Richtlinien, Ethikstandards und kritisches Korrektiv: Eine Topographie ethischen Nachdenkens im Kontext der Medizin 9936582055, 9783767571402

Der Band geht der Frage nach der Funktion von Ethik im Bereich von Medizin-Diskursen nach. Hintergrund ist die Beobachtu

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Richtlinien, Ethikstandards und kritisches Korrektiv: Eine Topographie ethischen Nachdenkens im Kontext der Medizin
 9936582055, 9783767571402

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Inhaltsverzeichnis
Ethik in der Medizin: alte und neue Fragen – eineEinleitung

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Edition Ethik Herausgegeben von Reiner Anselm und Ulrich H. J. Körtner

Band 7

Julia Inthorn Richtlinien, Ethikstandards und kritisches Korrektiv Eine Topographie ethischen Nachdenkens im Kontext der Medizin

Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Eine eBook-Ausgabe ist erhältlich unter DOI 10.2364/9936582055 © Edition Ruprecht Inh. Dr. R. Ruprecht e.K., Postfach 17 16, 37007 Göttingen – 2010 www.edition-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhebergesetzes bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Diese ist auch erforderlich bei einer Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke nach § 52a UrhG. Satz: Julia Inthorn Layout: mm interaktiv, Dortmund Umschlaggestaltung: klartext GmbH, Göttingen Druck: buch bücher dd-ag, Birkach ISBN: 978-3-7675-7140-2

Inhaltsverzeichnis Ethik in der Medizin: alte und neue Fragen – eine Einleitung ................. 7 Julia Inthorn Formen und Funktionen von Ethik in der Entscheidungspraxis der Ethikkommissionen des Arzneimittelgesetzes................................ 16 Gina Atzeni Ist die ethische Dauerreflexion institutionalisierbar? Über die politische und rechtliche Funktion von Ethikkommissionen – eine persönliche Betrachtung............................................................ 33 Christiane Druml Bioethik und Biopolitik......................................................................41 Ulrich H.J. Körtner Leitbilder. Überlegungen zu philosophisch-anthropologischen und ethischen Argumentationsformen im Kontext medizinischer Versorgung ................................................................ 56 Ilona Vera Szlezak Ärztliche Ethik – Berufsethik zwischen Medizin, Recht und Gesellschaft .................................................................................... 65 Fabian Kliesch Ethik im Gesundheitswesen. Einige Bemerkungen und Fragestellungen ................................................................................76 Andreas Klein Der Patient als Kunde? Ethische Reflexionen zum Ideal der Patientenautonomie und dem Selbstverständnis der Medizin ................91 Franziska Krause Narrationen und Prinzipien. Zur Funktion der Ethik am Beispiel der Bewertung der Tiefen Hirnstimulation ............................ 104 Henriette Krug, Uta Bittner

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Inhaltsverzeichnis

Neurotechnik narrativ verstehbar machen: Überlegungen zu einer elementaren Aufgabe der Ethik ........................................................ 124 Uta Bittner Das Unzufriedenheitsdilemma: ein scheinbares Paradox und seine ethischen Implikationen.......................................................... 134 Henriette Krug Medizin als Praxis – zu tugendethischen Ansätzen für eine zeitgemäße Medizinethik ................................................................. 142 Tobias Eichinger Kann die ‚Neurowissenschaft der Ethik‘ einen konstitutiven Beitrag zur Neuroethik leisten? Metaethische Überlegungen zur Naturalisierung der Ethik ...........................................................152 Boris Eßmann Autorenverzeichnis ......................................................................... 169 Register ....................................................................................... 171

Ethik in der Medizin: alte und neue Fragen – eine Einleitung Julia Inthorn

1.

Vom Krisenphänomen zur Institutionalisierung

Nach einer Zeit des Ringens darum, die Perspektive der Ethik im medizinischen Kontext zu verankern, kann Ethik heute als fest institutionalisierter Bestandteil in weiten Bereichen der Medizin betrachtet werden. Medizinethik ist zum Teil des Curriculums von Studierenden der Medizin geworden, Gremien, die sich mit ethischen Fragen befassen, wie Ethikkommissionen und Ethikkomitees können bereits auf langjährige Erfahrungen verweisen und auch die akademische Disziplin der Medizinethik hat sich im Fächerkanon der Universitäten etabliert. Medizin als Profession war von jeher verschiedensten normativen Erwartungen ausgesetzt und stand damit – positiv wie negativ – immer schon in einem besonderen Verhältnis zur Ethik. Lange Zeit galt Medizin auf Grund ihres Ziels, kranken und leidenden Menschen zu helfen und sie wenn möglich zu heilen, als ethisch unproblematisch. Die Formel „Aegroti salus suprema lex“ bildete den normativen Rahmen ärztlicher Tätigkeit, wobei sich bei der Verfolgung dieses Ziels mit allen, der Medizin zur Verfügung stehenden Mitteln in der Regel keine ethischen Probleme ergaben. Die zur Verfügung stehenden Mittel und das damit verbundene medizinische Wissen waren lange Zeit begrenzt und der Einsatz aller Mittel nach dem Stand der medizinischen Forschung fiel mit einer optimalen medizinischen Versorgung in eins. Dass medizinisches Wissen immer auch genutzt werden kann, um Menschen zu schaden, machen aber bereits die Formulierungen des Hippokratischen Eids deutlich. Der Eid setzt der Zielsetzung ärztlichen Handelns Grenzen. Das Wissen soll zum Wohl des Patienten eingesetzt werden, was in der Regel im beruflichen Alltag zur Selbstverständlichkeit geworden und heute unter dem Schlagwort Benefizienzprinzip verankert ist. Wenn dieses Prinzip verletzt wird oder Uneinigkeit besteht, was unter dem Wohl einer Patienten zu verstehen ist, wird häufig der Ruf nach Ethik laut. Es wird zusätzliche ethische Reflexion für einzelne Tätigkeitsbereiche von Ärzten eingefordert, um Entscheidungen und ärztliches Handeln im Rahmen der oben angedeuteten Zielsetzung zu beschränken und ärztliches Vorgehen zu rechtfertigen. Ethik soll da für Regulierung sorgen, wo der Eindruck entsteht, dass andere Kontrollmechanismen versagt haben.

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Einleitung

Die Reaktion auf die Greueltaten von Ärzten in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten lassen sich als solch ein Wunsch nach mehr und effektiverer Regulierung deuten. Da gesetzliche Mechanismen den menschenverachtenden Umgang von Ärzten mit Gefangenen bei Versuchen am Menschen nicht verhindern konnten, sollten sich die Ärzte selbst regulieren und sich normative Richtlinien geben. Medizinische Forschung am Menschen sollte nicht nur durch rechtliche Rahmenbedingungen, sondern auch durch die Selbstkontrolle der Ärzte auf ein normativ sicheres Fundament gestellt werden. Durch die Deklaration von Helsinki legte die internationale Ärzteschaft ethische Regeln für die medizinische Forschung 1 am Menschen sowie Verfahren der Durchsetzung dafür fest. Auch im Verlauf der jüngeren Geschichte gab es Einzelfälle, die große mediale Aufmerksamkeit erregten und bei denen der Ruf nach Ethik laut wurde. Die jeweiligen Fälle ließen fragwürdig werden, dass ärztliches Handeln automatisch dem Wohl des Patienten dient. Für den deutschsprachigen Kontext sind hier Fälle wie der Fall des Erlanger Babys 1992 sowie der Kemptener Fall zu nennen. Im Fall des sogenannten Erlanger Babys hatten sich die behandelnden Ärzte dazu entschlossen, bei einer im 4. Monat schwangeren und durch einen Unfall hirntoten Patientin die lebenserhaltenden intensivmedizinischen Maßnahmen aufrecht zu erhalten, um die Schwangerschaft fortzusetzen und das Kinder zu retten. Die Entscheidung einer Gruppe von Ärzten unter Hinzuziehen von Juristen wurde in zweierlei Hinsicht kritisiert: Zum einen wurde der Umgang mit dem Sterben der Schwangeren als menschenunwürdig angesehen, da deren Leben künstlich verlängert wurde. Zum anderen sah man das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren 2 verletzt. Im Kemptener Fall ging es um die Frage, unter welchen Bedingung die künstliche Ernährung bei einem Menschen mit apallischem Syndrom eingestellt werden kann. Dieser Fall wurde vor dem Landgericht Kempten verhandelt und schließlich letztinstanzlich vom Bundesgerichtshof entschieden. Auch hier stand die Frage nach der Bedeutung des mutmaßlichen Willens des Patienten im Vordergrund. Zudem wurde über Entscheidungen im Spannungsfeld von Lebensschutz auf der einen Seite ohne auf der anderen Seite eine automatische Lebenspflicht postulieren 3 zu wollen diskutiert. In beiden Fällen ging es um Fragen der Lebensverlängerung, die medizinischtechnisch möglich waren, aber nicht mehr eindeutig mit dem Wohl der jeweiligen Patienten in eins fielen. Die jeweiligen Kontroversen zeigen damit zum einen, dass 1 2

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Vgl. V. Wenz (2006), Forschung mit einwilligungsunfähigen Personen aus der Perspektive des deutschen und englischen Rechts, Göttingen, S. 14f. Für eine ausführliche Darstellung des Falls vgl. G. Bockenheimer-Lucius/E. Seidler (1993), Hirntod und Schwangerschaft. Dokumentation einer Diskussionsveranstaltung der Akademie für Ethik in der Medizin zum „Erlanger Fall“, Stuttgart. Vgl. zur Kemptener Fall O. Tolmein (2004), Selbstbestimmungsrecht und Einwilligungsfähigkeit. Der Abbruch der künstlichen Ernährung bei Patienten im vegetative state in rechtsvergleichender Sicht: Der Kemptener Fall und die Verfahren Cruzan und Bland, Frankfurt a.M.

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die Vorstellung, dass der sachgerechte Einsatz medizinischen Wissens dem Wohl des Patienten dient, dank des medizinischen Fortschritts nicht mehr simpel als deckungsgleich angenommen werden kann. Damit stellt sich die Frage nach der Bestimmung des Wohls des Patienten neu. Zum anderen werfen die jeweiligen Situationen die Frage nach der Entscheidungsinstanz auf. Da durch die medizinische Entwicklung neue Handlungsmöglichkeiten gegeben sind, müssen für zunehmend komplexer werdende Entscheidungen Rahmenbedingungen geschaffen werden, insbesondere wenn Patienten selbst sich nicht zu einer Situation äußern können. Für einzelne Bereiche der Medizinethik sind mittlerweile Gremien geschaffen worden, die jenseits der Gerichte für die Bearbeitung solcher Problemstellungen angefragt werden können. Ethik als Krisenphänomen wird damit institutionell verankert. Auch in den aktuellen Debatte lassen sich diese beiden Fragerichtungen weiter finden. Ein stärker normativ ausgerichteter Zweig der Medizinethik arbeitet daran, für konkrete Entscheidungssituationen Empfehlungen auszusprechen und die 4 Frage nach dem Wohl des Patienten für verschiedene Situationen zu diskutieren. Die Aufgabe der Ethik wird dabei darin gesehen, eine Analyse der Situation sowie möglicher Handlungsoptionen vorzulegen. Die Handlungsoptionen und deren Folgen werden dann entlang bestehender Werte einer Beurteilung unterzogen. Ein anderer Bereich der Medizinethik befasst sich mit den Rahmenbedingungen von Entscheidungen und Entscheidungsverfahren. Ethik wird dabei vor allem als Reflexionsstruktur gesehen, innerhalb derer normative Fragen zum Thema gemacht werden können. Wesentlich für solche Verfahren ist die multiperspektivische He5 rangehensweise. Beide Zugangsweisen stützen sich auf unterschiedliche Vorstellungen davon, was Ethik im Kontext von Medizindiskursen leisten kann und soll und wie mit Pluralität von Werthaltungen im Bereich der Medizin umgegangen werden soll. Zwischen beiden Zugangsweisen besteht eine Spannung zwischen konkreter Handlungsanweisung und Prozeduralisierung von Ethik, die auch die Beiträge dieses Bandes durchzieht.

2.

Interdisziplinäre Perspektiven auf Ethik

Die Beschreibung von Räumen ethischer Überlegungen in diesem Band lassen sich an Hand der oben skizzierten Spannung als Auseinandersetzung mit der Frage nach möglichen Formen der Weiterentwicklung der Ethik in der Medizin lesen. In der Auseinandersetzung mit konkreten Problemkonstellationen ebenso wie mit aktuell 4 5

Vgl. exemplarisch G. Marckmann/F. Mayer (2009), Ethische Fallbesprechungen in der Onkologie: Grundlagen einer prinzipienorientierten Falldiskussion. Der Onkologe 2009;15(10):980–988 Beispiele solcher Überlegungen finden sich in R. Anselm (2008) (Hrsg.), Ethik als Kommunikation. Zur Praxis Klinischer Ethik-Komitees in theologischer Perspektive, Göttingen.

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Einleitung

diskutierten ethischen Positionen wenden sich die Autorinnen und Autoren der Frage zu, welche normativen Anmerkungen zu aktuellen Problemkonstellationen gemacht werden können und welchen Beitrag metaethische Überlegungen zu einer Neustrukturierung normativer Überlegungen leisten können. Auch metaethische Überlegungen zur Funktion von Ethik und alternativen Ethikansätzen für eine verbesserte Form des ethischen Nachdenkens in konkreten Problemkonstellationen bleiben dabei immer dem konkreten Gegenstand der Medizinethik verpflichtet und stellen das je neu zu bestimmende Wohl der Patienten und anderer Akteure in den Mittelpunkt. Eine solche Konkretion ist auf interdisziplinäre Zusammenarbeit angewiesen. Die Beiträge verbinden daher normativethische Überlegungen mit deskriptiv-soziologischen und medizinisch-evidenzbasiertem Wissen. Aus der interdisziplinären Perspektive ergeben sich nicht nur Anregungen für eine Weiterentwicklung der Medizinethik, sondern werden auch die Grenzen ethischer Argumentation im Kanon der Wissenschaften zum Thema. Die ersten drei Beiträge von Atzeni, Druml und Körtner befassen sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Ethik Gremien. Diese institutionalisierten Formen der Ethik wie Forschungsethikkommissionen oder Ethikkommissionen von Regierungen lassen sich als Gremien auffassen die, mit dem Label der Ethik versehen, mit der Aufgabe betraut werden, als problematisch angenommene Fragestellungen zu strukturieren und Entscheidungen zu prüfen. Gemeinsam ist diesen Gremien zum einen eine interdisziplinäre Besetzung, bei der neben anderen auch Ethiker, vor allem aber Experten des jeweiligen Anwendungsfachs sowie Juristen beteiligt sind. Ethik als Aufgabengebiet dieser Gremien wird damit nicht als fachwissenschaftliche Bearbeitung normativer Fragen konzipiert, sondern als Zusammenspiel verschiedener Perspektiven, die durch die übergeordnete Frage nach Ethik integrierbar werden. Zum anderen lassen sie sich als Reaktion auf technische Entwicklungen sowie den gesellschaftlichen Umgang damit auffassen, die durch andere Regelungssysteme, insbesondere die einzelner Fachdisziplinen, nicht mehr angemessen bearbeitet werden können. Durch den fortwährenden Fortschritt werden kontinuierlich Fragen aufgeworfen, so dass Ethik in solchen Gremien prozeduralisiert wird. Gina Atzeni beschreibt aus soziologischer Perspektive die Arbeit von Forschungsethikkommissionen. Atzeni rekonstruiert deren Arbeit entlang deren Entscheidungspraxis, die sie in Auseinandersetzung mit dem Begriff der Behörde exemplifiziert. Auf der einen Seite ist die alltägliche Arbeit von Forschungsethikkommissionen für Atzeni von behördlichem Charakter und beruht auf einem durchorganisierten Verfahren der Entscheidungsfindung. Dem stellt Atzeni in der Rekonstruktion aus Interviews die Deutungsperspektive der Mitglieder gegenüber, in der durch den Begiff Ethik die hohe Arbeitsbelastung der Mitglieder von Forschungsethikkommissionen ebenso wie die Verfahren in den Hintergrund treten zu Gunsten einer gesellschaftlich bedeutsamen Arbeit. Diese deskriptive Analyse der Arbeit von Forschungsethikkommissionen wird durch den Beitrag von Christiane Druml erweitert. Sie formuliert Thesen zu deren

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Weiterentwicklung und betont dabei die Bedeutung der Verbindung zwischen Ethik und Praxis. Sie argumentiert für ein kontinuierliche Weiterentwicklung von Ethik in der Medizin, die sich für sie insbesondere in einer zunehmenden Internationalisierung zeigen muss. Der Beitrag von Ulrich H.J. Körtner wendet sich einer weiteren Form institutionalisierter Ethik zu und macht die Arbeit von Ethikommissionen, die als beratende Organe der Politik tätig werden, zum Gegenstand seiner Untersuchungen. Seine Reflexion auf das Verhältnis von Bioethik und Biopolitik stellt die Frage in den Mittelpunkt, welche Rolle Bioethik und bioethische Experten in politischen Regelungsprozessen haben können. Körtner macht deutlich, dass Ethik im Kontext der Politik gut daran tut, ihren eigenen demokratietheoretischen Ort selbst zum Thema ihrer Reflexion zu machen. Plurale Wertvorstellungen können nicht mit Hilfe der Ethik vereinheitlicht werden. Die drei Beiträge beschreiben Ethik als prozedurales Geschehen, das wesentlich von einer multiperspektivischen Herangehensweise geprägt ist und in dem der Ethiker als ein Experte neben vielen anderen zur Beantwortung normativer Fragen beitragen kann, aber keine exklusive Perspektive einnimmt. Mit den Beiträgen von Ilona Szlezak und Fabian Kliesch werden weitere Fragen der Institutionalisierung von Ethik bearbeitet. Szlezak beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit Leitbilder von Krankenhäusern. Leitbilder als klassische Instrument der normativen Ausrichtung von Krankenhäusern stehen für Szlezak in einer nur schwer zu vermittelnden Spannung zwischen idealtypischem Anspruch und der Absicht handlungsleitende Wirkung zu haben. Die von ihr herausgearbeitete Spannung entfaltet vor dem oben skizzierten doppelten Ziel der Medizinethik, inhaltlich wie auch formal strukturierende Wirkung zu haben, ihre besondere Bedeutung, da der Vermittlungsversuch zwischen beiden Bereichen durch Leitbildern nicht die gewünschte praktische Funktion entfaltet. Fabian Kliesch befasst sich mit einer weiteren Textgattung, die normative Wirkung entfalten soll, er untersucht ärztlicher Ethik, wie sie in den Verlautbarungen der Bundesärztekammer zum Ausdruck kommt. Kliesch sieht ein wesentliches Kriterium dafür, dass die Texte wirksam werden, darin, dass sie normative Orientierung bieten, gleichzeitig aber auch Möglichkeiten der Öffnung. Insbesondere zur Seite des Rechts und zur Seite der Medizin muss Ethik vermittelbar bleiben. In einem Beitrag, der sich stärker sozialethischen Problemstellungen zuwendet, fragt Klein nach dem Ort ethischer Entscheidungen in Krankenhäusern. Vor dem Hintergrund zunehmender Technisierung und Rationalisierung sieht Klein die Gefahr, dass der Hilfe suchende Mensch im System Medizin aus dem Blick gerät. Er argumentiert für die Etablierung von Verfahren in Krankenhäusern selbst, damit ethische Aspekte in Entscheidungssituationen stärker aufgegriffen werden können. Franziska Krause macht wie Klein einen Veränderungsprozess zum Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen. Sie wendet sich dem Wandel des Arzt-PatientenVerhältnisses zu und analysiert die Idee der kundenorientierten Medizin kritisch, in der der Patient analog zu einem Kunden verstanden wird, der die Wahl zwischen

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Einleitung

verschiedenen Dienstleistungen hat. Sie argumentiert mit J.S. Mill für einen Autonomiebegriff in der Medizin, der die Handlungsfreiheit gegenüber der Willensfreiheit betont und damit den Unterschied zwischen Kranken und Kunden verdeutlicht. Dies sieht sie in der besonderen Situation des Kranken begründet, der – anders als der Kunde – stärker auf Vertrauen angewiesen ist. Die Beträge von Krug und Bittner arbeiten an Hand eines konkreten medizinischen Verfahrens, der Tiefen Hirnstimulation, Probleme der Arzt-PatientenInteraktion, insbesondere der Patientenaufklärung heraus. Dieses Problemfeld, bei dem das Wohl des Patienten in der Entscheidungssituation für oder gegen eine Therapie neu zu definieren ist, diskutieren sie aus verschiedenen Perspektiven. Zunächst unterziehen sie in ihrem gemeinsamen Beitrag das Verfahren einer Bewertung entlang der vier bioethischen Prinzipien. Dem setzen sie Erfahrungen und gesellschaftlich geteilte Intuitionen gegenüber, die das Verfahren weitaus problematischer erscheinen lassen und für die sie weitere ethische Reflexionsformen aus dem Bereich der narrativen Ethik vorschlagen. Uta Bittner vertieft in ihrem Beitrag den Vorschlag, Narrative zu nutzen, um subjektiv erfahrbare Aspekte eines Lebens mit einer Tiefen Hirnstimulation zur Entscheidungsfindung heranzuziehen. Für Bittner sind Erzählungen in besonderer Weise geeignet, Entscheidungen zu strukturieren, da sie durch die in jeder Erzählung bereits angelegte Verbindung von normativen und deskriptiven Elementen zur Klärung von Werthaltungen und Überzeugungen beitragen können. Henriette Krug ergänzt die Überlegungen durch eine Gegenüberstellung der Erzählungen von subjektivem Wohl (oder Leid) im Rahmen der Tiefen Hirnstimulation und der Messgröße der Lebensqualität, wie sie in der Lebensqualitätsforschung zu Grunde gelegt wird. Erzählungen als interne Evidenz subjektiven Wohls können für Krug eine wichtige Ergänzung darstellen, um als Arzt patientenzentriert zu handeln. Tobias Eichingers Beitrag unternimmt einen formal ähnlichen Versuch, indem er am Beispiel von Enhancement nach der Leistungsfähigkeit einer Medizinethik auf Basis der vier bioethischen Prinzipien fragt. Er formuliert einen tugendethisch inspirierten Vorschlag für eine Erweiterung medizinethischer Überlegungen, durch den er die Möglichkeit gegeben sieht, zwischen konkurrierenden Prinzipien zu vermitteln und den verantwortlichen Arzt stärker in ethischen Überlegungen zu berücksichtigen. Der Beitrag von Boris Eßmann geht über die konkrete Bestimmung des Wohls im Arzt-Patienten-Verhältnis hinaus. Er geht in seinem Beitrag der Frage nach, ob neurowissenschaftliche Erkenntnisse nicht in naher Zukunft unser gesamtes Verständnis von Ethik so ändern werden, dass es zu einer Neurowissenschaft der Ethik kommt. Eßmann diskutiert mögliche Verhältnisbestimmungen von Neurowissenschaft und Ethik, die wissenschaftstheoretisch auf die für die Medizinethik immer relevante Unterscheidung von deskriptiven und normativen Wissenschaften verweisen. Die Beiträge wenden sich aus unterschiedlichen Richtungen exemplarischen Feldern der Medizinethik zu. Eine Topographie ethischen Nachdenkens in Medizin-

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diskursen ist dabei sicherlich immer in zweierlei Richtungen beschränkt. Zum einen kann ein Band wie der vorliegende immer nur Ausschnitte präsentieren, die allenfalls exemplarisch für bestimmte Diskussionsfelder stehen können. So ist beispielsweise die Auseinandersetzung mit Ethik-Gremien auf einige wenige Arten dieser Gremien beschränkt oder auch die Diskussion um ethische Probleme, die durch medizinische Neuerungen aufgeworfen werden, wird nur an Hand ausgewählter Themen bearbeitet. Zum anderen kann die Auseinandersetzung immer nur eine Momentaufnahme des ethischen Nachdenkens in der Medizin darstellen. Nicht nur der wissenschaftliche Fortschritt wirft neue Fragen auf und verändert damit die Landschaft der Medizinethik. Auch das Verständnis von Werten wie Patientenautonomie sind einem zeitlichen Wandel unterlaufen und werden vor dem Hintergrund je unterschiedlicher Wissens- und Erfahrungsbestände jeweils anders zum Thema gemacht.

3.

Medizinethik – quo vadis?

Eine solche Momentaufnahme der Medizinethik kann aber einige zentrale Themen, die für die Weiterentwicklung des Bereichs von Bedeutung sind, herausstellen helfen. Ein erster zentraler Aspekt gegenwärtiger Medizinethik ist die Auseinandersetzung mit den vier bioethischen Prinzipien nach Beauchamp und Childress. Die Prinzipien Autonomie, Nicht-Schaden, Wohltun und Gerechtigkeit, die aus keinem Ethik-Kurs mehr wegzudenken sind, sollen ähnlich wie ein Goldstandard als Richtschnur für Entscheidungen im medizinischen Alltag dienen. Wie einzelne Beiträge zeigen, ist der Einsatz der Prinzipien als Entscheidungshilfe nicht unumstritten. Die Kritik an den Prinzipien kann von zwei Seiten erfolgen und ist eng verbunden mit der Vorstellung der Funktion von Ethik in Medizindiskursen. Einerseits werden die Prinzipien kritisiert, da sie für einzelne als bedenklich eingestufte Verfahren keine Handhabung der Beschränkung liefern. Die Funktion der Ethik wird dabei ähnlich wie die des Rechts gesehen, sie soll klare Grenzen der Handlungsspielräume aufzei6 gen. Die Prinzipien werden hierfür als zu offen angesehen, insbesondere für Auseinandersetzungen zwischen Wohl und Wille des Patienten. Andererseits kann eine Ethik entlang der Prinzipien auch als zu restriktiv kritisiert werden. Das Absolutsetzen der Prinzipien widerspricht aus dieser Perspektive der grundsätzlichen Offenheit ethischer Diskurse gegenüber pluralen Werthaltungen, die durch Ethik miteinander ins Gespräch gebracht und nicht durch eine bestimmte ethische Position vereinheitlicht werden sollen. Das dahinterstehende Ethikverständnis geht von einer Vermittelbarkeit pluraler Positionen durch Verfahren aus, die jeweils nur in der konkreten Situation verhandelt werden kann. Auf Grund der Pluralität von 6

Zur Funktion der Ethik als Stoppschild vgl. J. Inthorn (2008), Ethische Konfliktlinien in der öffentlichen Kommunikation über Stammzellforschung, in: U. Körtner/C. Kopetzki (Hrsg.), Stammzellforschung. Ethische und rechtliche Aspekte, Wien, New York, S. 93–105.

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Einleitung

Begründungen in der Ethik sowie der von verschiedenen Seiten vertretenen Werte wird ein vereinheitlichender Theorie- und Normenkorpus aber zu Gunsten von Verfahren fallengelassen. Die Auseinandersetzung mit den Prinzipien wird damit zum Testfall der Ethik selbst, die in einer Spannung zwischen prozeduralem und normierendem Anspruch steht. Ein weiteres Thema, das durch eine solche Topographie aufgeworfen wird, ist das der Orte ethischer Entscheidungsfindung. Die klassische Gegenüberstellung von sozialethischen und individualethischen Fragestellungen wird durch die Bedeutung der Patientenautonomie im Kontext medizinischer Entscheidungen aufgeweicht. Der Anspruch an die Rolle von Ärzten beispielsweise in der gemeinsamen Entscheidungsfindung mit Patienten wandelt sich von der reinen Informationsvermittlung im Rahmen eines informed consent hin zu der Ermöglichung der Patientenautonomie durch eine individualisierte Form der Aufklärung. Es werden dabei zunehmend ethische Fragestellungen in den Verantwortungsbereich des Arztes hineingetragen, die vorher noch im Rahmen struktureller Überlegungen von best practice auf funktionaler Ebene für den Arzt zu entscheiden waren. Auch Ressourcenfragen werden vermehrt für Ärzte in ihrem Alltag zum Thema. Durch diese Entwicklung stellt sich die Frage, welche ethischen Fragen in den Verantwortungsbereich von Ärzten übertragen werden sollen, und für welche Fragen andere Räume der Entscheidungsfindung bereitgestellt werden müssen. Wie ist beispielsweise die Rolle des Arztes bei Enhancement zu sehen? Welche Verantwortung trägt er bei der Frage nach der medizinischen Indikation einer Therapie in einem sich gegenwärtig stark verschiebenden gesellschaftlichen Diskurs um die Verbesserung des Menschen? Die Rolle des Arztes als Experte scheint in einem weiteren Aspekt auf: Medizinethik ist auf die Vermittlung von Fachwissen angewiesen, um zu praxisnahen und für die Praxis relevanten Entscheidungen zu gelangen. Im Rahmen ausdifferenzierter Arbeitsteilung werden normative Fragestellungen zunächst dem Ethikexperten zugeschrieben. Die notwendige Anbindung an naturwissenschaftliches Fachwissen bringt im Bereich der Ethik verschiedene Experten wieder zum interdisziplinären Austausch zusammen. Die Verwobenheit insbesondere für Fragen der Praxis führt dazu, dass die Rolle des Ethikers in der Auseinandersetzung zwischen Interdiszipli7 narität und eigenem Expertentum immer wieder neu bestimmt werden muss. In der Funktion des Ethikers spiegelt sich auch die Frage nach der Funktion von Ethik im Kontext der Wissenschaften. Der Ruf nach Ethik in Krisensituationen verweist auf eine weitere Bestimmung von Ethik. Ethik hat die Möglichkeit, Anschlussfähigkeit zu anderen wissenschaftlichen Diskursen herzustellen und Diskurse und Kriterien aus verschiedenen Wissenschaften zu integrieren, ohne die Unterschiede zwischen den Wissenschaften einzuebnen. Lebensweltlich ausgedrückte Sorgen oder Bedenken ebenso wie Fachperspektiven auf Diagnose und Therapie eines Men7

Vgl. hierzu D. Birnbacher (1999), Für was ist der „Ethik-Experte“ Experte?, in: K. P. Rippe (Hrsg.), Angewandte Ethik in der pluralistischen Gesellschaft. Freiburg/Schweiz, S. 267–283.

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schen lassen sich in der Sprache der Ethik zueinander ins Verhältnis setzen. Der Anspruch an Ethik, diese zu verbinden, gleichzeitig aber wissenschaftliche Expertise in Form von eindeutigem Wissen zur Verfügung zu stellen, zeichnet ein weiteres Spannungsfeld gegenwärtiger Medizinethik aus, das sich in den nachfolgenden Beiträgen finden lässt. Die Beiträge des vorliegenden Bandes basieren zum wesentlichen Teil auf Vorträgen, die im Januar 2010 bei einer Tagung mit dem Titel „Ethik, quo vadis? Funktion der Ethik in Medizin-Diskursen“ am Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien, gehalten wurden. Die Herausgeberin dankt dem Österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung für die finanzielle Unterstützung der Tagung. Dank geht auch an Sabine Parrag und Imre Bard für Korrekturarbeiten an diesem Band.

Formen und Funktionen von Ethik in der Entscheidungspraxis der Ethikkommissionen des Arzneimittelgesetzes Gina Atzeni

1.

Zur praktischen Relevanz des Ethik-Begriffs

An der Bedeutung „der Ethik“ in biomedizinischen Beratungs- und Entscheidungszusammenhängen besteht kein Zweifel. Ethikräte, -kommissionen und EthikKomitees werden überall dort eingerichtet, wo (bio-)medizinische Entscheidungen nicht mehr unter Verweis auf (mono)professionelle Expertise verbindlich zu treffen sind, wo in den Blick rückt, dass es die eine richtige Entscheidung möglicherweise nicht gibt. Dieser Beitrag interessiert sich für die unterschiedlichen praktischen Realisationsformen der Ethik und den Gebrauch eines Begriffs der sich wie selbstverständlich anzubieten scheint, wenn es um als schwerwiegend wahrgenommene Probleme geht, der aber gleichzeitig seltsam undefiniert verwendet wird. Meine Überlegungen schließen, ohne die politischen Implikationen hier vollständig mitzuvollziehen, an die Überlegungen Ernesto Laclaus zum leeren Signifikanten an, welcher leer nicht deshalb ist, weil er ohne Bedeutung wäre, sondern weil er eine Vielzahl unterschiedlicher Bedeutungen bezeichnet und seine Gesamtheit so schließlich nicht mehr fassbar ist. Wie Laclau zum Begriff der Ordnung formuliert, möchte ich im Folgenden analog behaupten, Ethik in der praktischen Verwendung des Begriffs in bioethischen Diskursen „[…] an sich hat keinen Inhalt, weil sie nur in den verschiede1 nen Formen existiert, in denen sie tatsächlich realisiert ist.“ Eine dieser Realisierungsformen der Ethik soll im Folgenden anhand empiri2 scher Daten aus einem DFG-Projekt dargestellt und nach ihren latenten Funktio1

2

Vgl. E. Laclau (1996), Emanzipation und Differenz, Wien, S. 76. Die Anwendung des Konzepts des leeren Signifikanten auf den Begriff Ethik ist im Vergleich zwischen Ethikkommissionen und Ethik-Komitees entwickelt in: G. Atzeni/E. Wagner (2010), Ethik als institutionalsierte Dauerreflektion. Zur Funktion der Unbestimmtheit in medizin-ethischen Beratungsgremien, in: Verhandlungen des 34. DGS-Kongresses in Jena, Wiesbaden (im Erscheinen), zur grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der Figur vgl. J. Müller/E. Wagner (2010), Eindeutigkeit im Unbestimmten. Über den kommunikativen Umgang mit Unsicherheit und Dauerirritation am Beispiel von Mode, Pop und Ethik, in: Verhandlungen des 34. DGS-Kongresses in Jena, Wiesbaden (im Erscheinen). Das hier verwendete Datenmaterial entstand unter soziologischer Mitarbeit am DFG-Projekt „Paternalismus als Grundlagenproblem der Moralphilosophie und des Rechts“ (Leitung: Prof. Dr. Ulrich Schroth, Prof. Dr. Willhelm Vossenkuhl). Neun Experteninterviews mit Mitgliedern von

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nen untersucht werden. Um Verallgemeinerungen vorzubeugen, soll in einem ersten Schritt die Landschaft bioethischer Beratung in Deutschland skizziert werden (2.). Sichtbar werden hier ganz unterschiedliche rechtliche, organisationelle und thematische Kontexte der verschiedenen Gremien, welche jeweils ganz eigene 3 Realisationsformen von Ethik hervorbringen. Für den Gegenstand dieses Beitrags, die Ethikkommissionen des Arzneimittelgesetzes, werden die Rahmenbedingungen genauer expliziert (3.) und die Herangehensweise an diesen Forschungsgegenstand dargestellt (4.), bevor in einem weiteren Schritt dargestellt wird, welche Form die Ethik in den so gerahmten Gremien annimmt und welche Funktion sie dort für das Verfahren und darüber hinaus für die spezifische Organisationsstruktur der Ethikkommissionen des Arzneimittelgesetzes erfüllt (5.). Abschließend werden die Ergebnisse im Überblick dargestellt und im Kontext einer „Gesellschaft der Gegen4 warten“ versucht zu verorten (6.).

2.

Ethikberatung in Deutschland

Betrachtet man die derzeitige Landschaft institutionalisierter Ethikberatung in Deutschland muss man Einrichtungen bioethischer Politikberatung einerseits, und Beratungs- und Entscheidungsgremien, die in konkreten Fragen bio- bzw. medizinethischer Konfliktfälle tätig werden andererseits, unterscheiden. Erstere erfüllen die Aufgabe, Regierung bzw. Parlament in medizin- und bioethischen Fragen zu beraten sowie den öffentlichen Diskurs über bioethische Konfliktfelder zu informieren und anzuleiten. Auf Bundesebene ist der Deutsche Ethikrat, als Nachfolgeorganisation des 2001 installierten Nationalen Ethikrats tätig. Die 26 Mitglieder aus den Bereichen Naturwissenschaft, Medizin, Theologie, Philosophie, Ethik, Recht und Wirtschaft werden je zur Hälfte von Bundesregierung und Bundestag vorgeschlagen und vom Bundestagspräsidenten berufen. Begleitet werden die Debatten des Deutschen Ethikrats vom Parlamentarischen Ethikbeirat, der aus neun Abgeordneten besteht. Auch auf Landesebene existieren entsprechende Einrichtungen. Zur Beratung stehen grundsätzliche Fragen bioethischer Konflikte wie die nach der Legiti-

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Forschungs-Ethikkommissionen in Bayern wurden von der Autorin 2006 durchgeführt. Die Daten wurden nach den gängigen wissenschaftlichen Regeln transkribiert und anonymisiert. Zu den verschiedenen Realisationsformen der Ethik in unterschiedlichen bioethischen Settings vgl. G. Atzeni/E. Wagner (2010), Ethik als institutionalsierte Dauerreflektion. Zur Funktion der Unbestimmtheit in medizin-ethischen Beratungsgremien, in: Verhandlungen des 34. DGSKongresses in Jena, Wiesbaden (im Erscheinen), ferner G. Atzeni/F. Voigt (2010), Religion und Theologie in bioethischen Kommissionen. Eine interdisziplinäre Untersuchung zu Berufstheologen in ethischen Diskursen, in: F. Voigt (Hrsg.), Religion in bioethischen Diskursen. Interdisziplinäre, internationale und interreligiöse Perspektiven, Berlin/New York (im Erscheinen). Zum Konzept der Gesellschaft der Gegenwarten: A. Nassehi (2003), Geschlossenheit und Offenheit. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft, Frankfurt a.M., Ders. (2006), Der soziologische Diskurs der Modernde, Frankfurt a.M.

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Entscheidungspraxis der Ethikkommissionen

mität von Stammzellforschung oder Sterbehilfe bzw. mögliche Gesetze diese Fragen betreffend. Demgegenüber stehen ethische Beratungs- und Entscheidungsgremien in welchen es nicht um die Klärung ethischer Grundsatzfragen, sondern um konkrete Einzelfälle geht. Innerhalb dieser Gremien ist der Unterschied zwischen solchen, die (bindende) Entscheidungen treffen und den eher reflektionsanleitenden, beratenden Formen zu beachten. Zur ersten Gruppe gehören die Lebendspendekommissionen, die prüfen, ob die gesetzliche Voraussetzung zur Organspende, die informierte und freiwillige Einwilligung des Spenders sowie der Ausschluss von 5 Organhandel, gewährleistet ist. Weiter die Zentrale Ethikkommission für Fragen der Stammzellenforschung am Robert Koch Institut. Diese prüft, ob Forschungsanträge nach dem Stammzellgesetz ethisch vertretbar sind und gibt zu jedem Forschungsvorhaben, in dem die Verwendung humaner embryonaler Stammzellen geplant ist, eine Stellungnahme ab, aufgrund dessen die staatliche Genehmigungs6 behörde die Genehmigung zur Verwendung von hES-Zellen erteilt bzw. versagt. 7 Forschungsvorhaben nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) , Medizinproduktegesetz und der Strahlenschutzverordnung werden von Ethikkommissionen geprüft und dürfen nur bei positiver Prüfung legal durchgeführt werden. Keine verbindlichen Entscheidungen werden hingegen in Klinischen EthikKomitees und ethischen Konzilen getroffen. Diese sind freiwillige Einrichtungen von Kliniken und haben die Aufgabe, problematische und konfliktuöse Situationen im Klinikalltag zu reflektieren. Während hinsichtlich ihrer Aufgabenstellung, Organisationsform und rechtli8 chen Verfassung große Unterschiede zwischen den genannten Gremien bestehen, fällt ins Auge, dass alle Gremien interdisziplinär besetzt sind und, dass stets Ethik als auszeichnendes Label der Verfahrensform herangezogen wird. Meine zentrale Frage ist deshalb: was leistet das Ethik-Label für diese Verfahrensformen? Ausgehend von der Annahme, dass sowohl die Form als auch die Funktion der Ethik in den verschiedenen Kommissionstypen sehr unterschiedlich ist und nur durch eine genaue Rekonstruktion des jeweiligen Kontext angemessen erfasst werden kann, 5 6 7

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Vgl. E. Wagner/B. Fateh-Moghadam (2005), Freiwilligkeit als Verfahren. Zum Verhältnis von Lebendorganspende, medizinischer Praxis und Recht, in: Soziale Welt, 56 (1)/2005, S. 73–97. Vgl. J. Taupitz (2003), Ethikkommissionen in der Politik: Bleibt die Ethik auf der Strecke?, in: Juristen Zeitung, 58 (16)/2003, S. 815–821. Vgl. B. Fateh-Moghadam/G. Atzeni (2008), Ethisch vertretbar im Sinne des Gesetzes – Zum Verhältnis von Ethik und Recht am Beispiel der Praxis von Forschungs-Ethikkomissionen, in: S. Vöneky/C. Hagedorn/M. Clados et al. (Hrsg.), Legitimation ethischer Entscheidungen im Recht – Interdisziplinäre Untersuchungen, Berlin/Heidelberg/New York, S. 115–143. Zur genaueren Abgrenzung der genannten Gremien vgl. C. von Dewitz/F. Luft/C. Pestalozza (2004), Ethikkommissionen in der medizinischen Forschung. Gutachten im Auftrag der Bundesrepublik Deutschland für die Enquête-Kommission „Ethik und Recht in der modernen Medizin“ des deutschen Bundestages, 15. Legislaturperiode; auch A. Krippner/B. Pollmann (2004), Bioethik-Kommissionen in Deutschland. Ein Überblick, in: MenschenRechtsMagazin 3/2004, S. 239–260.

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konzentriere ich mich nach diesem Überblick über die verschiedenen Gremientypen im Weiteren nun auf die Ethikkommissionen des Arzneimittelgesetzes.

3.

Die Ethikkommissionen des Arzneimittelgesetzes: Vom Selbstkontrollorgan zur arzneimittelrechtlichen Prüfbehörde

1973 entstanden im Rahmen eines DFG Sonderforschungsbereichs erste Ethikkommissionen an den Universitäten Göttingen und Ulm nachdem die Generalversammlung des Weltärztebundes 1964 in Helsinki einen Katalog ethischer Grundsätze vorlegte, der Ärzten und Forschern bei der Durchführung medizinischer Forschung am Menschen als Leitlinie dienen sollte. Die revidierte Deklaration von Helsinki von 1975 sah bereits eine Beratung des forschenden Arztes durch ein unabhängiges Gremium als Voraussetzung für die Forschung am Menschen vor, worauf ohne gesetzliche Anordnung bei den Landesärztekammern und medizini9 schen Fakultäten erste Ethikkommissionen entstanden. Die freiwillige Selbstkontrolle entsprach dabei ganz dem Anspruch der medizinischen Profession. Mediziner werden nicht kontrolliert, vielmehr überprüfen sie selbst ihr Handeln auf Grundlage der eigenen Wertvorstellungen. „Im Ergebnis verteidigt die Profession die ‚Lizenz‘, nicht nur Dinge tun zu dürfen, die in der Gesellschaft als gefährlich gelten, sondern 10 sich auch noch bei diesem Tun im Wesentlichen selbst zu kontrollieren.“ 1985 geht die Beratung durch die Ethikkommissionen in die Musterberufsordnung der Ärzte ein, bleibt als Soll-Bestimmung jedoch weiterhin eng am Prinzip der ständi11 schen Selbstkontrolle orientiert. 1988 wird die Soll- dann in eine MussBestimmung geändert und findet im Medizinproduktegesetz und in der 5. Novelle des Arzneimittelgesetzes gesetzliche Anerkennung. Jedoch war der Forscher bei der Durchführung seines Vorhabens „[…] nicht zwingend an ein positives Votum 12 der Ethik-Kommission geknüpft; letztlich wurde diese nur beratend tätig.“ Seit der 12. Arzneimittelgesetzesnovelle im Dezember 2004 ist die Ethikkommission „[…] zu einer eigenständigen arzneimittelrechtlichen Genehmigungsbehörde geworden, die auf Grund eines umfänglichen medizinisch-pharmakologisch und juristischen Prüfprogramms gegenüber Außenstehenden – dem antragstellenden Sponsor – 9

10 11

12

Vgl. F. Wölk (2002), Zwischen ethischer Beratung und rechtlicher Kontrolle. Aufgaben- und Funktionswandel der Ethikkommission in der medizinischen Forschung am Menschen, in: Ethik in der Medizin, 14/2002, S. 252–269, hier S. 254. W. van den Daele/H. Müller-Salomon (1990), Die Kontrolle der Forschung am Menschen durch Ethikkommissionen, Stuttgart, S. 22. Vgl. F. Wölk (2002), Zwischen ethischer Beratung und rechtlicher Kontrolle. Aufgaben- und Funktionswandel der Ethikkommission in der medizinischen Forschung am Menschen in: Ethik in der Medizin, 14/2002, S. 252–269, hier S. 254. V. Schlette (2006), Ethik und Recht bei der Arzneimittelprüfung. Landesrechtliche EthikKommissionen nach der 12. AMG-Novelle und die unfreiwillige Vorreiterrolle des Landes Berlin, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, 7/2006, S. 785–788, hier S. 785.

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hoheitlich tätig wird, indem sie Verwaltungsakte erlässt.“ Die Voten der Kommissionen sind nun tatsächlich rechtlich – nicht mehr nur faktisch – bindend, sie stellen Verwaltungsakte dar, die ein Forschungsvorhaben (zumindest dessen legale Durchführung) verhindern können. Das Selbstverständnis der Ethikkommissionen als berufsständisches Konsultativorgan hingegen ist nach wie vor präsent, wie später zu zeigen sein wird. 3.1

Aufgabenstellung

Aufgabe der Kommission ist es nach § 42 Abs. 1 Satz 1-3 AMG zu bewerten, ob ein Forschungsvorhaben wissenschaftlich sinnvoll und die Risiko-Nutzen-Abwägung vertretbar ist. D.h. ob es in der Lage ist, im rechtlichen Rahmen neue Erkenntnisse zu erbringen, weiter, ob die eingeschlossene Patientengruppe nach rechtlichen und medizinischen Gesichtpunkten die geeignete ist und falls ja, ob die Aufklärung der Versuchspersonen über die Art des Forschungsvorhabens sowie die mit der Teilnahme verbundenen Risiken gewährleistet wird (ein informed consent also zustande kommt). Außerdem muss sichergestellt werden, dass der vom Gesetzgeber geforderte Versicherungsschutz für die Teilnehmer gegeben und ausreichend ist und, dass personenbezogene Daten der Versuchsteilnehmer nur in verschlüsselter Form verwendet und weitergegeben werden. 3.2

Zusammensetzung

Nachdem die gesetzlichen Regelungen hinsichtlich der Besetzung der Ethikkommissionen einigen Spielraum für die Ethikkommissionen bzw. ihre Träger lassen, orientiere ich mich im Folgenden an den Satzungen der von mir untersuchten E14 thikkommissionen. Die Zahl der Mitglieder liegt zwischen sechs und zehn. Die Mediziner machen in allen Kommissionen die größte Gruppe aus. Meist bestehen die Satzungen auf klinische Mediziner, Pharmakologen, Rechtsmediziner und Mediziner mit „besonderer Erfahrung auf dem Gebiet der Versuchsplanung und Statistik.“ Der Vorsitzende der Kommission muss ebenfalls Mediziner sein. Ferner müssen alle Kommissionen ein Mitglied mit der Befähigung zum Richteramt haben. Für die Position des „Ethikexperten“ wird meist ein Akademiker mit theologischem oder philosophischem Grad oder eine Person mit besonderer Erfahrung auf dem Gebiet der Ethik in der Medizin verlangt. Wenn man sich die empirische Bandbreite ansieht, die von Klinikseelsorgern über Philosophen bis hin zu Ärzten mit zusätzlicher Ausbildung auf dem Gebiet der Medizinethik reicht, wird klar, dass 13 14

Ebd. Vgl. zur Zusammensetzung aus verschiedenen Berufsgruppen auch C. von Dewitz/F. Luft/C. Pestalozza (2004), Ethikkommissionen in der medizinischen Forschung. Gutachten im Auftrag der Bundesrepublik Deutschland für die Enquête-Kommission „Ethik und Recht in der modernen Medizin“ des deutschen Bundestages, 15. Legislaturperiode, S. 66ff.

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es hier nicht um eine spezifische Ethikexpertise im Sinne einer Ethik-Theorie gehen kann. In den Fällen, wo diese Position mit Theologen oder Philosophen besetzt ist, wird die Rolle als medizinischer Laie besonders betont. Einer Beteiligung „echter Laien“ hingegen stehen zumindest die von mir befragten Kommissionsmitglieder 15 größtenteils skeptisch gegenüber.

4.

Forschungspraktischer Rahmen der Untersuchung

Im Zeitraum von Juni bis September 2006 wurden insgesamt neun Experteninterviews mit Mitgliedern dreier fakultärer Ethikkommissionen sowie der Ethikkommission einer Landesärztekammer durchgeführt und transkribiert. Angefragt wurden jeweils der Vorsitzende der Kommissionen (immer ein Mediziner), der Jurist, sowie der Ethikexperte. Die Daten wurden mittels leitfadengestützter Experteninterviews erhoben. Die sehr allgemeine Frage nach der „Praxis der Ethikkommissionen“ wurde versucht, im Leitfaden nur soweit zu spezifizieren, dass den Interviewten die Möglichkeit zur möglichst umfassenden Beantwortung überlassen blieb. Zentrales Merkmal der beforschten Gremien ist deren Interdisziplinarität, die Befragten wurden deshalb gebeten, ihre spezifische, professionsbezogene Perspektive auf die Kommissionsarbeit und die damit verbundenen Beurteilungskriterien für ein Forschungsvorhaben darzustellen. Ferner wurde nach konkreten Fallbeschreibungen besonders problematischer – sprich kontrovers diskutierter – Fälle gefragt, um etwas über die praktische Umsetzung der abstrakten Beurteilungskonzepte zu erfahren. Selbstredend setze ich nicht voraus, dass die so erhaltenen Daten die tatsächliche Realität in den Ethikkommissionen abbilden. Die Interviews geben lediglich Selbstbeschreibungen der Kommissionsmitglieder wieder. „Das vorliegende Material wird danach allein als Text, der seine eigene Plausibilität und (hier: wissenschaftliche) Anschlussfähigkeit selbst erzeugt betrachtet und nicht als eine substantielle Verkörperung von Zusammenhängen, die unmittelbare Rückschlüsse

15

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen auch W. van den Daele/H. Müller-Salomon (1990), Die Kontrolle der Forschung am Menschen durch Ethikkommissionen, Stuttgart, sowie J. Czwalinna (1987), Ethik-Kommissionen: Forschungslegitimation durch Verfahren, Frankfurt a.M.; vgl. demgegenüber jedoch zur divergierenden Besetzungspraxis des Landes Berlin V. Schlette (2006), Ethik und Recht bei der Arzneimittelprüfung. Landesrechtliche Ethik-Kommissionen nach der 12. AMG-Novelle und die unfreiwillige Vorreiterrolle des Landes Berlin, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, 7/2006, S. 785–788, sowie B. Fateh-Moghadam/G. Atzeni (2008), Ethisch vertretbar im Sinne des Gesetzes – Zum Verhältnis von Ethik und Recht am Beispiel der Praxis von Forschungs-Ethikkomissionen, in: S. Vöneky/C. Hagedorn/M. Clados et al. (Hrsg.), Legitimation ethischer Entscheidungen im Recht – Interdisziplinäre Untersuchungen, Berlin/Heidelberg/New York, S. 115–143.

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auf eine kontextfrei zugängliche Realität geben könnten oder als Idealtypen, die auf 16 eine exakt so funktionierende Praxis verweisen würden.“ Entsprechend dieser Einsicht greife ich zur Auswertung der Interviewdaten auf 17 eine differenztheoretisch informierte Hermeneutik zurück. Dabei werden die transkribierten Interviews als Text gelesen, der nicht auf eine hinter diesem Text liegende Realität – auf die operative Praxis von Ethikkommissionen, auf das, was hinter geschlossenen Kommissionstüren „wirklich“ geschieht – verweist und auf mögliche versteckte Lügen oder Inkonsistenzen zu untersuchen ist, sondern die Interviewsituation wird selbst als Realität sui generis verstanden, als Realität in der das Problem zu lösen ist, die eigene Arbeit in den Ethikkommissionen vor einem Publikum, in diesem Fall einer soziologischen Interviewerin, plausibel darzustellen. Die Daten, die hier zur Anwendung gelangen, verweisen also explizit nicht auf die operative Praxis von Ethikkommissionen. Sie verweisen darauf, wie sich prinzipielle Unbestimmtheit im Hinblick auf die besondere ethische Kompetenz von Kommissionsmitgliedern in eine plausible Bestimmtheit transformieren lässt, indem ein selbst gestelltes Problem zur Lösung gebracht wird. Dabei werden diese unterschiedlichen Lösungen danach befragt, welche alternativen Lösungen, welche funktionalen Äquivalente hierzu gefunden werden können.

5. 5.1

Die Ethik der Ethikkommissionen Die Form der Ethik in Ethikkommissionen

In der Darstellung der Kommissionsdiskurse, von besonders kontrovers diskutierten Anträgen fällt zuallererst ins Auge, dass die Problematik der zu begutachtenden Fälle nicht offensichtlich ist. Vielmehr kann man beobachten, wie ethisch problematische Fälle durch das Expertenwissen der Kommissionsmitglieder hergestellt werden. Es genügt hier nicht, die gesetzlich geforderten Kriterien den Forschungsanträgen gegenüberzustellen, vielmehr müssen die versteckten Problemstellen eines Forschungsantrags zunächst erkannt und herauspräpariert werden: […] Jetzt muss man also zeigen, dass das die Coxibe supergut sind – – aber die Vergleichstherapie wahnsinnig riskant. Und wie macht man das? – – Frag ich immer meine Studenten, wie macht man das? Man macht des so, dass man die Vergleichstherapie so macht, dass jeder n Loch im Bauch kriegt. Also sind da Studien vorgelegt 16

17

Vgl. E. Wagner/B. Fateh-Moghadam (2005), Freiwilligkeit als Verfahren. Zum Verhältnis von Lebendorganspende, medizinischer Praxis und Recht, in: Soziale Welt, 56 (1)/2005, S. 73–97, hier S. 81. Vgl. zur Methodik A. Nassehi/I. Saake (2002a), Kontingenz: Methodisch verhindert oder beobachtet? Ein Beitrag zur Methodologie der qualitativen Sozialforschung, in: Zeitschrift für Soziologie, 31/2002, S. 66–84. Sowie dies. (2002b), Begriffsumstellung und ihre Folgen – Antwort auf die Replik von Hirschauer/Bergmann, in: Zeitschrift für Soziologie, 31/2002, S. 337–343.

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worden, wo man gesagt hat, wir haben hier unser neues Coxib und des vergleichen wir jetzt über 12 Monate und die Vergleichsgruppe die kriegt die Höchstdosis fix dosiert über 12 Monate. Und da weiß man des halt also nur wenn se n Ledermagen haben oder so was, ne. […] Und solch– eine dieser Studien ist eben […] in unserem Wirkungsbereich nicht durchgeführt worden, weil wir uns nicht anfreunden konnten, mit diesem Konzept der fixen Höchstdosis. Das fanden wir ethisch – – – nicht vertretbar – – – (Guth, Z. 258–272)

Dem befragten Mediziner gelingt es in diesem Beispiel, die eigene ethische Position über seine ärztlich-medizinische Perspektive zu definieren. Die körperliche Integrität der Versuchsperson stellt, wie der Interviewausschnitt plakativ darstellt, das Bezugsproblem der medizinischen Expertise als ethischer Expertise im Kommissionsverfahren dar. Ebenso wird von den anderen beteiligten Disziplinen entlang der jeweiligen professionellen Logik eine eigenständige ethische Perspektive auf die Forschungsanträge entfaltet. Und das führ natürlich zu einer Denaturierung des freiheitlichen Systems. Und dies den Leuten klarzumachen ist außerordentlich schwierig. [I: Mhm] Datenschutz ist also nicht Selbstzweck, sondern Datenschutz dient immer ist sozusagen mittelbarer Freiheitsschutz. […] Und darum geht’s mir natürlich auch in der Ethikkommission, nicht, dass man tatsächlich den einzelnen Teilnehmer in seinem Selbstbestimmungsrecht schützt, auf der anderen Seite auch den Forscher, der eine Studie durchführen will, in seiner Forschungsfreiheit schützt, nicht. Das heißt, es müssen zwei Grundrechte, das Recht auf Selbstbestimmung und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, müssen in Einklang gebri- bracht werden mit den Forschungsfreiheit des äh Arztes, der eine bestimmte Studie durchziehen möchte oder eines äh Hochschullehrers, der als Forscher ähm einen bestimmten Sachverhalt aufklären will. (Roth, Z. 418–430)

Dem Juristen gelingt dies typisch unter Verweis auf den Schutz von Persönlichkeitsrechten. Wie der oben zitierte Mediziner macht auch der Jurist deutlich, dass die spezifisch disziplinären ethischen Fallstricke der Anträge für einen Laien nicht ersichtlich sind. Ethik präsentiert sich hier als laienverständlich expliziertes Fachwissen, wie man auch an wissenschaftlichen Argumenten, die zwar oft von Medizinern im Kommissionsverfahren vorgebracht werden, jedoch ein völlig anderes Bezugsproblem bearbeiten, sehen kann: Wenn wir also sehen, dass das grundsätzlich medizinisch und grundsätzlich juristisch sozusagen legitim ist [I: mh] äh dann äh melden sich andere. Also ich würde dann sagen: wie war das Studiendesign, ist das überhaupt adäquat, kann man damit Erkenntnisse gewinnen, denn ohne sicheren Erkenntnisgewinn :Chancen wenigstens –äh– dürfen sie ja gar ned forschen. Sie dürfen ja überhaupt nur mit Menschen forschen, wenn sie anders die Erkenntnisse die sie erbringen können, sie diese Erkenntnisse aber brauchen. Wenn aber schon vom Versuchsdesign klar ist, dass sie die Erkenntnisse gar ned gewinnen können, wäre die Studie schon unethisch. Dann sag ich was zur Fallzahlschätzung, ist ja sehr wichtig, dass nicht mehr Kinder oder generell mehr Menschen oder auch mehr Tiere, also mehr Teilnehmer rekrutiert werden als für die Erkenntnisgewinnung wirklich erforderlich [I: mhm] stimmt

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wenn’s Langzeitstudien sind gibt’s Zwischenauswertungen, und und und. (Guth, Z. 173–184)

Diese Perspektive hebt die fehlende Möglichkeit gesicherte Erkenntnisse zu gewinnen in den Vordergrund – unethisch ist eine Studie für diese professionelle Sichtweise, wenn sie nicht geeignet ist, wissenschaftlich verwertbare Erkenntnisse zu gewinnen. Der ethische Zugang des Ethikexperten unterscheidet sich von der professionsspezifischen Ethik der anderen Kommissionsmitglieder. Er bildet, gewissermaßen 18 als „exemplarischer Laie“ die komplementäre Position zur fachspezifischen Ethik der anderen Kommissionsmitglieder. Wenngleich in der Praxis oft von Theologen vertreten, präsentiert sich diese Position nicht spezifisch christlich oder normativ, sondern rückt besonders die Verständlichkeit der Probandenaufklärung für NichtMediziner, Nicht-Wissenschaftler, Nicht-Juristen in den Mittelpunkt. –ja ne auch was die Studien selber angeht und die Patienten also, da jetzt zu sagen ich sorg´ dafür, dass die wirklich gut informiert werden. Das denk ich, kann ich schon auch mit meinem Auftrag als Seelsorger und Vertreter der Kirche hier im Haus, denk ich is schon auch n´ vernünftiger Dienst. (Haferstroh, Z. 307–311)

Gemeinsam ist den dargestellten Argumenten, dass sie ihre ethische Qualität nicht über normative Kriterien entfalten, sondern über fachspezifisches Expertenwissen bzw. über die hierzu komplementäre Perspektive des (imaginierten) Probanden. Diese „sachliche Ethik“ ist dabei nicht als Mangeldiagnose zu interpretieren, sondern zunächst schlicht als eine ethische Praxis, die sich in einem bestimmten Kontext als solche bewährt. Es zeigt sich also, dass das sachliche Faktum, ohne den Zwischenschritt einer ethischen Begründung im philosophischen oder normativen Sinne im Kommissionsverfahren scheinbar allein durch die laienverständliche Explikation eines medizinischen, wissenschaftlichen oder juristischen Experten zum ethischen Argument wird. 5.2

Praktische Konkordanz ohne Entdifferenzierung

Betrachtet man dieses Ergebnis, stellt sich die Frage, welche Funktion der professionsspezifischen (Re)Konstruktion der Ethik durch die Kommissionsmitglieder zukommt, warum hier offensichtlich speziell auf die ethische Dimension professioneller Expertise verwiesen werden muss. Vor das Problem gestellt in einem interdisziplinären Gremium über gesetzlich festgelegte Kriterien zu beurteilen, ob ein Humanforschungsprojekt durchgeführt werden darf, leistet die dargestellte Form der Ethik Enormes. In einer multidisziplinären Kommission erfüllt das Ethik-Label 18

Vgl. zur Figur des exemplarischen Laien in anderen bioethischen Diskurszusammenhängen G. Atzeni/F. Voigt (2010), Religion und Theologie in bioethischen Kommissionen. Eine interdisziplinäre Untersuchung zu Berufstheologen in ethischen Diskursen, in: F. Voigt (Hrsg.), Religion in bioethischen Diskursen, Interdisziplinäre, internationale und interreligiöse Perspektiven, Berlin/ New York (im Erscheinen).

