»Natur« in der Transzendentalphilosophie: Eine Tagung zum Gedenken an Reinhard Lauth [1 ed.] 9783428545353, 9783428145355

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»Natur« in der Transzendentalphilosophie: Eine Tagung zum Gedenken an Reinhard Lauth [1 ed.]
 9783428545353, 9783428145355

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B EGRIFF UND K ONKRETION Beiträge zur Gegenwart der klassischen deutschen Philosophie

Band 2

„Natur“ in der Transzendentalphilosophie Eine Tagung zum Gedenken an Reinhard Lauth

Herausgegeben von

Helmut Girndt

Duncker & Humblot · Berlin

HELMUT GIRNDT (Hrsg.)

„Natur“ in der Transzendentalphilosophie

Begriff und Konkretion Beiträge zur Gegenwart der klassischen deutschen Philosophie

Herausgegeben von Thomas Sören Hoffmann, Hagen Martín Zubiria, Mendoza Wissenschaftlicher Beirat: Mario Jorge de Carvalho (Lissabon), Héctor Alberto Ferreiro (Buenos Aires), Lore Hühn (Freiburg i.Br.), Marco Ivaldo (Neapel), Walter Jaeschke (Bochum), Wolfgang Kersting (Kiel), Jean-François Kervégan (Paris), Hiroshi Kimura (Nagasaki), Theodoros Penolidis (Thessaloniki), Violetta L. Waibel (Wien)

Band 2

Reinhard Lauth 11. August 1919 – 23. August 2007

„Natur“ in der Transzendentalphilosophie Eine Tagung zum Gedenken an Reinhard Lauth

Herausgegeben von

Helmut Girndt

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Meta Systems GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 2198-8099 ISBN 978-3-428- 14535-5 (Print) ISBN 978-3-428-54535-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-84535-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Einleitung Helmut Girndt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I. Vorläufer und Begründer einer transzendentalen Natursicht Leibniz: Die Natur als Verwirklichung und Erscheinung der Vernunft Klaus Erich Kaehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Gehirn und Geist. Kant oder der komplementäre Logos von Philosophie und Naturwissenschaft Jacinto Rivera de Rosales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 II. Fichtes Naturphilosophie – terra incognita im Deutschen Idealismus Nichts Neues von der Lava im Monde. Fichtes Einspruch in Sachen Naturalismus Thomas Sören Hoffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Fichtes Begriff der Natur. Rezeptionsgeschichte im Wandel – Ein Forschungsbericht Hartmut Traub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Fichtes Naturlehre in der Sicht von Reinhard Lauth Marco Ivaldo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Der Naturbegriff in den Ultima Inquirenda Federico Ferraguto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Zwischen Natur und Nicht-Ich und dem Begriff der „Unterscheidung“. Von den Eignen Meditationen bis zur Grundlage Paolo Vodret . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Geist und Natur in Fichtes Ethik Cristiana Senigaglia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

6 Inhaltsverzeichnis Zwischen Natur und Geist. Fichtes späte Wahrnehmungslehre Faustino Fabbianelli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

III. Transzendentale und posttranszendentale Naturkonzeptionen im 19. und 20. Jahrhundert Schillers transzendentalphilosophischer Naturbegriff Emiliano Acosta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Die Natur und Ich: Über Aktualität und Bedeutung von Hegels Naturalismuskritik Christoph Binkelmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Transzendentale Naturbetrachtung und romantische Poetik bei Friedrich von Hardenberg (Novalis) Martin Götze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Architektur und Transzendentalphilosophie, der Naturbegriff Karl Friedrich Schinkels und seine Kunst- und Architekturtheorie Petra Lohmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Determinismus der Natur und Freiheit des Geistes. Die Rezeption Fichtes in Frankreich und die Ursprünge des französischen Spiritualismus Tommaso Valentini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Natur als Widerstand: Dilthey und Fichte Mario Jorge de Carvalho . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Natur als Korrelat der transzendentalen Intersubjektivität bei Edmund Husserl Peter Hess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Ausdruckswahrnehmung und Dingwahrnehmung. Zum Verhältnis von Kultur und Natur bei Ernst Cassirer Sebastian Ullrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407

IV. Zur Aktualität transzendentaler Naturkonzeptionen Transzendentale Naturlehre im Zeitalter von Relativitätstheorie und Quantenphysik. Neuinterpretationen von Raum, Zeit und Kausalität durch Cassirer, Medicus und Weyl Norman Sieroka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431

Inhaltsverzeichnis7 Neurowissenschaft und Transzendentalphilosophie. Reflexionen zur aktuellen Determinismusdebatte Matthias Scherbaum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Berühren verboten! – Das Leib-Seele-Problem und das Narziß-Paradoxon Harald Münster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 * * * Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503

Einleitung Helmut Girndt Vieles ist über die idealistische Naturauffassung veröffentlicht worden, Johann Gottlieb Fichtes transzendentalphilosophische Sicht der Natur ist jedoch unbekannt geblieben. Der einzige, der sich des Themas annahm, war der Herausgeber der kritischen J. G. Fichte-Edition, Reinhard Lauth. 1984 erschien eine von ihm verfaßte Monographie, mit dem Titel Transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, die allerdings ohne Resonanz blieb. Ein Anzeichen für die Schwierigkeit, dem anspruchsvollen Thema gerecht zu werden. Nach mehr als einem Vierteljahrhundert schien es deshalb angezeigt, interessierte Fichteforscher zu einer Konferenz einzuladen mit der Bitte, einen neuen Versuch zur Erschließung der transzendentalen Naturlehre zu unternehmen. Mit der Begegnung interessierter Forscher sollte zugleich des Lebens und Wirkens von Reinhard Lauth als eines hervorragenden akademischen Lehrers und Forschers gedacht werden, der zwei Jahre zuvor, am 23. August 2007, in hohem Alter verstorben war. Neben philosophischen Arbeiten u. a. zu Descartes, Marx und Dostojewski in zahlreichen Aufsätzen und insgesamt 60 Büchern, Neuauflagen und Übersetzungen eingerechnet, hatte Reinhard Lauth sein Leben der Erschließung der Transzendentalphilosophie Fichtes gewidmet. Unter seiner Leitung entstand die kritische Edition der Werke und des Nachlasses von Johann Gottlieb Fichte, herausgegeben von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, in insgesamt 42 Bänden, von denen die letzten sieben nach dem Tode Lauths erschienen. Mit diesem einzigartigen Monument philosophiehistorischer Forschung haben sich Reinhard Lauth und seine Mitarbeiter ein für alle Zeiten bleibendes Denkmal gesetzt. Seinen hervorragenden wissenschaftlichen Verdiensten entsprechend sollte deshalb das Treffen von Fichteforschern, viele von ihnen waren ehemalige Studenten Lauths, zugleich eine Begegnung zum Gedenken an den bedeutenden Lehrer und Gelehrten sein und in einem entsprechend würdevollen Rahmen stattfinden. Dazu bot sich kein geeigneterer Ort an als das im Geburtsort Fichtes stehende schönste Landschloß Sachsens, das Barockschloß Rammenau. Allerdings setzten die beschränkten räumlichen Gegebenheiten des Tagungsortes einer Begegnung der Fichteforscher gewisse Grenzen. Nicht alle

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Interessenten konnten vor Ort anwesend sein. Sie wurden deshalb gebeten, ihre Beiträge zum Thema schriftlich zu übermitteln, sodaß die im Schloß Rammenau vorgetragenen wie auch die dem Herausgeber zugesandten ­Essays erst in dem vorliegenden Band zu einer Einheit zusammenfanden. Ihre Abfolge spiegelt deshalb nicht den zeitlichen Verlauf der in Rammenau gehaltenen Vorträge während des 14., 15. und 16. Mai 2009 wider. Was bei dem Aufruf des Herausgebers an die Autoren, sich des Themas einer transzendentalen Theorie der Natur anzunehmen, im einzelnen und gesamten herauskommen würde, war nicht vorhersehbar. Doch entsprechen die hier vereinten Aufsätze in ihrem Zusammenhang der Intention des Herausgebers, die Bedeutung eines bisher nicht wahrgenommenen philosophischen Themas bewußt und bekannt zu machen. Die in diesem Band versammelten Essays ergänzen einander sowohl philosophiegeschichtlich als auch inhaltlich und erlauben einen umfassenden Blick auf das bisher unbekannte Terrain transzendentaler Naturphilosophie. Vorab soll eine kurze Übersicht über den Inhalt des Bandes gegeben werden. Im I. Teil, unter der Überschrift Vorläufer und Begründer einer transzendentalen Natursicht, werden zwei Denker behandelt: Leibniz und Kant. Klaus Erich Kaehlers Essay „Leibniz: Die Natur als Verwirklichung und Erscheinung der Vernunft“ beginnt mit der für die spätere Transzendentalphilosophie grundlegenden Feststellung, daß, wenn heute eine „Naturalisierung“ des Geistes gefordert wird, damit allein die „Natur“ dessen gemeint ist, was mit Begriffen und Methoden der Naturwissenschaft vergegenständlicht werden kann, verbunden mit dem Anspruch, damit alles zu erfassen, was es „in Wahrheit“ gibt. Um erkenntlich zu machen, wie widersinnig eine solche Reduktion im Lichte der Philosophie Leibnizens ist, wird dessen Naturbegriff in seiner Mehrschichtigkeit erörtert. Dabei sind Natur als Wirklichkeit der Vernunft und Natur als Erscheinung der Vernunft grundlegend zu unterscheiden. Und während ein erster philosophischer Weg von der (erscheinenden) physischen Welt zu ihrem Grund, den Monaden, führt, nimmt ein zweiter seinen Ausgang von den Monaden hin zur materiellen Natur (als deren Erscheinung). Beide Wege zusammen bilden, einander ergänzend, Leibnizens Metaphysik der Natur. – Unter dem Titel „Gehirn und Geist. Kant oder der komplementäre Logos von Philosophie und Naturwissenschaft“ beleuchtet Jacinto Rivera de Rosales das Verhältnis von Naturwissenschaft und Philosophie. Da empirische Wissenschaft mit der methodischen Abstraktion von aller Subjektivität beginnt, kann sie grundsätzlich nicht als letztes Wort über die Erkenntnis der Wirklichkeit gelten. Die transzendentale Philosophie hat ihre eigene Sicht vom Wesen der Natur und darf daher mit Recht auch über Subjektivität im philosophischen Sinne sprechen, denn diese bildet nicht nur die Grundlage aller Naturerkenntnis, sondern auch der Naturwissenschaften. Deshalb kann

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nur ein Zusammenwirken von empirischen und transzendentalen Erkenntnissen zu fruchtbaren Ergebnissen führen. Der II. Teil des Sammelbandes ist der Fichteschen Naturphilosophie als terra incognita im Deutschen Idealismus gewidmet. Unter dem Titel „Nichts Neues von der Lava im Monde. Fichtes Einspruch in Sachen Naturalismus“ erinnert Thomas Sören Hoffmann daran, daß Fichte wie kaum ein anderer seiner Zeit die Gefahr der Naturalisierung menschlichen Daseins erkannt und die in ihr liegenden philosophischen Herausforderungen angenommen hat, und daß er ihr mit den Begriffen von Subjekt, Geist und Natur in einem bis heute gültigen Sinne begegnete. Hartmut Traub beleuchtet in seinem Forschungsbericht „Fichtes Begriff der Natur. Rezeptionsgeschichte im Wandel“ sowohl gängige Interpretationsmuster der klassischen SchellingFichte-Kontroverse in ihrer Entstehung und Wirkungsgeschichte als auch neuere Ansätze, denen es um eine Entnaturalisierung des transzendentalen Naturbegriffs geht und schließlich um eine Sensibilisierung für Fichtes höchst bemerkenswerte Theorie der Vernunft-Natur und der natür­ lichen Vernunft. – Marco Ivaldo widmet sich der „Naturlehre Fichtes in der Sicht von Reinhard Lauth“. Entgegen geläufigen Vorurteilen, so Lauth im ersten Teil seines Werkes, hat Fichte umfassend über die Möglichkeit und die Grundform der Natur reflektiert und eine allgemeine Naturphilosophie entwickelt. Ausgehend vom Naturbegriff Kants wird im zweiten Teil seines Buches die Konstitution der Außenobjekte im Raume und ihrer Verhältnisse untereinander bis zur Ableitung des philosophischen Begriffs des Leibes verfolgt, woraus sich die Physik der Transzendentalphilosophie ergibt. Ein dritter Teil zeigt, wie die reflektierende Urteilskraft durch eine systematische Umkehrung der Relationsbestimmungen des Verstandes die Vorstellung einer höheren als der unorganischen Natur zu geben vermag, die als organische in pflanzliche und tierische Organismen zerfällt. Der vierte Teil enthält eine transzendentale Anthropologie. Schließlich wird gezeigt, daß nicht die Naturverfassung die Vernunft, sondern umgekehrt das Sichbilden der Vernunft die Naturauffassung erzeugt. In einem abschließenden Exkurs wird dargestellt, daß und wie die auf das Sichbilden der Vernunft gegründete Naturlehre Fichtes sich von der „objektiven intellektuellen Anschauung“ Schellings abhebt. – Ergänzend stellte Federico Ferraguto in „Der ­Naturbegriff in den Ultima Inquirenda“ dessen Anliegen vor, Fichtes Naturkonzeption als Teildisziplin der Wissenschaftslehre zu rekonstruieren. Aus einer Vertiefung ihres Prinzips ergibt sich das Postulat, sowohl die Naturlehre als auch die philosophia prima weiterzubilden. Im ersten Fall wird die Naturlehre vor ihren praktischen Ursprung gestellt und herausgefordert, das Prinzip aufzustellen, auf dessen Basis sie zu einer „Dynamik“ werden kann, Form auf Kraft zurückzuführen. Im zweiten rechtfertigt die Prinzipienforschung ihr kritisches Verfahren als philosophia prima, indem sie, komple-

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mentär zur Naturlehre, vom natürlichen Bewußtsein ausgehend sich zu einer vertieften Erkenntnis des transzendentalen Standpunkts erhebt. – Unter dem Titel „Zwischen Natur und Nicht-Ich und dem Begriff der ‚Unterscheidung‘. Von den Eignen Meditationen bis zur Grundlage“ weist Paolo Vodret auf die Differenz der logischen, theoretischen und praktischen Funktionen des Nicht-Ich in Fichtes Philosophie hin, begründet in der Selbstsetzung des Ich, ohne die es weder Naturbewußtsein noch praktisches Handeln gibt. Aus ihr ergeben sich auch die spezifischen Differenzen der Naturkonzeption Fichtes gegenüber der von Kant und Schelling. Cristiana Senigaglia untersucht auf der Grundlage der Sittenlehre von 1798 das Verhältnis zwischen „Geist und Natur in Fichtes Ethik“, in welcher der Philosoph sowohl von der mechanischen Naturgesetzlichkeit Abstand zu halten als auch Einheit und Kontinuität zwischen Geist und Natur als Bedingung wirksamen Handelns zu gewinnen sucht. Auf dieser Grundlage geht es um die Konsequenzen, zu denen der Standpunkt Fichtes im Bereich der Hirnforschung führt. – Fichtes Thatsachen des Bewußtseyns (1810 / 11 und 1811 / 12) zum Ausgangspunkt nehmend richtet Faustino Fabbianellis Abhandlung „Zwischen Natur und Geist. Fichtes späte Wahrnehmungslehre“ die Aufmerksamkeit auf dessen Theorie des Verhältnisses von Natur und Geist. Inwiefern dessen Theorie der Wahrnehmung kritisch vertretbar und was der Sinn transzendentalphilosophisch verstandenen „Wahrnehmens“ ist, wird im Hinblick auf Fichtes Ontologie des Lebens und wesentliche Begriffe wie Individuum, Leib und Materie erörtert. Im III. Teil werden transzendentale und posttranszendentale Naturkonzeptionen im 19. und 20. Jahrhundert in den Blick genommen. Emiliano Acostas Beitrag „Schillers transzendentalphilosophischer Naturbegriff“ entwickelt den Widerstreit zwischen Geist und Natur in Schillers Ästhetischen Briefen in der Absicht, ihn als eine genuin transzendentale Sichtweise zu verstehen, die sich nicht auf die Kants oder Fichtes reduzieren läßt. Schillers Denken entspringt vielmehr einem eigenständigen transzendentalphilosophischen Ansatz, der sich aus einem Primat der ästhetischen Vernunft versteht. – Im Beitrag „Die Natur und Ich: Über Aktualität und Bedeutung von Hegels Naturalismuskritik“ empfiehlt Christoph Binkelmann: Statt kurzsichtiger Auseinandersetzungen mit dem gegenwärtigen Naturalismus sollte man einen Blick auf die Auseinandersetzung Hegels mit Spinoza werfen, nach dessen Theorie die Naturwirklichkeit durch Selbsterhaltung bestimmt sei. Mit der Überwindung dieses Standpunktes demonstriert Hegel den Vorrang des Selbstbewußtseins als Prinzip der Wirklichkeit im Sinne Fichtes; da analoge Strukturbestimmungen von Selbsterhaltung und Selbstbewußtsein auf einen gemeinsamen Ursprung des Natur- und Ich-Begriffs und auf eine angemessene Verhältnisbestimmung beider verweisen. – Martin Götzes Abhandlung „Transzendentale Naturbetrachtung und romantische

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Poetik bei Friedrich von Hardenberg (Novalis)“ nimmt dessen Notiz „Statt Nicht-Ich – Du“ zum Ausgangspunkt von Überlegungen, in denen sich sowohl Kritik wie Bestätigung gegenüber der Wissenschaftslehre äußern. Fichtes Theorem der Wechselbestimmung von Subjekt und Objekt weiterführend will Novalis das Nicht-Ich nicht nur negativ als das Andere des Ich, sondern vornehmlich als lebendiges, organisch verfaßtes Gegenüber verstanden wissen. Aus dieser Perspektive interpretiert Novalis die Wechselbestimmung als Wechselrepräsentation, in welcher beide Pole die Funktion übernehmen, „Bild“ oder „Symbol“ des jeweils anderen Relationsgliedes zu sein. – Unter dem Titel „Architektur und Transzendentalphilosophie“ erörtert Petra Lohmann den Naturbegriff Karl Friedrich Schinkels und dessen Kunst- und Architekturtheorie unter dem Gesichtspunkt der Kultivierung des Menschen. Darüber hinaus kommen Analogien zwischen der Architektur als einem lebendigen Ganzen und dem philosophischen Systemgedanken zur Sprache und schließlich Schinkels ästhetische Anverwandlungen von Fichtes Theorem der Rührung des Gemüts. – In einer ergänzenden historischen Betrachtung geht es Tommaso Valentini in seinem Beitrag „Determinismus der Natur und Freiheit des Geistes“ um die Rezeption Fichtes in Frankreich und die Ursprünge des französischen Spiritualismus durch François-Pierre Maine de Biran und Joseph-Luis-Jules Lequier, die Begründer des französischen Spiritualismus; darüber hinaus geht es um die Frage, was die französischen Philosophen, die in Fichtes Denken ein Modell für die Überwindung des Determinismus sahen, von dessen Werken gekannt und verstanden haben. – Unter dem Titel „Natur als Widerstand: Dilthey und Fichte“ verweist Mario Jorge de Carvalho auf Fichtes Analysen des Widerstands als Ausgangspunkt einer philosophiehistorischen Diskussion, die über Dilthey bis zur Phänomenologie Schelers und der Existenzanalyse Heideggers reicht. Insbesondere geht es um die Denkansätze Fichtes und Diltheys und deren Auseinandersetzung mit dem Grundphänomen des Widerstandes, dessen Bestimmung und Rolle sowie seine ihn ermöglichenden Bedingungen. – In den Analysen Husserls, so Peter Hess, zeigt sich die „Natur als Korrelat der transzendentalen Intersubjektivität“ und die Welt im Ganzen als transzendental begründete Sinnstiftung, deren virtuelle Vollkommenheit in der transzendentalen Monadengemeinschaft angelegt ist. Wie die Welt im Ganzen ist auch die Natur als intentionales Korrelat transzendentaler Bestände zu verstehen, die in einer „ewigen Bewegung“ auf eine vollkommene Einheit ausgerichtet sind. – In seinem Beitrag „Zum Verhältnis von Kultur und Natur bei Ernst Cassirer“ stellt Sebastian Ullrich der „Dingwahrnehmung“ im Sinne Kants die „Ausdruckswahrnehmung“ zur Seite, in der sich Erlebnisse geistigen Inhalts manifestieren, die in ihrer Gesamtheit das symbolische Universum der Kultur ausmachen. Cassirers Konzept des Ausdrucks enthält eine Theorie interpersonalen geistigen Lebens mit Kon-

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sequenzen für den Begriff der Natur, der seinerseits auf Funktionen beruht, die sich im geistigen Leben entfalten. So ergibt sich eine Priorität der Sinnund Ausdruckswahrnehmung vor der Dingwahrnehmung, wie sie in Kulturmanifestationen originär zur Geltung kommen. Der IV. Teil ist der Aktualität transzendentaler Naturkonzeptionen gewidmet. Norman Sierokas Abhandlung „Transzendentale Naturlehre im Zeitalter von Relativitätstheorie und Quantenphysik“ erörtert Raum, Zeit und Kausalität im Anschluß an Kant und Fichte. Angeregt durch Diskussionen mit dem Fichte-Herausgeber Fritz Medicus, hatte der Mathematiker und Physiker Hermann Weyl um 1925 eine sog. Agenstheorie der Materie vorgeschlagen, die physikalisch als Antwort auf die Quantenphysik und philosophisch als transzendentale Naturlehre verstanden werden kann. Sierokas erörtert, ob und inwieweit der damals neue naturphilosophische Ansatz weiterhin tragfähig ist und durch die Entwicklung der Physik nach 1925 zu korrigieren wäre. – Matthias Scherbaum äußert sich in seiner ausführlichen Untersuchung „Neurowissenschaften und Transzendentalphilosophie“ kritisch zu den Forschungsergebnissen Gerhard Roths und Wolf Singers, insbesondere im Hinblick auf die Konsequenzen für das öffentlich-gesellschaftliche Leben und für Freiheit und Moral. – Nach Harald Münsters Ausführungen in „Berühren verboten!“ eröffnet der Autor Colin MacGinns mit der transzendentalphilosophisch verstandenen Frage „Can we solve the mind-body problem?“ einen vielversprechenden Weg zur Antwort, ob sich ein widerspruchsfreier Standpunkt im Anschluß an Immanuel Kant und Niklas Luhmann denken lasse, von dem aus der Zusammenhang von Mentalem und Physischem eingesehen werden kann. Für die wissenschaftliche Betreuung ist der Herausgeber dem Beirat der Schriften-Reihe Begriff und Konkretion des Verlages Duncker & Humblot, für seine engagierte Beratung und tatkräftige Hilfe Herrn Professor Dr. Thomas Sören Hoffmann sowie für die sorgfältige Überprüfung und Bearbeitung der Texte für die Drucklegung den Herren Dr. Markus Lorenz, Dr. Valentin Pluder und Patrick Tschirner M. A. zu großem Dank verpflichtet, deren aller Mitwirkung das Erscheinen des Bandes erst möglich gemacht hat. Ebenso danke ich allen Autoren für die große Geduld, die sie bis zur Fertigstellung des Buches aufbringen mußten!

I. Vorläufer und Begründer einer transzendentalen Natursicht

Leibniz: Die Natur als Verwirklichung und Erscheinung der Vernunft Klaus Erich Kaehler Die Metaphysik, die Leibniz in den letzten drei Jahrzehnten seines Lebens entwickelt hat, kann zwar mit Recht nach ihrem Zentralbegriff ‚Monadenlehre‘ genannt werden, aber ihre Begründung liegt der Sache wie der Konzeption nach in einer Metaphysik der ebenso subjektiven wie objektiven Vernunft – subjektiv als Vollzug, objektiv als dessen Sachgehalt. Das Subjekt aber ist die aktuose Vollzugseinheit beider: Geist. Dadurch ist alles Seiende wie alle Erkenntnis des Seienden auf eine absolut ursprüngliche vernunfttätige Einheit bezogen, einen Urakt als Urwirklichkeit. Alles übrige Seiende und alle Erkenntnis, die nicht mit diesem Urakt koinzidiert, gibt es nur als Differenzierungen, Modifikationen und eingeschränkte Vollzugsweisen der Einen Vernunft. Deshalb ist eine „Naturalisierung“ des (menschlichen) Geistes, wie sie heute vielfach gefordert wird, sogar von Philosophen – die allerdings, um dies zu fordern, nicht viel wissen dürfen von dem, was in der Philosophie schon getan ist, d. h. von der sachlichen Genese ihrer eigenen Disziplin –, im Rahmen der Philosophie von Leibniz nicht nur unnötig, sondern im Grunde sogar unmöglich: unnötig, weil der zu reduzierende endliche ‚Geist‘ ohnehin schon ‚Natur‘ ist; und im Grunde unmöglich, weil Natur, soweit sie nicht Geist ist, überhaupt nur da ist als Erscheinung, nämlich als Sein für das vernunfttätige Subjekt, das ‚Geist‘ heißt. Mit der Reduktion des Geistes auf Natur würde also auch das verschwinden, worauf reduziert werden soll. Es ist somit offensichtlich, daß hier alles darauf ankommt, was überhaupt unter ‚Natur‘ zu verstehen sei. Im Begründungszusammenhang der Leibnizschen Philosophie deckt dieser Begriff den gesamten Bereich des geschaffenen Seienden ab. Dieser aber ist gestuft in den ontologisch primären Bereich der Monaden oder individuellen Substanzen und den Bereich der materiellen, körperlichen Natur, die ontologisch den Status von Phänomenen hat. Dies ist der Gegenstandsbereich der neuzeitlichen Naturwissenschaft. Wenn heute eine „Naturalisierung“ des Geistes gefordert wird, so ist damit allein diese „Natur“ gemeint, die nur das umfaßt, was mit den Begriffen und Methoden der Naturwissenschaft vergegenständlicht werden kann, aber zugleich mit dem Anspruch, damit alles zu erfassen, was es „in

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Wahrheit“ gibt. Um erkenntlich zu machen, wie widersinnig im Lichte der Leibnizschen Philosophie eine Reduktion alles Geistigen und Psychischen auf diese Natur ist, sei im Folgenden der Naturbegriff in der Architektonik des Leibnizschen Universums verortet und in seiner Mehrschichtigkeit dargestellt. I. Der Begründungszusammenhang der Leibnizschen Philosophie im Ganzen: Die drei Ebenen Der Leibnizschen Metaphysik und der ihr zugehörigen Erkenntnislehre zufolge gliedert sich alles Sein und Erkennen in die folgenden drei Ebenen, angeordnet in der Reihenfolge, die vom unmittelbaren Selbstbewußtsein und den „ersten Erfahrungen“1 ausgeht und nach den objektiven und realen Gründen dieses „für uns“ Ersten zurückfragt und so zurückgeht zum „an sich“ Ersten, zur prima causa als ultima ratio: 1. die Ebene der individuellen Existenz, des natürlichen Bewußtseins, das sich je unmittelbar wahrnehmend auf eine Welt außer sich bezogen findet (passivisch!) und die hierin unwillkürlich gegebenen sinnlichen Eindrücke reflektierend formt, vergleicht und denkend bestimmt (monadische Ebene mit dem Korrelat der materiellen Natur)2; 2. die Ebene der geschaffenen Monaden als solcher, das Ensemble der in Existenz gesetzten vollständigen Begriffe, deren jeweilige Einheit die Grundkraft der Selbstentwicklung jeder Monade ist (monadologische Ebene); 3. die Ebene des göttlichen Geistes und seiner absolut ursprünglichen Vernunfttätigkeit (actus purus), die als einsehend, wollend und vollbringend der Urakt der „Schöpfung“ ist (theologische Ebene). Auf diesen drei Ebenen realisiert sich die Vernunft, das Wesen aller Dinge, zwar in verschiedenen Graden der Vollkommenheit, doch zumal und als 1  Gottfried Wilhelm Leibniz: „Schreiben Leibnizens in Betreff der Schrift Joh. Eberh. Schweling’s zur Verteidigung des Cartesianismus“, in: ders.: Die philosophischen Schriften, hrsg. von Carl Immanuel Gerhardt, im folgenden zitiert als GP, Bd. IV, Berlin 1880, 327, 329; ders.: „Animadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum“, § 7, ebd., 357; vgl. dazu Kaehler: Leibniz’ Position der Rationalität. Die Logik im metaphysischen Wissen der ‚natürlichen Vernunft‘, § 1.2, Freiburg / München 1989; ders.: Das Prinzip Subjekt und seine Krisen. Selbstvollendung und Dezentrierung, Kap. A.III.1.a, Freiburg / München 2010, 97–102. 2  Vgl. Kaehler: „Der Empirismus im leibnizschen Universum“, in: Hans Poser u. a. (Hrsg.): Nihil sine Ratione. VII. Internationaler Leibniz-Kongreß, Nachtragsband, Berlin 2001; 230–236 wird gezeigt, wie sich der Empirismus grundsätzlich auf dieser Ebene im Leibnizschen Universum verorten läßt.



Leibniz: Die Natur als Verwirklichung und Erscheinung der Vernunft19

eine Begründungstotalität. Die Mehrschichtigkeit des Naturbegriffs ergibt sich aus seiner Beziehung auf diese verschiedenen Stufen der Realisation der Vernunft gemäß der jeweils besonderen Form von Sein und Erkennen: Natur ist alles, was der ersten und zweiten Ebene angehört. Allein die dritte Ebene, von der alles Übrige abhängt, geht der gesamten Natur ontologisch voraus, weil sie durch nichts außer ihr begründbar und erklärbar ist. Natur aber – neuzeitlich gedacht – ist eben dasjenige, was durch anderes ist. Dennoch ist dieser Begriff zweideutig, denn obwohl alles Geschaffene Natur ist, ist diese wiederum als geschaffene doch auch in mehr oder weniger beschränkter Weise selbsttätig, wie Leibniz immer wieder betont. Das esse ab alio jeder Monade hindert nicht die Selbsttätigkeit ihrer Entwicklung in der Existenz „aus ihrem eigenen Grunde“, unter dem Gesetz der Abfolge ihrer Zustände, das den inneren Zusammenhang aller Momente ihres vollständigen Begriffs ausdrückt3. Von dieser Selbsttätigkeit, der vis primitiva activa im Geschaffenen (zweite Ebene), hängen wiederum die derivativen Kräfte der körperlichen Dinge, also ihre Bewegungen und Veränderungen sowie deren Gesetzmäßigkeiten, ab (erste Ebene). Dieses Begründungsgefüge enthält an den beiden Übergängen – von der ultima ratio zu den immateriellen Substanzen und von diesen zu den Phänomenen, welche die Körper sind – eine Übertragung von Realität als Kraft in das jeweils Begründete. Die Form aber, in der diese Kräfte einerseits im Grund, andererseits im Begründeten für die Erkenntnis des endlichen Geistes zugänglich sind, ist jeweils ganz verschieden4. Daraus entsteht eine Problematik, die letztlich resultiert aus der unaufhebbaren Differenz zwischen der ursprünglich-vollkommenen und reinen, darum absoluten VerMonadologie, § 11, in: GP VI, Berlin 1885. die Formen, in denen die Kräfte sich realisieren, sich in concreto nicht auf die jeweils ontologisch früheren zurückführen lassen, gilt in der Tat nur für die natürliche Vernunft der selber geschaffenen Geist-Monade. Die Transformationen der logischen Möglichkeit in die dynamische Existenz der Monaden und dieser in die körperliche Welt, als ihre wechselseitigen Erscheinungen in ihnen selbst, müssen dem göttlichen Urakt selbst durchaus als ein kohärentes Ganzes gegenwärtig sein; andernfalls wäre dieser Urakt nicht der absolute Vollzug der Vernunft als Einsehen, Wollen und Schaffen, wie Leibniz für die Grundbestimmung des göttlichen Subjekts immer wieder fordert und voraussetzt. Das Entstehen „neuer Eigenschaften“ auf der jeweils niederen Ebene mag zwar als „Emergenz“ bezeichnet werden (Hans Poser: Gottfried Wilhelm Leibniz zur Einführung, Hamburg 2005, 146 ff.), aber dies gilt nur für die Sicht „von unten“. Diese hat sich bei Leibniz noch nicht verselbständigt – die Realgründe dafür müssen im produktiven Grund selbst – qua ratio – als durch Einsehen und Wollen erzeugt vorausgesetzt werden, so daß für diesen wissendwollend-schaffenden Grund selbst die „Emergenz“ eine vollkommen konsequent einsehbare Transformation einer Stufe seines „inneren Objekts“ (Leibniz: Monadologie, § 46, in: GP VI) in die abgeleitete ist. – Vgl.: Streitschriften zwischen Leibniz und Clarke, in: GP VII, 412, § 89 (s. auch unten, Anm. 21). 3  Leibniz: 4  Daß

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nunfttätigkeit Gottes und der inhaltlich eingeschränkten Vernunft (als „Vermögen“) der geschaffenen Geist-Monaden, die einerseits nur existieren, weil und indem sie gehalten sind im kontinuierlichen Schöpfungswillen der ultima ratio, andererseits aber in ihren genuinen Vernunftakten formal gleichursprünglich mit dieser sind, wenngleich nur wie ‚Tropfen des Ozeans‘5. In analoger Weise sind die derivativen Kräfte der physischen Welt einerseits modificationes6 der ursprünglichen Kräfte, als welche sich die substantiellen Einheiten in den Grenzen ihrer inhaltlichen Bestimmung (und das heißt: gemäß ihrem je eigenen vollständigen Begriff) entfalten; andererseits aber sind sie doch wirkliche Kräfte, durch die die körperlichen Dinge ihre Gestalt, Bewegung und Veränderung erhalten. Dem erkennenden Bewußtsein sind diese Vorgänge jedoch nicht in dieser Brechung, nicht als Modifikationen der metaphysischen Wirklichkeit der Monaden gegenständlich, sondern als eigene Realitätsform, der sich jede Monade in durchgängiger Unmittelbarkeit ausgesetzt findet, nämlich im Fluß ihrer Perzeptionen. Deren nicht-rationale Form ist die der Sinnlichkeit überhaupt, und das Korrelat der Perzeptionen ist jeweils unmittelbar ein raumzeitlich-materiell Gegebenes. Die ursprünglich rationale Form dieses Geschehens, in der es vom göttlichen Schöpfer gedacht, gewollt und in Existenz gehalten ist, ist dem endlichen Geist nur in der abstrakten Allgemeinheit der Naturgesetze erreichbar, nicht aber als durchbestimmte Form auch der Realität, die unter diese Gesetze fällt7. Es ist aber diese Form, in der alles Seiende seine Wahrheit hat, weil es genau nur in dieser vollständigen Bestimmtheit in Existenz gesetzt ist durch den Urakt der ursprünglich-vollkommenen Vernunft. Von diesem muß deshalb die dem metaphysischen Objekt angemessene Darstellung ausgehen. II. Die ultima ratio der Natur Den skizzierten Gesamtzusammenhang hat Leibniz explizit oder implizit im Blick, wenn er von Natur spricht und sie als „ut sic dicam, artificium Dei“8 bezeichnet – ein „Kunstwerk“ jedoch, das Gott nicht aus einem willLeibniz: Essais de Théodicée, § 61, in: GP VI, 84. „Brief vom 21.01.1704 an de Volder“, in: GP II, Berlin 1879, 262. 7  Daraus ergibt sich die unverzichtbare Bedeutung der Erfahrung für den menschlichen Geist. Näher dazu Kaehler: Leibniz – der methodische Zwiespalt der Metaphysik der Substanz, Kap. IV.2b, Hamburg 1979, 98–104; die Zusammengehörigkeit von Empirismus und Rationalismus in den Positionen der neuzeitlichen Philosophie bis Kant weist umfassend nach Hans-Jürgen Engfer: Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophiehistorischen Schemas, Paderborn 1996. 8  Leibniz: „De ipsa natura sive de vi insita actionibusque creaturarum“ (1698), in: GP IV, 505 ob. 5  Vgl.

6  Leibniz:



Leibniz: Die Natur als Verwirklichung und Erscheinung der Vernunft21

kürlichen Gutdünken (bon plaisir9) schafft, sondern „geregelt durch die Natur der Dinge“ (ebd.). Dies ist der oberste, umfassendste Begriff von ‚Natur‘‚ unter den objektiv sowohl die Monaden fallen als auch die physische Welt, als welche die Monaden einander repräsentieren. Formal aber gründet diese „Natur der Dinge“ in der Vernunft, und das heißt: der Bestimmung und Verkettung der Wahrheiten gemäß den beiden Prinzipien des Widerspruchs und des Grundes. So ist Vernunft „nicht allein die Ursache unseres Urteils, sondern auch der Wahrheit selbst […], und die Ursache in den Dingen entspricht der Vernunft in den Wahrheiten“10. Die „Natur der Dinge“ bezeichnet somit die Ordnung aller Realitäten und ihrer Relationen in Existenz und Möglichkeit als rationale Ordnung. Diese alles umfassende „Natur“ aber – in der Bedeutung des Wesens alles Seienden – ist bereits das innere Maß des göttlichen Handelns selber, d. h. der ursprünglichen Einsicht in alles Denkmögliche, der unfehlbaren Wahl der besten aus allen möglichen Welten und der Existenzsetzung derselben, welche der eigentliche Schöpfungsakt ist. So steht Gott zwar nicht innerhalb oder unter dieser „Natur der Dinge“, und er ist auch nicht diese Natur; aber er ist der letzte Grund, durch den das Wesen zur allumfassenden, in sich gestuften Wirklichkeit wird. Nur so ist Vernunft nicht nur das Wesen, sondern auch die ursprünglich bestimmende Wirklichkeit selbst. In der Aktuosität der Vernunft, welche das göttliche Einsehen, Wollen und Vollbringen ist, hat das Wesen sein vollständig durchbestimmtes Sein – sein Bestehen als der Inhalt des absoluten Denkens und Wollens. Dieser Inhalt ist das gesamte „Reich des Möglichen“ (regio idearum, d. h. der reinen possibilia), welches seinerseits hierin besteht, daß es intuitivadäquat gedacht und eingesehen wird in seinem Möglich-Sein11. Hierdurch ist die Möglichkeit selbst gebunden an die Prinzipien und logischen Formen der Rationalität. Gehalt und Form der Vernunft stehen hierin ursprünglich fest; sie sind unabhängig von allem Geschaffenen, von endlichen Subjekten und Zeitlichkeit. So erst erhält das Mögliche seinen eigentümlichen ontologischen Status durch eine Wirklichkeit, die es als Mögliches trägt, und das heißt: als bestimmt Gedachtes im ursprünglich-vollkommenen Vollzug der einen und ganzen Vernunft. Das göttliche Subjekt ist diese unbedingte Wirklichkeit, dieser unbedingte Akt der vollständigen Vernunft-Erkenntnis – das darin ewig aktual Erkannte aber, das vollständig bestimmte Reich aller Ideen, ist „das einzige, was Gott nicht gemacht hat, da er nicht der 9  Siehe Leibniz: Nouveaux essais sur l’entendement, in: GP V, Berlin 1882, 362 (IV, III, § 7). 10  Leibniz: Nouveaux essais sur l’entendement, in: GP V, 457 (IV, XVII, § 1). 11  Siehe dazu die ausführliche Darstellung bei Aron Gurwitsch: Leibniz. Philosophie des Panlogismus, Kap. VIII, §§ 1, 2, Berlin 1974.

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Urheber seines eigenen Verstandes ist“12. Hierin sind mit der vollständigen Ordnung aller Ideen von den absolut einfachen bis zu den maximal zusammengesetzten eo ipso alle möglichen Aussagen, d. h. Enthaltensrelationen zwischen Ideen, festgelegt; und somit erhalten in der göttlichen scientia possibilium auch alle möglichen Sachverhalte ihren Ort und ihre analytische Begründung – sie werden vollzogen und erkannt als Teile der Bestimmungstotalität. Die letzten, umfassendsten logischen Subjekte aller möglichen Aussagen sind die vollständigen Ideen möglicher Individuen. Die absolut vollkommene Erkenntnis aller logisch möglichen Individual-Ideen erfaßt intuitiv-adäquat sowohl jede dieser unendlich komplexen Ideen als auch alle ihre Relationen untereinander, insbesondere alle Verträglichkeiten und Unverträglichkeiten zwischen allen Bestandteilen der verschiedenen vollständigen Ideen. Diese Erkenntnis schließt darüber hinaus aber auch die exakte Einsicht in alle Möglichkeiten ein, die Individuen nach Maßgabe von Ordnungsbeziehungen zwischen ihnen und ihren Bestandteilen zusammenzustellen zu verschiedenen Gruppen, den „Welten“. So wird eine „Welt“ gebildet durch das Ensemble derjenigen vollständigen Begriffe, für deren Interrelationen ein durchgängiges Gesetz besteht, das „Fundamentalgesetz“13. Jede Welt enthält wiederum, als Spezifikation ihres jeweiligen Fundamentalgesetzes, eine Ordnung mehr oder weniger komplexer besonderer Gesetze, die ebenfalls aus den bestimmten Sachgehalten der zu einer Welt zusammengeordneten Individuen resultieren müssen14. Der göttliche Urakt, der die ursprünglich vollkommene und adäquate Wirklichkeit der Vernunft ist, vollzieht sich jedoch nicht nur als Erkenntnis des Alls des Möglichen, sondern ist als Wille zum Besten zugleich die unfehlbare Erkenntnis des Besten aus allem Möglichen und das Vollbringen des Gewollten als Heraussetzen zur Existenz. In der dadurch „geschaffenen“ Welt verwirklicht die ultima ratio dem Inhalt nach das Maximum der kompossiblen Realität in der größtmöglichen Einfachheit der Gesetzmäßigkeit zwischen allen Teilen dieser Welt – eine Verwirklichung über die bloße Möglichkeit, d. h. das Gedachtwerden im Verstande Gottes, hinaus in eine gegen alles Mögliche ausgezeichnete Seinsweise. Diese Verwirklichung des Wesens in seiner Konzentration auf das Bestmögliche ist die metaphysische Bestimmung der Existenz. Ihre Verwurzelung im göttlichen Urakt bedeutet aber auch, daß sie gleichursprünglich mit allem Möglichen besteht. Dieses bleibt – von der Existenz aus gesehen – beständig in der Entscheidung, in der sich die Güte Gottes als Schöpfung permanent vollbringt (creatio continua). Essais de Théodicée, § 380, in: GP VI, 84, 341. dazu Gurwitsch: Leibniz, Kap. V, § 2. 14  Für eine genauere Erörterung des Problems, wie im Rahmen der Leibnizschen Idee formaler Rationalität eine „Welt“ zu bestimmen sei, sei verwiesen auf Kaehler: Leibniz’ Position der Rationalität, 394–405. 12  Leibniz: 13  Vgl.



Leibniz: Die Natur als Verwirklichung und Erscheinung der Vernunft23

Durch den Übergang von der Möglichkeit in die Existenz erhalten die vollständigen Begriffe der möglichen Monaden, die zur Existenz zugelassen werden, sowie die aus ihnen logisch folgenden Relationen eine andere Seinsweise – die der eigentlichen Natur. Hiermit wird die Zweideutigkeit des Begriffs „Natur der Dinge“ offenkundig: Bezieht er sich zwar auf die existierende, d. h. geschaffene Welt als solche, wie sie dem selber geschaffenen menschlichen Geist erscheint, so verlangt er doch, dieses weltliche Geschehen, seinen Realitätsreichtum und seine Ordnung, zu denken in der ursprünglichen Bindung an den höchsten Vernunft-Grund, als einsehendwollend-vollbringenden Gesamtakt. Betrachten wir nun diese andere Form, in der die vollständigen Begriffe derjenigen möglichen Monaden, die zusammen die geschaffene Welt ausmachen, existieren. III. Die Natur als Verwirklichung der Vernunft: Die Totalität der geschaffenen Monaden Die göttliche Vernunft verwirklicht aus dem All des Möglichen diejenige Realität, die insgesamt die beste der möglichen Welten ausmacht. Alle anderen möglichen Realitäten und Welten kommen nicht zur Existenz, obwohl ihre Möglichkeit per se davon unberührt bleibt. Der über die Möglichkeit hinaus zur Existenz verwirklichte Teil des „Denkbaren“, d. h. des nach den Prinzipien des Widerspruchs und des Grundes möglichen Sachgehalts, der das „innere Objekt“ des göttlichen Verstandes ist15, ist mit allem, was in der Existenz selbst daraus folgt, die Natur. Sie umfaßt also die Welt der Monaden, d. h. der in Existenz gesetzten vollständigen Begriffe, und alles, was in der jeweiligen Selbstentwicklung jeder Monade sich mitfolgend für diese ergibt: die Welt der materiellen Körper mit ihren Bewegungen und Veränderungen, welche metaphysisch die Phänomene der Monaden (und dies zugleich auch nur für die Monaden) sind. Dies also ist das ontologische Begründungsverhältnis zwischen der Natur als Selbstentfaltung der in Existenz gesetzten maximal konsistenten Begriffe der möglichen Individuen, d. h. geschaffenen Monaden, und der Natur als deren an sich logischen Relationen, die in jeder existierenden Monade unwillkürlich repräsentiert werden als das, was jede nicht durch sich selbst ist, weil der Sachgehalt der je anderen Monaden nicht in ihrem vollständigen Begriff enthalten ist: Aus der ursprünglichen – schon vor der Schöpfung feststehenden – inhaltlichen Gesamtbestimmung jeder einzelnen Monade in sich selbst resultiert ihr Bezogensein auf alle andere Bestimmtheit, mögliche wie wirkliche; und in dieser Form des unwillkürlichen Bezogenseins verwirklicht sich das an sich logische Verhältnis der individuellen Substanzen je an ihnen 15  Leibniz:

Monadologie, § 46, in: GP VI.

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selbst zugleich mit ihrer Selbstentwicklung, d. h. der Entfaltung desjenigen Sachgehalts, der in ihrem je eigenen vollständigen Begriff positiv enthalten ist. Diese insoweit aktive, selbsttätige Entwicklung ist ontologisch primär. In ihr verwirklicht sich der an sich denkbare Sachgehalt der Vernunft in der maximal bestimmten, konkretesten Form, nämlich der Individualität. Alle Interrelationen zwischen diesen metaphysischen Individuen ergeben sich von selbst aus den inneren Bestimmungen der Individuen. Insofern erzeugen die Individuen diese Relationen nicht aktiv aus eigenem Grund, im Unterschied zu den positiven Sachgehalten, die in ihrem je eigenen vollständigen Begriff angelegt sind. Dennoch sind die Bestimmtheiten der Relationen nur da für die Individuen, indem diese sich entwickeln. Aber jene sind da nur als gegeben und so, wie sie für das perzipierende Subjekt sind, d. h. erscheinen. Das aber, was erscheint, hat seine eigene Gesetzlichkeit und Notwendigkeit auf Grund der ursprünglich logischen Bestimmung und Ordnung dessen, was erscheint16, nämlich die in Existenz gesetzten vollständigen Begriffe derjenigen Monaden, die zusammen die beste aller möglichen Welten bilden, oder: das maxime possibile – dieses nämlich ist dasjenige Ensemble möglicher Individuen-Begriffe, das im „Konflikt der Möglichen“ den Sieg davonträgt nach dem Urteil der höchsten Weisheit (sagesse). Ist also die Totalität der existierenden Monaden innerhalb dieses zweistufigen Bereichs der Natur die kontinuierlich verwirklichte Vernunft, so schlägt die logische Form, in der diese Monaden-Begriffe und ihre allseitigen Relationen in statu possibilitatis gedacht werden, um in existentielle Formen. Dies macht die metaphysische Bestimmung der Natur aus. So wird die Einheit des vollständigen Begriffs einer Monade in der Existenz, in der der Sachgehalt, dessen Einheit sie ist, zur sukzessiven Entfaltung gelangt, zum tätigen Prinzip dieser Entfaltung, welches Leibniz die vis primitiva activa nennt. Zugleich wird damit der logische Zusammenhang, der die Ordnung der Bestandteile des vollständigen Begriffs bestimmt, zum inneren Streben (appetitus, nisus, conatus) von einem Zustand zum nächsten, gemäß der internen Ordnung der jeweiligen Monade. Jeder dieser Zustände ist zwar immer der der ganzen Monade, doch diese ist darin als ganze nur anwesend, indem sie über die je aktuale Bestimmtheit hinaustreibt zu neuen, veränderten Zuständen, in denen andere Momente zur existentiellen Präsenz kommen, die wiederum das Ganze nur in anderen aktualen Beschränkungen sind. Nur hindurch durch diese Reihe „vorübergehender Zustände“ (l’état passager17), der Perzeptionen, verwirklicht sich der an sich rein rationale, 16  Darum sind die materiellen Dinge, Bewegungen und Veränderungen, obwohl metaphysisch nur Phänomene, also ontologisch nicht selbständig, doch „bene fundata“ und keineswegs bloßer Schein. 17  Leibniz: Monadologie, § 14, in: GP VI.



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positive Sachgehalt jeder Monade in der (geschaffenen) Existenz. Diese Form der Verwirklichung ist bedingt durch die Endlichkeit jeder geschaffenen Monade, die sich unmittelbar an ihr selbst schon in dieser unaufhebbaren Differenz von Aktualität und Potentialität zeigt. So ist die als „ursprünglich tätige Kraft“ sich realisierende Monade zum einen der Form nach, in ihrer Seinsweise, begrenzt: Sie ist nicht der eine intuitive actus purus des klaren, deutlichen und adäquaten Denkens alles Denkbaren, welches die Seinsweise der göttlichen („Ur“-)Monade ist, sondern sie realisiert sich nur als sukzessive und darum immer nur partielle Aktualisierung der je eigenen, weil im je eigenen vollständigen Begriff angelegten und bestimmten Realität. Zum andern aber, dem Inhalt nach, verfügt die in der Existenz als selbsttätige Kraft sich entfaltende Einheit aktiv und positiv nur über denjenigen Sachgehalt, der in der Einheit des Begriffs dieser Monade, deren Realisierung sie ist, enthalten ist. Jede Aktualisierung erfolgt aus eigener Kraft nur insoweit sie diese Realität – nicht die anderer Monaden – zur Gegenwart bringt. Insoweit hat jede geschaffene Monade eine ontologische Spontaneität und realisiert sich als vis activa. Zugleich aber tritt mit jeder Perzeption das Bezogensein der Monaden aufeinander ihrem Begriff nach ein. Dadurch realisiert sich die vis activa immer nur zusammen mit und komplementär zu einer vis passiva. Die Veränderungen, die zugleich mit einer je eigenen neuen Perzeption sich in allen anderen Monaden der geschaffenen Welt gemäß deren individuellen Gesetzen vollziehen, werden nicht aus dem „eigenen Grund“, also der eigenen Aktivität erzeugt, sondern nur mitfolgend mit der in jeder Perzeption sich aktualisierenden eigenen Bestimmung repräsentiert18, d. h., sie werden wahrgenommen, vorgestellt, reflektiert als Anderes, Äußeres, so daß Leibniz die Perzeption auch prägnant bestimmen kann als repraesentatio variationis externae in interna19. Das Gesamtgeschehen und damit das durch die logische Ordnung vorgegebene allseitige Bezogensein aller vollständigen Begriffe aufeinander allein durch ihre an sich denkbare Bestimmtheit selbst liegt allen geschaffenen Monaden immer schon voraus20. Dieses Bezogen18  Gleichbedeutend nennt Leibniz dieses unwillkürliche innere Bezogensein jeder Monade auf alle anderen, nach Maßgabe ihrer jeweiligen individuellen Bestimmtheit, auch ein „Ausdrücken“ (vor allem im Briefwechsel mit Arnauld 1687–90). 19  GP VII, 330 f. 20  Vom Ganzen her gesehen, bedeutet die Repräsentation der jeweils anderen Monaden in einer jeden, gemäß ihrer individuellen Grundverfassung, eine allseitige wechselseitige Entsprechung der monadischen Entwicklungen und ihrer Momente. Diese Entsprechung folgt der in der Möglichkeit aller Monaden bereits feststehenden logischen Ordnung und wird von Leibniz auch als „universale Harmonie“ bezeichnet, im Unterschied zur „prästabilierten Harmonie“, welche die letztlich ebenfalls in jener Ordnung begründete Entsprechung zwischen rein monadischen, also seelischen (im weitesten Sinne), und phänomenalen, also körperlichen, Entwicklungen betrifft.

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sein ist die Signatur ihrer Endlichkeit, das Mal ihrer letzten Abhängigkeit von der übergeordneten absoluten Totalität der vernunfttätigen Urwirklichkeit. Der Übergang von dieser, worin jede Monade nur als Möglichkeit besteht, in die Existenz, worin sie kraft ihrer inneren Einheit gemäß deren Sachgehalt selbsttätig ist, ist nicht adäquat rekonstruierbar für den abkünftigen Geist21. Da jedoch dieser Geist vermöge der Gabe seiner „natürlichen Vernunft“ im Prinzip über dieselbe Vernunft verfügt, die als ursprünglich vollkommene die Bestimmungstotalität der Monaden und ihrer Phänomene setzt und hält, vermag er diese – und damit sich selbst – so zu denken, daß die Formen seiner Erkenntnis der Natur im metaphysischen wie im empirischen Sinne nur unter der Voraussetzung ihres absoluten Vernunftgrundes objektive Wahrheit haben. Soweit aber seine Vernunft durch und für ihn selbst reicht, deckt sie sich auch mit dem Denken dieses Grundes. Jeder genuine und wahre Vollzug eines Vernunft-Gedankens ist ein Stück Reproduktion der schöpferischen Urkraft. In formalen und abstrakten Bestimmungen vermag deshalb auch der endliche Geist in der metaphysischen und der erscheinenden Natur etwas von der Ordnung zu erkennen, in der sie geschaffen ist. Das formale Apriori der Mathesis reicht jedoch nicht aus, um die Realität der raumzeitlich-materiellen Natur zu erkennen, und die Begriffe der Metaphysik bleiben inhaltlich abstrakt gegenüber der unendlichen Konkretion der individuellen Substanzen. Was hier jeweils mangelt gegenüber der ursprünglichen rein rationalen Bestimmung, betrifft die Weise des Seins für das Subjekt, welches jede Monade ist, denn da alles mit allem in irgend­ einer und sei es noch so entfernten Beziehung steht, muß sich dieses Bezo21  Im Briefwechsel mit Clarke, also gegen Ende seines Lebens, hat Leibniz diesen Übergang einmal bezeichnet als „le miracle primigène“ (Streitschriften zwischen Leibniz und Clarke, in: GP VII, 412). Dieses „Wunder“ liegt jedoch nicht außer oder über der Vernunft, sondern ist nur der Ausdruck der Unzulänglichkeit des endlichen Begreifens für das, was nur als originatio radicalis, nicht durch Nachvollzug vollbracht werden kann – den Urakt des absoluten, rein rationalen Einsehens, Wollens und Vollbringens, der eo ipso in der Schöpfung kulminiert. Darum aber kann dem hierin tätigen göttlichen Fiat streng genommen nicht (gegen die Erwägung von Hans Poser: „Monads, Corporeal Substances, and the Mind-Body-Problem. Old answers to new questions“, in: Massimiliano Carrara u. a. (Hrsg.): Individuals, Minds and Bodies: Themes from Leibniz, Studia Leibnitiana, Sonderheft 32, Wiesbaden 2004, 291 f., und ders.: Leibniz zur Einführung, 145) die neuplatonische Bedeutung der „Emanation“ von Geist und Natur aus dem Ur-Einen, das jenseits des Seins und aller Bestimmung liegt, zukommen, auch wenn Leibniz den Terminus ‚Emanation‘ gelegentlich verwendet. Damit würde auch die prinzipielle Differenz zwischen der gerade durch Plotin eröffneten zweiten Epoche der Metaphysik und der neuzeit­ lichen Epoche verdeckt, deren Prinzip die Unhintergehbarkeit des produktiven Vernunftvollzugs und seiner Selbstunterscheidung ist, wie Leibniz sie auf der Grundlage seines univoken Vernunftbegriffs in der ultima ratio objektiviert hat.



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gensein auch auf irgendeine Weise an den Bezogenen ausdrücken. Daraus resultiert die erwähnte doppelte Transformation: Wie jede Monade sich gemäß der Reichweite ihres vollständigen Begriffs als tätige Kraft entwickelt und doch diese Kraft noch ursprünglicher abhängt von einer höheren, umfassenderen, weil ontologisch „früheren“ Kraft, dem göttlichen Einsehen, Wollen und Vollbringen, so spricht Leibniz auch den materiellen Dingen „eine gewisse Wirksamkeit, Form oder Kraft“22 zu, obwohl diese Kraft als Kraft nichts Materielles, Dingliches ist und ihre Wirksamkeit und Äußerung in den Bewegungen der Körper metaphysisch, ihrem eigentlichen Sein nach, nur resultiert aus den zu Grunde liegenden (primitivae) Kräften der Monaden gemäß deren interner Bezogenheit auf alles Seiende, so daß diese Kräfte in Wahrheit in Anderem begründete, „abgeleitete“ (derivativae) Kräfte sind. Sind sie auf Grund dieser Stellung im Ganzen des Seienden von ihren Gründen aus gesehen deren Phänomene, so erscheint in der Tat in ihnen die selber von der ultima ratio abhängige, darum au fond rationale metaphysische Ordnung der Dinge noch einmal auf eine andere Weise, als sie sich in den Monaden verwirklicht – nämlich so, wie sie spezifisch für endliche Subjekte erfahrbar und erfaßbar ist. IV. Die Natur als Erscheinung der Vernunft: Die körperliche Welt Die hierarchisch zweifach gestufte Begründung der raumzeitlich-materiel­ len Welt wirft das Problem auf, wie der Grund im Begründeten zu wirken vermag, ohne ihm die Eigenständigkeit zu rauben23. Wie schon hervorgehoben wurde, insistiert Leibniz darauf, daß die körperlichen Dinge den Naturgesetzen nicht als einer gleichgültigen, fremden Macht unterworfen seien, sondern daß sie den Dingen als deren eigene Kraft innewohnen. Diese Kraft 22  Leibniz:

„De ipsa natura“, in: GP IV, 507. die Monaden und unter ihnen vor allen die „vernünftigen Seelen“ kulminiert dieses Problem in der Frage nach der Möglichkeit der Freiheit geschaffener Subjekte, worauf hier nicht eingegangen werden kann. Nur soviel dürfte aus dem Gesagten schon erkennbar sein, daß, da Freiheit an die Ausübung der Vernunft gebunden ist, nur Gott vollkommene Freiheit besitzen kann, daß sie jedoch in verschiedenen Graden, nämlich nach Maßgabe der selbst getätigten Vernunft des Subjekts der Freiheit, auch den endlichen Vernunft-Subjekten zukommen kann: In dem Grade, wie es sich im Denken und Handeln von der selbst gedachten Vernunft leiten und bestimmen läßt, ist es „Grund seiner selbst“ und damit frei; dementsprechend sagt Leibniz vom Denken: „cogitare est […] esse rationem sui“ (Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, hrsg. von der Akademie der Wissenschaften, Bd. VI / 2, Berlin 1966 (ND Berlin 1990), 283). Diese graduelle Freiheit aber kann die geschaffene Monade nicht über das Gebundensein an Leiblichkeit, das permanente Gegebensein von sinnlichen Eindrücken und insgesamt über die Einbettung in das raumzeitlichmaterielle Geschehen der Natur erheben. 23  Für

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ist zwar nur wirkend, weil und indem sie resultiert aus den monadischen Entwicklungen und deren wechselseitigen Repräsentationen; sie heißt darum derivative Kraft. Aber dieses Resultieren ist selbst genuiner und notwendiger Teil des Ganzen von Gott und Schöpfung. Wie bereits gezeigt, geht aus der metaphysischen Ordnung der Monaden, als begründet im göttlichen Akt, das Geschehen hervor, das für die Monaden die äußere Natur ist, der sie in ihrer endlichen Existenz unaufhebbar ausgesetzt sind. Somit sind da überhaupt keine „Dinge“ als ausgedehnte Körper mit Bewegungskräften und mannigfaltigen Qualitäten ohne die immateriellen Monaden. Wenn Leibniz von den der „Natur an sich“ (natura ipsa) innewohnenden Kräften und Tätigkeiten spricht24, so bezieht sich das zunächst gleichermaßen auf die geschaffenen Substanzen und ihre Phänomene als materiell-dingliches Geschehen. Die ontologische Priorität der Substanzen vor den Phänomenen hindert keineswegs die umgekehrte Notwendigkeit, daß die Substanzen nur zusammen mit ihren Phänomenen sind, was sie sind, so daß diese in ihrer besonderen Seinsweise und auf einer anderen Seinsebene als der der ein­ fachen Substanzen die transformierten ursprünglichen Kräfte der Monaden austragen. Es ist deshalb nun genauer zu betrachten, wie dieses Zusammenbestehen von Monade und materiellen Körpern als Verhältnis von Grund und Begründetem zwar, aber doch mit irreduziblen Qualitäten jeder Seite, zu bestimmen ist. Für die Körper stellt sich hiermit die Frage nach dem Grad ihrer Realität. Dazu lassen sich in Leibniz’ vielfältigen Schriften drei Gruppen von Texten unterscheiden: 1. solche, in denen den Körpern keine andere Realität zugesprochen wird als die von Phänomenen der Substanzen; 2. solche, denen zufolge den Körpern eine der perzipierenden Monade externe Realität zukommt; und 3. solche Texte (besonders in der letzten Phase, wie im Briefwechsel mit Des Bosses), in denen sogar von einer „körperlichen Substanz“ die Rede ist. Nach dem bisher Ausgeführten können diese drei scheinbar divergenten Ansätze begriffen werden als verschiedene, je für sich einseitige Hervorhebungen von Aspekten, die in der Tat erst zusammen die ganze Mehrschichtigkeit der ‚Natur‘ bei Leibniz erkennen lassen. – Daß die Körper relativ auf die selbsttätigen Substanzen – substantia und agens sind für Leibniz gleichbedeutend – „nur“ deren Phänomene sind, macht sie, wie bereits betont wurde, keineswegs zu etwas Scheinhaftem, Unwirklichem25. Vielmehr 24  So in der Schrift „De ipsa natura“, in: GP IV, 504–516, besonders 505 (§ 5) und 507 (§ 7). 25  Zur langen Diskussion um den Leibnizschen „Phänomenalismus“ oder auch „Idealismus“ sei unter neueren Arbeiten vor allem verwiesen auf die breiten und sorgfältigen Untersuchungen von Robert Merrihew Adams: Leibniz, Determinist,



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sind sie so notwendig, wie die Substanzen und ihre aktiven Kräfte begrenzt sind. Darum hat nur die göttliche Substanz keine Phänomene; das zu ihr Andere ist ganz aus ihrer reinen Aktuosität als Einsehen, Wollen und Vollbringen entsprungen, mit einer heureuse nécessité26 hervorgebracht und in Existenz gehalten. Die Phänomene hingegen, die unwillkürlich mit der Selbstentfaltung der geschaffenen Monaden entstehen, unterliegen gerade nicht der Macht der Substanz, für die sie doch entstehen. Aber nicht nur die Notwendigkeit ihres Entstehens liegt nicht in der Macht der einzelnen Monaden, sondern auch die Bestimmtheit der Phänomene und die Gesetzmäßigkeit ihrer Veränderungen geschehen den Monaden nur. Alles, was sich ihnen zeigt, erscheint ihnen jeweils so, wie das, was eine Monade nicht ist, im Verhältnis zu ihr – ihrem jeweiligen Zustand und ihrem vollständigen Begriff insgesamt – bestimmt ist. Weil jedoch eine Monade weder über ihren eigenen Begriff verfügt noch über irgend einen vollständigen, d. h. Individuenbegriff, hat auch die Erscheinung dessen, was nicht in ihrem eigenen Begriff liegt, auf das sie aber kraft der Schöpfung, d. h. ihres kontinuierlichen Gedacht- und Gewolltwerdens, bezogen ist, den Charakter eines Gegebenen, das in seinem Gegebensein für die einzelne Monade eigene Bestimmtheiten darbietet, die sich nicht beliebig, sondern nur unter Beachtung allgemeiner Gesetze, unter denen auch die Monade selbst steht, veränTheist, Idealist, Oxford / New York 1994 und Donald Rutherford: Leibniz and the Rational Order of Nature, Cambridge 1995; ferner Poser: „Phaenomenon bene fundatum. Leibnizens Monadologie als Phänomenologie“, in: Renato Cristin / Kiyoshi Sakai (Hrsg.): Phänomenologie und Leibniz., Freiburg / München 2000, 19–41; Daniel Garber: „Leibniz and Idealism“, in: Hans Poser u. a. (Hrsg.): Nihil sine Ratione. VII. Internationaler Leibniz-Kongreß, Nachtragsband, Berlin 2001, 19–28; Heinrich Schepers: „Schwierigkeiten mit dem Körper. Leibniz’ Weg zu den Phänomenen“, in: Hans Poser u. a. (Hrsg.): Nihil sine Ratione. VII. Internationaler Leibniz-Kongreß, Nachtragsband, Berlin 2001, 99–110; Michel Fichant: „Leibniz et les deux voies de la philosophie de la nature“, in: Hans Poser u. a. (Hrsg.): Nihil sine Ratione. VII. Internationaler Leibniz-Kongreß, Nachtragsband, Berlin 2001, 89–98. Der erste, der im Rahmen einer gründlichen Gesamtinterpretation und -darstellung Leibniz bezüglich des Status der Körperwelt konsequent als „Idealisten“ – ohne pejorativen Unterton – eingeschätzt hat, war Ludwig Feuerbach: Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibnitz’schen Philosophie (1836 / 37), in: ders.: Sämtliche Werke, hrsg. von Wilhelm Bolin und Friedrich Jodl, Bd. 4, Stuttgart 1910 (ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1959); dazu Kaehler: „Das Leibniz-Bild Ludwig Feuerbachs im Rahmen seiner theologiekritischen Deutung der neueren Philosophie“, in: Alexandra Lewendoski (Hrsg.): Das Leibniz-Bild im 18. und 19. Jahrhundert, Studia Leibnitiana, Sonderheft 33, Wiesbaden 2004, 239–255. 26  Leibniz: Essais de Théodicée, in: GP VI, 230 (§ 191): „[…] ce prétendu fatum, qui oblige même la Divinité, n’est autre chose que la propre nature de Dieu, son propre entendement, qui fournit les regles à sa sagesse et à sa bonté; c’est une heureuse nécessité, sans laquelle il ne seroit ni bon ny sage.“ Siehe auch ebd. 255 (§ 231), 319 (§ 344); 386.

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dern lassen. Darin zeigt sich wiederum die metaphysische Begrenztheit jeder Monade, deren existentieller und epistemischer Ausdruck das ist, was man ‚Sinnlichkeit‘ nennt. Die Konkretion der Phänomene als erscheinende Form der intermonadischen Relationen, also als Form dessen, was jede einzelne Monade überschreitet und doch von ihr unabtrennbar ist, ist die Dinglichkeit. Damit sind wir bereits bei der zweiten These über die Realität der Körper: Sind sie zwar Phänomene, hinsichtlich ihres Seins für die Monaden, so sind sie doch zugleich etwas, das jede einzelne der Monaden, für die sie sind, schon überschreitet, zu ihr extern ist. Der Ausdruck ‚nichts als Phänomene der Monaden‘ muß dennoch nicht als falsch gewertet, die erste These also nicht widerrufen werden. Sie muß aber so verstanden werden, daß damit eben nur ihr Status im Ganzen des Seienden bestimmt ist, ihre Abhängigkeit keineswegs von irgendeiner einzelnen Monade, sondern von der Totalität aller. Da diese aber mehr ist als jede einzelne, auch wenn jede einzelne auf ihre Weise auf diese Totalität bezogen ist (nicht: sich durch ihre tätige Kraft darauf bezieht!), kommt in jedem Phänomen auch eine Realität zur Erscheinung, die nicht im vollständigen Begriff der jeweils perzipierenden Monade enthalten ist. Die dritte These, der zufolge es über die einfachen Substanzen, also Monaden im eigentlichen Sinne hinaus noch „körperhafte Substanzen“ (substantiae corporeae) geben soll, führt genau betrachtet die erste und die zweite These zusammen: Substanzen existieren nie ohne ihre Phänomene, weil sie innerlich als Phänomene repräsentieren (müssen), was außer ihnen – als Monaden, den metaphysischen Elementen der geschaffenen Welt – koexistiert. Der Sachgehalt (die realitas) des Repräsentierten kann metaphysisch nichts anderes sein als der Sachgehalt der anderen Monaden(begriffe). Er erscheint jedoch nicht in der (ursprünglichen) Form ihrer vollständigen begrifflichen Distinktion und Bestimmung, sondern nur als Gegebenes der Perzeption, und damit als von Anderem her bestimmt, über das die Monade nicht aus sich selbst verfügt, wenngleich die Form der Perzeption jeder Monade gemäß ihrer Individualität zugehört. Die raumzeitlichen Dinge, ihre Qualitäten, Relationen und Veränderungen sind somit die Erscheinung des an sich rein intelligiblen Gehalts der einfachen Substanzen, aber diese existieren auch nur, indem sie fortlaufend die Gesamtordnung aller koexistierenden Monaden auf irgendeine Weise repräsentieren, weil sie mit ihrer Einsetzung in den Verbund der Monaden, die zusammen die beste der möglichen Welten ausmachen, auch ohne ihr Zutun auf alle anderen passiv bezogen sind27. Damit sind zugleich die Phänomenalität und das Irreduzible, 27  Dieser Rückbezug auf die ultima ratio nicht nur der Monade, sondern indirekt auch der Körperwelt, macht noch einmal deutlich, wie die Differenz von Grund und



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Eigenwesentliche der körperlichen Dinge als Erscheinungen der Monadenwirklichkeit gesichert. Zugleich wird hiermit aber auch noch einmal deutlich, daß der Übergang vom Grund in das Begründete, also der „Umschlag“ von der immateriellen Seinsweise der Monaden in die besondere Qualität ihrer Erscheinungen, nämlich als raumzeitlich-materielle Körper, nicht aus dem Grund abgeleitet werden kann, sondern für die endliche Monade, die dies zu begreifen sucht, nur aus der Gegebenheit, die sie in ihrer bewußten und selbstbewußten, also sich von sich unterscheidenden Existenz vorfindet, aufzunehmen ist. Aber auch der Sache nach ist mit der Synthese von Phänomenalität und qualitativ eigener Seinsweise des Körperlichen der Monadenbegriff komplexer zu fassen, wobei der Kern, nämlich die Einfachheit als ursprünglich-tätige Kraft, so wenig angetastet werden darf, daß die konzeptuelle Einbeziehung des Körperlichen sich sogar so weit möglich aus diesem Kern entfalten sollte. Dazu muß noch einmal nach dem Verhältnis der Extreme: Substanz und Materie gefragt werden, und zwar genauer: Wie kann die Existenz der Materie aus der monadischen Verfassung der Wirklichkeit begreiflich gemacht werden? V. Substanz und Materie Es hat sich ergeben, daß die Monaden nur abstrakt gedacht werden, wenn sie nur als einfache Substanzen bestimmt werden. Gerade weil ihre Substantialität in der Selbsttätigkeit liegt, ist sie so eingeschränkt wie diese. Doch damit gehört auch noch ihre Einschränkung zu ihr – und diese ist auch für sie, indem das Perzipierte ihrer Perzeptionen ihr als Gegebenes erscheint, was der Realität nach nicht aus ihr selbst hervorgebracht ist wie die Perzeptionen, insofern diese ihre eigenen Zustände sind. Die Zusammengehörigkeit von einfacher Substanz und raumzeitlich-materiellem Körper macht erstere in ihrem metaphysisch realen Stellenwert erkennbar: Eine Monade zu sein bedeutet, sich zu finden und fühlen, erfahren und reflektieren, wissen und handelnd orientieren – je nach „Ausstattung“ der Monade – inmitten eines raumzeitlich-materiellen Geschehens, das vermittels eines in je besonderer Weise zugehörigen Körpers erfahren wird – zwar als Anderes in unendlichen Nuancen und Variationen, aber doch unhintergehbar als mitfolgend mit und somit auch in irgend einer Weise zugehörig zu der eigenen sukzessiven Existenz. Diese Art der Zusammensetzung von immaterieller Substanz qua vis primitiva activa und materiellem Körpersein ist nur dann möglich, wenn nicht Begründetem, die doch immer nur zusammen existieren, zugleich eine Differenz in der jeweiligen Seinsweise mit sich bringt, ohne daß dieser qualitative Übergang seiner Bestimmtheit nach aus dem Grund ableitbar oder überhaupt einsehbar wäre.

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beide Seiten auf derselben ontologischen Stufe stehen, sondern eine Seite Priorität hat. Diese zeigt sich an der Substanz darin, daß es ihre eigene vis passiva ist, die sich in ihrem materiellen Körpersein realisiert, die jedoch nichts wäre, ohne zusammen mit der eigentlich substantiellen, positiven vis activa realisiert zu werden. Nur diese realisiert das Eigensein und damit die besondere Perspektive auf alles, was sie nicht ist, also auf das, was perzipiert wird. Da hierin aber die alle Monaden übergreifende Ordnung zur Erscheinung kommt, gelingt eine Erkenntnis des in individueller Perspektive bloß Perzipierten nur durch Freilegung des Allgemeinen, das sowohl im Perzipierenden als auch im Perzipierten wirkt. Dieses ist der rationale Gehalt in allem Geschehen. Er übergreift alle Monaden, die zugleich seine größtmögliche Ausdifferenzierung über den Status des bloß logisch Mög­ lichen hinaus verwirklichen. Dieser rationale Gehalt ist das ursprünglich Reale, das jedoch in den dunklen, verworrenen und inadäquaten Formen der Perzeption nicht als an ihm selbst konkret zusammenhängend erscheint, sondern als außer- und nebeneinander in Zeit und Raum28. An allem derart Existierenden aber läßt sich die Rationalität doch in abstrakter Form erkennen, sofern es Gesetzen folgt, denen gemäß es sich in Bewegung und Veränderung befindet. Diese Gesetze wären ein bloßes Wunder, außerhalb jeder Begreifbarkeit, wenn sie nicht etwas zum Ausdruck brächten, das in den raumzeitlichen Körpern angelegt sein muß, damit sie sich überhaupt bewegen und verändern. Die Gesetze der Natur sind deshalb nur die abstrakt allgemeinen Formeln für die eigentliche Wirklichkeit in aller Erscheinung, nämlich die Kraft. Weder die bloße Ausdehnung noch die Materie für sich genommen können Bewegung und Veränderung hervorbringen. Sie sind nur Form und Träger, durch die die Kraft sich äußert. Diese aber ist das, was Substanz und Materie verbindet, und zwar nicht als Drittes, das zwei schon feststehende Entitäten zusätzlich zusammenfügte, sondern als das sich von sich Unterscheidende, d. h. dasjenige, das nur ist, indem es über sich hinausgeht, aber sich als diese Äußerung auf sich bezieht und mit sich identisch bleibt. Sind Bewegung und Veränderung der Körper die Äußerungen der Kräfte, so sind diese selbst darin nicht beobachtbar. Auch sollte man nicht erwarten, daß, was eine Kraft ist, durch anschauliche oder imaginative Vorstellungen erklärt werden könne (explicari imaginabiliter). Denn diese dem materiellen Geschehen innewohnende Kraft „gehört zu den Dingen, die nicht durch Einbildungskraft, sondern durch den Verstand getroffen werden“; und Leib28  Schon früh („Brief von 1671 an Herzog Johann Friedrich“, in: GP I, Berlin 1875, 53) hat Leibniz den Unterschied von Geist („Gemüth“) und Materie bündig so angegeben, daß das „Gemüth … sich … intime praesens“ ist und „auf alle seine stücke und actiones reflectieren“ kann, während der Körper, als Materie, „partes extra partes“ ist und daher kein Selbstverhältnis hat.



