, und ihre gesprächspartnerin wies sie noch einmal auf die gefahr hin. da sagte die mutter, zu hause könne dem mädchen auch allerhand passieren: „wir leben auf der erde.“7 das leben auf der erde ist nicht eindeutig. ist nicht schwarz oder weiß. so leitet wolfram von eschenbach auch seinen parzival ein: der zweifel macht die seele sauer. wo er sich aber paart mit unverzagtheit – wie auf dem federkleid der elster schwarz sich paart mit weiß – dort kann noch heil werden, weil der mensch himmel und hölle in sich trägt.8

vielleicht bezeichnet der erzähler der bhagavad gita,

der großen unterweisung des arjuna, deshalb schon im

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ersten vers das schlachtfeld als „feld des dharma“. der krieg ist ein krieg im inneren. eine auseinandersetzung mit dem widerspruch zwischen der inneren gewissheit und dem, was das leben auf der erde an die kämpfer heranträgt. liebe, angst, schuld, schmerz, hoffnung… immer wieder tritt ihnen eine neue herausforderung entgegen und verlangt eine antwort.

als parzival, niedergedrückt von der summe seines versagens, von trevrizent wegreitet, trifft er im wald auf einen fremden. er schlägt sich mit ihm – und es ist das erste mal, dass der kampf zu seinen ungunsten ausgehen könnte: der unbekannte ritter ist stärker, reicher, strahlender als er. parzival verliert sein schwert im kampf; da wirft auch der andere das seine weg – und entblößt sogar seinen kopf zum zeichen des friedens. es ist feirefiss, sein älterer bruder. gachmureth hat ihn in indien mit einer dunkelhäutigen frau gezeugt; deshalb ist er „schwarz und weiß gefleckt wie die elster“. die brüder erkennen einander, und parzival bringt feirefiss an artus’ hof. dort taucht zum zweiten mal die rätselhafte kundrie auf – und eigentlich ist auch sie eine art elster: extreme hässlichkeit, gepaart mit größter weisheit. diesmal bringt sie erfreulichere nachrichten: der gral schickt nach parzival; sie selbst wird ihn hinbringen. die brüder machen sich gemeinsam auf den weg, parzival stellt die frage, und anfortas ist geheilt. die dinge kommen in bewegung, als parzival den unbekannten halbbruder, sein geschecktes alter ego, erkennt.

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und anerkennt, dass der stärker ist als er. der strahlend hellen zeit vor seinem ersten eintreffen beim gral folgt eine tief dunkle des herumirrens auf der suche nach ihm. als er seine eigene begrenztheit erkennt, als sich in seinem bruder das helle und das dunkle zu einem ganzen verbinden, ruft ihn der gral.

und arjuna? auch der hat einen halbbruder. er erkennt ihn allerdings nicht, sondern schmäht und verspottet dessen scheinbar niedere abkunft. dabei ist karna genauso ein götter-sohn wie die pandavas. arjunas mutter hat ihn vor ihrer ehe mit pandu von surya, dem sonnengott, empfangen und, um der schande zu entgehen, ausgesetzt. ein wagenlenker und seine frau gelten als seine eltern. arjuna ist mit karna also nicht weniger verwandt als mit yudishtira; aber er weiß es nicht. und karna gibt sich nicht zu erkennen. er ist ein ebenso erfahrener kämpfer wie arjuna. der einzige, der ihn schlagen könnte. und wenn er nicht seinerseits für ein fehlverhalten verflucht worden wäre, hätte er ihn wohl tatsächlich getötet. so aber tötet arjuna ihn – und erfährt erst beim totenopfer, wen er besiegt hat. nach vielen tagen, als die kämpfe beendet und alle helden tot sind, übernimmt auf der erde der letzte nachkomme arjunas die herrschaft. im himmel aber verschmelzen nicht nur die pandavas, sondern auch karna wieder mit der göttlichen natur ihrer väter. die kauravas sind ein stück fleisch, geschnitten in hundert stücke. die pandavas sind die söhne der götter. karna ist

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von derselben art wie arjuna; die strahlende rüstung, mit der er geboren wird und die ihm unsterblichkeit verleihen könnte, gibt er freiwillig auf. er ist der teil arjunas, der ins feindliche lager geht. ins leben der tausend dinge. der spiegel, der arjuna von dort aus entgegen tritt.

then, after he has finished telling you everything you wanted to know, he will say: now go, tell to each other the stories i have told you.9 arjuna und parzival würden einander mögen, wenn sie sich träfen. ehrenhafte krieger, kultiviert, warmherzig, kampferprobt – beide nicht dazu bestimmt, als einsiedler im wald zu leben. sie hätten viel zu teilen, auch viele fragen. und wenn sie so beisammen säßen, in einem schloss am rhein oder am ganges, würden sie einander vielleicht sogar von ihren zweifeln erzählen. parzival würde vielleicht sagen:

als ich vor aller welt verurteilt wurde – da habe ich mich von gott verlassen gefühlt. du hattest es besser im moment des zweifels. du hattest gott vor dir auf dem wagen sitzen. aber arjuna würde ihm widersprechen: umso unver ständlicher war es, dass ich gegen meine verwandten und lehrer kämpfen sollte! gott selbst war neben mir, im vertrauen auf ihn bin ich in diese schlacht hineingegangen – und mit einem mal war alles falsch. das kämpfen genauso wie das nicht kämpfen.

das würde parzival einleuchten. er konnte sich

wenigstens denken, gott sei fern. und überhaupt, würde

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er sagen, war es für mich leichter. ich sollte etwas tun,

das ich ohnehin tun wollte. du hingegen solltest tun, was du nicht wolltest. – warum hast du es eigentlich am ende doch getan? weil ich es als richtig erkannt habe. genau wie du. das würde eine weile so im raum hängen bleiben.

und schließlich würde parzival fragen: aber war

es wirklich falsch, dass ich geschwiegen habe? bin ich wirklich schuldig geworden dadurch, dass ich mich an die regeln gehalten habe? das ist es, würde arjuna sagen, was ich in dem moment auf dem schlachtfeld verstanden habe: das „richtige“ wird sichtbar, wenn ich alle vorstellungen von richtig und falsch, alle wünsche und ängste aufgebe. dann wird es still, und ich weiß, was ich zu tun habe. parzival würde dem nachsinnen. eigentlich, würde er schließlich sagen, war es in der gralsburg nicht anders. wenn ich nicht „richtig“ und „falsch“ gedacht hätte, hätte ich gefragt. mein bruder yudishtira hat das früher erkannt, würde arjuna fortfahren. der hat drona um seinen segen gebeten, mitten im feindlichen lager. aber ich wollte, dass das, was geschieht, mit meinem begriff von richtig und falsch übereinstimmt. dass es keinen widerspruch gibt. keine schuld. da fällt mir wieder ein, dass yudishtiras vater manchmal yama ist, der tod, und manchmal dharma. der tod ist eine besonderheit des lebens. das dharma auch. das ringen um das „richtige“ gehört zum leben auf der erde wie der

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tod. das anstoßen an grenzen, auf allen ebenen. – und gerade sagt arjuna: es gibt keine schuldlosigkeit. keine

garantie für das richtige. der krieg, unser krieg, musste stattfinden, um das recht wieder herzustellen; ohne mich hätten meine brüder verloren. – und die, die ich getötet habe, waren meine verwandten. beides ist wahr. vielleicht bedeutet schuld, einer situation, einem menschen, nicht gerecht zu werden, versucht es parzival wieder, einer verantwortung nicht gerecht zu werden. so wie ich keine antwort gefunden habe auf anfortas’ leiden. warum war es eigentlich so schwierig zu fragen? – arjuna ist sich nicht sicher, ob er diese frage stellen darf. und parzivals antwort kommt zögernd: ich war verwirrt. ich hatte den eindruck, dass alle etwas von mir erwarten – aber ich wusste nicht, was. etwas großes stand im raum. was, wenn ich der antwort nicht gewachsen wäre? wenn ich durch sie in etwas hineinträte, das ich nicht lösen könnte? am ende habe ich zuflucht genommen bei den regeln, die man mir beigebracht hat. „auf die früchte des handelns hast du kein recht“, zitiert arjuna noch einmal krishna. vielleicht entsteht schuld dort, wo dein handeln beginnt. nicht dort, wo es endet. ja, sagt parzival. das ist es wohl. wenn ich meiner inneren notwendigkeit gefolgt wäre, hätte zumindest der ausgangspunkt gestimmt. was dann entstehen würde, war ohnehin nicht erkennbar. und arjuna fügt nachdenklich hinzu: obwohl es gegen die regel verstoßen hätte, wäre es angemessen gewesen. so wie dein kampf, sagt parzival. so wie mein kampf, nickt arjuna.

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„angemessen“, denke ich. angemessen wie ein mantel, der gut sitzt. mir selbst, der situation, mir in dieser situation angemessen. – doch die wirklichkeit hat oft einen buckel. hat dann der angemessene mantel auch einen? und wer misst ihn an, diesen mantel? welche objektive instanz stellt seine angemessenheit fest? trevrizent würde sagen, vertrau auf gott. und krishna würde sagen, richte dich zu mir aus. die stimme, die spricht, wenn alles andere still ist. du selbst. das setzt eine große klarheit voraus. ein hören. rechenschaft über meine gefühle, gedanken. mich nicht „rein“ halten wollen. nicht ausweichen aus angst, zur täterin zu werden. oder zum opfer. wenn ich mich weigere, herrscht stillstand. dann kann das alte nicht gehen. „das karma muss sich erschöpfen“, sagt krishna. ich kann es nicht aufhalten. aber ich kann hineintreten in das, was ist. mich stellen. dann stehe ich mir selbst gegenüber. dem teil, der mir unvertraut ist.

parzival und arjuna

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der zweifärbigen schwester. was folgt, ist freudiges wiedersehen – oder kampf auf leben und tod. nichts wegstoßen, nichts festhalten, nichts hinzufügen. nie denken: das ist es. und trotzdem bereit sein zu handeln. hineintreten in den vieldeutigen raum immer wieder. ihn aushalten als den mir angemessenen. den nächsten schritt machen und jederzeit wissen, er kann auch falsch sein. und wieder das angemessene suchen. es gibt nichts richtiges. nur den nächsten moment. nein, nur diesen. wir leben auf der erde. und die elster ist ein bunter vogel.

210 1

  yudishtiras geschichte ist eine von

diné (von außenstehenden auch „nava-

unzähligen episoden aus dem maha-

jo” genannt), der über die art und weise

bharata, dem umfangreichsten sanskrit-

berichtet, in der in seiner tradition eine

epos. annahmen über seine entste-

geschichte erzählt werden soll. larry

hungszeit umfassen in etwa das jahrtau-

evers: between sacred mountains.

send um christi geburt, wobei teile

university of arizona press: tucson

sicher auf noch ältere quellen und

1986.

erzählungen zurückgehen. seine rund   wolfang iser: der akt des lesens.

100.000 verse sind in alle großen

3

sprachen der welt übersetzt worden;

wilhelm fink verlag: münchen 1976.

ich selbst habe es hauptsächlich über   „wo zweifel eines herzens nachbar

die mündlichen erzählungen indischer

4

freunde kennen gelernt. in seiner fülle

ist, da muss die seele sauer werden.“

ist es kaum zu bewältigen; wer sich

mit diesen versen beginnt wolfram von

aber einen ersten eindruck verschaffen

eschenbach seinen „parzival“, eines

möchte, dem sei samhita arnis version

der großen epen des deutschen mit-

empfohlen: sie hat als 14-jährige die

telalters. geschrieben um das jahr 1200,

ihr seit frühester kindheit vertrauten

geht es auf unterschiedliche, ältere

geschichten aufgeschrieben und aufge-

quellen zurück, vor allem auch auf den

zeichnet. samhita arni: the mahabha-

französischen versroman von chrestien

ratha. tara publishing: madras 1996.

de troyes. empfehlenswert ist die über-



ein guter einstieg ist auch peter

brooks fünfeinhalbstündige verfilmung

setzung von dieter kühn, die parallel zum mittelhochdeutschen text gelesen

von 1989, zugänglich auf youtube: www.

werden kann. wolfram von eschen-

youtube.com/watch?v=yhqkRGISQr8.

bach: parzival. übertragen von



wer sich tiefer mit dem mahabhara-

dieter kühn. deutscher klassiker

ta beschäftigen will, für den ist devdutt

verlag: frankfurt am main 2006.

pattanaiks ausführlich kommentierte



nacherzählung sehr empfehlenswert.

deutschen text, dafür aber ein umfang-

eine ältere ausgabe enthält nur den

devdutt pattanaik: jaya. an illustra-

reiches portrait wolframs und seiner

ted retelling of the mahabharata.

zeit. dieter kühn: der parzival des

penguin books india: haryana 2010

wolfram von eschenbach. suhrkamp:



in deutscher sprache ist das ganze

frankfurt am main 1994.

epos sogar online verfügbar. der text



beruht auf einer englischen überset-

auch nicht immer germanistisch ein-

eine besonders charmante, wenn

zung, die ende des 19. jahrhunderts im

wandfreie übersetzung stammt von wil-

auftrag der britischen kolonialherren –

helm hertz. wolfram von eschenbach:

in der hoffnung auf ein besseres ver-

parzival. übertragen von wilhelm

ständnis ihrer untertanen – vom indi-

hertz. phaidon verlag: stuttgart

schen verleger und gelehrten protap

1982 – nachdruck der ausgabe von 1912.

chandra roy erstellt worden ist. (www. mahabharata.pushpak.de)

5

  diese zeilen leiten die „bhagavad

gita“ ein, den „gesang des erhabenen“. 2

  der us-amerikanische anthropologe

larry evers zitiert einen angehörigen der

ihre 700 verse wurden wahrscheinlich später in das mahabharata eingefügt

211 und beschreiben die unterweisung des

8

arjuna durch krishna. die gita gilt als ei-

  ist zweifel eines herzens nachbar,

ist zwîvel herzen nâchgebûr,

nes der wichtigsten indischen weisheits-



bücher und ist bis heute weit verbrei-

  davon muss die seele sauer werden.

daz muoz der sêle werden sûr.

tet – sowohl in indien als auch auf der



ganzen welt. die deutsche übersetzung

  geschmäht und gelobt

gesmæhet unde gezieret

von michael von brück beinhaltet einen



umfangreichen historisch-kritischen

  ist, wo sich damit paart

ist, swâ sich parrieret,

kommentar. michael von brück (hg.):



die bhagavad gita. verlag der welt-

  eines unverzagten mannes mut

religionen: frankfurt am main 2007.





  so wie‘s der elstern farbe tut.

eine frühere ausgabe dieser überset-

unverzaget mannes muot als agelstern varwe tuot.

zung enthält ein instruktives vorwort von



bede griffiths, der sich als benediktiner-

  der kann dennoch froh sein:

der mac dennoch wesen geil:

mönch zeit seines lebens um den inter-



religiösen dialog zwischen christentum

  denn in ihm sind beide teile,

und hinduismus bemüht hat. michael



von brück (hg.): die bhagavad gita mit

  des himmels und der hölle.

wand im sint beidiu teil, des himels und der helle.

einem vorwort von bede griffiths.

(siehe anmerkung 4. übersetzung:

kösel verlag: münchen 1993.

ursula reisenberger)



eine englische übersetzung von

eknath easwaran ergänzt den text durch eine übersichtliche und gut nachvollziehbare einführung in die für das verständnis wichtigsten begriffe der indischen philosophie. eknath easwaran (hg.): die bhagavad gita. nilgiri press: berkeley 2007 – diese ausgabe gibt es auch in einer deutschen übersetzung im goldmann verlag 2012. 6

  „denn in ihm sind beide teile: des

himmels und der hölle.“ (siehe anmerkung 4) 7

  der roman spielt in etwa um die zeit

von wolframs parzival und erzählt die geschichte eines – illegitim adelig geborenen – schäfers, der zu hohen ritter-ehren aufsteigt. wolf von niebelschütz: die kinder der finsternis. kein und aber verlag: zürich 1959.

9 

siehe anmerkung 2.

nach dem großen krieg gehen krishna und arjuna am strand spazieren. sie rekapitulieren, was geschehen ist – und arjuna erinnert sich an eine ganz besondere begegnung in dieser so chaotischen zeit: krishna habe ihm etwas wesentliches mitgeteilt; das wisse er noch. was es aber gewesen sei, daran könne er sich nicht mehr genau erinnern. ob der freund seine unterweisung wiederholen könne. krishna verneint: der arjuna, zu dem ich damals gesprochen habe, ist nicht mehr. damals warst du vollkommen von deiner hilflosigkeit überzeugt; jetzt würdest du mich nicht verstehen. aber mach dir keine sorgen – auch wenn der verstand vergessen hat, ist nichts von dem verloren, worüber wir gesprochen haben. es lebt in dir.

DORA KUTHY

GEMISCHTER SATZ

Das Abstrakte, das Figurative, das Täuschende, das Versteckte, das Geheime, das Paradoxe, das Träumerische neben dem Gegebenen. Das Denkende, das Dialogische und das Handelnde, das Intuitive und das Rationale, das Distanzierte und das Involvierte, das Zusammengehörige, das Zusammenhaltende und das Trennende und das Ausgegrenzte. Das Chaotische und das Ordentliche, das Geregelte und das Freie. Das Feste und das Flüssige, das Naturgegebene, das Konstruierte, das Technologische.

Diese Begriffe haben mich im künstlerischen Prozess geleitet, um die komplexen und vielseitigen Erscheinungen von Denken, Kunst und Frieden in verschiedenen Szenarien und Perspektiven darzustellen.

Als Inspiration dienten mir Gefühle, Erinnerungen an Texte, an Gespräche und an Momente mit Menschen. Auch Erlebnisse mit Musik, Faszination über Naturereignisse und Bilder, die ich beim Reisen festgehalten habe, sind mir beim Zeichnen präsent gewesen.

Spüren ist mir wichtig. Alle fünf Sinne sind aufgerufen.

Das Gesellige hat einen hohen Stellenwert.

Die Dialoge zwischen gezeichneten Linien und dem weiß gelassenen Blatt machen meine inneren Monologe sichtbar.

Linien können Spannungen und mögliche Konfliktgespräche nachzeichnen. Sie wünschen sich auch, das Du zu erreichen.

Wo zeigt sich potentiell Frieden? Im Spannungsfeld zwischen sich ähnelnden oder sich ausschließenden, sich gut oder gar nicht vertragenden Elementen.

Konflikte entstehen, weil wir alle, Menschen, Tiere und Pflanzen, uns die Welt teilen.

MARIETTA BÖNING, BORIANA KARAPANTEVA-STRASSER FRIEDENSLEHRE IM KUNSTUNTERRICHT AM BEISPIEL FRIEDENSWEG ST. PÖLTEN Ein Gespräch

231

232

Böning, Karapanteva-Strasser Marietta Böning

Wir leben in einer globalen Gesellschaft mit Herausforderungen im 21. Jahrhundert, denen sich zu stellen dringend gefordert ist. Imperialismus im postkolonialen Stil, Flüchtlingsbewegungen, soziale Ungleichheit, Ressourcenkriege, ökologische Desaster und die komplexen Verschränkungen dieser Problemfelder untereinander charakterisieren sie ebenso wie ihre Errungenschaften Bildung für alle, sozialer und materieller Wohlstand. Weil der Mensch sowieso nur glücklich in seiner lokalen Lebenswelt sein kann – denn Glück ist an Selbsterfahrung gebunden –, bekommt er etwas von der Tragweite dieser Herausforderungen und der Dringlichkeit, Lösungskonzepte zu entwickeln, um sie auch umzusetzen, am ehesten nur durch Vermittlung mit. Vermittlung macht aber oft nichts erfahrbar. Sie macht verstehbar, aber Probleme nicht spürbar. Ulrich Beck beschrieb diesen Zustand, der viel mit Nicht-Wissen zu tun hat, in seinem Buch Die Weltrisikogesellschaft als „clash of risk cultures“.1

Oft werden Herausforderungen als solche erst

dann wahrgenommen, wenn globale Missstände auch auf regionaler Ebene sichtbar geworden sind. Bei der Erarbeitung von Lösungen finden bei den Beteiligten nachhaltige Lernprozesse statt, denn sie verändern die eigene Lebensumwelt. Wenn Wissen mit Erfahrung zusammenhängt, muss Vermittlungsleistung Erfahrung motivieren. Das klingt selbstverständlich, und darauf zu kommen, ist keine große Wissenschaft,

233

Friedenslehre im Kunstunterricht

sondern wird einem früher oder später bewusst. Nun sind es Kunst und Design als Vermittlungsmedien, die, da sie sinnlich affizieren im Gegensatz zu, sagen wir, Zahlen, womöglich nachhaltigere Erfahrungen auslösen können als rein schriftliches Faktenmaterial. Ein einfaches Beispiel: Das Greenpeace-Plakat Die Zukunft der Arktis? Gemeisam können wir die Zukunft der Ölkonzerne noch stoppen mit einem ölbeschmierten Eisbären auf eisfreiem Fels trifft, kombiniert mit einer Tabelle über Ölfördermengen und dem gestiegenen CO2-Ausstoß in der Arktis, eine andere

Aussage als die Tabelle allein, obwohl sie dasselbe Allgemeinwissen über den Eisbären voraussetzt.