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eine Art Übersetzerfunktion. Es wird möglich, die verschiedenen inkongruenten Perspektiven zwar nicht ineinander zu überführen, aber doch aufeinander einzustellen, so etwas wie praktische Konkordanz trotz prinzipiell unvereinbarer Perspektivendifferenzen zu schaffen. Ganz deutlich zeigt sich diese Funktion der Ethik auch immer wieder in den Aussagen der Befragten: Und des is eine Ethikkommission ähm, die äh muss ich sagn äh, menschlich äh sehr sehr gut arbeitet, wir sehen uns zwar nie und kennen uns privat nicht, aber in der Kommission es sagt jeder wie er dazu steht, es wird diskutier [I: mhm] äh de es wird auch angenommen, wenn man mit seiner Einstellung sozusagen nicht reüssiert und die andern ne andre ham. Es wird genau hingehört, was jemand hat, wie gsagt, zu sagen hat. Ich habe mir dann auch mal erlaubt, den Juristen als spitzfindig zu bezeichen (lacht) was er mir fast übel genommen hat, aber es hatte dann immerhin zur Auswirkung, dass er äh im Zug noch ein zweiseitiges Schreiben verfasst hat, warum und wieso. Also verstehn sie, man befruchtet sich gegenseitig zum Wohle der Studie und der Kommission [I:mhm] äh und man lernt sehr viel draus. (v. Ring, Z. 535– 544)

Die prinzipiell fremde und zunächst unverständliche juristische Sichtweise wird in der zitierten Sequenz über ihre ethisierte, laienverständliche Explikation zu einer einleuchtenden Entscheidungsprämisse. Es findet in den Kommissionen zwar keine Perspektivenübernahme im Sinne einer Entdifferenzierung statt – die einzelnen disziplinär-ethischen Argumente werden im Gegenteil sogar explizit als professionsspezifisch herausgearbeitet – allerdings können sie als ethische Argumente auch von den Vertretern anderer Disziplinen anerkannt und als Grundlage gemeinsam geteilter Entscheidungen akzeptiert werden. 5.3

Die ehrenamtliche Behörde

Auf einer anderen Ebene erfüllt das Ethik-Label noch eine weitere Funktion. Nicht für das Verfahren selbst, sondern in Hinblick auf die Rekrutierung von Mitgliedern ist das Verständnis der Kommission als Ethikkommission und nicht als Behörde, die sie qua Gesetz ist, von Bedeutung. Wie unter 3. dargestellt, entwickelten sich die Ethikkommissionen des AMG aus der freiwilligen ärztlichen Selbstkontrolle hin zu Behörden. Dabei stellen die Ethikkommissionen in ihrer heutigen Verfasstheit faktisch so etwas wie „ehrenamtliche Behörden“ dar. Einem Ehrenamt, dem die Idee der Übernahme einer gesellschaftlich sinnvollen Aufgabe ohne Bezahlung zugrunde liegt, entspricht zwar die ursprüngliche Form der Ethikkommissionen. Nach der Neufassung des Arzneimittelgesetzes haben sich die Rechtsgrundlagen, auf denen die Arbeit der Kommissionen stattfindet, jedoch grundlegend geändert. Unbesehen davon wurde an der ehrenamtlichen Besetzung nichts geändert: J: Also also über die Zeit geändert hat sich wirklich die die diese Aufgabe, die ich vorhin auch schonmal angesprochen hab, dass dass eigentlich die Ethikkommission selbst in der Landesärztekammer sich als Selbstkontrollorgan der Ärzteschaft verstanden hat [I: mhm] und da jetzt qua Gesetz aber rausgewachsen is und einfach zu

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ner eigenständigen Behörde letztendlich geworden ist, die auch Verwaltungsakte erlässt. [I: mhm] Also des war am Anfang immer äußerst umstritten, jedenfalls mit den Medizinerkollegen, äh weil wir Juristen warn schon immer der Auffassung, dass wir hier Verwaltungsakte erlassen und eigentlich als Behörde tätig werden, was aber die Mediziner gar nicht gern hören wollten. [I: ja inwiefern hatten sie dann damit n Problem? Weil einfach die Sel] Ja dieses Selbstverständnis, ja. [I: OK] Ja also wir wir kommen jetzt aus der Ärzteschaft für die Ärzteschaft und und wir ham dann g´sagt, ja des mag schon alles sein (beide lachen) aber im Endeffekt äh agieren wir hier als Behörde, die Verwaltungsakte erlässt mit ihren Voten, des war äußerst umstritten, is aber mittlerweile jetzt einfach durch die Rechtslage geklärt. Also da hat sich sicher so ne Entwicklung ergeben, dass des jetzt auch anerkannt ist, dass man hier als Patientenschutzorgan tätig wird und aber auch eben Behördenaufgaben wahrnimmt. (Jung, Z. 311–321)

Darauf, dass die Begutachtung eines Forschungsvorhabens durch die Ethikkommission mittlerweile ein bis in die Details hin durchorganisiertes behördliches Verfahren ist, weisen nicht nur die Juristen immer wieder hin. Die Merkmale des Verfahrens, die von den Interviewpartnern genannt werden, lesen sich geradezu als Stereotypen behördlichen Arbeitens. Die Abkehr vom Prinzip der freiwilligen Selbstkontrolle, die bereits seit längerem abzusehen war und seit Dezember 2004 endgültig vollzogen ist, scheint in den Kommissionen noch immer Thema zu sein. Nach wie vor wird die beratende Funktion dem Forscher gegenüber, die von diesem auch „dankbar angenommen wird“, im Interview hervorgehoben. N– die sind sehr sehr einsichtig, manche sind ausgesprochen dankbar und sagen, des ham se so nicht gesehen [I: Ah ja] und manche geben – sagen, dass sie´s s selbst die selben Probleme hatten – – – [I: Ah ja, des is interessant] und dass sie des gut finden, dass die Kommission, die vielen Mitglieder, des auch so sehen und dann kann man unter Umständen äh auch ne Lösung erarbeiten. (Ring, Z. 260–264)

Der Arbeitsaufwand im Vorfeld der Entscheidungen wird von allen Befragten als enorm hoch beschrieben. Neben den Sitzungen, die ein- bis zweimal monatlich stattfinden, erfordern die komplexen Fragestellungen, die im Verfahren verhandelt werden, ein Aktenstudium, das von den meisten Befragten mit ca. zwei Arbeitstagen pro Woche veranschlagt wird. Die zeitliche Belastung ist nicht zuletzt deshalb so hoch, weil eine große Verantwortung mit der Aufgabe verbunden ist. Die Entscheidungen der Ethikkommissionen sind seit der 12. AMG-Novelle anfechtbar, das heißt Pharmaunternehmen haben theoretisch die Möglichkeit, gegen Entscheidungen der Ethikkommission rechtlich vorzugehen, was in den Kommissionen als ernsthaftes Problem wahrgenommen wird. Durch das AMG sind wir eine Behörde geworden, die in einem Verfahren eine bestimmte Entscheidung zu treffen hat und äh deren Entscheidung auch verbindlich ist. [I: Mhm] Äh mit der Konsequenz, dass es sogar angefochten werden kann. Also unsere eine negative Entscheidung von uns äh, eine positive auch aber da spielt´s keine Rolle, is ein Verwaltungsakt, und zwar ein belastender Verwaltungsakt und zwar ein belastender Verwaltungsakt wenn sie negativ ist und kann infolge dessen

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von dem anderen von dem Betroffenen mit Widerspruch und Anfechtungsklage angegriffen werden. Und das ist ein kompletter Unsinn. (Roth, Z. 557–564)

In den Interviews wird insgesamt eine deutliche Verunsicherung bzw. Unzufriedenheit seitens der Kommissionsmitglieder hinsichtlich des rechtlichen Status und der damit verbundenen Arbeitsbelastung deutlich. Obgleich klar ist, dass ihre Entscheidungen bindend sind, scheint die Frage nach der eigenen Haftbarkeit noch ungeklärt. Die Ethikkommissionen bewegen sich in einem hochpolitisierten Feld. Sie müssen gleichzeitig den Anforderungen des Gesetzgebers, der antragstellenden Forscher und, damit verbunden, den dahinter stehenden Pharmaunternehmen gerecht werden. Der Vorsitzende einer Kommission zeigt hier noch einmal wie stark die Drucksituation ist, der die ehrenamtlichen Kommissionsmitglieder ausgesetzt sind. P: Ja es sind natürlich viel mehr Formulare, es gibt Fristen, es gibt Pr- ein genaues Prozedere wie, bis wann, in welchem Prozedere entschieden werden muss. Das sind Dinge, die auch von den Arzneimittelfirmen sehr – vorangetrieben wurden und wahrscheinlich stark auch von Arzneimittelfirmen auf Gesetzesebene durchgesetzt äh wurden – dass vor allem die genau wissen, wo sie rechtlich stehen, bis wann sie mit einem Entscheid rechnen können. Dass der Entscheid unter Umständen, dass es äh ein Mangel ist, der das das äh äh wenn wenn der Entscheid zu spät kommt. [I: Mhm] Dass man eventuell sogar gerichtlich einklagen kann, wenn dadurch ein Schaden entsteht, ein finanzieller, wenn eine Firma sagen wir irgendein Medikament nicht äh in Relation zu einer Konkurrenzfirma schneller durch eine Prüfung bringt oder nicht, verstehn sie [I: Ja] da stehn so wie heute, da stehn so wie überall schon auch wieder von von Firmen starke ökonomische Interessen dahinter. Und und und die schlagen sich wieder nieder in den – – in den – – – Prozedere, wie in in in den Gesetzen, nicht wahr. Die große Angst, äh dass ja nicht die Ethikkommissionen äh forschungsverhindernd sein sollen, dass eine Ethikkommission zu langsam arbeiten würd, sag ich nur mal so. Oder zu restriktiv oder zu umständlich, was immer. […] Aber ich meinen einfach solche Gesichtspunkte werden dann in die Diskussion hereingeworfen, wenn’s darum geht, die Regeln festzulegen, rein formalen Regeln nach denen die Ethikkommission arbeiten muss. Das heißt: in welchen Fristen muss sie welche Entscheide bringen, äh wie definitiv müssen die Entscheide sein und sind die anfechtbar oder nicht und dergleichen [I: Ja] das wollen halt gern die Firmen wissen, da sitzen die Rechtsanwälte dort. […] Ob´s im Einzelnen immer – – äh für gute Entscheidungen das Richtige ist, das sei dahingestellt, das will ich nicht sagen. (Pohl, Z. 539–571)

Diese Interviewsequenz zeigt plakativ die paradoxe Situation eines ehrenamtlichen Gremiums, das zwar als Behörde tätig wird, dennoch dem Druck politischer und ökonomischer Interessen unmittelbar ausgesetzt ist. 5.4

Die „unsichtbare“ Behörde

Betrachtet man die äußeren Umstände, unter denen die Ethikkommissionen ihrer Arbeit nachkommen, erstaunt es, dass es scheinbar keinen Mangel an ehrenamtli-

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chen Mitgliedern gibt. Denn obwohl die Befragten alle diese oben genannten Punkte sehen und klar benennen, scheinen die meisten doch gewillt, ihr Ehrenamt weiter auszuüben. Meine These ist nun, dass der Verweis auf die gesellschaftliche und ethische Relevanz der Arbeit für die Mitglieder selbst (möglicherweise aber auch für die Fakultäten bzw. Landesärztekammern, an denen die Kommissionen angesiedelt sind) den Blick auf den faktisch behördlichen Charakter ihrer Aufgabe verstellt oder zumindest abmildert. Auch hier scheint die Thematisierung der Ethik eine große Rolle zu spielen Im Aufgabenfeld der arzneimittelrechtlichen Prüfung von Forschungsvorhaben, in welchem Aufgaben rechtlich klar geregeltsind, bietet offensichtlich nicht zuletzt das Ethik-Label die Möglichkeit, Motivation hochqualifizierter Experten zu bündeln und zur Verfügung zu stellen. P: Ich sehe hier, wenn ich jetzt höhere Töne anschlage, als ich jetzt grade angeschlagen hab, schon auch eine Verpflichtung in der Gesellschaft, einen Beitrag zur Gesellschaft, einen Beitrag zur medizinischen Fakultät. Es ist auch eine gewisse Loyalität, die ich da da ein Service, den ich der medizinischen Fakultät geben möchte. Also ich es ist eine Verbundenheit mit meinem Fach, mit meinen Kollegen, mit dem, was ich mein ganzes Leben betrieben hab. Jetzt halt dahingehend, dass ich mich einsetz einmal einmal die Forscher zu beraten, zum anderen die Patienten zu schützen und dass ich finde, dass das interessant ist, das hab ich nicht gesagt, es ist interessant [I: Ja] hochinteressant. (Pohl, Z. 111–118)

Die Verpflichtung, der Gesellschaft, oder auch konkreter der eigenen Fakultät oder Universität, einen Dienst zu erweisen, beschreiben viele der Befragten als wichtige Motivationsquelle für ihr Engagement in der Ethikkommission. Dabei ist es weniger die Idee irgendetwas zu tun, als vielmehr das, wofür man qua seiner Ausbildung und Berufserfahrung prädestiniert ist. Vielleicht könnte man diese Einstellung als in gewisser Weise elitär bezeichnen, entspringt doch aus den besonderen Fähigkeiten auch eine besondere, selbstauferlegte ethische Verantwortung für die Gemeinschaft. Der eigene Beruf wird als Berufung dargestellt, als privilegierte Situation. Deshalb scheint für viele Befragte fast natürlich, dass dieses Privileg auch selbstauferlegte Verpflichtungen mit sich bringt. Und aber jeder Mensch hat ja auch so n – – n n irgendwie äh so n Treueprinzip äh äh und des trifft natürlich hier auch zu, – – dass man äh sagt na ja, des ist die eigene Fakultät [I: ja] und man war im Beruf – hat sich gut gefühlt und war glücklich in seinem Beruf also möchte man auch n bisschen was – – – da halt nun machen. [I: Mhm] Ich sage nicht, dass es immer leicht fällt und dass ich nicht meine großen Tiefs hatte und – – weiß ich auch nicht wie lang ich des machen werde. – – – – [I: Umso legitimer ist ja auch die Frage nach der Motivation (lacht)] Die ist wie gesagt, die die schwankt und jetzt im Moment sage ich einfach, ich mache es für meine Uni, für die Fakultät und ähm weil ich´s eben auch schon denke, dass ich´s kann. (v. Ring, Z. 365–373)

Die Unzufriedenheit über den hohen Arbeitsaufwand und den starken Druck von außen wird in diesem Zusammenhang stets thematisiert. Das Paradox, warum man freiwillig ein Ehrenamt ausübt, dessen negative Aspekte so offensichtlich sind, wird hier gesellschaftliches Verpflichtungsgefühl und die persönliche Verbunden-

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heit zu der hinter der Kommission stehenden Institution aufgelöst. Offenkundig ist das nicht nur für die Befragten selbst eine gute Lösung, sondern besonders auch für die Fakultäten, an denen die Kommissionen beheimatet sind. Die gängige Praxis, gerade emeritierte und pensionierte Mitglieder aus den eigenen Reihen für dieses „Ehrenamt“ zu verpflichten, unterstreicht diese These. Bei den Mitgliedern der Ethikkommissionen handelt es sich um Professionelle, deren Leben nicht von einem Beruf mit 35-Stunden-Woche geprägt war, sondern viel mehr von einer das ganze Leben (mit-)bestimmenden Aufgabe. Eine Profession ist, anders als ein „gewöhnlicher“ Beruf, nichts, was man mit einem bestimmten Alter einfach hinter sich lässt, sondern vielmehr Teil der Person selbst. „Professionen sind dann Berufe eines besonderen Typs. Sie unterscheiden sich dadurch, dass sie die Berufsidee reflexiv handhaben, also das Wissen und das Ethos eines Berufs 19 bewusst kultivieren […].“ Die Profession streift man nicht einfach ab, sie ist Teil der Biographie und somit zentraler Aspekt der eigenen Identität: P: Ja, weil man etwas Sinnvolles machen will auch im Alter, also da gibt’s unterschiedliche Typen, man will gerne im Verbund seiner Kollegen bleiben, Dinge weiterbetreiben, nicht in einem Moment abschalten und alles fallen lassen, sondern wenn man noch zur Verfügung stehen kann, wenn der Rat noch gefragt ist von anderen. Wenn man hier einfach noch äh involviert sein kann und und hier Dinge macht, von denen man gewisse Bedeutung zu- zubilligt, dann ist das eine Befriedigung. Andere ham mehr Befriedigung am Golfplatz oder spielen Bridge, versteh ich auch [I: Ja] oder oder geh’n nur Bergsteigen und so. Dazu bin ich vielleicht zu wenig kreativ oder zu her- bin ein zu großer Workaholik oder hänge zu sehr an meiner Tradition, an meiner bisherigen Tätigkeit, dass ich halt einfach ein Teil mehr von dem mach, was ich schon gemacht hab, also da denk ich auch manchmal drüber nach, aber es ist einfach, weil ich finde, dass das was ich mach, sinnvoll ist. Wenn ich sehen würde, dass es nicht mehr sinnvoll ist, oder nicht mehr gut gemacht werden kann, dann würd ich die Sache nicht mehr machen. Also es ist irgendwie auch Freude an der Arbeit, an den Problemen [I: Ja] Ja, – – – [wunderbar] (lacht) viele sagen, ich bin verrückt. (Pohl, Z. 83–96)

Dass diese Motivation nicht zuletzt über das Ethik-Label mit hervorgebracht wird, zeigt folgende Stellungnahme: T: Ja, ich hab an sich, als ich reingekommen bin gedacht, es geht mehr um Fragen, die jetzt allerdings ein Ethikkomitee bearbeitet [I: Mhm] Und, äh, es geht aber jetzt bei uns fast ausschließlich darum, äh, Forschungsanträge, äh, nach ethischen und nach rechtlichen und natürlich hauptsächlich nach medizinischen Gesichtspunkten zu begutachten, und aber ich hab dann, dadurch ne Menge gelernt natürlich und äh, auch äh, so Einblicke gewonnen, wie medizinische Forschung funktioniert und bin sehr beeindruckt von, von dem was die Mediziner können. Und wie ideenreich sie sind und was sie da an neuen Möglichkeiten suchen. (Thon, Z. 42–49)

19

R. Stichweh (1996), Professionen in einer funktional differenzierten Gesellschaft, in: A. Combe/W. Helsper (Hrsg.), Pädagogische Professionalität, Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns, Frankfurt a.M., S. 49–69, S. 51, Hervorh. G. A.

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Entscheidungspraxis der Ethikkommissionen

Hier wird deutlich, dass das Ethik-Label Bereitschaft zur Übernahme einer ehrenamtlichen Tätigkeit zu motivieren vermag und diese Motivation sogar dann aufrechtzuerhalten hilft, wenn die ursprüngliche Erwartung an die Tätigkeit faktisch enttäuscht wird. Das Ethik-Label invisibilisiert hier, gemeinsam mit den Besonderheiten eines professionellen Berufsverständnisses, den Behördencharakter und die damit verbundenen rechtlichen Restriktionen und die extrem hohe Arbeitsbelastung und schafft so die Möglichkeit, hochqualifizierte Mitglieder (zu einem großen Teil emeritierte aber auch aktive Ordinarien) auf ehrenamtlicher Basis zu gewinnen.

6.

Die Funktion(en) der Ethik in einer Gesellschaft der Gegenwarten

Funktionalistisch betrachtet ist die Uneindeutigkeit des Ethik-Begriffs und dessen gleichzeitige bedeutungsvolle Aufladung Lösung für verschiedenartige Probleme. Fasst man, wie oben erwähnt, Ethik in Anschluss an Ernesto Laclau als leeren Signifikanten, der leer nicht deshalb ist, weil er keine Bedeutung hat, sondern weil er mit Bedeutung überfrachtet und somit in seiner Gesamtheit nicht mehr festzulegen ist, lässt sich die praktische Potenz des Begriffs für potentiell konfliktträchtige Beratungs- und Entscheidungssettings erfassen. Ethik steht hier, ohne näher bestimmt werden zu müssen, zunächst für die positive Seite all dessen, was im Diskurs als Mangel, als Defizit erfahren wird. Indem die positive Seite in ihrer Unbestimmtheit gegeben ist, erlaubt sie die Rekonstruktion der negativen Seite in unterschiedlicher Weise. Mangelnde statistische Fallzahlschätzung ist hiermit ebenso wie „ein Loch im Bauch“ der Probanden im Rahmen des Kommissionsdiskurses plausibel 20 als unethisch auszuweisen. In seiner gleichzeitigen Unbestimmtheit und (positiven) Überdeterminiertheit bildet der Ethikbegriff gewissermaßen den Leitwert, an den die Beteiligten der Ethikkommissionsberatungen in ihrer je disziplineigenen Logik anschließen können, und über den es dennoch gelingt eine Vergleichbarkeit der – nach wie vor – radikal differenten Perspektiven herzustellen. Die Abgrenzung von allem was unethisch ist, ermöglicht nach innen die Identifikation mit den unterschiedlichsten Perspektiven über deren Einheit als ethische Perspektive. Auch wenn beispielsweise die juristische Logik für den Arzt nicht als handlungsleitende Sichtweise übernommen wird, kann sie doch als ethische und somit verfahrensrelevante Position anerkannt werden. Dies gelingt aber, wie ein letztes Interviewbeispiel zeigt, eben nur über dessen praktische Bewährung als ethisch.

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Dabei wird der leere Signifikant Ethik in unterschiedlichen bioethischen Gremien je ganz unterschiedlich „gefüllt“, wobei die Spezifika der jeweiligen Form und Funktion dieser Ethik entscheidend von den Rahmenbedingungen des jeweiligen Gremiums geprägt sind. Vgl. G. Atzeni/E. Wagner (2010), Ethik als institutionalsierte Dauerreflektion. Zur Funktion der Unbestimmtheit in medizin-ethischen Beratungsgremien, in: Verhandlungen des 34. DGS-Kongresses in Jena, Wiesbaden (im Erscheinen).

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Man würde [den] Juristen schon natürlich fragen, ob er wirklich ein ethisches Problem damit hat – also es ist nicht so, dass einer sagt (murmelt) nö nicht, […] und dann äh sagt man OK, nehm mas auf ins Votum. Sondern wir stellen da durchaus Fragen, äh ob es nicht doch n Weg gäbe oder so […] und dann gibt’s eben oft typischerweise die Diskussion zwischen Medizinern […] und den Juristen und wenn dann der Jurist sagt, also er sieht da eigentlich kei Möglichkeit, aus dem und dem Grund, – – äh selbst wenn es einem ned passt, sagt man dann OK; der weiß wie’s ist. (Guth, Z. 762–770)

Im Anschluss an Urs Stähelis Überlegungen zum Begriff Schönheit lässt sich auch über den leeren Signifikanten Ethik sagen, „dass der Signifikant, welcher die Identität eines Diskurses ausdrückt, zwar als besonders bedeutungsreich erscheint, gleichzeitig aber nur funktionieren kann, weil er zunehmend von jeglicher Bedeutung entleert wird. Er nimmt damit eine Stellung ein, die zwischen dem Außen und Innen eines Diskurses oszilliert und damit gerade die konstitutive Differenz des 21 Vergleichsarrangements darstellen kann.“ Der Clou am Begriff der Ethik ist gerade, dass er formal nicht näher bestimmt ist und dass deshalb seine Bedeutung erst in den verschiedenen Kontexten seiner Bewährung praktisch hergestellt wird. Die Invisibilisierungsfunktion der Ethik, die ich unter dem Begriff „unsichtbare Behörde“ angedeutet habe, hängt damit eng zusammen. Die positive Überdeterminiertheit des Ethik-Labels ermöglicht es die behördlichen Aufgaben der Kommissionen mit dem Ernst gesellschaftlicher Bedeutsamkeit aufzuladen und unter diesem Label Motivationen zu erzeugen und Loyalitäten zu bündeln. Dies geschieht ohne die genaue Fassung des Begriffs von vorneherein festzulegen und damit wiederum Ablehnung zu riskieren. Jenseits dieser soziologischen Mikroanalyse verweist die Funktion der Ethik in den Ethikkommissionen des Arzneimittelgesetzes auf eine funktional differenzierte Gesellschaft innerhalb derer diese Diskurse stattfinden. Ohne Spitze, ohne zentrale Steuerungsinstanz, zeichnet sich diese gerade dadurch aus, dass in ihr die differenten gesellschaftlichen Logiken nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern in konkreten Situationen ohne extern bestimmte Abstimmungsregeln und Rangfolge aufeinandertreffen. Armin Nassehi fasst diese Konstellation unter das Konzept einer Gesellschaft der Gegenwarten: „Jegliches Ereignis, jegliche Handlung, alles Geschehen muss in einer Gegenwart tatsächlich stattfinden. Es muss sich bewähren und sich in Szene setzen können. Es muss das Problem lösen, über die nächste Gegenwart zu kommen und darin weder in Notwendigkeit festgelegt zu sein noch sich beliebig randomisiert vorzufinden. Weder notwendig noch zufällig sich zu 22 ereignen macht letztlich das Grundproblem operativer Gegenwarten aus […].“ Gesellschaftliche Strukturen, Abstimmungsregeln entstehen dort, wo sich Lösungen für das Problem zumindest punktueller/temporärer gesellschaftlicher Koordi21 22

U. Stäheli (2000), Die Kontingenz des Globalen Populären, in: Soziale Systeme, 6(1), S. 85–110, S. 94. A. Nassehi (2006), Der soziologische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M., S. 387.

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Entscheidungspraxis der Ethikkommissionen

nation etablieren indem sie sich bewähren. Eine solche gesellschaftlich sich bewährende Koordinationsmöglichkeit scheint die Ethik in der dargestellten Unbestimmtheit bereitzustellen.

Ist die ethische Dauerreflexion institutionalisierbar? Über die politische und rechtliche Funktion von Ethikkommissionen – eine persönliche Betrachtung Christiane Druml

1.

Einleitung

Eine Reflexion über meine Tätigkeiten in den vergangenen zwei Jahrzehnten gestattet den Blick auf eine Periode, die sehr prägend für die klinische Forschung, also die Forschung „am Menschen“ insgesamt war. In dieser Zeit hat auch eine internationale Institutionalisierung der Bioethik und der Einrichtung und Weiterentwicklung von Forschungsethikkommissionen stattgefunden. Ethische Fragestellungen der klinischen Forschung liegen in einem Spannungsfeld zwischen den Aufgaben von Bioethikkommissionen und Forschungsethikkommissionen. Jede dieser Institutionen bearbeitet ein abgegrenztes Gebiet, Überschneidungen sind jedoch auf verschiedenen Ebenen möglich. Dieser Text befasst sich vorwiegend mit den Zuständigkeiten und Aufgaben von Forschungsethikkommissionen, das heißt mit jenen Gremien, die garantieren sollen, dass Forschung am Menschen nach akzeptierten, international koordinierten ethischen und rechtlichen Grundsätzen erfolgt und die einzelnen Forschungsprojekte auf ihre ethische Akzeptanz begutachtet werden. Dagegen haben Bioethikkommissionen ein anderes Mandat; sie beraten Regierungen oder Parlamente in Bezug auf Fragestelllungen, die sich durch die Weiterentwicklung in den Lebenswissenschaften ergeben. Die jeweiligen Aufgabenbereiche sind scharf abgegrenzt, können sich aber in einzelnen Aspekten überschneiden. Forschungsethikkommissionen sind seit 1975 eingerichtet worden und damit viel früher entstanden als Bioethikkommissionen. Einzelne von ihnen gibt es seit Beginn der 80er Jahre wie beispielsweise die französische Bioethikkommission (Comité Consultatif National D’Ethique), großteils wurden sie später etabliert, wie in Österreich die Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt 2001 und ebenso in Deutschland der Nationale Ethikrat 2001, der im Feber 2008 als Deutscher Ethikrat neu konstituiert wurde. Forschungsethikkommissionen wurden mit der 1.Revision der Deklaration von Helsinki im Jahr 1975 eingeführt. Die Deklaration von Helsinki als Dokument des Weltärztebundes, der World Medical Association, das Regeln für die Forschung am Menschen aufstellt und sich an alle in der biomedizinischen Forschung Tätige richtet, kann als das wichtigste Dokument für die klinische Forschung betrachtet werden.

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Ist die ethische Dauerreflexion institutionalisierbar?

Diese Deklaration wurde erstmals 1964 verabschiedet und hat seither mehrere Revisionen und Änderungen erfahren. Die Bedeutung der Deklaration von Helsinki liegt auch darin, dass sie in denjenigen Gebieten der Welt, in denen zwar Forschung durchgeführt wird, jedoch keine spezifischen gesetzlichen Regelungen für die klinische Forschung am Menschen vorhanden sind, zur Anwendung kommt. Dies betrifft vor allem die Entwicklungsländer, die auf die Durchführung von Forschungsprojekten zur Behandlung der durch Armut hervorgerufenen Erkrankungen wie Malaria, Tuberkulose und HIV angewiesen sind. In der 1. Revision im Jahr 1975 wurde festgehalten, dass forschende Ärzte ihren Versuchsplan schriftlich niederlegen und dieses Protokoll einem eigens konstituierten unabhängigen Gremium – eben der Ethikkommission – zur Begutachtung und Beratung vorlegen müssen. Gleichzeitig wurden die Herausgeber medizinischer Zeitschriften angehalten, nur solche Manuskripte von Forschern zu veröffentlichen, die dieses Gebot befolgt haben. Die Medizinische Fakultät der Universität Wien hat im Jahr 1978 eine Ethikkommission eingerichtet, ihr Vorsitzender war der damalige Dekan Professor DDr. Otto Kraupp. In Europa wurde für ein derartiges Gremium die Bezeichnung „Ethikkommission“ gewählt, wiewohl die ursprünglichen Ethikkommissionen in den USA, des „Geburtslandes“ dieser Form von Kommission bezüglich ihrer Aufgabenbereiche treffender bezeichnet wurden: als Institutional Review Board, oder auch Human Subjects Committee. In Frankreich hatten diese Kommissionen einen sehr bezeichnenden Namen, der ausdrückt, dass es sich um ein Gremium handelt, das zum Schutz der Personen in der biomedizinischen Forschung dient: Comité Consultatif de Protection des Personnes dans la Recherche Biomédicale, jetzt nur mehr Comité de Protection des Personnes. Mit der Bezeichnung „Ethik“Kommission war aber schon ein Programm verbunden, dass neben der Berücksichtigung der rechtlichen und wissenschaftlichen Grundlage der einzelnen vorgelegten Anträge auch ein für die Mitglieder nicht immer klar definierter „ethischer“ Aspekt in die Beurteilung einfließen muss. In den Zeitraum meiner Tätigkeit fällt die Einrichtung, Institutionalisierung und inhaltliche Weiterentwicklung von Forschungsethikkommissionen. Als ich bei der Emeritierung des damaligen Vorsitzenden im Jahr 1992 meine Arbeit im Büro der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Universität Wien begonnen hatte, bestand das Büro aus nichts Anderem als einer kleinen Anzahl an Ordnern und anderen schriftlichen Unterlagen wie etwa Korrespondenz mit dem Dekanat und ähnlichem. Es gab keine Richtlinien für die Vorgangsweisen, keine Identifikationsnummern, keine speziellen Formulare, keinen Stempel; schon gar keine nationale oder internationale Zusammenarbeit. Es gab praktisch weder spezielle gesetzliche Vorschriften, noch Transparenz, auch keine Unterlagen, ob und wo es überall in Österreich weitere Ethikkommissionen gab, noch wie deren Zuständigkeiten geregelt waren.

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Nichtsdestotrotz mussten die forschenden Ärzte ihre Projekte einreichen, die dann extern begutachtet wurden. Die Kommission, die damals schon interdisziplinär zusammengesetzt war, hat jedes Projekt besprochen und beurteilt. So habe ich im Laufe der Zeit jeden einzelnen Antrag, jede klinische Studie am Menschen, die am Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien beziehungsweise an der Medizinischen Fakultät durchgeführt wurde, kennengelernt. Ich selbst habe unzählige Prüfpläne und Patienteninformationen gelesen, habe die Beurteilungen der Fachgutachter erfahren und dann die Diskussionen innerhalb der Kommission gehört. Und dieses Wissen, diese Erkenntnisse, die ich in der Bearbeitung unzähliger Projekte gewonnen habe, sind unschätzbar für die weitere Entwicklung der Aufgabenbereiche der Ethikkommission. Mit dem wachsenden Bewusstsein über ethische Dimensionen in medizinischen Wissenschaften und der rasanten Entwicklung der Forschungsethik als Teil der Bioethik habe ich zunehmend die Gelegenheit ergriffen, an „theoretischen“ Diskussionen zu diesen breiten Themen der Bioethik im Rahmen von medizinischen, juristischen oder philosophischen Veranstaltungen teilzunehmen. Diese Diskussionen haben vor allem das „Humanexperiment“ und all seine Risiken zum Thema. Andererseits war mir aus meiner Tätigkeit klar, dass der größte Teil der Forschungsprojekte nichts Anderes ist als die „banale“ Untersuchungen von Blutproben auf bestimmte Parameter, oder der Vergleich zweier zugelassener erprobter Medikamente miteinander. Auch wenn das in der öffentlichen Wahrnehmung anders erscheint, so erfüllt doch der größte Teil der Studien die Kriterien „minor risk, minor burden“, ist also nicht mit wesentlichen Risiken für Patienten/ Probanden verbunden. Sicher, viele Therapien, die Anfang der 90er Jahre hochexperimentell waren, sind jetzt im Standardrepertoire jedes Provinzspitals und werden von der Sozialversicherung bezahlt. Im Folgenden möchte ich einige Eckpunkte, Thesen darlegen, die mir als ganz wesentlich nicht nur für die Arbeit von Forschungsethikkommissionen, sondern für die Weiterentwicklung der biomedizinischen Wissenschaften in unserer Gesellschaft insgesamt erscheinen:

2.

Fünf Thesen zur Arbeit von Forschungsethikkommissionen

Erste These: Einbeziehung der Praxiserfahrung Somit bin ich bei der ersten These meines Beitrages angelangt: Es führt kein Weg an der Einbeziehung der Praxiserfahrung, an der Expertise, vorbei. Ethisches Verhalten in der Medizin lässt sich nicht vom fernen Schreibtisch des Juristen oder Theologen bewerten und per „Handlungsanweisung“ oder Zuruf regulieren. Nur ein Miteinander der Disziplinen ist ein gangbarer Weg.

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Ist die ethische Dauerreflexion institutionalisierbar?

Ich habe durch die Jahre gesehen, dass nur der mit der Materie und vor allem den Patienten vertraute Arzt eine Patienteninformation für ein klinisches Forschungsprojekt wahrhaftig beurteilen kann, denn nur er weiß, wie es diesen speziellen Patienten mit ihrer Erkrankung in einer bestimmten Phase geht, was ihnen zuzumuten ist, was sie belastet und ihnen Schmerzen bereitet und wie es ihnen zu erklären ist. Die ethische Expertise muss ein Addendum zum Fachwissen sein, das Fachwissen die Grundlage, auf der aufgebaut wird. Selbstverständlich ist auch die Laienbeteiligung wichtig. Laien sind das Korrektiv in der Begutachtung von Fachleuten, sie stellen die unbefangenen Fragen, sie sind damit unverzichtbar. Aber sie müssen auch eine grundsätzliche Ausbildung über das Wesen und den Wert der klinischen Forschung haben, um ihre Funktion korrekt zu erfüllen. Der Anteil an Laien sollte jedoch nicht zu hoch sein, da in einem derartigen Fall die Einbeziehung von zusätzlichen externen Gutachtern wieder eine größere Bedeutung erhielte und damit die Probleme nur auf eine andere Ebene verschoben wären. Die Ethikkommission der Medizinischen Universität Wien hat im letzten Jahr 1201 Anträge behandelt. Davon handelt es sich nur bei einem kleineren Teil, in etwa einem Viertel der Fälle, um Arzneimittelprüfungen. Von diesen ist wieder nur ein kleiner Teil von der Industrie in Auftrag gegeben. Die weitaus größte Zahl an Studien, die wir beurteilen, kommt aus dem Bereich der angewandten akademischen Forschung. Das sind neue Methoden, Projekte der Grundlagenforschung, Genanalysen zu wissenschaftlichen Zwecken und ähnliches mehr. Bei diesen Anträgen handelt es sich zu einem nicht unbeträchtlichem Teil um Diplomarbeiten von Studenten der Medizinischen Universität, die sich zumeist mit Daten von Menschen – von Patienten – in retrospektiver Aufarbeitung befassen, sogenannte „chart reviews“. All diese Anträge bedürfen auch eines Votums einer Ethikkommission: Die Deklaration von Helsinki verweist ausdrücklich darauf, dass sie unter klinischer Forschung am Menschen auch alle Studien mit – identifizierbaren – menschlichen Daten und menschlichem Material – also Blut, Gewebe, Körperflüssigkeiten versteht. In der Beurteilung dieser Anträge sind die universitären Ethikkommissionen ein essentieller Teil des Curriculums einer medizinischen Universität geworden. Die Beurteilung all dieser Anträge ist nur mit Grundwissen und Erfahrung möglich. In der Diskussion mit dem Antragsteller kann eben nur der Experte die Diskussion so führen, damit Schwachstellen erkannt und allfällige Risiken oder Gefährdungen für die Versuchsteilnehmer identifiziert werden können. Einschlägige Richtlinien und Gesetze wie auch die Deklaration von Helsinki verlangen, dass die Ethikkommissionen die Prüfpläne auf ihre wissenschaftliche Aussagekraft beurteilen. Eine klinische Prüfung, die wissenschaftlich nicht aussagekräftig ist, ist auch unethisch, da sie Menschen gefährdet – oder vielleicht auch nur belastet, oder ihre Zeit in Anspruch nimmt, ohne dass sie ein vernünftiges Ergeb-

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nis, das dann auch auf andere Personen angewandt werden kann, hervorbringen kann. Zweite These: Institutionalisierung der Ethik in der Medizin Die zweite These ist in direkter Verbindung zur ersten These, dem Gebot nach Einbeziehung der praktischen Erfahrung, der Expertise zu sehen: Wir brauchen eine Institutionalisierung der Ethik in der Medizin. Ethik in der Medizin ist zu bedeutend, als dass sie nur in „second line“ in philosophischen oder theologischen Einrichtungen betrieben und gelehrt werden könnte. Wie schon oben gesagt, muss das ethische Wissen die Ergänzung und Vertiefung des Fachwissens sein. Dies auch deshalb, da es in Österreich praktisch keine Einrichtungen in Medizinischen Universitäten auf dem Gebiet der Medizinethik gibt: es gibt keine Departments oder Professuren für medizinische Ethik. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass die medizinischen Universitäten bis vor einigen Jahren ein integraler Teil der Stamm-Universitäten waren und dort auch von den großen philosophischen Instituten profitiert haben. Das ist nun durch die 2005 erfolgte Abspaltung der Medizinischen Fakultäten von den Universitäten nicht mehr so einfach und daher ist diese Materie Stiefkind der Lehre geworden. Wir verfügen über keine kontinuierliche Forschung auf diesem Gebiet, es gibt keine Habilitationen, keine internen Arbeitsgruppen und Ähnliches. Die Ethikkommissionen selbst können diese Funktion nicht ersetzen, ihre Aufgaben sind andere, sie sind nicht in die Lehre eingebunden. Dritte These: Internationalisierung der Ethik in der Medizin und der Bioethik Ethische Fragstellungen machen nicht an Grenzen halt. Diesbezügliche Beispiele stellen die Debatte über die Forschung an humanen embryonalen Stammzellen, die internationale, länderübergreifende klinische Forschung oder die Forschung in Entwicklungsländern dar. Für all diese Bereiche gibt es ein mehrschichtiges System an gesetzlichen Vorschriften, Richtlinien und ethischen Dokumenten, sowohl in den EU-Mitgliedstaaten, als auch weltweit. Dies ist ein Problem, da schon im Jahr 2000 die Europäische Union als Vision das Erreichen eines europäischen Forschungsraums, der „European Research Area“, zur Integration der wissenschaftlichen und technologischen Kapazitäten formuliert hat. Durch eine EU-weite gemeinsame Forschungspolitik sollen drei Ziele erreicht werden, ein „interner Markt“ für Forschung, auf dem Forscher, Wissen und Technologie mobil sind, eine wirksame Koordination nationaler und europäischer Forschungsaktivitäten und der Ausbau der Forschungsförderung auf europäischer Ebene.

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Ist die ethische Dauerreflexion institutionalisierbar?

Wir müssen mit der Europäischen Union eine gemeinsame Debatte zu strittigen Fragen der Bioethik führen. Biomedizinische Forschung basiert auf Zusammenarbeit und Vernetzung. Die zweimal jährlich durchgeführten Treffen der europäischen Bioethikkommissionen sind ein wichtiger Ort für diesen Austausch. Der Aspekt der Internationalisierung der klinischen Forschung in Europa wäre einfach zu lösen: Die Europäische Union ist aufgerufen, möglichst harmonische Forschungsregelungen in Europa zu etablieren, die grenzüberschreitende internationale Forschungsprojekte ermutigen und nicht verhindern. Derzeit sind wir – trotz der Forschungsrahmenprogramme – von einem einheitlichen Forschungsraum noch entfernt. Zu vielfältig sind die Regelungen für die Befassung von Ethikkommissionen in Europa, da zwar Richtlinien den Fokus vorgeben, die einzelnen EU-Mitgliedstaaten aber viel Freiheit haben diese Richtlinien national umzusetzen. Ein Beispiel einer heterogenen Situation in Europa ist die Versicherungspflicht für klinische Arzneimittelprüfungen. Einzelne Länder haben diese nach dem Modell einer Haftpflichtversicherung geregelt, andere nicht, was Auswirkungen auf Beweispflicht und ähnliches hat. Die Summen für Schadensfälle sind überdies sehr uneinheitlich. Dies bedeutet, dass die Patienten innerhalb ein und derselben klinischen Arzneimittelprüfung in Europa in unterschiedlichster Weise einen Versicherungsschutz haben. Ein anderer Aspekt ist weniger leicht, oder gar nicht zu lösen: Die Vielfalt der Weltanschauungen in Bezug auf ethisch umstrittenere Fragen, wie z.B. humane embryonale Stammzellforschung oder Fortpflanzungsmedizin, hat verschiedene gesetzliche Regelungen in den einzelnen Ländern zur Folge. Diese unterschiedlich permissiven gesetzlichen Regelungen in einzelnen Ländern führen unter anderem zu einem „Medizintourismus“, der wieder andere Ungleichheiten mit sich bringt, da vermögende Leute begünstigt sind. Vierte These: Diskurs in der Öffentlichkeit Eine der wesentlichen Aufgaben, die alle Bioethikkommissionen als Mandat haben, ist die Förderung des bioethischen Diskurses in der Öffentlichkeit. Dieses Mandat wird in den einzelnen Ländern auf mannigfaltige Weise ausgefüllt, sei es durch öffentliche Sitzungen, durch Publikationen, durch öffentliche Veranstaltungen oder durch verstärkte Einbeziehung der Jugend, um nur einige zu nennen. Eine Bioethikkommission tut gut daran, aktiv den Diskurs von ethischen Fragestellungen in die Öffentlichkeit zu tragen und mit Leben zu erfüllen. Erfolgreich wurde unter anderem die von mir 2008 begonnene Initiative „Bioethik an Schulen“ in Österreich angenommen, eine Initiative, bei der Mitglieder der Bioethikkommission Schulen besuchen um mit Schülern der 7. und 8. Klassen, also 16- bis 18-jährigen Jugendlichen, über aktuelle ethische Themen aus den Lebenswissenschaften zu diskutieren.

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Eine weitere Initiative, die in Österreich angeboten wird, ist die „Lange Nacht der Forschung“, die einmal im Jahr stattfindet und die es allen Interessierten ermöglicht, ungeachtet ihres Alters oder ihrer Ausbildung, an ausgewählte Forschungsstätten zu kommen und mit Wissenschaftler zu arbeiten oder zu diskutieren. Der Diskurs in der Öffentlichkeit kann nur auf Ebene der Bioethik geführt werden, Ethikkommissionen, die für die Begutachtung einzelner Forschungsvorhaben zuständig sind, haben in den meisten Fällen weder die Kompetenz, noch die Ressourcen dies zu tun. Eine der wichtigsten Aufgaben einer ausgewogenen Diskussion in der Öffentlichkeit ist es zu verhindern, dass die öffentliche Meinung durch Gruppeninteressen determiniert wird. Bioethikkommissionen sind Beratungsgremien, in denen die Meinungsfindung nicht immer einfach ist – in einer pluralistischen Gesellschaft wird es immer unterschiedliche religiöse, weltanschauliche und politische Standpunkte geben. Wichtig ist, dass die öffentliche Meinung nicht durch dogmatische Einzelinteressen determiniert wird, sondern ein moralischer Pluralismus zur Grundlage der öffentlichen Diskussion wird. Beispiele für eine einseitige öffentliche Diskussion sind in Österreich und in Deutschland die Ängste, die durch die „genfrei“ Debatten geschürt werden oder zum Beispiel auch die Befürchtungen eines Missbrauchs auf dem Gebiet der reproduktiven Medizin. Auf beiden, willkürlich aus der Vielfalt der bioethischen Fragestellungen in den Lebenswissenschaften herausgegriffenen Gebieten, fällt auf, dass der Diskurs vor allem über die negativen Aspekte und Gefahren, das Menetekel des „slippery slope“ geführt wird. Die positiven Seiten der Gentechnik wie auch der Reproduktionsmedizin werden in der öffentlichen Debatte weitgehend vernachlässigt. Fünfte These: Public Trust – Vertrauen in der Öffentlichkeit Hier schließt sich der Kreis, der die in diesem Text genannten Thesen verbindet: Einbeziehung des Experten und seiner Praxiserfahrung in die Diskussion, Institutionalisierung der Ethik in der Medizin in den Universitäten und einschlägigen Bildungseinrichtungen, Partizipation an internationalen Entwicklungen und Diskursen, die zur Verfassung und Implementierung von globalen Richtlinien und Regelwerken führen. All dies muss zu einer aktiven und verstärkten Diskussion mit der Bevölkerung führen, die letztlich das Vertrauen der Öffentlichkeit in die medizinischen Wissenschaften zum Ziel hat. Wissenschaft muss allerdings selbst das Vertrauen der Öffentlichkeit suchen. Die Vorurteile und Vorbehalte, die die Forschung in den Lebenswissenschaften in Österreich in der Bevölkerung begegnet, müssen durch aktives Zutun, durch Diskussion und Aufklärung als Bringschuld der Wissenschaftler gegenüber der Gesellschaft beseitigt werden. Forschung ist auch und vor allem eine Angelegenheit des Vertrauens.

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Ist die ethische Dauerreflexion institutionalisierbar?

Alle Bereiche der Lebenswissenschaften werden zunehmend spezialisierter, daher ist der Überblick für den Einzelnen, selbst für den Experten, erschwert bis unmöglich. Und was nicht überschaubar ist, wird nicht verstanden, ist fremd und löst Ängste aus. Eine wachsende Technologiefeindlichkeit – ich weise nochmals auf die „Genfrei-Debatten“ – und das Heraufbeschwören von Untergangsszenarien muss von den Forschern selbst bekämpft werden mit dem Ziel das Vertrauen der Öffentlichkeit zu gewinnen und zu erhalten. Dazu sind zwei Aspekte entscheidend: Einerseits die weitestgehende Transparenz der medizinischen Forschung in der Öffentlichkeit, die Verfolgung von „good scientific practice“ Richtlinien und andererseits verstärkte Öffentlichkeitsarbeit. Die Gesellschaft als gesamtes, jeder einzelne sollte ein geschärftes Bewusstsein für solche Fragen haben und in diesen Diskussionen eingebunden sein. Dazu sind die nationalen Bioethikkommissionen aufgerufen, die Öffentlichkeit in diesen Diskurs einzubeziehen.

3.

Synopsis

Der Zeitraum meiner beruflichen Tätigkeit für die Forschungsethik umfasst eine Periode, in der ein grundlegender Wandel darin stattgefunden hat, wie medizinische Studien am Menschen, seien dies Patienten oder auch gesunde Versuchspersonen, vorgenommen werden sollen. In den letzten zwei Jahrzehnten sind international anerkannte und abgestimmte wissenschaftliche, rechtliche und ethische Kriterien definiert worden, nach denen Forschung am Menschen durchgeführt werden soll oder darf. Damit diese Kriterien erfüllt werden, wurden weltweit Forschungsethikkommissionen etabliert. Zunächst primär für die Wahrung der Sicherheit und der Rechte von in medizinische Studien aufgenommenen Personen eingerichtet, haben diese Forschungs-Ethikkommissionen heute ein breites Aufgabenspektrum erhalten. Sie beurteilen die methodische und inhaltliche Qualität von Forschungsprojekten („schlechte Forschung ist unethisch“), die Eignung der an den Projekten beteiligten Personen, sorgen dafür, dass diese nach internationalen Regeln („Good Clinical Practice“) durchgeführt werden, dass klinische Wissenschaft transparent, vertrauenswürdig und offen ist, sowie humanistischen Zielen der Allgemeinheit verpflichtet bleibt. Um diese Ziele zu erreichen und eine immanente Forschungsskepsis bzw. auch Forschungsfeindlichkeit abzubauen, ist ein breiter öffentlicher Diskurs über ethische Fragen der biomedizinischen Forschung in der Öffentlichkeit essentiell.

Bioethik und Biopolitik1 Ulrich H.J. Körtner

1.

Politik und Ethik des Lebens

Über einen Mangel an Aufmerksamkeit braucht sich die Disziplin der Ethik derzeit nicht zu beklagen. Im öffentlichen – und das heißt auch politischen – Diskurs eines 2 sich als „Risikogesellschaft“ begreifenden Gemeinwesens ist der Bedarf an Ethik in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Die Frage nach dem Ethos der Wissenschaft gehört ebenfalls dazu. So sind es heute gerade ethische Fragen, welche das öffentliche Interesse an Forschung und Wissenschaft wecken. Gentechnik, Klonen, Stammzellforschung, das sind die Reizworte in der öffentlichen Debatte. Mittlerweile verzichtet kaum mehr ein Staat auf ein oder mehrere beratende Organe in ethischen, konkreter bioethischen Fragestellungen, welche die Entwicklung der modernen (Natur-)Wissenschaft und Forschung mit sich bringt. Auf Grund ihres schon langjährigen Bestehens sei lediglich beispielhaft auf das französische Comité consultatif national d`ethique pour les sciences de la vie et de la 3 4 santé (1983) , den Dänischen Nationalen Ethikrat (1988) oder den Nationalen 5 Bioethikrat in Italien (1990) hingewiesen. Inzwischen haben alle Mitgliedsstaaten der EU vergleichbare Kommissionen, die teilweise – so in Ungarn, in der Slowakei 6 und Rumänien – beim Gesundheitsministerium angesiedelt sind, teilweise nicht auf die Bioethik beschränkt sind, sondern sich – wie in Spanien – mit dem gesamten Bereich der Wissenschafts- und Technikethik befassen. Manche dieser Kommissionen wurden vor einem Jahrzehnt eingesetzt, als die internationale Debatte über die Forschung an humanen embryonalen Stammzellen ihren ersten Höhepunkt 7 8 9 erreichte, so zum Beispiel in Deutschland , in der Schweiz und in Österreich .

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Gastvorlesung an der Reformierten Theologischen Universität Debrecen, 11.Februar 2009. Vgl. U. Beck (1986), Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. http://www.ccne-ethique.fr/ [5.6.2010]; G. Maio (1995), Die französische nationale Ethikkommission, Zeitschrift für medizinische Ethik 41, 1995, S. 291–299. http://www.etiskraad.dk/ [5.6.2010]. http://www.palazzochigi.it/bioetica/ [5.6.2010]. Zum Stand der Bioethik in Ostmittel- und Osteuropa siehe die Beiträge von J.N. Neumann (Überblicksartikel), G. Jobbágyi/K. Nyéky (Ungarn), T. Matulic (Kroatien), D. Pohunková (Tschechien), I. Boyko (Ukraine), J. Glasa/J. Dacok/K. Glasová (Slowakei), K. Glombik (Polen), in: ZME 53, 2007, H.4. 2001 wurde in Deutschland der Nationale Ethikrat durch den Bundeskanzler eingesetzt. Daneben gab es über zwei Legislaturperioden eine Enquetekommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages. An die Stelle der genannten Gremien ist 2008 der Deutsche

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Bioethik und Biopolitik

Biopolitik ist freilich längst nicht mehr eine ausschließlich nationale, sondern eine internationale, z.B. gesamteuropäische Angelegenheit. Auch bioethische Fragen lassen sich nicht losgelöst von ihrem biopolitischen, und das heißt supranationalen Kontext diskutieren. So gibt es z.B. bei der EU-Kommission eine gesamteuropäische Ethikkommission, die European Group on Ethics in Science and New 10 Technologies (EGE). Daneben gibt es das Forum Nationaler Ethikkommissionen 11 (NEC Forum). Auf globaler Ebene gibt es drei Ethikkommissionen, die bei der UNESCO angesiedelt sind, nämlich das International Bioethics Committee (IBC), das Intergovernmental Bioethics Committee (IGBC) sowie die World Commission 12 on Ethics of Scientific Knowledge and Technology (COMEST). Diese Entwicklung gibt Anlass, grundsätzlich über das Verhältnis von Bioethik 13 und Biopolitik nachzudenken. Der Begriff der Biopolitik taucht zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf. Einer der ersten, der ihn verwendete, dürfte der schwedische 14 Politologe Rudolf Kjellén (1864–1922) gewesen sein. Im Anschluß an Thomas Lemke lassen sich zwei Grundtypen von Biopolitik unterscheiden. Der eine be15 trachtet das Leben als Grundlage der Politik, der andere als ihren Gegenstand. Der erste Grundtypus umfasst unterschiedliche naturalistische Konzepte, für die „das Leben“ der mythische oder metaphysische Ausgangspunkt wie auch die normative Richtschnur der Politik ist. Den zweiten Grundtypus bilden politizistische Ansätze, welche Lebensprozesse als Gegenstand der Politik in den Blick nehmen. In diesem zweiten Sinne wird Biopolitik als jenes Feld politischen Handelns bezeichnet, „das seine Dynamik aus den neuen Erkenntnissen der Lebenswissenschaften entwickeln und folglich alles umschließen soll, was produktiv mit dem Leben um16 zugehen versucht“. Beide genannten Grundauffassungen von Biopolitik gehen

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Ethikrat getreten, der paritätisch von Regierung und Parlament besetzt wird (http://www. ethikrat.org/ [5.6.2010]). Ethik-Kommission im Bereich der Humanmedizin (NEK): http://www.nek-cne.ch/ [5.6.2010]. Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt http://www.bundeskanzleramt.at/bioethik [5.6.2010]). Vgl. dazu R. Gmeiner/U. Körtner (2002), Die Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt – Entstehungsgeschichte, Arbeitsweise und Bedeutung, in: Recht der Medizin 9, S. 164–173. Weiterführend: R. Gmeiner (2004), Politikberatung durch Bioethikkommissionen (Diplomarbeit), Wien. Informationen unter: http://ec.europa.eu/european_group_ethics/index_en.htm [5.6.2010]. http://ec.europa.eu/research/science-society/index.cfm?fuseaction=public.topic&id=75 [5.6.2010]. Weitere Informationen zu den drei genannten UNESCO-Kommissionen unter http://www.unesco. org/new/en/social-and-human-sciences/themes/bioethics/ [5.6.2010]. Zum Folgenden vgl. auch U. Körtner (2005), „Lasset uns Menschen machen“. Christliche Anthropologie im biotechnologischen Zeitalter, München, S. 131ff. (Kap. 6). Vgl. R. Kjellén (1920), Grundriss zu einem System der Politik, Leipzig; ders. (1924), Der Staat als Lebensform, Berlin. Zu Kjelléns Konzept von Biopolitik siehe T. Lemke (2007), Biopolitik zur Einführung, Hamburg, S. 20f. Vgl. T. Lemke (2007), Biopolitik zur Einführung, Hamburg, S. 19ff. und S. 35ff. V. Gerhardt (2001), Der Mensch wird geboren. Kleine Apologie der Humanität, München, S. 126. Zu den ethischen Fragen heutiger Biopolitik siehe auch A. Kuhlmann (2001), Politik des Lebens – Politik des Sterbens. Biomedizin in der liberalen Demokratie, Berlin; C. Geyer (2001) (Hrsg.),

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freilich noch immer von einer relativ stabilen Grenze zwischen Leben und Politik bzw. zwischen Natur und Kultur aus. Spätestens mit den biotechnologischen Mög17 lichkeiten der modernen „Life sciences“ und ihrer „Neuerfindung der Natur“ aber wird diese Grenze brüchig. Auch lösen sich die Grenzen zwischen Politik und Ökonomie, zwischen Produktion und Reproduktion auf, wie die Diskussion über eine 18 biobasierte Ökonomie und eine wissensbasierte Bioökonomie zeigen. Michel Foucault hat die These vertreten, dass sich die Politik in der Moderne insgesamt in Biopolitik verwandelt und nicht etwa nur ein Teilgebiet derselben ist: „Jahrtausende ist der Mensch das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendiges Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein 19 Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.“ Dabei werden die Grenzen zwischen moderner Biomedizin und den Life Sciences, die sich das nichtmenschliche Leben technisch nutzbar zu machen versuchen, fließend. In gewisser Hinsicht war freilich schon für Aristoteles alle Politik „Biopolitik“. Bekanntlich hat Aristoteles drei als bíoi bezeichnete Lebensweisen des Menschen – genauer gesagt des freien Mannes – unterschieden, nämlich das Leben, das sich auf den Genuss des körperlich Schönen richtet, das Leben des Philosophen und das Leben, das innerhalb des Gemeinwesens – der Polis – schöne Taten erzeugt. Letzteres bezeichnet Aristoteles als bíos politikós, der freilich vom bloßen Organisiertsein des menschlichen Zusammenlebens oder von despotischer Herrschaft 20 unterschieden ist. Die griechische Sprache und die antike Philosophie unterscheiden zwei Lebensbegriffe, nämlich bíos und zoé. Während als zoé die biologischen Phänomene bezeichnet werden, ist – unserem heutigen Sprachempfinden widersprechend – unter bíos die menschliche Lebensführung zu verstehen. Beiden gemeinsam ist nach antikem Verständnis die Zielgerichtetheit. Hat die zoé nach Aristoteles ihr Zentrum in der Seele, so der bíos im Subjekt bzw. im Geist.

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Biopolitik. Die Positionen, Frankfurt a.M.; P. Dabrock/L. Klinnert (2001), Ethische Hinweise zur argumentativen Sorgfaltspflicht bei der biopolitischen Urteilsfindung, in: P. Dabrock/L. Klinnert/S. Schardien (Hrsg.), Menschenwürde und Embryonenschutz. Herausforderungen theologischer Bioethik, Gütersloh, S. 317–325. Vgl. D. Haraway (1995), Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M. Vgl. dazu u.a. die weltweit diskutierten Arbeiten von M.Hardt/A. Negri (2000), Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a.M./New York; dies. (2004), Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt a.M./New York. Zu den Schwächen ihrer Analysen siehe T. Lemke (2007), Biopolitik zur Einführung, Hamburg, S. 87ff. Zum Thema siehe auch U. Körtner (2007), Bio-Based Economy aus ethischer Sicht, http://science.orf.at/science/koertner/149315 vom 30.8.2007 [5.6.2010]. M. Foucault (1977), Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M., S. 171; im Anschluß daran G. Agamben (2001), Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M., S. 12ff. Aristoteles, Politik 1254b30. Vgl. H. Arendt (122001), Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, S. 23.

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Bioethik und Biopolitik

Im Anschluß an Aristoteles hat Hannah Arendt zwischen drei Grundformen des tätigen Lebens unterschieden, nämlich zwischen Arbeiten, Herstellen und Handeln. Die dem bíos politikós gemäße Tätigkeit aber sei das Handeln, welches sich im Unterschied zu den anderen beiden Tätigkeitsformen „ohne die Vermittlung von 21 Materie, Material und Dingen direkt zwischen Menschen“ abspiele. Menschliches Leben in allen drei Lebensweisen (bíoi) aber heiße im Lateinischen „soviel wie ‚unter Menschen weilen‘ (inter homines esse) und Sterben soviel wie ‚aufhören 22 unter Menschen zu weilen‘ (desinere inter homines)“. Geburtlichkeit und Sterblichkeit seien die allgemeinsten Bedingungen des menschlichen Lebens im Allgemeinen wie des bíos politikós im Besonderen. „Und da Handeln […] die politische Tätigkeit par excellence ist, könnte es wohl sein, dass Natalität für politisches Denken ein so entscheidendes, Kategorien-bildendes Faktum darstellt, wie Sterblichkeit seit eh und je und im Abendland zumindest seit Plato der Tatbestand war, an dem 23 metaphysisch-philosophisches Denken sich entzündete.“ Unter dem Vorzeichen der modernen Biotechnologie ist freilich die Geburtlichkeit nicht länger der Anfang eines sich ohne jede materielle oder instrumentelle Vermittlung zwischen Menschen abspielenden Handelns, sondern Gegenstand technischer Manipulationen. Hoffnungen und Ängste gegenüber dem biotechnologischen Fortschritt kreisen um die Möglichkeit, dass der Mensch seinesgleichen völlig instrumentalisiert beziehungsweise animalisiert oder aber sich selbst abschaffen könnte, indem er mit den bisherigen biologischen Grundlagen der Gattung Homo sapiens sapiens auch deren Wesen radikal umgestaltet und aus sich selbst durch Züchtung eine neue Gattung hervorbringt. In dieser Gefahr besteht die eigentliche biopolitische Herausforderung, welche nun die Bioethik auf den Plan ruft. Recht verstanden ist die Bioethik so alt wie die Politik. Wenn Aristoteles vom bíos politikós spricht, so meint er ja gerade eine spezifisch menschliche und d.h. stets ethisch zu reflektierende Lebensweise. Auch die moderne Bioethik hat von vornherein eine biopolitische Funktion. Sie läßt sich mit Wolfgang van den Daele als 24 Versuch einer „Moralisierung der menschlichen Natur“ begreifen. So wird an die Unverfügbarkeit des Lebens apelliert, das doch in Wahrheit immer stärker verfügbar und manipulierbar ist. Durch moralische Kontrolle soll die Natur wieder unverfügbar gemacht und vor ihrer völligen Instrumentalisierung geschützt werden. Zu diesem Zweck möchte Habermas zwischen dem Unantastbaren – gemeint ist konkret die Menschenwürde, die er Embryonen noch nicht zugestehen möchte – und dem Unverfügbaren unterscheiden, das „unserer Verfügung aus guten moralischen

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H. Arendt (122001), Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, S. 17. Ebd. H. Arendt (122001), Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, S. 18. W. van den Daele (2000), Die Natürlichkeit des Menschen als Kriterium und Schranke technischer Eingriffe, in: Wechsel/Wirkung, Juni/August 2000, S. 24–31; im Anschluß daran J. Habermas (2001), Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt a.M., S. 46.

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Gründen entzogen sein“ kann. Die „postmetaphysische Enthaltsamkeit“ stoße 26 nämlich an ihre Grenzen, sobald es um Fragen einer „Gattungsethik“ gehe. 27 Dem Namen nach handelt es sich bei der Bioethik um die „Ethik des Lebens“. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich freilich, dass der Begriff des Lebens, auf den gegenwärtig kaum ein Ethiker glaubt verzichten zu können, vieldeutig und ungenau ist. Was man genau unter „Leben“ zu verstehen hat und welches Leben inwiefern Gegenstand menschlicher Verantwortung und ethischer Rechenschaft sein soll, wird oftmals nicht genau gesagt. In der bioethischen Diskussion überlappen sich philosophische Traditionen wie die Lebensphilosophie und ihr Vitalismus, Anleihen bei Schopenhauers Mitleidsethik und Nietzsches Lehre vom Willen zum Leben, Henri Bergsons Theorie von einem universalen Élan vital, utilitaristische Ansätze einer Ethik der Interessen und 28 biologisch-naturwissenschaftliche Kategorien. Entsprechend vieldeutig bleiben häufig die aus dem Lebensbegriff abgeleiteten ethischen Maximen, zum Beispiel diejenige Albert Schweitzers, gut sei es, das Leben zu bejahen, schlecht aber, das Leben zu verneinen. „Solange er nicht präzisiert wird, bedeutet auch Lebensbejahung alles Mögliche. Ausgiebiger Genuß von Wein, Weib und Gesang fällt ebenso darunter wie aufopferungsvoller Krankenhausdienst. Beide sind übrigens auch Lebensverneinung: Die Alkoholika greifen die Leber an, die Nachtwachen den 29 Kreislauf.“ Auch Lebenshingabe, wie sie A. Schweitzer gefordert hat, bleibt eine leere Forderung, solange nicht geklärt ist, an was für ein Leben man sich hingeben soll.

2.

Bioethik in der modernen Demokratie

Versuche, den Gefahren des biomedizinischen Fortschritts mit politischen Mitteln wirksam zu begegnen – z.B. durch gesetzliche Verbote und Einschränkungen –, können freilich mit den Grundwerten der persönlichen Freiheit und des Rechtes auf Selbstbestimmung kollidieren. Wachsende Wahlfreiheiten auf dem Gebiet der 25 26 27

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J. Habermas (2001), Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt a.M., S. 59. J. Habermas (2001), Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt a.M., S. 27. Vordenker einer modernen Bioethik waren A. Schweitzer und H. Jonas. Siehe v.a. A. Schweitzer (1969), Kultur und Ethik. Sonderausgabe mit Einschluß von Verfall und Wiederaufbau der Kultur, München, Nachdr. 1981; H. Jonas (1984), Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Gesellschaft, Frankfurt a.M. Für die katholische Bioethik siehe v.a. E. Schockenhoff (1993), Ethik des Lebens. Ein theologischer Grundriß, Mainz; D. Mieth (2002), Was wollen wir können? Ethik im Zeitalter der Biotechnik, Freiburg/Basel/Wien. Vgl. dazu C. Frey (1998), Zum Verständnis des Lebens in der Ethik, in: ders., Konfliktfelder des Lebens. Theologische Studien zur Bioethik, hrsg. u. eingel. v. P. Dabrock u. W. Maaser, Göttingen, S. 77–100. C. Türcke (21997), Kassensturz. Zur Lage der Theologie, Lüneburg, S. 100.

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Bioethik und Biopolitik

Biomedizin, z.B. im Bereich der Reproduktionsmedizin, entsprechen nämlich der liberalen Forderung nach Autonomie in der persönlichen Lebensführung. Bioethisch und -politisch ist folglich auszuhandeln, in welchem Umfang und mit welchem Recht die Gesellschaft bzw. der Staat die Inanspruchnahme biomedizinischer Möglichkeiten einschränken darf, weil davon gerade die Erhaltung der grundlegenden Bedingungen menschlicher Freiheit und wechselseitiger Anerkennung als 30 gleichberechtigte Personen abhängt. Die Durchsetzbarkeit biopolitischer Grenzziehungen hängt aber entscheidend davon ab, inwiefern die Mitglieder der Gesellschaft aufgrund eigener Einsicht zur „begründeten Enthaltsamkeit“ (Habermas), d.h. zur Selbstbegrenzung ihrer Ansprüche an den biomedizinischen und biotechnologischen Fortschritt bereit sind. Biopolitik kann sich freilich auch hinter der Bioethik verbergen. Durch die Institutionalisierung der Bioethik in Kommissionen, die von der Politik eingesetzt wer31 den, entstehen neue Formen der „Subpolitik“, die als solche nicht immer erkennbar und öffentlich kontrollierbar sind und in welcher Expertengremien eine ihnen oft selbst nicht ganz durchschaubare Rolle spielen. Welche Rolle spielt also die Bioethik in der modernen Demokratie? Wie lassen sich bioethische Diskurse in einer demokratisch verfassten Gesellschaft organisieren und führen? Um darauf zu antworten, müssen unterschiedliche Demokratiemodelle miteinander verglichen werden. Neben dem klassischen Modell der repräsentativen Demokratie stehen heute Modelle der partizipativen und der deliberativen Demokratie. Dementsprechend sind unterschiedliche Formen denkbar, wie die Basis für die biopolitische Diskussion verbreitert wird. Das klassische Modell sind Expertengremien, welche entweder die Regierung oder aber das Parlament beraten. Für das Modell der partizipativen bzw. direkten Demokratie steht zum Beispiel in Österreich und anderen europäischen Ländern das Instrument der Volksbegehren, die bei entsprechender Unterstützung im Parlament behandelt werden müssen. Dem Modell der deliberativen Demokratie entspricht das vor allem in Dänemark 32 erfolgreich erprobte Instrument der Konsensuskonferenz. Demokratiepolitisch ist die international zu beobachtende Konkurrenz bzw. fehlende Kommunikation zwischen Expertengremien und Parlamenten bedenklich, weil sie zu einer Schwächung der repräsentativen Demokratie führt. Instrumente partizipativer Demokratie sind freilich keine überzeugende Alternative. Sie berufen sich auf „das Volk“, das in plebiszitären Kampagnen immer neu erfunden wird, um Politik als mediale und emotionalisierte Veranstaltung zu inszenieren. Bürgerinitiativen und Volksbegehren funktionieren nicht ohne Medienkampagnen. Die öffentlichkeitswirksame Macht von Bildern wird der Macht von Parlamenten und Regie30 31 32

Vgl. J. Habermas (2001), Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt a.M., S. 49ff. U. Beck (1986), Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M., S. 301ff. Vgl. S. Joss (2000), Die Konsensuskonferenz in Theorie und Anwendung, Stuttgart.

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rungen entgegengesetzt. Auch die Rolle von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bei der biopolitischen Meinungs- und Willensbildung verdient eine differenzierte Betrachtungsweise. Einerseits stehen sie für einen Teil der Zivilgesellschaft, deren Stärkung heute allgemein gefordert wird. Bisweilen stellen sie recht wirkungsvoll eine Gegenöffentlichkeit und Gegenmacht her. Andererseits fehlt ihnen die demokratische Legitimation, welche Parlamente aufgrund von Wahlen haben. Die Forderung nach stärkerer Einbindung der Öffentlichkeit in die bioethische und biopolitische Debatte ist aus sozialethischer Sicht nachdrücklich zu unterstützen, stößt aber auf erhebliche Schwierigkeiten bei ihrer Einlösung. In der pluralistischen Gesellschaft gibt es nicht „die“ Öffentlichkeit, sondern unterschiedliche Öffentlichkeiten, die einander nur zum Teil wahrnehmen und sich nur selten zu der einen großen Öffentlichkeit – womöglich gar einer „Weltöffentlichkeit“ – zusammenführen lassen. „Die“ Öffentlichkeit bleibt letztlich ein soziologisches oder poli33 tisches Konstrukt. Einerseits besteht die „Erlebnisgesellschaft“ aus einer Fülle von Milieus, andererseits verändert sich auch die Landschaft der Medien, ohne welche sich Öffentlichkeit als Kommunikationsraum nicht herstellen lässt. Selbst das bisherige Leitmedium Fernsehen ist durch die Vielzahl von Kanälen ein Beispiel für 34 die „neue Unübersichtlichkeit“. Neben ihm hat sich inzwischen das Internet etabliert, welches ganz neue Kommunikationsformen schafft. Auch für die Meinungsforschung, welche zu einem unverzichtbaren Instrument der Politikberatung geworden ist, bleibt die öffentliche Meinung letztlich eine „black box“. In Anbetracht derart komplexer Rahmenbedingungen heutiger Biopolitik ist die Rolle von Ethikkommissionen ambivalent. Bisweilen wird die These vertreten, 35 Ethikkommissionen seien ein Beispiel für „Expertokratie“. Der Soziologe Zygmunt Bauman warnt vor der ausgreifenden Herrschaft wissenschaftlich-tech36 nischer Rationalität in Fragen der Lebenswelt. Die zu beobachtenden Entwicklungen auf dem Gebiet der Politikberatung legen jedoch eher die Vermutung nahe, dass sich Expertenwissen und Politik wechselseitig zu instrumentalisieren 37 versuchen. Die gesellschaftliche und politische Rolle von Ethik ist kritisch zu überdenken. Wissenschaftsethische Fragen sind immer schon wissenschaftspolitische Fragen. Dabei stehen einander nicht eine vermeintlich subjektive Moral – über Fragen der Moral, so ein häufig geäußerter Satz, kann man nicht abstimmen – und eine objektive Wissenschaft gegenüber. Vielmehr bilden moralische Werturteile und wissen33 34 35 36 37

G. Schulze (1992), Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M./New York. J. Habermas (1985), Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V, Frankfurt a.M. Vgl. H. Schelsky (1965), Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf/Köln, S. 439–480. Vgl. Z. Bauman (1995), Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt a.M. Vgl. dazu A. Bogner/W. Menz (2002), Wissenschaftliche Politikberatung? Der Dissens der Experten und die Autorität der Politik, in: Leviatan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 2002, S. 384–399.

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Bioethik und Biopolitik

schaftliche Sachurteile häufig einen gemischten Sachverhalt. Man denke nur an das Beispiel des Klimawandels, den wissenschaftlichen Streit um sein Ausmaß, den Anteil an anthropogenen Ursachen und notwendige Schlussfolgerungen für die 38 Umwelt- und die Wirtschaftspolitik. Ein weiteres Beispiel ist die Debatte um den 39 ontologischen, moralischen und rechtlichen Status von Embryonen. Auch der 40 Risikobegriff kann eine enge oder weite Definition erhalten. Wenn z.B. auch sozialpolitische Fragen in einen erweiterten Risikobegriff oder eine weite Fassung des „Vorsorgeprinzips“ eingehen, geraten wissenschaftliche Faktenerhebung, Ursachenforschung und ethische Bewertungen in eine komplizierte Gemengelage. Aufgabe der Ethik ist es, nicht nur vor dem ideologischen Missbrauch wissen41 schaftlicher Ergebnisse, sondern ebenso, „vor Moral zu warnen“ und deren Anwendungsbereich zu begrenzen. Der Theologie ist dieser Gedanke durchaus geläufig. Die reformatorische Tradition, vor allem das Luthertum, sieht in der Unterscheidung zwischen dem göttlichen, fordernden und richtenden Gesetz einerseits und dem von Schuld freisprechenden Evangelium andererseits die Hauptkunst aller Theologie. Im Sinne der funktionalen Systemtheorie Niklas Luhmanns kann man sagen, die Grundunterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium sei der binäre Code für das System christlicher – genauer gesagt protestantischer – Theologie. Modern gesprochen intendiert der theologische Code „Gesetz/Evangelium“ eine 42 Begrenzung der Moral und macht auf ihre Zweideutigkeiten aufmerksam. Zwischen Luhmanns Bestimmung der Aufgabe heutiger Ethik, und einer Reformulierung der reformatorischen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium bestehen also durchaus gewisse Konvergenzen. Der Beitrag der Theologie zum gegenwärtigen bioethischen Diskurs besteht nicht nur in einer schöpfungstheologischen Rekonstruktion der Formel von der Unverfügbarkeit oder dem Gegebensein des Lebens, sondern auch in der ethischen Applikation der Rechtfertigungslehre und ihrer Konsequenz der Entmoralisierung der christlichen Religion wie der Begrenzung der Moral in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft.

3.

Die Rolle der Kirchen im bioethischen und biopolitischen Diskurs

Notwendig ist es in diesem Zusammenhang auch, die Rolle der Kirchen im bioethischen Diskurs zu reflektieren. Mit Blick auf die bioethische Debatte in den deut38 39 40 41 42

Vgl. U. Körtner (2002), Ethische Reflexionen auf den Klimawandel. Zur Operationalisierbarkeit des Leitbildes der Nachhaltigkeit, in: Ethica 10, S. 5–31. Vgl. C. Kaminsky (1998), Embryonen, Ethik und Verantwortung. Eine kritische Bestandsaufnahme der Statusdiskussion als Problemlösungsansatz angewandter Ethik, Tübingen. Vgl. N. Luhmann (1991), Soziologie des Risikos, Berlin/New York. Vgl. N. Luhmann (1990), Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral, Frankfurt a.M., S. 41. Vgl. U. Körtner (22008), Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themenfelder, Göttingen, S. 40.

