Nicht gerettet, Versuche nach Heidegger [1 ed.] 3518242253, 9783518242254

Nachdem die Moderne in ihrem entgrenzten Experimentieren das System alteuropäischer Maßverhältnisse gesprengt hat, wird

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Nicht gerettet, Versuche nach Heidegger [1 ed.]
 3518242253, 9783518242254

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Peter Sloterdijk Nicht gerettet Versuche nach Heidegger Suhrkamp

Nachdem die Moderne in ihrem entgrenzten Experimentieren das System alteuropäischer Maßverhältnisse gesprengt hat, wird es die Weisheit der Zukunft sein, den Exzeß und die Vorsicht neu miteinander auszugleichen. Die Weltgesellschaft wird eine Gesellschaft der Vorsicht sein, oder sie wird nicht sein.

Von Peter Sloterdijk kann man zu Recht sagen, daß jeder seiner Aufsätze, jeder sei­ ner Vorträge auch ein ungeschriebenes Buch ist. Deshalb sind die hier vorgelegten Texte, die eine philosophische Physiogno­ mie Martin Heideggers skizzieren, auch als gesammelter Verzicht auf Ausführlichkeit zu bezeichnen. Um Heideggers Denken in der Ideen- und Problemgeschichte zu verorten, nähert sich Peter Sloterdijk dessen Werk durch Fragen: Wenn die westliche Philosophie aus dem Geist der Polis entstand, wie steht es dann um die Philosophietauglichkeit eines Mannes, der aus seiner trotzigen Anhänglichkeit an die ländliche Welt nie ein Geheimnis gemacht hat? Gibt es eine Provinzwahrheit, von der die weltoffene Stadt nichts weiß? Gibt es eine Feldwegund Hüttenwahrheit, die imstande wäre, die Universitäten mitsamt ihren Hoch­ sprachen und weltmächtigen Diskursen zu unterhöhlen? Von woher redet dieser selt­ same Professor, wenn er von seinem Frei­ burger Lehrstuhl aus den Anspruch er­ hebt, über die Geschichte abendländischer Metaphysik hinauszufragen?

Peter Sloterdijk, geboren 1947, ist Pröfessor für Ästhetik und Philosophie sowie Rektor an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und lehrt als Gastprofessor Philosophie an der Akademie der Bilden­ den Künste in Wien.

Zuletzt erschienen u.a. Im selben Boot. Versuch über die Hyperpolitik, 1995 Der starke Grund, zusammen zu sein. Erinnerungen an die Erfindung des Volkes, 1998 Sphären I. Blasen, 1998 Sphären II. Globen, 1999

Über die Verbesserung der guten Nachricht. Nietzsches fünftes »Evangelium«, 2000

Tau von den Bermudas. Über einige Regime der Einbildungskraft, 2001 Peter Sloterdijk/Hans-Jürgen Heinrichs: Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen, 2001

Umschlag: Hermann Michels und Regina Göllner Umschlagfoto: Digne Meller Marcovicz

SV

Peter Sloterdijk Nicht gerettet Versuche nach Heidegger

Suhrkamp

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2001 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Druck: sachsendruck GmbH, Plauen Printed in Germany Erste Auflage 2001 1 2 3 4 5 6 - 06 05 04 03 02 01

Inhalt Vorbemerkung ..............................................................

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Absturz und Kehre .....................................................

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Rede über Heideggers Denken in der Bewegung

Luhmann, Anwalt des Teufels......................................

82

Von der Erbsünde, dem Egoismus der Systeme und den neuen Ironien

Domestikation des Seins.............................................. 142 Die Verdeutlichung der Lichtung

Was ist Solidarität mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes?........................................................ 235 Notiz über kritische und übertriebene Theorie

Aletheia oder Die Lunte der Wahrheit ...................... 275 Zum Konzept einer Entbergungsgeschichte

Regeln für den Menschenpark ...................................

302

Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus

Kränkung durch Maschinen ...................

338

Zur Epochenbedeutung der neusten Medizintechnologie

Tatzeit des Ungeheuren ..............................................

367

Zur philosophischen Rechtfertigung des Künstlichen

Der selbstlose Revanchist ........................................... 388 Notiz über Cioran

»Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe« ............................................................ Marginalie zu Heideggers Lehre vom existentialen Ort

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Vorbemerkung Versuche nach Heidegger - der Untertitel dieser Samm­ lung von Vorträgen und Aufsätzen besagt schlicht, daß der Verfasser sich ohne eigenes Zutun in einer Zeitlage nach dem Denker befindet, so daß er den Mann und das Werk historisch nehmen und mit anderen eminenten Gestalten der intellektuellen Geschichte des 20. Jahrhunderts ver­ gleichen kann - wofür die hier wiedergegebenen Versuche über Luhmann und die ältere Kritische Theorie Beispiele liefern. Etwas weniger trivial will der Untertitel andeuten, daß nicht alles, was Heideggers Werk betrifft, der Vergan­ genheit angehört, sondern es immer noch möglich, ratsam, fruchtbar und eventuell skandalös ist, Heideggers Hinwei­ sen nachzugehen und manchen seiner Anregungen zu fol­ gen; diese Sachlage läßt sich am ehesten an der Menschenpark-Ke.de und mehr noch an deren Vervollständigung in Domestikation des Seins beobachten. Schließlich meint die Formel, daß sich nach Heidegger ein Theorie-Terrain auf­ tut, das man nur betritt, wenn man - mit Heidegger gegen Heidegger denkend, um die so bekannte wie folgenlose Wendung eines ehemaligen Heideggerlesers zu zitieren sich von der Hypnose des Meisters freigemacht hat, um nicht zuletzt dank seiner Stärken bei einer Position anzu­ kommen, die ihm, nach allem, was wir von ihm wissen, mißfallen hätte. Diese fern-nahe Haltung kommt am ehe­ sten in dem einleitenden Stück Absturz und Kehre zum Ausdruck, das ein intimes Portrait des Denkers versucht und ihn zugleich wie aus großer Ferne in ein Tableau alt­ europäischer Intellektualkultur einzeichnet. Was den Titel selbst angeht, erübrigt sich ein Kommentar. Der Gott, der uns noch retten könnte, läßt sich Zeit. Wenn die Infamierung Heideggers durch Enthüllungs- und Belastungsbücher wie das von Victor Fanas Heidegger und der Nationalsozialismus einen schätzenswerten Effekt hat, dann vielleicht den, daß durch sie die Frage nach den Mög­

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lichkeiten der Anknüpfung an einen anklagbaren Den­ ker radikalisiert wurde. Sie zwingen spätere Autoren, sich mehr als üblich über die Bedingungen von Lernbe­ ziehungen zwischen den philosophischen Generationen des 20. Jahrhunderts Rechenschaft zu geben. Sie bezeugen durch ihre Einseitigkeit, daß in dem anhaltenden »Zeitalter des Verdachts« die Kräfteverhältnisse zwischen Argwohn und Vertrauen noch immer aus der Balance sind. Wer heute bei Heidegger anknüpfen will, muß durch eine Flammen­ wand aus Verdächtigungen gehen, ohne im voraus die Ge­ wißheit zu haben, daß die Entdeckungen auf der anderen Seite des Feuers den Aufwand lohnen. Die vorliegenden Reden und Aufsätze halten Ausschau nach dem Punkt, an dem das Band gemeinsamen Lernens vielleicht doch wieder geknüpft werden kann, jenseits von Beschuldigung und Apologie. Nirgendwo wäre dies hilf­ reicher als in der »Sozialphilosophie« der Gegenwart, die nur zögernd aus dem Extremismusschatten heraustritt. Noch immer hat man nicht genug darauf geachtet, in wel­ chem Ausmaß der Terror der großen Politik die intel­ lektuelle Physiognomie des abgelaufenen Jahrhunderts geprägt hat; noch wartet seine Spiegelung in den terrormi­ metischen Gebilden großer und kritischer Theorie auf eine angemessene Darstellung. Ich deute an einigen Stellen des vorliegenden Buches an, was von einer solchen zu leisten wäre1; darüber hinaus versuche ich, einen Begriff davon zu geben, welcher Anstrengungen es bedürfen wird, die Fi­ xierungen des Denkens an Vorgaben aus dem »Zeitalter der Extreme« aufzulösen. Die Leistung Heideggers - und ihretwegen die Unentbehrlichkeit seiner Stimme im Ge­ spräch der gegenwärtigen mit den künftigen Zeiten - be­ steht nach meinem Dafürhalten darin, daß er unter dem Titel der Frage nach dem Sein zeitlebens an einer Logik der Verbindlichkeit gearbeitet hat, die, noch vor der Trennung zwischen Ontologie und Ethik, dem Widerspiel von los­ i Besonders S. 144 ff.

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reißenden und verpflichtenden Tendenzen im Dasein der Sterblichen und Geburtlichen auf der Spur blieb. Heideg­ gers Untersuchungen gehören damit in die Aszendenz einer Problemstellung, ernster als welche heute nichts ge­ dacht werden kann: in die Entfaltung einer Theorie der Teilhabeverhältnisse, die mit einer Kritik der ErnstfallVernunft zusammengeht.2 Die Essays dieses Bandes sind gesammelte Verzichte auf Ausführlichkeit. Sie stellen Ergebnisse der neunziger Jahre dar, mit Ausnahme des Textes Was ist Solidarität mit Meta­ physik im Augenblick ihres Sturzes?, der in seinen älteren Teilen auf einen aus Anlaß von Adornos zwanzigstem To­ destag 1989 in Rotterdam gehaltenen Vortrag zurückgeht. Entstanden sind sie zwischen 1993 (Aletheia oder Die Lunte der Wahrheit) und 2000 (Domestikation des Seins), in der Regel als Beiträge zu Konferenzen und Symposien. Daher sind sie allesamt elliptisch, wenn man die Ellipse als die Kunstform der Überstürzung definiert. Nur der dritte Text kommt aus inhaltlichen Gründen dem konventionel­ len Ausführlichkeitsideal ein wenig näher. In Fußnoten und Textergänzungen sind aktuellere Zusätze eingefügt. Neben der Rede Regeln für den Menschenpark, die durch ihre Herauslösung aus dem Kontext eine verzerrte Be­ kanntheit erlangt hat, sind auch einige andere Texte dieser Sammlung zerstreut publiziert, unter anderem in einer französischen Teilsammlung, die ältere Fassungen der Re­ den Absturz und Kehre, Kränkung durch Maschinen, Tat­ zeit des Ungeheuren sowie den Cioran-Essay enthält.3 Ich möchte erwähnen, daß, die beiden einleitenden Stücke, das über Heideggers Denken in der Bewegung, 1996, und der Luhmann-Essay, Anwalt des Teufels, 1999, ihre Bühnen­ taufe im Stadttheater zu Freiburg erlebt haben. Sie gehen 2 Zur Kritik der Ernstfallvernunft vgl. Bazon Brock, Die Re-Dekade. Kunst und Kultur der 80er Jahre, München 1990; sowie Heiner Mühl­ mann, Die Natur der Kulturen. Eine kulturgenetische Theorie, Heidel­ berg / New York 1996; ders., Krieg und Kultur. Das säuische Behagen in der Kultur. Über Bazon Brock, Köln 1998 3 L’heure du crime et le temps de l’œuvre d’art, Paris 2000

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auf Einladungen des Instituts für soziale Gegenwartsfra­ gen zurück, das in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre in Zusammenarbeit mit den Städtischen Bühnen Freiburg sowie dem damaligen Südwestfunk eine Serie von Mati­ neen unter dem Titel »Denker auf der Bühne« durchge­ führt hat. Für diese Provokationen und Einbindungen in anregende Kontexte bin ich den Freiburger Veranstaltern, insbesondere Christian Matthiessen, dankbar. Zum Zei­ chen dessen habe ich in beiden Texten manche rhetori­ schen Figuren, einschließlich der Anreden an die Damen und Herren, beibehalten. Über den internen Zusammenhang der Texte kann nur die Lektüre informieren. Ich möchte anmerken, daß ich es als eine Genugtuung empfinde, Zusammengehöriges im Zu­ sammenhang vorstellen zu können. Davon profitiert be­ sonders die Rede Regeln für den Menschenpark, die ich aus äußeren Gründen erneut nahezu unverändert (mit ge­ ringfügigen Verbesserungen stilistischer Natur) wiedergebe. Sie erscheint jetzt, wie geplant, neben ihren NachbarEssays Aletheia oder Die Lunte der Wahrheit und vor allem Kränkung durch Maschinen. Auch die Notiz Tatzeit des Ungeheuren gehört in ihre Nähe. Die mikrohistorische Humanismuskritik der Menschenparkrede ist nun mit der makrohistorischen Humanitätsdefinition des Kränkungs­ essays zusammen zu betrachten; die Bemerkungen zur »Anthropotechnik« werden durch Hinweise auf den Wahrheitskalender der westlichen Kultur und das Konti­ nuum der Phantasmen von technischer Naturnachahmung rekontextuiert. Die anthropologischen und technikphilo­ sophischen Implikationen der Menschenparkrede finden sich im Leitessay dieses Bandes, Domestikation des Seins. Die Verdeutlichung der Lichtung breiter entwickelt, der zunächst für ein internationales Kolloquium am Pariser Centre Georges Pompidou im März 2000 zu Fragen der Biotechnologie geschrieben wurde.4 Der Schlußabschnitt 4 Vgl. P. SI., La domestication de l’Être. Pour un éclaircissement de la clairière, Paris 2000.

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dieses Essays, Der operable Mensch, wurde auf verschiede­ nen Foren separat vorgetragen und diskutiert, so am Cen­ ter for European Studies der Harvard University, Boston, auf einer Konferenz zu Fragen der biotechnischen Men­ schenformung der UCLA und des Goethe-Instituts Los Angeles im Mai 2000, am Philosophischen Seminar der Universidad Autonoma von Madrid im Oktober und auf einem von der Zeitung Le Monde organisierten Forum über technophobe und technophile Tendenzen der moder­ nen Gesellschaft in Le Mans im November desselben Jah­ res sowie auf einer Tagung des Arbeitskreises Wissenschaft und Verantwortung der Carl Friedrich von WeizsäckerGesellschaft in München. Der Domestikationsaufsatz im ganzen resümiert eine Reihe von Vorlesungen und Semina­ ren aus den vergangenen Jahren, die der historischen An­ thropologie, der Paläopsychologie, der Medientheorie und der Philosophie der Kybernetik gewidmet waren. Im dritten Abschnitt des Vortrages Über kritische und übertriebene Theorie findet sich ein Hinweis auf die hyperbolische Dynamik philosophischer Texte, der viel­ leicht pro domo gelesen werden kann. Wenn man der rhe­ torischen Überlieferung folgend die Hyperbel als eine »schickliche Übertreibung des Wahren« versteht, was ist dann Philosophie anderes als die Suche nach einer für die Gegenwart überzeugenden Proportion zwischen dem Übertriebenen und dem Nicht-Übertriebenen?

Absturz und Kehre Rede über Heideggers Denken in der Bewegung

i Vorspiel auf dem Theater Meine Damen und Herren, vor einigen Jahren entdeckte ich - beinahe zufällig - bei einem Spaziergang über den Campus von Bard College, einer von Studierenden aus den gehobenen Mittelschichten favorisierten akademischen In­ stitution im Staat New York, hundert Meilen nördlich von New York City, am rechten Hochufer des Hudson River gelegen, das Grab von Hannah Arendt, jener bewunderns­ werten und provozierenden Philosophin, deren frühe Liebe zu Martin Heidegger heute nicht nur ein veröffent­ lichtes Geheimnis ist, sondern schon als ein Kapitel der neueren Geistesgeschichte dargestellt werden konnte - zu­ letzt in Rüdiger Safranskis zu Recht viel gelobter Heideggerbiographie. Hannah Arendts Grab fällt auf durch ungewöhnliche Schlichtheit - wenn man so widersprüch­ lich reden darf: eine Steinplatte zu ebener Erde mit ihrem Namen und den Lebensdaten; ein Schritt daneben die Grabplatte ihres Mannes, des Philosophen Heinrich Blü­ cher, ebenso schlicht, zurückgenommen auf die Dreiheit: Name, Jahreszahlen, Stein. Was mich an Hannah Arendts Grabstätte berührte, war das Außergewöhnliche ihrer Lage. Ich meine nicht die Unscheinbarkeit des Ortes, nicht den würdevollen Mangel an Aufheben, den diese beiden Steine im Boden bekundeten; was mich frappierte, war der Umstand, daß ich mich offensichtlich auf einem Campusfriedhof befand, auf dem die früheren Präsidenten des Colleges und einige Professoren, die sich wohl mit der Hochschule besonders verbunden gefühlt hatten, bestattet waren. Eine kleine Toteninsel inmitten des College-Geländes, ein locus amoenus, mit Nadelbäumen und immergrü­ nen Büschen bepflanzt, eine meditative Enklave, kaum

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hundert Schritte von der Library entfernt. Der kleine Friedhof war im übrigen ein nahezu unmarkierter Raum, ohne Umfassungsmauer, als gäbe es für die Bewohner die­ ser Gegend keinen Grund, Lebende und Tote so zu unter­ scheiden, daß zwischen ihnen eine Trennwand nötig wäre. Ein Professorenfriedhof also - ich muß gestehen, daß mich bei diesem Anblick ein gewisses Staunen überkam, ein Staunen, das ich im Rückblick alteuropäisch nennen möch­ te und an dem Befremden und Erheiterung etwa gleich be­ teiligt waren. Ich war damals dabei, mir erste Gedanken darüber zu machen, ob ich einem zu erwartenden Ruf auf einen Lehrstuhl in Deutschland Folge leisten sollte. Hier in Amerika wurde mir nun diskret gezeigt, wie weit es Professoren bringen können. Mir war bis dahin nicht klar gewesen, daß die Ewigkeit einer Senatssitzung gleichen kann - vorausgesetzt, man sei zu Lebzeiten ein Mitglied der amerikanischen akademia gewesen. Welcher europäi­ sche Hochschullehrer würde sich heute auf einem univer­ sitätseigenen Friedhof bestatten lassen? Welche Hoch­ schule in der Alten Welt besitzt noch soviel Corpsgeist und Gemeinsinn, daß sie sich als eine virtuelle Gemeinde aus toten und lebenden Lehrern verkörpert, eben wie es der kleine Campusfriedhof am Hudson-River so deutlich zeigte? Wer wäre im heutigen Europa mit seinem Lehramt so identifiziert, daß er seinen Ruf über das Ende hinaus an­ nehmen und unter lauter Kollegen, lauter Schulmeistern, begraben werden wollte? Angesichts des Grabes von Hannah Arendt sind mir einige Aspekte der amerikanischen Raumordnung etwas ver­ ständlicher geworden. Ich habe gelernt, mindestens drei Grenzen aufmerksamer als zuvor zu beachten, die in den USA manchmal anders gezogen werden als in der Alten Welt: die Grenze zwischen Stadt und Landschaft; die Grenze zwischen Universität und Stadt; schließlich die Grenze zwischen Friedhof und Lebenswelt. Mir wurde deutlich, daß die Philosophin, indem sie sich neben ihrem Mann, einem charismatischen Lehrer, der dem College