Im Bewusstsein um den Bedarf an einem schu-

lischen Vermittlungskonzept, das Wissenstransfers als kulturelle Transfers hin zu anderen ethnischen (Wissens-)Kulturen verstehbar macht, und im Wissen, welche Implikationen solche Transfers für die schulische Ausbildung wie für die Persönlichkeitsbildung der Schüler_innen haben können, hast du als Kunstpädagogin in den Jahren 2015–2016 an der BundesBildungsanstalt für Sozial- und Elementarpädagogik (BASOP/BAfEP) ein neues, vom Ansatz her fächerübergreifend ausgerichtetes didaktisches Konzept entwickelt und erprobt. Kunstvermittlung ist darin mehr als die Weitergabe kreativer Skills und die Schulung der

sinnlichen

Wahrnehmung.

Kunstvermittlung

trägt für dich einen generalistischen Ansatz in sich, den du so wagemutig wie selbstverständlich als „aktive Friedensarbeit“ weitergibst.

234

Böning, Karapanteva-Strasser

Du bezeichnest dein Projekt im Kunstunterricht an der BASOP/BAfEB als Friedensweg St. Pölten. War Frieden nur eines unter möglichen anderen normativ konnotierten Themen für deine Weise des KunstUnterrichtens oder beanspruchst du mit einer Öffnung des Kulturbegriffs, ohne die dieses Konzept ja gar nicht aufgehen kann, Frieden als grundsätzliches Thema in der Kunstvermittlung? Muss Kunst friedensstiftend sein? Boriana Karapanteva-Strasser

Aus meiner Sicht ist Kunst immer friedensstiftend. In der UNESCO-Präambel steht die irreführende Aussage geschrieben, Kriege würden „im Geiste der Menschen“ beginnen. Der Pädagoge Armin Bernhard spezifiziert, dass Antriebskräfte des Krieges in den Produktions- und Reproduktionsverhältnissen der Klassen- und Herrschaftsgesellschaften entstehen. Er betrachtet es als eine der zentralen Aufgaben der Friedenspädagogik, „die Loyalität gegenüber Friedlosigkeit ‚im Geiste der Menschen’“ geradewegs zu bekämpfen. Er sagt richtig, dass Friedenspädagogik an den strukturellen gesellschaftlichen Ursachen anzusetzen hat.2 Auch der Kunstunterricht hat meiner Meinung hier anzusetzen.

Als ich mit der Konzeption des Friedensweges

in St. Pölten begann, war mir klar, dass ich in die Tiefe gehen muss, um die Komplexität dieses Themas zu erörtern. Das Konzept des Friedenswegs ist an das von Susanne Jalka initiierte EU-Projekt discoverpeace

235

Friedenslehre im Kunstunterricht

(www.discoverpeace.eu) angelehnt. Dieses erschloss in sieben europäischen Städten Räume, die wichtig für die Friedensarbeit sind. Bestimmte Menschen, historische Persönlichkeiten, die an Orten tätig waren, wurden durch nüchtern-präzise erzählte Geschichten lebendig und die Wichtigkeit, vor allem die Vielfalt dieser Friedensaktionen, stach sofort heraus. Für die Konzeption der Unterrichtseinheiten war die Erfahrung, die ich selbst anlässlich der Führung in Wien gemacht habe, sehr wichtig. Man fragt sich ständig, wie es möglich ist, die Geschichte aus der „Friedensperspektive“ nicht gekannt zu haben und wie es zu dieser Unkenntnis kam. Daraus entstehen auch die Fragen: Woran erinnern wir uns überhaupt? Wer bestimmt das, und mit welchen Erinnerungen (Denkmälern, Gedenktafeln, Straßennamen etc.) sind wir im urbanen Raum konfrontiert?

Anders als bei diesem gesamteuropäischen

Projekt, wollte ich bekannte Orte in St. Pölten aufgreifen und einen zweiten Blick auf sie werfen, eine neue Wahrnehmung von Zeit und Menschen mit dem Schwerpunkt auf Frauen, die aus dem Gedächtnis der Stadt verschwunden sind, ermöglichen. Zu Beginn

der

Führung

standen

eine

klassische

Kunstbetrachtung des Mahnmals der ermordeten Widerstandsgruppe Kirchl-Trauttmansdorff von Hans Kupelwieser im städtischen Hammerpark sowie die Frage „Was geht mich das an?“ Mittels Werkbetrachtung, ein klassisches Verfahren in der Kunstgeschichte, wollte ich ein persönliches Entdecken

236

Böning, Karapanteva-Strasser

bei jedem Schüler/jeder Schülerin ermöglichen. Das Bild, das Werk ist nur die Oberfläche; die Reise beginnt erst dann, wenn man anfängt zu hinterfragen, analysieren, dekonstruieren und durchschauen. Dann beginnt auch das logische Denken, das Verbinden von historischen Fakten, das Entdecken und das Lernen. Für die Entwicklung des Konzeptes war mir auch klar, dass ich in meiner eigenen Biografie „nachschauen“ muss, um mich zu erinnern, warum ich manches in Zusammenhang mit Friedlosigkeit gar nicht mehr hinterfrage, sondern als Tatsache annehme.

Susanne Jalkas Projekt discoverpeace beinhal-

tet für mich wichtige Aspekte der Kunstpädagogik. Dazu zählen differenzierte Wahrnehmung, Sensibilität, Offenheit gegenüber unterschiedlichen ästhetischen Verhaltensweisen. Schüler_innen im Kunstunterricht empfinden etwas gegenüber ihrem Gegenstand, entdecken etwas an ihm, denken nach, bezeichnen, sie vergleichen, interpretieren, deuten, urteilen – Tätigkeiten,

die

basal

dafür

sind,

strukturelle

gesellschaftliche Ursachen überhaupt zu erkennen. Kunstunterricht fördert diesen Erkenntnisprozess. Entsprechend verstehe ich Frieden als aktiven Prozess. Aktiver Friede beinhaltet Friedenserziehung, partizipative Demokratie, Gleichberechtigung, kulturelle Vernetzung,

persönliches

Engagement,

Toleranz,

Empathie, aber auch Zivilcourage, Mut, Widerstand und Konfliktfähigkeit. Bei der Konzeption habe ich ununterbrochen an Kunstgeschichte-Veranstaltungen gedacht, in denen ich lernte, wie alt „das Problem“ ist.

237

Friedenslehre im Kunstunterricht

Friedenserziehung ist im Kunstunterricht also quasi inbegriffen. Wenn wir über einen Gegenstand ein ästhetisches Urteil fällen, machen wir uns Gedanken, tauschen uns aus, reflektieren, wägen ab und diskutieren. Im Kunstunterricht ist neben der Produktion und der Rezeption auch die Reflektionsfähigkeit gefordert; sowohl im eigenen Schaffensprozess der Schülerinnen und Schüler als auch in der Rezeption kultureller und künstlerischer Objekte.3 Die ästhetische Bildung ist für mich daher bestens geeignet, friedenspädagogische Inhalte zu transportieren. Sie schließt

an

Friedens-Schlüsselkompetenzen

an:

Neugierde, Fähigkeit zur Selbstreflexion, Einfühlungsvermögen, Dialogfähigkeit, Einsicht, Entscheidungsstärke, Zeithorizont und Komplexitätshorizont und zwar

innerhalb

der

je

eigenen

Lebenswelten

der Jugendlichen. Während meine Gruppen auf dem Friedensweg in St. Pölten waren und anschließend ihre Abschlussarbeit zum Thema Dadaismus geschrieben haben, ist aus der Frage „Was geht mich das an?“ die Frage „Was macht das mit mir?“ geworden. Dadaisten setzten sich ja das Ziel, grundsätzlich alles in Frage zu stellen. Der Arbeitsauftrag, eine Collage mit dem Titel: „Der aktive Friede – was ist das?“ zu gestalten, bildete den Abschluss meines Friedensweges in St. Pölten. Die Schüler_innen sollten ihr Arbeitsmaterial wie im Dadaismus in den Medien finden. Die Fotografie – Dokumentarfotos und eigene Fotos vom Friedensweg – und Printmedien der Stadtwerbung wie Broschüren, Plakate, Flyer etc. standen

238

Böning, Karapanteva-Strasser

ihnen zur Verfügung. Ich entschied mich für Kleingruppenarbeiten, weil ich es für richtig hielt, die Debatten und die Diskussionen, die wir geführt hatten, in den Gruppenarbeiten selbständig weiter zu entwickeln.

Eines meiner wichtigsten Ziele war es auszu-

probieren, wie sie außerhalb des Kassenzimmers in die Geschichte eintauchen. Wie kann man ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass es sich um keine fiktive Geschichte handelt, die in einer Parallelwelt stattgefunden hat, sondern darum, erlebte Realität, Kultur- und Sozialgeschichte der Stadt „nachzufühlen“, historische Fakten zu sammeln und der Situation der Bevölkerung im Krieg mittels historischer Bilderinszenierung näherzukommen? Die Idee, in der eigenen Stadt zu arbeiten, ist für mich neu und sehr herausfordernd gewesen. In der Phase der Führung ist wichtig gewesen, die Jugendlichen spüren zu lassen, welche Ausnahmesituationen und Umstände die Personen durchlebten, wie es zur Formulierung einer oder mehrerer (Friedens-)Aktionen kam, wie die Umsetzung ausschaute. Auf sich selbst neugierig zu sein und nicht bloß den Automatismus des Entsprechens im Unterricht zu erfüllen, ist für mich ein großartiges Erlebnis. Es befördert produktive Spannungsverhältnisse, die durchaus provozierend wirken können.

Beim Thema Konflikt und Provokation geht es

mir auch um die parallele historische Entwicklung von Kunst und Frieden in unserer westlichen Welt. Diese Beziehungen habe ich für meine didaktische Arbeit sogar bewusst gesucht und in den Klassen

Friedenslehre im Kunstunterricht

besprochen (am Beispiel der Kunst von Käthe Kollwitz und von Dada). Es ist sehr wichtig, genau diese Beziehung zu verdeutlichen, einerseits um klar zu machen, dass Kunst nicht in einem Leerraum entsteht und anderseits, dass Bilder oft bewusst politische Meinung transportieren und als Form des Widerstands konzipiert werden. Als die Schüler_innen das erste Mal die Fotomontage von John Heartfield Der Sinn des Hitlergrußes: kleiner Mann bittet um große Gaben von 1932 gesehen haben, hat niemand in der Klasse geglaubt, dass das Werk vor der Machtergreifung Hitlers gemacht worden ist. „Haben die Leute wirklich gewusst, dass er (Hitler) ‚böse’ ist?“, hat sich eine meiner Schülerinnen gemeldet. Plötzlich stand die unausgesprochene Antwort im Raum, die so lauten könnte: „… und die Leute haben nichts dagegen unternommen!“

Geht man rein kunstgeschichtlich vor, z. B. nur

mit der Gegenüberstellung (Bildanalyse) des Frauenbildes im Nationalsozialismus und im Werk von Käthe Kollwitz, wird sehr schnell klar, warum Widerstand in dieser Form wichtig war. Solche Bildanalysen ermöglichen aus der heutigen Sicht eine Rezeption, welche die frühere soziokulturelle Umgebung mit repräsentiert. Die Schüler_innen verstehen auch viel besser, warum dann dieses oder jenes Malmedium, Motiv etc. gewählt wurde oder werden für den Raum, die Komposition und die Konstruktion des Bildes viel empfänglicher.

239

240

Böning, Karapanteva-Strasser Marietta Böning

Ich frage mich, was garantieren könnte, dass die Art und Weise, wie ein Bild Schüler_innen affizieren kann oder wie das, was sie an ihrem Gegenstand entdecken, außerhalb des geschützten Rahmens Schule im besten Sinne etwas ist, das nachhaltig emanzipatorisch wirkt, d. h. „positiv affiziert“ und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit immun gegen „böse Ideologie“ bleibt. Wir reklamieren Begriffe wie „differenzierte Wahrnehmung“, „Einfühlungsvermögen“ und das Erkennen gesellschaftlicher Ursachen dieses oder jenes Missstandes für unsere Sicht der Dinge, von der wir sagen, das ist die „gute“ oder die „richtige“. Unserem Empfinden nach sagen wir das zu Recht. Aber jede Weltanschauung und jede Opposition reklamiert diese Begriffe ebenso für sich. Alle haben wir unsere Interpretationsrahmen, und wie wir interpretieren, hängt oft davon ab, auf welcher Seite wir stehen. Aufklärung durch Kunstgeschichte funktioniert mit diesem Reiz-Reaktionsschema im Kern nicht anders als Massenmedien, von denen wir ebenfalls sagen, sie klären auf. Aber von den Massenmedien wissen wir gleichzeitig, sie sind manipulativ, legen mitunter keinen Wert auf Wahrheitsdiskurse, sind flüchtig, legen oft nicht Wert auf präzise Recherche, sind oft parteiisch. Wir gehen davon aus in der Vermittlung von Kunstgeschichte erfolgreicher zu sein, weil wir faktengetreuer sind und tiefer gehen. Aber ruhen wir uns ein klein wenig auf diesem Unterschied aus, wenn wir sagen wollen, welche

241

Friedenslehre im Kunstunterricht

Vermittlungsmedien gut, welche schlecht sind? Einer der Unterschiede zwischen Kunstgeschichte und Aufklärung durch Massenmedium besteht in der nachträglichen Faktenverifizierung oder -falsifizierung durch

die

Historiografie.

Nur

retrospektiv,

du

hast eben darauf hingewiesen, können Situationszusammenhänge

aufgearbeitet

werden,

die

zu

historischer Erkenntnis führen. Das tägliche Leben erfordert dagegen ad-hoc-Bewertungen und augenblickliche Entscheidungen; und fehlende Zeit zum Analysieren machen sich Stakeholder der Medien, wie politische Parteien oder die Werbepsychologie, strategisch zunutze.

Die Kulturgeschichte hat sich seit zig Jahren,

wenn man will jahrhundertelang, der Erforschung und Erprobung von vernunftgeleiteten Modellen der gesellschaftlichen

Aufklärung

gewidmet.

Ebenso

lange schon wollen wir wissen, dass sie theoretisch gelingen kann (denn sie gelingt bei einigen) und wissen doch gleichzeitig, sie bleibt dialektisch gebrochen (denn sie gelingt nicht bei allen). Es war der Glaube an ein rationalistisches teleologisches Geschichtsbild, das in der westlichen Welt vorherrschte und mit dem sich Bildung ein wenig selbst im Weg stand, indem sie den menschlichen Impuls der Unvernunft ganz wegerziehen wollte.

Rein (kunst)historisch betrachtet also wissen wir,

wer die Guten, wer die Bösen waren. Dieses Wissen erleichtert die Informationsselektion und ihre Bewertung enorm, man kann mit an Sicherheit grenzender

242

Böning, Karapanteva-Strasser

Wahrscheinlichkeit Kindern zuverlässige kontextualisierte Fakten vermitteln. Das ist eine Luxussituation für den Unterricht. Die Situation ändert sich aber sofort, wenn wir mit Konflikten der Gegenwart konfrontiert und auf Massenmedien angewiesen sind. Wir wissen von der psychologischen Macht von Bildern, ebenso von bildreicher, wortsprachlicher Propaganda. Müssen wir also aufpassen, rationalen Situations- und Bildanalysen in Hinblick auf eine „kognitive Erziehung“ zu viel zuzutrauen? In den USA und Europa sind in den letzten Jahren populistische Tendenzen erstarkt, wie wir sie uns in den 1980er Jahren nicht erträumten. In unseren europäischen Demokratien sind kompromittierende Manipulationen salonfähig geworden.

Die historisch-soziologische Bildanalyse ist

also das eine. Zusätzlich müssten Schüler_innen aber auch mit der Analyse gegenwärtiger Situationen konfrontiert werden, denen wir in Form von Propaganda, die grobschlächtig, aber auch äußerst subtil sein kann, ausgesetzt sind. „Wo es um das Betrachten des Leidens anderer geht, sollte man kein allgemeines Mitleid verspürendes ‚Wir’ als selbstverständlich voraussetzen“.4 Susan Sontag hat in ihrem Essay Das Leiden anderer betrachten ein Plädoyer für einen unverstellten Umgang mit Kriegsbildern in den Medien formuliert. Sie dienen meistens dem Zweck, einen unterschwelligen Konsens bei den – meistens parteiischen – Betrachter_innen zu erwecken, ohne tatsächlich neutral zu sein. Sie meint, sie bedienen unser Bedürfnis nach Authentizität, die

Friedenslehre im Kunstunterricht

243

wir den Bildern meistens abnehmen – dabei sind sie gestellt, inszeniert. Sontag fordert daher die Lesbarkeit dieser Bilder. Das aber hieße doch eine Bildunterschrift, die nie das Ziel von Kolportagen ist. Also Zusatzinformationen über Sender_in, Fotograf_in, Technik, Montage usw. Bildunterschriften liefern transparente Hinweise zum Kontext. Wir finden sie bei Kunstwerken, die per se und viel selbstverständlicher als Propagandamaterial und auch Medienberichterstattung für ihre eigene Einschreibung in die (Kunst-)Geschichte geschaffen wurden. Medienfotos schaffen es nur selten, sich in die Kunstgeschichte einzuschreiben. Das Foto des toten syrischen Jungen Alan Kurdi, der 2015 bei der Flucht mit Schleppern starb und an die türkische Küste gespült wurde, ist ein solches Beispiel. Das Foto stammt von der für die türkische Presseagentur DHA arbeitenden Journalistin Nilüfer Demir. Sie sagte, sie habe den stummen Schrei des Jungen hörbar machen wollen. Fast jeder kennt das Foto. Es erlangte Kultstatus als Symbol für das Leid im nordafrikanisch-europäischen Flüchtlingsdrama und wurde von verschiedenen Künstler_innen mit verschiedenen Techniken und Medien reproduziert. Die meisten Massenmedien zeigten das Foto. Die Süddeutsche Zeitung publizierte damals einen Kommentar von Stefan Plöchinger, in dem er den Kampf der Redaktion um die Entscheidung, das Bild entweder zu zeigen oder eben nicht, den Leser_innen offenbarte – letztlich ohne es zu zeigen. Aber die bildreiche Beschreibung

244

Böning, Karapanteva-Strasser

und die Transparenz einer rationalen, reflektierten Berichterstattung substituieren es, quasi ein Beispiel für eine rationalistische Emanzipationsleistung, die Bezug nimmt auf ein tendenziell irrationalistisches redaktionelles Verfahren anderer Zeitungen. „Gegen die hier abgebildete Erkenntnis kommt kein Rechtspopulist mehr an. Das macht solche Fotos potenziell so wirkmächtig für die Asyl-Diskussion“, zeigte die Süddeutsche mit Worten jedenfalls Achtung vor der Fotografie.5 Kolportagen wollen das Gegenteil. Sie wollen Geschichte verfälschen.

Emanzipation, welche die Wirkung emotiona-

ler Sprachen wie etwa jene von Bildern unterschätzt, ist offenbar nicht minder unzureichend wie die Akkumulation von Eindrücken durch bildreich aufgeladene emotionale Themen ohne authentische Zusatzinformation, die eine Sprachanalyse ermöglichen, für die linguistisch-rhetorische Kompetenzen gut wären. Ein Beispiel ist die „Brutkastenlüge“ der amerikanischen Regierung unter George W. Bush (1990).6

Im österreichischen Bildungssystem ist der

Erwerb von Medienkompetenz, um die es bei den Beispielen ja geht, festgeschrieben. Medienkompetenz steht u. a. für „Gewaltfreie Kommunikation und Debattenkultur“. Medienerziehung soll sich in den Schulen auch mit Interessenspolitik, „Auswahl und Inhalt von Information“ sowie der „Form der Vermittlung“ beschäftigen. Medienerziehung ist ein explizites Unterrichtsprinzip neben Musischer Erziehung, Politischer Bildung (ausdrücklich Friedenserziehung

245

Friedenslehre im Kunstunterricht

einschließend) und Interkulturellem Lernen. Die seitens des Bildungsministeriums für die Ausbildung von

Medienkompetenz

benannten

Fächer

sind

Sozialkunde, Geschichte, Politische Bildung und Bildnerische Erziehung (BE). Im Paket für die NMS (Neue Mittelschule) wird BE u. a. die Aufgabe zugeschrieben, Grundgesetze visueller Kommunikation und die Möglichkeit von deren Manipulation, Kritikkompetenz sowie Wissen über Kunsthistorie und gesellschaftliche Ursachen zu vermitteln. Aber „Friedensvermittlung“

und

„Konfliktfähigkeit“

werden

nicht als genuine Ziele von BE dargestellt. Ich ver7

stehe deinen Ansatz auch in dieser Hinsicht, dass du für deine Friedensstationen Beispiele auswählst, die selbst primär nicht aus der Bildenden Kunst bzw. der Kunstgeschichte stammen. Die historischen Positionen, die du mit deinen Schülerinnen und Schülern im Unterricht beschreitest, sind wohl aus gutem Grund Frauenrechtler_innen und Publizist_innen, die sich für Völkerrecht, soziale Gerechtigkeit und aktive Friedensarbeit einsetzten. Boriana Karapanteva-Strasser

Ich möchte an die Begriffe Bildung und Emanzipation anknüpfen. Emanzipation, die Selbstbefreiung durch Bildung, ist ein Prozess, der nicht „Zweck-Mittel“-orientiert ist. Es gibt im Bildungsprozess keine Garantie, dass das pädagogische Handeln des Lehrenden beim Lernenden einen bestimmten „Abdruck“ hinterlässt. Der Lehrende hat ein Ziel, eine Absicht.