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schen evangelischen Landeskirchen hat Michael Nüchtern in einem Aufsatz zwischen zwei Arten von Moral unterschieden, die er für komplementär hält, nämlich zwischen einer Moral der Gewissensschärfung und einer Moral der Kompromisssu43 che. Mag die Alternative auch ein wenig schief formuliert sein, weil der Begriff des Kompromisses im theologischen Kontext eher negativ besetzt ist und häufig mit Opportunismus verwechselt wird, so stimmt es allerdings, dass Synoden und Kirchenleitungen in Deutschland bislang mehrheitlich die Rolle der Gewissensschärfer wählen. Das Gleiche gilt für die römisch-katholische Kirche und ihre Vorfeldorganisationen in Österreich, die auf einige biopolitische Entscheidungen der letzten Jahre, z.B. in der Frage der Forschung an embryonalen Stammzellen, einen erheb44 lichen Einfluß ausgeübt haben. 2004 hat eine parlamentarische Bürgerinitiative der Aktion Leben mit Unterstützung der katholischen Bischöfe ein Verbot jeglicher Forschung an embryonalen Stammzellen, ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik sowie ein umfassendes Klonverbot, also auch des Klonens zu therapeuti45 schen Zwecken gefordert. Die Evangelische Kirche in Österreich hat sich von dieser Initiative dagegen öffentlich distanziert und nimmt in bioethischen Fragen 46 eine weitaus differenzierte Position als die römisch-katholische Kirche ein. Allgemein überwiegen im deutschsprachigen Raum unter den kirchlichen Stellungnahmen zur Bioethik allerdings jene, die in alarmistischen Tönen vor dem „Menschen nach Maß“ warnen und der biomedizinischen Forschung strikte Grenzen setzen möchten. Nur so glaubt man offenbar, der christlichen Stimme im Ethikdiskurs der pluralistischen Gesellschaft Gehör verschaffen zu können. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Vergleich zwischen der biopolitischen Debatte in Deutschland und in den USA. „Während in den USA die Katholische Kirche und die fundamentalistischen Kirchen aus der Stammzellfrage einen Konflikt über den säkularen oder religiösen Charakter der USA machten und bewusst und explizit eine thematische Bindung an die Abtreibungsfrage suchten, eine Konstruktion, die von den Befürwortern der Forschung, man möchte fast sagen – mit Dank – aufgenommen wurde, fehlte der Debatte in Deutschland eine vordergründig religiöse Dimension, wie auch die Abtreibungsfrage und die Frage der 47 Rechte der Embryonen in keiner Weise im Vordergrund standen.“ Die Kirchen in Deutschland waren und sind peinlich darauf bedacht, das Problem des Embryonen43 44

45 46 47

M. Nüchtern (2001), Konfliktfeld Bioethik. Gibt es komplementäre Sichtweisen?, in: Materialdienst der EZW 2001/7, S. 219–227. Vgl. dazu U. Körtner (2003), Bioethische Ökumene? Chancen und Grenzen ökumenischer Ethik am Beispiel der Biomedizin, in: R. Anselm/U. Körtner (Hrsg.), Streitfall Biomedizin. Urteilsfindung in christlicher Verantwortung, Göttingen, S. 71–96, bes. S. 86ff. Zur kritischen Auseinandersetzung damit siehe U. Körtner (2004), Trojanische Pferde in Österreichs Biopolitik. Und eine Opposition im Tiefschlaf, Der Standard, 17.3.2004, S. 27. Vgl. die Stellungnahme der Evangelischen Kirche A.u.H.B. in Österreich vom 24.3.2004 (http://www.evang1.at/fileadmin/evang.at/doc_reden/biomed040316.pdf [5.6.2010]). H. Gottweis/B. Prainsack (2002), Religion, Bio-Medizin und Politik, in: M. Minkenberg/U. Willems (Hrsg.), Politik und Religion. Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 33/2002, S. 412– 432, hier S. 428.

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Bioethik und Biopolitik

schutzes in erster Linie nicht als religiöse Frage, sondern als ein komplexes ethischphilosophisches und verfassungsrechtliches Problem darzustellen. Während in den USA die gesellschaftliche Polarisierung zwischen den Kräften des religiösen Fundamentalismus und den Kräften des medizinischen Fortschritts stattfand, wurde der politische Konflikt in Deutschland als Auseinandersetzung zwischen den Vertretern von Menschenrechten und Solidarität und den Vertretern des Wissenschafts- und Forschungsstandorts Deutschland inszeniert. Dabei operieren die Kirchen im Rahmen des staatskirchenrechtlichen Modells einer Kooperation von Staat und Kirche, wogegen in den USA eine striktere Trennung zwischen Staat und Kirche besteht und auch die historischen Konfessionen freikirchlich organisiert sind. Erwähnenswert ist auch, dass sich in den USA die Presbyterian Church – also die Reformierte Kirche – und die United Church of Christ, das heißt zwei der großen „Main Churches“, klar für die Forschung an embryonalen Stammzellen ausgesprochen haben. Andere Kirchen haben gar keine offizielle Position dazu einge48 nommen. In Europa vertreten die reformierte Church of Scotland oder die Evan49 gelische Kirche in Österreich eine ähnliche Position.

4.

Bioethikkommissionen: Das Beispiel Österreichs

Was sind nun konkret die Aufgaben der österreichischen Bioethikkommission? Rechtlich ist sie mit den Beiräten vergleichbar, die es bei den verschiedenen Bundesministerien gibt. Ihre Rechtsgrundlagen und Aufgabenstellungen unterscheiden sich daher deutlich von Ethikkommissionen (sog. „Forschungs-Ethikkommissio50 nen“) , wie sie vor allem das Krankenanstaltenrecht, das Medizinprodukterecht, das Arzneimittelrecht und das Universitätsgesetz vorsehen. 48

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Vgl. H. Gottweis/B. Prainsack (2002), Religion, Bio-Medizin und Politik, in: M. Minkenberg/U. Willems (Hrsg.), Politik und Religion. Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 33/2002, S. 412–432, hier S. 429. General Assembly of the Church of Scotland, Board of Social Responsibility, May 2001, Abschnitt 4.4. Siehe auch: Therapeutic Uses of Cloning and Embryonic Stem Cells. A Discussion Document of the Bioethics Working Group of the Church and Society Commission Conference of European Churches, http://www.srtp.org.uk/clonin50.htm [5.6.2010]. – Verantwortung für das Leben. Eine evangelische Denkschrift zu Fragen der Biomedizin, im Auftrag des Evangelischen Oberkirchenrats A. und H.B. der Evangelischen Kirche A. und H.B. in Österreich erarbeitet von U. Körtner in Zusammenarbeit mit M. Bünker, Wien 2001. Wiederabdruck in: epd-Dokumentation 4/2002, S. 34–59. Vgl. dazu H. Baumgartner (2001), Die Ethikkommission und ihre Entscheidungen als Vorgabe für ärztliches Handeln, in: G. Diendorfer (Hrsg.), Medizin im Spannungsfeld von Ethik, Recht und Ökonomie. Berichte der 4. Österreichischen Medizinrechtstage, Linz, S. 207–303; W. Berka (1996), Rechtliche Probleme im Hinblick auf die Tätigkeit der Ethikkommissionen, in: T. Tomandl (Hrsg.), Sozialrechtliche Probleme bei der Ausübung von Heilberufen, Wien, S. 53–78; E. Deutsch (2001), Die Sorge für den nichteinwilligungsfähigen Patienten – eine Aufgabe der Ethikkommission?, RdM 2001, S. 106ff.; M. Kletecka-Pulker (2000), Seelsorger und Ethiker in Ethik-

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Der konkrete Aufgabenbereich der Bioethikkommission wird in § 2 Abs. 1 Verordnung BGBl. II Nr 226/2001 wie folgt definiert: „Beratung […] des Bundeskanzlers in allen gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen und rechtlichen Fragen aus ethischer Sicht, die sich im Zusammenhang mit der Entwicklung der Wissenschaften auf dem Gebiet der Humanmedizin und -biologie ergeben. Hierzu gehören insbesondere: 1. Information und Förderung der Diskussion über wichtige Erkenntnisse der Humanmedizin und -biologie und über die damit verbundenen ethischen Fragen in der Gesellschaft; 2. Erstattung von Empfehlungen für die Praxis; 3. Erstattung von Vorschlägen über notwendige legistische Maßnahmen; 4. Erstellung von Gutachten zu besonderen Fragen.“ Bei dieser Aufgabendefinition fallen einige Punkte auf (auf die an dieser Stelle aber nicht näher eingegangen werden kann): Die Benennung der Kommission deutet – im Unterschied etwa zur European Group on Ethics der EU-Kommission – auf eine Einschränkung auf Fragen der Bioethik hin und damit auf ein konkretes Anwendungsgebiet der Ethik, „welche(s) die moralische Bewertung von Eingriffen aller 51 Art in menschliches, tierisches oder pflanzliches Leben zum Ziel hat“ . Die zweite Einschränkung bezieht sich auf das Gebiet der Humanmedizin und -biologie. Damit erfolgt eine Abgrenzung zu anderen Materien bzw. Organen, z.B. zur Gentechnik52 kommission. Es kristallisieren sich zwei (überschneidende) Aufgabenfelder der Bioethikkommission heraus: Beratung des Bundeskanzlers einerseits bzw. Information und Förderung der Diskussion in der Öffentlichkeit andererseits. In den ersten drei Funktionsperioden hatte die Bioethikkommission 19 Mitglieder. Seit 2007 gehören ihr 25 Personen an, womit die gesetzlich festgelegte Obergrenze erreicht ist. Besonderer Wert wurde bei der Neubestellung auf ein ausgewogenes Verhältnis von Frauen und Männern sowie auf die Vertretung von Menschen mit Behinderungen gelegt. Die Mitglieder der Kommission werden vom 53 Bundeskanzler auf zwei Jahre bestellt, wobei Wiederbestellungen zulässig sind. Die oder der Vorsitzende hat zwei Stellvertreter. Alle drei werden nicht von der Kommission gewählt, sondern vom Bundeskanzler ernannt. Hauptkriterium für die Auswahl bzw. Mitgliedschaft in der Kommission ist einschlägiges Fachwissen auf bestimmten Fachgebieten wie Medizin (insbesondere Fortpflanzungsmedizin,

51 52 53

kommissionen, Österreichisches Archiv für Recht und Religion, S. 215ff; G. Luf (2001), Zur Ethik der Ethikkommissionen. Tätigkeit und Rechtsgrundlagen der Ethikkommissionen in Österreich, in: E. Bernat/E. Böhler/A. Weilinger (Hrsg.), FS für Heinz Krejci zum 60. Geburtstag, Wien, S. 1969–1981. So (Schweitzer) Nationale Ethikkommission (2002) (Hrsg.), Zur Forschung an embryonalen Stammzellen, Stellungnahme 3/2002, Bern, S. 30. V. Abschnitt (§§ 80 ff) Gentechnikgesetz. § 4 Abs. 1 Verordnung BGBl. II Nr. 362/2005. Die frühere Bestimmung, wonach die Mitgliedschaft auf maximal sechs Jahre begrenzt war, wurde 2005 aufgehoben.

52

Bioethik und Biopolitik

Gynäkologie, Psychiatrie, Onkologie, Pathologie, Molekularbiologie und Genetik), 54 Rechtswissenschaften, Soziologie, Philosophie und Theologie. Seit 2001 hat die österreichische Bioethikkommission zu folgenden Themen 55 Stellungnahme oder Berichte abgegeben : – Empfehlung für einen Beitritt Österreichs zur Biomedizinkonvention des Europarates (11.2.2002) – Stellungnahme zur Frage der innerstaatlichen Umsetzung der BiotechnologieRichtlinie der EU (6.3.2002) – Stellungnahme zur Stammzellenforschung im Kontext des 6. Rahmenprogramms der EU im Bereich der Forschung, technologischen Entwicklung und Demonstration als Beitrag zur Verwirklichung des europäischen Forschungsraums (3.4./8.5.2002) – Zwischenbericht zum reproduktiven Klonen (12.2.2003) – Stellungnahme zum Entwurf einer Novelle des Fortpflanzungsmedizingesetzes (10.3.2004) – Bericht zur Präimplantationsdiagnostik (Juli 2004) – Thesen zur Debatte „Kind als Schaden“ aus Anlass divergierender Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes (18.4.2007) – Bericht zu Biobanken für die medizinische Forschung (9.5.2007) – Nanotechnologie, Katalog ethischer Probleme und Empfehlungen (13.6.2007) – Stellungnahme zu Nabelschnurblutbanken (19.8.2008) – Empfehlungen mit Genderbezug für Ethikkommissionen und klinische Studien (15.11.2008) – Stellungnahme zur Forschung an humanen embryonalen Stammzellen (16.3.2009) – Stellungnahme zu ethischen Aspekten der Entwicklung und des Einsatzes Assistiver Technologien (13.7.2009) – Stellungnahme zu Gen- und Genomtests im Internet(10.5.2010) In den vorangegangenen Funktionsperioden wurde außerdem am Thema der Forschung an Nichtzustimmungsfähigen gearbeitet, ohne schon eine abschließende Stellungnahme vorzulegen. Auch die im Zwischenbericht zum reproduktiven Klonen in Aussicht gestellte ausführliche Stellungnahme zur Anwendung des Klonens auf den Menschen, zum Embryonenschutz und zur Forschung an Embryonen, zur Präimplantationsdiagnostik sowie zu weiteren Fragen der Fortpflanzungsmedizin lässt weiter auf sich warten. Die Einsetzung der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt war anfänglich von vorrangig kritischen Stimmen begleitet. Eine wesentliche Kritik grundlegender Art bezieht sich auf die Zusammensetzung der Kommission. Nach Ansicht einiger Kommentatoren und NGOs sind Laien und potenziell durch den biomedizi54 55

Siehe die demonstrative Aufzählung in § 3 Abs. 2 Verordnung BGBl. II Nr. 226/200. Die Mitgliedschaft in der Kommission ist übrigens ein unbesoldetes Ehrenamt. Die Dokumente sind auf der Website der Bioethikkommission abrufbar: http://www.bundeskanzleramt.at/site/3458/default.aspx [5.6.2010].

Körtner

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nischen Fortschritt Betroffene nicht eingebunden, ist die Bioethikkommission zu 56 wissenschafts- und forschungsfreundlich bzw. mit „nur vier (naturwissenschaft57 lich spezialisierten) Frauen“ besetzt worden. Diesen Forderungen nach einer demokratische(ren) Zusammensetzung von Ethikgremien kann aber auch entgegengehalten werden, dadurch würde die parlamentarische Debatte – ohne dazu legitimiert zu sein – vorverlagert. Auf der anderen Seite kann gesagt werden, dass die personelle Besetzung von dem Bestreben bestimmt ist, den Diskurs disziplinenübergreifend bzw. multi- und interdisziplinär und unter Einbeziehung unterschiedlicher Interessen zu ermöglichen. Auch für das Einbringen ethischer und juristischer Kompetenz neben fachmedizinischer Kompetenz wurde personell in dieser „gemischten Kommission“ vorgesorgt. Die Einbeziehung Betroffener bzw. potentiell betroffener Personengruppen durch die Kommission z.B. zum Thema „Biomedizinkonvention des Europarates“ erfolgte entweder zu einzelnen Sitzungen, bei denen einschlägige Themen behandelt wurden, oder im Rahmen einer Arbeitsgruppe. Insbesondere mit Behindertenorganisationen hat die Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt in den ersten Jahren ihres Bestehens intensive Gespräche geführt. Grundlegender stellt sich die Frage nach „Zielsetzung und Autorität“ der Bioethikkommission. Wenn Stimmen darauf hinweisen, dass die Debatten in „akade58 misch technisch-politischen Eliten“ stattfinden oder knifflige Fragen lieber an „Ethik-Experten“ delegiert werden, ist damit insgesamt die Frage der (demokratischen) Legitimation, der Aufgaben und der Funktion der Politik und der Öffent59 lichkeit angesprochen. So hatte sich auch in Österreich eine „Ethikkommission für die Bundesregierung“ gebildet, die eine zweite Stimme in der politischen Beratung sein und die Arbeit der Kanzlerkommission kritisch begleiten wollte. Schon bald nach ihrer Gründung traten beide Kommissionen in Kontakt und haben wiederholt das gemeinsame Gespräch gesucht. Ende 2006 hat die Ethikkommission für die Bundesregierung ihre Arbeit aufgrund fehlender finanzieller Unterstützung eingestellt. Dafür sitzt nun ein Vertreter der Behinderten in der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt. 56 57

58

59

Siehe D. Helmberger (2001), Ethik auf österreichisch, in: Die Furche 44/2001; C. Gaspari (2001), Verantwortung adieu, in: Die Furche 45/2001. Vgl. J. Pichler (2002), Die höchst vorläufigen Ergebnisse, in: ders. (Hrsg.), Embryonalstammzellentherapie versus „alternative“ Stammzellentherapien (Bd. 16 des Instituts für Rechtspolitik), Wien, S. 173ff., hier S. 183; siehe auch I. Jancsy (2001), Das Schweigen der Frauen, in: Der Standard, 18.6.2001. So F. Seifert, Biotechnologie und Öffentlichkeit, in: http://science.orf.at/science/seifert/35963; ders., Die Stammzellen-Debatte als Beispiel internationaler Sub-Politik, in: http://science.orf.at/ science/seifert/18567; ders., Was sind Gentechnik-Debatten?, in: http://science.orf.at/ science/seifert/17461 [5.6.2010]. Siehe dazu die Diskussion zwischen U. Körtner (o.J.), Kein Patent auf Leben?, http://science.orf.at/ science/koertner/49426, und F. Seifert (o.J.), Zum Verbleib der Politik – Replik auf Ulrich Körtner, http://science.orf.at/science/seifert/49565 [5.6.2010].

54

Bioethik und Biopolitik

Im Jahr 2002 wurde bei der Gemeinde Wien ein weiterer Bioethik-Beirat einge60 setzt. Wer gehofft hatte, diese Neugründung würde die öffentliche Debatte in Österreich beleben, sah sich in der Folgezeit jedoch enttäuscht. Aufgrund seiner Zusammensetzung – ihm gehören z.B. keine Theologen an – sagt man dem Wiener Beirat eine liberalere Haltung in bioethischen Fragen wie Stammzellforschung und Präimplantationsdiagnostik als der Bioethikkommission des Bundeskanzlers nach. Viel gehört hat man von jenem Gremium seit seiner Gründung freilich nicht. Während die Bioethikkommission immerhin monatlich tagt und zu Einzelthemen in Unterausschüssen arbeitet, trifft sich der Wiener Beirat offenbar viel seltener. Natürlich fehlt ihm auch das politische Gewicht. Aber das hätte ihn ja nicht an einer intensiveren Beteiligung an den öffentlichen Debatten bzw. an deren Förderung hindern müssen. Seit Oktober 2007 ist der Vorsitzende des Wiener BioethikBeirates übrigens Mitglied der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt. Auch andere Beiratsmitglieder gehören der Kanzleramtskommission an.

5.

Ausblick

Über Einzelthemen wie Stammzellforschung, Präimplantationsdiagnostik oder Euthanasie und assistierten Suizid hinaus stellt sich die Grundsatzfrage, wie wir mit der Divergenz ethischer Ansichten und Lösungen auf nationaler wie auf supranationaler Ebene politisch umgehen. Was für moralisch richtig gehalten wird, muss politisch und rechtlich umsetzbar sein. Prozedurale bzw. diskursethische Konzeptionen von Ethik setzen auf Konsenssuche. Sofern allerdings ein ethischer Konsens nicht zu erzielen ist – und das ist zumeist schon in Ethikkommissionen der Fall –, müssen politische und gesetzgeberische Lösungen gefunden werden, welche dem gesellschaftlichen Frieden dadurch dienen, dass sie die ethischen Konflikte begrenzen. Über Fragen der Ethik, so wird gern gesagt, lasse sich nicht abstimmen. Biopolitik aber basiert darauf, dass strittige Fragen der biomedizinischen und biotechnologischen Entwicklung am Ende wieder vom Code der Ethik, der basal zwischen gut und böse unterscheidet, in den Politik-Code von „Mehrheit/Minderheit“ transformiert wird, mit dessen Hilfe der rechtsstaatlichen Demokratie Recht gesetzt wird, dessen binärer Code zwischen Recht und Unrecht unterscheidet. An die Stelle des Konsensus tritt der politische Kompromiss. Im Klartext heißt dies, dass die Grenzen, welche das Recht ziehen kann, vermutlich weiter gesteckt werden, als es einer strengen bioethischen Position entspricht. Das Recht hat dem inneren Frieden einer Gesellschaft zu dienen, nicht aber eine bestimmte Moral durchzusetzen. Eine der wesentlichen demokratiepolitischen Aufgaben für die Zukunft sehe ich darin, die entsprechenden Öffentlichkeiten herzustellen und zu organisieren. Ethikkommissionen können den öffentlichen Diskurs nicht ersetzen, sondern ihm 60

Informationen zum Wiener Beirat für Bio- und Medizinethik unter http://science.orf.at/ science/events/62925 [5.6.2010].

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bestenfalls Impulse geben und ihn begleiten. Hier sind nicht nur die Medien gefragt, sondern auch die Wissenschaftler, welche sich der öffentlichen Debatte stellen müssen, und nicht zuletzt die Politik, welche Biopolitik nicht nur zu moderieren hat, sondern schließlich auch aktiv gestalten muss. International läßt sich ein Trend zur Deregulierung biomedizinischer und bio61 technologischer Politikfelder beobachten. An die Stelle von starren gesetzlichen Vorgaben treten Rahmengesetze, die Einzelfallentscheidungen den Betroffenen sowie Expertenkommissionen übertragen. Dabei besteht international eine Tendenz zur Verlagerung der Regelungskompetenz vom öffentlich-rechtlichen in den privatrechtlichen Bereich, wie man bei Gentests, dem Handel mit Zellinien, der Transplantationsmedizin und legalen Formen der Sterbehilfe beobachten kann. Patientenverfügungen und Vertragsbeziehungen treten an die Stelle gesetzlicher Ver- oder Gebote. Der damit verbundene Zuwachs an individueller Freiheit, der zugleich die Gefahr neuer gesellschaftlicher Zwänge heraufbeschwört, wirft die grundsätzliche Frage auf, wie die Menschen in die Lage versetzt und gestärkt werden können, ihre Freiheit verantwortlich auszuüben. Das ist nicht zuletzt eine Bildungsaufgabe allerersten Ranges, aber auch eine Herausforderung für die Kirchen, entsprechende Angebote der Lebensbegleitung zu entwickeln, welche einerseits Orientierungshilfen anbieten und andererseits die Freiheit des Gewissens und des Glaubens respektieren, statt Menschen religiös und moralisch bevormunden zu wollen. Hier hat das evangelische Verständnis von Freiheit eine wichtige Bewährungsprobe zu bestehen.

61

Vgl. T. Lemke (2007), Biopolitik zur Einführung, Hamburg, S. 81f.

Leitbilder. Überlegungen zu philosophischanthropologischen und ethischen Argumentationsformen im Kontext medizinischer Versorgung Ilona Vera Szlezak

1.

Einleitung

Aus dem akademischen medizinethischen Diskurs stammende ethische Fragestellungen erreichen zunehmend auch den klinischen Alltag. Angesichts der ambivalenten Berichterstattung über medizinische Fortschritte entsteht in der Öffentlichkeit dringender Klärungsbedarf zu Fragen wie z.B. dem Umgang mit Komapatienten oder der Patientenverfügung. Klinik- und Krankenhausleitungen konstatieren seit einigen Jahren die Notwendigkeit, ihre Einrichtungen zu einschlägigen klinisch-medizinethischen Fragen zu positionieren. In diesem Zusammenhang konkretisiert sich die akademisch-medizinethische Fragestellung darauf, was den einzelnen als Patienten in der Klinik erwartet. Dies betrifft nicht nur den konkreten Umgang mit speziellen Problemen (wie z.B. Patientenverfügungen), sondern immer deutlicher auch die sich darin manifestierende grundsätzliche Einstellung eines Krankenhauses zum Patienten als Person. Diesem Klärungsbedarf begegnen Kliniken mit der Ausarbeitung von spezifisch auf medizinethische Problemfelder zugeschnittenen ethischen Leitlinien, die meist zum internen Gebrauch bestimmt sind. Eine neuere Entwicklung ist die Veröffentlichung von „wertebasierten Unterneh1 mensprofilen“ , meist Leitbilder genannt, die in erster Linie zur Darstellung nach außen gedacht sind, um die grundsätzliche werte-orientierte Einstellung eines Hauses zum Patienten zu artikulieren. In diesem Beitrag soll die Gattung des Leitbildes in den Blick genommen werden und die Frage nach ihrem argumentativen Status im medizinischen Kontext gestellt werden: Was hat es mit der Wertebasiertheit von Leitbildern auf sich? Wie wird innerhalb der Gattung argumentiert? Welche Rolle spielen ethische und anthropologische Argumente in diesen Zusammenhängen? Um diesen Fragen nachzugehen möchte ich in Abschnitt 2 Herkunft, Elemente und Funktion des Begriffs bzw. der Gattung Leitbild im Kontext des Gesundheitswesens darstellen. Anschließend (3.) möchte ich auf wesentliche strukturelle wertebezogene Argumentationsstrategien der Gattung Leitbild innerhalb des Gesundheitswesens eingehen. In einem letzen Schritt (4.) möchte ich die Probleme des 1

H. Schmidt-Wilcke (2008), Das wertebasierte Unternehmensprofil eines Krankenhauses, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 54 (2008), S. 363–374.

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Gattungskonzeptes und seiner Argumentationsstrategien darlegen, die zum einen aus der konzeptionellen Engführung von ethischen und weltanschaulichen Aspekten, zum anderen aus der Gleichsetzung von weltanschaulichen und anthropologischen Aspekten resultieren. Zuletzt (5.) möchte ich mit einigen resümierenden Bemerkungen schließen.

2.

Zum Begriff und zur Textgattung Leitbild

Die Verwendung von Leitbildern ist ein aus der Betriebswirtschaft stammendes Instrument des sogenannten normativen Managements, ein Unternehmen nach 2 innen und außen zu profilieren. Die Etablierung von Leitbildern im Gesundheitswesen seit Mitte der 90er Jahre in Deutschland wird daher auch im Zusammenhang mit der Ökonomisierung des Gesundheitswesens durch die Gesetzgebung gesehen. Das Gesundheitsstrukturge3 setz von 1992 und SGB V, 9. Abschnitt beschleunigten durch Budgetierung, Be4 darfsplanung und Wettbewerbselemente die Umstrukturierung von Krankenhäusern nach unternehmerischen Gesichtspunkten. Die Textgattung des Leitbildes ist allerdings eine deutschsprachige Besonderheit, denn sie stellt eine mittlere Gattung zwischen zwei im englischen Sprachraum üblichen Typen von Verlautbarungen dar: im englischen Sprachraum wird zwischen kürzeren Texten unter dem Namen mission, die einen wertebasierten Auftrag artikulieren und längeren Texten unterschieden, die unter der Bezeichnung vision auch strategische Ziele formulieren. Bemerkenswert ist am deutschen Begriff nun die Fusion der beiden Wortbestandteile „Leit“ und „bild“, die sich in der Gattung auch inhaltlich niederschlägt. Während der Wortbestandteil „Leit“ auf eine handlungsleitende Funktion hinweist, legt der zweite Bestandteil „bild“ auf der terminologischen Ebene die Analogie zum Begriff des „Menschenbildes“ nahe. Der Gattungsname läuft also auf eine Verschränkung von ethischen und anthropologischen Elementen hinaus. Dies ist, wie sich zeigen wird, nicht unproblematisch. Doch zunächst zum Verständnis des Begriffs Leitbild in seinem ursprünglichen Zusammenhang. Leitbilder werden betriebswirtschaftlich als „realistische Idealbilder“ oder auch 5 als „Leitsysteme“ konzeptualisiert, an denen sich Handeln im Unternehmen orientieren soll. Die wesentlichen Elemente sind dieser Definition zufolge zum einen der idealtypische Charakter, der einen normativen Maßstab setzt und zum anderen die handlungsleitende Absicht. Diese beiden Elemente stehen durch ihren unterschiedlichen Bezug zur Wirklichkeit in einem Spannungsverhältnis: die realistische hand2 3 4 5

Vgl. K. Bleicher (72007), Das Konzept Integriertes Mamagement, Frankfurt a.M. Vgl. etwa Verpflichtung zur Qualitätssicherung durch §137. So etwa die freie Kassenwahl oder der Qualitätsbericht. Wie etwa nach K. Bleicher (72007), Das Konzept Integriertes Management, Frankfurt a.M.

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Leitbilder

lungsleitende Absicht zielt auf konkrete Handlungszusammenhänge, während der idealtypische Maßstab als normativer Rahmen dafür dienen soll. Auch soziologische Definitionen sehen die Elemente von Leitbildern im Spannungsfeld von Idealität und Handlungsbezogenheit. So ist etwa im Wörterbuch der 6 Soziologie ein Leitbild als (normative) idealtypische Vorstellung (Ideen, Habitus, Lebensstil und Prinzipien) definiert, die für bestimmte Gruppen oder Teile einer Gesellschaft als erstrebenswert, handlungs- und entscheidungsleitend gilt. Betriebswirtschaftliche und soziologische Konzeptualisierungen der Gattung bzw. des Begriffs „Leitbild“, beinhalten demnach eine Spannung zwischen idealtypischem Maßstab und Handlungsleitung. Im medizinischen Zusammenhang nimmt der idealtypische Pol des Spannungsverhältnisses eine bestimmte Form an, nämlich die Form eines „Menschenbildes“, das als Maßstab gelten soll. Darauf werde ich unter 4. ausführlicher zu sprechen kommen. Innerhalb der skizzierten konzeptionellen Struktur verwenden Leitbilder bestimmte inhaltliche Einzelelemente. Im Gesundheitswesen liegt die Betonung auf den weltanschaulichen Elementen meist humanistischer Spielart, die ein bestimm7 tes Welt- und Menschenbild und bestimmte Werte und Prinzipien artikulieren. Im karitativen Kontext sind auch gesellschaftspolitische Elemente wichtig, die den 8 gesellschaftlichen Auftrag und die gesellschaftliche Legitimation benennen. Dazu kommen selbstreflexive Elemente, die den Willen zur Selbstverbesserung und Weiterentwicklung, zum Verständnis von Lernen und Fortbildung und den angestrebten Entwicklungsprozess zeigen sollen. Nicht zuletzt versuchen Unternehmen mit unternehmerischen Leitmotiven ihre betriebswirtschaftliche Kompetenz auszuweisen, die das Verständnis des Unternehmens von Erfolg (ökonomischen Interessen), 9 Innovation, Qualitätsmanagement und Kundenorientierung zur Sprache bringt. Die Funktionen von Leitbildern differenzieren sich grosso modo in zwei Richtungen: Profilierung nach außen und nach innen. Sofern ein Leitbild ein Unternehmen nach außen darstellt, seine gesellschaftliche Legitimation, den gesellschaftlichen Auftrag und die Leistung des Unternehmens artikuliert, erfüllt es eine „Imagefunktion“ und kann auch als Richtschnur für erfolgsorientierte strategische Managemententscheidungen dienen. Zur Profilierung nach innen, der „Sinnstiftung“ für die Mitarbeiter, als Entscheidungshilfe und Integrationsmoment erfüllt das Leitbild eine Orientierungsfunktion und Identifikationsfunktion. Im Hinblick auf die „Unternehmens-Kultur“ wird dem Leitbild auch eine Art Transformations6 7

8 9

Vgl. G. Hartfiel/K-H. Hillmann (2007), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, 5. vollständig ergänzte und überarbeitete Auflage, S. 432. Vgl. Leitbild des Robert-Bosch-Krankenhaus Stuttgart (2009), http://www.rbk.de/ueberuns/leitbild.html [15.5.2010] (im Folgenden: RBK-Leitbild), S. 1 und Unternehmensleitbild der Alexianer-Brüdergesellschaft (2010), http://www.alexianerkloster.de/de/einrichtungen/unter nehmensphilosophie/ [15.5.2010] (im Folgenden: Alexianer-Leitbild), S.1. Vgl. Alexianer-Leitbild (2010). Vgl. RBK-Leitbild (2009) und Alexianer-Leitbild (2010).

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funktion zugeschrieben, d.h. es wird als Maßgabe zur Weiterentwicklung der Unternehmens-Kultur betrachtet. Zusammenfassend kann man sagen, ein Leitbild artikuliert die weltanschauliche Vorstellung eines Unternehmens in einem allgemeinen, affirmativ-normativen Gestus, die in einer nicht näher spezifizierten Weise als handlungsleitend gedacht sind. Das Leitbild artikuliert die grundsätzliche Einstellung zum umfassenden lebensweltlichen Zusammenhang, in dem sich der Träger sieht, und dessen grundsätzliches Selbstverständnis als nicht weiter differenzierter (kollektiver) Akteur.

3.

Argumentationsstrategien

Durch welche stilistischen, rhetorisch-argumentativen Mittel wird nun die weltanschauliche Position eines Krankenhauses im Leitbild artikuliert? Eine Sichtung verschiedener Leitbilder zeigt, dass sich hier verschiedene Mittel unterscheiden lassen. Es gibt stilistische Mittel, solche, die in der Konzeption selbst begründet sind und inhaltliche. Ich werde mich auf die ersten beiden beschränken. Eine Auseinandersetzung mit Leitbildern im Hinblick auf die inhaltliche Werte-Diskussion liegt 10 bei Schmidt-Wilcke (2008) bereits vor. 3.1

Stilistische Mittel 11

Leitbilder beginnen oft mit einer Präambel – ein Stilmittel, das aus der Tradition öffentlicher politischer Erklärungen, wie etwa der Menschenrechtserklärung oder der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung stammt. Eine Präambel artikuliert in nuce den geistigen Gehalt der Erklärung und das nicht ohne ein gewisses Pathos, das sich im Wesentlichen dem assertorischen Sprachduktus verdankt. Der Sprach12 duktus zieht sich in der Regel durch den gesamten Text und trägt wesentlich zum affirmativen Charakter der Gattung bei. Mit diesen Stilmitteln stellen sich Leitbilder in einen (sozial-)politischen öffentlichen Raum, innerhalb dessen sie sich – den großen Beispielen folgend – weltanschaulich positionieren. Auf diesem Wege wird durch ein Strukturelement der Gattung eine moralisch anspruchsvolle, auf bestimmten Grundwerten und Grundrechten des Menschen basierende Aussage insinuiert, die etwa die Würde des Menschen oder die prinzipielle Gleichbehandlung aller Menschen und ähnliche Postulate beinhaltet, deren universale Geltung in den Verlautbarungen ihrer Vorbilder konnotativ mitschwingt. Damit wird bereits zu

10 11 12

H. Schmidt-Wilcke (2008), Das wertebasierte Unternehmensprofil eines Krankenhauses, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 54 (2008), S. 363–374. Vgl. RBK-Leitbild (2009) und Alexianer-Leitbild (2010). Besonders deutlich wird dies im RBK-Leitbild (2009).

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Leitbilder

Beginn ein ethischer Diskurs aufgerufen, dessen Angemessenheit für den vorlie13 genden Kontext der Profilierung eines Unternehmens fragwürdig erscheint. 3.2

Konzeptionelle Mittel

Wie bereits angedeutet, weist die deutsche Gattung des Leitbildes eine terminologische Besonderheit auf, die konzeptionelle Implikationen birgt. In der Fusion der beiden Wortbestandteile „Leit“ und „bild“ steckt der Versuch einer begrifflichen Vermittlung des idealtypischen und des handlungsleitenden Elementes, die sich als wesentliche Merkmale im Herkunftskontext der Betriebswirtschaft herausgestellt haben. Dieser Vermittlungsversuch schlägt sich in der Gattung auch inhaltlich nieder. Während der Bestandteil „Leit“ (eine Nominalbildung zu „leiten“) auf eine ethisch-präskriptive Dimension hinweist, greift der zweite Bestandteil „bild“ auf wörtlich-begrifflicher Ebene den idealen (also wörtlich den bild-haften) Charakter des Begriffs/der Gattung auf. Durch die Analogie zum Begriff des „Menschenbildes“ kommt ein Rekurs auf anthropologische Konzepte hinzu, der auch inhaltliche Korrespondenzen hat. Hierauf werde ich noch näher eingehen. Durch die begriffliche Fusion der Wortbestandteile „Leit“ und „bild“ wird bereits auf der terminologischen Ebene sowohl ein „ethischer“ als auch ein „anthropologischer Gehalt“ des Leitbildes suggeriert, die in der Leitlinie als vermittelt gedacht werden. Während der anthropologische Gehalt sich auf der Textebene wiederfinden lässt, wo zuweilen in aller Deutlichkeit auf den Begriff des „Menschenbildes“ – meist in der Spielart des christlichen Menschenbildes – rekurriert wird, ist der „ethisch-präskriptive Gehalt“ auf der Textebene weniger deutlich erkennbar: er scheint in nicht näher spezifizierter Weise aus dem „Menschenbild“ hervor zu gehen. Eine mögliche Art des Hervorgehens handlungsleitender Vorgaben aus einem Leitbild könnte in Analogie zur Orientierung an einem Vorbild gedacht sein. Diese Analogie hat aber einen wesentlichen Schwachpunkt, der sie für den gegebenen Zusammenhang als nicht tragfähig erweist. Ein Vorbild, an dem man sich im Handeln und Denken orientieren kann, ist ein personifiziertes Ideal, sei es eine reale Person, deren Stärken idealisiert dargestellt werden oder eine fiktive Person. Die Personifizierung hat den entscheidenden Vorteil für die Frage der Handlungsleitung, dass Personen Handlungen ausführen, die konkret nachgeahmt werden können. Diese personelle Vermitteltheit eines idealtypischen Maßstabes liegt im Falle eines Unternehmensleitbildes natürlich nicht vor. Es müssten also andere Weisen des Hervorgehens in Erwägung gezogen werden, was aber unterbleibt. Stattdessen wird eine nicht näher bestimmte Vermittlung der beiden Aspekte implizit vorausgesetzt.

13

Medizinische Dienstleistungen sind in Deutschland überhaupt nur möglich, wenn sie dem Prinzip nach den Bestimmungen der sich als grundgesetzkonform verstehenden deutschen Gesetzgebung genügen.

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61

Der Anspruch der Vermittlung zwischen Idealität und Handlungsleitung, den der Begriff des Leitbildes impliziert, aber auch seine Affinität zur Anthropologie, den der Begriff terminologisch, stilistisch und inhaltlich nahelegt, ist konzeptionell keineswegs unproblematisch.

4.

Probleme

Bereits auf terminologischer Ebene weist die im deutschen Sprachgebrauch übliche Rede vom „Menschenbild“ Probleme auf, die durch die konzeptionelle Unschärfe des Begriffs des „Menschenbildes“ entstehen und seine sachliche Tauglichkeit für kontextgebundene ethische Zusammenhänge problematisch erscheinen lässt. Dies 14 soll im Folgenden etwas näher ausgeführt werden . Die Verwendung des Suffixes „–bild“, in Wortbildungen wie Leitbild oder Menschenbild, nutzt den Vorzug des Bildhaften, der das ins Bild Gebrachte in einer intuitiv-visuellen Weise unmittelbar zugänglich machen soll. Die Vermittlungsleistung des Bildcharakters besteht offenbar darin, dass es die Konstruktion einer normativ-deskriptiven Einheit ermöglicht, die in einem Bild dargestellt werden 15 kann: Die Rede vom „Menschenbild“ etwa suggeriert, dass deskriptives Wissen darüber, was der Mensch ist, auch ein normatives Wissen darüber, wie man den 16 Menschen behandeln solle, impliziere. Der Begriff Leitbild fordert einen solchen Vermittlungszusammenhang, wie wir gesehen haben, sogar konzeptionell: aus dem idealtypischen (bildhaften) Maßstab sollen handlungsleitende Vorgaben folgen. In beiden Spielarten des Vermittlungszusammenhanges bleibt aber unterbestimmt, wie aus der Beschreibung eines idealtypischen Maßstabes handlungsleitende Vorgaben entstehen sollen. Die terminologische Unschärfe des Begriffs Menschenbild beinhaltet eine Reihe 17 von Problemen hinsichtlich des begrifflichen Status von Menschenbildern. Begrifflich betrachtet, gehören zu einem Bild vom Menschen eine Vielzahl von Annahmen, die sich unter der Fragestellung „Was ist der Mensch?“ zusammenfassen lassen: Was sind die Grundbedingungen menschlichen Lebens? Welche grundlegenden Fähigkeiten haben wir als Menschen? Welche Grenzen beinhalten diese, was wären mögliche Formen gelingenden Lebens für den Einzelnen und in der Gemeinschaft? Gibt es moralische Verpflichtungen, die Menschen einander gegenüber haben usf. Wenn nun in einer Leitlinie die Rede beispielsweise von einem „christlichen Menschenbild“ ist, wird damit auf eine lange Tradition christlicher Anthropologie angespielt, die – in Anlehnung an die Imago-Dei-Tradition – den wohl plausibelsten 14 15 16 17

Ich beziehe mich hier auf M. Düwell (2010), Menschenbilder und Anthropologie in der Medizinethik, in: Ethik in der Medizin, Sonderheft zur Jahrestagung der AEM 2009 (im Erscheinen). Ebd. S. 4. Ebd. S. 4. Ebd. S. 6.

62

Leitbilder

Verwendungszusammenhang des Wortes „Menschenbild“ darstellt. Hier wird am ehesten deutlich, inwiefern in der Bildhaftigkeit, hier der Abbildhaftigkeit des Menschen, in der christlichen Anthropologie ein Bild vom Menschen entsteht, das maßstabbildende Funktionen annimmt. Hier ließe sich vermutlich auch eine enge konzeptionelle Affinität zur platonischen Ideenlehre in einer ihrer neuplatonischchristlichen Ausprägungen festmachen, um den Sinn der Rede „vom Bild“ zu untermauern. In pragmatischer Hinsicht scheint das Beispiel aber auch zu verdeutlichen, dass es sich bei diesem Menschenbild nicht um einen realistischen Maßstab handeln kann, sondern dass dieser Maßstab allenfalls den Charakter einer regulativen Idee im Kantischen Sinne annehmen kann. Klar ist hier aber auch, dass die komplexe begriffliche Differenziertheit christlich-theologischer Anthropologie in der Rede vom „christlichen Menschenbild“ vermutlich nur von entsprechend vorgebildeten Rezipienten mit konnotiert wird. Es handelt sich hier um einen lebensweltlich-weltanschaulichen Gebrauch des Begriffs „Menschenbild“. In dieser weltanschaulichen Verwendung des Begriffs kann die Rede vom Men18 schenbild im Kontext des Leitbildes als Quelle von Normativität fungieren. Ein Beispiel wäre der kategorische Ausschluss von Sterbehilfe und Beihilfe zur Selbsttötung (ungeachtet der konkreten Gesetzeslage, Situation etc.) aufgrund des Prinzips der prinzipiellen Unantastbarkeit des Lebens als Geschenk Gottes. Die HandlungsKonsequenzen des christlichen Verständnisses korrespondieren zwar in diesem Falle mit der Gesetzeslage in Deutschland, was aber nicht der Grund für die vertretene Position ist. Quelle der Handlungsnorm des Verbots von Sterbehilfe etc. ist in diesem Zusammenhang das „christliche Menschenbild“. In diesem Falle könnte man beinahe von einem partiellen Ableitungsverhältnis sprechen, nämlich zwischen einem einzelnen weltanschaulichen Prinzip (der Unantastbarkeit des Lebens; Auffassung des Lebens als Geschenk Gottes ist Teil des christlichen Menschenbildes) und dem Verbot von Sterbehilfe und Beihilfe zur Selbsttötung. Dies ist eines der wenigen Beispiele, in denen eine Art begriffliche Deduktion aus dem übergeordneten weltanschaulichen Zusammenhang auf konkrete Vorgaben, zumindest negativ handlungleitende, gelingt. Wie dies hinsichtlich positiver handlungleitender Vorgabe aussieht, ist weniger klar. Im Allgemeinen folgt aus der Bestimmung des Wesens des Menschen, wie sie die philosophische Anthropologie vornimmt, auch in ihrer Spielart der christlichen Anthropologie oder gar in der Form des Weltanschaulichen keineswegs direkt, wie Menschen in bestimmten Situationen handeln sollen bzw. wie Menschen in be19 stimmten Situationen behandelt werden sollen. Der Rede vom Menschenbild haftet demnach etwas doppelt Irreführendes an, begrifflich und inhaltlich: ein Menschenbild beinhaltet keine anthropologische Konzeption, und selbst wenn es dies täte, wären aus einer solchen Konzeption keine normativen Vorgaben ableitbar. 18 19

Ebd. S. 2. Ebd. S. 4.

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Im Kontext des Leitbildes verschärft sich dieses Missverständnis, indem der vom Begriff des Menschenbildes bloß suggerierte deskriptiv-normative Zusammenhang zur konzeptionellen Forderung erhoben wird. Anthropologische Theoriebildung ist spätestens seit der Kantischen Frage „Was ist der Mensch?“ mit der Beantwortung eben dieser Frage beschäftigt. Es geht dabei um den systematischen Versuch, diskursiv-nachvollziehbare Aussagen über wesentliche Grundbedingungen des Menschseins zu machen, die sich in verschiedene Fragen ausdifferenzieren, wie etwa Fragen nach den wesentlichen Fähigkeiten des Menschen und ihren Grenzen, das menschliche Verhältnis zu anderen, zur Gemeinschaft, zur Natur, zum Kosmos, zu sich selbst, Fragen möglicherweise auch nach der Aufgabe des Menschen oder dem Sinn des menschlichen Lebens. Dies alles sind Fragen, die mit Mitteln phänomenologisch-deskriptiver Analyse angegangen werden und insofern als Interpretationen von Phänomenen des Menschseins zu verstehen sind. Der Interpretationscharakter ist in der phänomenologischen Herangehensweise begründet und resultiert in der entstehenden Pluralität von Verständnissen des Menschseins. Demgegenüber ist weltanschauliches Denken nicht als systematischer Versuch zu sehen, diskursiv-nachvollziehbare Aussagen über wesentliche Grundbedingungen des Menschseins zu machen. Weltanschauliches Denken zeichnet sich vielmehr durch seine „Anschaulichkeit“ aus, die meist in einem „Weltbild“ wiedergegeben wird. So kann man etwa das Weltbild oder das Menschenbild der attischen Zeit aus der attischen Tragödie etwa bei Sophokles oder Euripides zu extrahieren versuchen. Was man hierbei erfährt ist eine zur literarischen Kunstform verdichtete lebensweltliche Weltsicht bzw. Sicht auf den Menschen. Eine Anthropologie im philosophischen Sinne ergibt sich daraus allein aber noch nicht: dazu müsste das durch Textinterpretation gewonnene Weltbild oder Menschenbild systematisch mit anthropologischen Konzeptionen konfrontiert werden, seien es zeitgenössische oder z.B. moderne. Philosophisch-anthropologisches Denken unterscheidet sich demnach von weltanschaulichem Denken schon durch seine Diskursivität und Systematizität. Als weiterer struktureller Unterschied kommt hinzu, dass weltanschauliches Denken auch auf andere Begründungsverfahren verzichtet. Weltanschauung bleibt Anschauung und nicht Begründung. Ebenso wenig wie das Gleichsetzen von anthropologischem und weltanschaulichem Denken, ist eine konzeptionelle Engführung von Anthropologie und Ethik aufrecht zu erhalten. Ein anthropologisches Verständnis des Menschseins, das durch phänomenologische Analyse eine deskriptiv-interpretatorische Aussage über wesentliche Bedingungen des Menschseins macht, hat weder den Anspruch, noch ist es in der Lage, konkrete handlungsleitende Vorgaben zu machen. Aus der Deskription, auch aus einer stark durch Interpretation geprägten, folgen keineswegs präskriptive Vorgaben, weder allgemeiner Art, noch für konkrete Fälle.

64

5.

Leitbilder

Abschließende Bemerkungen

Die Gattung Leitbild birgt grundlegende Schwierigkeiten, die auf zwei konzeptionelle Engführungen zurückzuführen sind. Zum einen suggeriert die Fusion von idealtypischem Maßstab und handlungsleitender Absicht eine Vermitteltheit dieser beiden Aspekte eines Leitbildes, die faktisch nicht gegeben ist. Tatsächlich werden hierdurch mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Zum anderen stellt die besonders im Kontext medizinischer Dienstleistungen beobachtbare Gleichsetzung von weltanschaulicher Positionierung und anthropologischem Denken eine Verkürzung dar, die die argumentative Überzeugungskraft der Gattung empfindlich einschränkt. Die Diskussion um Sinn und Wirksamkeit von Leitbildern scheint angesichts dieser konzeptionellen Probleme nicht verwunderlich. Ob sich diese durch das Ausräumen der hier beschriebenen Missverständnisse vermeiden ließe, ist fraglich. Die Probleme scheinen in den impliziten konzeptionellen Vorannahmen der Gattung begründet zu liegen. Eine Thematisierung und Offenlegung dieser Vorannahmen könnte möglicherweise die Erwartungen an Leitbilder auf ein realistischeres Maß reduzieren und ihnen so eine sinnvolle praktische Funktion in ihren Verwendungszusammenhängen ermöglichen.

Ärztliche Ethik – Berufsethik zwischen Medizin, Recht und Gesellschaft Fabian Kliesch

1.

Einleitung

Spätestens seit den Diskussionen um die Berufsordnung für deutsche Ärztinnen und Ärzte im Jahr 1997 stellt der Begriff der „ärztlichen Ethik“ einen integralen Bestandteil des ärztlichen Ethikdiskurses dar. In § 2 der (Muster-)Berufsordnung der Bundesärztekammer werden die ärztlich Tätigen dazu verpflichtet, „ihren Beruf 1 nach ihrem Gewissen, den Geboten der ärztlichen Ethik und der Menschlichkeit“ auszurichten. Es stellt sich zunächst die Frage nach der Eigenständigkeit ärztlicher Ethik gegenüber philosophischer und theologischer Ethik. Einerseits kann sich die ärztliche Ethik auf eigene Quellen der Moral und berufsspezifisches Fachwissen berufen. Andererseits hantiert ärztliche Ethik mit Begriffen und Argumentationsmustern, die selten eine methodisch-begriffliche Reflexion erfahren und größtenteils aus Ethikdiskursen anderer Disziplinen stammen. Die Ambivalenz der Eigenständigkeit ärztlicher Ethik bringt eine ebenso unklare Abgrenzung gegenüber anderen Instanzen mit sich, die auch Einfluss auf das ärztliche Handeln nehmen. Dabei ist zuerst an die Medizin als wissenschaftliche Disziplin zu denken, desweiteren an Gesetze und Gerichtsentscheide sowie ganz allgemein an die gesellschaftliche Meinung. Die verschiedenen Instanzen können bisweilen in Konflikt miteinander geraten, wenn es um Fragen des Einflusses auf ärztliches Handeln und um Abgrenzung von Aufgabenbereichen geht. Wie und ob die Abgrenzung ärztlicher Ethik gegenüber den Instanzen der Medizin, des Rechts und der Gesellschaft gelingt, soll näher beleuchtet werden. Ziel ist die Formulierung einer Perspektive, die beschreibt wie die Kooperation der verschiedenen Instanzen denkbar ist.

2.

Ärztliche Ethik als Berufsethik: Schwierige Voraussetzungen und Kriterien einer leistungsfähigen Berufsethik

Zunächst muss geklärt werden, was unter dem Begriff „ärztliche Ethik“ zu verstehen ist und was es für Konsequenzen hat, wenn man die ärztliche Ethik als Berufsethik versteht. Unter einem Berufsethos versteht man ein „Gesamtmuster des 1

Bundesärztekammer (2006), (Muster-)Berufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte – MBO-Ä 1997, in der Fassung von 2006, Berlin.

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Ärztliche Ethik 2

beruflichen Handelns“ , das das berufliche Handeln in moralischer Hinsicht betrachtet und das Gewissen der Berufsangehörigen an Ethos-Regeln bindet. Das ärztliche Berufsethos verbindet sich sowohl mit den hippokratischen Regeln des Wohltuns und Nicht-Schadens als auch mit bestimmten Grundhaltungen, wie der Verschwiegenheit und Hilfsbereitschaft. Nun lohnt es sich, wenn man zwischen einem Berufsethos und einer Berufsethik unterscheidet. Denn es reicht nicht aus, wenn eine Berufsgruppe über ethische Regeln verfügt, ohne diese begründen und modifizieren zu können. Die ärztliche Berufsethik hat das Berufsethos zum Gegenstand, reflektiert ihn und liefert Begründungen für bestimmte Ethos-Regeln. Die Leistungsfähigkeit einer ärztlichen Berufsethik hängt von mehreren Faktoren ab: der Übersichtlichkeit von Handlungssituationen, der sozialen Einheit der Berufsangehörigen sowie der Kompatibilität der Werteüberzeugungen von ärztlich 3 Tätigen und der Gesellschaft. Verschiedene medizinische und gesellschaftliche Entwicklungen haben diese Leistungsvoraussetzungen der ärztlichen Berufsethik schwieriger und komplizierter werden lassen. Die kontinuierliche Erweiterung medizinischer Handlungsmöglichkeiten und wissenschaftlicher Erkenntnisse führen zu einer wachsenden Komplexität ärztlicher Entscheidungen. Diese lassen sich schon längst nicht mehr auf eine überschaubare Zahl von Standardsituationen reduzieren. Die Beschränkung auf eine Berufsordnung würde zu kurz greifen, um ärztlich Tätigen ethische Regeln und deren Reflexion an die Hand zu geben. Ergänzung erfährt die Ethik der Berufsordnung daher durch Richtlinien und Empfehlungen, die sich als flexiblere Instrumente erweisen. Aber auch diese Texte können ethischen Problemen nur mit einer gewissen Latenzzeit begegnen und sind nicht in der Lage, alle ethischen Konflikte im Beruf abzubilden. So kann man festhalten, dass eine grundsätzliche Unterreglementierung konstitutiv zu ärztlichen Entscheidungssituationen gehört. Für die berufliche Praxis ist dies mit einem Gewinn an Eigenverantwortung verbunden, hinterlässt aber auch eine gewisse Entscheidungsunsicherheit. Auch die Struktur ärztlichen Handelns und das Selbstverständnis der Medizin als Disziplin haben sich weiterentwickelt. Die Medizin ist originär eine praktische Wissenschaft, die auf Heilung, Leidensminderung und Prävention ausgerichtet ist. Durch die wachsende Geltung naturwissenschaftlicher und technischer Kategorien für das medizinische Handeln wird diese Handlungsteleologie und damit das Selbstverständnis der Medizin als praktischer Wissenschaft infrage gestellt. Denn es ist nicht mehr eindeutig, ob es um die Integration oder das Primat naturwissenschaftlicher und technischer Erkenntnisse geht. Man kann in jedem Fall feststellen,

2 3

L. Honnefelder (2000), Medizinische Ethik, 2. Systematisch (2.1–2.4), in: W. Korff (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Bd. 2, Gütersloh, S. 652f. Ebd., S. 653.

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dass Naturwissenschaftlichkeit das Leitkriterium für die medizinische Qualität 4 geworden ist und dass naturwissenschaftliche Krankheitskonzepte vorherrschen. Eine weitere Entwicklung mit Auswirkungen auf die Leistungsvoraussetzungen der ärztlichen Ethik betrifft die Erweiterung des medizinischen Handlungsfeldes, das sich nicht mehr nur auf die Arzt-Patient-Beziehung beschränkt. Diese Beziehung kann zwar als Kern und Keimzelle medizinischen Handelns bezeichnet werden. Sie findet sich aber eingebettet in ein komplexes Gefüge von Personen, Institutionen und Teilrationalitäten, die unmittelbare Rückwirkung auf die Kernbeziehung zwischen Ärztin und Patient haben. Eine ärztliche Berufsethik kann nur leistungsfähig sein, wenn sie diese Erweiterung des medizinischen Handlungsfeldes berücksichtigt. Grundsätzlich muss deutlich werden, dass der Begriff „ärztliche Ethik“ auf verschieden geartete ethische Subjekte verweist: die einzelne Ärztin, ein ärztliches Team sowie ärztliche Fachverbände. Je höher die Organisationsebene, auf der ärztliche Ethik betrieben wird, desto mehr muss man die Frage nach der Repräsentativität der betreffenden ärztlichen Ethik stellen. Je mehr mit dem Begriff „ärztliche Ethik“ die Ethik eines einzelnen Arztes gemeint ist, desto mehr muss die Frage nach der Gewährleistung von individueller Handlungs- und Gewissensfreiheit gestellt werden. Und eine letzte Entwicklung ist festzustellen, die die Leistungsfähigkeit eines ärztlichen Berufsethos hinterfragt und komplexe Anforderungen an eine ärztliche Berufsethik stellt. Die gesellschaftlichen Wert- und Normvorstellungen haben sich verändert und in relativ autonome und teils konkurrierende Subsysteme differenziert. Ärztliche Ethik sieht sich damit nicht mehr allgemein gesellschaftlich akzeptierten Werten und Normen gegenübergestellt und wird selbst Teil der Konflikte zwischen verschiedenen Moralvorstellungen. Die Ärzteschaft ist selber ein Spiegel der wertepluralen Gesellschaft und „keine vollständig homogene Gruppe, bei der es 5 zu schwierigen und komplexen Themen nur eine Meinung gibt“ . Angesichts der Pluralisierung weltanschaulicher Orientierungen übernimmt das Recht eine entscheidende Rolle für die Regelung möglicher Konflikte. Viele Bereiche ärztlichen Handelns unterliegen nicht dem staatlichen Recht, sondern sind Gegenstand des Standesrechts. Aber auch das Instrument des Standesrechts kann eine ärztliche Ethik und die damit verbundene ethische Urteilsbildung in der Medizin nicht ersetzen. Denn dem Recht fehlt das, was für Ethos-Regeln konstitutiv ist: die alleinige Wirkung durch Einsicht und die fehlende Sanktionierbarkeit. Angesichts der schwierigen Voraussetzungen sollen nun Kriterien vorgestellt werden, die eine relativ hohe Leistungsfähigkeit der ärztlichen Berufsethik gewährleisten können. Dabei kommt vor allem die Dimension einer ärztlichen Ethik in den Blick, die die verfasste Ärzteschaft und weniger die einzelnen Berufsangehörigen 4 5

K. Hunstorfer (2007), Ärztliches Ethos. Technikbewältigung in der modernen Medizin?, Frankfurt a.M., S. 164f. U. Wiesing (2001), Was tun, wenn man sich nicht einigen kann?, in: Deutsches Ärzteblatt, 98(14)/2001, A-898.

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Ärztliche Ethik

im Blick hat. Beispielhaft soll die Bundesärztekammer (BÄK) als ethisches Subjekt betrachtet werden und ihre Art ärztliche Ethik zu betreiben als eine gute Möglichkeit herausgestellt werden, auf die skizzierten schwierigen Voraussetzungen zu reagieren. Repräsentativität ist das erste Kriterium für eine ärztliche Ethik, die auf die komplexe institutionelle Strukturierung des Medizinsystems eingeht und im Ansatz gewährleistet, dass die Meinungen einzelner Berufsangehöriger auf höherer Ebene abgebildet werden. Eine gewisse Repräsentativität für die Berufsethik der deutschen Ärzteschaft beanspruchen die Richtlinien und Empfehlungen der BÄK. Die BÄK vertritt institutionell gesehen nicht die gesamte deutsche Ärzteschaft. Denn neben der BÄK existieren noch andere Standesorganisationen und die Ärztinnen und Ärzte sind zunächst auch nicht Mitglieder der BÄK, sondern ihrer Landesärztekammer (LÄK). Als Pflichtmitglieder ihrer jeweiligen LÄK können sich die deutschen Ärztinnen und Ärzte an den Organen der BÄK (Vorstand und Deutscher Ärztetag) beteiligen und die Kollegen an der Basis vertreten. Auf den Deutschen Ärztetagen können sich Ärzte als Abgeordnete ihrer Landesärztekammern einbringen und den Vorstand der BÄK wählen. In Einklang mit diesen Formen repräsentativ-demokratischer Strukturen sieht es die BÄK satzungsgemäß auch als ihre Aufgabe an, die deutsche Ärzteschaft zu vertreten, für deren Zusammenhalt zu sorgen 6 und auf eine einheitliche Regelung ärztlicher Berufspflichten hinzuwirken. In logischer Verbindung mit der Repräsentativität steht das zweite Kriterium, die Autorität. Hohe Repräsentativität geht aber nicht unbedingt mit einem hohen Maß an Autorität einher. Die BÄK hat trotz ihrer Repräsentativität nur eine geringe berufsrechtliche Autorität und kann Berufsordnungen, Empfehlungen und Richtlinien nur als Vorschläge einbringen. Die Autorität der Implementierung liegt bei den LÄK und den Landesregierungen. Dennoch genießt die BÄK eine gewisse Autorität, wenn es um die ärztliche Ethik geht. Man kann sogar sagen, dass der BÄK „die 7 formale Definitionshoheit nationaler Standesethik“ zukommt. So obliegt die Entscheidung, welche Themen überhaupt Gegenstand ethischer Verlautbarungen sein sollen, dem Vorstand der BÄK und es sind die Gremien der BÄK, die die Texte formulieren. Außerdem hat der 100. Deutsche Ärztetag in der Musterberufsordnung festgehalten, dass solche ärztlichen Tätigkeiten, die sich auf ethisch relevante Felder beziehen, an die Verlautbarungen der BÄK gebunden sind, seien es Richtlinien oder Empfehlungen. Das dritte Kriterium, das die ärztliche Ethik der BÄK auszeichnet, ist die Professionalität der Autorinnen und Autoren der berufsethisch relevanten Verlautbarungen. Berufliche Professionalität gewährleistet, dass den verschiedenen Teilrationalitäten der Medizin Rechnung getragen wird und fachliches Wissen für sachge6

7

Vgl. Bundesärztekammer (2001), Satzung der Bundesärztekammer in der vom 104. Deutschen Ärztetag 2001 beschlossenen Fassung, Abruf unter: http://www.baek.de/page.asp?his=0.1.18 [31.5.2010]. B. Schöne-Seifert (2007), Grundlagen der Medizinethik, Stuttgart, S. 127.

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rechte Urteile auch in ethischen Fragen vorliegt. Freilich ist Sachverstand eine notwendige aber keine hinreichende Bedingung für ethische Entscheidungskompetenz. Es darf nicht zur Vorstellung eines ‚privilegierten Zugangs zu einer überlege8 nen oder bindenden Moral‘ kommen. Bei den Richtlinien und Empfehlungen der BÄK kann man davon ausgehen, dass das Kriterium der Professionalität erfüllt ist und dass daraus aber kein Anspruch auf eine privilegierte Binnenmoral abgeleitet wird. Diesbezüglich wurde bei der Einführung des Begriffs „ärztliche Ethik“ in die Musterberufsordnung von 1997 ausdrücklich betont, dass „medizinische Ethik […] 9 ein Anwendungsbereich der philosophischen und theologischen Ethik“ ist. Die Gremien der BÄK, welche die Empfehlungen und die Richtlinien zu bestimmten ethischen Themen verfassen, sind professionell und meist interdisziplinär besetzt. Bei den Verlautbarungen handelt es sich nicht um schnelle und kurzlebige Meinungsäußerungen, sondern um wohl durchdachte und auf eine gewisse Dauer angelegte Dokumente. Durch die Möglichkeit der Fortschreibung der Dokumente zeigt sich aber auch eine gewisse Flexibilität beispielsweise gegenüber rechtlichen Neuerungen. Als letztes Kriterium für eine leistungsfähige ärztliche Ethik sollte gegeben sein, dass es eine nachvollziehbare inhaltliche Kontinuität der ethischen Aussagen und Argumentationen gibt. Damit ist gemeint, dass die ethischen Aussagen sich an der historisch gewachsenen Tradition des ärztlichen Standesethos abarbeiten müssen und wo möglich auf ein gemeinsames ärztliches Ethos hingearbeitet werden soll. Der Versuch eines gemeinsamen Ethos stärkt nicht nur die Schlagkraft in Diskursen, sondern ist vielmehr für die einzelnen Berufsangehörigen wichtig, die sich dann als ethische Subjekte der Legitimität und breiten Akzeptanz einer ethischen Position sicher sein können. Kontinuität ethischer Aussagen heißt hier aber nicht Unveränderlichkeit oder Homogenität, sondern schließt sowohl die Anpassung der ärztlichen Ethik und der Ethos-Regeln an aktuelle Probleme als auch das Streben nach Transparenz innerärztlicher Diskurse mit ein. Die vier vorgestellten Kriterien, Repräsentativität, Autorität, Professionalität und Kontinuität, sind als Versuch zu betrachten, den sich ständig wandelnden Voraussetzungen für eine leistungsfähige ärztliche Ethik zu begegnen. Die ärztliche Ethik der BÄK diente hier als Beispiel, an dem die vier Kriterien entwickelt werden konnten. Eine ärztliche Berufsethik ist leistungsfähig, wenn sie ihre Funktion erfüllt, sich gegenüber anderen handlungsbeeinflussenden Instanzen der Medizinwelt abgrenzen lässt und gleichzeitig kooperativ bleibt. Ärztliche Ethik hat die Funktion, einen 8 9

U. Wiesing (2001), Was tun, wenn man sich nicht einigen kann?, in: Deutsches Ärzteblatt, 98(14)/2001, A-898. Bundesärztekammer (1997), Beschlussprotokoll des 100. Deutschen Ärztetages vom 27.–30. Mai 1997 in Eisenach. Punkt ΙI der Tagesordnung: Medizinethik in einer offenen Gesellschaft. 1. Medizinethik in einer offenen Gesellschaft, Abruf unter: http://www.bundesaerztekam mer.de/ downloads/Beschlussprotokoll_100_DAeT_Eisenach_1997.pdf [31.5.2010].

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Ärztliche Ethik

Korridor zu demarkieren und die Begrenzungen dieses Entscheidungsraumes zu begründen. Die Absteckung eines ethischen Entscheidungskorridors ergibt sich besonders für solche ärztlichen Entscheidungen, die sich an den Grenzen von Recht und medizinischem Wissen bewegen. Diese Beobachtung leitet über zu den Fragen nach Abgrenzung, Konflikt und Kooperation zwischen den drei Disziplinen Medizin, Recht und Ethik sowie der Rolle der Gesellschaft.

3.

Verschiedene Perspektiven zwischen Konflikt und Kooperation: Ärztliche Ethik, Medizin, Recht und Gesellschaft

Eine Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing befasste sich mit dem Verhältnis zwischen den Disziplinen Medizin, Ethik und Recht und fragte nach Konflikten und 10 den Möglichkeiten von Kooperation zwischen den Disziplinen. In seinem Vortrag „Ärztliche Verantwortung und ärztliches Handeln zwischen Medizin, Recht und Ethik“ stellte der Hauptgeschäftsführer der BÄK, Christoph Fuchs, fest, dass die drei Disziplinen grundsätzlich in einem kooperativen Verhältnis zueinander stünden. Erst sekundär entstünden Konflikte zwischen den drei Bereichen, die meist mit dem Anspruch auf Dominanz eines Bereiches einhergingen. Da sich die drei Disziplinen inhärent unterschiedlich schnell weiterentwickelten, habe die Herstellung eines Gleichgewichts den Charakter einer dauerhaften „kooperativen Kon11 fliktbewältigung“ bzw. einem „produktiven Spannungsverhältnis“. Das ärztliche Handeln stehe in der Mitte dieses Spannungsverhältnisses und müsse gleichzeitig die Anforderungen der drei Disziplinen beachten. Zu den drei genannten Instanzen kann noch eine vierte hinzukommen, die Gesellschaft. Denn die Gesellschaft übt beispielsweise in Form von Meinungsumfragen und öffentlichen Diskussionen einen nicht geringen Einfluss auf ärztliches Handeln aus. Dabei betont die verfasste Ärzteschaft entweder die Diskrepanz zwischen gesellschaftlicher Meinung und Standesethik, wie dies auf dem Gebiet der aktiven Sterbehilfe der Fall ist. Oder es wird explizit nach einem gesellschaftlichen Konsens gesucht oder zumindest die ärztliche Position als Teil des gesellschaftlichen Diskurses gesehen. Dies wurde z.B. vom Wissenschaftlichen Beirat der BÄK im „Diskussi12 onsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“ aus dem Jahr 2000 betont. Der Diskussionsentwurf verstand sich als Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Diskussion. In kaum einer anderen Verlautbarung der BÄK wurde so 10

11

12

Evangelische Akademie Tutzing (2010), Programm der Tagung „Medizin, Recht, Ethik zwischen Konflikt und Kooperation“, Abruf unter: http://www.ev-akademie-tutzing.de/doku/programm/ detail.php3?lfdnr=1523&part=detail [31.5.2010]. C. Fuchs (2010), Ärztliche Verantwortung und ärztliches Handeln zwischen Medizin, Recht und Ethik (Vortragsmanuskript), Abruf unter: http://www.ev-akademie-tutzing.de/doku/pro gramm/ get_it.php?ID=1268 [31.5.2010]. Bundesärztekammer (2000), Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik, in: Deutsches Ärzteblatt, 97(9)/2000, S. 525–528.