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Jahrzehnte angehört hatte, bestatten ließ, kein Dorfbe­ gräbnis gewählt hatte - wie es ihr einstiger Marburger Lehrer und Geliebter, Martin Heidegger, tat, als er den Meßkircher Gottesacker als letzte Ruhestätte bestimmte. Nach statistischen Kriterien gibt es keine tiefere Provinz als Annandale-on-Hudson; man kann sich kaum einen Ort vorstellen, wo das Dorf, gleichsam die erste These der Menschheit gegenüber der Natur, sich so vorläufig und na­ hezu hilflos wie hier von seiner Landschaft absetzt. Und doch ist der Campusfriedhof kein Dorffriedhof. Der Cam­ pus ist die vom Stadtkörper abstrahierte Universität; die Universität ihrerseits verkörpert idealtypisch die Stelle, wo Städte am meisten städtisch sind. Campus, Akademie, Universität, College: Das sind Na­ men von Institutionen oder Räumen, die für den Einbruch der durch Theorie geweiteten Welt in die Städte zeugen. Sie zeigen an, wo schlichte Menschensiedlungen für große Zusammenhänge verwendet wurden. Wo Universitäten und Akademien sich niederließen, dort gingen Provinz­ städte potentiell in Weltstädte über. Die Vereinigten Staa­ ten von Amerika, die hyperbolische europäische Kolonie, haben es sogar fertiggebracht, das logische Herz der Stadtvom Stadtkörper zu trennen und es unter dem Namen Campus, Studienfeld, zu isolieren - nicht selten wie eine Kulisse in einer Landschaft, in der die Professoren als die ersten Menschen auftauchten. Ich will damit sagen, daß Hannah Arendts Grab, anders als das Martin Heideggers, raumlogisch inmitten der Welt­ stadt liegt, im Zentrum jenes akademischen Raums, in dem okzidentale Städte zu Weltstädten und Landeskinder zu Weltbürgern werden könnten, wenn sie die hohen Schulen nicht als Fortsetzungen der Provinz mißbrauchten. Die Emigrantin Hannah Arendt hat so gesehen den europäi­ schen Boden nie verlassen; sie war, als sie in den dreißiger Jahren zuerst nach Frankreich, dann in die USA emi­ grierte, lediglich aus einer verpesteten Provinz in die offe­ nere Zone umgezogen - aus dem nazibesetzten Europa in U

eine Metropole, die manifest New York hieß, deren laten­ ter Name aber nicht anders als Athen lauten konnte. Athen war Hannah Arendts eigentliches Einwanderungsland, zum einen, weil die erste Akademiestadt die Umformatie­ rung des Denkens beim Übergang vom Dorf zur Stadt symbolisiert, zum anderen weil das griechische Gastrecht gleichsam die notwendigen Hilfsmittel für jüdische und andere Exile bereithält. So kommt es, daß die Philosophin auf einem der nobelsten Friedhöfe der Erde bestattet liegt, am Rande des Campus, der die Welt bedeutet, in einem Winkel, der bei uns nicht einmal Dorf heißen dürfte, einem Weiler, der, weil er ein Teil von Athen ist, dennoch die Uni­ versitas in sich trägt. Meine Damen und Herren, ich hätte es mir nicht erlaubt, in dieser typisierenden Weise an Hannah Arendts trans­ atlantische letzte Ruhestätte zu erinnern, wenn ich nicht vorhätte, Martin Heideggers Ort in der Ideen- und Pro­ blemgeschichte des zuendegehenden Jahrhunderts aus dem Kontrast zu dieser Ortswahl zu charakterisieren. Ich hätte diesen Hinweis nicht gewagt, wenn ich nicht der Meinung wäre, daß Heideggers Position sofort plastisch erkennbar wird, wenn wir die imaginäre Linie denken, die von dem Grab auf dem amerikanischen Campus zu dem Grab auf dem Meßkircher Friedhof führt. Ich zögere nicht zu behaupten, daß Heideggers Begräbnisanordnungen auch in philosophischer Hinsicht testamentarische Bedeu­ tung besitzen. Wenn sich der Meister aus Deutschland für seine letzte Ruhe keinen anderen Platz wählte als den Kirchhof der dörflichen Kleinstadt, deren Hineingebore­ ner er bleiben wollte - unter einem Grabstein, den kein Kreuz, sondern ein kleiner Stern verziert -, so erscheint darin eine Information, die nur ignoriert, wer die Lektio­ nen, die im Verhalten liegen, von vorneherein nicht wahr­ haben will. Man muß es explizit, als wäre es ein Lehrsatz, zur Kenntnis nehmen: Professor Heideggers Grab findet sich nicht an einem Campus, sondern auf einem ländlichen Gottesacker, nicht in seiner Universitätsstadt, sondern in

dem Winkelstädtchen mit dem frommen Namen, nicht in der Nähe der Hörsäle und Bibliotheken, wo der Philosoph gewirkt hatte, sondern nicht weit von den Häusern und Feldern seiner Kindheit, als habe der ordentliche Professor der Philosophie an der hochberühmten Albert-LudwigsUniversität auch in extremis den Umzug in die städtische Welt verweigert. Ich werde im folgenden eine philosophische Physio­ gnomie des Bewegungsdenkers Heidegger skizzieren, die von diesem Befund ihren Ausgang nimmt: Der Denker, den viele, ohne Zweifel zu Recht, für einen der Beweger der Philosophie in diesem abgelaufenen 20. Jahrhundert halten, ist seiner persönlichen Dynamik nach ein Umzugs­ verweigerer, der nur in der Nähe zu seinen ersten Land­ schaften bei sich selbst sein kann und der auch als Hoch­ schullehrer nie wirklich die Umsiedlung in die Stadt vollzieht, in der er seinen Lehrstuhl innehatte. Man sieht, auf welchen Widerspruch diese Diagnose auf­ merksam machen möchte. Denn wenn die westliche Philo­ sophie wirklich, wie gelegentlich behauptet wurde, eine Emergenz aus dem Stadtgeist war, Aufbruch der Stadt zur Weltfunktion und Einbruch von Großweltdimensionen in die Lokalseele, wie ist es dann um das theoretische Tempe­ rament eines Mannes bestellt, der seine Stadtscheu und seine trotzige Anhänglichkeit an die Geister der ländlichen Welt nie verhehlte? Von wo her redet dieser seltsame Pro­ fessor, wenn er von seinem Freiburger Lehrstuhl aus den Anspruch erhebt, über die Geschichte und das Verhängnis abendländischer Metaphysik hinauszufragen? Welche Pro­ vinz meint Heidegger, wenn er es für einen philosophisch relevanten Akt hält, daß ausgerechnet er in ihr verbleibt, statt Rufen in die Großstadt zu folgen? Gibt es denn eine Provinzwahrheit, von der die weltoffene Stadt nichts weiß? Existiert eine Feldweg- und Hüttenwahrheit, die imstande wäre, die Universitäten mitsamt ihren Hochspra­ chen und weltmächtigen Diskursen zu unterhöhlen? Auf diese Fragen will ich hier keine Antworten suchen. Si16

cher scheint mir nur: Heidegger ist kein Denker auf der Bühne - zumindest nicht, wenn man von einem alltags­ sprachlichen Verständnis dieser Formel ausgeht.1 Er ist es in einem doppelten Sinn nicht: zum einen nicht, weil Thea­ ter und Bühnen in der Stadtreligion und in der städtischen Kultur zu Hause sind, in der politischen Formation also, der gegenüber sich Heidegger, obschon Hochschullehrer, hartnäckig wie ein Besucher vom Land verhält - günstig­ stenfalls wie ein Botschafter aus einer stadtlosen Gegend oder aus einer Problemgemeinschaft, die nicht im Raum, sondern in der Zeit gegründet ist; zum zweiten nicht, weil jede Bühne, metaphorisch wie real, eine Zentralposition, eine Exponierung an der vorderen Front der Sichtbarkeit impliziert. Das aber ist eine Lage, die Heidegger, selbst auf der Höhe des Ruhms, seiner gesamten mentalen Disposi­ tion nach nie im Ernst begehren konnte, weil sein Platz, innerlich wie äußerlich, der eines Randgängers und Mitar­ beiters blieb. Er denkt nicht auf der Bühne, sondern in der Kulisse, allenfalls auf der Seitenbühne; oder, auf katholi­ sche Verhältnisse angewandt, nicht vor dem Hochaltar, sondern in der Sakristei. Durch Prägungen, die älter sind als sein Denken, ist er zu der Überzeugung gelangt, daß das Sichtbare, Auffällige, in die Mitte Gestellte von der un­ scheinbaren Vorbereitung durch Helfer hinter der Bühne und auf der Seite lebt. Ein solcher Helfer ist auch er, und das will er sein: ein Wegbereiter, ein Sekundant, einer, der sich einfügt in ein größeres Geschehen - auf keinen Fall, oder doch nur momentan und ungeschickt, der Held im Mittelpunkt der Bühne. Nie ist Heidegger wirklich ein Protagonist, der sich in exemplarischen Kämpfen dem Heldenrisiko, von allen Seiten sichtbar zu sein, aussetzt. Momente der Schein-Ergriffenheit können daran nichts ändern. In ihm wirkt eine verschlossene Kraft, die sich we­ i Die Wendung verweist auf eine Vortragsreihe, die durch den Südwest­ funk Baden-Baden und die Städtischen Bühnen Freiburg in Zusammen­ arbeit mit dem Institut für soziale Gegenwartsfragen, Freiburg, im Gro­ ßen Haus der Städtischen Bühnen von 1995 an durchgeführt wurde.

der exhibiert noch erklärt, geschweige denn bekennt und entschuldigt. Er neigte dazu, in Qual und Beschämung zu verstummen, und kein Gott gab ihm zu sagen, wie er lei­ det. Mir scheint es wichtig, in allem, was Heideggers geistige Physiognomie anbelangt, die Tätigkeit seines Vaters, der als Mesner diente, in Rechnung zu stellen. Wenn Hugo Ott in seinen biographischen Studien plausibel gemacht hat, daß manches in Heideggers Denken nur als Metastase des südwestdeutschen Altkatholizismus um 1900 verständlich wird, so bleibt dem hinzuzufügen, daß es nicht so sehr ein Priesterkatholizismus, also ein Hochaltar- und Mittel­ schiffkatholizismus gewesen ist, der Heideggers Habitus geformt hat; es war eher ein Seitenschiffkatholizismus, ein Mesner- und Ministrantenkatholizismus, eine Religiosität des stillen und geltungsbedürftigen Helfers am Rand. Als einen Denker auf der Bühne könnte man Heidegger nur in einem sehr prekären Sinn bezeichnen, indem man ihm das Phantasma von einem bevorstehenden Ausnahme­ zustand unterstellt, der ihn zu seiner Bestimmung bringen würde. Man darf das vielleicht tun, wenn man die Vermu­ tung gelten läßt, daß der Mesnersohn nicht anders konnte, als den Tagtraum zu träumen, daß einst - durch einen wundersamen, tief begründeten Umschwung - der die­ nende Vater sich in den amtierenden Priester verwandeln müsse, so daß von einem nahen, schicksalhaften Tag an alle Macht von der Sakristei ausgehen würde. Man hätte weiter anzunehmen, daß in dem Sohn die Phantasie auftreten mußte, er selbst habe den Ruf, das Erbe des ermächtigten Mesners zu übernehmen. Nur in diesem Sinn ließe sich Heideggers schemenhafte politische Philosophie - vor al­ lem sein linkisches Agieren in der elf Monate währenden Rektoratszeit von 1933 bis 1934 und sein Ministrieren für den Schicksalskanzler im fernen Berlin - als hochamtför­ miges Denken auf einer phantasmatischen Bühne deuten. Er wäre hierbei, als Mesner an der Macht, zum liturgischen Revolutionär geworden, der einem unerlösten Volk er­ 18

staunlich alte Sakramente spendet - unkatholische Hostien und vorsokratischen Wein. In diesem heterodoxen Ritus würde das bisher Unscheinbare triumphal nach vorn ge­ führt, was Beiwerk war, wäre Hauptsache geworden, der Vorhof verwandelte sich in den Zentralbau, die Sakristei würde zum Hörsaal und der Hörsaal zur logischen Reichskanzlei. Um ein solches Phantasma plausibel zu ma­ chen, ist nur eine zusätzliche Unterstellung nötig, die, wie ich meine, einiges für sich hat. Man gewinnt diese durch eine theaterwissenschaftliche Interpretation der katho­ lischen Messe. Demnach sind Messe und Hochamt ka­ tholischen Stils Mysterienspiele in typologischer Nach­ barschaft und historischer Nachfolge der athenischen Dionysien. Läßt man dies gelten, so erschiene die Messe als die wieder ganz in den Ritus zurückgenommene Tragö­ die, der entdramatisierte Bocksgesang - statisch und ohne Ausdrucksaspekt, zum Anschwellen ebenso ungeeignet wie zum Abschwellen. Im Licht dieser Analogie wird be­ greiflich, warum es nie zur Entfaltung der Messe in eine katholische Theaterreligion kommen konnte: Der Katho­ lizismus schreckte vor der Einführung des zweiten Schau­ spielers in die Messe zurück - er fand nie die Kraft, die kühne Neuerung des Aischylos zu wiederholen, nach der sich die dramatische Genialität der griechischen Theater­ autoren, die damals die theologoi hießen, erst Bahn zu bre­ chen vermochte. Der Bocksgesang, katholisch, mußte priesterzentriert und hierarchisch bleiben, er konnte von der Monarchie des ersten Schauspielers in der Messe nicht lassen, kein zweites Individuum löste sich aus dem Chor. So liegt auf der Hand, weshalb der Katholizismus den Übergang vom Meßdrama zur Kathedraltheaterkultur ver­ säumte - vielleicht zum Schaden der europäischen Zivili­ sation im ganzen. Wenn es nun zutrifft, daß Heidegger halbbewußt und unbewußt Anstalten dazu traf, von der Sakristei aus den Altarraum zu übernehmen, um einen un­ geheuren Mesner neben den ausgehöhlten Priester zu stel­ len, einen Denk-Mesner, der zugleich das Rektorat einer i9

mobilisierten Hochschule innehätte, dann entspräche dies - doch immer nur auf der Bühne des Phantasmas - von weitem einer aischyleischen Reform für den Katholi­ zismus und der Einführung des zweiten Schauspielers in die Messe. Es bleibt also dabei: Heidegger ist kein Denker auf der Bühne. Das ist keine Überraschungsaussage, sondern läuft auf die gut konsolidierte Feststellung hinaus, daß europäische Philosophen, auch solche des 20. Jahrhunderts - sofern sie in der akademischen Sukzession stehen -, den bei Platon vollzogenen Bruch der Philosophie mit dem Theater in der Regel voraussetzen. Sie alle sind keine Denker auf der Bühne und auch damit zufrieden, keine zu sein, weil sie von Platon die ruhige Überzeugung haben erben können, daß Gott in privilegierten Beziehungen zu Denkern in der Akademie oder im Peripatos steht und sich die Wahrheit den erfinderischen, viel-lügenden Theaterleuten nicht mehr zeigt. Wie es dazu kommen konnte, daß europäische Philoso­ phen sich ex officio als Denker auf einer Nicht-Bühne ver­ stehen durften, und das über mehr als zweitausend Jahre hin, ist eine kurze Erklärung wert. Ich will eine solche an­ deuten, indem ich an die athenischen Schicksals]ahre 387 und 386 vor Christus erinnere, in denen sich in der von Krieg, Pest und Bürgerkrieg schwer gezeichneten Stadt zwei zunächst unscheinbare Ereignisse zutrugen; sie sind beide von weltgeschichtlicher Tragweite, und beide sind intim miteinander verbunden - Ereignisse im übrigen, die meines Wissens noch nirgendwo in ihrem Zusammenhang überdacht wurden. Das erste ist weithin bekannt, weil es zur Vita Platons gehört und die Urgeschichte der Alten Akademie direkt angeht; das zweite ist fast unbekannt und betrifft den Augenblick, in dem das Theater - wenn man so sagen darf - geschichtlich wird. Im Jahr 387 war Platon von seiner Reise nach Unteritalien, wo er Kontakt mit den Pythagoräern gesucht hatte, nach Athen zurückgekehrt. Es war die Reise, die auch als die er­

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ste sizilianische bekannt ist und die dem damals vierzigjäh­ rigen Philosophen die Bekanntschaft mit dem König von Syrakus, Dionysios L, eingebracht hatte - eine Bekannt­ schaft, die zur Folge hatte, daß der Philosoph später bei al­ lem, was an diesen Namen erinnerte, eine nervöse Reser­ viertheit an den Tag legen sollte. Zurück von Syrakus, kaufte Platon in Athen, soviel wir wissen, ein Grundstück am Rand der Stadt, das einem Halbgott namens Akademos geweiht war, um darauf eine neue Art von Schule zu eröff­ nen. Legende und Wirklichkeit dürften in der Tatsache Übereinkommen, daß der Erfolg dieses Unternehmens so­ fort ein außerordentlicher war. Auch wenn die Heutigen es nach ihren Erfahrungen kaum glauben werden: die erste der Akademien war ein Ort, wo das Wort Schule soviel wie Bezauberung durch Unterricht bedeutet haben muß. Nur so läßt sich verstehen, warum sich der Garten Platons zu einem Magneten für begabte junge Leute entwickelte, die halb von verklärenden Erkenntnissen und halb von städtischen Laufbahnen träumten, in der Hauptsache Jünglinge aus Athens Mittel- und Oberschichten, nicht wenige mit homoerotischen Neigungen, wie es dem didak­ tischen Konzept der Anstalt entsprach. Ich will für den Augenblick über den Erfolg dieser Schule nicht mehr sa­ gen, als daß sie nach fast eintausend Jahren durch einen christlichen Kaiser, von Konstantinopel aus, mit Gewalt geschlossen werden sollte - um nach einer Unterbrechung von nochmals tausend Jahren in der florentinischen Re­ naissance reanimiert zu werden. Man darf nebenbei aus diesen Daten den Schluß ziehen, daß in Europa die Idee ei­ ner Gemeinschaft der Denkenden um einiges älter ist als die christliche Kirche, die eine Gemeinschaft der Heiligen oder doch wenigstens der Gläubigen sein will, und um vie­ les älter als der neuzeitliche Staat, der sich als eine Gemein­ schaft von Vorteilsnehmern aus bürgerlichen Rechtsver­ hältnissen vorstellt. Die einzige soziale Formation der eu­ ropäischen Tradition, die der Akademie den Altersvorrang - und in mancher Hinsicht auch den Anspruch auf das 21