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niz merkt an, sie dürfe „auf diese Weise ebenso wenig erklärt werden wie die Natur der Seele“29, die ebenfalls durch den Verstand zu erfassen sei30. Damit ist noch einmal der rationale Ursprung der Natur auch auf der Ebene der materiellen Dinge und Vorgänge deutlich geworden. Aber wir stoßen hier zugleich wieder auf den Punkt, an dem sich die Frage stellt, wie deren Entstehung überhaupt zu denken ist und, dem zuvor, die Entstehung der derivativen Kräfte, d. h. derjenigen Kräfte, die die materiellen Bewegungen als solche hervorbringen, ohne selbst – qua Kraft – etwas Materielles zu sein. War das Argument für die Voraussetzung eines immateriellen Grundes der bewegten Materie, daß diese aus sich heraus keine Bewegung generieren könne, so scheint damit noch nicht die Frage beantwortet, wie die Materie überhaupt zu dem an sich Ersten hinzukomme, das die Monaden im Ganzen der Natur sind. Aber in Wahrheit ist die Antwort bereits gegeben worden. Es sind die Monaden selbst, die als geschaffene mehr oder weniger begrenzt und voneinander verschieden sind und deshalb nicht in reiner Aktuosität existieren, sondern in ihrem Bezogensein auf das, was sie nicht sind, das aber doch unentrinnbar für sie ist: ihre mit der vis activa gleichursprüngliche vis passiva. Nichts anderes also ist die Materie als das mit der Existenz aller Monaden permanent gegebene Resultat der vis passiva, durch die jede Monade an ihr selbst auf alle anderen bezogen ist. Reflektiert in dieser Stellung ist demnach die Materie überhaupt zu bestimmen als das Sein aller jeweils anderen Monaden für eine, und zwar als das, was diese selbst nicht ist, deshalb nicht in der Form, in der die Monaden an ihnen selbst sind. Dieses permanente Resultat, mitfolgend mit der Selbstentwicklung aller Monaden, ist also der Sache nach ein und dasselbe für alle Monaden, nur verschieden aufgrund der jeweiligen besonderen Perspektive, d. h. der Eigenbestimmtheit der Monade, in deren Selbstentwicklung die anderen repräsentiert werden. Dieser abstrakte Begriff der Materie, für sich genommen, ist das, was Leibniz aristotelisch die prima materia nennt. Diese darf also nicht als etwas der Monade Äußerliches vorausgesetzt werden, obgleich die Materie in dieser Abstraktion der materia prima von keiner einzelnen Monade abhängig ist, sondern nur von allen zusammen. Materie gehört also zum Begriff 29  Leibniz:

„De ipsa natura“, in: GP IV, 507. zitierten Stellen lauten im Zusammenhang („De ipsa natura sive de vi insita sive actionibusque creaturarum“, in: GP IV, § 7): Haec autem vis insita distincte quidem intelligi potest, sed non explicari imaginabiliter; nec sane ita explicari debet, non magis quam natura animae; est enim Vis ex earum rerum numero, quae non imaginatione, sed intellectu attinguntur.“ Damit reagiert Leibniz auf die Kritik von Johann Christoph Sturm (in dessen Schrift: De natura sibi incassum vindicata, Altdorf 1698, die er Leibniz zugesandt hatte): wenn es eine Kraft in den Körpern gebe, müsse sie imaginabiliter explicari. 30  Die

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der Monade überhaupt, indem mit ihr nur das Moment der Beschränktheit der Monade, wodurch diese zum einmaligen Individuum wird, ausgedrückt wird. Die Natur als das Ganze von immateriellen Monaden und materiellen Körpern mit ihren innewohnenden Kräften und den Gesetzen ihrer Bewegung und Veränderung hat Leibniz in einer vielzitierten Passage aus dem Briefwechsel mit de Volder31 grundbegrifflich an der Monade im komplexen Sinne in fünf Schritten analysiert. Die ersten beiden Momente sind demnach die abstrakten Extreme: (1) die einfache Monade, sofern diese nur als in sich dynamische immaterielle Einheit (Leibniz sagt hier: entelechia prima seu anima) bestimmt wird; und (2) die erste Materie oder ursprüngliche passive Kraft. Mit dieser Gleichsetzung wird aber zugleich die ursprüngliche Bindung der Materie überhaupt an die Monade als ihren Grund betont, denn „ursprünglich passive Kraft“ kommt nur der geschaffenen Monade zu. Der dritte Schritt expliziert sodann nur diese ursprüngliche Zusammengehörigkeit: (3) Monada his duabas completa. Diese „vollständige Monade“ aber ist wiederum noch abstrakt, insofern in ihr die aktuale Diversität auf beiden Seiten noch nicht zum Ausdruck gekommen ist. Der vierte Schritt vollzieht diese Bestimmung, indem (4) die Materie als permanentes Resultat (und insofern auch als durchgängiges Korrelat) der vielen Monaden an ihr selbst eine Gliederung erfährt, die resultiert aus der metaphysischen Verschiedenheit der Monaden und ihrer Relationen, die zugleich durchgängig als das Äußere des inneren Bezogenseins in den raumzeitlich begrenzten Gestalten der Materie erscheinen. So gefaßt, ist die Materie konkretisiert zur Zweiten Materie (materia secunda). Die in den Relationen der Monaden(begriffe) artikulierten Nähen und Fernen dieser Begriffe und ihrer Bestandteile treten als Erscheinungen zusammen zu materiellen Gestalten, indem sie räumlich (in der compraesentia bzw. comperceptio32) im Zugleichsein an verschiedenen Orten und zeitlich im Nacheinander (auch) an denselben Orten erscheinen, d. h. aus den verschiedenen points de vue der Monaden perzipiert werden. Die in diesem raumzeitlich-naturalen Gesamtgeschehen angelegten unendlichen Differenzierungen und Veränderungen folgen derselben Ordnung wie die Gesamtheit der geschaffenen Monaden als in Existenz gesetzte vollständige Begriffe und deren allseitige Relationen. Aber diese Ordnung kann durch den menschlichen Geist nur beschrieben und theoretisch erfaßt werden in der Form des Außereinander, die wesentlichen Einheiten, die den 31  Leibniz:

„Brief an de Volder vom 20.06.1703“, in: GP II, 252. dazu z. B. die Bestimmungen, die Leibniz in einer nicht abgesandten Studie zu einem Brief an Des Bosses für die Extensio gibt in: GP II, Berlin 1879, 473 ff.; siehe auch ebd. ebenfalls an Des Bosses 515. – Für eine ausführlichere Darstellung der metaphysischen Begründung von Raum und Zeit sei verwiesen auf Kaehler: Leibniz – der methodische Zwiespalt, 46–51. 32  Siehe



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Gestalten zu Grunde liegen, sind in concreto nur dem unendlichen Verstand Gottes gegenwärtig. So sind die erscheinenden körperlichen Einheiten nur Aggregate, denen die unwandelbare innere Einheit als Prinzip ihrer Veränderung mangelt. Sie sind relativ auf die jeweiligen Zustände der Monaden, zwischen denen vorübergehende Übereinstimmungen, Schnittmengen ihrer Merkmale entstehen und vergehen, weil andere Momente gemäß der lex successionis der beteiligten Monaden hervortreten. Materielle, ausgedehnte Körper sind somit die Erscheinungsweisen der Beziehungen zwischen den Realitätsbestimmungen der Monaden. So sind in jedem Körper viele Monaden zusammengespannt als zu Grunde liegende Einheiten mit ihren inneren Bestimmungen, die aufeinander bezogen sind, indem der göttliche Verstand sie alle zusammen vollständig, alle ihre Interrelationen einschließend, denkt und realisiert. Nur in dieser indirekten Weise, als zu Grunde liegende entelechiale Einheiten, deren über sie hinaus weisende Relationen nicht von ihnen selbst hervorgebracht werden, kann Leibniz sagen, daß Körper Aggregate von Monaden seien, wie in dem zitierten Brief an de Volder, wo es unter (4) heißt, daß in der „Masse oder zweiten Materie“ zahllose Monaden zusammenwirken (concurrunt). Diese Zusammenkunft ist nicht denkbar als reale Vereinigung ganzer Monaden zu irgend einer höheren Einheit – sind doch schon die Monaden je selbst maximal konsistente Vereinigungen von für sich genommen abstrakteren Bestimmungen. Vielmehr kann es sich nur um die nicht-monadische Form der Beziehungen von Monaden handeln, wenn aus einer Menge von Monaden körperliche, also teilbare Einheiten werden sollen. Diese nicht-monadische Form ist eben die des Seins-für, das kein unum per se, sondern nur per accidens ist, d. h. eine relative, auflösbare Einheit, entstehend aus der Relation einer Monade, deren Phänomen jeweils ein Körper ist, zu den anderen koexistierenden Monaden, deren Sachgehalt außer dem ihrigen liegt, auf den sie aber eo ipso bezogen ist. So läßt sich zusammenfassen, die zweite Materie sei die in Dinge, ihre Relationen und Bewegungen gegliederte und unter Gesetzen geordnete physische Welt. Die Bestimmtheit der Dinge, die Gesetzmäßigkeiten ihrer Bewegungen und Veränderungen aber entstehen und wirken nur als Ausdruck der simultanen Selbstentfaltung aller monadischen Entelechien und ihrer Relationen. So umfaßt der Begriff der physischen Welt die Totalität der Erscheinungen, die in der ihr eigenen Form der Gegenständlichkeit – in Rückbindung an die reflektierte Perzeption der Geist-Monaden – erforscht und erkannt werden kann: als Erscheinung der Vernunft. Wenn Leibniz hieran noch einen fünften Schritt anschließt, in dem die substantia corporea als animal, also als organische Einheit bezeichnet wird, so handelt es sich offenkundig um eine weitere Spezifikation dieses Ganzen, als das der Monadenbegriff sich nun erwiesen hat, nämlich als immer

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auch körperliche Substanz. Aus dem bisher Entwickelten läßt sich ersehen, welchen Sinn der Ausdruck ‚körperliche Substanz‘ nur haben kann: Wie das Körperproblem dann entsteht, wenn die Beziehung aller Monaden aufeinander für ihre Bestimmung mit berücksichtigt wird, ohne daß die Grundannahme der ontologischen Selbständigkeit jeder einzelnen aufgegeben wird, so muß diese Bestimmung mit enthalten, daß jede Monade auf Grund ihrer für sie seienden Einbettung in den Weltzusammenhang aller geschaffenen Monaden mehr oder weniger, aber durchgängig mit der ganzen Erstreckung ihrer Existenz, auch körperlich ist. Das Gesamtgefüge der existierenden Monaden, die metaphysisch zu denken sind als getrennt voneinander existierend, kann von ihnen nicht in der originären Form erfaßt werden, in der sie ursprünglich bestehen – der reinen Intelligibilität im Denken und Wollen Gottes; und es kann eben deshalb auch von keiner der in diesem Gesamtgefüge existierenden Monaden selbst hervorgebracht werden. Vielmehr erscheint an jeder diese Gesamtheit in der Gliederung, die sich im Grunde aus der logisch-metaphysischen Bestimmung der Monaden und ihren Relationen ergibt, die jedoch in ihrem Sein für die Monaden, also ihrer Erscheinung, in die Formen des Ausgedehnten und des Nacheinander „übersetzt“ ist. Es bleibt für die endliche Monade unerklärbar, wie genau diese Transformation zustande kommt. Doch aus der formalen Struktur der Leibnizschen kombinatorischen Begriffstheorie lassen sich Hinweise darauf entnehmen, welche Charakteristika den internen hierarchischen und Wechsel-Verhältnissen organischer Einheiten zu Grunde liegen können. Die Vielheit der Monaden, die in jeder Körperlichkeit involviert ist, ist gemäß der zu Grunde liegenden intelligiblen Ordnung in sich gestuft in Unter- und Überordnungsverhältnisse, nämlich nach Maßgabe der mehr oder weniger großen Realitätsfülle der zu Grunde liegenden Monaden. Darin differenzieren sich die Verhältnisse zwischen den Monaden gemäß der Ein- oder Ausschließung ihrer Teilbestimmungen und deren jeweils größtmöglichen relativen Zusammensetzungen, die jedoch nie eine solche maximal konsistente Einheit erreichen, wie sie bereits in den zu Grunde liegenden Monaden instantiiert ist. Diejenigen Monaden, deren vollständige Begriffe mehr Teilbegriffe anderer Monaden in sich schließen als andere, perzipieren jene klarer und deutlicher als diese. Übertragen auf die dynamisierte Existenz der vollständigen Begriffe, bedeutet dies eine stärkere ursprüngliche Kraft, durch welche die Realität der schwächeren Monaden, soweit sie auch in der stärkeren enthalten ist, zu deren eigener Verwirklichung dient. Solche Proportion der Kräfte, unendlich gestuft vorgestellt, erscheint dann der beobachtenden Vernunft der Geist-Monaden als das Wirkungsgefüge der Organismen, so daß Leibniz deren Begründung von der Monadentheorie aus so beschreiben kann, daß „das Lebewesen oder die körperliche Substanz“ durch jeweils eine „herrschende Substanz“ (substan-



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tia dominans) zu „Einer Maschine“ (unam machinam) gemacht werde33. Die darin zusammengefügten Monaden bleiben dennoch als solche vollkommen selbständig, ihre Zusammenfügung zu einem Organismus ist nur eine sekundäre, erscheinende Einheit, raumzeitlich-materiell beobachtbar und Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung wie die Gegenstände der zweiten Materie, die als Organismen nur erscheinen, sofern sie wiederum zugleich als resultierend aus den äußeren Verhältnissen zwischen innermonadischen Sachgehalten gedacht und reflektiert werden. VI. Die unaufhebbare Differenz zwischen den ontologischen Stufen der Natur Die zwei Wege zwischen der Natur als Wirklichkeit der Vernunft und der Natur als Erscheinung der Vernunft: nämlich zum einen der Weg von der Erscheinung, d. h. der physischen Welt, zurück in ihren nächsten Grund im Ganzen, die Monaden als metaphysische Einheiten, und zum andern der umgekehrte Weg von diesen zur materiellen Natur als deren Erscheinung für sie selbst – diese zwei Wege haben ihre je eigene Notwendigkeit im Leibnizschen Begründungszusammenhang, wie sich gezeigt hat. Sie bilden erst zusammen, einander ergänzend, die Metaphysik der Natur. Aber während der Weg der Reduktion von einem Gegebenen ausgeht und prinzipiell und allgemein argumentiert für die Notwendigkeit der Begründung in einer Wirklichkeit, die ontologisch früher ist als das Gegebene, weil anders als dieses selbständig, trotz ursprünglicher Beschränkung in ihren Grenzen durch sich selbst seiend, müßte der umgekehrte Weg das Hervorgehen, „Resultieren“ des Begründeten aus dem Grund auch im Besonderen und bis ins Detail erkennbar machen. Andernfalls wäre die physische Natur nicht wirklich als Begründetes, Abgeleitetes begriffen, das Gegebene, Unmittelbare nicht aus seiner metaphysischen Genesis und Vermittlung neu und genau verstanden. Daß diese Rekonstruktion der Natur aus den Monadenabläufen nicht in concreto möglich ist, hat den nächsten Grund darin, daß das Erkenntnissubjekt, das diese Rekonstruktion zu leisten hätte, selber nur eine geschaffene und somit beschränkte Monade ist. Es verfügt auch auf seiner eigenen, der monadischen Ebene nicht über die deutliche und noch weniger die adäquate Einsicht in die Sachgehalte der Monadenbegriffe, ihre internen und externen Relationen sowie die inneren und äußeren Gesetze ihres existentiellen Verlaufs – also über all das, dessen Transformation in die raumzeitlich-materiellen Dinge und Prozesse die konkrete 33  „Distinguo […] (5) Animal seu substantiam corpoream, quam Unam facit ­ onas dominans in Machinam“ (Leibniz: „Brief vom 20.06.1703 an de Volder“, in: M GP II, 1879 Berlin, 252).

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Ableitung des Begründeten aus seinem (metaphysischen) Grund rekonstruieren müßte. Daß die hier offenkundige Differenz, in der dieselbe Totalität, nämlich die Natur als geschaffene Welt, für das monadische Bewußtsein ist, nicht aufhebbar ist, zeigt sich in der metaphysischen Bestimmung des Verhältnisses der beiden Seiten als „prästabilierte Harmonie“. Damit wird eine qualitative Differenz zweier Seiten bereits vorausgesetzt und ihre Übereinstimmung kraft eines Dritten hinzugefügt. Demnach ist die Lösung nicht ein Erweis der Identität durch Transformation jeder Seite in die andere, deren Durchführung auf den zwei komplementären Wegen in concreto zu leisten wäre. Vielmehr wird die ontologische Differenz, wenn auch en général, als asymmetrisches Begründungsverhältnis zwischen den beiden Seiten, so doch als irreduzibel für die konkrete Erkenntnis fixiert. Im Allgemeinen und Abstrakten, wie mit den formal-rationalen Mitteln der Mathesis, ist die Transformation des Gegebenen der Perzeptionen in ihre Vernunft-Form zwar Möglichkeit und Aufgabe der Naturwissenschaft; und prinzipiell erhält diese auch eine Begründung, die sie mit der Metaphysik – und also auch mit der zugehörigen „natürlichen“ Theologie – verträglich macht. Doch die eigentliche, letzte Begründung findet dieses Begründungsverhältnis innerhalb der Natur, d. h. des Geschaffenen, nur in der metaphysisch bestimmten ultima ratio als originatio radicalis aus reiner Vernunft-Aktuosität. Hierin sind die Monadenwelt und die mit ihrer Entwicklung mitfolgende physische Welt gesetzt als aufgehoben, weil permanent in Existenz gehalten als vollkommen durchbestimmte Totalität, und so mit aller bestimmten Realität abhängig von diesem metaphysisch objektivierten Vernunft-Subjekt. Dieses ist also die höchste Wahrheit, das an sich Erste der gesamten Natur, der selber grundlose Grund aller Differenz – als Einer Alles: Deus est unus omnia34. Die Philosophie aber kann diesen Grund nicht anders erreichen als im Rückgang von ihrem Subjekt, das sich innerhalb seiner Philosophie selbst als Geist-Monade versteht und verortet. Als solche vermag sie sich reflexiv der ihr mit der Schöpfung gegebenen, darum „natürlich“ genannten Vernunft zu versichern, zu bedienen und durch Entschränkung35 ihre Vollendungsge34  Leibniz: Opuscules et fragments inédits de Leibniz, hrsg. von Louis Couturat, Paris 1903 (ND Hildesheim 1961). Die Tragweite dieser Formel für die Leibnizsche Metaphysik und ihre „analytische“ Letztbegründung wird erläutert in Kaehler: „DEUS est unus omnia. Die ultima ratio der „analytischen“ Wahrheitstheorie bei Leibniz“, in: Herbert Berger u. a. (Hrsg.): Einheit in der Vielheit. VIII. Internationaler Leibniz-Kongreß, Nachtragsband, Hannover 2006, 101–106. 35  Leibniz: „Monadologie“, in: GP VI, § 30 u. a.; dazu Wolfgang Janke: Leibniz. Die Emendation der Metaphysik, Frankfurt a. M. 1963, 204 u. a.



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stalt sich vorauszusetzen. Unter dieser real-metaphysisch vorgestellten Voraussetzung aber begreift sie konsequent die Differenz ihrer eigenen Macht zu der der unendlichen Vernunft und damit die Differenz ihrer Zugangsweisen zur Realität des geschaffenen Universums als Wahrheit. Den Versuchen, die behauptete Begründung der materiellen Natur in den monadischen Verwirklichungen für die konkrete Erkenntnis der ersteren fruchtbar zu machen, sind damit prinzipielle Grenzen gesetzt. Gerade dadurch ist die Erforschung der physischen Welt auf die Bedingungen der endlichen, weil selber natürlichen Vernunft zwar eingeschränkt, aber damit auch ganz innerhalb ihrer Domäne eröffnet und gesichert. Diesen Schritt für die Philosophie als ganze und von Grund auf zu machen, mußte die Bestimmung der Sache der Philosophie prinzipiell verändern. Er wurde vollzogen, indem das philosophierende Subjekt sich auf seine eigene, wenngleich ihm als „natürliche“ auch nur gegebene Vernunft konzentriert und restringiert, wodurch es sich von der Selbstvorstellung als metaphysisches Subjekt zum methodischen Subjekt wandelt36, als identisches Subjekt der Reflexion der natürlichen Vernunft rein in sich selbst, um hier zunächst gar keine neue Gegenständlichkeit, sondern die im Lichte der Selbstgewißheit zu sichernden Bedingungen aller Gegenständlichkeit für und durch sich selbst zu bestimmen, zu unterscheiden und zusammenzustellen in der Einheit des „Ich denke“37. Erst dadurch konnten die aus der 36  Zu dieser Unterscheidung sei verwiesen auf Kaehler: „Substanz und Subjekt“, in: Kurt Nowak / Hans Poser (Hrsg.): Wissenschaft und Weltgestaltung. Internationales Symposium zum 350. Geburtstag von G. W. Leibniz, Hildesheim / Zürich / New York 1999, 131–141; ders.: „Das Bewußtsein und seine Phänomene: Leibniz, Kant und Husserl“, in: Renato Cristin / Kiyoshi Sakai (Hrsg.): Phänomenologie und Leibniz., Freiburg / München 2000, 42–74; ders.: „Leibniz und die transzendentale Wende“, in: Martin Pickavé (Hrsg.): Die Logik des Transzendentalen, Berlin / New York 2003, 659–675; Das Prinzip Subjekt und seine Krisen, Kap. A.III.1.b. 37  Zur näheren systematischen und inhaltlichen Bestimmung dieses Schrittes von Leibniz zu Kant sei verwiesen auf Kaehler: „Kants frühe Kritik der Lehre von der prästabilierten Harmonie und ihr Verhältnis zu Leibniz“, in: Kant-Studien 76 (1985) 405–419; ders.: „Von der monadischen zur transzendentalen Subjektivität. Die Bedingtheit in der Unbedingtheit“, in: Hans Baumgartner / Wilhelm Jacobs (Hrsg.): Philosophie der Subjektivität?, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, 451–458; ders.: „Die Ultima Ratio der Naturteleologie bei Kant und ihr Verhältnis zu Leibniz“, in: Jürgen Eckhardt Pleines (Hrsg.): Teleologie. Ein philosophisches Problem in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 1994a, 56–68; ders.: „Kants transzendentale Reformulierung der substantiellen Einheit des leibnizschen Subjekts“, in: Renato Cristin (Hrsg.): Leibniz und die Frage nach der Subjektivität, in: Studia Leibnitiana Sonderheft 29, Stuttgart 1994b, 159–170; ders.: „Die prästabilierte Harmonie nach der transzendentalen Wende“, in: Proceedings of the Eighth Int. Kant-Congress, Memphis (TN) 1995, 363–372; ders.: „Leibniz und die transzendentale Wende“, in: Martin Pickavé (Hrsg.): Die Logik des Transzendentalen, Berlin / New York 2003, 659–675; ders.: Das Prinzip Subjekt und seine Krisen, Kap. A. III–VI.

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immanenten Tätigkeit – cogitare als agere in se ipsum und ratio sui38 – generierten Formen möglicher Gegenstände entlastet werden von der unerfüllbaren Aufgabe, sich als konstitutive Elemente der Natur aus einem ontologisch überlegenen Seinsgrund auszuweisen, der in der Selbstunterscheidung der bloß natürlichen, nicht prinzipiell-methodischen Vernunft zugleich noch als ihr eigener Realgrund vorauszusetzen ist und damit trotz prinzi­ pieller Homogenität (der Vernunft) dem vollständig bestimmten Sachgehalt und der integralen Vollzugsweise nach doch immer ein Jenseits der philosophischen Erkenntnis bleiben muß. Bibliographie Adams, Robert Merrihew: Leibniz, Determinist, Theist, Idealist, Oxford / New York 1994. Engfer, Hans-Jürgen: Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophie­ historischen Schemas, Paderborn 1996. Feuerbach, Ludwig: Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibnitz’schen Philosophie (1836 / 37), in: ders.: Sämtliche Werke, hrsg. von Wilhelm Bolin und Friedrich Jodl, Bd. 4, Stuttgart 1910 (ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1959). Fichant, Michel: „Leibniz et les deux voies de la philosophie de la nature“, in: Hans Poser u. a. (Hrsg.): Nihil sine Ratione. VII. Internationaler Leibniz-Kongreß, Nachtragsband, Berlin 2001, 89–98. Garber, Daniel: „Leibniz and Idealism“, in: Hans Poser u. a. (Hrsg.): Nihil sine Ratione. VII. Internationaler Leibniz-Kongreß, Nachtragsband, Berlin 2001, 19–28. Gurwitsch, Aron: Leibniz. Philosophie des Panlogismus, Berlin 1974. Janke, Wolfgang: Leibniz. Die Emendation der Metaphysik, Frankfurt a. M. 1963. Kaehler, Klaus Erich: Leibniz – der methodische Zwiespalt der Metaphysik der Substanz, Hamburg 1979. – „Kants frühe Kritik der Lehre von der prästabilierten Harmonie und ihr Verhältnis zu Leibniz“, in: Kant-Studien 76 (1985) 405–419. – Leibniz’ Position der Rationalität. Die Logik im metaphysischen Wissen der ‚natürlichen Vernunft‘, Freiburg / München 1989. – „Von der monadischen zur transzendentalen Subjektivität. Die Bedingtheit in der Unbedingtheit“, in: Hans Baumgartner / Wilhelm Jacobs (Hrsg.): Philosophie der Subjektivität?, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, 451–458. – „Die Ultima Ratio der Naturteleologie bei Kant und ihr Verhältnis zu Leibniz“, in: Jürgen Eckhardt Pleines (Hrsg.): Teleologie. Ein philosophisches Problem in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 1994a, 56–68. 38  Vgl.

oben Anm. 23.



Leibniz: Die Natur als Verwirklichung und Erscheinung der Vernunft41

– „Kants transzendentale Reformulierung der substantiellen Einheit des leibnizschen Subjekts“, in: Renato Cristin (Hrsg.): Leibniz und die Frage nach der Subjektivität, Studia Leibnitiana Sonderheft 29, Stuttgart 1994b, 159–170. – „Die prästabilierte Harmonie nach der transzendentalen Wende“, in: Proceedings of the Eighth Int. Kant-Congress, Memphis (TN) 1995, 363–372. – „Substanz und Subjekt“, in: XXX Kurt Nowak / Hans Poser (Hrsg.): Wissenschaft und Weltgestaltung. Internationales Symposium zum 350. Geburtstag von G. W. Leibniz, Hildesheim / Zürich / New York 1999, 131–141. – „Das Bewußtsein und seine Phänomene: Leibniz, Kant und Husserl“, in: Renato Cristin / Kiyoshi Sakai (Hrsg.): Phänomenologie und Leibniz., Freiburg / München 2000, 42–74. – „Der Empirismus im leibnizschen Universum“, in: Hans Poser u. a. (Hrsg.): Nihil sine Ratione. VII. Internationaler Leibniz-Kongreß, Nachtragsband, Berlin 2001, 230–236. – „Leibniz und die transzendentale Wende“, in: Martin Pickavé (Hrsg.): Die Logik des Transzendentalen, Berlin / New York 2003, 659–675. – „Das Leibniz-Bild Ludwig Feuerbachs im Rahmen seiner theologiekritischen Deutung der neueren Philosophie“, in: Alexandra Lewendoski (Hrsg.): Das Leibniz-Bild im 18. und 19. Jahrhundert, Studia Leibnitiana, Sonderheft 33, Wiesbaden 2004, 239–255. – „DEUS est unus omnia. Die ultima ratio der „analytischen“ Wahrheitstheorie bei Leibniz“, in: Herbert Berger u. a. (Hrsg.): Einheit in der Vielheit, VIII. Internationaler Leibniz-Kongreß, Nachtragsband, Hannover 2006, 101–106. – Das Prinzip Subjekt und seine Krisen. Selbstvollendung und Dezentrierung, Freiburg / München 2010. Leibniz, Gottfried Wilhelm: „Brief von 1671 an Herzog Johann Friedrich“, in: ders.: Die philosophischen Schriften, hrsg. von Carl Immanuel Gerhardt, Bd. I, Berlin 1875, 49–55. – Die philosophischen Schriften, hrsg. von Carl Immanuel Gerhardt, Bde. I–VII, Berlin 1875–1890 (ND Hildesheim 1973). [GP] – „Brief an de Bosses“, in: ders.: Die philosophischen Schriften, hrsg. von Carl Immanuel Gerhardt, Bd. II, Berlin 1879, 442 ff und 514 f. – „Brief vom 20.06.1703 an de Volder“, in: ders.: Die philosophischen Schriften, hrsg. von Carl Immanuel Gerhardt, Bd. II, Berlin 1879, 248–253. – „Brief vom 21.01.1704 an de Volder“, in: ders.: Die philosophischen Schriften, hrsg. von Carl Immanuel Gerhardt, Bd. II, Berlin 1879, 261–265. – „Schreiben Leibnizens in Betreff der Schrift Joh. Eberh. Schweling’s zur Verteidigung des Cartesianismus“, in: ders.: Die philosophischen Schriften, hrsg. von Carl Immanuel Gerhardt, Bd. IV, Berlin 1880, 325–332. – „De ipsa natura sive de vi insita actionibusque creaturarum“, in: ders.: Die philosophischen Schriften, hrsg. von Carl Immanuel Gerhardt, Bd. IV, Berlin 1880, 504–516.

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Klaus Erich Kaehler

– Nouveaux essais sur l’entendement, in: ders.: Die philosophischen Schriften, hrsg. von Carl Immanuel Gerhardt, Bd. V, Berlin 1882, 39–509. – Essais de Théodicée, in: ders.: Die philosophischen Schriften, hrsg. von Carl Immanuel Gerhardt, Bd. VI, Berlin 1885, 1–471. – „Monadologie“, in: ders.: Die philosophischen Schriften, hrsg. von Carl Immanuel Gerhardt, Bd. VI, Berlin 1885, 607–623. – Streitschriften zwischen Leibniz und Clarke, in: ders.: Die philosophischen Schriften, hrsg. von Carl Immanuel Gerhardt, Bd. VII, Berlin 1890, 374–440. – Philosophische Abhandlungen, in: ders.: Die philosophischen Schriften, hrsg. von Carl Immanuel Gerhardt, Bd. VII, Berlin 1890, 254–344. – Sämtliche Schriften und Briefe, hrsg. von der Akademie der Wissenschaften, Bd. VI / 2, Berlin 1966 (ND Berlin 1990). – Opuscules et fragments inédits de Leibniz, hrsg. von Louis Couturat, Paris 1903 (ND Hildesheim 1961). – Opuscules et fragments inédits de Leibniz, hrsg. von Louis Couturat, Paris 1903, (ND Hildesheim 1961). Poser, Hans: „Phaenomenon bene fundatum. Leibnizens Monadologie als Phänomenologie“, in: Renato Cristin / Kiyoshi Sakai (Hrsg.): Phänomenologie und Leibniz, Freiburg / München 2000, 19–41. – Gottfried Wilhelm Leibniz zur Einführung., Hamburg 2005. – „Monads, Corporeal Substances, and the Mind-Body-Problem. Old answers to new questions“, in: Massimiliano Carrara u. a. (Hrsg.): Individuals, Minds and Bodies: Themes from Leibniz, Studia Leibnitiana, Sonderheft 32, Wiesbaden 2004, 283–296. Rutherford, Donald: Leibniz and the Rational Order of Nature, Cambridge 1995. Schepers, Heinrich: „Schwierigkeiten mit dem Körper. Leibniz’ Weg zu den Phänomenen“, in: Hans Poser u. a. (Hrsg.): Nihil sine Ratione. VII. Internationaler Leibniz-Kongreß, Nachtragsband, Berlin 2001, 99–110. Sturm, Johann Christoph: De natura sibi incassum vindicata, Altdorf 1698.

Gehirn und Geist Kant oder der komplementäre Logos von Philosophie und Naturwissenschaft Jacinto Rivera de Rosales In meinem Aufsatz beschäftige ich mich mit der Frage des Zusammengehörens von Gehirn und Geist. Ich möchte zeigen, daß Philosophie und Naturwissenschaft im Wissen nicht konkurrieren, sondern sich durch ihre verschiedenen Bereiche und Methoden ergänzen sollen. Der Ausgangspunkt dieses Aufsatzes wird die Philosophie Kants und vor allem seine transzendentale Methode sein. Die klassische Fragestellung dieses Themas lautet von Platon bis Descartes: Wie kann die Seele auf den Leib einwirken und dieser auf sie, so daß sich die zwei Seinsarten, aus denen wir bestehen, im Einklang befinden. Die Kategorie von Ursache und Wirkung wird hier oft gebraucht, denn so wird die Sache durch das objektive und gewöhnliche Denken verstanden und dargestellt. Das gewöhnliche Denken bedient sich dieser Kategorie notwendigerweise, um zwei Seiende dynamisch miteinander in Verbindung zu bringen, wie uns Kant in der zweiten Analogie der Erfahrung gezeigt hat1. Aber es handelt sich hierbei um eine Fragestellung, die das Problem eigentlich nur verschärfen kann, weil die Kausalitätskategorie lediglich zwei gleichartige Wesen – und zwar als Erscheinungen – verbinden kann. Wie ist es möglich, daß so verschiedene Dinge wie Leib und Seele in Wechselwirkung zueinander stehen? Sie sind doch zwei Seiende, die einander vollkommen entgegengesetzt sind, denn das eine ist das, was das andere nicht ist. Mit welchem Stoff könnte der Körper die immaterielle Seele in Bewegung setzen oder umgekehrt? Die Zirbeldrüse, die bei Descartes die vermittelnde Funktion übernimmt, ist eher ein Ausdruck der Verwirrung: „Wie konnte sich ein so scharfsinniger Philosoph ein so unklares und unsinniges Ding 1  Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Riga 1781 (= A), ²1787 (= B), B 232–256, in: ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften / Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin / Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin / New York 1900 ff. Im folgenden mit AA abgekürzt und mit Bandangabe in lateinischen Ziffern angegeben, hier: AA III, 166–180. Im folgenden abgekürzt: KrV, B, in: AA III.

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ausdenken!“, schrieb Spinoza2. Nichtsdestotrotz gingen mehr oder weniger viele Denker, die sich diesem Problem vom Standpunkt der Neurobiologie oder der „philosophy of mind“ aus stellten, von dieser cartesianischen Fragestellung aus, als wäre sie die – zumindest in der modernen Philosophie – einzige philosophische gewesen. Lassen wir aber andere Lösungsvorschläge beiseite, zum Beispiel die von Aristoteles, Spinoza oder Leibniz, und legen unserer Reflexion den Kantischen transzendentalen Gedankengang als Wegweiser zugrunde. In seinen Kritiken, vor allem in der dritten, stößt man auf diesen transzendentalen Standpunkt. In der ersten Kritik werden die Formen der objektiven Welt, d. h. die Realität aus der Perspektive der Heteronomie, des Mechanismus, mit dem wir versuchen, die Objekte nach unseren Kräften zu kontrollieren, untersucht. Die zweite Kritik weist auf das Gesetz der Freiheit hin, das die zu achtende Realität an sich zeigt und ein Reich der Zwecke eröffnet. Nun ergibt sich die Frage, wie diese Freiheit ihre Zwecke in der objektiven Welt, in der Natur, verwirklichen kann. Eigentlich lösen wir dieses Problem jeden Augenblick und ständig in unserem wachen Leben3 durch die Praxis, indem wir einfach handeln, wenn uns nichts daran hindert. Zum Beispiel denken wir: „Wir möchten ins Theater gehen“ und führen dann ganz bewußt alle dazu erforderlichen Bewegungen als unsere Bewegungen aus, bis das Gewünschte und ideell Gewollte (ideell als das Gedachte, das, was am Anfang nur als Idee bestand) umgesetzt ist. Aber in der Reflexion erscheint die Sache nicht so einfach. Die Reflexion trennt die miteinander verwobene Wirklichkeit in ihre Einzelteile; die Reflexion muß dies tun, um eine entwickelte und detaillierte Erkenntnis aller dieser Momente, aus denen wir beschaffen sind, zu erlangen. Dies ist eine notwendige Aufgabe unseres Bewußtseins. Aber dann unternimmt die Reflexion große Anstrengungen, die innere Bewegung und den lebendigen Zusammenhang dieser schon durch sie getrennten Elemente wiederherzustellen. Die Reflexion analysiert jedes Element in seiner besonderen Eigentümlichkeit und Wesenheit und verliert damit das Verbindende aus den Augen. Deswegen sagte Descartes zur Prinzessin Elisabeth, wir verstünden die Verbindung der Seele mit dem Leib durch die Sinne und die in unserem Leben gemachte Erfahrung sehr gut, aber dies treffe nicht für den Fall der analytischen (philosophischen) Vernunft zu, die ihre Aufmerksamkeit auf die Unterscheidung lenke, so daß 2  Spinoza, Baruch de: Ethica, in: ders.: Opera, Bd. 2, hrsg. von Carl Gebhardt, Heidelberg 1925, Teil V, Præfatio; siehe auch Teil V, 40, Scol. 3  Während des Schlafes wird die Entfernung zwischen Geist und Leib aufgehoben, zumindest beinahe, und wir kommen zu einem Aspekt oder Moment der Synthese zurück, die wir in diesem Aufsatz untersuchen müssen. Es ist diese Synthese, die uns auch ermöglicht, wieder wach zu werden.



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es ihr unmöglich sei, gleichzeitig eine Vereinigung zu denken, denn dazu fehle uns die Begrifflichkeit4. Die transzendentale Reflexion Kants sowie die Denkmethode des Deutschen Idealismus sind demgegenüber andersartig. Das Transzendentale bei Kant ist gerade das verbindende Element, die Einheit des Mannigfaltigen und des Verschiedenen, und kein isoliertes Ding, das erst im nachhinein in Verbindung zu setzen ist. Aber welche Einheit oder welche Verbindung könnte es der Freiheit ermöglichen, auf die Welt einzuwirken? Welche sind die Bedingungen der Möglichkeit, daß das rationale Ich seine ideellen Zwecke in wirkliche Handlungen und Objekte verwandelt? Einerseits gibt es die Natur und andererseits die Freiheit und ihre Zwecke. Demnach läßt sich fragen: Kann die Natur als zweckmäßig betrachtet und umgestaltet werden? Das ist das Thema der Kritik der Urteilskraft. Mit „betrachten“ und „umgestalten“ soll auf die beiden Seiten dieser Frage hingewiesen werden, den theoretischen und den praktischen Bereich. Im Grunde untersuchte Kant nur den theoretischen Geltungsbereich dieser Frage und verstand deswegen die Kritik der teleologischen Urteilskraft als Teil der theoretischen Philosophie5, während der zweite, der praktische Bereich, der für Fichte der wesentliche war, weitgehend unberücksichtigt blieb. Hier ist eine Erklärung dieser Sachverhältnisses notwendig. Ich denke, für die Philosophie stellen sich bei diesem Thema zwei Aufgaben, die, wenn sie nicht unterschieden werden, zu Verwirrung und in Sackgassen führen. Erstens hat sie zu zeigen, inwieweit wir uns der Teleologie bedienen können, um die Welt der Objekte theoretisch zu erklären. Die Erörterung dieser Frage gehört zu einer transzendentalen und methodologischen Reflexion über die Objektivität und über die Naturwissenschaft, also zur sogenannten theoretischen Philosophie. Zweitens hat die Philosophie zu fragen, wie die Freiheit ihre Zweckmäßigkeit wirklich in der Natur durchsetzen kann. Diese zweite Frage ist eine rein philosophische, weil Freiheit kein Objekt der Naturwissenschaft ist. Beide Gebiete haben mit dem Leib und dem dazugehörigen Gehirn zu tun, aber unter zwei unterschiedlichen Aspekten, einem objektiven und einem subjektiv-objektiven. Aus der ersten, der theoretischen Perspektive werden nur Objekte betrachtet, weil von der Subjektivität und noch mehr von einer Erkenntnis der ermög4  Siehe die Briefe der Prinzessin Elisabeth vom 6. / 16.5.1643 (René Descartes: Œuvre, hrsg. von Charles Adam / Paul Tannery, Bd. III, Paris 1897–1909, 661. Im folgenden abgekürzt: AT), vom 10. / 20.6.1643 (AT III, 684 f.) und vom 5.7.1643 (AT IV, 2) und Descartes‫ ۥ‬Antwort vom 21.5.1643 (AT III, 18–22) und vom 28.6.1643 (AT III, 43–8). So wie Gott, obwohl Er unkörperlich ist, einen Körper bewegen kann, so kann dies auch die Seele (Brief an Morus vom 15.4.1649), aber das würde bedeuten, das Dunkel durch das Dunklere zu erklären. 5  Kant: Kritik der Urteilskraft, in: AA V, 194. Im folgenden abgekürzt: KU.

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lichenden transzendentalen Subjektivität in der Naturwissenschaft von vornherein methodisch abstrahiert wird und werden soll; also wird die naturwissenschaftliche Idee eines erkennenden Subjekts oder Bewußtseins als Epiphänomen objektiv nachweisbarer physiologischer Prozesse nicht als Ergebnis empirischer Untersuchungen erschlossen, sondern schon von Anfang an vorausgesetzt, und nur so erhält man am Ende, was ursprünglich angenommen wurde. Die zweite Perspektive, d. h. die Verwirklichung der Freiheit in der Natur, hat es dagegen mit einem gelebten, gefühlten, subjektiv-objektiven Leib zu tun, mit dem wir uns identifizieren. Beide Aspekte betreffen unser Thema „Gehirn und Geist“ und erweisen die komplementären Rollen der Naturwissenschaft und der Philosophie. Dies ist meine These. Aber sie soll noch weiter erklärt und begründet werden. Die Frage der Berechtigung einer teleologischen Betrachtung in den Naturwissenschaften wird von Kant in der Dialektik und der Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft erörtert. Seine Lösung ist weithin bekannt: Die Zweckmäßigkeit hat hier nur eine regulative, keine erkenntniskonstitutive Rolle, wenn wir (d. h. die Urteilskraft) die organische Natur, also auch das Gehirn, theoretisch (und erfahrungswissenschaftlich) erfassen wollen. So sehen wir bei einem Tier, z. B. bei einer Katze, objektiv eigentlich nur mechanische Bewegungen (das Fell, die Muskeln, die Knochen, die Nerven etc.), d. h. die objektiven Ursachen und Wirkungen. Der Zweck des Verhaltens der Katze ist aber für uns nicht erkennbar, er wird nur hypothetisch unterstellt, für ein besseres Verständnis dorthin übertragen, um die besondere Einheit des Lebewesens, seiner Organe und Bewegungen zu verstehen. Alle objektiven Erklärungen hingegen müssen sich auf mechanisch und deterministisch ablaufende Prozesse beziehen, weil ein jedes Objekt nur durch den Mechanismus als Natur erscheint. Also nicht aus Flucht vor der Freiheit, sondern wegen der methodischen Grundlage objektiver Erkenntnis muß eine naturwissenschaftliche Erklärung mechanistischer Art sein, wie Kants erste Kritik zeigte6. Die Zweckmäßigkeit andererseits besitzt hier nur ein ideelles Wesen, sie ist lediglich ein subjektiver Leitfaden und ein Hinweis auf einen Sachverhalt, dessen Verhalten nur mechanisch erklärt werden kann. Um ein Beispiel zu geben: Wie können die Augen zum Sehen taugen? Durch welchen Mechanismus kann der Magen seine Verdauungsfunktion erfüllen? Warum macht dieses Tier solche Bewegungen? Wieso bauen die Biber ihre Dämme? In diesen Fragen ist ein unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit denkender Geist anwesend. Er bildet den ideellen Verstehensgrund für eine ideelle Tätigkeit des Ich, für die theoretische Urteilskraft 6  „Sie [die Kritik der reinen spekulativen Vernunft] ist ein Traktat von der Methode, nicht ein System der Wissenschaft selbst; aber sie verzeichnet gleichwohl den ganzen Umriß derselben, so wohl in Ansehung ihrer Grenzen, als auch den ganzen inneren Gliederbau derselben“ (KrV B, XXIIf., in: AA III, 15).



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der transzendentalen Apperzeption, die allerdings keine Realität besitzt, weder phänomenal noch noumenal7. Das wäre unsere erste Antwort im theoretischen Bereich. Doch wenn wir über das Gehirn sprechen, befinden wir uns schon auf einer theoretisch-objektivierenden Ebene. Es ist unmöglich, dort den Geist oder das Subjektive in seinem Ursprung walten zu sehen, weil das von vornherein methodologisch ausgeschlossen wird. Anders stellt sich die Sache dar, wenn wir sie vom Standpunkt moralischer Notwendigkeit aus betrachten, um die Welt nach ideellen Gesichtspunkten real zu modifizieren, der moralischen Forderung entsprechend. Eine rein ideelle Naturzweckmäßigkeit reicht für eine Verwirklichung moralischer Forderungen nicht mehr aus – das wäre meine These. Hier werden eine reelle moralische Handlung und die Verwirklichung eines Zweckzusammenhangs gefordert, damit das ideale Reich der Zwecke in die reale Welt treten kann. Wenn nun aber die Zweckmäßigkeit als solche, d. h. die Subjektivität, sich als Objekt darstellt und sich in einen objektiven Weltzusammenhang verwandelt, dann, sagt Kant, zeigt sie sich als ein organisches und lebendiges Wesen, bei dem das Ganze (d. h. der Zweck) die Teile formt und gestaltet, allerdings nicht von außen, dem reflexiv theoretischen Bewußtsein entsprechend (wir fragen nach der realen Verbindung Objekt-Subjekt), sondern ohne Trennung, durch die Teile dieses organischen Wesens, die wie Organe funktionieren, indem sie eine reale Wechselwirkung miteinander bilden, so wie es die vorreflexive8 Subjektivität in der Natur und als Natur fordert. Dieses neue Paradigma für das Verstehen der Natur aus der Perspektive der Zweckmäßigkeit wurde von Kant meisterhaft in den §§ 64 bis 66 der Kritik der Urteilskraft erarbeitet. Aber auch hier wird er leider ausschließlich von einem theoretischen Interesse geleitet. Er will lediglich erklären, wie wir organische Lebewesen naturwissenschaftlich als Objekte der Erkenntnis erfassen können. Dabei vernachlässigt er die wichtige Frage, wie sich reales Handeln der Freiheit in der Natur verwirklichen kann. Dieses Problem taucht nur in der „Einleitung“ zur Kritik der Urteilskraft auf, unter deren Punkt II zu lesen ist, die Freiheit solle auf die Natur „einen Einfluß haben, nämlich der Freiheitsbegriff soll [als Pflicht] den durch seine Geset7  Kant:

KrV B, 157, in: AA III, 123. würde ich die vor der reflexiven Trennung seiende Subjektivität nennen. Der Begriff „vorreflexiv“ kommt bei Kant nicht vor. Die vorreflexive Subjektivität ist die, die sich noch nicht bis zum Begriff und zum Wort erhoben hat, auf der Stufe der Einbildungskraft bleibt und noch nicht die des Verstandes erreicht hat. Diese bedeutet bereits eine ausdrückliche Trennung von Objekt und Bewußtsein, d. i. eine Trennung, die sich in den Kategorien der Modalität äußert, und die uns jetzt zwingt, die vorhergehende Synthese zu suchen, von der sie stammt. Diese Trennung zeigt sich in der Kopula des Urteils, in „ist“, welches Subjekt und Prädikat, reellen Fall und ideelle Regel, Objekt und Bewußtsein gleichzeitig und ausdrücklich verbindet und trennt. 8  So

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ze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen; und die Natur muß folglich auch so gedacht werden können, daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme“9. Unter Punkt IX dieser Einleitung kommt derselbe Sachverhalt noch deutlicher zum Ausdruck: Im Begriff der Freiheit sei enthalten, daß sie nicht als Ursache, sondern als Bestimmungsgrund einer Kausalität der Naturdinge (die Kategorie der Kausalität wird auf die Naturdinge angewandt, nicht direkt auf die Freiheit selbst) zur Wirkung werden solle, zugleich aber gemäß den eigenen Naturgesetzen dieses Naturdings, also durch eine Verbindung oder Synthese von beidem. Möglichkeitsbedingung für die Realisierung des Endzwecks in der Natur ist das menschliche Subjekt als Sinnenwesen, sagt hier Kant10, was, meiner Meinung nach, auf indirekte Weise auf den Leib hindeutet. Soweit der Wortlaut oder die Buchstaben bei Kant. Aber wir können auf dem Kantischen Weg und mit seinen Denkmitteln fortfahren. Wir gehen dafür von der moralischen Forderung aus: Die Freiheit soll sich in der Welt realisieren, weil sie keine Substanz, und noch weniger eine isolierte Substanz, sondern ein umbildendes Handeln ist11. Das ist die erste Voraussetzung. Auch die Kantische Reflexion spaltet den Menschen zuerst in zwei Teile, in Natur und in Freiheit. Dies entspräche der Dualität unserer Überschrift „Gehirn und Geist“. Das verbindende Element liegt für die Kantische Reflexion erst im Transzendentalen selbst, da die transzendentale Handlung und ihre Formen die Objektivität oder Erscheinungen der Welt laut der Kritik der reinen Vernunft ermöglichen; ohne das wären das Bewußtsein und das Selbstbewußtsein und damit auch die Freiheit und der Geist unmöglich. Aber das ist nun nicht mehr ausreichend. Uns hilft auch das Verlangen der Vernunft nach dem Unbedingten oder der Totalität – einschließlich dem nach der Welt – nicht, da dies im theoretischen Bereich nur eine ideelle Handlung ist und außerdem unerfüllt bleibt, während im praktischen Bereich die reelle Handlung eines Postulats Gottes bedürfte, d. i. etwas, das noch im Dunklen liegt und mit demselben Problem des Zusammenhangs von Geist und Materie belastet ist. Wir sind aber hier auf 9  Kant:

KU, in: AA V, 176. KU, in: AA V, 195–196. Im Opus postumum geht er da etwas weiter. 11  Wie Schiller sich treffend und unter dem Einfluß von Kant und Fichte ausdrückte: „Hier müssen wir uns nun erinnern, daß wir den endlichen, nicht den unendlichen Geist vor uns haben. Der endliche Geist ist derjenige, der nicht anders als durch Leiden tätig wird, nur durch Schranken zum Absoluten gelangt, nur, insofern er Stoff empfängt, handelt und bildet“ (Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 5, München 51975, XIX, 9; siehe auch XIII, 5 und XXV, 6). Deshalb muß das Transzendentale auch empirisch erscheinen. 10  Kant:



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der Suche nach einer anderen Einheit, die nicht mehr in der Idealität der Vernunft liegt, um die Vernunft in Übereinstimmung mit sich selbst zu bringen, sondern mit der Vernunft und der Wirklichkeit der Natur. Es handelt sich um eine wirkliche Synthese von Objekt und Subjekt, Mechanismus und Zwecken. Nun liegt aber vor jeder Analyse eine Synthese – und das ist meine zweite Voraussetzung. Die Synthese ist das erste, sagt uns Kant in der Kritik der reinen Vernunft12, die ursprüngliche Handlung der Subjektivität, so „daß die Auflösung, Analyse, die ihr Gegenteil zu sein scheint, sie doch jederzeit voraussetze“13. Wir analysieren und trennen die verschiedenen Elemente, die wir zuerst in eine Synthese einbrachten. So erläutern wir unseren Gedanken. Das, was Kant für die Erkenntnis vorsah, ist auf die ganze Subjektivität ausdehnbar, da wir nicht am Morgen Natur und am Abend Freiheit sind. Das eine ist nicht ohne das andere denkbar, wir sind beide Realitäten ständig und synthetisch. Dieser Aspekt wurde von Descartes übersehen und deswegen wurde eine analytische und substantielle Identität des Subjekts (res cogitans) an erste Stelle gesetzt. Das ist ein grundlegender Unterschied. Bei Kant wird das Subjekt nicht als eine Substanz verdinglicht, sondern als eine ursprünglich einigende und offene Handlung verstanden. Wir gehen somit von einer ersten Synthese aus, die die folgende Analyse bzw. Trennung – und zwar in diesem Sinne das getrennte Bewußtsein der Natur und der Freiheit – ermöglicht. Wir kommen also zu folgendem Schluß: Da wir von der Natur und der Freiheit ein unterschiedliches Bewußtsein haben, aber beide in der wirklichen bewußten Handlung vorhanden sind, hat sich diese notwendige Synthese aus beiden in der Wirklichkeit ergeben und ergibt sich fortwährend, weil sie eine Möglichkeitsbedingung dieser bewußten Unterscheidung im Denken und Handeln ist. Wir verfahren also in umgekehrter Richtung, als es bei diesem Thema normal wäre: Zuerst wird die Einigung festgelegt, und erst dann lassen wir die reflexive Trennung beider Elemente entstehen. Diese konstituieren sich aber dann in dieser Trennung als solche, d. h., sie erscheinen auf eine andere Weise, sie transformieren sich: Die Subjektivität gewinnt ihre moralische Freiheit, und die Welt wird durch die Begriffe, die Sprache und die Wissenschaften ganz verobjektiviert. Mit dieser Trennung, die sich in den Kategorien der Modalität (in der Unterscheidung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit) vollkommen äußert, entsteht das reflexive Bewußtsein, das sich im Urteil ausdrückt, indem die Kopula das Subjekt und das Prädikat, d. h. den reellen Fall und die ideelle Regel, das Objekt und das Bewußtsein sowie die Realität und die 12  Kant: 13  Kant:

KrV B, 103 ff., in: AA III, 91 ff. KrV B, 130, in: AA III, 107.

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Idealität vereint, aber zugleich bewußt und ausdrücklich (in der Sprache) unterscheidet. Die hier untersuchte Synthese von Natur und Freiheit soll im Gegenteil dazu eine vorreflexive, ohne diese ausdrückliche Unterscheidung sein, eine, die sich noch nicht zum Begriff und zum Wort erhoben hat, auf der Stufe der Einbildungskraft geblieben ist und die Stufe des Verstandes nicht erreicht hat14, die also das Subjektive und das Objektive, Wissen und Tat, ungetrennt läßt. Eine analoge Synthese findet man bei der kreativen Handlung des Genies in der Kunst: Das Genie weiß, was es ausdrücken möchte, indem es sein Werk schafft. Wissen und Tat sind also auch bei ihm untrennbar, so wie das in der schöpferischen Einbildungskraft der Fall ist. Die gesuchte Synthese von Natur und Zweck muß, wie Kant in den bereits oben erwähnten Paragraphen 64 bis 66 der Kritik der Urteilskraft zeigte, als ein organisches Wesen erscheinen – in unserem Fall der Leib. Ohne diese reell-ideelle vorreflexive Synthese wären weder ein Bewußtsein noch eine Realisierung der Freiheit denkbar; dies wird aber moralisch notwendig gefordert. Diese Realisierung ist also möglich (und hier formuliere ich meine These), nicht weil der Geist direkt eine Bewegung in einem Körper oder im Gehirn verursachen könnte, sondern weil sich die Freiheit mit der Idealität oder Subjektivität des Leibes selbst (ihres Leibes) identifiziert und dieser Körper mit seiner Objektivität die objektive Bewegung kausal ausführt. Erst durch diese synthetische Identifizierung beider Stufen der Idealität des Ich, der reflexiven und der vorreflexiven, eine Identifizierung, die sich auf die grundlegende und konstitutive Selbstidentifizierung des Ich mit sich selbst gründet, und nur dann durch die Kausalität des Leibes, mit dem sich die Freiheit identifizierte, kann die Freiheit einen Einfluß auf die Welt ausüben und ihre Zwecke verwirklichen. Diese Verwirklichung verlangt also als ihre Bedingung der Möglichkeit ein ObjektSubjekt, mit dem sich die Freiheit identifizieren kann. Da wir die Realität der Freiheit dank der zwei ersten Kritiken von Kant philosophisch behaupten können, haben wir das Recht (quid juris quaestio), nicht nur die Objektivität, sondern auch die Idealität des Leibes zu bejahen. Das wäre mein philosophischer Vorschlag. Diese eigene Idealität des Leibes fehlt beim Leibbegriff Fichtes, obwohl er als erster in der Geschichte der Philosophie den Leib aus der Subjektivität und ihrer Freiheit ableitete und die innere Verbindung und sogar Identifizierung beider behauptet hat. Es genügt ein zwar langes, aber gewaltiges Zitat: 14  Zuerst kommt die Synthese als bloße Wirkung der Einbildungskraft, und dann wird diese Synthese durch den Verstand in Begriffe umgesetzt (Kant: KrV B, 103– 104, in: AA III, 91 ff.). Dieser zweite Schritt wird vom vorreflexiven Bewußtsein nicht vollzogen.



Gehirn und Geist51 „Ein Sein [ein Objekt], das durch das reine Wollen bestimmt ist, und Materie im Raume ist, das die ursprüngliche Kraft unseres Wollens selbst ausdrückt, ist unser Leib, in wiefern er Werkzeug ist. Unser Wollen in der Zeit ist schon aufgenommen in die Form des Denkens. Nun ist unser empirisches Wollen von der Art, daß dasselbe etwas unmittelbar da sein soll (z. B. ich kann durch bloßen Willen unmittelbar meine Hand oder meinen Fuß bewegen). Aber mein empirischer Wille ist nichts, als ein Denken meines reinen Willens, sonach müßte durch meinen reinen Willen meine Hand oder mein Fuß in meine Gewalt gekommen sein, es ist also mein reiner Wille selbst in der Form der äußeren Anschauung, als Materie im Raume. Der scharfbestimmte empirische Begriff des Leibes ist: Mein Leib ist das was in der bloßen Gewalt der Willkür steht (in wiefern er artikuliert ist [also nicht als bloß organisiertes Wesen]). Der transcendentale Begriff des Leibes ist: er ist mein ursprüngliches Wollen, aufgenommen in die Form der äußeren Anschauung. Ich und mein Leib; ich und mein Geist heißt dasselbe. Ich bin mein Leib, in wiefern ich mich anschaue, ich bin mein Geist in wiefern ich mich denke. Eins aber kann ohne das andere nicht sein und dieß ist die Vereinigung des Geistes mit dem Leibe.“15

Denken und Freiheit identifizieren sich, nach Fichte, mit dem Leib als einem artikulierten, nicht aber als einem organisierten und natürlichen Wesen. Als solches sei er durch und durch eine rein physische und chemische Maschine. Fichte wollte dementsprechend den Tieren auch kein Bewußtsein zusprechen. Wir wollen keine halbe Philosophie treiben, sagte er; es sind entweder alle für das Bewußtsein und die Synthese erforderlichen abgeleiteten Elemente oder keine vorhanden, und weil die Vernunft bei den Tieren fehlt, ermangeln sie aller Subjektivität16, so wie bei Descartes oder der entsprechenden methodischen Richtung der Naturwissenschaften: „Ich glaube, sie [die Tiere] sind Maschinen“17. Dasselbe passiert mit unserem Leib. Wissenschaftslehre nova methodo, § 14, in: GA IV / 3, 454. es ist Axiom: Keine Vft. oder alles, was aus ihr folgt. – Vft. übertragen, u. auch nicht – ist Inconsequenz“ (Fichte: Platners Vorlesungen, in: GA II / 4, 276); beide sind geschlossene Systeme. „Unsere Welt ist schlechthin nichts anderes, als das Nicht-Ich, ist gesetzt, lediglich um die Beschränktheit des Ich zu erklären, und erhält sonach alle ihre Bestimmungen nur durch Gegensatz gegen das Ich“ (Fichte: System der Sittenlehre, in: GA I / 5, 77). Nur weil wir die chemischen Kräfte nicht kennen, glauben wir, die Tiere hätten Freiheit und Bewußtsein (GA IV / 1, 392, 396); „welche Bewegung, da sie keinen Grund im Mechanismus, sondern in der innern Kraft des Universum hat, die wir nicht einsehen, uns freie Bewegung scheint. Das Thier. Es ist da chemische Anziehung des Ganzen, durch Verwandtschaft. Dies ist der Grund aller Bewegungen des ganzen Thiers: u. seiner Theile. Will man dies Leben nennen, so steht es frei. (Nur nicht Empfindungen) wie wohl dies eine sehr willkührl. Bedeutung wäre […] Die Vft. ist nicht zu zerspalten: dies ist Resultat einer gründlichen Philosophie. Keine ohne alles, kein Analogon der Vft […] Zwischen Vft. u. Organismus giebt es nichts mittleres“ (Fichte: Platners Vorlesungen, in: GA II / 4, 272 f). 17  Fichte: Practische Philosophie, in: GA II / 3, 196: „Ich trage, laut der W. L. auf die Natur den Begriff meiner selbst über, so weit ich es kann, ohne die Natur selbst 15  Fichte: 16  „Also

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Nur als artikulierter Leib ist er ein Werkzeug der Freiheit und Wirkung einer freien Übung18, als organisierter Leib ist er eine bloße Folge der Natur und ihrer Gesetze, lediglich mit einem natürlichen Trieb versehen19. Aber, dürfen wir uns fragen, wie könnte die Subjektivität sich innerlich gefühlsmäßig mit einer Maschine, mit einem so fremdartigen Wesen, identifizieren? Meiner Ansicht nach sollten wir bis zu einer nicht genau bestimmbaren Grenze von der Idealität oder Subjektivität in der Natur selbst ausgehen, da sie eine Bedingung der Möglichkeit unseres reflexiven Bewußtseins ist – und das nicht nur als regulatives Prinzip unseres Verstehens, sondern als ein konstitutives Moment unserer subjektiven, aber realen Handlung. Schelling ging in seiner Philosophie der Natur bis zu diesem Punkt, aber seit der „Einleitung“ zu seinen Ideen für eine Philosophie der Natur (1797) schlug er den theoretischen Weg ein, und zwar durch die Betrachtung von lebendigen Organismen, der Kritik der teleologischen Urteilskraft folgend: Durch die Organisation wurde der menschliche Geist auf eine ursprüng­ liche Vereinigung des Geistes und der Materie, auf die Idee, daß Ideales und Reales ursprünglich ein und dasselbe sind, geführt, so Schelling20. Der transzendentale Grund aber, der uns erlaubt, zu einer Realität jenseits der Erscheinungen weiterzugehen, ist die moralische Freiheit; nur er berücksichtigt unser ursprünglich reales und endliches Wesen. Dies wäre der transzendentale Weg. Fichte selbst hat, zum Beispiel in den §§ 4 bis 8 der Sittenlehre (1798), angedeutet, wie man die Realität und die Formen der Welt von der moralisch erforderlichen Verwirklichung der Freiheit ableiten kann. Die Frage lautet: „Wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?“21 zu vernichten. d. i. ohne sie zur Intelligenz (Ich, sich selbst setzend) zu machen. […] Das höchste in mir, unabhängig vom Bewußtsein, und das unmittelbare Objekt des leztern ist der Trieb. Er ist das höchste, das ich in der Natur ausser mir darstelle. Also das unmittelbar fühlbare: keinesweges das Gefühl, welches ja schon ein Bewußtseyn ist“ (Fichte: Wesen der Thiere, in: GA II / 5, 421 und 423). 18  Fichte: System der Sittenlehre, in: GA I / 5, 123–125. 19  Siehe Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo, in: GA IV / 3, 421, 516–517; ders.: Platners Vorlesungen, in: GA II / 4, 82 und System der Sittenlehre, in: GA I / 5, 28, 136, 139 f. 20  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Sämmtliche Werke, Bd.  II, StuttgartAugsburg 1856–1861, 47. Siehe auch ebd. 40 ff.; dort ist zu lesen: „Gleichwohl seyd ihr nicht minder genöthigt, einzuräumen, daß die Zweckmäßigkeit der Naturprodukte in ihnen selbst wohnt, daß sie objektiv und real […]. Ihr müßt aber zugeben, daß hier wenigstens die Form von der Materie, der Begriff vom Objekt schlechterdings unzertrennlich ist“ (ebd. 43). 21  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Frühe Schriften, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1969–1971, 234.



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Diese reelle synthetische Einheit der Subjekt-Objektität wollte Kant als „Einheit des Übersinnlichen, welches der Natur zu Grunde liegt, mit dem, was der Freiheitsbegriff praktisch enthält“22 verstehen. Davon können wir uns keinen, weder objektiven noch moralischen, Begriff bilden. Jeder bestimmte Begriff bedeutet eine Reflexion, und diese Reflexion teilt das Ganze, so daß wir in dieser Reflexion gezwungen sind, die Einheit beider Momente mit einem Bindestrich zu bezeichnen: als Objekt-Subjekt. Das Verwirrende besteht darin, daß wir immer versuchen, jede reale Wechselbestimmtheit, jede synthetische Einheit, wo es Identität und Differenz gibt, durch die verdinglichende Kategorie der Kausalität zu erfassen, die aber nur für objektive Erscheinungen gültig ist. In Wahrheit können wir diese Einheit von Subjektivem und Objektivem im und als Leib nur in der philosophischen Reflexion erhalten, und zwar durch einen Schluß. Aber die phänomenale Grundlage dieser Behauptung23 ist das innere Gefühl und Erleben unseres Leibes als des unsrigen, besonders wenn wir bewußt handeln, weil wir dann von unserem Zweck-Begriff wissen und erfahren, wie wir gerade ihn durch unsere gefühlten körperlichen Bewegungen realisieren. Und das bis zu einer unbestimmten Grenze, da sich das reflexive Bewußtsein früher oder später in der Tiefe des Vorreflexiven verliert. Weil unsere erste Voraussetzung die moralische Freiheit ist, können wir diese Behauptung nicht für die Naturwissenschaften geltend machen, lediglich für die philosophische Reflexion. Wir können aber, entgegen der üb­ lichen Meinung, nicht annehmen, daß die Naturwissenschaften das einzige gültige Wort über die ganze Realität haben, nicht einmal im Hinblick auf die Natur selbst (was heutzutage eine kühne Behauptung ist). Gerade weil die Naturwissenschaften von der Subjektivität von vornherein und methodologisch abstrahieren, können sie nicht beanspruchen, über die ganze Realität zu entscheiden. Eigentlich spricht die moderne Wissenschaft nie über die Totalität, da diese kein Gegenstand einer objektivierenden wissenschaftlichen Methode sein kann. Wenn sie es täte, würde es sich immer um einen philosophischen Erkenntnisanspruch handeln, der sich anmaßt, wissenschaftlich zu sein. Wenn über die Totalität der Realität nachgedacht oder reflektiert wird (und das wird immer getan, wenn man sagt, alles sei im Grunde genommen Materie oder Mechanismus etc.), hat man besser oder schlechter philosophiert, aber nie naturwissenschaftliche Forschung betrieben, objektive Erkenntnis erlangt und seine These auf sie gegründet. Eine tiefer und breiter angelegte philosophische Reflexion soll aber die von der Naturwissenschaft abstrahierten Elemente wieder aufnehmen, weil sie kein 22  Kant:

KU, Einleitung II, in: AA V, 176. Thatsache muß sie alles Fürwahrhalten zuvörderst gründen, wenn es nicht völlig grundlos sein soll“ (Kant: KU, in: AA V, 475). 23  „Auf

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Vergessen erlaubt. Allein die philosophische Reflexion gewinnt die Totalität wieder, verleiht der Naturwissenschaft ihr begrenztes Recht auf Wahrheit und Realität, versteht aber auch die reale Subjektivität unseres Leibes und kann damit die Verwirklichung der Freiheit in der Sinnenwelt begreiflich machen. Das wäre meine zweite Antwort auf die hier behandelte Frage. Die Naturwissenschaften können und sollen objektiv alle Einzelheiten unseres Körpers und unseres Gehirns erforschen. Alle transzendentalen und geistigen Handlungen können sich nur im Empirischen objektivieren. Ohne diese Objektivierung können sie nicht stattfinden, weil die transzendentale und freie Subjektivität keine transzendente Substanz ist, die ohne Welt bestehen könnte. Fichte äußerte, es gäbe keine intellektuelle Anschauung ohne eine empirische und umgekehrt24. Ein entwickeltes Bewußtsein braucht auch einen hochorganisierten Körper. Die empirische Gehirnforschung kann und soll uns über diese objektive Seite der Subjektivität informieren, damit wir auch von dieser Seite so viel wie möglich leisten können, z. B. Krankheiten heilen, etwas, das Philosophie nicht leisten kann und sich deshalb belehren lassen muß. Die Naturwissenschaften können hingegen nicht über den Bereich der Objektivität hinausgehen und sich als Philosophie verkleiden und über allgemeine Geltungsansprüche von Erkenntnissen oder moralischen Gesetzen befinden. Wenn wir über das Gehirn als solches sprechen, sind wir schon mitten im naturwissenschaftlichen Bereich, weil wir dann nur das Objektive sehen und nur auf dieses hinweisen. Aber philosophisch können wir unseren Leib auch als die Objektivierung einer vorreflexiven Subjektivität, als deren sinnliche Seite, verstehen und nicht nur als die anschauliche Seite des vernünftigen reinen Ich oder Willens, wie Fichte meinte. Diese rein philosophische Behauptung ist ein ursprüngliches Wort über die Realität, solange wir die Realität der Freiheit, also der ursprünglichen Subjektivität, mit Wahrheit annehmen können und sollen. Mit dieser Erkenntnis bieten wir gewiß keine neue technische Errungenschaft, auf deren Nützlichkeit wir uns stützen könnten, aber doch eine Einsicht, die uns erlaubt, die lebendige Natur besser und vollkommener zu verstehen, sinnlich bewußter zu erleben, ästhetisch zu genießen und moralisch und ökologisch zu achten.

24  Fichte:

Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, §§ 5–6, in: GA I / 4, 216 ff.



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Bibliographie Descartes, René: Œuvre de Descartes, hrsg. v. Charles Adam und Paul Tannery, 11 Bd., Paris 1897–1909. Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth, Hans Jacob, Hans Gliwitzky, Erich Fuchs und Peter K. Schneider, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962–2012. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1969–1971. Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften / Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin / Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin / New York 1900 ff. Im folgenden mit AA abgekürzt und mit Bandangabe in lateinischen Ziffern angegeben. Schelling, Friedrich W. J.: Sämmtliche Werke in 14 Bänden, hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart / Augsburg 1856–1861. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 5, München, 51975. Spinoza, Baruch: Ethica, in: ders.: Opera, hrsg. von Carl Gebhardt, Bd. 2, Heidelberg 1925.

II. Fichtes Naturphilosophie – terra incognita im Deutschen Idealismus

Nichts Neues von der Lava im Monde Fichtes Einspruch in Sachen Naturalismus1 Thomas Sören Hoffmann Wenn man den Rang eines Philosophen immer auch daran bemessen kann, wieweit er noch nachgeborene Generationen durch sein Denken, durch die Alternativen, vor die er stellt, zu provozieren vermag, dann ist Fichte, in dessen Zeichen wir hier zusammengekommen sind, auch von dieser Seite her ganz ohne Zweifel unter die ganz großen Philosophen zu rechnen. Fichte provoziert in der Tat auch nach 200 Jahren noch, und man kann dabei der Art von Kommentaren, die sein Name etwa auch auf den Gängen und in den Hörsälen so mancher akademischen Institution unserer Tage hervorrufen kann, entnehmen, daß die mit Fichte verbundene Provokation bis heute offenbar nicht zu den harmloseren zählt. Fichte, den man ohne Umschweife den größten Anwalt einer zu Freiheit und Selbständigkeit bestimmten Subjektivität nennen kann, den die Geschichte der Philosophie gesehen hat, dieser Fichte provoziert dabei schon mit dieser Anwaltschaft, die selbstredend quer zu allen Strategien der auch heute nur allzu verbreiteten Selbstakzidentalisierung des Menschen steht und daher von einem Bewußtsein, das mit der eigenen Selbständigkeit ernst zu machen niemals entschlossen war, auch durchaus persönlich genommen wird – übrigens auch um den Preis des aparten Widerspruchs, der darin liegt, daß ein Bewußtsein, das sich darauf kapriziert, wesentlich kein Selbst und so auch keine Person zu sein, etwas persönlich nimmt. Das alles ist jedoch am Ende kein Wunder, denn Fichtes Provokation zielt durchaus auf das Zentrum eines sich theoretisch wie praktisch äußerlichen Selbstbewußtseins, das dann im ersten, hilflosen Reflex eben den Anwalt der Subjektivität zu einem eher dubiosen Subjekt macht, gegen das gedankenpolizeiliche Maßnahmen im Sinne logischer oder auch moralischer Disziplinierung einzuleiten das wohl Mindeste wäre. Einen entsprechenden Ruf nach der Aufsicht hat Fichte, wie wir wissen, schon zu Lebzeiten ertragen müssen, wie er auch man1  Öffentlicher Abendvortrag zur Eröffnung der Tagung der Internationalen J. G. Fichte-Gesellschaft zum Thema „‚Natur‘ in der Transzendentalphilosophie“ auf Schloß Rammenau, 14.–17. Mai 2009. Der Vortragsstil wurde für die Drucklegung im wesentlichen beibehalten.