246

Böning, Karapanteva-Strasser

Der Bildungsbegriff, so wie er in der Bildungswissenschaft im deutschsprachigen Raum definiert ist, ist Schaffen von Rahmenbedingungen und Hoffen, dass Bildung stattfindet. Zurichtung, Dressur, das „Machen“ von mündigen Menschen ist nicht möglich, ist auch nicht Bildung. Lehrende schaffen durch didaktische Methoden, die man ohne Weiteres auch als Manipulation bezeichnen kann, Räume, in denen man hofft, die Schüler_innen kommen darauf, dass Selbstbestimmung und Selbstbefreiung nicht von einer höheren Instanz vermittelt werden, sondern Akte sind, die man selbst vollbringt. Man kann es auch anders formulieren: Gute Lehrer_innen arbeiten daran und hoffen, dass die Schüler_innen Lust darauf bekommen, frei zu sein. Es geht weniger um die Aufklärung (Überzeugen, Argumentieren von Seiten der Lehrenden), sondern mehr um das Erkennen vonseiten der SchülerInnen. Die provokative Pädagogik, die daraus resultierenden Fragen, Debatten, das Erschüttern von gewohntem Denken, sind ein Schritt in diese Richtung. Man kann nicht die Freiheit geben, man muss Wege finden, sich die Freiheit zu nehmen. Mündigkeit, Autonomie, Selbstbewusstsein, Emanzipation sind seit Kant und Humboldt Leitbegriffe in der Pädagogik, die aber in der Schule mit der Reflexion darüber enden. Während des Bildungsprozesses geht es nicht um die Aktion, sondern um das Nachdenken. Erich Ribolits überträgt diese der Aufklärung inhärente Dialektik auf das Bildungssystem und spricht von einem dialektischen Bildungsbegriff bei seiner Entstehung

247

Friedenslehre im Kunstunterricht

im deutschsprachigen Mitteleuropa.

Zum einen

transportiert er in der pädagogischen Interaktion das Gedankengut der Aufklärung, zum anderen beinhaltet er den Versuch des Bürgertums, seiner Kapitulation im revolutionären Kampf um politische Emanzipation eine positive Konnotation zu geben.8

Die Funktion der Lehrenden im Bildungs-

prozess hat ebenfalls zwei Seiten. Erziehung hat die Aufgabe, die Kinder und Jugendlichen gesellschaftstauglich vorzubereiten und auf der anderen Seite den nächsten Generationen Mut zu geben, ihr Leben selbst zu gestalten und sich nicht blind an den aktuellen Regeln zu orientieren. Etwas Neues zu kreieren bedeutet, sich zu trauen, Utopien und etwas außerhalb des Status quo zu denken, aber auch das Bewusstsein zu wecken, dass man eine Wahl hat, im Sinne des selbstbestimmten Lebens entweder „mitzumachen“ oder sich von einer Sache zu distanzieren. Marietta Böning

Die Einlösung einer Utopie bedürfte der Überwindung des Gesellschaftssystems, auf das sie sich bezieht. Um bei Ribolits zu bleiben, scheint sie nur möglich, wenn Bildung auf die Modifikation des Emanzipationsund damit Rationalitätsbegriffs setzt. Ein diesbezüglich erneuerter Bildungsbegriff müsste die Kritikwürdigkeit des Systems und die Kritik am System zum Ausbildungsziel haben. Den wunden Punkt unserer Gesellschaft beschreibt Ribolits mit Michel Foucault in der Wendung des emanzipierten Bürgers gegen

248

Böning, Karapanteva-Strasser

ein System, das sich selbst zu einem von Eigennutz dominierten durch die Befreiung des Individuums erst hatte entwickeln können: „Andere auszustechen, zu verdrängen und in ihren Lebensmöglichkeiten zu beschneiden, ist in der Konkurrenzgesellschaft nicht das Resultat eines bösartigen, von Gier oder Geiz getragenen egoistischen Verhaltens, sondern schlicht und einfach vernünftig. Die in den gesellschaftlichen Strukturen zum Ausdruck kommende Rationalität drängt den einzelnen mit aller Macht dazu, sein Leben möglichst perfekt unter den Aspekt der Nutzenmaximierung zu stellen. In letzter Konsequenz besteht ja die Macht eines gesellschaftlichen Systems in der Identität von Systemprämissen und geltender Wahrheit. Somit kann das vernünftige Subjekt – das sich an ‚der Wahrheit’ orientierende Ich – nie etwas anderes sein als Erfüllungsgehilfe des Systems.“9

Wir stünden dann also vor dem Schritt in eine

erweiterte Rationalität, wenn Kritik den gängigen Vernunftbegriff überwinden und zur praktischen Verweigerung würde. Dazu müssten die Akteure ihren erworbenen Habitus abzustreifen willig sein und in andere Diskursräume wechseln, wie bei Demos oder Streiks. Bourdieu kennzeichnet den Habitus qua Praxissinn als Resultat eines erworbenen Präferenzsystems von Wahrnehmungs- und Gliederungsprinzipien.10

Diesen abzustreifen bedarf des Mutes und

der Motivation statt einer im Defätismus oder nur in Latenz verharrenden Erkenntnis. Die Frage ist also, unter welchen (Bildungs-)Umständen die Gesellschaft

Friedenslehre im Kunstunterricht

249

es schaffen kann, Selbst-Befreiung so zu wenden, dass die Schüler_innen ein vermeintlich irrationales Moment ins Vernünftige lenken und selbstmotiviert Gebrauch von der neu erworbenen Freiheit zur vernünftigeren Unvernunft machen. Der Bildungsprozess könnte es vormachen, zunächst vermeintliche Irrationalität evozieren wie in deinem Dada-Unterricht, die ihren Beitrag aber zu einem größeren Ganzen zeitigt, also eine Form der Rationalisierung wird. Ähnlich wendet Judith Butler irrationale Bildsprache wie etwa Kriegsfotografien ins Rationale mit dem Argument der normativen Konsequenz, die aus unserer Verletzbarkeit erst resultiert. Verletzbarkeit ist an Körperlichkeit gebunden, somit auch an die Anrührung des Lebens und Überlebens von Menschen. Verletzbarkeit evoziert Ansprechbarkeit auf Verantwortungsübernahme als „affektive Basis von Gesellschaftskritik“ dann, wenn die Interpretationsrahmen humanistisch sind und nicht zur Ausgrenzung dienen.11

Für das Beispiel oder Gedankenexperiment

Süddeutsche Zeitung hätte das vielleicht heißen können, alte qualitätsjournalistische Prinzipien über Bord zu werfen; gegenüber dem Leser/der Leserin das Thema auf den Punkt zu bringen, ohne es gleichzeitig zu umkreisen, zwecks Vermittlung: „Wir bleiben lieber der Blattlinie treu.“ Andererseits wäre der Schritt, das Foto zu zeigen, vielleicht verkannt worden, sodass der Süddeutschen der Rückfall in die Tränendrüsenmechanik der Boulevardmedien vorgeworfen worden wäre. Das aktuelle Bild eines Toten

250

Böning, Karapanteva-Strasser

zu zeigen, wäre erstens pietätloser gewesen, zweitens hätte die Zeitung demonstriert, „nur“ emotional auf Mitleid zu setzten, statt wortreich zu analysieren und sich somit drittens eingestehen müssen, eine manipulative, eher in der Werbung gängige Methode anzuwenden, um jener höheren moralischen Erkenntnis bzw. Aussage zu dienen, die sich stärker einbrennt als ein „Tanz um das Bild“: „Sie sterben auf dem Weg, und wir wollen sie nicht einmal einlassen.“ Für die Arbeit an einem zeitgemäßen Bildungsbegriff bleibt wohl auch zu bedenken, was an vermittelten Inhalten irreführend als rational gilt und was nicht und auch welche rationalen Methoden zu wenig zielführend sind, um eine wissende Gesellschaft in eine handelnde zu überführen. Ein Weg aus der Aporie der Dialektik der Aufklärung heraus müsste nicht nur vernunftgesteuert und analytisch gelehrt werden, sondern ich frage mich, ob es die Irrationalität in diesem Paradoxon ist, die erfahrbar gemacht werden müsste – eben am Beispiel des Leidens der anderen, bei dir der Widerstandsgruppe Kirchl-Trauttmansdorff mit anschließender kreativer Aufarbeitung, was die Kunstpädagogik anderen Unterrichtsformen voraushat. Das kann geschehen anhand von Einübung und Wegebeschreitung an Bild, Video, Skulptur, an jene viel stärker sinnlich beanspruchende Körperlichkeit, Verletzlichkeit, zu der die Erörterung der Frage hinzutreten könnte, wann Unvernunft (nicht) ist. Für diese Art des „aufklärenden Unterrichtens“ steht meines Erachtens dein Unterrichtsmodell.

251

Friedenslehre im Kunstunterricht Boriana Karapanteva-Strasser

Mein didaktisches Konzept dreht sich grob um drei Punkte: erstens um die Vorstellung, dass der Frieden nicht selbstverständlich ist, sondern ein aktiver Prozess; zweitens um die konkreten friedensstiftenden Aktionen und die Taten, die historische Persönlichkeiten vor uns gesetzt haben und drittens um Beispiele aus der Kunstgeschichte und Kunstproduktion, die mir passend für die praktische Arbeit mit den Schüler_innen erscheinen. In meinem letzten Projekt war das die Kunst des Dadaismus. Im Unterricht selbst mache ich meine Schülerinnen und Schüler immer wieder darauf aufmerksam, dass sie bereits viel Vorwissen besitzen. Inhalte aus Geschichte und politischer Bildung sowie Literatur und Texte von Zeitgenossen im Deutschunterricht, Geografie und Wirtschaftskunde,

Psychologie,

Philosophie,

Bio-

logie fließen in den Kunstunterricht ein und werden miteinander „verbunden“. Der Kunstunterricht ist nicht einzig dazu geeignet, humanistische Werte zu transportieren. Zum einen sollten wir Lernen als eine Sonderform von Erkenntnis verstehen, und zwar deswegen als Sonderform, weil sich Lehrende per se nur auf der Ebene der Vermittlung befinden. Erkennen kann nur der Lernende. Wie Alfred Petzelt sagt: „Wissen ohne Erkenntnis kann man nicht besitzen.” Erkenntnis

ist

hier

im

Sinne

von

Verstehen

gemeint. Die Inhalte sämtlicher Disziplinen können einen „Nährboden“ für die Friedenserziehung bilden. Schließlich geht es hier um die Bildung einer

252

Böning, Karapanteva-Strasser

Haltung, welche die Lernenden annehmen. Das ist das Spannende am Friedensweg als Konzept, weil man im Prozess des Begehens erkennt, dass die Menschen aus Überzeugung für „ein gutes Leben für alle“12 gekämpft haben, kreativ neue Lösungen für Probleme gesucht und danach gehandelt haben. Jene historischen Personen, die je auf ihre Weise Friedensarbeit leisteten und im Projekt discoverpeace sowie im Friedensweg St. Pölten markiert wurden, handelten alle aus einer Haltung heraus, die lösungsorientiert war. Lehrerinnen und Lehrer können nur begrenzt auf die Haltungsannahme einwirken, die Einnahme der Haltung muss der/die Schüler_in selber vollziehen. Aber der/die Lehrer_in kann argumentieren, warum es gut wäre, eine positive Haltung in Bezug auf aktiven Frieden anzunehmen.

Mir scheint auch wichtig, Alfred Schirlbauer

zu erwähnen, der sogenannte „Oberflächenphänomene“ in der Erwachsenengeneration beobachtet. Vieles, was in der Gesellschaft „die Erwachsenen“ nicht in den Griff bekommen, delegieren sie an die Schule weiter – was psychologisch fragwürdig ist. Die schulische Erziehung soll die nächste Generation darauf vorbereiten es besser zu machen, als wir Erwachsenen es heute tun. Das betrifft Themen wie Politische

Bildung,

Friedenserziehung,

erziehung,

Sexualerziehung

oder

die

MedienUmwelt:

„Man kann diesen Vorgang auch psychoanalytisch deuten. Natur und Umwelt werden nicht von der Erwachsenengeneration geschont und geschützt,

Friedenslehre im Kunstunterricht

sondern fortwährend technisch vernutzt und vernichtet. Stattdessen werden die Lehrer beauftragt, die Schüler anzuhalten, den Bruder Baum zu respektieren. Massenmedien werden aus Steuergeldern unterstützt. Die Lehrer werden beauftragt, kritische Medienerziehung zu betreiben“.13

Vor etwa zwei Jahren verschickte der Landes-

schulrat einen Brief zum Thema Vermittlung kritischen Konsumverhaltens14 als Auftrag an die Lehrer_innen. Das ist ein Dilemma für jeden Unterrichtenden, weil überall und auf allen Ebenen in unserer Welt Wachstum und Konsum als einzig richtiger Weg angepriesen werden. Ich erwähne alles dies im Zusammenhang mit dem Friedensbegriff, dem Projekt Friedensweg St. Pölten und dem Kunstunterricht, weil in jedem der drei Fälle das Thema Erinnerung an Menschen und ihre Taten für eine bessere Welt groß geschrieben wird. Die Wiederentdeckung des Widerstands, das „Selbst Denken“ ist im Konzept von discoverpeace für mich zentral. Die Erinnerung an Menschen, die scheinbar keine Wahl unter den damaligen politischen und geschichtlichen Verhältnissen hatten, macht einen großen Eindruck auf die Jugendlichen.

Die Arbeit des Sozialpsychologen Harald Welzer

ist ein Vorbild für meine didaktische Konzeption gewesen, auch für die Frage „Wie geht es jetzt weiter mit der Friedensvermittlung im Kunstunterricht?“ In seinen drei FUTURZWEI Zukunftsalmanachen15 präsentiert er Gegenentwürfe zu scheinbar nicht ver-

253

254

Böning, Karapanteva-Strasser

änderbaren gesellschaftspolitischen Situationen. In seiner Stiftung Futurzwei (futurzwei.org) sammeln er und seine Kolleg_innen zukunftsfähige, wie er das nennt, Projekte und Handlungen von Menschen zuerst aus dem deutschsprachigen Raum und im letzten Almanach auch international.

Ich möchte in meinem nächsten Projekt die

Schüler_innen, nachdem sie den Friedensweg kennengelernt haben, auffordern, selbst auf die Suche zu gehen und Beispiele für Menschen und Orte zu finden, in denen der aktive Frieden bereits gelebt wird. Ein Beispiel in St. Pölten ist Martina Eigelsreiter, die das Büro für Diversität im Rathaus gegründet hat. Es gibt auch andere Kolleginnen und Kollegen, wie z. B. Marianne Plaimer, BORG St. Pölten, die unermüdlich mit ihren Schülerinnen und Schülern im Kunstunterricht Beispiele für Kunst und Widerstand bespricht und Projekte durchführt und auch im öffentlichen Raum als Kunstvermittlerin hier tätig ist.16 Ich möchte in St. Pölten und Umgebung ein Netzwerk von Unterrichtenden aufbauen und uns (Kunstpädagog_innen) somit einen besseren Austausch vor Ort ermöglichen.

255   Beck, Ulrich: Weltrisikogesell-

  https://www.bmb.gv.at/schulen/un

1

7

schaft. Suhrkamp: Frankfurt a. M.

terricht/uek/medien.html (abgerufen

2007, 130ff.

am 15. 10. 2017).

2

  Bernhard, Armin: Pädagogik des

8

  Vgl. Ribolits, Ernst: Die Anti-

Wiederstands. Impulse für eine

quiertheit der Menschenwürde.

politisch-pädagogische Friedensar-

Warum auch ein Recht auf Bildung

beit. Beltz Juventa: Weinheim 2017.

nichts mit Menschenwürde zu tun hat, in: kärnöl, 10. 1. 2013, http://

3

  Vgl. Pees, Georg: Beurteilen

www.kaernoel.at/cgi-bin/kaernoel/

lernen im Kunstunterricht. Unter-

comax.pl?page=page.std;job=CEN

richtseinheiten, Methoden und

TER:articles.single_article;ID=3275

Reflexionen zu einer zentralen

(abgerufen am 17. 11. 2017) sowie

ästhetik- und kunstbezogenen Fach-

Ribolits, Ernst: Welche Bildung für

kompetenz. Kopaed: München 2015.

welche Zeiten? Vortrag und Diskussion im Gasthaus Kasino, Villach, 18.

4

  Sontag, Susan: Das Leiden ande-

10. 2017; http://www.kaernoel.at/cgi

rer betrachten. Fischer: Frankfurt

bin/kaernoel/comax.pl?page=page.

2005, S. 13.

std;job=CENTER:events.single_eve nt;ID=907 (abgerufen am 17. 11. 2017).

5

  http://www.sueddeutsche.de/

medien/foto-eines-fluechtlingskinds-

9

was-uns-der-tote-junge-von-bodrum-

welche Zeiten?

 Ribolits: Welche Bildung für

lehrt-1.2632557, (abgerufen am 17. 11. 2017).

  Bourdieu, Pierre: Praktische

10

Vernunft. Zur Theorie des Handelns. 6

  Bei der sogenannten „Brutkasten-

lüge“ handelt es sich um eine Kol-

Übers. v. Hella Beister, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998, S. 41f.

portage der Agentur Hill & Knowlton, welche die unwahre, frei inszenierte

11

Geschichte in der US-amerikanischen

bedingungen, in: Krieg und Affekt.

  Butler, Judith: Über Lebens-

Öffentlichkeit verbreitete, eine Hilfs-

Hg. und übersetzt von Judith Mohr-

krankenschwester (die 1990 unter

mann, Juliane Rebentisch und Eva

Tränen vor dem US-Kongress aussagte)

von Bedecker. Diaphanes: Zürich

habe beobachtet, wie irakische Solda-

2009, S. 12f.

ten kuwaitische Babys aus den Brutkästen genommen und die Brutkästen

12

mitgenommen hätten, während die

Welzer über das Gute Leben, Radio

  Vgl. Welzer, Harald: Harald

Kinder hatten sterben müssen. Bei der

FRO – Das Freie Radio Linz, 10. 3.

angeblichen Krankenschwester handel-

2015, 21:02, https://cba.fro.at/282094

te es sich um die Tochter des kuwaiti-

(abgerufen am 24. 11. 2017).

schen Botschafters Saud Nasir as-Sa  Vgl. Schirlbauer, Alfred: Wollt

bah. Die Lüge sollte die amerikanische

13

Bevölkerung für den zweiten Golfkrieg

ihr die totale Schule?, in: Pädagogi-

sensibilisieren.

sche Rundschau 48 (1995), S. 531–540, 31f.

256   Bundesministerium für Bildung

14

und Frauen: Grundsatzerlass Wirtschafts- und Verbraucher/innenbildung, Genehmigung FBM und Information der Schulen, Rundschreiben Nr. 15/2015.   Vgl. Giesecke, Dana/Hebert, Sas-

15

kia/Wellzer, Harald (Hg.): FUTURZWEI Zukunftsalmanach 2017/18. Frankfurt: Fischer 2017.   http://www.mplaimer.at (abgerufen

16

am 17. 11. 2017).

MARTIN KRENN

257

EIN FRIEDENSKREUZ ALS MAHNMAL SEINER SELBST Das Projekt Mahnmal Friedenskreuz St. Lorenz

Dieser Text wird sich mit den Fragen „Was bedeutet Frieden?“ und „Wie kann ein Denkmal des Friedens aussehen?“ beschäftigen. Die erste Frage wird anhand unterschiedlicher philosophischer Konzepte untersucht. Eine konkrete Antwort auf die zweite Frage bietet eine kritische Auseinandersetzung mit dem Gedenkort Friedenskreuz St. Lorenz. Es handelt sich um einen Ort, der den Begriff „Frieden“ für sich in Anspruch nimmt, aber aufgrund seiner Symbolik und Widmung einer neuzeitlichen Vorstellung von Frieden widerspricht. Das im Jahr 2016 realisierte Kunstprojekt Mahnmal Friedenskreuz St. Lorenz zeigt schließlich eine Möglichkeit auf, wie an einem solchen Ort friedensstiftend interveniert werden kann.

258

Martin Krenn

Ewiger Frieden Der Begriff „Frieden“ stammt von dem althochdeutschen Begriff „fridu“, der „Freundschaft“. Entsprechend dieser Bedeutung vertritt ein neuzeitlicher Friedensbegriff die Utopie, dass eines Tages alle Staaten der Welt in Freundschaft miteinander leben könnten und dadurch immerwährender Friede möglich werden würde. Wenn wir an dazu passende Friedenssymbole denken, dann tauchen Bilder wie jenes der Friedenstaube, des CND-Symbols (Campaign for Nuclear Disarmament) oder der Peace-Flag auf. Es sind positive, helle und bunte Symbole. Die Farben des Friedens sind weiß (Friedenstaube), blau (UN-Flagge) oder eine Farbmischung, die sich aus den Regenbogenfarben zusammensetzt (Peace-Flag).