Prius in Fragen des öffentlichen Vernunftgebrauchs streitig machen könnte, ist die der diskutierenden Volks­ versammlung Athens, die wohl den ältesten Versuch dar­ stellt, der kollektiven Intelligenz eine politische Gestalt zu geben. Seit Platon ist demnach auch der Streit zwischen Schulweisheit und Volksklugheit institutionalisiert. Das zweite Ereignis hat sich wenige Monate nach Platons Erwerb des Akademiegartens zugetragen - es gehört zu den Geheimdaten der europäischen Kultur. Man muß an­ nehmen, daß ihm lange Debatten vorausgegangen waren, die einem literarisch Interessierten und politisch fast Ver­ zweifelten wie Platon unmöglich verborgen geblieben sein können, obschon sich diese Diskussionen zum größten Teil inmitten einer elitären Athener Gruppe abgespielt ha­ ben mögen, bestehend aus den sogenannten Choregen, rei­ chen Bürgern also, die für die Finanzierung der »Bocks­ gesänge«, der tragischen Festspiele zu Ehren des Gottes, zuständig waren. Diese Choregen, die Sponsoren des athe­ nischen Theaters, trafen im Jahr 386, nahezu gleichzeitig mit Platons Installierung seines logisch-erotischen Lehr­ hauses, unter dem Beifall der Bürgerschaft die Entschei­ dung, die Wiederaufführung von Stücken, die bei früheren Dionysos-Festspielen besonders erfolgreich gewesen wa­ ren, für die Zukunft zu gestatten. Es ist für zeitgenössische Menschen nahezu unmöglich, sich die Tragweite dieses Beschlusses vor Augen zu brin­ gen - schon deswegen, weil sich kein moderner Leser oder Autor zurückversetzen kann in eine Zeit, in der die Regel galt, daß jedes Stück, das poetisch vollkommenste wie das kathartisch wirkungsmächtigste, nur ein einziges Mal ge­ spielt werden durfte. Die Erinnerung an diese Vorschrift genügt, um zu zeigen, daß die alteuropäische dramatische Poesie nicht unter dem Vorzeichen von autonomer Kunst und Literatur begonnen hatte, sondern als politische Kult­ übung und stadtreligiöse Gemeinschaftsanstrengung. Als im Jahr 386 die athenische Bürgerschaft die Wiederauffüh­ rung alter Stücke allgemein zuzulassen beschloß - gewiß 22

auch unter dem Eindruck, daß der Standard der Kult­ stückproduktion nach dem heroischen Zeitalter von So­ phokles, Aischylos und Euripides jäh abzufallen begann -, da betätigte sie sich, kaum wissend, was sie tat, im eigent­ lichen Sinn des Wortes als Kulturrevolutionär. Die Bürger Athens setzten die Ambivalenz in die Welt, die seither al­ len hofpflichtigen, später verbürgerlichten, zuletzt musealisierten und massenmediatisierten Kult- und Kunstübun­ gen anhaftet: daß das, was Religion war, zum ästhetischen Phänomen wird, indes die Kunst sich auf den Weg macht, die Religion zu ersetzen. Die Religion ersetzen aber heißt sie parodieren, sprich: sie um ihren Ernst oder ihre Uner­ setzlichkeit bringen. Das Wiederaufführungsrecht für die älteren Kultstücke zieht etwas nach sich, was man heute eine Umwälzung der Medienlandschaft nennen würde und Medien waren in jener Zeit, damit wir uns recht ver­ stehen, immer und vor allem religiöse, besser gesagt reli­ gionspolitische und gruppenformende Medien. Bei ihnen lag die Macht, Menschen in einer Weise zu stimmen und zu prägen, daß sie zu halbwegs konsonant mitklingenden Mitgliedern ihrer sozialen Ensembles werden konnten. Durch das, was man in Europa mit dem römisch tingierten Terminus Religion benennt, regulierten alle älteren Gesell­ schaften ihre tonale Synthese, man könnte auch sagen ihre mytho-musikalische Integration und ihre moralische Ba­ lance. Mit der Entscheidung von 386 gingen die Athener Kulturpolitiker das Risiko ein, die Stimmungsverhältnisse in ihrer Stadt auf ungewisse und potentiell gefährliche Weise zu verändern. Es scheint, daß Platon der erste war, der die Bedeutung dieses Einschnitts begriff und aus präziser Einsicht in die neuen Bildungsbedingungen gegen sie reagierte; er wurde dadurch zum ersten Konservativen. Er stemmte sich sofort gegen die Gefahr einer nihilistisch-ästhetischen Erziehung durch das semi-religiöse, mythisch-veristische RepertoireTheater. Die Politeia ist das große Zeugnis für Platons Widerstand gegen das Abgleiten der Polis in deregulierte

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Erziehungsverhältnisse. Was wir bis heute Philosophie nennen, ist mittelbar und unmittelbar eine Folge aus Pla­ tons neuer Medienoffensive. Sie bedeutet die Erfin­ dung der Schule aus dem Geist des Widerstands gegen das entgrenzte Theater. Und man versteht leicht, gerade als Bewunderer griechischer Bühnenkunst, worum es dem Philosophen zu tun war, wenn man sich der wunderbaren Mühe unterzieht, die größten der überlieferten klassischen Stücke nachzubuchstabieren2, vor allem im Blick auf ihre theologischen Botschaften und deren mögliche Wirkungen auf jene Jugendlichen, die in der Zeit des intakten tragi­ schen Kults eo ipso von den einmaligen Aufführungen aus­ geschlossen waren und die den neuen Verhältnissen ent­ sprechend doch früher oder später Zugang zu den Stücken erhalten würden. Man sagt wohl nicht zuviel, wenn man bemerkt, daß noch der heutige Leser der Tragödien in eine von fragwürdigen Göttern bevölkerte Landschaft des metaphysischen Grau­ ens gerät. Wer das Stück Aias des Sophokles betrachtet, lernt eine Göttin Athene kennen, die in undurchdring­ licher Bosheit den verblendeten Krieger neckt und ihn höhnisch mutwillig in sein Verderben hetzt; wer sich den Eumeniden des Aischylos widmet, begegnet einem Gott Apollon, der den Orestes zum Muttermord angestiftet hatte, um danach wie ein skrupelloser Strafverteidiger für seinen Mandanten den Freispruch zu fordern. Wer die Bakchen des Euripides studiert, wohnt der Offenbarung eines Dionysos bei, der an blutiger Rache Genugtuung fin­ det und es für richtig hält, seine Gottheit dadurch zu er­ weisen, daß er einen Leugner derselben durch ein Rudel von brünstigen Frauen zerreißen läßt, bis am Ende eine Mutter den blutigen Kopf des eigenen Sohnes wie einen irrwitzigen Gottesbeweis über die offene Bühne trägt. Sol­ che Bilder mögen in der Zeit der Einmalaufführungen wie 2 Einen Auszug aus meinen Karlsruher Vorlesungen über das griechische Drama bietet das Tonbuch auf 2 CDs: P. Sl., Ödipus oder Das zweite Orakel, Köln 1999.

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numinose Blitze in einem Publikum aus erwachsenen Zuschauern eingeschlagen haben, Schauder und Jammer, phöbos und éleos provozierend, zur Erinnerung an die Überlegenheit des Göttlichen über das Menschliche und als Ermahnung der Sterblichen zur Fügung unter eine un­ vergleichliche Gewalt. Aber wer wollte die korrumpieren­ den Wirkungen solcher immer wieder aufgeführten theo­ logischen Gewaltdarstellungen unter Kontrolle halten? Wer sollte für die Schäden im Gemeinwesen aufkommen, wenn Entgeisterungen und Seelenverwüstungen durch das die Götter kompromittierende Theater um sich greifen? Platon scheint der erste gewesen zu sein, der sich den poli­ tisch-pädagogischen Ernst der neuen Lage auch in den fer­ neren Konsequenzen zu vergegenwärtigen versuchte. So wie die heutige Gesellschaft Grund hat, sich Sorgen zu ma­ chen über die informatische Pest, die in Form von endlos wiederholbaren Gewaltbildern und Prostitutionsappellen durch die Massenmedien verbreitet wird, so sah Platon im Auftreten von allzumenschlichen, ja bestialisch engagier­ ten Göttern in den Medien seiner Zeit eine große Gefahr für das Gemeinwesen. Sein Kampf gegen die Dichter, die Theater-Theologen, war eigentlich eine politisch-theologi­ sche Schutzmaßnahme für die bedrohte Stadt, um die blas­ phemische Bloßstellung des Göttlichen im neuerdings eta­ blierten Wiederaufführungstheater aufzufangen.3 Damals, so läßt sich vermuten, ging die epochale Idee einer philoso­ phischen Schule vor ihm auf, einer Schule, die sich dem Gott als ein neues Medium anbietet, durch das sich dieser, wie es ihm zukam, in seiner wiederhergestellten Bestheit zu offenbaren vermöchte: als unbedingte Wahrheit und 3 Auf den kritischen Moment, wenn aus dem Medium der Kultgemeinde das politische Massenmedium Theater wird, zielt Paul Virilios platonisierende These: »Bereits auf der Bühne des antiken Theaters hat man es also mit einem Plagiat der sichtbaren Welt zu tun, und das erste Massen­ medium, dessen Funktion in der Lüftung des Geheimnisses und in der Meinungsbildung besteht, ist nichts anderes als eine Verfälschung der Wirklichkeit...« (Paul Virilio, Die Eroberung des Körpers, München T994> S. 37)

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Gutheit, unter bewußter Absehung von den grausamen Interventionen der Dichtergötter in der Menschenwelt. Es ist Platon somit um eine Aufhellung der Offenbarung zu tun, und diese wird künftig der Philosophie anvertraut. Bei den Pythagoräern, den frommen Logikern, hatte Platon soeben erlebt, daß die philosophische Sekte der Wahrheits­ sucher sich in der Sache auf dem richtigen Weg befinden mochte, sich aber durch die vom allgemeinen Leben abge­ spaltene Form ihrer Lehren ins Unrecht setzte. Auf der Heimreise faßte Platon einen folgenreichen Gedanken: Wo Sekte war, soll Schule werden. Durch die Schule gelangt die Wahrheit zurück in die Stadt - kaum anders als das Pferd nach Troja, bemannt mit subversiven Befragern des gewöhnlichen Lebens. Im Namen der Wahrheit greift die Sekte der Lehrer nach der Macht. Philosophie als Schulmacht ist aber vor allem eines: ein neues Medium - genauer: ein neues Medium der Théopha­ nie. Platon brachte es in einem Augenblick zum Zuge, in der eine bloße Erziehung durch Mythos und Schauspiel die akute Gefahr kollektiver Affektverwahrlosungen her­ aufbeschwor. Als neues Medium ist Philosophie prononciertes Nicht-Theater; ihr Programm ist Nicht-Darstel­ lung und Nicht-Bloßstellung des Gottes auf der Bühne; ihre Ambition ist es, dem Gott einen gereinigten, einen verinnerlichten und logisierten Kanal für subtilere Epipha­ nien anzubieten. Das ist der Grund, warum die Philoso­ phen - bis hin zu Heidegger - , wie eben gesagt, zumeist und selbstverständlich Denker auf der Nicht-Bühne sind, denn sie sind, solange sie in ihrem Fach noch etwas taugen, bekennend und glücklich akademisch. Falls jemand fragen sollte, was das denn sein mag, eine glückliche Akademie, dann lautet die Antwort: nichts anderes als eine Schule, die von der Überzeugung beseelt wird, daß sie der bevorzugte Erscheinungsraum des Gottes sei, der verbesserte Tempel, das aufgehellte Orakel, das überwundene Theater, das prä­ zisierte Mysterium. In diesem Sinn ist die älteste Akademie vollkommen glücklich; sie ist ihrer neuen theophanischen

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Vollmachten wie eines evangelischen Geheimnisses sicher; sie würde es laut proklamieren, wäre nicht evident, daß starke Worte die subtile Erscheinung hintertreiben - dar­ um lernt spätestens von Platons Tagen an der Gott das Schweigen und das Beinahe-nicht-mehr-Erscheinen, es sei denn in einer intimen Präsenz, die blendet, ohne zu reden.4 Sein wahrer Name ist Evidenz. Folglich ist das Gerücht von einer ungeschriebenen Lehre Platons konsistent; es handelt von der diskreten theophanischen Kompetenz des akademischen Treibens: Platons Garten ist voll von Göt­ tern. Wer Glück hat, dem gibt sich der Gott im Nachklang eines exakten Gedankens zu sehen. Das alles hat eine klare Pointe: Nach 386 läuft die Philoso­ phie der Tragödie den Rang als Manifestationsmedium des Göttlichen ab - dies ist der geistesgeschichtliche Sinn von ursprünglichem Akademismus. So gewaltig die attische Tragödie von Göttern und Helden gehandelt haben mag, es wird auf längere Sicht doch die Philosophie sein, die den theophanen Raum auf der Höhe des zivilisatorischen Pro­ zesses offenhält. Wahrscheinlich ist das, was man Reli­ gions- und Geistesgeschichte nennt, über weite Strecken identisch mit den Verlagerungen des theophanen Raums in den Kulturen. Seinen ältesten Fokus besaß dieser in den Orakeln und Trancekulten5, bevor er bei den Griechen das dionysische Theater hinzugewann und später die hier so charakterisierte Akademie besetzte; deren Erbe wurde von der christlichen Kirche angeeignet und in die Mysterientheologie vom geopferten Gottmenschen eingeschmolzen - woraus ein melancholischer Zwitter, der christliche Pla­ tonismus, entstehen sollte, der seine Lebensfähigkeit bis in den Deutschen Idealismus bewies. Mit der christlichen Wende ist der Prozeß der VerlagerunVgl. Klaus Schneider, Die schweigenden Götter. Eine Studie zur Gottes­ vorstellung des religiösen Platonismus, Hildesheim 1966 5 Julian Jaynes bestreitet dies, indem er auf eine noch ältere epiphanische Formation hinweist: das Halluzinationssystem der von ihm so genann­ ten »bikameralen Psyche«; vgl. J. J., Der Ursprung des Bewußtseins, Reinbek bei Hamburg 1993

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gen des theophanen Raums nicht abgeschlossen. Blickt man in die europäische Geistesgeschichte seit dem späten Mittelalter zurück, so drängt sich der Eindruck auf, daß sie, mit dem 13. Jahrhundert einsetzend, ständig an Dyna­ mik zunimmt, nachdem die mystischen, die evangelischen, die frühprotestantischen Bewegungen die Sprachspiele und Kultübungen eines von innen her durchbrechenden Gottes in die städtischen Massen zu tragen begonnen hat­ ten. Bis ins 20. Jahrhundert werden im europäischen Zi­ vilisationsprozeß fortlaufend neue Räume eröffnet, um neue Erscheinungen des Absoluten aufzunehmen. Solche Räume wurden ausgewiesen im Innersten der Individuen und in den Kultstätten des Kunstwerks; sie wurden aufge­ sucht von politischen Geheimbünden und neureligiösen Sekten; man postulierte sie an den Rändern der wohlver­ sorgten Welt, man wollte sie im Müll, im Unfall, im Exkre­ ment entdecken. Aber man mag diese Bewegung so groß­ räumig auslegen wie man will: von Denkern auf der Bühne zu reden wäre erst sinnvoll, wenn sich zeigen ließe, daß das Theater in eine neue theophanische Funktion eingesetzt worden wäre; das aber ist eine Forderung, die mir, vom Sonderfall Richard Wagners abgesehen, in neuerer Zeit nirgendwo erfüllt scheint. Ich muß gestehen, daß ich meine Verantwortung für die Formel vom »Denker auf der Bühne« nach allem, was ich hier angedeutet habe, nur wahrnehmen kann, wenn ich klarstelle, daß sie für Friedrich Nietzsche reserviert war.6 In ihm sehe ich eine erratische Gestalt, die als Theologe ei­ nes nicht festgestellten Gottes auftrat. Nietzsche hatte, wenn nicht sachlich recht, so doch psychologisch Grund, sich als verspätetes Medium des göttlichen Lebens namens Dionysos auszugeben, weil er die dionysischen Extreme in sich vereinigte: das Dasein in der ständigen Folter und die Überwindung der Folter in den Euphorien der Kunst und 6 Vgl. P. Sl., Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus, Frank­ furt 1986, 5. Aufl. 1999, sowie: Die Verbesserung der guten Nachricht. Nietzsches fünftes »Evangelium«, Frankfurt 2000.

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des Denkens. Für ihn, und, soweit ich sehe, nur für ihn, ist die Formel vom Denker auf der Bühne am Platz, und auch für ihn gilt sie nicht wörtlich, weil es nicht darum geht, ihm einen direkten Bezug zum Theater nachzusagen, son­ dern darum, eine existentielle Überspannung und deren »Ausdruckswelt« zu charakterisieren. Auch Nietzsche ist kein Denker auf der Bühne, sondern ein Denker, der eine Bühne ist. Er macht die Erfahrung, daß sich in ihm ein Gott, der der Nicht-Eine ist, der zersplitterte Dionysos, als das gegen sich selber wütende hellsichtig-wahnsinnige Leben manifestiert. Nietzsche war ein Schauplatz für Kräfte, die sich in ihm die Schlacht lieferten und deren Kampf ihn um die Einheit seiner Person bringen sollte. Man mag nun über Heideggers Grundstimmung denken, wie man will; man darf seinen Anteil am manischen Ver­ mögen der Philosophie hoch veranschlagen und seine Vertrautheit mit depressiven Phasen nicht unterschätzen; seiner gesamten Haltung nach lebt er von Nietzsches Fol­ terzyklen weit entfernt, geborgen wie er war in einer dis­ ziplinierten und grimmigen Normalität. Daher zum letz­ ten Mal, auch vor den Hintergrund des Falls Nietzsche ge­ setzt: Heidegger ist kein Denker auf der Bühne.