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cherlei Spott, der in der Regel nicht aus dem tiefsten Verständnis seiner Philosophie kam, hat hinnehmen müssen. Glücklicherweise war Fichte in Sachen Spott zugleich alles andere als hilflos, was ein bekanntes Beispiel zeigt, das direkt zu unserem Thema führt. Fichte bemerkt in der „zweiten verbesserten Ausgabe“ der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, daß über eine bekannte Bemerkung aus der ersten Auflage sogar in seinem eigenen „Umkreis“ gespottet worden sei, die Bemerkung nämlich: „Die meisten Menschen würden leichter dahin zu bringen seyn, sich für ein Stück Lava im Monde, als für ein Ich zu halten“. Für Fichte freilich konnte dies kein Grund sein, die kritische Mahnung in der Neuauflage fallen zu lassen – denn, so Fichte: „Ich erinnere mich, dass sie leider noch immer gilt“2. „Daß sie leider noch immer gilt“: diese Erinnerung Fichtes läßt sich unschwer auch auf unsere eigenen Zeiten übertragen, auf Zeiten, die in vielfacher Hinsicht den Verhältnissen ähnlicher sind, aus denen Fichte für seine Person im Sommer 1790 durch Kant wachgerüttelt wurde, als wir uns vielleicht schmeicheln. Beispiele dafür ließen sich mit Leichtigkeit, sagen wir durchs Studium des Feuilletons, anhäufen; doch wollen wir uns in ihnen nicht verlieren, und ich beschränke mich entsprechend auf einige knappe Illustrationen. Die Lava im Monde ist, erstens, ein Bild der Erstarrung, der vergessenen Genesis, der toten Faktizität. Das Bild zeigt auf ein Selbstbewußtsein, das sich als Produkt, nicht als Produzierendes, als ens mere passivum, nicht als Vollzug und actus, als Etwas, nicht als Ich begreift und das sich insofern natürlich auf fatale Weise verfehlt. Wir wissen, daß die Offerten, sich selbst in entsprechendem Sinne theoretisch auf eine Etwasbestimmtheit zu reduzieren, dem Menschen heute von den verschiedensten Absendern frei Haus geliefert werden – versteht sich nicht mehr so sehr von einer Substanz­ metaphysik, wie Kant sie noch zu bekämpfen hatte, wohl aber von Seiten von Weltbildlieferanten, die bei der Genetik oder der Neurologie, bei der Evolutionsbiologie oder der sogenannten Kognitionswissenschaft eingekauft haben und ihre Produkte dann z. B. in den Feuilletons ausstellen. Wir werden später etwas genauer sehen, worin eigentlich die an sich erstaunliche Attraktivität dieser Offerten für ein bestimmtes größeres Publikum letztlich liegt und was es macht, daß die an sich ja keinem Menschen prinzipiell verschlossenen Ressourcen einer ganz anders lautenden Selbsterkenntnis 2  Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794 /  95), in: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth, Hans Jacob, Hans Gliwitzky, Erich Fuchs und Peter K. Schneider, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962–2012. Im folgenden abgekürzt: GWL 1794 / 95, GA, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl, hier: GWL 1794 / 95 – GA I / 2, 326 Anm. mit Zusatz.



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kraft reflexiven Selbstbezugs so leicht zugunsten von einzelwissenschaftlich induzierten Selbstobjektivationen verschüttet werden. Die Lava im Monde ist, zweitens, ein Bild der Trägheit und – damit zusammenhängend, weil sie erst ermöglichend – der Fremdbestimmung. Konzentrieren wir uns auf ein Beispiel aus der politischen Sphäre: Wenn Fichte den Irrationalismus des absolutistischen Machtstaats durch den Vernunftstaat ablösen will, dann deshalb, weil der Vernunft- bzw. Vernunftrechtsstaat in der Tat der einzige Staat ist, der den Anspruch seiner Bürger auf eine ursprünglich-freie Subjektivität, auf ein wahrhaft autonomes Weltverhältnis, mit den Notwendigkeiten einer zwangsbewehrten kollektiven Organisationsform verbinden kann. Auf eine kurze Formel gebracht: so, wie der Vernunftstaat geradezu davon lebt, daß sich seine Bürger von freier Selbstbestimmung, auch der zum staatlichen Miteinander, her verstehen, so lebt der nur auf kontingente Machtakkumulation gegründete Obrigkeitsstaat umgekehrt davon, daß sich seine Bürger ihm gegenüber tatsächlich nicht als Subjekte, sondern als passive Masse verhalten, die in heteronomen Verhältnissen gerade das ihr Gemäße erblickt. Das innerste Geheimnis bloßer Obrigkeitsstaatlichkeit ist ja der Selbstbegriff der Bürger eben nach dem Trägheitsmodell, nach dem Modell der Lava im Monde eben, die selbst keinen Willen kennt und mit der entsprechend die Willkür verfährt, wie es ihr gefällt. Auch hier sage niemand, daß uns dies dank eines weltgeschichtlichen Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit nichts mehr angehe! Ich erinnere nur etwa an das Stichwort von der „Postdemokratie“, das in der jüngeren Politikwissenschaft nicht ohne Grund kursiert und das sich vor allem auf die auf nationaler wie auf internationaler Ebene zu beobachtenden Phänomene der zunehmenden Reduktion von Bürgerbeteiligung auf bloß symbolische Akte bezieht3. Die Apologeten der „Postdemokratie“ – und diese gibt es, oftmals von den Institutionen, denen sie zuarbeiten, gut alimentiert, in bemerkenswerter Stückzahl – diese Apologeten also argumentieren dann ganz offen mit Gemeinwohlinteressen, die durch ein „government by the people“ nicht mehr erreicht werden könnten, wohl aber, „outputorientiert“, wie es hier technizistisch genug heißt, durch ein „government for the people“ hergestellt werden könnten4: so, als sei es zum Beispiel in keinem Fall die Sache der Staatsbürger, selbst zu bestimmen, was sie denn als „Gemeinwohl“ ansehen wollen, ja, schlimmer noch, so, daß hier ganz Colin Crouch: Postdemokratie, Frankfurt a. M. 2008. genüge als abschreckendes Beispiel: Fritz Scharpf: Regieren in Europa: effektiv und demokratisch?, Frankfurt a. M. 1999. Scharpfs Thesen erinnern übrigens unfreiwillig daran, daß bereits Nietzsche geweissagt hatte, Europa werde die Unzweckmäßigkeit von „Öffentlichkeit“ und „Parlamentarismus“ bei der Meisterung seiner Aufgaben schon noch erkennen (ders.: „Nachlaß Juni–Juli 1885“, in: KGW VIII 3, 310). 3  Vgl. 4  Es

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ungeschminkt jenem Paternalismus das Wort geredet wird, den schon Kant deshalb „die am meisten despotische unter allen“ Regierungsformen genannt hat, weil sie elementar darin besteht, Bürger als Kinder und nicht „als Staatsbürger, d. i. nach Gesetzen ihrer eigenen Selbstständigkeit“ zu behandeln5. Die Lava im Monde dagegen hat hier keine Einwendungen. Und drittens schließlich ist diese Lava im Monde ein Bild der Sprach­ losigkeit, des Verstummens auch noch in dem Geräusch, das ein in Gerölllawinen abgehendes Gestein produzieren kann. Fichte ist ja ein erstaunlich klarsichtiger Diagnostiker des Sprachverlustes mitten im Reden, des Verstummens mitten in der Produktion sprachlicher Zeichen gewesen. Ich muß dafür nur etwa an den Dialog über die „Patrioten“ erinnern, in dem der Wissenschaftslehrer mit dem Verweis auf die „sich gleichsam von selber schreibende Sprache“6 nachgerade postmoderne oder auch informationstechnologische Positionen in bezug auf die schöne neue Welt subjektunabhängiger unendlicher Semiosen antizipiert hat. Tatsächlich könnte gerade in unserer hochgradig symbolisch aufgelösten Welt ein welthistorisches Verstummen der denkenden Individualität bzw. der individuierten Vernunft stattfinden, die in der Geräuschkulisse öffentlich produzierter Zeichen klanglos verschwindet, wie man denn etwa kein besonders trübe gestimmter Kulturkritiker sein muß, um doch den Verdacht zu hegen, daß die modernen Massenmedien ihren letzten Zweck vielleicht gerade darin haben, der Vernunft nicht nur hier und da, sondern durchaus systematisch und in jedem Fall einfach das Wort abzuschneiden; wie gesagt, auch dafür ließen sich bei Fichte nähere Hinweise finden, doch wollen wir uns, wie ebenfalls schon gesagt, nicht in den Beispielen verlieren, sondern auf das zu sprechen kommen, was Fichte schon zu seiner Zeit im Visier hatte und was heute an Brisanz nicht verloren hat: das dingliche Selbstbild, zu dem dann auch die Entscheidung zur Trägheit wie der Verlust der Sprache untrennbar gehören. Wenn Fichte freilich, ein solches Szenario vor Augen, dann das Programm der Philosophie in die scheinbar so schlichte Formel gefaßt hat: „ein solches Zeitalter“ einmal „zu [dem] Entschlusse aufzuregen“, es doch zur Abwechslung mit dem „Denken“, und zwar je „an seiner eigenen Person“7, zu versuchen, dann erinnert er auch für unsere Tage an die alte philosophische 5  Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, in: ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften / Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin / Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin / New York 1900 ff. Im folgenden mit AA abgekürzt und mit Bandangabe in lateinischen Ziffern angegeben, hier: AA VI, 317. 6  Vgl. Fichte: Der Patriotismus und sein Gegenteil. Patriotische Dialogen vom Jahre 1807, in: GA II / 9, 408. 7  Fichte: Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahr 1804 vom 16. April bis 8. Juni, in: GA II / 8, 3. Im folgenden abgekürzt: WL 1804-II – GA II / 8.



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Erfahrung, daß das Denken „in eigener Person“ Gefängnisse des Selbstverständnisses zu öffnen vermag, die ohne das Denken noch nicht einmal als Gefängnisse erkannt worden wären. Im folgenden möchte ich in diesem Sinne versuchen, in Fichtes Bahnen Ausgänge aus dem Gefängnis des Naturalismus aufzuzeigen, das nur zu vielen als gegen jeden Ausbruch über und über gesichert gilt. Die Alternative zum dauernden Aufenthalt dort liegt natürlich in einer Philosophie, die im Sinne Fichtes im Grunde nichts anderes als eine „Analyse des Begriffs der Freiheit“ ist. Ich möchte so verfahren, daß wir uns zunächst etwas genauer die innere Logik des naturalistischen Weltbildes vergegenwärtigen, dem dann die transzendentale Alternative entgegenzustellen ist. Ich werde dabei sowohl die theoretische wie die praktische Seite der Sache berühren und wenigstens in Kürze auch einen Hinweis geben, wie man mit Fichte am Ende „Natur“ in einem nicht-naturalistischen Sinne, nämlich vernunftphilosophisch als die Sphäre konkret gelebter Freiheit, verstehen kann. In eine so verfaßte Natur hinein ist alle Lava im Monde schon aufgehoben. An ihre Stelle tritt die erscheinende Freiheit, in der das Subjekt in der Tat bei sich selbst ist und auch als Erscheinung nicht verleugnet sein kann. Beginnen wir aber sogleich mit der theoretischen Seite der Sache! I. Naturalismen aller Art werben für ihre Position in aller Regel nicht anders als ihre freiheitsphilosophischen Kontrahenten auch, nämlich mit Verweis auf ihre „Rationalität“. In naturalistischer Perspektive scheint es dann „rational“ zu sein, den Menschen, erstens, überhaupt als Naturgegenstand anzusehen und ihn dann, zweitens, nicht anders als andere Naturerscheinungen auch zu betrachten. Es scheint „rational“, dem Menschen weder eine metaphysische noch eine transzendentale Dimension beizulegen, entsprechend auch etwa seine „Subjektivität“ nicht als einen Gesichtspunkt von prinzipieller Bedeutung, sondern höchstens als wiederum meßbare Regelabweichung anzusehen. Die philosophische Rückfrage kann in diesem Zusammenhang freilich zunächst nur sein, um welche Art von Rationalität es sich hierbei denn handeln soll. Zwar wird die Vorstellung, daß die Rationalität „Arten“ habe, nicht für jeden Rationalitätsbegriff sogleich einleuchtend sein. Aber man kann doch etwa an die nicht zuletzt von Kant wieder aufgegriffene Unterscheidung von Verstand und Vernunft, dann auch an die ebenfalls Kantische Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Rationalität erinnern, um fürs erste zu verdeutlichen, worum es hier geht. Es geht um die Erinnerung, daß eine unmittelbare Berufung auf „Rationalität“ noch nichts über die Reichweite und Vermittlungstiefe der so berufenen konkreten Einheit in der Mannigfaltigkeit sagt. Da die Einzelwissenschaften heute

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ein starkes Rationalitätsvorurteil besitzen, machen wir uns die Grenzen dieses Vorurteils an einem kurzen historischen Rückblick auf die Geschichte des neuzeitlichen Determinismus klar – in einem Rückblick also auf jene Denkweise, der Fichte selbst anhing, bis ihm nach eigenem Bekunden durch das Studium der Kantischen Kritiken „eine neue Welt“ aufging und sich ihm die allem Bisherigen weit überlegene Rationalität des Freiheitsstandpunkts erschloß! Der neuzeitliche Determinismus hat unmittelbar mit der Ablösung der aristotelischen Physik durch ein wesentlich anders verfaßtes Naturbild zu Beginn der Neuzeit zu tun. Im Aristotelismus ist dabei ein eigentlicher Naturdeterminismus schon deshalb nicht denkbar, weil es hier in einem bestimmten Sinne „die Natur“ als Einheitskonzept, als singulare tantum nicht gibt – wir müssen insofern noch nicht einmal auf die aristotelische Lehre von der Willensfreiheit bzw. Vorzugswahl zurückgehen, um die Unmöglichkeit eines deterministischen Naturbildes im Aristotelismus zu verstehen. Der Aristotelismus kennt „Naturen“, unterschiedene Wesenheiten, die, wie etwa die Arten der Lebewesen, je mit eigenem Lebensgesetz, ihrer „Entelechie“, in Erscheinung treten. Er kennt außerdem gewisse allgemeine Hinsichten oder kategoriale Aspekte, unter denen die „sinnliche Substanz“ zu betrachten ist, also etwa die Bewegung (kínhsiv). Was er dagegen nicht kennt, ist die Vorstellung einer umfassenden Totalität, eines gesetzmäßigen Gesamtzusammenhangs aller Erscheinungen, die insoweit ein bruchloses Kontinuum aller Naturbestimmtheiten bildeten oder gar prinzipiell alle auseinander darstellbar wären. Tatsächlich hat der Wandel hin zu diesem Konzept einer Einheitsnatur im Sinne einer in sich kontinuierlichen Natur sich aus mehreren Quellen gespeist, von denen der Neustoizismus, auf den wir im europäischen Denken vom 15. und vor allem vom 16. Jahrhundert an stoßen, sicher nicht die schwächste ist. Jedenfalls kündigt sich jetzt, wenn gleichzeitig Humanisten wie Lorenzo Valla, Neoplatoniker wie Georgios Gemistos Plethon oder auch Aristoteliker wie Pietro Pomponazzi für eine Welt der durchgehenden Determination, eine Welt, heißt dies, ohne die klassisch-aristotelischen Spontan- und Zufallsursachen, ohne Wunder und ohne Freiheit plädieren, der Abgesang auf das aristotelische „Pluriversum“ und der Aufgang der einen, neuen Einheitswelt an. In dieser sind jetzt der Idee nach alle konkreten Naturerscheinungen als Funktionen der Totalität darstellbar – eine Vorstellung, die von der Leibnizschen lex continui über Laplace bis zu den Weltformel-Physiken oder besser – Metaphysiken des 20. Jahrhunderts stets aktuell geblieben und weiter ausgebaut worden ist. Allerdings kranken die frühen Versuche, eine Kontinuität der Naturerscheinungen zu denken, noch wesentlich daran, daß es offenbar schwierig ist und bleibt, die disparate Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen auf überzeugende Weise auf einen Einheitsgrund zu reduzieren; die älteren Versuche



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stützen sich hier vor allem auf die Astrologie, und man kann die überraschend große Rolle, die astrologisches Denken in weiten Teilen auch der seriösen Renaissancephilosophie gespielt hat8, eigentlich auch nur dann verstehen, wenn man begreift, daß man dringend einen Garanten für den Naturzusammenhang, für die Kontinuität der Erscheinungen brauchte und diese vor allem in den berechenbaren Bahnen der Gestirne gefunden hat. Aber wie dem auch sei: der Durchbruch von den ersten Stufen der Kontinuitätsspekulation zur konsequenten Einheitswissenschaft von der Natur erfolgte in dem Moment, als es gelang, mit der Isolierung von Raum und Zeit zwei Medien zu benennen, in denen Natur stets erscheint, ja durch die sie dann auch durchgängig quantifizierbar wird. Raum und Zeit, bei Aristoteles nur auf die Weise der akzidentellen Bestimmung einer Substanz nach ihrem „Wo“ und „Wann“ präsent, rücken ja in der Tat erst im Laufe des 16. Jahrhunderts erstens zu Mannigfaltigkeit in sich befassenden Einheitskonzepten und zweitens zu einem ab sofort ziemlich unzertrennlichen Paar auf, und es ist dann Galilei, der als erster ad oculos demonstrieren kann, was es heißt, konkrete Naturtatsächlichkeit aus Raum-Zeit-Verhältnissen heraus darzustellen – so darzustellen, daß konkrete Naturbestimmtheit als Funktion dieser Verhältnisse erscheint und aus ihnen in Gestalt mathematischer Gesetzmäßigkeit berechnet werden kann. Kant hat dann genau dieses Konzept von Raum und Zeit als den allgemeinen Medien aller Naturbestimmtheit mit der transzendentalen Ästhetik und auch mit dem Schematismus aufgenommen und insoweit das neue, einheitswissenschaftliche Motiv der Phänomenkontinuität durch raum-zeitliche Medialisierung aller Erscheinungen transzendentalphilosophisch approbiert. Allerdings gehört es dabei zu Kants kritischer Einsicht, darauf zu insistieren, daß die Kontinuität der Phänomene, von denen die Naturwissenschaft aus Gründen eben der Medialität der Anschauungsformen Raum und Zeit in der Konstitution aller Naturbestimmtheit auszugehen befugt ist, nicht etwa eine Interpretation auf eine ansichseiende oder absolute Einheit im Sinne einer Ordnung der Dinge an sich bzw. der Welt zuläßt. Die uns als bestimmte gegebene Einheit ist nie etwas anderes als eine konkrete Darstellung der Verstandeseinheit in den Medien von Raum und Zeit, und die Verstandeseinheit selbst ist dabei nichts anderes als die Selbstentfaltung des Bewußtseinsraumes innerhalb der Bahnen, in denen sich dieser Raum überhaupt respektiv auf den Anschauungsraum logisch selbst zu erhalten vermag. Nach Kant sind dann auch Objekte nichts anderes als die konkreten Vermittlungen des logisch aufgebauten 8  Das gilt beispielsweise auch für einen so nüchternen Denker wie Pomponazzi, der in seiner Schrift De naturalium effectuum causis sive de incantationibus ausdrücklich eine Lanze für die Astrologie gebrochen hat, während ein Platoniker wie Pico della Mirandola gegen sie polemisierte.

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Bewußtseinsraumes eben mit dem Anschauungsraum. Objekte werden niemals einfach nur „rezeptiv“ aus der Wahrnehmung aufgenommen, sie sind vielmehr Resultanten einer Dynamik des Machens der Erfahrung, die sich immer schon der logischen Elastizität des Subjekts verdankt. Kant knüpft auf diese Weise einerseits bei dem Grundaxiom des neuzeitlichen Naturalismus – dem Axiom von der prinzipiellen Phänomenkontinuität aller über Raum und Zeit medialisierbaren Bestimmtheit – an, macht jedoch andererseits sogleich den Vorbehalt, daß die Objekte, die wir in den Phänomenraum hineinsetzen, doch auch wieder Funktionen unserer eigenen Spontaneität, nämlich Postulate der sich entlang den Bahnen ihrer logischen Selbsterhaltung machenden Erfahrung sind. Kant erklärt so den deterministischen Horizont des verstandeswissenschaftlichen Denkens, verfällt ihm aber eben deshalb philosophisch nicht. Genau dies ist dann natürlich für die Theorie des „objektiven Ichs“ von Bedeutung, für das Ich als Leib und Erscheinung. Die Transzendentalphilosophie leugnet ja nicht, daß das Ich in bestimmtem Sinne auch Erscheinung ist und daß es in dieser Beziehung objektiv bestimmt werden kann: daß es insofern auch als Objekt unter Objekten, als konkrete Funktion der Erfahrung in ihrer Realisierung, d. h. in ihrer Funktion des Abgleichs zwischen Bewußtseins- und Erfahrungsraum gesetzt werden kann9. Was Kant jedoch leugnet, ist die Behauptung, daß die Subjektivität schlechthin erstens mit ihrer Objektivation identisch sei und daß zweitens die Objektivation selbst einfach eine gegebene Unmittelbarkeit, eine Faktizität, und nicht selbst schon ein Produkt unseres Denkens sei. Kants kritischer Einspruch besagt insofern, daß das vorstellende und das vorgestellte, das unmittelbar reflexive und das unmittelbar gegenständliche Ich nur um den Preis einer Metaphysik der absoluten Einheit, also einer gegenständlichen Einsicht in die Vernunfteinheit, die uns nach Kant jedoch verwehrt ist, als identisch gesetzt werden könnten. Es ist vollkommen klar, daß keine Einzelwissenschaft diesen Preis zu zahlen in der Lage ist – auch wenn wir an dieser Stelle nochmals festhalten, daß die Attraktivität der Lava im Monde, will sagen aller naturalistischen Modelle, immer auf einem erkenntnis- und wissenslogisch zunächst berechtigten Einheitsimpuls beruht. Offensichtlich verleitet der leitende einheitswissenschaftliche Impuls bzw. die Furcht vor wirklichen oder imaginären Dualismen die Einzelwissenschaft hier immer wieder zu einer Blindheit bezüglich dieser Kosten, die man als irgendwie schon beglichen ansieht. Da sie jedoch nicht beglichen sein können, scheitert die Rationalität des Naturalismus an jener der Transzendentalphilosophie wohlbekannten Phasenverschiebung, die zwischen 9  Vgl. dazu nur schon Kants Begriff des „doppelten Ich im Bewußtsein meiner selbst“ (ders.: Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, in: AA XX, 268); dazu E. Heintel: „Das ‚Faktum‘ des ‚zweifachen Ich‘ bei Kant“, in: ders.: Gesammelte Abhandlungen, Bd. VIII, Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, 159–186.



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dem Unmittelbaren der Erscheinung und der Realisierung ihrer Genesis immer klafft. Gerade, weil die Erscheinung als solche nicht unmittelbar „rational“ oder kontinuierlich sein kann, sondern dies nur im Aufweis ihrer Genesis zu sein vermag, endet der Naturalismus hier in der Sackgasse einer der Vorstellung zwar aufgegebenen, aber für sie als Vorstellung wesentlich nicht einholbaren, weil eben nicht vorstellbaren, sondern das Vorstellen selbst ermöglichenden Einheit. Allerdings gibt es über das bisher Betrachtete hinaus einen noch einmal tiefer, nämlich bei der Vernunfteinheit ansetzenden Impuls des Naturalismus, dessen Attraktivität insofern dann nicht nur in dem verstandeslogischen Impuls zur Einheitswissenschaft, sondern durchaus im Trieb der Erkenntnis der Totalität, und das heißt auch der Selbsterkenntnis und Selbstvergewisserung, läge. In der Tat haben wir es hier mit einem „Naturalismus zweiter Stufe“ zu tun, der nicht einfach das Subjekt zum Objekt erklärt, sondern einer objektiven Vernünftigkeit und in diesem Sinne auch einer Objektivität der Subjektivität auf der Fährte ist. Oder anders: Es geht jetzt nicht mehr darum, daß sich das Subjekt im Sinne des Naturalismus erster Stufe in einfacher Kontinuität mit dem sonst Vorstellbaren oder dem Natürlichen findet. Das Subjekt will sich jetzt vielmehr selbst im Sein, und zwar in einem „reflexiv“ gesetzten Sein finden, und es will dabei seine exzentrische Weltstellung aufgeben, die es etwa der theoretischen Seite der Kantischen Transzendentalphilosophie nach noch hatte. Es ist zweifelsohne einer der tiefsten Gedanken der Phänomenologie des Geistes, wenn Hegel im Kapitel über die beobachtende Vernunft als eigentliche Triebkraft des Empirismus die sich selbst suchende Vernunft, nämlich ihren Anspruch, sich in der wirklichen Welt konkret realisiert zu sehen, ausmacht. Tatsächlich gibt es ja keine empirischen Gründe für einen empiristischen Standpunkt; die Empirie als solche ist überhaupt kein wissenschaftlicher Standpunkt, sondern verliert sich im bunten Chaos der Vorstellungen. Dagegen gibt es rationale Gründe, die für den Empirismus sprechen – an erster Stelle die Forderung der Vernunft, sie selbst, nicht nur den Verstand, an der Empirie auf die Probe zu stellen. Das Programm, um das es hier geht, ist im letzten mithin das einer reflexiven Durchdringung des Unmittel­ baren – um mit Hegels Beispiel zu reden: die Durchdringung etwa dieses Schädels, wie Hamlet ihn zur Hand nimmt, mit dem Gedanken Ich, dem Gedanken der Subjektivität10. Daß der entsprechende Impuls dieses, wenn man so will, höheren Naturalismus zunächst nur auf Antinomien führt, ist für Hegel genauso klar wie für Fichte. Bei Fichte freilich ist die Aufnahme 10  Der „Naturalismus der Vernunft“ führt dann nicht wie der des Verstandes auf eine Einheitswissenschaft, sondern auf den unmittelbaren Widerspruch, das Ich als Gegenstand, die Tätigkeit als Objekt ansehen zu müssen.

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des Problems einer Vermittlung der Idealität bzw. des Begriffs mit dem Sein bzw. dem Leben zumal in der Spätphilosophie bemerkenswert. Das Ringen des Idealismus und des Realismus miteinander, wie wir es auf der Stufe der Wissenschaftslehre von 1804 antreffen, betrifft nicht einfach mehr die Auseinandersetzung der Transzendentalphilosophie mit dem platten dogmatischen Vorstellen, nicht den, wie wir gesagt haben, Realismus erster Stufe. Es geht vielmehr darum, im Sinne einer transzendentalphilosophisch zu verstehenden Prinzipienlehre die Unendlichkeit des Begriffs als des unmittelbar Vermittelnden, des Durcheinander, mit dem Anderen dieses Begriffs, dem prinzipiellen, in sich geschlossenen und lebendigen Sein, zusammenzudenken. Daß dies nur im Rahmen einer Philosophie des Absoluten möglich ist, ist Fichte dabei genauso klar wie die Notwendigkeit, den Begriff des Lebens jetzt prinzipienphilosophisch neu zu fassen, ihn aus der Empirie herauszuheben und, abgekürzt gesprochen, als das universale Medium einer unmittelbaren Präsenz der Vernunft zu erkennen. Wir lesen in diesem Sinne in der Wissenschaftslehre von 1804: „Wir leben, eben unmittelbar im Lebensakte selber; wir sind daher das Eine ungetheilte Seyn selber, in sich, von sich, durch sich, das schlechthin nicht herausgehen kann zur Zweiheit“11. Das transzendentale oder absolute Leben ist hier mit dem „Seyn“ der Subjektivität als unmittelbarem Vollzug, wenn auch nicht mit deren spezifischer Form, der Form des Begriffs, identisch geworden. Ich würde die These vertreten (und habe dies auch an anderem Ort schon getan12), daß Fichte in einer ganz bestimmten Schicht seines Naturdenkens ganz analog ansetzt und Natur insoweit nicht als in ihrer Genesis nicht durchschaute Welt der Verstandesvorstellungen, sondern als jenes sozusagen transzendentale Fluidum denkt, in welchem ein Leben der Vernunft als realiter mit dem Sein vermittelt stattfindend gedacht werden kann. Wir kommen auf diesen Punkt noch einmal zurück. Lassen Sie mich an dieser Stelle aber noch auf die praktische Dimension der Sache zu sprechen kommen, also auf die Lava im Monde, insofern sie Bild der Trägheit, der Entschließung zur Heteronomie ist! Diese Dimension ist nicht zuletzt deshalb von besonderer Bedeutung, weil es in ihr, im Falle der nicht nur gedachten, sondern gelebten Selbstakzidentalisierung des Menschen, zu einer besonders wirksamen Verstopfung der Quellen des Freiheitsbewußtseins kommen kann, ja kommen muß. Beginnen wir auch hier mit Kant, dessen praktische Philosophie ein einziger großer Hinweis auf die Tatsache ist, daß wir im Zeichen des Freiheitsbewußtseins eine Art von 11  WL

1804-II – GA II / 8, 231. Thomas Sören Hoffmann: „… eine besondere Weise, sich selbst zu erblicken“. Zum systematischen Status der Natur nach Fichte, in: Fichte-Studien 24 (2003) 1–17. 12  Vgl.



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Notwendigkeit kennen, die die theoretisch alleine darstellbare hypothetische Notwendigkeit, das heißt die Logik der Kausalverkettung, ohne weiteres durchbricht, und daß entsprechend auch der Sinn von „Handeln“ jetzt ein wesentlich anderer ist als der der kausalmechanisch orientierten Verrichtung. Tatsächlich beruht die relative Attraktivität des naturalistischen Begriffs menschlicher Praxis – ich habe erwähnt, daß ein solcher Begriff bei allen Apologeten heteronomer politischer Wirklichkeiten vorausgesetzt ist, und ich ergänze jetzt, daß ein solcher Begriff natürlich auch in den Einzelwissenschaften, die sich mit menschlichem Handeln befassen, vorherrschend ist: in der empirischen Psychologie zum Beispiel, in der Soziologie, aber nicht zuletzt auch in einer der Schlüsselwissenschaften unserer Zeit, in der Ökonomie –, tatsächlich also beruhen Akzeptanz und Attraktivität des naturalistischen Begriffs der Praxis darauf, daß dieser Begriff menschliches Handeln ganz analog zu natürlichen Wirkzusammenhängen auffaßt, daß er „Handlungen“ also genaugenommen als Erwirkungsversuche, als „Interventionen“ und so in jedem Fall stets „instrumentell“ versteht. Der Ökonom beispielsweise versteht unter „Handeln“ so etwas wie die Beteiligung an einem kollektiven Strategiespiel, und der Psychologe wird ihn dann zum Beispiel mit jener Trickkiste ausstatten, die er benötigt, um Erwartungen seiner Mitspieler wiederum strategisch wecken und auch wieder täuschen zu können. Bei Kant und natürlich auch Fichte sind gerade dagegen Dimensionen des Handelns freigelegt worden, die niemals im Sinne nur relativer und hypothetischer, sondern immer nur im Sinne absoluter Notwendigkeit aufschließbar sind. Sittlich qualifiziertes Handeln folgt stets absoluter, nicht dinglich-relativer Notwendigkeit; entsprechend meint es auch gerade nicht, dies oder jenes verursachen. Es geht hier um wesentlich mehr – um nichts Geringeres als die ursprüngliche Darstellung des Freiheitswesens als solchen, das sich in sittlichen Handlungen (und andere als sittliche gibt es im strengen Sinne nicht) als bei sich selber anfangend erweist. „Handlungen“ im eigentlichen Sinne von Autonomie oder Selbständigkeit sind, wie man auch sagen kann, Konkretisierungen einer Würde des Menschen, die in den mechanistischen Rastern sei es des Utilitarismus, sei es auch des Konsequentialismus gerade nicht reflektiert werden kann. In der ethisch qualifizierten, der autonomen Handlung, niemals jedoch in der mechanischen Reaktion und Verursachung materialisiert sich, wenn man so will, überhaupt die Freiheit, die in echtem Handeln Erscheinung wird, ohne doch der Logik des Erscheinens, dem Mechanismus der objektiven Erscheinungsfolge, zu verfallen. Wir erinnern uns, daß Fichte im Naturrecht die spezifische Differenz des Erscheinens der Freiheit in Handlungen von kausalmechanischen Einwirkungen am Fall der sprachlichen Anrede verdeutlicht hat, die erst dann als Darstellung von Freiheit verstanden ist, wenn sie als bestimmte Negation eines ebenfalls möglichen Kausalverhältnisses, also zum Beispiel

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der gewalttätigen Einwirkung, bewußt ist: die Anrede enthält den Verzicht auf die Kausalwirkung und insofern schon die Anerkennung des Angeredeten als eines Freiheits-, nicht eines Naturwesens; sie ist zwar selbst Naturtatsache und insofern Erscheinung, jedoch Erscheinung, die unmittelbar in den Grund der bestimmten Natur hinein verscheint13. Was es dagegen bedeutet, wenn der Naturalismus der Handlung nicht etwa nur punktuell, sondern systematisch nach den Darstellungsformen der Freiheit, also zum Beispiel dem Recht greift, kann man bei dilettierenden Rechtsreformern wie etwa Wolf Singer nachlesen, die zum Beispiel das Strafrecht nur noch im Sinne eines Sicherungsmechanismus, aber in keiner Weise mehr als Medium der Konfrontation mit Verantwortung, d. h. mit der Freiheitsnatur des Menschen, kennen14. Wenn andererseits Kant oder Fichte der Vorwurf zum Beispiel des Rigorismus oder der „Weltfremdheit“ gemacht wird, dann ist dabei regelmäßig übersehen, daß die Transzendentalphilosophie in ihrem Begriff menschlicher Praxis die andere, freiheitliche Ordnung der Dinge sichtbar machen, aber nicht das Bedürfnis der Klugheit im dinglichen Umgang mit Dingen bedienen will. In Vorwürfen wie den genannten verbirgt sich in der Regel so denn auch nichts anderes als eben doch ein kausalmechanischer Vorbegriff des Handelns – ein Vorbegriff also nach Maßgabe der Lava im Monde. Fichte hat die letzte Ursache für eine entsprechende Verweigerung der Selbstbestimmung, wie schon erwähnt, in der Trägheit ausgemacht15 – in jener Selbstdeutung des Subjekts als bloßer Masse, in der sich das Subjekt seiner Subjektivität dadurch entledigt, daß es sich dinglich bestimmt und so auch von außen bestimmen läßt. In der Trägheit ist die lebendige Unruhe, die ich als Freiheitswesen elementar bin, in eine tote Existenz hinein erloschen. In der Tat kann dabei nur Trägheit heißen, was den schreienden Selbstwiderspruch von Freiheit und Dinglichkeit, Unruhe und totem Sein, Selbstbestimmung und mechanischer Einwirkung in ein und derselben Instanz ohne weitere Klage erträgt. Fichte war dazu der Mann nicht, und wir vergegenwärtigen uns jetzt noch zumindest in Kürze, was seine letzten Gründe dafür waren.

13  Vgl. den bekannten § 3 aus dem „Ersten Hauptstück“ der Grundlage des Naturrechts, bes. etwa GA I / 3, 345 ff. 14  Vgl. hier nur etwa den Essay von W. Singer: „Verschaltungen legen uns fest. Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen“, in: Chr. Geyer: Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt a. M. 2004, 30–66; außerdem etwa G. Roth: Aus der Sicht des Gehirns, Frankfurt a. M. 2003, 180 ff. 15  Vgl. Fichte: Das System der Sittenlehre nach Principien der Wissenschaftslehre, § 16, in: GA I / 5, 185.



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II. Ich habe bereits erwähnt, daß, wie der Naturalismus, so selbstverständlich auch der Freiheitsstandpunkt sich nicht anders denn aus seiner Rationalität heraus rechtfertigt. Die Rationalität allerdings, um die es hier geht, ist die der ihrer selbst bewußten Vernunfteinheit, nicht einfach die einer Verstandeseinheit oder auch nur die der um den Preis der Antinomie gesuchten Vernunfteinheit in Wissenschaften. In diesem Sinne fragt Fichte, ohne die Kantische Lektion in Sachen Kritik einfach vergessen zu haben, ohne also – und dieser Punkt ist durchaus entscheidend – in eine vorstellende Metaphysik zurückzufallen, immer auch hinter die bloß erscheinende Einheit in deren Grund zurück. Wissenschaftslehre und Freiheitsphilosophie im Sinne Fichtes sind in allen Stadien der Systementwicklung eben in diesem Sinne als Erinnerungen an eine Vernunfteinheit gemeint, die sich nun nicht mehr im Kontinuum der Erscheinungsmannigfaltigkeit verliert, aber auch nicht einfach eine wiederum vorstellungshafte zweite Welt aufruft. Der allgemeine Schlüssel zum Verständnis der Fichteschen Position liegt dabei darin, daß Fichte auch noch die die Einheit der Erscheinung fundierende Einheit der Vernunft aufweist, indem er die Realität der Vernunftidee als immer schon unmittelbar und vollzugshaft präsent erschließt. Was damit gemeint ist, kann man im Anschluß noch einmal an Kant erläutern: Kant spricht in der Kritik der Urteilskraft davon, daß es zumindest eine Vernunftidee gebe, die sich zugleich „unter den Thatsachen“ finde, nämlich „die Idee der Freiheit“16; der Freiheitsgedanke, ohne dessen Vollzug kein menschliches Selbstbewußtsein möglich ist (übrigens auch nicht das des Deterministen) und der dennoch nicht einfach verstandesbegrifflich, vor allem nicht über das Kontinuum der Erscheinungen, eingeholt werden kann, verbindet insoweit die intelligible und die sinnliche Welt, oder: In ihm ist an sich schon die Differenz von homo noumenon und homo phaenomenon aufgehoben. Dieser Satz hängt natürlich aufs engste mit der ehernen Regel der transzendentalen Erkenntnislehre zusammen, daß es ein eigentliches Erscheinungsoder Objektwissen nur auf der Basis eines ursprünglich reflexiven, das heißt aber schon freiheitlichen Selbstwissens geben kann. Die Transzendentalphilosophie beschäftigt sich auf der Grundlage dieser Regel nicht wirklich ernsthaft mit jenen Theorien der Lava im Monde, die zum Beispiel darauf hinweisen zu müssen meinen, daß Freiheit im Reich der Erscheinungen bis dato nicht anzutreffen sei; sie beschäftigt sich viel eher schon mit einer Theorie des autonomen Handelns, in der es um die Einbildung der Idee der Freiheit in das Reich der Erscheinung als das vernunftgemäß Gesollte geht. Allerdings hat Fichte der Kantischen Auszeichnung der Freiheitsidee doch 16  Kant:

Kritik der Urteilskraft, in: AA V, 468.

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auch noch etwas an die Seite gestellt, womit er über Kant hinausgegangen ist. Fichte weiß um den engen Zusammenhang von Freiheit und Erkenntnis. Er weiß darum, daß hier die eine ohne die andere nicht zu haben ist. Ich beschränke mich für unsere Zwecke auf einen einzigen Punkt: Wenn reale Erkenntnis nicht ohne den Allgemeinbegriff möglich ist, so ist mit der Erkenntnis jedenfalls auch die Freiheit wirklich – denn es ist ja gerade der Allgemeinbegriff, der A immer zusammen mit Non-A, mit seiner Alternative vorstellig macht; zum Freiheitsbewußtsein gehört jedoch konstitutiv das klare Bewußtsein der Alternative, der anderen Möglichkeit, wie sie ein Tier niemals als solche zu Gesicht bekommen wird. Umgekehrt liegt in der Freiheit als dem Vermögen radikaler Distanzierung von der Gegenständlichkeit kraft Selbstbezugs die erste Ermöglichung einer Erkenntnis der Gegenständlichkeit, die nur aus dieser vollständigen Distanzierung heraus überhaupt nach Maßgabe von Allgemeinheit und Notwendigkeit gedacht werden kann. Aber wie dem auch sei: worum es hier geht, ist, daß Fichte gleichfalls in der Idee des Erkennens oder des Wissens eine Idee, das heißt eine Instanz der Vernunfteinheit, ausmacht, die ebenso wie die Idee der Freiheit zugleich als Idee und unmittelbare Realität aufzufassen ist. In der Tat wird man das Fichtesche Programm einer Wissenschaftslehre wohl kaum verstehen, wenn man nicht schon verstanden hat, daß es hier nicht um das Projekt eines idealen und künftigen Wissens, sondern um die hier und jetzt immer schon aktuale Wissenswirklichkeit geht. Die Wissenschaftslehre zielt, jedenfalls an erster Stelle, nicht auf das Wissen, das wir erwerben können, auch nicht auf das Wissen, das wir so oder anders schon erworben haben – sie thematisiert das Wissen, das wir schon sind. Man kann das, worum es hier geht, vielleicht am eingängigsten mit der Erinnerung ausdrücken, daß zwar niemand von uns geborener Wissenschaftler ist, daß aber nichtsdestotrotz niemand von äußeren Instanzen erfahren kann, was „Wissen“ meint – auch nicht der Wissenschaftler, denn auch „Wissenschaft“ als das menschliche Unternehmen, eine verstandene Welt zu erzeugen, setzt die Tatsache eines in Vollzugsform bereits existierenden Wissens, eines primordialen Wissensvollzugs immer voraus. Was uns keine Wissenschaft, auch keine Kognitionswissenschaft welchen Zuschnitts auch immer, erklären und andemonstrieren kann, ist der Wissensvollzug selbst, der Verstehensakt als solcher, die innere Evidenz oder eben das „Licht“ als solches, von dem wir gelegentlich sagen, daß es uns in der ein oder anderen Sache „aufgegangen“ sei, dessen faktische Existenz aber niemand anderes als wir selber sind. Oder anders: alle Wissenschaft folgt schon aus der Tatsache, daß wir existierendes Wissen sind, sie folgt aus der Tatsache, daß Wissen ist und daß die eine uns zugängliche Konkretionsform dieses sich selbst realisierenden Wissens unsere eigene Existenz ist: unsere Existenz auch als uns selbst transparente Erscheinung, vor allem aber unsere Existenz als der logische Fokus der Er-



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scheinungswelt selbst, als die „Origo“ der objektiv bestimmten Phänomenwelt – was zu sein freilich keiner Lava im Monde zukommt. Wir sind mit diesen Überlegungen in der Tat bei der Wissenschaftslehre als einer Wissenschaft von der sich immer schon selbst bezeugenden Vernunfteinheit angekommen. Da diese Vernunfteinheit sowohl in dem existierenden Wissen wie auch in der existierenden Freiheit, die wir beide sind, unmittelbare Realität und Leben besitzt, gibt es einen tragfähigen systematischen Grund für das, was ich vorhin die Selbstakzidentalisierung des Menschen genannt habe, aus der Perspektive der Philosophie Fichtes jedenfalls nicht. Eher schon bleibt der Befund, daß gerade der Mensch, mit dem der Welt erst „das Auge eingesetzt“ ist, sich so gerne zur blinden Lava erklärt, auch trotz der hier angeführten Beweggründe dafür, ein dauerndes Rätsel. Zum Abschluß möchte ich dann noch ganz kurz zu jenem bereits angekündigten Hinweis auf Fichtes mehr als objektivistischen Naturbegriff kommen. Fichte hat an der überwiegenden Anzahl von Stellen, an denen sich seine Frühphilosophie mit der „Natur“ befaßt, diese ganz Kantisch im Sinne des Inbegriffs der äußeren Erscheinungen verstanden und dann entsprechend die Abkünftigkeit bzw. relative Nichtigkeit dieser Erscheinungen aufgezeigt. Wir lesen in diesem Sinne dann auch beim späten Fichte Sätze wie etwa den folgenden: „Objektive Welt, Natur – ganz und durchaus nicht, rein abgeläugnet“17 – ein Satz, den man wie seine diversen Vorgänger von vornherein weniger als einen Beleg für eine angebliche Naturfeindlichkeit Fichtes als vielmehr als klare Absage eben an den Naturalismus lesen sollte. Recht bald aber hat sich bei Fichte dann auch ein anderer Begriff der Natur ergeben, der zunächst wesentlich praktische Wurzeln hat und beim Problem der Individuation der Freiheit ansetzt – bei der verleiblichten Freiheit, wie Fichte sie ja schon in den praktischen Schriften der 1790er Jahre erörtert18. Natur wird in dieser Perspektive nicht einfach als das Insgesamt der Verstandesvorstellungen, nicht als der imaginäre Referent der Verstandeswissenschaften gedacht. Sie ist vielmehr streng als das Medium des Erscheinens von Vernunft genommen und wesentlich dieser zugeordnet. Wir haben oben bereits den transzendentalen Lebensbegriff herangezogen, der gerade auch für das alternative Verständnis von Natur bei Fichte eine entscheidende Rolle spielt; allerdings können wir diese Zusammenhänge hier nicht mehr im einzelnen betrachten. Ich zitiere vielmehr nur noch einen Passus aus den Thatsachen des Bewußtseins (1813): „Die Natur ist […] an sich selbst aufgehoben, und ist Leben und Tätigkeit nur aus dem ihr fremSittenlehre 1812, in: GA II / 13, 329. dazu Thomas Sören Hoffmann: Philosophische Physiologie. Eine Systematik des Begriffs der Natur im Spiegel der Geschichte der Philosophie, StuttgartBad Cannstatt 2003, 488–509. 17  Fichte: 18  Vgl.

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den geistigen Leben, welches statt ihrer lebt. […] Und so ist denn die Natur durchaus geworden zur bloßen Wirkungssphäre des Übernatürlichen, weil sie in und für sich selbst ohne alle Kraft ist […]“19. Die Natur heißt jetzt die „Ersichtlichkeit“ der Vernunft, sie ist jetzt der Stoff der Bildlichkeit unserer rationalen Bilder, nicht mehr ein wesentlich Irrationales, zu dem die Vernunft sich auch nur in ein irrationables Verhältnis setzen könnte. Oder noch einmal anders: sie ist der Ort einer lebendigen und auf lebendige Weise unmittelbaren Vernunft, nicht das tote Andere unserer Vernunft­ tätigkeit. Damit freilich hat die Lava im Monde endgültig ausgedient. Der Versuch, unter ihrem Namen den Rückzug auf eine irrationable Unmittelbarkeit anzutreten, scheitert spätestens dann, wenn die Vernunft als bewegendes und belebendes Prinzip, als die Genesis aller Unmittelbarkeiten erkannt ist. Die Vernunft steht immer für die heilsame Unruhe, die jeder Anhauch von Freiheit und Erkennen auch hinter den Gefängnismauern des Naturalismus notwendig mit sich bringt. Bibliographie Crouch, Colin: Postdemokratie, Frankfurt a. M. 2008. Fichte, Johann Gottlieb: Die Thatsachen des Bewußtseins (1813), GA II / 15, 29–128. – Das System der Sittenlehre (1812), GA II / 13. – Der Patriotismus und sein Gegenteil. Patriotische Dialogen vom Jahre 1807, GA II / 9. – Wissenschaftslehre (1804), GA II / 8. – System der Sittenlehre (1798), GA I / 5. – Grundlage des Naturrechts (1796), GA I / 3. – Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794 / 95), GA I / 2. Heintel, Erich: „Das ‚Faktum‘ des ‚zweifachen Ich‘ bei Kant“, in: ders., Gesammelte Abhandlungen Bd. VIII, Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, 159–186. Hoffmann, Thomas Sören: „… eine besondere Weise, sich selbst zu erblicken“. Zum systematischen Status der Natur nach Fichte, in: Fichte-Studien 24 (2003), 1–17. – Philosophische Physiologie. Eine Systematik des Begriffs der Natur im Spiegel der Geschichte der Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 2003. Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, AA VI, 203–495. – Handschriftlicher Nachlass, AA XX. – Kritik der Urteilskraft, AA V, 165–487. Nietzsche, Friedrich Wilhelm: Nachlaß Juni–Juli 1885, KGW VIII 3. 19  Fichte:

Thatsachen des Bewußtseyns (1813), in: GA II / 15, 94 f.



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Roth, Gerhard: Aus der Sicht des Gehirns, Frankfurt a. M. 2003. Scharpf, Fritz: Regieren in Europa: effektiv und demokratisch?, Frankfurt a. M. 1999. Singer, Wolf: „Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen“, in: Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, hrsg. von Christian Geyer, Frankfurt a. M. 2004, 30–66.

Fichtes Begriff der Natur Rezeptionsgeschichte im Wandel – Ein Forschungsbericht Hartmut Traub I. Einleitung: Fichtes „berüchtigte und verspottete Bestimmung der Natur“ (Janke) Fichtes Naturphilosophie galt lange Zeit als eine radikal-imperiale Verwertungs-, Unterwerfungs- oder gar „Ausrottungsideologie“ (Helmut Girndt)1. Widerständigkeit und Materialität des Organischen wie des Anorganischen waren darin die beiden wesentlichen Hinsichten einer streng dichotomen Naturauffassung. Da, wo die Natur nicht als Mittel – als Material der Freiheit – zur Erhaltung und Kultivierung der Menschheit nutzbar zu machen ist, sondern als unberechenbare Macht – in Naturkatastrophen, Seuchen und Plagen – die Existenz des Menschen bedroht, da, wo sich die Natur den vernünftigen Plänen des Menschen widersetzt und kulturelle Entwicklung behindert oder gar zerstört, da verändert sich das funktionale Verhältnis des Menschen zur Natur in offene Feindschaft. Zentrale Werke Fichtes, etwa Die Bestimmung des Menschen (1800) oder einschlägige Passagen aus dem Naturrecht (1796), sprechen sich über dieses Thema in unzweideutiger Klarheit aus. Auch wenn es sich bei diesen Arbeiten eher um kulturphilosophische Betrachtungen handelt, so ist doch deren Grundlage gleichwohl in Fichtes transzendentalphilosophischem Denkansatz zu suchen. Denn in ihm wird im Akt der Entgegensetzung dem „Sich-setzenden Ich“ das dem Ich widerstehende und widerstrebende NichtIch gegenübergestellt2. Durch die Anstößigkeit des Nicht-Ich einerseits und den Trieb bzw. das Streben des Ich andererseits stellt sich die Wissenschaftslehre als eine Konflikttheorie dar, in der das Ich vor die unendliche Aufgabe einer nur in der Idee zu vollendenden Überwindung nicht-ichhafter, das heißt widervernünftiger Entgegensetzungen gestellt wird. „Auf der Grundla1  Helmut Girndt: „Über den Umgang mit der empfindungsfähigen Natur nach J. G. Fichte“, in: A. Mues (Hrsg.), Transzendentalphilosophie als System, Hamburg 1989, 146. Im folgenden zitiert als TaS. 2  Reinhard Lauth: Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, Hamburg 1989, 17 ff.

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ge der Wissenschaftslehre“, so formuliert Wolfgang Janke treffend und abgründig zugleich, „trägt die Natur das Kainsmal des Nicht-Ich“3. Jedoch, und um einen anderen Archetypus ins Spiel zu bringen, teilt die Menschheit nicht das Los des Sisyphos, dem der Versuch einer Befreiung aus seinem unglückseligen Schicksal auf ewig nicht gelingt. Im Gegensatz dazu hat nach Fichte, wenn auch über Rückschläge vermittelt, die Menschheit als ganze und auch das individuelle Dasein des Einzelnen die Chance zur Perfektibilität, das heißt zur Approximation an das Ziel der Verwirklichung einer weltumspannenden Kultur der Vernunft. Im Kontext dieser optimistischen Geschichts- und Kulturphilosophie erhält die Widerständigkeit der Natur die Bedeutung einer negativen, aber gleichwohl notwendigen Bedingung menschlicher Freiheit. Denn die Freiheit bedarf, weil sie nur als Ergebnis eigener Anstrengung wirkliche Freiheit ist, des Aktes der Befreiung. Dieser aber setzt Zustände der Unfreiheit, Unmündigkeit, Fremdbestimmung und Unwissenheit voraus. Innerhalb dieser transzendental begründeten Befreiungsphilosophie erweist sich gerade und insbesondere die Natur, das heißt diejenige Macht, die den Menschen undurchschaut, innerlich wie äußerlich, physisch, geistig und als „Quasi-Natur“ auch gesellschaftlich und politisch beherrscht und lenkt, als der Widerstand, den es im Akt der (Selbst-) Befreiung zu überwinden und, wo nicht ins Kulturprogramm integrierbar, zurückzudrängen, zu befrieden oder zu vernichten gilt. Die Lehre vom Ich, das sich die physische, die seelische und die gesellschaftliche Quasi-Natur machtvoll unterwirft und sich so gewaltsam ausbreitet, hat von ihrer provozierenden Wirkung bis in unsere Tage nichts eingebüßt. Ja, durch das gewachsene Bewußtsein von dem inzwischen umgekehrten Bedrohungsverhältnis zwischen Mensch und Natur sowie durch den ernüchterten Fortschrittsoptimismus hat diese Lehre ihre provokative Wirkung sogar noch gesteigert4. Und so ist es nicht verwunderlich, daß sich nicht allein die philosophische Debatte, die Fichte insbesondere mit Schelling geführt hat, sondern auch die Rezeptionsgeschichte der Philosophie Fichtes insgesamt bis in die Gegenwart an dieser provokanten Position von Fichtes Naturauffassung orientiert, gerieben und abgearbeitet hat5. Darüber hinaus diente und dient dieser Fokus auf Fichtes Naturphilo3  Wolfgang Janke: Vom Bilde des Absoluten. Grundzüge der Phänomenologie Fichtes, Berlin / New York 1993, 395. 4  Den qualitativen Umschwung des Bedrohungsverhältnisses zwischen Menschheit und Natur, daß die Menschheit der Natur heute gefährlicher geworden ist, als diese es für uns jemals war, und die daraus abzuleitenden Konsequenzen hat Hans Jonas in seinem Prinzip Verantwortung, Frankfurt a. M. 1984, ausführlich dargestellt und erörtert. Mit Bezug auf Fichte haben dieses Problem einige der im folgenden behandelten Autoren diskutiert. 5  Girndt: „Über den Umgang“, 134.



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sophie der naturphilosophischen Rezeptionsgeschichte insgesamt als Extremposition und „Paradigma“ im Streit um die neuzeitliche Naturphilosophie überhaupt – einem Streit, der seine Trennungslinie bezeichnenderweise auch und gerade wiederum zwischen Schelling und Fichte verlaufen läßt. Wodurch an beiden Philosophen offenbar stellvertretend die naturphilosophische Grundlagendebatte ausgefochten wird6. In ihrem ersten Teil will die folgende Analyse zeigen, daß wir auch heute noch von einer klassischen Rezeptionsgeschichte im Hinblick auf Fichtes Naturphilosophie sprechen können. Das bedeutet, der auf die Auseinandersetzung zwischen Schelling und Fichte zurückführbare Streit um einen dem Idealismus angemessenen Begriff der Natur wird auch heute noch fortgeführt. Hierbei gilt jedoch, daß sich diese Auseinandersetzung maßgeblich auf die Stufe der philosophischen Entwicklung Fichtes bezieht, die im Jenaer Systemzyklus vorliegt. Auf drei Stationen dieser klassischen Rezep­ tionsgeschichte wollen wir zu Beginn näher eingehen. Im Anschluß daran und als Übergang zum zweiten Teil werden zwei Interpretationsansätze vorgestellt, die unter Einbeziehung auch späterer Arbeiten Fichtes die klassisch-konfrontative Rezeptionslinie zum Streit um den Naturbegriff verlassen und neben den Differenzen auch auf Gemeinsamkeiten der beiden Kombattanten – Fichte und Schelling – hinweisen. Der zweite Teil entfaltet dann systematisch bedeutungsvolle, neuere Interpretationsansätze zu Fichtes Naturverständnis, die zum Teil als Ergänzungen, als Relativierungen und auch als prinzipielle Veränderungen gegenüber dem klassischen Paradigma seines naturphilosophischen Denkens verstanden werden müssen. Zum Schluß stellen wir, in einem dritten Teil, eine These vor, die Fichtes naturphilosophisches Denken nicht im Rahmen seiner Wissenschaftslehre, sondern umgekehrt die Entdeckung der Wissenschaftslehre im Kontext und als das Ergebnis einer Naturerfahrung begründet. Dieser Ansatz betrifft dabei nicht allein die Bestimmung von Fichtes Naturphilosophie, sondern sein philosophisches Projekt als ganzes und in seinem Wesen. Denn er wendet sich von der Dominanz eines epistemologischen Modells des Selbstbewußtseins als Prinzip von Fichtes „ursprünglicher Einsicht“ ab und versucht statt dessen, ein anthropologisch-ästhetisches Modell der Systemfundierung zu etablieren. Mit dieser Wende wird die in der gegenwärtigen Fichte-Rezeption 6  Marek Siemek: „Schelling gegen Fichte. Zwei Paradigmen des nachkantischen Denkens“, in: TaS, 388–295; Hartmut Traub: „Perspektiven der Forschung“, in: ders.: Schelling-Fichte Briefwechsel, Neuried 2001, 15 ff. Im folgenden zitiert als FSB; vgl. Fichte-Studien 25 (2005) zu Grundlegung und Kritik. Der Briefwechsel zwischen Schelling und Fichte 1794–1802. Die Fichte-Studien werden im folgenden als FS zitiert.

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vorherrschende Primordialität von Erkenntnis und Wissen in eine integrativfunktionale Betrachtungsweise überführt, und damit wird, wie wir glauben, dem ganzheitlichen Anspruch der Philosophie Fichtes eher entsprochen. II. Erster Teil – Fichtes Naturverständnis: Grundlegung, Kontinuität und Brüche der Rezeptionsgeschichte 1. Die Grundlegung der Rezeptionsgeschichte durch Schellings Kritik Schelling war wohl der erste, der sich zunächst in seinem Briefwechsel mit Fichte (1794–1802) kritisch bis polemisch mit dem Unterwerfungsgeist des Fichteschen Idealismus auseinandergesetzt und dabei auf dessen unzureichendes Naturverständnis hingewiesen hat (SFB, 54–114). Fichte, so zeigt der Briefwechsel, hatte seinen Naturbegriff aus dem Bewußtsein des handelnden Ich, und zwar als die über den Zweckbegriff vermittelte und als die für das zweckbestimmte Handeln zu fordernde Sphäre seiner Realisa­ tion, das heißt als den aus der praktischen Philosophie abgeleiteten Handlungs- und Gestaltungsraum des endlichen Vernunftwesens bestimmt. „Hier“, so schreibt Fichte an Schelling, „in dieser kleinen Region des Bewußtseyns liegt eine SinnenWelt: eine Natur“ (ebd., 198). Schelling hatte für seinen Naturbegriff dagegen den Status eines Grundprinzips reklamiert und von ihm her auch den transzendentalen Idealismus der Ich-Philosophie systematisch neu zu begründen versucht. Fichtes Wissenschaftslehre war für ihn „bloß [der] formelle Beweis des Idealismus“ und damit eben „noch nicht Philosophie selbst“ (ebd., 179). Philosophie könne die Wissenschaftslehre erst werden, wenn sie gemeinsam mit dem „materiellen Beweis des Idealismus“, das heißt mit der Naturphilosophie, und der Vermittlung beider, in der „Philosophie der Kunst“, zum System der Philosophie vereinigt würde. Materieller und formeller Beweis des Idealismus unterscheiden sich nach Schelling dadurch, daß das Ich in Fichtes Wissenschaftslehre die Identität von Subjekt und Objekt in der Form intellektueller Anschauung konstruiert und „beweist“. Nach dem Prinzip der Naturphilosophie wird der materielle Beweis der Subjekt-Objekt-Identität dagegen unter Abstraktion von der im und als Selbstbewußtsein gesetzten Form intellektueller Anschauung geführt. Und für die Verhältnisbestimmung zwischen beiden Prinzipien folgert Schelling: Das Ich ist nicht das Prinzip der Philosophie überhaupt, sondern nur das „Princip des idealistischen […] Theils der Philosophie“. Dieser Teil aber, und mit ihm sein Prinzip, ist nur als „höhere Potenz“ des naturphilosophischen oder „realistischen Theils der Philosophie“ zu verstehen. Wodurch der „idealistische Theil“ durch den „realistischen Theil […] selbst



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erst seine Grundlage“ erhält (ebd., 197). Gegen Fichtes praxologisch und moralphilosophisch begründetes Naturverständnis wendet Schelling schließlich polemisch ein: „In welche kleine Region des Bewußtseyns Ihnen die Natur nach Ihrem Begriff davon fallen müsse, ist mir zur Genüge bekannt. Sie hat Ihnen durchaus keine speculative, sondern nur teleologische Bedeutung“ (ebd., 209). Auch nach dem Bruch seiner Freundschaft mit Fichte hat Schelling seine Kritik an dessen Naturverständnis weiterhin öffentlich vertreten und ausgebaut. Sehr umfassend tut er das in seiner Auseinandersetzung mit Fichtes populärphilosophischen Schriften der Jahre 1800–1806, unter dem Titel: „Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zur verbesserten Fichteschen Lehre“7. Obwohl Schelling hier ausdrücklich anerkennt, was die auf ihn sich beziehende fichtekritische Rezeptionsgeschichte dann meist übersehen hat, nämlich daß Fichtes Naturverständnis sich nicht auf das „ökonomisch-teleologische Prinzip“ der Rechts- und Moralphilosophie (SSW I, 17) reduzieren läßt, sondern auch religiöse und ästhetische Perspektiven enthält (ebd., 11 ff. u. 110 f.), so liegt der systematische Schwerpunkt seiner kritischen Interpretation doch auf der „ewigen Feindschaft [, die] zwischen der Natur und ihm [Fichte] besteht“ (ebd., 112)8. In ihrer Begründung geht diese Interpretation über die Argumentation des Briefwechsels hinaus, und zwar an die Wurzel des von Schelling diagnostizierten Übels von Fichtes Naturverständnis. Das Grundgebrechen der Fichteschen Naturphilosophie und seiner Philosophie überhaupt liegt, so Schelling, in deren „mechanischem Geist“. Fichte sei, „in der Physik, wie in der Philosophie ein bloßer Mechaniker“ (ebd., 103). Das bedeutet: Es ist der „QuasiMechanismus“ der transzendentalen „Dialektik der Wechselwirkung“, wie er in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794) entwickelt worden ist, der Fichte zur „ewigen Feindschaft“ zwischen Ich und Nicht-Ich zwingt. Denn „verschwände ihm die objektive Welt als objektive, so verschwände er sich selbst als Subjekt; und ist jene nicht todt, so ist er nach seiner Meinung nicht lebendig. Eher verfällt er in den grassesten Dogmatismus, als [daß] er von diesem Gegensatze abließe. […] Sie [die Natur] drückt ihn, stößt ihn, nagt ihn allerwärts an, bedroht und beschränkt immerfort sein Leben, […] das vergilt er ihr aber auch reichlich; denn was ist am 7  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Sämmtliche Werke in 14 Bänden, hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling, Bd. I / 7, Stuttgart / Augsburg 1856–6; 1–126; im folgenden abgekürzt: SSW. 8  Zur „konfrontativen Interpretation“ des Verhältnisses von Fichte und Schelling und zu ihrer Kontroverse über den Naturbegriff vgl.: FS 25 (2005) zur Grundlegung und Kritik. Der Briefwechsel zwischen Schelling und Fichte 1794–1802; Traub: Schelling-Fichte Briefwechsel, 15–27; ders.: „Über die Freundschaft. Vier Bemerkungen zum Briefwechsel zwischen Schelling und Fichte“, in: FS 25, 7–19, insbes. 8 f.

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Ende die Essenz seiner ganzen Meinung von der Natur? Es ist die, daß die Natur gebraucht, benutzt werden soll, und daß sie zu nichts weiter da ist, als gebraucht zu werden; sein Prinzip, wonach er die Natur ansieht ist das ökonomisch-teleologische Prinzip.“ Und Fichtes „dialektischen Mechanismus“ zitierend schließt Schelling: „So muß es sein, sagt er, (nämlich so mußte uns die Natur einengen), damit das menschliche Leben durch eigene Freiheit die Freiheit gewinne“ (ebd., 10). Diese zunächst rein werkimmanente Interpretation von Fichtes Naturauffassung stellt Schelling dann in den Kontext einer religiös gedeuteten Heilsbzw. Unheilsgeschichte der Menschheit. „Zwischen der Natur und ihm [Fichte] besteht ewige Feindschaft, wie zwischen der Schlange Samen und des Weibes Samen; er hat aller Natur in ihm selbst den Kopf zertreten […] und […] sie sticht ihn nicht bloß in die Fersen, sondern bedroht allerwärts und beständig sein Leben“ (ebd., 112). Mit der Eröffnung des biblischen Deutungshorizonts und der Einbettung des naturphilosophischen Streits in die archetypische Mythologie vom Sündenfall erhält die Auseinandersetzung nun eine weit über die persönliche Meinungsverschiedenheit hinausreichende universal-eschatologische Bedeutung. Denn nach Schellings biblischer Lesart lastet auf Fichte und aller von Descartes’ mechanistischer Naturauffassung infizierten Naturphilosophie (ebd., 103) der göttliche Fluch der Vertreibung aus dem Paradies und das Verhängnis eines Erdenlebens in Naturfeindschaft, Mühsal, Arbeit, Schweiß, Schmerz und Tränen. Ja, mehr noch: Nicht nur lastet der biblische Fluch schicksalhaft auf Descartes, Fichte und ihren Nachfahren, sondern, indem die Feindschaft zwischen Mensch und Natur im Grunde ihres Denkens festgeschrieben, das heißt „verewigt“ ist, hat sich diese Philosophie unentrinnbar in der Erbsünde eingenistet. Und von hier aus fördert und stabilisiert sie – willentlich oder unwillentlich – die Aufrechterhaltung des Unheils und die Überlieferung eines zutiefst gestörten Verhältnisses zur göttlichen Heilsordnung. Daß der Weg aus diesem sündhaften Verhängnis, das den Menschen vom Zustand seines ursprünglichen Heils trennt, nur über die von Schelling angebotene Alternative einer dynamischen Naturphilosophie verlaufen kann, braucht nicht eigens erwähnt zu werden. Festzuhalten ist nur, daß neben die ursprünglich systematische Kritik Schellings nun auch eine kultur- und religionsphilosophische Auslegung des Fichteschen Naturverständnisses getreten ist. Wie diese unterschiedlichen Kritikebenen und die daraus entstandenen Mißverständnisse zwischen Fichte und Schelling systematisch einzuordnen und zu bewerten sind, dazu hat Reinhard Lauths bahnbrechende Arbeit zu Fichtes transzendentaler Naturlehre9 einige Hinweise gegeben. Lauth stellt 9  Reinhard Lauth: Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, Hamburg 1984.



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nämlich heraus, daß insbesondere in der Zeit bis 1802, das heißt also gerade in der Zeit seiner Auseinandersetzung mit Schelling, bei Fichte eine „allgemeine Naturphilosophie […] in erstaunlicher Konsequenz und Geschlossenheit vorliegt, wenn auch nicht in einer eigenen Schrift behandelt“10. Zur besseren Unterscheidung und Bewertung der beiden auch von Schelling angesprochenen Interpretationsansätze einer kultur- und religionsphilosophischen und einer im engeren Sinne transzendentalen Naturlehre führt Lauth die Termini spezielle und generelle Naturlehre ein. Aufgrund dieser Trennung konstatiert er, daß sich die zwischen Schelling und Fichte ausgetragene Kontroverse über die Natur nicht auf die „generelle“, das heißt transzendentale, sondern nur auf die „spezielle Naturlehre“ bezieht. „In [diese] fällt alles, was nicht allein von apriorischen Voraussetzungen, sondern von Erfahrungstatsachen abhängt.“ Eine solche spezielle Naturlehre, als ausgearbeitete Doktrin, sucht man, so Lauth, bei Fichte allerdings vergeblich. „Oder wenn man gelegentlich Gedanken zu solchen besonderen Gegebenheiten findet, dann meist deutlich abgetrennt von der allgemeinen Naturlehre und nur versuchsweise hypothetisch.“ Diese „nur gelegentlichen“ oder „hypothetisch“ versuchten, nicht apriorischen, sondern erfahrungsbezogenen Ausführungen zur Natur oder zu Naturphänomenen, so Lauths konzeptionelle Folgerung, „können wir hier für unsern Zweck so ziemlich beiseite lassen“11. Für den von Lauth gewählten Ansatz einer Rekonstruktion der transzendentalen Naturlehre Fichtes ist diese Reduktion sinnvoll und auch notwendig. Jedoch: Für das Verständnis der SchellingFichte-Kontroverse – und über diese hinaus für die Rezeptionsgeschichte der Naturphilosophie Fichtes insgesamt – ist es nicht ganz unbedeutend, auf das hinzuweisen, was Lauth hier eigentlich „beiseite“ lassen möchte, bzw. was als „spezielle Naturlehre“ bei Fichte nicht zu finden oder nur versuchsweise hypothetisch aufgestellt worden sein soll. Zunächst muß man festhalten, daß nicht nur Schelling, sondern etwa auch Jacobi und andere Fichtes Ausführungen zum Thema Natur, wie sie etwa in der Bestimmung des Menschen und anderen Schriften Fichtes vorlagen, keineswegs als bloß „hypothetische und versuchsweise“, sondern als durchaus systematische Äußerungen Fichtes aufgefaßt haben. Und es ist gerade die von Schelling mit dem Begriff „teleologisch-ökonomisch“ bezeichnete Naturauffassung Fichtes, die rezeptionsgeschichtlich Schule gemacht hat. Daneben ist es auch nicht ganz unbegründet, wenn Schelling seine im Briefwechsel mit Fichte geführte Debatte über die Dreidimensionalität des Raumes als eine mehr als nur erfahrungsbezogene, nämlich transzendentale,

10  Ebd., 11  Ebd.,

XV. XIVf.

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somit substantielle Diskussion verstanden hat12. Dasselbe läßt sich mit Grund über die schon erwähnte Diskussion zwischen Schelling und Fichte zur Architektonik des Systems der Philosophie sagen. Zwar tun diese Hinweise der überragenden Leistung von Lauths Arbeit keinen Abbruch, auch wenn das, was als transzendentale oder allgemeine Naturlehre von ihm rekonstruiert wird, als Lehre bei Fichte noch weniger vorliegt als die von Lauth beiseite gelassene spezielle Naturlehre, auf deren Darstellung – etwa in der Bestimmung des Menschen (1800) – sich die Fichte-Kritiker immerhin explizit haben beziehen können. Was aber keinesfalls beiseite gelassen werden darf, das ist die Frage, wie die philosophiegeschichtlich prägende Rezeption von Fichtes „spezieller“ Naturauffassung mit seiner „allgemeinen Naturphilosophie“ zusammenhängt. Diesen Zusammenhang, der die transzendentalen Prinzipien der Wissenschaftslehre mit der Erfahrung und dem Urteil über die Natur a posteriori vermittelt, hatte schon Schelling systematisch und zumindest im Wesentlichen erkannt und von ihm aus seine Kritik an Fichtes Naturverständnis aufgebaut. Nicht, daß er allein Fichtes Mangel „an umfassender Kenntniß der Natur“ kritisiert hätte, einen Mangel, den auch Lauth bei Fichte feststellt13, sondern Schelling erkennt genau, daß aus der Lehre vom Anstoß, dem transzendentalen „Wechselwirkungsmechanismus“ von Ich und Nicht-Ich und dem Primat der praktischen Philosophie – alles transzendentalphilosophische Einsichten der Wissenschaftslehre –, eben auch Fichtes kulturphilosophische Überzeugungen und darin insbesondere die anstößigen Bestimmungen des Verhältnisses zwischen Natur und Vernunft ableitbar sind. Schellings Haupteinwand haben wir oben schon zitiert. Sein Argument liegt darin, und das unterstreicht auch Lauths Rekonstruktion der transzendentalen Naturlehre, daß auch die allgemeine Naturlehre Fichtes die Natur nur immanent, also im Horizont transzendentalen Wissens bestimmt. In Konsequenz dieses transzendentalen Ansatzes führt die im Wissen aufgefaßte unmittelbare Begrenzungs- und Hemmungserfahrung des Ich zunächst auf das „Substrat“ der Annahme einer objektiven Außenwirklichkeit, deren kategoriale Analyse Gegenstand und Aufgabe der allgemeinen, das heißt transzendentalen Naturlehre ist. Der transzendental nicht reduzierbare Rest des Reflexionsanstoßes entwickelt und transformiert sich in der Analyse zur Faktizität des sinnlich, leiblich und auch geschichtlich Realen. Hier besteht Schellings Vorwurf nun darin, und konsequenterweise begründet Lauth gerade darin den Vorzug der Naturphilosophie Fichtes, daß die transzendentallogische Nichtdeduzierbarkeit des Faktischen kein Hinweis auf ein das Wissen transzendierendes Reales – die Natur – ist. 12  Vgl. Paul Ziche: „Raumkonstruktion, Deduktion der Dimensionen und idealistische Prinzipientheorie. Problemlage im Fichte-Schelling Briefwechsel vom November 1800“, in: FS 25, 21–42. 13  R. Lauth: Die transzendentale Naturlehre Fichtes, 75.



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Sondern die transzendentallogisch ermittelte Unterbestimmtheit des Faktischen läßt sich über die ihm inhärenten Wesenszüge der „Reflexibilität“ und „Bestimmbarkeit“ praxologisch sinnvoll in die Freiheitslehre überführen. Wodurch die transzendentallogische Nichtdeduzierbarkeit des Faktischen schließlich doch restlos, nämlich praxologisch, in die Theorie des Wissens integriert wäre. Diesen Grundgedanken Fichtes formuliert Lauth wie folgt: „Der höhere Beweis, daß es ein reines, nicht ins Apriorische auflösbares Aposteriori geben muß, liegt darin, daß Freiheit (moralisch) gewiß ist, Freiheit aber in einer Wirklichkeit, in der alles ausschließlich a priori bestimmt wäre, nicht sein könnte. Wäre das Materiale der Hemmung aus dem Wesen des konstruierenden Wissens als notwendig ableitbar, so wäre jede andere Naturformation ausgeschlossen, sie schiede als denkunmöglich aus“14. Damit ist klar: Selbst wenn sich Schellings Ablehnung der Naturphilosophie Fichtes nur auf dessen spezielle Naturlehre bezöge, so hätte sie mit der Kritik, daß die Widerständigkeit der Natur und ihre transzendental nicht auflösbare faktische Materialität für Fichte nur im Kontext seiner Freiheitslehre, und zwar als Aufforderung zu deren „Formation“, zu denken ist, auch die Grundidee von Fichtes allgemeiner Naturlehre sicher getroffen. Damit ist hinreichend deutlich, daß Fichtes provozierende und rezeptionsgeschichtlich prägende kulturphilosophische Ausführungen zu Bedeutung und Funktion der Natur als zu überwindenden oder zu vernichtenden Widerstands und als Materials von Freiheit und Pflicht, das heißt seine spe­ zielle Naturlehre, nicht in einem hypothetischen, sondern stringenten Zusammenhang mit seiner transzendentalen Naturlehre stehen, ja, daß wir heute, dank Lauths Rekonstruktion, die von den Zeitgenossen so heftig attackierte „populäre“ Naturauffassung als Fichtes angewandte Naturlehre aus den Prinzipien ihrer transzendentalen Grundlegung verstehen können. 2. Die naturphilosophische Fichterezeption zur Zeit des Nationalsozialismus Die Epoche der Rezeptionsgeschichte der Philosophie Fichtes zur Zeit des Nationalsozialismus wurde von der Fichteforschung nach 1945 bisher weitgehend ausgeblendet. Die Vereinnahmung für die rassistische „Blut und Boden“-Ideologie, vielleicht auch persönliche Betroffenheit und biographische Naherfahrung des politischen Mißbrauches insbesondere der politischen Philosophie Fichtes haben eine distanzierte und differenzierte Aufarbeitung 14  Ebd.,

76.