In seiner als Friedensvertrag abgefassten

Schrift Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf entwarf Immanuel Kant Ende des 18. Jahrhunderts eine philosophische Grundlage für den neuzeitlichen Friedensbegriff. Schon der erste Satz seiner Schrift macht allerdings deutlich, wie schwierig es wird, das Ideal des „ewigen Friedens“ in die Realität zu überführen. Kant schrieb mit ironischem Ton: „Ob diese satirische Überschrift [Zum ewigen Frieden, MK] auf dem Schilde jenes holländischen Gastwirts, worauf ein Kirchhof gemalt war, die Menschen überhaupt, oder besonders die Staatsoberhäupter, die des Krieges nie satt

Mahnmal Friedenskreuz St. Lorenz

259

werden können, oder wohl gar nur die Philosophen gelte [sic], die jenen süssen Traum träumen, mag dahin gestellt sein.“1 Kant versuchte trotzdem eine theoretische Abhandlung zur Schaffung des Weltfriedens zu formulieren, auch wenn dieser vielleicht nur „ein süßer Traum“ bleiben würde: „Der Friedenszustand unter Menschen, die neben einander leben, ist kein Naturstand (status naturalis), der vielmehr ein Zustand des Krieges ist, d. i. wenn gleich nicht immer ein Ausbruch der Feindseligkeiten, doch immerwährende Bedrohung mit denselben. Er muss also gestiftet werden; denn die Unterlassung der letzteren ist noch nicht Sicherheit dafür, und, ohne dass sie einem Nachbar von dem andern geleistet wird (welches aber nur in einem gesetzlichen Zustande geschehen kann), kann jener diesen, welchen er dazu aufgefordert hat, als einen Feind behandeln.“2 Kant zufolge ist Frieden also kein Naturzustand. Er muss gestiftet werden, durch die Gesetze der Vernunft. Daraus sollen politische Entscheidungen resultieren, die durch

genug sind. Erst wenn sich die Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien und die Maxime ihres Handelns durch Recht und Gerechtigkeit bestimmt ist, kann die Welt befriedet werden.

2

Aufklärung und Gesetze der Vernunft alleine nicht

Kant, 2014: 7 

Kant war sich allerdings bewusst, dass die

1



Kant, 2014: 17

Gerechtigkeit bestimmt sind.

260

Martin Krenn

In diesem Sinne (und eine aufgeklärte Welt vorausgesetzt) bieten auch heute noch die Präliminarartikel und Definitivartikel der genannten Schrift über weite Strecken eine theoretische Basis zur Schaffung des Weltfriedens. Auch die Vereinten Nationen, als weltgrößte Friedensorganisation, handeln in diesem Geiste. Die Charta der Vereinten Nationen wurde in ihren Grundzügen durch Kants Schrift geprägt. In der Präambel zur Charta heißt es: „Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geissel des Krieges zu bewahren, […] unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob gross oder klein, erneut zu bekräftigen, […] und für diese Zwecke Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn Vereinte Nationen, 2017

nen stehen dementsprechend Friedensstiftung, Frie-

3

Vereinte Nationen, 1945: Präambel 

vereinen, um den Weltfrieden und die internationale

4

in Frieden miteinander zu leben, unsere Kräfte zu Sicherheit zu wahren, […] haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken.“3

Im Mittelpunkt der Aktivitäten der Vereinten Natio-

denskonsolidierung und die Förderung von weltweiter Abrüstung. Ihre militärischen Einsätze beschränkt die Organisation auf die Überwachung eines Waffenstillstands oder die Einrichtung einer Pufferzone, um eine langfristige Friedens-Lösung in einer Konfliktregion zu finden.4 Sowohl Kants Theorie als auch die Aktivitäten der Vereinten Nationen setzen das Ideal eines immer-

Mahnmal Friedenskreuz St. Lorenz

währenden Weltfriedens an oberste Stelle. Dieser müsse durch die richtigen Maßnahmen permanent neu gestiftet werden.

Zeitlich beschränkter Frieden Einer solchen positiven, in die Zukunft gerichteten Friedensvorstellung steht jedoch eine andere Auffassung von Frieden gegenüber. Sie bedient sich einer Symbolik des Vergangenen, des Dunkeln, des Todes und des Heldentums. Frieden wird hier, im Gegensatz zu Kant, nicht als etwas tendenziell Ewiges gedacht, sondern als etwas Endliches und Latentes, als eine Zeitspanne, die zwischen den Kriegen liegt, ein Frieden, der sozusagen dem letzten Krieg nachhängt. Im Frieden wird deshalb immer an den letzten Krieg erinnert. Durch das Pathos des Heldentodes der Soldaten wird der vergangene Krieg idealisiert. Wie im letzten Abschnitt dieses Textes anhand des Friedenskreuz St. Lorenz gezeigt wird, ist eine solche Auffassung in Österreich nach wie vor gesellschaftsfähig. Man findet sie bei ehemaligen Wehrmachtssoldaten, ihren Sympathisanten und Nachfahren, die sich in Kameradschaftsbünden organisieren. Die Jahrzehnte nach dem Krieg sind bei dieser Gruppe von (zum Teil verdrängten und unbewussten) traumatischen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg geprägt. Gedacht wird in diversen Veranstaltungen den „Kämpfern“ aus den eigenen Reihen, die

261

262

Martin Krenn

dem „Feind“ zum Opfer gefallen sind. Die von der Wehrmacht ermordeten Deserteure und/oder die Millionen, aus politischen und rassistischen Gründen von den Nazis getöteten Menschen finden jedoch kaum bis gar keine Erwähnung. Diese einseitige Form des Gedenkens wird dennoch als Beitrag zum Frieden verstanden, wie noch am Beispiel Friedenskreuz St. Lorenz gezeigt wird. Das Ergebnis ist ein widersprüchlicher Friedensbegriff, der zwar auf Zusammenhalt und Kameradschaft aufbaut, aber dabei das Eigene auf unversöhnliche Weise vom Fremden abgrenzt. Dieses Denken ist einem Freud/Feind-Schema verhaftet, das antagonistisch ist.

Anatagonismus Im Gegensatz zur Vorstellung eines harmonischen Zusammenlebens aller sozialen Gruppen miteinander, welches der neuzeitliche Friedensbegriff vertritt, gründet der Antagonismus auf der behaupteten Notwendigkeit, die anderen in Freunde und Feinde zu unterteilen. Einer der wichtigsten Theoretiker des Antagonismus ist der auch heute noch in der Politikwissenschaft vieldiskutierte Staatsrechtler Carl Schmitt. Er trug mit seinen Schriften dazu bei, eine ideologische Grundlage für die Nazi-Politik zu schaffen. Schmitt sah die Essenz des Politischen im Antagonismus. Daraus müssten zwar nicht kriegerische Auseinandersetzungen entstehen, aber sie sollten immer als reale Möglichkeit in Betracht gezogen werden. Schmitt behauptet, dass alle sozialen Gruppen in einer antagonis-

Mahnmal Friedenskreuz St. Lorenz

263

tischen Beziehung zueinander stünden. Politische Einheit entstehe erst durch Feindschaft gegenüber „dem anderen“, weshalb es auch keinen Weltfrieden geben könne. „Die politische Einheit setzt die reale Möglichkeit des Feindes und damit eine andere, koexistierende, politische Einheit voraus. Es gibt deshalb auf der Erde, solange es überhaupt einen Staat gibt, immer mehrere Staaten und es kann keinen die ganze Erde und ganze Menschheit umfassenden Welt‚staat’ geben.“5 Im Gegensatz zu Kant und dem Friedensbegriff der Aufklärung, glaubt Schmitt nicht an den Universalismus und betont: „Die politische Einheit kann ihrem Wesen nach nicht universal in dem Sinne einer die ganze Menschheit und die ganze Erde umfassenden Einheit sein.“ Ein Zustand der Menschheit, der die Unterscheidung von Freund und Feind aufhebt, kommt für ihn nicht in Frage, dies wäre eine „politikreine Weltanschauung“. Konsequenterweise argumentiert Schmitt6: „Es wäre […] eine schnell sich erledigende Verwechslung, zu meinen, weil heute ein Krieg zwischen Grossmächten leicht

darstellen.“

6

restlosen und endgültigen Entpolitisierung

Schmitt, 1932: 42  

und damit jenen idyllischen Endzustand der

5

dieses Krieges infolgedessen den ‚Weltfrieden’

1932: 42

zu einem ‚Weltkrieg’ wird, müsste die Beendigung

264

Martin Krenn

Agonismus: Konflikte friedlich austragen Obwohl der Schmittsche Antagonismus in Richtung Faschismus weist, versucht die post-marxistische Theoretikerin Chantal Mouffe, Schmitts antiliberale Thesen für linke Politik nutzbar zu machen. Im Zentrum ihres Demokratieverständnisses steht im Sinne der Aufklärung der/die mündige Staatsbürger_in. Diese/r müsse allerdings noch mit ausreichenden Partizipationsmöglichkeiten ausgestattet werden. Ihres Erachtens gibt es solche in den westlichen repräsentativen Demokratien noch viel zu wenig. Um eine „radikale Demokratie“ zu schaffen, bezieht sie sich auf die Antagonismustheorie Carl Schmitts. Sie ersetzt das Freund/Feind-Schema durch jenes der Gegnerschaft, den Agonismus. Soziale Gruppen sollen einander dadurch nicht mehr in Feindschaft begegnen. Mouffe ist zwar wie Schmitt überzeugt, dass jede Gesellschaft ursprünglich vom Antagonismus geprägt sei. Die Besonderheit der demokrati-

7

Mouffe, 2007: 22, 25 

8

Mouffe, 2007: 30

schen Politik bestünde jedoch nach Mouffe7 darin, wie dieser Antagonismus etabliert werde. Mit Agonismus bezeichnet sie eine andere Form einer Wir/ Sie-Beziehung, „bei der die konfligierenden Parteien die Legitimität ihrer Opponenten anerkennen, auch wenn sie einsehen, dass es für den Konflikt keine rationale Lösung gibt“8. Es diene demnach dem Frieden nicht, das Agonale zu vermeiden. Stattdessen fordert sie legitime „agonistische Artikulationsmöglichkeiten“ für widerstreitende Stimmen, damit der

Mahnmal Friedenskreuz St. Lorenz

265

Dissens nicht „gewaltsamen Formen [diene] – sowohl in der nationalen als auch in der internationalen Politik“9.

Mahnmal Friedenskreuz St. Lorenz Nach dieser theoretischen Auseinandersetzung mit der Frage „Was bedeutet Frieden?“ werde ich nun das Projekt Mahnmal Friedenskreuz St. Lorenz10 als ein konkretes Beispiel vorstellen, auf dessen Entstehung die bisher dargelegte Problematik Einfluss gehabt hat. Im Zentrum des Projekts steht ein Friedenskreuz, das in den 1960er Jahren an einem prominenten Aussichtspunkt am Welterbe-Steig Wachau in Niederösterreich errichtet worden ist. Als Gegen-

soll, ist es nicht allen Toten des 2. Weltkrieges, sondern ausschließlich den Gefallenen einer einzigen Wehrmachtsgruppe gewidmet. Die Inschrift auf der Marmortafel lautet: Zum Gedenken für [sic] die gefallenen Helden der Kampfgruppe Jockisch. Aktuelle Recherchen der Historiker Robert Streibel und Gregor Kremser ergaben, dass diese Einheit aktiv an Kriegsverbrechen beteiligt war.

Die Kampfgruppe war das 2. Bataillon im Jäger-

regiment Nr. 25 der Wehrmacht, welches unter dem

10

siert den Soldatentod. Obwohl es für Frieden stehen

Mouffe 2007, zit. nach: Deutschlandfunk, 2007 

harmlost diese Denkmalstätte den Krieg und heroi-

9

der gegen Krieg und für globalen Frieden steht, ver-

Krenn, 2016

these zu einem universalistischen Friedensbegriff,

266

Martin Krenn

Kommando von Hauptmann Bernhard Jockisch stand. Jockisch und seine Soldaten wurden am Balkan und in Weißrussland eingesetzt. Über ihre Kampfhandlungen wurde während der Nazi-Zeit euphorisch berichtet. Auf der Titelseite der Badener Zeitung im Juli 1943 war etwa in einem Artikel des Kriegsberichterstatters Hans König über „die Ver-

11

Badener Zeitung. 7. 7. 1943, zit. nach: Kremser, Krenn, Offergeld & Streibel, 2016: 35 

12

2016: 24, 28, 43

nichtung der Banden in Montenegro“ zu lesen und welche außergewöhnlichen „Leistungen“ „selbstständig handelnder Kampfgruppen“ in diesem Gebiet (eine unter ihnen war die Kampfgruppe Jockisch) erbrachten. „Nur wer das Land kennt, wird die Leistungen der einzelnen, oft kleinsten selbstständig handelnden Kampfgruppen voll zu ermessen vermögen. Im wilden Hochkarst der Schwarzen Berge mussten befestigte Pässe, verstärkte Schlupfwinkel und gefährliche Bandennester überwunden und genommen werden. In Gebirgshöhen bis zu 2500 Metern wurde der Kampf getragen. Pausenlos ging es mit schweren Waffen in Mannschaftszug, mit Artillerie und Panzern durch die steilabstürzenden Schluchten Montenegros. Ein Höchstmass an Beweglichkeit, ein ständiges alltägliches und allnächtliches Tasten nach oft unsichtbaren Feindfronten, Sturmangriffe gegen besetzte Gipfel und undurchdringliche Waldstücke, stete Bereitschaft zum Angriff und Abwehr verengten allmählich den brodelnden Kessel.“11 Die Historiker Streibel und Kremser12 zeigen auf,

Mahnmal Friedenskreuz St. Lorenz

267

dass mit den Kampfhandlungen der Kampfgruppe Jockisch sogenannte „Sühnemaßnahmen“ verbunden waren. „Sühnemaßnahme“ ist ein von der Wehrmacht geschöntes Wort für die Geiselnahme und Ermordung von Zivilpersonen als Racheakt für davor erfolgte Partisanenangriffe.a Im Zuge des Vollzugs dieser Racheakte wurden schließlich ganze Ortschaften am Balkan niedergebrannt.

Wie konnte eine Gemeinde in Niederösterreich

für eine solche Kampfgruppe ein Friedensdenkmal errichten? Man könnte als Begründung anführen, dass in den 1960er Jahren die verbrecherische Rolle der Wehrmacht vielen noch nicht bekannt war und der Mythos einer sauberen und ehrenhaften Wehrmacht in der Bevölkerung weit verbreitet war. Der Historiker Gregor Kremser weist jedoch zu Recht darauf hin, dass spätestens „seit der 1995 erstmals gezeigten Ausstellung ‚Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944’

trifft auch auf die Kampfgruppe Jockisch zu.“13 Umso schwerer wiegt es deshalb, dass 2004 das Kreuz von der Gemeinde und dem örtlichen Kameradschaftsbund unter Beifall der örtlichen Bevölkerung wiedererrichtet wurde. Auch die lokalen Medien hatten keine Einwände dagegen.   Welt, 2012: „1942 ordnete der Oberkommandierende der Wehrmacht, Wilhelm

a

Keitel, an, dass kein Deutscher ‚wegen seines Verhaltens im Kampf gegen die Banden und ihre Mitläufer disziplinarisch oder kriegsgerichtlich zur Rechenschaft gezogen werden‘ dürfe. Das war ein Freibrief für Grausamkeiten aller Art.“

13

der Wehrmacht Geschichte ist. Diese Tatsache

Kremser, Krenn, Offergeld & Streibel, 2016: 12

die Legende von der ‚sauberen‘ Kriegsführung

268

Martin Krenn

Die Niederösterreichischen Nachrichten schrieben am 27. September 2004: „Ein Kreuz in St. Lorenz erinnert an die Gefallenen aus dem Zweiten Weltkrieg. Auf Initiative eines Überlebenden wurde es renoviert und gesegnet. […] Das neu errichtete Gedenkkreuz wurde von Pater Hartman aus Rossatz und Pfarrer Mag. Franz Richter aus Weissenkirchen gesegnet.“14 Ehemalige Wehrmachtssoldaten (in diesem Fall sogar solche, die an der „Vernichtung der Banden in Montenegro“ beteiligt waren) als „Überlebende“ zu bezeichnen, ist problematisch und verschleiert meines Erachtens die Tatsache, dass viele von ihnen nicht nur Opfer, sondern auch Täter waren. Dass das Kreuz durch Geistliche aus beiden (!) benachbarten Ortschaften gesegnet wurde, spricht für sich selbst. Hier handelte es sich um kein Versehen, keinen vergangenheitspolitischen „Ausrutscher“, sondern um einen Gedenkort, der von der Mitte der Gesellschaft akzeptiert wurde.

An dem wiedererrichteten Kreuz wurde schließ-

lich am 17. Juli 2004 über dem gespenstischen Wehrmachtshelm eine „Gedächtnisaufzeichnung“ von dem ehemaligen Soldaten Josef Meisriemler angebracht. Er war gemeinsam mit dem ehemaligen Soldaten Franz Jäger dafür verantwortlich, dass die

14

NÖN, 2004

„Gedenkstätte für die gefallenen und vermissten Kameraden“ in den 1960er Jahren errichtet wurde. In seinem Schreiben berichtet er über die Eröffnungsveranstaltung zu jener Zeit. Alle Heim-

Mahnmal Friedenskreuz St. Lorenz

269

kehrer der Kampfgruppe waren eingeladen, daran teilzunehmen. Der Festakt fand schließlich statt „unter Teilnahme der Musikkapelle Wieselburg, des Kameradschaftsbundes (Heimkehrer-Verein) Weissenkirchen und einer grossen Anzahl Angehöriger der ehemaligen Einheit Major Jokisch [sic] an der Spitze, Kompaniechefs, Adjutant Oberlt. Georg Bauer, Stabsarzt Dr. Stettina aus Gresten, Offizieren, Unteroffizieren und Mannschaft, alle Überlebenden vereint und verbunden zu einer Kameradschaft wie ehemals.“15 Meisriemler schließt sein Protokoll über die Veranstaltung mit den Worten: „Dieses Mal ohne Dienstrang und Dienststellung, ob Offizier und Mann, vereint zu einer Gemeinschaft, die ihre gefallenen und vermissten Kameraden nicht vergessen hat und ihrer würdig gedachten, beseelt von dem Gedanken den Frieden zu fördern und zu erhalten, nach all dem Erlebten“.15 Im letzten Satz erkennt man, warum das Kreuz den Namen „Friedenskreuz“ trägt. Es steht für einen Frieden der „Unsrigen“. Es wird ausschließlich der Toten der Kampfgruppe Jockisch gedacht. Ihr Tod könnte zwar auch als eine Mahnung gegen Krieg und für Frieden

Gedächtnisprotokoll zwar die verschiedenen geographischen Stationen seiner Kampfgruppe auf, er verliert aber kein Wort über die psychische Situation der deutschen und österreichischen, meist noch ju-

15

rituell und abstrakt. Meisriemler zählt in seinem

Meisriemler, 2004

sein. Doch die Erinnerung an diese Gefallenen bleibt

270

Martin Krenn

gendlichen Soldaten dieser Einheit. Das Grauen des Krieges, die Angst zu sterben und zu töten sowie die Ermordung von Zivilpersonen durch die Kampfgruppe werden ausgespart. Anstatt Hitlers sinnlosen Krieg und die Rolle der Wehrmacht anzuklagen, wird der Zusammenhalt der Truppe beteuert. Begriffe wie „Kameradschaft“und „Gemeinschaft“ täuschen hierbei über das eigentliche Trauma des Kriegseinsatzes hinweg. Durch die Segnung dieses Kreuzes wird der Kriegseinsatz der Soldaten und ihr Tod als göttliche Fügung legitimiert.

Das Kreuz würde vermutlich auch heute noch

unverändert in der Wachau als ein Zeichen für Frieden stehen, wenn nicht vor ein paar Jahren der Geschäftsführer des Vereins Wachau Dunkelsteinerwald Regionalentwicklung Michael Schimek diesen Ort besucht und es als unerträglich empfunden hätte, dass an einem „der schönsten Ausblicke der Wachau“ ein Kreuz stand „mit Wehrmachtshelm, Blätterkranz. Unkommentiert.“16

Nach Rücksprache mit dem Bürgermeister

der Marktgemeinde Rossatz-Arnsdorf Erich Polz wurde zudem deutlich, dass die schöne Aussichtsplattform von Jahr zu Jahr immer stärker von einschlägigen rechten Gruppen genutzt wur-

16

Schimek, 2016: 9

de. Seit 2010 war das Kreuz etwa ein Treffpunkt der Gedenkgemeinschaft Major Walter Nowotny. Walter Nowotny war ein Fliegerheld der Nazis, und er ist heute eine Identifikationsfigur der extremen Rechten. Seinem Grab wurde deshalb 2003 der

Mahnmal Friedenskreuz St. Lorenz

Status als Ehrengrab am Zentralfriedhof in Wien aberkannt. Die Gedenkgemeinschaft Major Walter Nowotny, gegründet von Walter Graf und Reg. Rat Walter Graf (zufällige Namensgleichheit), brachte schließlich im Rahmen eines feierlichen Aktes einen Lorbeerkranz am Friedenskreuz an. Damit der Ort nicht mehr als Treffpunkt für rechtsextreme und geschichts-revisionistische Gruppen genutzt werden konnte, entschloss sich schließlich die Gemeinde Rossatz-Arnsdorf in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Wachau und dem Gutachtergremium für Kunst im öffentlichen Raum Niederösterreich, einen geladenen Wettbewerb zur (Neu-)Gestaltung des Ortes auszuschreiben. Das Anliegen lautete, „gegen die aktuelle ‚rechte Nutzung‘ des Platzes sowie den Missbrauch des Denkmals zu intervenieren und 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ein deutliches Zeichen gegen die Leugnung der Verbrechen des NS-Regimes sowie gegen Kriegsverherrlichung zu setzen.“ Die den Wettbewerb leitende Kuratorin Cornelia Offergeld lud mich ein, einen Entwurf zu machen.