2 Absturz Ich möchte nun, um von diesem negativen Resultat zu ei­ ner positiven Bestimmung überzuleiten, eine Formel Vor­ schlägen, die Heideggers spirituelle Physiognomie und sein philosophisches Projekt in einem kompakten Aus­ druck zusammenfaßt: Heidegger ist der Denker in der Be­ wegung. Sein Urgedanke oder quasi seine Tathandlung ist der Sprung oder das Sichloslassen in eine Befindlichkeit, bei der er in sich selbst und »unter seinen Füßen« nichts anderes mehr findet als Bewegtheit. Bei ihm geht die Kine­ tik der Logik voraus, oder, wenn man die paradoxe Wen­ dung dulden will: Die Bewegung ist sein Fundament. Der

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Impuls seiner Rede ist es, Bewegtheit auszusagen - oder vielmehr: mit der Rede-Bewegung der wirklichen und un­ umgänglichen Bewegtheit »nachzukommen«. Mithin hat er es wie kein Philosoph vor ihm verdient, durch diese un­ gewohnte und nicht nach allen Seiten ausgeleuchtete For­ mel charakterisiert zu werden: der Denker in der Bewe­ gungWas das bedeutet und wohin es führt, will ich im folgen­ den wenigstens in Andeutungen erläutern. Ich verzichte darauf, einen weiteren Kommentar zu Heideggers Mythos von seinem »Denkweg« zu liefern, und beschränke mich auf eine strukturale Beobachtung seiner Denkform. Dank der Konzentration auf die architektonische oder formale Seite von Heideggers Denken kann sich zeigen, daß der vorgebliche Denkweg selbst nur die unablässig wieder­ holte und modifizierte Ausarbeitung eines gleichbleiben­ den Bewegungsschemas ist. Unter dieser Optik lassen sich die denkerischen Bewegungen des Meisters aus Deutsch­ land charakterisieren als ein ursprüngliches Folge-Leisten, das sich »in Entsprechung« zu einer dreifachen seinshaften Bewegtheit verhält. Es gibt, in Heideggers Denken und im allgemeinen, wenn ich recht sehe und wenn ich mich dieser nahezu lyrischen Extremabstraktionen bedienen darf, drei universelle und allem zuvorkommende Bewegtheiten, drei kinetische Seinszüge, die sich in der menschlichen Exi­ stenz zu jeder Zeit, doch je verschieden nach kulturellen und epochalen Tönungen auswirken. Diese Züge nenne ich hier: zum ersten den Absturz, zum zweiten die Erfah­ rung, zum dritten die Umwendung. Ihr Durchgriff durch die Existenz oder ihr Überfall auf diese geschieht »immer schon«, jeweils und überall, ohne daß er je, die klassischen Hermeneutiken des Schicksals eingerechnet, in hinrei­ chend klarer Beleuchtung betrachtet worden wäre - es sei denn eben, beginnend, bei Heidegger.7 Dieser Denker war es, der wie niemand vor ihm Ausdrücklichkeit in den Sach­ 7 Wir lassen die Frage beiseite, inwiefern die Logokinetik des Neoplato-



verhalt legte, daß Dasein immer schon in Bewegung »ge­ setzt« und von Bewegung durchwirkt ist und es durch nichts vor der durchgreifenden Bewegtheit in Sicherheit gebracht werden kann. Seine Bewegtheit ist der Grund sei­ ner Geschichtlichkeit und seines Bezugs zum Offenen. Man könnte, in Abwandlung der berühmten Formel aus dem Vortrag Was ist Metaphysik? von 1929, sagen: Dasein heißt in den Überfall der Bewegung hineingehalten sein. Es sieht nun so aus, als habe sich Heidegger diesem mit­ reißenden Zufall eigens zugewendet und eine Form von philosophischer Rede entwickelt, die dem Dasein im Griff des zufälligen Überfalls entspricht - eine Rede zum Ab­ sturz, eine Sage im Fall. Wer in der Bewegtheit zu denken versucht, muß zeigen, was es bedeutet, ein Fallbeispiel zu geben. So wird das Denken selbst zum Ernstfall von Be­ wegtheit. Jetzt muß sich der Denkende in eigener Person da er nicht länger einen unbewegten Beweger nachahmt entschlossen und besonnen in seinen Reden entwerfen. Ohne Selbstaussage ist Philosophie nicht mehr möglich. Heidegger wählt diese Geste mit exemplarischem An­ spruch, wie ein ontologischer Gymnastiklehrer, der den noch in Prinzipien und weltanschaulichen Stellungen ver­ steiften Subjekten Anleitungen gibt zur Einübung in den bewußten Aufenthalt in der Bewegtheit. Alles Reden, das sich auf dieser Linie entwickelt, strahlt von einem kinetischen Cogito aus: Ich existiere, also ist eine Bewegung mir zuvorgekommen. Ich stehe nicht fest, denn ich bin »geworfen«. Mir ist zu denken gegeben, so­ fern und solange ich dem Überfall der Bewegtheit auf mich entspreche. Ich bin der Fall, weil eine Bewegung - eine Geschichte, ein vernetztes Gebilde aus Zufall und Not­ wendigkeit - mich mitgenommen und hierher, in diese Lage, diese Ungesichertheit, gebracht hat. Denken heißt dann: im Überfall Besinnung entfalten. Die Rede ist die nikers Proklos, insbesondere seine Lehre von der Kreisstruktur des Geistes und den Kreisgängen der Seele, als Vorläufer von Heideggers Ontokinetik angesehen werden kann.

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Sammlung des Falls. Im gründlich fragenden Reden wiederholen wir die zufällige Bewegung, die uns an diesen Ort getragen hat. Damit nicht genug: Wir vertiefen durch die Wiederholung den Zufall so sehr, daß er beginnt, sich einer Notwendigkeit, vielleicht sogar einer »Wahrheit« zu nähern. So wird die Wiederholung zur Mutter der Besin­ nung; die Besinnung geht auf das Unumgängliche, Unum­ kehrbare, Einmalig-Ereignishafte ein. Wenn ich den Fall, der ich bin, denke und wiederdenke, kann ich mich nicht länger der theoretischen Illusion hingeben: Der alte Traum vom kostenlosen Abstand ist zerbrochen; das autistische Phantasma von der Beobachtung, die den Beobachter zu nichts verpflichtet, hat sich aufgelöst. Ich habe mich davon überzeugt, daß ich ganz von Bewegtheit durchgriffen, in Urzüge von Bewegung einbegriffen bin. Ich kann nicht länger so tun, als sei ich nicht in diese meine Situation ge­ fallen. Wir fangen nicht mehr beim stehenden Schein an, bei der Idee, bei den Dingen, beim Subjekt, beim System, beim Bewußtsein, bei der Sachlage, beim Objektiven, bei den überzeitlichen Werten. Wir können nur noch bei der wesentlichen Bewegtheit an uns selbst, mit unserer Zeit­ lichkeit, unserer Befristetheit, unserer Situiertheit und Bezogenheit beginnen. So setzt alles für uns mit dem »Da­ sein« ein, das als In-der-Welt-Sein ausgelegt wird, und dies zu Recht, vorausgesetzt, wir lesen diese Formel so: durch den Überfall der Bewegung auf uns den »Ort« erreicht zu haben, an dem wir uns meistens zerstreuen und ausnahms­ weise sammeln. Philosophie ist Lagebesprechung. Der erste Zug von Bewegtheit aus der bezeichneten Drei­ heit - das Im-Fall-Sein oder das Abstürzen - geht, der Reihe wie der Sache nach, den beiden anderen Zügen, Erfahrung und Umwendung oder Kehre, voran. Wenn Heidegger zeitweilig viel Aufhebens machte um seinen Beschluß, den griechischen Namen für die Menschen, die Sterblichen, aus nach-christlicher Position wieder in Gebrauch zu nehmen, so war darin unverhohlen die Konsequenz gezogen aus seiner Analyse des ersten Modus 32

von Bewegtheit als Fallen oder Abstürzen. Wer im frühen 20. Jahrhundert mit grundbegrifflichem Akzent von den Sterblichen redet, muß wohl oder übel die Fallenden mei­ nen, und das geht auf die Gefallenen wie die Fälligen.8 Es kommt nicht von ungefähr, daß nicht nur protestantische Theologen in Sein und Zeit die Formalisierung ihres Glau­ bensvollzugs wiedererkannten, sondern daß auch manche Angehörige der Frontkämpfergeneration der Meinung sein konnten, sie begegneten zum erstenmal einer Sprache auf der Höhe der von ihnen erfahrenen Ungeheuerlichkeiten. Leser von Sein und Zeit wissen, daß Heidegger für den hier diskutierten Bewegtheitsmodus statt Gefallenheit oder Gestürztheit die Ausdrücke Verfallenheit und Geworfenheit setzt - Wendungen, die den Ex- und Anti-Katholiken Heidegger vom römischen Dogma entfernen und einem dunkelgnostischen Ansatz nahebringen.9 Wie man inzwi­ schen wieder gelegentlich berücksichtigt, sind es die apo­ kalyptisch-weltkritisch gestimmten Gemüter vor allem, die ihren Aufenthalt in der irdischen Verfinsterung mit diesem Absturzgefühl auslegen; nur wer an dieser Empfin­ dung teilhat, kann wissen, was Geworfenheit an ihrem dunklen Grenzwert bedeutet. Der Ausdruck gehört in die Reihe der »realphilosophischen« Konzepte, mit denen sich manche Denker in den reflektierenden Nachspielen zur Französischen Revolution des nunmehr so genannten har­ ten Bodens der Tatsachen eigens neu zu vergewissern ver­ suchen. Das ist nicht mehr der Boden, auf dem »der Mensch« seit jeher geht und steht, sondern jener, auf den er nach seinem Aufschwung als Subjekt gestürzt ist: in dieser Qualität, als Grenze des Absturzes, bringt die modern er­ 8 Vgl. Elias Canetti, Die Befristeten, in: E. C., Dramen, München 1976 9 Mit dieser Tendenz hat Hans Jonas schon 1928 in seiner bei Heidegger angefertigten Dissertation Der Begriff der Gnosis (Göttingen 1930) die antike Gnosis in fundamentalontologischen Ausdrücken dargestellt. Auf Analogien zwischen dem gnostischen Mythos und Heideggers »Konversion zur Eigentlichkeit« verweist Barbara Merker in ihrem Buch Selbsttäuschung und Selbsterkenntnis. Zu Heideggers Transfor­ mation der Phänomenologie Husserls, Frankfurt 1988, S. 176-193.

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fahrene Härte des Faktischen sich den resignierten Agen­ ten der Praxis in Erinnerung; nur für gescheiterte Ideali­ sten und Konstruktivisten nach dem Rückzug aus der Übertreibung ist das nackte Daß informativ. Die Welt ist alles, wovon nach Ausflügen in die Illusion auffällt, daß es der Fall ist. Dennoch spüren die Menschen ihren Fall zu­ meist gar nicht, da sie, Heidegger zufolge, kaum je etwas anderes als das Dasein im Modus des alltäglichen Verfal­ lens erfahren: »Wir nennen diese >Bewegtheit< des Daseins ... den Absturz ... Das Dasein stürzt aus ihm selbst in es selbst, in die Bodenlosigkeit und Nichtigkeit der uneigent­ lichen Alltäglichkeit. ... Der Wirbel offenbart zugleich den Wurf- und Bewegtheitscharakter der Geworfenheit ... Das Verfallen ist ein ontologischer Bewegungsbe­ griff.«10 Wenn der Philosoph den Ausdruck Geworfenheit für den ersten Bewegtheitsmodus setzt, so spricht für diese Wen­ dung, daß man von ihr die Aktivformen bilden kann: Wurf und Entwurf - und auf diese Umkehrung kommt es dem jungen Ernstmachdenker an. Die aktivierenden Begriffe eignen sich dafür, die urpassive Struktur von Fallen hero­ isch zu modifizieren. Mit ihnen läß sich die Unterstellung ausdrücken, aus dem erlittenen Fall könne unter noch zu klärenden Umständen ein übernommener Fall, ein entworfener Sturz, ja gleichsam ein existentielles Kom­ mandounternehmen werden, in dem der Geworfene sein Schicksal sich aneignet. Das genügt, um den Vorzug von »Geworfenheit« vor dem potentiell sinngleichen, obschon stärker christlich und engelkundlich geladenen Wort »Gefallenheit« zu motivieren. Die Fall-Übernahme durch den Fallenden geschieht bei dem Heidegger von Sein und Zeit infolge einer makabren, gleichsam mönchssoldatischen Meditation, indem der in die Welt Geworfene sich bis in den vorweggenommenen eigenen Tod »durchfallen« läßt. io M. H., Sein und Zeit, Tübingen 1967, S. 178-180

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Der Tod, als meine persönlichste Möglichkeit, besitzt wie der Logos sammelnde Kraft. Von dem Ausblick in die ei­ gene Nichtung kommt der Meditierer wie aus einer Feuer­ taufe auf seine Gegenwart zurück. Erst jetzt kann er sich selber »übernehmen«, zitternd in der Gewißheit, kein Ge­ wächs, sondern Entwurf zu sein.11 Für uns bietet dieser Ausdruckswechsel Gelegenheit, den Umstand zu erwähnen, daß auch an den übergreifenden kinetischen Urzügen des Seins als Dasein - dem Absturz ins Faktisch-Zerstreute, der Erfahrung im Kontext, der Umkehr aus der Verfahrenheit - eine Differenz auftritt, die einen Bezug zu Wahrheit und Eigentlichkeit eröffnet. Es bedeutet den Unterschied ums Ganze - zumindest ist das Heideggers frühe Wette -, ob das Dasein seinen Fall un­ gesammelt fortsetzt und damit seiner Zerstreuung ins Irgendwie-Sein verfällt, gleich einem schlafenden Passa­ gier, der, ohne zu erwachen, die Fahrt von der Einreise in die Welt bis zur Endstation durchdämmert, oder ob das Dasein seines Sturzes inne wird, sich vom Bewußtsein der Bodenlosigkeit und Bestimmtheit zugleich durchdringen läßt und schließlich aus dem erlittenen einen übernomme­ nen Sturz, ja vielleicht sogar einen eigenen Wurf macht, aus dem Fall ein Projekt, aus dem Überfallensein das ent­ schiedene Entsprechen zu einem Schicksal. Halten wir fest, daß für den Heidegger von Sein und Zeit diese Selbst­ übernahme vor allem als »Entschlossenheit« oder »Sichaufrufen-lassen aus der Verlorenheit des Man«1213 zu verste­ hen ist: »... das verschwiegene angstbereite Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein - nennen wir die Entschlos­ senheit.«^ Entschlossenheit erscheint zu dieser Zeit als das Gegenmittel zum Untergehen im Zufälligen. Die Unterscheidung zwischen einer banalen Verlorenheit und dem Sichentwerfen in Entschlossenheit immer wieder 11 Vgl. P. SL, Was heißt: sich übernehmen? Versuch über die Bejahung, in: P. Sl., Weltfremdheit, Frankfurt, 6. Auflage 1999, S. 267-293 12 M. H., Sein und Zeit, a. a. O., S. 299 13 Ebd., S. 297

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zu erneuern: das gehört fürs erste zum ethischen Pensum der Existenz inmitten der vorherrschenden Beliebigkeit. Weil die Forderung nach Unterscheidung so ausdrücklich erhoben wird, ist die Feststellung am Platz, daß Heideg­ gers Umwandlung der Metaphysik in Ontokinetik - die Erhellung der Bewegtheiten, die den Sinn von Sein berüh­ ren - unmöglich ausmünden kann in ein kriterienloses Mit­ machen bei allem, was historisch im Gang ist.14 In der zur Besinnung gebrachten Bewegtheit tritt ein erstrangiger Un­ terschied auf, der dem Kardinalunterschied des zweiwer­ tigen Denkens im logischen Feld, dem von Wahrheit und Falschheit, und des zweiwertigen Urteilens im morali­ schen, dem von Gut und Schlecht, ebenbürtig ist: Es gibt eine falsche Bewegung und ihr Gegenteil, die wahre. Da­ mit eröffnet die philosophische Kinetik eine dritte Diffe­ renzdimension, die noch vor dem logischen Unterschied, dem Wahr-oder-Falsch-Sein von Sätzen, und dem ethischen Unterschied, dem Gut-oder-Schlecht-Sein von Handlun­ gen, anzusetzen ist. Auch die Bewegtheit verlangt ihre ei­ gene »Urteils«- oder Unterscheidungskraft - eine Wende­ kraft, wenn man so sagen darf, die sich in Zuwendungen und Abwendungen zu Gegenständen, Personen und Pro­ grammen, in Engagements und Degagements, in Ent­ sprechungen oder Verfehlungen manifestiert.15 Es gibt die Zerstreuung ins Unauthentische und Verstellende - be­ merkbar an der unerträglichen Leichtigkeit des Seins - und Heideggers Option von 1933 gibt Anlaß, dies zu betonen. Denn das »Sicheinfügen und Sicheinstellen in das ganze Walten und Schicksal der Welt überhaupt«, von dem Heidegger bereits in der großen Meta­ physik-Vorlesung des Winters 1929-1930 spricht, ist ohne Mehrdeu­ tigkeit, Wahl und Entscheidung nicht zu denken. Auch das »Wal­ tende« kann nur als mehrfach wirkendes und nichteindeutig ergreifen­ des Spiel aufgegriffen werden. 15 Hinweise hierauf finden sich in den Beiträgen des von Michael Eldred edierten Bandes Twisting Heidegger. Drehversuche parodistischen Denkens, Cuxhaven 1993, insbesondere in den Beiträgen von Raffael Capurro, John Sallis und John D. Caputo. Der letztere konkretisiert die nicht zum erstenmal erhobene Forderung, mit Heidegger gegen Heidegger zu denken, in seinem Buch Demythologizing Heidegger, Bloomington 1993.