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der nationalsozialistischen Rezeptionsgeschichte bislang erschwert15. Eine der wenigen zusammenhängenden Betrachtungen zu diesem Thema enthält Hans-Joachim Beckers Buch Fichtes Idee der Nation und das Judentum16. Die Hauptargumentationslinie des Buches, die in seinem Untertitel – Den vergessenen Generationen der jüdischen Fichte-Rezeption – deutlich zur Sprache kommt, richtet sich vor allem auf die Tradition von jüdischen Autoren und Denkern, die über einhundert Jahre, kenntnisreich und reflektiert, gegen eine oberflächliche, verfälschende und mißbräuchliche Vereinnahmung Fichtes angeschrieben und ihn, trotz einiger brisanter Passagen zum Judentum17, im wesentlichen positiv rezipiert haben. Im Kapitel XXVI, „Nationalistisch-antisemitische Fichterezeption und deren jüdisch-liberale Kritik“, geht Becker auch auf die konfliktträchtige Geschichte der Auseinandersetzung um die politische Philosophie Fichtes in der Zeit der Weimarer Republik und dort insbesondere auf die sich anbahnende „antisemitischvölkische Vereinnahmung“ Fichtes ein, die im Mißbrauch seiner Philosophie durch die „Blut und Boden“-Ideologie rassistischer Deutschtümelei und deren verkümmerten Patriotismus zwischen 1933 und 1945 ihrem Höhepunkt zusteuerte. Auf diese Epoche der Rezeptionsgeschichte soll an dieser Stelle deswegen besonders hingewiesen werden, weil die Vermutung naheliegt, daß sich aus der „reaktionären Usurpation“ von Fichtes politischen Schriften zwischen 1933 und 1945 auch eine affirmative Haltung des Nationalsozialismus gegenüber Fichtes Philosophie im Ganzen und zu seiner Naturphilosophie im Besonderen ableiten läßt. Das ist aber, vielleicht überraschenderweise, nicht der Fall. Ja, im Gegenteil. Selbst auf dem Höhepunkt der Machtentfaltung des nationalsozialistischen Faschismus und der damit verbundenen ideologischen wie institutionellen „Gleichschaltung“ wird 1942 in philosophischen Publikationen – etwa in der Zeitschrift für Erneuerung der Wissenschaften „Volk im Werden“18 – deutlich zwischen dem „Philosophen des deutschen Urvolks“ und dem Fichte unterschieden, der „im imperatorischen Hochton […] unfruchtbaren Unsinn“ produziert habe. Wobei insbesondere die „hohle Philosophie“ des Ich und die aus ihr folgende gänzlich verfehlte Naturphilosophie als ein „Gipfelpunkt“ geistiger Leere und Langeweile kritisiert wird. Wie schon Schelling an Fichte dessen „mechanistische“ Den15  Vgl. Peter Lothar Oesterreich / Hartmut Traub: Der ganze Fichte, Stuttgart 2006, 330 ff. 16  Hans-Joachim Becker: Fichtes Idee der Nation und das Judentum, Amsterdam / New York 2000 [= Reihe Fichte-Studien-Supplementa, Bd. 14]. 17  Vgl. Traub: „Fichte, der Messias der Juden spekulativer Vernunft“, in: FS 21 (2003), 131–150. 18  Volk im Werden. Zeitschrift für Erneuerung der Wissenschaft, Jg. 10, Leipzig 1942, 36 ff.



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kungsart angegriffen und diese auf den mit Descartes einsetzenden Rationalismus der Neuzeit zurückgeführt hatte, so gilt Fichte auch seinen Kritikern zur Zeit des Nationalsozialismus als Repräsentant, ja Höhepunkt einer mit Descartes beginnenden, über Newton, Locke, Kant und den „naturwissenschaftlichen Positivismus […] bis zur Gegenwart“ verlaufenden Linie des rationalistisch-idealistischen Paradigmas der „Naturverneinung, Naturverachtung und Naturvernichtung“. Gegen diese Traditionslinie neuzeitlich rationalistischer Naturauffassung haben, nach dem Urteil des Fichtekritikers des Jahres 1942, „alle Deutschen der Naturanschauung [eines] Leibniz, Hamann, Herder, vor allem aber Goethe […] selbst Jacobi entschieden protestiert“19. Und ausdrücklich wird in dieser Reihe auch Schelling – mit seiner Theorie von der Weltseele – gegen Fichtes Vorwurf der „Unphilosophie“ verteidigt. Was beide Traditionen voneinander trennt, das ist die positive Hinwendung an „den Reichtum, die Fülle, die Tiefe der wirklichen, lebenden Welt“ einerseits und deren Negation und Ersetzung durch die „mechanische Konstruktion einer ideellen Wirklichkeit“ andererseits. Offensichtlich folgt die während des Nationalsozialismus deutlich wahrgenommene und attackierte „Feindschaft Fichtes gegen die Natur“, inklusive der Ablehnung des „dürren Begriffsgespinnst[s] […] einer aus dem hohlen Bauch des absoluten Ich hervorgebrachten papierene[n] Welt“, demselben Kritikmuster, das Schelling mehr als einhundert Jahre vorher gegen die Wissenschaftslehre vorgebracht hatte. Und es sind noch weitere aus der Schellingkritik bekannte Topoi, die auch hier wieder gegen Fichte ins Feld geführt werden. Neben der bereits erwähnten ideengeschichtlichen Einordnung seiner „Naturverneinung und -vernichtung“ in die Tradition der mechanistisch-rationalistischen Weltdeutung20 wird auch der bereits von Schelling erhobene Vorwurf gegen Fichtes „Dürftigkeit“ und „gänzlichen Mangel eigener Anschauung in dem Fach [der Naturphilosophie]“ (SSW I, 7, 103) unterstrichen, wenn es heißt: „Fichtes Werk ist gekennzeichnet durch einen erheblichen Mangel am nötigen Sach- und Fachwissen.“21 Wie es scheint, hatten auch nationalsozialistische Fichte-Exegeten, wenngleich nur partiell und peripher, so doch nachweislich, ihre Schwierigkeiten damit, den aus den Reden an die deutsche Nation extrahierten „Schollenpatriotismus“ Fichtes22 mit dessen anstößiger Naturphilosophie in Einklang zu 19  Ebd.,

37.

hatte in seiner Darlegung ausgeführt, daß „[n]ach dieser mechanischen Ansicht […] nun seit Des Cartes alle herrschende Philosophie gemodelt [sei]; auf eine dynamische lebendige Natur ist in ihr gar nicht gerechnet“ (SSW I, 7, 103). 21  Volk im Werden, 38. 22  Für die andere, ideologisch affirmative Seite der antisemitischen und nationalistisch-völkischen Fichte-Rezeption sei verwiesen auf die Kapitel XXVI und XXVII in: H.-J. Becker: Fichte und das Judentum, 343–364. 20  Schelling

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bringen. Ja, die hier angezogene Kritik legt erstaunlicherweise sogar nahe, lieber den Originalitätsanspruch Fichtes auf den „Gedanken der Deutschen als eines Urvolks“ aufzugeben, als sich womöglich – über diese Positivrezeption – dessen naturfeindlichen Idealismus einzuhandeln. Denn, so heißt es – Fichtes Bedeutung als Philosoph der deutschen Nationalidee herunterspielend –, der „Gedanke der Deutschen als eines Urvolks in den ‚Reden an die deutsche Nation‘ scheint in jenen Jahren in weiten Kreisen aufgebrochen zu sein; bei Fichte steht er sporadisch und ohne weitere Nachwirkungen“23. 3. Gegenwärtige Positionen Auch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts hatte Fichtes provozierende Einstellung zur Natur nichts von ihrer Anstößigkeit eingebüßt. Nicht alleine, daß sie als „spezielle“ Naturlehre durch R. Lauth ihre transzendentale Begründung geliefert bekommen hätte. Sondern auch in den Beiträgen von Karen Gloy, Marek Siemek und Helmut Girndt setzt sich die zweihundertjährige Rezeptionstradition der Naturphilosophie Fichtes fort. a) In ihrem Aufsatz „Die Naturauffassung bei Kant, Fichte und Schelling“ (FS 6, 253–275) positioniert Karen Gloy die naturphilosophischen Ansätze von Schelling und Fichte in der bekannten Dichotomie als bis in die Gegenwart hinein wirksame Paradigmen der Naturphilosophie überhaupt24. Fichte wird der „seit der Neuzeit herrschende[n] exakte[n] mathematischen Naturwissenschaft und Technik mit ihrer mechanistischen Naturauffassung, die von der Dominanz und Prävalenz des Subjekts ausgeht und die Natur zu einem manipulierbaren, manövrierbaren, konstruierbaren Produkt des Subjekts degradiert“, zugeordnet. Schelling wird dagegen mit der seit einiger Zeit sich regenden „ökologisch-organischen Einstellung“ verbunden. Einer Einstellung, „die sich am Modell einer intakten vorgefundenen oder wiederherzustellenden Umwelt orientiert, eines sinnvollen, umgreifenden, gesamtheitlichen Gefüges mit integrierten Teilen, zu denen auch der Mensch gehört. Dieser empfindet sich nicht gegenüber der Natur, sondern als Teil von ihr und die Natur nicht als das Äußere, Fremde, sondern als das Vertraute, von dem seine eigene Existenz abhängt“ (ebd., 254). Es ist die Tendenz der „ökologisch-organologischen Einstellung“ zu einem 23  Volk

im Werden, 38. wird noch einmal die These unterstrichen, daß in der naturphilosophischen Kontroverse zwischen Schelling und Fichte exemplarisch ein geistesgeschichtlich weit tieferliegender Paradigmenstreit ausgetragen wird. Siehe hierzu: Erich Heintel: „Das fundamentalphilosophische Problem von Transzendentalphilosophie und Naturphilosophie“, in: K. Hammacher (Hrsg.): Der transzendentale Gedanke, Hamburg 1981, 421–436. 24  Damit



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Realismus, „insofern sie von der Vorgegebenheit und Vorfindlichkeit eines natürlichen Ganzen ausgeht“, einerseits und umgekehrt die Tendenz ihrer Gegenposition zu „einem Idealismus“ andererseits, die Schelling und Fichte als „historische Vorbilder dieser beiden konfligierenden Positionen“ geeignet erscheinen lassen (ebd.). Auf die in ihrem Beitrag vertretene These, daß beide Konzeptionen als „in entgegengesetzte Richtung gehende Explikationen einer bei Kant angelegten ungelösten Problematik [des Ansich] betrachtet werden [können]“ (ebd.), und auch auf Gloys eigenen Vorschlag für die allerseits unbefriedigenden Lösungen von Kant, Fichte und Schelling (ebd., 273) brauchen wir an dieser Stelle nicht weiter einzugehen. Denn uns ist hier nur an der Dokumentation der auch bei Gloy dominanten Sicht auf Fichte als paradigmatischen Repräsentanten einer idealistischen Naturphilosophie gelegen, die die Natur „zu einem manipulierbaren, manövrierbaren, konstruierbaren Produkt des Subjekts degradiert“ (ebd., 253). Gesamtsystematisch begründet Gloy die pragmatisch-praxologische „Degradationsphilosophie“ Fichtes gegenüber der Natur in der transzendentalen Grundlegung der frühen Wissenschaftslehre. Natur, bei Fichte „Nicht-Ich“ genannt, bleibt in dessen transzendentalem System, so Gloy, „gänzlich unter der Vormundschaft des Ich und wird zu einer Anwendung transzendentalphilosophischer Prinzipien auf ein bestimmtes Gebiet innerhalb der Subjektivität“ (ebd., 260). Das heißt: Nach Fichte läßt sich zunächst das formale Seinkönnen des Nicht-Ich transzendental aus der Selbstbegrenzungshandlung des Ich (dem Entgegensetzen) und infolgedessen als das das Ich Begrenzende ableiten. Darüber hinaus empfängt das auf diese Weise als Gegensatz Gesetzte auch seine Wirklichkeit aus der „omnitudo realitatis“ des sich – gemäß dem ersten Grundsatz der Wissenschaftslehre von 1794 – selbstsetzenden Ich. Damit wäre auch von Gloy aus bestätigt, was schon anhand der Diskussion um die spezielle und allgemeine Naturlehre Fichtes gezeigt worden ist: das bei Fichte vorherrschende sowohl transzendentale als auch besondere „Prävalenz- und Dominanzverhältnis des Subjekts“ gegenüber der Natur. Die Natur ist bei Fichte nur als „ingredienter Bestandteil des Ich und nur von ihm her verstehbar“ (ebd., 259). Die Intention von Gloys Analyse von Fichte, Schelling und Kant ist eine kritische. Das heißt, mit der auf Fichtes Position folgenden Darstellung von Schellings Ansatz wird dieser zunächst als Lösungsversuch gegenüber der beim frühen Fichte nur ungenügend beantworteten und vom späten Fichte neugestellten Frage nach dem Wesensgrund des Ansich präsentiert. Schließlich aber zeigt Gloy, daß sowohl der transzendentalidealistische Ansatz Fichtes als auch der naturphilosophisch-realistische Ansatz Schellings, ebenso wie die ihnen zugrundeliegende Position Kants, allesamt als „gescheiterte Paradigmen“ der Naturinterpretation anzusehen sind (ebd., 273). Ob Gloys eigener Vorschlag, das in allen drei Positionen

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unbefriedigend behandelte Ansich der Natur als prozessuales Seinsgeschick zu begreifen, das „zeit- und situationsbedingt“ unterschiedliche Naturbegriffe – „wissenschaftliche, mythische und theologische“ – „freisetzt“, dem Anspruch eines „erfolgversprechenderen Programms“ genügt, das soll und kann hier nicht untersucht und entschieden werden. Entscheidend war der Hinweis, daß Gloy, wenn auch ablehnend, bei Fichte eine Naturkonzeption unterstellt, die dem bekannten Konstruktions-, Manipulations- und Unterwerfungsschematismus folgt. b)  Gegen die fichtekritischen Ausführungen Gloys vertritt Marek Siemek die von Fichte entworfene Naturkonzeption offensiv und verteidigt sie insbesondere und gerade auch wiederum gegen Schelling. In seinem Aufsatz „Schelling gegen Fichte. Zwei Paradigmen des nachkantischen Denkens“ extrahiert Siemek, ähnlich wie auch Gloy, beide Positionen „aus der neuen theoretischen Lage […], die durch die kritische Philosophie Kants hervorgebracht wurde“ (TaS, 389). Die geistesgeschichtliche Herleitung und argumentative Konkretion dieser These braucht uns nicht näher zu interessieren, auch sind die von Siemek gründlich entwickelten naturphilosophischen Alternativmodelle der beiden Kontrahenten sowie die postulierte Gegenwartsbedeutung der Kontroverse nicht unser Thema, denn das haben wir an Schelling, Lauth und Gloy nun hinreichend gezeigt. Was an Siemeks Analyse für uns von Bedeutung ist, das ist seine wissenschaftstheoretische Bewertung der beiden Paradigmen. Dabei beschränkt sich Siemeks Urteil im Hinblick auf Fichte ausdrücklich auf den frühen Fichte, genauer auf den von Lauth rekonstruierten Ansatz der transzendentalen Naturlehre. Auf dieser Grundlage fällt Siemeks Urteil für Fichte ausgesprochen günstig und für Schelling entsprechend ungünstig aus. Wir zitieren Siemek im Zusammenhang: „In scharfem Gegensatz zu den ungebändigten Spekulationen von Schelling hält sich jene noch bis vor kurzem verkannte Naturlehre Fichtes25 streng an die Forderungen und die Grenzen des transzendentalphilosophischen Standpunktes. Gerade daher kommt übrigens ihre erkenntnismäßige Tragweite und Fruchtbarkeit. Fichtes transzendentale Naturlehre […] läßt die Natur vor allem als Objekt und Produkt der modernen Naturwissenschaft hervortreten, die dann ihrerseits ebenfalls transzendental, das heißt als eine Form der menschlichen Kulturtätigkeit in der modernen Welt, verstanden werden könnte. Bekanntlich hat sich diese Möglichkeit nicht verwirklicht. In dieser Hinsicht hat der Deutsche Idealismus gerade den alternativen Weg des Schellingschen Paradigmas gewählt. Heute wissen wir schon ziemlich genau, daß es ein Irrweg war. Die romantische Naturmythologie Schellings […] hat unsere wissenschaftlichen und philosophischen 25  Gemeint ist Lauths Rekonstruktion: Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre.



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Kenntnisse der Natur um keinen Schritt erweitert; wohl aber hat sie es dem philosophischen Denken auf lange Zeit unmöglich gemacht, das adäquate Verständnis jener vielleicht wichtigsten Erscheinung unseres Zeitalters, die die moderne Naturwissenschaft in ihrem Wesen und Treiben darstellt, herauszuarbeiten. […] Der in seinem Paradigma wiederhergestellte ontologische, das heißt entsubjektivierte Objektbegriff lenkte die Aufmerksamkeit der Philosophie in die falsche Richtung, die sie vom Gang der wirklichen Naturwissenschaft immer weiter entfernen mußte. Der angebliche Subjektivist Fichte war auch in dieser Hinsicht viel ‚objektiver‘ und realistischer als Schelling: eben weil er sich nicht vor der Subjektivität in einen ontologisch stilisierten Naturbegriff flüchtete, brauchte er die wirkliche Natur nicht pantheistisch zu vergeistigen oder mythologisch zu ‚verzaubern‘, sondern konnte sie nehmen, so wie sie ist – als unwiderruflich ‚entzauberte‘ Natur der modernen Welt, die zum Objekt der praktisch-theoretischen Tätigkeit des Menschen im Leben, in der Wissenschaft und in der Technik gemacht wurde und wird“ (ebd., 394). Gerade dasjenige, was die Kritiker der Fichteschen Naturphilosophie – und mit ihr der von Descartes gestifteten „Unterwerfungs- und Degradationstradition“ – vorwerfen, wird hier von Siemek als deren im positiven Sinne verstandene Modernität verteidigt. Nun könnte man argumentieren: Fichtes transzendentale Naturlehre zu stützen muß nicht bedeuten, auch seine „Unterwerfungsideologie“ zu teilen. Es gelte hier, im Sinne Lauths, strikt zwischen der „speziellen“ und der „allgemeinen“ Naturlehre zu unterscheiden. Allein wir haben schon gesehen, und es war Schelling, der schon früh darauf hingewiesen hat, daß die „spezielle“ Naturlehre Fichtes durchaus konsequent aus der „allgemeinen“ folgt und damit als deren Anwendung verstanden werden muß. Der Versuch, Fichtes Naturphilosophie, wie sie bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts vorlag, und das ist der Zeitraum, auf den sich ihre transzendentale Rekonstruktion bezieht, auch heute noch zu verteidigen, muß sich – sowohl theoretisch, viel mehr aber noch mit Blick auf die Praxis – zugleich der Aufgabe stellen, die problematischen Konsequenzen ihrer Anwendung mitzubedenken. Der Hinweis Siemeks auf die Modernität des Fichteschen Ansatzes, daß er die Natur nimmt, „wie sie ist“, nämlich als Natur, die „‚entzaubert‘ […] zum Objekt der praktisch-theoretischen Tätigkeit des Menschen im Leben, in der Wissenschaft und in der Technik gemacht wurde und wird“, ist weniger die Lösung als vielmehr das Problem, um das es bei der Frage nach der Geltung von Fichtes Naturphilosophie geht. c) In seinem Aufsatz „Über den Umgang mit der empfindungsfähigen Natur nach J. G. Fichte“ (TaS, 134–146) präsentiert auch Helmut Girndt über weite Strecken die bekannte „Descartessche Erbschaft“ in Fichtes naturphilosophischem Denken, nämlich die eines bloß „technisch-instrumentellen“ Verständnisses und infolgedessen auch technisch-praktischen Um-

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gangs mit der Natur. Auch das schon von Schelling an Fichte konstatierte, durch die Rezeptionsgeschichte weitergereichte martialische Grundverhältnis zwischen Mensch und Natur wird von Girndt noch einmal betont, wenn er schreibt: „Fichtes Vorstellung von der Natur als einer unbeschränkten Sphäre vernunftgebotenen Handelns […] ist nun auch die eines Kriegsschauplatzes […] und Ausdruck eines von historischen Umständen unberührten Naturverständnisses, das unvernünftigen Lebewesen als Individuen (wie der Natur als ganzer) nicht den geringsten Wert einräumt, es sei denn einen instrumentellen – nicht anders als technischen Artefakten auch“ (ebd., 139). Allerdings verläßt Girndt dann die breite Spur und langjährige Tradition der bekannten Lesart der Fichteschen Naturphilosophie, indem er sie mit derjenigen Perspektive Fichtes konfrontiert, die auch schon Schelling seinem Kontrahenten Fichte, wenn auch nicht als dessen dominante Sichtweise, zugebilligt hatte. Es ist „das Bild der Natur als Ausdruck und Widerschein eines einzigen allumfassenden geistig-göttlichen Lebens, in dessen Veräußerung alles auf einen Zweck hin zielt: Bedingung zu sein für das in Freiheit zu verwirklichende Wesen des Menschen“ (ebd., 146). Auch wenn hier letztlich die Crux des Fichteschen Ansatzes nicht restlos überwunden ist, denn auch bei Girndt bleibt die Natur, selbst in ihrer Apotheose als Widerschein geistig-göttlichen Lebens, dem Zweck unterworfen, Bedingung und Material für die Verwirklichung menschlicher Freiheitsgeschichte zu sein, so löst Girndts Analyse doch den Blick auf Fichtes Naturphilosophie aus seiner starren Fixierung auf die mechanistisch-technische oder, wie Schelling das genannt hatte, aus der einseitig „teleologisch-ökonomischen“ Lesart. Was allerdings bei Girndt nicht überzeugt, ist, daß er, sozusagen im Gegenzug, mit der Aufnahme der Natur in Fichtes Konzeption der Erscheinung des Absoluten die erste, alte Lesart für gänzlich obsolet hält. Denn, so Girndt: „Es ist diese zweite Konzeption von der Natur, die ich allein für vertretbar halte mit der Gesamtkonzeption Fichteschen Denkens“ (ebd). Wenig überzeugend ist die so implementierte religionsphilosophische Prävalenz im naturphilosophischen Denken Fichtes alleine schon deshalb, weil mit der religionsphilosophischen Wende die Natur ja nicht aufgehört hat, sich dem Menschen und seinen Projekten als existenzbedrohende, zerstörerische und feindliche Übermacht zu offenbaren. Flutkatastrophen, Erdbeben, Wirbelstürme, Heuschreckenplagen und tausendfach todbringende Seuchen gefährden das Dasein der Menschen heute genauso wie zu Fichtes Zeiten und wie eh und je. Selbst wenn eine religiöse Naturbetrachtung fähig wäre, auch diese Attacken der Natur in der gottgläubigen Seelenruhe des Hiobschen: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen. Der Name des Herrn sei gepriesen“ zu integrieren, entspräche diese Haltung nicht dem Freiheits- und Befreiungspathos der Fichteschen Kulturphilosophie. Das heißt, Fichtes Vorstellung von der Feindschaft zwischen Natur und Mensch,



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die ihm Schelling schon als empirisch dürftig und, systematisch begründet, als mechanistisch vorgehalten hatte, wäre demnach nicht überhaupt, sondern nur insofern zurückzuweisen, als in ihr nicht die naturphilosophische Gesamtkonzeption Fichtes zur Geltung kommt. 4. Ansätze zur Überwindung der konfrontativen Rezeptionsgeschichte Wir haben unseren rezeptionsgeschichtlichen Überblick zu Fichtes Naturphilosophie mit der Schelling-Fichte-Kontroverse begonnen und gezeigt, daß diese konfrontative Auseinandersetzung und die mit ihr verbundene Behauptung der Unvereinbarkeit der beiden „naturphilosophischen Paradigmen“ über die Jahrhunderte hinweg, bis in die Gegenwart, in Geltung geblieben, ja geradewegs traditionsstiftend geworden sind. Allerdings regt sich gegen die bislang stabile Front der Fichte-Schelling-Rezeption in jüngerer Zeit begründeter Widerstand, der insbesondere im Hinblick auf die Bedeutung der Natur Anlaß zu einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Schelling und Fichte gibt. Auf zwei Positionen sei hier verwiesen. Sie bilden gewissermaßen den Übergang zum zweiten Teil unserer Untersuchung, der dann Strukturelemente der Wissenschaftslehre darstellt und herausarbeitet, die geeignet sind, die einseitige Interpretationsgeschichte zu Fichtes Naturbegriff zu überwinden und vielmehr dessen systemimmanenter Komplexität Rechnung zu tragen. a)  Wolfdietrich Schmied-Kowarzik kommt in seinem Aufsatz: „Das Problem der Natur. Nähe und Differenz Fichtes und Schellings“ (FS 12, 211– 233), nach einer biographischen und je systemimmanenten Analyse der beiden naturphilosophischen Denkansätze, zu dem überzeugenden Ergebnis: „Bei aller Differenz, die ich in meiner Darstellung unterstrichen habe, stellt sich uns die Nähe von Fichte und Schelling als viel größer dar, als sie es selber in ihrem polemischen Zwist erfassen konnten“ (ebd., 233)26. Aus der 26  Schmied-Kowarziks These vom „polemischen Zwist“ und dem daraus folgenden Nicht-erkennen-Können bzw. Nicht-erkennen-Wollen des jeweils positiven Anliegens des anderen (ebd., 233) muß mit Rücksicht auch auf das wissenschaftlich wechselvolle Verhältnis zwischen Schelling und Fichte insofern differenziert betrachtet werden, als es in der etwa zweieinhalb Jahre währenden intensiven Korrespondenz (August 1799 bis Januar 1802) zwar Differenzen, aber eben auch Annäherungen gegeben hat. Annäherungen, von denen insbesondere Schelling geglaubt hatte, daß sie letztlich doch zu einem gemeinsamen philosophischen Projekt hätten führen können. Vgl. Traub: Schelling-Fichte Briefwechsel, 54–116, und ders.: „Über die Freundschaft – Vier Bemerkungen zum Briefwechsel zwischen Schelling und Fichte“, in FS 25 (2005) 7–17. Den „Grunddissens“ zwischen Fichte und Schelling, den auch Schmied-Kowarzik deutlich „unterstreicht“, hat zuletzt Lore Hühn in ihrem Beitrag „Die Verabschiedung des subjektivitätstheoretischen Paradigmas. Der Grunddissens zwischen Schelling und Fichte im Lichte ihres philosophischen Brief-

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philosophischen Konkurrenzsituation der beiden Kontrahenten ist dieses (Selbst-)Mißverständnis durchaus nachvollziehbar, wäre doch die Anerkennung des jeweils anderen Standpunktes auf eine Depotenzierung der eigenen Position hinausgelaufen. Daß sich diese Frontstellung aber auch rezeptionsgeschichtlich bis in die Gegenwart hinein gehalten hat, muß man mit Schmied-Kowarzik zur „Tragik dieser Auseinandersetzung“ rechnen. Denn was Fichte und Schelling gerade im Hinblick auf die Natur nicht voneinander trennte, sondern fundamental miteinander verband, das war und ist ihre „gemeinsame Frontstellung gegen die absolut gesetzte Verstandesrationalität […], durch deren Definitionen und Gesetze die wirkliche Natur, aus der wir leben, zu einem toten Mechanismus degradiert wird“ (ebd., 232). Wenn auch von unterschiedlichen metaphysischen Prinzipien her denkend – naturspekulativ oder moralphilosophisch –, so opponierten Schelling und Fichte doch gleichermaßen gegen den Versuch, genuin naturphilosophisches Denken durch die Betrachtungsweise „objektivierender Naturwissenschaften“ abzulösen. Gelänge ein solcher Versuch, und vieles spricht dafür, so wäre ein Verlust der Reflexion zu beklagen, die die „lebendige Natur als jenen Wirklichkeitszusammenhang [erkennen läßt], in den wir selber sinnlichleiblich-praktisch gestellt sind“ (ebd.). Einer solchen Reflexion aber hat sich Schelling mit seiner Naturphilosophie als „autochthoner Aufgabenstellung der Philosophie“ und Fichte „im Rahmen der Wissenschaft des Praktischen“ gestellt. Ergebnis dieser unverzichtbaren Reflexionsaufgabe der Philosophie ist ein Zweifaches. Zum einen wird darin die Natur in ihrer „Ganzheit thematisiert“, in einer Ganzheit, die sich nicht auf kausalgesetzliche Erklärungen reduzieren läßt und „in die wir als wirkliche Subjekte selber mit einbezogen sind“. Und zum anderen kann ein solches Bedenken „wirklicher Natur“ als eines „unsere sinnlich-leibliche Wirklichkeit mitumfassenden […] Existenzzusammenhangs“ vor deren „Verwechslung mit der wissenschaftlich objektivierenden Thematisierung der Natur […] bewahren“. Es sei, so Schmied-Kowarzik, das Bedauerliche der Schelling-Fichte-Kontroverse, „daß Fichte nicht erkennen konnte, daß Schelling genau diese Problemstellung mit seiner Naturphilosophie verfolgte“, und ebenso bedauerlich sei es, „daß Schelling nicht sehen konnte, daß Fichte mit seiner Rückbindung der Naturfrage an die Freiheitsproblematik das Kernproblem einer Philosophie im Primat der praktischen Vernunft anspricht, in den auch die Naturphilosophie gestellt ist“ (ebd., 232). Diese „Tragik“ des Mißverstehens zwischen Schelling und Fichte hat für Schmied-Kowarzik nicht nur eine ideen- und philosophiegeschichtliche Seite. Wie für einen Teil der bisher behandelten Rezipienten der naturphiwechsels“, ebd., 93–111, herausgearbeitet. Vgl. dazu auch die Beiträge von Birgit Sandkaulen und Violetta L. Waibel im selben Band der Fichte-Studien.



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losophischen Kontroverse zwischen Schelling und Fichte (Gloy, Siemek, Girndt), so ist auch für Schmied-Kowarzik gerade dieses Thema, wie kaum ein anderes, von aktueller Bedeutung. Denn schließlich stehen im geistigen und praktischen Umgang mit der Natur die materielle Basis und damit die Überlebenschancen der Menschheit auf dem Spiel. Im Unterschied zu den Vertretern der klassischen Rezeptionsgeschichte der Schelling-Fichte-Kontroverse kommt Schmied-Kowarzik nun allerdings nicht zu dem Ergebnis, daß wir es bei Fichte mit dem Repräsentanten eines mechanistisch-technisch-ökonomischen Naturverständnisses zu tun haben; zumindest sind wir nicht berechtigt, Fichtes naturphilosophischen Ansatz vorbehaltlos in die „cartesische Reihe“ objektivierender Naturwissenschaften zu stellen. Denn schon Fichtes fundamentale Kritik an der verkürzten empirisch-rationalistischen Naturauffassung und -erklärung – als „Grundzug“ eines „Zeitalters vollendeter Sündhaftigkeit“27 – verbietet eine derart einseitig verkürzende Engführung seines naturphilosophischen Denkens. Mehr aber noch tut dies Fichtes Einordnung des empirischen und exakten naturwissenschaftlichen Verstandes in die Konzeption eines ganzheitlichen, das heißt moralisch und religiös fundierten Menschheits- und Vernunftprojekts der Freiheit. An derselben Zielsetzung einer begründeten Entgegnung auf die „gegenwärtige Absolutsetzung naturwissenschaftlicher Rationalität“ hätte sich, so SchmiedKowarzik, auch die „philosophische Erneuerung der Problemstellung der Naturphilosophie Schellings“ auszurichten. Das heißt, viel mehr als die immanenten und nicht immer sachlichen, sondern vor allem polemischen Differenzen zwischen Schelling und Fichte sind es ihre „Gemeinsamkeiten“ und deren Bedeutung für „uns heute“, die es deutlicher herauszustellen gilt, um das zugleich kritische und heilsame Potential idealistischen Denkens gegen den gegenwärtig so riskanten Umgang mit der Natur fruchtbar zu machen. b)  Ähnlich wie Schmied-Kowarzik hatte auch Peter Baumanns bereits in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts – mit Blick auf Schellings und Fichtes Spätphilosophie – auf die „fundamentalen Gemeinsamkeiten“ der beiden Philosophen hingewiesen und diese in vier wesentlichen Punkten herausgearbeitet. Sowohl in der „Prinzipiengrundlage“, der Annahme eines über jede Differenz „erhabenen“ Absoluten – des „Urgrunds“ bei Schelling und des „Lebens“ bei Fichte –, als auch in der Entfaltung der jeweiligen phänomenalen – trinitarisch-christologischen bzw. praxologisch-ethischen – „Substruktur“ des Systems lassen sich weitgehende Übereinstimmungen in den vertretenen Positionen feststellen. Wobei Baumanns insbesondere die methodologische Gemeinsamkeit des von beiden Denkern in Anschlag gebrachten „Strukturgesetzes“ der Systementfaltung hervorhebt: die „progres27  Fichte:

Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, in: GA I / 8, 201.

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sive Analyse und Synthese, Gegensatz und Einheit“. Schließlich sei, so Baumanns, darauf zu verweisen, daß für die Spätphilosophien beider „übereinstimmend gilt“, „daß zwischen dem Absoluten und seiner Offenbarung eine Verbindungslücke klafft, die sie durch drei Hauptbegriffe teils zu rechtfertigen, teils zu mindern versuchen […]: [durch] das asylum ignorantiae der Freiheit des Absoluten, [durch] das eruptive Übergehen aus Indifferenz in Indifferentiierung, bezeichnet durch die Bilder eines intransitiven ‚Hervorbrechens‘ und intransitiv-transitiven ‚Durchbrechens‘ […]; [und] schließlich [durch] ein mittleres Sein zwischen Indifferenz und personaler Identität: Fichtes ‚Urlicht‘ […], Schellings ‚Ur-Gott‘ […]“ (TaS, 481 f.). Die von Baumanns und im vorherigen durch Schmied-Kowarzik ermittelten Kohärenzen im systematisch und methodisch Grundsätzlichen eröffnen, insbesondere für Fichte, die Möglichkeit, seine Naturphilosophie aus der durch die Schelling-Kontroverse festgefahrenen und ausschließlich „ichzentrierten“ Rezeptionstradition zu lösen und dadurch den Blick frei zu bekommen für naturphilosophische Betrachtungen, die quer zum gängigen Interpretationsmuster stehen, ja ihm sogar widersprechen. Das Ergebnis einer solchen traditionsüberwindenden Analyse ist der Einblick in die Komplexität eines „Naturbegriffs“ bei Fichte, dessen systematische Bedeutung und heuristische Tragweite nicht nur die klassisch gewordene Entgegensetzung „Schelling kontra Fichte“ (Siemek) grundsätzlich und nachhaltig verändert, ja obsolet erscheinen läßt, sondern die Genesis der Wissenschaftslehre selbst in ein neues Licht rückt. III. Zweiter Teil – Rezeptionsgeschichte im Wandel 1. Die fünffache Naturbetrachtung Das Kapitel „Die vielfältige Bedeutung der Natur“ leitet Wolfgang Janke mit einem Satz ein, der den Übergang und die Wende in der Interpretation der Naturphilosophie Fichtes treffend zum Ausdruck bringt. Janke schreibt: „Die berüchtigte und verspottete Bestimmung der Natur als das sinnliche Mate­ rial unserer Pflicht und der Sinnenwelt als Sphäre pflichtmäßigen Handelns ist rigoros, aber konsequent. Sie folgt zwingend aus einem zentralen Gesichtspunkt des erscheinenden Geistes, der Moralität. Um aber die Reichweite einer transzendentalen Phänomenologie des erscheinenden absoluten Seins und Lebens nicht zu verkürzen, muß gerade unter dem Eindruck eines panethischen Idealismus eingeschärft werden: der Standpunkt der Moralität als principium primum der Weltauslegung ist weder der erste noch der letzte. Der reine Moralismus bildet eine Stufe in einer umfassenderen Bild- und Erscheinungslehre, und von ihm gilt dasselbe Monitum, das auch die anderen kapitalen Welteinstellungen unserer Vernunft warnt: Wird ein Teilstück zum Einen und Ganzen überdehnt, dann droht die



Fichtes Begriff der Natur97 Gefahr, den komplexen Vernunftzusammenhang zu vereinseitigen. […] Die daraus resultierende, oft genug leidenschaftlich und ingrimmig geführte Kontroverse über die angemessene Bestimmung der Natur [in der Philosophie Fichtes] läßt sich schlichten, wenn in einer wissenschaftlich-transzendentalphilosophischen Vorverständigung die Fälle möglicher Verzerrungen durchdekliniert werden.“28

An dieser Feststellung und ihrem programmatischen Konzept ist im Hinblick auf die Veränderung des Verständnisses der Naturphilosophie Fichtes bedeutsam, daß Janke zum einen darauf hinweist, daß die traditionelle Lesart von Fichtes Naturauffassung durchaus ihre Berechtigung hat, daß sie aber als solche nur angemessen zu verstehen ist, wenn sie aus ihrer Einseitigkeit gelöst und im Kontext der „umfassenderen Bild- und Erscheinungslehre“ von Fichtes „transzendentaler Phänomenologie“ ihre Bedeutung und Geltung zugewiesen bekommt. Zum anderen verweist das Zitat darauf, daß sich Fichtes Grundlegung der Naturphilosophie nicht hinreichend und schon gar nicht abschließend aus dem Systemzyklus der Wissenschaftslehre bis 1802, den Lauth seiner Rekonstruktion der transzendentalen Naturlehre Fichtes zugrunde legt, begreifen läßt. Um zu der reiferen und systematisch durchdachteren Konzeption der Fichteschen Naturphilosophie vorzustoßen, innerhalb deren dann die rezeptionsgeschichtlich dominierende ethisch-praxologische Lesart zwar nicht gänzlich verworfen, jedoch weitgehend relativiert wird, müssen auch und gerade die späteren Fassungen der Wissenschaftslehre und die nach 1800 veröffentlichten populärphilosophischen Schriften herangezogen werden. Seit Beginn der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts mehren sich die Forschungsarbeiten, die sich diesem von Janke entworfenen und erweiterten naturphilosophischen Denkansatz Fichtes zuwenden und dabei das Strukturschema der Fünffachheit des transzendentalen Wissens für eine Neubestimmung der Naturphilosophie fruchtbar machen29. Resultat dieser im System des transzendentalen Wissens grundgelegten Erweiterung des Fichteschen Naturbegriffs ist die Generierung einer fünffachen Erscheinungs- und Verstehensweise der Natur, deren Prinzipien ihren transzendentalen Grund in einer doppelten Subjekt-Objekt-Beziehung innerhalb des Selbstbildungs- und Selbsterscheinungsprozesses der Vernunft haben. Im Rahmen der erweiterten Struktur des transzendentalen Wissens kann gezeigt werden, daß die rezeptionsgeschichtlich prägend gewordene frühe Vom Bild des Absoluten, 401 f. „Stufenlehre“, in: ders.: Vom Bild des Absoluten, 393–542; Girndt: „Die fünffache Sicht der Natur im Denken Fichtes“, in: FS 1 (1990) 108–120; Traub: Fichtes Populärphilosophie 1804–1806, Stuttgart-Bad Cannstatt 1992, 209–287; Oesterreich / Traub: Der ganze Fichte, darin: „Realität und System“, 194–206; Traub: „Vollendung der Lebensform. Fichtes Lehre vom seligen Leben als Theorie der Weltanschauung und des Lebensgefühls“, in: FS 8 (1995) 161–191. 28  Janke,

29  Janke,

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Fichtesche Naturlehre sich nur auf zwei der insgesamt fünf ableitbaren Vernunftstandpunkte bezieht, nämlich auf den Standpunkt des sinnlichen Objektivismus (Sinnlichkeit) und den des sittlichen Subjektivismus (Legalismus). In diesen beiden naturphilosophischen Perspektiven begegnet uns die bekannte Konzeption, innerhalb deren die Natur einerseits als Gegenstand der Unterwerfung, Domestizierung, Ausbeutung, Manipulation und des Genusses sowie andererseits als Objekt der Regulierung interpersonaler, staatlicher und internationaler Rechtsansprüche fungiert. Nach den Ergebnissen der neueren Forschung zum Naturbegriff bei Fichte müssen nun aber als weitere Hinsichten die ebenfalls transzendental begründeten Standpunkte einer moralischen (schöpferisch-künstlerischen) sowie religiösen und universal-wissenschaftlichen Naturauffassung hinzugefügt werden. Das heißt, die ästhetischen und religionsphilosophischen Elemente, die schon Schelling der Fichteschen Naturauffassung, wenn auch als unzureichende, widersprüchliche und mit der „ursprünglichen Lehre“ unvereinbare Ingredienzien zugestanden hatte30, können und müssen jetzt systematisch und im Kontext der transzendentalen Architektonik der Wissenschaftslehre erörtert und gewürdigt werden. Damit wäre die lange, hartnäckige, ja vielleicht auch manchem liebgewordene Rezeptionstradition zu Fichtes Naturphilosophie wohl an ihrem Ende angelangt und sie darf nun getrost als forschungsgeschichtlich überwunden angesehen werden. Allerdings ist sie an ihr Ende gelangt, ohne gänzlich verschwinden zu müssen, sondern um in ihrer systematisch wahren Bedeutung erfaßt, gewürdigt und im dreifachen Hegelschen Sinne aufgehoben zu werden.

30  Vgl. Schellings Auseinandersetzung mit Fichtes Theorie der fünffachen Weltbetrachtung, in: Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre, 80–92. Was Schelling hier als „vollendetste[n] Eklekticismus“ bei Fichte bemängelt, bemängelt er nicht ganz unberechtigt. Denn die monierte spekulative Unzulänglichkeit des Fichteschen Denkens in dieser Sache ist Fichte durchaus anzulasten. Denn die transzendentale Ableitung der Prinzipien, auf die sich die von Schelling kritisierte Weltanschauungslehre gründet, blieb der breiteren Öffentlichkeit dadurch vorenthalten, daß Fichte seine Wissenschaftslehre nur noch mündlich und zum Teil auch nicht einmal mehr öffentlich vorgetragen hatte. Wie Schellings Beurteilung der Theorie der fünf Standpunkte der Weltbetrachtung in Kenntnis etwa der letzten Vorlesungen des zweiten Vortrags der Wissenschaftslehre von 1804, in denen die fünf Standpunkte deduziert werden, ausgesehen hätte, können wir nicht sagen. Vermutlich wäre ihm aber seine Polemik nicht mehr ganz so leicht gefallen.



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2. Fichtes erweiterter Naturbegriff a) „Die Vernunft-Natur“ Wenn von einer Philosophie der Natur gesprochen und dabei der dichotom-dialektische Vermittlungsschematismus von Ich und Nicht-Ich angelegt wird, der Fichtes frühe Wissenschaftslehre prägt, dann wird Natur als das dem Ich Entgegengesetzte, als das ihm Äußerliche verstanden. Natur ist das nicht menschliche oder durch menschliche Freiheit hervorgebrachte oder gestaltete Sein. Natur ist das ohne unser Zutun Vorhandene. Unabhängig davon, ob sich diese Voraussetzung als Ergebnis einer im Fichteschen Sinne selbstvergessenen, gleichwohl aber transzendental rekonstruierbaren und begründbaren Projektion des Ich aufdecken läßt, oder ob diese Voraussetzung ein sich selbst erzeugendes, organisierendes, entwickelndes und erhaltendes Ansich, Vonsich und Insich meint, in beiden Fällen wird die auf diese Weise gesetzte und verstandene Natur als das Andere, als das dem Freiheits- und Vernunftwesen des Menschen Entgegen-, zumindest aber Äußerlich-Gesetzte begriffen. In seinem Aufsatz: „‚… eine besondere Weise, sich selbst zu erblicken‘: Zum systematischen Status der Natur bei Fichte“ (FS 24, 1–17) hat Thomas Sören Hoffmann einen Interpretationsansatz vorgelegt, der zunächst konstatiert, daß für Fichtes systematischen Naturbegriff vor allem eines heute nicht mehr gelten kann, nämlich dessen ausschließliche Verortung innerhalb der im vorherigen erörterten schematischen, rezeptionsgeschichtlich dominierenden Alternative eines „Entweder-Oder“. Zwar ist, so Hoffmann, der Nachweis möglich, daß sich die naturphilosophischen Konzeptionen der Philosophiegeschichte, und damit auch die Fichtesche, nach dem bekannten Dichotomieschema: natura activa – natura passiva; natura naturans – natura naturata; Natur als Eigenprinzip – Natur als Prinzipiat; Natur- und Substanzphilosophie versus Rationalismus / Transzendentalismus bzw. Konstruktivismus, Spinoza versus Descartes, Schelling versus Fichte usw. einordnen lassen: jedoch „kann man fragen, ob die Alternative in den genannten Formen (natura agens hier, natura naturata dort) wirklich vollständig ist. Denn es könnte sein, daß ganz so, wie die Grammatik zwischen dem Aktivum und dem Passivum das Medium kennt, auch Natur im Sinne eines prinzi­ piell medialen Status aufgefaßt werden könnte“ (ebd., 2). Zwar kann auch nach der Entdeckung eines medialen Naturbegriffs bei Fichte, so Hoffmann weiter, immer noch nicht von der Natur als einem zweiten Prinzip gesprochen werden: „Es gibt transzendentalidealistisch keinen ‚zweiten Anfang‘“ (ebd., 8). Weil aber ein medialer Naturbegriff die klassische Prinzip-Prinzipiat-Dichotomie unterläuft, läßt sich der Gedanke einer Gleichursprünglichkeit der selbstbestimmten, das heißt nicht von der Freiheit unmittelbar ab-

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hängigen Natur ansetzen. Die Annahme eines medial verstandenen Naturbegriffs würde dann als Bedingung und Medium erscheinender Wirklichkeit realen Freiheitshandelns nicht voraus-, sondern notwendigerweise mitgesetzt. „Fichte stößt“, so schreibt Hoffmann, „im Zusammenhang schon der allgemeinen Theorie des Handelns, dann insbesondere beim Problem der Individuation des Vernunftwesens, aber auch etwa im Zusammenhang der Konstruktibilität eines äußeren Freiheitsreiches individuierter Subjekte auf eine Bedeutung des Begriffs Natur, die nicht auf das objektivationslogisch einholbare äußere Bestimmte, die passive natura naturata einer objektivierten Welt, reduzierbar ist, die vielmehr ausdrücklich […] durch ‚Selbstbestimmung‘ gekennzeichnet ist“ (ebd.). Denn gerade für die praktische Philosophie etwa in der Sphäre interpersonalen Handelns, eines Bereichs, innerhalb dessen die „Unterwerfungstheoretiker“ die Rigorosität Fichteschen Denkens stets besonders eindrücklich am Werke sahen und sehen, gilt, daß es hier für Fichte „weder Moral noch Jus geben kann, ohne daß dabei schon verleiblichte Subjektivität ins Spiel käme, der Leib aber weder einfachhin das Subjekt als solches noch auch umstandslos Nicht-Ich heißen kann“31. Das bedeutet, gerade auf dem Felde der praktischen Philosophie Fichtes „tut sich“ jener „Zwischenraum, ein praktisch relevantes metaxú auf, dessen material differenziertes Potential Fichte unter dem Titel Natur zu befassen vermag“ (ebd.). Dieser Natur inhäriert das Wesen der Freiheit von der Autonomie des Subjekts nicht durch dogmatisch-schwärmerische Entgegensetzung, sondern durch „Ursprungsaffinität“ zu dem explizit zur Selbstbestimmung aufgeforderten Vernunftwesen, das zu seiner „Verbildlichung“ und Verwirklichung eines derart eigenständigen und „material differenzierten Potentials“ notwendig bedarf. Mit diesem praxologischen Interpretationsansatz gelangt Hoffmann schließlich zu der medialen Begriffsbestimmung von Natur bei Fichte, nach der Natur „als Natur wesentlich als zum Verschwinden bestimmtes Moment der Selbst-Ersichtlichung [des Subjekts] zu denken ist, zugleich aber in diesem Verschwinden ihr relatives, freilich nur nicht-substantiell zu denkendes Bestehen und Bleiben hat“ (ebd., 9). Wie schon angedeutet, exemplifiziert Hoffmann die Idee eines medialen Naturbegriffs bei Fichte auf unterschiedlichen Feldern der praktischen Phi31  In den Reden (1808) wird die hier von Hoffmann an der Philosophie des Leibes aufgewiesene Medialität der Natur von Fichte am Wesen der Sprache auf besondere Weise exemplifiziert. Danach ist die Sprache angemessen weder subjektiv, als bloß willkürliches System von Zeichen, noch objektiv, als naturalistisches Ausdrucksverhalten, sondern genau als die Mitte und der „wahre gegenseitige Durchströmungspunkt der Sinnenwelt und der der Geister“ zu verstehen. Als dieser Durchströmungspunkt hält die Sprache „die Enden dieser beiden also in einander verschmilzt, daß gar nicht zu sagen ist, zu welcher von beiden sie selber gehöre“ (SW VII, 326).



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losophie. Auf das Anwendungsgebiet interpersonaler Konstituierung und Realisierung von Recht und Moral mittels der hierzu notwendigen Theorie der Leiblichkeit sowie auf die mediale Sprachphilosophie Fichtes haben wir schon verwiesen. Bedeutsam ist der Interpretationsansatz eines medialen Naturbegriffs aber auch im Kontext der Konstitution und Konstruktion praktischen Selbstbewußtseins. Der Leib ist die Natur des Ich, und dieser Natur bedarf es, insbesondere im Hinblick auf die „Selbstverbildlichung“ des Ich in der Sphäre „eines äußeren Freiheitsreiches“. Das Projekt der Selbstverbildlichung stößt aber auch in sich selbst auf die Sphäre eines „von der Freiheit unmittelbar Unabhängigen“ (ebd., 10). Wenn Fichte, etwa in der Sittenlehre (1798), von „unserer Natur“ spricht, so ist damit zunächst nicht Natur unspezifisch „als formales Wesen“ zu verstehen, „so wie man sagen kann, daß die ‚Natur‘ des Menschen seine Vernunft oder Freiheit sei“ (ebd., 11). Sondern, wenn auch hier der mediale Naturbegriff in Anschlag gebracht werden soll, so ist unsere Natur „vielmehr das von Ich und Freiheit Freie, das dennoch ‚wir‘ sind. [Denn], gerade indem ich das reelle praktische Bewußtsein meiner Selbstbestimmung entwickle und setze, [bin ich] ein mich als in diesem Bewußtsein als fremdbestimmt Setzender“ (ebd.). Diese Fremdbestimmtheit meiner expliziten Selbstbestimmung ist hier aber nicht als Moment der Veräußerung des Ich in die ihm äußerliche Sinnenwelt zu denken, sondern betrifft die interne Fremdbestimmtheit des Ich, die ihm in der nicht intellektuellen Bestimmtheit seiner selbst als Trieb, Streben und Gefühl entgegentritt. „Natur ist jetzt wesentlich nicht Begriff eines Äußeren der Sinne, gerade nicht cartesische res extensa, sondern primär intern exteriorisiertes Selbst, [Natur] ist das Andere der Selbstbestimmung, aber darin zugleich die andere Selbstbestimmung, die der ersten, intelligiblen und expliziten Selbstbestimmung ursprungsaffin ist“ (ebd., 11). Gerade diesen Aspekt des medialen Naturbegriffs, der das „intern-exteriorisierte Selbst“ betrifft, hat der Autor selbst in seinem Beitrag „Natur, Vernunft-Natur und Absolutes. Drei Hinsichten auf den Natur-Begriff in Fichtes Wissenschaftslehre“32, insbesondere am mittleren Terminus der Vernunft-Natur, weiter ausgeführt, als das hier bei Hoffmann der Fall ist. Dort wird gezeigt, daß die Naturkonzeption der frühen Wissenschaftslehre so, wie wir sie als dominante Rezeptionsgeschichte kennengelernt haben, ihre Überzeugungskraft aus dem Verhältnis von Vernunft und Natur als einem Gegensatz bezog. Der Ausdruck Vernunft-Natur zieht nun den Widerstreit zwischen Natur und Vernunft in den Begriff der Vernunft selbst zurück. Hoffmann hat schon deutlich gemacht, daß Vernunft-Natur als interne Exteriorität durch die 32  Vgl. „Natur, Vernunft-Natur und Absolutes. Drei systematische Hinsichten auf den Natur-Begriff der Wissenschaftslehre“, in: Oesterreich / Traub: Der ganze Fichte, 179 ff.

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Differenz zwischen einer explizit-intellektuellen, das heißt freien und bewußten, und einer von Freiheit unmittelbar unabhängigen Bestimmung des Ich, die gleichwohl Selbstbestimmung bedeutet, charakterisiert ist. Nun gibt es aber Anlaß genug, über Hoffmanns Analyse und deren Ansatz in Fichtes praktischer Philosophie hinaus die vernunftinterne Spannung zwischen Vernunft und Natur als Grundbestimmung für Fichtes Vernunftkonzeption überhaupt anzusehen. Und dies gilt nicht nur für die Epoche der sogenannten Frühphilosophie, auf die sich Hoffmann insbesondere konzentriert, sondern auch für den mittleren und späten Systemzyklus der Wissenschaftslehre. Denn es gilt grundsätzlich, wie es in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters (1804 / 05) heißt: „Vernunft ist da, wo sie ohne Freiheit und begriffliche Klarheit wirksam ist, als Naturkraft und Naturgesetz im Menschen wirksam“ (GA I / 8, 198). Wobei jedoch die, wie sich später zeigen wird, „durchlässige“ systematische Differenz festgehalten werden muß, die Fichte in den 1798 gehaltenen Vorträgen über die Ascetik als Anhang der Moral (GA II / 5, 59–77) im Naturbegriff angelegt hat. Denn „das Wort Natur [hat] eine ganz andere Bedeutung, wenn von menschlichen Wesen, als wenn von bewußtlosen Naturerzeugnissen die Rede ist. Die Natur der ersten, d. i. sein Wesen, positiver Charakter (Anlage, indoles) ist zweifach, während sie bei den letztern nur einfach ist. Es giebt eine Natur als solche, und Natur, als Tendenz der Vernunft.“ Und diese ist nun selbst wiederum zweifach, nämlich „inwiefern sie als bloßer Trieb“ oder mit „Bewußtsein, […] Besonnenheit […]“, das heißt mit Freiheit wirkt (ebd., 70). Qualitativ wird der Naturbegriff als Tendenz der Vernunft, insofern sie ohne Besonnenheit, Bewußtsein und Freiheit, das heißt als Vernunfttrieb wirkt, durch die bereits erwähnten Grundzüge weiter bestimmt. Fichte spricht jetzt vom Vernunft-Instinkt und vom Vernunft-Gefühl. „Vernunft“, so heißt es, „wirkt als dunkler Instinkt, wo sie nicht durch Freiheit wirken kann“, und ein solches unmittelbares Bewußtsein instinktiv wirksamer Vernunft heißt „Vernunftgefühl“ (GA I / 8, 199). Darüber hinaus wird der Vernunft-Natur in der Anweisung zum seligen Leben (1806) auch ein vorwissenschaftliches Wahrheitsverständnis, ein „natürlicher Wahrheitssinn“ (GA I / 9, 72), zugesprochen. Solche Elemente naturhafter Vernünftigkeit haben in Fichtes Philosophie von Anfang an, etwa in den Aphorismen über Religion und Deismus aus dem Jahre 1790, bis in die Spätphilosophie hinein prinzipielle Bedeutung und werden systematisch in einer dreifachen Weise verwendet. Zum einen fungieren sie als begriffskritische Korrektive. Das können sie, weil ihnen zum anderen ein unmittelbares Vorverständnis von epistemologischer, moralischer und ästhetischer Wahrheit inhärent ist, das, drittens, auf einem unmittelbaren Realitätsbewußtsein beruht33. So leitet der natürliche Wahr33  Vgl.

„Realität und System“, in: Oesterreich / Traub: Der ganze Fichte, 194 ff.



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heitssinn etwa die „künstliche und systematische Entwicklung“ wissenschaftlicher Philosophie, weil der Philosoph „schon vor […] seinem [künstlichen] Beweise vorher, und um denselben auch nur entwerfen und anheben zu können, die Wahrheit schon haben und besitzen [muß]. […] Wie aber konnte er in den Besitz derselben kommen, außer von dem natürlichen Wahrheitssinne geführt“ (GA I / 9, 72). Es ist der natürliche Wahrheitssinn, der im wissenschaftlichen „Räsonnement“ aufgrund eines Gefühls „Verirrungen berichtigt“ und den Forscher „wieder dahin zurückleitet, wohin er durch richtige Folgerung nie wieder zurückgekommen wäre“ (GA I / 2, 147). Im Bereich des moralischen Bewußtseins artikuliert sich die Vernunft-Natur, sofern sich das Moralische äußerlich darstellt, im Gefühl des „Wohlgefallens, der Billigung, der Hochachtung und Verehrung“ eines vernünftigen Lebens. Im Hinblick auf die eigene Moralität ist es die „geheime Sehnsucht, auch so zu werden“, in der sich die Vernunft-Natur im Menschen regt (GA I / 8, 224). Für den Bereich des Ästhetischen wäre insbesondere auf Fichtes Lehre vom „ästhetischen Trieb“ hinzuweisen, den er, neben dem Erkenntnis- und dem praktischen Trieb, als eine Artikulation der Vernunft-Natur in seinem Aufsatz Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie entwickelt hat (GA I / 6, 333–361). Und auch für seine Philosophie des Genies und der Kunst, etwa in der Bestimmung des Gelehrten (1811), hat diese Differenz zwischen einer grundlegenden „Vernunft-Natur“ und der sich auf ihr entfaltenden „Vernunft-Kultur“ konstitutive Bedeutung. So werden „Genie“ und „Talent“ als Naturanlagen der Vernunft angesehen. Kunst ist dagegen genialisch inspirierte, jedoch durch freie Regel und Bewußtsein zur VernunftKultur veredelte Naturanlage (GA II / 12, 349). Aber nicht nur im Rahmen seiner Anthropologie und transzendentalen Theorie hat Fichte die Annahme einer Vernunft-Natur konstitutiv implementiert. Auch als Strukturprinzip der Geschichte wird die Differenz „VernunftNatur“ und „Vernunft-Kultur“ in dem geschilderten Sinne verwendet. So fungiert die Annahme eines unmittelbar-naturhaften und eines bewußt-freiheitlichen Erscheinens der Vernunft bekanntlich als Gliederungsprinzip der Epochenlehre von Fichtes Geschichtsphilosophie, wodurch die beiden ersten, nicht durch Freiheit, sondern durch Vernunftinstinkt geprägten Epochen von den drei freiheitlichen, durch Begriff und Idee bestimmten Epochen der Menschheits- und Kulturgeschichte unterschieden werden (GA I / 8, 198 ff.). Alle diese Facetten interner Exteriorität des erweiterten Naturbegriffs müssen als die in systematischen Kontexten sich unterschiedlich darstellende Grundannahme einer dynamisch integrierenden und daher höchst spannungsreichen Vernunftkonzeption und Anthropologie verstanden werden, mit der Fichte daran arbeitet, auf den ersten Blick Gegensätzliches, wie etwa Gefühl und Vernunft, im „Gedanken“ des „Vernunft-Gefühls“ zu ver-

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mitteln. Für den lange so strittigen Prinzipiengegensatz von „Vernunft und Natur“ erhalten wir, wie gezeigt, gerade dann ein angemessenes und fruchtbares Verständnis, wenn mit dem von Hoffmann vorgeschlagenen Ansatz eines „medialen“ Philosophierens, wie etwa mit dem Begriff der VernunftNatur, gearbeitet wird. Mit dem Ansatz eines medialen Naturbegriffs lassen sich dann auch solche Überlegungen Fichtes systematisch in die Konzeption eines erweiterten Naturbegriffs integrieren, die ansonsten schwer, und wenn, dann nur metaphorisch mit dem transzendental-dichotomischen Denkansatz der Wissenschaftslehre vereinbar wären, wie etwa die im folgenden behandelten Phänomene einer von Fichte angesetzten „Vernunft in der Natur“ oder einer „vernünftigen Natur“. b) „Die Natur-Vernunft“ aa) Das „Intelligible“ in der Natur Schelling hatte an Fichte kritisiert, daß dessen Naturbegriff, wo nicht bloß „ökonomisch-teleologisch“, so doch letztlich ethisch-praktisch, das heißt instrumentell, auf die Idee der Verwirklichung menschlicher Freiheit hin reduziert sei. Was in dieser traditionsstiftenden Festlegung übersehen worden ist, das sind Fichtes Reflexionen auf das Wesen der Natur, insofern sie von sich her Bedingung und Medium der Verwirklichung menschlicher Freiheit, ja des „Daseyns, des Lebendigen im Menschen“, ist (GA I / 8, 73). Das heißt nicht nur, daß sich von Fichte aus die ethisch-praktische sowie die rein theoretisch konstitutive Betrachtungsweise in Frage stellen läßt, sondern auch, daß selbst dann, wenn die Natur ausschließlich vom Standpunkt instrumenteller Vernunft aus betrachtet und angegangen würde, ihr an sich Momente des Vernünftigen zugesprochen werden müßten. Das soll nun exemplarisch an einigen Überlegungen Fichtes gezeigt werden. Als frühestes Zeugnis einer Affinität der Natur zur Freiheit und Vernunft des Menschen läßt sich auf Fichtes Practische Philosophie von 1794 und auf die hier entwickelte Grundlage einer philosophischen Ästhetik verweisen (GA II / 3, 181–266). Die Practische Philosophie zeigt, daß das durch die Hemmung des Nicht-Ich begründete Streben des Ich nach „absoluter Selbsttätigkeit“ nicht nur produktiv, durch die freie, das heißt moralische Selbstbestimmung des Ich, also ethisch-praktisch, realisiert wird, sondern, daß die Freiheitserfahrung auch rezeptiv begründet sein kann. Dies ist dann der Fall, wenn „Selbstthätigkeit und Selbstständigkeit“ nicht als Ursache einer Handlung, somit aktiv, sondern rezeptiv, als Wirkung von etwas, das unser Streben nach „Selbstthätigkeit und Selbstständigkeit“ fördert, „erkannt, empfunden, angeschaut, gedacht“ wird (ebd., 188). Solche sozusagen



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„von außen“ her das Streben nach Selbsttätigkeit fördernden Erfahrungen lassen sich je nach Art der Wahrnehmung kategorisieren. Handelt es sich um eine „Beförderung der Selbstthätigkeit des Empfindens“, so begründet sich darauf die Erfahrung des Angenehmen. Wird in der erfahrenen Förderung die Selbstthätigkeit der Formengebung angeschaut, dann haben wir es mit dem Schönen zu tun (ebd.). Es ist die rezeptiv veranlaßte Konvergenz von empirischer Wahrnehmung und transzendentalen Formprinzipien, durch die die Erkenntnis begründet wird, daß uns in bestimmten Erfahrungen aus der Natur Vernunft und Freiheit begegnen. An einer Landschaftsbetrachtung macht Fichte in Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie (GA I / 6, 333–361) die hier in Rede stehende naturveranlaßte Freiheits- und Vernunft­ erfahrung deutlich. Zur Erklärung des dort gewählten Beispiels ist allerdings vorauszuschicken, daß Fichte in dieser Schrift die frühen Ansätze zu einer philosophischen Ästhetik dadurch auf ihre Prinzipiengrundlage stellt, daß er neben dem praktischen und theoretischen (Erkenntnis-)Trieb einen ästhetischen Trieb des Menschen ausmacht. Dieser, so zeigt Fichte, ist grundlegender als die beiden anderen, weil der ästhetische Trieb weder auf eine wahre Vorstellung vom Gegenstand (Erkenntnistrieb) noch auf eine durch praktische Zwecksetzung in der Wirklichkeit zu realisierende Vorstellung (praktischer Trieb), sondern auf den Entwurf von Vorstellungen überhaupt geht. Die Erfahrung dieses Triebes kann sich infolgedessen nur dann einstellen, wenn sowohl theoretische als auch praktische Interessen zurückgedrängt werden oder sich das Subjekt hinsichtlich dieser beiden Triebe im Zustand der Indifferenz bzw. Zufriedenheit befindet. „Unter dieser ruhigen und absichtslosen Betrachtung der Gegenstände […]“, so heißt es, „entwickelt sich ohne alles unser Zuthun, unser ästhetischer Sinn an dem Leitfaden der Wirklichkeit“ (ebd., 350). Wie nun diese „am Leitfaden der Wirklichkeit“ vollzogene Entwicklung des ästhetischen Sinnes zu verstehen ist, erklärt Fichte dem Leser am Beispiel einer „interesselosen“ Naturbetrachtung. In deren Schilderung ist dann vom „vergnüglichen Verweilen der Betrachtung auf dem frischen Grün der Saat und den manichfaltigen Blühten des Klees und dem sanften Gleiten der Betrachtung über die sich kräuselnden Wellen des Korns“ die Rede. Das, was den „ästhetischen Blick“, jenseits alles theoretischen und praktischen Interesses, hier näher bestimmt, ist, daß er „unter dem Anblicke [dieser] Gegenstände, indem ihn dieselben unvermuthet befriedigten, schon geweckt worden [ist]“ (ebd., 351). Das heißt, insbesondere auf dem Felde der Ästhetik enthält Fichtes Wissenschaftslehre eine Denkfigur, in der sich die Aktualisierung der Freiheits- und Vernunft­ erfahrung weder über die eigene Spontaneität noch über fremde, das heißt interpersonale Aufforderung, sondern über den „Anblick und unter dem Leitfaden der Natur“ vollzieht. Der Natur können demnach bestimmte Regelhaftigkeiten und Formen inhärent sein, die, durch den ästhetischen Sinn

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wahrgenommen, „unsre Billigung ohne alles Interesse“ (ebd., 351) erfahren. Das Prinzip, auf dem das Gefühl der Billigung beruht, hat Fichte schon früh, nämlich in seiner Abschlußrede von Schulpforta (1780), als das „Principium temperamentum“ bezeichnet. In diesem kommen alle Gemütskräfte des Menschen in einer Erfahrung harmonisch überein und konstituieren darin eine Ganzheitserfahrung von Vernunft und Freiheit34. In diesem gedanklichen Kontext der Ermöglichung einer äußerlich bedingten Erfahrung von Freiheit läßt sich auch auf den § 8 des zweiten Teils der Wissenschaftslehre von 1801 / 02 verweisen. In diesem Paragraphen geht es um die uns besonders interessierende Verhältnisbestimmung von Freiheit und Natur. Das Wesen der Freiheit wird hier als das „Losreißen“ des Wissens von der Natur bestimmt. Der Gedanke, daß zur Realisierung wirklicher Freiheit ein stellvertretungsloser Akt der Spontaneität – sei es die Aufforderung zu vernünftigem Handeln oder die Anstrengung selbständigen Denkens – notwendig ist, ist aus unterschiedlichen Zusammenhängen der Philosophie Fichtes bekannt. Interessant und merkwürdig ist es nun, daß Fichte in dem genannten Paragraphen der Wissenschaftslehre nicht nur von dem freiheitskonstitutiven Akt des „Losreißens“ der Intelligenz, sondern auch von der „anderen Seite“, dem „Loslassen“ durch die Natur, spricht. Fichte ergänzt den Akt des Sich-Losreißens des Wissens durch das Freigelassenwerden des Menschen durch die Natur. Beides, daß die Natur den Menschen freiläßt und daß der Mensch sich von der Natur losreißt, sind gleichermaßen konstitutive Momente sich verwirklichender Freiheit. Denn „das Wissen reist sich hier […] vom Seyn los; [oder] die Natur läßt es los, was ganz dasselbe ist“ (GA II / 6, 298). Nun läßt die Natur den Menschen aber nicht nur in der Verwirklichung seiner Freiheit los, sondern, und damit kommen wir auf die traditionelle Instrumentalisierungskritik der Natur durch praktische Vernunft zurück, die Natur öffnet sich auch den Projekten und Zwecksetzungen menschlicher Freiheit. Das heißt, der Natur inhäriert über den ästhetischen Freiheitsanstoß und die Freisetzung des Menschen hinaus die Aufnahmefähigkeit für die Projekte von Freiheit und Vernunft. Diese konstitutiven, die menschliche Freiheit ergänzenden und ihr affinen Momente des „Erweckens“ (Evokabilität), „Freilassens“ (der Liberabilität) und der „Aufnahme“ menschlicher Freiheitsprojekte (Modifikabilität) können als Wesensmerkmale eines Naturbegriffs verstanden werden, den Fichte im Briefwechsel mit Schelling als den „intelligiblen“ Charakter der Natur bezeichnet hatte. Fichte hatte Schelling am 27. Dezember 1800 geschrieben: 34  Vgl. Traub: „Über die Pflichten des ästhetischen Künstlers. Der § 31 des Systems der Sittenlehre im Kontext von Fichtes Philosophie der Ästhetik“, in: FS 27 (2006) 68 f.



Fichtes Begriff der Natur107 „Ihren Saz, daß das Individuum nur eine höhere Potenz der Natur sey, kann ich nur unter der Bedingung richtig finden, daß ich die Natur nicht bloß als Phänomen (und in sofern offenbar von der endlichen Intelligenz erzeugt, daher nicht wiederum sie erzeugend) setze, sondern ein Intelligibles in ihr finde, von welchem überhaupt das Individuum die niedere, von etwas in ihm aber (dem nur bestimmbaren) die höhere Potenz (das bestimmte) ist.“35

Das zur Freiheit aufgerufene und bestimmbare Wesen des Menschen findet in der Natur, und zwar als in ihr bestimmt, das Mittel und die, wenn auch nicht hinreichende, so doch notwendige Bedingung wirklicher Freiheit. bb) „  Reflexibilität“, der transzendentale Grund natürlicher Vernünftigkeit Über die jetzt vorgestellten Aspekte hinaus läßt sich von der Wissenschaftslehre von 1812 her ein weiterer Gesichtspunkt heranziehen, der die Dimen­ sion des Vernünftigen in der Natur von ihrer theoretischen und im engeren Sinne transzendentalphilosophischen Grundlage her belegt. Dieses Moment natürlicher Vernünftigkeit enthält der Begriff der „Reflexibilität“. Reflexibilität meint die Fähigkeit von Phänomenen, sich durch begriffliche Analyse erschließen zu lassen (SW X, 378–387)36. Wenden wir diesen Gedanken auf die Natur an, wird man Folgendes sagen müssen: Wäre der Natur, als dem Anderen des Wissens, der Wesenszug der Reflexibilität nicht zu eigen, bliebe jeder Versuch des Menschen, die Natur zu verstehen, zu begreifen und zu gestalten, von vornherein aussichtslos. Die Natur wäre uneindringliches und undurchdringliches Mysterium. Das aber ist sie nicht. Sondern die Natur bietet von sich her und auf vielfältige Weise Ansätze zu ihrem theoretischen, praxologischen und geschichtlichen Verstehen und zu ihrer praktischen Modifizierbarkeit, ja sie ist, wie gezeigt, für die Verwirklichung menschlicher Freiheit und damit für die Perfektibilität menschlicher Freiheits- und Kulturgeschichte unverzichtbar und unaufhebbar: Natur ist somit von sich her reflexibel und in diesen Momenten wesentlich vernünftig. c) Zwischenfazit Gemeinsam mit den bereits ermittelten Aspekten des Erweckens, des Freilassens und der Gestaltbarkeit dokumentiert auch die Reflexibilität ei35  Traub (Hrsg.): Schelling-Fichte Briefwechsel, 185. Vgl.: „In diesem System des Intelligiblen […] können wir uns […] durchaus verstehen, und vereinigen“, ebd. 68 ff. 36  M. Jorge de Carvalho: „Reflexion und Reflexibilität“, in: FS 28 (2006) 187– 204.