Das Besondere an diesem Wettbewerb ist,

dass hier das Problem des Wehrmachtgedenkens und das damit verbundene Zelebrieren rechten Gedankenguts in einem „agonistischen“ Sinne ernst genommen werden. Man hätte auch, einem konsensualen Demokratieverständnis entsprechend, eine harmonisierende Maßnahme treffen können. So hätte etwa ein Zusatzschild, welches über proble-

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Martin Krenn

matische Verstrickungen der Kampfgruppe Jockisch in Kriegsverbrechen am Balkan informiert, der historischen Wahrheit Genüge getan. Wäre die Tafel eher klein gehalten und unauffällig positioniert worden, hätte man besondere Aufmerksamkeit und Widerstand in der Bevölkerung vermeiden können und es so scheinbar allen Seiten recht gemacht.

Durch den Ausschreibungstext, der ein deutli-

ches Zeichen gegen „Kriegsverherrlichung“ fordert, ist jedoch klargestellt, dass es um mehr gehen muss als ein vorsichtiges Zurechtrücken der historischen Wahrheit. Gefordert wird hier eine grundsätzliche Infragestellung einer solchen Form des Gedenkens.

Um dem Ausschreibungstext gerecht zu wer-

den, entwickelte ich ein Projekt, das drei Aspekte in den Fokus nahm: Geschichtspolitik, Antifaschismus und Partizipation.

Geschichtspolitik Da es lange Zeit (über ein halbes Jahrhundert) offensichtlich kein Problem war, das Friedenskreuz in dieser Form an einem prominenten Standort stehen zu lassen und es zudem 2004 sogar von der Gemeinde renoviert und wiedererrichtet wurde, handelt es sich um keinen Zufall oder ein Versehen. Das war kein unbedeutendes Denkmal, das vorbei an der Bevölkerung von ein paar „Ewiggestrigen“ errichtet worden ist. Vielmehr hatte diese Form des Gedenkens

Mahnmal Friedenskreuz St. Lorenz

Platz inmitten der Gesellschaft. Das Objekt symbolisierte für mich falsch verstandene Geschichtspolitik, da es auf Verdrängung und Relativierung der Vergangenheit beruht. Dem Narrativ der Wehrmachtssoldaten als Opfer der Partisanen musste ein anderes entgegengesetzt werden. Als Methode wählte ich die Appropriation Artb und suchte nach einem aussagestarken historisch-künstlerischen Zitat.

Ich stieß bei meinen Recherchen auf eine

Arbeit des DADA-Künstlers John Heartfield mit dem Titel Deutsche Eicheln 1933. Die Fotomontage zeigte bereits damals hellsichtig das unheilvolle Zusammenspiel der Wehrmacht mit Hitler auf. Das Sujet fügte sich ästhetisch sehr gut in die Landschaft, da das Friedenskreuz ebenso vor einem Eichenbaum stand.

Antifaschismus Das Kreuz mit herkömmlichen Friedenssymbolen, wie etwa einer weißen Taube oder Friedensblumen zu ergänzen und zu gemeinsamer Toleranz gegenüber allen Völkern dieser Welt aufzurufen, würde in diesem Kontext nicht funktionieren. Schließlich war es ja der Trick des Friedenskreuzes, Kriegsverherrlichung als Friedensakt zu tarnen. Im Sinne eines   Appropriation Art bezeichnet eine Kunstform, die aus strategischen Gründen

b

die Arbeiten anderer Künstler kopiert oder zitiert. Das Zitat oder der Vorgang des Kopierens wird selbst zur Kunst erklärt. Im Gegensatz zu einem Plagiat oder einer Fälschung handelt es sich nicht um Betrug, sondern um einen Akt der bewussten Aneignung anderer Kunstwerke zur Schaffung von neuer Kunst.

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agonistischen Umgangs mit dem Friedenskreuz musste der Relativierung von Wehrmachtsverbrechen ein radikales Statement entgegengesetzt werden. Das Kreuz musste dabei in seiner Substanz und Essenz ernst genommen werden. Eine Mahnung für den Frieden konnte hier nicht auf Harmonie abzielen, sie musste aufrütteln und dezidiert antimilitaristisch und antifaschistisch sein.

Partizipation Das Mahnmal, welches ich entwarf, sollte nicht passives Gedenken befördern, sondern eine aktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, Geschichtspolitik und dem Friedensbegriff in der Gegenwart initiieren. Mein Wettbewerbsvorschlag enthielt deshalb auch einen, gemeinsam mit Jugendlichen in der Region im Rahmen eines Schulprojektes gestalteten, ergänzenden Teil zum Mahnmal. Das Mahnmal wurde somit zu einer sozialen Skulptur.

Der finale Entwurf, welcher auch den Wettbe-

werb gewann, umfasste eine Installation am Kreuz und einen kleinen Schilderpark auf der Aussichtsplattform, die technische Ausführung wurde in Zusammenarbeit mit den RAHM-Architekten entwickelt. Das Herzstück der Installation ist eine 3 x 4 Meter große Tafel aus transparentem Metallgewebe, die in einem Abstand von 42 Zentimetern vor das Kreuz montiert wurde. Auf dem Gewebe ist die Fotomon-

Mahnmal Friedenskreuz St. Lorenz

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tage Deutsche Eicheln 1933 gedruckt, mit der sich der Künstler John Heartfield im Jahr der nationalsozialistischen Machtübernahme über den Militarismus der Nationalsozialisten mit Hilfe der Symbolik der Deutschen Eiche mokierte. Die Montage, welche ursprünglich für das Rückcover der Arbeiter Illustrierten Zeitung – AIZ17 gestaltet wurde, zeigt einen kleinwüchsigen Hitler, der eine Eiche gießt. Deren riesige granatenförmige Eicheln tragen militärische Kopfbedeckungen wie Pickelhauben oder Hakenkreuz-Helme. Durch das Metallgewebe scheint das Kreuz durch und fließt mit Heartfields satirischer Fotomontage zu einem kritischen Hinterfragen der bisherigen Aufarbeitung von Geschichte zusammen.18

Einen weiteren Teil des Mahnmals bildet ein

Schilderpark rund um das Kreuz, bestehend aus fünf

Reflexions-Workshop des Sparkling-Science Projekts Making Art – Taking Part!19 mit Dilara Akarcesme und Elke Smodics. Die Montagen der Schüler und Schülerinnen thematisieren in der Tradition der politischen Fotomontage Heartfields den Umgang mit Geschichte sowie den Antifaschismus heute.

19

punkt des Schulprojektes bildete schließlich ein

APA, 2016 

den Schüler_innen erarbeitet habe. Den Schluss-

18

halbes Jahr im Rahmen eines Schulprojektes mit

AIZ, 1933, Vol. 12, No. 37 

riker und Gymnasiallehrer Gregor Kremser über ein

17

die ich in Zusammenarbeit mit dem Künstler, Histo-

www.takingpart.at

Collagen von Schüler_innen der HLM HLW Krems,

Oben: Gedenktalfel, Wehrmachtshelm und Lorbeerkranz am Friedenskreuz St. Lorenz, 2015; Foto: Martin Krenn Unten: Mahnmal Friedenskreuz St. Lorenz, 2016; Foto: Martin Krenn

Mahnmal Friedenskreuz St. Lorenz

Conclusio Ausgangspunkt dieses Textes war die Frage, was Frieden bedeutet und wie ein Denkmal des Friedens aussehen kann. Die Frage nach der Bedeutung wurde anhand zweier einander diametral gegenüberstehender Auffassungen diskutiert. Auf der einen Seite das Ziel der Aufklärung, einen dauerhaften Weltfrieden zu stiften, auf der anderen Seite der Antagonismus, eine Weltsicht, wo Politik als Ausdruck des Kampfes zwischen einander feindlich gesinnten sozialen Gruppen verstanden wird und die Möglichkeit eines dauerhaften Weltfriedens negiert wird. Schließlich wurde eine dritte Position, die agonistische Perspektive auf den Frieden, vorgestellt. Der Weltfriede könne nicht alleine auf der Vorstellung von Konsens und Freundschaft zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen und Staaten dieser Welt aufgebaut werden, da dadurch die immerwährenden realen Konflikte und Machtverhältnisse zwischen ihnen verdeckt werden würden. Demokratie müsse radikalisiert werden, es solle zu einer erweiterten Partizipation der Bürger_innen kommen, um dem latenten Antagonismus in der Gesellschaft Ausdrucksmöglichkeiten zu verschaffen und kriegerische Auseinandersetzungen zu verhindern.

Durch das Zitat einer Arbeit John Heartfields

und die Übersetzung seiner politischen Fotomontage in eine Installation vor Ort, gekoppelt mit einem sozialen Kunstprojekt an einer Schule, interveniert

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Martin Krenn

das Projekt Mahnmal Friedenskreuz St. Lorenz agonistisch in der lokalen Geschichtspolitik auf mehreren Ebenen. Auf einer symbolpolitischen Ebene wird durch Heartfields Montage die Verbindung der Wehrmacht mit dem Nationalsozialismus verdeutlicht und die Nazi-Symbolik dekonstruiert. Die Collagen aus dem Schulprojekt führen zu einem Weiterdenken von Antifaschismus in heutige Verhältnisse. Kunstvermittlung und Ästhetik spielen ineinander. Das „Friedenskreuz“, welches den Krieg durch Heldenverehrung glorifizierte, wird zu einem vielschichtigen Mahnmal seiner selbst.

Die Installation Mahnmal Friedenskreuz St. Lorenz

behandelt einen Konflikt, der zwischen dem Kreuz als Friedenssymbol und seiner eigentlichen Bedeutung als Kriegerdenkmal besteht, und durchkreuzt die bisherige Normalität der Gedenkkultur in der Region. Das Mahnmal erzeugte tatsächlich Widerstand in der Bevölkerung, welche sich vor allem an der Hitlerkarikatur und den Hakenkreuzen stößt. Das Gedenken an Wehrmachtssoldaten kann an diesem Ort schließlich nicht mehr vom Nationalsozialismus isoliert werden. Nachdem eine geplante Anzeige gegen mich und Bürgermeister Polz wegen Wiederbetätigung von einer Bewohnerin aus Weissenkirchen wieder zurückgezogen wurde, folgten einige Zerstörungsversuche der Installation. Allerdings ist es sehr schwierig, das widerspenstige Metallgewebe, auf dem die Montage gedruckt ist, zu beschädigen. Es folgten Hakenkreuzdurchstreichungen sowie die Aufschrift „Pfui“ auf der Heartfieldmontage; diese konnten allerdings relativ problemlos wieder entfernt werden. Eine zerkratzte Arbeit

Mahnmal Friedenskreuz St. Lorenz

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der Schüler_innen musste ebenfalls erneuert werden. Die Installation bleibt somit ein unbequemer Stachel in der schönen Wachauer Naturlandschaft und sorgt weiterhin für Diskussionen in der Region, die zu großen Teilen vom Tourismus lebt.

Von der Schönheit dieser Landschaft war auch der

US-Amerikaner John J. Heartfield, Enkel von John Heartfield, beeindruckt. Mit Augenzwinkern bemerkte er bei seiner Rede zur Enthüllung des Mahnmals, dass sein Großvater, der ebenfalls ein Wanderer und Naturliebhaber war, es ganz sicher begrüßt hätte, dass seine Montage als Mahnung gegen Faschismus und Krieg in einem derart schönen Naturzusammenhang von nun an dauerhaft zu sehen sein wird.

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MAGDALENA FRITSCH

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EN/ACTING PEACE Ein Protokoll zur Ausstellung Blood, Sweat and Tears. Assembling Past and Future (2016) von Mathilde ter Heijne

Die Ausstellung Blood, Sweat and Tears. Assembling Past and Future (2016) der Künstlerin Mathilde ter Heijne wurde im Zuge des Jubiläumsprogramms 100 Jahre Körnerpark in der Galerie im Körnerpark (Berlin) unter kuratorischer Leitung von Dorothee Bienert realisiert. Der sich in Neukölln befindende Körnerpark wurde 1916 eröffnet. Seit 1983 wird die dort im neobarocken Stil erbaute Orangerie als Galerie des kommunalen Trägers (Bezirksamt Neukölln) genutzt. In der Ausstellung beschäftigte sich ter Heijne mit Friedensaktivismus und versammelte mittels Videoaufnahmen Positionen von Frauen und Männern der Ersten und Zweiten Frauenbewegung sowie zeitgenössischer Friedensaktivist_innen.

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Magdalena Fritsch

Eine Besonderheit an ter Heijnes Projekt ist, dass sich die in der Ausstellung agierenden Individuen, die in mehreren Videoarbeiten vertreten waren, im Ausstellungsraum zu einer Versammlung formierten. Gleich zu Beginn meines Textes werde ich diese Ausstellung in das Oeuvre der Künstlerin einordnen. Nach einer Beschreibung der Ausstellung werde ich den Titel dieses Artikels, En/acting Peace in seiner Vielschichtigkeit auffächern, um anschließend auf das in der Ausstellung angelegte Moment der Versammlung, auf das ich bereits hingewiesen habe, einzugehen. Dies geschieht mit Bezug auf Judith Butlers Ausführungen Notes Toward a Performative Theory of Assembly. Anschließend werde ich einige Themenschwerpunkte der in der Ausstellung gezeigten Versammlung aufgreifen und Inhalte, die von den Akteur_innen stammen, egal ob sie nun historische Frauen oder aktuelle Friedensaktivist_innen darstellen, wiedergeben. Mathilde ter Heijne ist eine in Berlin lebende niederländische Künstlerin, die sich mit Identitäts- und Geschlechterverhältnissen in der Gegenwart beschäftigt. Durch die Implementierung anderer Narrative in historische Ereignisse befragt sie einerseits konkrete Geschichtsschreibung und hinterfragt andererseits monokausale Deutungsansätze. Um diese ihre alternativen Erzählungen zu erweitern, sucht die feministische Künstlerin auch in außereuropäischen Kulturkreisen nach Antworten. Thematisch knüpft ihre Auseinandersetzung für die Ausstellung Blood, Sweat and Tears. Assembling Past and Future (2016) an das Interesse an der ungeschriebenen und unterdrückten

En/acting Peace

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Arbeit historischer Frauenbiografien an. Im bisherigen Werk ter Heijnes kann das Ausstellungsprojekt Blood, Sweat and Tears somit als Weiterführung des installativen Postkartenprojekts Women To Go (2005–) gesehen werden, in dem sie Biografien von bedeutenden, außergewöhnlichen Frauen in Erinnerung ruft, um das Wissen über diese Frauen davor zu bewahren, in Vergessenheit zu geraten: Auf den Vorderseiten der Postkarten werden Porträts unbekannter Frauen, die zwischen 1839 und 1930 aufgenommen wurden, gezeigt; auf der Rückseite der Postkarten werden diese found-footage Fotografien mit Biografien von Frauen zu einer Entität entwickelt. Diese Herangehensweise ist dem kompensatorischen Feminismus zuordenbar, der an die Denktradition der Zweiten Frauenbewegung anschließt, und die von der patriarchalen Geschichtsschreibung nicht rezipierte Frauen wieder einschreibt.

Blood, Sweat and Tears knüpft an diese Arbeit an.

Während der Ausstellung transformierte ter Heijne die ehemalige Orangerie in einen Raum der Versammlung narrativ-feministischer Friedensarbeit der letzten 100 Jahre: Im ersten, kleineren Raum wurden neben einer kurzen Beschreibung des Ausstellungsinhalts zwei historische Fotografien des ersten Internationalen Frauenfriedenskongresses (1915) in Den Haag gezeigt. Auch eine Liste all jener, die zum kollaborativen Projekt einen Beitrag geleistet hatten, war angebracht. Die kollaborative Arbeitsweise, in der Mathilde ter Heijne sich als diejenige sieht, die den thematischen Rahmen bestimmt und aus dieser Position eine Kollaboration mit anderen herbeiführt, folgt einer feministischen Praxis der Zusammenarbeit.

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Magdalena Fritsch

An einer provisorisch errichteten Wand, durch die man in den dadurch erst entstehenden zweiten Raum der Ausstellung gelangte, wurde die bereits beschriebene Arbeit Women To Go (2005–) gezeigt. Im Zuge der Ausstellung wurde die Sammlung um zwölf Postkarten, die jeweils in deutscher und englischer Sprache produziert wurden, erweitert. Außerdem befanden sich links vom Eingang der Besucher_innendesk und mittig im Raum positioniert zwei Palmen. Die Palmen waren eine lebend-florale Referenz auf den Frauenfriedenskongress 1915, welcher im Dierentuin (Tierpark) in Den Haag stattfand. Ging man durch die eingezogene Wand mit den Postkarten in den langgestreckten zweiten Raum, gelangte man zum wesentlichen Teil der Ausstellung: Hier waren auf unterschiedlichen Bildschirmen in Loops einerseits Interviews von Friedensaktivist_innen, andererseits von Schauspieler_innen eingesprochene historische Texte von Friedensfrauen zu sehen. Die verschieden großen Bildschirme waren vertikal auf einfachen Holzkonstruktionen mit unterschiedlicher Höhe befestigt. An den Bildschirmen waren Mono-Kopfhörer angebracht. Das Besondere an dieser Art von Kopfhörern war, dass während des Hörens der Interviews stets auch die Geräuschkulisse des Ausstellungsraumes wahrgenommen wurde. Dadurch wurde dem intendierten Gefühl, einer Versammlung beizuwohnen, Rechnung getragen. Auch das Ausstellungsdisplay (verschieden konstruierte Holzbänke, die mit Zitaten von historischen Friedensfrauen, Aktivist_innen und Passagen queer-feministischer Texte besprüht waren) war dementsprechend so konzipiert, dass man sich für längere Zeit im Raum

En/acting Peace

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aufhalten konnte, um möglichst viel des fast 24-stündigen Interviewmaterials hören zu können. Wiederum mittig im Raum waren Palmen positioniert; einzelne Bretter mit Sprüchen lehnten an den Wänden oder waren in den Bänken eingeklemmt beziehungsweise im Raum verteilt.

Im hinteren Teil der Ausstellung wurde auf einer

großen Leinwand, die die gesamte Breite des Raumes ausfüllte, die Videoarbeit Face to the Dawn of Liberty (2016) gezeigt. In diesem Video wurden historische Fotografien einer Frauenfriedens-Demonstration im Central Park, NY, von Kulturschaffenden verschiedener Bereiche, Schauspieler_innen und Performer_innen nachgestellt. Die vier Fotografien, die als Ausgangspunkt dafür dienten, zeigten Frauen, die Bretter mit aktivistischen Sprüchen und politischen Forderungen in die Höhe hielten. Diese vier Fotografien wurden nun von ter Heijne für die Ausstellung in eine Videoarbeit transformiert und durch das Hinzufügen anderer Elemente (Kostümierung, Ergänzung einer Tonspur, Veränderung der Texte) aktualisiert und damit der heutigen Zeit angepasst. In der Tonspur wurden zudem sowohl historische als auch aktuelle Texte von Friedensaktivist_innen zitiert und durch Sprechchöre transformiert. Im Ausstellungsraum war die Arbeit durch die Größe präsent und verschaffte sich durch repetitive, chorale Elemente ständig aufs Neue Aufmerksamkeit. En/acting Peace, der Titel des Artikels, setzt sich aus zwei Begriffen zusammen: „enact“ und „peace“. In erster Auslegung kann „enacting peace” folgendermaßen übersetzt werden: „Frieden beschließen”. En/acting Peace verweist

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Magdalena Fritsch

also auf die Möglichkeit – beispielsweise in einer Versammlung durch ein Kollektiv –, etwas zu beschließen. Die Möglichkeit, Frieden zu beschließen, deutet, ganz allgemein, auf eine der Versammlung inhärente Handlungsmacht hin. Diese entsteht im Moment des Versammelns verschiedener Körper und transformiert den betreffenden Raum infolgedessen zum politischen Raum. Der Begriff „Acting Peace”, und damit die zweite Auslegung des Titels, beinhaltet beziehungsweise bezieht sich auf „Frieden herstellen“, „Handeln im Sinne von Frieden“, „herrschender Frieden“ und das Potential, das dem „politischen Potential der Performativität“ zu eigen ist. Die Kombination aus der ersten und zweiten Begriffsbestimmung von En/acting Peace offenbart die Wechselwirkung und Verwobenheit von Frieden, das Beschließen von Frieden als Handlung, und natürlich das Handeln und damit Herstellen von Frieden, sowie die Dimension der Performativität, den Frieden zu vollziehen und gemäß dem Paradigma des Friedens zu handeln. Ausgehend von der Mehrschichtigkeit des Titels und den eben darin angelegten Bezügen wird im Folgenden die performative Theorie der Versammlung (Judith Butler) mit der Ausstellung Blood, Sweat and Tears in Bezug gesetzt.