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ebenso die Sammlung ins Authentische und Unumgäng­ liche - angezeigt vom unerleichterten »Gewicht der Welt«. Es gibt ein (tendenziell) falsches Sichmitnehmenlassen durch Betriebe und Reaktionen, und es gibt eine (tenden­ ziell) wahre Anteilnahme an einem ganzmachend-gestaltenden Zug zum »Werk« und zur Verantwortung. Beide »Tendenzen« oder Züge müssen als gleichmächtige Modi von Bewegtheit verstanden werden - die Ursprüng­ lichkeit des Zugs zur Zerstreung im Falschen jedoch ist nach Heideggers Darstellung so hoch zu veranschlagen, daß der Gegenzug zur Sammlung im Wahren in der Regel von ihm überspielt wird. Man hat sogar einzuräumen, daß die »falsche Bewegung«, das anfängliche Abstürzen oder die zerstreuende Geworfenheit, die umfassendere Größe ist, weil sie sich »zunächst und zumeist« - Heideggers Warnformel - schlicht aus der Fortführung des ursprüng­ lichen Zu-Falls ergibt. Den angefangenen Fall einfach wei­ ter fallen lassen - von Zufälligkeit zu Zufälligkeit: das führt bis ins endgültige Verfallen, und eben dies ist der Normal­ fall, der Heidegger zufolge geradezu im Falschen, der Un­ entschiedenheit, der Uneigentlichkeit, der Getriebenheit durch öffentliche und anonyme Mächte mündet. Der Hang zum Bleiben im verdunkelten Betrieb ist der Ur­ sprung des Zugs zur Uneigentlichkeit. Dagegen kann die wahre oder sammelnde Bewegung nur wie eine prekäre Gegenbewegung aus der falschen heraustreten. Oder, um das Bild zu wechseln: die wahre Bewegung geschieht, als würde sich im anfänglichen Fall ein Fallschirm öffnen - ein Ruck ginge dann durch das Dasein des Stürzenden. Da er seiner »Lage« im Absturz innewürde, gäbe er dem Rest seiner Fallstrecke einen anderen Sinn, indem er zum reso­ luten Entwurf oder zur Öffnung aufs Mögliche und We­ sentliche macht, was sonst triviales Dahintreiben im irgendwie so und so bestimmten Zufälligen bliebe. Es wird im übrigen beim frühen Heidegger nie recht klar, ob das Dasein im »eigensten« Entschluß zu sich selbst wirklich das Vermögen gewinnen kann, eine erkennbar 37

veränderte Richtung zu wählen, oder ob das, was hier Ent­ wurf oder Entschluß heißt, nicht nur ein verinnerlichtes Fallen und ein etwas bewußteres Weitermachen auf vorge­ zogenen Linien ist. Tatsächlich spricht Heidegger an einer Stelle, die aufmerksamen Lesern nicht entging, davon, daß die eigentliche Existenz nur ein »modifiziertes Ergreifen« der verfallenden Alltäglichkeit sei.16 Träfe das zu, so ließe sich der existential gedeutete Unterschied zwischen fal­ scher und wahrer Bewegung, Absturz und Entwurf, wohl formal vollziehen, doch bliebe er für immer einer, den man nicht wirklich »machen« kann, zumindest nicht auf evi­ denzfähige Weise, und über den in der fallenden Welt nie­ mand nach ausweisbaren Kriterien zu urteilen oder gar zu verfügen vermöchte. »Ontisch wird nicht entschieden, ob der Mensch >in der Sünde ersoffen«... ist.. ,«17 Zu bemerken ist weiter, daß diese erste Bestimmung von Dasein als Absturz oder fallhafte Bewegtheit die Vertikale durchmißt, und zwar, in denkwürdiger Umkehrung der üblichen metaphysischen Verkehrsrichtung, von oben nach unten, im Sturz, im Herabstieg, im Herunterkommen. In diesem außergewöhnlichen Sinn ist Heidegger ein Deszen­ denztheoretiker: Für ihn ist der Mensch ein Wesen, das zu­ nächst und notwendigerweise zu sich herunterkommt und neben sich landet. Beim Menschen bedeutet abstammen auch schon abfallen. Er fällt typischerweise so tief, daß er sich ganz unten, unter den Dingen, den Routinen und Me­ chanismen, zerstreut: unter den Mineralien und den leben­ den Leichen - im Surrealismus hätte man sogar gesagt: un­ ter den Bürgern. Die Grundlinie, bis zu der das Verfallen absinkt, heißt Alltäglichkeit - oder im verschärften Aus­ druck: »Hemmungslosigkeit des »Betriebs««18, der gleich­ bedeutend ist mit einem »alltäglichen Dahintreiben«19. Im Betrieb verfehlt sich »der Mensch« selbst von Anfang an, 16 17 18 19

M. H., Sein und Zeit, a. a. O., S. 179 Ebd., S. 180 Ebd., S. 177 M. H., Wegmarken, Frankfurt 1967, S. 7

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weil er seine eigene Seinsweise von den Dingen und Ab­ läufen her versteht, in die er eingetaucht und an die er ver­ fallen ist. Im Licht der Dinge und Routinen erscheint der Mensch vor sich selbst als ein Vorhandenes und Mit­ gerissenes wie jedes andere. An diesem ursprünglichen Fehlschluß erweist sich das »versucherische« Wesen des Daseins als solchen: Das endliche, bedingte Existieren klammert sich an etwas, worum es Sorge tragen und woran es verfallen kann. Das Verfallen nivelliert die Differenz zwischen der Seinsart der Existenz und der des Vorhande­ nen. Es ist die anfängliche Tendenz des Menschen, sich selbst als Menschenmaterial und Umweltfaktor zu erfas­ sen. Angesichts dieser immer schon angetretenen Flucht in die Indifferenz sind das anarchistische Sichgehenlassen und das gehorsame Funktionieren dasselbe. Vor Heidegger hat nur Johann Gottlieb Fichte einen ähnlich aufgefaßten Sachverhalt mit vergleichbarer Radikalität formuliert, wenn er, in einem polemischen Zusatz zu seiner Grund­ lage der gesamten Wissenschaftslehre (§ 4), schrieb: »Die meisten Menschen würden leichter dahin zu brin­ gen seyn, sich für ein Stück Lava im Monde, als für ein Ich zu halten.«20 Dem würde der frühe Heidegger zugestimmt haben, unter der Bedingung, daß zwei Modifikationen an Fichtes These anzubringen sind: zum einen die Bemerkung, daß dieses Verfallen unter die Dinge und Abläufe das spontane Re­ sultat des gewöhnlichen Daseins ist; denn etwas LavaGeschmack haftet an allem, was »geworfen« ist. Weil un­ sere Existenz immer von fremder Seite her angefangen ist, kommt sie in gewisser Weise stets zu spät; sie tritt zum Vorhandenen hinzu und muß sich überall mit Früherem und Fremdem auseinandersetzen. Sogar wenn ein guter Gott uns zu sich hin geschaffen hätte, bliebe uns die Erfah­ rung nicht erspart, daß die Lava vor uns da war und die Unterscheidung zwischen Mond und Menschenwelt nicht 20 Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Band I, Berlin 1971, S. 175.

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immer mit Sicherheit zu treffen ist. Zum anderen würde Heidegger die Bedingung stellen, daß nicht von einem Ich die Rede sein soll, sondern von dem Seienden, das ein Exi­ stierendes, ins Offene Hinausgehaltenes, ein ontologisches Ekstasewesen ist und das wir üblicherweise ohne Nach­ denken den Menschen nennen. Damit ist über den Modus Fallen für den Augenblick nicht mehr zu sagen. Nach Heidegger müßte jetzt sich in der Analytik der Bewegtheiten sofort die Gegenwende oder Umkehr anschließen; man hätte von der ersten ohne Um­ wege sogleich zur dritten Bewegung überzugehen. Für den großen Ontokinetiker folgt auf den Fall von zwei Mög­ lichkeiten nur eine: entweder der ungewendete Absturz bis ins letzte Verfallen - oder aber im Sturz die Wende. Für ihn läuft alles Denken, gleich ob er es mit dem Frühwerk als entschlossenes vorstellt oder mit dem Spätwerk als gelassenes, darauf hinaus zu zeigen, wie die Gefahr der Verfallenheit auch schon die Einkehr zu der »eigensten Möglichkeit« - dem zeitgemäßen Ersatz für die klassische Notwendigkeit - zu erzeugen vermag. Die Zuwendung ins Eigene und Eigenste der Existenz hat den Charakter einer ontologischen Bekehrung: Auferstehung aus der Unei­ gentlichkeit, Wiedergeburt in Angst und Zittern. Daher Heideggers ständige Sorge um eine Einführung ins we­ sentliche Denken durch propädeutische Ekstasen. Daher auch die Neigung zu einem gewissen Mönchsernst, als sei das Denken die höchste Askese, wenn es sich nur vom Sein selbst »in den Anspruch nehmen« läßt - immerhin ist es kein Opus Dei, dem der Denker sich anschließt, sondern ein Opus Entis. Daher insbesondere »die eigentümliche Suche nach Härte und Schwere!« oder nach jenem »zwin­ genden Zwang«, von dem Hugo von Hofmannsthal, ein ferner Verwandter im Geist des Strebens nach dem eigentlichkeit-ernötigenden Ernstfall, in seiner Münchener Rede über Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation von 1927 gesprochen hatte. Ohne Gesamterschütterung des Denkenden keine Aussicht auf radikale Selbstergreifung -

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oder, im Blick auf das Irrjahr Heideggers gesagt, keine ent­ schiedene Selbsteingliederung ins vorgeblich ergreifende Geschick. Ohne die entschiedene Hingabe an die Umwen­ dung kein Anteil an den Werken der Eigentlichkeit. So könnte man in Abwandlung eines englischen Sprichworts sagen: Man s calamaties are Being’s opportumty.

3 Erfahrung

In diesem Sinn ist Heidegger ein Neutheologe, und Theo­ logen, die von neuen, sei es verhüllten oder abgewandten Göttern reden, haben es mit ihrer Botschaft unvermeidlich eilig. Alttheologen erkennt man daran, daß sie Zeit haben und der Gott sie nicht mehr drängt. Heidegger hat es eilig, von der vorherrschenden falschen zerstreuenden Bewe­ gung zu der wahren sammelnden zu kommen. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang meditiert der Denker die Grund­ bewegtheiten des Daseins und bleibt in dieser ganzen Sturm- und Ruhe-nach-dem-Sturm-Zeit seinem kineti­ schen Apriori treu. In immer neuen Anläufen, in modifi­ zierten Stimmungen, in veränderten Begriffsaufstellungen wiederholt er die Frage: Wie kommt das Dasein aus seinem anfänglichen Absturz unter die Dinge in die entschiedene Selbstheit, von der flachen Geworfenheit in die vertiefende Wiederholung, vom Unwesen des Zufälligen ins Unum­ gängliche, von der Fehlgeburt in die Zerstreutheit zur Wiedergeburt in der eigensten Gesammeltheit, von dem vorläufigen Anfang zum anderen Anfang? Wer in alldem einen Hinweis auf Heideggers Modernität vermißt, könnte sich dieser in dem Umstand vergewissern, daß sich nach ihm das Entschiedene und Schicksalhafte auch und vor al­ lem als übernommenes Scheitern manifestieren kann. Daß diese Figuren etwas Bewegendes haben und noch in ihrer kahlen Abstraktheit nicht ohne Zauber sind, das zu­ zugeben, fällt nicht schwer. Ich werde Heideggers Reden von Absturz und Kehre gleich noch einmal aufgreifen, in­ 4i

dem ich sie ins Profil setze gegen analoge Figuren bei Pla­ ton und Augustinus. Gleichwohl wird an der Doppelfigur von Fall und Umwendung - oder Geworfenheit und Selbstergreifung - eines sofort deutlich: Heidegger interes­ siert sich offensichtlich kaum dafür, daß es zwischen den potentiell symmetrischen Seinszügen »Fallen in die Welt« (mitsamt der zerstreuenden Verfallstendenz) und »Um­ wendung« (mitsamt der ganz- und eigentlichmachenden Sammlungskraft) etwas Mittleres gibt, das sich der Sym­ metrie von Hinweg und Rückweg entzieht und weder Ab­ sturz noch Umwendung, weder Selbstverfehlung noch Er­ griffenheit ist. Wer sich von Heideggers Desinteresse am Mittleren und Horizontalen nicht verführen läßt, muß darauf bestehen: Der Einfall der Existierenden in die Welt geschieht nicht allein oder auch nur vorrangig in der Verti­ kalen; er hat auch nicht nur und nicht überwiegend die Züge eines Selbstverlustdramas. Vielmehr wird das ZurWelt-Kommen von den meisten zu Recht als Ausbreitung in der Ebene verstanden. Die zweite Bewegtheit, die normalerweise so umfassend scheint, daß die Mehrheit der Menschen sie seit jeher für die ganze nimmt, begegnet uns in ihrer alltäglichen Ausle­ gung als Eintreten in weltliche Horizonte. Zum Dasein ge­ hört von seinem Anfang an der Ausgriff in den Raum, sei es buchstäblich als biologisches Wachstum, sei es meta­ phorisch als Beteiligung an einer kulturellen Welterzeu­ gung. Wollte man bei diesem eher heideggerfremden Sujet heideggerisch reden, wäre zu sagen, daß existieren »immer schon« hieße: einbegriffen sein in einen Zug zum Einzug in die Welt, sofern sie Haus ist, und zum Auszug in sie, in­ sofern sie stets auch das Weitere - jenseits der anfänglichen Häuslichkeit - bedeutet. Dasein im zweiten Modus der Bewegtheit hat den Charakter von Umzug und Exodus, von Landnahme und Aussiedlung, von Curriculum und Kurs auf fernere Ziele. Der Inbegriff sämtlicher Modi die­ ser Bewegtheit wird von dem deutschen Wort Erfahrung ausgedrückt, sei es nun umgangssprachlich verstanden als

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Sichauskennen mit den Dingen, die man von vielen Seiten gesehen hat, oder philosophisch ausgelegt als Ergebnis einer überwundenen Naivität, eines geopferten Anfangs­ urteils, einer revolutionierten These. Das starke Merkmal der Erfahrungsbewegung ist, daß sie kumulativ verfaßt ist. In ihr kommt eins zum anderen und bildet einen »Zu­ sammenhang«. An ihr läßt sich ablesen, daß auch die Hori­ zontale sammelnde Kraft besitzt. Zusammenhänge, so ver­ standen, sind Horizontalstrukturen, sofern Erfahrungen Netze, Serien, Nachbarschaften bilden. Wer in der begon­ nenen Erfahrung fortfährt, setzt auf Seitenbeweglichkeit, auf Varianten und Plurale. Auf dieser Linie erwerben Men­ schen Welterfahrenheit und gelangen, sofern sie sich nicht in Angststellungen verschließen und in der verwilderten Virtualität der Psychose verfestigen, zur Eingewöhnung in das mit anderen geteilte Welthaus: dies ist ein Zug, für den die Griechen das Wort oikéiosis besaßen, was auf schwä­ bisch Einhausung bedeutet - ein Wort, das nicht umsonst dem Welthausmann Hegel gut gefiel. Von diesem Zug will Heidegger aber wenig wissen, da die normalisierende, die zivilisierende, vielleicht auch promis­ kuitive Dimension dieses Konzepts nicht in seine revolutionär-konzentrative, am Ungeheuren und Ernsten ge­ eichte Seinsauslegung paßt. Nicht umsonst hat er noch im Spätwerk die Heimatlosigkeit als ein »Weltschicksal« do­ ziert und den Aufenthalt im Unheimlichen als die Grund­ wahrheit des Menschen in der modernen Welt behauptet. Er spricht seine Hörer an, als könnten sie in jedem Mo­ ment vom Vertikaleinschlag des Ungeheuren getroffen werden. Sogar sein spätes Lob des Wohnens meint eine ins Friedliche transformierte Verkehrsform mit dem Unheim­ lichen. Daß dies zu einer Verkürzung des Bildes von der Bewegtheit des Daseins in der horizontalen Dimension hat führen müssen, liegt auf der Hand. Denn der philoso­ phisch-kinetische Leitbegriff für den Eintritt des Daseins in die Fülle des Erfahrbaren kann nicht formuliert werden, wenn man allein am Aspekt des Absturzes oder der Ge43

worfenheit festhält. Er würde angemessener als Zur-WeltKommen bestimmt - ein Ausdruck, der geeignet ist, die Bewegtheits-Chiffre des nicht falsch verfestigten Men­ schenwesens von der Anschauung einer permanenten Ge­ burt her zu bilden, und Geburt ist immer schon Synthese aus Vertikalabsturz und Horizontaleinreise. Die »Sterb­ lichen« sind mit triftigerem Grund als die Zur-Welt-Kommenden zu bezeichnen - wobei man, im Blick auf das technische, kriminelle, kreative, tragische Potential dieser exzentrischen Gattung, auch die Weit-Gehenden sagen könnte. Erfahrung, die sich beharrlich anreichert, bezieht das Zufällige und Einmalige fortschreitend in das Zu­ sammenhängende ein. Sie ist die einbettende Kraft par ex­ cellence. Je mehr das Erfahrungsdenken sich seiner Kraft bewußt ist, desto entschiedener hält es die Vertikale durch die Horizontale in Schach. An der Formel Zur-Welt-Kommen sind zwei Aspekte in­ teressant: zum einen, daß sie der Horizontalbewegtheit der Existenz mit einem Ausdruck entgegenkommt, der so­ wohl den Fall als auch den Exodus anzeigt, zum anderen, daß sich mit ihr Heideggers Widerstand gegen jede An­ thropologie von der Sache her begrenzen und erledigen läßt. Wir können mit ihrer Hilfe, ohne Furcht, die mensch­ liche Tatsache - den Befund, daß Menschen »in der Lich­ tung« stehen - zu verkürzen, die Existierenden als Um­ zugs-Wesen bestimmen, die ihrer jeweils eigenen Weitung nicht entgehen. Diese als Tiere gescheiterten, von Anfang an kultur- und technikbedingten Wesen: Sie leben zur Welt kommend, weltbildend und »geschichtlich«, weil sie einen Zug ins Weitere befolgen, der seinerseits von weit her stammt - aus einer natur- und technikgeschichtlichen Ferne, die sie selbst bis auf weiteres, und vielleicht über­ haupt nicht verstehen können.21 Sobald die Menschen in die Staatengeschichte und höhere Technik eintreten, ma­ chen sie an sich selber die Entdeckung, daß sie Geschöpfe 21 Uber die ineinander verschränkte Natur-und Technikgeschichtlichkeit der menschlichen Position vgl. unten den Aufsatz »Domestikation des

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sind, die außer von häuslichen und handgreiflichen Sorgen auch von großen, hohen und fernen Angelegenheiten in Mitleidenschaft gezogen werden. Auch wenn sie in eigener Sache bescheiden bleiben wollten, das Große und Maßlose läßt ihnen keine Ruhe. Sie sind, wenn es sie trifft, zum Herr-Werden und zum Leiden an ihren Machtzuwächsen verurteilt. Die Macht ist etwas, was nicht nur ihren Unter­ tanen und Opfern zustößt, sie durchgreift ebenso ihre Ak­ teure und bringt sie in Lagen, in denen Können Leiden heißt. Sind Menschen an diesem Punkt angelangt, geraten sie in den Zug von Wünschen, ihr Leiden an der Macht zu übersteigen. Das ist zuerst bei den Ägyptern, den Baby­ loniern und den Persern zu beobachten, an denen sich dort die Juden, hier die Griechen mit ihren reichskritischen In­ telligenzen abarbeiten; es gilt in der Folge erst recht für die Römer und für die Römernachfolger, die als Byzantiner, Europäer, Russen, Amerikaner im imperialen Skript agie­ ren. In dem Maß, wie sich zeigt, daß etwas in den Men­ schen diesen Zumutungen des Großen, Hohen, Fernen entgegenkommt, geraten sie während der Stadt- und Reichszeit in eine Art von Wachstum, deren Dimension bei uns einen so respektablen wie unheimlichen Namen trägt: der Geist. Das meint die komplexe Einheit aus dem, was Macht erzeugt, erhält und steigert, sowie dem, was sie überdenkt und temperiert. Mithin, wenn Menschen ent­ scheidend größer werden, dann wachsen sie in Hinsicht auf den »Geist«. Indem sie der Wachstumsherausforde­ rung entsprechen, werden sie, wie man richtig und doch meist ahnungslos sagt: die Erwachsenen. Worauf es hier ankommt, ist der Zusammenhang zwischen dem Umzie­ hen und der Erwachsenheit. Das geschichtliche Zur-WeltKommen ist ohne Umzug und Auszug nicht zu leisten. Daher muß der von der Geschichte erzwungene oder ge­ schickte Umzug in die größere Dimension eine Krise im Seins. Die Verdeutlichung der Lichtung«, S. 142-234; das Motiv »als Tiere gescheitert« wird in der Rede »Regeln für den Menschenpark« aufgenommen; vgl. unten S. 321 f.