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deutlich betont, dass die ärztliche Ethik die gesellschaftliche Meinung mit einbeziehen müsse und selbst Teil des gesellschaftlichen Diskurses sei. In der Regel wird aber die Gesellschaft nicht als eigene Instanz neben den anderen dreien gesehen, sondern eher als übergreifende Perspektive, die die medizinische, rechtliche und ethische Perspektive einschließt. Die Konflikte zwischen Medizin, Recht und Ethik 13 sind dann das „Spiegelbild einer gesellschaftlichen Entwicklung“ . Die Ärztinnen und Ärzte sind als Teil der Gesellschaft zu verstehen, die sich darum bemühen, „bei 14 ihrem Handeln im Einklang mit Recht und Ethik zu stehen“ . Medizin, Ethik und Recht können als verschiedene Disziplinen oder Instanzen bezeichnet werden, die ihren jeweiligen Einfluss auf ärztliches Handeln ausüben. Mit dem Begriff der „Perspektive“ soll eine weitere Bezeichnungsmöglichkeit für die genannten Disziplinen eingeführt werden, die nicht so sehr die Einflussnahme als vielmehr die Wahrnehmung des Gegenstands in den Vordergrund rückt. Das ärztliche Handeln bildet den Gegenstand, der aus medizinischer, rechtlicher und ethischer Perspektive betrachtet werden kann. Der Vorteil dieser Bezeichnungsmöglichkeit ist, dass die drei Perspektiven gleichzeitig und dies auch von einer fachfremden Person eingenommen bzw. nachvollzogen werden können. Bei der Rede von Disziplinen oder Instanzen stellt man sich eher verschiedene Personengruppen vor, die miteinander in Diskussion treten. Dagegen gehört die medizinische, ethische und rechtliche Perspektive auf das ärztliche Handeln zu den grundlegenden beruflichen Kompetenzen von Ärztinnen und Ärzten. Sie müssen bei ihrem Handeln die drei Perspektiven gleichzeitig bedenken. Die Richtlinien und Empfehlungen der BÄK votieren an unterschiedlichen Stellen immer wieder für die drei erwähnten Perspektiven, unter denen das ärztliche Handeln betrachtet und Vorzüglichkeitsaussagen begründet werden können: medizinisch, rechtlich, ethisch. In den Texten der BÄK lässt sich die Einteilung in die drei Perspektiven wie ein roter Faden ausmachen, der über Jahrzehnte die Produktion standesethischer Texte durchzogen hat. Der Begriff der „Perspektive“ wird von den Texten zwar nicht gebraucht, eignet sich aber am besten zur Beschreibung dessen, was mit der Einteilung gemeint ist. Denn es wird innerhalb eines Textes jeweils derselbe Gegenstand aus der Sichtweise der Medizin, des Rechts und der Ethik betrachtet und mit Vorzüglichkeitsregeln und Begründungen bedacht, die einer der drei Disziplinen zuzuordnen sind. 15 In den „Richtlinien für die Sterbehilfe“ von 1979 erscheint diese Einteilung zum ersten Mal als Gliederung des Kommentars zu den Richtlinien. Dort findet man „Ärztliche Überlegungen“, „Ethische Gesichtspunkte“ und „Rechtliche Beur13 14

15

D. Nedbal (2010), Konflikte als Spiegel der Gesellschaft, in: Deutsches Ärzteblatt, 107(14)/2010, C-560. C. Fuchs (2010), Ärztliche Verantwortung und ärztliches Handeln zwischen Medizin, Recht und Ethik (Vortragsmanuskript), Abruf unter: http://www.ev-akademie-tutzing.de/doku/programm/ get_it.php?ID=1268 [31.5.2010]. Bundesärztekammer (1979), Richtlinien für die Sterbehilfe, in: Deutsches Ärzteblatt, 76(14)/1979, S. 957–960.

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teilung“ als Überschriften für bestimmte Perspektiven auf die ärztliche Sterbehilfe. Die „Ärztlichen Überlegungen“ sprechen sich zunächst aus für die grundsätzliche Gültigkeit der Lebenserhaltung und der Heilung als den Hauptzielen des ärztlichen Handelns. Für die Sterbehilfe im Sinne eines Therapieverzichts bei Sterbenden gelten diese Ziele nicht, was hier mit einer ‚nichtzumutbaren Verlängerung des Leidens‘ begründet wird. In den „Ethischen Gesichtspunkten“ wird der Blick auf die Beschaffenheit der Entscheidung für einen Therapieverzicht gelenkt. Dies sei ein schwerer Würdigungs- und Abwägungsprozess, dem ein möglichst breiter Ermessensspielraum zugestanden werden müsse. Die „Rechtliche Beurteilung“ konzentriert sich auf die ärztliche Garantenpflicht und deren mögliche Verletzung durch einen Therapieverzicht. Den Therapieverzicht rechtlich ermöglichen und von der Garantenpflicht entbinden könne nur der aktuelle oder mutmaßliche Wille des Patienten. Auch die „Richtlinien zur Durchführung von In-vitro-Fertilisation (IVF) und 16 Embryotransfer (ET) als Behandlungsmethode der menschlichen Sterilität“ von 1985 verwenden die Einteilung in die medizinische, ethische und rechtliche Perspektive. Die Formulierung „ethische Fragen, ärztliche Aufgaben und rechtliche Konsequenzen“ gibt Hinweis darauf, welche Funktionen der ärztlichen Ethik, der Medizin und dem Recht zugeschrieben werden können. Aus medizinischer Perspektive geht es um die Erfüllung bestimmter Aufgaben, die sich gegenüber den Patienten stellen. Aus rechtlicher Perspektive steht die Demarkierung eines äußeren Rahmens durch Sanktionen im Vordergrund, innerhalb dessen die ärztlichen Aufgaben überhaupt nur wahrgenommen werden dürfen. Der ethischen Perspektive kommt schließlich die Funktion zu, in Grenzbereichen zwischen medizinischen Aufgaben und rechtlichen Regeln Fragen aufzuzeigen und einer Lösung zuzuführen. In den Texten der BÄK zu den Themen Pränataldiagnostik (PND) und Schwangerschaftsabbruch (SSA) wird nur eine ethische und eine rechtliche Perspektive unterschieden. Die medizinische Perspektive wird nicht explizit genannt, aber es wird hier das grundsätzliche Primat der medizinischen Perspektive betont. Erst wenn die Medizin an ihre Grenzen stößt, werden rechtliche und ethische Begründungen herangezogen. Wenn die „Erklärung zum Schwangerschaftsabbruch nach 17 Pränataldiagnostik“ von 1998 in eine juristische und eine ethische Sicht auf den Schwangerschaftsabbruch (SSA) nach Pränataldiagnostik (PND) unterscheidet, sind diese Perspektiven als subsidiär zur medizinischen anzusehen. Aus juristischer Sicht wird mit einem SSA nur eine einzige Absicht verfolgt: die Tötung des Ungeborenen. Aus ethischer Perspektive kann zwischen zwei Zielen unterschieden werden. Der Tod des Ungeborenen ist entweder nicht beabsichtigt, wird dann aber bei ge16

17

Bundesärztekammer (1985), Richtlinien zur Durchführung von In-vitro-Fertilisation (IVF) und Embryotransfer (ET) als Behandlungsmethode der menschlichen Sterilität, in: Deutsches Ärzteblatt, 82(22)/1985, S. 1645 und S. 1690–1698. Bundesärztekammer (1998), Erklärung zum Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik, in: Deutsches Ärzteblatt, 95(47)/1998, A-3013–3016.

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sundheitlicher Gefährdung der Schwangeren billigend in Kauf genommen. Oder der Tod des Kindes ist das primäre Ziel eines SSA, nämlich dann, wenn seine reine Existenz eine gesundheitliche Gefahr für die Schwangere darstellt. Die „Richtlinien zur pränatalen Diagnostik von Krankheiten und Krankheits18 dispositionen“ von 1998 widmen sich der Differenzierung in eine ethische und eine juristische Perspektive in noch detaillierterer Weise. Sie stellen heraus, welche Güter bei der PND jeweils in Konflikt geraten. Aus juristischer Sicht stehen sich das Lebensrecht des Ungeborenen und das Recht auf selbstbestimmte Elternschaft gegenüber. Das ethische Kernproblem der PND besteht in der Möglichkeit der Herbeiführung eines Konflikts zwischen dem Tötungsverbot und dem Abtreibungswunsch der Schwangeren, der durch das Ergebnis der PND ausgelöst wurde. Ethik und Recht werden hier bemerkenswerter Weise als gleichrangige und ähnlich argumentierende Disziplinen dargestellt. Die Sicht von Ethik und Recht als zwei sich ähnelnde und wechselseitig abhängige „Grundformen der Regelung menschlicher 19 Gemeinschaft“ ist in der medizinethischen Debatte recht verbreitet. 20 Der „Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“ von 2000 erweiterte die drei Perspektiven um die der gesellschaftlichen. Der Text strebt ein Gleichgewicht zwischen den vier Perspektiven an: ethischen Normen (Ethik), gesetzlichen Regelungen (Recht), dem Stand der Wissenschaft (Medizin) und der gesellschaftlichen Diskussion auf dem Gebiet der Präimplantationsdiagnostik. Die Perspektiven sind hier mit anderen Konnotationen behaftet, als beispielsweise in den „Richtlinien zur Durchführung von In-vitro-Fertilisation (IVF) und Embryotransfer (ET) als Behandlungsmethode der menschlichen Sterilität“ von 1985. Mit der ethischen Perspektive werden im Diskussionsentwurf von 2000 vornehmlich „Normen“ und nicht „Fragen“ in Verbindung gebracht. Die rechtliche Perspektive stellt die Regelung durch Gesetze und nicht so sehr die Konsequenz ihrer Übertretung in den Vordergrund. Und die medizinische Perspektive garantiert im Diskussionsentwurf die Wissenschaftlichkeit. Die Frage nach ärztlichen Aufgaben steht dabei nicht so im Vordergrund. 21 Die „(Muster-)Richtlinie zur Durchführung der assistierten Reproduktion“ von 2006 liefert die für die Verlautbarungen der BÄK bislang detaillierteste Beschrei18 19

20 21

Bundesärztekammer (1998), Richtlinien zur pränatalen Diagnostik von Krankheiten und Krankheitsdispositionen, in: Deutsches Ärzteblatt, 95(50)/1998, A-3236–3242. U. Körner (2009), Die Ethik-Recht-Kapitel in den Leitlinien zur Ernährungsmedizin 2003–2007 – Kommentar, in: A. Weimann et al. (Hrsg.), Künstliche Ernährung und Ethik, Lengerich, S. 180. Jüngst betonte Georg Marckmann in seinem Vortrag „Der Anspruch der Ethik und seine Bedeutung für die Medizin“ auf der Tagung „Medizin, Recht, Ethik – zwischen Konflikt und Kooperation“ der Evangelischen Akademie Tutzing die „Konvergenz von Ethik und Recht in Sachen Legitimation und Orientierung“ ärztlichen Handelns. Vgl. D. Nedbal (2010), Konflikte als Spiegel der Gesellschaft, in: Deutsches Ärzteblatt, 107(14)/2010, C-560. Bundesärztekammer (2000), Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik, in: Deutsches Ärzteblatt, 97(9)/2000, S. 525–528. Bundesärztekammer (2006), (Muster-)Richtlinie zur Durchführung der assistierten Reproduktion, in: Deutsches Ärzteblatt, 103(20)/2006, A-1392–1403.

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Ärztliche Ethik

bung der medizinischen, rechtlichen und ethischen Perspektive auf ärztliches Handeln. Es wird besonders auf die Funktionen der jeweiligen Vorzüglichkeitsregeln aus der medizinischen, rechtlichen und ethischen Perspektive abgehoben. Aus medizinischer Sicht zielen Vorzüglichkeitsregeln auf den Ausgleich verschiedener Interessensgruppen auf Seiten der Patientin. Dazu zählen in der Reproduktionsmedizin die potenziellen Eltern, das zu zeugende Kind und bei heterologen Verfahren der zusätzliche Elternteil. Was die beiden anderen Perspektiven betrifft, so lässt das Vorwort der „(Muster-)Richtlinie zur Durchführung der assistierten Reproduktion“ von 2006 auf eine Subsidiarität der Ethik und des Rechts gegenüber der Medizin schließen. Es wird der Vorrang der medizinischen Perspektive nahegelegt und der Nutzen von rechtlichen und ethischen Vorzüglichkeitsregeln bewertet. Die Reproduktionsmedizin weiß um ihren Handlungsspielraum auf der Grundlage gesetzlicher Rahmenbedingungen und sieht sich in der Pflicht, ethische Normen zu berücksichtigen. Ethik und Recht ordnen und begrenzen den Handlungsspielraum, in welchem sich die medizinische Sicht der Probleme entfalten kann. Aus rechtlicher Perspektive muss es gesetzliche Rahmenbedingungen geben, innerhalb derer die „(Muster-)Richtlinie zur Durchführung der assistierten Reproduktion“ von 2006 ihre Orientierungshilfe für das ärztliche Handeln entfalten kann. Es wird aber auch die Unvollständigkeit der Gesetzgebung betont, was dazu führt, dass eine Orientierungshilfe durch Richtlinien überhaupt nötig ist. Neben den gesetzlichen Rahmenbedingungen wird auf die Orientierungsfunktion ethischer Normen – vor allem das Kindeswohl – hingewiesen, die den Raum ärztlichen Handelns strukturieren. In den Richtlinien und Empfehlungen der BÄK zeigt sich die ärztliche Ethik als eine von drei bzw. vier möglichen Perspektiven auf ärztliches Handeln. Medizin, Ethik und Recht bilden die Kernperspektiven und die Gesellschaft kann als übergreifende Perspektive verstanden werden. Mit der differenzierten Perspektivität geht eine relativ gute Abgrenzbarkeit der mit den Perspektiven verbundenen Disziplinen einher. Der ärztlichen Ethik kommt den Texten zufolge einerseits die Funktion zu, an den Grenzen von Medizin und Recht ärztliches Handeln zu hinterfragen und anderseits Normen bereitzustellen, die dem ärztlichen Handeln Orientierung geben. Demgegenüber gestaltet sich die Verhältnisbestimmung der Disziplinen untereinander uneinheitlich. Deutlich wird nur die Konvergenz der Anliegen von Ethik und Recht. Beide demarkieren einen Handlungskorridor, geben Orientierung und stellen Legitimationsvoraussetzungen für ärztliches Handeln bereit. Undeutlich bleibt, ob der medizinischen Perspektive das Primat zukommt und Recht und Ethik für die Medizin nur den Entscheidungsraum begrenzen oder ob es sich bei Medizin, Ethik und Recht um gleichrangige Perspektiven handelt. Für eine Befürwortung der Gleichrangigkeit zumindest von Medizin und Ethik spricht, dass diese beiden konzeptionell nicht zu trennen sind. Denn medizinisches Handeln muss sich immer an moralischen Normen orientieren und ist konstitutiv auf ethische Reflexion angewie-

Kliesch

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sen. Eine mögliche Kooperation zwischen den drei Perspektiven kann insofern ihre Wirkung entfalten, als eine fachlich fundierte Multiperspektivität für Ärztinnen und Ärzte bereit gestellt wird. Konflikte zwischen den Perspektiven kommen dann in den Blick wenn eine prinzipielle Nachordnung der ethischen und rechtlichen Perspektive hinter die medizinische angestrebt wird. Es bleibt eine seltsame Ambivalenz zwischen gleichrangigen Perspektiven und subsidiär gedachten Disziplinen mit Vorrangstellung der Medizin. Diese Beobachtung führt zum Ausblick, der diese Ambivalenz skizzenhaft auflösen will.

4.

Ausblick: Auswirkung der Verhältnisbestimmung zwischen Ethik, Medizin und Recht auf den klinischen Alltag

Mit Blick auf die Entscheidungssituationen von Ärztinnen und Ärzten in der Klinik ist eine Kooperation von Medizin, Recht und Ethik als gleichzeitige Perspektiven anzustreben. Denn diese Multiperspektivität auf ärztliche Handlungsentscheidungen ermöglicht es den einzelnen Berufsangehörigen, ein für sich stimmiges Konzept ihres Entscheidens und Handelns zu entwickeln. Ein solches Konzept könnte folgendermaßen lauten: Ärztliches Handeln muss medizinisch lege artis sein, sich innerhalb des rechtlichen Rahmens bewegen und gleichzeitig unter Wahrung der ethischen Grundsätze geschehen. Wenn es allerdings darum geht, dass verschiedene Berufsgruppen an der Entscheidung über einen bestimmten Fall beteiligt sind, muss die Gleichrangigkeit der Disziplinen zugunsten einer Subsidiarität aufgebrochen werden dürfen. Das Zugeständnis einer gewissen Subsidiarität verhindert nicht, sondern ermöglicht manchmal erst gute interdisziplinäre Kooperation. So kann eine gute „pragmati23 sche Kooperation zwischen Medizin und Ethik“ stattfinden, wenn eine ethische Beratung durchgeführt wird. Hinsichtlich der beteiligten Berufsgruppen ist klar, dass Entscheidungsverantwortung und -hoheit beim therapeutischen Team liegt. Die Ethikberatung wird nur konsiliarisch hinzugezogen, um ärztliche ethische Urteilsbildung zu schärfen und ist somit subsidiär zu den medizinisch zu verantwortenden Entscheidungen. Die Unterscheidung zwischen Multiperspektivität des einzelnen ärztlich Tätigen einerseits und der Subsidiarität bei der Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen in ethischen Konfliktfällen andererseits ermöglicht eine Auflösung des ambivalenten Verhältnisses von Medizin, Recht und ärztlicher Ethik.

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G. Marckmann (2010), Der Anspruch der Ethik und seine Bedeutung für die Medizin (Vortragsfolien), Abruf unter: http://www.ev-akademie-tutzing.de/doku/programm/get_it.php?ID=1261 [31.5.2010]. Ebd.

Ethik im Gesundheitswesen. Einige Bemerkungen und Fragestellungen Andreas Klein

1.

Einleitung

Ethik im Kontext des Gesundheitswesens kann nicht im luftleeren Raum agieren, sondern muss sich zunächst ein paar übergreifende ethische Fragestellungen und Problemhorizonte vor Augen führen, welche dann auch für ethische Perspektivierungen im Gesundheitswesen von Belang sind. Selbstverständlich wären hier noch weit höherstufigere, metaethische Fragestellungen möglich, als Fragen nach der Grundlegung von Ethik überhaupt, die ich aber aufgrund der gewählten Zielsetzung übergehe. Ansatzweise wird jedoch in den folgenden Ausführungen an bestimmten Stellen darauf zu verweisen sein. Man sollte sich aber bereits hier vergegenwärtigen, dass der übergreifende Zu1 sammenhang ganz allgemein als „Gesundheitsethik“ bezeichnet werden kann, womit es dann freilich nicht nur um medizinische Interventionen verschiedenster Art und die damit einhergehenden Fragestellungen geht, da das Gesundheitswesen ganz unterschiedliche Berufsgruppen vereint, die allesamt mit Patienten (auch im weiteren Sinn) zu tun haben. Man denke an dieser Stelle etwa an die Pflegeberufe, die einen eminenten und zentralen Beitrag leisten, aber andere Problemstellungen aufweisen als etwa die ärztliche Tätigkeit. Gesundheitsethik ist wiederum in den größeren Zusammenhang einer Sozialethik eingebunden, was wiederum bedeutet, dass ganz bestimmte Perspektiven und Probleme einbezogen werden müssen, die übergreifender Natur sind. So haben wir es etwa auch mit Fragen zu tun, was wir als Menschen in einer Sozietät oder Gesellschaft überhaupt als wünschenswert oder erstrebenswert betrachten – oder betrachten sollten –, ja, was überhaupt das Menschsein und Personsein (beides muss sich nicht decken) auszeichnet und wie unsere Primäreinstellungen und zentralen Wertorientierungen gelagert sind. Damit sind also eminent anthropologische Fragestellungen vorgezeichnet, die sich jedenfalls nicht alleine in der Gesundheitsperspektive hinreichend erörtern und beantworten lassen, da hier Hintergrundannahmen maßgeblich werden, die über den Bereich des Gesundheitswesens oder einer Gesundheitsethik hinausreichen. Es handelt sich somit um gesamtgesellschaftliche Fragen, die den begrenzten Kreis der Gesundheitsperspektive transzendieren. Mit Händen zu greifen ist dieser Um-

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Vgl. u.a. dazu U. Körtner (2004), Grundkurs Pflegeethik, Wien, S. 32ff.

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stand in den erregten Debatten um den strittigen Begriff der „Menschenwürde“, erst recht im Kontext von Stammzellforschung und Präimplantationsdiagnostik. Geht man einen Schritt weiter, so muss noch einmal gefragt werden, worin eigentlich das Ziel und die Aufgabe medizinischer Intervention besteht. Es wird sich zeigen, dass sich bereits hier enorme Differenzierungsschwierigkeiten mit unterschiedlichen Problemlagen ergeben. Wirft man zunächst einen Blick in die geltende Fassung des österreichischen Ärztegesetzes (1998), so erhält man in § 1 Abs. 1 die Auskunft: „Der Arzt ist zur Ausübung der Medizin berufen.“ In Abs. 2 wird sodann erläutert: „Die Ausübung des ärztlichen Berufes umfaßt jede auf medizinischwissenschaftlichen Erkenntnissen begründete Tätigkeit, die unmittelbar am Menschen oder mittelbar für den Menschen ausgeführt wird, insbesondere 1. die Untersuchung auf das Vorliegen oder Nichtvorliegen von körperlichen und psychischen Krankheiten oder Störungen, von Behinderungen oder Mißbildungen und Anomalien, die krankhafter Natur sind; 2. die Beurteilung von in Z 1 angeführten Zuständen bei Verwendung medizinisch-diagnostischer Hilfsmittel; 3. die Behandlung solcher Zustände (Z 1); 4. die Vornahme operativer Eingriffe einschließlich der Entnahme oder Infusion von Blut; 5. die Vorbeugung von Erkrankungen; 6. die Geburtshilfe sowie die Anwendung von Maßnahmen der medizinischen Fortpflanzungshilfe; 7. die Verordnung von Heilmitteln, Heilbehelfen und medizinisch diagnostischen Hilfsmitteln; 8. die Vornahme von Leichenöffnungen.“ Selbstredend ist die Eingangsbestimmung zu allgemein gehalten und bedarf der Ergänzung. Wie an der Aufzählung Z 1-8 zu sehen ist, wäre es offenbar ungenügend, die ärztliche Tätigkeit lediglich im Gegenüber von „Gesundheit“ und „Krankheit“ zu lozie3 ren, wie schon die Punkte 6 und 8 deutlich zeigen. Damit ist jedoch ein Problem verbunden, da nämlich für gewöhnlich davon ausgegangen wird, dass „Krankheit“ die legitimatorische, „Gesundheit“ die teleologische Kategorie der Medizin ist. Ist also Anlass medizinischer Intervention die Kategorie Krankheit, so wird hier das Ziel medizinischen Handelns in der Wiederherstellung oder Erhaltung von Gesundheit gesehen. Dies greift aber offenbar zu kurz, wie nicht zuletzt auch aktuelle und neue medizinische Interventionsmöglichkeiten, etwa die Schönheitschirurgie, zeigen. Freilich ist es dann bereits eine Folgefrage, inwiefern etwa die Gesamtgesellschaft, und hier die einzelnen steuer- und beitragszahlenden und systemerhaltenden Bürger, für medizinische Maßnahmen aufkommen sollen, die etwa nur der individuellen Verbesserung oder Optimierung (Enhancement) dienen oder ob der Wunsch nach derartigen Verbesserungen auf individuelle Bedingungen zurückge2

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Vgl. etwa nur – als ganz geringen Ausschnitt aus der Debatte – die ganz unterschiedlich gelagerten Beiträge im Sammelband von M. Kettner (2004) (Hrsg.), Biomedizin und Menschenwürde, Frankfurt a.M. Siehe auch F.J. Wetz (2005), Illusion Menschenwürde. Aufstieg und Fall eines Grundwertes, Stuttgart. An dieser Stelle ist es bereits etwas verräterisch oder zumindest asymmetrisch, dass etwa Geburtshilfe in „Krankenhäusern“ bzw. „Krankenanstalten“ vorgenommen wird, was beinahe unterstellen könnte, als seien gebärende Frauen Menschen mit einer Krankheit. Vielleicht wäre es an der Zeit, diese Institutionen mit einem neuen Namen zu versehen oder eine Namenserweiterung anzubringen.

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Ethik im Gesundheitswesen

führt werden können, die einen in der oben gebotenen Aufzählung Fall indizieren, der eine gesamtgesellschaftliche finanzielle Beteiligung rechtfertigt. Freilich ist gerade dieser Boden von unterschiedlichen Interessensgruppen, die mit durchaus partikularen Interessen (individuellen, ökonomischen, politischen, ideologischen usw.) operieren, heiß umkämpft. So ist bekanntlich der Passus in Z 6, nämlich die „Anwendung von Maßnahmen der medizinischen Fortpflanzungshilfe“ im Blick auf In-vitro-Fertilisation in Österreich so geregelt, dass die Versicherungsgemeinschaft nicht für die Gesamtkosten der IVF aufkommt, sondern ein erheblicher Selbstbehalt den betroffenen Paaren, die IVF in Anspruch nehmen wollen – und können –, weil andernfalls eine „natürliche“ Schwangerschaft nicht möglich ist, verbleibt. Das bedeutet jedoch, dass zwar einerseits medizinische Fortpflanzungshilfe gewährt und finanziell unterstützt wird, die Inanspruchnahme von IVF aber meist mit derart erheblichen Kosten verbunden sein kann und häufig auch ist, dass Paare mit geringem Einkommen wohl seltener diese Reproduktionshilfe in Anspruch nehmen werden und können. Zu fragen wäre zumindest, ob dies dem Gedanken der Gerechtigkeit im Gesundheitswesen adäquat ist, da doch auch in anderen Bereichen weniger bemittelten Menschen gewisse Erleichterungen zuteil werden. Ein brisanter Bereich betrifft sicherlich gleich die Eingangsbestimmungen 1–3 von § 2 Abs. 2 ÄrzteG, wonach Ärzten die „Untersuchung“, die „Beurteilung“ und die „Behandlung“ von „körperlichen und psychischen Krankheiten oder Störungen, von Behinderungen oder Mißbildungen und Anomalien, die krankhafter Natur sind“, obliegt. Einerseits scheint damit eine Monopolisierung hinsichtlich psychischer Erkrankungen und Störungen zumindest implizit einhergehen zu können, obwohl die Gesamtausbildung für Allgemeinmedizin lediglich bestimmte psychiatrische oder neurologische Ausbildungen vorsieht (§ 7 Abs. 2). Jedenfalls ist mit psychiatrischen oder neurologischen Kenntnissen und Fähigkeiten nicht das Gesamtfeld psychischer Interventions- und Hilfsmöglichkeiten abgedeckt. Psychologische Hilfe und Intervention wird aber häufig von anerkannten TherapeutInnen vorgenommen, die ihrerseits keine vollwertige medizinische Ausbildung absolviert haben. Damit ist aber ganz offensichtlich ein Konfliktpotential zwischen Medizinern und Psychologen vorgezeichnet. Es ist ja „unzweifelhaft, dass Psychotherapien die subjektive Lebensqualität vielfach sehr viel nachhaltiger verbessern können als somatisch ansetzende Behandlungen“, was eigentlich selbstverständlich dazu anhalten sollte, der „gegenwärtige[n] Unterfinanzierung der Psychotherapie“ entge4 genzuwirken. Dies würde aber ohnehin darauf verweisen, dass es hier letztlich auf interdisziplinäre und interprofessionelle Perspektiven ankommt, so dass von einer rein somatischen und quasi biologischen Primärorientierung im Gesundheitswesen abzurücken ist. Freilich hängt gerade diese Primärorientierung mit den Verfahrensweisen medizinischer Heilkunst und ihrer traditionellen Entwicklungsgeschichte zusammen, da diese zunächst einmal auf biologische Systeme und ihre 4

D. Birnbacher (2006), Bioethik zwischen Natur und Interesse, Frankfurt a.M., S. 353.

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Funktionsweise abstellen, dabei aber schon verfahrenstechnisch der Gefahr Vorschub geleistet wird, dass gar nicht der gesamte Mensch, der ja bestimmte Beschwerden, Erkrankungen oder Störungen hat, in den Blick kommt, sondern lediglich bestimmte Teilperspektiven, etwa organische Dysfunktionen, Organverletzungen usw. Damit ist aber ganz generell ein Problem angezeigt, welches auch gegenwärtig Gegenstand gesundheitsethischer Debatten ist. Die medizinische Primärorientierung und Anbindung an Biologie und an naturwissenschaftliche Erkenntnisse bedingt, dass der Hilfe suchende oder Hilfe benötigende Mensch in seiner Gesamtheit gar nicht hinreichend in den Blick kommt, da dieser gerade nicht allein über organische Funktionen definiert oder zumindest charakterisiert werden kann – auch nicht über seine Funktion für bestimmte Subsysteme. Zudem ist die medizinische Ausbildung, insbesondere das Medizinstudium, eigentlich gar nicht darauf eingestellt, mit dem jeweiligen konkreten Menschen als leib-seelische Ganzheit in seinen vielschichtigen Bedürfnissen adäquat umzugehen, da der Mensch immer mehr ist als die Summe seiner Teile. Die übergreifenden Gesichtspunkte, die sich darauf beziehen, dass wir es immer mit Menschen in ihrer Gesamtheit zu tun haben, können nun aber gar nicht – zumindest nicht gegenwärtig – von den Ärzten aufgrund ihrer Standardausbildung abgedeckt werden. Von daher ist der Ruf nach umfassenderer Betreuung und Hilfestellung mehr als verständlich und berechtigt. Diese umfassendere Perspektivierung jedoch von den Ärzten zu erwarten, wäre häufig nicht nur eine Überforderung der Ärzte, sondern auch ungerechtfertigt, weil sie die dafür nötigen Fähigkeiten und Kompetenzen häufig gar nicht erworben haben. An dieser Stelle ist dann gewöhnlich von „ganzheitlicher Medizin“ die Rede, was aber freilich wiederum nicht unkritisch betrachtet werden darf, weil dadurch nicht selten Ganzheits- und Vollkommenheitsvorstellungen geweckt und erzeugt werden, die sich bis zu religiösen Versatzstücken steigern können. Ulrich Körtner schlägt darum vor, nicht von ganzheitlicher Medizin, sondern von einem „mehrdimensionalen Konzept von Heilkunst und Heilung“ zu sprechen, was er als „integrale Medizin“ 5 tituliert. „Ganzheitlichkeit“ ist letztlich doch wieder zu unspezifisch und kann auch für ungeeignete oder nicht hinreichend evaluierte Therapie- und Betreuungsverhältnisse in Anspruch genommen werden. Andererseits eröffnet die Formulierung in Z 1–3 die weitergehende Frage, was beispielsweise überhaupt als „Störung“ charakterisiert werden soll und darf. Hieran heften sich weit reichende Konsequenzen, da dann, wenn etwa die Grenzen recht weit gezogen werden, eine Totalpathologisierung der Gesellschaft droht, die freilich von keinem Gesundheitssystem getragen werden könnte. Zieht man hingegen die Grenzen zu eng, könnte es zu blinden Flecken in der Wahrnehmung von Beeinträchtigungen und medizinischen bzw. psychologischen Interventionserfordernissen kommen. Mit diesen Überlegungen rückt aber nun die Frage ins Blickfeld, was 5

Vgl. u.a. dazu U. Körtner (2004), Grundkurs Pflegeethik, Wien, S. 35.

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überhaupt als „Störung“, dann aber noch genereller, was gerechtfertigterweise überhaupt als „Krankheit“ und „Gesundheit“ bezeichnet werden kann oder muss. Diese Fragen lassen sich aber, das ist ein zentraler Punkt, gar nicht rein medizinisch 6 definieren und darüber hinaus unterliegen diese Festlegungen recht unterschiedlichen Faktoren, nämlich auch geschichtlichen, kulturellen, gesellschaftlichen, religiösen, empirischen, persönlich-individuellen und anderen Bedingungen. Es ist ja auch nicht zufällig, dass die Perspektiven auf Krankheit und Gesundheit zwischen Arzt und Patient deutlich differieren können. Letztlich ist es aber der Patient, der die Entscheidungsgewalt, bis auf ganz spezifische Ausnahmefälle, besitzt. Wir müssen sagen, dass sowohl unser Verständnis von Krankheit, wie auch jenes von Gesundheit, multifaktorale Konstrukte darstellen und nicht einfach „Gegebenes“ sind. Ein heute gängiger Slogan besagt, dass man nicht einfach krank ist, sondern krank gemacht wird. Ein beredtes aktuelles Beispiel ist, nachdem beispielsweise Homosexualität von der WHO-Liste der Krankheiten gestrichen wurde, die sog. Disability-Emanzipations-Bewegung, wie sie insbesondere in den USA sehr ausgeprägt vertreten ist. Diese Bewegung geht davon aus, dass etwa Gehörlosigkeit keine Krankheit oder eine Behinderung ist, sondern eine besondere Form menschlicher Kultur. Dementsprechend gehe es auch nicht an, dass sich Gehörlose schlicht und einfach in eine Welt der Hörenden einzupassen hätten, sondern fordern, dass Gehörlose in allen Belangen gleichgestellt zu sein haben. Ein weiteres Beispiel wären 7 etwa sog. Nicht-Krankheiten , also etwa Haarausfall, Altern, Menopause oder Mikromastie. Freilich wären die Konsequenzen kaum abzusehen, würden zahlreiche Fälle von Störungen oder natürlichen organismischen Veränderungen nun als Krankheiten aufzufassen sein. Das zeigt aber auch noch einmal, dass die jeweiligen Grenzziehungen keine sakrosankten oder gar natürlich-biologischen Gegebenheiten darstellen, sondern rationaler Bewertung zugänglich zu machen sind, was wiederum nicht alleine Sache der Medizin sein kann. Vielmehr operiert auch die Medizin stets vor einem Hintergrund theoretischer oder praktischer Einstellungen und Haltungen, die selbst nicht wieder im alleinigen Zuständigkeitsbereich medizinischer Definitionshoheit angesiedelt werden können. Insofern zehrt die Medizin immer auch von Hintergrundannahmen, die ihre Verwurzelungen anderweitig besitzen – jedenfalls nicht eigenverantwortlich hervorgebracht werden können. Es bedarf jedenfalls der Installation einer gewissen Norm und bestimmter Spielräume, die es allererst erlauben, etwas als Anomalien oder dergleichen zu bewerten. Aber 6

7

Es ist darum sehr bedauerlich, wenn von hochrangigen und einflussreichen Vertretern im Gesundheitswesen, wie etwa von Hans-Jörg Schelling, in seinem Vortrag vom 4.9.2009 im Rahmen der Gesundheitsgespräche im Europäischen Forum Alpbach auf die selbst gestellte Frage: „Warum Gesundheit“, die Antwort gegeben wird, dass der Mensch eine „Ressource“ ist und insofern volkswirtschaftlich gesehen werden muss. Auf die Frage, warum wir überhaupt Gesundheit wollen, kann jedenfalls gerechtfertigter Weise nicht mit dem Menschen als wirtschaftlicher Ressource geantwortet werden. Dass der Mensch auch als eine solche gesehen werden kann, ist dabei unbestritten. Aber das ist keine hinreichende Antwort auf die Ausgangsfrage. Vgl. u.a. dazu R. Smith (2002), In search of „non-disease“, BMJ 324 (2002), S. 883–885.

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diese Normen und Spielräume unterliegen ihrerseits wiederum Veränderungsprozessen. Wie die Vergangenheit zeigt, werden beispielsweise gewisse Grenzwerte in der individuellen Auswertung bestimmter Daten, z.B. im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen, im Laufe der Jahre verändert und angepasst; aber an was? Was ist denn die „Norm“ bzw. das „Normale“, von dem alles andere abweicht? Ist die Abweichung nun gut oder schlecht? Sollte nur das „Normale“ zugelassen werden, während das Abweichende als Krankheitsbild zu stehen kommt? Ist etwa das geisti8 ge Genie, als deutlicher Abweicher, als Heilungsbedürftiger einzustufen? Fragen diese Art sind keineswegs Spitzfindigkeiten, sondern in aktuellen bioethischen Debatten zutiefst verwurzelt. Insofern greifen zunächst Überlegungen zu kurz, die angesichts von Ressourcenknappheit nach adäquaten Verteilungsmöglichkeiten unter den Schlagworten von Rationalisierung, Rationierung oder der Effizienz und Effektivität fragen. Denn im Hintergrund muss stets die Frage thematisiert werden, was der „Sinn“ des Ganzen, damit auch des Gesundheitswesens, ist. Hier haben nicht zuletzt gesundheitspolitische und -ökonomische Debatten den erhellenden Effekt, die Sinnfrage noch einmal aufzuwerfen. Freilich kann es nicht das erklärte oder auch nur implizite Ziel sein, letztlich den ökonomischen Interessen das Feld zu überlassen, wenngleich ökonomische Perspektiven durchaus von erheblicher Relevanz sind. Dass es freilich ganz zentrale partikulare ökonomische Eigeninteressen gibt, ist ja wenig überraschend. Ebenso wenig ist es überraschend, dass gesellschaftliche Subsysteme ihre je eigenen Primärunterscheidungen und -orientierungen, damit aber auch ihre primären Unterscheidungs-Codes (Niklas Luhmann), zu verabsolutieren geneigt sind. An dieser Stelle gilt es auch darauf zu achten, inwiefern und wie weit mit Sprache Politik gemacht wird, denn bereits die jeweils bedienten Semantiken können ganz bestimmte Konsequenzen präjudizieren, die aber alles andere als selbstverständlich sind.

2.

Therapie als medizinisches Handlungsziel?

Wie bereits oben erläutert, zeigt das ÄrzteG in seiner Auflistung von Tätigkeitsbereichen, dass medizinisches Handeln primär am Begriff der (Wiederherstellung oder Erhaltung von) Gesundheit oder der Heilung als Zielperspektive orientiert ist. Abgesehen von den erwähnten Ausnahmen, spricht das ÄrzteG lediglich von „Behandlung“ bestimmter Krankheiten usw. Diese Formulierung ist durchaus von zentraler Relevanz, wenngleich dadurch noch nicht genauer spezifiziert wird, was nun als Behandlung verstanden wird. Der Begriff der Behandlung lässt jedenfalls einen breiteren Interpretationsspielraum zu; und – wie ich meine – zurecht. Ein Verständnis der Zielperspektive medizinischer Intervention, die primär am Begriff der Gesundheit orientiert ist, verursacht nämlich gravierende Probleme. Ist man 8

Vgl. etwa G.E. Moore (1903), Principia Ethica, Cambridge; dt.: Stuttgart 1996.

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etwa primär an der Erhaltung oder Wiederherstellung von Gesundheit interessiert, dann stellen offenbar Fälle, in denen die Gesundheit nicht wieder hergestellt werden kann (unheilbare Krankheiten) das Scheitern medizinischer Handlungen dar. Schon aus diesen Gesichtspunkten ergibt sich, dass ein Medizinkonzept nicht einseitig auf Heilung ausgerichtet sein darf. Damit aber gelangen weitergehende Perspektiven in den Blick, die etwa insbesondere die Pflegeberufe, aber auch Konzepte von Palliative Care, einbeziehen. Denn auch Lebensqualität, Schmerzlinderung oder ein menschenwürdiges, „gutes“ Sterben sind Güter, die nicht einseitig am Heilungsbegriff ausgerichtet werden dürfen. Insofern ist die Perspektive von vornherein auszuweiten und auf einen breiteren Boden zu stellen, da „nicht nur 9 Gesundheit, sondern auch Komfort als Gut zu bewerten ist“ . Dementsprechend erhalten auch andere Behandlungs- und Hilfestellungsmöglichkeiten eine zentralere Bedeutung, da insbesondere eine gute und umsichtige Pflege einen wichtigen Beitrag im Gesundheitsbereich leistet, der gar nicht überschätzt werden kann. Aber auch Sinnfragen, nicht zuletzt religiöse Sinnangebote, gehören integral in diesen Zusammenhang. An dieser Stelle kann auch auf Ansätze, wie jener von Dieter Birnbacher, der einen modifizierten Utilitarismus vertritt, rekurriert werden. Diese zeichnen sich nämlich u.a. dadurch aus, dass insgesamt „Leidensminderung und nicht Herstellung, Wiederherstellung und Aufrechterhaltung von physiologisch definierten Ge10 sundheitsparametern das oberste medizinische Handlungsziel ist“ . Dies muss freilich weiter ausdifferenziert werden und es erübrigt sich zu betonen, dass selbstverständlich Operationen einen integralen Bestandteil dieses Ansatzes darstellen. Insgesamt erfahren aber dadurch individuelle und subjektive Befindlichkeiten von Patienten eine besondere Berücksichtigung und Wertigkeit, und der Schmerzlinderung kommt eine größere Bedeutung zu, weil dadurch insgesamt der menschlichen Befindlichkeit noch weiter Rechnung getragen wird. Dies betrifft freilich auch noch andere Faktoren, wie etwa die Aufwertung psychologischer Betreuung und Beratung. Eine schwach oder „indirekt“ utilitaristische Perspektive, die insbesondere auch die Frage nach dem Gesamtnutzen ins Zentrum rückt, hat zudem den Vorteil, nicht nur von vornherein ökonomische Perspektiven zu integrieren, sondern diese auch intensiv zu bearbeiten und kritisch zu sichten. Um dies jedoch hinreichend und nachhaltig tun zu können, insbesondere auch im Blick auf Folgewirkungen im Gesundheitswesen, ist es jedoch vonnöten, dass hinreichende Transparenz im Gesundheitswesen gegeben ist. So wäre u.a. zu fragen, inwiefern die von Ärzten verschriebenen und von der Versicherungsgemeinschaft finanzierten Arzneimittel wirklich ihre Effizienz bzw. Effektivität im größeren Kontext leisten. Gemeint ist damit z.B. auch die Überprüfung, ob auf längere oder lange Zeit verschriebene Medikamente von den Patienten überhaupt in der nötigen Gesamtdauer einge9 10

U. Körtner (2004), Grundkurs Pflegeethik, Wien, S. 42. D. Birnbacher (2006), Bioethik zwischen Natur und Interesse, Frankfurt a.M., S. 353.

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nommen bzw. angewandt werden. Ist dies beispielsweise nicht in erforderlicher Weise der Fall, sind selbstverständlich Folgekosten für das Gesundheitssystem – und damit auch für den Steuerzahler – vorprogrammiert etwa aufgrund von Rück11 fällen oder neuerlichen stationären Aufnahmen. Beispiele dieser Art ließen sich vermehren, sollen aber nur darauf abzielen, dass erst eine überzeugende Transparenz und Überprüfung den Gesamtnutzen in den Blick bringen kann. Sind überhaupt alle durchgeführten Untersuchungen und Behandlungen notwendig und damit von der Versicherungsgemeinschaft finanziell zu tragen? Es darf ja nicht übersehen werden, dass hieran auch wirtschaftlich-ökonomische Interessen auf verschiedenen Ebenen tangiert sind. Was das Gesundheitssystem etwas kostet, kann einem anderen Wirtschaftszweig zugute kommen. Das darf freilich nicht so verstanden werden, als wäre dies per se schon kritikbedürftig. Mitnichten! Hier dürfen natürlich keine Missverständnisse aufkommen. Aber insbesondere dann, wenn manche Ressourcen knapp sind oder knapper werden, muss daran gelegen sein, eine ausgewogene Balance zu finden, wenngleich eine solche wahrscheinlich immer nur Ziel oder Ideal bleiben wird. Es soll selbstverständlich immer das Not12 wendige getan, geleistet und auch finanziert werden. Aber was das jeweils Notwendige, Zweckmäßige usw. ist, muss immer auch erst über rationale Überlegungen – und auch über eine gesellschaftliche Akzeptanz – herausgefunden werden und ist 13 nicht schon von sich aus einfach gegeben. Dafür ist aber eine hinreichende Transparenz im Gesundheitswesen vorausgesetzt, so dass im Bedarfsfall alternative Strategien als die vorläufig realisierten anvisiert werden können. Daneben bedarf es aber auch einer ausdifferenzierten ethischen und anthropologischen Grundlagenbetrachtung. In diesem Kontext sollte etwa dem Gesundheitswesen auch an Präventivmaßnahmen und einer präventiven Medizin gelegen sein, welche einer kurativen Medizin verstärkt zur Seite zu stellen ist. Hier geht es also darum, dass bereits im Vorfeld ganz bestimmte Maßnahmen in Angriff genommen werden, die letztendlich das Gesundheitsweisen in finanzieller Hinsicht entlasten. Natürlich darf man aber dabei nicht in das Extrem verfallen, nun den Bärenanteil von dieser Präventionsmöglichkeit zu erwarten. Denn es muss auch immer danach gefragt werden, um welchen Preis evtl. die Prävention durchgesetzt werden soll. Selbstredend gehen mit 11

12

13

Es ist ohnedies eine eigene Frage, wie etwa Patienten, die von Krankenanstalten entlassen und neuerlich aufgenommen werden, in Statistiken aufscheinen. Soweit ich sehen kann, bietet nicht einmal die OECD-Studie hierfür eine eigene Rubrik – ganz abgesehen davon, dass in manchen Bereichen dieser Studie Österreich nicht einmal angeführt ist, was wohl dahingehend zu deuten ist, dass die entsprechenden Daten und Informationen nicht vorgelegen haben. Wir werden an späterer Stelle noch darauf zurückkommen. Aber natürlich sind auch die gesetzlichen Formulierungen hinsichtlich des Notwendigen bzw. Zweckmäßigen alles andere als luzide. Es handelt sich hier – wie auch sonst – um ganz spezifische Konstruktionen von Beteiligten. Zu den entsprechenden Gesetzestexten siehe etwas später. Vgl. auch insgesamt P. Jabornegg (2001), Ökonomie und Krankenversicherung (Modelle zur Kostensenkung im Gesundheitswesen), Wien. Vgl. u.a. D. Birnbacher (2006), Bioethik zwischen Natur und Interesse, Frankfurt a.M., S. 351ff.

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Ethik im Gesundheitswesen

solchen Präventionsmaßnahmen auch Disziplinierungs- und Kontrollmaßnahmen einher, die wiederum die Freiheit und die jeweiligen individuellen Optionen in unangemessener Weise einschränken können. Eine direktiv gehandhabte Überpräventionalisierung kann sicherlich kein gangbarer Weg sein. Nichtsdestoweniger sind die Möglichkeiten, auch die finanziellen Einsparungspotentiale eines entsprechenden Präventionssystems, sicherlich noch nicht ausgeschöpft und sollten darum auch weiter forciert werden.

3.

Ethische Kompetenzen

Ein wichtiges Problem, auf das explizit hinzuweisen ist, besteht darin, dass Ärzte immer wieder in eminent ethisch aufgeladenen Situationen agieren müssen, gleichwohl haben aber Ärzte für gewöhnlich keine fundierte oder adäquate ethische Ausbildung. Dieses Problem ist bereits durch das herkömmliche Medizinstudium vorgezeichnet, da hier nur wenig ethische Ausbildung vorgesehen ist. In medizinischen, in besonderer Weise bei genetischen Beratungsgesprächen mit Patienten, wird heute auf einen informed consent abgestellt, der non-direktiv zu erfolgen hat und dazu dient, dass der Patient hinreichend und verständlich informiert autonom seine Entscheidung bzw. seine Wahl treffen kann (vgl. GTG § 69). Hier eröffnen sich allerdings ganz spezifische, ethisch relevante Probleme. Zwar soll mit dem Modell des informed consent die Patientenautonomie gestärkt werden, gleichwohl besteht die Gefahr, dass der Patient nun mit den erhaltenen Informationen in seiner Entscheidungsfindung allein gelassen bleibt. Zudem sucht der Patient ja Rat, den er dann allerdings in der reinen Informationsmitteilung nicht findet, da ja das Beratungsgespräch nicht-direktiv zu erfolgen hat. Der Patient befindet sich ohnehin schon durch den Arztbesuch und mit seinen Bedürfnissen oder Beschwerden in einer besonderen Notsituation, die auch starke emotionale Belastungen mit sich bringen kann. Hinzu kommt, dass sich der Arzt auf eine reine Informationspflicht zurückziehen kann und so erst recht der Rat- und Hilfesuchende in seiner Situation sich selbst überlassen bleibt. Auf weitere Probleme in diesem Zusammenhang, etwa jenes, dass unerwartete Ergebnisse bei Genanalysen so mitzuteilen sind, „daß sie auf die untersuchte Person nicht beunruhigend wirkt“ (GTG § 71 [1] 2.), gehe ich hier nicht weiter ein, wenngleich die hier waltenden ethischen Schwierigkeiten von besonderem Interesse sind. An dieser Stelle wären nun wichtige ethische Kompetenzen gefragt, wobei etwa Ehrlichkeit, Verantwortlichkeit, Verschwiegenheit und Einfühlungsvermögen usw. 14 als Grundbedingungen gelten können. Ärzte sind immer auch durch ihre Tätigkeit in ethische Konfliktsituationen eingebunden, die entsprechende Kompetenzen erfordern. Derlei Kompetenzen, die in einer solchen Situation erforderlich sind, 14

Vgl. dazu u.a. B. Schöne-Seifert (2007), Grundlagen der Medizinethik, Stuttgart, S. 88ff., bes. S. 90.

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sind aber gewöhnlich gar nicht entsprechend angeeignet worden und können auch zu einer Überforderung des Arztes führen. Der Rekurs auf einen „gesunden Instinkt“ oder einen „ursprünglichen Hausverstand“ wird da sicherlich noch nicht ausreichen und beide können von Person zu Person deutlich differieren. Umgekehrt wäre zu fragen, ob medizinische Beratungsgespräche überhaupt non-direktiv verlaufen (können), da in solchen Gesprächen eigentlich immer ein gewisses asymmetrisches Verhältnis vorliegt, was schon daraus resultiert, dass der Patient die nötigen Verhältnisbestimmungen aufgrund mangelnder Kenntnis zumeist gar nicht vornehmen kann. Jedenfalls kommt es immer wieder auch vor, dass sich ÄrztInnen beispielsweise trotz geltendem Diskriminierungsverbot (etwa B-VG [österreichisches Bundesverfassungsgesetz] Art. 7) äußerst verwundert zeigen, wenn etwa Mütter bereit sind, auch ein behindertes Kind, beispielsweise mit dem Befund auf Trisomie 21, auszutragen und zur Welt zu bringen. Dabei kann Trisomie 21 (DownSyndrom) in sehr unterschiedlichen Formen in Erscheinung treten. Die Abtreibungsziffer bei diesem Befund ist jedenfalls enorm. Hier wäre es ganz offenbar sinnvoll, weitere ethische Beratungsinstanzen hinzuzuziehen. Nicht umsonst werden ja zunehmend Ethikkommissionen bzw. Ethikkomitees installiert.

4.

Chancen und Herausforderungen im Krankenanstaltenwesen

Sieht man sich Statistiken und empirische Studien an, so gewinnt man den Eindruck, dass privat geführte/getragene Krankenanstalten (kurz: PKA) einen sehr guten Zufriedenheitsindex erbringen. Insbesondere die individuelle Betreuung und damit das explizite Interesse am einzelnen Menschen und seinen Bedürfnissen scheinen in PKAs – nicht zuletzt in kirchlicher Trägerschaft – sehr gut realisierbar 15 zu sein. Auch die entsprechenden jeweiligen Leitbilder und Leitlinien lassen dieses Interesse deutlich hervortreten, während dies bei öffentlichen Anstalten immer auch von deren Strukturqualitäten abhängig ist. Hier werden nicht überall die indi15

Ein generelles Problem von Leitbildern und Leitlinien, das gar nicht nur Krankenanstalten betrifft, ist natürlich, dass sie eher als idealtypisch verstanden werden können. Natürlich möchten derartige Veröffentlichungen das Beste zur Darstellung bringen, es wird aber selten diskutiert, was eigentlich bei Konflikten zwischen den einzelnen Werten vorgesehen ist. Es ist ja kaum so, dass es zwischen den angeführten Primärorientierungen zu keinen Konflikten kommt. Dann aber ist zu fragen, welche Orientierungen im Konfliktfall den Vorzug erhalten sollen. Sind es beispielsweise die Kosten oder der Mensch mit seinen Bedürfnissen, die schlussendlich den Ausschlag geben? Sind die Forderungen eines Leitbildes und der Leitlinien auch einklagbar? Und wo? In analoger Weise verhält es sich mit ethischen Richtlinien in wirtschaftlichen Unternehmen. Es ist durchaus erstaunlich, dass zahlreiche Unternehmen ethische Richtlinien entwerfen, also einen ethischen Bedarf sehen und diesen auch den Mitarbeitern zur Kenntnis bringen, diese Richtlinien aber nur selten auf offiziellen Internetseiten zu finden sind. Zudem sind diese Richtlinien zumeist derart vage formuliert, dass in diesem Rahmen sehr viel Raum für Auslegungsmöglichkeiten besteht. Angreifbar ist man mit solchen Richtlinien kaum und einklagbar sind sie wohl ebenso wenig, schon gar nicht von MitarbeiterInnen auf einer unteren Betriebsstufe – sollten diese es doch versuchen, droht der „Ausstieg“ aus dem Unternehmen.

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viduellen Bedürfnisse in gleicher Weise abgedeckt. An dieser Stelle muss recht genau hingesehen und differenziert werden, ohne freilich von vornherein gewisse Unterstellungen zu tätigen. Gleichwohl können mit einer privaten Trägerschaft auch spezifische Probleme verbunden sein, die ethisch von Relevanz sind. So haben PKAs natürlich ein Inte16 resse daran, Gewinn zu erzielen, da sie ja keine Non-profit-Unternehmen sind. Immerhin kann es ja nicht im Interesse der Trägerschaft liegen, fortwährend rote Zahlen zu schreiben. Das bedeutet aber freilich, dass an bestimmten Stellen und in bestimmten Situationen Interessenskonflikte auftreten können. Da PKAs nicht durchgängig eine allgemeine oder umfassende Therapieverpflichtung – d.h. einen umfassenden Versorgungsauftrag – besitzen, kann es nahe liegen, Patienten, bei 17 welchen absehbar ist, dass sie kostenintensiv zu stehen kommen, an öffentliche Krankenanstalten weiterzuleiten, welche dann ihrerseits natürlich aufgrund der 18 Aufwendungen unter Druck geraten. So heißt es beispielsweise: „Die Krankenanstalt erklärt sich bereit, die vom Arzt namhaft gemachten Patienten nach Maßgabe ihrer Kapazität aufzunehmen; sie ist jedoch nicht dazu verpflichtet und hat insbe19 sondere das Recht, eine Aufnahme auch ohne Angabe von Gründen abzulehnen.“ Vice versa ist es natürlich für PKAs von Vorteil, wenn Patienten schlussendlich für den „Betrieb“ gewissermaßen als Nettozahler fungieren. Immerhin haben sich die jeweiligen Ärzte auch an den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit, Zweckmäßigkeit 20 und Sparsamkeit zu orientieren. Damit eröffnet sich jedoch eine Schere, die auch ethisch und insbesondere auch vor dem Hintergrund der jeweiligen Leitbilder und Leitlinien zu bedenken ist. Jedenfalls kann und darf es nicht sein, dass kostenintensive Patienten „weitergereicht“ werden und nur diejenigen entsprechende Versorgungsmaßnahmen erhalten, bei denen man davon ausgehen kann, dass sie auch für 21 das eigene Budget von Vorteil sind. Hier bedarf es einer ernsthaften Evaluierung und entsprechender Transparenz. Für den öffentlichen Bereich sind in diesem Zusammenhang auch Formulierungen des ASVG (österreichisches Allgemeines Sozialversicherungsgesetz) § 133, Abs. 2, von Interesse: „Die Krankenbehandlung muß ausreichend und zweckmäßig 16 17 18 19

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Vgl. u.a. auch http://oe1.orf.at/104275.html [5.6.2010] oder http://www.goldenes-kreuz.at/ belegarztservice/belegarztorganisation [5.6.2010]. Vgl. etwa Wiener Zeitung vom 25. Jänner 2007: http://abo.wienerzeitung.at/DesktopDefault. aspx?TabID=4518&Alias=wzo&cob=267335¤tpage=2 [5.6.2010]. Vgl. http://www.mydrg.de/dload/Private_Krankenhaeuser_kommunale_Krankenhaeuser.pdf. Allg. Vertragsbedingungen für Belegärzte in der Goldenes Kreuz Privatklinik BetriebsGmbH, gültig ab 6.4.2009 (http://www.goldenes-kreuz.at/belegarztservice/allgemeine-vertragsbedingungen/Allgemeine_Vertragsbedingunen_Belegarzte_Neu_April09 [5.6.2010]), § 2 (2). Vgl. u.a. Allg. Vertragsbedingungen für Belegärzte in der Goldenes Kreuz Privatklinik BetriebsGmbH, gültig ab 6.4.2009 (http://www.goldenes-kreuz.at/belegarztservice/allgemeine-vertragsbedingungen/Allgemeine_Vertragsbedingunen_Belegarzte_Neu_April09 [5.6.2010]), § 4 (9). Vgl. u.a. Allg. Vertragsbedingungen für Belegärzte in der Goldenes Kreuz Privatklinik BetriebsGmbH, gültig ab 6.4.2009 (http://www.goldenes-kreuz.at/belegarztservice/allgemeine-vertragsbedingungen/Allgemeine_Vertragsbedingunen_Belegarzte_Neu_April09 [5.6.2010]), § 5 (5).

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sein, sie darf jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.“ Aber gerade Begriffe wie „ausreichend“, „zweckmäßig“ und „Maß des Notwendigen“ sind natürlich notorisch strittig. So heißt es etwa in KAKuG (österreichisches Krankenanstalten- und Kuranstaltengesetz) § 19a, Abs. 4: „Bei der Erarbeitung von Richtlinien über die Beschaffung und den Umgang mit Arzneimitteln ist neben den Grundsätzen gemäß Abs. 3 auch auf die Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit Bedacht zu nehmen.“ Aber auch die bereits angesprochenen empirischen Evaluierungen müssen kritisch gesichtet werden. Natürlich ist es begrüßenswert, wenn sich Patienten in einer Krankenanstalt wohl fühlen und dies auch in eigenen Statements zum Ausdruck bringen. Es muss ja sehr wohl daran gelegen sein, dass der einzelne Mensch nicht 22 nur als Therapieobjekt in den Blick kommt, sondern als leib-seelische Ganzheit. D.h., dass medizinische Therapie den ganzen Menschen, und nicht nur einen Teil 23 desselben (also etwa das zu therapierende Organ) zu berücksichtigen hat. Zu fragen ist jedoch, inwieweit ÄrztInnen dies überhaupt wahrnehmen können, da ihre Ausbildung diese übergreifende Perspektive wohl nur rudimentär einbezieht. Hier bedarf es wohl zusätzlichen Personals. Nichtsdestoweniger sind die subjektiven Patientenstatements immer auch mit Vorsicht zu betrachten, da sie keinerlei – oder nur sehr bedingt – Rückschluss über andere – objektive – Bedingungen zulassen. So wäre etwa genau darauf zu achten, auf welchem Niveau – im Gesamtvergleich – die jeweilige medizintechnische Ausstattung ist, die Qualität und Anzahl des Perso24 nals usw. Das bedeutet, dass empirische Erhebungen über die Zufriedenheit von Patienten in PKAs nicht zur ultima ratio erhoben werden dürfen, sondern auch kritisch zu betrachten sind. Noch mehr Transparenz für den „Kunden“ und die Öffentlichkeit wäre an dieser Stelle wünschenswert. Auch eine durchgängige unabhängige Qualitätssicherung wäre in jedem Fall zu begrüßen. Ein Problem, auf das ich noch hinweisen möchte, betrifft die Heranziehung von Belegärzten in privaten Krankenanstalten. Diese sind nicht definitiv angestellt, sondern werden aufgrund von Honorarbasis bzw. bestimmten Verträgen entlohnt. Auch sie haben natürlich ein persönliches und finanziell-wirtschaftliches Interesse daran, diejenigen Leistungen zu erbringen, die auch gut abgegolten werden. Die 22

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So ist in Leitbildern von PKAs immer wieder zu lesen, dass es um eine „ganzheitliche“ Betreuung geht. Allerdings ist gerade das Stichwort „Ganzheitlichkeit“ auch kritisch zu bedenken, weil damit recht unterschiedliche Vorstellungen verbunden sein können. Vgl. u.a. U. Körtner (2010), Leib und Leben. Bioethische Erkundungen zur Leiblichkeit des Menschen, Göttingen. Die Frage ist natürlich, inwiefern die spezifischen Bedürfnisse Andersgläubiger in kirchlich geführten Krankenanstalten entsprechend wahrgenommen werden (können). Das betrifft gar nicht nur die inneren Einstellungen von Personen, sondern auch die häufig damit implizierten äußeren Bedingungen, also beispielsweise die Situation, dass muslimische Frauen eine innere Distanz gegenüber männlichem Betreuungspersonal aufweisen. Vgl. etwa http://abo.wienerzeitung.at/DesktopDefault.aspx?TabID=4518&Alias=wzo&cob=267 335¤tpage=2 (Wiener Zeitung vom 25. Jänner 2007 [5.6.2010]). Es wäre beispielsweise wünschenswert, dass in der „Kommission für Qualitätssicherung“, wie sie in Krankenanstalten installiert werden müssen (KAKuG § 5b), auch ein Ethiker beigezogen wird.

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Gefahr besteht selbstredend darin, dass Leistungen erbracht werden, die mögli25 cherweise gar nicht zwingend erforderlich sind. Dieses Phänomen begegnet freilich vielerorts und in unterschiedlichen Kontexten. Auch öffentliche Krankenanstalten haben ein Interesse daran, dass beispielsweise ihre Standorte erhalten bleiben, was freilich nur dann möglich ist, wenn auch ein entsprechender Bedarf besteht. Dieser kann wiederum recht unterschiedlich zustande kommen. Es ist beispielsweise erstaunlich, dass Österreich im Krankenanstaltenbereich deutlich 26 mehr stationäre Aufnahmen verzeichnet als andere EU-Länder. Werden in zahlreichen Ländern bestimmte Behandlungen nicht-stationär vorgenommen und der Patient kann sodann die Behandlungsstation verlassen, so verzeichnet Österreich bei vergleichbaren Eingriffen eine weit höhere stationäre Aufnahme. Ebenso interessant ist, dass etwa manche österreichischen regionalen Krankenanstalten vor einiger Zeit einen erheblich höheren Anteil an Appendektomien (Blinddarmoperationen) verzeichneten (aber auch an Gebärmutterentfernungen), nach verschiedenen Interventionen jedoch diese Krankenanstalten plötzlich zu denjenigen gehören, die erheblich weniger entsprechende Operationen vorzuwei27 sen haben und damit zu Vorzeigeinstitutionen avancierten. Es ist nur schwer vorzustellen, dass der Grund hierfür bei den Patienten oder den regionalen Bedingun28 gen zu suchen ist oder bei einem Virus, der möglicherweise für eine Blinddarmentzündung ursächlich beteiligt sein könnte, jedoch dann offenbar regional stärker verbreitet zu sein scheint. Die PatientInnen selbst können sich freilich über die notwendige und adäquate Indikation kaum ein hinreichendes Bild machen, da ihnen gewöhnlich die nötige Fachkompetenz fehlt und dieses auch nicht von ihnen gefordert werden kann. Das Verhältnis zu einem betreuenden oder behandelnden Arzt ist immer auch mit Vertrauen verbunden, also auch damit, dass Patienten davon ausgehen, dass der jeweilige Arzt (am besten) weiß, was wirklich im konkreten Fall zu tun ist und was nicht als „notwendig“ erscheint.

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Vgl. noch einmal u.a. http://www.mydrg.de/dload/Private_Krankenhaeuser_kommunale _Krankenhaeuser.pdf [5.6.2010]. Vgl. u.a. OECD, Health at a Glance 2009. OECD Indicators, OECD 2009, 95; WHO Health for all database, November 2007 und BMGFJ, IHS HealthEcon 2008. Siehe auch den Rechnungshofbericht unter: http://www.rechnungshof.gv.at/fileadmin/downloads/Teilberichte/Kaernten/Kaernten_2006_01/Kaernten_2006_01_1.pdf und http://www.rechnungshof.gv.at/berichte/kernaussagen/kernaussagen/detail/angebotsinduzierekrankenanstaltenleistungenleistungsangebotsentwicklung.html [beide 10.12.2008]. Weiters vgl. die OECD-Gesundheitsdaten 2009, Österreich im Vergleich (Überschrift: Personelle, materielle, technische Ressourcen im Gesundheitswesen: http://www.oecd.org/dataoecd/14/25/3900 1223.pdf [5.6.2010]) und MedMedia (Medical Opinion Network; Artikel von Irmgard Mayer: http://www.medmedia.at/aktuell/2009/01/6500.php [5.6.2010]). Vgl. u.a. E.G. Pichlbauer (2010), Die Appendektomie, Ärzte Krone 5/10 (2010), S. 8. Siehe auch NEWS vom 1.12.2004 und die APA-Presseaussendung vom 1.12.2004 (OTS 0007: Aussender ist der Hauptverband der Sozialversicherungsträger). Vgl. u.a. auch R. Rebhan (2010), Gesundheitsreform – systematisch betrachtet (2. Teil), in: Fachzeitschrift der österreichischen Sozialversicherung 03/2010, S. 126–141, bes. S. 137f.

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Jedenfalls müssen die Vergleiche zu anderen Ländern (insbesondere EULändern) hergestellt und aufeinander bezogen werden, um schlussendlich auch vor dem Hintergrund der Problematik der Ressourcenallokation einen optimalen Weg zu finden. Gerade bei den Ausgaben, die allein das Gesundheitswesen in sich aufnimmt (die Zahlen sind zwar derzeit relativ konstant, jedoch immer noch erheblich), muss stets gefragt werden, was man unter einer optimalen Versorgung verstehen soll und was der Bevölkerung bzw. der beitragszahlenden Öffentlichkeit zuzumuten ist. Welche Indikationen sind wirklich derart, dass auch die Solidargemein29 schaft entsprechende Behandlungsmaßnahmen finanziell unterstützen sollte? Sind beispielsweise psychische Dissoziationen, die etwa aus einem Unwohlsein aufgrund des Brustumfanges resultieren, ein hinreichender Grund dafür, dass 30 Versicherungszahler dafür aufkommen sollten? Wie stark muss die psychische Belastung hier ausgeprägt sein, damit es gerechtfertigt erscheint, dass die Gesamtbevölkerung zur Kassa zu bitten ist. Wie einfach kann man zu einem entsprechenden psychologischen Gutachten gelangen? Möglicherweise wird sich dieses Thema in Zukunft auch im Blick auf die Präimplantationsdiagnostik (PID) stellen – zumindest für Hochrisikopaare, von denen es jedoch nur wenige gibt. Ähnlich wäre auch zu fragen, wie hoch die psychische Belastung bei Kinderlosigkeit liegen muss, damit von Seiten des Staates eine höhere finanzielle Beteiligung angezeigt ist. Derzeit ist es jedenfalls so, zumindest in Österreich, dass eine In-Vitro-Fertilisation (IVF) faktisch lediglich für solche Paare in Frage kommt, die auch die entsprechenden finanziellen Mittel als Selbstbehalt aufbringen können. Das wiederum schließt zahlreiche Paare gewissermaßen von vornherein aus, da ihnen die entsprechenden Selbstbehalte nicht zur Verfügung stehen. Bemerkenswert ist freilich auch, dass die IVF-Modalitäten international sehr unterschiedlich gestaltet sind (was und welche Leistungen man für sein Geld bekommt). Abschließend sei noch ein Wort zu Status, Rolle und Funktion des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger in Österreich gesagt. Man wird jedenfalls den Eindruck nicht ganz los, dass der Hauptverband letztlich scheinbar doch unabhän31 gig von Bescheiden etwa der „Unabhängigen Heilmittelkommission“ (als zweite

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Vgl. u.a. D. Birnbacher (2006), Bioethik zwischen Natur und Interesse, Frankfurt a.M., S. 350ff. Vgl. ebd., S. 352ff. Freilich ist es auch hier auffällig, dass die Mitglieder der Unabhängigen Heilmittelkommission (UHK) keinerlei Ethiker aufweisen. Vgl. dazu Die Sozialversicherung (Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger), Arbeitsbehelf Erstattungskodex, hg. von Gregor Mandlz, 14.4.2009, bes. S. 56f. Der Text des Hauptverbandes ist auch insofern von Interesse, als der (die) Vorsitzende der UHK vom Bundesminister für Justiz bestellt wird. Eine weibliche Formulierung, die sonst weitgehend eingehalten wird, findet sich hier nicht. Gleiches gilt für die Bestellung der Beisitzer(innen) und Stellvertreter(innen), die wiederum von der Bundesministerin für Gesundheit und Frauen bestellt wird. Es wird offenbar davon ausgegangen, dass die jeweiligen Ressorts entsprechend männlich oder weiblich besetzt sind. Wahrscheinlich wird aber nur der aktuellen politischen Verteilung Rechnung getragen. Interessant ist jedoch, warum gerade das Justizministerium den (die) Vorsitzende bestimmt, während es hier doch primär um Gesundheitsfragen geht.