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nen Aspekt des Naturbegriffs der Wissenschaftslehre, der die Natur nicht mehr als das schlechthin Widervernünftige und Freiheitsferne zu denken erlaubt. Die dem Denken Fichtes bisher entnommenen Hinweise und angestellten Überlegungen drängen nun vielmehr dahin, die Natur als konstitutives Element der transzendentalen Phänomenologie des erscheinenden Absoluten zu begreifen. Wobei dieser rezeptionsgeschichtliche Fortschritt auf zwei zentralen Entdeckungen beruht. Zum einen ist es die fundamentale Einsicht der mittleren und späten Wissenschaftslehre, daß das Absolute in der „Substruktur“ transzendentalen Wissens (Baumanns) erscheint. Zum zweiten ist es die sich daran anschließende fünfgliedrige Entfaltung dieser „Substruktur“ transzendentalen Wissens, innerhalb deren nun auch die (sinnliche) Natur in einem Element, nämlich im Modus des sinnlichen Bewußtseins, zum konstitutiven Bestandteil von Fichtes transzendentaler Phänomenologie und Vernunftlehre avanciert. Verknüpfen wir diese Einsichten mit den im vorherigen angestellten Überlegungen, dann stellt sich die (sinnliche) Natur in den aufgewiesenen Momenten der „Reflexibilität“, „Evokabilität“, „Liberabilität“ und „Modifikabilität“ nicht allein bewußtseinstheoretisch, sondern in ihrem Wesen als zumindest freiheitsaffin dar. Freiheit überhaupt, und transzendentale, moralische, politische und künstlerische insbesondere, ist nach Fichte das Dasein des Absoluten in der Erscheinung, und zwar im Wesenszug seines absoluten Seins. Freiheit ist Repräsentanz des Absoluten oder Sein des Absoluten in seinem Bild. Ist das so, dann ist die Annahme nicht abwegig, daß die Natur über die an ihr aufgewiesenen freiheitsaffinen Wesenszüge in einer originären und unmittelbaren Beziehung zum Grund der Freiheit überhaupt, das heißt zum Absoluten steht. Damit hätte sich nun aber das Verhältnis zwischen Vernunft, Freiheit, Absolutem und Natur grundlegend gewandelt. Vermittels des sinnlichen Bewußtseins ist die Natur Element der transzendentalen Vernunftund Erscheinungslehre. Ein Element, das an sich selbst vernunft- und freiheitsaffine Strukturelemente aufweist, die von sich her Bedingungen der Möglichkeit eines vernünftigen und freiheitlichen, das heißt theoretischen, praktischen, ästhetischen oder auch technischen Umgangs mit ihm darstellen. Genau diese Angemessenheit für die menschliche Freiheit und Vernunft indiziert den originären Eigenbezug der Natur zum Absoluten. Auf diese im Hinblick auf die menschliche Freiheit gleichursprüngliche Bezogen- und Gehaltenheit der Natur im Absoluten verweist auch die Erfahrung, daß, trotz aller Offenheit gegenüber den Projekten und Modifikationen menschlicher Freiheit, an der Natur ein für den Menschen nicht vollständig verfügbarer Rest verbleibt. Hier liegt nun die Vermutung nahe, daß dem Menschen in der Erfahrung der Unabhängigkeit der Natur, in der zum Beispiel vordergründig die Auffassungen ihrer objektiven Gegebenheit, tiefgründiger aber ihr sich unseren Projekten entziehendes Mysterium fun-



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diert ist, letztlich der unverfügbare Grund des eigenen, menschlichen Daseins – und dies im Horizont der eigenen Sinnlichkeit – begegnet, nämlich: das absolute Sein und Leben. Wonach den vier bisher aufgewiesenen freiheitsaffinen Strukturelementen der Natur noch ein weiteres, die Unverfügbarkeit der Natur in ihrem Grunde, hinzuzufügen ist. Nehmen wir alle in diesem Teil unserer Untersuchung angestellten Überlegungen zusammen, dann stellt sich in Fichtes Denken ein Naturverständnis ein, das es in seiner systematischen Weite und Tiefe nicht mehr gestattet, die rezeptionsgeschichtlich dominante Auffassung über die „berüchtigte und verspottete Bestimmung der Natur“ (Janke) exklusiv als den fichtespezifischen Denkansatz zur Naturphilosophie aufrecht zu erhalten. An diesem Ansatz trotz der erheblich erweiterten naturphilosophischen Perspektiven auch heute noch festzuhalten, entlarvt ihn als das, was er ist und immer schon – und zwar auch bereits bei Schelling – war, nämlich: Polemik. d) Die Geschichte: Naturgeschichte der Vernunft und eschatologisches Offenbarungsgeschehen Die aus den vorherigen Überlegungen sich aufdrängende Notwendigkeit einer Aufhebung oder doch zumindest weitgehenden Relativierung der Fichte unterstellten generellen „Degradationsstrategie“ (Gloy) seines naturphilosophischen Denkens läßt sich durch einen weiteren, ebenfalls in seinem Spätwerk angelegten geschichtsphilosophischen Gedanken stützen. Wir haben es hier mit einer Idee zu tun, die das erkenntnis- und moralphilosophische Konzept der Vernunft-Natur in analoger Weise auch auf die Geschichtsphilosophie überträgt und darin die wohl weitestgehende „Entnaturalisierung des Naturbegriffs“ vornimmt. Kerngedanke ist hier die Theorie einer unmittelbaren Vernunft- und Gottesoffenbarung in der Geschichte. Das Erstaun­ liche an dieser für einen kritischen Transzendentalphilosophen an sich schon ungewöhnlichen geschichtsphilosophischen Transformation der VernunftNatur ist, daß Fichte sie ausdrücklich auch als eine, allerdings nicht näher bestimmte, Annäherung an Schelling versteht. Nach der mehr oder weniger einhelligen Meinung der Fichte-Forschung läßt Fichtes Geschichtsphilosophie eine Beurteilung des Historischen entweder unter den Kategorien der Freiheit, die es als Ort, Aufgabe und Material für die Verwirklichung moralischer, ästhetischer und politischer Freiheitsprojekte begreift, oder in spekulativer Hinsicht, das heißt unter der metaphysischen Idee des Weltplans bzw. der moralischen Weltordnung zu. In beiden Hinsichten drückt sich die Prävalenz apriorischen Denkens gegenüber der Kontingenz historischer Faktizität aus. Realgeschichtliches Denken, das

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heißt eine Philosophie des „objektiven Geistes“, steht bei Fichte stets unter transzendentalkritischem Reflexionsvorbehalt. Zwar hatte der bereits erläuterte Gedanke der Modifikabilität und Bestimmbarkeit des Nicht-Ich, respektive der Natur, an dem zu Bestimmenden immer schon eine Qualität des Vernünftigen festgemacht. An ihr konnte sowohl die Reflexion ihre unendliche Klärungs- und Begriffsarbeit ansetzen und auch die technisch-, ästhetisch- und moralisch-praktische Vernunft ihre Projekte durchsetzen. Für die Beurteilung des realgeschichtlichen Prozesses insgesamt aber war dieses Entsprechungsverhältnis von Vernunft-Natur und Natur-Vernunft bis in die Spätphilosophie von Fichte nicht durchdacht worden. In den fragmentarischen Excursen zur Staatslehre von 1813 (SW VII, 574–613) geht es nun genau um diese Frage, nämlich um die Bestimmung des Verhältnisses zwischen den gegebenen realpolitischen Institutionen „objektiver Vernunft“, das heißt um Phänomene der Naturgeschichte der Vernunft einerseits, und um die aufgegebene, das heißt freiheitsbegründete Kulturgeschichte der Vernunft andererseits. Mit anderen Worten, es geht um das Verhältnis zwischen den ersten und letzten beiden Geschichtsepochen der Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. Fichte schreibt: „Alle Geschichte entstände darum […] aus dem Unverstande, und sie wäre unendlich, weil das Unbegreifliche, d. i. das noch nicht in den Begriff des Thuns Gefasste, unendlich ist. […] Das Factische ist die unendliche Aufgabe für den Begriff. Daher eine frühere Idee von mir, daß jede gegenwärtige Welt durch ihre künftige erklärt werde“ (ebd., 585). Ganz deutlich erkennbar ist hier noch der Ansatz einer rein teleologischen Erklärung und Begründung auch des historisch Faktischen. Nun aber fährt Fichte fort: „Aber ist in diesem Elemente des Unbegreiflichen, Unverstandenen, nicht zugleich ein Weltplan, drum allerdings eine Vorsehung und ein Verstand? Welches ist denn das Gesetz der Weltfacten, d. i. desjenigen, was der Freiheit ihre Aufgabe liefert? Diese Frage liegt sehr tief: bisher habe ich durch Ignoriren und Absprechen mir geholfen! Ich dürfte da allerdings einen tieferen, eigentlich absoluten Verstand bekommen, an der unendlichen Modifikabilität der Freiheit, und dieser den inneren Halt gebend. Was ich daher als absolut factisch gesetzt habe, möchte doch durch einen Verstand gesetzt sein“ (ebd., 585 f.). Worin sich die „Vorsehung“ und der „weltgeschichtliche Verstand“ real äußern, das exemplifiziert Fichte im folgenden an den Institutionen der Familie und des Staates. Diese seien nicht als durch Freiheit hervorgebrachte, sondern als ursprüngliche Formen „natürlicher Vernunftentwicklung in der Geschichte“ zu verstehen. Verstärkt wird der Gedanke naturhafter Vernunftentwicklung durch die Konstruktion eines ebenfalls naturhaft vernünftigen Entsprechungsverhältnisses zwischen den geschichtlich gewachsenen Institutionen und der gleichfalls naturhaften Beziehung des Individuums zu ihnen. Beide, so Fichte, werden durch ein „ursprüngliches Bewußtsein der



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Gebundenheit der Freiheit“ vermittelt. Die Form dieses „ursprünglichen Bewußtseins der Gebundenheit der Freiheit“ an geschichtlich gewachsene Formen des Vernünftigen nennt Fichte den „Glaube[n] an die Autorität gewisser Satzungen und unmittelbaren Gehorsam gegen die selben“. Freiheitliche Kultur- und Menschheitsgeschichte beginnt dagegen erst auf der kulturellen Entwicklungsstufe einer reflektierten Distanzierung von dem durch Glauben und Gehorsam gestifteten Zusammenhalt der Menschheit. Die Epochen freier Kulturgeschichte finden ihre realgeschichtlichen Anknüpfungspunkte jedoch an den Institutionen, die die natürliche Vernunftentwicklung hervorgebracht hat. Das heißt, der Freiheitsgeschichte des Menschen „wachsen“ aus der Naturgeschichte der Menschheit Anknüpfungspunkte entgegen, die dann zur „unendlichen Aufgabe des Begriffs“ und zu Zwecken einer freiheitlichen Vernunftkultur werden. Sehen wir Fichte hier auf dem Wege einer realgeschichtlichen Verifikation seiner apriorisch bzw. metaphysisch oder gar rein hypothetisch konstituierten und konstruierten Geschichtsphilosophie, wie er sie in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters entworfen hat? Es spricht manches dafür. Unter anderem Fichtes eigenes Urteil über die hier angestellten Überlegungen. Denn zum einen findet sich mitten in der Reflexion auf die notwendige Annahme einer realgeschichtlichen „Vorsehung“ und einer sich darin realisierenden „objektiven Vernunft“ die überraschende Bemerkung: „Hierdurch würde ich mich Schellingen wieder mehr nähern“ (ebd., 586)! Zum anderen wird der Wissenschaftslehre auf diese Weise ihr Platz in der Evolution vernünftiger Naturgeschichte angewiesen. Wie dies genau erfolgt, darüber gibt dann die Staatslehre von 1813 (SW IV, 367–600) selbst nähere Auskunft. Die bedeutendste Entwicklung innerhalb der Staatslehre ist die Transformation der in den Fragmenten als natürliche Vernunftgeschichte dargestellten Universalgeschichte zur religiösen Heilsgeschichte. Innerhalb dieser wird der Wissenschaftslehre durch eine spezielle Deutung der Trinitätslehre, und hier im Moment des Geistes, eine (heils-)geschichtliche Bedeutung zugewiesen. Dreifaltigkeit besagt nach Fichte zunächst: Gott-Vater ist „das Natürliche [!], Absolute in der Erscheinung, das Allgemeinvorausgegebene; der Sohn, die factische Steigerung dieses [natürlich Absoluten in der Erscheinung] zum Bilde der übersinnlichen Welt; der [heilige] Geist, die Anerkennung und Auffindung dieser Welt durch das natürliche Licht des Verstandes“ (SW IV, 569). Als das für die Neue Welt wirkmächtige Erscheinen des „Natürlichen, Absoluten“ deutet Fichte das Auftreten von Sokrates. Der „vom Vater ausgehende Geist war […] objectiv geworden, und in dieser Objectivität factisch herausgebrochen in dem Athenienser Sokrates; in ihm hatte der Verstand sich selbst zuerst ergriffen, und sich entdeckt als eine eigenthümliche und rein apriorische Quelle von Erkenntnissen“ (ebd., 570). Kants Verdienst sei es dann darüber hinaus gewesen, den „letzten Schritt“

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getan zu haben, nämlich, „daß jene Sokratik, jene Kunst des Verstandes sich selbst erkannte, und sich von anderer, von dem Verstehen in der Anschauung unterscheiden lernte, wodurch nun endlich die Verwirrung zwischen historischem Verstande und der Erkenntniss durchs Gesetz gehoben ist“ (ebd.). Das „Natürliche, das Absolute in der Erscheinung“ – das „natürliche Licht des Verstandes“ – hat sich in der Geschichte seines Erscheinens zur selbstbewußten und selbstmächtigen „Kunst des Verstandes“ geläutert. Und: „Nun erst vermag der [geläuterte] Geist ein heiliger zu werden“ (ebd.). Das heißt: Nun vermag der seiner selbst bewußte Geist die in Jesus Christus faktisch vollzogene „Steigerung“ des „Natürlichen, Absoluten in der Erscheinung“ zum „Bilde der übersinnlichen Welt“ genetisch „anzuerkennen und aufzufinden“. Der gegenüber dem historischen Jesus selbständig gewordene Geist kann nun „durch das natürliche[, sich selbst hell gewordene] Licht des Verstandes“ für ihn zeugen und ihn verklären (ebd.). Die Schlußfolgerung dieser „Trinitätsgeschichte“ lautet: Es ist die „weltgeschichtliche Sendung“ der Wissenschaftslehre, diese Aufgabe nicht nur als Lehre darzustellen, sondern als weltpolitisches Projekt zu verwirklichen. Auf die Pläne und Maßnahmen, mit deren Hilfe Fichte die weltpolitische und heilsgeschichtliche Sendung der Wissenschaftslehre zu realisieren beabsichtigte, brauchen wir hier nicht näher einzugehen37. Wichtig war es uns, an dieser Stelle zu zeigen, daß Fichte, und zwar selbst in den tiefsten Wurzeln seiner Lehre über die „Erscheinung des Absoluten“ und die „Offenbarung Gottes in der Geschichte“, einen substantiellen Naturbegriff verwendet, der über das hinausreicht, was Natur im Sinne des vorher dargestellten erweiterten Naturbegriffs bedeutet, der letztlich doch im Horizont einer im engeren Sinn verstandenen Naturphilosophie anzusiedeln ist. IV. Dritter Teil – Fichtes Naturerfahrung und seine „ursprüngliche Einsicht“ Auf dem Hintergrund der bisher dargestellten Elemente zu Fichtes naturphilosophischem Denken soll in diesem Kapitel eine These vorgestellt werden, die über die Rezeptionsgeschichte dieses speziellen Teils der Wissenschaftslehre hinausgeht. Es handelt sich dabei um nichts Geringeres als um den Versuch einer Revision, zumindest aber um die Ergänzung der bisherigen Deutung des ursprünglichen Denkansatzes der Wissenschaftslehre. Stärker noch als die „Degradations- und Unterwerfungsphilosophie“ im Hinblick auf Fichtes naturphilosophisches Denken prägt ein epistemologisches Modell des transzendentalen Wissens die Rezeptionsgeschichte der 37  Vgl. hierzu: „Vollendung der Transzendentalphilosophie“, in: Oesterreich / Traub: Der ganze Fichte, 176 ff.



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Wissenschaftslehre als ganze. Es gilt in der Fichte-Forschung als ausgemacht, daß die Wissenschaftslehre im Wesentlichen und Grundsätzlichen eine Theorie des Wissens, ein Wissens-Wissen, eine „Wissenslehre“ zu sein beansprucht. Stellvertretend für diesen rezeptionsgeschichtlichen Ansatz sei der Nestor der neueren Fichte-Forschung, Reinhard Lauth, aus seinem Aufsatz „Zur grundsätzlichen Richtung der philosophischen Fichte-Forschung“ zitiert38. Lauth schreibt, mit kritischem Unterton gegen Fichte und die Fichte-Forschung: „um das Wissen genetisch entfalten zu können, [sei Fichte, im Anschluß an Kant,] seinerseits von dem ‚Ich denke‘ im theoretischen Erkennen [ausgegangen]“. Von diesem „nur theoretischen Grundmoment aus“ habe Fichte „vermeint“, „das ganze Wissen des ‚Wissens‘, auch dessen doxisch praktische Seite deduzieren zu können. Von diesem Ausgangspunkt aus suchte er auch die praktische Seite des ‚penso‘ (‚ich denke; ich erwäge‘) zu bewältigen, also solche Erscheinungen wie die Interpersonalität, das kategorische Seinsollen, und schließlich Gott zu verstehen“39. Die hier an Lauth noch einmal exemplifizierte, theoretisch ausgerichtete Rezeptionstradition ist für die neuere Fichte-Forschung in besonderer Weise durch Dieter Henrichs Aufsatz „Fichtes ursprüngliche Einsicht“ wirkmächtig geworden40. Durch Fichtes eigene Schriften und auch durch frühere Rezeptionen forciert, wird hier der Grundansatz der Wissenschaftslehre als Wissenslehre, als Wissen des Wissens, oder Theorie des Selbstbewußtseins schulemachend festgeschrieben. Wir werden nun im letzten Teil unserer Untersuchung diesen Interpretationsansatz zunächst kurz skizzieren und seinen Ursprung aus den philosophischen Projekten, mit denen Fichte in seinen Schweizer Jahren 1793 / 94 befaßt war, aufzeigen. In einem zweiten Schritt soll dann auf einen Ursprung der Wissenschaftslehre aufmerksam gemacht werden, der nicht allein weit früher, nämlich 1789 anzusetzen ist, sondern der auch in nuce bereits diejenigen charakteristischen Elemente des Fichteschen Philosophie38  Lauth, „Zur grundsätzlichen Richtung der philosophischen Fichte-Forschung“, in: FS 28 (2006) 49–62. 39  Ebd., 50 f. Ob diese Ursprungsdiagnose des Fichteschen Denkens als solche zutrifft, kann hier nicht untersucht werden. Wenn wir an Fichtes Fundierungsmodelle des Wissens (auch des theoretischen) in einer (nicht rezeptiv vermittelten) Konzeption des Gefühls, wie dies etwa in der Anweisung zum seeligen Leben (1806) oder der Wissenschaftslehre von 1807 entfaltet ist, denken, dann sind grundsätzlich Zweifel an dem von Lauth der Wissenschaftslehre unterstellten „theoretischen Denkansatz“ angebracht. Vgl. Traub: „Liebe, Sein und Leben. Vom inneren Wesen der Wissenschaftslehre“, in: FS 28 (2006) 215–228, und ders.: „Vollendung der Transzendentalphilosophie“, in: Oesterreich / Traub: Der ganze Fichte, 168–179. 40  Dieter Henrich: „Fichtes ursprüngliche Einsicht“, in: Subjektivität und Metaphysik, Festschrift für W. Cramer, Frankfurt a. M. 1966, 188–232. Im folgenden zitiert als FuE.

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rens enthält, die nach der gängigen Rezeptionstradition als nachträgliche „Verbesserungen“ der vermeintlich „ursprünglich theoretischen Einsicht“ verstanden werden. Nun mag es befremdlich erscheinen, diese rezeptionskritischen Überlegungen innerhalb einer Untersuchung zu Fichtes Naturbegriff anzustellen. Der Umstand aber, daß Fichtes frühe Entdeckungsgeschichte seiner Wissenschaftslehre im Jahre 1789 mit Naturerfahrungen zusammenhängt, ja durch diese geradezu veranlaßt worden ist, mag als Rechtfertigung für diese Verknüpfung einer naturphilosophischen und gesamtsystematischen Rezeptionskritik angesehen werden. 1. Fichtes „ursprüngliche Einsicht“ – ein Wintermärchen Dieter Henrichs programmatischer Aufsatz „Fichtes ursprüngliche Einsicht“ versteht das Kernanliegen der Wissenschaftslehre als einen „Beitrag zur Theorie des Selbstbewußtseins“, und zwar in einem doppelten, nämlich kritischen und konstruktiven Sinne. So liegt der kritische Schwerpunkt der Einsicht Fichtes auf der Überwindung des „Reflexionsmodells“, das das Selbstbewußtsein als Resultat einer Denkbewegung begreift, in der das Subjekt des Wissens sich reflexiv auf sich selbst – als sein Wissensobjekt – bezieht und dann im folgenden die wissende Einheit dieses Subjekt-ObjektBezuges zum Selbstbewußtsein erklärt. Der Grund des Scheiterns dieses Modells liegt in der im Reflexionsakt verborgenen doppelten Zirkularität, die aufgedeckt zu haben eines von Fichtes Verdiensten ist. Denn einerseits soll das „Ich […] der sein, der sich reflektierend auf sich besinnt. Also muß der, welcher die Reflexion in Gang bringt, selbst schon beides sein, Wissendes und Gewußtes. Das Subjekt der Reflexion erfüllt somit die ganze Gleichung Ich = Ich. Doch durch Reflexion sollte sie erst zustande kommen“ (FuE, 194). Andererseits kann das Selbstbewußtsein nur dann wissen, daß es sich in seinem Objekt selbst ergriffen hat, „wenn es zuvor schon von sich weiß. Denn nur aus solchem Wissen ist es ihm möglich zu sagen: Was ich erfasse, das bin ich selbst. Weiß es aber bereits von sich, so ist es schon im Zustande des Wissens „Ich = Ich“. Und so endet die Reflexionstheorie ein zweites Mal in einer petitio principii“ (ebd., 195). Fichte, so Henrich, „ist der erste gewesen, der diesen Zirkel erkannt und Konsequenzen aus ihm gezogen hat“ (ebd.). Der konstruktive Teil von Fichtes ursprünglicher Einsicht besteht nach Henrich in der „fortschreitenden Analyse eines Begriffs vom Ich“, in der Fichte seine Theorie des Selbstbewußtseins chronologisch über drei Stufen entfaltet. Auf der ersten Stufe, 1794, heißt es: „Das Ich setzt sich [nicht sukzessive, wie nach dem Reflexionsmodell], sondern es setzt sich schlecht-



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hin.“ Diese Formel wird dann in einem zweiten Schritt, 1797 / 98, dahin gehend erweitert oder vertieft, daß Fichte das Moment des Wissens innerhalb dieses „schlechthinnigen Sich-Setzens des Ich“ in der Formel: „Das Ich setzt sich schlechthin als sich setzend“ hervorhebt. Und schließlich ist es die um 1801 vollzogene Wende von einem aktivischen zu einem passivischen Verständnis des Ich, die den Schlußpunkt der Begriffsgeschichte zu Fichtes Theorie des Selbstbewußtseins markiert. Selbstbewußtsein ist nunmehr „eine Thätigkeit, der ein Auge eingesetzt ist“ (ebd., 198–218). Es ist das Besondere an Henrichs Rekonstruktion von Fichtes ursprünglicher Einsicht, daß sie deren Entwicklungsgeschichte nicht nur auf ihren konstruktiven Beitrag zur Theorie des Selbstbewußtseins einschränkt. Sondern der fortschreitende Analyseprozeß zum Selbstbewußtsein ist bei Fichte zugleich das Prinzip der Entwicklung und des Wandels der Wissenschaftslehre insgesamt41. Das heißt, Henrich interpretiert Fichtes Philosophie als ganze – und zwar unter Ausschluß jedweder anderen Deutungsmöglichkeit – aus dem Motiv der Begründung und Explikation des Selbstbewußtseins42. 41  Für seine Systementwicklungsthese macht Henrich allerdings geltend, daß der Explikationsprozeß dieser „bisher von niemandem überbotenen“ Einsicht zum Problem des ‚Selbstbewußtseins‘ (FuE, 231) seine Anstöße nicht nur systemimmanenter Reflexion, sondern den Anstößen verdankt, die Fichte in seiner Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Positionen erhalten hat. Für die ersten beiden Entwicklungsstufen von Fichtes Theorie des Selbstbewußtseins nennt Henrich die Positionen von K. L. Reinhold und G. E. Schulze. Allein die letzte Stufe der Selbstbewußtseinstheorie läßt sich nach Henrich auf systemimmanente Fortschritte, insbesondere auf die Anwendung der in der Sittenlehre (1798) und der Bestimmung des Menschen (1800) entwickelten Triebtheorie, zurückführen. Mit dieser These aber begibt sich Henrich in einen Widerspruch zu seiner Behauptung, daß allein die Entwicklung der Selbstbewußtseinstheorie der geistige Motor für die Systementwicklung der Wissenschaftslehre gewesen sei. Denn mit dem Hinweis auf die Trieblehre konstatiert Henrich, daß Fichtes Theorie des Selbstbewußtseins ab 1801 ihrerseits nicht Auslöser, sondern nunmehr als Resultat der Weiterentwicklung eines anderen systemtragenden Theorieelements, nämlich der Trieblehre, zu verstehen ist. Von diesem Widerspruch ausgehend ließe sich Henrichs These zur Gänze in Frage stellen. Denn auch für die früheren Theoreme des Selbstbewußtseins läßt sich, abgesehen von ihren äußerlichen Einflüssen (Reinhold und Schulze), auf systemimmanente Überlegungen und Voraussetzungen verweisen, die der Selbstbewußtseinstheorie zugrunde liegen und nicht als deren Implikationen oder Konsequenzen aufzufassen sind. Zu Bedeutung und Kritik des Interpretationsansatzes von D. Henrich vgl.: Wilhelm Metz: Kategoriendeduktion und produktive Einbildungskraft in der theoretischen Philosophie Kants und Fichtes, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, 203 ff., dort insbesondere die Fußnoten 7 und 8. 42  „Wer diesen Fortschritt [der Wissenschaftslehre als fortschreitende Analyse des Begriffs vom Ich als Beitrag zur Theorie des Selbstbewußtseins] nicht versteht, der kann auch die historische Interpretation von Fichtes Werk und seine philosophische Biographie nur wenig fördern. Insbesondere ist er außerstande, eine sichere

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Nehmen wir diesen Interpretationsansatz als ganzen in den Blick, so erscheint der Ursprung der Originalität der Wissenschaftslehre, das heißt Fichtes ursprüngliche Einsicht, aus einem biographisch wie systematisch klar einzugrenzenden Kontext. Wir befinden uns in den Jahren 1792 und folgenden und in dem ideenund problemgeschichtlichen Horizont, in dem Fichte wirkungsvoll mit seiner ursprünglichen Einsicht in der Auseinandersetzung mit den in diesem Zeitraum miteinander streitenden skeptischen, kritischen und dogmatischen Positionen die Bühne der Philosophiegeschichte betritt. Diese werkgeschichtlich in der Fichte-Forschung allgemein anerkannte „Stunde Null“ der Wissenschaftslehre läßt sich auch durch die berühmte, jedoch meist nur verkürzt zitierte biographische Passage aus dem 1863 von Fichtes Enkel, Eduard Fichte, verfaßten „Lebensabriß“ seines Großvaters stützen43. Wir geben diese für den Ansatz einer ursprünglichen Einsicht bei Fichte so bedeutsame Passage, mit kleinen Auslassungen, im Zusammenhang wieder. Fichte hatte im Frühjahr 1793 seine engagierten politischen Schriften, die Zurückforderung der Denkfreiheit und das erste Heft seines Beitrags zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution, veröffentlicht44. Im Herbst 1793 reist er wieder nach Zürich und heiratet dort, am 22. Oktober, Johanna Rahn. Im Verlauf dieses Herbstes begegnet er Heinrich Pestalozzi und führt mit ihm intensive Gespräche über dessen Projekt einer Volkserziehung. Nebenher arbeitet Fichte, etwa bis Mitte Januar 1794, an seiner Rezension des Aenesidemus45. In diesen zeitlichen Kontext fällt nun auch Eduard Fichtes berühmte Schilderung der Entdeckung der Wissenschaftslehre. Er schreibt: „Der Winter war da, die Zeit des innigen Familienlebens, der langen Abende, der Arbeit und Geselligkeit. Die letztere war freilich für Fichte so gut wie nicht vorhanden. Er sollte schon in Zürich die Mislichkeiten des politischen Schriftsteller­ thums an sich erfahren; denn er sah, bei der Aufmerksamkeit, die seine Beiträge zur Beurtheilung der Französischen Revolution erregt hatten, […] seinen guten Stellung zu der bekannten Kardinalfrage zu gewinnen, ob und in welchem Sinne in ihr ein grundlegender Wandel zu verzeichnen ist“ (FuE, 190). 43  Eduard Fichte: Johann Gottlieb Fichte. Lichtstrahlen aus seinen Werken und Briefen nebst einem Lebensabriß, Leipzig 1863. 44  Daneben erschienen im selben Jahr die zweite Auflage des Versuchs einer Kritik aller Offenbarung, die Creuzer Rezension sowie der Beweis der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks. Vgl. Erich Fuchs (Hrsg.): Fichte im Gespräch, Bd. 5, Stuttgart-Bad Cannstatt 1978 ff., 231 ff. Im folgenden zitiert als FiG. 45  G. E. Schulze: Aenesidemus oder über die Fundamente der von Herrn Professor Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie. Nebst einer Vertheidigung des Skepticismus gegen die Anmaassungen der Vernunftkritik. O. O. 1792. Neudruck Berlin 1911.



Fichtes Begriff der Natur117 Namen in die ihm so gleichgültigen Parteikämpfe der ‚kleinen südlichen Republik‘ hineingemengt. Sagte man doch öffentlich, daß er mit [Heinrich] Stephani [seinem Nachfolger als Hauslehrer bei der Familie Ott] auf dem Ott’schen Landgute einen Jacobinerclub gehalten hätte u. dgl. Durch solchen Misverstand seiner Persönlichkeit und Richtung tief verstimmt, zog er sich zurück, um volle Befriedigung in dem trauten Familienleben und in der Philosophie zu finden. […] Zunächst waren es kritische Bearbeitungen neuerer Erscheinungen auf dem Gebiete der philosophischen Literatur, die ihn beschäftigten, […] aber an den namentlich durch den Aenesidemus gewordenen Anregungen gelangte er zur Gründung seines eigenen, von Kant abweichenden Systems der ‚Wissenschaftslehre‘. Und hier sei beiläufig einer Mittheilung erwähnt, welche er später in Freundeskreisen machte, daß er damals, über das höchste Princip der Philosophie lange und anhaltend meditierend, wie mit einer plötzlich ihn ergreifenden Evidenz, während er am warmen Winterofen stand, von dem Gedanken ergriffen worden sei, nur das Ich, der Begriff der reinen Subjekt-Objektivität, könne das höchste Princip sein. Daher erklärte er auch wiederholt in seinen Briefen, […] daß nur wie durch einen glücklichen Zufall er Erfinder der Wissenschaftslehre geworden sei.“46

Zu dem von Eduard Fichte erwähnten Freundeskreis, dem Fichte später über die Entdeckung der Wissenschaftslehre „am warmen Winterofen“ berichtete, gehörte der norwegische Fichte-Schüler und spätere Professor in Halle, Breslau und Berlin, Henrik Steffens. Von ihm wissen wir etwas mehr darüber, wie Fichte damals das Prinzip der Wissenschaftslehre im Detail verstanden hatte. In seinen Lebenserinnerungen berichtet Steffens: „Ich erinnere mich, wie Fichte in einem engen vertrauten Kreise uns die Entstehung seiner Philosophie erzählte, und wie ihn der Urgedanke derselben plötzlich überraschte und ergriff. Lange hatte ihm vorgeschwebt, wie ja die Wahrheit in der Einheit des Gedankens und des Gegenstandes läge; er hatte erkannt, daß diese Einheit innerhalb der Sinnlichkeit niemals gefunden werden konnte […]. Da überraschte ihn plötzlich der Gedanke, daß die That, mit welcher das Selbstbewußtsein sich selber ergreift und festhält, doch offenbar ein Erkennen sei. Das Ich erkennt sich als erzeugt durch sich selber, das denkende und das gedachte Ich, Erkennen und Gegenstand des Erkennens, sind eins, und von diesem Punkte der Einheit […] geht alles Erkennen aus. Wenn Du nun, fragt[e] er sich, diesen ersten Act des Selbsterkennens, der in allem Denken und Thun der Menschen vorausgesetzt wird, der, in den zersplitterten Meinungen und Handlungen verborgen liegt, rein für sich heraushöbest, und in seiner reinen Consequenz verfolgtest, müsste nicht in ihm, als lebendig thätig und erzeugend dieselbe Gewißheit sich entdecken und darstellen lassen, die wir in der Mathematik besitzen? / Dieser Gedanke ergriff ihn mit einer solchen Klarheit, Macht und Zuversicht, daß er den Versuch, das Ich als Prinzip der Philosophie aufzustellen, wie bezwungen, von dem in ihm mächtig gewordenen Geiste, nicht aufgeben konnte. So entstand der Entwurf einer Wissenschafts-Lehre und diese selbst.“ (FiG 1, 63 f.) 46  Eduard Fichte: Johann Gottlieb Fichte. Lichtstrahlen aus seinen Werken und Briefen nebst einem Lebensabriß, 45 f.

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Was können wir den beiden Dokumenten entnehmen? Offenbar läßt sich Henrichs systematisch und kontextuell entwickelte These, daß Fichtes „ursprüngliche Einsicht“ wesentlich die Theorie des Selbstbewußtseins betrifft und über sie „Entdeckung“, Aufbau und Wandel der Wissenschaftslehre zu verstehen sind, nun auch biographisch bestätigen. Was für ein Bild! Mitten im Winter 1793, enttäuscht aus der politischen Kontroverse ins Familienleben zurückgezogen, steht Fichte meditierend, gedankenversunken am warmen Ofen. In aller Abgeschiedenheit, geschützt vor den „scharfen Winden von Zürich“ (GA III / 1, 71), geht ihm das Licht, der Stern seiner Wissenschaftslehre auf, erfaßt ihn die unwiderstehliche Evidenz des „Urgedankens“ seiner Philosophie, das lebendige Prinzip der sich selbsterzeugenden, selbstsetzenden und selbstergreifenden und darin sich ihrer selbstgewissen Thathandlung des „Ich bin Ich“47. Fichte hat seine Wissenschaftslehre in späteren Zeiten gelegentlich mit dem Odium des Eschatologischen umgeben, etwa in der Staatslehre von 1813 (SW IV, 566 ff.), und ihm selbst ist bekanntlich von F. H. Jacobi der „Hoheitstitel“ des „Messias der Juden der spekulativen Vernunft“ verliehen worden. Gehen wir davon aus, daß sowohl in Fichtes Selbstverständnis als auch im allgemeinen Zeitgeist solche Verknüpfungen von philosophischen Positionen und Theoremen mit der Metaphorik biblisch-religiöser Motive durchaus üblich waren – in der Schelling-Fichte-Kontroverse um die Naturphilosophie ist uns ein solches Element eschatologischer Interpretation der Philosophie des Deutschen Idealismus schon begegnet –, so erhält nun auch die Geburtsstunde der Wissenschaftslehre in der Geschichte vom „warmen Winterofen“ ihren heilsgeschichtlichen Ort, nämlich als die „Heilige Nacht“ und „Weihnacht der neueren Philosophiegeschichte“, deren Leitstern im Winter 1793 mit Fichtes Ureinsicht in das Wesen des „Ich bin Ich“ aufgegangen ist und die seitdem das Dunkel der Welt strahlend erhellt und richtungweisend ordnet und erklärt.

47  Neben Henrik Steffens ist auch auf den dänischen Dichter Jens Baggesen als Berichterstatter über die näheren Umstände dieser Entdeckungsgeschichte der Wissenschaftslehre hinzuweisen. Baggesen war 1793 bei Fichte in Zürich, und auch er berichtet in seinen Tagebuchaufzeichnungen und Briefen über die „Stunde Null“, die Entdeckung des Ich als Prinzip der Wissenschaftslehre. Siehe hierzu: Erich Fuchs (Hrsg.): J. G. Fichte. Züricher Vorlesungen über den Begriff der Wissenschaftslehre Februar 1794. Nachschrift Lavater, Neuried 1996, 11–14.



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2. Die andere ursprüngliche Einsicht: „Eine Frühlingsempfindung im Herbst“ Ein ganz anderes Bild vom Ursprung und der „Gesamtidee“ (Lauth) von Fichtes Philosophie erhalten wir, wenn wir uns auf ein Ereignis seiner Biographie beziehen, das weit vor der „Heiligen Nacht“ der Wissenschaftslehre vom Winter 1793 liegt. Es handelt sich dabei um eine Begebenheit, die uns Fichte in der Tagebucheintragung vom 19. September 1789 unter der Überschrift „Eine Frühlingsempfindung im Herbst“ überliefert hat. Mit der „Frühlingsempfindung im Herbst“ und deren folgender „Erklärung“ haben wir wohl die erste Systemskizze zur Wissenschaftslehre vor uns48. Als erste Systemskizze zur Wissenschaftslehre hat die „Frühlingsempfindung im Herbst“ (1789) gegenüber dem „Wintermärchen“ der ursprünglichen Einsicht (1793) drei erhebliche Vorteile. Der erste Vorteil besteht darin, daß man die Eintragung aus dem Tagebuch Zürich (GA II / 1, 209–221) als historisch authentisch ansehen darf. Dagegen gilt, wie W. G. Jacobs zu Recht festgestellt hat, daß den von Eduard Fichte und insbesondere den von Henrik Steffens berichteten Ereignissen aus dem Winter 1793 etwas Legendenhaftes beigemischt ist. Hier ist retrospektiv bereits „ein Stück Wirkungsgeschichte eingeflossen“49. Der zweite, weit bedeutsamere Vorteil der frühen Systemskizze besteht darin, daß sie die in der Forschung inzwischen verbreitete Kritik an der verengten Perspektive auf Fichtes ursprüngliche Einsicht als einer Theorie des Selbstbewußtseins in ihren wesentlichen Argumenten unterstützt. Denn die „Frühlingsempfindung im Herbst“ enthält einen bedeutend weiteren Systembegriff als den, der sich über die Selbstbewußtseinstheorie erschließen läßt. Und drittens stellt uns die Systemskizze einen bemerkenswerten Ansatz zur Theorie der Wechselwirkung zwischen Naturerfahrung und Selbsterfahrung vor, einen Aspekt also, der uns an dieser Stelle besonders interessieren 48  Inwieweit etwa Fichtes Valediktionsrede von 1780 oder die frühen theologischen Schriften (1786) bzw. die Zufälligen Gedanken einer Schlaflosen Nacht (1788) bereits erste Ansätze zu einem genuin Fichteschen Denken enthalten, müßte eigens überprüft werden. 49  W. G. Jacobs: Johann Gottlieb Fichte, Reinbek bei Hamburg 1984, 43. Nicht nur, daß in diesen Bericht die Wirkungsgeschichte der Wissenschaftslehre retrospektiv miteingeflossen ist, auch die wohl nicht nur zufällige Parallele zum Beginn der neueren Philosophiegeschichte bei Descartes ist bemerkenswert. Denn wie Fichte am warmen Ofen das Ich als Prinzip der Wissenschaftslehre entdeckte, so begründete vor ihm Descartes ebenfalls „foco assidere“, im Winterrock vor dem warmen Ofen, den Neuansatz der europäischen Philosophie im „Ich denke“ (René Descartes: Meditationes de Prima Philosophia / Meditationen über die Erste Philosophie, Lateinisch / Deutsch, Stuttgart 1999, 64 f.).

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muß. Denn damit bringt sie uns an den Ausgangspunkt unseres eigentlichen Themas, zu Fichtes Naturbegriff, zurück, von dem die Selbstbewußtseinstheorie und deren winterlicher Ursprungsmythos doch ein gutes Stück weit entfernt sind. Es sei denn, man wollte auch die Selbstbewußtseinstheorie dem im vorherigen ausgeführten erweiterten Naturbegriff zuordnen und sie als Beitrag zu Fichtes Naturphilosophie des Geistes lesen. Zwar enthält auch die Legende des Jahres 1793 naturbezogene Symbolelemente, ja die Erzählung von der „Heiligen Nacht der Wissenschaftslehre“ ist als Ganze in einen Naturzustand, in das Bild einer Winterlandschaft, eingebettet. Assoziationen zur biblischen Weihnachtsgeschichte und deren kosmologischer Heilsbedeutung wären Fichte wohl nicht unwillkommen gewesen. Jedoch sind alle diese naturbezogenen Aspekte hier eher ornamental. Für den Kern der Geschichte spielen sie keine substantielle Rolle. Das ist in der Tagebucheintragung „Frühlingsempfindung im Herbst“, wie wir sogleich sehen werden, ganz anders. Sie durchzieht ein echtes Wechselwirkungsverhältnis zwischen Natur- und Selbsterfahrung, und zwar im Rahmen eines singulären Offenbarungserlebnisses. Denn blieb den Zuhörern der Entdeckungsakt des „Ich = Ich“ im „Wintermärchen“ verborgen, blieb dort das evidentielle Ergriffenwerden vom Urgedanken der Wissenschaftslehre Geheimnis, so läßt uns die Tagebucheintragung vom 19. September dagegen am Ursprungsaugenblick des Systemgedankens der Wissenschaftslehre unmittelbar teilhaben. Und dieser Augenblick erschließt uns nicht nur die Weite des Systemgedankens der Gesamtidee der Philosophie Fichtes, sondern er gestattet uns zugleich den intimen Einblick in eine Naturbeziehung Fichtes, die in der Erforschung seiner Naturphilosophie bisher überhaupt noch keine Rolle gespielt hat, deren starker, untergründiger Einfluß gleichwohl nachweisbar ist, nämlich Fichtes Naturerlebnis und Naturerfahrung. Als den Ausgangspunkt der deutschen Romantik, die Entdeckung der Natur und ihr folgend die spekulative Naturphilosophie, kann man die Wandertagebücher Ludwig Tiecks und Wilhelm Heinrich Wackenroders ansehen. In ihnen und etlichen Briefen schildern die beiden in Erlangen studierenden Berliner schwärmerisch die Eindrücke ihrer Pfingstreise durch die Fränkische Schweiz aus dem Jahre 1793. Auch Fichte führte, wenn auch später, auf der Suche nach einer Anstellung notgedrungen ein intensives Wanderleben. So hat er die Strecke Leipzig–Zürich gleich zweimal und die Strecke Leipzig–Warschau einmal zu Fuß hin und zurück erwandert, gerne auch abseits der Hauptrouten. Das waren Monate, die, wie bei Tieck und Wackenroder, auch auf ihn nicht ohne Eindruck geblieben sind. Denn in Fichtes Briefen und Tagebüchern sind uns Naturerlebnisse überliefert, die seine später spekulativ gewonnenen Naturbetrachtungen wohltuend konterkarie-



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ren. Erwähnt seien seine Berichte über „die unbeschreibliche Schönheit des Rheinfalls von Schaffhausen“, über die „therapeutische“ Wirkung „starker Fußreisen“ als Mittel gegen seinen Hang zur „Hypochondrie“, sein „Hinausstürmen in die Natur“ sowie über die wohltuenden Abendspaziergänge im Park von Leipzig oder sein Urteil über die Labsal der Natur als „Fluchtraum vor der öden Geselligkeit“. Es ist ein ebensolches Naturerlebnis, das auch dem Entstehen der ersten Systemskizze der Wissenschaftslehre zugrunde liegt: Fichtes Eintragung im Tagebuch Zürich über den Zeitraum vom 11. bis zum 19. September 1789. Die Szenerie: Fichte hatte zwischen dem 11. und dem 19. September, wie er schreibt, eine „Woche unter Hypochondrie wegen schlechten regnichten, u. kalten Wetters, u. mannigfaltiger Verdrießlichkeit zugebracht“ (GA II / 1, 219 f.). Zu diesen Verdrießlichkeiten zählten Fichtes mehr oder weniger tägliche und zum Teil heftige Auseinandersetzungen mit seinem damaligen Arbeitgeber, den Herrschaften Anna und Antonius Ott, deren Kinder, Kaspar und Susanne, Fichte zur Erziehung anvertraut waren. So notiert Fichte am 11. September in sein Tagebuch: „[…] es setzte von beiden Seiten Bitterkeiten, die seit dem ununterbrochen fortgehen. Man wird mich wieder in Harnisch jagen“ (ebd.). Aber nicht nur mit Otts, sondern auch mit seinem zukünftigen Schwiegervater, dem Waagemeister Johann Hartmann Rahn, gab es gelegentlich Scharmützel, allerdings thematisch ganz anders gelagerte, nämlich theologisch-literarische. So auch bei diesem anhaltend schlechten Wetter am Sonnabend, dem 12. September 1789. Im Züricher Tagebuch lesen wir: „[…] ging […], wie gewöhnlich, in die Abendgesellschaft zu H[errn] Wagenmeister Rahn, u. gerieth mit ihm in einen Streit über die Wirkung der Orthodoxie in Klopstoks Meßiade: versprach meine Gedanken darüber aufzusetzen, u. werde es thun“ (ebd.). Fichtes verschriftlichte Gedanken zu Klopstocks Messias sind uns als Anmerkungen zu den Oden Klopstocks erhalten (GA II / 1, 244 ff.). All diese zwischenmenschlichen Verstimmungen umrahmt ein naßkaltes Wetter, das das Seine zu Fichtes „Hypochondrie“ in diesen Tagen hinzutut. 17. September: „Nachmittags, im Verdruß über das schlechte Wetter besuchte ich H[errn Pfarrer] Escher“ (ebd.). Doch trotz der anhaltend schlechten inneren und äußeren Lage bahnt sich bei diesem Besuch des Züricher Pfarrers ein erster Stimmungsumschwung bei Fichte an. Der Anlaß dieser Veränderung in Fichtes Gemüt ist der Bericht des Pfarrers über eine vakante „französische Feldprediger=Stelle“ im 1747 von den Franzosen eingenommenen „Berg[en]=op=Zom“ in den Niederlanden (ebd., 220). Pfarrer Escher kommt in diesem Gespräch auf Fichte und schlägt ihm vor, dem mit der Angelegenheit betrauten Jean-François-Aimé-Philippe Gaudin zu schreiben, um sein

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Interesse an dieser Stelle anzumelden. Im Tagebuch vom 17. September schreibt Fichte: „Ich ergreife diesen Gedanken mit meiner ganzen Wärme.“ Und „noch diesen Abend, u. den anderen Tag“ schreibt er „einen französischen Brief an H. Gaudin“. Am Samstag, dem 19. September, geht der Brief „im Einschluß des Herrn Eschers“ nach Bergen op Zoom ab. In der Hoffnung auf eine neue Stelle, die ihn nicht nur aus den mißlichen, oft deprimierenden Verhältnissen des Ottschen Hauses befreien, sondern ihn vielmehr in die greifbare Nähe zu seinem eigentlichen Berufswunsch, dem eines politisch ambitionierten Predigers und Redners, bringen würde – „Gelehrter von Metier“ wollte Fichte ja eigentlich nicht werden –, tut Fichte nun am Samstag, dem 19. September 1789, etwas, was er immer schon gerne getan hat und auch in Zukunft weiterhin mit Vergnügen tun wird: Er geht spazieren. Vom jungen Fichte aus seiner Zeit in Rammenau und auch aus seiner Schulzeit wissen wir, daß der Aufenthalt im Freien, am See, in Feld, Wald und Flur, seine Flucht aus den feuchten Mauern des Internats, sein Traum vom Robinson Crusoe auf der einsamen Insel usw. – daß das feste Bestandteile seines Lebensgefühls und seiner Lebensgewohnheiten waren. Fichte hat das Freie und Weite gesucht, sooft er dafür Zeit fand oder ihn die Enge des gesellschaftlichen und häuslichen Lebens dazu trieb. So nun auch an diesem herbstlichen Samstagnachmittag des Jahres 1789. Der Bewerbungsbrief ist nach Bergen op Zoom abgeschickt, das Wetter klart auf und wird zusehends heiterer und wärmer, und den noch vor wenigen Stunden so reizbaren und übellaunigen jungen Hauslehrer finden wir nun in ausgeglichener Stimmung lustwandelnd am Ufer des Züricher Sees50. Und hier nun überkommt ihn – nicht wie im Winter 1793 am Ofen eine Erkenntnis –, sondern hier durchströmt ihn eine Empfindung, eben die bereits genannte „Frühlingsempfindung im Herbst“. Schon diese Überschrift zur Tagebuchnotiz zeigt an, daß sich das, was sich hier ereignet, existentiell auf anderen Ebenen vollzieht als die aus meditierender Versunkenheit gewonnene, rein spekulative Erkenntnis der Subjekt-Objekt-Identität der Tathandlung. „Frühlingsempfindung im Herbst“ ist eine ganzheitliche Selbst­ erfahrung mit allen Sinnen sozusagen, die, wie die folgende Erklärung derselben zeigt, Fichtes philosophisches Lebenswerk auf einen anderen, breiteren und festeren Grund stellt als den, den die spekulative Einsicht in das 50  Nicht nur für die Geburtsstunde der Wissenschaftslehre ist der Züricher See ein bedeutender Ort, sondern hier, am See entlang, führt auch der Weg nach Rapperswil, dem zwischenzeitlichen Wohnsitz Heinrich Pestalozzis, den Fichte dort des öfteren und längeren besucht hat. Dort haben beide über das Projekt einer Volks­ erziehung diskutiert, ein Projekt, das bei Fichte, über mehrere Stufen seiner Entwicklung, schließlich – unter ausdrücklicher Erwähnung Pestalozzis – in den großen erziehungs- und geschichtsphilosophischen Entwurf der Reden an die Deutsche Nation einmündet.



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Wesen des Selbstbewußtseins, bei aller ihr zuzusprechenden Evidenz, anzubieten vermöchte. „Eine Frühlingsempfindung im Herbst. Erklärung davon. [Erster] Schluß. – Eintheilung der Wahrheiten der menschl. Erkenntniß. Es war einige Tage sehr kalt gewesen, jezt wurde es wärmer, in den Nachmittagsstunden, meine Empfindung thauete auf, u. besonders zeigte sich, indem ich über den See sahe: meine Ausbreitungs[-], Aventürensucht in ihrer ganzen Stärke. Diese liegt also ohne Zweifel in Erwärmung u. Ausdehnung des Bluts, nach großer Kälte, u. Erstarrung. – – Ich ergriff diesen Gedanken mit einer so großen Wärme, und als einen Schaz. – Durch Raisonnement hätte ich wohl auch auf ihn kommen können, aber ich würde ihn nicht so stark gefühlt haben. Er fing so gleichsam eine neue Gedankenreihe in meiner Seele an, zeigte ihr einen neuen Schaz, u. das machte mir so wohl.. – – Ein zweiter Schluß daraus fürs Leben: Ich weiß meine Unentschlossenheit, meine Trägheit, meine Aufschiebesucht, im Winter. – ich muß die wichtigsten Geschäfte meines Lebens im Frühling, u. im Sommer machen, da ich Geist, Muth und Feuer genug habe.“ (ebd.)

Nähern wir uns der Bestimmung der Frühlingsempfindung, so ist zunächst auffällig, daß Fichte sie mit einem Rückblick auf den Zustand, in den sie hineinbricht und den sie beendet, beginnt. Die seit Wochen dauernde gedrückte bis gereizte Stimmung, das naßkalte Herbstwetter, der nahende Winter, die Trostlosigkeit seines beruflichen und gelegentlich auch sozialen Umfelds – mit einem Mal wird dieses düstere Szenario von einem Hoffnungsstrahl, einer freudigen Aussicht auf eine bessere Zukunft und von der Heiterkeit eines frühlingshaften Sonnentages am Züricher See erhellt und erwärmt. Die sich mehr und mehr verdichtende Erstarrung und Verfinsterung seines Lebens löst sich auf, das schon deutlich spürbare Ende des Jahres, das Mensch und Natur erfassende Versiegen der Lebenskräfte wird zurückgedrängt, die Trauer verfliegt, und Fichte taucht ein in die sonnige Wärme eines überraschend noch einmal erwachenden Frühlings am Züricher See. Die Schilderung der „Frühlingsempfindung im Herbst“ bliebe Anekdote, hätte Fichte diesen Umbruch seiner gesamten Stimmungslage nicht einer reflektierenden Betrachtung unterzogen. Und deren Aspekte sind es, die nicht nur nicht weniger substantiell sind für das Wesen seiner Philosophie als die Einsichten aus dem „Wintermärchen vom warmen Ofen“, sondern die „Episode vom Züricher See“ greift sogar weiter und erfaßt dabei tiefere Schichten des Fichteschen Denkens als die spekulative Erkenntnis über das Wesen des Selbstbewußtseins. Denn das, was auf die Überschrift als „Erklärung“ folgt, ist nichts weniger als die Skizze und das Programm zur „Gesamtidee“ (Lauth) von Fichtes späterer Wissenschaftslehre, die eben

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nicht nur „ursprüngliche Einsicht“ und von ihr her entwickelte Architektur einer transzendentalen Theorie des Wissens ist, sondern die darüber hinaus Philosophie des Gefühls, der Ästhetik und des Lebens, mit einem Wort: Weisheitslehre zu sein beansprucht. So angenehm die „Frühlingsempfindung im Herbst“ auch gewesen sein mag, Fichte hat sich ihr nicht einfach überlassen, sondern nach einer „Erklärung“ für diesen anachronistischen Zustand gesucht und die Erklärung dieser Empfindung in zwei „Schlußreihen“ mit je einer Konklusion durchgeführt. Der ersten Schlußreihe zur „Erklärung“ der herbstlichen Frühlingsempfindung hat Fichte eine Überschrift gegeben, die in programmatischer Hinsicht für sich spricht. Sie lautet: „Eintheilung der Wahrheiten der menschl[ichen] Erkenntniß“ (ebd.). Offenbar hatte Fichte hier vor, im Ausgang von oder noch im Zustand der Frühlingsempfindung die mit dieser verbundenen oder auf sie zu beziehenden „Wahrheiten der menschlichen Erkenntnis“ zu kategorisieren und einzuteilen. Und wir sehen im weiteren, daß eine solche Strukturskizze von wahrheitstheoretisch relevanten Gesichtspunkten auch tatsächlich ausgeführt wird. Der erste Analyseschritt und Ausgangspunkt ist die bereits beschriebene „biographisch-klimatische“ Situation und deren Umbruch am 19. September. Fichte schreibt: „Es war einige Tage sehr kalt gewesen, jezt wurde es wärmer, in den Nachmittagsstunden, meine Empfindung thaute auf“ (ebd.). Als erstes Erklärungsmoment führt uns Fichte die später zur Perfektion gesteigerte dialektische Methode der Wahrheitsermittlung durch Entgegensetzung vor. Die Intensität der Frühlingsstimmung beruht, so seine Erklärung, auf der Entgegensetzung und der Erinnerung ihrer Gegenstimmung. Determinatio est negatio. Bestimmung geschieht durch Negation. Ich ist, was das Nicht-Ich nicht ist, und vice versa. Aber zur positiven Qualifizierung der Frühlingsempfindung und zu deren Erklärung reicht eine Bestimmung ex negativo nicht aus. Und so bringt Fichte als zweites Erklärungsmuster ein anderes, ein ästhetisches Motiv ins Spiel, das die Frühlingsempfindung in ihrer Qualität näher zu bestimmen in der Lage ist. Es ist das Erklärungsmuster der Wechselwirkung, das, ästhetisch gewendet, das Korrespondenzverhältnis zwischen Landschaftsanblick und Selbsterfahrung beschreibt51. Fichtes 1793 in der Practischen Philoso51  Diesen ästhetischen Aspekt von Fichtes Naturverständnis haben wir im zweiten Teil unserer Abhandlung unter dem Stichwort „das Intelligible in der Natur“ behandelt und dabei insbesondere auf den gegenüber dem Erkenntnis- und praktischen Trieb vorrangigen ästhetischen Trieb verwiesen, über den Fichte im zweiten und dritten Brief seiner Schrift Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie (GA I / 6, 338 ff.) gearbeitet hat.



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phie entwickelte Ästhetik, die auf den Überlegungen seiner Valediktionsrede von 1780 beruht, bestimmt dieses Korrespondenzverhältnis näherhin so: Das ästhetische Urteil beruht auf der Förderung oder Beeinträchtigung, die ein äußerer Anblick auf unsere Selbstwahrnehmung ausübt. Schön sind solche Dinge, die von außen her unsere Seelenkräfte in Einklang bringen und damit eine dem Ich gemäße Ganzheitserfahrung vermitteln, und umgekehrt begründet eine Minderung unserer Selbsterfahrung durch äußere Umoder Gegenstände das Urteil der Häßlichkeit52. Dieses ästhetische Prinzip kommt in der Erklärung der Frühlingsempfindung am Züricher See nun bereits eindrucksvoll zum Ausdruck, denn Fichte schreibt: „besonders […] indem ich über den See sahe: [zeigte sich] meine Ausbreitungs[-] und Aventurensucht in ihrer ganzen Stärke“ (ebd.). Der Blick über den See wird Fichte hier zum Sinnbild der Selbsterfahrung der „Zentrifugalkraft“ seines Ich, er wird zum Sinnbild des schrankenlosen Ausdehnungstriebs der das Ich charakterisierenden Setzungskraft. Der Anblick des Sees wird zum Sinnbild des philosophischen Abenteuers der IchPhilosophie der Wissenschaftslehre53. Der näheren Bestimmung dieser Ich-Erfahrung als „Sucht der Ausbreitung und des Abenteuers“ wohnt das Moment des Unbedingten, des Unbeherrschbaren und Triebhaften inne, ein unbedingtes Streben also. Hier, am Züricher See, erhält diese existentielle Grunderfahrung ihre Erklärung aus der aktuellen Situation und der durch sie hervorgerufenen Befindlichkeit des Philosophen. In seiner Religionslehre von 1806 begegnet uns die Grund­ erfahrung der „Ausbreitungs[-] und Aventurensucht“ dann systematisch reflektiert und ausgearbeitet wieder, als die „Sehnsucht nach dem Ewigen“ (GA I / 9, 59 f.). Der dritte Schritt der Erklärung der „Frühlingsempfindung im Herbst“ führt nun zur Vorbereitung der ersten Schlußfolgerung. Diese beruht auf einer für Fichte vielleicht und nur auf den ersten Blick ungewöhnlichen physiologischen Synthesis. Fichte erklärt nämlich, daß die über den Anblick 52  Vgl.: Traub: „Über die Pflichten des ästhetischen Künstlers“, in: FS 27 (2006), hier insbesondere: 67–81. 53  Friedrich Nietzsche wird das Sinnbild vom offenen Meer später ebenfalls zum Ausgangspunkt für eine neue, „Die Fröhliche Wissenschaft – La gaya scienza“ (1882) machen. Ein Neuansatz der Wissenschaft, in der erklärt wird, „was es mit unserer Heiterkeit auf sich hat“. Auch die Christliche Heilsgeschichte beginnt am Ufer eines Sees. Der See Genezareth ist Ausgangspunkt des „Menschenfischzugs“ und der „Frohen Botschaft“ des Christentums (Markus 1,16 ff.). In der östlichen Symbollehre ist der See der Ort, der nach oben offen ist, der Ort der Heiterkeit, in dem sich das Himmlische im Irdischen spiegelt. Er ist das Bild des Ewigen, das hier im Endlichen bildhaft anwesend ist (I Ging – Das Buch der Wandlungen, Düsseldorf / Köln 1972).

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des Sees vermittelte und hervorgerufene Selbsterkenntnis der eigenen „Ausdehnungs[-] und Aventurensucht in ihrer ganzen Stärke“ nicht unmittelbar, sondern durch die Vermittlung des Leibes erfolgte. „Diese [Stärke der Selbsterfahrung]“, so heißt es, „liegt […] ohne Zweifel in [der] Erwärmung und Ausdehnung des Bluts, nach großer Kälte, u. Erstarrung“ (GA II / 1, 220). Daß Fichte hier eine ihm wichtige Synthesis liefert, betont er dadurch, daß er die Worte „Diese liegt“ und „in Erwärmung des Bluts“ sowie das Wort „Kälte“ in der Tagebucheintragung unterstrichen hat. Erst dieser komplexe Kontext von Wechselwirkungsbeziehungen zwischen dem situativen Zustand, der Korrespondenz von Außen- und Innenwahrnehmung sowie deren Fundierung am und im eigenen Leib bildet nun eine sichere Grundlage für eine erste schlußfolgernde Erklärung seiner Frühlingsempfindung im Herbst. Fichte schreibt: „Ich ergrif diesen [jetzt alle wichtigen Elemente versammelnden] Gedanken mit einer so großen Wärme, u. als einen Schaz“ (ebd.). Jedoch: Fichte wäre nicht Fichte, wenn auch dieses zunächst zufriedenstellende Ergebnis nicht noch einmal reflexiv eingeholt würde und die in ihm versammelten Elemente, sowie das Reflexionsverfahren selbst, einer qualitativen Analyse unterzogen würden. Und diese die gesamte Erfahrung in den Blick nehmende Reflexion fördert zwei weitere systemrelevante Merkmale Fichteschen Denkens zu Tage. Auf den sachlichen Gehalt des Gedankens einer Wechselwirkung von äußerer und innerer Erfahrung, den die Frühlingsempfindung im Herbst als Einheit umfaßt, hätte Fichte, so seine Überlegung, auch „durch Raisonnement kommen können“ (ebd.). Das bedeutet, Fichte hätte sich auch denken können, daß bei einem Wesen, das über seine Sinne die Außenwelt wahrnimmt, diese Wahrnehmung zugleich und in eins: Gegenstands- und Selbsterkenntnis, Subjekt- und Objektbewußtsein hervorbringt und daß dieser Zusammenhang als ein über den Leib vermittelter hergestellt wird. Kant hat diesen Zusammenhang in der Kritik der reinen Vernunft die „Synthesis der Apprehension“ genannt, das heißt „die Zusammensetzung des Mannigfaltigen in einer empirischen Anschauung […], dadurch Wahrnehmung, d. i. empirisches Bewußtsein derselben […] möglich ist“54. Insofern stimmt es, Fichte hätte, wie Kant, den sachlichen Gehalt seiner Frühlingsempfindung auch durch Raisonnement auseinandersetzen und abklären können. Aber nun kommt ein Element ins Spiel, das Fichte nicht nur von Kant, sondern von aller Verstandesphilosophie unterscheidet. Denn selbst 54  Kant: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften / Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin / Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin / New York 1900 ff. Im folgenden mit AA abgekürzt und mit Bandangabe in lateinischen Ziffern angegeben, hier: AA III, 124.



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wenn er „durch Raisonnement“ auf den Gedanken der Wahrnehmungssynthesis hätte kommen können, wie er sagt, so würde er diesen Gedanken „nicht so stark gefühlt haben“ (GA II / 1, 220). Der qualitative Unterschied zwischen einem wirklich vollzogenen und einem durch theoretische Analyse hervorgebrachten Gedanken ist somit der des Gefühls. Das heißt, das Moment der Gewißheit und Evidenz eines Gedankens beruht demnach nicht allein auf dessen rationaler Binnenstruktur, sondern auf seiner affektiven Substruktur. Wahrheit ist in ihrem „natürlichen Erscheinen“ in erster Linie nicht, und schon gar nicht allein, ein Problem der Logik, sondern vor allem ein Gegenstand des Gefühls, des Wahrheitsgefühls, wie Fichte das später nennen wird. Die Entdeckung der affektiven Tiefenstruktur und deren produktiver Verknüpfung mit der synthetischen Wechselwirkungsbeziehung von Außen- und Innenwahrnehmung, vom Anblick der Weite des Züricher Sees und des existentiellen Einblicks in das Wesen seiner eigenen „Ausdehnungs[-] und Aventürensucht“ stößt, wie Fichte im Tagebuch festhält, „gleichsam eine neue Gedankenreihe in [s]einer Seele an, zeigte ihr einen neuen Schaz“55. Eingebunden in den Wechsel des Wetters, am Ende einer Tiefphase seines Lebens, in einer sonnigen und warmen Nachmittagsstunde am Züricher See entfaltet sich im Einklang der äußeren und inneren Natur, ihrer affektiven, physischen und geistigen Selbstwahrnehmung, eine existentielle Grund­ erfahrung und -einsicht, die für das Anliegen und Verständnis von Fichtes Wissenschaftslehre von fundamentaler und maßgeblicher Bedeutung sein wird. Nämlich, daß die Wissenschaftslehre nicht allein das Wissen begrün55  Es ist daher nicht verwunderlich, daß bereits Fichtes erste Publikation zur Wissenschaftslehre, die Begriffsschrift von 1794 sowie deren erste private Vorlesung vom Februar 1794 (GA I / 2, 134 und Fuchs (Hrsg.): Züricher Vorlesungen über den Begriff der Wissenschaftslehre, 157 f.) hervorheben, daß der „menschliche Geist […] Anfangs durch dunkle Gefühle geleitet wird“. In der WLnm (1798 / 99) kündigt Fichte dann „das System alle[r] Gefühl[e] APRIORI“ (GA IV / 2, 66) an. In den Rückerinnerungen (1799) wird diese Ankündigung noch einmal aufgegriffen und dadurch verstärkt, daß Fichte nun grundsätzlich erklärt: „Unsere Philosophie macht […] das System der Gefühle und des Begehrens zum Höchsten und läßt der Erkenntnis überall nur das Zusehen. […] Nur das Unmittelbare ist daher wahr, das vermittelte nur, insofern es sich auf jenes gründet; darüber hinaus liegt das Gebiet der Chimären und Hirngespinste“ (GA II / 5, 137 f.). Und schließlich entwickelt dann der zweite Teil der Anweisung zum seeligen Leben (1806; siebte bis elfte Vorlesung) die Lehre von den Grundaffekten der Weltanschauungen (GA I / 9, 175 ff.). Über die fundamentale Bedeutung des Gefühls in der Philosophie J. G. Fichtes vgl.: Petra Lohmann: Der Begriff des Gefühls in der Philosophie J. G. Fichtes, Amsterdam 2004 [Reihe = Fichte-Studien-Supplementa, Bd. 18] und Traub: J. G. Fichtes Populärphilosophie, 249–287, sowie Oesterreich / Traub: Der ganze Fichte, darin u. a. „Liebe, Sein und Leben. Vom inneren Wesen der Wissenschaftslehre“ und „Von den Grundaffekten des Daseins“, 224–242 und 319–328.

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den, sondern „einen neuen Menschen […] gebähren und das alte Wesen ganz um[…]schaffen“ will (GA II / 11, 267). Diesen Grundzug seiner späteren Philosophie in nuce und als einen Schatz erfaßt zu haben und von ihm aus eine „neue Gedankenreihe“ anzufangen, das ist es, was Fichte in der Episode am Züricher See „so wohl“ sein ließ. Aber, trotz aller Wohligkeit dieser Frühlingsempfindung und trotz aller ihrer vermeintlichen komplexen systematischen Bedeutung, so könnte als kritischer Einwand noch eingeworfen werden, es fehle doch ein entscheidendes Motiv des Fichteschen Denkens: das Sollen, der Aufruf an die Freiheit, die ethische Dimension und der Blick auf die Praxis. So ist es auch. Allerdings hat Fichte diese Dimension in der Episode vom Züricher See keineswegs übersehen. Sondern sie ist der Gegenstand des „zweiten“ Schlusses der Tagebucheintragung. In diesem Schluß geht es um das zentrale Anliegen Fichtes: Erkenntnisse auf das Leben anzuwenden. Es geht um das Thema der angewandten Philosophie, um den Einfluß des Wissens auf das Leben, um das, was später in striktem Sinne Fichtes Weisheitslehre ausmacht: die „stets gegenwärtige, u. nie uns von der Hand weichende Kunst“ der Vermittlung „von übersinnlicher und sinnlicher Welt“ (GA II / 10, 115)56. Voraussetzung einer erfolgreichen „Applikation des Wissens auf das Leben“57 ist die empirische Analyse der Bereiche und Zustände des persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Lebens, auf die das philosophische Wissen übertragen werden oder in die es Eingang finden soll: die Erhebung des Ist-Zustandes. Exemplarisch sei hier an Fichtes „philoso­ phisch-therapeutische“ Vorlesungen über die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters erinnert, die zunächst eine ausführliche Diagnose des ökonomiebesessenen Zeitgeistes vornehmen, um daran einen Therapieplan anzuknüpfen, der im großen Volkserziehungsprojekt der Reden an die deutsche Nation seinen konzeptionellen Abschluß und pragmatischen Höhepunkt gefunden hat; einen Höhepunkt und eine Ausdehnung, über die vielleicht nur noch die „Eschatologie“ der sogenannten Staatslehre von 1813 (SW IV) hinausreicht. So weit sind Fichtes Pläne am Züricher See noch nicht gediehen. Pädagogisch steht vor allem seine nähere Bekanntschaft mit Pestalozzi und reli­ gionsphilosophisch und universalgeschichtlich seine Kontroverse mit Jacobi und Schelling noch aus. Der Gegenstand der Analyse einer zweckmäßigen Anwendung seiner Frühlingsempfindung im Herbst ist also weder ein gesellschaftlicher noch 56  Vgl.

81 ff.

„Die Kunst des Philosophierens“, in: Oesterreich / Traub: Der ganze Fichte,

57  Zum Begriff und Problem der Applikation vgl. Joachim Widmann: Johann Gottlieb Fichte, Berlin / New York 1982, 85–266, und „Vollendung der Transzendentalphilosophie“ in: Oesterreich / Traub: Der ganze Fichte, 168–179.



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ein kulturpolitischer, es sind nicht die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, sondern es sind die „Grundzüge seines eigenen Charakters“, um deren Diagnose es Fichte am 19. September 1789 geht. „Ausdehnungs[-] und Aventürensucht“ hat uns der Philosoph schon als einen Grundzug seines Charakters offenbart. Zum Vorschein kam er durch den unerwarteten Umschwung vom naßkalten Herbst zum sonnig-warmen Frühlingswetter am Züricher See. In der Reflexion auf eine lebensbezogene Anwendung der aus dieser Erfahrung hervorgebrachten Erkenntnis offenbart sich nun ein zweiter charakterlicher Grundzug Fichtes58. Denn er gesteht sich ein: „Ich weiß um meine Unentschlossenheit, meine Trägheit, meine Aufschiebesucht, im Winter“ (ebd., 220). Wieder eine Sucht, wieder eine quasi-notwendige Wechselwirkung zwischen innerer und äußerer Erfahrung, zwischen innerer und äußerer Natur. Beide, die Frühlings- und die Wintererfahrung, inklusive ihrer Wirkung auf seine charakterlichen Grundzüge, aufeinander beziehend kommt Fichte zu dem Schluß, den er in einer pragmatischen Regel und echten Maxime im Sinne der Kantischen Ethik formuliert. „Ich muß also die wichtigsten Geschäfte meines Lebens im Frühling, u. Sommer machen, da ich Geist, Muth, u. Feuer genug habe“ (ebd.). Nehmen wir nun alle Elemente unserer Analyse von Fichtes TagebuchEintragung zusammen, so stellt sich in der „Episode vom Züricher See“ und deren Reflexion der Grundriß zu einem philosophischen System dar, der in erstaunlicher Präzision und Konkretion diejenigen Charakteristika enthält, die Fichtes Philosophie in besonderer Weise und spezifisch gegenüber den Systemen seines geistesgeschichtlichen Kontextes auszeichnen. Und es ist gerade die Konzentration, in der diese Aspekte hier versammelt sind, die die Möglichkeit bietet, den systematischen Kontext zu erkennen, innerhalb dessen die später oft weit auseinander treibenden Systemteile stehen. Und das gilt insbesondere für Fichtes facettenreiches philosophisches und biographisches Verhältnis zur Natur. Bibliographie Becker, Hans-Joachim: Fichtes Idee der Nation und das Judentum, Amsterdam / New York 2000 [= Fichte-Studien-Supplementa, Bd. 14]. Carvalho, M. Jorge de: „Reflexion und Reflexibilität“, in: Fichte-Studien 28 (2006), 187–204. Descartes, René: Meditationes de Prima Philosophia / Meditationen über die erste Philosophie, Lateinisch / Deutsch, Stuttgart 1999. 58  Das Prinzip der „Selbstprüfung“, als zentrales Instrument der Übersetzung von gewonnenen Einsichten in reale Handlungen, hat Fichte später u. a. in der Schrift Ascetik als Anhang der Moral (GA II / 5, 59–76) systematisch erörtert und dargestellt.

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Fichtes Begriff der Natur131 GA II / 5 (Nachgelassene Schriften 1796–1801), Stuttgart / Bad Cannstatt 1962 ff., 97–186.

– Darstellung der Wissenschaftslehre. Aus den Jahren 1801 / 1802, in: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth und Hans Jacob, GA II / 6 (Nachgelassene Schriften 1800–1803), Stuttgart / Bad Cannstatt 1962 ff., 107–324. – „Versuch, ob sich für die Vorbereitung aus der Unterscheidung des dunklen Gefühls, und der klaren Erkenntnis etwas machen lasse“, in: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth und Hans Jacob, GA II / 11 (Nachgelassene Schriften 1807–1810), Stuttgart / Bad Cannstatt 1962 ff., 263–281. – „Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten“, in: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth und Hans Jacob, GA II / 12 (Nachgelassene Schriften 1810–1812), Stuttgart / Bad Cannstatt 1962 ff., 309–420. – „Brief an C. L. Reinhold in Kiel“, in: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth und Hans Jacob, GA III / 1 (Briefwechsel 1796–1799), Stuttgart / Bad Cannstatt 1962 ff., 68–73. – Die Wissenschaftslehre nach den Vorlesungen von Hr. Pr. Fichte, in: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth und Hans Jacob, GA IV (Kollegnachschriften 1796–1804), Stuttgart / Bad Cannstatt 1962 ff., 1–268. Fichte, Eduard: Johann Gottlieb Fichte. Lichtstrahlen aus seinen Werken und Briefen nebst einem Lebensabriß, Leipzig 1863. Fuchs, Erich (Hrsg.): Fichte im Gespräch, Bd. 5, Stuttgart / Bad Cannstatt 1978 ff. – J. G. Fichte. Züricher Vorlesungen über den Begriff der Wissenschaftslehre Februar 1794. Nachschrift Lavater, Neuried 1996. Girndt, Helmut: „Über den Umgang mit der empfindungsfähigen Natur nach J. G. Fichte“, in: Albert Mues (Hrsg.): Transzendentalphilosophie als System, Hamburg 1989, 134–146. – „Die fünffache Sicht der Natur im Denken Fichtes“, in: Fichte-Studien 1 (1990) 108–120. Gloy, Karen: „Die Naturauffassung bei Kant, Fichte und Schelling“, in: FichteStudien 6 (1994) 253–275. Heintel, Erich: „Das fundamentalphilosophische Problem von Transzendentalphilosophie und Naturphilosophie“, in: K. Hammacher (Hrsg.): Der transzendentale Gedanke, Hamburg 1981, 421–436. Henrich, Dieter: „Fichtes ursprüngliche Einsicht“, in: Subjektivität und Metaphysik, Festschrift für W. Cramer, Frankfurt a. M. 1966, 188–232. Hoffmann, Thomas Sören: „,… eine besondere Weise, sich selbst zu erblicken‘. Zum systematischen Status der Natur bei Fichte“, in: Fichte-Studien 24 (2003) 1–17. Jacobs, W. G.: Johann Gottlieb Fichte, Reinbek bei Hamburg 1984.