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Menschenwesen auslösen. Sie nimmt die Form einer Dau­ erkrise an, die seit zweieinhalb tausend Jahren Erziehung heißt. Sie ist eine Umformatierungskrise im Menschenwe­ sen. Die Griechen setzten hierfür den Ausdruck paideia ein, was sinngemäß etwa Kunst am Kinde bedeutet, ein Wort, das man als Alarm aufzufassen hat. Es signalisiert: Von jetzt an müssen wir mit unseren Kindern etwas anstel­ len, was man in einfacheren Zeiten noch nicht kannte. Wir hatten einzusehen, daß unsere Nachkommen unter den eingetretenen Verhältnissen nicht mehr an den Weltzu­ stand anschließen, wenn wir sie nur neben gewöhnlichen Erwachsenen heranwachsen lassen und auf die unspezifi­ sche Nachahmung vertrauen. Die Jungen erreichen das Niveau nicht, wenn sie in ihren bildenden Jahren nicht durch eigens dazu qualifizierte Erzieher oder Meister in Form gebracht werden. Nur in diesem Zusammenhang läßt sich ermessen, was die Entdeckung der Erziehung für die europäische Zivilisation bedeutet.22 Der Ausdruck zeugt für den chronischen Kon­ flikt zwischen Menschen hochkultureller Zeit über die Ziele und Methoden ihrer Formung. In einer geweiteten Welt, in den Imperien und in den Stadtherrschaften, mußte der Augenblick kommen, in dem der Sinn von Erwachsen­ werden strittig wurde. Jetzt stellt die Erwachsenheit des Herren eine andere dar als die Erwachsenheit des Knechts, die Erwachsenheit des Priesters eine andere als die Er­ wachsenheit des Kriegers, die Erwachsenheit des Staats­ manns eine andere als die des Privatmanns. Offensichtlich besitzt die Erwachsenheit der Athener einen anderen Charakter als jene der Spartaner, die der Griechen eine an­ dere Tendenz als die der Perser. Über alle diese Diffe­ renzen hinaus will die Erwachsenheit des Philosophen zu anderen Ergebnissen führen als die Erwachsenheit der »vielen«. Die Philosophie, wie Platon sie entwarf und in­ stitutionalisierte, ist nichts anderes als die Ergreifung der 22 Vgl. Werner Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Berlin / New York 1989

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Gelegenheit, sich an die Spitze der umgewälzten Erzogenheitsverhältnisse zu stellen. Wenn Philosophie zu einer Le­ bensform sui generis werden konnte, so nur, weil sie die Askese des Erwachsenwerdens am ehrgeizigsten voran­ trieb. Im Streit zwischen den wenigen und den vielen, der heute meistens bloß noch als Resultat einer Elite-Anma­ ßung mißverstanden wird, verbirgt sich das Gefälle zwi­ schen den Erzogenen und den Nicht-Erzogenen - eine Spannung, die das Zeitalter der regionalen Hochkulturen durchzieht und allenthalben eine Kluft zwischen »Wissen­ den« und »Unwissenden« aufreißt, die durch die förm­ lichen Meister-Schüler-Beziehungen zugleich betont, überbrückt und verdeckt wird. Sie verändert in der Gegen­ wart zwar ihre Erscheinungsformen und vermehrt ihre Fronten; sie geht hinter egalitaristischen Konventionen in Deckung und verharmlost sich zu dem gleichberechtigten Verkehr von Bürgern mit Experten; sie übersetzt sich in die friedliche Koexistenz von Befähigten und Andersbefä­ higten. Von ihrer Auflösung kann jedoch nirgendwo die Rede sein. Früh läßt die pädagogische Revolution eine dunkle Seite erkennen: Nachdem die Schwelle überschritten ist, von welcher an die Erziehung als verfahrensmäßige Kontrolle der Wege zur Erwachsenheit thematisch und strittig wird, in den beginnenden Hochkulturen mithin, nehmen die Ausdrücke Plebs, Pöbel, einfaches Volk, Proletariat ihren Sinn an, weil sie Menschengruppen bezeichnen, die auf­ grund ihrer ad hoc nicht behebbaren elenden Umstände oft gerade nur erwachsen genug werden können, um sich in der Aussichtslosigkeit fortzupflanzen. Hingegen wollen die Wohlhabenden und die Aufstrebenden ihre Kinder eben durch die jetzt mögliche Erziehung zu Erwachsenen machen, denen die aktuellen Kulturtechniken zuhanden sind. Die Philosophie, als Herzstück der erzieherischen Proze­ dur, treibt den Exzeß des Erwachsenwerdens voran. Doch weil sie essentiell übertreibend verfährt, eröffnet sie die

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Möglichkeit zum Umschlagen der Erziehung in die Wiederkehr der Kinderei auf der Höhe des Begriffs: womit die Gefährdung aller verselbständigten Schulbetriebe be­ zeichnet ist. Nichtsdestoweniger vermag die Philosophie, solange sie der scholastischen Verirrung entgeht, eine hohe Autoritätsladung an sich zu ziehen, weil sie ihre Sugge­ stionsmacht aus ihrem Anspruch nimmt, an der Spitze der Erwachsenheitspyramide zu stehen und von dort her die wissendsten Hinweise zu geben (eine Position, die ihr erst im 20. Jahrhundert durch die Psychoanalyse und die Systemtheorie streitig gemacht wurde). Deswegen konnte die philosophische Pädagogik auf Platons Spuren für sich das Privileg fordern, nicht nur die Jugend, sondern auch die Erzieher zu erziehen - sie ging in den Momenten ihres größten Selbstbewußtseins soweit, die Ohnmächtigen er­ mächtigen zu wollen und den Mächtigen den Spiegel vor­ zuhalten. Platon erzog Aristoteles; Aristoteles erzog Alex­ ander - den Plutarch noch unter die Philosophen rechnet und für die Schule reklamiert.23 Dank der Philosophie wird die Erziehung ein Delirium im Rang einer Institu­ tion. Sie experimentiert über die Frage, ob nicht der ernst­ hafteste Philosoph derjenige wäre, der am erfolgreichsten gewesen ist in der Bemühung, das am besten erzogene In­ dividuum seiner Kultur zu werden. Wie sähe die Beschreibung des vollständigen Philosophen aus? Was müßte der Asket der umfassenden paideia dem­ nach leisten? Bis wohin geht dieser Kinderführer und Kindheitsüberwinder? Mit welchen Mitteln hebt er seine eigenen kindlichen Dispositionen in einem Verfahren ge­ gen sich selber auf? Wie übersetzt er den Traum vom voll­ ständigen und bewußten Leben in eine vielseitige Praxis des Redens und Lehrens? Er müßte auf jeden Fall von sich verlangt haben, die steilsten Leitern zu steigen und die längsten Wege zurückzulegen. Er hätte im Physischen wie im Moralischen die umfassendsten Fahrten unternommen, 23 Plutarch, Moralia, hg. von Wilhelm Ax, Leipzig 1942, S. 262 f.

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er wäre an den Grenzen der Welt gewesen, bei den Göttern und den Steinen, hätte die Minima und die Maxima unter­ sucht, die Toten und die Lebenden befragt, alle zu seiner Zeit wesentlichen Gedanken ins Extrem und ins Detail verfolgt, das Wißbare und das Nichtwißbare in sich destil­ liert; er hätte den Zauberern ihre Effekte und den Techni­ kern ihre Künste abgeschaut, sich berauscht und ernüch­ tert in den Begegnungen mit ungewöhnlichen Menschen; er wäre in seinen Expeditionen Meister seiner Kunst und Meister seiner selbst geworden und hätte zuletzt auch die Versuchung durch Meisterschaft überwunden. Und er wäre jetzt wieder hier unter uns, in der Stadt, die durch sei­ nen Unterricht erst völlig städtisch werden könnte. Der Philosoph wäre zurückgekommen, weil er an der offen­ sten Weltstelle, in der Akademie, sich selbst und seinen Zusammenhang mit der Erfahrungswelt, der Physis, und dem, was jenseits der Physis liegt, erklären will; und er bliebe hier, um sich als Beispiel für Erzogenheit, für ihren Glanz und ihre Grenzen anzubieten. Wenn der Philosoph seine Schule eröffnet, lädt er die Nicht-Erzogenen ein, nicht dort und so zu bleiben, wo und wie sie sind; es ist seine Mission, den Bürgern und den Jungen zu zeigen, wie sie aus ihren Höhlen: ihren Familienbefangenheiten, ihren Stammesneurosen, ihren Meinungskäfigen herausfinden. Er darf schon eine »kulturpolitische« Situation unterstel­ len, in der zahlreiche Einzelne ihr Interesse entdecken, Abstand zu den Trugbildern ortsgebundener Identität zu halten. Damit aber der Philosoph von der Stadt aus in die Peripherie und an den Himmel ausgreifen kann, wäre vor­ auszusetzen, daß er ganz in den Stadtraum hineingewach­ sen ist. Sein Exodus vom Städtischen ins Kosmische kann sich allein auf urbanem Boden abspielen. Die Deterritorialisierung des Geistes ist abhängig von einem Territorium, auf dem Bürger ihre Interessen verfolgen, Meinungen ha­ ben, über das Rechte streiten und sich auch bereits von den Geschäften zurückziehen. Wer ins Überstädtische aufbre­ chen will, muß zuerst ganz städtisch geworden sein.

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Mit dieser überspannten Zeichnung, meine Damen und Herren, mit diesem fast lächerlichen Curriculum des zu Ende erzogenen Philosophen habe ich umrissen, was Hei­ degger, der Freiburger Philosophieprofessor und ErzieherAnreger einer Generation von jüngeren Denkern und Wis­ senschaftlern, nie getan und nicht einmal versucht hat. Er hat die Dimension Stadt zu keiner Zeit erreicht, weder in seiner Gestimmtheit noch in seinem Diskurs, er blieb zeit­ lebens irgendwo draußen vor den Toren bei den Unscheinbarkeiten und Unheimlichkeiten der alten Natur, bei den Bäumen, den Gräsern, den unterirdischen Knollen, den Glockentürmen kleiner Kirchen. Seine »Lichtung« ist eine Waldmetapher, kein Hinweis auf den Markt, den bürger­ lichen Diskussionsraum. Und da er schon nicht bis zur Stadt und Stadtmitte, zur Agora, zum Forum vordrang, blieb ihm noch mehr fremd, was über die Stadt hin­ ausreicht, der staatenpolitische Raum, der neuzeitliche Kosmopolitismus, der interkontinentale Verkehr. Was hochseetüchtige Schiffe, was Kapitale und Medien sind Weitungsmittel, Übergangsmittel, Umzugsmittel, ontokinetische Transporter, wörtlich: Hinüber- und Hinausträ­ ger ins horizontal Offene -, das verstand und schätzte er in keiner Weise. Er schaute nicht zum atlantischen Fenster hinaus, wie Neuzeiteuropäer es verbindlich tun, er holte die Entdeckung Amerikas nicht im Denken nach, er sah nichts Schicksalhaftes und Wiederholungswürdiges, nichts immer wieder neu zu Deutendes in der Fahrt Maghellans um den Globus. Kurzum, er war kein Mann des Exodus, erst recht kein Denker der Globalisierung, und selbst den Weg vom Dorf in die nahe Stadt, die seine Universitäts­ stadt war, hat er nie mit ganzem Herzen zurückgelegt. Er wurde ein Meister ohne Wanderjahre. Die neuzeitbilden­ den Wege in die weite Welt sind ihm unangenehm und ver­ dächtig, er hält sie im Grunde nur für Fortsetzungen des Abstürzens in der Horizontalen; er meinte zuletzt, sie er­ ledigt zu haben, indem er sie dem schlechten Ge-Stell zu­ rechnet. Einem Bekannten, der im Begriff war, eine Reise 5°

nach Übersee anzutreten, schrieb er den Spruch des Lao Tzu auf: »Wer sein Haus nicht verläßt, der kennt die Welt.« Das ist nicht unschlau, sofern es aus einer Hem­ mung eine souveräne Haltung machen will. Wer jemals Stadtluft geatmet hat und den Zusammenhang von Geist und Polis spürt, wird sich nicht täuschen lassen: Es gibt in Heidegger etwas Unumgezogenes, Weltscheues, eine Wut des Dableibens. Man kann aufzählen, woraus sein altes Da sich zusammensetzt: aus Dorfsilhouetten und Kleinstadtgassen, aus Wiesen, Wäldern, Hügeln und Ka­ pellen, aus Klassenzimmern, Schulkorridoren, Buchrükken, aus Kirchweihfahnen und abendlichen Glocken. Er wächst in einer katholisch-agrarischen Stammeskultur her­ an; er bleibt ihr verhaftet bis in die Tage des Ruhms, auch da, wo er den stürmenden Antikatholiken gibt und den Professorenhut aufsetzt. Was philosophisch zählt, ist im­ merhin nicht die gewachsene Bindung an die alemannische Urszene, es ist das ostentative Sicheinrichten in ihr und das grell-stille Sichdurchwaltenlassen von der Ursprungsge­ gend. Das Wohnen in dieser gerät dem Denker zum agier­ ten Theorem. Seine Besinnlichkeit betreibt die Rückfor­ matierung des Weltgeists zu einem ungeheuer gemachten griechisch-schwäbischen Lokalgeist. Das Dorfbegräbnis ist Heideggers Existential, es ist schon immer in ihm da wie das früh erkannte Ziel seiner Endlichkeit. Er will, daß die Gegend ihn behält wie eine Göttin, die die Ihren auf dem Schoß trägt. Gelegentlich schreibt er, zumal in seinem Spätwerk, Sätze nieder, die klingen, als wolle er eine Reli­ gion der ersten Landschaft stiften. So wird das Bleiben eine Tat, ein Ausdruck der Entschlossenheit zur Abwehr von zerstreuenden Kräften. In schrillen und weichen Tonarten bekundet er seinen Willen zum Ausharren im natalen Raum. Sein Gebleibe erscheint ihm wie eine Leistung des Seins, das hervorbringt und doch bei sich hält, wen es nahe haben will. Er möchte zuletzt in eigener Person zu einer Glocke im Turm der ersten Gegend werden und zur Sammlung rufen. Und da sich eine Glocke nicht selber läu­

ten kann, wird wohl das Sein selbst das Seil ziehen müssen. Bei dieser Einfaltung ins Herkommen macht sich erneut die Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Bewe­ gung geltend - auf unvermeidlich mehrdeutige, anfecht­ bare, strittige Weise. Heidegger rechnet letztlich alle rea­ len Expeditionen in den Weiteraum einem falschen, von der Zerstreuungsdynamik beherrschten Hinausgehen zu, während der wahrhaft großzügige Zug ins Umfassendere vom Sein selber herkommen müßte. Dem aber begegnet man, wie er glaubt, am besten in wartender Haltung zu Hause im alten Land, den Birken und den Bienen nahe, die Werke des Aristoteles und die Sprüche der Vorsokratiker in Griffweite. Wenn er den Sprung ins Offene lehrt, dann meint er ein Offenes auf der Stelle. Er verhält sich, als müsse er in die Gegend, in die er geboren wurde, immer tiefer einwandern. Was er Wohnen nennt, gerät zu einer unabschließbaren Übung des Sich-Zugehörig-Denkens zu einem nichtgleichgültigen Ort. Er meditiert die eigene Landschaft als Herd einer Aufgabe und Bezirk einer Ver­ bindlichkeit. Und so wird er, wie oben vorweggenommen, ein Umzugs­ verweigerer, der den bäuerlichen Vorbehalt gegen die Stadtunruhe denkerisch überhöht. Das geht bei ihm bis zu einer Absage an den Horizont, weil dieser noch zu sehr von Räumen redet, die sich dahinter auftun, und von der frech in sie hinausspähenden, ihrer Leistungen gewissen Subjektivität Zeugnis gibt. Dem entspricht seine Ableh­ nung aller schlechten Öffentlichkeit - und eine gute kennt der Denker kaum, schon gar nicht als vielstimmige, dis­ kutierende, politische. Die zweiunddreißig Parteien des Weimarer Parlamentarismus haben jedenfalls seine Hoch­ achtung nicht; sie sind für ihn nur Organe der Kollektiv­ konfusion und Umwälzer des Geredes. Allenfalls die Pu­ blikationen des Seins im Kunstwerk mag er als Setzungen gelten lassen, die den öffentlichen Raum markieren, ja viel­ leicht erst eigentlich eröffnen. Das Dasein hat, Heideggers unbeirrbarer Intuition zufolge, in den Horizonten und

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Öffentlichkeiten außer Zerstreuung nichts zu suchen. Ohne dort gewesen zu sein, doziert er gegenüber Studen­ ten und Freunden: »Das großstädtische Wesen aber ver­ schafft nur ein Angeregt- und Aufgeregtsein - den Schein einer Wachheit. Auch das beste Wollen wird erstickt in Sensation und Repräsentation .. ,«24 In den Städten vermu­ tet Heidegger den der Notwendigkeit entlaufenen, über­ befreiten, ins Beliebige entfesselten Menschen, der nicht weiß, was er will und soll, und darum meist mit dem Erst­ besten geht. Er wittert in den städtischen Lebensformen die Ironie, die ihm mehr als alles andere verdächtig und verhaßt ist, vielleicht auch, weil sie die Versuchung des Phänomenologen selbst darstellt - es ist die Versuchung durch die Distanz, die der Philosoph durch eigenes Bei­ spiel fördert, indem er seinen analytischen Urlaub vom Leben nimmt: die Versuchung, frei zu schweben und sich vom situativ verankerten Dasein loszulösen. In der Ironie setzt sich der Subjektivismus durch, der nur noch zufällig­ mutwillige Zuwendungen zu Dingen und Personen kennt - mitsamt den entsprechend willkürlichen Abwendungen von beiden. Die Stadt bringt Lebensformen hervor, in denen alles »in das gleichförmig Abstandlose zusammen­ geschwemmt« wird25, zur Sammlung im Falschen. Die Großstadt beherbergt die ironischen Massen unterergriffe­ ner Menschen, die nach opportunistischen Überwältigun­ gen süchtig sind, weil sie keine Vorstellung davon besitzen, was ein Werk ist und was Ergriffenheit durch Unumgäng­ liches vermag. Daß auch die vielen in den Städten sich nicht nur zerstreuen, sondern Pflichten nachgehen und ih­ ren Ernstfällen, privat und öffentlich, sich stellen, davon mag der Sammlungsphilosoph nichts wissen. Darum bleibt er in der Provinz, der er gehören will, und zelebriert dort seine Gebliebenheit bei der Sache des heimatlich-unheim­ lichen Seins. Zitiert nach Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Bio­ graphie, Frankfurt / New York 1988, S. 194 25 M. H., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen, 6. Aufl. 1990, S. 158 24