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Instanz) operieren kann. Es bedarf lediglich einer angepassten Argumentation oder des Nachweises eines Verfahrensfehlers, um Beschwerden von Antragstellern zu unterlaufen, auch wenn bestimmte Produkte in vielen EU-Ländern längst erstattet werden. Es ist zudem interessant, dass die jeweiligen Amtsträger durch die politischen Mehrheitsverhältnisse inauguriert sind, was für viele auch nicht gerade vertrauensbildend wirken dürfte. Eine unabhängige Überprüfung oder ein unabhängiges Regulativ, möglicherweise auch auf EU-Ebene, wären m.E. jedenfalls auch hier wünschenswert, so dass weitgehend ausgeschlossen werden kann, dass lediglich politische Interessen das Tagesgeschehen – oder auch tief greifende Entscheidungen – bestimmten. Es geht auch hier letztlich um das Wohl von Menschen, das auch dem Staat ein zentrales Anliegen ist. Dazu wären auch ethische Expertisen und Fachvertreter vonnöten, die bis jetzt eigentlich keine Rolle spielen. Warum sollte es hier nicht möglich sein, wo doch allerorts das Bewusstsein für ethische Fragestellungen sichtbar zunimmt, unabhängige Ethikkommissionen oder zumindest einen ethischen Beirat zu installieren bzw. einzubeziehen? Es kann ja auch nicht erwartet oder vorausgesetzt werden, dass die entsprechenden Entscheidungsträger schon ad personam die erforderlichen ethischen Qualifikationen aufweisen. Dass hier aber immer auch ethisch relevante Entscheidungen zu treffen sind, ist wohl außer Streit. Natürlich ist es verständlich, dass der Verdacht auf der Hand liegen könnte, dass durch Hinzuziehung unabhängiger ethischer Institutionen das jeweilige Procedere möglicherweise erschwert wird, da zusätzliche Perspektiven ins Spiel kommen, die von anderen InteressensvertreterInnen in dieser Weise nicht abgedeckt, aber auch nicht reguliert werden können. Gleichwohl sollte doch dann, wenn im Gesundheitsbereich weit reichende und auch ethisch relevante Entscheidungen getroffen werden, eine entsprechende ethische Urteilsbildung nicht unterbleiben.

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Der Vorsitz wird jedenfalls von einem Richter (einer Richterin) bekleidet, nicht jedoch von Gesundheitsexperten. Immerhin besagt der § 351g des ASVG – VO-EKO, dass der Hauptverband auf Grundlage der Empfehlungen der Heilmittel-Evaluierungs-Kommission (HEK) entscheidet. Vgl. auch Die Sozialversicherung (Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger), Arbeitsbehelf Erstattungskodex, hrsg. von Gregor Mandlz, 14.4.2009, S. 57.

Der Patient als Kunde? Ethische Reflexionen zum Ideal der Patientenautonomie und dem Selbstverständnis der Medizin Franziska Krause

1.

Einleitung: Der Patient als Kunde?

Die leitende Frage dieses Artikels „Welche Rolle hat die Ethik in einer Medizin, die den Patienten als Kunden betrachtet?“ setzt einige Prämissen voraus. So wird zum einen das Konzept des Kunden auf die Medizin als prinzipiell übertragbar angesehen, zum anderen wird zum Ausdruck gebracht, dass sich die Ethik dazu äußern sollte und kann. Im Folgenden soll diesen Prämissen nachgegangen werden. Die Vermischung von einem Konzept der Ökonomie mit der Medizin scheint zunächst widersinnnig zu sein. Gerade wenn man bedenkt, dass mit dem Kundenstatus in der Medizin der Patient angesprochen ist. Der Patient wird aus seiner etymologischen Wurzel, lat. patiens=leidend, als Leidender und Schutzbedürftiger defi1 niert und in diesem Sinn auch in der Medizin verstanden. Der Kunde hingegen nimmt in seiner Bedeutung seit dem 16. Jahrhundert als ein „in einem Geschäft 2 Kaufender“ eine aktive Rolle ein. Der Mensch übt beide Rollen in seinem Leben aus, er ist fast täglich Kunde und öfter in seinem Leben Patient. Doch scheint die Gleichzeitigkeit vom Kundesein und Patientsein als eine unrechtmäßige Vermischung der Konzepte wahrgenommen zu werden. Der Kunde ist ein (potentieller) Käufer von Waren oder Dienstleistungen. Dabei kann er frei auf dem Markt wählen, hat einen Anspruch auf einwandfreie Leistung und er zahlt selbst. Dies sind nur einige Eigenschaften des Kunden. Vor allem aber treffen sie nur bedingt auf den Patienten zu. Gesundheit ist keine normale Ware oder Dienstleistung, auf die eine Garantie ausgestellt werden kann. Zudem ist die Wahlfreiheit bei einer medizinischen Behandlung eingeschränkt und die Leistung wird in den meisten Fällen indirekt über die Krankenkassen bezahlt. Der Kunde wird meist als souverän und informiert, der Patient hingegen als jemand dargestellt, der in seinen Möglichkeiten 3 eingeschränkt ist. Doch scheint sich dieses Bild zu wandeln und der Patient – sei es 4 gewünscht oder nicht – wird zunehmend als Kunde wahrgenommen. 1 2 3

J. Grimm/W. Grimm (1889), Patient, in: dies. (Hrsg.), Deutsches Wörterbuch, Bd. 7, Leipzig, Sp. 1503–1504. J. Grimm/W. Grimm (1873), Kunde, in: dies. (Hrsg.), Deutsches Wörterbuch, Bd. 5, Leipzig, Sp. 2620–2621. Für weitere Konzeptionen des Kundenbegriffs vgl. S. Duttweiler (2007), Vom Patienten zum Kunden? Ambivalenzen einer aktuellen Entwicklung, in: Psychotherapeut, 52(2)/2007, S. 121–

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Der Patient als Kunde?

Zugleich zeigt sich auf der Systemebene, dass sich Ökonomie und Medizin durchaus zusammen denken lassen und viele Schnittflächen besitzen. Medizin muss auch wirtschaftlich denken, sie ist Teil des Dienstleistungssektors, in der die Frage nach der bestmöglichen Verteilung von Ressourcen eine große Rolle spielt. Und auch historisch gesehen ist die Medizin eine Dienstleistung, für die der Arzt seit jeher von seinem Patienten bezahlt wurde. In der Erörterung der Frage nach dem Kundenstatus des Patienten in der Medizin geht es also darum, zu klären, was mit dem Schlagwort „Kunde“ im Kern verbunden wird. These ist es, dass zwar externe Faktoren wie die zunehmende Betrachtung der Medizin unter ökonomischen Aspekten einen großen Einfluss auf die Rollenfunktion des Patienten haben, es jedoch entscheidend vom internen Umgang der Medizin mit ihrem eigenen Verständnis abhängt, ob der Kundenstatus als Bruch mit der Identität als Patient gesehen wird oder ob er als Ausdruck von ernstzunehmenden Bedürfnissen von Seiten der Patienten gewertet wird.

2.

Der Wandel der ärztlichen Aufgabe und die Emanzipation des Patienten

Ökonomische Prozesse, die die institutionelle Ebene des Gesundheitswesens steuern, wirken sich auch auf die professionelle Ebene des Arztes und seine Interaktion mit dem Patienten aus. Ein Arzt, der zunehmend auf externe Faktoren wie Kostenkontrolle Rücksicht nehmen muss, kann nicht mehr nur ausschließlich im Hippo5 kratischen Sinn des „salus aegroti suprema lex“ seinem Heil- und Fürsorgeauftrag nachkommen, der den Patienten und den Heilversuch seiner Krankheit an oberste Stelle des ärztlichen Handelns setzt. Vielmehr führt die Zunahme an nicht-

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126; H. Raspe (1999), Patienten – Klienten – Kunden – Verbraucher. Sozialmedizinische Anmerkungen zu Beziehungsformen zwischen Kranken und Therapeuten, in: A. Dörries (Hrsg.), Patienten oder Kunden?, Rehburg-Loccum, S. 9–19. Symptomatisch für die Auseinandersetzung der Übertragbarkeit vom Kundenstatus auf den Patienten vgl. G. Rogler (2009), Der Patient als Kunde?, in: Schweizerische Ärztezeitung, 90(25)/2009, S. 1009–1013; F. Witte (2009), Kunden oder Patienten. Medizin zwischen Dienstleistung und Fürsorge, in: Schweizerische Ärztezeitung, 90(51/52)/2009, S. 2001–2003; H. Baier (1998), Gegen Staats- und Körperschaftszwang: Ärzte und Patienten als Kunden des Gesundheitswesens, in: Deutsches Ärzteblatt, 95(15)/1998; H.-J. Becker (2005), Verlorene Menschlichkeit: Der Patient als Kunde, Abruf unter: http://www.herzstiftung.de/pdf/zeitschriften/ HH4_05_menschlichkeit.pdf [13.1.2010]; S. Duttweiler (2007), Vom Patienten zum Kunden?. Ambivalenzen einer aktuellen Entwicklung, in: Psychotherapeut, 52(2)/2007, S. 121–126; A. Prengel (2010), Der Patient als Kunde. Chancen und Risiken einer neuen Positionierung für den Patienten im Krankenhaus, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift, 135(6)/2010, S. 251–255. Diese historische Berufung auf das ärztliche Ethos hat auch heute noch seine Legitimation und selbstverpflichtenden Charakter für die Ärzte in Form des Genfer Gelöbnis, welches eine Weiterentwicklung des Hippokratischen Eides darstellt. Dort heißt es: „The health of my patient will be my first consideration.“ G.-M. Breen/N. Ellis/V. Littleton et al. (2010), An Ethical Analysis of Professional Codes in Health and Medical Care, in: Ethics & Medicine, 26(1)/2010, S. 25–47.

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medizinischen Aufgaben zu einem komplexer werdenden Auftrag für den Arzt. Der Arzt wird zum Dienstleister, der sich mit Abrechnungssystemen und KostenNutzen-Analysen auskennen muss. Diese zusätzlichen Aufgaben, die der Arzt erfüllen muss, können dazu führen, dass er den Patienten nicht mehr nur in der Funktion als Leidenden begreift, der seine Hilfe benötigt, sondern zudem auch noch als Kunden, dem Leistungen verkauft werden und dessen Ansprüchen er genügen muss. Dies schließt nicht per se den Versuch der Heilung des Patienten aus, doch verändert sich das Verhältnis zwischen Arzt und Patient erheblich und schafft eine neue Dimension des Miteinanders, da es fraglich ist, ob die gewissenhafte Wahrnehmung beider Rollenansprüche durch den Arzt widerspruchsfrei erfolgen kann. Indem der Arzt den Patienten auch als Kunden entdeckt, werden dem Patienten Eigenschaften zugeschrieben, denen er womöglich gar nicht gerecht werden kann. Der „moderne“ Patient – so wird entgegen des Bildes vom vulnerablen Patienten behauptet – informiert sich, er fordert Leistungen ein und er entscheidet, wofür er 6 zahlt. Der Wandel des Arzt-Patient-Verhältnisses betrifft demnach nicht nur das Handeln des Arztes, sondern auch das (Selbst-)Verständnis des Patienten. Diese Selbstbestimmung des Patienten über die Form seiner medizinischen Behandlung soll im Folgenden als Kern der Definition des Kundenstatus in der Medizin verstanden werden. Die Selbstbestimmung des Patienten ist kein neues Phänomen, das erst mit der Frage nach dem Kundenstatus des Patienten in die Medizin eingetreten ist, sondern 7 thematisiert in seiner historischen Entwicklung die Tatsache, dass ärztliches Verhalten grundsätzlich in Gefahr ist, zu einem autoritären und entmündigenden Verhalten zu werden, welches sich über die Wünsche des Patienten hinwegsetzt. Diese medizinische Praxis, die im wissenschaftlichen Diskurs unter dem Stichwort des 8 „Paternalismus“ verhandelt wird, erfolgt unter der Legitimation, dem Patienten 6

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Vgl. K.W. Lauterbach/M. Lüngen/M. Schrappe (2010) (Hrsg.), Gesundheitsökonomie, Management und Evidence-based Medicine. Handbuch für Praxis, Politik und Studium, Stuttgart et al., S. 416–417. Wie Bettina Schöne-Seifert zeigt, ist der Beginn der intellektuellen und politischen Emanzipationsbewegung in den späten 60er Jahren in den USA anzusiedeln. Während es zunächst um das Primat der Selbstbestimmung in Humanexperimenten ging, folgten kurz darauf Forderungen nach „informed consent“ für die standardisierte klinische Medizin. In Deutschland traten diese Entwicklungen ungefähr mit einer 20jährigen Verzögerung ein. B. Schöne-Seifert (2005), Medizinethik, in: J. Nida-Rümelin (Hrsg.), Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, Stuttgart, S. 691–802. Innerhalb der Paternalismus-Debatte gibt es neben der Unterscheidung zwischen weitem und engen, direktem und indirekten vor allem die Differenzierung in schwachen und starken Paternalismus. Oft wird der schwache Paternalismus als vertretbar angesehen, da der von der paternalistischen Handlung Betroffene, in seiner Fähigkeit, willentlich und bewusst zu handeln, als beeinträchtigt und somit als nicht zurechnungsfähig gilt. Starker Paternalismus hingegen setzt sich über die bewusste und kompetente Entscheidung einer Person und die Kenntnis seines Willens hinweg. Bei jeder Form des Paternalismus dient das „objektive“ Wohl des Betroffenen als Legitimation der Handlung, wobei zu bedenken gilt, dass das „Wohl“ vor allem von der Perspektive der ersten Person abhängig ist – eine „objektive“ Zuschreibung kann womöglich nicht immer eindeutig erfolgen.

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Der Patient als Kunde?

gegenüber fachlich überlegen zu sein sowie „das Beste“ für ihn zu tun. Das Übergehen des Interesses des Patienten ist nicht das Standardvorgehen in der Arzt-PatientBeziehung, sondern tritt vornehmlich in Situationen auf, bei denen kein Konsens zwischen Arzt und Patient bezüglich der Art der medizinischen Behandlung gefunden werden kann und bei dem es im Folgenden darum geht, ob das Wohl des Patienten aus der Sicht des Arztes der Handlungsmotivator ist oder das Selbstbestimmungsrecht des Patienten das weitere Vorgehen bestimmt. Wenn z.B. ein Patient bekennender Zeuge Jehovas ist und aus diesem Glauben heraus ausdrücklich eine lebenserhaltende Bluttransfusion ablehnt, so kann die beschriebene Konfliktsituation entstehen: Das „Beste“ für den Patienten kann nun zum einen durch den ärztlichen Heilauftrag definiert werden – was eine Bluttransfusion implizieren würde – oder es kann der Verzicht des Patienten und damit seine autonome Entscheidung 9 als übergeordneter Wert betrachtet werden. Die Forderung nach Selbstbestimmung resp. Patientenautonomie nimmt so zunächst eine zentrale Schutzfunktion für den Patienten innerhalb der Medizin ein, da die Interessen des Patienten gesichert werden. Zum einen wird das negative Recht des Patienten gestärkt, gewisse Behandlungen abzulehnen und zum anderen werden positive Rechte wie die Zustimmung nach umfassender Aufklärungsleistung vor einer Operation in Form des „informed consent“ unterstützt. Aufgrund der in den letzten Jahren gestärkten Position des Patienten ist das traditionelle Verhältnis von Arzt und Patient einem Wandel unterworfen, der verdeutlicht, dass zunehmendes Gewicht auf die Patientenperspektive und die damit verbundenen Rechte gelegt wird. Doch Autonomie ist nicht nur in der Medizin, sondern auch prinzipiell positiv konnotiert, da dem Prinzip der Autonomie ein intrinsischer Wert zugeschrieben 10 wird. Es besteht jedoch die berechtigte Frage, ob Autonomie ein unverhandelbarer Wert ist oder ob er so weit idealisiert wird, dass kritikwürdige Punkte des Konzepts der Autonomie nicht ausreichend reflektiert werden. Ziel des Artikels soll es im Folgenden sein, einige Autonomiekonzepte und ihre Probleme aufzuzeigen, um verständlicher zu machen, was mit einer Übernahme des Bildes vom autonomen Kunden auf die Medizin verbunden sein kann und was es im Speziellen für das ArztPatient-Verhältnis bedeutet.

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Vgl. T. Nys (2007), A Bridge over Troubled Water. Paternalism as the Expression of Autonomy, in: T. Nys/Y. Denier/T. Vandevelde (Hrsg.), Autonomy & Paternalism. Reflections on the Theory and Practice of Health Care, Leuven et al., S. 147–165; T.L. Beauchamp (2009), The Concept of Paternalism in Biomedical Ethics, in: L. Honnefelder/D. Sturma (Hrsg.), Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 14, Berlin, S. 77–92. Ein Beispiel für die aktuelle Rechtssprechung in diesen Fällen: A.W. Bender (2003), Eingeschränkte Verbindlichkeit des Vetos eines Zeugen Jehovas gegen eine Bluttransfusion selbst bei ausdrücklicher und aktueller Willensäußerung in einer Patientenverfügung, in: Medizinrecht, 21(3)/2003, S. 174–180. Dennoch ist das Prinzip der Autonomie vor allem in der Bioethik heftiger Kritik ausgesetzt gewesen. Vgl. T.L. Beauchamp/J.F. Childress (2009), Principles of Biomedical Ethics, Oxford et al.

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3.

Das Reden vom Kunden als Ausdruck von Patientenautonomie

3.1

Eine Zusammenstellung von Autonomiekonzeptionen und ihre Grenzen

Der Autonomiebegriff wird zwar in der Medizin diskutiert, man findet jedoch in der Tradition medizinischer Eide und Deklarationen keine explizite Betonung der Be11 dürfnisse oder gar der Autonomie des Patienten. Die verschiedenen Dimensionen von Autonomie zeigen sich allerdings in der Verwendung anderer Wissenschaften. So wird im klassischen griechischen Verständnis Autonomie als politische Selbstgesetzgebung verstanden. In der Soziologie wiederum dient der Begriff zur Beschreibung der funktionalen Ausdifferenzierung der diversen Lebensbereiche in der modernen Gesellschaft. In den empirischen Humanwissenschaften wie Psychologie oder Pädagogik beschreibt Autonomie die psychische Stabilität und Gesund12 heit des Individuums. Aspekte dieser Autonomieverständnisse spiegeln sich in der Philosophie wieder und werden dort mit unterschiedlicher Gewichtung diskutiert – bis hin zu der An13 nahme, Autonomie sei eine Illusion. Grundsätzlich wird Autonomie als erstrebenswerte Fähigkeit einer Person verstanden, seine eigenen (moralischen) Vorstellungen und Gründe zu reflektieren, sie auf Kohärenz zu überprüfen, nach ihnen zu handeln und zu leben und dies unabhängig von Manipulation und anderen externen Faktoren, die einen Zwang auf die eigene Entscheidung ausüben könnten. Die zwei grundlegenden Faktoren von Autonomie sind folglich: erstens, das Recht zur Selbstbestimmung, das heißt die Freiheit von psychologischen und physischen Zwängen und zweitens, die Fähigkeit, sich nach dem Kriterium der Reflexion selbst zu bestimmen. Autonomie ist die Basis, von anderen und von sich selbst nicht – im Sinne Kants – als Mittel zum Zweck, sondern als eine mündige Person der Gesellschaft betrachtet zu werden, die eigene Ziele verfolgt und somit auch die Hoheit über ihre (moralischen) Entscheidungen innehält. Grundsätzlich ist es jedoch schwer zu definieren, was eine Handlung zu einer autonomen Handlung macht und welche Bedingungen in der Praxis erfüllt sein müssen, um vom Ideal der Autonomie in der Theorie zu einem hinreichenden Konzept von Autonomie im alltäglichen Leben zu gelangen. Sieht man nämlich vom Idealbild ab, so wird deutlich, dass Autonomie zum einen selektiv und zum anderen graduell betrachtet werden muss. O’Neill formuliert dies folgendermaßen: „[…]; as selective: individuals may be independent in some matters but not in others; and as graduate: some individuals may have greater and others lesser degrees of inde11 12 13

Vgl. R. M. Veatch (1984), Autonomy’s Temporary Triumph, in: The Hastings Center Report, 14(5)/1984, S. 38–40. Vgl. R. Pohlmann (1971), Autonomie, in: J. Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 1, Basel, S. 701–719. Im Bereich der Philosophie des Geistes wird dies unter der Idee der Willensfreiheit vor allem zwischen Kompatibilisten und Inkompatibilisten diskutiert.

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Der Patient als Kunde? 14

pendence.“ Nicht jede Entscheidung wird alle Bedingungen von Autonomie erfüllen und nicht jeder ist in sämtlichen Entscheidungssituationen kompetent. Dennoch wird man, und so ist auch die Idee des „informed consent“ aufgebaut, einer Person nicht generell die Autonomie aberkennen, sondern situationsspezifisch im Gespräch entscheiden, welche Entscheidungskompetenzen einem Patienten nach möglichst objektiven Maßstäben zuerkannt werden können. Autonomie wird in der Medizin zunächst durch institutionelle Rahmenbedingungen wie dem „informed consent“ gesichert. Man muss sich jedoch auch der epistemologischen Frage stellen, wie die Entscheidungen des Patienten entstehen und welche Einflüsse die Fähigkeit zu einer autonomen Entscheidung bedingen können. So zeigen Studien aus der Soziologie und Psychologie, dass sich Patienten in ihrer Fähigkeit, komplexe Informationen angemessen zu verarbeiten überschätzen, hingegen der Einfluss der Form der Darstellung von medizinischen Fakten 15 durch die Ärzte unterschätzt wird. 3.2

Autonomie und die Grenzen des Paternalismus – John Stuart Mills Beitrag zum Verständnis der Autonomie als Handlungsfreiheit

Im Folgenden soll mit Hilfe eines philosophischen Klassikers in der Autonomiedebatte das grundsätzliche Problem der Diskussion um die Autonomie des Kunden bzw. Patienten auf die Frage nach dem Verständnis von Autonomie als Handlungsbzw. als Willensfreiheit zurückgeführt werden. John Stuart Mills Werk „Über die Freiheit“ zeigt den auch für die medizinische Diskussion wichtigen Gesichtspunkt auf, dass selbstbestimmtes resp. autonomes Handeln ein hohes Gut ist. Zugleich kann mit seiner Schrift gezeigt werden, dass ein Autonomiestreben, das sich lediglich als Handlungsfreiheit versteht und nicht weiter ausdifferenziert wird, was Handlungsfreiheit ermöglicht und wo die Grenzen dieser liegen, unterbestimmt bleibt. Zusammenhängend damit wird in diesem Abschnitt veranschaulicht, dass das Berufen auf Autonomie in einer Medizin, die den Patienten als Kunden begreift, den Schwerpunkt des Autonomieverständnisses auf die Handlungsfreiheit legt und die Frage nach der Genese dieser Handlungsfreiheit, die entscheidend mit dem Konzept der Willensfreiheit verbunden ist, mehr oder weniger bewusst ausblendet. Mill behauptet zunächst, man sei selbst am besten dazu in der Lage zu wissen, 16 was für einen das Richtige sei, lediglich „Rat, Unterweisung [und] Überzeugung“ seien legitime Maßnahmen der Gesellschaft ein Individuum zu beeinflussen, nicht aber paternalistisches Handeln. Denn nach Mill wird in jedem paternalistischen Verhalten mehr Leid als Gutes zugefügt, nicht etwa, weil die eigene Lebensgestaltung per se besser sei als womöglich paternalistisches Handeln es bewirken könnte, 14 15 16

O. O’Neill (2002), Autonomy and Trust in Bioethics, Cambridge, S. 23. Vgl. B. Buchner (2010), Der mündige Patient im Heilmittelwerberecht, in: Medizinrecht, 28/2010, S. 1–6. J.S. Mill (2009), Über die Freiheit, Hamburg, S. 133.

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sondern weil es der eigene Weg ist, den man geht und dies durch nichts aufgewogen werden könne, denn, so Mill: „Wo nicht der eigene Charakter des Handelnden, sondern die Überlieferungen und Sitten anderer Leute über das Handeln entscheiden, da fehlt eine der Hauptbedingungen der menschlichen Glückseligkeit und vor 17 allem der Hauptantrieb zu individuellem und sozialem Fortschritt.“ Und weiter: „Einen Charakter [und somit Autonomie] hat nur der Mensch, der eigene Begierden und Triebe hat als Ausdruck seiner eigenen Natur, wie sie durch Selbsterziehung entwickelt und gemodelt ist. Jemand der keine eigenen Triebe hat, hat ebenso 18 wenig einen Charakter wie eine Dampfmaschine.“ Genau dieses Ideal eines unabhängigen und souveränen Patienten, eines Patienten mit „Charakter“ scheint der Medizin zugrunde zu liegen, die den Begriff des Kunden vor dem des Patienten präferiert – nur mit der entscheidenden Ausnahme, dass nach dem „Charakter“ des Kunden nicht gefragt werden muss, da für die Abwicklung eines Vetragsverhältnisses die Bedürfnisbefriedigung des Kunden, die Umsetzung seiner Wünsche zählt. Autonomie als Fähigkeit, moralisches Handeln erst möglich zu machen, indem frei, reflektiert und angemessen agiert werden kann, ist keine Bedingung für den Patienten, der als Kunde betrachtet wird. Auch Mill legt den Fokus in seiner Abhandlung nicht auf die Genese der Willensfreiheit, sondern setzt die Bedeutung des sich selbst entwickelnden Charakters als normative Bedingung für moralisches Handeln. Zusätze, wie Kant sie in seinem Autonomieverständnis als universalisierbare Selbstgesetzgebung schafft und damit die Idee eines exzentrischen oder absolut egozentrischen Autonomieverständnisses ausschließt, findet man bei Mill nicht. Die Möglichkeit, der Individualität der Person Ausdruck zu verleihen, beschreibt Mill als Abwesenheit von äußeren Zwängen und ist in diesem Sinne einem Konzept von Handlungsfreiheit näher als einem der Willensfreiheit. Dies ist dahingehend für sein Konzept wichtiger, da Mill individuelle Autonomie als Freiheit versteht, die Grenzen der Macht der Gesellschaft aufzuzeigen. 3.3

Autonomie des Kunden = Autonomie des Patienten?

Die Handlungsfreiheit im Sinne Mills ist ein wichtiger Punkt auch für den Patienten, der sich der Autorität des Arztes gegenüber behaupten können soll – wie bereits im oberen Teil des Aufsatzes gezeigt wurde. Gerade wenn man diesen Prozess der „Emanzipierung des Patienten“ als wünschenswert empfindet, muss man jedoch 19 nach den Bedingungen der Möglichkeit von Autonomie fragen. In Hinblick auf den 17 18 19

Ebd., S. 80. Ebd., S. 85. Die Beantwortung dieser Frage führt weiter zu dem klassischen Streit in der Philosophie um die Willensfreiheit und ihre Kausalität, der hauptsächlich von Kompatibilisten und Inkompatibilisten ausgetragen wird. Quante kann zeigen, dass trotz dieser unterschiedlichen Verständnisse von Freiheit, Autonomie und Verantwortlichkeit, die sich aus den Theorien ergeben, ein differenziertes Verständnis von Autonomie in der Praxis nicht unterbleiben kann. Vgl. M. Quante (2007),

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Der Patient als Kunde?

Patienten kann man eben oftmals nicht von einer bestehenden Autonomie ausgehen, sondern davon, dass gewisse Patienten bereits eine beeinträchtigte Autonomie haben. Durch die besondere Lage, in der sich Patienten befinden, ist ihre Autonomie zweifach beschränkt. Zum einen in der Handlungsfreiheit, d.h. sie haben nur eine begrenzte Wahl an Möglichkeiten und können sich manchmal nur dafür entscheiden, ob sie eine Behandlung wünschen oder nicht. Zum anderen kann durch die Situation des Krankseins die Willensfreiheit bzw. die Entscheidungskompetenz eingeschränkt sein. Damit müssen nicht nur Faktoren wie Medikamentengabe, die das Reflexionsvermögen beeinflussen, gemeint sein. Die Fragen können schon auf einer grundsätzlicheren Ebene ansetzen, so z.B. ob starke Schmerzen einen Patienten „fremdbestimmt“ werden lassen, da diese womöglich unbegründete Ängste und reine „Gefühlsentscheidungen“ evozieren. Welche Einflüsse, die einen Patienten zu einer Entscheidung führen, sind wirklich vom Patienten noch hinterfragbar? Welche unbewussten Wirkungen und Zwänge ergeben sich aus der Biographie einer Person? Wie bewertet man Situationen, in denen offensichtlich kompetente Menschen irrationale Entscheidungen treffen? Grundlegend ist letztlich die Frage, welche Faktoren für eine autonome Entscheidung als ausschlaggebend betrachtet werden. Aus dieser möglichen Vielzahl an Momenten, die einen Menschen in einer Situation beeinflussen können, folgt, dass Wege gefunden werden müssen, die Autonomie des Patienten dahingehend herzustellen, dass er sein Handeln und seine Wün20 sche als eigene wahrnehmen und diese Präferenzen begründen kann bzw. nach Wegen gesucht wird, gemäß dem mutmaßlichen Willen des Patienten zu handeln, wenn dieser nicht mehr in der Lage ist, sich aktiv zu äußern. Autonomieherstellung sollte nicht in allen Fällen das Ziel der ärztlichen Betreuung sein, sondern vielmehr als Mittel dienen, dem Patienten in seiner Ganzheit und Individualität gerecht zu

20

Autonomy for Real People, in: C. Lumer/S. Nannini (Hrsg.), Intentionality, Deliberation and Autonomy. The Action-Theoretic Basis of Practical Philosophy, Aldershot, S. 209–226. Diese Forderung, die unter dem Begriff „Authentizitätsanspruch“ diskutiert wird, birgt selber wieder Probleme in sich, die z.B. darin liegen, dass nicht genau geklärt werden kann, was „sich mit einer Sache identifizieren“ oder „seine Wünsche als eigene wahrnehmen“ genau gemeint ist. Hier können wiederum Einwände angebracht sein, die der Authentizitätsanspruch selbst ausgeräumt haben wollte. Wir bräuchten nämlich Kriterien für die Reflexion dieser Wünsche und eine Differenzierung wozu wir uns autonom verhalten können und wozu nicht. Doch woher diese Kriterien kommen (womöglich ebenfalls durch eine bestimmte Sozialisation, Konformität oder Zwangausübung) ist unklar und führt zu einem nicht abschließbaren Regress. Eine Theorie der Autonomie sollte dazu in der Lage sein, zu unterschieden, welche Entwicklungsprozesse zu authentischen Wünschen beitragen und welche nicht. Vgl. B.L. Miller (1981), Autonomy and the Refusal of Lifesaving Treatment, in: The Hastings Center Report, 11(4)/1981, S. 22–28; J. Christman (2008), Autonomie, in: S. Gosepath/W. Hinsch/B. Rössler (Hrsg.), Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Berlin, S. 96–102; H. Bielefeldt (2006), Autonomie, in: M. Düwell/C. Hübenthal/M.H. Werner (Hrsg.), Handbuch Ethik, Stuttgart et al., S. 311–314.

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werden. Denn was letztlich Selbstbestimmung im medizinischen Kontext erfüllen muss, um als autonom zu gelten, bleibt umstritten und setzt auch immer zugleich die Folgefrage an, welche Menschen überhaupt die Anforderungen an idealisierte Autonomieverständnisse erfüllen würden. Wenn es also primär um die Wahrnehmung des Patienten als Individuum geht, bei dem kontextspezifisch entschieden werden muss, so besteht die ernstzunehmende Frage, ob das Menschenbild, mit dem die Ökonomie vermehrt arbeitet, einer solchen Aufgabe gewachsen ist. In der Ökonomie wird der Mensch aus seiner „gegebenen Präferenzstruktur bestimmt, in der Normen und Emotionen nicht 22 vorkommen“. Dies ist ein überaus selektives Verständnis des Menschen. Der Mensch wird auf seine Funktion als Entscheidungsfinder auf das Ideal der Rationalität reduziert, das „autonome Individuum [stellt] eine unteilbare Analyseeinheit 23 der Ökonomik dar“. Die Faktoren, die vermehrt auf den Patienten in dessen spezifischer Abhängigkeits- und Eingeschränktheitssituation zutreffen, werden jedoch von diesem – wenn auch umstrittenen so doch noch am stärksten vertretenen – 24 Kernmodell des homo oeconomicus methodisch ausgeschlossen, da das Interesse am Menschen ein anderes als in der Medizin ist. Ökonomische Betrachtungen können die Probleme des Gesundheitswesens auf der Meso- und Makroebene diskutieren, wo es, wie Kösters und Reuter konstatieren, nicht darum geht, „ein realistisches, wirklichkeitsgetreues Abbild des Menschen zu schaffen“, sondern vielmehr darum, das „Problem [zu] lösen, wie Knappheiten von Gütern (angesichts unersättlicher Bedürfnisse) und aus ihnen resultierende Konflikte reduziert werden kön25 nen.“ Wenn der Patient zum Kunden reduziert wird und somit die Möglichkeiten der Autonomieausübung idealisiert werden, so kann dem prinzipiell grenzenlosen Konsumentenbedürfnis keine wirklichen Grenzen durch den Arzt gesetzt werden. Letzten Endes geht es in der Ökonomie um die optimale Befriedigung von Bedürfnissen und nicht darum, wie diese Bedürfnisbefriedigung bewertet wird. Der Arzt 21

22

23 24 25

Dies zeigt sich z.B. auch in der Frage nach dem Umgang mit Dementen. Während sie in einigen Situationen keine Kompetenz an den Tag legen, Entscheidungen für sich zu treffen, muss eine „overall, nontasksensitive sense of competence“ der Autonomie angenommen werden, also ganzheitliche und frühere Interessen des Patienten als relevant betrachtet werden. Vgl. G. Dworkin (1986), Autonomy and the Demented Self, in: The Milbank Quarterly, 64(2)/1986, S. 4–16. W. Kösters/U. Reuter (2003), Homo oeconomicus – das Menschenbild der Ökonomie?, in: P. Dabrock/T. Jähnichen/L. Klinnert et al. (Hrsg.), Kriterien der Gerechtigkeit. Begründungen – Anwendungen – Vermittlungen. FS für Christofer Frey zum 65. Geburtstag, Gütersloh, S. 285– 299, S. 288. E. Svetlova (2008), Sinnstiftung in der Ökonomik. Wirtschaftliches Handeln aus sozialphilosophischer Sicht, Bielefeldt, S. 11. Vgl. ebd. , S. 15f. W. Kösters/U. Reuter (2003), Homo oeconomicus – das Menschenbild der Ökonomie?, in: P. Dabrock/T. Jähnichen/L. Klinnert et al. (Hrsg.), Kriterien der Gerechtigkeit. Begründungen – Anwendungen – Vermittlungen. FS für Christofer Frey zum 65. Geburtstag, Gütersloh, S. 285– 299, S. 288.

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Der Patient als Kunde?

erscheint dann nur noch als Informations- und Leistungslieferant, der ganz im Sinne Mills zwar überzeugen kann, aber letztlich keinen direkten Einfluss auf die Entscheidung des Kunden ausüben darf, indem er sich über dessen Willen hinwegsetzt und Wünsche nicht erfüllt. Diese Machtstellung des Patienten ist in einigen privaten Bereichen der Ablehnung bzw. Zustimmung zu medizinischen Maßnahmen durchaus von Vorteil. Wenn es jedoch um Entscheidungen geht, die auch andere betreffen, so z.B. die Ablehnung der Behandlung einer hochinfektiösen 26 Erkrankung, erscheint eine reine Autonomieausübung des Patienten wenig wünschenswert.

4.

Das Streben nach Autonomie als Ausdruck des Vertrauensverlustes in die Medizin

Wie gezeigt wurde, sollte die Autonomie des Patienten in der Medizin differenziert 27 betrachtet werden und nicht nur im Recht auf Selbstbestimmung basieren. Dieses Recht auf Selbstbestimmung betont zwar die prinzipiell zu befürwortende Handlungsfreiheit des Patienten, stellt aber zugleich nicht zwingenderweise die Frage nach den Bedingungen der Autonomie des Patienten, die für das Arzt-PatientVerhältnis ausschlaggebend sind. Dadurch entsteht dann die Frage, warum in der Medizin die Diskussion um den Kundenstatus so stark in Verbindung mit der Idee der Autonomie hervorgehoben wird. Ein Ansatzpunkt zur Beantwortung dieser Frage kann die These O’Neills sein, die besagt, dass Autonomiestreben als Vertrauensverlust in die Medizin und die Rolle der Ärzte gewertet werden kann. Im Arzt-Patient-Verhältnis geht es letztlich nicht nur um die Handlung, die zur Wiederherstellung der „Ware“ Gesundheit führt, sondern entscheidend ist das Vertrauensverhältnis, das sich im Prozess des Heilens zwischen kompetentem Arzt und hilfesuchendem Patient ausdrückt und nicht zuletzt auch durch die ethischen Standards des Arztberufs gewährleistet wird. Auch Jaspers betont das sinnstiftende Moment des Vertrauens in der Arzt-PatientBeziehung: „Für den Kranken aber ist der Arzt nicht eine Maschinerie, die Gesundheit bringt und dafür bezahlt wird. Wie der Kranke innerlich zum Arzt steht, und was er von ihm erwartet, ist Grund für die Art der sich entwickelnden Kommunika28 tion.“ Die Existenz von Vertrauen ist genau dann notwendig, wenn wir keine Sicherheit oder Gewissheit haben, dass eine Handlung in einer bestimmten Weise ausgeht. Vertrauen wird erst überflüssig, wenn das Ziel der Handlung festgesetzt ist 26 27 28

J. Wilson (2007), Is Respect for Autonomy Defensible?, in: Journal of Medical Ethics, 33(6)/2007, S. 353–356, S. 356. Auf die Diskussion um die Pflichten des Patienten, wie sie speziell unter dem Stichwort der „Compliance“ diskutiert wird, kann an dieser Stelle nur verwiesen werden. K. Jaspers (1973), Philosophie I. Philosophische Weltorientierung, Berlin, S. 128.

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und garantiert werden kann, wie es O’Neill beschreibt. So brauche ich beim Kauf einer Stereoanlage kein persönliches Vertrauen in die angemessene Beratung des Verkäufers, da ich über eine Garantie verfüge, das Produkt zurückgeben zu können. Beim Arzt-Patient-Verhältnis sieht dies jedoch anders aus: Hier ist persönliches Vertrauen die Basis für eine erfolgreiche Zusammenarbeit, eine Garantie für eine Gesundung kann niemand ausstellen. Wäre dies der Fall, so ist das Bild vom Arzt als Dienstleister und dem Patienten als Kunde angebracht und die Beziehung von Arzt 30 und Patient kann in Form eines Vertragsverhältnisses beschrieben werden. Dies kann durchaus auf einige Konstellationen in der medizinischen Praxis zutreffen, so z.B. beim Zukauf zahnmedizinischer Angebote, auf die eine Garantie gegeben wird. In den meisten Fällen jedoch gründet sich die medizinische Behandlung auf das Vertrauen in den Arzt. Der Patient muss in dieser „traditionellen“ Beziehung von Arzt und Patient durchaus nicht naiv-passiv sein, sondern es zeigt sich, wie Luhmann betont, „dass der Vertrauende sich in gewissen Grundzügen schon auskennt, schon informiert ist, wenn 31 auch nicht dicht genug, nicht vollständig, nicht zuverlässig.“ Kundenmerkmale wie das der Informiertheit finden sich also auch in einem Vertrauensverhältnis. Dennoch bedarf es aufgrund der Asymmetrie des Wissens zwischen Arzt und Patient in erster Linie eines Vertrauens in die Urteilsfindung des Arztes und nicht eines Vertrauens in die Sanktionsmöglichkeiten bei Vertragsbruch. Indem der Patient zunehmend Kundenstatus erreicht, weist dies darauf hin, dass dem Arzt in seiner traditionellen Verantwortung nicht mehr getraut wird und nach Wegen gesucht wird, Vertrauen auf einer anderen Ebene zu schaffen. Dieses vertragspartnerbasierte Vertrauen hat dann jedoch nicht mehr viel mit dem ursprünglichen Vertrauenskonzept und dem Selbstverständnis der Medizin zu tun. Das persönliche Vertrauen, das in der Arzt-PatientKommunikation aufgebaut werden sollte, nimmt die Form von Vertrauen in die Zuverlässigkeit von institutionalisierten Mechanismen an.

5.

Der Wandel des medizinischen Selbstverständnisses und die Rolle der Medizinethik

Wenn man die Frage nach dem Vertrauensverlust in die Medizin mit der Frage nach der Rolle der Ethik in der Medizin verbindet, so kann man sich durchaus Gethmanns These anschließen, der die professionelle Ethik als philosophische Disziplin vor allem als Krisenphänomen beschreibt: „Ethos-Systeme sind ohne Zweifel leistungsfähig, sie haben jedoch immanente systematische Grenzen. Ethossysteme beziehen sich auf 29 30

31

Vgl. O. O’Neill (2002), Autonomy and Trust in Bioethics, Cambridge, S. 13. Vgl. G. Maio (2009), Dienst am Menschen oder Kunden-Dienst? Ethische Grundreflexionen zur sich wandelnden ärztlichen Identität, in: C. Katzenmeier/K. Bergoldt (Hrsg.), Das Bild des Arztes im 21. Jahrhundert, Berlin et al., S. 21–35. N. Luhmann (2000), Vertrauen, Stuttgart, S.40.

102

Der Patient als Kunde?

kontingente Überzeugungsbestände um Ursache-Wirkungs-Beziehungen und gruppengebundene Üblichkeiten. Unter den Bedingungen unübersichtlichen Wissensfortschritts und entsprechender Ausdifferenzierungen (z.B. durch Professionalisierung von Wissensbeständen und von Handlungsstrategien) verliert ein Ethos-System nicht 32 selten seine allgemeine Verbindlichkeit.“ Das Ethos-System des Arztes ist vor allem ein Standes- und Berufsethos, bei welchem sich die normativen Gehalte primär aus dem Hippokratischen Eid und seiner Weiterentwicklung speisen. Kern dieses Ethos ist das Wohl des Kranken, das sowohl das Verhalten des Arztes steuern als auch seine innere Einstellung bilden soll. Gegenüber dem Patienten wiederum erzeugt diese Selbstverpflichtung des Arztes das notwendige Vertrauen, dem Arzt in seinen Anweisungen zu folgen. Der Umgang mit einer Extension des ärztlichen Heilauftrages, wie er bereits angesprochen wurde, stellt eine Herausforderung an das bestehende ärztliche Ethos dar, da die wechselseitigen Handlungsverpflichtungen zwischen Arzt und Patient unklar sind. Demzufolge können die ethischen Standards der Leistung des Arztes Gefahr 33 laufen, ihre Legitimation zu verlieren. Diesen Wandel in der Medizin vorausgesetzt, muss es zu einer Reflexion des eigenen Verständnisses, des ärztlichen Ethos, kommen. Denn das ärztliche Ethos ist die Basis des handelnden Arztes und hat das Selbstverständnis des Arztberufes über Jahrhunderte geprägt. Die Ethik kann innerhalb des medizinischen Reflexionsprozesses durchaus dienlich sein, da sie in ihrer Funktion als Beurteilungsorgan von Handlungen die maßgeblichen Faktoren für den Wandel des ärztlichen Ethos klären kann und diese in Diskurse einzuordnen versteht. Vor allem vermag Medizinethik, Werte wie der der Autonomie in Bezug auf ihre Übertragbarkeit auf die medizinische Praxis zu überprüfen. Dabei wird deutlich, dass Autonomie differenziert betrachtet werden muss und nicht einfach postuliert bzw. abgesprochen werden kann. Denn so Callahan: „The interesting and important work of morality is not the achievement of 34 autonomy but the uses to which it is put and the moral ends it is fashioned to serve.“ Autonomiestreben in der Medizin kann folglich nur als Mittel zu einer transparenteren Medizin dienen und selber nie Zweck an sich sein. Es dient dazu, dem Patienten Gehör zu verschaffen. Die Rede vom Kunden dient nur als ein neuer Deckmantel, unter dem die erforderliche Schutzfunktion für den Patienten verhandelt wird. Nimmt man die Forderungen von Patienten ernst, dann ist auch die Rede

32

33

34

C.F. Gethmann (2008), Das Ethos des Heilens und die Effizienz des Gesundheitswesens, in: A. Gethmann-Siefert/F. Thiele (Hrsg.), Ökonomie und Medizinethik, München, S. 33–48, S.40; Ethik als Krisensymptom beschreibt auch: O. Höffe (2002), Medizin ohne Ethik?, Frankfurt a.M., S. 7–27. Voswinkel stellt den Legitimationsverlust von professionellen Normen und ethischen Standards als „Entnormativierungsthese“ vor. Vgl. S. Voswinkel (2004), Kundenorientierung, in: U. Bröckling/ S. Krasmann/T. Lemke (Hrsg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt a.M., S. 145–151. D. Callahan (1984), Autonomy. A Moral Good, Not a Moral Obsession, in: The Hastings Center Report, 14(5)/1984, S. 40–42.

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vom Kunden überflüssig, da bereits über den Status als Patient alle Ansprüche und Erwartungen verhandelt werden können. Die Ethik dient dabei nicht nur der Selbstreflexion der Medizin, sondern kann vor allem inhaltlich den Diskurs bereichern, indem z.B. die Grenzen des Kundenbegriffs aufgezeigt werden. Wie bereits erwähnt, offeriert der Kundenstatus in der Medizin, als Patient umfassend von Rechten Gebrauch zu machen und diese einzufordern. Gesundheit kann jedoch nicht wie im Sinne der WHO Definition als „state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of 35 disease or infirmity“ verstanden werden, sondern muss – wie Spaemann angesichts der steigenden Bedürfnisspirale fordert – einem „aktualisierten Begriff der 36 Normalität“ unterliegen. Dies zu betonen, ist Aufgabe der Ethik, die neben der Diskussion um medizintechnische Entwicklungen vor allem auch die soziale Verträglichkeit neuer Konzepte in der Medizin beurteilt.

6.

Fazit

Mit der Frage „Der Patient als Kunde?“ wurde in diesem Aufsatz der Aspekt der Selbstbestimmung des Kunden in seiner Übertragbarkeit auf den Patienten verbunden. In Auseinandersetzung mit philosophischen Diskursen über Selbstbestimmung bzw. Autonomie konnte gezeigt werden, dass das Konzept der Autonomie auf den Patienten nur partiell übertragbar ist, da zum einen die Fähigkeiten und zum anderen – wenn auch geringer – die Rechte des Patienten zur Autonomieausübung eingeschränkt sind. Der Begriff des Kunden kann nur da sinnvoll verwendet werden, wo es um ein wirkliches Vertragsverhältnis und nicht – wie es in der Medizin der Fall ist – eigentlich um ein Vertrauensverhältnis geht, bei dem der Patient als Leidender und Hilfsbedürftiger im Mittelpunkt stehen sollte. Die zunehmende Aufgabenerweiterung des Arztes irritiert den Patienten, da er nicht sicher sein kann, ob ihn der Arzt in seiner Funktion als Patient oder als Kunde betrachtet und folglich mit der medizinischen Behandlung primär das Ziel der Heilung oder der ökonomischen Zweckmäßigkeit verfolgt. Der so entstandene Vertrauensverlust in den Mediziner hat zur Folge, dass nach anderen Möglichkeiten der Vertrauensbildung gesucht wird. Die Berufung auf Autonomie kann dem Patienten dabei scheinbar dienlich sein, hat aber auch ihre Grenzen, die die Ethik in diesem Fall aufzeigen kann. Werte wie beispielsweise die Autonomie dürfen nicht als unverhandelbar gelten und die Medizin darf, um auf aktuelle Veränderungen in der Medizin adäquat reagieren zu können, sich nicht vor der internen Reflexion ihres Selbstverständnisses zurückziehen. 35 36

World Health Organization (2006), Constitution of the World Health Organization, City http://www.who.int/governance/eb/who_constitution_en.pdf [4.5.2010]. R. Spaemann (2001), Die Herausforderung des ärztlichen Berufsethos durch die medizinische Wissenschaft, in: ders., Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart, S. 343.

Narrationen und Prinzipien. Zur Funktion der Ethik am Beispiel der Bewertung der Tiefen Hirnstimulation Henriette Krug, Uta Bittner

1.

1.1

Einführung: Die Tiefe Hirnstimulation – das Verfahren, sein Indikationsspektrum und die damit gegebenen ethischen Herausforderungen Die Tiefe Hirnstimulation: Das Verfahren

Seit Ende der 1980er Jahre wird das unter dem Begriff der Tiefen Hirnstimulation (THS) bekannte neurotechnische Verfahren der chronischen elektrischen Stimula1 tion von Kerngebieten des Zentralen Nervensystems vermehrt eingesetzt. Hierbei werden in einer stereotaktischen Operation Elektroden in sorgfältig ausgewählte Zielgebiete des Gehirns implantiert. Meist werden bilateral jeweils eine, d.h. insgesamt zwei Elektroden verwendet. Diese werden mittels unter der Haut geführter Kabel mit einem Batteriegerät verbunden, das unter dem Schlüsselbein oder im 2 Bauchbereich ebenfalls unter der Haut implantiert wird. Von diesem Schrittmachergerät werden kurze elektrische Impulse in den Elektroden generiert, die eine Modulation neuronaler Funktionskreise bewirken und darüber bestimmte Symptome eines Krankheitsbildes vermindern. Ist die genaue Funktionsweise auch nach mehr als 20 Jahren Anwendung noch nicht geklärt, so wird dieses Verfahren inzwischen für eine wachsende Anzahl von neurologischen wie psychiatrischen Erkrankungen als ein sicheres, effizientes Therapieverfahren eingesetzt. Im Unterschied zu neurochirurgisch-läsionierenden Verfahren hat THS den großen Vorteil, ein reversibles Verfahren zu sein, das in einer nicht destruierenden Operation implantiert wird. Zudem sind die Elektroden ggf. wieder explantierbar. Ein zusätzlicher Vorteil ist, dass die Wirkung der Stimulation über die Modulation und variable 1

2

Zur historischen Entwicklung der Methode der THS vgl. überblicksweise z.B. M. Arends/H. Fangerau/G. Winterer (2009), „Psychochirurgie“ und tiefe Hirnstimulation mit psychiatrischer Indikation. Aktuelle und historische Aspekte, in: Der Nervenarzt, 80/2009, S. 781–788. Sowie A.-L. Benabid/P. Pollak/M. Hommer et al. (1989), Treatment of Parkinson tremor by chronic stimulation of the ventral intermediate nucleus of the thalamus, in: Rev Neurol (Paris), 145/1989, S. 320–323. Zum chirurgischen Vorgehen vgl. z.B. A.-L. Benabid/S. Chabardes/J. Mitrofanis et al. (2009), Deep brain stimulation of the subthalamic nucleus for the treatment of Parkinson´s disease, in: Lancet neurology, 8/2009, S. 67–81.

Krug, Bittner

105

Kombination verschiedener Stimulationsparameter (Amplitude, Frequenz und Weite der elektrischen Impulse sowie Lokalisation und Weite des elektrischen Feldes) im Verlauf adjustierbar ist. Hierdurch ist eine Optimierung des Stimulationseffekts möglich, die sich an der Ausprägung der zu reduzierenden Symptome sowie der Nebenwirkungen orientiert. Generell bleibt bei der Beurteilung von THS allerdings immer zu berücksichtigen, dass sie für jeden Patienten einen aufwendigen gehirnchirurgischen Eingriff mit eigenen Risiken und Nebenwirkungen bedeutet, die trotz dieser Vorteile nicht unterschätzt werden dürfen. 1.2

Die Tiefe Hirnstimulation: Indikationen

Im Bereich der Behandlung neurologischer Bewegungsstörungen hat sich die THS inzwischen als evidenzbasierte, wirksame und sichere Therapieoption (idiopathisches Parkinsonsyndrom, essentieller Tremor, generalisierte und segmentale Dystoniesyndrome) etabliert. Weltweit wurden mehr als 35.000 Patienten mit diesen 3 Indikationen operiert. Darüberhinaus wird es zur Behandlung weiterer Dystonieund Tremorsyndrome, tardiver Dyskinesien sowie anderer neurologischer Erkrankungen wie Cluster-Kopfschmerz oder bestimmten Unterformen von therapiere4 fraktären Epilepsien eingesetzt. Aufgrund der Erfahrung, dass bei der Behandlung von Parkinsonpatienten mittels THS psychische Nebeneffekte beobachtet wurden und aufgrund des Wissenszuwachses über die Entstehung psychiatrischer Erkrankungen wurde in den vergangenen Jahren damit begonnen, das Indikationsspektrum auch auf psychiatrische Erkrankungen auszuweiten: Es liegen inzwischen Erfahrungen mit der Behandlung von Zwangserfahrungen, Tourette-Syndrom, Depression sowie Suchterkrankungen vor, bei denen jeweils ein positiver Effekt auf 5 die Symptomkontrolle berichtet wird. Spätestens mit dieser Entwicklung wird die ethische Diskussion um die technische Intervention am menschlichen Gehirn 6 intensiver geführt. 3 4

5

6

Vgl. M.-L. Kringelbach/N. Jenkinson/S.-L.-O. Owen et al. (2007), Translational principles of deep brain stimulation, in: Nat Rev Neurosci, 8/2007, S. 623–635. Vgl. H. Yu/J.-S. Neimat (2008), The treatment of movement disorders by deep brain stimulation, in: Neurotherapeutics, 5/2008, S. 26–36; sowie M. Leone (2006), Deep brain stimulation in headache, in: Lancet Neurology, 5(10)/2006, S. 873–877; als auch T. Loddenkemper/A. Pan/S. Neme et al. (2001), Deep brain stimulation in epilepsy, in: J Clin Neurophysiol, 18/2001, S. 514–532; sowie D. Gruber/T. Trottenberg/A. Kivi et al. (2009), Long-term effects of pallidal deep brain stimulation in tardive dystonia, in: Neurology, 73/2009, S. 53–58. Vgl. P.-S. Larson (2008), Deep brain stimulation for psychiatric disorders, in: Neurotherapeutics, 5/2008, S. 50–58; J. Kuhn/T.-O.-J. Gründler/D. Lenartz et al. (2010), Tiefe Hirnstimulation bei Psychiatrischen Erkrankungen, in: Deutsches Ärzteblatt, 107(7)/2010, S. 105–113; sowie J. Kuhn/D. Lenartz/W. Huff et al. (2007), Remission of alcohol dependency following deep brain stimulation of the nucleus accumbens. Valuable therapeutic implications?, in: J Neurol Neurosurg Psychiatry, 78/2007, S. 1152–1153. Vgl. E. Bell/G. Mathieu/E. Racine (2009), Preparing the ethical future of deep brain stimulation, in: Surgical Neurology, 72/2009, S. 577–586; sowie M.-L. Kringelbach/T.-Z. Aziz (2009), Deep brain stimulation. Avoiding the errors of psychochirurgy, in: JAMA, 301(16)/2009, S. 1705-1707.

106

1.3

Narrationen und Prinzipien

Die Tiefe Hirnstimulation: Ethische Herausforderungen

Die ethische Reflexion von THS ist in mehrfacher Hinsicht wichtig und notwendig: Erstens steht eine chirurgische Intervention am menschlichen Gehirn mit dem Ziel der Behandlung neuropsychiatrischer Erkrankungen unter dem Stichwort der „Psychochirurgie“ im Schatten der Ära der Leukotomie als einem problematischen Kapitel der Medizingeschichte, in der es zu unkritischem, inflationärem Einsatz eines neu entwickelten, in dem Fall allerdings irreversiblen, Therapieverfahrens kam. Um solche Fehler und die damit verbundenen Schädigungen zahlreicher Patienten nicht zu wiederholen, ist heute in besonderer Weise ethische Wach7 samkeit und Sensibilität geboten. Zweitens steht, bereits unabhängig von medizinhistorischen Erwägungen, bei jedem Eingriff am menschlichen Gehirn – ähnlich wie auch bei psychopharmakologischer Intervention – die Frage nach Implikationen für die menschliche Persönlichkeit und Identität zur Debatte: Dem Gehirn als Zentrale von u.a. Kognition und Emotion, d.h. essentiellen identitätsrelevanten 8 Funktionen, kommt eine Sonderstellung im menschlichen Körper zu. Neben futuristischen Spekulationen zur Verschmelzung von Mensch und Maschine entsteht unter ethischem Gesichtspunkt die konkrete Frage, inwieweit THS eine Möglichkeit ethisch bedenklicher Manipulation von personalen Eigenschaften bedeuten kann. Hierbei stellt sich zugleich die Folgefrage, nach welchem Maßstab dann ggf. eine Veränderung der Persönlichkeit als gut oder schlecht zu bewerten ist. Drittens ist ethisch relevant, dass die Einflussnahme auf das Gehirn von einer auf die andere

7

8

Siehe auch J. Kuhn/W. Gabriel/J. Klosterkotter et al. (2009), Deep brain stimulation as a new therapeutic approach in therapy-resistant mental disorders. Ethical aspects of investigational treatment, in: Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci, 259(2)/2009, S. 135–141; vgl. auch P. Rabins/B.-S. Appleby/J. Brandt et al. (2009), Scientific and Ethical Issues Related to Deep Brain Stimulation for Disorders of Mood, Behavior, and Thought. in: Arch Gen Psychiatry, 66(9)/2009, S. 931–937; vgl. auch M. Synofzik/T.-E. Schlaepfer (2008), Stimulating personality. Ethical criteria for deep brain stimulation in psychiatric patients and for enhancement purposes, in: Biotechnol J, 3(12)/2008, S. 1511–1520; sowie J.-J. Wind/D.-E. Anderson (2008), From prefrontal leukotomy to deep brain stimulation. The historical transformation of psychochirurgy and the emergence of neuroethics, in: Neurosurg Focus, 25(1)/2008, S. 1–5. Vgl. B. Albrecht (2004), Rückkehr der Psychochirurgie. Der Kölner Neurochirurg Prof. Dr. med. Volker Sturm bricht ein Tabu, indem er therapierefraktäre Zwangskranke chirurgisch behandelt, in: Deutsches Ärzteblatt, 10/2004, S. 472–474; vgl. auch M.-L. Kringelbach/T.-Z. Aziz (2009), Deep brain stimulation. Avoiding the errors of Psychochirurgy, in: JAMA, 301(16)/2009, S. 1705–1707; sowie M. Arends/H. Fangerau/G. Winterer (2009), „Psychochirurgie“ und tiefe Hirnstimulation mit psychiatrischer Indikation. Aktuelle und historische Aspekte, in: Nervenarzt, 80/2009, S. 781–788. Vgl. u.a. das Memorandum von T. Galert et al. (2009), Das optimierte Gehirn. in: Gehirn und Geist, 11/2009, S. 1–12, sowie P. Kramer (1997), Listening to Prozac, New York. Vgl. auch O. Müller/J. Clausen/G. Maio (2009), Der technische Zugriff auf das menschliche Gehirn. Methoden – Herausforderungen – Reflexionen, in: dies. (Hrsg.), Das technisierte Gehirn. Neurotechnologien als Herausforderung für Ethik und Anthropologie, Paderborn, S. 11–19. Vgl. T. Galert (2008), Wie mag Neuro-Enhancement Personen verändern?, in: B. Schöne-Seifert/D. Talbot/U. Opolka et al. (Hrsg.), Neuro-Enhancement. Ethik vor neuen Herausforderungen, Paderborn, S. 159–187.

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Sekunde „ab“- bzw. „eingeschaltet“ werden kann. Es entsteht damit das medizinisch, anthropologisch wie ethisch neuartige Phänomen, dass ein Patient „per Knopfdruck“ zwischen zwei möglicherweise unterschiedlichen Zuständen seiner 9 Selbst(wahrnehmung) wechseln kann. Es ist zu fragen, ob und ggf. welche Auswirkungen auf das Selbstverhältnis bzw. auf das allgemeine Verständnis vom Menschen eine solche technische Option bei den Patienten selbst, ihrem sozialen Umfeld sowie in der Gesellschaft hervorruft und wie diese ggf. ethisch zu beurteilen sind. Viertens ist absehbar, dass bei nachweislich positivem Effekt im Rahmen medizinisch-therapeutischer Anwendung THS als Methode zur Verbesserung von Hirnfunktionen am Gesunden im Sinne von Enhancement zur Diskussion stehen wird. So wurden bereits Hinweise für eine – bisher nur als Nebenwirkung hervorge10 rufene – gedächtnissteigernde Wirkung von THS publiziert. 1.4

Fragestellung

In diesem Beitrag sollen daher Überlegungen zu der ethischen Diskussion der THS unternommen werden. Leitfrage hierbei ist, mit welcher Herangehensweise diese dem dargelegten ethischen Gehalt der THS gerecht werden kann. Hierzu erfolgt zunächst eine kritische Überprüfung der THS anhand der in der Medizinethik weit verbreiteten Praxis ethischer Urteilsbildung anhand von Prinzipien. Die bei dieser Prüfung auffallenden Defizite geben Anlass zur Diskussion über eine Ergänzung dieses Ansatzes um Elemente der narrativen Ethik. Im abschließenden Fazit wird zusammenfassend dargestellt, welche Funktion der Ethik bei einem so komplexen Eingriff wie der THS zukommen kann und sollte.

2.

Die ethische Bewertung anhand der vier Prinzipien von Beauchamp und Childress

Beauchamp und Childress haben im Jahre 1979 ihren prinzipienethischen Ansatz vorgestellt, der – vereinfacht gesprochen – eine Art „ethische Checkliste“ darstellt, wonach medizinische Verfahren auf ihre moralische Legitimation hin überprüft 11 werden können. Trotz verschiedener Kritikpunkte (z.B. Fragen einer theoretischen Fundierung sowie der Auswahl und Abwägung der Prinzipien oder der Konzentration auf Pflichten ohne Berücksichtigung emotionaler Aspekte) und Alternativansätze hat sich die grundlegende Idee bewährt. Seit über dreißig Jahren ist sie in 9

10 11

Einen besonders auffälligen Wechsel zwischen zwei extremen Persönlichkeitszuständen diskutiert Glannon in W. Glannon (2009), Stimulating brains, altering minds, in: Journal of Medical Ethics, 35/2009, S. 289–292. Vgl. C. Hamani/M.-P. McAndrews/M. Cohn et al. (2008), Memory enhancement induced by hypothalamic/fornix deep brain stimulation, in: Ann Neurol, 63/2008, S. 119–123. Vgl. T.-L. Beauchamp/J.-F. Childress (2009), Principles of Biomedical Ethics, Oxford.

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Narrationen und Prinzipien 12

Medizinethik und Praxisalltag etabliert. Die Grundidee beinhaltet vier bioethische Prinzipien mittlerer Ordnungsstufe, die in der Praxis eine leichte Handhabung sicherstellen sollen: (1) das Autonomie-Prinzip als Wahrung der individuellen Entscheidungs- und Handlungskompetenz der Betroffenen; (2) das Prinzip des Nichtschadens als Gebot der Schadensvermeidung; (3) das Prinzip des Wohltuns als fürsorgende Einstellung zur Steigerung des Wohlergehens des Betroffenen sowie (4) das Gerechtigkeitsprinzip, welches fordert, dass Personen nicht finanziell oder anderweitig benachteiligt werden. Anhand dieser Prinzipien kann in konkreten Entscheidungssituationen erarbeitet werden, ob und welche Handlung als ethisch gerechtfertigt gilt. Dieses Prüfverfahren soll im Folgenden für die Bewertung der Tiefen Hirnstimulation herangezogen werden. Die leitende Fragestellung hierbei ist, ob und auf welcher Basis dieser neurochirurgisch-neuromodulative Eingriff bei Anwendung der vier Prinzipien seine ethische Legitimation erhält. 2.1

Prinzip der Autonomie

Das Autonomieprinzip wird im medizinischen Kontext wesentlich in Hinsicht auf die begrenzte konkrete Handlungssituation von Zustimmung oder Ablehnung einer vorgeschlagenen medizinischen Maßnahme behandelt, d.h. den so genannten 13 „informed consent“ („informierte Einwilligung“): Ein Patient muss vor einem medizinischen Eingriff schriftlich seine freiwillige Zustimmung dokumentieren, nachdem er zuvor umfassend über den Ablauf sowie den erwartbaren Effekt, mög14 liche Risiken und ggf. vorhandene Therapiealternativen aufgeklärt wurde. Diese Information und Einwilligung bildet die juristische Legitimation der mit dem Eingriff verbundenen bevorstehenden Körperverletzung. Im Falle von THS beinhaltet die Aufklärung eine eingehende Erklärung des Vorgehens rund um die Operation selbst sowie der damit verbundenen Chancen hinsichtlich Reduktion der Zielsymptome, der Risiken durch die Operation selbst sowie durch Nebeneffekte der Stimulation bzw. des Gerätes. Auch sollte ein Patient wissen, was an Nachsorge auf ihn zukommt: regelmäßige Arzt- bzw. Kliniktermine zur Kontrolle und Optimierung der Stimulationsparameter, der medikamentösen Anpassung sowie Batteriewechsel. Zusätzlich muss der Patient darüber aufgeklärt sein, was er nach der Technikimplantation im Alltag zu beachten hat, um technische Störungen oder körperliche Gefährdungen zu vermeiden (z.B. im Hinblick auf bestimmte medizinische Untersuchungen wie MRT). Hierbei ist ggf. auch zu überprüfen, ob das soziale Umfeld des 12

13

14

Vgl. P. Schröder (2007), Ein vier-Prinzipien-Ansatz für die Bioethik. Geschichte, Methode, Kritik und Übertragbarkeit auf andere Bereiche, in: Zeitschrift für evangelische Ethik, 51/2007, S. 182– 198. D. Talbot (2009), Tiefenhirnstimulation und Autonomie, in: O. Müller/J. Clausen/G. Maio (Hrsg.), Das technisierte Gehirn. Neurotechnologien als Herausforderung für Ethik und Anthropologie, Paderborn, S. 165–186. Vgl. etwa Bundesärztekammer (1990), Empfehlungen zur Patientenaufklärung, in: Deutsches Ärzteblatt, 87(16)/1990, S. 807–809.