Butler stellt in ihrer jüngsten Publikation, Notes

Toward a Performative Theory of Assembly (2015), eine performative Theorie der Versammlung auf. Diese wird in Auseinandersetzung mit Hannah Arendts Erscheinungsraum entwickelt, steht dazu aber gleichzeitig in Opposition. Butler beschäftigt sich mit Körperpolitiken, die im Moment der Versammlung zu Körperallianzen werden. Während der

En/acting Peace

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Dauer der Ausstellung Blood, Sweat and Tears wurde der Ausstellungsraum demzufolge zum immer seienden Versammlungsort transformiert.

Sprechen und Handeln (Butler, 2015: 9) sind im

Moment der Versammlung immer aneinandergekoppelt und an den Körper gebunden. Das politische Handeln, so Butler, Hannah Arendt folgend, ist einerseits an architektonische Voraussetzungen geknüpft und andererseits vom Erscheinen der Körper bedingt, die handelnd aufeinandertreffen. Die Performativität im Akt des Versammelns liegt daher nicht nur auf dem Performativen des Individuums, sondern entsteht vielmehr zwischen den verschiedenen Körpern der Teilnehmenden und kann dementsprechend gleichzeitig niemandem individuell zugeordnet werden. Es existiert somit lediglich im Moment des Versammelns.

Bezogen auf die politische Dimension, wer über-

haupt Recht auf politische Artikulation hat, gibt Butler in Erwiderung auf Arendt zu bedenken, dass jede Staatsform, auch die der liberalen Demokratien, Räume entstehen lässt, in denen Menschen trotz der verkörperten Anwesenheit nicht gehört werden, weil sie per definitionem nicht in dem eingeschlossen sind, was als Volk eines Staates gilt. Denn nicht alle Körper haben gleiches Recht auf Versammlung. Neben dem Erscheinungsraum existieren auch stets marginalisierte Positionen in der Gesellschaft. In dem Moment der Versammlung, also beispielsweise bei Demonstrationen oder Revolutionen, wird ein für den Moment entstehender Erscheinungsraum geschaffen und durch diesen Akt der Körperallianz werden plurale Formen der Handlungsmacht etabliert.

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Magdalena Fritsch

Den Ausstellungsraum als Ort der Versammlung feministischer Friedensnarrative zu begreifen, ist in dem Ausstellungstitel mit dem Begriff „Assembly” angelegt und wurde im Display der Ausstellung bewusst aufgegriffen. Der erste Internationale Frauenfriedenskongress 1915 war für Mathilde ter Heijne Ausgangpunkt der Auseinandersetzung mit Frieden und den Akteur_innen sowie den Gegebenheiten von Frieden. Im Zuge dieser historischen Versammlung trafen sich während des Ersten Weltkriegs 1136 Frauen aus zwölf Nationen (vgl. Wilmers: 37). Die versammelten Frauen gründeten dort den Internationalen Ausschuss für dauernden Frieden, der in Folge in die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit umbenannt wurde (Sitz in Genf). Mathilde ter Heijnes Ausstellungsprojekt knüpfte an den Versammlungsgedanken, der dieser initiale Kongress darstellt, an und generierte eine Versammlung von heutigen Friedensaktivist_innen im Ausstellungsraum. Es wurden jedoch nicht nur „lebende“ Aktivist_innen gehört, sondern auch historische Zitate von Schauspieler_innen und Performer_innen eingesprochen. Auf den neun Monitoren, mit deren Hilfe diese Versammlung ermöglicht wurde, liefen verschiedene Interviews mit Friedensaktivist_innen sowie eingesprochene Zitate geloopt. Auf visueller Ebene wurde, dem ästhetischen Verfahren der Collage folgend, jeweils eine historische Fotografie über das Bild aktueller Schauspieler_innen oder Aktivist_innen geblendet. Dieses Verfahren hatte zur Folge, dass nicht mehr die Individuen im Vordergrund standen, sondern die Inter-Subjektivität, die durch die Gruppe von Frauen und Männern generiert wurde. Die einzelnen Positionen

En/acting Peace

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wurden damit in ein Narrativ einer (feministischen) Friedensarbeit zusammengefasst. Die Künstlerin in der Rolle als Archivarin sammelt Positionen, welche sich, in Bezug auf die Ausstellung, als Narrativ über feministische Friedensarbeit von 1915–2016 begreifen lässt und so, meine Hypothese, als ein plurales, alternatives Narrativ zur hegemonialen Geschichtsschreibung verstanden werden kann: Es schreibt sich in die hegemoniale Geschichtsschreibung, die von der Erzählung über Krieg geprägt ist, als die des Friedens ein und ermöglicht dadurch, dass diese Narrative in Frage gestellt und Selbstermächtigungsstrategien entwickelt werden.

Dem Ausgangsgedanken dieses Artikels folgend,

werde ich nun ein Protokoll dieser Versammlung erstellen, in dem die Positionen der Teilnehmer_innen wiedergegeben werden. Anhand von drei Themenschwerpunkten der Friedensarbeit werden die Aussagen der Teilnehmer_innen von mir aneinandergereiht, um einen Einblick zu geben, wie vielschichtig Frieden und Friedensarbeit begriffen werden kann.

En/acting Peace, „das Beschließen von Frieden und

Handeln im Sinne des Friedens”, wird durch die Redebeiträge von Helena M. Swanwick, einer britischen Frauenrechtlerin, die von 1867 bis 1954 lebte, und Susanne Jalka, die Herausgeberin dieser Publikation ist, thematisiert: „You cannot stand quiet and say Peace, peace, peace – that does nothing. It is not a passive, but an active problem. What, then, is your solution of the problem? You must find the answer, or you are beaten.”  Helena M. Swanwick, eingesprochen von Jürgen Lehmann

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„Ich verstehe Frieden nicht als die Abwesenheit von Krieg, sondern als ein aktives Demokratiebewusstsein, als Partizipation der Gesellschaft und als Notwendigkeit, dass möglichst die Bildungspolitik die Emanzipation fördert. Für mich ist Frieden und Emanzipation untrennbar miteinander verbunden.“  Susanne Jalka

„In der Welt, in der ich gross geworden bin – nach dem Zweiten Weltkrieg – wo man eigentlich gedacht hat, es kann jetzt nur mehr Frieden geben, sind dann doch die Einbrüche sehr schnell gekommen.“ Heidi Meinzolt

Die Rolle der Künstlerin als Historikerin wird nicht zuletzt dadurch evident, dass Mathilde ter Heijnes inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Pazifismus, Friedensarbeit und -politik vom ersten Internationalen Frauenfriedenskongress 1915 ausgeht. Dieser Kongress ist aus mehreren Gründen bemerkenswert: In einem transnationalen Rahmen während des Ersten Weltkrieges versammeln sich Frauen (die meisten von ihnen hatten zu diesem Zeitpunkt in ihren Herkunftsnationen noch kein Wahlrecht), um über eine humanistische, nicht-militarisierte Definition von Frieden nachzudenken und schließlich einen Forderungskatalog zu verabschieden. Peter Mares, Leiter des zivik Förderprogramms am ifa (Institut für Auslandsbeziehungen, Berlin), bemerkte dazu: „1915, mit dem Friedenskongress, ist im Grunde zum ersten Mal eine Tagung in der Welt gewesen, die sich

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En/acting Peace

wirklich dem Frieden in der Welt verbunden fühlte. Wir hatten viele Kongresse vorher in Europa, die dienten aber vor allem immer dazu, Macht zu verteilen. Durch sehr wenige Menschen wurde Macht sich selbst und anderen zugesprochen. Es war weit weg davon, dass Bevölkerungsschichten gefragt wurden, was denn ihre Interessen sind, was sie sich vorstellen, dass Frieden bedeuten kann. Daher ist der Friedenskongress 1915 sehr besonders und prägend. Insbesondere, sich nochmal klar zu machen, zu welcher Zeit das stattfand.“ 

Peter Mares

Der erste Internationale Frauenfriedenskongress ist somit als emanzipativer Akt zu verstehen, der den historischen Akteurinnen Raum gab, sich zu artikulieren, wenngleich ihre Forderungen kaum Gehör fanden. Die zeitgeschichtlichen Politikinteressen waren dafür zu stark von militaristischen Strukturen geprägt. Auch in Bezug auf die Einladungspolitik stellten sich die Organisatorinnen gegen die herrschende Logik der Politik und verfolgten eine radikale Position: Die Teilnahme am Kongress wurde jeder Frau, unabhängig von ihrer nationalen Zugehörigkeit, ermöglicht. Ein Ausschluss von Frauen aufgrund nationaler Zugehörigkeiten wurde nicht in Erwägung gezogen. Dass es vielen Frauen dennoch unmöglich erschien, die Einladung anzunehmen und den Weg eines bedingungslosen Friedens zu gehen, zeigt im Umkehrschluss, welche enorme Leistung das Versammeln der Frauen in jener Zeit an diesem Ort mit dieser Einladungspolitik war. Die Nicht-Teilnahme von Friedensfrauen war dabei nicht nur

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Magdalena Fritsch

persönlichen Gründen geschuldet, sondern wurde auch auf politischer Ebene verunmöglicht, weshalb beispielsweise die britische Delegation nicht zugegen sein konnte. Welche Relevanz dieses Treffen für Akteur_innen der Gegenwart noch immer hat, beschreibt Heidi Meinzolt, die seit 1992 der Women International League for Peace and Freedom (WILPF) angehört, folgendermaßen: „Es wurde uns immer immer wieder weisgemacht, die Frauen haben den Krieg mitbefördert, haben die Nelken in die Gewehre gesteckt. Nein, es gab ein paar ganz, ganz mutige engagierte Frauen, die sich bereits 1915 in Den Haag getroffen haben. 100 Jahre später haben wir uns wieder, 1000 Frauen, in Den Haag getroffen, um letztlich die gleichen Forderungen zu stellen: Es muss eine universelle Abrüstung geben, die Waffenlobbies in allen unseren Ländern nähren nur die zukünftigen Kriege. Das haben sie vor 100 Jahren gefordert, und wir fordern das jetzt. Es muss eine Beteiligung von Frauen gleichberechtigt auf allen Ebenen an Konfliktlösung geben, an den Friedenstischen, und diese internationalen Schiedsgerichtsinstitutionen sind ganz entscheidend, um zukünftig etwas für den Frieden zu tun.“ 

Heidi Meinzolt

Emmeline Pethrick Lawrence, Friedensaktivistin, die von 1867 bis 1954 gelebt hat, fragte bereits 1915 nach der Essenz von Frieden: “I ask you to realise your personal responsibility in this matter, to take those peace terms and read them, and study them, and ask yourselves, do they lay down the conditions of the future

En/acting Peace

293

peace, happiness, and welfare of the world? Dark as in some ways the present moment is, I feel that we can face the future with hope. And so we say, march on, march on, face to the dawn of liberty.” Emmeline Pethrick Lawrence, eingesprochen von Eva Kessler

1915, auf der ersten Internationalen Frauenfriedenskonferenz wurde Frieden also das erste Mal aus humanistischer Perspektive diskutiert. Dieses Anliegen der Aktivist_innen von heute ist in ihren Reden genauso wie in den eingesprochenen Zitaten der historischen Friedensfrauen thematisiert, und es werden verschiedene Zugänge zu einem humanistische Friedensideal vorgestellt. Jede_r Akteur_in, die oder der sich im Ausstellungsraum äußert, ist zu einer eigenen Definition gekommen, was Frieden aus humanistischer Perspektive sein kann. Diese eigenen, individuellen Antworten formen gemeinsam ein vielverzweigtes Cluster, das als Engführung des komplexen Themas Frieden gelesen werden kann.

Ein Schwerpunkt der Auseinandersetzung ist Anti-

Militarismus. Eva Quistorp, die als Mitgründerin vieler Friedensinitiativen (z. B. Frauen für den Frieden, 1970er Jahre) gilt und Gründungsmitglied der Grünen in Deutschland war, erklärt im Interview ihre Haltung zum Militarismus und die Dominanz, die das militärische Narrativ bis heute in der öffentlichen Diskussion einnimmt: „Ich hab eine ganz starke Haltung gegen den Militarismus, gegen die Kriege mitbekommen und dachte dann – die einfache Erklärung war, die Deutschen waren so blöd, man hat sich gehasst, und dann wollten alle den Krieg und

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Magdalena Fritsch

haben geklatscht, und ich hab erst viel später erfahren, dass es teilweise gar nicht stimmte, dass gar nicht die ganze Bevölkerung geklatscht hat. Dass es teilweise 'ne Täuschung auch der ersten zwei Wochen war, und dann war die Frage, wie kann man das, wenn so eine Maschinerie angelaufen ist – wer kann sie dann noch aufhalten? Das müsste zum Beispiel auch 'ne wichtige Frage der Friedensforschung sein oder der Protestbewegungen, nicht nur, wie macht man bei keinem Krieg mit, wie ist man nicht begeistert von Krieg […].“ 

Eva Quistorp

Auch Ute Scheub, deutsche Publizistin, Politologin und Autorin, die unter anderem 2003 den deutschen Frauensicherheitsrat mitbegründete, erklärt in ihrer Rede in der Ausstellung, wie die Sicherheitspolitik, die von Männern geprägt ist, auch heute vornehmlich militärischen Logiken folgt: „Wir haben damals gemerkt, dass die UnoSicherheitspolitik ein reiner Männerbereich ist. Es ist ein irrsinnig dickes Brett, Militärs treffen sich, Sicherheitsberater treffen sich und spielen Schach mit der Welt. […] Niemand ist eigentlich da, der die Interessen der Zivilgesellschaft vertritt, auch der weiblichen Gesellschaft. […] Dann haben wir eigentlich gedacht, wir brauchen eine Parallel-Uno, wir haben aufgerufen, einen Weltfrauensicherheitsrat zu gründen – ein ehrgeiziges Ziel, das auch gescheitert ist. […] Weltweit sind es halt die Fraueninitiativen, die in Kriegen oder nach Kriegen oder in Konflikten als erste Kontakt aufnehmen mit den sogenannten

En/acting Peace

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Feindinnen. Es waren historisch gesehen immer wieder die Frauen, die nach Frieden gerufen haben, die diese Kriegslogik, diese militaristische Logik durchbrochen haben. […] Das sind diejenigen, auf die man setzen muss in allen Konflikten auf dieser Welt. Die wollten wir unterstützen, wir fühlten uns mit denen solidarisch, und irgendwann hat auch die UNO gemerkt, dass sie solche Frauengruppen braucht und hat die Un-Resolution 1325 im Jahr 2000 verabschiedet. Die besagt, dass Frauen auf allen Ebenen bei Friedensprozessen gleichberechtigt teilnehmen sollen.“  Ute Scheub

Auch während des ersten Internationalen Frauenfriedenskongresses existierte ein anti-militärisches Bewusstsein. Dr. Helene Stöcker, die 1869 geboren wurde und als Pazifistin für Frauenrechte kämpfte, forderte einen Perspektivenwechsel: „Nicht der kapitalistische, militärische, nationalistische Kampf aller gegen alle oder der Kampf der einen Nation gegen eine andere wird uns retten, sondern nur die Erkenntnis, dass gegenseitige Hilfe, sowohl im Leben der Menschen wie auch der Tierarten, ein viel wichtigeres Element ist als der Kampf aller gegen alle, zu dem man die missverstandene Darwinistische Lehre umgestaltet hat.“  Helene Stoecker, eingesprochen von Thelma Buabeng

Eng verknüpft mit der Dominanz des Militärischen sind die dominierenden Rollenbilder in der Gesellschaft. Vielen Friedensaktivist_innen ist daher daran gelegen, die

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Magdalena Fritsch

Hierarchien, die in der binären Zuschreibung von Weiblichkeit und Männlichkeit angelegt sind, aufzubrechen. So ist der friedensaktivistische Ansatz von Fatmire Feka (Kids for Peace movement) das Empowerment von Mädchen. Ihr Engagement erklärt sie biografisch, da sie im Kosovo aufwuchs und von ihren Erfahrungen geprägt ist: „The impossible that we worked hard before, that it was impossible for a woman to get the education. It was impossible for a woman to participate at the same level as men did. We changed our own destiny, we got the education, we created the Kids for Peace movement, we made the impossible possible. Why? By hard work! The determination and the will that peace is the only alternative in solving the current problems that we have. And that’s what Kids for Peace did.”  Fatmire Feka

Diese Geschlechterrollen sind jedoch nicht nur in PostKriegsgesellschaften ausgeprägt, wie Tina Limbird, die Initiativen wie das International Girls‘ Empowerment Summer Camp leitet, erklärt: “We realized that you can make a difference in society in so many different levels, but you have to feel like it’s possible, you have to have rolemodells and you have to have the tools you need to get there. So, that’s what we are doing to equip these girls to go out and make a difference and build peace and build more peaceful society. We want to teach them, that in all different aspects of life and all different aspects of society they can make a difference. So, every day at our camps they

En/acting Peace

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meet a woman who is doing something fantastic with her life: Whether that be an artist who’s making a difference, a politician, someone from the tech industry or someone who works in human rights. Everyday they meet someone and see different paths to making a difference. We hope to inspire them and also give them mentors, so when they’re ready they have a path to go, a path to follow, someone to hold their hand.” 

Tina Limbird

Warum dieses Empowerment so wichtig ist, zeigt sich nicht zuletzt bei einem weiteren Beitrag von Ute Scheub. Gitti Hentschel, deutsche Publizistin, die bis 2015 das Gunda-Werner-Institut der Heinrich-Böll-Stiftung leitete, attestiert in dem zweiten der folgenden Beiträge der deutschen Gesellschaft eine Re-Traditionalisierung genau dieser Rollenbilder: „Für mich ist nach wie vor extrem wichtig, und auch für die 1000 Friedensfrauen weltweit insgesamt, dass wir keine Hierarchien bilden, das glaube ich, schafft immer Unfrieden, schafft immer wieder schnell Gewalt und legitimiert Gewalt. […] Und die Hierarchie zwischen Frauen und Männern oder zwischen Jungen und Mädchen ist ja eine, die ganz früh geschaffen wird, schon in den Familien und dann ganz oft legitimiert zu späterer Gewaltausübung. Gerade in Ländern, das kann man sehr gut sehen, das kann man gut soziologisch beweisen, wo man Frauen einen besonders niedrigen Status andichtet, da ist Gewalt ganz besonders endemisch. Das ist so eine Art von

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Magdalena Fritsch

Othering, das eben Jungen oder junge Männer ganz schnell lernen: Ich bin höherstehend, also ich darf Gewalt ausüben. Und das überträgt sich dann später auch ganz oft auf andere Minderheiten, dass einfach bestimmte Männer sich einbilden, sie könnten, sie dürften Gewalt ausüben. Nicht nur gegen Frauen, sondern gegenüber allem, was nicht so ist, wie sie selber. […] Also, wenn man wirklich Frieden in der Welt schaffen will, dann kommt man nicht drum rum, eine echte Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen zu schaffen, die den Namen auch wirklich verdient. Das geht nicht nur um oberflächlich ähnliche Löhne oder sonst was, sondern es […] geht bereits los in den Familien, auf einer psychischen Ebene, so dass einfach diese Art von Gewalt keinen Boden mehr findet.“ 

Ute Scheub

„Es gibt einen Aspekt, den ich zum Beispiel dabei wichtig finde, und der ist der sogenannte Aspekt der Entwicklung von Geschlechterbildern. Männlichen wie weiblichen, die in Deutschland und auch in anderen Ländern eine Re-Traditionalisierung von Geschlechter-beziehungen zum Ziel hat. Wir haben ja heute in unserer Gesellschaft eigentlich ein Geschlechterverhältnis entwickelt oder Bilder auch von Familie und wie Menschen miteinander leben, die sehr viele unterschiedliche Möglichkeiten zulassen, und im Moment gucke ich mir mit grosser, grosser Sorge diese Form von Re-Traditionalisierung an, die sowohl bezogen auf der Seite der Frauen, davon ausgeht,

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En/acting Peace

Frauen sollen wieder mehr ihrer ursprünglichen Rolle als Versoger_innen in der Familie, also zu Hause bleiben, möglichst viele Kinder kriegen und ihren traditionellen Rollen nachkommen, und die Männer sind dann die vermeintlichen Beschützer der Frauen, sowohl auch Versorger der Frauen und nach aussen auch die Verteidiger von Rechten der Frauen. Angeblich. Das entspricht ja einem Bild von hegemonialer Männlichkeit, einer Dominanz von Männlichkeit in einer Gesellschaft, wo die Männer nach aussen agieren und die Frauen die ihnen angestammte Rolle halten und alle sehr wenig Spielräume haben, und gleichzeitig geht damit einher – und deswegen find ich auch in der deutschen Gesellschaft – 'ne Form von Militarisierungsansätzen.“ 