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Fichtes Naturlehre in der Sicht von Reinhard Lauth1 Marco Ivaldo I. Die Naturlehre Fichtes von Reinhard Lauth: Bedeutung einer Darstellung In seinem 1984 erschienenen Werk Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre2 geht Reinhard Lauth von dem aus, was er als „ein altes Dictum“ bezeichnet, welches die Sekundärliteratur über Fichtes Philosophie „weithin durchzieht“ (XIII), nämlich, daß die Wissenschaftslehre keine Naturphilosophie habe, oder wenigstens, daß Fichte keine Naturphilosophie ausgearbeitet hätte. Gegen dieses Diktum, ja diesen Gemeinplatz, der auf Urteile – oder Vorurteile – Schellings und Hegels zurückzuführen ist, beabsichtigt Lauth in diesem Buch, das die Forschungsergebnisse einer langjährigen Arbeit an den veröffentlichten und nachgelassenen Werken3 Fichtes zusammenfaßt und systematisch darlegt, die grundlegende These zu vertreten und nachzuweisen, daß Fichte „umfassend über die Möglichkeit und die Grundform der Natur reflektiert“ habe und in seiner Wissenschaftslehre eine „allgemeine Naturphilosophie […] in erstaunlicher Konsequenz und Geschlossenheit […], wenn auch nicht in einer einzigen Schrift behandelt“ vorliege (XV). Bereits der Titel des Lauthschen Werkes – Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre – ist m. E. beachtens1  Für die wertvollen Sprachverbesserungen bin ich Herrn Prof. Dr. Helmut Girndt herzlich dankbar. 2  Reinhard Lauth: Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, Hamburg 1984. Im Haupttext werden die Seiten aus diesem Werk unmittelbar nach einem Zitat oder einer einschlägigen Passage in Klammern angegeben; in den Anmerkungen wird das Werk mit TN abgekürzt. 3  Das Wesentliche der Fichte-Interpretation Lauths befindet sich – abgesehen von dem Werk zur Naturlehre – in folgenden Bänden (von den zahlreichen Einzelartikeln wird hier abgesehen): Zur Idee der Transzendentalphilosophie, München / Salzburg 1965; Hegel vor der Wissenschaftslehre, Mainz 1987; Transzendentale Entwicklungslinien von Descartes bis zu Marx und Dostojewski, Hamburg 1989; Vernünftige Durchdringung der Wirklichkeit. Fichte und sein Umkreis, München / Neuried 1994; Con Fichte, oltre Fichte, hrsg. von Marco Ivaldo, Turin 2004 (Originalausgabe auf Italienisch); Schelling vor der Wissenschaftslehre, neue, völlig überarbeitete Auflage, München 2004.

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wert, da er die interpretatorische Hauptintention des Verfassers deutlich und markant wiedergibt. Erstens ist die Ähnlichkeit mit zwei Titeln aus den Jenaer Jahren: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1796–1797) und Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre (1798) unüberhörbar. Lauth hat vor, die Naturlehre als Teildisziplin der Wissenschaftslehre – also: aus deren Prinzipien – zu entfalten, d. i. die Teildisziplin, die im Unterschied zur Rechtslehre, zur Sittenlehre und – wenn man den Untertitel der Anweisung zum seeligen Leben (1806) mit berücksichtigt4 – zur Religionslehre als einziges Werk nicht vorliegt, selbst wenn sie – dem Verfasser zufolge – in ihren Grundprinzipien und -begriffen in den Fichteschen Schriften bzw. Reflexionen anwesend und mit enthalten ist. Lauth stellt sich konsequent die Aufgabe, diese Prinzipien und Grundbegriffe herauszustellen und systematisch darzulegen: Es geht ihm um „das System der Natur“ bei Fichte, zu welchem Zweck er „überall die reifste und entwickeltste Darlegung der jeweiligen Lehrstücke herausgezogen“ (XVI) habe. Freilich ist dem Verfasser bewußt, daß sich hinsichtlich des Themas ‚Naturauffassung‘ Abweichungen, Widersprüche und zu kurz greifende Ausführungen bei Fichte feststellen lassen. Ihm liegt hier grundsätzlich daran, die Naturlehre positiv als ein Ganzes darzustellen oder wenigstens einen wesentlichen Beitrag dazu zu leisten, wobei es anderen Arbeiten vorbehalten bleiben soll, sich mit den Fragen auseinanderzusetzen, die sich im Anschluß an die dargelegte Konzeption stellen. Zweitens hebt Lauth in seinem Titel hervor, daß es sich um eine „transzendentale“ Naturlehre handele. Die interpretatorische Grundidee, die übrigens seinen Zugang zum „ganzen Fichte“5 kennzeichnet, ist, daß der Autor der Wissenschaftslehre das System der Transzendentalphilosophie entfaltet oder wenigstens die entscheidenden Ansätze dazu dargelegt hat. Gerade letzteres erfolgt auch mittels der Naturlehre: Im Unterschied zu den idealistisch-ontologischen Spekulationen Schellings und Hegels geht es Fichte darum, die Bestimmung festzulegen, die der Natur notwendig zukommen muß, wenn sich das Wissen als solches konstituiert bzw. konsti­ tuieren können soll. Fichtes Naturlehre geht systematisch und primär aus erkenntniskritischen bzw. ‚epistemologischen‘ Voraussetzungen hervor. Als 4  Freilich stellt sich die Anweisung zum seeligen Leben – im Unterschied zum Naturrecht 1796 / 97 und zur Sittenlehre 1798 – als ein populäres Werk dar. Zur einschlägigen Fragestellung einer ‚wissenschaftlichen‘ Darstellung der Religionslehre verweise ich auf meine Studie: „Figure della filosofia della religione nel pensiero di Fichte“, in: Archivio di filosofia LXXV (2007, 1–2) 97–112. 5  Diese Ausdrucksweise entnehme ich dem Titel des Buches: Peter Lothar Oesterreich / Hartmut Traub: Der ganze Fichte. Die populäre, wissenschaftliche und metaphilosophische Erschließung der Welt, Stuttgart 2006.



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solche stellt sie (nur) das transzendentale Grundgerüst der Natur und weist darin Freiräume aus, innerhalb deren die Induktion ihre Arbeit zu verrichten hat. Eine grundlegende These Lauths ist nämlich, daß Fichte auch in der (Teil-)Disziplin der Naturlehre eine transzendentale Ableitung vollzieht, die als solche der erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnis ihren spezifischen Raum läßt. All das hat, Lauth zufolge, entscheidende Konsequenzen für das Gelingen des Programms eines Gesamtsystems der transzendentalen Philosophie: Denn das Resultat des Bemühens, die Bestimmung der Natur exakt aufzuweisen, entscheidet darüber, ob die Wissenschaftslehre ein haltbares philosophisches System ist (vgl. XV). Es sei einleitend noch zweierlei gesagt: Lauths Werk nimmt vorwiegend – wenn auch nicht exklusiv – Arbeiten bzw. Reflexionen aus den Jenaer Zyklen der Wissenschaftslehre in den Blick bzw. bringt Ansätze und Konzeptionen zur Geltung, die vor allem aus diesem Zeitraum stammen. Hinsichtlich dieser faktischen Begrenzung ist aber zu bemerken, daß die FichteGesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften unter der Leitung von Lauth erst nach dem Erscheinen seiner Naturlehre und beginnend mit dem letzten Jahrzehnt angefangen hatte, jene Werke bzw. Vorlesungen des letzten Berliner Zyklus zu veröffentlichen, welche eine – sei es diachronische oder synchronische bzw. synoptische – Darstellung der Fichteschen transzendentalen Bestimmung(en) der Natur ergänzen und bereichern könnten bzw. können. Außerdem ist Lauths Zugang zur Fichteschen Naturlehre nicht der einzig mögliche; er scheint mit anderen Zugängen kompatibel zu sein, welche mehr historisch-rekonstruktiv verfahren oder versuchen, die unterschiedlichen Aussagen Fichtes über die Natur – um ein Beispiel zu nennen – etwa nach dem Gerüst der Fünffachheit der ‚Weltansichten‘ philosophisch-deduktiv auszulegen6. 6  Hier beziehe ich mich insbesondere auf den Aufsatz von Helmut Girndt: „Die fünffache Sicht der Natur im Denken Fichtes“, in: Fichte-Studien 1 (1990) 108–120. Zur Fichteschen Auffassung der Natur siehe auch Albert Mues: „Fichtes Kritik an Kants Verständnis der Physik. Zur Einheit der Physik“, in: ders. (Hrsg.): Transzendentalphilosophie als System. Die Auseinandersetzung zwischen 1794 und 1806, Hamburg 1989, 68–80; Helmut Girndt: „Über den Umgang mit der empfindungsfähigen Natur nach J. G. Fichte“, in: Albert Mues (Hrsg.): Transzendentalphilosophie als System. Die Auseinandersetzung zwischen 1794 und 1806, Hamburg 1989, 134–146; Karen Gloy: „Die Naturauffassung bei Kant, Fichte und Schelling“, in: Fichte-Studien 6 (1994) 253–275; Albert Mues: „Der Grund der Dualität der Materie und des Indeterminismus in der physikalischen Natur. Die Lösung eines quantenphysikalischen Rätsels“, in: Fichte-Studien 6 (1994) 277–301; Arkadij V. Lukjanov: „Der Sinn der transzendentalen Naturlehre Fichtes“, in: Fichte-Studien 11 (1997) 13–22; Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: „Das Problem der Natur. Nähe und Differenz Fichtes und Schelling“, in: Fichte-Studien 12 (1997) 211–233; Ulrich F. Wodarzik: „Zum Natur / Geist-Verhältnis bei Kant und Fichte. Über die Antinomie des Denkens und Paradoxien der theoretischen Physik“, in: Fichte-Studien 22 (2003)

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Ohne jene faktischen Einschränkungen bzw. diese anderen hermeneutischen Zugangsmöglichkeiten übersehen zu wollen, kann aber m. E. kaum geleugnet werden, daß Lauths Werk nicht nur ein durchaus origineller Beitrag zur Fichte-Forschung ist, der in der Form einer umfassenden und geschlossenen Monographie bislang einzigartig geblieben ist, ebensowenig wie die Tatsache, daß diese Naturlehre einen großen, wichtigen Schritt vorwärts für die ganze Transzendentalphilosophie im Gefolge von Kant und Fichte überhaupt darstellt, der als solcher neue Forschungen, kritische Entwicklungen und ergiebige Diskussionen – sowohl innerhalb als auch außerhalb des Kreises der Fichte-Fachkenner – anregen kann. Was den eigenen Denkweg von Reinhard Lauth anbelangt, so ist es ein Charakterzug seiner philosophischen Leistung gewesen, eine enge Verbindung zwischen der Fichte-Interpretation, der editorischen Arbeit und der Ausarbeitung der Transzendentalphilosophie als solcher herzustellen7. So läßt sich behaupten, Lauth habe durch sein Werk zur Naturlehre beabsichtigt, nicht nur eine Lücke in der Fichte-Rezeption zu füllen bzw. einen – aus seiner Sicht – Interpretationsfehler zu berichtigen, sondern vor allem einen spezifischen Beitrag zu dem Zustandekommen einer kritischen und systematisch haltbaren Gesamtkonzeption der Transzendentalphilosophie zu leisten8. Anders gesagt: Hier begegnet man nicht nur einer ausführlichen Nachbildung der Fichteschen Naturlehre, wie sie hätte sein können und / oder in Einzelausführungen de facto bereits vorliegt, sondern auch der gedanklich stringenten Konstruktion einer transzendentalphilosophischen Naturlehre in systematischer Form, welche ein konsequent transzendental-systematisches Denken aus den Fichteschen Ansätzen bzw. Materialien zu entfalten vermag.

89–105; Albert Mues: „Der Grund der Dualität der Materie. Zweiter Teil: Der Wellencharakter“, in: Fichte-Studien 2 (2003) 107–119. 7  Vgl. darüber meinen Grundriß: „Reinhard Lauth (1919–2007)“, in: Annuario filosofico 23 (2007) 5–10. Eine ziemlich neu erschienene Bibliographie verzeichnet sämtliche Publikationen Lauths von 1942 bis 2001: Christian Jerrentrup: Bibliographie Reinhard Lauth, München 2002. 8  Was Lauths eigene Transzendentalphilosophie angeht, vgl. (wenigstens) folgende Werke: Die Frage nach dem Sinn des Daseins, München 1953; Die absolute Ungeschichtlichkeit der Wahrheit, Stuttgart / Berlin 1966; Begriff, Begründung und Rechtfertigung der Philosophie, München / Salzburg 1967; Ethik in ihrer Grundlage aus Prinzipien entfaltet, Stuttgart u. a. 1969; Theorie des philosophischen Arguments, Berlin / New York 1979; Die Konstitution der Zeit im Bewußtsein, Hamburg 1981.



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II. Das Grundgerüst der Lauthschen Darstellung Aus diesem dichten, höchst detaillierten und begrifflich komplexen Werk Lauths, welches m. E. (mehr als es bisher erfolgt9) kritische wie kompetente Aufmerksamkeit verdient, möchte ich im folgenden nur einige Hauptpunkte hervorheben, die insbesondere die epistemologische Form der Naturlehre und deren Grundkategorien betreffen. Zu diesem Zweck ist es aber zunächst angebracht, eine kurze Darstellung des Grundgerüstes des Werkes vorzulegen. Es ist in fünf Teile gegliedert: Einleitend geht Lauth vom Naturbegriff Kants aus, speziell von dessen Lehre von den Grundsätzen des Verstandes, als derjenigen Errungenschaft der Kantischen Transzendentalphilosophie, auf die Fichte für die Ausarbeitung seiner Naturauffassung zurückgreift. Dem folgt der erste Teil der Arbeit („Der Ausgangspunkt der Naturlehre in der Wissenschaftslehre“), in dem die Konstitution des Außenobjekts und der Natur im allgemeinen aus dem Grundprinzip der Wissenschaftslehre, und zwar aus dem Sichbilden der Vernunft, dargelegt wird. Im zweiten Teil („Der Aufbau einer objektiven Außenwelt“) wird die Konstitution der Außenobjekte im Raum und in ihren Verhältnissen untereinander innerhalb einer pluralen und „pluripotentiellen Welt“ verfolgt. Dieser zweite Teil, der allerdings ohne den ersten nicht zu verstehen ist, gibt die ‚Physik‘ der Transzendentalphilosophie wieder. Ein dritter Teil („Die Konstitution der organischen Natur durch die reflektierende Urteilskraft“) zeigt, wie die reflektierende Urteilskraft durch die systematische Umkehr der Relationsbestimmungen des Verstandes die Vorstellung einer höheren Natur als der unorganischen zu geben vermag, nämlich die Vorstellung eines Organischen, welches seinerseits in pflanzliche und tierische Organismen zerfällt. In diesem dritten Teil begegnet man somit grundsätzlich der transzendentalen Lehre der organischen Natur (‚Biologie‘). Der vierte Teil („Freiheit und Natur“) beinhaltet das, was man als eine ‚Anthropologie‘ innerhalb der Naturlehre bezeichnen könnte: Hier wird gezeigt, daß im Menschen als natürlichem, biologischem Wesen die tierische (und auch die pflanzliche) Organisation zu etwas wird, über das die freie und bewußte Vernunft zu verfügen vermag. Dem folgt der fünfte Teil des Werkes („Die Gesamtkonzeption der Wissenschaftslehre von der Natur und ihre erkenntnistheoretischen Voraussetzungen“), in dem der Grundansatz der Naturlehre im transzendentalen Sinne bündig rekapituliert wird: Es wird gezeigt, daß aus transzendentaler Sicht die Naturverfassung nicht die Vernunft, sondern umgekehrt das Sichbilden der Vernunft die Naturauffassung erzeugt und 9  Es sei hier aber an die spanische Übersetzung von Lauths Werk erinnert: La doctrina transcendental de la naturaleza de Fichte según los principios de la doctrina de la ciencia, übersetzt von Alberto Ciria und Jacinto Rivera de Rosales, Madrid 2000.

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gerade in solchen Formen erzeugen muß, um als freie Vernunft wirklich zu sein. Denn Natur als objektive Außengegebenheit tritt immer nur in der Reflexion in Erscheinung, und d. h.: in einem geistigen Handeln, das seiner Wesenstendenz nach auf Realisation absoluter Vernunft gerichtet ist. In einem am Ende des Bandes angeschlossenen Exkurs („Der Unterschied zwischen der Naturphilosophie der Wissenschaftslehre und der Schellings erläutert an zwei charakteristischen Ansatzpunkten der letzteren“) wird schließlich dargestellt, daß und wie sich – Lauth zufolge – der primär epistemologische, auf das Sichbilden der Vernunft gegründete Ansatz der Naturlehre Fichtes von dem primär spekulativ-ontologischen, sich auf eine „objektive intellektuelle Anschauung“ stützenden Ansatz Schellings grundsätzlich abhebt. III. Der systematische Ausgangspunkt Was die Rekonstruktion des systematischen Ausgangspunkts der Naturlehre in der Wissenschaftslehre anbelangt, geht Lauth von einer Durchdringung des Sichbildens der Vernunft aus, die m. E. als eines der reifsten Resultate seiner jahrelangen Beschäftigung mit dem Grundansatz und den Hauptbegriffen der Wissenschaftslehre selbst angesehen werden könnte. Die Wissenschaftslehre begründet eine allgemeine Voraussetzung für die Disziplinen, die sie aus sich selbst entfaltet, einschließlich der Naturlehre. Nun lautet diese Voraussetzung: Die Vernunft existiert als – sich ergreifende und bildende – Tendenz, sich selbst absolut und vollkommen zu realisieren. Das bedeutet zunächst für das Gebiet des Theoretischen: Die Vernunft strebt danach, sich vollkommen zu wissen. Im Praktischen bedeutet es: Die Vernunft intendiert, vollkommen tätige Vernunft zu sein. Beides könnte mit einem Ausdruck aus Fichtes Spätzeit gefaßt werden: „Die Vernunft sucht sich absolut zu bilden“ (17). Daß die Vernunft sich selbst bzw. ihre Tendenz ergreift, besagt, daß die Vernunft nur als Selbstbestimmung und im Selbstbestimmen da ist. Die Vernunft stellt kein einfaches Sein dar, sondern ist wesensmäßig ein Sein im Reflex und in der Reflexion. Sie ist ein „Sein im Selbstbezug“. Mit diesem realisiert sich die doppelte Reihe des Gewußten und zugleich Wissenden, des Wissenden und in diesem Wissen zugleich Gewußten, des Bildenden und des Gebildeten, und zwar so, daß beide Reihen nur synthetisch als Momente einer und derselben Einheit („ReflexEinheit“) an- und miteinander gesetzt sind. Zu bemerken ist, daß die theoretische Seite des Sichbildens dem praktischen Sichbilden der Vernunft selber dient. Die Vernunft existiert nur als absolute Tendenz, sich selbst vollständig (und frei) zu realisieren. Lauth bezeichnet die vollkommene Vernunft in praktischer Hinsicht als „vollkommene Selbstbejahung“, als „Vernunft, die Vernunft bejaht, und dies material inhaltlich, […] als Liebe, die Liebe bejaht“ (18).



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Nun kann sich nach der Grundthese der Wissenschaftslehre die endliche Vernunft nur (theoretisch und praktisch) bilden, „indem sie sich, bestimmt werdend, bestimmt“. Daraus erweist sich, daß die Vernunft als Reflexeinheit nicht die absolute Vernunft (Gottes) ist, sondern daß sie sich frei als Vernunft und tendenziell als absolute Vernunft setzt. Die endliche Vernunft kann sich aber auf solche Weise nur dann setzten, wenn sie sich als sich aufgegebene, d. i. als bestimmt werdende Vernunft setzt. Demzufolge existiert unsere (bestimmt werdende) Vernunft nur als „angehobene Lösung einer Aufgabe“; sie ist im Vollzug der Lösung einer Aufgabe da. Ebendeshalb ist – wie bereits gesehen – die Vernunft kein fertiges, einfaches Sein, sondern ein sich realisierendes gedoppeltes Reflex- und Reflexionssein (vgl. 19). Aus dieser Vernunftauffassung sind nun drei Punkte herauszustellen, die eine tragende Bedeutung hinsichtlich der epistemologischen Form der Naturlehre haben: 1. Das theoretische und praktische Sichbilden der Vernunft erweist sich, Lauth zufolge, als der höchste Einheitsgrund, von dem her und von dem her allein ein allseitiges System der Wirklichkeit, d. i. des BewußtSeins, entfaltet werden kann. Gerade in diesem Gesamtsystem haben der Naturbegriff und die Naturlehre ihren epistemologischen Ort. 2. Das Objekt alles Bildens ergibt sich erst im Bilden und mit dem Bilden selbst. Deshalb stellen sich die ontologischen Bestimmungen der Gegenstände – und damit auch der Außenwelt – immer erst mitlaufend mit den epistemologischen Bestimmungen und von diesen her ein. 3. Weil das Sichbilden der Vernunft nur als freies Bilden verstanden werden kann, kennt die Transzendentalphilosophie ein echtes Aposteriori, das nur „historisch“ aufgefaßt und, soweit es die Außenwelt betrifft, nur „induktiv“ verstanden werden kann (vgl. 168). IV. Natur im Reflex- und Reflexionssein – Zurückweisung des Idealismus Auf diese induktiv-empirische Seite der Naturauffassung, die als das notwendige Korrelat des transzendentalen Zuganges zur Natur gilt, werde ich zurückkommen. Jetzt liegt es mir am Herzen, eine These von Lauth hervorzuheben, die seine ganze Studie kennzeichnet, nämlich daß der transzendentalen Sicht zufolge die Natur als objektive Außengegebenheit immer nur im Reflex- und Reflexionssein der Vernunft in Erscheinung tritt, und das heißt: in einem theoretischen und praktischen Handeln, das seiner Wesenstendenz nach auf Realisation absoluter Vernunft gerichtet ist. Das letzte Substrat der Natur ist eine relativ selbständige Bestimmtheit – und zwar die Hemmung bzw. die Hemmungen –, die sich in jedem wirklichen Bewußtsein für das Bilden allaugenblicklich manifestiert. Dieses Substrat wird niemals als fertig gegeben angetroffen, sondern immer durch ein freies – in seinem Freisein allerdings unter Gesetzen stehendes – Handeln auf die Wei-

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se realisiert, wie dieses Handeln sich vollzieht. „Durch diese Realisation allein wird Natur“ (21). Diese Ansicht hat aber – und das ist eine weitere, eng damit verbundene, grundlegende These Lauths – keinen einseitigen, also weder einen ‚subjektiven‘ noch einen ‚absoluten‘ Idealismus zur Folge. Genau weil die Wissenschaftslehre das „System der Freiheit“ ist10, kennt sie – wie bereits ausgesagt – ein Aposteriori. Denn ein wirkliches Sein, das vollständig a priori begriffen werden könnte, wäre ein rein notwendiges Sein, das keinen Raum für die Möglichkeit oder für die Freiheit ließe. Was aber nur a posteriori gewußt werden kann, ist undeduzierbar und nur der Erfahrung zu entnehmen. Dieser Umstand macht ein solches Undeduzierbares zugleich zum Terminus a quo bzw. ad quem alles Bildens, d. i. zu einem „nur gegebenen Sein, das fertig und atomar im Bewußtsein auftritt“ (165). Ein solches „Sein“, das ursprünglich Bestimmbare – das Lauth zufolge als aus „reellen Quanten“ bestehend gedacht werden kann –, ist allerdings kein Ding-an-sich, sondern das Sein im absoluten Ich, d. i. das Andere im Ich und dem Ich als dem Konstruierenden gegenüber, das zugleich mit dem Konstruieren bzw. dem Bilden des Ichs die Wirklichkeit konstituiert. Dieses Unkonstruierbare stellt etwas dar, an dessen Eigenständigkeit die frei handelnde, praktischtheoretische Vernunft gebunden bleibt. Man könnte es das „Chaos“ nennen, welches das vernünftige Ordnen ständig zu überwinden hat, an das es aber zugleich unlöslich rückgebunden ist. „Es ist dies die materialistische Seite der Wissenschaftslehre“ (165). In einer gewichtigen Fußanmerkung wird hinzufügt: Daß dieses „Chaos“ kein schlechthin irrationaler Faktor sei, kann in der Naturlehre als solcher nicht ausgesagt werden. Es evident zu machen, gehört vielmehr zu den Aufgaben einer „Sinnlehre“, Fichtisch ausgedrückt: der Lehre der „göttlichen Weltregierung“. Diese Ablehnung des Idealismus hat auch mit einer bestimmten Auffassung des Nicht-Ich zu tun, die Lauth in seinem Buch ausführt. Wahr ist, daß die Setzung des Nicht-Ich immer nur im absoluten Ich (im absoluten Wissen) erfolgt bzw. erfolgen kann. Diese Setzung hat aber eine spezifische Eigenständigkeit, die nicht aufgehoben werden kann, wenn man das Bewußt-Sein als solches erklären will. Von dieser Wesensseite her gesehen, nämlich als Negation des Ichs verstanden, ist das Nicht-Ich absolute Setzung, „Thesis in der Antithesis“. Das Nichts – Fichte selbst bezeichnet in 10  Vgl. folgende gewichtige Erläuterung: „Der höhere Beweis, daß es ein reines, nicht ins Apriorische auflösbares Aposteriori geben muß, liegt darin, daß Freiheit (moralisch) gewiß ist, Freiheit aber in einer Wirklichkeit, in der alles ausschließlich apriori bestimmt wäre, nicht sein könnte […]. Das als solches Unkonstruierbare wird als das Andere des Ichs (bzw. des absoluten Wissens) im Konstruieren zum seinerseits bestimmenden Faktor“ (TN, 76).



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der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre das Nicht-Ich als „schlechthin Nichts“11 – kommt gegenüber dem Ich als ursprünglich absolutes Moment ins Spiel. Eben von da rührt seine Eigenständigkeit her, auf der letzten Endes – wie Lauth hervorhebt – die „Objektivität der Natur beruht“. Verliert man diese absolute Seite des Nicht-Ichs, so macht man es entweder (subjektiv-idealistisch) zu einer bloßen Setzung des konstruierenden Ichs oder (absolut-idealistisch) zu einem bloßen – eventuell wie bei Hegel gleichrangigen – Relationsmoment im „teilbaren“ Setzen des Ichs (vgl. 33). Andererseits – und im engen Zusammenhang damit – darf nie die transzendentale Ansicht aus dem Auge gelassen werden, der zufolge das Nichts nur da ist und ins Spiel kommt, insofern es im absoluten Ich dem Ich (entgegen-)gesetzt wird. Anders gesagt: Nur im Sichbilden der Vernunft ist das Nichts da. Es ist nicht etwa dergestalt außer dem Sichbilden, daß es erst von „draußen“ in dieses hineinkäme und hineingeholt würde. V. Die Konstitution des Außenobjekts Wie bereits gesagt, gilt Kants Naturbegriff als „historischer Ausgangspunkt“ der Fichteschen Naturlehre. Kants Darlegungen in der Kritik der reinen Vernunft dienen Lauth zufolge unter anderem dem Zweck zu zeigen, daß wir das, was Natur ist, keineswegs der Erfahrung allein entnehmen, sondern daß die Natur uns als ein geordnetes Ganzes nur dadurch gegeben ist, daß wir reine Bewußtseinsformen – Denk- und Anschauungsformen – entfalten und sie auf das, was die Erfahrung allein uns gibt, d. i. auf die bestimmten Empfindungen, anwenden. Die apriorischen Elemente der Naturerkenntnis, die Kategorien, deren Schematisierung – d. i. Beziehung auf Zeit und Raum – uns die Grundsätze des Verstandes liefern, geben uns die Form einer Erfahrung überhaupt und in dieser ein „Ding überhaupt“. Nun hebt die prinzipielle Kritik Fichtes an Kant – und zwar an seiner durch die Grundsätze des Verstandes bestimmten Ontologie als Wissenschaft vom äußeren Gegenstande überhaupt – mit dem Gedanken an, daß Kant seinem durch die Kritik (nicht: System) bedingten Ansatz entsprechend einseitig von den apriorisch vorgegebenen Kategorien über deren Schematisierung zur Empfindung habe fortgehen müssen, so daß er von der anderen Seite diese Empfindungen nur als ein Gegebenes fassen konnte. Fichte verfährt 11  Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth, Hans Jacob, Hans Gliwitzky, Erich Fuchs und Peter K. Schneider, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962– 2012. Im folgenden abgekürzt: GWL 1794 / 95, GA, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl, hier: GWL 1794 / 95 – GA I / 2, 271: „Dem absoluten Ich entgegengesetzt, […] ist das Nicht-Ich schlechthin Nichts“. Erst durch Übertragung von Ich-Momenten aus dem Ich wird das Nicht-Ich zum „Etwas“.

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anders. In der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre geht er vom Schweben (dialegein) der Einbildungskraft sowie von dessen Produkt – dem „Bestimmbaren“ – aus und verfolgt systematisch die Bestimmung des letzteren durch die Vernunft. Es wird daher gezeigt, wie das „Gefühl“ zur Empfindung und Wahrnehmung, die Wahrnehmung durch das Verstandesdenken zur Erfahrung und die Erfahrung im empirischen Denken (und reflektierenden Urteilen) zur Vorstellung einer einheitlichen Natur verarbeitet wird (vgl. 9). Was nun die Lehre von der ursprünglich produzierenden Einbildungskraft anbelangt, wird von Lauth hervorgehoben, daß diese nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch an die „atomaren Hemmungen“ bzw. an jenes „Fremdartige“, welches „das wahre Substrat der Natur“ bildet, herangeht und es erarbeitet. Die ursprünglich produzierende Einbildungskraft vermittelt also nicht nur theoretisch, sondern ebenso ursprünglich auch praktisch (vgl. 26). Einerseits wird das Fremdartige – als eines der in der Synthese der Einbildungskraft (von Lauth als „Systase“ bzw. „Systasis“ bezeichnet12) Zusammentreffenden – erst dank des von der Einbildungskraft selbst geleisteten Zusammenfassens in die Wirklichkeit des Bewußtseins gehoben (vgl. 28). Andererseits ist dieses Fremdartige nicht vorher schon gegeben, sondern eher „aufgegeben“. Dabei handelt es sich jedoch um eine Aufgabe, die erst in ihrer Ausführung im Bewußtsein existent ist. Jenes Zusammenfassen der Einbildungskraft ist nämlich gerade die Ausführung dieser Aufgabe, also keineswegs nur ein theoretischer, sondern in eins damit ein praktischer Vollzug. Erst in diesem Vollzug kann man von dem Fremdartigen als solchem und in seinem Gegebensein sprechen, nicht aber bloß ‚ontologisch‘, als ob es vorher „draußen“, d. i. außerhalb des Bewußtseins, schon „existiert“ hätte. Das Fremdartige ist das Andere des absoluten (praktisch-theoretischen) Bildens, das durch den Bewußtseinsvollzug in ihm – und insofern aus ihm – hervortritt. Was dann die Leistung der Verstandeskategorien betrifft, zeigt Fichte, daß sie bei der Objektkonstitution nicht sogleich als Gegenstandsbestimmungen, sondern zunächst als Bestimmungen des Verhältnisses des Gegenstandes (Nicht-Ich) zum Ich auftreten. Beispielsweise werden Empfindungen nur dadurch objektiviert, daß ihnen begreifend eine Substanz unterlegt wird. Nur dank dieser (spontanen) Verstandesleistung sind sie für ein Subjekt etwas Selbständiges. Desgleichen wird das Hemmendsein der Empfindungen durch den Begriff einer Ursache, die auf das Subjekt einwirkt, erklärt; nur dadurch ist das Objekt für uns ein „wirkliches“ Ding. Endlich muß der 12  Vgl.: „Diese ‚Synthesis‘ (im weiteren Sinne des Wortes) [der Einbildungskraft] ist keine Synthesis der Implikation, sondern eine Systasis der Apposition, des gedanklichen Fassens durch Zu-Stellung, und zwar einer Apposition, die in ihrer einen Komponente Imposition, Ineinander-Stellung, in der anderen Apposition (im engeren Wortsinne) als Zueinander-Stellung ist“ (TN, 23).



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Begriff der Gemeinschaft hierbei immer zur Anwendung kommen, weil die Wirkung des Nicht-Ichs nur in Verbindung mit der Wirkung des Ichs gedacht werden kann, da wir eine Einheit der Erfahrung haben müssen. Diese Übertragung von Ich-Momenten auf das rein Objektive der Hemmungen gilt auch für alle praktischen Momente in theoretisch konstituierender Funktion. Sobald das Gefühl in der Anschauung objektiviert wird, wird auf die Objekte als zunächst bloße Hemmungen Kraftäußerung übertragen. Die Kraftäußerung auf sich selbst, so daß das Gegebene „bestimmend und bestimmt zugleich“ sei, ist die „Intensität des Gegenstandes“ (13). Die Substanz wird demnach als Kraft, deren Akzidens die Kraftäußerung ist, begriffen. Der Hemmungswirkung im Ich entsprechend denkt sich der Verstand eine Ursächlichkeit im Gegenstand. Intensität, Kraftäußerung und Kraft werden erst danach und analog dem Verhältnis der Objekte zueinander gedacht. Die reflektierende Urteilskraft geht noch darüber hinaus; sie versteht das Objektive als bewegt, ferner als zweckgerichtet und als organisiert, endlich im höchsten, allerdings nicht mehr zur Natur gehörenden Bereich als frei auftretend und antwortend. Von der höchst ausdifferenzierten Untersuchung, die Lauth über die Objektkonstitution durch Einbildungskraft und Verstand bei Fichte ausführt, kann ich hier zusammenfassend nur einen Punkt hervorheben. Lauth zeigt, daß wir infolge des Schwebens der ursprünglich produzierenden Einbildungskraft ein zeitliches Werden haben, das auf Grund der permanenten Erfüllung seiner Erstreckung mit einem sinnlichen Anschauungsgehalt als ein Objektives erscheint. In diesem zeitlichen Werden tritt ununterbrochen durch Hemmung bzw. Hemmungen (die von Moment zu Moment ins Bewußtsein eintreten, indem das Bewußtsein sie auffaßt) eine sich manifestierende Realität auf, von der wir erleben, daß sie sich uns aufzwingt. Diese Realität wird in Entsprechung zu unserem eigenen Streben als Gegenstreben und damit einhergehend – da letzteres, wie alles Streben, keine Kausalität hat – als sich selbst bestimmend und insofern durch sich selbst bestimmt, d. i. als intensiv vorgestellt. Die intensive Hemmung kann mit einer anderen intensiven Hemmung verglichen, beide können dadurch bewußt und als Grade von Intensität erfaßt werden. Die verschiedenen intensiven Hemmungen werden auf (wenigstens) eine nicht-ichliche Ursache bezogen, die ebenfalls analog zur eigenen Ursächlichkeit des Ichs vorgestellt wird. Diese Ursache wird als eine Kraft begriffen, und die Hemmungen werden als deren Äußerung angesehen. Sie verhält sich zu den jeweilig durch sie gesetzten Kraftäußerungen wie eine Substanz zu ihren Akzidenzien. Die Substanz ist bleibend und liegt allen Kraftäußerungen zugrunde; die Kraftmanifestationen, das sind die intensiven Hemmungen, wechseln. So wird das Außenobjekt empfunden, angeschaut und gedacht.

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VI. Plurale Außenwelt Diese Deduktion des Außenobjekts ist aber noch nicht die Deduktion dessen, was als Bewußtsein der Objekte (Plural) im Raume bezeichnet werden könnte. In Lauths Darstellung der Naturlehre stellt diese zweite Deduktion einen der komplexeren Schritte dar. Eine entscheidende Rolle spielt hier, was Fichte das Linienziehen bzw. die „lebendige […] Form des Linienziehens“13 nennt. Das Linienziehen ist ein Bild, durch das die Leistung der Einbildungskraft bezogen auf das Virtuelle atomarer Hemmungen, vorgestellt wird. Die Einbildungskraft, macht nicht nur das Ich zu einem zeitlichen Werden, sondern bildet auch den Raum als nie abgeschlossenes Resultat ihrer eigenen, mit den Hemmungen synthetisierten Handlungsweise, die als ein Linienziehen bzw. ein Richtungsnehmen vorzustellen ist. Das aktuelle Linienziehen setzt den Raum in demselben Augenblick voraus, in dem es diesen Raum ‚entwirft‘. Die Linie, die die Einbildungskraft beschreibt, ist daher nicht bloß die Erstreckung des zeitlichen Werdens, sondern auch eine objektive – d. i. qualitativ erfüllte – Erstreckung, von der her der Raum aufgebaut wird. Als Ausgangsmoment der „Verräumlichung“ können wir sie als „raumfundierend“ bezeichnen. Seinerseits ist das Linienziehen nur dadurch möglich, daß sich das Ich in einem Ergreifungspunkt reflexiv schließt und von diesem Punkt aus die kontinuierliche Grundlage ist. In dieser Rücksicht ist das Ich nicht bloße logische Einheit, sondern – wie bereits gesagt – Reflexionseinheit. Nun, damit wir Erfahrungen überhaupt haben können, muß unsere Sinnlichkeit der „Verbreiterung“ fähig sein: Wir müssen (nicht nur eine, sondern) mehrere Hemmungen als gleichzeitig auffassen, denn sonst wäre ein freies Ziehen von Richtungslinien nicht möglich; wir wären in der Zeitreihe an die jeweils ohne unser Bestimmen auftretenden Hemmungen schlechthin gebunden. Im Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre expliziert Fichte die Form, in der ein solches Zugleichsein mehrerer sinnlicher Gegebenheiten vorgestellt werden kann. Es ist die Raumform, d. i. eine Transposition der Erstreckung, wie wir sie ursprünglich vom zeitlichen Werden her kennen, auf das (dadurch) Zugleichseiende. Hier ist das Vermögen der „reflektierenden Urteilskraft“ – die sich hier aber Lauth zufolge besser als „reflektierende Einbildungskraft“ bezeichnen ließe – tätig. Diese sogenannte „reflektierende Einbildungskraft“ ermöglicht uns, die Erstreckung dessen, was nur nacheinander existiert, auf das, was miteinander existiert, zu übertragen (vgl. 180 f.). Ein solches Miteinander – das durch „Deklination“ (ein entscheidender Verfahrensmodus in der Naturerkenntnis!) der aufeinander13  Vgl. Fichte: Darstellung der Wissenschaftslehre aus den Jahren 1801 / 02, in: GA II / 6, 156.



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folgenden materialen Qualitäten entsteht – ist der Raum. Wenn wir das Ergebnis der ersten Deduktion (d. i. das Außenobjekt) mit demjenigen der zweiten (Deklination der materialen Qualitäten) vermitteln, erhalten wir eine Erklärung unseres Bewußtseins einer Pluralität von Außenobjekten im Raume. Ihr Verhältnis untereinander wird nach der Weise des Verhältnisses des Hemmungsobjekts zum Subjekt gedacht14. Jedem Objekt muß eine aus sich hinausgehende Spontaneität zugeschrieben werden, die gehemmt wird, und zwar durch das je andere Objekt. Daraus ergibt sich ein dynamisches Verhältnis zwischen den Objekten, das aller weiteren physikalischen Konzeption, die sich aus Induktion ergibt, zugrunde liegt (vgl. 181). Um ein solches dynamisches Verhältnis angemessen begreifen zu können, müssen wir die Art und Weise in Betracht ziehen, in der Fichte das Ineinandergreifen der Relationskategorien (insbesondere der Kategorie der Kausalität) und der Modalkategorien bei der Konstitution einer objektiven und pluralen Außenwelt in Ansatz bringt (vgl. 11). Lauth zufolge macht Fichte schon in bezug auf die Erscheinungen eine Unterscheidung, die bei Schelling fehle. Nach den Grundsätzen des Verstandes müssen wir die einander folgenden Erscheinungen über das Verhältnis der Kausalität auffassen: Jedes b hat notwendig eine Ursache und bewirkt etwas. Alle Objekte der Außenwelt stehen notwendig in Wechselwirkung miteinander. Aber welche bestimmte Wirkung eine Ursache, welche bestimmte Ursache eine Wirkung hat, das können wir a priori nicht sagen. Diesbezüglich sind wir auf Induktionen angewiesen, die uns die besondere Gesetzlichkeit der Außenwirklichkeit erschließen. Aber mehr noch: Kant hatte behauptet, daß jedes b ständige und einzige Folge eines bestimmten a, und ständige bestimmte Ursache eines bestimmten c sei. Nach Fichte hingegen kann man, soweit allein deren Relation konstituiert wird, nur sagen, daß wir zwar ursprünglich b immer als aus a folgend erfahren, dies jedoch keineswegs auch schon bedeutet, daß a notwendig b und nur dieses b mit sich führe. Das Kausalitätsverhältnis als solches darf nicht ohne weiteres mit dem spezifischen Verhältnis modal notwendiger Kausalität gleichgesetzt werden. Daß jedes b seine Ursache hat, heißt noch nicht, daß es stets nur die bestimmte Ursache a hat. Das Verhältnis x-b-y ist also von dem engeren Verhältnis a-b-c zu unterscheiden. Es muß zwar immer Kausalität investiert werden, um Erfahrung überhaupt 14  Vgl. folgende Stelle: „Die Objekte werden […] als Kraftsubstanzen gedacht, die ursächlich Kraft äußern, welche auf das empfangende Subjekt wirkt. Aber bislang hatten wir immer nur Kraftäußerungen Eines Objekts auf uns in der Zeit nacheinander. Jetzt haben wir mehrere Objekte, also auch möglicherweise Kraftsubstanzen mit ursächlichen Äußerungen in plurali, die nicht nur im Verhältnis zum sie wahrnehmenden Subjekt, sondern auch in einem Verhältnis zueinander konzipiert werden müssen“ (TN, 65).

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zu haben. Aber das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung bleibt rein für sich genommen modal unbestimmt. Erst mittels einer Modalitätsbestimmung wird die Wirksamkeit entweder als notwendig oder als bloß kontingent bestimmt. Diesen Modus des generellen Kausalverhältnisses, ob nun Kausalität aus Freiheit oder aus Natur vorliege, gewinnen wir erst mittels primärer oder reflexiv sekundärer „Regulierung“ (noch ein wichtiger Begriff in der Naturauffassung!), mit deren Hilfe unser Bewußtsein immer schon weiter reflektierend über die unmittelbare Gegebenheit hinausgeht (vgl. 68). Freilich ergibt sich nur aus der modal notwendigen Wechselwirkung eine beständige physische Natur, auf deren Statusfolge wir uns verlassen können. Sie gibt das Rahmengesetz einer objektiven Wirklichkeit. Durch sie wird bestimmt, daß alles, was da ist, eine bestimmte, notwendig wirkende Ursache hat und eine bestimmte, notwendige Wirkung ausübt, so daß sich ein allseitiger Kausalnexus ergibt. Fichte stimmt hier völlig mit Kant überein, daß diese Grundgesetzlichkeit durch eine besondere Gesetzlichkeit ausgefüllt ist, welche wir nur aposteriorisch erfassen. Andererseits bedeutet das nicht, alle Kausalität in der Außenwelt müsse modal notwendige Naturkausalität sein, denn es kann auch eine modal mögliche Kausalität in der Außenwelt geben. Dabei ist allerdings zu beachten, daß alles, was als zufällig angesehen und (wenn richtig erklärt) aus einer frei wirkenden Ursache hergeleitet werden muß, aus dem Bereich der anorganischen Natur ausscheidet. Denn diese kann nur durch modal notwendige Kausalität und als ein Ganzes von Wechselwirkungen aller Kraftsubstanzen und ihrer Wirkungen gedacht werden. VII. Pluripotentielle Welt und reine Empirie Bei dieser Auffassung der „Physik“ sind noch zwei Punkte hervorzuheben. Lauth zufolge ist das wahre Substrat der Natur „ein bloß Bestimmbares“, das von der Vernunft durch Leistungen der Einbildungskraft, des Verstandes und der Urteilskraft in theoretischer und praktischer Hinsicht bestimmt wird (13). Anders gesagt: Das Substrat, welches der Natur zugrunde liegt, ist nicht in einer fertigen wirklichen Ordnung gegeben, sondern „ein ursprünglich Bestimmbares“ und als solches „virtuell und pluripoten­ tiell“. Erst die Handlungen der sich bildenden Vernunft, welche, von ihrer Grundkonstitution abgesehen, frei ist, erstellen eine bestimmte Welt – bestimmt durch die Konstitutionsmomente des Ichs ebenso wie durch die qualitative Bestimmtheit und die die Anschauung bestimmende Ordnung, in der sich das Mannigfaltige der Hemmungen (als „das Ende alles Bestimmens“) präsentiert. Unsere Welt ist eine der für uns möglichen Welten, die wir (als praktisch-theoretische Wesen) durch unsere freie Progression nach Vernunftgesetzen zur Wirklichkeit erhoben haben. In der Wahrnehmung –



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abgesehen von der Richtung, die wir ihr geben – und im ursprünglich kategorialen Beziehen sind wir völlig gebunden, in den höheren Bestimmungen allerdings relativ frei (vgl. 15). Denn die Hemmungen liegen nicht einfach fertigverwirklicht da, sondern werden erst im freien Ziehen der Zeit(Raum)-Linie wirklich. Bestimmtheit ergibt sich erst aus der Bestimmbarkeit. Ein solcher „Gedanke der Pluripotentialität der Welt und von Ordnungsfolgen, die wir im Linienziehen abwandern, findet sich um die Wende zum neunzehnten Jahrhundert einzig bei [Fichte]“ (XVII)15. Dank der ihr möglichen Ausweitung des empirisch Sinnlichen, d. i. dank der Konstitution im Raum vermag die sich bildende Vernunft die Richtung jener Linien zu bestimmen, in der das (in zeitlicher Folge) Bestimmbare bestimmt wird. Diese Freiheit im Linienziehen ist ihrerseits Bedingung realer Handlungsfreiheit, was in der ‚Anthropologie‘ innerhalb der Naturlehre von höchster Bedeutung sein wird. Das Linienziehen erfolgt notwendig in der Zeit; aber es erfolgt insofern frei, als die sich bildende Vernunft im Felde des aktuell Sinnlichen in verschiedenen Richtungen fortgehen und damit bestimmte virtuelle materiale Folgen verwirklichen kann. Zwar bleibt das Linienziehen an die vorbestimmte materiale Hemmungsfolge gebunden, aber es kann – in einem durch die Verbreiterung des sinnlich Gegebenen bestimmten Umfange – die ihm genehme Reihe materialer Folgen auswählen, welche es realisiert. Schon unsere physische wirkliche Welt ist damit Ergebnis unserer Wahl im Linienziehen (vgl. 176–178)16. 15  Vgl. auch: „Das Ich kann unter konkurrierenden Kräften auswählen; es kann Linien in diejenigen Richtungen ziehen, die es nehmen will, die freilich darum doch immer Linien möglicher Realisierbarkeit, d. i. aus dem Gesamt der Quantitabilität sind, in denen vorgegebene Ordnungsfolgen zum Zug kommen. Schon die physische Welt ist nur ein Teil der Quantitabilität, den wir aus ihr herausheben und in von uns gewählten Linien realisieren. Die Wirklichkeit ist deshalb prinzipiell pluripotentiell […]. Faktisch notwendig ist nur das, was ohne Widerspruch auch anders sein könnte; es kann also nur von den Freiheitsmöglichkeiten her konzipiert werden […]. Der Gedanke der Pluripotentialität des Seins ist der Transzendentalphilosophie spezifisch“ (TN, 164). 16  Über diese Weltauffassung siehe: „Alles Gesagte bedeutet, daß gar nicht Eine Welt von vornherein wirklich gegeben ist, sondern daß erst das Linienziehen der Freiheit Momente aus der allgemeinen Quantitabilität in die Wirklichkeit hebt. Somit hängt es von der Freiheit ab und liegt es an ihr, welche virtuellen Quanten in die Wirklichkeit des zeitlichen Daseins gehoben werden. Die physische Welt ist nicht einfachhin da, sondern wir haben diejenige, die wir selbst in die Wirklichkeit heben […]. In jeder möglichen Richtung, die wir einschlagen, sind wir allerdings an eine vorgegebene Ordnung gebunden […]. [Diese Ordnung] besteht vielmehr hier zusätzlich und entscheidend darin, daß wir in jeder Linie auf eine spezifische besondere Reihe von Hemmungen stoßen, die nicht wir in ihrer Eigenbeschaffenheit bestimmen, sondern die wir nur als allem Konstruieren vorgegebene ins Bewußtsein

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Ein zweiter Grundgedanke, der bereits aufgetaucht ist, ist folgender: Die transzendentale Konstitution eröffnet aus sich selbst den Freiraum für die „reine Empirie“ (= Erfassung besonderer Gesetze). Diese kann und soll die Grenze des durch transzendentale Ableitung grundgesetzlich Erwiesenen überschreiten, oder besser gesagt: Sie findet im Gebiet dessen, was transzendental aufgeklärt ist, den Boden für ihre eigene Arbeit. Die reine Empirie muß sich in dem Versuch, das zuerst faktisch Gegebene systematisch zu erfassen, über die Sinneswahrnehmungen hinausgehend der instrumentalen Messung und der Beobachtung bedienen (vgl. 170). Fichte bestreitet somit einen totalen Apriorismus in der Naturerkenntnis17: Über die transzendentalen Erkenntnisbedingungen hinaus, die eine apriorische Naturlehre zu liefern hat, sind wir bei der Auffassung der Natur in deren Bestimmtheit auf die aposteriorische Beobachtung angewiesen. Die Wissenschaftslehre unterscheidet daher zwischen apriorischer Grundstruktur der Natur und ihrer aposteriorischen Besonderheit (vgl. 94). Der induktiv-empirische Ansatz ist notwendiges Korrelat des transzendentalen. Er geht von Basis-Daten der Wahrnehmung, letztlich von den Sinnesempfindungen aus und ist vorrangig „ontologisch orientiert“. Lauth führt aus: Gewisse Sinnesdaten erscheinen in Raum und Zeit geordnet; sie können nicht a priori erräsonniert, sondern müssen „historisch“ – d. i. aus der Erfahrung – aufgenommen werden. Diese Daten werden möglichst exakt mathematisch und rein begrifflich beschrieben. Derartige Beschreibungen werden z. T. durch Experimente ermöglicht. Von den einzelnen Gegebenheiheben und regulierend begreifen“ (TN, 89). Es darf aber nicht außer acht gelassen werden, daß „zum reellen Handeln […] es nun nur dadurch [kommt], daß wir nicht an die einander folgenden je einzelnen Hemmungen in der Linie der bloßen Zeitfolge gebunden sind, sondern innerhalb der Zeitlinie Alternativen (nichtzeitlicher Art) präsent haben“ (TN, 86). Vgl. auch: „Besinnen wir uns an dieser Stelle darauf, daß das Ich ja nur deklinieren kann, weil es verbreiten konnte. Durch die Verbreiterung sind ihm aber mehrere Hemmungen gleichzeitig gegeben. Diese bilden eine in jedem Zeitmoment gegebene Hemmungskonstellation. Alle Hemmungen einer solchen Konstellation sind zugleich jeweils mögliche Ausgangspunkte für ein einsetzendes Deklinieren. Man kann also sagen, daß mit jeder Deklination eine andere Hemmungskonstellation wirklich wird und daß damit eine andere Situation für ein weiteres mögliches Deklinieren gegeben wird. Diese veränderte Konstellation und Situation wird vom Ich im Erfolgsfalle als durch seine Handlung herbeigeführte Veränderung des Objekts erlebt“ (TN, 91). 17  Vgl. die interessante Erklärung Lauths zu Fichtes eigener Haltung hinsichtlich der Ausgabe einer wissenschaftlichen Darstellung der Naturlehre: „Es ist in hohem Maße charakteristisch, daß Fichte persönlich sich auf die Darlegung der apriorischen Grundgesetze der Natur, ihre epistemologische Begründung und ihren generellen Zusammenhang mit den besonderen Gesetzen beschränkt hat. Dies dürfte auch der Grund sein, warum er keine Naturlehre (als Disziplin der Wissenschaftslehre) gelesen hat; ihm fehlten dazu die nötigen ausgedehnten aposteriorischen Kenntnisse. Fichte war sich auch dessen wohl bewußt“ (TN, 75).



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ten wird durch Generalisierung zu empirischen Gesetzen fortgegangen, welche hypothetisch und, wenn genügend bewährt, in Gestalt einer Theorie den Daten unterlegt werden (vgl. 169). Die Schlüsse, mittels deren wir eine besondere Ordnung der Natur – z. B. das Newtonsche Gravitationsgesetz – gewinnen, sind „Schlüsse der reflektierenden Urtheilskraft“, welche „Hypothesen“ entwirft (vgl. 72)18. Wenn eine Hypothese das Gegebene erklärt, so gelingt das, was Fichte Induktion nennt. „Mittels Induktion werden alle besonderen Naturgesetze gewonnen“ (14)19. Ebenso wie den bloßen Apriorismus bestreitet Fichte aber auch den bloßen Empirismus. Das „bloß Empirische“ kann niemals rein für sich, sondern immer nur in und mit apriorischen Voraussetzungen auftreten (vgl. 77). Das bloß Aposteriorische ist ein im ständigen Fließen des Bewußtseins sich ständig Veränderndes und deshalb ein Verfließendes. Es muß aus diesem Verfließen durch Attention herausgehoben und als identisch festgehalten werden. Selbst die (minimale) Identifizierung bloß als „etwas“ erfolgt nur, wenn der Begriff des Etwas an das (sonst) Verfließende herangetragen wird (vgl. 79). Das Aposteriorische wird daher in apriorischen Rahmenbedingungen notwendig erfaßt. VIII. Die reflektierende Urteilskraft in ihrer Leistung der Konstitution der organischen Natur Die epistemologische Grundlage des Erfahrungswissens um eine organische Natur besteht in einer bestimmten Leistung der reflektierenden Urteilskraft, die Fichte bereits in der Practischen Philosophie (1794) herausgestellt hat. Über Kant hinausgehend hat Fichte nach Lauth eine Systematik der Reflexionsideen aufgestellt, welche in Umkehrung der Verstandeskategorien die lebendige Natur erschließen. Die reflektierende Urteilskraft, die diesen Bereich fundiert und in ihm eine konstitutive Rolle ausübt20, arbeitet hier 18  Vgl. zur Rolle der reflektierenden Urteilskraft in der Induktion: „Wir müssen alle Begriffe, die wir von den historischen Daten aus und an ihnen gewinnen wollen, selbst entwerfen und, soweit sie nicht schon vom Verstande zur Konstitution des Außenobjekts apriorisch investiert sind, mit der reflektierenden Urteilskraft erfinden und an das zu Bestimmende herantragen, um es gegebenenfalls (ob dies möglich sein wird, hängt von seiner spezifischen anschaulichen Gegebenheit ab) mittels ihrer zu begreifen. Dies gilt für alle Merkmale, die induktiv gewonnen werden“ (TN, 73). 19  Man darf dabei auch nicht die grundsätzlich praktische Bedeutung der theoretischen Induktion vergessen: „Es geht uns nicht nur um die möglichst exakte Vorstellung in der Einheit, sondern darüber hinaus ganz wesentlich um die Vorhersage und damit um praktische Beherrschbarkeit der Physis“ (TN, 94). 20  „Fichte behauptet also in einem gewissen Bereich des Wirklichen, auch des Außenwirklichen, eine konstitutive Funktion der Begriffe der reflektierenden Urteilskraft“ (TN, 166).

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mit der Umkehrung der Relationen: Sie vertauscht die Relationsbegriffe Substanz / Akzidens, Ursache / Wirkung und Wechselwirkung (=  Einheit aus gegenseitiger Einwirkung) und verwandelt sie in die Begriffe der Bewegung, Zweckhaftigkeit und Organisation. Die Urteilskraft vermag dies aber nur, indem sie an den Grundverhältnissen der Substantialität, Kausalität und Wechselwirkung das jeweils fundierende Moment gedanklich antizipiert; so z. B. die Ursache in der Wirkung. So etwas wie Bewegung ergibt sich nur, wenn die Relationsglieder der Substantialität „verwechselt“ werden, was nur dann möglich ist, wenn das tragende Relationsglied, die Substanz, doppelt angesetzt wird, und „zwar dabei einmal rein gedanklich antizipierend“ (101, Hervorhebung von mir). Wie die Relationskategorien der unorganischen Natur, so liegen deren Umkehrungen, das sind die Reflexionsideen der Bewegung, Zweckhaftigkeit und Organisation, notwendig jeder Konzeption des Lebendigen zugrunde. Ohne sie ist keine organische Welt denkbar; aber auch nur mit ihnen und durch sie ist eine organische Welt für uns da (vgl. 157–158). Bloße Materie, selbst sofern dynamisch konzipiert, vermag nicht gedanklich zu antizipieren; sie kann daher keine Organisation bilden, sondern nur in ihrer faktischen Konfiguration einer solchen entsprechen. Daß nun diese Entsprechung kein bloß ‚subjektives‘ Vorgehen sei, verbürgt das zweckhafte Handeln der sich bildenden Vernunft in praxi selber. So wie im Theoretischen die Anschauung vor dem Verstande vorhergeht, so im Praktischen das Streben vor dem vollbewußten Wollen. Die Vernunft vollzieht in ihrem „Bildungstrieb“ auf unterer Ebene strebend ihr Ziel, indem sie spontan gegen das Substrat der Hemmungen durch auswählendes Linienziehen angeht. Sie läuft „selegierend“ Hemmungskonstellationen ab, die „einer ZweckWechselwirkung“ entsprechen, als welche der Organismus anzusehen ist. An den selegierten Hemmungen und über ihnen verwirklicht sich daher durch spontanes Handeln der sich bildenden Vernunft die Organisation, und die wirkliche Organisation wird von der reflektierenden Urteilskraft in theoretischer Funktion (oder auch: von der „Vernunft als reflektierender Urteilskraft“), die sich hierbei auf das eigene Streben der Vernunft selbst bezieht, als wirklich bestehend erfaßt (vgl. 178 f.). Während in der Wechselwirkung des Verstandes die Einheit nur additiv aus den Kausalreihen hervorgeht, ergeben sich in der Einheit der Organisation die kausalen Zweckreihen in ihrer Verflechtung aus der Einheit selbst. IX. Organische Natur Der transzendentalphilosophischen Lehre von der organischen Natur zufolge kann sich alles organische Leben nur auf Basis von Hemmungskonstellationen und der gesetzmäßigen Ordnung des Unorganischen entfalten



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(vgl. 136). Der Organismus funktioniert nur auf Grundlage der regelmäßigen Gesetzlichkeit der unorganischen Natur. Dennoch ist der mechanische Prozeß nicht der organische, der folglich nicht zureichend durch den ersteren beschrieben werden kann (vgl. 110 f.). Wie bereits angedeutet, stellt die Organisation eine Einheit dar, in der die einzelnen zweckmäßigen Wirkungen nicht isoliert hervorgebracht werden und sich nicht additiv vereinigen. Sie konstituiert vielmehr eine Einheit, aus der die einzelnen Wirkungen – sie bildend und zugleich von ihr gebildet – hervorgehen. Organisation ist Zusammenbindung von Kräften und deren Wirkungen in einer „Vieleinheit“21. Diese Verwirklichung des organischen Einheitsbezuges ist aber nur dann möglich, wenn sie oberhalb der mechanischen, additiven Wechselwirkung von Kräften als eine zweite, höhere Wechselwirkung aus der Einheit realisiert wird, in der qualitative Kräftebeziehungen im Spiel sind. Von sich aus ergibt die unorganische Bewegung niemals einen Organismus. Zu diesem gehört noch eine Kausalität besonderer Art, nämlich eine Kausalität der Qualitäten. Fichte nennt dieses höhere Kraftverhältnis ein „chemisches“ (111), wobei zu bemerken ist, daß das Wort „chemisch“ anders als in Schellings zeitgenössischen naturphilosophischen Schriften verwendet wird. Lauth macht deutlich, daß diese „chemischen“ Kräfte auf einem „Streben“ (zunächst in der weitesten Bedeutung des Wortes genommen) beruhen22, und bezeichnet sie auch als „physiologische“ Kräfte (162). Sie wirken durch „Anziehung und Abstoßung“, aber nicht „durch Masse“ – wie im Falle des „mechanischen“ Verhältnisses –, sondern durch „Beschaffenheit der Masse“ (vgl. 112; Lauth bezieht sich hier auf die Platner-Vorlesungen, GA IV / 1, 392). Die Organisation ist eine Vereinigung von inneren Kräften, nicht von äußeren Teilen. In den Platner-Vorlesungen heißt es: „Es ist da chemische Anziehung des Ganzen, durch Verwandtschaft“ (GA II / 4, 272). Andererseits ist die – im Fichteschen Sinne – chemische Wechselwirkung nur Substrat 21  Vgl. auch folgende Erklärung zur statischen und dynamischen Betrachtung des Organismus: „Wie nun bei der theoretisch-faktischen Kausalität Kausalreihen in der Wechselwirkung ineinandergriffen, so greifen zufolge unserem Urteil auch Zwecksetzungen durch Wechselwirkung ineinander. Ein solches Ineinandergreifen stellt eine Organisation (einen Organismus) dar. Statisch genommen ist die Organisation ein Zustand, in dem von mehreren Zwecksetzungen jede nicht nur ihren Zweck, sondern auch den der anderen Zwecksetzungen realisiert bzw. realisieren soll. Dynamisch genommen erfolgt dies in bestimmten Bewegungen“ (TN, 108). 22  Vgl. auch: „Die ‚chemische‘ Kausalität und Wechselwirkung kommt aber erst durch den organisierenden Trieb ins Spiel. Dieser setzt, wenn das ihm zugrunde liegende Streben zum Zuge kommt, die chemischen Kräfte in aktuelle Wirksamkeit. Die Annahme, die chemischen Kräfte würden sich durch Addition ihrer einzelnen Wirkungen zur Wechselwirkung selbst zur Organisation formieren, ist gänzlich zu verwerfen; eine solche Annahme stellt eine metabasis eis allo genos dar“ (TN, 121).

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des Lebens des Organismus. Daß Stoffe vorhanden sind, die durch Organisation in „chemische“ Wirkung und Wechselwirkung treten können, ist allerdings conditio sine qua non; aber diese Stoffe werden von sich allein nicht „chemisch“ wirksam. Erst das Verlangen des organischen Strebens nach bestimmten Wirkungen der Qualitäten (in der Vereinigung) macht sie aktiv. Dieses organisierende Streben bringt aber darüber hinaus auch schon für sich bestehende Organisationen untereinander in höhere Organisationsbeziehungen (vgl. 122 f.), und wo eine höhere Organisation bereits bestehen­ de Organisationen organisiert, hat es das organisierende Streben nicht nur mit einfach hemmenden Bestimmungen zu tun, sondern mit Hemmungen, die ihrerseits Tendenzen sind. Eine Gesamtorganisation gliedert sich somit in untergeordnete Organisationen und Organisationsverbände. X. Pflanze und Tier Ziehen wir nun die Art und Weise in Betracht, wie sich Pflanzen und Tiere im organischen Naturbereich voneinander unterscheiden! In der organischen Welt – wie wir bereits gesehen haben – herrschen „chemische“ Anziehung und Abstoßung der Teile bzw. der Kräfte je nach ihrer „Verwandtschaft“. Nun sind zwei Fälle möglich: „Entweder das Naturprodukt selbst ruht, zieht nur an, u. stößt ab, ohne selbst angezogen u. abgestossen zu werden“, wie in den Platner-Vorlesungen (GA II / 4, 276) gesagt wird. Dies ist der Fall der Pflanze. Oder die Organisation zieht an und wird angezogen, stößt ab und wird abgestoßen, dann handelt es sich um ein Tier, welches durch organische Eigenbewegung ausgezeichnet ist. Der Naturlehre der Wissenschaftslehre zufolge zeigt sich, daß die Pflanze nur anzieht und abstößt, nicht aber angezogen und abgestoßen wird. Sie ist also auf das beschränkt, was in ihren Wirkungskreis kommt. Die Pflanze bewegt sich nicht vom Ort23. Das Tier hingegen wird darüber hinaus auch angezogen und abgestoßen, unterliegt also einer doppelten, gleichzeitigen Wirkung, eben der seinigen und der fremden. Das bewirkt seine Eigenbe23  Die Pflanze kann ihrerseits auch Prinzip einer Bewegung in der Natur sein: „Die Pflanze kann als unbewegter Beweger“ bewegen (TN, 128). „Diese Bewegung [der Pflanze] ist jedoch ganz anderer Art als diejenige des Tieres. Sie ist nur die im Fließgleichgewicht sich erhaltende Organisation, die sich in ständiger Umgestaltung erneuert, keine Bewegung der Organisation als Ganzes in Richtung auf andere Organisationen oder tote Gegenstände“ (TN, 130). Über den Zweck der Pflanze: „Es ist Zweck ‚der Pflanze, sich zu gestalten‘ [Bestimmung des Menschen, GA I / 6, 203]. Man muß dies aber nicht einseitig für das Pflanzenindividuum verstehen, sondern zugleich für die Pflanzengattung. […] Die organische Bildungskraft geht auf den ewig sich wiederholenden Zyklus, der vom Entkeimen zur Reife und vom reifen Samen zur Entkeimung u. w. u. w. führt“ (TN, 128).



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wegung. Das Prinzip dieses ursprünglichen Sich-bewegen-Könnens liegt im Leib des Tieres, freilich bloß durch seine eigene Natur, als Trieb, nicht als Freiheit (vgl. 126). Das, was das Tier von der Pflanze unterscheidet, ist daher die Fortbewegung im Raume, die Ortsveränderung infolge des in ihm wirksamen Triebes. Voraussetzung dafür ist die Beweglichkeit der Leibesteile gegeneinander mittels Artikulation (vgl. 131), auf der die Möglichkeit der Bewegung und ihr wirklicher Erfolg beruhen (vgl. 133). Aber noch mehr: Das Tier kann dank der Verbreiterung der „Gefühle“ zugleich von verschieden starken fremden organischen Wirkungen affiziert und dadurch bewegt werden. Somit besteht für seine Bewegung die prinzipielle Möglichkeit, verschiedenartig zu erfolgen, d. i., in verschiedenen Richtungen verlaufen zu können, je nachdem, was von woher stärker wirkt. Zwar vermag das Tier nicht, frei zu wählen, sondern wird durch die stärkere Wirksamkeit eines konkurrierenden fremden Agens determiniert. Gleichwohl sind für es mehrere Möglichkeiten (Alternativen) vorhanden, von denen es die eine statt der anderen verfolgen kann, allerdings nicht aus freier Wahl, sondern aus Trieb (vgl. 136)24. Bezüglich dieser Bewegungsmöglichkeit scheint Fichte in den PlatnerVorlesungen eine gewisse ‚Freiheit‘ im animalischen Leben einzuräumen. Während der Zweck der Pflanze die bloße Fortpflanzung (Vegetation) ist, ist der des Tieres das animalische Leben. Was ist nun animalisches Leben? Die Antwort lautet: Es ist durch „freie, d. i. vom Mechanismus unabhängige, zweckmäßige Bewegung“ charakterisiert (vgl. GA II / 4, 273). Von welcher ‚Freiheit‘ ist aber hier die Rede? Lauth erklärt: Diese ‚Freiheit‘ beruht nicht auf Willensfreiheit, sondern ist „durch chemische Anziehung und Abstoßung“ zu erklären (132). Sie ist – man könnte diesen wichtigen Punkt folgendermaßen ausformulieren – ein zweckmäßiges Sich-bewegen-Können, das von anorganischen Gesetzen unabhängig, nämlich über diese hinausgehend, erfolgt, wobei unsere Bezeichnung als ‚frei‘ erst analogisch durch Übertragung von Ich-Momenten auf die tierische Selbstbewegung legitim stattfinden kann25. 24  „Da [das Tier] keine freie Wahl hat, wird seine Bewegung, die hier in mehreren Richtungen hätte erfolgen können, durch den stärker determinierenden Faktor bestimmt. Dennoch sind durch die Möglichkeit, von mehreren Faktoren angezogen oder abgestoßen zu werden, Alternativen zu mehreren Ortsbewegungen eröffnet. Im Gegensatz zum Menschen aber kann das Tier nicht unter ihnen auswählen“ (TN, 128). 25  Zur Frage, welche Art von Vorstellungen dem Tier zuerkannt werden könnten, vgl. folgende Passage: „Fichte hat in der Zeit vor der Konzeption der Wissenschaftslehre noch angenommen, das Tier habe Vorstellungen, die, selbst notwendig, es determinierend bewegten [vgl. Fichte: Zurückforderung der Denkfreiheit, in: GA I / 1, 175]. In der Wissenschaftslehre lautet seine Lösung des Problems gerade umgekehrt. […] Das Tier hat freilich Empfindungen in dem Sinne, daß seine Nervenendpunkte

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XI. Anthropos Welches Menschenbild ergibt sich aus dem Blickwinkel der transzendentalen Naturlehre? Zunächst ist zu bemerken, daß ein solches nicht das einzige Menschenbild ist, das im Rahmen des Systems der Wissenschaftslehre als Lehre des absoluten Bildens herausgestellt werden könnte: Es läßt sich nämlich ebenfalls ein Bild des Menschen je nach dem rechtlichen, sittlichen und religiösen Gesichtspunkt herausarbeiten. Die Naturlehre vermag nur ein partielles, jedoch nicht nebensächliches Menschenbild anzugeben. Biologisch betrachtet ist der Mensch ein Naturprodukt, wie das Tier. Als animal, d. i. als belebtes, sich bewegendes Wesen, hat er ein Nervensystem und eine Artikulation. Wie das Tier empfindet er „objektiv“. Aber – führt Lauth aus – der Mensch empfindet auch über das Empfinden des Tiers hinausgehend „subjektiv“, d. i., er ist sich seiner Gefühle und seines Triebes bewußt (vgl. 140). Wie bereits gesehen, ist das Tier vor der Pflanze schon dadurch ausgezeichnet, daß es auf Grund der Artikulation prinzipiell befähigt ist, in mehrere Richtungen angezogen zu werden und sich zu bewegen, selbst wenn es notwendig der stärkeren Anziehung unterliegt. Diese Artikulation erweist sich nun beim Menschen als geeignetes Instrument eines „Verstattens“ seitens der Vernunft, die bestimmen kann, ob und in welche Richtung die Bewegung erfolgt, gleichgültig dem gegenüber, welcher Trieb in actu der stärkere sei. Lauth hebt an einer entscheidenden Stelle seiner Rekonstruktion hervor: „Es ist keineswegs selbstverständlich, sondern höchst merkwürdig, daß die […] rein biologische Artikulation über ihre zoologische Funktion hinaus als Instrument der Freiheit zu dienen vermag“ (144). Die „Entwicklungslehre“ – man könnte auch sagen: die Evolutionstheorie26 – erklärt das gewöhnlich mit dem in einer geschichtlichen Epoche erfolgten Übergang der Natur zum Menschen. Nach der Transzendentalphilosophie ist jedoch eine solche Erklärung unmöglich, denn das Bewußtsein bzw. die Reflexion resultiert unmöglich als Eigenschaft eines einfach positiv Seienden (der Materie). Der transzendentale Gedanke erweist nach Lauth genau das Gegenteil, nämlich daß die tierische Organisation und insbesondere die Artikulation im Menschen ein Derivat und Entfaltungsmoment reeller Freiheit innerhalb des Sichbildens der Vernunft ist (vgl. 144–145). Nun, die spezifische Artikulation des Menschen und die Anstrengung, durch die er als vernunftbegabtes Wesen sich ihrer als Instrument der Freierregt werden […]. Dennoch sind die Tiere ‚bloß Maschinen‘“ [Fichte: Practische Philosophie, in: GA II / 3, 196], natürlich keine mechanisch funktionierenden, sondern organische“ (TN, 134 f.). Das Tier hat „objektive“, nicht aber auch „subjektive Empfindungen“. 26  Zum Thema „Transzendentalphilosophie und Evolutionstheorie“ vgl. die genau so betitelten Fichte-Studien 4 (1992).



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heit zu bedienen lernt, machen den Menschen selbst zu einem unvollkommenen, „in gewisser Weise biologisch zweckwidrigen Tier – wenn man ihn nur als Tier betrachten will“ (vgl. 145). Das Tier ist in seinen Bewegungen durch die stärkere Anziehung bzw. Abstoßung bestimmt, der Mensch als Mensch nicht. Vom Tier und von dessen Instinktsicherheit aus gesehen ist der Mensch nur „ein äusserst unvollkommenes Thier, und gerade darum ist er kein Thier“, wie in der Grundlage des Naturrechts zu lesen ist (GA I / 3, 381). Lauth schließt sich hierbei einer Konzeption Rousseaus an: Der Mensch ist „un animal perfectible“ (vgl. 146), ein vervollkommnungsfähiges Tier. Ziehen wir noch ein bedeutendes Moment dieses im Rahmen der Naturlehre auftretenden Menschenbildes in Betracht. Nach dem Ansatz der Wissenschaftslehre ist im spezifischen Vernunftbereich das Naturstreben niemals einfach determinierend; sein Übergang in die Tat hängt stets von der Entscheidung der freien Vernunft ab. Letztere kann freilich keinen Naturtrieb erzeugen, sondern ist auf dessen Vorhandensein angewiesen, falls es zur äußeren Tat kommen sollte. Was immer wir handelnd verwirklichen, erreichen wir mit Hilfe der Naturkraft in unserem Leibe. Doch kann die freie Vernunft dem Naturtrieb sein Wirken gestatten oder dieses suspendieren27. Dieses Gestatten und Suspendieren eröffnet die Möglichkeiten dessen, was 27  Diese Auffassung des Menschen hat u. a. eine bestimmte Konzeption der Sinnenorganisation zur Folge: „Das Tier ist […] durch Artikulation ausgezeichnet und hat ein Nervensystem. Dem entspricht nun bei den höheren Tieren, vor allem aber beim Menschen als Lebewesen, daß die geschehenden Einwirkungen unorganischer und organischer Natur nicht alle bloß einfach unilateral determinieren. Wäre das der Fall, so könnte auf geschehene Einwirkung einer oder mehrerer Ursachen immer nur – ohne Alternative – eine Wirkung erfolgen. Soll aber von mehreren Einwirkungen auch nur die stärkere statt der schwächeren den Erfolg haben (den im anderen Falle die schwächere gehabt haben würde) und soll dieser Erfolg ein spezifisch ihr entsprechender sein, so muß es eine Schaltstelle für diesen Vorrangeffekt der stärkeren Einwirkung geben. Diese ist nun dadurch wirklich vorhanden, daß in den jeweiligen sensorisch-motorischen Sphären ein höheres und ein niederes Organ relativ getrennt voneinander gegeben sind. Wird das Lebewesen ‚chemisch‘ affiziert, so wird im Falle dieser Unterteilung der Organe nicht sein gesamter Leib affiziert, sondern zunächst nur der Sinn, der den Eindruck an die Motorik übermittelt. Nun könnte es so sein und ist auch in einem bestimmten Bereich so, daß der Sinneseindruck stets unmittelbar die reagierende Motorik bestimmt, und zwar uniform. Beim Menschen (spezifisch als Mensch) ist es aber nicht so; bei ihm ist die Motorik auf zwei Stufen verteilt, eben auf das jeweils höhere und das niedere Organ einer Sphäre“ (TN, 150). Über diese Einteilung der Sinne vgl. folgende Stelle aus den PlatnerVorlesungen: „Aus der Entfernung: Geruch. Aus der unmittelbaren Berührung: Geschmack. Dieses sind nicht Sinne für [Zwecke der] Erkennniß [als solcher] sondern nur für die [Zwecke der] Organisation: niedere Sinne; Gehör u. Gesicht [sind] höhere [Sinne, für die Zwecke der Bewegung]. Gefühl [tactus]: die Grenze zwischen beiden“ (GA II / 4, 82).