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Patienten diese Abläufe im Alltag ausreichend unterstützen kann. Von ärztlicher 15 Seite ist sicherzustellen, dass der Patient entsprechend den Indikationsrichtlinien wirklich für den Eingriff geeignet ist, damit gewährleistet ist, dass seine Aussagen im Rahmen der medizinisch-statistischen Wahrscheinlichkeiten auch zutreffen. Ein sensibler Punkt, in dem bei THS die Autonomie des Patienten präoperativ gefährdet sein könnte und der daher besonders von ärztlicher Seite zu beachten ist, ist die Schwere der Erkrankung: Wenn Patienten in fortgeschrittenem Erkrankungsstadium angesichts fehlender Therapieoptionen den Eingriff als letzte Chance wünschen, besteht die Gefahr, dass sie zu leichtfertig, ohne gründliche Überprüfung und Abwägung der Risiken, ihre Einwilligung geben. Hier obliegt es dann der Fürsorgepflicht des Arztes, im Sinne der Gebote zu Wohltun und Nichtschaden auf die Einwände gegenüber der Indikation hinzuweisen. Eine kognitive Einschränkung, durch die eine volle Einsicht in diese Fakten und die autonome Entscheidung nicht gewährleistet ist, bedeutet eine Kontraindikation gegen THS. Dieses Kriterium findet sich in den gängigen Empfehlungen zu Indika16 tion und Patientenauswahl für THS beispielsweise für das IPS klar dokumentiert. Unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit ist dieser Grundsatz allerdings hinterfragbar: Ist es ethisch gerechtfertigt, einen Patienten mit IPS und Demenz von vorneherein von therapeutischen Möglichkeiten auszuschließen, die ihm eine Verbesserung der Motorik (z.B. Tremorreduktion) und davon abhängigen Alltagsfunk17 tionen bringen könnten? Gemäß den Empfehlungen der medizinischen Expertengruppen für THS wiegt der Respekt vor den Prinzipien von Autonomie und Nicht18 schaden in diesem Falle höher. Einen schwer zu entscheidenden Grenzfall bedeutet die Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit bei psychiatrischen Erkrankungen. Hier sind Fälle möglich, bei denen die mit THS zu behandelnde Erkrankung selbst die Entscheidungsautonomie in Frage stellt (z.B. ausgeprägte Apathie im Rahmen schwerer Depression oder Zweifel an autonomen Willensbekundungen bei Zwangserkrankung). Hier wird zum aktuellen Zeitpunkt, an dem die Behandlung von psychiatrischen Erkrankungen 15

16 17

18

Für die einzelnen THS-Indikationen existieren von Expertengruppen aufgestellte Richtlinien, vgl. für das IPS z.B. G.-L. Defer/H. Widner/R.-M. Marie et al. (1999), Core assessment program for surgical interventional therapies in Parkinson’s disease (CAPSIT-PD), in: Movement Disorders, 14/1999, S. 572–584. Vgl. auch R. Hilker/R. Benecke/G. Deuschl et al. (2009), Deep brain stimulation for Parkinson’s disease. Consensus recommendations of the German Deep brain stimulation Association, in: Nervenarzt, 80/2009, S. 646–655. Ebd. Zur Diskussion der spezifischen ethischen Fragen in der THS-Behandlung dementer Patienten vgl. S. Farris/P. Ford/J. DeMarco et al. (2008), Deep brain stimulation and the ethics of protection and caring for the patient with Parkinson’s dementia, in: Movement Disorders, 23(14)/2008, S. 1973–1976. Eine tiefergehende Diskussion um die Durchführung von THS bei Nicht-Einwilligungsfähigen, wie etwa bei Notfallindikationen oder bei einwilligungsunfähigen Kindern, muss in diesem Beitrag aus Platzgründen ausgeklammert werden, wenngleich eine Beschäftigung mit dieser Fragestellung eine separate, tiefergehende Untersuchung wert ist.

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Narrationen und Prinzipien

mittels THS noch weitgehend experimentell und im Rahmen von „Heilversuchen“ verläuft, bei den Kriterien zur Patientenauswahl in der Regel auch der Respekt vor dem Autonomieprinzip in Form des Kriteriums der Einwilligungsfähigkeit einge19 fordert. Neben den Fragen um die Erfüllung des informed consent ist bei der Evaluation nach dem Autonomie-Prinzip ein weiterer Punkt zu diskutieren: Besteht ein Risiko, dass die Selbstbestimmung des Patienten durch die Behandlung mit THS gefährdet wird? Hier ist aufgrund der Verschiedenartigkeit der zugrundeliegenden Erkrankungen sowie der mit den unterschiedlichen Zielgebieten der Elektroden variierenden möglichen Nebenwirkungen keine pauschale Antwort möglich. Dennoch lässt sich eine grundsätzliche Ambivalenz diskutieren: Einerseits ist es möglich, dass THS durch die gezielte Reduktion von Symptomen, sei es von motorischen, wie z.B. einem stark beeinträchtigenden Rigor oder Tremor beim Parkinsonpatienten, sei es von psychiatrischen, wie z.B. einer ausgeprägten Antriebslosigkeit im Falle eines Depressionspatienten, eine Stärkung der Fähigkeit zur Selbstbestimmung bringt. Andererseits bedeutet die Abhängigkeit der intendierten Symptomreduktion von dem technischen Gerät sowie das mit dem Hirnschrittmacher gegebene Potenzial externer Stimulationskontrolle und -manipulation eine mögliche Einschränkung oder sogar Gefährdung der Selbstbestimmung. Hier wird im Einzelfall mit dem Patienten und seinen Angehörigen zu diskutieren und zu entscheiden sein, ob solche Effekte spürbar sind – und wie diese bewertet werden. In jedem Falle gilt aber die Reversibilität des Stimulationseffektes: eine Gefährdung der Autonomie durch die Stimulation besteht allenfalls temporär und bedeutet somit keinen grundsätzli20 chen Gegensatz zu dem Gebot zur Respektierung der Autonomie. 2.2

Prinzip der Gerechtigkeit

Gerechtigkeit ist – wie Autonomie – ein philosophisch nicht einheitlich gefasster Begriff, der im Laufe der Geschichte in vielfältiger Weise umgedeutet und ausdifferenziert wurde. So schlug schon Aristoteles eine Untergliederung der Gerechtigkeit in iustitia distributiva (austeilende Gerechtigkeit) sowie iustitia commutativa (ausgleichende Gerechtigkeit) vor, wobei er letztere noch weiter in die Bereiche 19

20

Vgl. J. Kuhn/W. Gaebel/J. Klosterkoetter et al. (2009), Deep brain stimulation as a new approach in the therapy-resistant mental disorders. ethical aspects of investigational treatment, in: Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci, 259(2)/2009, S. 135–141; sowie P. Rabins/B.-S. Appleby/J. Brandt et al. (2009), Scientific and ethical issues related to deep brain stimulation for disorders of mood, behavior, and thougt, in: Arch Gen Psychiatry, 66/2009, S. 931–937. Siehe auch M. Arends/H. Fangerau/G. Winterer (2009), „Psychochirurgie“ und tiefe Hirnstimulation mit psychiatrischer Indikation. Aktuelle und historische Aspekte, in: Der Nervenarzt, 80/2009, S. 781–788. Vgl. D. Talbot (2009), Tiefenhirnstimulation und Autonomie, in: O. Müller/J. Clausen/G. Maio (Hrsg.), Das technisierte Gehirn. Neurotechnologien als Herausforderung für Ethik und Anthropologie, Paderborn, S. 165-186; sowie M.-K. Schmetz/T. Heinemann (2010), Ethische Aspekte der tiefen Hirnstimulation in der Therapie psychiatischer Erkrankungen, in: Fortschr Neurol Psychiat 78/2010, S. 269–278.

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Tauschgerechtigkeit, restitutive Gerechtigkeit und korrektive Gerechtigkeit untergliederte. Dieses aus der Antike stammende Gerechtigkeitsverständnis unterscheidet sich vom heutigen, häufig angewandten Begriff, wonach von Verteilungsgerech21 tigkeit, Tauschgerechtigkeit und politischer Gerechtigkeit die Rede ist. Bei Beauchamp and Childress beinhaltet das Gerechtigkeitsprinzip vor allem die Aufgabe, eine gerechte Verteilung von Nutzen, Risiken und Kosten zu gewährleisten – und keine unfaire Lastenverteilung zu evozieren und soziale Gefälle zu verschärfen. Wie ist diesbezüglich nun das THS-Verfahren zu bewerten? 22 Zunächst ist zu berücksichtigen, dass die initialen Implantatkosten hoch sind. Gerade in Zeiten zunehmender Limitationen durch die Krankenkassen stellt sich 23 die Entscheidung für oder gegen THS auch nach ökonomischen Kriterien. Budgetlimitierungen in den Implantationszentren und eine kritisch-restriktive Haltung bei der Kostenübernahme durch die Krankenkassen haben zur Folge, dass nicht alle Patienten, die für eine THS geeignet wären, diese auch erhalten können. Das gilt noch einmal mehr vor dem Hintergrund eines sich ausweitenden Indikationsspektrums von THS. Doch ist daneben ebenso zu berücksichtigen, dass bei erfolgreicher Behandlung aufgrund deutlicher Reduzierung der Aufwendungen für Medikamente und signifikanter Verbesserungen des Gesundheitszustandes sowie der damit verbundenen Erleichterungen in alltäglichen Verrichtungen Kosten erheblich eingespart werden können: Bisher jedoch fehlen Langzeit-Kosten-WirksamkeitsAnalysen, um diese Effekte exakt zu quantifizieren. Für IPS-Patienten existieren allerdings Daten für den Zeitraum von zwei Jahren, wonach die Gesamtbehandlungskosten im ersten Jahr (aufgrund der hohen Kosten von Operation und Technikimplantat) um 32% steigen, danach aber um 54% abfallen. Man kann von einer 24 Amortisierung der Implantationskosten nach 2 bis 3 Jahren ausgehen. Für die Bewertung des therapeutischen Verfahrens der THS bei Parkinson-Erkrankten ist somit gemessen an der erreichbaren Verbesserung der Lebensqualität nicht von einem „Ressourcenverschwendungs-Effekt“ auszugehen, so dass in diesem Punkte

21 22

23

24

Vgl. R. Merkel (2009), Mind Doping?, in: N. Knoepffler/J. Savulescu (Hrsg.), Der neue Mensch? Enhancement und Genetik, Freiburg, S. 177–212, hier S. 202f. So liegt allein der Preis für das Hinrschrittmachergerät – ohne OP-Kosten – bei 17.000 bis 20.000 Euro. Vgl. U. Bittner (2007), Software fürs Gehirn. Immer mehr Technik steuert den Denkapparat, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.12.2007, S. 18. Vgl. U. Bittner (2009), Ökonomische Aspekte von Neurotechnologien, in: O. Müller/J. Clausen/G. Maio (Hrsg.), Das technisierte Gehirn. Neurotechnologien als Herausforderung für Ethik und Anthropologie, Paderborn, S. 105–118, hier S. 114. Vgl. E.-S. Spottke/J. Volkmann/D. Lorenz et al. (2002), Evaluation of healthcare utilization and health status of patients with Parkinson´s disease treated with deep bran stimulation of the subthalamic nucleus, in: J Neurol, 249/2002, S. 759–766; sowie W. Meissner/D. Schreite/J. Volkmann et al. (2005), Deep brain stimulation in late stage Parkinson´s disease. A retrospective cost analysis in Germany, in: J Neurol, 252/2005, S. 218–223. Siehe ebenso V. Fraix/J.-L. Houeto/C. Lagrange et al. (2006), Clinical and economical results of bilateral subthalamic nucleus stimulation in Parkinson´s disease, in: J Neurol Neurosurg Psychiatry, 77/2006, S. 443–449.

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Narrationen und Prinzipien

die Gerechtigkeit nicht gefährdet zu sein scheint. Freilich fehlen weitere Daten, um für alle mit THS behandelbaren Erkrankungen valide Aussagen treffen zu können. Ein weiterer Punkt, der bei THS in puncto Gerechtigkeit zu diskutieren ist, ist die Zugangsgerechtigkeit: Steht allen für THS in Frage kommenden Patienten die Möglichkeit gleichermaßen offen, diese Therapieoption tatsächlich zu erhalten? Bei der Patientenauswahl spielen neben medizinischen auch soziale Aspekte eine Rolle: Von medizinischer Seite ist die Auswahl möglichst streng danach zu kalkulieren, bei welchen Kandidaten ein maximaler Nutzen zu erwarten ist. Für jeden Fall ist eine, die individuelle medizinische Konstellation berücksichtigende Nutzen-RisikoAnalyse vorzunehmen. Dieses ist zum einen vor dem Hintergrund der Prinzipien von Wohltun und Nichtschaden geboten, zum anderen angesichts der hohen Kosten der Intervention, die die Anwendung des Verfahrens limitiert. Eine diesen Kriterien genügende Selektion lässt sich am besten erreichen, wenn ein multidisziplinäres, mit THS erfahrenes Behandlungsteam die Patientenauswahl vornimmt. Zudem helfen standardisierte Auswahlkriterien. Bei Berücksichtigung dieser Aspekte erscheint die Gerechtigkeit bei THS im Rahmen der medizinischen Verantwortlichkeit gewährleistet. Zusätzlich sind bei der Patientenauswahl soziale Aspekte zu berücksichtigen: Prä- wie postoperativ sind von den Patienten zusätzliche Termine für Screeninguntersuchungen, Gerätekontrolle, Anpassung von Medikamenten und Stimulationsparametern notwendig, bis sich der optimale Behandlungserfolg einstellt. Hierfür muss ein sozialer Hintergrund bestehen, der den Patienten in den damit verbundenen Anstrengungen unterstützt. Hier könnten insbesondere Patienten, die auf sich allein gestellt sind, benachteiligt sein sowie solche, für die der Weg zum Implantationszentrum weit oder in anderer Hinsicht schwierig zu überwinden ist (Transportkosten). In diesem Bereich der sozialen Zugangsgerechtigkeit lassen sich bei genauerer Untersuchung weitere Ungerechtigkeiten aufdecken (z.B. Prob25 leme, die bei langen Wartelisten für die Intervention auftreten können). Da THS (noch) nicht für das Enhancement einzelner psychischer oder physischer Fähigkeiten herangezogen wird, ist die Prüfung von „Ungleichheitsverschär26 fungs-Effekten“, wie sie im Kontext pharmakologischen oder genetischen Enhan27 cements diskutiert werden, noch nicht virulent; sie könnte es indes in Zukunft werden, sollte die Anwendung von THS aus dem rein therapeutischen Spektrum 28 heraustreten. Dann könnte der Zugang zu (teurem) THS-Enhancement nur den 25 26 27 28

Vgl. E. Bell/G. Mathieu/E. Racine (2009), Preparing the ethical future of deep brain stimulation, in: Surgical Neurology, 72/2009, S. 577–586. Vgl. R. Merkel (2009), Mind Doping?, in: N. Knoepffler/J. Savulescu (Hrsg.), Der neue Mensch? Enhancement und Genetik, Freiburg, S. 177–212, hier S. 203. Vgl. etwa M. Fuchs/D. Lanzerath/I. Hillebrand et al. (2002), Enhancement. Die ethische Diskussion über biomedizinische Verbesserungen des Menschen, Bonn, S. 24ff. Für derartige erste Ansätze eines Enhancements mittels THS vgl. C. Hamani et al. (2008), Memory Enhancement Induced by Hypothalamic/Fornix Deep Brain Stimulation, in: Annals of Neurology, 63/2008, S. 119–123. Das Argument aus dem Kontext politischer Gerechtigkeitsüberlegungen, wonach durch ein frei zugängliches Enhancement ein massiver Druck für jeden einzelnen

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ohnehin schon Privilegierten offenstehen, die es sich finanziell leisten können. Dies könnte zu einer Verschärfung sozialer Ungleichheiten führen – da der potentielle THS-Enhancement-Nutzer weitere sogenannte „positionale“ Privilegien erlangt. Merkel spricht in diesem Kontext auch von den „Selbstverschärfungstendenzen 29 ungleicher Chancenverteilung“. 2.3

Prinzip des Wohltuns

Bei der Berücksichtigung des Prinzips des Wohltuns konzentriert sich der Blick auf die Chancen und erwartbaren positiven Effekte, die sich in der Symptomreduktion und den damit verbundenen Verbesserungen in der Lebensqualität zeigen. Im Alltag der evidenzbasierten Medizin wird zur Beantwortung dieser Frage die aktuelle Studienlage herangezogen: Hier lässt sich die Wirksamkeit als Reduktion der Zielsymptome anhand der Verbesserungen in je krankheits- und symptomspezifischen Skalenwerten ablesen. Da die Evaluationen für jedes Krankheitsbild separat verlaufen, können im Rahmen dieser Arbeit nur Zahlen aus Überblicksarbeiten für eine exemplarische Auswahl zitiert werden: Bei idiopathischem Parkinsonsyndrom wird bei Elektrodenlage im Nucleus subthalamicus der reine Stimulationseffekt mit Reduktion der motorischen Symptome um ca. 52%, die postoperative Dosisreduktion an dopaminerger Medikation mit 50 bis 56%, die Reduktion der medikamentös bedingten motorischen Nebenwirkungen mit 69% sowie die Verbesserung in der 30 gesundheitsbezogenen Lebensqualität mit 24% beziffert. Bei essentiellem Tremor wird bei Stimulation im Nucleus ventralis intermedius des Thalamus die durchschnittliche Tremorreduktion mit 83% angegeben, für segmentale und generalisierte Dystonien bei Stimulation in der Pars interna des Globus pallidus eine Symptom31 reduktion mit mehr als 50%. Für psychiatrische Erkrankungen existieren bisher nur Daten an relativ kleinen Patientenzahlen. Hier variieren die Zahlen je nach Elekrodenlokalisation stark: Beim Tourette-Syndrom beispielsweise ließen sich die Tics um 20 bis 90% reduzieren, bei Depression werden für die Symptomreduktion 32 Zahlen zwischen 42 und 71% bis hin zu Fällen mit Remission angegeben. Hinsichtlich des Langzeiteffektes kann bei der Behandlung von Bewegungsstörungen von einem anhaltenden signifikanten Effekt über 5 bis 10 Jahre ausgegangen werden. Studien bezüglich der Wirksamkeit über längere Zeiträume wie 15 bis

29 30 31 32

entsteht, dieses Enhancement gleichfalls zu nutzen, kann an dieser Stelle aus Platzgründen nicht weiter ausgeführt werden. R. Merkel (2009), Mind Doping?, in: N. Knoepffler/J. Savulescu (Hrsg.), Der neue Mensch? Enhancement und Genetik, Freiburg, S. 177–212, hier S. 204. Vgl. A.-L. Benabid/S. Chabardes/J. Mitrofanis et al. (2009), Deep brain stimulation of the subthalamic nucleus for the treatment of Parkinson´s disease, in: Lancet Neurol, 8/2009, S. 67–81. Vgl. H. Yu/J.-S. Neimat (2008), The treatment of movement disorders by deep brain stimulation, in: Neurotherapeutics, 5(1)/2008, S. 26–36. Vgl. J. Kuhn/T.-O.-J. Gründler/D. Lenartz et al. (2010), Tiefe Hirnstimulation bei psychiatrischen Erkrankungen, in: Deutsches Ärzteblatt, 107(7)/2010, S. 105–113.

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Narrationen und Prinzipien

20 Jahre existieren aufgrund des hierfür zu kurzen Erfahrungszeitraums noch nicht. Für psychiatrische Erkrankungen sind noch keine validen Aussagen zu Langzeiteffekten möglich. Generell gilt für alle derzeit mit THS behandelten Erkrankungen, dass ärztlicherseits die Auflage besteht, bei der Indikationsstellung streng die Auswahlkriterien zu beachten, die einen möglichst hohen Benefit gewährleisten: Es sollten nur die Patienten ausgewählt werden, bei denen ein weitestgehend geringes Komplikationsrisiko besteht, d.h. die physisch, kognitiv und emotional in der Lage erscheinen, die chirurgische Intervention und die anschließenden Prozeduren der Nachsorge stabil durchzuhalten. Bei Berücksichtigung dieser Kriterien und Zahlen erscheint THS zusammengefasst als ein effizientes Verfahren, krankheitsspezifische Symptome im Sinne des Wohltuns signifikant und anhaltend zu vermindern. 2.4

Prinzip der Schadensvermeidung

Auch, wenn die THS gegenüber ablativen neurochirurgischen Verfahren die bereits eingangs erwähnten Vorteile hat, sind eine Reihe von Risiken und Nebenwirkungen bekannt, die auf vier verschiedenen Ebenen auftreten können. Da sie je nach Indikation und dem hierfür gewählten Stimulationsgebiet variieren können, muss sich die Ausführung an dieser Stelle auf eine exemplarische Aufzählung beschränken. Bei Stimulation im Nucleus subthalamicus sind für Patienten mit IPS nachstehende Komplikationen bekannt: Erstens Komplikationen im Rahmen der Operation. Diese umfassen vor allem intrazerebrale Blutung (operateur- und zentrumsabhängig 0,2 bis 5%) oder Infektion (2 bis 25%) und die damit möglichen neurologischen 33 Herdsymptome. Das Risiko eines dadurch bedingten, bleibenden neurologischen 34 Defizits wird mit 2 bis 3% angegeben. Zweitens können „Hardware“-assoziierte technische Probleme wie Kabelbruch oder -dislokation, Fehlfunktion des Stimulationsgerätes oder Batterieausfall auftreten. Die Zahlen hierzu schwanken (zentrums35 abhängig) zwischen 8 und 25%. Diese Probleme dürften mit fortschreitender Erfahrung und technischer Weiterentwicklung abnehmen. Drittens sind Nebenwirkungen der Stimulation möglich, die zumeist durch Ko-Stimulation benachbarter Hirnareale bedingt sind, so dass sie mit Ausschalten oder Veränderung der Stimulationsparameter reversibel sind. Bereits intraoperativ wird durch Teststimulationen eine Optimierung der Elektrodenposition vorgenommen, die diese Nebeneffekte zu minimieren hilft. In unterschiedlichen Häufigkeiten finden sich Parästhesien, Dysarthrie, Muskelkontraktionen, Dyskinesien oder Dystonien, Lidapraxie und Okulomotorikstörungen, Flush und Schwitzen. Studien zur Untersuchung neuropsychologischer Veränderungen ergaben uneinheitliche Ergebnisse. Übereinstimmung 33 34 35

Vgl. ebd. Vgl. J. Volkmann (2004), Deep Brain Stimulation for the Treatment of Parkinson’s Disease, in: Journal of Clinical Neurophysiology, 21(1)/2004, S. 6–17. Ebd.

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besteht bei dem Befund von Verschlechterungen der Wortflüssigkeit sowie in ein36 zelnen Untergruppen von Exekutivfunktionen. Erhöhte Aufmerksamkeit liegt auf psychiatrischen Nebenwirkungen der Stimulation wie Depression (postoperativ schwanken die Zahlen, u.a. abhängig vom Erfassungszeitraum, zwischen 1,5 und 25%) und damit verbundenen Suizidgedanken oder manischen Episoden (5 bis 37 10%). Viertens gibt es Hinweise auf Auswirkungen der THS-Intervention auf psychosozialer Ebene: Dieser Aspekt wird in den Studien meist nicht erwähnt, es finden sich jedoch vereinzelt Daten, die zeigen, dass nach erfolgter THS bei Parkinsonpatienten aufgrund der Symptomreduktion und der damit verbundenen veränderten, unabhängigeren Lebensweise der Patienten im Bereich der psychosozialen Reintegration Schwierigkeiten in Partnerschaft oder Familie sowie Beruf auftreten 38 können. Die THS stellt damit eine Intervention dar, die weit über die Reduktion der Zielsymptome hinausgehend Auswirkungen haben kann, die den Menschen und sein Lebensumfeld betreffen und ggf. beeinträchtigen können. Im Hinblick auf eine ethische Beurteilung wird hiermit deutlich, wie unerlässlich für jeden einzelnen Fall präoperativ eine sorgfältige Abwägung der einzelnen Faktoren vor dem Hintergrund der individuellen medizinisch-psychologisch-sozialen Situation ist. 2.5

Zusammenfassung der prinzipienethischen Bewertung

In der hier vorgelegten Prüfung nach Maßgabe der vier medizinethischen Prinzipien von Beauchamp und Childress ergibt sich für die THS zusammengefasst folgendes „ethisches Fazit“: Erfolgt die Intervention nach strenger Indikationsstellung (genaue, dem individuellen Einzelfall gerecht werdende medizinische NutzenRisiko-Kalkulation) ohne gerechtigkeitsgefährdende Einschränkungen hinsichtlich Erreichbarkeit oder Kostenverteilung, nach ausführlicher Aufklärung in freiwilligem Einverständnis des Patienten (informed consent), so erscheint die THS als ein ethisch gerechtfertigtes sowie wünschenswertes Verfahren. Denn gemäß der Daten der evidenzbasierten Medizin ist die THS für eine wachsende Anzahl neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen ein Verfahren, das in reversibler Form auf relativ sichere und nebenwirkungsarme Weise schwerwiegende Leiden zu lindern vermag. Für die Erkrankungen, für die schon ein längerer Erfahrungszeitraum und 36 37 38

Vgl. G. Deuschl/J. Herzog/G. Kleiner-Fisman et al. (2006), Deep brain stimulation. Postoperative issues, in: Movement Disorders, 21(14)/2006, S. 219–237. Vgl. J. Volkmann (2004), Deep Brain Stimulation for the Treatment of Parkinson’s Disease, in: Journal of Clinical Neurophysiology, 21(1)/2004, S. 6–17. Vgl. P. Perozzo/M. Rizzone/B. Bergamasco et al. (2001), Deep brain stimulation of subthalamic nucleus. Behavioural modifications and familial relations, in: Neurological Science, 22/2001, S. 81–82; sowie Y. Agid/M. Schüpbach/M. Gargiulo et al. (2006), Neurosurgery in Parkinson’s disease. The doctor is happy, the patient less so?, in: Journal of Neural Transmission, 70/2006, S. 409–414. Siehe auch M. Schüpbach/M. Gargiulo/M.-L. Welter et al. (2006), Neurosurgery in Parkinson disease. A distressed mind in a repaired body?, in: Neurology, 66(12)/2006, S. 1811– 1816.

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Narrationen und Prinzipien

eine entsprechend fundierte Datenlage besteht (insbesondere trifft dies für das idiopathische Parkinsonsyndrom zu) steht dieses Ergebnis sicherer als für die neuen Indikationen, insbesondere solche im Bereich psychiatrischer Krankheitsbilder. Für letztere ist die ethische Beurteilung entlang der Prinzipien aufgrund fehlender Studienlage weitaus schwieriger und unabgeschlossen. In einer ersten prinzipienethischen Annäherung scheinen sich aber beim „Abchecken“ der einzelnen Kriterien auch hier keine grundsätzlichen Einwände zu ergeben, solange das Verfahren als „ultima ratio“ im Falle therapierefraktärer Fälle zum Einsatz kommt.

3.

Der „blinde Fleck“: Zur Insuffizienz der Prinzipienethik bei der ethischen Bewertung von Neurotechnologien

Das prinzipienbasierte Bewertungsvorgehen hat sich vor allem im Kontext der praktischen Anwendung bewährt, um über den therapeutischen Einsatz von Neurotechniken unter gesundheitsökonomischen Gesichtspunkten schnell und effizient entscheiden zu können. Dies ist vor allem dort ein sinnvolles Unterfangen, wo es um eine Technikfolgenabschätzung mit begrenztem Fokus geht. Doch hat eine solche ausschließliche Prinzipien-Fokussierung hinsichtlich einer ganzheitlichen Evaluation von THS auch ihren Preis: Fragen nach der Integrität der personalen Identität oder nach dem Gehalt subjektiver Erfahrung mit Hirnstimulation, bleiben beispielsweise nahezu genauso unbeantwortet wie Fragen nach dem individuellen Erwartungshorizont oder nach den Bedingungen der Vorbereitung von THS39 Patienten vor dem Eingriff. Es existieren jedoch Berichte über und von THSPatienten, die von subjektiv gravierenden Veränderungen an sich selbst im Stimulationsmodus berichten – die also beschreiben, dass ein Leben unter Gehirnstimulation ein anderes ist als eins, das unter reiner Medikation geführt wird. Diese Berichte als Einzelfälle abzutun, wäre ein zu stark verkürzender Schachzug, der dem Umfang der ethischen Herausforderungen durch THS nicht gerecht wird. Denn es ist auch eine Aufgabe der Ethik, solchen für den individuellen Fall hochrelevanten Phänomenen nachzuspüren. Zudem hat eine Ethik immer auch ganz allgemein zu prüfen, welchen Stellenwert ein etwa in der Gesellschaft vorhandenes und geäußertes „intuitives Unbehagen“, das gegenüber invasiven Eingriffen am Gehirn – als Ort des Bewusstseins, als Sitz mentaler Fähigkeiten und Charaktereigenschaften – geäußert wird, in einer ethischen Argumentation einnehmen kann. Dass ein solches Unbehagen gegenüber der THS existiert, zeigen Überschriften wie „Hirn unter 40 Strom“ oder auch Kommentare in Medienberichten wie: „Elektroden, die ins Gehirn eingeführt werden und dort bestimmte Regionen elektrisch reizen, lassen 39

40

Vgl. H. Krug/U. Bittner (2010), Hoffnung auf Hirnschrittmacher. Tiefe Hirnstimulationen für Patienten und narrative Impulse für die ärztliche Praxis. in: Jahrbuch für Ethik in der Klinik, (im Erscheinen). U. Gahnsen (2003), Hirn unter Strom, in: Die Zeit, 27.03.2003, S. 42.

Krug, Bittner

117

eher an Folter oder Frankenstein denn an therapeutisch sinnvolles Handeln den41 ken“. Ein weiteres Zeugnis von Irritation und potentiellem Unbehagen bildet folgendes Zitat: „Die nächste Generation der Philosophen wird darüber nachdenken müssen, was vom einzigartigen Selbst jedes Menschen bleibt, wenn es Elektroden gehorcht. […] Schon jetzt fürchten allerdings Fachleute, dass die Hirnkrücke 42 für Kranke zum Accessoire der Gesunden werden könnte.“ Was hier deutlich und mit dem Begriff des „Unbehagens“ eingefasst wird, ist eine zunächst skeptischvorsichtige Haltung gegenüber neuen Erfahrungsqualitäten. Diese äußert sich in mitunter drastischen Sprachbildern, wie dies die Metaphern „Hirnkrücke“ oder „Folter“ evozieren. Eine Fragebogenstudie zu Bedenken und Einstellung gegenüber THS bei Patienten mit IPS und deren Angehörigen belegt dieses „Unbehagen“ mit klaren Zahlen: 65% der 582 befragten Patienten sowie 62% der 476 Angehörigen gaben zunächst Bedenken gegenüber diesem Verfahren an, die sich auf die Möglichkeit von OP-Komplikationen oder ausbleibendem Effekt, auf Skrupel angesichts der Unausgereiftheit des Verfahrens oder falschen Alters sowie allgemeine Ängste, Angst 43 vor Persönlichkeitsveränderungen oder negative Erfahrungsberichte gründeten. Auch in Selbsterfahrungsberichten von THS-Patienten finden sich Äußerungen des Unbehagens, mitunter ausdrucksstarke Situationsbeschreibungen, die verdeutlichen, dass die THS eine Erlebnisqualität evoziert, die neuartig erscheint und daher besondere ethische Beachtung verdient. So beschreibt der an Parkinson erkrankte Soziologe Helmut Dubiel in seinem autobiographischen Krankheitsbericht Tief im Hirn, wie er den Wechsel zwischen Stimulations-ON und Stimulations-OFF erlebt: „Es war, als ob ein Geist aus mir sprach. In derselben Sekunde kehrte meine Stimme zurück, sonor, wohl artikuliert, nur ein wenig heiser. Interessant war, dass nicht nur das Sprechen im technischen Sinne wieder sofort funktionierte, sondern auch meine Verstandestätigkeit und die kognitiven Funktionen – im buchstäblichen Sinne – wieder angeknipst waren. In den 15 Minuten, in denen wir das Gerät abgeschaltet hatten, war mir, als ob in meinem Kopf ein PC eingeschaltet wurde, dessen Brum44 men und Klicken mir verhießen, dass mein Gehirn arbeitete.“

Diese computertechnische Metaphorik verdeutlicht eine mögliche Veränderung des Selbstverhältnisses und Selbstempfindens durch das Technikimplantat und die 41

42

43

44

U. Groenewold (2003), Impulse gegen quälendes Zucken und Schmerz. Erfolge der elektrischen Gehirn-Stimulation bei Parkinson – Jetzt neue Anwendungsgebiete in Erprobung, Abruf unter: http://www.welt.de/print-welt/article257600/ [29.3.2010]. T. Assheuer (2007), Bauteile für die Seele. Mit Chips und Sonden reparieren Mediziner Psycholeiden direkt im Hirn. Ist der Geist bloß Biologie?, in: Die Zeit, Abruf unter: http://www.zeit.de/ 2007/34/M-Seele-Hirnelektrode?page=all [12.5.2010]. Vgl. M. Südmeyer/S. Schmidt/J. Volkmann et al. (2009), Fragebogenstudie zu Bedenken und Einstellung gegenüber der tiefen Hirnstimulation bei Patienten mit M. Parkinson und deren Angehörigen, in: Aktuelle Neurologie, 36/2009, S. 199. H. Dubiel (2006), Tief im Hirn, München, S. 129. Es sei ergänzt, dass in Dubiels Fall als Nebenwirkung der Stimulation die Sprache betroffen war, was sein Leben als Vortrag haltender Wissenschaftler beeinträchtigte.

118

Narrationen und Prinzipien

Stimulation. Diese Annahme wird durch weitere Einzelfälle gestärkt. So berichtet ein THS-Patient in einem Internet-Forum von seiner Erfahrung des Hin- und Herwechselns zwischen Stimulations-ON und -OFF: „Als ich nach so langer Zeit die THS wieder anschaltete verspürte ich zunächst sowas wie einen Schlag, mir wurde schwarz vor Augen, schwindelig und [ich] konnte nichts sprechen. Nach etlichen Minuten erholte ich mich allmählich und es normalisierte sich. Zum Empfinden: Das Allgemeinempfinden ging schlagartig hoch, die Belastbarkeit war viel besser und jetzt kommts: die Psyche hat einen Sprung ins Positive gemacht, wie ich es mir vorher nicht vorgestellt hätte. Wir können an der Stelle sicher diskutieren, wie weit die THS die Persönlichkeit verändert, ja wie weit sich sogar der Charakter ändert. Aber Fakt für mich ist: ich fühle mich viel besser, ja ich fühle mich wohl. Sollte sich dabei meine Persönlichkeit verändert haben, werde ich damit klar kommen.“45

In diesem Beispiel wird die individuelle Erlebnisqualität von THS beschrieben. In dieser kurzen Narration wird zudem die Frage nach einer möglichen Persönlichkeitsveränderung von dem Patienten explizit angesprochen – der Patient urteilt, dass für ihn die Veränderungen, die er an sich selbst erlebt, akzeptabel sind. Sicherlich sind diese beiden Erzählbeispiele nicht verallgemeinerbar. Aber sie haben wichtigen exemplarischen Charakter: Sie verweisen auf das Potenzial von THS, direkt auf motorisch-physische, aber auch psychisch-emotionale und volitionale Grundstrukturen des Menschen Einfluss nehmen zu können. Ebenso verdeutlichen sie, dass der Wechsel zwischen dem Stimulations-ON und dem Stimulations-OFF, der quasi „per Knopfdruck“ erfolgen kann, eine sekundenschnelle Änderung der 46 Selbstwahrnehmung evoziert. Eine derartige Möglichkeit der gezielt-bewussten Steuerung des eigenen Selbst gab es in dieser Form und Qualität bisher noch nicht. Die Art und Weise des Sich-selbst-Erlebens und des Sich-zu-sich-selbst-Beziehens kann durch THS neu definiert werden: sowohl Distanzierung als auch Technisierung des eigenen Selbst scheinen sich hier abzuzeichnen, die durch ein Prüfverfahren anhand der medizinethischen Prinzipien nicht offensichtlich geworden wäre. Wie ist mit dieser Herausforderung umzugehen? Wie kann eine Medizinethik diesen von der Prinzipienethik nicht aufgedeckten „blinden Fleck“ zugänglich machen? Hier scheint der narrative Zugang zum THS-Phänomen einen vielsprechenden Ansatz darzustellen.

45 46

Stevaro (2009), Subjektiver THS-Erfahrungsbericht, http://www.parkins-on-line.de/forum/ WBB3/index.php?page=Thread&postID=%20113970&highlight=Schlag#post1139 [19.5.2010]. Es sei erwähnt, dass das Ein- und Ausschalten des THS-Gerätes vom Patienten, seinem betreuenden Arzt, aber auch von Dritten, wenn sie Zugriff auf die THS-Fernbedienung erhalten, vorgenommen werden kann. Aspekte der Mißbrauchs- bzw. Manipulationsgefahr können an dieser Stelle jedoch nicht näher ausgeführt werden.

Krug, Bittner

4.

119

Zur Funktion der Ethik: Über Narrative die Wirkungsweise der THS erfahrbar machen

Die Ergänzung des gleichermaßen notwendigen wie effektiven prinzipienbasierten Ethik-Bewertungsansatzes über Narrative scheint ein vielversprechendes Unterfangen. Hierfür bietet es sich an, die Methoden der qualitativen Sozialforschung heranzuziehen, die in Abgrenzung zu quantitativen Verfahren auf die Rekonstruktion von Sinn oder subjektiven Sichtweisen fokussiert und damit als geeignet erscheint, die subjektive Erlebnisqualität von THS zu erfassen: Individuelle Erzählungen der Betroffenen (so genannte Narrative) werden in qualitativen Interviews systematisch gesammelt und mittels soziolinguistisch-pragmatisch orientierter Textanalyse 47 ausgewertet. Was im vorangegangenen Kapitel kurz exemplarisch angedeutet wurde, gilt es, in einem narrativen Ethikansatz in strukturierter Form auszubauen: (Selbst-)Beschreibungen von Patienten mit THS bieten die Chance, sich ein genaueres Bild über die Erfahrungsqualität der THS zu machen und gleichzeitig subtile 48 Veränderungsprozesse aufzuspüren. Narrative Ethik verfolgt den Anspruch, die Perspektive von Patienten und Be49 troffenen verstärkt in die ethische Beurteilung mit einzubeziehen. In qualitativen Interviews werden deren persönliche Erfahrungen wie Interpretationen erfasst. Zentraler Grundgedanke ist hierbei der Zusammenhang von Narrativität und Identität: Die Integration von subjektiver, existenzieller Leiberfahrung in die eigene Identität vollzieht sich z.B. im Erzählen der eigenen (Leidens-)Geschichte. Im Verlauf eines Prozesses körperlicher Veränderung wie es z.B. Krankheit und/oder deren Therapie mit THS bedeuten kann, setzt sich die Person mit ihrer eigenen Geschichte auseinander und integriert ihre persönlichen Erfahrungen in ihr 50 Selbstverständnis. In Form von persönlichen Erfahrungsberichten teilt sie sich nach außen mit und schafft so den Rahmen, innerhalb dessen sie sich als Person versteht und anerkennt. Solche Konzepte narrativer Identität sind somit Bestandteile von Person-Theorien und basieren auf der Grundvorstellung, dass die erzählte Lebensgeschichte einer Person dazu führt, dass diese im Erzählen eine Einheit von sich selbst bildet. Der personale Identifikationsprozess ist somit immer auch zugleich ein Narrationsprozess. Wie und was die Person im Erzählen preisgibt, lässt 47

48

49 50

Vgl. C. Helfferich (2009), Die Qualität qualitativer Daten. Manual zur Durchführung qualitativer Interviews, 3. überarbeitete Aufl., Wiesbaden, S. 21ff., sowie vgl. K. Charmaz (1999), Stories of suffering. Subjective tales and research narratives, in: Qualitative Health Research, 9/1999, S. 362–382. Vgl. O. Müller/U. Bittner/H. Krug (2010), Narrative Identität bei Therapie mit Hirnschrittmacher. Zur Integration von Patienten-Selbstbeschreibungen in die ethische Bewertung der tiefen Hirnstimulation, in: Ethik in der Medizin, 23/2010 (im Erscheinen). Vgl. K. Bentele (2007), Ethische Aspekte der regenerativen Medizin am Beispiel von Morbus Parkinson, Berlin, S. 224ff. Vgl. G. Lucius-Hoene (2002), Narrative Bewältigung von Krankheit und Coping-Forschung, in: Psychotherapie & Sozialwissenschaft, 4/2002, S. 166–203.

120

Narrationen und Prinzipien 51

Rückschlüsse auf ihr Innenleben und ihre Selbstwahrnehmung zu. Gleichzeitig lassen sich durch ein Abgleichen von Erzählungen zu verschiedenen Zeitpunkten im Leben einer Person Veränderungen transparent machen. Narrative Ethik fokussiert auf diese subjektiv-erzählerische Perspektive von Patienten, um Inhalte wie Krankheitsvorstellungen, Selbsterfahrung, Alltagsmanagement oder Identitätswandel von Kranken als Grundlage einer ethischen Beurteilung besser verstehen und nachvollziehen zu können. Damit wird eine stärkere Individualisierung und Kontextualisierung des ethisch zu beurteilenden Verfahrens ermöglicht – was einer Behebung des eingangs erwähnten „blinden Flecks“ gleichkommt. Auf die THS bezogen heißt dies: solche Narrationen könnten die ethisch wie praktisch-klinisch wichtige Funktion haben, die subjektive Erfahrungsdimension von THS zu erschließen.

5.

5.1

Implikationen einer narrativ-basierten Ethik der Tiefen Hirnstimulation Implikationen für die theoretische Reflexion über Technisierungsprozesse

Von Patientenselbstbeschreibungen in Form von Narrativen kann auch die allgemeine Reflexion über Technisierungsprozesse profitieren. Wie dies vorzustellen ist, soll im Rückgriff auf Dubiels bereits zitierte Textpassage kurz angedeutet werden. So verwendet Dubiel in seiner Beschreibung technizistische Metaphern, da er sich und seinen Körper mit einem Computer vergleicht („als ob in meinem Kopf ein PC eingeschaltet wurde, dessen Brummen und Klicken mir verhießen, dass mein Gehirn arbeitete“). Es zeigt sich hier, dass die Technik im Kopf nicht nur direkte Auswirkungen auf das individuelle Personsein und Körperempfinden bereithält, sondern, dass mit der THS auch ein anderer Umgang mit sowie Blick auf sich selbst verbunden sein kann. Inkorporierte Technik hat einen anderen Stellenwert, so die These, als external angewendete und genutzte technische Apparate. Die hierbei interessierende Frage ist, inwiefern die in das Gehirn implantierte Technik auch ein „technisches Empfinden“ hervorruft, das sich möglicherweise subtil einschleicht. Eine Technisierung des Gehirns kann dann womöglich in eine technisierte Betrachtung des eigenen Gehirns münden. In einer Reflexion über Technisierungsprozesse allgemein könnte dann danach gefragt werden, ob die stimulierende Technik nicht auch immer zugleich ein anderes Paradigma des Umgangs mit sich selbst evoziert. Wenn das Gehirn weit verbreitet als Zentrum personaler Eigenschaften, als „Ort des Ich“ gesehen wird, der besonders relevant für die Ausbildung einer personalen Identität ist, dann liegt es nahe anzunehmen, dass der in das Gehirn implantierten Technik ein besonderer Stellenwert zukommt. Interventionen 51

Vgl. D. Thomä (2007), Erzähle dich selbst, Frankfurt a.M.

Krug, Bittner

121

am und im Gehirn könnten damit auch Rückwirkungen auf das Selbstverständnis des Menschen implizieren. Wenn ein Stück Technik, um es plakativ zu fassen, Gedanken, Gefühle, Stimmungen, Wollenszustände usw. steuern und beeinflussen kann, dann ist womöglich der Schritt zu einem technizistischen Menschenbild kein großer mehr. Die Frage nach der Wirkungsweise von THS beinhaltet also immer auch zugleich die Frage nach der potenziellen Reduzierungstendenz des Menschen auf die Technik, d.h. wenn technische Implantate die Funktion von biologischem Nervengewebe modulieren oder übernehmen können, dann kann dies Auswirkungen auf das personale Selbstverständnis haben. Möglich wäre dann, dass der Mensch sich weniger als biologisches Lebewesen, und vielmehr als technisches Instrument interpretiert – wie dies Dubiels Metaphorik andeutungsweise schon nahelegt. Selbstverständlich muss eine derartige Korrelation nicht notwendigerweise eintreten. Aber die Reflexion der Selbstbeschreibungen von THS-Patienten kann hier die gedankliche Sensibilität schaffen, um überhaupt auf solche subtilen Entwicklungen aufmerksam zu werden. Wie sich zu solchen Entwicklungslinien von Technisierungsprozessen verhalten wird, stellt dann einen zweiten Schritt innerhalb der ethischen Urteilsbildung dar. Festzuhalten ist jedoch: Narrative scheinen reiche Beschreibungsformen und Zugangsweisen zu Technisierungsprozessen bereitzuhalten, deren verstärkte Berücksichtigung lohnt. 5.2

Auswirkungen auf das praktische Arzt-Patienten-Aufklärungsgespräch bei THS

Auch auf der praktischen Ebene des Arzt-Patienten-Verhältnisses können die narrativen Selbstbeschreibungsformen ihr Potenzial entfalten: So begegnen in der klinischen Praxis im Arzt-Patienten-Gespräch über THS seitens der Patienten wie ihrer Angehörigen verschiedenste Fragen, die neben praktischen Themen der OPDurchführung oder Handhabung des Schrittmachergerätes die erwartbaren positiven Effekte sowie die möglichen Risiken oder Nebenwirkungen, aber auch persönliche Ängste und Bedenken betreffen. Eine Operation am Gehirn, mit dem Ziel der Implantation von Technik bedeutet für viele einen schwerwiegenden Eingriff, der gründlich überlegt werden muss. Diese klinische Erfahrung deckt sich mit den bereits zitierten Ergebnissen der Umfrage unter Parkinsonpatienten und deren Angehörigen bezüglich ihrer Einstellung gegenüber THS: Fast zwei Drittel der Befragten gaben zunächst eine ambivalente oder ablehnende Haltung gegenüber 52 THS an. Darüberhinaus wurde erkennbar, dass neben der Ausprägung der Medikamentennebenwirkungen der Rat des Neurologen die Patienten-Einstellung gegenüber THS positiv beeinflusst. Mit bestehenden Bedenken der Angehörigen dagegen ist sie negativ korreliert. Letzteres unterstreicht die Bedeutung der ärztli52

Vgl. M. Südmeyer/S. Schmidt/J. Volkmann et al. (2009), Fragebogenstudie zu Bedenken und Einstellung gegenüber der tiefen Hirnstimulation bei Patienten mit M. Parkinson und deren Angehörigen, in: Aktuelle Neurologie, 36/2009, S. 199.

122

Narrationen und Prinzipien

chen Haltung in einem Arzt-Patienten-Gespräch: Die Entscheidung für oder gegen diese Form von Behandlung wird maßgeblich von der ärztlichen Empfehlung beeinflusst. Patienten, die bereits mit THS behandelt wurden, gaben an, dass ihre postoperative Zufriedenheit u.a. von subjektiven Faktoren wie präoperativen Bedenken und Erwartungshaltung, d.h. Inhalt, Art und Weise der erfolgten Aufklärung ab53 hängt. Diese Daten zeigen, wie wichtig es ist, dass sich Ärzte für ihre Rolle in einem Informationsgespräch zu THS zweierlei bewusst machen: zum einen, welches Gewicht ihre Einstellung gegenüber dem THS-Verfahren für die Entscheidung des Patienten hat, zum anderen aber auch, dass sie mit dem Erwartungshorizont, wie sie ihn in einem Aufklärungsgespräch mit aufbauen, einen entscheidenden Parameter für die Patienten-Zufriedenheit nach der Operation gestalten. Aus dem Blickwinkel ärztlicher Verantwortung stellt sich damit die klare Aufgabe, dass ein Arzt im Gespräch mit dem Patienten in der Entscheidungsphase vor THS angehalten ist, einen weitestgehend realistischen Erwartungshorizont aufzubauen. Dazu gehört auch, subjektive Fragen, Vorstellungen und Bedenken des Patienten ernstzunehmen. D.h. der Arzt muss nicht nur genau zuhören, sondern auch ggf. die subtilen individuellen Ängste und Erwartungen seines Patienten aktiv erfragen, um darauf mit Empathie und im Rückgriff auf die vorhandenen Erfahrungen einzugehen. An diesem Punkt könnten Ergebnisse aus qualitativer Narrations-Forschung hilfreich sein: Im Alltag der evidenzbasierten Medizin dominieren in einem typischen Aufklärungsgespräch zu einem Therapieverfahren von ärztlicher Seite zumeist quantitative Daten und Fakten über Wirksamkeit und Risiken, wie sie der aktuellen Studienlage entsprechen. Diese enthalten kaum Informationen zu individuellen Belan54 gen oder Empfindungsqualitäten von THS. Vor dem Hintergrund der voranstehend skizzierten Aufgabe erscheint es allerdings wesentlich, dass auch auf die möglichen, oft auch geringfügigen, subjektiv aber einflussreichen Konsequenzen von THS eingegangen wird. Ergebnisse einer ethisch motivierten Analyse von Narrativen zur subjektiven Erlebnisqualität von THS, möglichen Änderungen im Selbstverhältnis und qualitativen Veränderungen im postinterventionellen Alltag könnten für Ärzte eine wertvolle Informationsbasis bilden: Indem Narrative die subjektive Wirkweise von THS erfahr- und nachvollziehbar machen, tragen sie zu einem besseren, umfassenderen Verstehen des Patienten bei und leisten über eine verbesserte Arzt-Patienten-Kommunikation einen wichtigen Beitrag zur postinterventionellen Zufriedenheit und Lebensqualität der Patienten.

53

54

Vgl. B. Möller/S. Schmidt/J. Volkmann et al. (2009), Fragebogenstudie zur Erfassung von Zusammenhängen zwischen Zufriedenheit mit der Hirnschrittmachertherapie und subjektiven Faktoren bei Patienten mit M. Parkinson, in: Aktuelle Neurologie, 36/2009, S. 198. Vgl. F. Niroomand (2004), Evidenzbasierte Medizin. Das Individuum bleibt auf der Strecke, in: Deutsches Ärzteblatt, 101(26)/2004, S. 1496–1500.

Krug, Bittner

6.

123

Fazit

Prinzipienethik stellt in gewisser Hinsicht eine standardisierte „Ethik-Technik“ dar, mittels der abgeprüft werden kann, ob ein Verfahren oder eine Handlung ethisch zu rechtfertigen ist oder nicht. Die Prinzipien bilden dabei eine Art handlicher Faustformel bzw. „Checkliste“, unter der die bekannten Fakten zu Nutzen, Risiken und Nebenwirkungen der THS eingeordnet und zu einer ethischen Beurteilung geführt werden können. So sinnvoll wie unerlässlich im praktischen medizinischen Kontext eine solche prinzipiengeleitete, an quantitativen Daten orientierte Nutzen-RisikoKalkulation ist, so zeigt sich doch auch ihre Schwäche: die durch Hirnstimulation möglicherweise induzierten, für sowohl betroffene Patienten in ihrem individuellen Erleben als auch für eine umfassendere, ganzheitliche ethische Beurteilung hochrelevanten qualitativen Veränderungen der personalen Identität bzw. Selbstwahrnehmung werden hierbei nicht erfasst. Da es auch die Funktion einer Medizinethik ist, durch Technik neu geschaffene lebensweltliche Phänomene in aussagekräftigen Beschreibungsformen zugänglich zu machen, erscheint eine Ergänzung des prinzipienethischen Ansatzes gleichermaßen ratsam wie notwendig. Hierfür bildet die Erhebung und Einbeziehung narrativer Formen, wie sie die empirische Sozialforschung mit dem Instrument des qualitativen Interviews bereitstellt, eine sinnvolle Herangehensweise: Selbsterfahrungsberichte von betroffenen Patienten haben eine nicht zu unterschätzende Aussagekraft, indem sie Aufschlüsse über die subjektive Erlebnisqualität und Beurteilungskategorien von in das Gehirn implantierter Technik vermitteln können. Zusammengefasst: Autobiographische Geschichten können sowohl für die theoretische ethische Reflexion über Technisierungsprozesse als auch für die konkrete Ausgestaltung des Arzt-Patienten-Aufklärungsgesprächs fruchtbar gemacht werden – und bedeuten damit eine wertvolle Aufgabe und Ergänzung der Medizinethik.

Neurotechnik narrativ verstehbar machen: Überlegungen zu einer elementaren Aufgabe der Ethik Uta Bittner

1.

Neurotechnik verändert uns und unsere Welt – aber inwiefern?

Die Möglichkeiten zur technischen Intervention in Körper und Geist nehmen rasant 1 zu und zugleich immer neue Formen an. Vor allem die Entwicklungen im Bereich der Neurotechniken, die eine direkte Schnittstelle zum Zentralen Nervensystem bzw. den Neuronen des Gehirns ermöglichen (sog. „brain-machine-interfaces“, BMI), rufen Bedenken hervor, dass der Ort des Bewusstseins, das Zentrum humanen Denkens, Fühlens und Entscheidens, sukzessive durch Technik veränder- und manipulierbar wird. Mittels Elektroden können Informationen aus Nervenzellen ausgelesen (Ableitung bspw. mittels Elektroenzephalografie, EEG), aber auch durch stimulierende Verfahren (bspw. die Tiefe Hirnstimulation, THS) moduliert 2 werden. Die Wirkung von Neurotechnik, insbesondere von stimulierender Neurotechnik – auf die sich im Folgenden die Überlegungen konzentrieren werden – kann gravierend sein: Denken, emotionale Grundfärbungen oder auch Handlungsmotivationsstrukturen lassen sich mittels technischer Einflussnahme prägen und beeinflussen, wobei der Wechsel zwischen dem ON- und dem OFF-Zustand der Stimulati3 on sekundenschnell und „auf Knopfdruck“ erfolgt. So können etwa Personen mittlerweile, wie der Hirnforscher Gerhard Roth schreibt, durch Hirnstimulation zu Handlungen veranlasst werden, „von denen sie später behaupteten, sie hätten sie 4 gewollt“. Diese technischen Neuerungen vereint ihre kaum vorhersehbare Wirkung auf die Selbstwahrnehmung, die Lebensführungspraxis und das menschliche Selbstverständnis. Die Art und Weise, wie man sich selbst und seine Umwelt erlebt, wenn 1

2

3

4

Vgl. U. Bittner (2009), Ökonomische Aspekte von Neurotechnologien, in: O. Müller/J. Clausen/G. Maio (Hrsg.), Das technisierte Gehirn. Neurotechnologien als Herausforderung für Ethik und Anthropologie, Paderborn, S. 105–118. Vgl. A. Schulze-Bonhage/T. Ball (2009), Entwicklung und Einsatzmöglichkeiten von BrainMachine-Interfaces bei Epilepsiepatienten, in: O. Müller/J. Clausen/G. Maio (Hrsg.), Das technisierte Gehirn. Neurotechnologien als Herausforderung für Ethik und Anthropologie, Paderborn, S. 35–50. Vgl. beispielsweise R.H. Bauer/A. Gharabaghi (2009), Neuroprothesen zur Modulation von Emotion und Motivation, in: E. Hildt/E.-M. Engels (Hrsg.), Der implantierte Mensch. Therapie und Enhancement im Gehirn, Freiburg, S. 31–51. G. Roth (2006), Willensfreiheit und Schuldfähigkeit aus Sicht der Hirnforschung, in: G. Roth/K.-J. Grün (Hrsg.), Das Gehirn und seine Freiheit. Beiträge zur neurowissenschaftlichen Grundlegung der Philosophie, Göttingen, S. 9–27, hier S. 10.

Bittner

125

man beispielsweise Träger eines sogenannten „Hirnschrittmachers“ ist, wird beeinflusst. Wenn ein Patient erzählt, wie er Gehirninterventionen wie etwa die Tiefe Hirnstimulation (THS) an sich wahrnimmt, dann teilt er mit, „wie Medizin in der 5 Alltagswelt ankommt, dort wirkt und empfunden wird.“ Gleichfalls können auch der Person nahestehende Dritte in Erzählungen darüber berichten, wie es ist, mit einem Mitmenschen zusammenzuleben, dessen Gehirn durch Neurotechnik gezielt beeinflusst und gesteuert wird. Ändert sich etwas in ihrem Verhalten zu der neurotechnisch beeinflussten Person? Empfinden sie plötzlich diese als fremd(gesteuert)? Äußern sie Angst und Unbehagen vor dem technischen Implantat? Diese Fragen sind selbstverständlich auch an die betroffene Person selbst zu richten: Wie nimmt sie das Stück Technik in ihrem Kopf wahr? Spürt sie die Wirkungen der Technik auf ihr Denken und Handeln? Oder ist es ähnlich „unspürbar“ wie die Nervenzellen, von denen Personen im Allgemeinen keinen eindeutigen, speziellen Eindruck und keine konkrete Wahrnehmung haben? Gleichermaßen wäre zu fragen, ob die stimulierte Person Fremdheitsgefühle gegenüber dem Hirnschrittma6 cher und/oder gegenüber sich selbst als Person entwickelt. Dies beinhaltet auch Fragen nach der Authentizität eines Lebens unter Hirnstimulation und der Akzeptanz des Gerätes: Wird es zum personalen Bestandteil, findet gar eine Identifikation mit dem Stück Technik und dem Stimulationsvorgang statt, etwa in der Art, dass sich die Person ohne weiteres für durch die Stimulation initiierte Handlungen verantwortlich fühlt, weil sie sie ohne Zögern als ‚ihre eigenen‘ Handlungen erachtet? Patienten, die etwa davon berichten, dass sie sich mit der Stimulation endlich wieder ‚ganz sie selbst‘ fühlen, scheinen dem Implantat eine sehr starke authentizi7 tätsstiftende bzw. -wiederherstellende Funktion zuzuschreiben. Allerdings gibt es auch in vergleichbarer Form Berichte von Patienten, die ein Leben mit dem technischen Hilfsmittel als notwendiges Übel interpretieren. Die Akzeptanz bzw. NichtAkzeptanz von Neurotechnik erfolgt in sehr unterschiedlicher Weise. Die Herausforderung besteht folglich darin, die mitunter neuartige Erlebensqualität dieser technischen Intervention aufzudecken, um ihr mehr oder weniger offensichtliches Einflusspotenzial auf den Menschen und sein Selbstverständnis erfassen zu können. Denn eine ethische Bewertung der Neurotechniken erfordert immer auch eine bestmögliche Kenntnis der Wirkungen und möglichen Folgen der eingesetzten Technik. Es scheint ein vielversprechender Weg zu sein, sich mittels detaillierter Erzählungen ein genaues ‚Bild‘ darüber zu machen, wie es sich, um mit dem Philosophen

5 6 7

F. Steger (2008), Wozu narrative Ethik?, in: B. von Jagow/F. Steger (Hrsg.), Jahrbuch Literatur und Medizin, Band 2, S. 185–198, hier S. 185. Zu Entfremdungsphänomenen und Authentizitätserfahrungen vgl. R. Jaeggi (2005), Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt am Main. Vgl. beispielsweise die Kasuistiken in O. Müller/U. Bittner/H. Krug (2010), Narrative Identität bei Therapie mit Hirnschrittmacher. Zur Integration von Patienten-Selbstbeschreibungen in die ethische Bewertung der tiefen Hirnstimulation, in: Ethik in der Medizin 23/2010, (im Erscheinen).

126

Neurotechnik narrativ verstehbar machen 8

Thomas Nagel zu sprechen: anfühlt, – die Technik im eigenen Körper anzuwenden 9 und damit das eigene Leben zu führen. Denn in der Erzählung („story“) einer Person treten in ganz eindrücklicher Weise das Erinnern und Planen als typisch menschliche Eigenschaften hervor, die für die Ausbildung einer personalen Identi10 tät und eines Selbstverständnisses von zentraler Bedeutung sind. Unter dem Stichwort „Neurotechnik narrativ verstehbar machen“ wird deshalb der Ansatz verstanden, qualitativ neue technische Wirkungsweisen über Narratio11 12 nen zugänglich zu machen. Eine so verfasste narrative Ethik öffnet dann möglicherweise den Blick auf das Andere, schafft Zugänge zu Neuem, bisher Ungekanntem. Denn „unsere Lebenserfahrung ist Teil eines Gewebes von Geschichten, deren zumindest partielle Kenntnis zum Verständnis unserer jeweiligen Situation und 13 unserer Entscheidungskriterien unerlässlich ist.“ Die Verwendung eines solchen narrativen Ansatzes kann, wie dies Lesch hervorhebt, durchaus als Reaktion auf ein wachsendes Unbehagen gegenüber Prinzipien- und Verfahrensethiken verstanden 14 werden. Dabei können verschiedene Erzähltypen womöglich differenziert Aufschluss geben, wie eine bestimmte (Medizin-)Technik den Menschen, seine Lebensführung und sein Selbstverständnis beeinflusst. Im Folgenden sollen daher kurz die autobiographische Erzählung sowie die Arzt-Erzählung skizziert werden.

2.

Die autobiographische Erzählung – was kann sie uns sagen? Welche subtilen Veränderungen hilft sie aufzudecken?

Kernpunkt narrativer Ansätze ist, dass das Aufschreiben der eigenen Geschichte gleichermaßen als Konfrontations- und Aneignungsprozess durchgeführt wird, bei 8 9

10 11

12

13 14

Vgl. T. Nagel (1997), Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? In: P. Bieri (Hrsg.), Analytische Philosophie des Geistes, Königstein Ts., S. 261–275. Vgl. für einen derartigen Ansatz O. Müller/U. Bittner/H. Krug (2010), Narrative Identität bei Therapie mit Hirnschrittmacher. Zur Integration von Patienten-Selbstbeschreibungen in die ethische Bewertung der tiefen Hirnstimulation, in: Ethik in der Medizin 23/2010, (im Erscheinen). Vgl. D. Ritschl (2004), Zur Theorie und Ethik der Medizin. Philosophische und theologische Anmerkungen, Neukirchen-Vluyn. S. 137. Vgl. beispielsweise J.D. Arras (1997), Nice Story, But So What?, in: H. Lindemann Nelson (Hrsg.), Stories and their limits. Narrative approaches to bioethics, New York/London, S. 65–88, hier S. 65f. Es sei mit Karen Joisten angemerkt, dass der Terminus Narrative Ethik „nicht zum gängigen, begrifflich-verbreiteten Instrumentarium in der philosophischen Forschung“ gehört. Es fehle, so Joisten, in der Philosophie eine etablierte Begriffsbestimmung, auf die man sich zunächst wie selbstverständlich beziehen kann. K. Joisten (2007), Möglichkeiten und Grenzen einer narrativen Ethik. Grundlagen, Grundpositionen, Anwendungen, in: dies. (Hrsg.), Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, Berlin, S. 9–21, hier S. 10. W. Lesch (2003), Neue Ansätze der Bioethik, in: M. Düwell/K. Steigleder (Hrsg.), Bioethik, Frankfurt a.M., S. 184–199, hier S. 185. Vgl. ebd. S. 184f. Zu den Grenzen der Prinzipienethik im Kontext der Bewertung von Neurotechnik vgl. auch den Beitrag von Krug und Bittner in diesem Band.

Bittner

127

15

dem die eigene Identität ausgebildet wird. Identitäten sollen in diesem Kontext verstanden sein als „kulturell geprägte Selbstverständnisse, die es Individuen ermöglichen, ihr Leben in eine gewisse Form zu bringen, d.h. ihrem Leben einen bestimmten Sinn zu geben. Identitäten sind demnach Sinnzuschreibungen oder 16 Orientierungsmuster“. Der Erzähler ist in solchen narrativen Identitätsbildungsprozessen entsprechend als ganze Person mit, wie Schepp schreibt, „seiner ganzen Seele […], mit seinen Leidenschaften, seinen Trieben, seinen Charakteranlagen, seiner Liebe, seinem Haß, seiner Trauer, seiner Freude, seiner Vernunft, seinem 17 Verstand, seinem Wissen, seinen Kenntnissen“ in seine Geschichte involviert. Wie eine Erzählung von einem Leben mit Neurotechnik konkret aussieht, dafür ist Helmut Dubiels autobiographische Erzählung Tief im Hirn ein eindrucksvolles Zeugnis: Das Leben mit Tiefer Hirnstimulation, aber auch mit der ParkinsonKrankheit an sich und ihrer medikamentösen Behandlung, wird für den Soziologieprofessor Dubiel im Prozess des Erzählens zum Medium, überhaupt eine Versöhnung mit sich – als einem durch die Krankheit und die Therapie stark veränderten 18 Ich – sowie mit dem eigenen unausweichlichen Schicksal zu entwickeln. Am Ende der bildreichen, selbstkritischen, mitunter auch stark emotional gefärbten Erzählung scheint es Dubiel zu gelingen, so etwas wie eine positive Einstellung zurückzugewinnen, die ihm den Zugang zu Hoffnung, Trost und Zukunftsoptimismus – in wohldosierter Form – eröffnet. „Ich habe mich in den letzten Monaten – mit einigem Erfolg – darum bemüht, die positiven Bestände meines Lebens zu sichern, statt zu beklagen, was ich nicht mehr habe oder kann. So habe ich begonnen, mich mit dem Schrittmacher auszusöhnen. Er gibt mir Beweglichkeit und Energie. Ich kann ihn jetzt akzeptieren, weil ich mir häufiger die Freiheit nehme, ihn abzustellen. Dann kann ich (wenn auch nur für zwei Stunden) denken und reden und die Gedanken beim Reder verfertigen, ganz wie früher, so als sei nichts geschehen. […] Ich weiß nicht, ob ich noch – irgendwann – mit einer umfassenden Besserung meiner Symptome werde rechnen können. Aber 15

16

17 18

Es sei angemerkt, dass es auch Gegenpositionen gibt, die die Konstatierung eines Zusammenhangs von Narrativität und Identität ablehnen. Vgl. etwa G. Strawson (2004), Against Narrativity, Abruf unter: http://lchc.ucsd.edu/mca/Paper/against_narrativity.pdf [26.5.2010] sowie H. Lindemann Nelson (1997), Introduction: How to do things with stories, in: ders. (Hrsg.), Stories and their limits. Narrative approaches to bioethics, New York/London, S. vii-xx, hier S. xii-xiv. N. Meuter (2006), Körper und Leib. Zum Verhältnis von körperlicher Integrität und persönlicher Identität, in: S. Ehm/S. Schicktanz (Hrsg.), Körper als Maß? Biomedizinische Eingriffe und ihre Auswirkungen auf Körper- und Identitätsverhältnisse, Stuttgart, S. 51–61, hier S. 51. W. Schapp (42004), In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Hamburg, S. 2. So berichtet Dubiel von Entfremdungsphänomenen, induziert durch die Technik im Gehirn: „Das Potenzial sozialer Kontrolle der Schrittmachertechnologie konnte ich am eigenen Leibe verspüren. Meine behandelnde Neurologin konfrontierte mich mit den elektronischen Spuren, die mein neuer, selbstbewusster Umgang mit meinem Schrittmacher hinterlassen hatte. Das höhere Maß an sozialer Kontrollierbarkeit ist nicht der einzige Nachteil der neuen Freiheit im Umgang mit dem Schrittmacher. […] Das schlimmste an dem neuen Zustand ist die soziale Scham über instrumentelle Vermittlung der menschlichen Kommunikation.“ H. Dubiel (2008), Tief im Hirn. Mein Leben mit Parkinson, München, S. 152f.

128

Neurotechnik narrativ verstehbar machen

ich will nicht von den Träumen lassen, was ich dann wieder würde tun können: angstfrei durch große Menschenansammlungen gehen, tanzen, mich auf lauten Bahnhöfen mit Fremden unterhalten, den Uferweg des Hudson […] entlanggehen […].“19

Gleichzeitig lässt Dubiels klare, ausdrucksstarke, differenzierte Sprache den Leser den Verlauf der Krankheit und der Therapieprozesse rekonstruieren und ermöglicht dadurch einen Blick in das Innenleben eines zerrissenen, durch Neurotechnik gesteuerten, abhängigen Menschen, der damit kämpft, eine kohärente, einheitliche Identität (wieder)zuerlangen. „Immer häufiger werde ich darauf aufmerksam gemacht, wie ‚gruselig‘ (so eine Freundin) die an mir applizierte Technologie auf naive Gemüter wirken muss. Ein neurologisch Erkrankter wird durch langfristige Tabletteneinnahme zum Zombie, durch den Schrittmacher zu Frankensteins Monster.“20

Die Ambivalenz des Technikeinsatzes, dieses Leben in zwei ihm beide gleichermaßen fremd bleibenden Bewusstseins- und Körperzuständen und der mögliche, sekundenschnelle Wechsel zwischen diesen beiden Modi der Lebensweise, das alles wird dem Leser der Erzählung auf eine Art und Weise zugänglich und nachvollziehbar, wie es rein statistische Datenreihen nicht zu vermitteln imstande wären. Hier zeigt sich, welche erkenntnisfördernde Kraft eine Erzählung erzeugen kann, da in ihr immer auch Normen und moralische Dilemmata mittransportiert, Erlebnisqua21 litäten vorgestellt werden. Auf diese Weise wird Lebenswelt über die Narration erfahren, wodurch, wie Steger hervorhebt, es „durch fassbare Lebensgeschichte zu 22 einer wertvollen Ergänzung des normativen Diskurses kommt.“ Gleichfalls wird ein Konzept der narrativen Identität vermittelt, das bedeutet, dass Selbstkonzepte in der Weise von autobiographischen Erzählungen artikuliert und entwickelt werden. So schreibt etwa Haker: „Die Identität einer Person ist […] ohne den Bezug zur 23 Lebensgeschichte nicht angemessen zu fassen.“

3.