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In dieser Hinsicht ist Heidegger, der Dableiber, ein Denker in der gehemmten, der eingeschränkten, der zurückgehal­ tenen Bewegung. Das ist der Grund, warum man von ihm über die Bewegtheit der Existenz in welteröffnenden Um­ zügen und Auszügen nichts oder doch nur ex negativo etwas lernen kann. Der Denker in der Bewegung weiß selt­ samerweise kaum ein Wort zu sagen über das Verbind­ liche, das im Forschen, Reisen, Probieren liegt, über das Sichanfreunden, Unternehmen, Ausarbeiten, über das Um­ formatieren und Übersetzen, über das Verknüpfen von Texten und Traditionen oder das Zusammenbringen von Bündnissen und Mannschaften. In dieser Haltung ist er nur einer unter den vielen Kritikern der Moderne, die ein unerfahrenes und feindseliges Schweigen hören lassen, wenn es daran geht, von unseren besten Kräften zu reden: von Bricolage, vom Kreuzen, vom Sortieren, vom Kompromisseschließen26 und von dem ganzen Spektrum der Operationen, die Wissenschaft als Beruf und Kommunen­ bildung als soziale Plastik ausmachen. Heideggers Tiefe ist ohne Breite. Ihn interessiert die Seitenbeweglichkeit so wenig wie das Weiterkommen in der Ebene. Er hat keine Theorie der Forschung und keine positive Idee von Enzy­ klopädie. Man kann von ihm wuchtige Variationen über die philosophischen Achsenmächte Griechenland und Deutschland hören, kein Wort jedoch über andere Vater­ länder der Vernunft, nur wenig über andere Ursprungsge­ genden der Besinnung. All diese Quellen von Mehrzahl stören sein Beharren auf Verwesentlichung, Sammlung, Genommenwerden. Die Erfahrung als solche ist für ihn schon zu sehr vom ontologischen Staub, von der nicht übernehmbaren Zufälligkeit, bedeckt.27 Wer Erfahrung sucht, den sieht der Denker schon in dem Sog treiben, der ins Beliebige zieht. Aber in dem Maße, wie Heidegger sich 16 Vgl. Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer sym­ metrischen Anthropologie, Frankfurt 1998, S. 168 27 Vgl. John C. Caputo, Heidegger’s Essentialism, in: Demythologizing Heidegger, a. a. O., S. 118-130

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gegen die horizontale Bewegtheit gleichgültig zeigt, ver­ spielt er die Chance, über ein Motiv, das ihn aus der Sache des Denkens dringend anging, etwas Eigenes zu sagen. Als Ontokinetiker hat er deswegen nur halbe Arbeit geleistet. Gewiß, er hat monoton wie kein anderer vom Gehen auf Wegen und vom Springen ins Offene gesprochen, doch gilt das immer nur für die Stelle im Seienden, wo die Geburt ihn hingeworfen hatte. Seine »Wege« sollen nirgendwo an­ ders hinführen als dorthin, wo die Existenz je schon ist. Wenn Heidegger die Metapher des Weges gebraucht, dann auch um den Sinn für Richtungen, die anderswohin zeigen, zu unterminieren. Er läßt den Zug der geschichtlichen Ausreisen ins Weite und Weitere auf sich beruhen wie et­ was, das ihn selbst nichts angeht. Bis zuletzt beschränkt er sich darauf, das Ethos des bewegten Daseins als »Aufent­ halt« an einem zugewiesenen Weltort auszulegen. Er hält schon die Heimat für so tief, daß ein Leben nicht genügt, sie zu erreichen. Hölderlins Wort, daß der Geist Kolonie liebt, und dessen anderer Satz, daß immer ins Ungebun­ dene eine Sehnsucht geht - sie bleiben für den Mann aus Meßkirch toter Buchstabe. Manchmal läßt er sich herbei zu Andeutungen, daß die Liebe eine Hingezogenheit sei, die Menschen ins Weite zieht, ja, ihnen das Seiende im gan­ zen in einer gewissen Gestimmtheit enthüllt. Aber er be­ gegnet den realenFremden, den empirisch fernen Anderen nicht durch eine eigene Extraversion. Er findet die Men­ schen fast nur auf dem Umweg über das Zeug, das auf sie deutet und dem sie zugehören. Damit er eine Erfahrung mit ihnen macht, müssen die Anderen sich schon auf ihn zu bewegen. Als ihm der Buddhismus in Gestalt von japa­ nischen Besuchern ins Haus kommt, gewährt er ihm Gastrecht. Hingegen die Raumliebe als entschiedene Be­ wegtheit, die Reise als Eigenleistung des Lebens, das hin­ ausgeht und auf Fremde wie Fremdes trifft, die prinzipielle Hinfahrt, der Exodus in ein besseres Land, gar das Er­ wachsenwerden auf anderen Kontinenten, das alles ist Heideggers Sache nicht. Wer dies als Vorzug darstellen

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möchte, könnte darauf hinweisen, daß ein solches Denken nicht auf Eroberung und Missionierung aus sein kann, weil es seinem besinnlichen und sammelnden Zug entspre­ chend anti-expansiv verfaßt ist. Es wäre seiner Natur nach ein Denken für eine post-missionarische, post-szientisti­ sche, post-universalistische, post-voluntaristische Epoche. Aber eine solche Epoche gibt es nicht. Wir verstehen, daß dem Denker Heidegger die Dimension Stadt unerreichbar bleibt, weil ihm eine Theorie der Erfah­ rung oder der horizontalen Bewegtheit fehlt. Es kann bei ihm darum auch keine Theorie des Wissens und der Wis­ senschaften geben; das Verbum »denken« ist für die im Stürzen und dessen Umkehr gewonnene Besinnung reser­ viert. Daher das Diktum: »Die Wissenschaft denkt nicht« wie denn auch, da sie sich ganz in der Horizontalen be­ wegt. Die Wissenschaften nehmen nach ihm zwar in gewisser Weise am Verfallen teil, sofern man sich eben in der Erfahrung und in der Abstraktion verirren kann, aber wie sie zu einer Kehre oder einer entschiedenen Wendung gegen ihren eigenen Betrieb kämen, muß bis auf weiteres unklar bleiben. Mit der direkten Opposition von Wissen­ schaft und Besinnung läßt sich den Wissenschaften zu­ nächst nicht helfen. Heidegger mißtraut der Erfahrung als dem Köder des Beliebigen, das so die Wissenschaften durchdringt, wie es die Städte beherrscht und die Massen dirigiert. Da er in die Stadt nicht einziehen kann, erreicht er die städtische Idee des Politischen zu keiner Zeit, weil das Politische für ihn hauptsächlich zur Erfahrung und de­ ren »Unwesen« gehört. Ihm bleiben die Faktoren des Polis-Lebens: der Wettkampf als die Begegnung der freien Rivalen, die Gesellschaft der Freunde, das Spiel der viel­ stimmigen Meinungen auf dem Markt und in der Volks­ versammlung28, von Grund auf fremd. Dieser Befund zieht allen Versuchen, in Heideggers Werk eine »politische Philosophie« hineinzulesen, enge Gren28 Vgl. Gilles Deleuze, Platon. Die Griechen, in: G. D., Kritik und Klinik, Frankfurt 2000, S. 184

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zen. Wenn Heidegger politisch wird, dann auf eine unpoli­ tische, vor- und außerstädtische Weise. Das Wort, das ihn ergreift, ist außer- und überparlamentarisch. In seinem Auftreten vermischen sich der wissensaristokratische Ha­ bitus platonischer Herkunft mit dem Stolz des älteren deutschen Professorentums auf seine Exterritorialität gegenüber Fürstenmacht und Volksmeinung. Der einzige Zugang zum politischen Raum eröffnet sich Heidegger durch den Ausnahmezustand, in dem, wie er meint, das private, korporative und parteipolitische Durcheinander­ reden vom Ruf des gemeinsamen Notstands beendet wür­ de; die einzige politische Gebärde, über die Heidegger ver­ fügt, ist die des Sich-freiwillig-Meldens im Augenblick der Gefahr. Hier artikuliert sich ein positives Ge-Stell, das sich in den vom »Schicksal« aufgegebenen Werken aufrichtet. In dieser Hinsicht bleibt er zwar nicht den Ideen, doch den Regungen von 1914 verpflichtet, als auch er sich wie Milli­ onen synchron Ergriffener freiwillig gemeldet hatte. Unter der Wirkung dieses Erlebnismusters kann der Denker im März 1933 gegenüber einer Freundin bemerken, er ver­ spüre in den aktuellen politischen Ereignissen, soviel an ihnen auch dunkel sei, »eine ungewöhnliche sammelnde Kraft«. Aus der geschickten Not ergeben sich, glaubt er, die verbindlichen Gemeinschaftswerke wie von selbst, weil es die Not ist, welche hinsichtlich der vielen sammelt und diktiert. Die richtige Not ist die wahre Diktatorin, so sehr auch ihre Diktate sorgfältig interpretiert werden wol­ len. Zum Führer der notwendenden Werke, für das eigene Land, für Europa, für die ganze in Riesenkämpfen zerklüf­ tete Welt, kann also nur berufen sein, wem vom höchsten Pol her diktiert wird - und dem vom hermeneutischen Pol her die höchsten Verständnishilfen gewährt werden. Daß hier eine Aufgabe für Philosophen liegen könnte, wenn schon die Rolle eines Sicherheitsberaters des Seins zu vergeben ist - wer wollte einem Angehörigen des Me­ tiers diese Idee verübeln? Heidegger sieht allerdings nicht, daß dem Führer der gleichgeschalteten Deutschen nicht in 57

der vom Philosophen vorgesehenen Weise diktiert wird. Er begreift zu keiner Zeit, daß die faschistischen Politiker nur als Container für kollektive Aufblähungen und als Leinwände für selbstverfertigte Projektionen auf sie »die­ nen« - doch solange der Denker selber vom Sichaufblähen und Projizieren akut gefährdet ist, kann er den Blähungs­ charakter der »Bewegung« nicht erkennen. Die Differenz zwischen dem Ausnahmezustand und der Aufblähung bleibt ihm für eine Weile unklar. So konnte es dem Philo­ sophen unterlaufen, als er sich von der deutschen und eu­ ropäischen Not einberufen lassen wollte, daß nur die Auf­ blähung ihn rief. Immerhin ist ab 1934 für ihn evident, daß die vermeintliche »Volksgemeinschaft« philosophisch unbrauchbar ist und durch eine andere Garantin von Ver­ bindlichkeit ersetzt werden muß, sagen wir eine Kunst­ werkgemeinschaft oder eine Versammlung der Empfänger von Zeichen aus dem Verborgenen, das ins Unverborgene heraustritt. Der Kunstwerkaufsatz ist das Zeugnis dieser Umstellung. Doch früher wie später bleibt Heideggers »Politik« entweder von überpolitischer oder von unterpo­ litischer Qualität. Wer bei Heidegger nach einer Theorie des Politischen sucht, wird eine Poetik des Notstands fin­ den.29 Ich sage nicht, daß diese Verengungen und Fehlversuche völlig unverständlich wären; sie spiegeln, in all ihrer Umwegigkeit, Unsachlichkeit und Ungeschicktheit, ein na­ hezu durchschnittliches deutsches Professorenschicksal in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wider. Überdurch­ schnittlich wird dieses dadurch, daß es zugleich in die 29 Philippe Lacoue-Labarthe hat in Die Fiktion des Politischen, Stuttgart 1990, Heideggers »Politik« als »Nationalästhetizismus« gekennzeich­ net. Das ist richtig gezielt, da es aber bei Heidegger nie um Ästheti­ zismus im üblichen Wortsinn geht, wäre der Ausdruck Nationalergologie vielleicht noch treffender. Heidegger ist es zu tun um die ver­ pflichtende Kraft des Werks (ergon), das von der Wahrheit her, was immer das hier heißen mag, in Auftrag gegeben ist. Das Werk ist die gute Seite des Ge-Stells, die man das Ge-Häuse nennen könnte und die später in Konzepte wie »Wohnen« oder »Aufenthalt« eingekleidet wird.

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Endspiele des Heroismus gehört, dessen Verabschiedung sich so gewunden gestaltet wie die der klassischen Meta­ physik Alteuropas. Für die Philosophie fatal wären Hei­ deggers Versäumnisse unter der Voraussetzung, daß man das Fehlende und Korrigierende nicht anderswo ausgear­ beitet anträfe. Die Lücke wäre verhängnisvoll, wenn es (neben manchen anderen, deren Stärken dort lagen, wo Heideggers Lücken klafften) Ernst Bloch nicht gegeben hätte, Heideggers Zeitgenossen aus dem expressionisti­ schen Jahrzehnt und seinen eigentlichen Antipoden in der philosophischen Sache. Bloch hat so begriffsintensiv wie bild- und klangbewußt die von Heidegger weder gewollte noch gekonnte Erfahrungs- und Auszugsphilosophie ent­ faltet. Auch Bloch entwickelt eine politische Ontologie des Notstands - der freilich in den Klassengesellschaften ein permanenter ist und einen ständigen Zustrom notwen­ dender Phantasmen ins kulturelle und politische Gesche­ hen bewirkt. Auf den Drang der Not richtet sich bei ihm die Erwartung, daß er vermittels der Traum- und Urteils­ kraft der kollektiven Unzufriedenheit sich zum voran­ treibenden Moment der Gattungsgeschichte verwandeln möge. Große Politik wird hier gedeutet als das Ins-WerkSetzen der Antizipationen besseren Lebens. Blochs Werk war daran gelegen, die Existenz der Menschen in ihrer we­ sentlichen Geschichte, der Exoduszeit, ganz aus dem zwei­ ten Modus der Bewegtheit, dem aus Unzufriedenheit und Großzügigkeit gespeisten Vorwärtsdrang, auszulegen - bis hin zu dem für die End- und Zielzeit versprochenen Ein­ zug der gesamten Gattung in ihre planetarische Kom­ mune, die er als erste wahre Gemeinschaft anerkennen wollte. Blochs Stärke als Bewegungsontologe lag darin, daß er die Erfahrung mit der Kehre oder der Revolution zusammenschloß - anders als Heidegger, der nur den Ab­ sturz mit der Kehre oder Gegenwende in eins zu denken vermochte. Hier wie dort ist das philosophische Denken am Äußersten und Ernstesten geeicht. Darum ist es für Heidegger typisch, daß er die Not der Notlosigkeit be­ 59

klagt, was soviel bedeutet wie: daß die Abstürzenden zu­ meist nicht genug erschüttert sind, um einer wirklichen Not-Wende teilhaftig zu werden; während es für Bloch be­ zeichnend bleibt, daß er auf die Not der falschen NotWenden verweist, die öfter zur Rechtswende als zur Linkswende führen. Wer sich auf solchen Ebenen irrt, des­ sen Irrungen gehen schnell ins Extreme. Wem Heideggers groteske Überinterpretationen des NS-Pseudokommunitarismus verwerflich scheinen, wird ebenso wenig bereit sein, Blochs somnambulisch-perverses ubi Lenin ibipatria gutzuheißen. Als Bloch und Heidegger sich einmal als äl­ tere Herren auf einem Podium begegneten, konnten die beiden Metapolitiker fast nur von Nebensachen reden. Die Poeten des Äußersten waren beide zu verlegen, um sich über ihre Arbeitsteilung zu verständigen. 4 Kehre

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß und damit, wenn man dem Titel dieses Vortrags glauben darf, zur Hauptsache. Ich will noch einige Worte sagen über den dritten Modus der von Bewegtheit überfallenen Existenz, über die Umwendung, die Kehre, die Revolution. Erst in bezug auf dieses Motiv läßt sich abschließend erläutern, was die synchrone Optik an der Heideggerschen Bewegt­ heitsstruktur sichtbar macht. Hier begegnen wir wieder wie bei der Fall- und Absturz-Analyse - einem Heidegger auf singulärer Höhe; hier ist er der Denker, der unter den Zeitgenossen im 20. Jahrhundert keinen Gesprächspartner hatte. Wo der mittlere Heidegger die Bewegtheit des Da­ seins in der Umwendung oder der Kehre zu denken be­ ginnt, da tritt er in einen Dialog mit den beiden einzigen Ebenbürtigen der westlichen Tradition ein: er findet sich, jenseits von Neuzeit und Mittelalter, allein mit Platon und allein mit Augustinus. Nur mit ihnen konnte er zu seiner Sache, zu der Frage nach dem dritten der wesentlichen Be­ wegungszüge des Daseins kommen: allein mit ihnen ist

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über Bewegtheit als Gegenbewegtheit und Zurück-Samm­ lung im Eigentlichen so zu reden, wie über dieses Thema geredet werden muß - behutsam, streng, beharrlich und in dem Bewußtsein, daß es um das Äußerste geht. Tatsächlich, nur im Gespräch mit Platon läßt sich die Frage nach der Wendung zur Wahrheit wiederholen, die der Gründer der Akademie in seiner Lehre exponiert hatte, und nur im Gespräch mit Augustinus läßt sich wiederho­ lend klären, warum unser Herz ein unruhiges sein muß, bis es Ruhe fände in dem großen Anderen. Platon, Augu­ stinus und Heidegger sind die Denker, die sich als einzige mit grundbegrifflichem Ernst Rechenschaft darüber gege­ ben haben, daß im Sein selbst »Revolution« stattfindet. Der Zusammenhang von Sein und Revolution ist für sie alle ein so tiefer, daß es ihnen unmöglich ist zu sagen, was Wahrheit ist, ohne zuvor gesagt zu haben, was Revolution, was Umkehrung, was Bekehrung ist. Ohne eine Umwäl­ zung des Gesamtsinns von Sein kann weder bei Platon noch bei Augustinus noch bei Heidegger von einer Wen­ dung in der Wahrheit oder einer Zuwendung zur Wahrheit die Rede sein. So ist die Feststellung gerechtfertigt, daß für diese Denker der Sinn von Sein nicht ohne Rücksicht auf eine »gegen­ wendige« oder »revolutionäre« Bewegtheit aussagbar ist. Platon wie Augustinus und Heidegger gehen davon aus, daß die Menschen »zunächst und zumeist« von der Wahr­ heit weg leben und in einer unvordenklichen Drift in den Irrtum und die Verdunkelung befangen sind. Das Irren ist in ihren Augen die ursprünglichste Möglichkeit des Da­ seins, und das nicht nur in dem Sinn, daß Menschen in die­ sem oder jenem Sachbezug »doxisch« auf dem falschen Weg sein können und von den meisten Dingen nichts ver­ stehen, sondern so, daß sie sich insgesamt in einer Fehlstel­ lung befinden und sie gewissermaßen mit dem Rücken zur eigentlichen Wirklichkeit und Wahrheit stehen. Wenn Hei­ degger notiert: »Der Mensch ist das Weg.«30 oder »das Da30 M. H., Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Frankfurt 1989, S. 323