Gitti Hentschel

Inga Luther, die im Verein OWEN (OWEN – Mobile Akademie für Geschlechterdemokratie und Friedensförderung e. V.) mit dem Ansatz Paolo Freires arbeitet, beschreibt ihre Friedensarbeit folgendermaßen: „Der Bezug zu den Geschlechterrollen ist für uns sehr wichtig, auch für mich, weil ich glaube, dass es immer wieder darum geht, wie stark wir festgelegt werden von der Gesellschaft, sowohl strukturell als auch kulturell auf bestimmte Rollen, die eben, wenn wir uns davon einschränken lassen, auch unsere Handlungsspielräume sehr einschränken. Und ich glaube in der Bildungsarbeit, die wir machen, versuchen wir immer wieder danach zu suchen, wo sind denn Handlungsspielräume, die darüber hinausgehen und die vielleicht auch die

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Magdalena Fritsch

Gewalt, die in den Rollenzuschreibungen steckt, auflösen und verändern. Und das ist teilweise wirklich sehr kleinteilige Arbeit und sehr komplex und sehr kompliziert […] Es geht immer wieder darum, mit den Menschen zu gucken, was bedeutet es eigentlich in dem jeweiligen Kontext? Welche Rollen gibt es dort? Welche kulturellen Normen und Tradierungen gibt es dort und was wollen wir da vielleicht verändern und was wollen wir da vielleicht nicht verändern? Was prägt unser Handeln?“ 

Inga Luther

Frieden und Bildung ist für viele der interviewten Friedensaktivist_innen evident. Auch in historischer Perspektive wurde von Helena M. Swanwick, einer britischen feministischen Pazifistin, die von 1864–1939 lebte, auf die Notwendigkeit von Bildung Bezug genommen. Im Weiteren werden noch Beiträge von Marina Grasse, ebenfalls vom Verein OWEN, und Thomas Krüger, Leiter der Bundeszentrale für politische Bildung in Deutschland, wiedergeben, die das Verhältnis von Frieden und Bildung noch genauer beleuchten sollen: „Peace is an active quality, peace is not a negative thing, peace is not a mere denial of war. Peace is the readiness to use your brains and your goodwill to solve every problem as it arises. You have to make peace every hour of the day and every day of the year. You have to make peace not only with goodwill, but also with knowledge. We have to know how to meet every problem in an intelligent way. It is no answer to say to two people who are quarreling ‚Why does not one of you give up?’ or ‚Why don’t you

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En/acting Peace

both give up?’ You have to find where the root of the problem is, see where the oppression lies, see where the injustice is done, and put that right, and you can only do that with knowledge, with training, with discipline, with organization.”  Helena M. Swanwick, eingesprochen von Zainap Alsawah

„Ich glaube eben, Lernen und politisches Lernen ist eng verbunden mit kritischem Bewusstsein. Was heisst kritisches Bewusstsein? Kritisches Bewusstsein heisst, die Fähigkeit zu haben zu fragen. Fragen: Warum? Warum sind Dinge so, wie sie sind? Und ich beobachte leider, dass diese Fähigkeit, nach dem Warum zu fragen, nicht besonders gefördert wird. Das sehe ich als ein grosses Risiko an, denn ich glaube, wir müssen die Frage stellen, warum Dinge so sind, wie sie sind.“ 

Marina Grasse

Ich hab´ begonnen, mich in der DDR für die Friedensarbeit zu engagieren […] und in dieser Zeit eigentlich gelernt, Bildung zu organisieren, Bildung als Gegenmodell zu klassischen Wissensformen als Herrschaftsinstrumente.“ 

Thomas Krüger

Die Versammlung der Stimmen, die ter Heijne in ihrer Ausstellung Blood, Sweat and Tears. Assembling Past and Future zeigt, folgt einer kollaborativen Arbeitsweise. Die Polyphonie der verschiedenen Akteur_innen, die nebeneinander und teilweise zeitgleich im Ausstellungsraum gezeigt wurden, ermöglicht der Besucherin oder dem

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Magdalena Fritsch

Besucher eine Positionierung in der Versammlung. Die hier angewendete künstlerische Arbeitsweise entzieht sich damit monokausalen Deutungsmustern – damit wählte Mathilde ter Heijne mit ihrer künstlerischen Herangehensweise eine Form, die äquivalent auch als Strategie in der Friedensarbeit Anwendung findet.

Arendt, Hannah ([1958] 2016): Vita Activa oder Vom tätigen Leben. München/Berlin/Zürich: Piper Verlag. Butler, Judith (2015): Notes Toward a Performative Theory of Assembly. Cambridge: Harvard University Press. Wilmers, Annika (2009): Pazifismus in der internationalen Frauenbewegung (1914–1920). Essen: Klartext Verlag.

SUSANNE JALKA

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FRIEDENSWEGE

Als für das Jahr 2005 Festakte und Feiern zum 100. Jahrestag der Verleihung des Friedensnobelpreises an Bertha von Suttner zu planen waren, beteiligte sich der Verein Konfliktkultur maßgeblich daran. Einige Veranstaltungen zu Ehren Bertha von Suttners konnten in Österreich durchgeführt werden. Allerdings mit eher geringer öffentlicher Aufmerksamkeit.

Unsere Erfahrungen im Lauf der Organisation dieser

Projekte machten uns deutlich, dass das Thema Frieden hier in Österreich hauptsächlich mit Vorstellungen wie „Uns geht es gut. Wir haben Frieden. Bei uns gibt‘s (zur Zeit) keinen Krieg“ verbunden ist. Die simple Definition von Frieden als die Abwesenheit von Krieg ist bequem. Wenn kein Krieg herrscht, ist Frieden. Wir müssen uns nicht damit beschäftigen, da bei uns eben kein Krieg stattfindet.

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Susanne Jalka

In einer Befragung, die von Konfliktkultur in den Jahren 2008 bis 2009 mit 1.000 jungen Leuten in Wien zum Thema Frieden durchgeführt wurde (siehe Fragebogen Peace Matters, Ergebnisbericht erhältlich bei Konfliktkultur), äußerten fast 70 Prozent der Teilnehmer_innen den Wunsch, sich aktiv mit Friedensthemen zu befassen. Aber weder in ihren Schulen noch in ihren Familien wurden Friedensthemen diskutiert. Wenig oder kaum mehr als Namen wussten sie über Organisationen und Institutionen, die zu Frieden, Menschenrechten und zivilgesellschaftlichen Entwicklungen arbeiten. Die jungen Leute wurden in ihrem Engagement nicht unterstützt. Zur Geschichte der Friedensbewegung gab es nur bei etwa 15 Prozent der Befragten zumindest minimale Kenntnisse. Namen von österreichischen Friedensaktivistinnen waren ihnen weitgehend unbekannt. Zu Fragen nach Namen von aktiven Frauen und Männern, die sich zur Zeit in Österreich für Frieden engagierten, wurden prominente Personen genannt, die aber nicht mit der Friedensbewegung zu tun hatten.

Wien ist eine große Stadt, von der über Jahrhunder-

te Weltgeschichte ausging. Oft war diese Geschichte von Krieg und Gewalt bestimmt. Es ist insofern naheliegend, dass in Wien viele Orte existieren, die an diese Ereignisse erinnern. Denkmäler, Straßen und Plätze erzählen von „Großen Feldherren“, wobei die Schlachten, das Töten und das Sterben nicht gezeigt werden. Männer, Helden, Sieger bestimmen die Erinnerungskultur.

Hinweise auf Friedensstifter sind kaum zu finden.

Plätze und Straßen könnten aber an Friedens-Geschichten

Friedenswege

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erinnern, wenn unsere Erinnerungskultur das hervorheben wollte. Aktionen von friedenswilligen Menschen haben stattgefunden. Wien war eines der Zentren des Beginns der organisierten Friedensbewegung zu Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aber im Stadtbild, in der öffentlichen Wahrnehmung, wird daran fast gar nicht erinnert. Die Geschichte von Kriegen und von Gewalt wird in Wien reichhaltig vorgeführt und ausgestellt, im Gegensatz dazu gibt es fast keine Darstellungen der Geschichte der Friedensbewegungen und der zahlreichen Friedensaktionen, die mit dieser Stadt verbunden sind. Übrigens ist diese Tatsache ein weit verbreitetes Phänomen. Die Erinnerungskultur bezieht sich in den meisten Städten unserer kriegserfahrenen Gesellschaften auf eben diese Erfahrungen. Die anderen Möglichkeiten des Zusammenlebens, wie sie von den Frieden-Denkenden beschrieben werden, sind noch utopisch für die Allgemeinheit. Unserer Kulturpolitik fehlen weitgehend Kenntnisse und der Mut zu diesen Themen. Die Friedensthemen mit Bezug auf Politik, Recht, Kunst, Kultur und auf viele Bereiche der Wissenschaft zirkulieren immer noch in einer überschaubaren „Gemeinschaft“.

Das neue Wissen, ein anderes Denken, begegnet

einer inneren Abwehr. Zutiefst verankert in unseren gattungsgeschichtlichen Erfahrungen, herrscht der Gedanke, dass es immer Kriege gegeben hätte und deshalb weiterhin auch immer Kriege geben werde. Die Unterwerfung unter angeblich zeitlos ewige Machtverhältnisse wird in einer gewissen Ohnmacht praktiziert. Dazu kommt, dass dieses Denkkonzept im Allgemeinen kaum diskutiert

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Susanne Jalka

wird. Allerdings haben sich in den vergangenen Jahrzehnten über den medialen Konsum Kenntnisse darüber verbreitet, welche entsetzlichen Leiden die Kriege erzeugen. Die Zeit der mutigen Helden, die nicht wissen, was sie tun und sich siegesfroh in die Schlacht führen lassen, ist weitgehend abgelaufen. Das Wissen über das zu erwartende Leiden verringert die Kriegsbegeisterung und stärkt eher die Meinung, dass Kriege zu vermeiden seien. Auch Protestkultur trägt zu zivilgesellschaftlicher Partizipation bei. Frieden ist und bleibt vorerst für die überwiegende Mehrheit die Zeit zwischen den Kriegen. Wir vom Verein Konfliktkultur haben daraufhin beschlossen, ein Buch über Wiens Friedensgeschichte, über Friedensheldinnen und -helden und über Friedensaktionen zu schreiben. Wir wollen mit unseren Friedensprojekten Denkanstöße anbieten, um das oben beschriebene Konzept zu thematisieren. Um dieses Nachdenken und das Diskutieren, besonders in Bildungseinrichtungen zu unterstützen, machen wir Informationen verfügbar, um zum Beispiel Schulen entsprechendes Material für den Unterricht anzubieten.

Im Herbst 2011 erschien Frieden entdecken in Wien,

ein Buch mit einem kurzen Überblick über die Geschichte des Friedens im abendländischen Kulturraum und speziell über Frieden in Wien. Außerdem haben wir zu mehr als 140 Orten in Wien Geschichten über Menschen zusammengetragen, die sich für Friedensthemen eingesetzt haben oder dieses zur Zeit tun. Die damalige Präsidentin des Nationalrates, Barbara Prammer, hatte ein Geleitwort

Friedenswege

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geschrieben, in dem sie die Bedeutung der Verortung von Frieden in der Stadt Wien als ein wichtiges Instrument der Friedensarbeit und Friedenspädagogik betonte. Sie wies auf den Zusammenhang von Frieden mit Rechtsstaatlichkeit, Parlamentarismus und Demokratie hin. Anlässlich einer Gedenkfeier im Parlament am 1. Dezember 2011, zum 100. Jahrestag der Verleihung des Friedensnobelpreises an Alfred Hermann Fried, wurde das Buch vorgestellt.

Alfred Hermann Fried, einer der Begründer der

Friedenswissenschaft, ist als zweiter österreichischer Friedens-Nobelpreisträger leider fast gänzlich vergessen. Vergessen wie so viele, die sich für eine gerechte Gesellschaft, für sozialen Frieden, für die Entwicklung von Demokratie und Rechtsstaat und für Gleichberechtigung aller Bürgerinnen und Bürger eingesetzt haben. Er hat zwar in Wien gelebt und gewirkt, ist international bekannt als einer der Begründer der Friedenswissenschaft und auch des Friedensjournalismus. Und er hat als Österreicher 1911 den Friedensnobelpreis erhalten. Sein Name ist jedoch in seiner Heimat mehr oder weniger unbekannt. Nicht nur, weil er Friedensthemen bearbeitet hat, er war auch Freimaurer, und er war Jude. Auf den Scheiterhaufen der nationalsozialistischen Bücherverbrennungen wurden seine Bücher radikal vernichtet. Es gibt kaum noch erhaltene Druckwerke von ihm aus seiner Zeit.

In dem Buch Frieden entdecken in Wien haben wir

Alfred H. Fried vorgestellt und an die wichtigen Arbeiten dieses Pazifisten erinnert. Außerdem haben wir später auch auf dem Wiener Friedensweg www.discoverpeace.eu

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Susanne Jalka

zur Erinnerung an Alfred H. Fried, in der Widerhofgasse 5, im 9. Bezirk eine Station des Friedensweges festgelegt.

Es ist erstaunlich, dass in Wien zwei Friedensnobel-

preisträger gelebt haben, die aber doch heute kaum bekannt sind. Es handelte sich eben um den Nobelpreis für Frieden. Verringert das den Öffentlichkeitswert?

Angeregt von der interessanten Recherche zu den

historischen, kulturellen und politischen Geschichten zum Frieden, entwickelten wir den Plan, einen Stadtspaziergang in Wien zu Friedensthemen zu entwerfen. Im Sinn von Outdoor-Learning könnten unterschiedliche Themen jeweils zu bestimmten Gebäuden und Orten Diskussionen anregen und so auf die vielen Themen aufmerksam machen, die mit aktivem Frieden gemeint sind. In einigen Städten in Europa gibt es bereits Stadtführer zum Thema Frieden. Es wurde also Zeit, dass zu diesem bedeutenden Thema auch in der Stadt Wien Informationen verfügbar würden. Aus dieser Idee wurde ein europäisches Projekt Discover Peace in Europe, von Brüssel ko-finanziert. Wir konzipierten in sieben Städten jeweils Friedenswege als Stadtspaziergänge: in Berlin, Budapest, Den Haag, Paris, Manchester, Turin und Wien. In jeder dieser Städte werden an je 15 Stationen unterschiedliche Aspekte des Friedens vorgestellt.

Das Grundprinzip ist, in allen sieben Städten Anre-

gungen zum Nachdenken anzubieten, was unter „Frieden“ verstanden werden kann. Der simplen, weit verbreiteten Haltung, dass Frieden das Gegenteil von Krieg sei, werden Fragen zugemutet. Ist also Frieden die Zeit, um neue Waffen zu entwickeln und deren Gebrauch zu üben? Ist

Friedenswege

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Frieden die Zeit der Vorbereitung auf den nächsten Krieg? Ist Frieden die Zeit zwischen den Kriegen?

Wir beschäftigen uns an unterschiedlichen Stationen

mit diesen grundsätzlichen Fragen, was heute mit dem Begriff „Frieden“ gemeint sein könnte: Dass in einer Gesellschaft, die sich als Demokratie definiert, Friedensthemen nach informierten, bewusst kritisch denkenden Bürgerinnen und Bürgern verlangen und dass Demokratie ohne diese kritisch partizipierenden Menschen gefährdet sei. Deshalb führen die Friedenswege unseres Projekts zu Orten der historischen Entwicklung von politischer Toleranz, für die freie Religionsausübung und Meinungsfreiheit ohne Zensur, oder zum Parlament, wo Vertreter des Volkes über die Gesetzgebung bestimmen, und in Wien direkt neben dem Parlament zur Demokratiewerkstatt, wo „Demokratie“ gelernt werden kann. Sozialpolitische Maßnahmen in demokratischen Strukturen sowie ziviler Widerstand sind wichtige Themen auf allen unseren Friedenswegen in den sieben beteiligten Städten. Unverzichtbar ist auch die Frage der Gleichberechtigung von Frauen und Männern, von Minderheiten und – sehr aktuell – von Flüchtlingen. Zu guter Letzt, aber durchaus als zentrales Anliegen, weisen wir auf historische Figuren aus der Friedensbewegung hin, um sie bekannt zu machen. Die Friedenswege wollen nicht als Stadtführungen verstanden werden, sondern als Wege zu Orten, wo nachgedacht und diskutiert, wo persönliche Einstellungen und Gedanken ausgetauscht werden. Die Wege zwischen den Stationen bieten Gelegenheit, Fragen zu der jeweils nächsten Station zu stellen. Oft kann die Bezugnahme auf andere Denk-

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Susanne Jalka

mäler oder Orte zu Überlegungen führen, warum manche Menschen verehrend erinnert werden und andere nicht. Welche Werte werden von unserer Erinnerungskultur als verehrungswürdig präsentiert?

Im Projekt Discover Peace in Europe entwickelten

wir also den Webauftritt von www.discoverpeace.eu als Information und als Beschreibung der Wege und Stationen in allen sieben Städten: Berlin, Budapest, Den Haag, Manchester, Paris, Turin und Wien – jeweils in der Landessprache und in Englisch. Außerdem wurden taschengerechte kleine Drucksachen der sieben Friedenswege, wieder jeweils in den Landessprachen und in Englisch, herausgegeben. Wir sind der Meinung, dass Menschen, die gedrucktes Material dem digitalen vorziehen, in diesem Projekt mit bedacht werden sollen.

Die Wahl der Stationen in den beteiligten Städten

war eine interessante Aufgabe. Möglichst unterschiedliche Stationen zu verschiedenen Aspekten von Frieden aus historischer und zeitgenössischer Sicht sollten viele Fragestellungen ermöglichen, sollten Anregungen zum Nachdenken bieten, sollten Bezüge zwischen Friedensthemen und anderen Orten in der jeweiligen Stadt anregen. Die Grundidee des Projekts war ja, sich mit Fakten und Fragen anhand konkreter Ereignisse auseinanderzusetzen, um die Aufmerksamkeit und damit das bewusste Denken auf Frieden als persönliche und als gemeinschaftliche Verantwortung von Menschen zu lenken.

Außerdem mussten wir die großen kulturgeschicht-

lichen Unterschiede in den sieben Städten unseres europäischen Projekts berücksichtigen. Jede dieser Städte hat

Friedenswege

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ja eine andere Geschichte, die zur jeweiligen Erinnerungskultur von Friedensthemen beiträgt. Wenn also von emanzipatorischer Entwicklung, Demokratie und Rechtsstaat in der Geschichte und heute ausgegangen werden soll, sind die Fragen zu der jeweiligen Entwicklung von Rechten und Pflichten zu stellen. Die zentralen Themen der Friedensarbeit sollen in Stationen repräsentiert werden: also Friede durch Abrüstung, Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, Friede durch Entwicklung und Demokratisierung, durch humanitäre Hilfe, und erst seit wenigen Jahren als ein „neues“ wichtiges Friedensthema, der Umgang mit unserer Natur, unserer eigenen menschlichen ebenso wie von der uns umgebenden Natur. Die Stationen laden zu Gesprächen über diese unterschiedlichen Konzepte ein.

Im Unterschied zu manch anderen Friedensprojekten

hatten wir mit Discover Peace in Europe den großen Vorteil, dass die Universität für angewandte Kunst Wien die Träger-Organisation des Projekts war. Alle Materialien, Webauftritt, Drucksachen und die Plakate wurden von Künstlerinnen entwickelt. Das Design transportiert die Botschaft des Projekts. Kunst kann als Medium Inhalte vermitteln, die von anderen Medien nicht transportiert werden können. Wir diskutierten und experimentierten in den unterschiedlichen Gruppen, wie es der Kunst gelingen könnte, die Vielseitigkeit von Friedensthemen zu vermitteln.

In bildlichen Darstellungen von Frieden besteht die

Gefahr, dass vereinfachende Klischees wie die Taube oder der Regenbogen die Botschaft übermitteln sollen.

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Susanne Jalka

Wir arbeiteten in diesem Projekt mit jungen Künstlerinnen zusammen und entwickelten entsprechende Aktionen mit ästhetischem Anspruch. Auf großen Plakaten und mit Infoscreens in den U-Bahnen wurde für „Mut zu Frieden“ geworben. Mit unseren verschiedenen Veranstaltungen im Projektzeitraum von 3 Jahren suchten wir immer auch nach Ausdrucksformen für eine Ästhetik des Friedens. Dabei begegneten wir regelmäßig der betroffen machenden Erkenntnis, wie selbstverständlich die Ästhetik der Gewalt in Bild und Ton und Wort, in der Kunst sowie im alltäglichen Leben vorhanden ist. Und wie schwierig es im Gegensatz dazu ist, aktiven Frieden darzustellen.

Aktionskunst, konstruktives Streiten, paradoxe

Interventionen, Schärfung der Differenzen im Sinn von Konfliktkultur, die Transformation von Spannung in einen Zustand der Erkenntnis; wir entdeckten dynamische Konzepte von Frieden in diesen Denk- und Handlungserfahrungen.