Die Arzterzählung – wie sie uns neue Erfahrungsqualitäten zugänglich machen kann

Neben der Berücksichtigung von Patienten-Narrativen können auch ausführliche Erzählberichte von Ärzten (sogenannte „narratives about illness“) herangezogen 19 20 21

22 23

H. Dubiel (2008) Tief im Hirn. Mein Leben mit Parkinson, München, S. 156f. Ebd., S. 153. Vgl. hierzu auch D. Mieth (2002), Rationalität und Narrative Ethik. Eine Erweiterung der rationalen Zugänge in der Ethik, in: N.C. Karafyllis/J.C. Schmidt (Hrsg.), Zugänge und Rationalität der Zukunft, Stuttgart/Weimar, S. 277–302. F. Steger (2008), Wozu narrative Ethik?, in: B. von Jagow/F. Steger (Hrsg.), Jahrbuch Literatur und Medizin, Band 2, S. 185–198, hier S. 196. H. Haker (2000), Narrative und moralische Identität, in: D. Mieth (Hrsg.), Erzählen und Moral: Narrativität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik, Tübingen, S. 37–65, hier S. 49.

Bittner

129

werden, um aufzudecken, welche Wirkungen mit neuartigen Krankheiten, Besonderheiten des Gehirns und/oder medizinischen Maßnahmen einhergehen kön24 nen. Der detailliert und präzise ausformulierte Bericht „The Mind of a Mnemonist“ des russischen Neuropsychologen A.L. Luria über seinen Patienten S., den er über 30 Jahre lang begleitet hat und dessen Zustand und Entwicklungen er in seiner Dokumentation beschreibt, ist ein Zeugnis, das die Bedeutung von narrativen Beschreibungsberichten aus der ärztlichen Perspektive unterstreicht. So schildert Luria, wie sein Patient S. mit einem schier unerschöpflichen Gehirn Ereignisse oder Zahlenkombinationen präzise und fehlerfrei wiedergeben kann, die bereits Jahre 25 oder Jahrzehnte zurückliegen. Während ‚normale‘ Personen sich lediglich an besonders eindrückliche Geschehnisse (meist fragmentarisch) zurückerinnern, ist es S. aufgrund seiner Inselbegabung möglich, alle Details einer erlebten Situation zu rekapitulieren. Gleichzeitig erzählt Luria, mit welchen Tests und Abfragen er sich dem Gedächtnisphänomen von S. genähert und es untersucht hat. Dabei erschließt Luria sowohl sich selbst, als auch den Lesern seiner Erzählung die psychologischen Aspekte der Struktur von S.`s Gedächtnis, d.h. die Art und Weise, wie sein Patient denkt, wie er Erinnerungen synästhetisch abspeichert, bei Bedarf wieder abruft – und wie es bei diesem nahezu perfekten Gedächtnisspeicher doch 26 noch zu Fehlleistungen kommen kann. Auch wenn hier keine Neurotechnik explizit zum Einsatz kommt, ist dieser Arztbericht ein überzeugendes Beispiel dafür, wie komplexe Phänomene – hier ein scheinbar unfehlbares, unbegrenztes, stabiles Gedächtnis – erschlossen und vermittelbar werden können, weil sie in eine Erzählstruktur gefasst werden. Indem Luria auch wortgetreue Erzählpassagen seines Patienten dokumentiert, wird verstehbar, was es heißt, sich an alle Wahrnehmungen, Geschehnisse, Eindrücke, Gedanken, an jede sinnlose Zahlen- oder Buchstabenkombination detailliert – ohne Diskriminierung nach Wichtigkeit – erinnern zu können. S. wird dadurch mitunter in absurde Erinnerungspfade verwickelt; die vielen ihn überschwemmenden abertausenden Erinnerungseindrücke und Vorstellungen, die er synästhethisch bildet, ‚fesseln‘ sein Denken, belasten dadurch sein Alltagsleben und seine Lebensführung. Denn S. vollzieht, um dem Erinnerungsreichtum zu ‚entfliehen‘, einen Persönlichkeitsspilt und spricht mitunter von sich 27 als „ich“ und „ihm“. Im Kontext der Neurotechnik der Tiefen Hirnstimulation gibt es bisher nur wenige und zudem erzählerisch rudimentäre Ansätze für derartige aussagekräftige Arztberichte. Meist finden sich nur kleine, stark quantifizierende Kasuistiken mit 24 25 26

27

Vgl. F. Steger (2008), Wozu narrative Ethik?, in: B. von Jagow/F. Steger (Hrsg.), Jahrbuch Literatur und Medizin, Band 2, S. 185–198, hier S. 189. Vgl. A. R. Luria (1987), The Mind of A Mnemonist, Cambridge, S. 19. Leitend für Luria war dabei die Frage: „What changes occur in a person`s inner world, in his relationships with others, in his very life style when one element of his psychic makeup, his memory, develops to such an uncommon degree that it begins to alter every other aspect of his activity?“ ebd., S. 4. Vgl. ebd., S. 154.

130

Neurotechnik narrativ verstehbar machen

Episodencharakter, die jedoch nicht die Aufgabe erfüllen können, den neuartigen Erlebnischarakter von THS ganzheitlich aufzudecken und mittels sprachlich reicher Beschreibungen nachvollziehbar zu machen. Eine narrative Ethik der Neurotechniken könnte hier mit der Sammlung und Erforschung von Narrativen vielversprechende Aufklärung und Verständnis- bzw. Verständigungsprozesse initiieren.

4.

Potenzial von Erzählungen

Narrationen von Patienten sowie ausführliche Arzt-Berichte mögen helfen, jenseits von konkreten Symptomlinderungsmessungen die Implikationen von Technikeinsatz im Gehirn offenzulegen. Es existiert das Bedürfnis nach Antworten auf Fragen wie „Was passiert mit mir?“ oder „Wie fühlt es sich an, mit neurotechnischem Implantat zu leben?“ Die Ethik sollte diese Leerstelle ernst nehmen und im Schulterschluss mit der empirischen Sozialforschung qualitative Erhebungsmethoden anwenden, um in profunder Weise den Erlebnisgehalt von Neurotechnik zugänglich zu machen. Leitend ist dabei die Annahme, dass über (schriftliche und/oder mündliche) Erzählungen Erfahrungsweisen zugänglich gemacht werden, die gleichfalls als Grundlage dienen, um, wie es Steger formuliert, „Einsichten zu bekommen, wie 28 Krisen zu bewältigen sind“. Verständlicherweise steht das Krisenhafte hier nur 29 exemplarisch für verschiedene Einsichtsdimensionen. So lässt sich anhand von Erzählungen umfassend über krankheits- und technikinduzierte Veränderungspro30 zesse nachdenken. Denn in Lebensgeschichten werden sowohl Modelle des guten, gelingenden Lebens als auch Krisen- und Entfremdungsphänomene und der Versuch ihrer Bewältigung vorgeführt. Die Funktion von Erzählungen wird ersichtlich: „Narrativität […] greift […] Impulse einer Erfahrungswirklichkeit auf, die erst noch 31 nach einer angemessenen Artikulation sucht.“ In dieser Artrikulationsbemühung gibt es immer zwei Formen von Beteiligten an einer Erzählung: Den Erzähler und den Rezipienten der Erzählung. Welchen spezifischen Gewinn bietet nun ein narrativer Ansatz für diese beiden Beteiligten?

28 29

30

31

F. Steger (2008), Wozu narrative Ethik?, in: B. von Jagow/F. Steger (Hrsg.), Jahrbuch Literatur und Medizin, Band 2, S. 185–198, hier S. 190. „Es geht also beim […] Zuhören bzw. Lesen von Narrativen um Erfahrungen, […] von denen man erzählt bekommt, die man dann aber wieder in den eigenen Erfahrungsraum einbindet.“ ebd. S. 192. Es sei darauf hingewiesen, dass es sich, wenn von Lebensgeschichten die Rede ist, nicht notwendigerweise um ‚große autobiographische Projekte‘ handeln muss, sondern auch ‚kleinere Erzählungen‘ eine ähnliche Funktion erfüllen können. Vgl. W. Kraus (2007), Das narrative Selbst und die Virulenz des Nicht-Erzählten, in: K. Joisten (Hrsg.), Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, Berlin, S. 25–43, insbesondere S. 26. W. Lesch (2003), Neue Ansätze der Bioethik, in: M. Düwell/K. Steigleder (Hrsg.), Bioethik, Frankfurt a.M., S. 184–199, hier S. 185.

Bittner

4.1

131

Therapeutischer Nutzen für den Erzähler

Das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte kann für den Betroffenen – den Erzähler – zum elementaren Werkzeug der Identitätsbildung werden, denn in einer Erzählung geht es vor allem darum, einen Handlungszusammenhang von Ereignissen, Motiven, Gefühlen, Intentionen, Kontexten, usw. zu entwickeln, der kohärent ist 32 und in diesem Sinne etwas über den Erzählenden aussagt: „Die Identität einer Person erwächst aus der Geschichte, die sie selbst erzählt, revidiert und unter dem 33 Eindruck je neuer Erfahrungen variiert.“ So kann ein Mensch, in dessen Gehirn mittels Neurotechnik interveniert wird, sich ein Leben mit dieser Technik erzählerisch aneignen bzw. selbiges im Erzählmodus kritischer Reflexion unterziehen. Welchen Weg er auch wählen mag: die Erzählung bildet das Instrumentarium und den Initialpunkt, überhaupt nach den Veränderungen seiner selbst vor dem Hintergrund der neurotechnischen Intervention zu fragen. So betrachtet kann erst im 34 Modus des Erzählens eine „Einheit des individuellen Lebens“ kreiert werden, die ihm sagt, wer er war, (vor der neurotechnischen Einflussnahme), und wer er ist (nach bzw. mit der neurotechnischen Einflussnahme). Außerdem kann die Ansicht vertreten werden, dass eine solche Erzählung gleichfalls Einblicke in die Konzeption eines guten, gelingenden Lebens vermittelt, die der Erzähler (bewusst oder unbewusst) entwickelt hat und besitzt. In dieser Hinsicht kann dann die ethische Frage nach der Legitimierbarkeit von Neurotechnik gestellt werden, d.h. danach, welchen Einfluss die Technik ausübt und ob sie zu (gravierenden) Konflikten und Entfremdungsphänomenen in der Sinngestaltung und Identitätsbildung führt. 4.2

Erfahrungsantizipation durch den Erzählungs-Rezipienten

Doch nicht nur für den Betroffenen stellt die Narration eine Möglichkeit der Auseinandersetzung und Selbstfindung dar. Auch für zukünftige mit Neurotechnik konfrontierte Patienten können ausführliche Erzählungen helfen, sich auf die aus der Behandlung folgenden neuen Situationen schon im Vorfeld der Therapie besser 35 einzustellen. Dabei tritt eine anthropologische Grundbedingung des Menschsein zutage: Der Mensch ist ein sozial verfasstes Wesen, das auf Kommunikation und 32 33 34 35

Vgl. A. MacIntyre (1995), Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a.M., hier vor allem S. 283 und S. 289ff. H. Haker (2000) Narrative und moralische Identität, in: D. Mieth (Hrsg.), Erzählen und Moral: Narrativität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik, Tübingen, S. 37–65, hier S. 42. Vgl. A. MacIntyre (1995), Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a.M., S. 292. Weitere Nutzenpotenziale von Narrativen, etwa im Sinne eines didaktischen oder moralpädagogischen Zugewinns, können im Folgenden nicht näher betrachtet werden. Vgl. hierzu etwa T.H. Murray (1997), What Do We Mean by „Narrative Ethics“?, in: H. Lindemann Nelson (Hrsg.), Stories and their limits. Narrative approaches to bioethics, New York/London, S. 3–17, hier S. 6f. oder auch M.C. Nussbaum (1990), Introduction: Form and Content, Philosphy and Literature, in: dies. (Hrsg.), Love`s Knowledge. Essays on Philosophy and Literature, Oxford, S. 3–53, hier S. 44.

132

Neurotechnik narrativ verstehbar machen

Interaktion mit seinesgleichen ausgerichtet ist. Gerade in diesen Formen des Austauschs von ‚Geschichten‘ lernen Kranke, was mit ihnen geschieht bzw. geschehen 36 wird. Solche Schilderungen mögen zukünftigen THS-Patienten als Orientierungspunkte dienen, welche Situationen und Reaktionen postoperativ auf sie zukommen könnten. Wer etwa vor einem THS-Eingriff Kenntnis von diesen Phänomenen erhält, kann sich potenziell besser auf seine Lage vorbereiten, da er im Rekonstruieren der Erzählung das Phänomen THS umfassender versteht.

5.

Narrative im ethischen Diskurs

Medizinethik muss nicht nur prüfen, welche technischen/operativen Risiken mit medizinischen Maßnahmen verbunden sind, sondern eine Ethik der Medizintechnik – speziell eine Ethik der Neurotechniken – hat auch auf subtilere Mechanismen und Veränderungen der Technikanwendungen hinzuweisen. So ist es elementar wichtig für einen Kranken, zu erfahren, wie es sich anfühlt, mit einer bestimmten Krankheit und/oder Therapieform sein Leben zu führen (sog. epistemologischer 37 Aspekt von Narrativen ). Derlei Beschreibungen lassen sich nicht in quantitativer Form abbilden. Medizinethik ist daher immer auch ein Stück weit als narrative Ethik zu interpretieren, die sich in ihren Reflexionsprozessen auch auf erzählte Lebensidentitäten stützt und diese berücksichtigt. Denn „Erzählungen können bei den Zuhörern moralische Reflexionen hervorrufen, tradierte Moralvorstellungen in Frage stellen, überkommene moralische Überzeugungen kritisieren und den Rezi38 pienten auf diese Weise zu ethischer Reflexion hinzuführen.“ Durch, mit und über Erzählungen können ethische Aushandlungsprozesse zu Phänomenen und Sachverhalten initiiert werden, die zuvor verschlossen und unzugänglich erschienen – wobei mit Lesch klarzustellen ist, dass „von der Beschäftigung mit Erzählungen keine direkte Hilfe bei der Formulierung und praktischen Durchsetzung von Normen zu erwarten [sein kann]. Der Gewinn liegt eher auf der Ebene der Klärung von Werthaltungen, die zu jenen Überzeugungen führen, ohne die der Entwurf des 36

37

38

Haker fasst dies wie folgt zusammen: „Der Hörer oder Leser [der Erzählung] bezieht sich auf die erzählte Geschichte, die im Verstehen weiterführt, indem er sie mit anderen Geschichten vergleicht und einen Zusammenhang zwischen Erzähler, Geschichte und sich selbst herstellt.“ H. Haker (2000), Narrative und moralische Identität, in: D. Mieth (Hrsg.), Erzählen und Moral: Narrativität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik, Tübingen, S. 37–65, hier S. 44. So heißt es etwa bei Arras: „All knowing is necessarily bound up with a narrative tradition of one kind or another.“ J.D. Arras (1997), Nice Story, But So What?, in: H. Lindemann Nelson (Hrsg.), Stories and their limits. Narrative approaches to bioethics, New York/London, S. 65–88, hier S. 66. M. Düwell (2000), Ästhethische Erfahrung und Moral, in: D. Mieth (Hrsg.), Erzählen und Moral: Narrativität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik, Tübingen, S. 11–35, hier S.11. Vgl. auch D. Mieth (2002), Rationalität und Narrative Ethik. Eine Erweiterung der rationalen Zugänge in der Ethik, in: N.C. Karafyllis/J.C. Schmidt (Hrsg.), Zugänge und Rationalität der Zukunft. Stuttgart/Weimar, S. 277–302.

Bittner

133

39

eigenen Lebens profillos bleibt.“ Daher ist eine Ergänzung der Ethik um narrative Elemente gerade im Hinblick auf die neue Qualität technischer Intervention und Inkorporierung am und im Gehirn erstrebenswert, um in deskriptiver Weise Zugang zu und Kenntnis von der speziellen Erlebnisqualität von Neurotechnik zu erlangen – wohlwissend, dass es „keinen allgemein gültigen Maßstab für die Ange40 messenheit dieser sprachlichen Artikulation“ gibt. Eine einseitige Fokussierung auf die normative Kraft individueller Erzählungen ist genauso zu vermeiden und abzulehnen, wie eine einseitige Konzentration auf rein abstrakte Theorien der Normativität (normativer Aspekt von Narrativen). Beim Einsatz von Neurotechnik und seiner ethischen Bewertung wird es in Zukunft darum gehen, den Zusammen41 hang zwischen Narrativität und Normativität vertiefend-kritisch zu untersuchen. Auf Basis des hier Gezeigten lässt sich mit Lindemann Nelsons integrativem Ansatz abschließen: „stories […] cannot exhaust the work of moral justification any more than principles can, although their usefulness for moral discovery, their role in revising moral understandings, and their ability to help us make moral sense of our 42 lives do contribute significantly to this work.“

39

40 41 42

W. Lesch (2003), Neue Ansätze der Bioethik, in: M. Düwell/K. Steigleder (Hrsg.), Bioethik, Frankfurt a.M., S. 184–199, hier S. 191. Vgl. auch D. Ritschl (2004), Zur Theorie und Ethik der Medizin. Philosophische und theologische Anmerkungen, Neukirchen-Vluyn, S. 140. W. Lesch (2003), Neue Ansätze der Bioethik, in: M. Düwell/K. Steigleder (Hrsg.), Bioethik, Frankfurt a.M., S. 184–199, hier S. 192. Siehe hierzu exemplarisch die verschiedenen Beitäge in H. Lindemann Nelson (1997) (Hrsg.), Stories and their limits. Narrative approaches to bioethics, New York/London. H. Lindemann Nelson (1997): Introduction: How to do things with stories, in: ders. (Hrsg.), Stories and their limits. Narrative approaches to bioethics, New York/London, S. vii-xx. hier S. xiii.

Das Unzufriedenheitsdilemma: ein scheinbares Paradox und seine ethischen Implikationen Henriette Krug

1.

Das Unzufriedenheitsdilemma

In der Medizin beschreibt das so genannte Unzufriedenheitsdilemma den auf den ersten Blick paradoxen Sachverhalt, dass Patienten mit dem Erfolg einer Therapie unzufrieden sind, obwohl die objektivierbaren Erfolgsparameter positiv ausfallen und die Behandlung von den behandelnden Ärzten deshalb als erfolgreich und sinnvoll wahrgenommen wird. Diesem Phänomen und seinen ethischen Implikationen für das ärztliche Handeln soll im Folgenden mit einem zweiten, genaueren Blick unter der Fragestellung nach Auflösung dieses Paradoxons nachgegangen werden. Zur besseren Veranschaulichung wird in diesem Beitrag das Therapieverfahren der tiefen Hirnstimulation (THS) oder „Hirnschrittmachertherapie“ bei Patienten mit idiopathischem Parkinsonsyndrom (IPS) betrachtet. Die externen Evidenzen für dieses Verfahren bei dieser Indikation sind gut: In umfangreichen randomisierten, kontrollierten Studien zu Wirksamkeit und Sicherheit sowie Auswirkungen auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität wurden eine sowohl signifikante Reduktion der motorischen Symptome wie z.B. Tremor, Rigor oder Bradykinese als auch Verbesserung in den alltäglichen Verrichtungen und der gesundheitsbezogenen 1 Lebensqualität nachgewiesen. Das Verfahren ist für die Behandlung des IPS zugelassen. Es existieren klare medizinische Indikationsrichtlinien, die helfen, die Patienten für diesen aufwändigen wie teuren Eingriff auszuwählen, die auch tatsächlich davon profitieren. Doch trotz dieser Daten und sorgfältiger Patientenrekrutierung kann es passieren, dass ein Patient nach Einstellung des Gerätes eine eindrückliche wie anhaltende Verminderung von motorischen Symptomen erlebt, dass die Ärzte aufgrund dieses objektivierbaren Erfolges zufrieden ein gutes „outcome“ konstatieren, der Patient aber insgesamt noch unzufrieden entgegnet: „Nein, so geht es mir noch nicht gut“. Das subjektive Wohlbefinden der Patienten scheint nicht nur mit den Verbesserungen von motorischen Funktionen und damit verbundenen Erleich1

Vgl. z.B. G. Deuschl/C. Schade-Brittinger/P. Krack et al. (2006), A randomized trial of deep brain stimulation for Parkinson´s disease, in: The new England Journal of Medicine, 31(355, 9)/2006, S. 896–908; G. Kleiner-Fisman/J. Herzog/D.N. Fisman et al. (2006), Subthalamic nucleus deep brain stimulation: summary and meta-analysis of outcomes, in: Mov Disord 21 (suppl 14)/2006, S. 290–304; F.M. Weaver/K. Follet/M. Stern et al. (2009), Bilateral deep brain stimulation vs best medical therapy for patients with advanced Parkinson disease. A randomized controlled trial, in: JAMA 301 (1)/2009, S. 63–73.

Krug

135

terungen im Alltag zusammenzuhängen. Zwischen Arzt und Patient besteht eine Diskrepanz in der Bewertung der THS-Wirkung. Die Patienten, die sich so unzufrieden oder enttäuscht äußern, haben offenbar etwas anderes erwartet als tatsächlich erreicht wurde. Für Ärzte, deren berufliches Ethos zentral auf das Wohlbefinden des Patienten ausgerichtet ist, ergibt sich die Frage, wie solch ein Missverständnis entstehen kann und ggf. zu vermeiden ist. Zur Beantwortung dieser Frage sollen Ergebnisse aus der Lebensqualitätsforschung und die Bedingungen des Arzt-Patienten-Verhältnisses in der heutigen Medizin näher betrachtet werden. 1.1

Das Konstrukt der gesundheitsbezogenen Lebensqualität

Die Messgröße der gesundheitsbezogenen Lebensqualität ist ein Konstrukt, das sich „systemkritisch“ in der Medizin gegen die Messung von Therapieerfolgen (und damit auch das Fällen von Therapieentscheidungen) anhand von objektiven, quantifizierbaren, d.h. rein physiologischen und funktionalen Erfolgsindikatoren wendet. Die gesundheitsbezogene Lebensqualität stellt demgegenüber eine subjektivistisch bestimmte Orientierungsgröße dar, die die Art und Weise erfassen soll, wie 2 erkrankte Menschen ihren Gesundheitszustand erleben. Anstelle eines objektiven Gesundheitszustandes wird versucht, das subjektive Befinden in Bezug auf Gesundheit bzw. Krankheit zu ermitteln. Seinem Anspruch entsprechend ist es ein komplexes, multidimensionales Konstrukt. In den Kerndimensionen physischer, psychischer und sozialer Lebensqualität werden Patienten nach dem Ausmaß und der Bewertung ihrer Beeinträchtigung durch die zugrundeliegende Erkrankung befragt. Ziel der Messung der Lebensqualität ist eine Beurteilung von medizinischen Therapien und Vorgehensweisen aus der Perspektive des Patienten. Den Ergebnissen kommt insbesondere für gesundheitspolitische wie -ökonomische Entscheidungen ein zunehmender Stellenwert zu. 1.2

Schwierigkeiten mit dem Konstrukt der Lebensqualität

Das Konstrukt der gesundheitsbezogenen Lebensqualität ist inhaltlich unbestimmt wie wissenschaftstheoretisch umstritten: es existiert eine Vielzahl an Definitionen wie verschiedenen Testinstrumenten, die sich inhaltlich hinsichtlich Vorverständnissen, Bezugsbereich (allgemein oder krankheitsbezogen) oder Zweck unterscheiden. Solange der Begriff der Lebensqualität semantisch unscharf ist, wird durch das Testinstrument selbst erst definiert, was gemessen und damit als Lebensqualität definiert wird. D.h., „es existieren ebensoviel Lebensqualitäten wie

2

M. Bullinger (1997), Gesundheitsbezogenen Lebensqualität und subjektive Gesundheit, in: Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie, 47/2001, S. 76–91.

136

Das Unzufriedenheitsdilemma 3

Messmethoden“. Eine der Hauptschwierigkeiten besteht darin, dass die Messgröße der gesundheitsbezogenen Lebensqualität subjektive Faktoren zum Befinden erfassen soll, dafür aber aus Gründen der leichteren Erfassbarkeit, Standardisierbarkeit und Vergleichbarkeit wiederum auf objektive Indikatoren zurückgegriffen wird. Lebensqualität als ein an sich qualitatives Phänomen wird in quantitativen Daten 4 erfasst. Die objektiven Maße korrelieren aber nicht zwangsläufig mit subjektiven Größen. Wenn physische Lebensqualität beispielsweise in Parametern von Mobilität, ungestörter Organfunktion oder Kommunikationsfähigkeit, d.h. Kriterien objektiver Leistungsfähigkeit, gemessen wird, werden hier im Kern keine Aussagen über das subjektive Befinden einer individuellen Person abgefragt, sondern Daten, die von den Erstellern des Fragebogens als für die Lebensqualität relevant eingeschätzt werden. Es werden damit Kenntnisse gewonnen, in welchem Ausmaß diese Funktionen aufgrund der zugrundeliegenden Erkrankung eingeschränkt sind aber nicht darüber, in welcher Weise diese Einschränkungen von der individuell befragten Person tatsächlich erlebt und bewertet werden, d.h. inwieweit sie überhaupt dessen Lebensqualität, bzw. das, was der Patient dafür hält, berühren. Ein weiteres, damit verbundenes Problem liegt darin, dass die zur Definition der Lebensqualität erfassten Maße eine Festlegung von außen sind, d.h. sie beruhen u.a. auf einer 5 Fremdeinschätzung – mit dem Anspruch, konsensfähig der subjektiven Perspektive von Betroffenen Raum zu geben. Wenn man die subjektivistische Ausrichtung des Lebensqualitätsbegriffes konsequent verfolgt und dabei aus den Sozialwissenschaften berücksichtigt, dass gleiche äußere Bedingungen interindividuell unterschiedlich empfunden und bewertet werden, dann erscheint es streng genommen unmöglich, die Lebensqualität mittels standardisierter Fragebögen zu ermitteln. Dann erscheint z.B. eine Befragung im mündlichen Interview mittels offener Fra6 gen patientenorientierter und besser geeignet. Auf der anderen Seite ist es für die dem Konzept der Lebensqualität inhärente Intention, in Therapieevaluationen und Therapieentscheidungen verstärkt die Patientenperspektive mit einzubeziehen, unerlässlich, quantitative Daten zu gewinnen, um über das Individuum hinausgehende Informationen sammeln und vergleichen zu können. Die Meinungen über 7 dieses Konzept und seine Aussagekraft gehen daher weit auseinander. Was in je3

4 5

6 7

M. Radoschewski (2000), Gesundheitsbezogene Lebensqualität – Konzepte und Maße. Entwicklungen und Stand im Überblick, in: Bundesgesundheitsbl – Gesundheitsforsch – Gesundheitsschutz 43/2000, S. 165–189, hier S. 171. S. Nezhiba (2006), Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität in der ÄrztIn-PatientInInteraktion, in: Wiener Linguistische Gazette 73/2006, S. 47–68. Einschränkend ist hier zu berücksichtigen, dass Fragebögen zur Erfassung der Lebensqualität in der Regel in einem mehrstufigen Prozess entwickelt werden, in dem u.a. auch Patienten einbezogen werden. Dennoch bleibt ein Fragebogen mit standardisierten geschlossenen Fragen prinzipiell „geschlossen“ für individuelle Einschätzungen oder Anliegen. S. Nezhiba (2006), Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität in der ÄrztIn-PatientInInteraktion, in: Wiener Linguistische Gazette 73/2006, S. 47–68. Zur Diskussion um die Messbarkeit von Lebensqualität als subjektiver Messgröße vgl. z.B. J. Weiß (2009), Ist Lebensqualität messbar? In: Dtsch med Wochenschr 134(15)/2009, S. 14.

Krug

137

dem Fall durch die Einbeziehung dieses Zielparameters in die medizinische Therapie- und Vorgehensevaluation angestoßen wurde, ist eine Sensibilisierung für die Perspektive des Patienten. Der damit gegebene Paradigmenwechsel sollte trotz aller wissenschaftstheoretischen Einwände nicht aus dem Blick verloren werden. Aus den hier angedeuteten Schwierigkeiten in der Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität ergibt sich ethisch die Anforderung, Studienergebnisse über die Lebensqualität jeweils differenziert zu betrachten bzw. zu hinterfragen. Hierbei kann als Leitfrage gelten: Unter welcher Zielvorgabe wurde mit welchen Indikatoren welche Größe bestimmt? Fazit: Das Konstrukt der gesundheitsbezogenen Lebensqualität impliziert methodische Schwierigkeiten, die seine Aussagekraft als subjektivistische Messgröße einschränken. Es ist aber bei differenzierter Berücksichtigung ein sinnvolles Testinstrument zum Zwecke einer stärkeren Einbeziehung der Patientenperspektive in die Evaluation von medizinischen Therapieverfahren und -entscheidungen. 1.3

Das Unzufriedenheitsdilemma im Licht von Ergebnissen aus der Lebensqualitätsforschung

Im Hinblick auf die Ausgangsfrage dieses Beitrags nach einer Auflösung des Unzufriedenheitsdilemmas erscheinen drei Erkenntnisse aus der Lebensqualitätsforschung als weiterführend: Erstens setzt sich das gesundheitsbezogene subjektive Befinden aus einer Vielzahl von Faktoren zusammen, die von jedem Individuum unterschiedlich wahrgenommen und bewertet werden können. Zweitens haben für viele Patienten Gesundheit und Krankheit selbst ein geringeres Gewicht als deren Sekundärfolgen. Diese umfassen z.B. Veränderungen in Partnerschaft, Betreuungslage, Wohnverhältnissen, Kommunikations- und Handlungsfähigkeit oder Berufsle8 ben. So kann es vorkommen, dass die psychische, soziale und/oder ökonomische Situation unter Krankheitsbedingungen einem Patienten sehr viel (an)genehmer war als nach deren – gemäß objektiv-physiologischen Kriterien – erfolgreicher Therapie, das subjektive Wohlbefinden in der Summe dann also nicht diesem medizinischen Erfolg entsprechend ansteigt. Drittens hat sich gezeigt, dass Selbst- und Fremdbewertung der Lebensqualität stark differieren können. Ärzte neigen dazu, das Ausmaß der Beeinträchtigung der Lebensqualität durch eine Erkrankung als schwerwiegender einzuschätzen als die Betroffenen selbst. Zugleich überschätzen 9 sie leicht die durch Therapie erreichbare Verbesserung der Lebensqualität. In Zusammenfassung: Die Messgröße der gesundheitsbezogenen Lebensqualität sowie deren Beeinflussung durch Gesundheit und Krankheit wird von multiplen Faktoren bedingt, deren Wahrnehmung und Gewichtung interindividuell zwischen den Patienten selbst sowie in der Selbst- und Fremdwahrnehmung variiert. 8 9

D. Birnbacher (1998), Der Streit um die Lebensqualität, in: J. Schummer (Hrsg.), Glück und Ethik, Würzburg, S. 125–145, hier S. 138. Ebd.

138

Das Unzufriedenheitsdilemma

1.4

Das Unzufriedenheitsdilemma als Ausdruck einer Diskrepanz zwischen Erwartung und tatsächlichem Ergebnis

Wenn ein Patient trotz objektivierbarer Therapieerfolge subjektiv unzufrieden bleibt, dann liegt noch eine weitere Erklärung nahe: Der Patient hatte sich mehr oder etwas anderes von dem Ergebnis erhofft als im Nachhinein für ihn spürbar wurde. Hier kann eine falsche oder unzureichende Aufklärung die Ursache sein, in der vor dem Eingriff falsche Erwartungen geweckt oder zumindest nicht der Realität angepasst wurden. Als Ursache sind Mängel in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient zu vermuten: Es konnte für Patienten mit IPS nach THS gezeigt werden, dass die postoperative Zufriedenheit – wie wahrscheinlich auch bei anderen medizinischen Therapieverfahren – u.a. von einem realistischen Erwartungsho10 rizont abhängt. Einen solchen aufzubauen, erfordert ärztlicherseits eine ausführliche wie patientenorientierte, auch individuelle Hoffnungen wie Ängste aufnehmen11 de präoperative Information. Da ein solches Gespräch einen hohen Zeitaufwand bedeuten kann, besteht bei notorischer Zeitknappheit in der klinischen Routine und angesichts zunehmender Standardisierung medizinischen Alltagshandelns in Orientierung an evidenzbasierten Daten sowie schematischen Leitlinien und Behandlungsabläufen die Gefahr, hier auf Kosten des Individuums zu wenig Sorgfalt zu investieren. Zielt der Trend zur Standardisierung in der Medizin, wie sie mit der evidenzbasierten Medizin (EbM) gegeben ist, zwar u.a. auf Qualitätssicherung (wissenschaftliche Kontrolle, Berechenbarkeit und Transparenz ärztlichen Han12 delns) und damit auf das Wohl des Patienten, so bleibt in Hinsicht auf das Individuum doch immer zu berücksichtigen, dass die Daten unter Studienbedingungen, d.h. artefiziellen Bedingungen ermittelt wurden und jeweils zentrale Tendenzen und mittlere Effekte wiedergeben, die für den „typischen“ Patienten gelten, individuell 13 unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten aber nicht widerspiegeln. Insofern lautet ein ethisch relevanter Hauptkritikpunkt an der EbM deren mangelnde Patientenzentriertheit und das damit gegebene Risiko, die so genannten internen Evidenzen 14 zu vernachlässigen. Auf wissenschaftlicher Ebene bietet der Ansatz narrativer Medizin mit ihrem qualitativen Forschungsansatz eine sinnvolle Ergänzung der 10

11

12 13

14

B. Möller/S. Schmidt/J. Volkmann et al. (2009), Fragebogenstudie zur Erfassung von Zusammenhängen zwischen Zufriedenheit mit der Hirnschrittmachertherapie und subjektiven Faktoren bei Patienten mit M. Parkinson, in: Aktuelle Neurologie 36/2009, S. 198. Vgl. H. Krug/U. Bittner (2010), Hoffnung auf Hirnschrittmacher. Tiefe Hirnstimulationen für Patienten und narrative Impulse für die ärztliche Praxis, in: A. Frewer (Hrsg.), Jahrbuch für Ethik in der Klinik, Würzburg (im Erscheinen). H. Raspe (2002), Ethische Implikationen der Evidenz-basierten Medizin, in: Dtsch Med Wochenschr 127/2002, S. 1769–1773. H. Helmchen (2006), Das Arzt-Patienten-Verhältnis zwischen Individualisierung und Standardisierung, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berichte und Abhandlungen 11/2006, S. 99–117. H. Raspe (2002), Ethische Implikationen der Evidenz-basierten Medizin, in: Dtsch Med Wochenschr 127/2002, S. 1769–1773.

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139

15

EbM. Auf praktischer Ebene bedeutet dieses Defizit, dass die Orientierung des ärztlichen Handelns an den Fakten der EbM allein nicht ausreichen kann: es bedarf immer der Einbeziehung der eigenen klinischen Expertise und Modifikation in die 16 individuelle Situation des einzelnen Patienten. Ärztliche Aufklärung hat neben der juristischen Absicherung (Legitimation der mit dem Eingriff gegebenen Körperverletzung) somit Inhalte auf zwei Ebenen zu transportieren: auf der systemischen (entsprechend den Daten der EbM als Quelle der externen Evidenz) sowie auf der persönlichen Ebene, die die eigene Erfahrung umfasst und die Besonderheiten des 17 individuellen Falles betrifft (d.h. entsprechend der internen Evidenz). Das bedeutet, dass die aus der externen Evidenz bekannten durchschnittlichen Daten auch in 18 ihren Grenzen kommuniziert werden müssen. Das gilt, wie bereits erörtert, nicht nur im Hinblick auf die medizinisch-physiologischen Parameter, sondern auch und besonders für die Messgröße der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Zusammengefasst: Zur Vermeidung von Enttäuschungen als Ursache des Unzufriedenheitsdilemmas ist präinterventionell eine sorgfältige, patientengerechte Aufklärung mit dem Ziel eines realistischen Erwartungshorizontes essentiell. Hierfür müssen externe und interne Evidenz zusammen zur Anwendung kommen.

2.

Konkretion: Die Entstehung des Unzufriedenheitsdilemmas bei THS-Patienten

Das IPS ist eine multidimensionale neurodegenerative Erkrankung mit motorischen wie nicht-motorischen Symptomen. Die Anwendung der unter 1.2. angeführten drei Aspekte aus der Lebensqualitätsforschung auf THS bei IPS ergibt folgendes Bild: Erstens ist davon auszugehen, dass die unterschiedlichen Symptome des IPS von jedem Patienten unterschiedlich erlebt und bewertet werden. Ein Sportler beispielsweise fühlt sich von Einschränkungen in der Motorik (z.B. zunehmende Versteifung und Verlangsamung aller Bewegungsabläufe) wahrscheinlich stärker in seinem Wohlbefinden beeinträchtigt als ein am Schreibtisch tätiger Wissenschaftler (den womöglich die mit dem Symptom der Hypophonie gegebene Einschränkung seiner Kommunikationsfähigkeit und Lehrtätigkeit mehr beeinträchtigt). Da die THS vornehmlich eine Verminderung der motorischen Symptome bewirkt, ist der Sportler mit deren Effekten am Ende evtl. zufriedener ist als der Wissenschaftler. Zweitens bewirkt die THS oftmals eine dramatische Verbesserung der Mobilität und 15 16

17 18

G. Lucius-Hoene (2008), Krankheitserzählungen und die narrative Medizin, in: Rehabilitation 47/2008, S. 90–97 H. Helmchen (2006), Das Arzt-Patienten-Verhältnis zwischen Individualisierung und Standardisierung, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berichte und Abhandlungen 11/2006, S. 99–117. H. Raspe (2002), Ethische Implikationen der Evidenz-basierten Medizin, in: Dtsch Med Wochenschr 127/2002, S. 1769–1773. Ebd.

140

Das Unzufriedenheitsdilemma

damit von Aktivitätsradius und Selbständigkeit eines Patienten. Das kann zu sekundären Veränderungen beispielsweise in der Selbstwahrnehmung, der Rollenverteilung innerhalb einer Partnerschaft oder der Bedeutung des Berufs im Leben des Patienten führen, was Konflikte und damit sekundäre Beeinträchtigungen des 19 Wohlbefindens hervorrufen kann. Die Zahlen aus der Studienlage zur Wirksamkeit von THS bei IPS deuten diese Aspekte insofern an, als die Verbesserung der motorischen Symptome (durchschnittlich um ca. 51%) deutlich höher ausfällt als 20 die Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (ca. 24%). Wenn die Patienten diese möglichen Auswirkungen von THS und ihre individuell unterschiedliche Relevanz nicht ausreichend kennen, ihre Erwartungen sich eher an den positiven Zahlen der evidenzbasierten Datenlage orientieren, ohne dass diese vom aufklärenden Arzt in die individuelle Situation „übersetzt“ worden sind, dann besteht die Gefahr, dass sie die THS-Intervention mit einer unrealistischen Einschätzung angehen. Wenn dann, drittens, nach dem Eingriff, Ärzte die Patienten und den Therapieerfolg eher unter dem Maßstab der objektivierbaren (motorischen) Erfolgsindikatoren beurteilen und zusätzlich dahin tendieren, deren Einfluss auf die Lebensqualität eines Patienten zu überschätzen, kommen sie bei gutem Effekt, d.h. deutlicher Reduktion motorischer Symptome evtl. zu einem positiveren Urteil als der Patient selbst: Dieser nimmt mit ganzheitlichem Blick auf sich selbst neben den positiven Auswirkungen in der Motorik wahr, dass evtl. zusätzlich erhoffte Effekte ausbleiben oder die Effekte auf die Motorik für ihn unerwartete unangenehme Konsequenzen haben, die sein Wohlbefinden beeinflussen und den Erfolg der motorischen Verbesserung relativieren: Zwischen Arzt und Patient (ent)steht das Unzufriedenheitsdilemma.

3.

Ethische Konsequenzen aus dem Unzufriedenheitsdilemma

Die in den Abschnitten 1.1. bis 1.4. beschriebenen Erwägungen aus der Lebensqualitätsforschung sowie die genauere Betrachtung der Bedingungen des ArztPatienten-Verhältnisses in der heutigen Medizin haben gezeigt, wie unterschiedlich Ärzte und Patienten die Güter Gesundheit und Krankheit, den Faktor Lebensqualität sowie die sie beeinflussenden Faktoren wahrnehmen können. Diese unterschiedlichen Perspektiven erklären das Phänomen des Unzufriedenheitsdilemmas. Um dessen Auftreten zu vermeiden, ergeben sich aufgrund der voran stehenden Überlegungen folgende ethische Implikationen für das ärztliche Handeln: 19

20

Y. Agid/M. Schüpbach/M. Gargiulo et al. (2006), Neurosurgery in Parkinson’s disease: the doctor is happy, the patient less so?, in: J Neural Transm 70/2006, S. 409–414; M. Schüpbach/M. Gargiulo/M.L. Welter et al. (2006), Neurosurgery in Parkinson disease: a distressed mind in a repaired body?, In: Neurology 66/2006, S. 1811–1816. Vgl. Abschnitt1 sowie A.L. Benabid/S. Charbardes/J. Mitrofanis et al. (2009), Deep brain stimulation of the subthalamic nucleus for the treatment of Parkinson´s disease, in: Lancet Neurology 8/2009, S. 67–81.

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141

– Der Leistungsanspruch an die Humanmedizin umfasst bestmögliche Technik und Humanität als Begegnung in mitmenschlichem Gegenüber. – Externe Expertise aus der EbM entspricht dem Postulat bestmöglicher Technik und ist als solche zentraler Inhalt wie Aufgabe ärztlichen Handeln; es sind aber auch die Grenzen von Auftrag und Reichweite der EbM im Blick zu behalten. – Interne Evidenzen entsprechen dem Postulat der Humanität und ergänzen die externe Evidenz um die Hinwendung und Zentrierung auf den einzelnen Patienten, d.h. externe und interne Evidenz gehören zusammen. – Narrative Medizin und Lebensqualitätsforschung ergänzen die Ergebnisse der EbM, indem sie diese Hinwendung zum einzelnen Patienten unterstützen und hierbei für die verschiedenen Vorstellungen von gutem Leben und subjektivem Wohlbefinden sensibilisieren. – Die praktische Verbindung von externer und interner Evidenz sind nicht selbstverständlich und insofern ethische Aufgabe, d.h.: Expertise und Ethik gehören 21 zusammen.

21

M. Sass (2009), Die wachsende Bedeutung von medizinischer Ethik in Versorgung und Forschung, in: Wien Med Wochenschr 159(17)/2009, S. 439–451.

Medizin als Praxis – zu tugendethischen Ansätzen für eine zeitgemäße Medizinethik Tobias Eichinger

1.

Einleitung

Mit der Entstehung der Bioethik als eigene Disziplin und institutionalisiertes Fach Ende der 1970er Jahre hat sich die sog. Prinzipienethik nach dem Entwurf von Beauchamp und Childress als vorherrschendes theoretisches Paradigma innerhalb 1 der westlichen biomedizinischen Ethik etabliert. Dieses Modell des principlism beruht auf vier Grundprinzipien, die die fundamentalen Anforderungen an ärztliches Handeln formulieren und dabei die lange Tradition medizinischer Ethik (wie z.B. Kernelemente des Hippokratischen Eides) aufgreifen, um sie angesichts des moralischen und weltanschaulichen Pluralismus in der heutigen Gesellschaft praktikabel anwenden zu können. Neben den auch schon für die klassische Bestimmung der ärztlichen Tätigkeit unverzichtbaren Prinzipien des Wohltuns (beneficence) und des Nichtschadens (nonmaleficence) stehen die Grundsätze des Respekts der Autonomie (autonomy) und der Wahrung der Gerechtigkeit (justice) im Zentrum dieses einflussreichen medizinethischen Ansatzes. Doch inwieweit ist der principlism auch jenen ethischen Herausforderungen gewachsen, die mehr und mehr die Medizin in ihrer traditionellen Bestimmung in Frage stellen? Phänomene wie medizinisches Enhancement und wunscherfüllende Medizin, die anstelle eines kurativen Krankheitsbezuges die an sie gestellten Forderungen und Wünsche zur Richtlinie ärztlichen Handelns machen, wecken Zweifel an der Reichweite der Prinzipienethik. Demgegenüber wird in der Folge einer Renaissance der Tugendethik, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Bereich der philosophischen Ethik erfolgte, 2 die Überführung tugendethischer Ansätze in die Medizinethik vorgeschlagen. So stellt sich die Frage, inwieweit tugendethische Modelle als adäquat gelten können, um etwaige Defizite prinzipienethischer Verfahren zu kompensieren.

1 2

T.L. Beauchamp/J.F. Childress (2001), Principles of biomedical ethics, 5. Aufl., New York/ Oxford. Siehe zur Wiederentdeckung der Tugendethik in der Philosophie G.E.M. Anscombe (1958), Modern moral philosophy, in: Philosophy 33, S. 1–19; A. MacIntyre (1995), Der Verlust der Tugend, Frankfurt a.M.; K.-P. Rippe/P. Schaber (1998) (Hrsg.), Tugendethik, Stuttgart; und zur Anwendung auf den Bereich der Medizin- und ärztlichen Ethik J.F. Drane (1988), Becoming a good doctor, Kansas City; E.D. Pellegrino/D.C. Thomasma (1981) (Hrsg.), The philosophical basis for medical practice, New York/Oxford.

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2.

143

Herausforderung Enhancement

Die Funktion und Tauglichkeit medizinethischer Ansätze erweist sich in besonderer Weise in der Bewältigung neuartiger Herausforderungen und Problemkonstellationen, die die traditionelle Normierung medizinischen Handelns überschreiten und für deren Lösung keine bewährten und gefestigten Verfahrensweisen existieren. So scheint das weite Feld des medizinischen Enhancement aufgrund seiner Neuartigkeit und seines spezifisch unabsehbaren Wirkpotenzials geeignet zu sein, den Nutzwert und die Anwendbarkeit gängiger Theorien in der Medizinethik zu prüfen. Wie lässt sich Enhancement mit medizinischen Mitteln unter Anwendung des prinzipienethischen Ansatzes von Beauchamp und Childress bewerten? Als medizinisches Enhancement sind Eingriffe und Maßnahmen zu verstehen, die normale Eigenschaften und Fähigkeiten gesunder Menschen zu korrigieren versuchen bzw. über das Maß hinaus verbessern sollen, das für den Erhalt oder die Wiederherstel3 lung von Gesundheit notwendig ist. Zunächst lassen sich zwei wesentliche Merkmale eines derartigen Einsatzes medizinischer Mittel und Verfahren zur Verbesserung und Steigerung normaler Zustände und Anlagen erkennen. Während Enhancement-Maßnahmen auf der einen Seite direkten individuellen Nutzen versprechen, überschreiten sie gleichzeitig von ihrem Ansatz her die traditionelle Zielsetzung und die teleologische Struktur der Medizin. Indem die Erweiterung, Steigerung, Ausweitung und Erhöhung bestimmter Eigenschaften angestrebt wird, können optimierende Eingriffe sich nicht mehr auf das Erreichen eines intuitiv und allgemein akzeptablen Zielzustandes beziehen, sondern sind prinzipiell maß- und ziellos. Wo die klassische Aufgabenbestimmung der Medizin mit der Wiederherstellung der Gesundheit (und Verhinderung ihrer Beeinträchtigung) die Idee eines – mehr oder weniger – eindeutig definierbaren Zustandes ins Zentrum rückt und damit die Abschließbarkeit des eigenen Vorhabens zugrunde legt, wird mit dem Einsatz von Enhancement-Maßnahmen der Bezug auf Krankheit oder Heilung obsolet. Ärztliches Handeln wird als zieloffenes Projekt konzipiert, das weniger objektiven Standards, als vielmehr persönlichen Präferenzen und individuellen Wertvorstellungen folgt. Dabei muss der Verlust eines orientierenden (Be-)Handlungsziels, das auch überindividuell oder intersubjektiv bestimmbar und plausibel ist, allein noch nicht gegen den Einsatz von in diesem Sinne ziellos strukturierten Maßnahmen sprechen – gerade wenn man sich den in Aussicht gestellten Gewinn an körperlicher Leistungsfähigkeit und Fitness, Lebensqualität oder sonstigen verbesserbaren Kompetenzen für den Patienten bzw. Klienten vor Augen führt. Doch stellt sich vor allem mit Blick auf die Seite der ausführenden Instanz und Personen die Frage, wie En3

Vgl. hierzu die Definitionen von M. Fuchs (2000), Enhancement, in: W. Korff (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Gütersloh, S. 604–605; E. Juengst (2007), What does enhancement mean?, in: E. Parens (Hrsg.), Enhancing human traits, Washington, S. 29–47, hier S. 29; und bei B. Gesang (2007), Perfektionierung des Menschen, Berlin, S. 4.

144

Medizin als Praxis – zu tugendethischen Ansätzen für eine zeitgemäße Medizinethik

hancement als ärztliche Tätigkeit zu beurteilen ist. Als Gefahr einer permissiven 4 Erweiterung der „medizinischen Kampfzone“ um Praktiken der Körperverbesserung und Lebensgestaltungs-Optimierung scheint hier das Szenario einer schrankenlosen Indienstnahme medizinischer Verfahren für bedenkliche Interessen und Zwecke wahrscheinlich. Bedenklich deshalb, weil externe Zwecke denkbar sind, die sich nicht nur von der klassischen Orientierung an der altruistischen Hilfe für Menschen in Not abgelöst haben, sondern darüberhinaus womöglich sogar den humanitären Grundwerten der Medizin entgegenstehen. Somit wird die Frage nach dem Nutzwert medizinethischer Kriterien zur Frage nach deren begrenzendem Potenzial. Die Erwartung an eine adäquate ethische Einschätzung für einen sowohl behutsam limitierenden, als auch realistischen Umgang mit medizinischen Enhancement-Maßnahmen gestaltet sich demnach als eine doppelte Anforderung: einerseits bedarf die Tendenz der Medizin, sich mehr und mehr zu einer optimierenden Praxis ohne Krankheitsbezug zu wandeln, praktikabler Kriterien, um angesichts der Enhancement-spezifischen Steigerungslogik und Zieloffenheit sowie der Hochschätzung uneingeschränkter individueller Selbstbestimmung einen maßvollen Umgang mit Enhancement-Möglichkeiten zu realisieren; andererseits gilt es, eine vorschnelle Verurteilung und kategorische Ablehnung verbessernder Medizin zu vermeiden.

3.

Optimierungsmedizin und Prinzipienethik

Nimmt man nun die Prinzipienethik von Beauchamp und Childress zu Hilfe, um zu einer Maß-gebenden Begrenzung medizinischen Enhancements zu gelangen, bietet sich eine Prüfung der vier principlism-Eckpfeiler anhand der skizzierten Herausforderung durch maßlose Ansprüche einer radikalen Liberalisierung verbessernder Medizin an. 1. Zweifellos ist das Prinzip des Respekts vor der Autonomie für den Einsatz optimierender Maßnahmen der entscheidende normativ-legitimierende Gesichtspunkt. Die Förderung und Berücksichtigung des uneingeschränkten Vermögens auf Seiten des Patienten, frei über das Vornehmen von Behandlungen und Eingriffen zu entscheiden, ist bei medizinischem Enhancement allerdings kaum als Mittel zum Schutz vor Bevormundung oder Missbrauch zu verstehen, wie es bei verurteilenswerten Praktiken der medizinhistorischen Vergangenheit der Fall ist (paternalistische Fremdbestimmung, Instrumentalisierung in der Forschung am Menschen etc.). Angesichts der Tatsache, dass für das Vornehmen optimierender Maßnahmen – in aller Regel – weder eine Indikation noch ein anderweitiges ärztliches Interesse 4

Vgl. hierzu Bemühungen, das medizinische Feld auf die „Behandlung“ des Alterns und seiner Erscheinungen auszudehnen T. Eichinger (2010), Ausweitung der Kampfzone – Anti-AgingMedizin zwischen Prävention und Lebensrettung, in: W. Viehöver/P. Wehling (Hrsg.), Entgrenzung der Medizin – Von der Heilkunst zur Verbesserung des Menschen, Bielefeld, (im Erscheinen).

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bestehen dürfte, kommt dem Autonomie-Prinzip keinerlei limitierende Funktion zu. Die Achtung der Selbstbestimmung des Patienten gerät im Fall von Enhancement – neben der Aufklärung über Ablauf sowie bestehende Risiken und Nebenwirkungen des fraglichen Eingriffs – zum Gebot, den geäußerten Verbesserungswillen eines Klienten uneingeschränkt zu respektieren, was letztlich bedeutet, den Optimierungs-Auftrag im Sinne eines kompetenten Dienstleisters auszuführen. Somit ist von dem Autonomie-Prinzip als primärem Leitkriterium für die Durchführung von Enhancement keine begrenzende oder Maß-gebende Funktion zu erwarten. 2. Das Verbot, anderen Personen durch ärztliches Handeln Schaden zuzufügen, gilt selbstverständlich auch für verbessernde Behandlungen und beinhaltet hier vor allem die Verpflichtung, unverhältnismäßige Nebenwirkungen und Langzeitschäden zu vermeiden. Allerdings sind die Beschränkungen, die das NichtschadenPrinzip ärztlichem Handeln auferlegt, gerade im Falle von Enhancement keine Grenzziehungen, die ethisch auszuhandeln oder umstritten wären, sondern richten sich nach den Grenzen der medizinisch-technischen Machbarkeit. Das Prinzip, der betreffenden Person nicht zu schaden, beläuft sich somit auf das Gebot, die geforderte Dienstleistung einwandfrei durchzuführen und ist daher kaum geeignet, Art und Umfang verbessernder Maßnahmen normativ zu begrenzen oder zielgerichtete Orientierung zu geben. 3. Für die Legitimierung von Enhancement als ärztliche Aufgabe kommt dem Prinzip des Wohltuns entscheidende Bedeutung zu. Fällt die Orientierungsgröße eines eindeutigen Behandlungsziels weg, das sich aus dem objektiv nachvollziehbaren Zusammenspiel von Untersuchung und Diagnose sowie dem Bezug auf Krankheit bzw. Heilung klar bestimmen lässt, so bleibt nurmehr der frei geäußerte Wille der betreffenden Person als Anhaltspunkt, um zu ermitteln, worin sein Wohl sowie eine Erhöhung desselben besteht. Das Gebot zu Fürsorge und Wohltätigkeit wird somit bei der Frage nach medizinischem Enhancement zur Vorgabe, ärztliches Tun als wunscherfüllende Dienstleistung zu konzipieren, die davon ausgeht, dass mit der Realisierung der Wünsche des Einzelnen dessen Wohl auf direkteste und unbezweifelbare Weise gefördert wird. Eine Limitierung des Einsatzes verbessernder Maßnahmen hängt damit von dem Bereich des individuell Wünschbaren ab, der allerdings als per definitionem grenzenlos gelten muss. Durch die Gleichsetzung des Wohls einer Person mit ihrem geäußerten Willen bietet somit das Prinzip des Wohl5 tuns ebenfalls kein normativ begrenzendes Potenzial. 4. Das vierte Prinzip nach Beauchamp und Childress, welches die Beachtung des Grundsatzes der Gerechtigkeit einfordert und auf die faire Verteilung von Nutzen und Lasten verpflichtet, ist vor allem allokationsethisch relevant. Eine normativ 5

Ausnahmen hiervon sind Extremfälle, in denen die Beachtung des Wohltun-Prinzips mit einem der anderen Prinzipien konfligiert und etwa die medizinische Umsetzung des selbstbestimmten Willens einer Person eine unzweideutige und krasse Selbstschädigung bedeuten oder deren Autonomiefähigkeit einschränken oder auflösen würde.

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Medizin als Praxis – zu tugendethischen Ansätzen für eine zeitgemäße Medizinethik

begrenzende Wirkung entfaltet dieses Prinzip in erster Linie in Fragen der Chancen-, Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit und ist damit kaum individualethisch für die Beurteilung und Zielbestimmung von medizinischem Enhancement von Nutzen.

4.

Prinzipientreue Wunscherfüllung als Ende der Medizin

Wie sich zeigt, bietet für eine ethische Orientierung in der Frage nach der Legitimität medizinischen Enhancements die Prinzipienethik allein kein brauchbares In6 strumentarium. Wie aber können angesichts der strukturellen Unabschließbarkeit der Enhancement-Logik und der sich daraus ergebenden Tendenz zu einer schrankenlosen Entwicklung der Optimierungsmedizin praktikable normative Grenzen und Zielkriterien bereitgestellt werden, um einer Wandlung der Medizin zu einer Institution reiner – maßloser – Wunscherfüllung zu begegnen? Diese Herausforderung stellt sich gerade unter den Vorzeichen einer bedingungslosen Hochschätzung des Patientenwillens als vermeintlich einzig belastbarem Anhaltspunkt für Behandlungsentscheidungen. Der Rückzug auf die Selbstbestimmung kann dabei zu gegenläufigen Effekten führen. Neben einer bedenklichen Ausweitung des medizinischen Tätigkeitsbereiches, dessen Begrenzung nurmehr von den medizintechnischen Möglichkeiten bestimmt wird (Machbarkeitsmedizin), besteht auf der anderen Seite aufgrund der hohen Priorität, die der autonomen Entscheidung zukommt, den steigenden Anforderungen an die ärztlichen Informations- und Aufklärungspflichten sowie einer wachsenden Sicherheits- und Absicherungsmentalität die Gefahr einer juristischen Überreglementierung der Medizin und der Arzt-Patient7 Beziehung (Defensivmedizin). Während eine Reduktion ärztlichen Handelns auf das Nötigste als Folge einer übermäßigen Verrechtlichung weniger den Bereich verbessernder Medizin betreffen dürfte, verdeutlicht die Perspektive einer Machbarkeitsexpansion im Zuge der Etablierung von medizinischem Enhancement die Notwendigkeit einer Ergänzung des prinzipienethischen Ansatzes. Die Frage nach der Legitimität optimierender Maßnahmen in der Medizin ist nur zur Hälfte beantwortet, wenn die Beachtung aller vier Prinzipien garantiert und darüberhinaus sichergestellt ist, dass die fraglichen Eingriffe wirksam sind und möglichst risikoarm vorgenommen werden. Diese 6

7

Dies ist auch für Urban Wiesing ein unstrittiger Nachteil des Modells von Beauchamp und Childress (dem er ansonsten aber beachtlichen Nutzen abgewinnen kann): „Die Prinzipienethik ist nicht in der Lage, alle neuen Herausforderungen der modernen Medizin in der Folge technologischer Entwicklungen mit ihrem Repertoire anzugehen, geschweige denn einer befriedigenden Lösung zuzuführen.“ U. Wiesing (2005), Vom Nutzen und Nachteil der Prinzipienethik für die Medizin, in: O. Rauprich/F. Steger (Hrsg.), Prinzipienethik in der Biomedizin, Frankfurt a.M./New York, S. 74–86, hier S. 82. Siehe dazu W. Wieland (1986), Strukturwandel der Medizin und ärztliche Ethik, Heidelberg; sowie C. Katzenmeier (2009), Verrechtlichung der Medizin, in: ders./K. Bergdolt (Hrsg.), Das Bild des Arztes im 21. Jahrhundert, Berlin/Heidelberg, S. 45–59.

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Auflagen erfüllen gewissermaßen die Einhaltung technisch-handwerklicher Standards, deren Beachtung – obgleich sie heutzutage als selbstverständlich und unstrittig gelten können – freilich auch Inhalt einer ethischen Forderung ist. Jedoch lässt eine bloße Prinzipientreue weiterhin die elementare Frage unbeantwortet, ob und inwiefern verbessernde Maßnahmen eigentlich erstrebenswert sind und welche Rolle die Medizin dabei spielen soll. Um sich diesen Fragen zu nähern, sind mindestens zwei Möglichkeiten denkbar. Zum einen ist die Beurteilung von Enhancement eine Angelegenheit, die eine philosophisch-anthropologische Reflexion erfordert, die auf einer sehr basalen Ebene Grundfragen der menschlichen Existenz und Verfasstheit untersucht (Was ist normal? Was heißt „besser“? In welchem Verhältnis steht der Mensch als natürliches Kulturwesen bzw. kultiviertes Naturwesen zu seiner biologischen Beschaffenheit? Wo liegen die Grenzen der Verfügbarkeit des Menschen über den eigenen Körper? etc.). Daneben lässt sich die Beurteilung von Enhancement auch von der Seite der praktischen Durchführung her angehen. Dann stellt sich die Frage nach Wert und Legitimität optimierender Eingriffe zunächst als Frage nach der Zuständigkeit: Kann Enhancement als ärztliche Aufgabe verstanden und gerechtfertigt werden? Gibt es Kriterien, die die Verbesserung der Anlagen und Fähigkeiten gesunder Menschen aus medizinethischer Sicht einschränken und somit die optionale Steigerung des Wohls als ärztliche Aufgabe zurückweisen? Inwieweit kann die Nutzenbestimmung, die im Zuge optimierender Maßnahmen höchst individuell und relativistisch vorgenommen wird und die Steigerung normaler Zustände als ärztliches Wohltun deklariert und einfordert, mit der traditionell kurativen, fürsorgeorientierten Ausrichtung der Medizin in Einklang gebracht werden, wenn es gar keinen Krankheitszustand gibt, der behoben (oder dem vorgebeugt) werden soll? Wie sich zeigt, verweisen auch diese medizinethischen und -theoretischen Fragstellungen auf die Notwendigkeit von umfassenderen Bewertungsmaßstäben und Positionierungen, die jenseits der Einhaltung oder Missachtung mittlerer Prinzipien zu verorten sind.

5.

Das Wesen der Praxisform Medizin

Beschränkt sich eine ethische Beurteilung medizinischen Enhancements auf die Anwendung der vier Prinzipien nach Beauchamp und Childress, besteht die Gefahr einer Ablösung der Medizin von ihren traditionellen ethischen Grundsätzen. Angesichts der skizzierten Entwicklung, die ärztliches Handeln letztlich in die Lage einer Maß- und Ziellosigkeit versetzt, verdeutlichen tugendethische Ansätze die Notwendigkeit einer orientierenden Reflexion der grundsätzlichen Aufgabe und damit der Identität der Medizin.

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Medizin als Praxis – zu tugendethischen Ansätzen für eine zeitgemäße Medizinethik

Als Ausgangspunkt einer derartigen Bestimmung des Kerns ärztlichen Tuns kann ein Rückbezug auf den aristotelischen Praxis-Begriff dienen, den Alasdair MacIntyre für die gegenwärtige Moraldiskussion aufgegriffen hat. Dieses Verständnis einer Tätigkeit als Praxis geht davon aus, dass bestimmte Formen menschlichen Tuns durch ihre sozial begründete, kooperative Form bestimmte Ziele und Güter implizieren, die durch das spezifische Wesen der Tätigkeit definiert werden und als 8 dieser Tätigkeit angemessen gelten. Um die einer Tätigkeit inhärenten Güter zu erreichen, sind Tugenden unabdingbar, die sich damit als Teil des Praxisbegriffs aus 9 der Bestimmung des Wesens einer Tätigkeitsform ergeben. Dieses Modell ist in medizintheoretischer Hinsicht von Edmund Pellegrino fruchtbar gemacht worden. Demnach ist Medizin eine der zentralen Formen menschlicher Tätigkeiten, die der Praxisbegriff MacIntyres idealtypisch umfasst. So vertritt Pellegrino ein starkes essentialistisches Medizinverständnis, demzufolge die Form und das Wesen der ärztlichen Tätigkeit die Ziele und Güter vorgibt, um 10 „derentwegen die Medizin existiert und die sie qua Medizin vorgibt“. Als Kerninhalte und unveränderliche Zweckbestimmung gelten dabei die Hilfe, Zuwendung, Pflege und Heilbehandlung, auf die Menschen in existenziellen Notlagen angewie11 sen sind: „Das den medizinischen Berufen inhärente Gut ist Heilen.“ Auch wenn sich gegen eine derart enge Auslegung der Bestimmung der Medizin gerade mit Blick auf die historische, aber auch kulturelle Variabilität und Pluralität medizini12 scher Praktiken manches einwenden lässt, so verspricht die vehemente Betonung der Hilfsverpflichtung doch mit Blick auf ihre berufsethische Funktion, eine geeignete Ergänzung prinzipienethischer Ansätze zu bieten. Indem das Praxiskonzept nach MacIntyre/Pellegrino beansprucht, die Zielbestimmung der Medizin als zentrale Größe aus der Tätigkeitsform selbst abzuleiten, gewinnt die medizinethische Herangehensweise unweigerlich eine teleologische Dimension, deren Verlust ansonsten, durch einen Rückzug auf den ethischen Minimalkonsens des principlism zu befürchten ist. Zugleich lassen sich durch die Orientierung am Heilungsauftrag als Kern der Medizin auch für die problematische Beurteilung medizinischen Enhancements Kriterien formulieren, die die Lücke der prinzipienethischen Ansätze zu schließen versprechen. So insistiert Pellegrino darauf, dass „Ziel und Zweck der Medizin“ nicht nur eine „technische“, sondern daneben auch eine „moralische Zielsetzung“ 13 umfassen. Damit werden jene Aspekte berücksichtigt, die durch eine verkürzte 8 9 10 11 12 13

Vgl. A. MacIntyre (1995), Der Verlust der Tugend, Frankfurt a.M., S. 251. Vgl. ebd., S. 255f. E. Pellegrino (2005), Bekenntnis zum Arztberuf – und was moralisch daraus folgt, in: H. Thomas (Hrsg.), Ärztliche Freiheit und Berufsethos, Köln, S. 16–58, hier S. 25. Ebd., S. 38. Siehe dazu R.M. Veatch (1985), Against virtue: a deontological critique of virtue theory in medical ethics, in: E.E. Shelp (Hrsg.), Virtue and medicine, Dordrecht/Boston/Lancaster, S. 329–345. E. Pellegrino (2005), Bekenntnis zum Arztberuf – und was moralisch daraus folgt, in: H. Thomas (Hrsg.), Ärztliche Freiheit und Berufsethos, Köln, S. 16–58, hier S. 28.

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149

Gleichsetzung des Wohls des Patienten mit seinem Willen als Kriterien ärztlicher Urteilsbildung und Behandlungsorientierung nurmehr von geringer oder keiner Bedeutung wären: „das für den Patienten Gute“, zum einen als objektives medizi14 nisch-physiologisches Wohl – „wie es der Arzt sieht“, und zum anderen als univer15 selle anthropologische Bestimmung „des grundsätzlich für Menschen Guten“. Damit ist von der Rolle des Arztes unzweideutig gefordert, sich nicht auf die (freilich unerlässliche) kompetente und gewissenhafte Durchführung medizinischer Maßnahmen zu beschränken, sondern die professionelle Sorge für das Patientenwohl auch als teleologische Verantwortung in ganzheitlicher (d.h. für Pellegrino auch: spiritueller) Hinsicht wahrzunehmen.

6.

Die Medizin und die Frage nach dem Menschen

Das skizzierte Modell kann in verschiedener Hinsicht kritisiert werden (etwa was seine Nähe zu einer naturrechtlichen Grundlegung oder das stark objektivistische Menschenbild betrifft), erscheint aber vor dem Hintergrund der Unzulänglichkeit der Prinzipienethik als tauglicher Ansatzpunkt, um zu einer vollständigeren Bestimmung des Patientenwohls zu gelangen, die auch auf intersubjektiv nachvollziehbaren Kriterien basiert. Angesichts der sich teilweise bereits abzeichnenden Herausbildung einer radikal wunscherfüllenden Dienstleistungsmedizin kann eine tugendethisch angelegte Medizintheorie nach dem essentialistischen Muster Pellegrinos als anti-relativistisches Konzept eine wichtige ergänzende Rolle für die gegenwärtige, durch Prinzipienorientierung geprägte Medizinethik spielen. Dabei muss eine entsprechende Berücksichtigung des MacIntyreschen Praxismodells bei der Identitätsbestimmung der Medizin nicht zu durchweg normativrestriktiven Resultaten führen und etwa die pauschale Ablehnung jeglicher Maßnahmen nahelegen, die nicht direkt unter den engen Heilungsauftrag fallen. Der heuristische Nutzen dieses tugendethisch angelegten Konzepts liegt vielmehr darin, eine unerlässliche Dimension ärztlichen Handelns und medizinischer Zielorientierung in den Blick zu bekommen. Indem das Konzept von Tugenden, Zielen und Gütern, die der Praxisform Medizin per definitionem innewohnen, im Rahmen einer allgemeinen Frage nach dem Guten (als Frage nach einem erfüllten und guten Leben, dem für einen Menschen Guten etc.) verortet ist, kann der Ansatz, Medizin als Praxis aufzufassen, den notwendigen Bezug des ärztlichen Tuns zur anthropologischen Frage nach dem Menschen herstellen. Diese reflexive Dimension scheint nicht nur für die mehr oder weniger klar umrissene, traditionell strukturierte ArztPatient-Beziehung notwendig zu sein, sondern vor allem für die schwierige Urteils-

14 15

Ebd., S. 34. Ebd., S. 31.