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Fichte „Ascetik“ nennt, als Kenntnis und Vollzug des Technisch-Praktischen, das seinerseits dem Moralisch-Praktischen dient (vgl. 152). Nun wird die menschliche Freiheit „aszetisch“ wirksam, indem sie entweder den Naturtrieb unterdrückt, d. h. nicht zur Wirkung kommen läßt, oder „an den Trieb der Leidenschaft einen Gegentrieb“ knüpft. Lauth erklärt nun, daß Fichte in der ersten Periode seiner Wissenschaftslehre immer nur diese beiden Möglichkeiten ins Auge gefaßt habe, während sich in der zweiten Phase, vor allem gegen deren Ende, seinem Nachdenken eine dritte Möglichkeit eröffnet habe. Es handelt sich um die prinzipielle Möglichkeit, daß der Naturtrieb – da er auch aus der Einheit des Vernunfttriebes hervorgeht – in den Vernunfttrieb, d. i. in das sittliche Streben, reintegriert werde (vgl. 154). Weder Unterdrückung noch bloße Entgegensetzung, sondern Integration der Natur in das Sittliche im Rahmen einer „geistigen Natur“: Das ist die Lösung, die Lauth zufolge Fichte erstmalig in den Reden an die deutsche Nation in ihrer ganzen Bedeutung erfaßt habe. Hier grenzt – könnte man hinzufügen – die Naturlehre an die sittliche Anthropologie, und zwar an das Menschenbild im Rahmen der Sittenlehre28. XII. Schlußbetrachtung Fassen wir schließlich einige Grundideen der Darstellung Lauths zusammen. Die Natur erweist sich bei Fichte als in sich differenzierte Einheit, als ein Ganzes. In diesem Ganzen wirken die Naturmomente in je spezifischer Weise ineinander. Die bloßen Hemmungen erscheinen nur durch Apposition in der Zeitreihe, von da aus werden sie im Raum verbreitet. Sie werden nach den Gesetzen des Verstandes als unorganische Natur in Statik, Mechanik (im engeren Sinne) sowie Dynamik und nach den Gesetzen der reflektierenden Urteilskraft als organische Natur konstituiert. Organische und (im weiteren Sinne) mechanische Wirkung greifen dann „artspezifisch“ ineinan28  Zu dieser integrativen Haltung vgl. auch folgende Stelle: „Der Mensch mechanisiert, und organisiert nicht, weil er Vernunftwesen ist und sich als Vernunft, d. i. frei, realisieren soll und realisiert. Aber die Vernunft selbst ist, sowohl was ihre theoretischen Vermögen als auch praktische Momente angeht, ein Ganzes. Ihre einzelnen Manifestationen greifen ineinander. Deshalb sind auch die Vernunfttriebe als letztlich miteinander harmonierend anzusehen. Der Mensch ist allerdings formal frei, und das synthetische Beziehen ist im dritten Grundsatz der ‚Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre‘ ausdrücklich als Teilabsolutes angesetzt. Er soll also und kann nur frei jene Harmonie ins Spiel kommen lassen, die die Vernunft ihrer An­lage nach indiziert. Deshalb organisiert der Mensch – im gewöhnlichen Sinne des Wortes organisieren – seine Handlungen und deren Effekte und Produkte zu einem Ganzen […] Es ist klar, daß die rationale Organisation mit der biologischen in eine Einheit höherer Art gebracht werden muß. Fichte nennt diese letztere ‚geistige Natur‘“ (TN, 156 f.).



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der, und zwar so, daß die mechanische der organischen zur Basis dient, was man freilich auch – aus dem anderen Winkel blickend – so ausdrücken kann, daß die unorganische Wechselwirkung ein niederes Bedingungsmoment der organischen sei, so wie diese sich ihrerseits als Bedingungsmoment des freien Wirkens herausstellt. Diese „funktionale Teleologie“, die ihre absolute Grenze an der Beschaffenheit der Hemmung hat, macht die Natur zu einer konkreten Einheit, ja – wie Lauth hervorhebt – sie „macht [die Natur] zu einem zweckmäßig funktionierenden Moment der sich realisierenden Freiheit“ (vgl. 160 f.). Denn die Organismen mit ihrer inneren Zweckgerichtetheit und ihren zweckgerichteten Bewegungen stehen nicht isoliert da, sondern sind Ausgliederungen einer Gesamtorganisation, „einer organischen Gesamtnatur“, die alles Leben bis hin zum Menschen als Lebewesen umfaßt29. Doch diese organische Wirklichkeit ist ihrerseits, wenngleich in sich geschlossen, „Dispositionsgrundlage“ der im Menschen in sie eingreifenden bewußten Freiheit. Dieses Verhältnis der organischen Natur zur Freiheit ist nicht zufällig, denn sie selbst ist ein Derivat derselben einen Vernunft, welche zunächst spontan gegen die Hemmungen als Vernunftstreben (genauer: als Naturstreben, das Teilkomponente des Vernunftstrebens ist) angeht und in der sich bildenden Freiheit in ihrer höchsten Form wirksam ist. Die biologische Realität ist nirgends als rein selbständige Gegebenheit vorhanden, sondern sie existiert nur derivierend aus der Vernunft (man könnte auch sagen: aus der absoluten Erscheinung, im absoluten Wissen) und als Vorgegebenheit in der voll reflektierenden Vernunft, die in Bezug auf sie disponiert, entscheidet und handelt30. Das bedeutet, daß die Natur nicht anders als in Bewußtseinsformen erfaßt werden kann, wobei diese Formen Entäußerungen und Übertragungen aus dem Ich im absoluten Bilden darstellen. Das Eigentümliche der organischen Naturlehre der Transzendentalphilosophie besteht Lauth zufolge gerade darin, daß sie nicht den „Geist“ aus dem natürlichen „Leben“, sondern umgekehrt die organische Natur aus dem vernünftigen Bilden ableitet und daß die Organisation nach ihrer Ableitung nicht aus physisch-chemischen Kräften hervorgeht, sondern als Folge von „Aktuierungen“ wirklich wird, die 29  Siehe auch: „Die Gesamtorganizität entspricht dem überindividuellen Gesamtbilden, das sich durch die Individuen hindurch in ihnen seiner selbst reflexiv bewußt wird, entscheidet und handelt. Dadurch ist auch die jeweilige Organisation des Individuums in den Organismus der gesamten Natur eingebettet und auf ihn bezogen. Unsere menschlichen Leiber haben ihre ganz bestimmte Stelle in der Totalität des Lebens, sowohl in deren gegenwärtiger Gegebenheit als auch in deren ‚Geschichte‘“ (TN, 164 f.). 30  Vgl. auch folgende Erklärung: „Die Welt des Naturstrebens mit der entsprechenden organischen Gesamtwirklichkeit ist folglich nur ein unselbständiges Moment der sich bildenden Vernunft. Sie ist, was sie in ihren Kräften und Gestaltungen ist, durch die absolute Vernunft“ (TN, 162).

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das natürliche Streben selbst (als Teilkomponente des Vernunftstrebens) bewirkt. Damit fallen wir aber nicht in eine bloße Als-ob-Ordnung, in eine bloß ‚subjektive‘ Betrachtungsweise zurück, denn es ist die sich bildende Vernunft selbst, die sich nach ihren apriorischen (subjekt-objektiven) Gesetzen in bezug auf die Besonderheit der Hemmungen die Gesamtrealität so denken muß, damit die Freiheit, letzten Endes die sittliche Freiheit wirklich werde. Wie bereits angedeutet, grenzt die Naturlehre mit dieser „funktionalen Teleologie“ und insbesondere ihrer Anthropologie an die moralische Anthropologie der Sittenlehre. Die Natur besteht in ihren Formen, weil sie für die bildende Freiheit in dieser Art beschaffen sein muß, um als Objekt ihrer Selbstverwirklichung fungieren zu können. Nun ist die Freiheit im absoluten Bilden das mit Notwendigkeit anzusetzende Korrelat der sittlichen Forderung der Vernunft. Wir sind uns unserer Freiheit unmittelbar bewußt; aber wir werden uns ihrer nur gewiß („Du kannst“), weil – Kantisch gesprochen – sie sich vom Sittengesetz („Du sollst“) her gefordert als einsichtig und als zu Recht gefordert erweist. Man darf dabei nie das vergessen, was Lauth als die „transzendentale Wahrheit“ in Sachen Naturlehre bezeichnet: „Die Natur ist Produkt der Intelligenz; wie kann denn wiederum außer durch einen offenbaren Cirkel die Intelligenz Produkt der Natur seyn?“ (aus: Sätze zur Erläuterung des Wesens der Thiere, in: GA II / 5, 421 f.). Dieser höchst bedeutende Satz – der Lauth zufolge als kritische Stellungnahme gegen den Schellingschen „Idealismus der Natur“ angesehen werden muß31 – drückt den wesentlichen Punkt einer transzendentalen Naturauffassung aus und gilt ihm zugleich als leitendes Motiv seiner anspruchsvollen (und natürlich diskussionswürdigen) Rekonstruktion / Konstruktion der Naturlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre. Bibliographie Girndt, Helmut: „Über den Umgang mit der empfindungsfähigen Natur nach J. G. Fichte“, in: Mues, Albert (Hrsg.): Transzendentalphilosophie als System. Die Auseinandersetzung zwischen 1794 und 1806 („Schriften zur Transzendentalphilosophie“, Bd. 8), Meiner, Hamburg 1989, 134–146. – „Die fünffache Sicht der Natur im Denken Fichtes“, in: Fichte-Studien 1 (1990) 108–120. Gloy, Karen: „Die Naturauffassung bei Kant, Fichte und Schelling“, in: FichteStudien 6 (1994) 253–275. 31  Das Wesentliche der Fichteschen Stellungnahme zu Schellings Naturphilosophie in der Sicht von Lauth ist jetzt in seinem bereits zitierten Band Schelling vor der Wissenschaftslehre enthalten.



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Ivaldo, Marco: „Figure della filosofia della religione nel pensiero di Fichte“, in: Archivio di filosofia LXXV (2007) 1–2, 97–112. – „Reinhard Lauth (1919–2007)“, in: Annuario filosofico 23 (2007) 5–10. Jerrentrup, Christian (Hrsg.): Bibliographie Reinhard Lauth, München 2002. Lauth, Reinhard: Die Frage nach dem Sinn der Daseins, München 1953. – Die absolute Ungeschichtlichkeit der Wahrheit, Stuttgart / Berlin 1966. – Begriff, Begründung und Rechtfertigung der Philosophie, München und Salzburg 1967. – Ethik in ihrer Grundlage aus Prinzipien entfaltet, Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1969. – Theorie des philosophischen Arguments, Berlin / New York 1979. – Die Konstitution der Zeit im Bewußtsein, Hamburg 1981. – Zur Idee der Transzendentalphilosophie, München / Salzburg 1965; Hegel vor der Wissenschaftslehre, Mainz 1987; – Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre („Schriften zur Transzendentalphilosophie“, Bd. 6), Hamburg 1984. – Transzendentale Entwicklungslinien von Descartes bis zu Marx und Dostojewski, Hamburg 1989. – Vernünftige Durchdringung der Wirklichkeit. Fichte und sein Umkreis, MünchenNeuried 1994. – La doctrina transcendental de la naturaleza de Fichte según los principios de la doctrina de la ciencia, übers. von Alberto Ciria u. Jacinto Rivera de Rosales, Universidad Nacional de Educación a Distancia, Madrid 2000. – Con Fichte, oltre Fichte, hrsg. von Marco Ivaldo, Turin 2004 . – Schelling vor der Wissenschaftslehre, neue, völlig überarbeitete Aufl., München 2004. Lukjanov, Arkadij V.: „Der Sinn der transzendentalen Naturlehre Fichtes“, in: Fichte-Studien 11 (1997) 13–22. Mues, Albert: „Fichtes Kritik an Kants Verständnis der Physik. Zur Einheit der Physik“, in: ders. (Hrsg.): Transzendentalphilosophie als System. Die Auseinandersetzung zwischen 1794 und 1806 („Schriften zu Transzendentalphilosophie“, Bd. 8), Hamburg 1989, 68–80; – „Der Grund der Dualität der Materie und des Indeterminismus in der Physikalischen Natur. Die Lösung eines quantenphysikalischen Rätsels“, in: Fichte-Stu­ dien 6 (1994) 277–301. – „Der Grund der Dualität der Materie. Zweiter Teil: Der Wellencharakter“, in: Fichte-Studien 2 (2003) 107–119. Oesterreich, Peter Lothar / Traub, Hartmut: Der ganze Fichte. Die populäre, wissenschaftliche und metaphilosophische Erschließung der Welt, Stuttgart 2006.

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Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich: „Das Problem der Natur. Nähe und Differenz Fichtes und Schelling“, in: Fichte-Studien 12 (1997) 211–233. Wodarzik, Ulrich F.: „Zum Natur / Geist-Verhältnis bei Kant und Fichte. Über die Antinomie des Denkens und Paradoxien der theoretischen Physik“, in: FichteStudien 22 (2003) 89–105.

Der Naturbegriff in den Ultima Inquirenda1 Federico Ferraguto I. Transzendentalphilosophie, Wissenschaftslehre und Naturlehre2 Der Aufbau einer Naturlehre stellt eines der schwierigsten Themen der Transzendentalphilosophie dar. Aus theoretischer Sicht wird die Natur zu ihrer grundlegenden Grenze. Um eine Naturlehre zu bilden, soll die Transzendentalphilosophie einerseits eine streng a priori und aus einem Prinzip gebildete Wissenschaft bleiben. Andererseits soll sie sich zur Induktion hin öffnen, ein Aposteriori rechtfertigen und sich selbst als einen Standpunkt begreifen, der nicht imstande ist, das Gegebene zu produzieren, sondern es nur als solches zu verstehen. Das involviert einerseits die Zurückweisung eines bloßen Idealismus und andererseits ein Verständnis von Wirklichkeit, das die erscheinende Welt als Modifikation der Freiheit versteht, als deren Konstruktion und Re-Konstruktion. Vom historischen Standpunkt aus bedeutet der Aufbau einer transzendentalen Naturlehre die Erweiterung des Kantischen Kritizismus in eine Richtung, welche die praktische Vernunft als ein bestimmendes Prinzip der Gegenstandskonstitution begreift. Dies versucht die Wissenschaftslehre (= WL) Fichtes, nicht ohne Schwierigkeiten, Gemeinplätze und Kritiken3. Der Aufbau der Naturlehre bringt dabei die ganze Transzendentalphiloso1  Noch vor dem Erscheinen in Band II / 17 der historisch-kritischen Ausgabe Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth, Hans Jacob, Hans Gliwitzky, Erich Fuchs und Peter K. Schneider, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962–2012 (im folgenden abgekürzt: GA, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl) wurden die Einleitung in die Wissenschaftslehre von 1813, die WL 1814 und das sogenannte Diarium III unter dem Titel Ultima Inquirenda. J. G. Fichtes letzte Bearbeitung der Wissenschaftslehre Ende 1813 / Anfang 1814, hrsg. v. Reinhard Lauth, Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, herausgegeben; im folgenden abgekürzt: UI. 2  Ich bedanke mich sehr herzlich bei Prof. Helmut Girndt für die sprachliche Durchsicht dieser Schrift und für die mir von Dr. Erich Fuchs zur Verfügung gestellten, damals in der Fichte-Gesamtausgabe noch nicht veröffentlichten Manuskripte Fichtes. 3  Vgl. Reinhard Lauth: Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, Hamburg 1984, XIII–XVI.

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phie ins Spiel. Sie berührt die Überlegung über die Vollendung der WL als philosophia prima, die Entwicklung ihrer spekulativen Voraussetzung und die Bestimmung des Anfangs bzw. des Eingangs in die Transzendentalphilosophie. Denn die WL geht gerade von einer Erklärung der gemeinen Seinsauffasung aus4. Im Kontext der Naturlehre heißt ‚Vollendung‘ sowohl Vollständigkeit der Beschreibung menschlicher Erfahrung nach Prinzipien als auch strenge Prinzipienbestimmung im Hinblick auf eine Rechtfertigung der Resultate der Beschreibung. Im Briefwechsel mit Schelling leugnet Fichte keineswegs dessen Anliegen, die WL im Sinne einer solchen „Vollendung“ zu erweitern5. Vielmehr weist er nur Schellings Idee zurück, die Natur als Selbstreflexion der Natur zu verstehen, statt als System der Begrenzung des Ich. Die transzendentale Naturlehre würde, folgte man Schellings Naturtheorie, zur Kehrseite einer Erweiterung der WL „in ihren Principien“, d. h. hinsichtlich ihrer Weiterbildung zu einer transzendentalen Konzeption der Geisterwelt und einer Vertiefung der Überlegung über die ursprünglich praktische Konstitution der Vernunft6, durch die es allein möglich werden würde, die von Fichte am Ende seiner spekulativen Laufbahn entworfene Konzeption einer „Physicierung des Idealismus“ zu denken7. In dem Werk Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre gibt Reinhard Lauth dessen Naturlehre als ein Ganzes wieder. Fichte entwickelt sie, „ohne sich empirischer Anleihen zu bedienen“8, aus einem erkenntniskritischen und transzendental-ontologischen Gesichtspunkt. In diesem besonders mit dem Denken Fichtes in der Jenaer Zeit übereinstimmenden Buch überschneiden sich die Auslegungen Fichtes, 4  Vgl. nur als Beispiele: Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, in: GA I / 4, 193; Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, in: GA I / 4, 211–212; Wissenschaftslehre 1805, in: GA II / 9, 180; Transzendentale Logik I. Vom Verhältniß der Logik zur wirklichen Philosophie, in: GA II / 14, 35–36; Fichte: Einleitungsvorlesung in die WL 1813, in: GA II / 17, 234 f. 5  Fichte: „Brief vom 3.10.1800“, in: GA III / 4, 317. 6  Vgl. den Brief Fichtes an Schelling vom 27.12.1800: „es fehlt noch an einem transscendentalen Systeme der intelligiblen Welt; Ihren Saz, daß das Individuum nur eine höhere Potenz der Natur sey, kann ich nur unter der Bedingung richtig finden, daß ich die Natur nicht bloß als Phänomen (und insofern offenbar von der endlichen Intelligenz erzeugt, daher nicht wiederum sie erzeugend) setze, sondern ein Intelligibles in ihr finde, von welchem überhaupt das Individuum die niedere, von etwas in ihm aber (dem Ur bestimmbaren) die höhere Potenz (das bestimmte) ist. In diesem Systeme des Intelligiblen allein können wir uns über diese, und andere Differenzen durchaus verstehen, und vereinigen“ (GA III / 4, 406 f.). 7  Fichte: Tagebücher über den animalischen Magnetismus, in: GA II / 17, 354 ff. 8  Lauth: Transzendentale Naturlehre, XVI.



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die gedanklich selbständigen Ausführungen Lauths und das Fortschreiten der Gedanken Fichtes hin zu einer umfassenden transzendentalphilosophischen Vorlage. Alles dies bestimmt sich zudem wechselseitig. Auf den ersten Blick ist es deshalb schwierig, die Rekonstruktion von Fichtes verstreuten Gedanken über die Natur in veröffentlichten wie nachgelassenen Schriften von gedanklichen Zusätzen Lauths zu unterscheiden9. Noch schwieriger ist es, den Beitrag Lauths zur Fichte-Forschung von dem Versuch zu trennen, eine transzendentale Einsicht aus Prinzipien zu entwickeln, welche die Resultate des wissenschaftlichen Fortschritts der Gedankenentwicklung Fichtes vorwegnimmt. Diese beiden Aspekte schienen auch fast zwei Jahrzehnte nach Erscheinen der Transzendentalen Naturlehre Fichtes sehr eng verbunden, als Lauth im Jahre 2001 unter dem Titel Fichtes Ultima Inquirenda bis dahin unbekannte Texte Fichtes veröffentlichte und die von Marco Ivaldo herausgegebene Aufsatzsammlung Con Fichte, oltre Fichte (i. e. Mit Fichte, über Fichte hinaus) parallel zu Lauths Ultima Inquirenda erschien10. Da erklärt Lauth, die Grenze der WL – sowohl als philosophia prima als auch als Naturlehre – sei der Vorzug ihres theoretischen Ausgangspunkts, obwohl die WL den ursprünglich praktischen Horizont der Konstitution des Wissens sehr wohl erkennen läßt. Ich werde zeigen, daß und inwiefern Lauths Interpretation der Lehre Fichtes von der Natur als eine Weiterentwicklung der WL zu verstehen ist. Ohne das transzendentale Anliegen zu verkennen, trägt das Werk Lauths und dessen Kritik an konkurrierenden Naturtheorien zu einer immanenten Vertiefung der WL in ihrer Spätphase bei. Unter diesem Leitgedanken werde ich die Grundzüge der Kritik Lauths an konkurrierenden naturphilosophischen Lehren darstellen (II. und III. Teil) und die sie rechtfertigende Fichtesche Basis erörtern (IV. und V. Teil).

9  Die von Lauth verfolgte Interpretation folgte dabei der schon in seiner Habilitationsschrift gereiften Einsicht in das Wesen der Natur; siehe Lauth: Die Frage nach dem Sinn des Daseins, München 1953. 10  Lauth: Con Fichte, oltre Fichte, hrsg. von Marco Ivaldo, Turin 2004. d. i. die Übersetzung von Lauth: „Der Vorrang des transzendentalen Zugangs zur Philosophie“, in: Marco Ivaldo / Erich Fuchs / Giovanni Moretto (Hrsg.): Der transzendentalphilosophische Zugang zur Wirklichkeit. Beiträge aus der aktuellen Fichte-Forschung, Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, 21–40; Lauth: „Il cuore della concezione pratica II“, in: Annuario Filosofico (2003); Lauth: „Il cuore della concezione pratica II“, in: Annuario Filosofico (2003). Der letzte Aufsatz: La direzione essenziale delta ricerca su Fichte (Zur grundsätzlichen Richtung der philosophischen Fichte-Forschung) war zuvor unveröffentlicht.

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II. Die Grundvoraussetzung der transzendentalen Naturlehre Fichtes In dem 1984 von Reinhard Lauth unter dem Titel Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre veröffentlichten Buch wird Fichtes Lehre aus ihrer Grundvoraussetzung heraus dargestellt. Sie besteht in der allgemeinen These: „Die Vernunft existiert als (sich ergreifende und bildende) Tendenz, sich selbst vollkommen zu realisieren“11. Diese allgemeine These wird „zunächst“ theoretisch spezifiziert: „die Vernunft strebt, sich vollkommen zu wissen“12, und danach aus einem praktischen Gesichtspunkt formuliert: „die Vernunft intendiert, vollkommen tätige Vernunft zu sein“13. Die Einheit beider Gesichtspunkte wird endlich zusammengefaßt: „Die Vernunft sucht sich absolut zu bilden“14. In diesem Kontext erscheint das Sein (der Erscheinung) als Reflex einer Selbstbeziehung der Vernunft. Nur in dieser Selbstbeziehung, die sich als Reflexion verwirklicht, weiß das Wissen bzw. die Vernunft von sich selbst als synthetische Einheit von Wissendem und Gewußtem, die aus einem ontologischen Gesichtspunkt nicht unterscheidbar sind. Vielmehr stellen sie zwei Seiten einer dualen Einheit dar, deren wirklicher Ausdruck das Bewußt-Sein ist. Die Vernunft ist daher immer bestimmt: Sie läßt sich strukturell als Schranke bzw. als auf eine Hemmung bezogene Selbstbestimmung verstehen. Die protologische Gestalt der Natur ist also eine relativ selbständige Hemmung, die im sie verwirklichenden Horizont des Bewußtseins erscheint. Nur durch diese Tätigkeit kann die Natur existieren15. Ich möchte nicht auf die gesamte Analyse Lauths eingehen16. Vielmehr ist es mir wichtig, mich auf den Sinn und die Konsequenzen der zunächst theoretischen Spezifizierung obengenannter Grundvoraussetzung zu konzentrieren. Nach Lauth involviert Fichtes Standpunkt, daß die Konstitution des Gegenstands und die der Verstandesgesetze (die Kategorien) synchron zu verstehen sind, d. h. als Elemente ein und derselben Synthesis. Wenn das Gegebene nicht vor der Vernunfttätigkeit da ist, dann lassen sich die Kategorien als konstituierende Bestimmungen des faktisch Gegebenen in seinen verschiedenen Aspekten verstehen17. Da verweist das Konstitutionsverfahren nicht auf eine Produktion des Gegebenen, sondern auf dessen Bestim11  Lauth: 12  Ebd.

Transzendentale Naturlehre, 17.

13  Ebd. 14  Ebd.

Transzendentale Naturlehre, 21. dazu den Aufsatz von Marco Ivaldo in diesem Band. 17  Fichte: Erste Einleitung, in: GA I / 4, 200. 15  Lauth: 16  Vgl.

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mung im Licht seines Verstandenwerdens. Insofern die genetische Naturerklärung des Gegebenen zu einer Möglichkeitsbedingung aufsteigt, gelangt sie „von unten nach oben fortfahrend zu immer höheren Gemütskräften und deren Leistungen“. Das ist aber „der wissenschaftlich weniger angemesse­ n[e] Weg, da auf ihm Leistungen faktisch eingeführt werden müssen, die erst beim Herabsteigen von der vollen Vernunftsetzung her ihre rechtfertigende Begründung finden“18. Dadurch ist die ganze Naturlehre bedingt. Wie in der WL nova methodo läßt sich die Rekonstruktion Lauths nicht nach einer rigiden Verteilung lenken, nach der die praktische Philosophie der Entwicklung der theoretischen folgt. Vielmehr geht sie vom Theoretischen aus und führt das Praktische ein, wenn es nötig ist19. Das Praktische ist sozusagen ein Mittel, damit die genetische Deduktion bis zum Praktischen selbst fortschreiten kann. Um sich entfalten zu können, muß das Praktische immer noch minimale empirische Anleihen machen, von denen nie Rechenschaft gegeben werden kann. Wie Kants Philosophie betont auch die WL den konstitutiven Wert des Aposteriori. Die WL geht aber über Kant hinaus, indem sie sich nicht begnügt, die Gegebenheit der Empfindungen anzunehmen. Sie will vielmehr deren Ursprung aus der praktischen Synthesis des Ich erklären20. Diese Auffassung kommt schon in der durch die Lehre der produktiven Einbildungskraft vollzogenen Erklärung der Konstitution des Außenobjekts und des damit verbundenen Ur-Raums zum Ausdruck. Denn die Einbildungskraft kann, was die formale Logik nicht vermag: das Nicht-Ich als Bestimmbares der Ichtätigkeit umfassen. Dadurch ist sie imstande, die unendliche Ichtätigkeit mit dem Anspruch zusammenzudenken, daß die Ichtätigkeit sich selbst im Licht einer Beschränkung verwirklicht. Die produktive Einbildungskraft bildet aber diese Einheit nicht als eine Synthesis, sondern als eine Systasis, d. h. als eine Synthesis der Apposition. Durch die produktive Einbildungskraft wird ja die Apposition, die Zu- und In-einander-Stellung der Ichtätigkeit und der Begrenzung begriffen. Alle diese Momente sind nicht zu einem Moment zu reduzieren. Jedes Moment muß durch das Schweben der Einbildungskraft zwischen Ich und Nicht-Ich erklärt werden. Dann bildet die Einbildungskraft das Nicht-Ich zunächst als mögliche Beschränkung der Ichtätigkeit, die Beschränkung selbst aber noch nicht vorkommen lassend: gerade wie beim Linienziehen, wo die Möglichkeit der unendlichen Tätigkeit durch ihre konkrete Bestimmung gedacht wird. Die Linie ist ein Fortschreiten durch unendlich viele Punkte. Sie kann ohne die Transzendentale Naturlehre, 21. Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo. Nachschrift Halle, in: GA

18  Lauth: 19  Vgl.

IV / 2, 17. 20  Lauth: Transzendentale Naturlehre, 47.

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sie konstituierenden Punkte nicht gedacht werden. Diese sind aber Ausdruck einer die Tätigkeit bindenden und ihr widerstehenden Hemmung. Die Punkte sind gemacht und werden gefunden. Sie sind gemacht: Denn ihrer Möglichkeit und ihrer Struktur nach sind sie vom Linienziehen gesetzt. Sie werden gefunden: Denn die wirkliche Hemmung wird durch die Struktur des Linienziehens nicht vorherbestimmt21. Der Punkt – und infolgedessen die wirkliche Linie – stellt die Negation der Tätigkeit dar, d. h. die Verwirklichung des Linienziehens, die von dieser Seite her nichts anderes ist als die konkrete Linie. In diesem Sinne ist die konkrete Linie das Andere des Linienziehens, und in demselben Sinn ist das Nicht-Ich bzw. das Etwas das Andere des Ich. Dann ist das Linienziehen die Form einer unendlichen und virtuellen Mannigfaltigkeit. Der Punkt und die konkrete Linie stellen hingegen die Materie bzw. ein rein Qualitatives dar, das zugleich als Negation und terminus a quo der sie bildenden Tätigkeit ist. Der Ur-Raum drückt die möglichen Richtungen aus, die aus der konkreten Linie hervorgehen können. In dieser Hinsicht stellt die konkrete Linie die wirkliche Spur einer unendlichen Freiheit und eines virtuellen bzw. noch nicht verwirklichten Horizonts auf22. Diese Passage stellt den Hintergrund der entsprechenden aus dem Praktischen hervorgehenden Analyse dar. In diesem Kontext drückt der Punkt eine durch das Streben des Ich und hinsichtlich eines von der produktiven Einbildungskraft praktisch vorzustellenden Ideals zu überwindende Hemmung aus23. Aus alle dem folgt eine erste Deduktion der Kategorien, sowie eine praktische Weiterbildung des organischen Gegenstandes als Tendenz, Intensität und Kraft, sowie die daraus folgende Wiederaufnahme des anorganischen Gegenstands auf dem höheren Niveau der organischen Natur, die von der durch reflektierende Urteilskraft bedingten Inversion der Relationskatego­ rien bestimmt ist24. Dadurch werden Substanz und Akzidens, Ursache und Wirkung, sowie die Wechselwirkung jeweils in die Begriffe von Bewegung, Zweckmäßigkeit und Organisation verwandelt. Diese Verwandlung verdankt sich einer Antizipation der Urteilskraft, durch die das Begründete sich im Begründenden vorwegnehmen läßt25. In der Bewegung stellt sich die Wirkung als Ursache dar, indem sie vom Denken als Ziel der Bewegung selbst bzw. als dynamische Ursache vorgestellt wird26. Die Vernunft kann sich Transzendentale Transzendentale 23  Lauth: Transzendentale 24  Lauth: Transzendentale sophie, in: GA II / 3, 241. 25  Lauth: Transzendentale 26  Lauth: Transzendentale 21  Lauth: 22  Lauth:

Naturlehre, 24. Naturlehre, 26 f. Naturlehre, 28 ff. Naturlehre, 100. Vgl. dazu Fichte: Praktische PhiloNaturlehre, 101. Naturlehre, 103.

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dann infolge einer Wahl der Richtungen ihres Bildens verwirklichen, d. h., sie kann sich Konstellationen von Hemmungen bilden27, welchen eine Form von Zweck- und Wechselwirkung bzw. ein Organismus entspricht. Im Organismus wird die kausale Reihe gekippt, indem er nicht nur das kausale Ergebnis seiner Teile ist, sondern auch die globale Struktur bzw. Zweckstruktur28, von der die Teile den ihr Leben rechtfertigenden und festlegenden Sinn bekommen29. Auf diesem Niveau bleibt die Naturlehre eine besondere Wissenschaft bzw. eine Teildisziplin30. Wie bekannt, ist eine Teildisziplin der Wissenschaftslehre durch eine genetische Einseitigkeit bedingt31. Im besonderen Fall der Naturlehre gesteht solche Einseitigkeit der theoretischen Vernunft einen Primat zu. Die theoretische Vernunft stellt ihren unausweichlichen faktischen Hintergrund, obwohl die Naturlehre Fichtes gegenüber der Betrachtung der praktischen Seite der Natur strukturell und wesentlich offen ist. In Lauths Rekonstruktion der Naturlehre Fichtes kommt das Praktische aber nur nach einer Darstellung und Rechtfertigung der typischen Leistungen der theoretischen Erkenntnis vor. Dies bedeutet, daß die A-priori-Gesetzmäßigkeit eines induktiven Modells, das benutzt wird, um das Gegebene zu verstehen, immer nur im Licht einer a posteriori bestimmten Erfahrung gebildet werden kann32. Andererseits gibt die besondere philosophische Wissenschaft die Struktur der philosophia prima wieder, zumindest im Sinne Fichtes. Die konkrete Darstellung der WL bedarf tatsächlich eines faktischen Moments, welches das rechtfertigende Verfahren der WL imitiert und welches die WL immer als ein Aposteriori rechtfertigen muß. III. Mit Fichte, über Fichte hinaus Die von Lauth durch die Rekonstruktion der Naturlehre entwickelte Einsicht der transzendentalen Konstitution der Natur entspricht der von Fichte schon in der Anweisung zum seeligen Leben entwickelten Auffassung der Philosophie bzw. der in diesem Text aufgestellten Beziehung von göttlichem Sein und konkretem Dasein: „Das reine Denken ist selbst das göttliche Dasein; und umgekehrt, das göttliche Dasein in seiner Unmittelbarkeit, ist nichts anderes, denn das reine Denken“33. Der von daher kommende PhiTranszendentale Naturlehre, 119 f. Transzendentale Naturlehre, 120. 29  Lauth: Transzendentale Naturlehre, 108. 30  Lauth: Transzendentale Naturlehre, 17. 31  Vgl. den § 5 von Fichte: Begriff der Wissenschaftslehre, in: GA I / 2, 134. 32  Lauth: Transzendentale Naturlehre, 74. 33  Fichte: Anweisung zum seeligen Leben, in: GA I / 9, 69. 27  Lauth: 28  Lauth:

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losophiebegriff verwirklicht sich u. a. in der Aufforderung, die der Neuzeit typische Tendenz umzukehren und das Buch der Natur verkehrt zu lesen34. Nach Fichte – und nach Lauth – drückt die Verkehrung eine Form des modernen Polytheismus aus. Dagegen wird Gott in der transzendentalen Auffassung nicht zu einem Stück der Welt, sondern zum höchsten transzendentalen Prinzip, das die freie Aussage der Vernunft ermöglicht und das durch das freie Erkennen und das freie Handeln verwirklicht wird. In dieser der philosophia prima entsprechenden Hinsicht wird dem induktiven Wissen ein ganz anderer Status zugestanden als der ihm in der Na­ turlehre schon zugeschriebene. Im Gebiet der besonderen Wissenschaft ist das Aposteriorische ein prinzipiell konstituierendes Moment der Wirklichkeit, gerade wie das Apriorische. Im Gebiet der philosophia prima ist das induktive Wissen unfähig, uns die Welt in ihrem wahren Sein zu erschließen. Die sinnliche Erfahrung kann nie eine überzeugende Erklärung der Konstitution wirklicher Objekte hervorbringen. Nach Lauth entwickelt Fichte diese synthetisch ausgedrückte These nach dem Motto Descartesʼ, mundus est fabula, indem er sich die Ergebnisse der Kantischen Forschung aneignet, welche schon gezeigt hat, daß die Hemmung bzw. das Faktische keine Erscheinung einer Welt an sich ist, sondern ein die Freiheit ermög­ lichendes Moment35. Fichte erweitert die Kantische Auffassung in zwei Richtungen: Einerseits betont er, eine Intention bzw. eine operative Freiheit ginge weder aus dem rein Faktischen noch aus dem Organismus hervor36. Denn nach Fichte hat die Natur „in sich durchaus kein eigentümliches Prinzip, sondern sie ist bloss der sich selbst ergebende und abfallende Widerschein der Freiheit eines jeden. […] Wer die Naturnotwendigkeit fürchtet, der fürchtet seinen eignen Schatten“37. Den Resultaten der Naturlehre entsprechend zeigt Fichte, in welchem Maße die faktische Konstitution des Seins nur hinsichtlich unseres geistigen Interesses von Wert ist. Andererseits verleugnet er – dem globalen Ansatzpunkt der WL entsprechend – die Schellingsche und Reinholdsche Auffassung der Natur als autonomer und gradueller Entwicklung, die sich von Anorganischem bis zur Intelligenz entfaltet38. Die Intention – i. e. die Ermöglichung der Freiheit – kann keines­ wegs dem Faktum entstammen. Sie hat ihren Ursprung vielmehr im Wissen, das als Horizont zu verstehen ist, in welchem eine Sinngebung des Faktischen erst möglich wird. In den Worten Lauths wäre es zwar möglich zu Anweisung zum seeligen Leben, in: GA I / 9, 74. Con Fichte, 23. 36  Lauth: Con Fichte, 24. 37  Fichte: Einleitung (1813), in: GA II / 17, 246 ff. 38  Vgl. zu Schelling den Exkurs: „Der Unterschied zwischen der Naturphilosophie der Wissenschaftslehre und der Schellings erläutert an zwei charakteristischen Ansatzpunkten der letzteren“, in: Lauth: Transzendentale Naturlehre, 173–190. 34  Fichte: 35  Lauth:

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behaupten, das Faktum sei – wie das Tendieren – ein konstituierendes Element der Erscheinung des Seins, aber das kann es immer nur innerhalb des Wissens sein39. Seit dem im Jahre 1962 veröffentlichten Aufsatz über Fichtes Interpersonalitätslehre40 versteht Lauth die Strategie Fichtes als Voraussetzung einer bis dahin unerhörten Betrachtung der interpersonalen Konstitution der Natur und des Wissens41, die Fichte dann in der Sittenlehre von 1812 und den Thatsachen des Bewußtseins von 1810 / 11 aufstellt. In diesem Vorlesungszyklus erklärt Fichte, es gäbe keine Welt bzw. keine Natur, die nicht in das Licht einer interpersonalen Sinngebung hervortreten könne, und die Welt könne nicht als Horizont allgemeiner Einteilung verstanden werden, ohne daß sie sich als Sichtbarkeit des einen Lebens des Wissens begreifen lasse42. Diese Fichtesche Passage ermöglicht eine deutliche Interpretation der Aussage Lauths, nach welcher sich unser Universum nicht als faktische Wirklichkeit darstellt, sondern als eine Sphäre umfassender und sich begründender praktischer Akte43. Als intersubjektiv und praktisch begründetes Ereignis ist die Welt durch die Vermittlung der Anerkennung der eigenen Wirksamkeit und der Wirksamkeit der Anderen bestimmt. Daher drückt die Weltkonstitution eine Dimension aus, die in der Selbstvernichtung bzw. im Verzicht des Ich auf sich selbst erscheint, welche gerade durch dessen Wirksamkeit bedingt ist44. Ich kann mir meiner bewußt werden, nicht nur dank der Aufforderung eines Anderen. Anders als bei dem in Jena entwickelten Begriff der Aufforderung erklärt Fichte, daß ich mir meiner bewußt werden kann, indem ich mich in einer Beziehung zu den Anderen stehend anerkenne, die dadurch bedingt ist, daß ich in der Hingabe mein Handeln als Teil der Welt und der Gemeinschaft verstehe, von der ich ein integraler Teil bin. In der epistemischen Seite dieser Dynamik ist der Begriff der Attention zu finden, der sowohl in den Thatsachen des Bewußtseins45 als auch in der Sittenlehre von 181246 ein Vermögen darstellt, durch das sich der Selbstverzicht des Ich als Gewinn einer Selbstgewißheit verwirklicht, die auf einen Con Fichte, 26. „Le problème de l’Interpersonalité chez J. G. Fichte“, in: Archives de Philosophie (1962) 325–344. 41  Vgl. dazu die scharfsinnige Wiedergabe des philosophischen Verfahrens Lauths von Luigi Pareyson: „Reinhard Lauth“, in: ders.: Prospettive di filosofia contemporanea, Milano1993, 332–343. Für die Bedeutung des Interpersonalitätsproblems vgl. insbesondere 333. 42  Fichte: Thatsachen des Bewußtseins (1810 / 11), in: GA II / 11, 130. 43  Lauth: Con Fichte, 46. 44  Fichte: Thatsachen des Bewußtseins (1810 / 11), in: GA II / 11, 89. 45  Fichte: Thatsachen des Bewußtseins (1810 / 11), in: GA II / 11, 141. 46  Fichte: Sittenlehre (1812), in: GA II / 12, 365. 39  Lauth: 40  Lauth:

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Sinn verweist, der nicht nur selbstreflexiver Kontemplation entspringt, sondern sich vielmehr im praktisch-moralischen Handeln erschließt. Lauth entwickelt diese Frage der Fichte-Forschung systematisch im Hinblick auf die Formulierung des sogenannten Satzes der Vermittlung: Denken und Wollen sind immer in eins. Sichbewußtsein des Wissens ist also stets in eins Sichwollen des Wollens47. Jedes Wissen ist immer schon ein Wollen in actu; jedes Wollen in actu ist immer schon ein Wissen. Wollen in actu heißt bei Lauth eine grundlegende und praktische Operativität der Vernunft, die sich konkret (wie z. B. in der Form des Begehrens, des Triebes, der Tendenz, des Interesses usw.) dekliniert, aber auch ihre konkreten Formen überschreitet, indem sie sich als Anspruch bzw. als Aufforderung konstituiert, die das Wissen angesichts einer Idee der absoluten Rechtfertigung ausweist. Diese praktische Operativität bzw. dieses unendliche Wollen ist nach Lauth „Grund der Ausgestaltung der Wirklichkeit. Die höchste Wertidee, die Idee des Guten, bestimmt und loziert Sinn, Zweck und Mittel; sie bestimmt material die jeweils eingenommenen konkreten Werthaltungen in ihrem hierarchischen Gefüge. In der weiteren Vermittlung zur Faktizität hin ergibt sich das Problem der Tauglichkeit (virtù) mit den sich mit ihr herausbildenden spezifischen Formen geschichtlicher Verwirklichung“48. Dementsprechend kann der Gegenstand keinen Wert für sich haben. Nur in dem Horizont kann er einen Sinn bekommen, wo der Wille als die Wurzel des von sich, aus sich und für sich erklärten Wissens erscheint. Der Wille spricht kategorisch (Soll!); das Wissen antwortet durch die Erklärung der Frage selbst hinsichtlich der konkreten Fähigkeiten, sie zu verstehen. Der Standpunkt Fichtescher Naturlehre ist nicht mehr genug. Mit der zunächst theoretischen Spezifizierung der Voraussetzung stellt sich Fichte „nicht die Frage, ob nicht umgekehrt die theoretischen Relationen Umkehrungen der praktischen sind, um die Wirklichkeit zu erfassen. Von unten her kann nur einschiebend verfahren werden, um in der Deduktion, die hier nur eine Reduktion ist, das höchste Deduktionsprinzip zu erreichen. Dieses erhält jedoch auf diese Weise nur hypothetische Gültigkeit. Die entscheidende Frage, die sich stellt, ist aber, ob nicht umgekehrt aus einem höchsten praktischen Prinzip das Ganze des ‚Wissens‘ (besser gesagt: des Bildens) strikt deduktiv entfaltet werden kann“49. Die neue von Lauth vertretene Auffassung involviert das Anerkennen des Praktischen in sich selbst und infolgedessen den Anspruch, den Gegenstand nicht mehr vom Tendieren der Vernunft her zu verstehen, sondern aus dem Willen als ursprünglichem Kennzeichen der Con Fichte, 81. Con Fichte, 47 f. 49  Lauth: Con Fichte, 80. Eine ähnliche Kritik wird formuliert in Lauth: Vernünftige Durchdringung der Wirklichkeit. Fichte und sein Umkreis, Neuried 1994, 91. 47  Lauth: 48  Lauth:



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Vernunft. Das Wissen ist wesentlich Kritik und Selbstkritik: ein von einem Wert bestimmtes Handeln, das zugleich von klarem Selbstbewußtsein bzw. Selbstbesonnenheit bedingt ist. Damit kann die Wissenschaftslehre nova methodo zur WL prima methodo aufsteigen, und auch die Natur als Korrelat der Selbstkritik des Willens, die dem Willen selbst wesentlich immanent ist und die sich als vollständiges Wissen vollzieht, sowie als Fähigkeit, die Wirklichkeit im Licht des in actu verstehbaren „Du sollst“ (als konkreter Ausdruck des Willens) zu durchdringen bzw. umzustrukturieren. Der Vorrang der ‚zunächst theoretischen‘ Spezifizierung der Naturlehre wird nun zum Ergebnis der vertieften Erklärung eines eminent praktischen Hintergrundes. Dieses Ergebnis vernichtet keineswegs die Resultate der Naturlehre als Teildisziplin, die zur WL reduzierbar ist. Die Kritik Lauths drückt aber den Anspruch aus, ihren Grund weiter zu bestimmen, was nach seiner Auffassung in Fichtes Ultima Inquirenda geschieht. IV. Die Naturlehre als Einleitung in die WL Obwohl die im Jahre 2001 von Lauth unter dem Titel Ultima Inquirenda veröffentlichten Texte Fichtes noch nicht vollständig in textkritischer Fassung vorlagen, läßt sich eine weitgehende Übereinstimmung beider Veröffentlichungen bestätigen. Die parallel zu Con Fichte, oltre Fichte veröffentlichten Texte zeigen, daß sich Fichte voll bewußt war, daß eine Deduktion des Soll aus dem Ist den transzendentalen Gang und die genetische Vollständigkeit der ganzen WL gefährden würde. Andererseits betont Lauth, daß Fichte keine vollständige Deduktion des Ist aus dem Soll erreicht. Diese vermeintliche Schwäche Fichteschen Denkens verklärt sich aber in ein sorgfältig bedachtes Verständnis der Natur als Ausgangspunkt für die Entwicklung der transzendentalen Einsicht. Außerdem mündet Fichtes Sicht der Natur in eine Überlegung, die zeigt, daß sein Naturverständnis eine ursprünglich praktische Forderung enthält, die die Erhellung der Prinzipien des Wissens als Verwirklichung eines moralischen Willens ermöglicht. Der Kontext, in dem sich die Einleitung in die WL entwickelt, ist voll von solchen in diese Richtung fortgehenden Strategien. Eine erste, vom gemeinen Begriff der Natur aus aufsteigende Strategie betrifft den Versuch, die Erhebung zum transzendentalen Standpunkt nach Analogie der organischen Entwicklung des Menschen zu verstehen. In den Tagebüchern über den animalischen Magnetismus, die auch den spekulativen Kontext der Ultima Inquirenda enthalten, versteht Fichte die Erhebung zum transzendentalen Standpunkt im Hinblick auf den Mesmerismus. Fichte spricht von Einflüssen bzw. von Kräften, welche die vom Wissenschaftslehrer herausgeforderte Aufmerksamkeit seiner Zuhörer lenken. Noch genauer fragt sich

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Fichte, ob es möglich sei, daß die Kraft des Wissenschaftslehrers, der imstande ist, die Zuhörer zur Übung der Aufmerksamkeit aufzufordern, der hypnotischen Kraft eines Magnetiseurs ähnlich ist50. Fichte denkt an eine voll naturalistische Lösung des Problems der Unmitteilbarkeit der transzendentalen Einsicht, die sich in der späten Berliner Phase der WL besonders aufdrängt51. Es ist auch sehr merkwürdig, daß Fichte die Theorien von F. A. Mesmer ernst nimmt52. Der vom Kantischen Kritizismus infiltrierte Mes­ merismus fördert tatsächlich die wissenschaftliche Beobachtung und die Beschreibung der Manifestationen der Seele in Form einer reflexiven Analyse des Subjekts, der Introspektion, des Verständnisses von Bewußtsein, in dem der Mensch von sich selbst und dem Ursprung seines Denkens und seiner Leidenschaften wissen kann53. Fichte übersetzt aber die Prinzipien des animalischen Magnetismus auf der Basis der Resultate transzendentaler Forschung. Zunächst erklärt er, daß die Aufmerksamkeit kein passives Vermögen sein kann. Sie setzt vielmehr eine freie Selbstbestimmung voraus, die durch die Hypnose keineswegs hervorgerufen werden kann. Die Leistungen der Aufmerksamkeit sind dem Selbstbewußtsein und der Selbstbesonnenheit unterstellt54. Trotz der Möglichkeit, die Natur als Ausdruck einer ihre besonderen Bestimmungen transzendierenden Kraft zu denken, kann solch eine Kraft nur im Licht einer ihr Sinn und Form gebenden Einsicht bzw. in einem Bild verstanden werden. Dann kann das Mannigfaltige als eine materiell von einer Kraft und formell von einem Gesetz bestimmte, qualitative Ordnung verstanden werden. Vom faktischen Gesichtspunkt aus involviert aber ein solches Verständnis, daß die Natur immer nur als etwas für das Ich Konstituiertes begriffen werden kann, was erlaubt, das Verständnis der Natur im Gebiet des Sittlichen einzuschreiben55. Diese Einsicht verdeutlicht die in der ersten Transzendentalen Logik vertretene Auffassung der Natur als eines von einer Kraft und einem Leben Beseelten. Das Verständnis der Natur vermittelst der Begriffe von Reflexion und Reflexibilität erlaubt schon, eine von Forschungen über das Wesen der Empirie durchdrungene Einleitung in die WL zu vollziehen56. Noch verTagebücher über den animalischen Magnetismus, in: GA II / 17, 30 ff. z. B. die von Twesten nachgeschriebene Einleitungsvorlesung von 1810, in: GA IV / 4, 13. 52  Friedrich Anton Mesmer: Abhandlung über die Entdeckung des Thierischen Magnetimus, Tübingen 1781. 53  Stefano Poggi: Il genio e l’unità della natura. La scienza nella Germania romantica (1790–1830), Bologna 2000, 152–160. 54  Fichte: Tagebücher Magnetismus, in: GA II / 17, 303 f. 55  Fichte: Tagebücher Magnetismus, in: GA II / 17, 305 f. 56  Vgl. z. B. Fichte: Transzendentale Logik I. Vom Verhältniß der Logik zur wirklichen Philosophie, in: GA II / 14, 35–36 und 85–86. 50  Fichte: 51  Vgl.

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ständlicher erscheint das Verfahren der Einleitungsvorlesungen von 1813, wo Fichte von der gemeinen Naturauffassung ausgeht. Die erste Schwierigkeit des transzendentalen Verfahrens betrifft das Schaffen einer Seinsauffassung, die das sich aus der Wahrnehmung ergebende Bild überschreitet und einen neuen Sinn widerspiegelt, der – wie bei Mesmer – die Sinnlichkeit zu einer neuen Welt erweitert57. Das Neue soll nicht nur als Datum erscheinen, sondern „durch seine Construktion“ und als „freies sich denken u. bilden eines etwas, nach einer Vorschrift“58. Die Übung der damit verbundenen positiven Freiheit soll – wie bei der geometrischen Konstruktion – kein wirklich Konstruiertes bzw. keine wirkliche Gestaltung aufgeben, sondern das Element derselben59. Das Element stellt sich im Kontext dieser Einleitungsvorlesungen als Gesicht dar60, das keine Reproduktion ist, sondern Zeichen eines aus vernünftiger Konstruktion verstehbaren und noch nicht in einem bestimmten Bild verwirklichten Verfahrens. Das Sich-Gestalten des Konstruktionsgesetzes als „Gesicht“ oder Ideen-Bewußtsein hebt dann die Spannung zwischen dem Datum und dem noch Durchzuführenden hervor, aus welcher die neue Welt der WL sich erschließen läßt. Die neue Welt der WL soll sich nun in der Einleitung in die WL bestimmt ankündigen, und deren Aufgabe ist, „[d]en Ort des neuen Sinnes, u. seiner Welt anzuweisen“ durch einen dreifachen argumentativen Gang: „1.) der natürliche Sinn einer Aussage absoluten Seyns. 2). Dieses ein Seynsgesez [an ihm]. Ewig drum. 3). Losreissen durch Freiheit doch nicht Vernichtung gewinnen ein neues Seyn: u. neues Bewußtseyn: u. Kenntniß dieses Sinnes“61. Damit fängt die bekannte Dekonstruktion des Ist-Sagens an, die den ersten Teil der Einleitungsvorlesungen umfaßt. Das Ist-Sagen besteht aus einer Duplizität zwischen dem Seinsetzen und dem gesetzten Sein. Das gemeine bzw. natürliche Bewußtsein versteht diese Duplizität als Verwachsenheit62, d. h. als ein unhintergehbares Faktum63. Die Durchdringung der Verwachsenheit zeigt, daß die Semantik des Seins (bzw. das Ist-Sagen) unmöglich ist, ohne daß das Sein problematisiert würde bzw. ohne daß das Sein in einem Bild verstanden wird. Dabei kann das Sein als Leben gebildet werden, genauer als Verklärung des Seins in einem ein Bild ermöglichenden Durch. Das Durch verweist nämlich auf die Wesensstruktur des Sehens, d. h. 57  Fichte: 58  Fichte: 59  Fichte: 60  Fichte: 61  Fichte: 62  Fichte: 63  Fichte:

Einleitungsvorlesung, Einleitungsvorlesung, Einleitungsvorlesung, Einleitungsvorlesung, Einleitungsvorlesung, Einleitungsvorlesung, Einleitungsvorlesung,

in: in: in: in: in: in: in:

GA GA GA GA GA GA GA

II / 17, II / 17, II / 17, II / 17, II / 17, II / 17, II / 17,

237–240. 252. 252. 257. 238 f. 296 f. 271 f.

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auf einen Seinsbezug, der auf ein äußeres Objekt unmittelbar und notwendig schließen läßt64. Dabei kann Fichte das Verhältnis der von der WL angekündigten neuen Welt zu der vom gemeinen Bewußtsein konzipierten Natur aufstellen. Er zeigt erstens, „daß das Seyn durchaus nicht durch die Sinne wahrgenommen, sondern in einem reinen, u. absoluten Denken erschlossen wurde“65 und daß darüber hinaus das Durch Ausdruck dieses absoluten Denkens ist. Zweitens zeigt Fichte, daß die Notwendigkeit des Lebens durch die genetische Erklärung ermöglicht und gesetzt wird, und durch sie eine freie Konstruktion des Ist-Sagens, unangesehen seiner Beziehung auf die Empirie. Endlich kann Fichte auch betonen: „Durch die Konstruktion des Ist-sagens selbst [sind wir] in ein Durch […] hineingeraten“66. Damit geschieht die Erhebung zum transzendentalen Standpunkt, der eine Erläuterung der Voraussetzung einer „Schöpfung“ wirklicher Welt als Negation des Sehens ermöglicht67, die mesmerischen physischen Einflüsse hingegen zu ‚tollen Erdichtungen‘ erklärt68 und darüber hinaus die Wurzel von Anschauung und Denken in der einheitlichen Konstitution des Sehens findet. Auf diesem transzendentalen Standpunkt kann sich Fichte dann mit einem Beispiel beschäftigen, das die Analyse der Wirklichkeit aus dem transzendentalen Standpunkt betrifft und das zum Teil mit dem von Lauth in der Naturlehre Fichtes Behandelten übereinstimmt. Die Natur wird von Fichte auch vom Linienziehen her konstruiert, was – wie wir schon gesehen haben – die Hemmung keineswegs als etwas Äußerliches kennzeichnet, sondern sie als Möglichkeitsbedingung der Sichtbarkeit der mit dem Leben des Wissens bzw. mit dem göttlichen Leben identifizierten Tätigkeit zeigt. Diese Hemmung stiftet ein Bild des Lebens69 als ein für sich selbst bestehendes Ding in Form der vis inertiae70. An dieser Stelle findet sich auch die Basis für das Verständnis der Raumschöpfung als ein Sich-Verwirklichen Einleitungsvorlesung, in: GA II / 17, 282 f. Einleitungsvorlesung, in: GA II / 17, 287. 66  Fichte: Einleitungsvorlesung, in: GA II / 17, 273. 67  Fichte: Einleitungsvorlesung, in: GA II / 17, 282. 68  Fichte: Einleitungsvorlesung, in: GA II / 17, 281 f. 69  Fichte: Einleitungsvorlesung, in: GA II / 17, 268 f.: „Zur Hinleitung. Gott ein durch sich von sich aus sich. –. Doppelt zu denken [möglich]: 1. gewöhnlich wohl so. er ist. – Nun frage man nach dem Grunde. – Er ist durch keinen andern, sondern durch sich. Also [er wird] hier erst durch die Frage nach dem Grunde zum Leben erwekt; aus dem Tode. Hier erst zu einer Thätigkeit die da erschlossen ist. 2. innerlich: ein durch sich aus sich von sich. ein ewig reges, nie stillstehendes Leben wie in der Linie kein Stük ist, das nicht Linie wäre, ein Anhalten gar nicht statt findet. Hier keine Ruhe, Anhalten, Todtseyn.“ 70  Fichte: Einleitungsvorlesung, in: GA II / 17, 294. 64  Fichte: 65  Fichte:



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des Bildes des Sehens in ein fixiertes bzw. totes Bild71, das unmittelbar aufgefaßt die äußeren Sinne als sein subjektives Korrelat hat. Darin findet sich auch die von Lauth systematisch behandelte Inversion der Relationskategorien: Substanz und Akzidens können als zwei Seiten einer einzigen Tätigkeit betrachtet werden, wobei das Akzidens die konkrete Bestimmung ist, die eine Auffassung der Substanz als des zu Bestimmenden ermöglicht72. Die Ursache wird als von der Wirkung untrennbar verstanden: Die transzendentale Einsicht kann dann die Welt als Wirkung der Vernunft verstehen, d. h. als Licht eines sie qualifizierenden Wertes73, und die Wechselwirkung schließlich als Ausdruck einer ihre Glieder produzierenden sinnstiftenden Beziehung. Mit dieser Verortung verbleibt die transzendentale Naturlehre nicht mehr im Rahmen einer besonderen Wissenschaft, sondern wird zur Einleitung in die Wissenschaftslehre. Sie ermöglicht einerseits ein deutlicheres Verstehen der Voraussetzungen des gemeinen Bewußtseins und andererseits die Beseitigung einer unendlichen Iteration zwischen transzendentalem Standpunkt und gemeinem Bewußtsein. Die gemeine Naturauffassung wird nun im Licht ihres transzendentalen Prinzips als solche verstanden. Und damit hat Fichte zugleich auch den Hintergrund des transzendentalen Naturverständnisses der WL prima methodo gewonnen. V. Grundzüge von Fichtes WL prima methodo Fichtes Ultima Inquirenda haben nicht das Nachdenken über die Natur und die Bildung einer besonderen Wissenschaft zum Zweck. Fichte thematisiert vielmehr das Verfahren der Erhebung zum transzendentalen Standpunkt, von dem aus gesehen die transzendentale Naturauffassung einerseits Bestätigung ist, andererseits aber dessen Folge. Anders als die in Jena vertretene Naturkonzeption stellt die transzendentale Durchdringung der Natur in Fichtes Ultima Inquirenda den ersten Schritt zur philosophia prima 71  Fichte: Einleitungsvorlesung, in: GA II / 17, 301 f.: „Sehen des Sehens in einem Bilde, das Durch selbst in einem Bilde stellen, durch Widerstand zu einem stehenden und dauernden Bildobjecte ausgedehnt. Das Sehen nun als ein solches Durch [ / ] gedacht giebt Raumschöpfung. Was drum als Konstruktion beschrieben wurde, wäre der Raum, der eine allgemeine zusammenhängende pp[.] Diesem entgegen eine Raumfüllung durch sich selbst. Ausdehnung und Verbreitung in ihrem Werden, und sichmachen des nachmaligen im Denken gefaßten Dinges, zu einer Raumfüllung, innerhalb des einen angeschauten, durch das eigene Durch des Sehens gesetzten Raumes. Dieses Bild, das Eine, die Grundlage; die einzelnen Raumfüllungen innerhalb [sind] das werdende und quellende unter jener Bedingung.“ 72  Fichte: Einleitungsvorlesung, in: GA II / 17, 298 f. 73  Fichte: Einleitungsvorlesung, in: GA II / 17, 310.

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dar, sowohl der Methode als auch dem Gehalt nach. Nun ist es nach Fichte möglich, die Konstitution der Natur aus einem noch höheren Gesichtspunkt zu begründen, angesichts dessen das Tendieren der Vernunft als Wille in actu zu sehen ist, die Einbildungskraft als Bildungs-Kraft (bzw. als immanente Kraft des Bildens) und die Apperzeption als grundlegende Basis für die transzendentale Naturerklärung, alles zusammengefaßt in einer ursprünglich praktischen Wurzel. Schon in den Tagebüchern über den animalischen Magnetismus erläutert Fichte die Bedingungen dieses anti-idealistischen Verständnisses der Natur. Wie in der späten Berliner Zeit meint er, das Mannigfaltige sei immer als Bild eines Bildens zu verstehen. Daher dürfe man sagen „daß das Mannigfaltige nur in der Vorstellung sey“. Das wirkliche Bilden des Bildes bzw. das wirkliche Gesetztsein des Mannigfaltigen soll aber auch „unabhängig von dem Geseztseyn: von dem Bilde; eine reine Vernichtung des Bildes“ sein, „[f]aktisch freilich stets nur im Bilde für mich“74. Das bedeutet, daß die Natur in ihrem faktischen Ursprung nicht aus transzendentaler Einsicht erschlossen werden kann. Sie läßt sich nur infolge der Aufstellung der Koordinaten ihrer Veränderbarkeit erfassen. Und die Herrschaft über die Natur bedeutet nichts anderes als, „was unter Naturgesetzen stand, tritt unter die Gesetze der Freiheit: Die Natur selbst in ihrer Entwicklung wird frei, geleitet durch ein höheres ihr eingefügtes Princip“75. Es ist bekannt, daß dieses höhere Prinzip das Sittliche ist, daß wir von diesem Gesichtspunkt aus eine gründlichere Erkenntnis der Erscheinung des Bildes gewinnen und daß von diesem höheren Prinzip die Auffassung der Natur als Sichtbarkeit der Freiheit abhängt. Außerdem erschließt sich aus diesem Kontext die Freiheit als Aufgabe, d. h. aber keineswegs als ein Vermögen, die Welt zu produzieren, sondern sie nach dem sittlichen Gesetz zu bilden. Nur in diesem Sinn macht sich die Freiheit zu ewigem Werden. So läßt sich die Natur aus dem transzendentalen Gesichtspunkt nicht mehr als eine bestimmte und vollendete Ordnung begreifen, sondern als eine der möglichen Welten, die wir in einem freien Zugang zur Wirklichkeit aufbauen. Durch die Analyse der konstitutiven Momente des Ich und dessen Verhältnis zu dem aus freier Selbstbestimmung der Vernunft gebildeten Gegebenen erklärt die transzendentale Naturlehre die Wahrnehmung als Ausdruck einer Gebundenheit des Ich, ebenso wie die kategoriale Beziehung zu dem Wahrgenommenen. Die transzendentale Auffassung der Natur zeigt aber auch, daß wir frei sind, nicht etwa die Struktur des Gegebenen willkürlich hervorzubringen, sondern die Funktion des Gegebenen innerhalb der als „Welt“ bezeichneten Sinn-Dimension zweckmäßig umzugestalten. 74  Fichte: 75  Fichte:

Tagebücher Magnetismus, in: GA II / 17, 305. Tagebücher Magnetismus, in: GA II / 17, 306 f.

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Diese Konzeption der Freiheit involviert eine zweifache Einsicht in die Kausalität, die der theoretischen wie der praktischen Formulierung der Transzendentalphilosophie entspricht. Aus theoretischer Sicht wird die Kausalität der Freiheit zur Anschauung des Leibes und der Natur als deren Instrument. Aus dem praktischen Gesichtspunkt wird die Freiheit zum Reflex eines vom Willen ausgehenden absteigenden bzw. analytischen Verfahrens. Denn „Alles liegt in der Analyse des Willens. Giebt einen ganz neuer Standpunkt der WL“76. Aus diesem neuen Gesichtspunkt ist nämlich die Konzeption zu entwickeln, daß „die WL sich in ein durchaus intelligibles [endigt], d. i. in ein solches das ist, nur wenn es construirt wird: wie ist nun dies doch der Grund des wirklichen, der Anschauung? Antw. Weil eben intelligirt werden soll. – Was ist nun das lezte: ein Wille Gottes, denk ich, ein rein geistiges“77. Das auf dieser Ebene in Anspruch zu nehmende Bilden ist etwas anders als die schwebende Einbildungskraft. Es handelt sich um ein dynamisches Prinzip, das sich nach dem von Fichte in der WL 1813 sogenannten Gesetz der Sittlichkeit78 als gestaltendes Prinzip des Mannigfaltigen bildet. Die WL als philosophia prima ist nun vom Versuch charakterisiert, die phänomenale Sphäre in die überwirkliche bzw. noumenale Sphäre zu integrieren. Solche Integration findet keine Entsprechung in der Empirie, insofern sie als Ergebnis der Leistung des reinen Denkens zu verstehen ist. Sie eröffnet vielmehr eine praktische Forderung. In der WL 181379 – aber auch in den Tagebüchern80 und in den Ultima Inquirenda – ist die transzendentale Apperzeption der Ort, wo diese Integration geschieht, wo sich die produktive und die reproduktive Seite des Bildens, das Prinzip-Sein und die Bildlichkeit des Bildens konstituieren. Metaphorisch bezeichnet Fichte die Apperzeption als einen „Knoten in der reinen Linie des Sehens“81, der das immanente Sich-Sammeln des Sehens sowie sein über sich hinaus verweisendes Selbstverständnis ausmacht82. Im Neuen Diarium wird dieser Verweis zu einer Aufgabe der Freiheit83. Denn Tagebücher Magnetismus, in: GA II / 17, 306 f. Tagebücher Magnetismus, in: GA II / 17, 344 ff. 78  Vgl. Fichte: Die Wissenschaftslehre [vom Februar 1813], in: GA II / 15, 137 f. 79  Vgl. Fichte: Die Wissenschaftslehre [vom Februar 1813], in: GA II / 15, 149. 80  Fichte: Tagebücher Magnetismus, in: GA II / 17, 364 f. 81  Fichte: Neues Diarium, in: GA II / 17, 63. 82  Fichte: Neues Diarium, in: GA II / 17, 17 f.: „ich behalte drum ein Leben jenseit der Apperception, als das, was in dieser erst gebrochen u. gesammlet wird, dies ist das zwischen die Momente des Bewußtseyns fallende“. 83  Fichte: Neues Diarium, in: GA II / 17, 71, wo der Verweis die Bestimmung des Gegenstandes im Raum betrifft: „Es scheint die Frage zu seyn: wie ist absolut eine 76  Fichte: 77  Fichte:

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Federico Ferraguto

in der Apperzeption wird Freiheit zu dem Faktor, der das Ich zum Ich macht, bzw. zu dem bestimmenden Gesetz des Bildes und seines ihm innewohnenden Lebens. Die das Sein als Horizont ihrer Verwirklichung setzende bildliche Seite der Vernunft wird nicht von etwas außerhalb ihrer erklärt, sondern es handelt sich um eine aus der Selbsterkenntnis der Apperzeption hervorgehende Erklärung. An dieser Stelle scheint sich Fichte voll bewußt zu sein, daß – wie Lauth betont – jede kritische Erklärung der Natur allein aus der Vernunft erfolgen und daß sich eine solche Erklärung nicht anders begreifen kann, denn als eine vom Willen gestellte Aufgabe84. VI. Zusammenfassung Die grundsätzliche Richtung der Fichte-Forschung, die Lauth in seinen letzten Schriften skizziert, scheint die Selbstkritik der WL widerzuspiegeln. Seine transzendentalphilosophische Theorie der Natur scheint außerdem mit dem allgemeinen Hintergrund übereinzustimmen, auf welchem Fichte einen neuen Standpunkt der WL zu konstruieren versucht, wenn auch noch nicht in klarer und deutlicher Weise. Ein Vergleich zwischen den von Fichte hinterlassenen Schriften und den von Lauth gegebenen Interpretationen bildete jedenfalls eine geeignete Voraussetzung für die Vertiefung transzendentaler Einsicht, hinsichtlich sowohl der philosophia prima als auch möglicher Interpretationen der Naturlehre. Die späte WL bestätigt jedenfalls das Anliegen einer Rekonstruktion der Natur als Teildisziplin der WL und die Notwendigkeit einer Vertiefung des ihr zugrundeliegenden Prinzips. Aus ihr ergibt sich das Postulat, die Naturauffassung nicht mehr ausschließlich aus der Perspektive einer Teildisziplin zu entwickeln. Vielmehr sollten sowohl Naturlehre als auch die philosophia prima weitergebildet werden. Im ersten Fall wird die Naturlehre vor ihren praktischen Ursprung gestellt und herausgefordert, das Prinzip aufzustellen, auf dessen Basis sie zu einer „Dynamik“ Aufgabe an die Freiheit möglich, ohne wirkliche Freiheit? […] da müste ich eben den Hauptpunkt, das vorstellen des alten sinnes, u. das des neuen aufstellen.–. Ferner, an dem Widerspruch: es ist Produkt des Sehens, allerdings: nur nicht des ge­ sehenen [Sehens], sondern des durchaus Unsichtbaren, weil es selbst ist das lezte sehen. Also auch nicht, des gesehenen nemlich, u. in der Sichtbarkeit“. 84  Fichte: Neues Diarium, in: GA II / 17, 70: „kann ich dies schärfer fassen? Aufgabe an die Freiheit im Bilde: diese stellt sich ja eben an das Bild, u. macht dies so zu einem Ich: zu einem sich bestimmenden. (hier ists endlich gefunden, und mit ungeheuren folgen für das ganze, indem das moralische gleich von beginn sich zeigt). Hier ist Repercussion, Apperception, Ichmachen, wie ich wollte. Repercussion, in der Aufgabe, apperception, Im empfangen eben eines selbst. Aufgabe an die Freiheit die es schlechthin durch sich sezt“. Dazu vgl. auch Marco Ivaldo: „Vita originaria, appercezione e compito. Sull’ultimo domandare di Fichte (fine 1813 – inizio 1814)“, in: Annuario Filosofico (2003) 125–140.

Der Naturbegriff in den Ultima Inquirenda181



werden kann, die imstande ist, die Form auf Kraft zurückzuführen85. Im zweiten Fall rechtfertigt die Prinzipienforschung ihr kritisches Verfahren als philosophia prima, indem sie, komplementär zur Naturlehre, vom natür­ lichen Bewußtsein ausgehend sich zu einer vertieften Erkenntnis des transzendentalen Standpunkts erhebt. Die Naturlehre scheint dann einerseits wichtiges Mittel zu sein, die Haltbarkeit der transzendentalen Perspektive zu bestätigen, und andererseits Prüfstein, um den Umfang einer wesentlich immanenten Selbstkritik – bei Fichte wie bei Lauth – auszumessen. Bibliographie Ivaldo, M.: „Vita originaria, appercezione e compito. Sull’ultimo domandare di Fichte (fine 1813-inizio 1814)“, in: Annuario Filosofico (2003) 125–140. Lauth, R.: Con Fichte, oltre Fichte, hrsg. von M. Ivaldo, Turin 2004. – Fichtes Ultima Inquirenda, Stuttgart / Bad Cannstatt 2001. – Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, Hamburg 1984. – Die Frage nach dem Sinn des Daseins, München 1953. – „Le problème de l’interpersonalité chez J. G. Fichte“, in: Archives de Philosophie (1962) 325–344. Mesmer, F. A.: Abhandlung über die Entdeckung des Thierischen Magnetimus, Tübingen 1781. Pareyson, L: Prospettive di filosofia contemporanea, Milano1993. Poggi, S.: Il genio e l’unità della natura. La scienza nella Germania romantica (1790–1830), Bologna 2000.

85  Fichte:

Tagebücher Magnetismus, in: GA II / 17, 350 f.

Zwischen Natur und Nicht-Ich und dem Begriff der „Unterscheidung“ Von den Eignen Meditationen bis zur Grundlage Paolo Vodret I. Einleitung Sich mit dem Naturbegriff in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (= GWL) auseinanderzusetzen, ist keine einfache Aufgabe. Fichte selbst äußert sich zum Thema in der GWL nicht explizit, obwohl das Thema „Natur“ als Hintergrund seiner dortigen Ausführungen gelten kann, insbesondere in den Abschnitten, die das theoretische und praktische Wissen behandeln. In der Fichte-Literatur ist die Meinung verbreitet, eine echte Natur-Philosophie sei in Fichtes Werk nicht zu finden; und diese Auffassung wird verständlich, wenn man die Lehren Fichtes mit denen jener Philosophen vergleicht, die nach ihm kamen, wie Schelling und Hegel. Und gewiß können wir in der GWL feststellen, daß diese Meinung tatsächlich richtig ist, denn man findet hier fast keinen Teil, der sich ausschließlich mit dem Thema der Natur auseinandersetzt. Wie wir aber wohl wissen, wurde die Ausarbeitung und Niederschrift der Grundlage durch Fichtes Lehrtätigkeit an der Jenaer Universität als einer zeitaufwendigen Verpflichtung stark beeinträchtigt. So blieb die Grundlage nur ein Abriß, eine nicht abgeschlossene Zusammenfassung der ersten Grundsätze und Hauptbegriffe des Fichteschen Systems, welches sich anhand von Schriften wie z. B. der Aenesidemus-Rezension, den Eignen Meditationen und Über den Begriff erahnen läßt. Im Gegensatz zu allen genannten wird allerdings die Naturlehre nicht in einem einzigen, geschlossenen Werk behandelt und entwickelt. Auch nach seinem Tod wurde die Naturlehre nicht zum Thema nennenswerter Fichte-Interpretationen, mit Ausnahme der Lauthschen Rekonstruktion von 1984. Doch übt die Beschäftigung mit dem Naturbegriff, oder genauer: mit der dem Ich gegenüberstehenden Welt, als Außenrealität verstanden, eine zentrale Rolle in Fichtes Dialektik aus, wie wir später sehen werden. Das Anliegen meines Beitrags besteht jedoch nicht darin, Texte zu finden, in denen Fichte den Naturbegriff mehr oder weniger explizit in Angriff nimmt. Vielmehr habe ich vor, den bescheidenen Versuch zu unternehmen, innerhalb der GWL die Beziehung, die zwischen dem Konzept des Nicht-Ich

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Paolo Vodret

und dem der Natur besteht, zu erhellen und zu vertiefen. Unter Natur verstehe ich das Äußere, die Außenrealität, die dem Ich zuerst in logischtheoretischer und dann in praktischer Funktion gegenübersteht (Ich lasse hier außer acht, daß es auch mediale Faktoren zwischen individuellem Ich und Natur gibt, wie z. B. den Leib). Aus der Analyse dieser Beziehung ergeben sich zwei weitere Themen, die ich vertiefen und erhellen möchte: die Identifizierung von Natur und Geist, und die Vereinigung beider im Konzept des Nicht-Ich. In dieser Deutung kann das Nicht-Ich nicht als Negation des absoluten Ich verstanden werden, was zu einer absoluten ­Negation führen würde, zum „Nichts, [zur] Leere“, und das heißt zu einer These, die Fichte selbst entschieden ablehnt1. Das Nicht-Ich wird vielmehr als Gegensatz begriffen, das heißt: als jenes „Reale“, das den „Anstoß“ ermöglicht und das zugleich die Position des endlichen Ich definiert. Andererseits läßt sich aber in praktischer Sicht behaupten, der Anstoß sei die Bedingung für die ins Unendliche hinausgehende Tätigkeit, aus der das Nicht-Ich erst entspringt. Gerade dadurch wird bei Fichte die „Negation“ (der traditionellen Logik) zur „Unterscheidung“, so daß dem Konzept des Nicht-Ich eine zentrale Rolle in der Wissenschaftslehre eingeräumt wird. Sie entfernt sich von jeglicher nihilistischen Interpretation des Nicht-Ich, sowie von einer Deutung im Sinne Hegels (als „dunkler Nacht, in der alle Kühe schwarz sind“), weil sich das Reale im absoluten Ich dem endlichen Ich entgegenstellt und damit seine eigene Existenz und „teilabsolute“ Setzung rechtfertigt. Andererseits kann man im Nicht-Ich die Überbietung des Kantischen Konzeptes des „Dinges an sich“ erkennen, wie wir in dem letzten Teil meines Aufsatzes erfahren werden. Mein Aufsatz ist in zwei Teile gegliedert. Zunächst werde ich den Versuch unternehmen, Beziehungen und mögliche Analogien zwischen den Begriffen Nicht-Ich, Natur und Geist herauszustellen, und zwar anhand einer Untersuchung der drei Funktionen des Nicht-Ich in theoretischer wie in praktischer Sicht. Dann werde ich versuchen, die Beziehung zwischen Ich und Nicht-Ich in den Formulierungen der Eignen Meditationen (= EM) und der GWL zu vertiefen; und anschließend das Verhältnis zwischen Identität, Entgegensetzung und Unterscheidung erläutern. Im letzten Abschnitt wird eine zusammenfassende Gegenüberstellung der Konzepte des Nicht-Ich bei Fichte, des „Dinges an sich“ bei Kant und des Konzepts der Natur bei Schelling gegeben, wobei 1  Francesco Moiso: Natura e cultura nel primo Fichte, Mailand 1979, 61–62; Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794 / 95), in: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth, Hans Jacob, Hans Gliwitzky, Erich Fuchs und Peter K. Schneider, Bd. I / 2, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962–2012, 368. Im folgenden abgekürzt: GWL, GA, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl, hier: GWL – GA I / 2, 389.