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sein« lebt im Verfallen von sich weg31 (in der Sprache des Frühwerks: Das verfallende Existieren hat von sich her schon den Charakter eines Ausweichens und einer »Flucht«32), darf er, über den Graben hinweg, der die Moderne von der Antike trennt, die beiden alten Meister an seiner Seite wissen. Für sie ist das Irren die erste Bewe­ gung - wir haben diesen ursprünglichen Zug ins Falsche oben als das Fallen oder als den Absturz in die Zerstreu­ ung charakterisiert. Nur durch eine integrale Driftwende also, einen Richtungswechsel ihres Daseinszugs im gan­ zen, könnten Menschen ihr ausweichendes Treiben in der Unwahrheitsströmung korrigieren. Erst nach einer sol­ chen grundstürzenden Umkehrung würden sie imstande sein, sich, gegen ihr bisheriges Leben lebend und strom­ aufwärts denkend, der Quelle der Wahrheit wieder zuzu­ wenden. Wo so philosophiert wird, ist Erkenntnis in erster Linie Revolutionssache - sie hängt ab von einer so schwie­ rigen wie heilsbedeutsamen Bewegungskrise, in der sich entscheidet, ob Menschen ständig weiter abdriften oder »zurück«finden in den wahren Bezug. Platons Revolution heißt Umdrehung oder Herumfüh­ rung der Seele - griechisch: periagogé. Sie impliziert nichts geringeres als die Gesamtumdrehung der Lebensfahrtrich­ tung. Wer sich an Platons Höhlengleichnis erinnert, weiß, wie das gemeint ist. Da wird vorgeschlagen, sich vorzustel­ len, was geschähe, wenn die durch die Erscheinungen an der Vorführwand verzauberten, physisch fixierten Höh­ lensklaven, die Alltagsmenschen auf der Agora und die gerüchteabhängigen Medienbenutzer, losgekettet, umge­ dreht und zum Höhlenausgang hinaufgeführt würden: Hätten diese sich erst einmal auf den Weg zum Ausgang gemacht, so müßten sie wohl oder übel dort den Mecha­ nismus der Erscheinungserzeugung bemerken und folglich mit einem Mal sich darüber Rechenschaft geben, daß sie bislang auf bloße Projektionen hereingefallen waren. Was 31 M. H., Sein und Zeit, a. a. O., S. 179 32 Ebd., S. 260

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war dann bisher unser Leben? - ein Herumtappen in sinn­ lichen Trugbildern, eine Illustriertenillusion, ein Hocken vor Videos, die die Welt bedeuten. Wie ist das möglich? Es ist möglich, und hört nicht auf, die allermächtigste Mög­ lichkeit zu sein, weil nach Platon alle Erscheinungen in der Welt, alle Bilder, Anblicke und Sinnlichkeiten, von einem mentalen Projektor hervorgebracht werden, der Ideen auf Leinwände aus beweglicher Materie, also auf Körper, wirft. Die Welt im ganzen, soviel wird nach der erhellen­ den Umwendung klar, ist eine totalitäre Simulation. Die Existenz ist die erworbene Unfähigkeit zur Ideenschau. Sie bannt uns in die Internierung, halb Illusionsfestival, halb Gefangenenlager. Reißt man sich von den Bilderspie­ len los und sucht den Weg aus der Vorführhöhle ins Freie, so kommt man in der Nähe zum Ausgang an dem EidosProjektor vorbei: Im Blick auf ihn begreifen wir endlich: So also werden Erscheinungen gemacht! Die kleinere Lichtquelle im Höhleninneren, das Feuer, ist zusammen mit den vorübergetragenen urbildlichen Gegenständen verantwortlich für die Schatten, die die Welt bedeuten. Aber daß dieses Feuer selber nur Licht von dem Lichte ist, das von der Sonne des Guten stammt, das wird man erst draußen im Freien erahnen, wenn man nach dem Heraus­ treten aus dem Höhlenausgang der Sonne selbst gewahr wird. Wir können sagen, daß die platonische Umdrehung ein zweistufiges Geschehen vollzieht. Auf der ersten Sprosse lenkt sie die Aufmerksamkeit zu dem Menschen­ geist hin, der die Wahrheiten für alle Tage herstellt (soviel behält auch die moderne Erkenntniskritik vom platoni­ schen Bruch mit der Naivität zurück); von der zweiten an weist sie hin auf den transzendenten Geist, das blendende Wahre an sich selbst, das den endlichen Intellekt mit gren­ zenloser Lichtfülle von oben überflutet (diesen Teil des idealistischen Pensums läßt das moderne Denken meistens fallen). Das Höhlengleichnis zielt auf Befreiung durch Erkennt­ niskritik. Man kommt, Platon zufolge, durch die Wende, 63

die aus der Höhle führt, hinter den Schein und wird durch sie radikal umgedreht. Wer das erlebt, macht die Erfah­ rung, wie eine revolutionäre Ironie ihn überwältigt. Da­ nach reiht der Erkennende sich wie von selbst ein in die ironische Weltrevolution, die wir unter dem abgestande­ nen Namen Idealismus kennen. Wenn der Philosoph nach Platon auch den Pädagogen spielt, so will er eigentlich ein Periagogiker, ein Seelenumdreher, sein; die gewöhnlichen Kinderführer, die Lehrer und andere, die auch Geld neh­ men, bringen junge Leute dorthin, wohin sie meistens oh­ nedies wollen, auf Laufbahnstufen und Rednerbühnen. Der philosophische Kinderumdreher lenkt sie zu einem Ziel, das sie zunächst nicht anstrebten, weil sie aus Eige­ nem nicht ahnen konnten, was dort für sie zu gewinnen wäre. Er ist ein Psychagoge, der seine Schüler einführt in die Liebe zur »Wahrheit«. Er macht sie mit den Lichtspie­ len des Apriori vertraut, indem er in ihnen eine unüber­ windliche Ironie gegen das verfallene, verblödete, beses­ sene Leben, das sogenannte eigene, freisetzt. Das alles tut er, indem er über die andere Seite der Bilder, die eidetischen Mechanismen, informiert. Halten wir fest, daß noch Schopenhauer an diese radikalironische Ebene erinnerte, als er zu Protokoll gab, die Lehren Platons, Shankaras und seine eigene Philosophie besagten im Grunde ein und das­ selbe. Was Heidegger angeht, so liest er Platons Lehre von der Wahrheit nicht mit freiem Auge, sondern durch eine ka­ tholische, eine mönchisch geschliffene, eine augustinische Brille. Platons idealistisch-revolutionäre Ironie verliert sich völlig hinter der Schwermut der theologischen Welt­ geschichtsdeutung Augustins. Auch Augustinus denkt die Welt als Irre, in welche die früh verlorene Wahrheit erst wieder durch einen späten, rettenden Umschwung herein­ bricht. Seit dem Sündenfall, also fast von Anfang an, pflan­ zen die Menschen in ihren blutigen Städten und Reichen sich fort wie eine falsche und unaufhaltsame Prozession in Raum und Zeit. Alles, was zeugt, tötet und sich aufbläht,

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ist Nachkomme Adams und Erbe Kains. Allein im recht­ gläubigen Judentum, unter den Sprößlingen Abels, glimmt ein Funke des unentstellten Lebens nach. Für Augustinus ist die Menschwerdung Gottes inmitten der Lawine der Völker und Reiche der Revolutionspunkt; nur er gibt der triebhaften und mörderischen Parade potentiell eine an­ dere Richtung vor. Naturgemäß geht die Revolution des Gottmenschen über die Revolution durch Theorie weit hinaus; denn mit blo­ ßer Erkenntniskritik, bloß philosophischem Aufstieg zum obersten Prinzip, bloß analytischem Blick hinter den Bil­ derapparat und bloß ironischer Gottwerdung des Erken­ nenden ist eine rettende Umkehr nicht zu schaffen. Das zumindest ist der Glaube Augustins; dieser gibt ihm das Gefühl der Überlegenheit über die höchsten Stellungen der antiken Weisheit. Er meint zu wissen: Seine Revolu­ tion, die christliche, ist die wahre, weil sie weiter reicht als die der Philosophen. Sein weltlicher Ausgangspunkt ist nicht wie bei Platon die Unwissenheit, sondern die Ver­ zweiflung. Weil sie ihn durchdringt und weil er sich von ihr restlos durchwirken läßt, gewinnt Augustinus die Überzeugung, daß Menschen nicht erleuchtet, sondern er­ löst werden müssen. Erlösung ist der Einsatz der tieferen Revolution. Von ihr her gesehen sind die Tugenden der Al­ ten tatsächlich nur glänzende Laster, wie es im Jargon der Theologen hieß, und ihr Wissen nur ein elegant verdecktes Unwissen. Es wäre im übrigen leichtsinnig zu meinen, die Überbietung der Philosophie durch die »wahre Religion« sei in der nachchristlichen Situation gegenstandslos ge­ worden: Sie hat sich im 20. Jahrhundert, in der jüdischen Renaissance zumal, zurückgemeldet mit dem Anspruch, noch einmal den philosophischen Mythos der Wahrheit durch den ethischen Mythos der Kommunikation oder der Gerechtigkeit zu überbieten. Augustinus denkt die Weltgeschichte als einen Prozeß aus Doppelwendungen, der durch das Begriffspaar Perversion und Konversion darzustellen ist. Perversion meint die er­

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ste Abwendung von der liebenden Hingewandtheit allen Lebens zu seinem göttlichen Ursprung, sie exekutiert die primäre Revolte, also die Abkehr vom Zentrum und die Ausrichtung auf ein Epizentrum, das sich nach der Verdre­ hung zu sich selber hinkrümmt. Wie geht das zu? Satan, der glänzende Engel, schaut in den Spiegel und hält sich objektiv für überwältigend schön - wie denn auch nicht, da an ihm nichts als Teilhabe am Besten zu finden ist? Doch nun will er ein Privateigentum an seiner Wohlgeratenheit erwerben; er möchte sein Bild wie ein Startkapital in Besitz nehmen, um als sein eigener Herr groß herauszu­ kommen. Folgerichtig wird er sich in sich selber verschlie­ ßen und ohne Gott aus eigenem neu beginnen. Mit der Verschließung in sich kehrt er dem Ursprung, dem ge­ meinsamen Seins- und Glücksgrund aller Wesen, den Rücken. Er lebt von da an in einer Verzweiflung, die sich als Selberglänzenwollen äußert. Diese Abkehr vom Besse­ ren ist die Teufelsbewegung, sie liefert die Urform von ge­ machter falscher Gegenbewegtheit als Selbstbevorzugung der einst mit ihrem Anderen, ihrem Ursprung, zusammen­ gehörigen Kreatur. Mit der Selbsteinkrümmung fängt der Egoismus an und mit dem erblichen Egoismus die Un­ heilsgeschichte.33 Von da an streben alle Menschen wie von Natur aus nach Unwahrheit. Die Weltgeschichte ist nach Augustinus die Resultierende aus allen lokalen Teufelsbewegungen oder Selbstbezüg­ lichkeiten der Einzelnen, die den Ersten Egoisten nachah­ men. Wer von der anfänglichen Fehlbewegung erst einmal erfaßt wurde, und das ist nach Meinung des Kirchenvaters die natürlich gezeugte Menschheit im ganzen, bleibt kraft der Urperversion in einer übermächtigen Bewegung von Gott weg befangen. Das bewirkt ein Grundverhältnis, das peccatum originale heißt, zu Deutsch: Erstabsonderung oder Abkehr vom anfänglichen gemeinsamen Guten. Die 33 Eine distanziertere Variante der augustinischen Deduktion des Bösen fin­ det sich unten in dem Aufsatz »Luhmann, Anwalt des Teufels. Von der Erbsünde, dem Egoismus der Systeme und den neuen Ironien«, S. 84-100

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Sünde ist nicht nur ein moralischer Sachverhalt, sondern auch und ebensosehr ein kinetischer. Sie exekutiert das Weg! vom Gutem, das die maligne Zuwendung zum ge­ trennten Selbst einleitet. Entscheidend ist nun für Augustinus, daß diese Sezession vom gefallenen Menschen aus eigener Kraft nicht mehr überwunden werden kann. Die Trennung von Gott ist ein Akt, dessen Resultat, die Getrenntheit, für die Sterblichen zur Fixierung gerät. Was sie im folgenden auch unterneh­ men, seien sie zum Besseren wie zum Schlimmeren geson­ nen, es treibt sie immer weiter ab. Selbst wenn sie sich deutlich auf dem falschen Weg fühlten, wüßten sie von sich aus den richtigen nicht mehr zu finden - oder wenn schon zu finden, so doch nicht zu gehen. »Aus eigenen Stücken« kommen sie nie mehr aus der Trennungstendenz heraus; der Perversionssog, der Selbstbezug, die Wut des Eigen­ sinns sind auch beim bestgewillten Menschen stärker als jede Reue, jedes Heimweh. Die Menschheit vor Christus driftet also immer tiefer ins Heillose. Sie ist hineingerissen in den Strudel der Geschlechtlichkeit und ins Gebaren der gewaltübenden Völker. Das würde sich fortsetzen bis zum Ende des politischen und sexuellen Katarakts, bis zum letzten Zeugungsakt, bis zur letzten verdorbenen Geburt, bis zum letzten Krieg zwischen Staaten, wenn nicht der verlassene Gott sich entschlossen hätte, das für die Rück­ führung seiner von ihm abgewandten Geschöpfe Nötige zu tun. Die »wahre Religion« entsteht für Augustinus aus der Intervention Gottes in den pervertierten Weltlauf. Durch sie, und nur durch sie, wird eine Umkehr, die Konversion, die Metanoia ermöglicht. Gott selber ist das Subjekt der Gegenbewegung, denn wenn sich Menschen zu dem Glau­ ben, der »nach Christus« als der wahre auftritt, bekehren könnten, dann nicht, weil sie sich aus eigener Kraft geän­ dert hätten, sondern weil Gott ihnen aus ihrer Perversion zur Konversion verhelfen hätte. Wenn es Menschen ge­ lingt, zum Glauben an den Wahrheitsgott zurückzufinden,

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so ist das Gelingen dieses Glaubenkönnens - das versi­ chern die Theologen auf der Spur Augustins bis heute auf keine Weise die Eigenleistung des glaubenswilligen Subjekts, sondern eine Wirkung Gottes, der den Glauben an ihn gewährt. Hier tritt das Grundwort der augustinischen Theologie, Gnade, in Funktion. Die Gnade ist Ausfluß einer göttli­ chen Subjektivität, die den menschlichen Willen überholt oder mediatisiert, indem sie ihm schenkt, was dieser aus Eigenem nicht erreichen kann; sie läßt geschehen, was das Menschenkönnen und - wollen nicht vermag. Sie löst die Ge­ genbewegung aus, die in der Tendenz der ersten Bewegt­ heit als solcher nie mehr hätte zustande kommen können. Der Begriff (oder das Modell) der Gnade kehrt bei Hei­ degger - in das kinetische Schema Gelassenheit verwandelt - wieder. So wenig die Gnade vom bloßen Verlangen nach ihr erzwungen werden kann, so wenig steht es im Ermes­ sen des Menschen, sich selbst willentlich gelassen zu ma­ chen. Nichtsdestoweniger kann weder die Gnade ohne eine geeignete menschliche Bemühung um sie gewährt werden, noch ist die Gelassenheit erreichbar ohne eine in­ tensive Abspannung des Subjekts. Ihr widmet Heidegger eine Fülle monotoner Gedanken, die um das Motiv des »Übergangs« in die andere Einstellung kreisen. Somit kehrt nicht allein die Gnade bei Heidegger wieder - auch die theozentrische Bewegungsfigur: Gott läßt die Konver­ sion geschehen, wird als das Herzstück der Heideggerschen Lehre von der Kehre neu geschrieben. Nur die Kehre kehrt, die Gegenbewegung hat ihren Drehpunkt im Sein. Allein die sich zur Verfügung haltende Mitgenommenheit durch die gewährte Gegenbewegung läßt den Menschen in die »eigenste Möglichkeit« gelangen: in die Entschiedenheit, die gültige Ergriffenheit, in die Samm­ lung, in die Revolution, ins Werk, in die eigentliche Dich­ tung, in die ursprüngliche Innigkeit des Streits, in den »Gegenschwung im Seyn«, zuletzt sogar in die Schonung, ins »Spiegel-Spiel des Gevierts« und in die »eigentliche Be68

wëgung« - die Namen der umwendenden Motive sind so zahlreich, weil Heidegger bis zuletzt immer neue Deutun­ gen der Bewegung, die den Sturz kompensiert, in Betracht zieht. Er bleibt fortwährend auf der Suche nach etwas, was tiefer, umfassender und seinsgerechter wäre als jede profan verstandene Revolution. Das Motiv der Gegenwendung ist, wie gesehen, formal schon im Spiel, seit der junge Hei­ degger auf Vereigentlichung drängt. Es wird auf politisch nachtwandlerische Weise aktualisiert, solange der Denker glaubt, sein eigenes Drängen auf Mitgenommenwerden durch ein bejahbares Weltschicksal in die »nationale Revo­ lution« hineinlegen zu können. Es gewinnt an Volumen und Radikalität, als der von der NS-Bewegung enttäuschte Denker zu dozieren beginnt, es komme nicht mehr darauf an, einem »festgefahrenen Menschenbetrieb« vorhersehbar vergeblich neue Direktiven vorzusagen, sondern es gelte, eine integrale »Verrückung des Menschen«34 vorzuberei­ ten - wobei für eine Weile die Geste des »Sprungs« anzei­ gen sollte, wie das Sichlosmachen zum Mitgenommenwer­ den durch ein Wendegeschehen bewirkt werden könnte. Die Meditation der Gegenwende erreicht ihre abgeklärte­ ste Gestalt im Spätwerk, wo die Existenz nichts anderes mehr wollen soll als ihre gelassene Übereignung an das »Ereignis«. Der Ausdruck Gelassenheit steht jetzt für eine geführte und angehörige Freiheit, die der Beliebigkeit ent­ geht. Sie wäre jene Freiheit, die nicht in ironischer Unter­ ergriffenheit und hohler Selbstreferenz neben oder über allem verharrt, sondern sich vom Umgreifend-Verbind­ lichen gesagt sein läßt, was zu tun ist. Daher kann nun be­ hauptet werden, das eigentliche Denken sei auf dem »Weg in das >Unterwegs