150

Medizin als Praxis – zu tugendethischen Ansätzen für eine zeitgemäße Medizinethik 16

findung angesichts neuartiger medizinethischer Herausforderungen. Dementsprechend scheinen tugendethische Ansätze besonders geeignet, auch im Falle medizinischen Enhancements einen Anschluss an jene grundlegenderen philosophisch-anthropologischen Zusammenhänge und Fragestellungen bereitzustellen, die bei einer lediglich prinzipienethischen Beurteilung nicht berücksichtigt werden können. An dieser Stelle soll nur angedeutet werden, worin die Herausforderung für eine mit Hilfe tugendethischer Ansätze ermöglichten Reflexion besteht: genauso, wie für eine angemessene Bestimmung des Patientenwohls eine mittlere Position zwischen objektivistischer Bevormundung (etwa allein anhand eines physiologischen Befundes im Rahmen eines biostatistischen Normalitätskonzepts) und subjektivistischer Beliebigkeit (durch eine ausschließliche Berücksichtigung individuell artikulierter Präferenzen und Forderungen) gefunden werden muss, ist auch allein eine Identitätsbestimmung der Medizin plausibel, die zwar unabweisbare externe, d.h. der Medizin äußerliche Zwecke und Interessen zu berücksichtigen versucht, dabei aber weiterhin am Heilungs- und Hilfsauftrag als orientierendem Kern festhält.

7.

Gefährliche Delegation

Ein Aspekt tugendethischer Ansätze in der Medizin, der neben der genannten Anwendung des Praxismodells eine wichtige Rolle beansprucht, betrifft die Person des verantwortlichen Arztes. So stellt Pellegrino einen Katalog an moralischen Tugenden auf, die zur Erlangung des inhärent Guten der Arzt-Patient-Beziehung unabdingbar sind. Das zentrale Gut sieht er in der gelingenden Verbindung „des tech17 nisch Korrekten“ mit dem „moralisch Guten zur Einheit“. Dieses Ziel zu erreichen, erfordert die ärztliche Fürsorgeverantwortung, zu deren Wahrnehmung der einzelne Mediziner gegenüber der Gesellschaft verpflichtet ist. Hierfür ist es der tugendethischen Auffassung nach unabdingbar, dass der Arzt die moralische Haltung, die aus dem Wesen seiner beruflichen Praxis folgt, internalisiert und sich zu eigen macht. Eine Beschränkung auf den Minimalkonsens der Prinzipienethik droht nun auch in dieser Hinsicht sowohl die Tragweite der ärztlichen Urteilskraft und moralischen Position als auch die Rolle der Medizinethik zu unterminieren. So ist die Tendenz, ethische Reflexion an Fachleute, Expertenräte und Kommissionen zu delegieren, als negative Konsequenz der zunehmenden Etablierung und Institutionalisierung ethischer Fachkompetenz innerhalb der Medizin anzusehen. Indem für 16

17

Siehe zur unabdingbaren Relevanz eines teleologischen Konzepts menschlichen Strebens und „Gedeihens“ für die Medizin sowie das entsprechende methodische Potenzial einer Tugendtheorie D.A. Putman (1988), Virtue and the practice of modern medicine, in: The Journal of Medicine and Philosophy 13(4), S. 433–443. E. Pellegrino (2005), Bekenntnis zum Arztberuf – und was moralisch daraus folgt, in: H. Thomas (Hrsg.), Ärztliche Freiheit und Berufsethos, Köln, S. 16–58, hier S. 45.

Eichinger

151

strittige normative Fragen jenseits fachlich-technischer Probleme externe Spezialisten hinzugezogen werden können, besteht die Gefahr, dass die Verpflichtung des Arztes zu unermüdlicher Überprüfung und Schärfung des eigenen moralischen Bewusstseins in Vergessenheit gerät oder nicht mehr notwendig erscheint. Diese vermeintliche Entlastung kommt allerdings einer gravierenden Einschränkung der ärztlichen Verantwortung gleich. Gerade für den Beruf des Arztes, der gemäß seiner tugendethischen Definition eine im Kern moralische Profession ist, erscheint 18 die Gefahr des „moralischen Outsourcing“ besonders folgenreich. Dies gilt umso mehr, wenn das Phänomen der Auslagerung moralischen Bewusstseins zudem auf das Modell der Prinzipienethik trifft. Klaus Dörner, der in seinem „Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung“ das Konzept des „guten Arztes“ propagiert, spricht mit Blick auf den verbreiteten, von Nicht-Ärzten vertretenen principlism in diesem 19 Sinne von einer „Pfropfethik von außen und oben“, die ihm als Arzt ein schlechtes Gewissen macht, indem sie ihn zu „ethisch neutrale[r] Fachlichkeit [drängt], die 20 durch Experten von außen ethisch fremdbefruchtet wird“. Bedenkt man außerdem, dass prinzipienethische Ansätze allein in teleologischer Hinsicht eine nur sehr eingeschränkte Perspektive bieten können, droht Medizinethik so im Extremfall durch ihre Professionalisierung und Institutionalisierung nicht nur ihre ureigene und zentrale Bedeutung – als gewissermaßen im einzelnen Arzt verkörpertes ärztliches Ethos – zu verlieren. Auch das Bewusstsein von Sinn und Zweck ärztlicher Tätigkeit sowie das Selbstverständnis der Medizin als menschliche Praxis steht mehr und mehr auf dem Spiel. Um auch auf dieser Ebene der Entwicklung zu einer ziellosen Unternehmung entgegenzuwirken, bieten tugendethische Ansätze für die Medizinethik eine fruchtbare Perspektive.

18 19 20

N. Karafyllis, zit. n. Der Standard vom 30.05.2010. K. Dörner (2001), Der gute Arzt. Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung, Stuttgart, S. 6. Ebd., S. 211.

Kann die ‚Neurowissenschaft der Ethik‘ einen konstitutiven Beitrag zur Neuroethik leisten? Metaethische Überlegungen zur Naturalisierung der Ethik1 Boris Eßmann

1.

Fragestellung

Im Bereich der noch relativ jungen Disziplin der ‚Neuroethik‘ zeigt sich eine interessante Entwicklung, da sie nicht nur eine ‚Ethik der Neurowissenschaft‘ ist, in der neurowissenschaftliche Erkenntnisse und die sich aus ihnen ergebenden Interventionsmöglichkeiten von einem rein philosophisch begründeten Standpunkt aus eingeschätzt werden. Darüber hinaus ist sie auch als eine ‚Neurowissenschaft der Ethik‘ zu verstehen, in der die moralischen Fähigkeiten des Menschen selbst in den Fokus der neurowissenschaftlichen Forschung geraten. Für die ethische Theorie auf den Punkt gebracht hat dies Adina Roskies, indem sie die Neuroethik als ganze in zwei entsprechende Zweige unterteilt: Die Ethik der Neurowissenschaften und die 2 Neurowissenschaft der Ethik. Dass das Ernstnehmen neurowissenschaftlicher Erkenntnisse eine kaum in Frage zu stellende Voraussetzung für eine Neuroethik ist, leitet sich aus ihrem Anspruch ab, eine von anderen bioethischen Disziplinen wie der ‚Gen-Ethik‘ oder der 3 Ethik der Reproduktionsmedizin abgrenzbare Bereichsethik zu sein. Neuerdings stellt sich jedoch in zunehmendem Maße die Frage, welcher Zweig der Neuroethik einen Vorrang für sich beanspruchen kann – die Ethik der Neurowissenschaft oder die Neurowissenschaft der Ethik. Neurowissenschaftliche Studien, die unter Einsatz bildgebender Verfahren die Moralfähigkeit des Menschen aufzuklären streben, liefern das Material für eine Neuroethik, die sich als neurowissenschaftlich gestützte Ethik versteht und die in Konkurrenz zu diversen normativen Ansätzen tritt. Diese Entwicklung innerhalb der Neuroethik, deren Auswirkungen nicht nur die Neuroethik, sondern potenziell auch die ethische Theorie selbst betreffen, soll im 4 Folgenden metaethisch reflektiert werden. Im Zentrum steht dabei die Erörterung 1 2

3 4

Ich danke Uta Bittner, Lisa Egloff und Oliver Müller für die kritische Durchsicht des Manuskripts. A. Roskies (2002), Neuroethics for the New Millenium, in: Neuron, 35/2002, S. 21–23. Diese Unterscheidung ist mittlerweile weithin gebräuchlich, obwohl in manchen Arbeiten eine weitere Ausdifferenzierung gefordert wird, vgl. etwa G. Northoff (2009), What is neuroethics? Empirical and theoretical neuroethics, in: Current Opinion in Psychiatry, 22(6)/2009, S. 565–569. Näheres hierzu unten, Abschnitt 2.3. Daraus ergibt sich die Frage, ob die hier vorgenommene metaethische Erörterung selbst Teil der ‚Ethik der Neurowissenschaft‘ ist oder nicht. Tatsächlich scheint Roskies metaethische Überle-

Eßmann

153

des Einflusses neurowissenschaftlicher Erkenntnisse auf den methodischen Standpunkt der Neuroethik und die Diskussion der Konsequenzen, die sich aus diesem Einfluss ergeben. Darüber hinaus hat die Erörterung exemplarischen Charakter, da sie sich auf den Einfluss spezifischer neurowissenschaftlicher Erkenntnisse – nämlich jene zur Moralfähigkeit des Menschen – konzentriert und ausgehend von diesen das Projekt der Naturalisierung von Moral und Ethik thematisiert. Im Vorfeld dieser Erörterung sind einige heuristische Differenzierungen vorzunehmen, was in Form begrifflicher Unterscheidungen (bezüglich der Begriffe ‚Moral‘ und ‚Ethik‘, ‚normativ‘ und ‚deskriptiv‘) sowie einer kurzen Diskussion um den Stellenwert der Neuroethik als Bereichsethik geschehen wird (Abschnitt 2.). Letzteres liefert eine für den weiteren Verlauf der Untersuchung zentrale systematische Differenzierung: Neurowissenschaftliche Erkenntnisse können entweder einen regulativen oder konstitutiven Einfluss auf den in der Neuroethik eingenommenen ethischen Standpunkt entfalten. Diese Unterscheidung bildet den systematischen Rahmen der hier thematisierten Fragestellung. Anschließend gilt es, ausgehend von einer kurzen Charakterisierung des Forschungsfeldes der ‚Neurowissenschaft der Ethik‘ aufzuklären, in welcher Weise dort gewonnene Erkenntnisse in eine Neuroethik aufgenommen werden können (Abschnitt 3.). Insofern einzelne Studien deskriptive Aspekte der Moralfähigkeit untersuchen, ohne dabei normative Schlussfolgerungen zu ziehen, ist ein regulativer Einfluss dieser Erkenntnisse auf die Neuroethik ein kaum in Frage zu stellendes Desiderat. Wenn allerdings deskriptive Erkenntnisse zur Begründung oder Ersetzung normativer Aspekte eingesetzt werden, liegt ein konstitutiver Einfluss vor, der andere Konsequenzen nach sich zieht. Diese mit dem Programm des Naturalismus bzw. der Naturalisierung verbundenen Konsequenzen werden ausführlich und anhand eines Beispiels erörtert (Abschnitt 4.).

gungen nicht unter diesem Zweig zu subsumieren, so dass zu fragen wäre, wie solche Überlegungen zur Neuroethik stehen. Um den gegebenen Rahmen nicht zu sprengen, wird die Vorentscheidung getroffen, dass ‚Neuroethik‘ der Oberbegriff nicht nur für ‚Ethik der Neurowissenschaft‘ und ‚Neurowissenschaft der Ethik‘ ist, sondern auch für metaethische Fragen, die für die Neuroethik als Ganze von Bedeutung sind. Eine klare Abgrenzung von prinzipiellen metaethischen Fragen und solchen, die nur für die Neuroethik von Bedeutung sind, wird indes nicht vorgenommen. Zur Notwendigkeit einer Integration metaethischer Überlegungen in die Neuroethik als Ganze vgl. G. Northoff (2009), What is neuroethics? Empirical and theoretical neuroethics, in: Current Opinion in Psychiatry, 22(6)/2009, S. 565–569.

154

2.

Naturalisierung der Ethik

Begriffliche und heuristische Differenzierungen

Die Einschätzung, in welcher Weise Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft der Ethik den ethischen Standpunkt der Neuroethik prägen können, und welche Konsequenzen sich daraus ergeben, hängt entscheidend davon ab, was diese Form der Ethik leisten soll, und wie sie methodisch vorgeht. Um diese Fragen zu adressieren werden im Folgenden einige begriffliche Differenzierungen vorgenommen. 2.1

Ethik und Moral

Die erste Differenzierung betrifft die Begriffe ‚Moral‘ und ‚Ethik‘. Werden diese in der deutschsprachigen Literatur zur Neuroethik in der Regel unterschieden, trifft dies nicht im selben Maße auf viele Beiträge aus dem englischsprachigen Raum zu. Insbesondere naturwissenschaftliche Arbeiten verwenden die Begrifflichkeiten oftmals synonym oder differenzieren sie nur implizit. Eine solche Differenzierung ist jedoch dann von systematischem Interesse, wenn es nicht nur um die empirische Erfassung von moralischen Fähigkeiten geht, sondern auch um normative Schlussfolgerungen aus den gewonnenen Erkenntnissen. Die hier vorgenommene Begriffs5 differenzierung hat daher einen heuristischen Stellenwert. Unter Moral wird im Folgenden derjenige Bereich verstanden, der individuelle Handlungsprinzipien von Personen enthält, sofern es um normativ relevante Handlungen geht. Diese Handlungsprinzipien sind individuell, weil sie nicht notwendigerweise für alle Personen oder für eine Gruppe von Personen gelten (obwohl dies natürlich der Fall sein kann). Vielmehr kennzeichnen sie die Richtlinie, an der sich einzelne Personen in normativen Handlungszusammenhängen orientieren. Da moralische Prinzipien für moralische Handlungen relevant sind, ist der Bereich der Moral als ein praktischer Kontext anzusehen, der in konkreten Situationen wirksam ist. Die moralischen Prinzipien einer Person sind daher nur über beobachtbare moralische Handlungen oder über ihre Verbalisierung zu erschließen. Natürlich sind die so verstandenen moralischen Prinzipien einer Verallgemeinerung im Sinne überindividueller moralischer Prinzipien fähig. Sobald jedoch ein Diskurs über moralische Prinzipien stattfindet, befindet man sich im Bereich der 6 Ethik, die grundlegend als ‚Theorie der Moral‘ verstanden werden kann. Als eine solche Theorie zeichnet sie sich dadurch aus, dass in ihrem theoretischen Vorgehen 5

6

Konkret bedeutet dies insbesondere, dass die vorgenommene Unterscheidung der Begriffe Moral und Ethik keinen Anspruch auf Letztgültigkeit erhebt. Vielmehr geht es darum, eine Abgrenzung der Begriffe vorzunehmen, die in dem im Rahmen der vorliegenden Fragestellung relevanten Kontext sinnvoll ist. Ich orientiere mich dabei grundsätzlich an: M. Düwell/C. Hübenthal/M.H. Werner (2006) (Hrsg.), Handbuch Ethik, Stuttgart. Vgl. etwa N. Scarano (2006), Metaethik – ein systematischer Überblick, in: M. Düwell/C. Hübenthal/M.H. Werner (Hrsg.), Handbuch Ethik, Stuttgart, S. 25–35.

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eine Wechselwirkung zwischen theoretischen Reflexionen (z.B. bezüglich der Prinzipien und Grundbegriffe der Moral) und praktischen Orientierungsfragen (von der Art ‚Was soll ich tun?‘) entsteht. Ethik als Theorie der Moral reflektiert also auf die Praxis und zielt darauf ab, ausgehend von theoretischen Überlegungen Kriterien und Maßstäbe des Handelns zu identifizieren und argumentativ zu begründen – sie soll also Orientierung in der Praxis bieten, indem sie moralische Prinzipien thematisiert. Um als ein solches theoretisch-praktisches Unternehmen Orientierung für 7 die Praxis geben zu können, tritt sie notwendigerweise in Distanz zur Praxis. 2.2

Normative und deskriptive Ethik

Ausgehend von diesem Verständnis der Ethik als Theorie der Moral lassen sich zwei methodische Vorgehensweisen der Ethik unterscheiden, die die Art und Weise der 8 Reflexion auf die Moral betreffen: der deskriptive und der normative Ansatz. Gemäß der oben getroffenen Differenzierung von Moral und Ethik besteht ihre Aufgabe darin, moralische Urteile auf Eigenschaften wie Verallgemeinerbarkeit, Begründbarkeit oder Vereinbarkeit mit anderen (moralischen, ethischen oder sonstigen relevanten) Konzeptionen und Begriffen zu untersuchen. Damit thematisiert sie explizit den Maßstab oder die Prinzipien moralischer Urteile. Werden diese Prinzipien oder Maßstäbe identifiziert, handelt es sich um eine deskriptive Ethik, die Prinzipien beschreibend herausarbeitet, also moralisch relevante und beobachtbare Sachverhalte ermittelt und darstellt. Die Untersuchung der Moral im Sinne einer deskriptiven Ethik ist nicht auf die Philosophie beschränkt, sondern findet sich auch in anderen Wissenschaften wie z.B. der Kulturanthropologie, Soziologie, Psychologie oder evolutionstheoretischen Ansätzen. Werden beobachtbare Prinzipien dagegen kritisiert oder neue Prinzipien begründet, handelt es sich um eine normative Ethik, die moralische Urteile nicht nur identifiziert, sondern selbst solche Urteile bzw. die Prinzipien moralischer Urteile begründet. Die Möglichkeit einer solchen methodischen Vorentscheidung in der Ethik ist für den gegebenen Kontext von besonderer Wichtigkeit, da der Einfluss neurowissenschaftlicher Erkenntnisse auf die Neuroethik davon abhängt, ob diese sich als deskriptive oder normative Ethik versteht. Diese Vorentscheidung soll hier jedoch nicht getroffen werden, stattdessen werden an den entsprechenden Stellen jeweils beide Möglichkeiten hinsichtlich ihrer Konsequenzen diskutiert. 7 8

Vgl. etwa M. Düwell (2006), Angewandte oder Bereichsspezifische Ethik. Einleitung, in: M. Düwell/C. Hübenthal/M.H. Werner (Hrsg.), Handbuch Ethik, Stuttgart, S. 243–247. In der Regel unterscheidet man noch die Metaethik als eigenständige Disziplin: Zu ihren Zielen gehört es, „die begrifflichen Grundlagen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Moral bereitzustellen. Die Metaethik bildet insofern die Grundlage sowohl für den normativen als auch für den deskriptiven Zugang zur Moral.“ N. Scarano (2006), Metaethik – ein systematischer Überblick, in: M. Düwell/C. Hübenthal/M.H. Werner (Hrsg.), Handbuch Ethik, Stuttgart, S. 25-35, S. 25.

156

Naturalisierung der Ethik

2.3

Neuroethik als Bereichsethik

Obwohl eine kohärente Definition der Neuroethik nicht vorliegt, ist unbestritten, dass sie eine Bereichsethik ist. Als solche weist sie die für jede angewandte Ethik zutreffende Besonderheit auf, dass sie notwendigerweise in Wechselwirkung mit dem Bereich tritt, in dem sie angewandt wird, d.h. dass die inhaltlichen Erkenntnisse des entsprechenden Fachbereiches in bestimmer Weise nicht nur für ihre Inhalte relevant sind, sondern auch für die ethische Position, die sie einnimmt, selbst. Die dritte Differenzierung betrifft daher das Verständnis der Neuroethik als Bereichsethik und die damit verbundene Frage, in welcher Weise die inhaltlichen Erkenntnisse des Fachbereiches – der Neurowissenschaften – den ethischen Standpunkt der Neuroethik beeinflussen. Es lässt sich überzeugend dafür argumentieren, dass jede Bereichsethik trotz ihrer weitgehenden Selbstständigkeit letztlich im Horizont der Ethik (hier verstanden als praktischer Teil der Philosophie, d.h. als Oberbegriff aller Formen von Ethik) 9 operieren muss. Gleichzeitig muss es gute Gründe dafür geben, einer Bereichsethik diese weitgehende Selbstständigkeit überhaupt erst einzuräumen, und dazu muss sie von anderen Bereichsethiken bzw. der Ethik (praktische Philosophie) 10 abgrenzbar sein. Zwar kann diese Abgrenzung hier nicht erschöpfend behandelt werden, um jedoch diese zentrale Frage zumindest heuristisch anzugehen, soll im Folgenden eine (wenn auch grobe) systematische Grundunterscheidung vorgenommen werden. Diese betrifft zwei Möglichkeiten, wie die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse des Fachbereiches Neurowissenschaft einen Einfluss auf den ethischen Standpunkt der Neuroethik entfalten können: in regulativer oder konstitutiver Weise. Von einem regulativen Einfluss oder einer regulativen Wechselwirkung zwischen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und dem ethischen Standpunkt ist, so mein Vorschlag, dann zu sprechen, wenn diese Erkenntnisse bei der ethischen Einschätzung so berücksichtigt werden, dass der ethische Standpunkt in Auseinandersetzung mit diesen Erkenntnissen entwickelt wird. Es reicht hierbei nicht, dass ethische Herangehensweisen, Konzepte oder Begriffe auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse oder Zusammenhänge starr im Sinne einer direkten Applikation 11 angewandt werden. Wechselwirkung bedeutet vielmehr, dass sowohl neurowissen9 10

11

Vgl. etwa M. Düwell/C. Hübenthal/M.H. Werner (2006), Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Handbuch Ethik, Stuttgart, S. 1–23, insb. S. 23. Bezüglich der Neuroethik hat sich diese Diskussion an der Prägung des Begriffs ‚Neuroethik‘ entzündet: vgl. exemplarisch W. Safire (2002), Visions for a new field of ‚Neuroethics‘, in: S.J. Marcus (Hrsg.), Neuroethics: mapping the field, New York, S. 3–9; A. Roskies (2002), Neuroethics for the New Millenium, in: Neuron, 35/2002, S. 21–23; M.J. Farah (2002), Emerging ethical issues in neuroscience, in: Nature Neuroscience, 5(11)/2002, S. 1123–1129. Während dies natürlich grundsätzlich legitim und in bestimmten Fällen auch notwendig sein mag, reicht dies m.E. aber nicht aus, um eine Bereichsethik begründen zu können, da dieses Vorgehen allein keine Unterscheidung zwischen der Ethik (im Sinne praktischer Philosophie) und einer eigenständigen Bereichsethik zuließe. Zusätzlich könnte im Falle der Neuroethik eine solche Ab-

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157

schaftliche Erkenntnisse den Kontext und die Methode der ethischen Reflexion bestimmen als auch ethische Überlegungen dazu dienen, die Erkenntnisse und 12 Schlussfolgerungen kritisch zu kontextualisieren. Demgegenüber wäre von einem konstitutiven Einfluss neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu sprechen, wenn der ethische Standpunkt von diesen Erkenntnissen maßgeblich begründet oder vorgegeben würde. Hierbei ist vor allem die Unterscheidung normativer und deskriptiver Aspekte wichtig, denn vorwegnehmend kann bereits gesagt werden, dass der Einfluss deskriptiver Erkenntnisse der Neurowissenschaft auf normative Konzepte und Begriffe genau dann ein grundlegendes Beispiel für einen konstitutiven Beitrag der Neurowissenschaft zur Neuroethik darstellt, wenn Deskriptives in bestimmter Weise den Anspruch erhebt, Normatives zu begründen (vgl. Abschnitt 4.).

3.

Analyse der Neurowissenschaft der Ethik

Nach den begrifflichen Vorarbeiten gilt es nun, die leitende Frage aufzugreifen, nämlich in welcher Weise die Neurowissenschaft der Ethik und die in ihr erzielten Erkenntnisse einen Einfluss auf den ethischen Standpunkt der Neuroethik gewinnen können und wie dieser Einfluss zu bewerten ist. Dazu ist zunächst in einer groben Charakterisierung zu erfassen, in welcher Weise Studien der Neurowissenschaft der Ethik durchgeführt werden, welche Art von Erkenntnissen dort gewonnen werden, und wie diese anschließend im Hinblick auf die Neuroethik wirksam werden können, z.B. in regulativer oder konstitutiver Weise. Bibliometrische Untersuchungen deuten darauf hin, dass seit dem Jahr 2000 vermehrt Studien aus dem Bereich der Neurowissenschaft der Ethik durchgeführt 13 werden. Inhaltlich konzentrieren sich diese zumeist auf die Erfassung empirisch

12

13

grenzung zudem gerade deswegen gefordert werden, weil eine große inhaltliche und methodische Nähe zur ‚Gen-Ethik‘ besteht. Dies bedeutet allerdings nicht, dass hieraus notwendigerweise eigenständige neuroethische Begriffe entstehen, die – wie Georg Northoff anregt – „begriffliche Hybride“ sind, also Begriffe, die weder rein normativ noch rein deskriptiv sind, sondern in denen normative und deskriptive Dimensionen in einer „norm-fact circularity“ verbunden oder verflochten werden, vgl. G. Northoff (2009), What is neuroethics? Empirical and theoretical neuroethics, in: Current Opinion in Psychiatry, 22(6)/2009, S. 565–569. Die Trennung von normativen und deskriptiven Aspekten im Bereich der Neuroethik sollte zumindest in der hier eingenommenen heuristischen Perspektive beibehalten werden. Eine aktuelle bibliometrische Untersuchung von Markus Christen deutet darauf hin, dass Arbeiten zur ‚moral neuroscience‘ (im Vergleich zu Arbeiten zur ‚neuroscience‘) ab dem Jahr 2000 überproportional angestiegen sind. Gleichzeitig ist innerhalb der Arbeiten zur ‚moral neuroscience‘ (im Vergleich zu Arbeiten zur ‚neuroscience‘) ein überproportionaler Anstieg der bildgebenden Methoden zu verzeichnen. Vgl. M. Christen (2010), Naturalisierung von Moral? Einschätzung des Beitrages der Neurowissenschaft zum Verständnis moralischer Orientierung, in: J. Fischer/S. Gruden (Hrsg.), Die Struktur der moralischen Orientierung. Interdisziplinäre Perspektiven,

158

Naturalisierung der Ethik

messbarer Daten zur Moralfähigkeit des Menschen (‚moral decision making‘), was in der Regel unter Rückgriff auf bildgebende Verfahren bewerkstelligt wird. Grob charakterisierend kann darüber hinaus festgehalten werden, dass die entsprechen14 den empirischen Studien Untersuchungen zur Neurobiologie der Moral sind. Die Neurowissenschaft der Ethik weist insofern eine deutliche Nähe zum traditionsreichen Forschungsfeld der Moralpsychologie auf, nicht nur, weil wesentliche thematische Überschneidungen vorliegen, sondern weil sich beide im Hinblick auf die 15 Ethik als empirische oder deskriptive Ethik verstehen lassen. Konkret bedeutet dies, dass entsprechende Studien die neuronalen Korrelate 16 einer psychologisch verstandenen Moralfähigkeit untersuchen. Typische Fragestellungen lauten daher beispielsweise: Welche Hirnregionen sind bei moralischen Urteilen beteiligt? Sind dies für moralische Urteile spezifische Hirnregionen und Hirnfunktionen, oder sind hier Bereiche beteiligt, die auch anderen kognitiven 17 Fähigkeiten zugrunde liegen? Inwieweit ist aufgrund der vorhergehenden Frage 18 gerechtfertigt, distinkt von ‚moralischer Kognition‘ zu sprechen? Welche Rolle spielen Emotionen bei moralischen Urteilen und gibt es so etwas wie ‚moralische 19 Emotionen‘, die sich von anderen Emotionen unterscheiden lassen? Studien, die Fragen dieser Art zu beantworten versuchen, können in der Regel als rein deskriptive Studien über die Moralfähigkeit des Menschen verstanden werden, die keine normativen Konsequenzen benennen. Hier geht es also um das naturwissenschaftliche Untersuchen von beobachtbaren kognitiven Fähigkeiten, ohne dass aus diesen Erkenntnissen normative Schlüsse gezogen werden.

14

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17 18

19

Münster, S. 49–123, S. 79ff. Vgl. für eine ähnliche Untersuchung J. Illes/M. Kirschen/J.D.E. Gabrieli (2003), From neuroimaging to neuroethics, in: Nature neuroscience, 6(3)/2003, S. 205. Zu diesem Ergebnis kommt M. Christen (2010), Naturalisierung von Moral? Einschätzung des Beitrages der Neurowissenschaft zum Verständnis moralischer Orientierung, in: J. Fischer/S. Gruden (Hrsg.), Die Struktur der moralischen Orientierung. Interdisziplinäre Perspektiven, Münster, S. 49–123, vgl. etwa S. 88ff. Vgl. hierzu ausführlicher M. Bobbert (2006), Moralpsychologie/Moralentwicklung, in: M. Düwell/C. Hübenthal/M.H. Werner (Hrsg.), Handbuch Ethik, Stuttgart, S. 444–448. Aus Platzgründen kann eine entsprechende Herleitung hier nicht gegeben werden, vgl. dazu aber M. Christen (2010), Naturalisierung von Moral? Einschätzung des Beitrages der Neurowissenschaft zum Verständnis moralischer Orientierung, in: J. Fischer/S. Gruden (Hrsg.), Die Struktur der moralischen Orientierung. Interdisziplinäre Perspektiven, Münster, S. 49–123, S. 82ff. Vgl. exemplarisch J.D. Greene/R.B. Sommerville/L.E. Nystrom et al. (2001), An fMRI investigation of emotional engagement in moral judgment, in: Science, 293(5537)/2001, S. 2105–2108. Vgl. exemplarisch W. D. Casebeer (2003), Natural ethical facts, Cambridge; J. Moll/R. De Oliveira-Souza/R. Zahn (2008), The neural basis of moral cognition: sentiments, concepts, and values, in: Annals of the New York Academy of Sciences, 1124/2008, S. 161–180. Vgl. exemplarisch J. Moll/R. De Oliveira-Souza/P.J. Eslinger (2003), Morals and the human brain: a working model, in: Neuroreport, 14(3)/2003, S. 299–305; J. Haidt (2003), The moral emotions, in: R.J. Davidson/K.R. Scherer/H.H. Goldsmith (Hrsg.), Handbook of affective sciences, Oxford, S. 852–870.

Eßmann

3.1

159

Regulativer Beitrag der Neurowissenschaft der Ethik zur Neuroethik

Welche Konsequenzen können Studien aus dem Feld Neurowissenschaft der Ethik auf den ethischen Standpunkt der Neuroethik entfalten? Eine deskriptiv verfahrende Neuroethik kann diese Erkenntnisse als zentralen Bestandteil der Identifizierung beobachtbarer moralischer Handlungen aufnehmen und ferner auch herausgearbeitete Rückschlüsse auf de facto ermittelbare Moralprinzipien berücksichtigen. Insofern Studien selbst keine normativen Schlüsse ziehen, findet keine Vermischung deskriptiver und normativer Aspekte statt. Eine normative Neuroethik hingegen könnte die Erkenntnisse ebenfalls zur Identifizierung von moralischen Handlungen und Moralprinzipien heranziehen, würde aber darüber hinaus thematisieren, wie normative Orientierung gewonnen werden kann. Dazu würde eine normative Ethik jedoch auf andere Quellen zurück20 greifen, da die Studien selbst keine normativen Schlüsse ziehen. Es kann demnach festgehalten werden, dass eine Neurowissenschaft der Ethik, die sich auf die Untersuchung deskriptiver Aspekte der Moralfähigkeit beschränkt, für den neuroethischen Standpunkt nicht nur unproblematisch, sondern im Gegenteil von großem Wert ist – und zwar unabhängig davon, ob Neuroethik deskriptiv oder normativ verfährt. Vorgreifend (vgl. Abschnitt 5.) kann gesagt werden, dass sich ihr Wert für die Neuroethik nicht zuletzt daran bemisst, dass sie eine Grundlage für eine regulative Wechselwirkung zwischen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und ethischen Konzeptionen liefern kann. 3.2

Konstitutiver Beitrag der Neurowissenschaft der Ethik zur Neuroethik

Andererseits gibt es aber auch Arbeiten, die aus deskriptiven Aspekten der menschlichen Moralfähigkeit normative Aspekte ableiten – dies geschieht in variierenden Graden, von latent normativen Schlussfolgerungen wie jene, dass sich die Kontroverse um die utilitaristische Moralphilosophie auf gegeneinander konkurrierende

20

Ein Beispiel: Angenommen, eine Studie legt nahe, dass bei moralischen Urteilen Emotionen eine größere Rolle spielen, als gemeinhin angenommen wird, so z.B. bei J.D. Greene/R.B. Sommerville/L.E. Nystrom et al. (2001), An fMRI investigation of emotional engagement in moral judgment, in: Science, 293(5537)/2001, S. 2105–2108. Als bloße Beschreibung der menschlichen Moralfähigkeit ist diese Information aufschlussreich, allerdings würde eine normative Ethik – die sich als Theorie der Moral versteht – zusätzlich zu diesem Befund fragen, nach welchen Kriterien moralische Urteile gefällt werden sollten, also welche moralischen Prinzipien aus welchem Grunde vertretbar sind. Selbst für den Fall, dass emotionale Entscheidungsfaktoren einem vertretbaren Moralprinzip zuwiderlaufen, besitzt die deskriptive Information der Beteiligung von Emotionen keine normative Relevanz: Von größerer Bedeutung wäre hier die Frage, ob wir uns grundsätzlich von emotionalen Faktoren distanzieren können, um dadurch ein moralisches Urteil zu ermöglichen – denn das würde eine normative Ethik in diesem Falle fordern.

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Naturalisierung der Ethik 21

Subsysteme im Gehirn zurückführen lasse, bis zu solchen Aussagen, dass die 22 Struktur des Gehirns am ehesten tugendethischen Ansätzen korrespondiere. Allerdings sind es in aller Regel nicht die Schlussfolgerungen aus einzelnen empirischen Studien zur Moralfähigkeit, die diese deskriptiven Aspekte im Sinne normativer Konsequenzen für Moral und Ethik interpretieren oder sogar fordern. Es sind vielmehr zumeist programmatische Arbeiten, die einen Einfluss deskriptiver Erkenntnisse auf normative Schlussfolgerungen herausstellen und diese u.a. unter Rückgriff auf eine Vielzahl naturwissenschaftlicher, insbesondere neurowissenschaftlicher Studien zu belegen suchen. Diese Überzeugung von der Möglichkeit eines Einflusses des Deskriptiven auf das Normative, so meine These, ist die Grundlage für den eingangs erwähnten konstitutiven Beitrag der Neurowissenschaft zum ethischen Standpunkt der Neuroethik. Damit ist nun ergänzend die These vertreten, dass dieser konstitutive Beitrag maßgeblich durch die Programmatik des Naturalismus charakterisiert ist, und daher das Programm einer Naturalisierung der Ethik in die (metaethische bzw. methodologische) Diskussion um die Neuro23 ethik einbezogen werden muss. Bevor die Konsequenzen solcher programmatischer Schlussfolgerungen hinsichtlich der Neuroethik erörtert werden, ist zunächst nachzuzeichnen, in welcher Weise entsprechende Naturalisierungsversuche vorgenommen werden. Im Folgenden soll dies anhand der Unterscheidung deskriptiv/normativ konkretisiert werden. Im Anschluss daran wird es möglich sein, die Konsequenzen eines derartigen konstitutiven Einflusses der Neurowissenschaft der Ethik auf die Neuroethik zu benennen.

4.

Naturalisierungsversuche als Präzedenzfall eines konstitutiven Beitrags der Neurowissenschaft zur Neuroethik

Im Folgenden werden zwei Möglichkeiten unterschieden, aus deskriptiven Aspekten der Moralfähigkeit normative Konsequenzen für die Ethik abzuleiten. Beide Optionen stellen dabei die Grundlage für einen konstitutiven Beitrag der Neurowissenschaft zur Neuroethik dar. 21 22 23

Vgl. etwa J.D. Greene/L.E. Nystrom/A.D. Engell et al. (2004), The neural bases of cognitive conflict and control in moral judgment, in: Neuron, 44(2)/2004, S. 389–400. Vgl. etwa W.D. Casebeer (2003), Moral cognition and its neural constituents, in: Nature Reviews Neuroscience, 4/2003, S. 841–846. Der maßgebliche programmatische Hintergrund, der für die hier diskutierte Form der Naturalisierung der Ethik relevant ist, kann kursorisch mit folgenden Arbeiten benannt werden: P.S. Churchland (1986), Neurophilosophy. Toward a unified science of the mind-brain, Cambridge; P.M. Churchland (1995), The engine of reason, the seat of the soul, Cambridge; W.D. Casebeer (2003), Natural ethical facts, Cambridge; M.S. Gazzaniga (2005), The Ethical Brain, New York. Eine gut begründete Charakterisierung des Naturalismus in der Ethik sowie eine Erörterung über die Bedeutung des Verbs ‚naturalisieren‘ und seine Stellung zum Naturalismus findet sich in G. Keil (2004), Anthropologischer und ethischer Naturalismus, in: B. Goebel/A.M. Hauk/G. Kruip (Hrsg.), Probleme des Naturalismus. Philosophische Beiträge, Paderborn, S. 65–100.

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Die erste Option, die als Maßstabs-Strategie charakterisiert werden kann, leitet aus dem deskriptiv Bestimmbaren einen normativen Maßstab der Ethik ab, etwa durch eine Argumentation wie die folgende: Aus der Beschreibung der menschlichen Moralfähigkeit ist ersichtlich, dass Emotionen eine zentrale Rolle bei allen moralischen Urteilen spielen. Emotionen gehören also zum Kern moralischer Urteile. Dies muss bei der Formulierung ethischer Prinzipien und der Kritik moralischer Prinzipien berücksichtigt werden. Es sollten solche ethischen Prinzipien oder Positionen abgelehnt werden, die den Emotionen keine zentrale Rolle zugestehen. Da solche Argumentationsformen in die seit langem geführte Debatte um den naturalistischen Fehlschluss fallen, ist diese Option von einem metaethischen Standpunkt aus gesehen zwar nicht weniger diskussionswürdig als andere Optionen; angesichts einer Fülle von Literatur zu diesem Thema soll sie im Folgenden jedoch nicht weiter 24 verfolgt werden. Die zweite Option, die man als Ersetzungs-Strategie bezeichnen könnte, zeichnet sich dadurch aus, dass sich in ihr das deskriptive Erkenntnisinteresse der Neu25 rowissenschaft der Ethik mit der Programmatik des Naturalismus verbindet. Das hieraus resultierende Programm einer Naturalisierung der Ethik soll im Folgenden im Hinblick auf die Neuroethik thesenartig charakterisiert werden: Eine naturalistische Position, wie sie im Kontext einer Naturalisierung der Neuroethik angesprochen ist, behauptet, das Normative könne und müsse restlos durch das Deskriptive ersetzt werden. Die leitende Annahme hierbei ist, dass normative Aussagen der Ethik unhaltbar sind, weil sie nicht durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse gestützt werden können. Der Bereich des Normativen wird in der Folge jedoch nicht einfach vernachlässigt, methodisch eliminiert oder einem anderen (der fachlichen Diskussion unverfügbaren) Seinsbereich zugeschrieben, sondern durch deskriptive Aspekte ersetzt, und zwar indem das Deskriptive die Funktion des Normativen übernimmt. Dies wird umgesetzt, indem das Sprechen über normativ relevante Aspekte entsprechend verändert wird, d.h. dass das ‚nor-

24

25

Vgl. zur Diskussion und zum Stellenwert des naturalistischen Fehlschlusses im Kontext des ethischen Naturalismus etwa G. Keil (2004), Anthropologischer und ethischer Naturalismus, in: B. Goebel/A.M. Hauk/G. Kruip (Hrsg.), Probleme des Naturalismus. Philosophische Beiträge, Paderborn, S. 65–100. In Geert Keils Terminologie könnte man sagen, dass die Maßstabs-Strategie einem ‚ethischen Naturalismus‘ entspricht, die im nächsten Absatz vorgestellte ‚ErsetzungsStrategie‘ dagegen einem ‚metaethischen Naturalismus‘. Die Vernachlässigung der MaßstabsStrategie lässt sich unter Berufung auf Keil rechtfertigen, der zu belegen sucht, dass „der ethische Naturalismus […] aus sich heraus zum metaethischen Naturalismus drängt.“ G. Keil (2004), Anthropologischer und ethischer Naturalismus, in: B. Goebel/A.M. Hauk/G. Kruip (Hrsg.), Probleme des Naturalismus. Philosophische Beiträge, Paderborn, S. 65–100, S. 84. Mein Verständnis der naturalistischen Programmatik orientiert sich an den Arbeiten Geert Keils, vgl. G. Keil (1993), Kritik des Naturalismus, Berlin sowie für einen Überblick dessen Beiträge in G. Keil/H. Schnädelbach (2000) (Hrsg.), Naturalismus. Philosophische Beiträge, Frankfurt a.M.

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Naturalisierung der Ethik

mative Idiom‘ durch ein (naturwissenschaftlich bzw. hier: neurowissenschaftlich 26 geprägtes) ‚deskriptives Idiom‘ ersetzt wird. Eine vollständige systematische Herleitung dieser Ersetzungsstrategie ist an dieser Stelle nicht möglich, im nächsten Abschnitt kann diese jedoch anhand eines Beispiels exemplifiziert werden. Dazu sind drei Schritte notwendig: Zunächst die Rekonstruktion der naturalistischen Programmatik und im Anschluss daran die dieser Programmatik entsprechende Naturalisierung der Moral und, da es auch um 27 normative Konsequenzen geht, der Ethik. 4.1

Die naturalistische Programmatik

Das im Folgenden aufzugreifende Beispiel orientiert sich an einem Beitrag Patricia 28 Churchlands, in dem neurowissenschaftliche Erkenntnisse mit der ErsetzungsProgrammatik des Naturalismus verknüpft werden, wobei eine Naturalisierung von Moral und Ethik programmatisch vorgeführt wird. 29 Die Philosophie, so Churchland, beschäftige sich mit Fragen, für die die Experimentalwissenschaft noch keine plausiblen Erklärungen in Form wissenschaftlicher Theorien gefunden habe. Die Geschichte der Naturwissenschaft lasse sich daher als ein gradueller Prozess verstehen, in dem die spekulativ vorgehende Philosophie ihren Platz zugunsten methodisch begründeter experimenteller Naturwissenschaft räumt. Philosophie als Ganze wird dabei gleichgesetzt mit Begriffsanalyse, die wiederum dadurch desavouiert wird, dass Churchland bekräftigt, sie reproduziere (vielleicht auch unbewusst) das, was unser alltagspsychologisches 30 Verständnis an Erkenntnissen über unser Sozialverhalten hervorbringt. Beobach26

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29

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Vgl. zur Strategie der Ersetzung von Idiomen im Naturalismus etwa G. Keil (2000), Naturalismus und Intentionalität, in: G. Keil/H. Schnädelbach (Hrsg.), Naturalismus. Philosophische Beiträge, Frankfurt a.M., S. 187–204. Die Unterscheidung der Naturalisierung der Moral von der Naturalisierung der Ethik ist heuristisch, systematisch gesehen gehört beides jedoch zusammen, insofern die hier exemplarisch referierte Naturalisierung der Ethik nur auf Grundlage der Naturalisierung der Moral durchführbar ist. Vgl. hierzu unten, Abschnitt 4.3. P.S. Churchland (2008), The impact of neuroscience on philosophy, in: Neuron, 60(3)/2008, S. 409–411. Obwohl dieser recht kurze Text Kommentarcharakter hat, eignet er sich aufgrund seiner programmatischen Zuspitzung als Veranschaulichung nicht nur der Position der Autorin, sondern auch als exemplarische Darstellung der hier thematisierten Naturalisierungstendenz innerhalb der Neurowissenschaft der Ethik. Der programmatische Charakter zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Naturalisierung nicht nur Moral und Ethik betrifft, sondern die Philosophie als Ganze einer naturalistischen Deutung unterworfen wird. Das ‚alltagspsychologische Verständnis‘ (‚folk psychology‘) ist eines der Kerkonzepte v.a. des sog. eliminativen Materialismus, der eine Variante des Naturalismus darstellt und beispielsweise von Paul und Patricia Churchland vertreten wird. Unter diesem Konzept werden die intentionalen Selbstzuschreibungen (propositionale Einstellungen) versammelt, die es gemäß der naturalistischen Programmatik zu ersetzen gilt. Vgl. zu dieser Position etwa P.M. Churchland (1981), Eliminative materialism and the propositional attitudes, in: The journal of philosophy, 78(2)/1981,

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ten lasse sich die Ersetzung der Philosophie durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse beispielsweise daran, dass die aus der spekulativen Introspektion gewonnenen „Wahrheiten“ der Philosophie zunehmend mit empirisch gewonnenen neuropsychologischen Erkenntnissen kollidiert seien und von ihnen verdrängt wurden, so dass die philosophischen Methoden fundamental an Boden verloren haben. Als Konsequenz benennt Churchland schließlich, dass neuropsychologische Erkenntnisse („data“) die philosophischen Begriffe bzw. Konzeptionen ersetzten: „Because the data are the data, in place of these alleged ‚truths‘ arose empirical questions 31 about brain mechanisms.“ Dies bringt das Rahmenprogramm des Naturalismus zum Ausdruck, wobei sich auch die Ersetzung von Idiomen andeutet (siehe kursive Hervorhebungen im vori32 gen Absatz). 4.2

Naturalisierung der Moral

In einem zweiten Schritt wird nun eine diesem Rahmenprogramm entsprechende Naturalisierung der Moral vorgeführt, an der sich die oben vorgestellte ErsetzungsStrategie exemplarisch nachweisen lässt: Die Moralität des Menschen sei in dem empirisch beobachtbaren Phänomen der sozialen Bindung („attachment“) und dem damit zusammenhängenden Phänomen des Vertrauens begründet. Weil aber Phänomene wie soziale Bindung und Vertrauen neurobiologisch bedingt seien (beispielsweise durch die Dichte von OxytocinRezeptoren im Gehirn), könne auch das Phänomen moralischen Verhaltens prinzipiell neurobiologisch erklärt werden. Konkrete moralische Entscheidungen seien 33 daher aufzufassen als ein ‚constraint satisfaction problem‘. Auf individueller Ebene sei die Art und Weise, in der die relevanten moralischen constraints erfüllt werden, weniger eine Angelegenheit, bei der Reflexion involviert ist – die philosophisch bzw. ethisch angegangen werde –, sondern selbst in hohem Maße abhängig von neurobiologisch erklärbaren Vorgängen und damit letztlich vom Gehirn (und nicht

31 32

33

S. 67–90, zur Kritik ihres methodologischen Vorgehens etwa G. Keil (1993), Kritik des Naturalismus, Berlin, S. 68ff. P.S. Churchland (2008), The impact of neuroscience on philosophy, in: Neuron, 60(3)/2008, S. 409–411, S. 409. Hervorhebungen vom Verf. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die idiomatische Ersetzung bei Churchland maßgeblich von der Ersetzung von philosophischen bzw. ethischen Reflexionen durch naturwissenschaftliche Erklärungen abhängt. Vgl. dazu etwa folgende Aussage: „The classical mind/body problem has been replaced with a range of questions: what brain mechanisms explain learning, decision making, self-deception, and so on.“ (ebd.) Zu beachten ist hier dreierlei: 1) Das Körper/Geist Problem ist substituierbar durch die empirische Untersuchung von Gehirnmechanismen, 2) diese Gehirnmechanismen können als Erklärung des Körper-Geist-Problems herangezogen werden, 3) was durch sie erklärt wird sind neurobiologische Prozesse (learning, decision making, etc.), deren Aufklärung jedoch gleichzeitig das Körper/Geist Problem lösen. D.h. ein ‚Bedingungserfüllungsproblem‘, dessen Lösung oder Zielzustand darüber definiert ist, dass möglichst viele Bedingungen möglichst weitgehend erfüllt sind.

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Naturalisierung der Ethik

von uns als reflektierenden Individuen). Moralische Probleme sind daher aufzufas34 sen als constraint satisfaction problems auf dem ‚single-brain level‘. 4.3

Naturalisierung der Ethik

Die Naturalisierung der Ethik konzentriert sich nun auf die gesellschaftliche Ebene, 35 die dem Bereich der Ethik korrespondiert. Strukturell gesehen seien ethische Probleme moralischen Problemen analog, also ebenfalls als constraint satisfaction problems anzusehen, nur dass diese auf dem ‚many-brain level‘ auftauchten. Nachdem zunächst abgelehnt wird, dass deskriptiv erfassbare neurobiologische Merkma36 le als normativer Maßstab fungieren könnten, wird eine knappe Skizze geliefert, in welcher Art ethische, d.h. normativ relevante gesellschaftliche Probleme gelöst werden können, nämlich auf der Basis von „relevanten Fakten“. Diese Fakten beträfen etwa ‚kulturelle Praktiken‘, fakten-basierte Vorhersagen über Konsequenzen sowie faktisches Wissen darüber, welche moralischen Werte der Neurobiologie des Gehirns entsprechen. Diese ‚relevanten Fakten‘ fungieren als die Schlüsselfaktoren, mit denen die constraints ethischer Probleme erfüllt werden können. Dabei wird deutlich, dass die hier vorgenommene Naturalisierung der Ethik maßgeblich auf der Naturalisierung der Moral basiert – betreffen die geforderten ‚relevanten Fakten‘ doch wiederum solche Erklärungen, wie sie bei der Aufklärung des Phänomens der Moralfähigkeit herangezogen wurden. Anders als bei der Naturalisierung der Moral scheint der Status dieser Erklärungen (und damit die Erfüllung der constraints) jedoch ein anderer zu sein; ließ sich die Moralfähigkeit noch mit einem direkten Rückgriff auf die Neurobiologie des Gehirns (d.h. einzelner Gehirne: ‚single-brain level‘) naturalisieren, ist dies bei ethischen Problemen (‚many-brain level‘) nicht der Fall – das Entstehen ethischer Probleme durch soziale Interaktion ist nicht direkt neurobiologisch beschreibbar, zumindest nicht auf dieselbe Weise bzw. derselben Ebene. Von zentraler Bedeutung ist, dass dieser Ebenenunterschied – d.h. die Unterscheidung 34

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„As the relevant constraints weigh in, the networks settle into a solution – the brain’s decision. […] the representation of rules [im Sinne ethisch reflektierter moralischer Maßstäbe; B.E.] and their applicability to the situation at hand seems to be only one constraint among others. According to my hypothesis, practical reasoning [worunter auch moral reasoning fällt; B.E.] mainly consists in finding a good solution to a constraint satisfaction problem. Deduction […] plays at most a minor or post hoc role.“ P.S. Churchland (2008), The impact of neuroscience on philosophy, in: Neuron, 60(3)/2008, S. 409–411, S. 410. Churchland differenziert die Begriffe Moral und Ethik nicht, trifft aber eine implizite Unterscheidung zwischen der Moralität als Phänomen der Moralfähigkeit von Individuen und sozialen oder gesellschaftlichen Fragen, die sie als „moral/social problems“ bezeichnet. Strukturell gesehen ist dies mit der in Abschnitt 2.1 vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen Moral und Ethik kompatibel. „If values are rooted in biology and the social emotions, can we just settle social/moral questions by looking at our biology?“ Diese Frage wird verneinend beantwortet. Damit ist belegt, dass die hier thematisierte Naturalisierung nicht im Sinne der Maßstabs-These vorgenommen wird.

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normativ/deskriptiv bzw. Moral/Ethik – prinzipiell anerkannt wird, gleichzeitig aber die relevanten ethischen Phänomene (Werte, Konzeptionen wie Verantwor38 tung, etc.) wieder einer naturalistischen Erklärung unterworfen werden. Darin zeigt sich die Analogie moralischer und ethischer Probleme (constraint satisfaction problems), da beide von naturalistisch anerkannten Fakten bzw. Erklärungen abhängen. Bei der Naturalisierung der Ethik wird die Ersetzung des Normativen durch das Deskriptive nicht bewerkstelligt, indem das Normative in einem umfassenden Sinne negiert oder eliminiert wird, sondern dadurch, dass das Normative unter Rückgriff auf eine naturalistische Erklärung als Kodifizierung des Deskriptiven 39 herausgestellt wird. Dies entspricht einer Ersetzung, bei der das Deskriptive die Funktion des Normativen erfüllt. Im Falle der Moral wie der Ethik ist es die naturalistische Erklärung, die die Funktionsübertragung gewährleist. Die naturalistische Erklärung ist dementsprechend auch der Ort, an dem die Ersetzung des normati40 ven durch das deskriptive Idiom stattfindet.

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39

40

Da eine normative Realität im Sinne eines Phänomens grundsätzlich anerkannt wird, handelt es sich hier auch nicht um eine eliminative Strategie, sondern um eine Ersetzungs-Strategie. Um Missverständnisse zu vermeiden: Patricia Churchland wird zwar als Vertreterin des ‚eliminativen Materialismus‘ angesehen, die damit angesprochene eliminative Programmatik bezieht sich aber auf propositionale Einstellungen. Daraus folgt nicht, dass normative Phänomene eliminiert werden, sondern dass die Normativität dieser Phänomene eliminiert wird. Vgl. hierzu Geert Keil, der herausstellt: „Eine ontologische Reduktion des Mentalen auf das Physische möchte ich […] nicht als distinktiv naturalistischen Programmpunkt ansehen.“ G. Keil (2000), Naturalismus und Intentionalität, in: G. Keil/H. Schnädelbach (Hrsg.), Naturalismus. Philosophische Beiträge, Frankfurt a.M., S. 187–204, S. 191f. Dies zeigt sich an den Fragestellungen, anhand derer das Phänomen sozialer Interaktion und das Auftreten ethischer Probleme erklärt werden soll, etwa „where values come from“, „the wherefore of responsibility and punishment“, „why we are depressed or in love“, etc., vgl. P.S. Churchland (2008), The impact of neuroscience on philosophy, in: Neuron, 60(3)/2008, S. 409–411, S. 409. Vgl. das von Patricia Churchland angeführte Beispiel (auch unbewusster) Nachahmung (‚mimicry‘): „mimicry, even if unconsciously produced and unconsciously detected, is a safety signal. The level of OT [Oxytocin], and hence the level of trust, probably increase; defensive behaviour and autonomic arousal decrease.“ Ebd., S. 411. Vgl. etwa die Naturalisierung der Moral durch die Rückführung moralischen Urteilens auf constraint satisfaction problems, die maßgeblich vom Gehirn gelöst werden. „As the relevant constraints weigh in, the networks settle into a solution – the brain’s decision“, ebd., S. 410, Hervorhebungen vom Verf., oder naturalistische Umdeutungen wie die folgende: „Though introspection is useful, the brain is not rigged to directly know much about itself, such as why we are depressed or in love or that factors such as serotonin levels influence our decisions.“ Ebd., S. 409, Hervorh. vom Verf. Letzteres ist auch ein Beispiel dafür, dass die Ersetzung von Idiomen durchgeführt wird, indem normative Aspekte als Kodifizierung neurobiologischer Aspekte verstanden werden: Die Beantwortung der Frage, warum wir verliebt oder deprimiert sind, erschöpft sich in der Erklärung ‚aufgrund neurobiologischer Merkmale‘. Und selbst der Umstand, dass wir diese Frage stellen ist neurobiologisch erklärbar. Es ist ein Funktionsmerkmal des Gehirns, bestimmte seiner neurobiologischen Eigenschaften (hier: normativ relevante) so zu kodifizierten, dass sie allein der Introspektion zugänglich erscheinen.

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Naturalisierung der Ethik

4.4

Konsequenzen des konstitutiven Beitrags zur Neuroethik

Was sind nun die Konsequenzen einer solchen Naturalisierung für den ethischen Standpunkt der Neuroethik? Anders als im Falle derjenigen Studien, die keine normativen Schlüsse ziehen, zeichnet sich der hier rekonstruierte naturalistische Ansatz dadurch aus, dass er durch die Ersetzung des Normativen durch das Deskriptive sehr wohl normative Schlussfolgerungen zieht, da das Deskriptive die Funktion des Normativen erfüllt – nämlich indem deskriptive Erkenntnisse auf eine solche Weise eingesetzt werden, dass sie alleingültige Antworten auf normative oder ethische Fragen darstellen. Sofern die Neuroethik als deskriptive Ethik verstanden wird, ergibt sich daraus das Problem, dass normative Aspekte anwesend bleiben, da die im Sinne der Ersetzungs-Strategie umgedeuteten deskriptiven Erkenntnisse immer auch normative Bedeutung besitzen – eine deskriptive Neuroethik ist auf den Rückgriff auf rein deskriptive Erkenntnisse angewiesen, würde sich hier aber „kryptonormative“ Anteile einkaufen. Im Falle einer normativen Neuroethik ist der naturalistische Ansatz mit der programmatischen Forderung verbunden, normativ relevante Aspekte nur gemäß ihrer Ersetzung durch deskriptive Erklärungen zu thematisieren, wodurch das, was überhaupt als normativ verstanden werden kann, vorgegeben wird. Die normative Neuroethik würde hierbei auf ein Konzept von Normativität festgelegt, das rein neurowissenschaftlich bzw. naturalistisch begründet ist und einer methodischen Kritik von Seiten der Ethik nicht mehr fähig ist. In beiden hier diskutierten Fällen des konstitutiven Beitrags der Neurowissenschaft der Ethik zur Neuroethik ist durch die fehlende Trennschärfe zwischen normativen und deskriptiven Aspekte ein methodisch unabhängiger ethischer Standpunkt gefährdet.

5.

Fazit

In Abschnitt 2.3. wurde davon ausgegangen, dass sich eine Bereichsethik wie die Neuroethik in einem bestimmten Kontinuum verorten muss, nämlich dem Kontinuum zwischen ihrer Einbettung in die Philosophie einerseits, und ihrer Zugehörigkeit oder zumindest Nähe zu den Neurowissenschaften andererseits. Die darin implizierte Vorentscheidung lautete, dass die Extrempositionen dieses Kontinuums zu vermeiden sind: Diese bestehen in a) einer „paternalistischen“ Stellung der Philosophie zu den für Moral/Ethik relevanten neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und b) einer methodischen Ausgrenzung der Philosophie aus dem Bereich ethischer Fragen, die sich aus neurowissenschaftlicher Forschung ergeben. Die im Anschluss getroffene Unterscheidung zwischen einem regulativen und einem konstitutiven Beitrag der ‚Neurowissenschaft der Ethik‘ zu dem in der Neuroethik ein-

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genommenen Standpunkt sollte als Heuristik dienen, um diese Verortung zu diskutieren. Das Ergebnis der Untersuchung ist dahingehend interpretierbar, dass ein konstitutiver Beitrag der Neurowissenschaft der Ethik zur Konsequenz hat, dass letztlich eine Extremposition im Sinne der methodischen Ausgrenzung der Philosophie eingenommen wird. Gegen einen regulativen Einfluss deskriptiver Erkenntnisse auf den von der Neuroethik eingenommenen ethischen Standpunkt spricht dagegen nichts, im Gegenteil könnte dies die Grundlage für eine zwischen den Extrempositionen vermittelnde Wechselwirkung von Philosophie und Neurowissenschaften und damit ein gangbarer Mittelweg sein. Eine in diesem Beitrag offen bleibende Frage betrifft die konkrete Gestalt einer solchen regulativen Wechselwirkung. Als abschließende Bemerkung sei jedoch nahegelegt, die Möglichkeit dieser Wechselwirkung in der Kritikfähigkeit beider zu vermittelnder Seiten zu sehen. Eine solche Kritik methodisch und systematisch zu ermöglichen wäre dann nicht nur als spezifische Aufgabe der Neuroethik zu sehen, 41 sondern auch als unverzichtbare Anforderung an ihren ethischen Standpunkt.

41

Die Erstellung dieses Beitrags wurde durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt (im Rahmen des Bernstein Focus: Neurotechnology Freiburg * Tübingen, Förderkennzeichen UFr 01GQ0830).

Anhang Autorenverzeichnis Dipl.-Soz. Gina Atzeni Soziologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschergruppe „Religion in bioethischen Diskursen“ an der Abteilung für Systematische Theologie, EvangelischTheologische Fakultät, Ludwig-Maximilians-Universität München. Dipl.-Kffr. Uta Bittner, M.A. Philosophin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF-geförderten Forschungsprojekt: „Zur Relevanz der ‚Natur des Menschen’ als Orientierungsnorm für Anwendungsfragen der biomedizinischen Ethik“ am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; Wirtschaftsredakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dr. Christiane Druml Juristin, Geschäftsführerin der Ethik-Kommission der Medizinischen Universität Wien sowie Vorsitzende der österreichischen Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt. Tobias Eichinger, M.A. Philosoph, wissenschaftlicher Mitarbeitern am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Boris Eßmann, M.A. Philosoph, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Verbundprojekt „Bernstein Focus for Neurotechnology Freiburg – Tübingen“ am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Dr. Julia Inthorn Mathematikerin und Philosophin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien. PD Dr. Andreas Klein Theologe, Universitätsassistent am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft, Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Wien, interner Mitarbeiter am Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien.

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Dipl. theol. Fabian Kliesch, M.D. Arzt und Theologe, klinischer Ethikberater an der Medizinischen Universitätsklinik Heidelberg. O. Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Ulrich H.J. Körtner Theologe, Vorstand des Instituts für Systematische Theologie und Religionswissenschaft, Evangelisch-Theologische Fakultät, Universität Wien und Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien, Mitglied der österreichischen Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt. Franziska Krause, M.A. Philosophin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Verbundprojekt „Chancen und Grenzen der Kundenorientierung in der Medizin“ am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Dr. Henriette Krug Ärztin und Theologin, Ärztin an der Klinik und Poliklinik für Neurologie, Charité Universitätsmedizin Berlin. Ilona Vera Szlezak, M.A. Philosophin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

Register Personenregister Arendt, Hannah 44 Aristoteles 43f., 110 Bauman, Zygmunt 47 Beauchamp, Tom L. 13, 107, 111, 115, 142– 145, 147 Bergson, Henri 45 Birnbacher, Dieter 82 Callahan, Daniel 102 Childress, James F. 13, 107, 111, 115, 142– 145, 147 Churchland, Patricia S. 162 Dörner, Klaus 151 Dubiel, Helmut 117, 120f., 127f. Foucault, Michel 43 Fuchs, Christoph 70 Habermas, Jürgen 44, 46 Haker, Hille 128 Jaspers, Karl 100 Kant, Immanuel 95, 97 Kjellén, Rudolf 42 Kraupp, Otto 34 Lemke, Thomas 42

Laclau, Ernesto 16, 30 Lesch, Walter 126, 132 Lindemann Nelson, Hilde 133 Luhmann, Niklas 48, 81, 101 Luria, Aleksandr Romanovich 129 MacIntyre, Alasdair 148 Merkel, Reinhard 113 Mill, John Stuart 12, 96f., 100 Nagel, Thomas 126 Nassehi, Armin 31 Nietzsche, Friedrich 45 Nüchtern, Michael 49 O’Neill, Onora 95, 100f. Pellegrino, Edmund 148–150 Roskies, Adina 152 Schopenhauer, Arthur 45 Schweitzer, Albert 45 Spaemann, Robert 103 Stäheli, Urs 31 Steger, Florian 128, 130 van den Daele, Wolfgang 44

Sachregister Anthropologie 56f., 60–64, 76, 83, 107, 131, 147, 149f. Arzneimittelprüfung 36, 38 Ärztekammer 11, 19, 21, 28, 65, 68–70 Arzt-Patienten-Verhältnis 11f., 67, 93f., 100f., 121, 135, 140, 146, 149f. Authentizität 125 Autonomie 12–14, 46, 84, 91, 94–100, 102f., 108–110, 142, 144f. Autorität 53, 68f., 97 Benefizienzprinzip 7, 13, 66, 108f., 112– 114, 142, 145, 147 Berufsordnung 19, 65f., 68f. Biopolitik 11, 41–43, 46f., 54f. Dammbruchargument 39

Deklaration von Helsinki 8, 19, 33f., 36 Demokratie 11, 45–47, 53f., 68 Diskriminierungsverbot 85 Ehrenamt 25, 27–30, 52 Ehrlichkeit 84 Eigenverantwortung 66 Einfühlungsvermögen 84 Einwilligungsfähigkeit 109f. Enhancement 12, 14, 77, 107, 112f., 142– 148, 150 Erlebnisgesellschaft 47 Ethikkomitee 7, 16, 18, 85 Ethikkommission 7, 10f., 16–42, 47, 50– 54, 85, 90 Ethos 29, 41, 65–67, 69, 101f., 135, 151

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Register

Evidenzbasierte Medizin (EbM) 113, 115, 122, 138f., 141 Forschungsethik 35, 40 Gerechtigkeit 13, 78, 108–112, 115, 142, 145f. Gleichbehandlung 59 Grundlagenforschung 36 Grundrecht 59 Hermeneutik 22 Hilfsbereitschaft 66 Hippokratischer Eid 7, 92, 102, 142 Homo oeconomicus 99 Informed Consent 14, 20, 84, 94, 96, 108, 110, 115 Institutionalisierung 7, 11, 33f., 37, 39, 46, 150f. Interdisziplinarität 9f., 14, 18, 21, 24, 35, 53, 69, 75, 78 Internationalisierung 11, 37f. In-Vitro-Fertilisation 72f., 78, 89 Kontinuität 69 Lebendspendekommission 18 Lebensqualität 12, 78, 82, 111, 113, 122, 134–137, 139f., 143 Legitimität 17, 69, 146f. Leitbild 11, 56–64, 85f. Menschenbild 57f., 60–63, 99, 121, 149 Menschenrecht 50, 59 Menschenwürde 44, 77 Narrativ 12, 119–122, 128–133, 141 Naturalismus 153, 160–163 Neuroethik 152f., 156–161, 166f. Neurotechnik 116, 124–133 Nichtregierungsorganisation (NGO) 47, 52 Nicht-Schadens-Prinzip 13, 66, 108f., 112, 114, 142, 145 Öffentlichkeit 38–40, 47, 51, 53, 55f., 87, 89 Palliative Care 82 Paternalismus 93, 96 Patientenverfügung 55f. Persönlichkeitsrecht 23 Phänomenologie 63 Präimplantationsdiagnostik (PID) 49, 52, 54, 70, 73, 77, 89 Pränataldiagnostik (PND) 72f.

Praxiserfahrung 35, 39 Prinzipienethik 116, 118, 123, 142, 144, 146, 149–151 Probandenaufklärung 24 Profession 7, 19, 29, 151 Professionalität 68f. Qualitätsmanagement 58 Repräsentativität 67–69 Risikogesellschaft 41 Rationalisierung 11, 81 Rationierung 81 Reproduktionsmedizin 39, 46, 74, 152 Ressourcenallokation 89 Sanktionierbarkeit 67 Schwangerschaftsabbruch 72 Selbstbestimmungsrecht 8, 45, 94f., 100 Selbstkontrolle 8, 19, 25f. slippery slope: siehe Dammbruchargument Solidarität 50 Stammzellforschung 18, 37f., 41, 49f., 52, 54, 77 Standesrecht 67 Sterbehilfe 18, 55, 62, 70–72 Subsidiarität 74f. Technikfolgenabschätzung 116 Tiefe Hirnstimulation 12, 104–125, 129f., 132, 134f., 138–140 Transparenz 34, 40, 69, 83, 86f., 138 Tugendethik 12, 142, 147, 149–151, 160 Unzufriedenheitsdilemma 134, 137–140 Verschwiegenheit 66, 84 Versuchsplan 34 Vertrauen 12, 39f., 88, 100–103, 163 Vorsorgeprinzip 48 Weltärztebund 19, 33 Wohltunsprinzip: siehe Benefizienzprinzip Zivilgesellschaft 47