Yoko Ono, die Aktionskünstlerin, die seit Jahr-

zehnten Friedensprojekte entwickelt und durchgeführt hat, unterstützte zum Beispiel unsere Aktion Wish-Tree. Studierende wanderten in unseren sieben Projektstädten mit kleinen Bäumchen durch die Straßen und luden die Passanten ein, ihre Wünsche zu Friedensthemen auf kleine Karten zu schreiben, die dann in die Bäumchen gehängt wurden. Dabei wurde von unserem Friedensprojekt erzählt und Prospektmaterial verteilt.

Wir konzipierten unsere Projektaktionen mit der

Absicht und dem Wunsch, in der Öffentlichkeit möglichst Bewusstsein schaffende Denkanstöße zum Thema

Friedenswege

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Frieden anzuregen. In allen unseren Projekttreffen und in einem Seminar an der Universität für angewandte Kunst und in anderen Diskussionsgruppen wurde ja stets die Frage diskutiert, was unter dem Wort „Frieden” verstanden wird. Welche Gedanken, Gefühle, innere Bilder entstehen, wenn wir an Frieden denken oder über Frieden sprechen. Können wir uns über übliche Klischees hinaus Frieden vorstellen? Welche Bilder, anders als die gängigen Tauben oder Regenbögen, könnten aktiven Frieden symbolisieren? Wir entdecken auf der Suche nach unseren inneren Bildern, dass es kaum gelingt, über das Klischee von Frieden als Harmonie hinaus zu kommen. Wenn nicht als Harmonie, dann beziehen sich Bilder und Worte oft auf Vorstellungen von Krieg und Gewalt und verweisen auf das „Andere“, die Nicht-Gewalt, den Nicht-Krieg.

Wir finden dieses Problem auch in zeitgenössischen

Sprachregeln zur Kommunikation in Konfliktsituationen. Wir werden zu „gewaltfreier Kommunikation“ eingeladen. Wir müssen auf die Gewalt verweisen, um sie zu verneinen. Gewalt als Folie im Hintergrund, vor der das neue Denken stattfinden wird. Allem Anschein nach sind wir in unserer Entwicklung als menschliche Spezies noch (?) nicht so weit gekommen, dass wir den Umgang mit Differenzen, die Bearbeitung von Konflikten, das alltägliche Streiten als Ressource verstehen, als Ort der Transformation von Spannungen in unverzichtbare Erkenntnis. Wir wissen zwar, dass Innovationen sich aus Differenzen entwickeln, aber wir schätzen diese Differenzen nicht, wenn sie uns im alltäglichen Leben herausfordern. Der Gewinn an Erkenntnissen aus der Transformation von Konflikt-

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Susanne Jalka

energie wird weitgehend ignoriert. Frieden als gelingendes Einander-Wahrnehmen in gegensätzlichen Interessen ist leider immer noch ein seltenes Ereignis. Es geht um die Grundhaltung mutigen Streitens in gegenseitigem Respekt.

Die Kontextualisierung von Frieden, der nicht mehr

als das Gegenteil von Krieg verstanden wird, muss sich nach neuen, anderen kultur- und alltagsgeschichtlichen Zusammenhängen ausrichten. Die Friedenswissenschaft erforscht das, was sich zwischen offiziellem Kodex und möglicher Lebenspraxis entwickelt, abzeichnet. Friede ist in dieser Sichtweise der Ort der Möglichkeiten.

Welche Möglichkeiten geben wir der Entwicklung von

Frieden, der mehr ist als die Ruhe nach der Katastrophe? Der mehr ist als ein Ende des Schreckens? Der mehr ist als ein auf Abschreckung beruhendes Sicherheitskonzept? Wann machen wir uns bewusst auf die Suche nach diesen neuen Orten der Möglichkeiten? Es ist wahrscheinlich schwer zu ertragen, dass die Kultur der Gewalt subtil in allen Bereichen unseres täglichen Lebens selbstverständlich existiert? Erst wenn sich unser Denken über Frieden ändert, werden wir neue Möglichkeiten entdecken. Ein eindrückliches Beispiel für das geringe Interesse an Frieden im Gegensatz zu dem enormen Interesse an Krieg waren die Veranstaltungen und Publikationen rund um das Jahr 2014. Für unser europäisches Friedensweg-Projekt von 2012 bis 2015 hatten wir bereits im Konzept auf die zu erwartenden Erinnerungsfluten zum Jahr 2014 hingewiesen, dem großen Erinnerungsjahr an den Beginn des 1. Weltkrieges. Wir wollten mit unserem Projekt auf die Friedensarbeit zu Ende des 19. und zu Beginn des 20.

Friedenswege

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Jahrhunderts hinweisen, auf die Warnungen und die bereits im Voraus vorhandenen Beschreibungen des gigantischen Sterbens und Leidens, das kommen würde.

Wie vorausgesagt, wurden für das Jahr 2014 ausführ-

liche Bilder und Texte zum Krieg aus unterschiedlichsten Sichtweisen produziert. Für die Zeit vor Beginn, zu Beginn und nach Beginn des 1. Weltkrieges wurden Analysen in Berichten, Büchern, Filmen, Tagungen und Diskussionen veröffentlicht. Große Ausstellungen vermittelten in Bild und Text die Gräuel dieses gegenseitigen Tötens. Die Friedensbewegung, die in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg ihre erste große Zeit gehabt hat, spielte jedoch in den meisten Erinnerungs-Szenarien keine Rolle.

Unser europäisches Friedenswege-Projekt war 2014

in den Grundstrukturen bereit. In Berlin, Budapest, Den Haag, Manchester, Paris, Turin und Wien waren wir mit Gruppen auf den Friedenswegen unterwegs, diskutierten über Geschichte und über heutige Friedensbewegungen. Die Projekt-Webseite funktionierte, gedruckte Büchlein wurden ausgegeben. Leider ziehen Friedensthemen wenig öffentliches Interesse an im Vergleich zu Kriegsgeschehen. Das gilt auch für Kultur-Ereignisse. Da breites Interesse nicht zu erwarten ist, werden die besser zu vermarktenden Veranstaltungen über den Krieg angeboten.

Zum Jahresende 2015 endete die Förderphase von

Discover Peace in Europe. Wir sieben ProjektpartnerGruppen bleiben im zeitweiligen Austausch miteinander und unterstützen andere Gruppen in verschiedenen Städten, wo seither ebenfalls Wege des Friedens konzipiert und entwickelt werden. Friedenswege sind wichtige

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Susanne Jalka

Bildungsmöglichkeiten, die in jeder Stadt entwickelt werden könnten – und sollten. Konfliktkultur organisiert zur Zeit wieder ein Projekt zur Anregung des Denkens über Frieden: DenkMalFrieden. In diesem Projekt wollen wir die Beziehung von Kunst und Frieden erforschen und das Denken über Frieden und über Denkmäler anregen. Im Lauf des Jahres 2018 werden von unterschiedlichen Institutionen in Österreich, Deutschland, Schweiz und England Workshops organisiert, um Vorstellungen und Konzepte zu Friedens-Denkmälern zu erarbeiten. Wir wünschen uns, dass Schulen, Kunstmuseen und NGOs jeweils Kinder, Jugendliche und Erwachsene einladen, die gemeinsam Gedanken, Ideen und mögliche Modelle für Denkmäler für Frieden entwickeln. Folgende oder ähnliche Fragen könnten diskutiert werden:

Welche Gründe gibt es, ein

Was möchte ich/möchten

Denkmal zu erschaffen?

wir mit dem Denkmal aus-

  

drücken – und was nicht?

Was bedeutet „Frieden“ für mich/für uns?

Wie könnte ein Denkmal

  

des Friedens aussehen?

Warum und für wen wäre ein Denkmal des Friedens

Aus welchem Material

wichtig?

könnte es bestehen?

Was/Wer inspiriert

Welche Farben würde

mich/uns?

ich verwenden?

  

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Friedenswege

Welche Symbole oder

Könnte das Denkmal

symbolhaften Elemente

Partizipation erfordern?

werden wir verwenden?

Und wie würde diese Partizipation aussehen?

Welcher Sprache(n) würde es sich bedienen?

Wäre das Denkmal temporär oder sollte es lange

Verwenden wir Text?

Zeit erhalten bleiben?   

Welche Medien finde ich/

Wie kann es als Friedens-

finden wir dafür spannend?

denkmal verstanden werden?

Wo könnte ein Friedensdenkmal platziert sein?

Woran würden wir erkennen, dass es ein Friedens-

Wäre es statisch oder

denkmal wäre?

beweglich? Zur Ideenfindung werden die Projektteilnehmerinnen zunächst diskutieren sowie zeichnerisch und schriftlich Konzepte erarbeiten. Wir freuen uns über internationale Beteiligung von unterschiedlichen Institutionen und wünschen uns, dass in den Workshops Ergebnisprotokolle, Skizzen, Modelle, Projektarbeiten aller Art entstehen.

Wie in allen unseren Projekten geht es in erster

Linie darum, Anregungen für ein Denken über Frieden zu vermitteln und die Verbindungen von Denken, Kunst und Frieden zu untersuchen. Aus einem Projekt ergibt sich das nächste – viele kleine Schritte der Annäherungen an das Menschsein.

318 Bader-Zaar, Birgitta u.a., (Hg.): Friedenskonzepte im Wandel, Innsbruck/ Wien/Bozen: Studienverlag, 2018. Donat, Helmut und Karl Holl, (Hg.): Die Friedensbewegung: Organisierter Pazifismus in Deutschland, Österreich und in der Schweiz, Düsseldorf: ECON, 1983. Fisher, Roger und Daniel Shapiro: Beyond Reason, Harvard: Penguin Books, 2009 . Jalka, Susanne, (Hg.): Frieden entdecken in Wien. Berlin: Business 2011. Senghaas, Dieter und Eva Senghaas: Quod est pax?, in: Friedensforschung und Friedenspraxis. Ermutigung zur Arbeit an der Utopie (Marcel M. Baumann u.a., Hg.) Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel, 2009. Wintersteiner, Werner: Kultur des Friedens – ein neuer Leitbegriff der Friedensforschung?, in: Jahrbuch Friedenskultur Bd. 1 (Zentrum für Friedensforschung und Friedenspädagogik, Hg.). Klagenfurt: Drava, 2006.

DIE AUTOREN_INNEN

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Josef Aff Magisterstudium der Betriebswirtschaft an der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien sowie Studium der Wirtschaftspädagogik (Doktorat an der WU Wien, Habilitation an der Universität Innsbruck). Der Autor arbeitete u. a. als Professor für Wirtschaftspädagogik an der Universität zu Köln (sieben Jahre) sowie an der Universität Erlangen-Nürnberg (drei Jahre), von 2005 bis 2016 leitete er das Institut für Wirtschaftspädagogik an der WU Wien. Nach dem Studium der BW war er ein Jahr als Entwicklungshelfer in Niger/Westafrika tätig. Nach Beendigung der beruflichen Tätigkeit an der WU Wien: Vorlesungen, Vorträge zu ökonomischen Themen, Mitarbeit bei OikoCredit etc. Er arbeitet und lebt in Wien.

Gerald Bast Rektor der Universität für angewandte Kunst Wien, Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste, Board-Member European

320 League of Institutes of the Arts, Kuratoriumsmitglied Europäisches Forum Alpbach. Studium der Rechtsund Wirtschaftswissenschaften, Promotion in Rechtswissenschaften. Als Rektor initiierte er an der Universität für angewandte Kunst Wien zahlreiche neue Programme wie Social Design, TransArts, Cross-Disciplinary Strategies – Applied Studies in Art, Science, Philosophy and Global Challenges sowie ein Doktoratsstudium der Künste. Er begründete das Angewandte Innovation Lab zur disziplinenübergreifenden Kommunikation zwischen Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Er publiziert in den Bereichen Hochschulrecht und Hochschulmanagement sowie Bildungs- und Kulturpolitik und hält weltweit Vorträge über die gesellschaftliche Rolle von Kunst und Kunstuniversitäten sowie über die Verbindungen von Kunst, Bildung und Innovation.

Marietta Böning Geboren 1971 in Hanau. Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft, Psychologie an der JustusLiebig-Universität Gießen; Masterstudium Kulturmanagement und Kulturwissenschaft an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Literaturkritikerin; Lyrikerin; literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge in wissenschaftlichen Anthologien; Assistentin der Vizerektorin für künstlerische und wissenschaftliche Forschung sowie Qualitäts-

321 entwicklung an der Universität für angewandte Kunst Wien und Lehrbeauftrage am Institut für Sprachkunst ebendort.

Magdalena Fritsch Geboren 1984 in Regensburg, ist eine in Wien und Berlin lebende freie Kuratorin und Künstlerin. Sie studierte nach einer Lehre als Schreinerin an der Akademie der bildenden Künste Wien, der Ecole superieure d‘art et de design Marseille-Méditerranée und der Universität Wien Kunstvermittlung und Germanistik. Im Rahmen ihres Dissertationsstudiums untersucht sie die Ausstellung Blood, Sweat and Tears. Assembling Past and Future von Mathilde ter Heijne und forscht zu von Frauen geleisteter Friedensarbeit.

Susanne Jalka Von Kind an und von Haus aus mit Friedensthemen, Psychoanalyse und Kunst aufgewachsen, beeindruckt von Erlebnissen in unterschiedlichen Ländern und Kulturen und angeregt von interessanten akademischen Studien, Lern- und Lehrsituationen, lebt sie jetzt wieder in ihrer Geburtsstadt Wien. Nach Ausbildungen in Psychologie, Psychoanalyse, Religionswissenschaft und Sexualwissenschaft

322 wurde ihr klar, dass sie die zentralen psychotherapeutischen Erkenntnisthemen als emanzipatorische Bildungsangebote anbieten will. In diesem Sinn entwickelt sie Materialien, Projekte, Workshops und Seminare zu Demokratie- und Friedensbildung als soziale Kompetenz. Sie publiziert und engagiert sich als Friedenslobbyistin.

Boriana Karapanteva-Strasser Geboren 1973 in Sofia, Bulgarien. Abschluss an der Universität für angewandte Kunst Wien, Lehramt Kunst und kommunikative Praxis und Textiles Gestalten. Studium der Malerei und Grafik, nicht abgeschlossen. Seit 2013 Kunstpädagogin in St. Pölten, gelegentlich auch an der Pädagogischen Hochschule Krems sowie als Assistenz in der Buchwerkstatt und Einzelprojekte-Betreuung im Foundation Course, NDU St. Pölten.

Norbert Koppensteiner Geboren 1976 in Innsbruck. Senior Lecturer am Arbeitsbereich Friedens- und Konfliktstudien der Universität Innsbruck und Programmkoordinator des MA Program for Peace Studies am UNESCO Chair for Peace Studies derselben Universität. Norbert Koppensteiner arbeitet vornehmlich zu

323 Aspekten der transrationalen Friedensphilosophie und elizitiven Konflikttransformation, mit besonderem Schwerpunkt auf bewegungs- und atemorientierte Methoden der Konflikttransformation sowie zu transrationalen Methoden der Friedensforschung. Studium der Politikwissenschaft, Friedensforschung und Medien&Kommunikation in Österreich, Spanien und der Schweiz. Er lebt und arbeitet in Innsbruck.

Martin Krenn Geboren 1970 in Wien. Krenn ist Künstler, Kurator und lehrt seit 2006 an der Universität für angewandte Kunst Wien. Er studierte Malerei an derselben Universität von 1991 bis 1997 und elektronische Musik an der Universität für darstellende Kunst Wien von 1992 bis 1996. 2016 promovierte er an der Ulster University (Belfast, UK) zu The Political Space in Social Art Practices. 2017 wurde er an der Universität für angewandte Kunst Wien für das Fach Kunst und kommunikative Praxis habilitiert. Krenn verschränkt in seiner Praxis Kunst, soziales Engagement und politischen Aktivismus. Seine Projekte, Fotoarbeiten und Filme widmen sich schwerpunktmäßig der Rassismuskritik, der Erinnerungs- und Gedenkarbeit sowie verschiedenen Kampagnen zu Bleiberecht, Asylwesen und Migration. Zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland.

324 Dora Kuthy Geboren 1981 in Budapest, aufgewachsen in der Nähe von Mailand. Seit 2005 lebt und arbeitet sie in Wien. Sie hat ihr Studium Design, Architektur und Environment für Kunstpädagogik, Textil – Freie, angewandte und experimentelle künstlerische Gestaltung und Kunst und Kommunikative Praxis an der Universität für angewandte Kunst Wien abgeschlossen. Sie unterrichtet in der Kunstabteilung und im Schmuckkolleg der Schule Kunst. Mode. Design Herbststrasse. Sie organisiert ehrenamtlich die Friedensbim in Wien. Skizzenbücher sind essenzieller Bestandteil ihrer künstlerischen Routine.

Ruth Mateus-Berr Geboren 1964 in Wien, ist Künstlerin, Social Designerin und Designforscherin. Professorin an der Universität für angewandte Kunst Wien am Institut für Kunst und Gesellschaft (MASD_Social Design), am Institut für Kunstwissenschaften, Kunstpädagogik und Kunstvermittlung, Abteilungsleiterin für Fachdidaktik. Sie beschäftigt sich in ihrer Arbeit mit Themen an der Nahtstelle von Wissenschaft, Kunst und Design, Gesundheit, Kunst- und Designvermittlung, Pädagogik, Bildungsforschung, Multisensorischer Forschung, Artistic Research, Urbanismus, Interdisziplinarität sowie interkulturellen und sozialen Projekten.

325 Ausgebildete AHS-Lehrerin in den Fächern Bildnerische Erziehung sowie Geschichte und Sozialkunde und diplomierte Kunsttherapeutin. Zahlreiche Vorträge und Workshops sowie Ausstellungen auf der ganzen Welt. Sie lebt und arbeitet in Wien. www.ruth-mateus.at

Barbara Putz-Plecko Geboren 1956, ist Künstlerin und Vizerektorin für Forschung in Kunst und Wissenschaft an der Universität für angewandte Kunst Wien. Sie leitet das Institut für Kunstwissenschaft, Kunstpädagogik und Kunstvermittlung sowie die Abteilungen Kunst und kommunikative Praxis und Textil. Einer ihrer langfristigen Arbeitsschwerpunkte fokussiert kontextuelle, transdisziplinäre und transkulturelle künstlerische Praxen sowie das Potenzial künstlerischer Strategien in Communities und Systemen. Wesentliches inhaltliches Moment vieler Projekte ist die Auseinandersetzung mit Kommunikation, Kollaboration, Ermächtigung, Entgrenzung und Transformation.

Ursula Reisenberger Geboren 1966 in Schwarzach/Salzburg, Studium der Germanistik und Geschichte an den Universitäten Salzburg und Wien. Dramaturgin und Regisseurin an

326 Theatern in Deutschland und Österreich, seit 2001 freischaffend als Regisseurin und künstlerische Leiterin des Theaterkollektivs o r t s z e i t. Vornehmlich site-spezifische Arbeiten im Grenzbereich zwischen Theater, Intervention im öffentlichen Raum und bildender Kunst. Langjährige Recherche zu den rituellen Wurzeln von Theater u. a. in Indien, Bahia (Brasilien) und den Gebieten der Native Americans im Südwesten der USA. Vielfältige Unterrichtstätigkeit zum Thema „Präsenz“, unter anderem an der Universität für angewandte Kunst Wien, dem Think Tank feed back_future feed New York und dem Studiengang Hebammen an der FH Salzburg. Ursula Reisenberger lebt und arbeitet in Wien und unterwegs.

Konrad Rennert Geboren in New York, USA, lebt seit Jahrzehnten in Wien, arbeitet als Komponist, Klang- und Sprachperformer, Kompositionsaufträge und Aufführungen durch internationale Orchester und Ensembles, Lectures und Seminare zu neuer Musik an internationalen Universitäten und Kongressen, u .a. bezüglich seiner großangelegten Arbeit AMF Erlauf (Allied Musical Forces Erlauf) – Towns That Keep Their Memories To Themselves (Januar–Mai 2005), einem umfassenden künstlerischen Projekt aus Anlass des 60. Jahrestages der Befreiung Österreichs unter Mitwirkung weiter Teile der Bevölkerung der

327 Gemeinde Erlauf in Niederösterreich, dem Ort der Waffenstillstandserklärung vom 8. Mai 1945. Workshops und Seminare zu zeitgeschichtlichen Themen an Schulen für Jugendliche verschiedener Altersstufen; steht dem Begriff Holocaust Education reserviert gegenüber, nicht jedoch diesbezüglichen Aktivitäten und Intentionen.

Werner Wintersteiner Geboren 1951 in Wien. Univ.-Prof. i. R. für Deutschdidaktik an der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt, Gründer des dortigen Zentrums für Friedensforschung und Friedensbildung. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Kulturwissenschaftliche Friedensforschung; Friedenspädagogik und Global Citizenship Education; Literatur, Politik und Frieden sowie (transkulturelle) literarische Bildung. Er lebt in Villach.

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Susanne Jalka (Hg.), Institut für Kunst-

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wissenschaften, Kunstpädagogik und

Berlin/Boston

Kunstvermittlung,Universität für angewandte Kunst Wien, Österreich Projektleitung „Edition Angewandte“ Library of Congress Control Number:

für die Universität für angewandte

2018937761

Kunst Wien: Anja Seipenbusch-Hufschmied

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Verena Moritz

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