Natur und Nicht-Ich185

ich einige Betrachtungen und Anregungen von Francesco Moiso und Reinhard Lauth berücksichtigen werde. II. Der Begriff des Nicht-Ich zwischen Natur und Geist in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre Es ist schwierig und unbequem, eine Erörterung in Angriff zu nehmen, die sich mit dem Konzept des Nicht-Ich bei Fichte beschäftigt, auch wenn man den ersten Teil der GWL ausläßt, oder wenn man für selbstverständlich hält, was Fichte über die drei Grundsätze ausführt. Ich werde mich in dieser Abhandlung nicht so sehr auf die logische und theoretische Funktion des Nicht-Ich konzentrieren – Funktionen, die uns helfen könnten, das Verhältnis zwischen dem Nicht-Ich, dem absoluten Ich und dem empirisch-teilbaren Ich zu erkunden –, sondern auf die praktische Funktion des Nicht-Ich, auf die Kategorien von Kausalität und Substantialität, Substanz und Akzidens, und auf die Konzepte der Idealität und Realität, der Tätigkeit und des Leidens. In Kürze sei daran erinnert, daß, wenn auch nicht die gesamte Grundlage, so doch zumindest der Teil, der sich mit dem theoretischen Teil befaßt, mit der inneren Dynamik und der Dialektik eng verbunden ist, die man in der Theorie der Grundsätze finden kann, wie auch die transzendentale Grundauffassung mit der Selbstsetzung des Ich. Das heißt: der theoretische Teil ist mit dem ersten Grundsatz eng verbunden, der der Materie und der Form nach schlechthin unbedingt ist. Es handelt sich um eine Dynamik, welche zugleich der Ursprung der Tathandlung ist und den Anstoß ermöglicht, das heißt: um jene Begegnung oder Kollision mit dem Nicht-Ich, durch die das Nicht-Ich Realität bekommt. Es sind vor allem diese Passagen, in denen die Dialektik von Subjekt und Objekt und von Tätigkeit und Leiden anhand der Kategorie der Wechselbestimmung entfaltet wird, die vom jungen Hegel als Reziprozität „übersetzt“ wurde und die er zu einem der Eckpfeiler seiner Dialektik2 machte. Mit Rücksicht auf diese Abschnitte versuche ich jetzt, den Übergang vom sog. „Idealen“ zum sog. „Realen“ zu erkunden. Dieser Übergang erlaubt mir, die These zu vertreten, daß die Interpretation des Nicht-Ich zunächst als Naturbegriff und dann als Idee des Geistes rechtmäßig wird, wenn man beide Konzepte als Gegensatz zum Ich versteht, oder besser: als Konzepte, die sich vom Ich unterscheiden, die anders als das Ich sind. Ich zitiere aus der Grundlage: „Beides, die absolute Totalität der Realität im Ich, und die absolute Totalität der Negation im Nicht-Ich sollen vereinigt werden durch Bestimmung. Demnach bestimmt sich das Ich zum Teil, und es wird bestimmt zum Teil. Aber beides soll gedacht werden, als Eins und eben dasselbe, d. h. in eben der Rücksicht, in der das Ich 2  La crisi dell’ontologia. Dall’idealismo tedesco alla filosofia contemporanea, hrsg. v. Luigi Ruggiu, Mailand 2004, 28–33.

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bestimmt wird, soll es sich bestimmen, und in eben der Rücksicht, in der es sich bestimmt, soll es bestimmt werden. Das Ich wird bestimmt, heißt: es wird Realität in ihm aufgehoben. Wenn demnach das Ich nur einen Teil der absoluten Totalität der Realität in sich setzt, so hebt es dadurch den Rest jener Totalität in sich auf: und setzt den der aufgehobenen Realität gleichen Teil der Realität, vermöge des Gegensetzens und der Gleichheit der Quantität mit sich selbst in das Nicht-Ich.“3

Es ist aus diesem Passus schon offensichtlich, daß die Synthese zwischen Ich und Nicht-Ich die Gesamtrealität umfaßt, die uns umgibt. Die Identität der Gegensätze, die man zuvor nur ideell („idealiter“) erläutern konnte, da sie zu einem unlöslichen Widerspruch führte, macht nun – durch ihre Transformation in eine Wechselbestimmung – die Determination der Gesamtrealität möglich, und sie ermöglicht darüber hinaus zugleich die Wechselbestimmung und Rechtfertigung von Ich und Nicht-Ich: „Durch die Bestimmung der Realität oder Negation des Ich wird zugleich die Negation oder Realität des Nicht-Ich bestimmt; und umgekehrt. Ich kann ausgehen von welchem der Entgegengesetzten; wie ich nur will; und habe jedes Mal durch eine Handlung des Bestimmens zugleich das andere bestimmt. Diese bestimmtere Bestimmung könnte man füglich Wechselbestimmung (nach der Analogie von Wechselwirkung) nennen. Es ist das gleiche, was bei Kant Relatio heißt.“4

An dieser Stelle ist es wichtig hervorzuheben, daß die Synthese der Gegensätze durch Wechselbestimmung kein neues Element erbringt, um den ursprünglichen Widerspruch zu lösen; sie bietet vielmehr nur die Grundlage für die Lösung des Widerspruches5 an. In der Tat wird diese Methode von Fichte selbst verwendet, um den genannten Widerspruch zu lösen, und um jene Konzepte zu analysieren, die wir anfangs erläutert hatten. Es handelt sich um Konzepte, die zum Verständnis und zur erkenntnistheoretischen Rechtfertigung des zweiten Teils der Grundlage wesentlich sind. Aus ihnen lassen sich folgende Begriffe näher erläutern: der Beziehungsgrund, die Einbildungskraft, die Vorstellung und die Anschauung. Diese Konzepte müssen jedes für sich mit dem Begriff der Wechselbestimmung ins Verhältnis gesetzt werden, denn erst dadurch bekommen sie ihren ganzen Sinn. Es ist unmöglich, hier die Ausführungen Fichtes analytisch und systematisch zu erschöpfen, denn die Gedanken, die Fichte entwickelt, sind vielschichtig und umfangreich; unmöglich auch deshalb, weil sein Diskurs in einer eher rhapsodischen und unorganischen Form verläuft. Daher werde ich nur auf jene Punkte näher eingehen, die für meine Grundthese wichtig sind, das heißt die Deutung des Nicht-Ich als Teil der Realität, die mit dem Natur­ begriff und dem Geistesbegriff gleichsetzbar ist. Meine Behauptung könnte als Wagnis gedeutet werden, wenn man auf die Punkte C, D und E der 3  GWL

– GA I / 2, 288 f. – GA I / 2, 290. 5  Vgl. ebd. 4  GWL



Natur und Nicht-Ich187

GWL6 näher eingeht, denn nach ausführlicher Untersuchung über Tätigkeit und Leiden des Ich und des Nicht-Ich könnte man folgern, daß es für Fichte keine Realität und keine Aktivität gäbe, die vom Ich unabhängig sei, so daß sich die Frage erhebt: Wie könnte man sinnvoll versuchen, das Konzept des Nicht-Ich mit dem der Natur gleichzusetzen? Es ist gerade das Konzept der Wechselbeziehung, als Beziehungsgrund ausgelegt, das uns bei der Interpretation helfen kann, denn wie Fichte erklärt, selbst wenn die ganze Realität und somit auch die Aktivität ausschließlich auf das Ich rückführbar ist, muß diese Aktivität per definitionem auch etwas anderem als dem Ich zugewandt sein, andernfalls wäre sie keine Aktivität, welche zugleich Grund des Wechsels vom theoretischen zum praktischen Ich sein könnte. Der Beziehungsgrund ist also eine Realität, die eine Tathandlung mit einschließt, oder besser: eine Realität, die eine Tätigkeit mit einbezieht. Dabei wird vorausgesetzt, daß es weder eine Realität noch eine ursprüngliche Tätigkeit des Nicht-Ich unabhängig vom Leiden des Ich gibt, denn „[e]s gibt gar keine ursprüngliche Realität und Tätigkeit des Nicht-Ich für das Ich, als insofern das letztere leidet“7. Es ist offensichtlich, daß eine solche Tätigkeit unbedingt auf etwas bezogen sein muß, das vom Ich abhängig ist (also nicht mit dem Ding an sich zu verwechseln ist)8. Die notwendige Folge dieser These ist, daß Tätigkeit und Leiden nicht als voneinander Getrennte erscheinen, sondern sie in einem Schlag, in einer einzelnen Tat verbunden sind und als solche erscheinen. Der Widerspruch, der sich aus diesem spezifischen Verhältnis ergibt, wird vom Konzept der Substantialität (zunächst) teilweise gelöst. Durch sie wird die Behauptung zulässig, daß Leiden in sich, seiner eignen Qualität gemäß, nichts anderes als Tätigkeit ist, und daß diese Tätigkeit der Quantität nach geringer als die Totalität sein müsse – geringer verglichen mit absoluter Totalität – und daß die Tätigkeit als eine verminderte gesetzt werden muß9. Diese Interpretation ermöglicht die These, daß im Nicht-Ich eine Tätigkeit ist, die nicht der Totalität gleich, sondern begrenzt ist. Allerdings ruft diese Tatsache ein neues Problem hervor: Wie kann eine beschränkte Tätigkeit des Ich von der des Nicht-Ich abgehoben werden? Wie können Ich und Nicht-Ich voneinander10 unterschieden werden? – Die Antwort lautet: die Unterscheidung wird durch eine besondere Eigenschaft des Ich möglich, die nicht dem Nicht-Ich zugeschrieben werden kann, und zwar durch „das Setzen schlechthin, und ohne allen Grund“, welches die verminderte Tätigkeit des Ich selbst absolut11 macht. Allerdings 6  GWL

– GA I / 2, 290–307. – GA I / 2, 311. 8  Vgl. ebd. 9  Vgl. GWL – GA I / 2, 312. 10  Vgl. ebd. 11  Vgl. GWL – GA I / 2, 313. 7  GWL

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muß jene Handlung des Ich begrenzt sein, da sie – wie wir bereits erfahren haben – zu etwas hingewandt sein muß. Aber absolut und ohne Grund heißt gänzlich unbeschränkt; und doch soll jene Handlung des Ich beschränkt sein. Hierauf ist zu antworten: bloß insofern sie überhaupt ein Handeln ist, und nichts weiter, soll sie durch keinen Grund, durch keine Bedingung beschränkt sein; es kann gehandelt werden, oder auch nicht: die Handlung an sich geschieht mit absoluter Spontaneität; aber insofern sie auf ein Objekt gehen soll, ist sie begrenzt; wenn einmal gehandelt wird, so muß die Handlung eben auf dieses Objekt gehen, und kann auf kein anderes gehen12. Es ist wichtig zu bemerken, daß Fichte stets den Terminus „Müssen“ verwendet, wenn er die These vertritt, daß – wenn von Tätigkeit die Rede ist – man sie immer auf ein Objekt bezogen setzen muß, als ob dieser Objektbezug eine absolute Notwendigkeit wäre, um sinnvoll von „Tätigkeit“ sprechen zu können. Vielleicht ist es zu früh, dieses Etwas, auf welches sich das Ich tätig hinbewegt, mit der Außenrealität gleichzusetzen, wie wir aus der Analyse des § 5 der Grundlage erfahren. Es handelt sich dabei um einen Absatz, der für unsere Erörterung deshalb wesentlich ist, weil jene Realität vom Ich abhängt: es setzt sich im Bezug auf sie und ihre Existenz. Fichte vertritt also nicht nur eine Position, die von der dogmatischen Abdrift realistischer Strömungen weit entfernt ist, sondern auch eine solche, die eine Synthese von Realismus und Idealismus aus transzendentaler Sicht für möglich hält. Zu entscheiden, ob seine Argumentation hinsichtlich jener Synthese schlüssig ist, oder nicht (freilich ein wichtiges Thema!), gehört nicht in den Bereich meiner Untersuchung. Es ist auch wichtig, uns mit Reinhard Lauth13 daran zu erinnern, daß die externe Realität, auf welche sich Fichte bezieht, nicht nur eine physische Natur darstellt, sondern auch die Gesellschaft vernünftiger Wesen im Kantischen Sinne einbezieht – ein Gesichtspunkt, wie wir später sehen werden, der uns bei der Analyse der Analogie zwischen Naturbegriff und Geistesbegriff behilflich sein wird. Im folgenden möchte ich auf den Begriff des Wechsels und seine Beziehung zur unabhängigen Tätigkeit näher eingehen. Letztere ist vollkommen unabhängig, aber sie ist gesetzt und wird durch denselben Wechsel bestimmt, der die Tätigkeit begrenzt und zum Leiden werden läßt, oder besser: zu einer absoluten, den Wechsel selbst bestimmenden Tätigkeit (später Einbildungskraft14 genannt). Diese Erläuterung ist von Bedeutung, weil sie einerseits eine vorläufige Definition der Einbildungskraft zur Verfügung stellt, andererseits, weil wir in der nachfolgenden Erklärung einigen fundamentalen Passagen begegnen, in denen die Beziehung von Ich und Nicht-Ich weiter 12  Vgl.

ebd.

Lauth: Il pensiero trascendentale della libertà, Mailand 1996, 67. GWL – GA I / 2, 313 f.

13  Reinhard 14  Vgl.



Natur und Nicht-Ich189

erhellt wird. Das heißt genauer: die auf diese Beziehung bezogenen Begriffe Tätigkeit und Leiden, Entäußern und Übertragen, und die Vereinigung von Ideal- und Real-Grund zu verstehen, welche die Synthese zwischen Idealismus und Realismus ermöglicht. An diesem Punkt wäre es freilich wichtig, die Erörterung der Grundlage in ihrer Gesamtheit zu verfolgen, und nicht nur jene Passagen des § 5 aufzugreifen, die die „Grundlage der Wissenschaft des Praktischen“ besser zu verstehen helfen. Ich werde mich nur auf die Punkte konzentrieren, die meine These unterstützen, nämlich, daß es eine innere, wechselseitige Beziehung zwischen dem Nicht-Ich-Begriff und den Begriffen von Natur und Geist gibt. Ich hoffe, daß diese Auslassung die Klarheit meiner Argumentation nicht zu sehr beeinträchtigt. Die These lautet also, daß das Nicht-Ich mit den Begriffen von Natur und Geist in eine gegenseitige Beziehung gesetzt werden kann; vorausgesetzt, daß es Realität des Nicht-Ich nur geben kann, wenn sie vom Ich gesetzt wird, und es keine Realität gibt, ohne vom Ich gesetzt zu sein15. Das ermöglicht erst diese Bestimmung der Realität und des NichtIch, als dem Ich entgegengesetzt zu existieren. Bestätigt wird dies durch die synthetische Vereinigung von Ich und Nicht-Ich, als eine Vereinigung, die sich aus dem Zusammenschluß von Tätigkeit und Leiden des Ich und NichtIch, entwickelt. Ihre synthetische Vereinigung beweist einerseits, daß es dank der Wechselbeziehung kein Moment in der Synthese gibt, das für sich allein Grund des anderen sein könnte; anderseits erfüllt sie eine der Aufgaben der WL, nämlich die Aufhebung des Widerspruches, der in dem Augenblick entsteht, in dem das Ich sich vom Nicht-Ich setzen läßt. Fichte selbst weist darauf hin, daß das Suchen nach dem Fundament der Wechselbeziehung eine Aufgabe sei, die außerhalb der Grenzen der theoretischen Wissenschaftslehre liegt, und die es notwendig macht, sich ihrem praktischen Teil zuzuwenden. Und in der Tat: nur durch eine Theorie des Wechselbeziehungs­ grundes kann Fichte dem dogmatischen Idealismus und Realismus einen kri­tischen Idealismus entgegensetzen und überzeugend ausweisen, daß „… weder die bloße Tätigkeit des Ich der Grund der Realität des Nicht-Ich; noch die bloße Tätigkeit des Nicht-Ich der Grund des Leidens sei. In Absicht der Frage aber, welches denn der Grund des zwischen beiden angenommenen Wechsels sei, bescheidet sich der Wissenschaftslehrer seiner Unwissenheit, und zeigt, daß die Untersuchung hierüber außerhalb der Grenze der Theorie liege. Fichte geht in der Erklärung der Vorstellung weder von einer absoluten Tätigkeit des Ich, noch des Nicht-Ich, sondern von einem Bestimmtsein aus, das zugleich ein Bestimmen ist, weil im Bewußtsein unmittelbar nichts anders enthalten ist, noch enthalten sein kann.“16 15  Vgl.

GWL – GA I / 2, 327. – GA I / 2, 328.

16  GWL

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Fichte warnt dementsprechend davor, anzunehmen, das weitere Verständnis dieser Bestimmung könne im theoretischen Teil eingelöst werden, sodaß diese Unvollständigkeit uns dazu zwinge, das Gebiet der Theorie zu verlassen, um in den Bereich des praktischen Teils der Wissenschaftslehre17 hinüberzutreten. Der Grund der Wechselbeziehung hat uns jedenfalls geholfen, eine Äußerung Fichtes zu klären, die lautet: „verminderte, eingeschränkte, begrenzte Tätigkeit des Ich“. Damit meint er eine Tätigkeit, die sich auf etwas bezieht, das dem Gebiet des Nicht-Ich zugeschrieben werden muß. Sie ist eine Tätigkeit, die auf ein Objekt wirkt, das heißt: eine objektive Tätigkeit. Ein nicht sehr aufmerksamer Leser sowie ein einseitiger Kritiker Fichtes könnten von diesen Zeilen leicht verwirrt werden. Sie sind aber für meine Erörterung wesentlich, da sich hier die Aussage findet, die allgemeine Tätigkeit des Ich, die dem Setzen gleich ist, sei absolut, das heißt: unbegrenzt und unvermindert. Die Selbst-Setzung aber, oder genauer: das Setzen des Ich als Ich, ist nicht mehr absolut, d. h. unbedingt, unbegrenzt, sondern steht unter einer Bedingung (Voraussetzung), die ein entgegengesetztes Nicht-Ich setzen soll. In diesem Absatz möchte ich zwei Aspekte unterstreichen, die für meine Interpretation von erheblichem Wert sind. Der erste bezieht sich auf die Tatsache, daß das Thema anderweitig vertieft und gelöst wurde, wenn auch offensichtlich nicht in diesen Worten – und zwar in der Theorie der Grundsätze. Ich meine die Setzung des Ich als Ich, also seine Selbstsetzung, das „Sum ergo sum“, welches die erste Unterscheidung zwischen dem absoluten und dem endlichen Ich einführt. Es handelt sich um eine Unterscheidung, die unvermeidlich eine weitere, diejenige zwischen begrenzbarem Ich und Nicht-Ich mit sich führt. Ich betone unvermeidlich, um meine zweite Anmerkung zu rechtfertigen, nämlich, daß Fichte mehrmals das Verb „müssen“ verwendet, um zu zeigen, daß die Selbstsetzung des Ich zu einer Begrenzung führen muß. Dieser Begriff ist nur legitim, füge ich hinzu, wenn das Setzen des Nicht-Ich unverzichtbar, d. h. eine absolute Notwendigkeit ist. Man kann also behaupten, daß in diesem Abschnitt der Grundlage Themen zu finden sind, die erst später, und zwar in der Wissenschaft des Praktischen, ihre Lösung finden. Diese Themen sind aber für die Erörterung meiner These wesentlich, z. B. im Zusammenhang der Umwandlung der Begriffe Ich und Nicht-Ich in die von Subjekt und Objekt. Diese Umwandlung muß aus dem Gesichtspunkt der Wechselbeziehung erläutert werden, demzufolge das eine ohne das andere nicht sein kann, da beide außerhalb ihrer inneren Beziehung nicht existieren können. Allerdings handelt es sich um eine Beziehung, in der man die Wörter „Ich“ und „Nicht-Ich“ weiterhin beibehalten muß, d.  h., die Identifizierung Ich = Subjekt und Nicht-Ich = Objekt ist nur im Kontext der Wechselbezie17  Vgl.

ebd.



Natur und Nicht-Ich191

hung brauchbar. In allgemeinerer Sprache ausgedrückt: das Ich, so wie es hier betrachtet wird, ist bloß das Gegenteil des Nicht-Ich, und nichts weiter; und das Nicht-Ich bloß das Gegenteil des Ich, und nichts weiter. Kein Du, kein Ich; kein Ich, kein Du. Wir wollen um der Deutlichkeit willen schon von jetzt an, in dieser Rücksicht, aber auch in keiner andern, das Nicht-Ich Objekt, das Ich Subjekt nennen; obgleich wir die Adäquatheit dieser Benennungen hier noch nicht zeigen können. Das von diesem Wechsel unabhängige Nicht-Ich soll nicht Objekt, und das von ihm unabhängige Ich nicht Subjekt genannt werden18. Nach dieser Klärung bin ich endlich zum Dreh- und Angelpunkt meines Beitrags gekommen, nämlich der gegenseitigen Abhängigkeit von Subjekt und Objekt, einer Interdependenz, die uns zwingt, eine äußere Welt anzunehmen, in der sich das Subjekt als ein Seiendes unter Seiendem erkennt, und sein eigenes Dasein unter anderen anerkennen muß, mit denen es einen Platz teilen und sich unweigerlich auseinandersetzen muß. Das Subjekt erkennt sich als ein Dasein mit Empfindungen, Gefühlen und Trieben, die sich zu etwas Äußerem hinwenden; ein Streben, das durch ein absolutes Handeln (durch ein absolutes Ich) ermöglicht wird, ein strebendes Dasein, welches nicht nur Natur, sondern auch Geist ist, weil es Teil des Absoluten ist: jenes Absoluten, aus dem das Ich seinen Ursprung hat und von dem her es seine unendliche Aufgabe („Bestimmung“) erhält, sich selbst zu seiner Fülle hin zu bilden. Das allerdings nicht, um sich an die Stelle Gottes zu setzen, sondern um zu versuchen, wie Gott zu werden19. Es ist nun interessant, auf die Beziehung zwischen der Einbildungskraft und der Anschauung näher einzugehen: eine Relation, die dank ihrer Wechselbeziehung das Objekt der Anschauung determiniert und das Denkbare als real setzt, auch wenn das Objekt, welches von einem Anschauenden determiniert wird, ein Gedachtes ist. Ich werde an dieser Stelle nur das Ergebnis dieser Beziehung zusammenfassen, welche nicht nur der Abschluß der dem theoretischen Wissen gewidmeten Sektion ist, sondern auch die wichtige Aussage enthält, der zufolge das transzendental-logische Ich vor dem Nicht-Ich gesetzt wird und demnach ursprünglicher ist als dieses. Dies ist möglich, weil die Fähigkeit des Ich zur Selbstsetzung, welche das Ich als bestimmend und bestimmt setzt, es zum schlechthin Bestimmenden macht. Auf diese Weise kann es sich selbst als wechselseitig setzen. Dieser Umstand ergibt sich aus der Tatsache, daß das Ich zugleich endlich und unendlich sein kann und somit beide Bestimmungen auf perfekte Weise in sich vereinigt. Mit dieser These hat Fichte das Ziel erreicht, daß er sich zu Anfang gesetzt hatte. Es bedeu18  Vgl.

GWL – GA I / 2, 337. Severino: Il fondamento della contraddizione, Mailand 2005,

19  Emanuelle

306–308.

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tet, daß die definitive Lösung des Problems einer Synthese von Ich und Nicht-Ich nur im praktischen Teil der Philosophie gefunden werden kann. Obwohl also das Ich Dreh- und Angelpunkt ist und bleibt, aus dem alle möglichen Bestimmung und Reflexionen entspringen, ist es für meinen Zweck wichtig zu bemerken, daß damit die Möglichkeit einer Realität des Nicht-Ich nicht ausgeschlossen wird, die als äußere Realität (Welt / Universum) verstanden werden muß. Das erlaubt mir zu behaupten, 1. daß aus transzendentaler Sicht sich das Ich als dasjenige setzt, was das Reale bestimmt, und 2. daß auch das Nicht-Ich als das Reale gesetzt wird. An diesem Punkt wird deutlich, daß die Themen, die im § 5 der Grundlage ausführlicher entwickelt werden, schon früher in nuce abgehandelt worden sind. Ich werde sie nur kurz erwähnen, da ich im III. Teil dieses Vortrages näher auf sie einzugehen beabsichtige, in dem ich die Begriffe von Gegensetzung und Unterscheidung in der Entwicklung von den Eignen Medita­ tionen (= EM) zur GWL berücksichtige. Es ist nützlich darauf zu hinweisen, daß es Fichte für eine erwiesene Tatsache hält, daß: „… das Nicht-Ich eigene Realität besitze, selbst wenn sie vom Ich bestimmt wird; diese ­ ­Tatsache stellt das Ich, auch hinsichtlich der Realität des Nicht-Ich, wiederum als bestimmend dar“20. Nach Überwindung der Schwierigkeiten des theoretischen Teils, dem entsprechend „das Ich […] sich als bestimmend das Nicht-Ich [setzt]“, müssen wir uns nun der Antithese stellen. Sie ­thematisiert den Kontrast zwischen dem Ich als Intelligenz und dem unbedingten und unbegrenzten Ich, und damit einen Gegensatz, der nur durch praktische Tätigkeit des Ich gelöst werden kann. Und der praktische ­Charakter des Ich ermöglicht es, alle weiteren Antithesen zu lösen, die sich aus der Entfaltung des Systems21 ergeben. Zur Erörterung meiner These ist eine breitere Diskus­sion dieses Punktes nicht erforderlich, um zu beweisen, daß die Existenz des Nicht-Ich keinen Einfluß auf die Spontaneität und Unbedingtheit des ab­soluten Ich haben könne. Wichtig hingegen ist, was sich aus dieser Aussage ergibt, nämlich daß das absolute Setzen des Ich nicht nur keiner Außen­wirkung ausgesetzt, sondern notwendig ist, um zu ermöglichen, daß etwas anderes als es selbst gesetzt werden kann, denn ohne absolute Setzung des Ich wäre keine andere (teilabsolute) Setzung möglich. Die Setzung des Ich, da sie absolut ist, verneint also jede entgegengesetzte Setzung außer der ihrigen, insofern sie von keiner anderen, absolut gleichwertigen, unbe­dingten und unbeeinflußbaren Tätigkeit begleitet wird22, einer Tätigkeit, die „a priori“ ist und ein Entgegengesetztes, welches das Nicht-Ich als Objekt haben muß, voraussetzt23. Daß die 20  GWL

– GA I / 2, 38. GWL – GA I / 2, 386. 22  Vgl. GWL – GA I / 2, 391. 21  Vgl.



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Tätigkeit(en) „a priori“ existieren, ist ein Grundsatz der Wissenschaftslehre – Tätigkeiten, welche ihre Rechtfertigung allerdings erst durch Erfahrung finden, in der jeder ein bestimmtes Objektbewußtsein mit anderen seinesgleichen teilt, da das Objekt in seiner bestimmten Faktizität nie „a priori“ auftauchen kann und nur durch die Erfahrung eruierbar ist24. 23

Ist die Erfahrung, die der Setzung des Nicht-Ich zugeschrieben werden muß, erforderlich, um die Bedingung der Möglichkeit der Außenrealität zu begründen, dann sollte die letzte Passage meines Beitrags in dem Versuch bestehen, den Nicht-Ich-Begriff mit dem der Natur und des Geistes zu identifizieren. Ich komme zu dieser Folgerung mit Hilfe der Begriffe der Tendenz und des Strebens. Ich wiederhole, es geht um den Konflikt zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, oder besser: zwischen bedingter oder absoluter Tätigkeit des absoluten Ich, um einen Konflikt, der unweigerlich zu einem neuen (scheinbar) unlösbaren Widerspruch führt. Doch ist es gerade die Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs, ohne welchen kein Objekt sein kann. Das Ich „setzt einen Gegenstand, wohin auch in der Unendlichkeit es ihn setzen möge, und setzt dadurch eine außer ihm liegende, und von seiner Tätigkeit (des Setzens) nicht abhängende, sondern vielmehr ihr entgegengesetzte Tätigkeit“25. Diese auf etwas hingewandte Tätigkeit ist eine Tendenz, oder besser das, was Fichte Streben nennt. Von seinen theoretischen und praktischen Bedeutungen wollen wir absehen, um uns auf die Veränderung zu konzentrieren, die dieser Begriff durchläuft, der durch die Beziehung auf ein Objekt zu einem Gefühl wird und somit endgültig den Schwerpunkt vom Ich, als absolutem Subjekt und Grund aller Tätigkeit, hin zum Nicht-Ich setzt. Ein Nicht-Ich, das als Objekt verstanden werden muß, besser als objektive Realität, die dem Ich entgegengesetzt wird; das also nicht in logischer Bedeutung verstanden werden darf im Sinne absoluter Gegensetzung und gegenseitiger Vernichtung, sondern als das, was anders als das Ich ist, als das, was ihm vorgesetzt wird, mit ihm unweigerlich interagiert und sich in Beziehung zu ihm setzt. In diesem Sinne könnte man das Nicht-Ich als „Lebenswelt“ bezeichnen, um eine aktuelle Ausdrucksweise aufzugreifen, in der das Ich sich als praktisches Wesen realisiert, als das „In-der-Welt-Sein“ des Ich. Diese Deutung des Nicht-Ich greift auf den Begriff des Praktischen bei Fichte zurück und versteht ihn als das Zum-Vorschein-Kommen des Menschen in der Natur und in der Begegnung mit anderen Menschen, also auf eine Bedeutung des Praktischen, die über den bloßen Moralbegriff hinausgeht26. Damit haben 23  Vgl.

ebd. ebd. 25  GWL – GA I / 2, 394. 26  Claudio Cesa: J. G. Fichte e l’idealismo trascendentale, Bologna 1992, 106. 24  Vgl.

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wir alle Punkte in einer für die Grundlage typischen Weise gelöst, nämlich von ihrem Endpunkte her. Diese Überlegung bringt mich zur Lösung des anfänglichen Problems, inwiefern das Nicht-Ich in seiner praktischen Funktion mit der Natur gleichgesetzt werden kann, nicht im physischen Sinne, sondern als Idealraum, in dem sich die verschiedenen Potenzen des empirischen Ich, seine Triebe und Gefühle, ausleben können. Das empirische Ich könnte auch Subjekt genannt werden, um zu betonen, wie gerade seine Beziehung zu dem, das anders ist als es selbst, nämlich dem Objekt, die objektive Realität bildet. Es handelt sich um eine objektive Realität mit allen ihren Eigenschaften, durch die man sie von reiner Materie unterscheidet, von jener „res extensa“ also, welche erst zur Bühne wird, auf der sich all die unendlichen Möglichkeiten praktischen Daseins verwirklichen können, zum Ort also seines Schaffenswillens (wo der Mensch seinen „Ent-wurf“ realisieren kann). Dieser Ort ist, meiner Meinung nach, dem Begriff des Geistes im Hegelschen Sinne assimilierbar, wenn auch nicht völlig mit ihm als „objektivem Geist“ identifizierbar. Er repräsentiert vielmehr den (sittlichen) „Raum“, in dem alle subjektiven Geister sich treffen und zusammenwirken, als einen Ort, in dem sich die menschliche Gesellschaft als Rechtsgemeinschaft, Familie und Staat in sittlichen Beziehungen findet und in dem sich die gesamte Geschichte des Menschengeschlechts verwirklichen kann. III. Ich, Nicht-Ich, Gegensatz und Unterscheidung. Einige abschließende Überlegungen zur Entwicklung von den Eignen Meditationen bis zur Grundlage Im II. Teil habe ich mich mit dem Versuch beschäftigt, wie das Konzept des Nicht-Ich, vom einfachen logisch-formalen Widerspruch ausgehend, in der Entwicklung der Grundlage, und besonders in ihrem dem praktischen Wissen gewidmeten Teil, zu dem wird, was mit einem nicht von Fichte stammenden Ausdruck als Unterschied verstanden werden könnte. Das Nicht-Ich wird zu dem, was vom Ich unterschieden ist, das heißt: zur Außenrealität, welche die gesamte Menschheit einschließlich meiner empirischen Person, kurz die Vielfalt einschließt, um die Sprache Kants aufzugreifen. Im Folgenden kann ich nur noch einige kurze Erwägungen über ein Thema von großer Bedeutung anstellen, und zwar über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die sich ergeben, wenn man die EM mit der GWL vergleicht, insbesondere hinsichtlich der Definition und Rolle des Nicht-Ich, weiterhin über unterschiedliche Bedeutungen der Einbildungskraft und schließlich die Einführung des Freiheitsprinzips. Zur Entwicklung der genannten Punkte werde ich als Leitfaden zwei fundamentale Werke der ­Literatur berücksichtigen, die ich bereits in der Vorrede vorweggenommen



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habe27 und die für das Verständnis der Entwicklung der Gedanken Fichtes von Bedeutung sind. Diese Werke sind reich an Begriffsbildungen, Intuitionen und Anregungen, und erweisen sich als unerläßlich, um sich in dem komplexen Labyrinth von Themen und Fragestellungen zu orientieren, die im Denkweg Fichtes auftauchten, als er in jenen Jahren damit beschäftigt war, die Grundform seines Systems auszuarbeiten. Zuerst findet sich eine zu erläuternde Betrachtung im Buch von Moiso28, der uns daran erinnert, daß sich in der GWL eine Umkehrung der Tendenz vollzieht, die in den EM noch spürbar ist, eine Umkehrung, welche Fichte erlaubt, ein drittes Prinzip in seine Theorie einzufügen, welches in den EM noch fehlt; darüber hinaus eine Transformation des logischen Gegensatzes von „reinem Ich / den Tatsachen des Bewußtseins“ in eine Form der Limitation, welche dank der Kategorie der Relation die Gegensätze zu vereinbaren vermag und damit der Einbildungskraft Zugang verschafft. Ein Zugang, der in den EM nur Ausgangspunkt war, weil er jene Möglichkeit darstellte, in der sich sowohl Darstellungs-Synthese als auch Vorstellungs-Synthese des Ich und Nicht-Ich darstellen lassen. In bezug auf die GWL kann die Relation mit der Wechselwirkung identifiziert werden, die – wie wir schon im II. Teil ausführlich erklärt hatten – den Schlüssel bietet, um die komplexe Dialektik Fichtes begreifen zu können. Sie führt die praktische Funktion des Ich ein und endet mit der Entgegensetzung von Ich und Nicht-Ich. Eine Bestätigung dieser Auslegung findet sich in einer wichtigen Anmerkung von Moiso, wenn er darauf hinweist, daß der Zusammenhang zwischen Darstellung und gegenseitiger Kausalität gerade in der GWL vorzufinden ist, weil dort die absolute Aktivität des Ich als solchen, die keine spezifische Aktivität des In-Beziehung-Setzens ist, nicht denkbar ist29. Das gibt uns nicht nur die Möglichkeit zu behaupten, daß Fichtes System, wenigstens in den Werken bis 1795, nicht beabsichtigte, die empirischen Individualität in die Totalität des Ich einzubeziehen, sondern bestätigt auch meine These, daß die Setzung des sinnlich Materialen, des Nicht-Ich, vernünftig ist, weil sie die Setzung einer organischen Einheit der Welt als einer Aufgabe ist, welche sich der höheren Funktion der Vernunft stellt. Durch diese Aufgabe wird die notwendige Beziehung der Welt zum Subjekt auf den Kopf gestellt, damit sie eine freie Beziehung des Subjekts zur Welt werden könne30. Die Kategorie der Wechsel-Wirkung erlaubt uns somit, den anfänglichen Gegensatz zwischen Ich und Nicht-Ich aufzulösen und zugleich diesen Gegensatz mit dem Unterscheidungsbegriff zu verwechseln. Ein solcher Begriff der Unterschei27  Vgl. nea, hrsg. 28  Vgl. 29  Vgl. 30  Vgl.

La crisi dell’ontologia. Dall’idealismo tedesco alla filosofia contempora­ v. Luigi Ruggiu, Mailand 2004. Moiso: Natura e cultura, 131–135. ebd., 127. ebd, 129; GWL – GA I / 2, 311.

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dung setzt wiederum die Relation zwischen zwei voneinander verschiedenen Terminologien voraus, die sich gegenseitig fordern, um überhaupt existieren zu können: „Es gibt kein Subjekt ohne Objekt. Es gibt kein Objekt ohne Subjekt“, ist die berühmte Formel, welche meine Auslegungen angemessen verdeutlichen konnte. Es wäre nun interessant, auf die Rolle der Einbildungskraft und der intellektuellen Anschauung in den Eignen Meditationen, sowie auf die Entwicklung der praktischen Philosophie aus ästhetischer Sicht näher einzugehen. Es handelt sich um etwas, das in der Grundlage nicht völlig fehlt, das sich dort jedoch nur in einer ziemlich allgemeinen Form findet, wie sich aus § 10 der GWL entnehmen läßt. Der Bündigkeit wegen behandle ich aber nur zwei Themen, um zu vervollständigen, was ich am Anfang dieses Beitrages vorhatte, nämlich eine Gegenüberstellung von Schelling und Fichte unter Berücksichtigung des Themas der Freiheit als höchsten Prinzips. Ich bin dazu durch einen Aufsatz von R. Lauth veranlaßt worden. Was die Beziehung zu Schelling anbelangt, ist festzustellen, daß Lauth sich auf dessen Naturphilosophie bezieht, die er in den Werken Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797), Die Weltseele (1798) und Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799) entwickelt hatte. Dabei lasse ich den Briefwechsel zwischen Fichte und Schelling und Das System des transzendenten Idealismus (1800) beiseite und beschränke mich auf einige Überlegungen über die Begriffe Ich und Nicht-Ich bei Fichte und Natur und Geist bei Schelling, d. i. Begriffe, welche als Anregung zu künftigen Studien über das Verhältnis beider Philosophen zueinander gelten können. Die erste Betrachtung bezieht sich auf die Tatsache, daß in der Weltseele die Natur als mit einem immanenten Geist, mit einer organisierenden und Leben spendenden Kraft (also: „Weltseele“) ausgestattet angesehen wird, welche uns an das Handeln der produktiven Einbildungskraft Fichtes außerhalb des reflektierten Bewußtseins erinnert. Als Geist ist die Natur spontane und schöpferische Tätigkeit, die sich in unendlich vielen Geschöpfen offenbart, wie sich aus dem Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie ergibt. Diesen Charakteristiken zufolge wäre der NaturGeist-Begriff bei Schelling nicht dem Nicht-Ich, sondern eher dem Ich bei Fichte anzunähern, welches auch die Fähigkeit enthält, sich in zwei Haupt­ impulse aufzuspalten: Attraktion und Repulsion. Beide Konzepte, wie auch das des reinen Ich, sind nicht als entgegengesetzt zu sehen, sondern als zwei verschiedene Aspekte desselben absoluten und einen Prinzips. Sie stehen somit in Wechselbeziehung. Diese Sicht ist aber von einer Erklärung des Verhältnisses, das zwischen beiden Systemen besteht, weit entfernt. Eine Entwicklung dieses Gedankens, die aus der späteren Spekulation Hegels zu entnehmen ist, könnte eine ergiebige Reflexion zutage fördern, um die Dialektik der Grundlage als Fundament der Naturphilosophie Schellings zu betrachten. Wir können das behaupten, obwohl sich im System Schellings



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eine nicht unwichtige Änderung bezüglich der Rolle und Funktion des Ich in Richtung einer Vergeistigung der Natur findet, während bei Fichte eine explizite Abhandlung der Naturphilosophie fehlt, wie wir im II. Teil dieses Beitrages erläutert haben. Auf der anderen Seite würde das mir helfen, zu erklären, auf welche Weise die Identifikation der Begriffe Nicht-Ich und Natur qua Geistes – auf die Grundlage bezogen – vertreten werden könnte. In Anbetracht dessen, was sich vom Ich unterscheidet, mit dem es sich gleichzeitig in Wechselbeziehung befindet, wird Fichtes Grundlage der Ort der Verwirklichung der Tätigkeit des Ich, das in sich selbst zurückgeht (als unendliche Tätigkeit) und gleichzeitig eine außer ihm liegende Tätigkeit setzt (als objektive Tätigkeit, welche die Tätigkeit des Ich begrenzt). Dies läßt den besonderen Charakter von Unendlichkeit und Endlichkeit, die dem Ich zugeschrieben werden, in Erscheinung treten. Im Hinblick auf das Verhältnis von Nicht-Ich und Kants „Ding an sich“ und insbesondere die vermeintliche Aufhebung dieses Konzepts durch Fichte, müßte man sich bei diesem Thema länger aufhalten, da es sehr viele Verweise bei Fichte wie in der Fachliteratur zu beachten gibt. Hier beschränke ich mich auf die Kommentare Moisos zum Thema, da sie mit meinem Anliegen übereinstimmen. Es ist gerade am Anfang der EM, in dem Absatz mit dem Titel Logische Regeln, daß wir das erste Auftreten eines Unterschiedes Fichtescher Gedanken gegenüber Kants Konzept eines „Dings an sich“ finden. Dieses Konzept stellte für Kant einen geschlossenen Bereich des Wissens dar, der vom Subjekt nicht begreifbar ist und für es unzugänglich bleibt; sozusagen als Grenze, über welche hinaus man nicht gehen kann, ohne einen Denkfehler zu begehen. Im Gegensatz dazu spricht sich Fichte eher zugunsten einer Natur aus, welche notwendigerweise im Zusammenhang mit dem Subjekt gesetzt ist; daher sind Objekte der Natur nur Vorstellungen (im Sinne von Setzungen des Ich), und nicht Vorstellungen von an sich seienden Dingen, so daß das unmittelbare Erscheinen der Natur als Objekt des Wissens ein einziges Faktum mit der reflexiven Rekonstruktion ist31. Der Text der EM erscheint, verglichen mit dem der GWL, sicherlich komplexer, einerseits weil die EM das philosophische System Fichtes nur im Stadium eines Entwurfs enthalten, der erst später in den Grundlage eine Endfassung finden sollte, andererseits weil man in den EM eine stetige, harte Gegenüberstellung Fichtes mit den Philosophien Kants, Reinholds und Maimons findet, Gegenüberstellungen, die von unvermeidlichen Verweisen auf Leibniz, Spi­ noza und Hume begleitet werden. Da mir eine vollständige, systematische Analyse des Textes hier unmöglich ist, werde ich nur noch auf zwei Erwägungen zur Thematik des „Dings an sich“ eingehen, Erwägungen, die von der Lektüre des Textes von Moiso angeregt wurden. Die erste Erwägung betrifft 31  Vgl.

ebd., 41 f.; vgl. Fichte: Eigne Meditationen, in: GA II / 3, 23 f.

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die veränderte Fassung der EM im Hinblick auf die Zuschreibung der intellektuellen Anschauung als zum unbedingten Ich gehörig. Das ermöglicht die Identifizierung absoluter Existenz (oder absoluten Seins) mit absoluter Autonomie und verneint die absolute Realität des Ich in dem Sinne, daß allein aus ihm die notwendigen Formen des Geistes spontan entstehen. Das schließt ein „Ding an sich“ aus, als jenes Element verstanden, welches zur Synthese32 als Vermittlung gehört. Dieser konzeptuelle Aufbau ermöglicht einerseits, daß die Erkenntnisse a priori, denen das intelligente Ich zugrunde liegt, die Notwendigkeit fester Regeln (Gesetze) ausschließen – Regeln, welche eine absolute Realität darstellen sollten –; andererseits schließt ein solcher Aufbau eine absolute Realität als solche aus (= Negation des „Dings an sich“ und des objektiven Charakters der intellektuellen Anschauung). Zugleich erlaubt er dem reinen, unbedingten Ich, eine absolute Existenz zu bekommen, so daß das kritische System zu einem „negativ dogmatischen“ hinsichtlich der Realität an sich33 wird. Im II. Teil dieses Beitrages habe ich ausführlich erläutert, wie die Starrheit des Gegensatzes von Ich und NichtIch durch Einführung des dritten Prinzips (und den damit verbundenen Wechsel zur praktischen Philosophie) aufgelöst werden kann. Nichtsdestoweniger ist auszuschließen, daß eine an sich seiende Realität außerhalb der Gegensetzung von Ich und Nicht-Ich existieren könne. Den Beweis stellt meine zweite Erwägung dar, die in dem Abschnitt der Grundlage zu finden ist, in dem Fichte durch Erklärung des „sensus communis“ darauf aufmerksam macht, daß, wer nicht fähig sei, die Identität des Real- und IdealGrundes in der Wirksamkeit zu erfassen, auch keine tiefere Philosophie verstehen könne und sie deshalb auch gar nicht benötige, denn: „Die Natur, deren Maschine er ist, wird ihn schon ohne all sein Zutun in allen Geschäften leiten, die er auszuführen hat. Zum Philosophieren gehört Selbständigkeit: und diese kann man nur sich selbst geben. Wir sollen nicht ohne Auge sehen wollen; aber sollen auch nicht behaupten, daß das Auge sehe34“. In dieser Stelle wird, wie von Moiso zu Recht bemerkt, die Vernichtung des Kantischen „Dings an sich“ als Begründung für dynamische Handlungen des Geistes verständlich35. Mit dieser Erkenntnis haben wir zwei wichtige Ergebnisse angesprochen: einerseits, daß die Fichtesche Naturphilosophie letzten Endes zu einer Philosophie der Erkenntnis wird; andererseits, daß die Annahme eines „Dings an sich“ überflüssig wird. Die Naturphilosophie wird nämlich in der GWL als Erkenntnistheorie behandelt; und die intellektuelle Anschauung macht deutlich, daß weder ein Ding an sich, noch eine Moiso: Natura e cultura, 53. ebd., 54. 34  GWL – GA I / 2, 326, Anm. 35  Vgl. Moiso: Natura e cultura, 80. 32  Vgl. 33  Vgl.



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Realität an sich existieren kann. Als zu bearbeitendes Desiderat der Forschung werden zwei Themen sichtbar: Erstens das Thema des intentionalen Charakters des Ich im Akt des Sich-Setzens, welcher dem Ich der Außenrealität gegenüber völlige Autonomie ermöglicht und demzufolge den praktischen Charakter des Ich zur Geltung bringt. Zweitens, daß dieser IchCharakter durch Wechselbeziehung auf jene Realität bezogen werden muß, die sich dem Ich gegenüberstellt, oder, genauer, sich von ihm abhebt. Bibliographie Cesa, Claudio: J. G. Fichte e lʼidealismo trascendentale, Bologna 1992. Claesges, Ulrich: Geschichte des Selbstbewußtseins. Der Ursprung des spekulativen Problems in Fichtes Wissenschaftslehre von 1794–1795, Nijhoff 1974. Druet, Pierre-Philippe: „LʼAnstoss fichtéen. Essai dʼelucidation dʼune métaphore“, in: Revue philosophique de Louvain (1973) 384–392. – „La première philosophie de Fichte et ses ambiguites“, in: Revue philosophique de Louvain (1975) 643–657. Eidam, Heinz: „Fichtes Anstoß. Anmerkungen zu einem Begriff der Wissenschaftslehre von 1794“, in: Fichte-Studien 10 (1997) 191–208. Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, in: GA I / 2, 251–451. – Eigne Meditationen ueber Elementarphilosophie, in: GA II / 3, 21–266. Janke, Wolfgang: Fichte. Sein und Reflexion. Grundlage der kritischen Vernunft, Berlin 1970. – „Vielheit der Seins-Einheit des Ich-Existiere. Verwahrung und Vertiefung des transzendentalen Gedankens“, in: Fichte Studien 20 (2003) 1–10. Lauth, Reinhard: Il pensiero trascendentale della libertà, hrsg. von Marco Ivaldo, Mailand 1996. Metz, Wilhelm: „Die produktive Reflexion als Prinzip des wirklichen Bewußtseins“, in: Fichte-Studien 20 (2003) 69–99. Moiso, Francesco: Natura e cultura nel primo Fichte, Mailand 1979. Ruggiu, Luigi (Hrsg.): La crisi dellʼontologia. Dallʼidealismo tedesco alla filosofia contemporanea, Mailand 2004. Severino, Emanuele: Fondamento della contraddizione, Mailand 2005. Soller, Alois K.: „Fichtes Lehre vom Anstoß. Nicht-Ich und Dinge an sich in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre. Eine kritische Erörterung“, in: Fichte-Studien 10 (1997) 175–189. Witzleben, Frank: „Wer weiß? Eine Re-Interpretation der Theorie der Handlung und des Wissens in Fichtes Wissenschaftslehre von 1794“, in: Fichte-Studien 20 (2003) 35–51.

Geist und Natur in Fichtes Ethik Cristiana Senigaglia I. Die Begriffe „Geist“ und „Natur“ bei Fichte Geist und Natur gehören bekannterweise nicht zur spezifischen Begrifflichkeit Fichtes, der seine philosophischen Grundsätze eher mit sich auf das Bewußtsein beziehenden Ausdrucksweisen zur Geltung bringt: Ich, NichtIch, Subjektivität und Objektivität etc. Die spekulative Problematik konzentriert sich in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794 / 95 (= GWL) auf die transzendentale Tätigkeit und ihren logisch-genetischen, in der Subjektivität entstehenden Prozeß; dadurch wird auch die Natur lediglich als am Rande stehender Grenzbegriff in Betracht gezogen. Der Begriff „Geist“ wird von Fichte selten gebraucht und oft mit der zusätzlichen Konnotation „menschlicher Geist“ versehen. Als solcher bezeichnet er das rekonstruktiv-genetische Verfahren, das im Entgegengesetztsein seinen grundsätzlichen Mechanismus feststellt und ihn auf das Ich selbst und seine absolute Tätigkeit zurückführt. Die Wissenschaftslehre erfüllt daher die Aufgabe, die Tätigkeit des Menschen als denkenden Wesens und ihre interne Dynamik zu eruieren und somit zugleich „eine pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes“ (GWL – GA I / 2, 365)1 darzustellen. Die „Problematik des Verhältnisses zwischen Geist und Natur ist aber über die Terminologie hinaus bei Fichte deutlich präsent. Dies kann insbesondere veranschaulicht werden, wenn auf seine frühe Schrift Practische Philosophie (= PPh – GA II / 3, 179–266) verwiesen wird. Die Fragestellung war bereits von Kant verdeutlicht worden: Eine zu starke Entgegensetzung zwischen dem Bereich der Erkenntnis (bzw. der Welt der Phänomene) und der ideal-normativ auszurichtenden praktischen Tätigkeit, zwischen Notwendigkeit und Freiheit sowie zwischen Realem und Idealem hatte zur Konsequenz, daß die praktische Fähigkeit, auf die Welt zu wirken, nicht 1  Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794 /  95), in: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth, Hans Jacob, Hans Gliwitzky, Erich Fuchs und Peter K. Schneider, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962–2012. Im folgenden abgekürzt: GA, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl. Alle Zitate werden im Text unter Angabe des Werkkürzels und der Stelle in der GA zitiert.

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begründet werden konnte. Kant war sich der Schwierigkeit völlig bewußt und hatte in der Kritik der Urteilskraft eine Analogie zwischen praktischer zielgerichteter Tätigkeit und Zweckmäßigkeit der Natur hypothetisiert, um einen Übergang zwischen den zwei Welten zu ermöglichen: „Der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen, und die Natur muß folglich auch so gedacht werden können, daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme“2. In der Practischen Philosophie verweist Fichte ausdrücklich auf die Kantische Fragestellung, die er sowohl aus der Kritik der praktischen Vernunft als auch aus der Kritik der Urteilskraft entnimmt, und zeigt auf, wie er eine Einheit aus der Dualität zu gewinnen versucht, die mit entgegengesetzten Kräften (der naturwissenschaftliche Bezug ist die polarisierte Elektrizität)3 umgeht, die sich dennoch auf einen einheitlichen Ursprung zurückführen lassen. Der Geist behält bei Fichte nichtsdestoweniger die Positivität der originellen Tätigkeits- und Kraftquelle, jedoch wird versucht, alles durch Energie und eine Form der Tätigkeit zu beleben, die, im Unterschied zu Kant, Streben und Neigungen mit einbezieht und als Formen des Leidens auslegt, welche zu einer Intensivierung der Polarität, des Austausches und letztendlich des Fortschreitens der Subjektivität beitragen. Dies veranlaßt Fichte, auch in bezug auf die Teleologie und das zielgerichtete Handeln eine Apriorität der Betrachtung einzuführen, die er durch das Streben als grundsätzliches transzendentales Charakteristikum begründet4. Wenn es aber um Streben geht, das auch in der Natur und im Organismus festzustellen ist, bekommt die Natur den Status eines vermittelnden Bereichs, der nicht der bloßen Passivität überlassen werden kann und sich hingegen so ausweitet, daß er auch den menschlichen Körper mit einbezieht5: „Die teleologische Betrachtung haben wir bis jetzt auf die Natur außer uns angewendet. Unser eigner Körper gehört, in sofern er ein organisirtes Ganzes ist, zur Natur außer uns. – Könnten wir sie nicht etwa auf uns selbst, insofern wir ein 2  Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, B XIX f., in: ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften / Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin / Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin / New York 1900 ff. Im folgenden mit AA abgekürzt und mit Bandangabe in lateinischen Ziffern angegeben, hier: AA V, 176. 3  Zu der naturwissenschaftlichen Erkenntnis der Epoche siehe Francesco Moiso: „Magnetismus, Elektrizität, Galvanismus“, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Historisch-kritische Ausgabe, Ergänzungsband zu Bd. 5–9, Stuttgart 1994, 165–372. 4  Vgl. Faustino Fabbianelli: Antropologia trascendentale e visione morale del mondo. Il primo Fichte e il suo contesto, Milano 2000. 5  Dies wird von Fichte bereits in der Schrift Practische Philosophie (GA II / 3, 179–266) klargestellt.



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strebendes Wesen sind, anwenden[?]“ (PPh – GA II / 3, 257). Auf der anderen Seite nimmt Fichtes Konzeption in Kauf, daß dank der Organisation und Bearbeitung der Materie durch die Pflanzen auch die unorganische Welt in die organische integriert wird: „Auch unorganisirte Materie wird in diesem System Organ: d. i. sie wird Theil eines organisirten Universums“ (PPh – GA II / 3, 257). Dazu wird in der Wissenschaftslehre von 1794 auf den Magnetismus als Tätigkeit der Materie hingewiesen6. Wenn es um Tätigkeit und Tathandlung als Grundbegriffe geht, handelt es sich auch darum, diese Tätigkeit objektiv zu verwirklichen und in der Welt zu behaupten sowie aufzuweisen. Dies verstärkt die Forderung, eine Korrespondenz und eine engere Verknüpfung mit der Realität zu finden, die durch die Natur und durch sie hindurch bewerkstelligt werden soll. Dann wird die Natur zugleich zum Handlungsbereich, der damit in die Fragestellung der Ethik hineingenommen wird und die passende Gestaltung des Verhältnisses zwischen Geist und Natur problematisiert. II. Ist die Ethik nur eine geistige Angelegenheit? Wird auf die Fichtesche Philosophie des Sittlichen Bezug genommen, so könnte der Eindruck entstehen, daß sie durch einen klaren Dualismus geprägt ist. Das Ich setzt sich als Prinzip der Wirksamkeit, das von einem Willen geleitet wird. Der Wille stellt sich als subjektiv und bewußt dar: subjektiv, indem er „ein reelles Selbstbestimmen seiner selbst durch sich selbst“ (System der Sittenlehre = SL – GA I / 5, 40) äußert, bewußt, da er von seiner Tätigkeit weiß und sich als Grund der Veränderung wahrnimmt. Die Wirksamkeit bürgt ihrerseits für eine Aktivität, die auf etwas außer dem Ich – im Allgemeinen auf die Welt, im Besonderen auf ein bestimmtes Objekt – gerichtet ist. Die bewußte Selbstbestimmung einer Tätigkeit, der ihr Prinzip immanent ist, erweist sich zugleich als frei, indem sie einen Zustand ursprünglich anzufangen vermag und anzufangen weiß: Die Spontaneität wird mit der sich selbst durchdringenden Intelligenz verbunden, die das Selbstbewußtsein als Bewußtsein von sich selbst und der eigenen „Prinzipialität“ und Freiheit erlangt7. Dadurch wird von Fichte die absolute Selbstproduktion des 6  Der Magnetismus wurde zur damaligen Zeit als ein grundlegender Beweis für die innere Lebendigkeit der Materie und für die Wechselwirkung zwischen Leib und Seele angesehen. Vgl. Leon Miodoński: „Zum Begriff des romantischen Mesmerismus als Basis einer neuen ganzheitlichen Anthropologie“, in: Christoph Asmuth (Hrsg.): Transzendentalität und Person. Leiblichkeit – Interpersonalität – Anerkennung, Bielefeld 2007, 111–121. 7  Siehe dazu auch Reinhard Lauth: „Der entscheidende Punkt der praktischen Konzeption Fichtes“, in: Hans Georg von Manz / Günter Zöller (Hrsg.): Fichtes praktische Philosophie, Hildesheim / u. a. 2006, 215–244, insbesondere 225 f.

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Subjektes hervorgehoben, das sich selbst zu dem macht, was es ist und sein soll, und an keine vorangehende Substantialität anknüpft: „Das vernünftige Wesen, als solches betrachtet, ist absolut, selbstständig, schlechthin der Grund seiner selbst. Es ist ursprünglich, d. h. ohne sein Zuthun, schlechthin nichts: was es werden soll, dazu muß es selbst sich machen, durch sein eignes Thun“ (SL – GA I / 5, 62). Dieser absoluten Freiheit der Selbstbestimmung, die auf eine konkrete externe Tätigkeit hinausläuft, wird dann etwas entgegengesetzt, das wegen seiner Konsistenz und Materialität als Objekt gilt und welchem Passivität zugeschrieben wird, indem es als Objekt, worauf das Handeln gerichtet ist, wahrgenommen wird: „Das Vernunftwesen kann sich kein Vermögen zuschreiben, ohne zugleich etwas außer sich zu denken, worauf dasselbe gerichtet sei“ (SL – GA I / 5, 83). In einer Stelle der PlatnerVorlesungen wird dieser Standpunkt noch expliziter formuliert: „Ich kann mir keine freie Wirksamkeit in der Sinnenwelt zuschreiben, ohne daß es Dinge gebe, die sich zu mir lediglich verhalten, als Objekt meiner Wirksamkeit; die gar keine ursprüngliche und eigenthümliche Kraft haben, sondern höchstens eine der Trägheit. Bloße Objekte, Sachen“ (Platner-Vorlesung (= PV) – GA II / 4, 67). Dieser Dualismus, der durch eine Zweiteilung in Subjekt und Objekt, Aktivität und Passivität, Geist und Materie bewerkstelligt wird, begründet zugleich eine klare Unterscheidung im Bereich des Handelns, die, wenn wir von einer aktuellen, von Habermas eingeführten Terminologie Gebrauch machen, als Unterscheidung zwischen einem strategisch-manipulativen Handeln auf der einen Seite und einem intersubjektiven sowie die Intersubjektivität gewährenden Handeln auf der anderen Seite veranschaulicht werden könnte8. Die Ethik, sagt Fichte in der Wissenschaftslehre nova methodo (= WLnm), „lehrt, wie die Welt durch vernünftige Wesen gemacht werden soll“ (WLnm – GA IV / 2, 63). Wenn aber von einer strengen Entgegensetzung zwischen Subjekt und Objekt ausgegangen wird, läuft dies ausschließlich auf eine manipulative und beherrschende Verhaltensweise der Menschen in bezug auf die Welt hinaus. Sicher wirkt sich dies nicht zwangsweise auf die Verhältnisse zwischen den Menschen aus, auch wenn natürlich die Möglichkeit einer Übertragung des manipulativen Handelns auf die Menschen durch Gewohnheit nicht prinzipiell ausgeschlossen werden kann. Da Fichte aber die Subjektivität des Ich als durch eine Pluralität von Subjekten bewerkstelligt ansieht, ist es nicht kontradiktorisch, an eine Artikulierung der Verhältnisse so zu denken, daß die Subjektivität in den einzelnen Individuen zur vollständigen Äußerung zu kommen vermag und nichtsdestoweniger transzendental-vernünftig auf Harmonisierung ihrer Koexistenz und ihrer 8  Vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1981.



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Entfaltung gerichtet ist: „Es thut meiner Freiheit keinen Eintrag, noch andere freie und vernünftige Wesen außer mir annehmen zu müssen: denn ihre Freiheit und Vernünftigkeit, als solche, ist überhaupt nicht Gegenstand einer Wahrnehmung, die mich beschränke; sondern es ist ein bloßer geistiger Begriff“ (SL, GA I / 5, 208). Folgerichtig wird auf eine Wirksamkeit in der Entfernung hingewiesen, die von der Aufforderung initiiert wird und dem Aufgeforderten die Freiheit der Erwiderung oder Nicht-Erwiderung sowie über die Art und Weise der Erwiderung gewährt9. Dadurch ist aber längst nicht alles gesagt. Wird von einer Wirksamkeit ausgegangen, die nicht blind, sondern sich ihrer selbst bewußt ist und bewußt vorgeht und vorgehen kann, so werden mehrere Probleme aufgeworfen. Dies impliziert in verschiedener Hinsicht eine Beziehung zur Welt, die untersucht und eruiert werden soll. Betrachtet man insbesondere das Faktum, daß sich das einzelne Ich als wollend in der Welt findet, dann geht es sowohl um die Erkenntnis der Welt, in der und auf der operiert wird, als auch um die Art und Weise, womit der Kontakt zur Welt aufgenommen wird. Es ist gerade das Prinzip der Wirksamkeit, das eine vollkommene Trennung zwischen Ich und Welt, Geist und Natur verhindert10. Die vollständige Absonderung wäre nur dann möglich, wenn jedwede Beziehung als entbehrlich bzw. unbedeutend beurteilt werden könnte. Wenn aber das Prinzip der Subjektivität ein Handeln in Erwägung zieht, wird die Weltbzw. die Objektbezogenheit als notwendiges Korrelat mit berücksichtigt. Hinzu kommt, daß die freie Wirksamkeit, die nicht im voraus an gewisse Bedingungen und an eine präexistierende Substantialität gebunden ist, sondern sich selbst bestimmt und dabei auch ihren Anfang frei setzt, eine Pluralität von Optionen in Betracht zieht: zuerst die prinzipielle Wahl zwischen Handeln und Nicht-Handeln und dann eine Wahl zwischen den ­unterschiedlichen Möglichkeiten, die zur Verfügung stehen und durch die Einbildungskraft vorgestellt oder besser „vorgebildet“ werden. Dies impliziert wiederum die Aufhebung der rein formalen Ebene und einen Bezug auf die Welt, der gleichzeitig mit der Frage verknüpft wird, durch welche konkreten und wirksamen Mittel, Formen und Kräfte auf die Objekte gewirkt werden soll.

9  Vgl. Cristiana Senigaglia: „Die Strukturen der Intersubjektivität beim frühen Fichte“, in: Christoph Asmuth (Hrsg.): Transzendentalität und Person. Leiblichkeit – Interpersonalität – Anerkennung, Bielefeld 2007, 163–177. 10  Zum Begriff der Wirksamkeit siehe Cristiana Senigaglia: „Kausalität und Wirksamkeit in Fichtes Sittenlehren“, in: Fichte-Studien 27 (2006) 189–203.

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III. Gefühl und Trieb als Wirkungsformen der Natur Ein wichtiger Problembereich betrifft somit die Fähigkeit der Wahrnehmung der umgebenden Welt und ihre Beschaffenheit. Für Fichte gibt es etwas Unmittelbareres als die theoretische Erkenntnis, welches durch das Gefühl veranschaulicht wird. In seiner frühen Practischen Philosophie hatte er, sich auf den Kantischen Standpunkt beziehend, von einer Rezeptivität gesprochen, die nicht von Affektionen und Leidenschaften bestimmt wird, sondern durch die der Mensch zuerst unbewußt seinem Begehren nach notwendigen Stoffen nachgeht und es befriedigt und dann allmählich bewußt wird und sich zunehmend auf geistige Ziele richtet: Die Rezeptivität verwies auf eine Verwicklung in die Welt und eine ausgeprägtere Aufmerksamkeit für die durch die umgebende Welt zu befriedigenden Bedürfnisse, als die Wahrnehmung es gewährleistete. In der Wissenschaftslehre von 1794 und dann in der Sittenlehre wird diese Empfindungsfähigkeit durch den Begriff des Gefühls erweitert und zugleich qualitativ intensiviert. Im Vergleich zu einer sinnlich-ästhetischen Wahrnehmung zeigt das Gefühl bei Fichte eine stärkere Affizierung der Subjektivität durch die Objektivität11. Er potenziert diesen Aspekt, indem das Gefühl nicht wie bei Kant mit einem Ausdruck der Lust oder Unlust verbunden, sondern mit einem unmittelbaren Druck von Seiten der Objektivität bzw. einem Beschränktsein der Subjektivität verknüpft wird. In bezug auf das Gefühl und das Fühlen überhaupt bleibt das Subjekt nicht gleichgültig, da eine Veränderung auch bei ihm selbst stattfindet: „Ich nehme Veränderungen außer mir wahr, heißt: der Zustand meiner Gefühle in mir verändert sich“ (SL – GA I / 5, 97). Es handelt sich für das Subjekt um einen Zustand der Gebundenheit, der durch die Materie und die äußere Welt bedingt wird und wogegen nichts Unvermitteltes unternommen werden kann. Und zwar: Man kann nicht vermeiden, etwas zu fühlen oder nicht zu fühlen. Indirekt aber kann zweierlei erreicht werden: 1. daß durch freies Denken und Handeln das Gefühl zu keiner unmittelbaren Kausalität des Tuns (d. h. nicht zum einzigen Beweggrund des Handelns) werde; 2. daß das Gefühl durch Übung und Erziehung modifiziert, verfeinert und erhoben werde. Wenn das Gefühl so begrenzend und stark affizierend erscheint, geschieht dies nur, weil es als eine Art von äußerer auf uns wirkender Kraft gilt und wahrgenommen wird. Daß es aber nicht als unbedingt bestimmend wirkt, insbesondere wenn das freie Denken und Handeln angesetzt werden, liegt darin, daß bereits im empirischen, sich als wollend findenden Ich eine ursprüngliche Kraft ausgedrückt wird, die als Trieb gekennzeichnet werden 11  Siehe dazu Petra Lohmann: Der Begriff des Gefühls in der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes, Amsterdam / New York 2004, 65 ff.



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kann. Der Trieb ist ein komplexer Begriff, da er im Allgemeinen (oder als Urtrieb) die an der Selbstverwirklichung orientierte Kraft bezeichnet, die durch unterschiedliche Momente und Aspekte bewerkstelligt wird, wobei sich die Begrenzung des einzelnen Ich als spezifische Tendenz und Richtung der Entfaltung abzeichnet. Da das empirische Ich durch eine körperliche Einschränkung charakterisiert ist, weist der Trieb zwei grundlegende Tendenzen auf: auf der einen Seite, die Konnotation des Ich als absolute Tätigkeit zu realisieren, auf der anderen Seite, eine Bestimmtheit zu äußern, die der eigenen Natur nachgeht und auch die natürlichen Konnotationen der Selbsterhaltung und der Befriedigung der Bedürfnisse mit berücksichtigt. Auf die Frage aber, ob es sich um zwei entgegengesetzte Prinzipien handelt, die im Menschen koexistieren, lautet die Fichtesche Antwort: Nein. „Mein Trieb als Naturwesen, meine Tendenz als reiner Geist, sind es zwei verschiedene Triebe? Nein, beides ist vom transzendentalen Gesichtspunkte aus ein und ebenderselbe Urtrieb, der mein Wesen konstituiert: nur wird er angesehen von zwei verschiedenen Seiten“ (SL – GA I / 5, 125). Und diese Verflechtung hat als unmittelbare Konsequenz die mindestens partielle Verneinung eines rein manipulativ-instrumentellen Wirkens; denn, wenn es wahr ist, daß der Trieb zur Konkretisierung einer Wirksamkeit in die Außenwelt führt, die als Beherrschung ausgedeutet werden könnte, so gibt es gleichzeitig die Tendenz, alles auf die Ebene des Ich zu erheben, so daß daraus gefolgert werden könnte, daß, je mehr das Geistige die Außenwelt durchdringt, desto mehr die Formen des Respekts und der Aufmerksamkeit des intersubjektiven Umgangs auf die Natur übertragen werden können. Dies wird außerdem dadurch ermöglicht, daß auch der natürliche Trieb im Menschen keinen Mechanismus der Abhängigkeit oder der automatisierten Entwicklung verursacht und geltend macht12. So Fichte: „Kurz, es steht nicht in meiner Gewalt, einen bestimmten Trieb zu empfinden oder nicht; aber es steht in meiner Gewalt, ihn zu befriedigen oder nicht“ (SL – GA I / 5, 121)13. Was sich für Fichte dagegen als kontradiktorisch und de facto unmöglich erweist, ist der Trieb zur Selbstvernichtung der durch Freiheit sich bestimmenden geistigen Komponente. Mit anderen Worten: Man kann nie vollständig auf seine Subjektivität (und daher auf die eigene, tiefgründige, ursprüngliche Natur) verzichten. Fehler und mangelhafte Auswertungen sind dabei nicht auszuschließen, aber auf andere Sachver12  Vgl. Faustino Fabbianelli: Impulsi e libertà. „Psicologia“ e „trascendentale“ nella filosofia pratica di J. G. Fichte, Genova 1998, 147 ff. 13  Zu den Konsequenzen dieses Standpunktes Fichtes für sein Freiheitsverständnis siehe Christoph Binkelmann: „Phänomenologie der Freiheit. Die Trieblehre Fichtes im System der Sittenlehre von 1798“, in: Fichte-Studien 27 (2006) 5–21, insbesondere 14 ff. Vgl. auch Christoph Binkelmann: Theorie der praktischen Freiheit. Fichte ‒ Hegel, Berlin u. a. 2007.

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halte zurückzuführen: „Es kann kein Trieb im Ich seyn, aufzuhören, Ich zu seyn, Nicht-Ich zu werden. Dann ginge das Ich aus auf seine eigene Vernichtung, welches sich widerspricht. Aber hinwiederum; jede Beschränktheit des Triebes, die nicht unmittelbar aus der Ichheit folgt, ist keine ursprüngliche, sondern eine solche, die wir selbst durch unsere unvollständige Reflexion uns zugefügt haben“ (SL – GA I / 5, 193). Nun erhebt sich aber spontan eine Frage: Vorausgesetzt, daß die Freiheit zunehmend alles bestimmt, bedeutet dies eine vollkommene Verleugnung bzw. Ausklammerung des natürlichen Triebs, so daß der Geist die Natur dabei völlig vergißt oder sogar sich dagegen richtet? Anders formuliert: Ist die Behauptung Fichtes, daß der Mensch sich selbst dazu macht, was er werden soll, so radikal zu verstehen, daß die Überwindung der Natur damit beabsichtigt wird? Dies wäre vielleicht der Fall, wenn ausschließlich durch den Geist gehandelt werden könnte. Aber das würde immerhin die negative Konsequenz nach sich ziehen, daß die tatsächlichen Empfindungen und Wahrnehmungen bezüglich der Welt zunichte gemacht würden und kein konkreter Bezug auf sie mehr möglich wäre. IV. Der Leib als Vermittlungsinstanz zum transzendentalen Verständnis der Natur Der Bezug auf die Welt und die Natur wird für Fichte aber dadurch weiter bekräftigt, daß das empirische Ich sich einen Leib zuschreibt und überhaupt zuschreiben muß, um tatsächlich wirken zu können. Wie Fichte dazu expliziert, braucht das Ich, um in der Sinnenwelt wirken zu können, ein äußeres Organ, das dem Objekt der Wirkung homogen ist. Ohne dieses Organ wäre das Ich nicht imstande, seine freie Wirksamkeit in der Form einer reellen Kraft zur tatsächlichen Äußerung (und Verwirklichung) zu bringen14. Andererseits kann der Leib nicht nur als Ausdruck der Passivität und Trägheit beurteilt werden, da es sich ansonsten als unmöglich herausstellen würde, die Wirksamkeit konkret zu bewerkstelligen und sie durch Formierungen und Modifikationen auf die Objekte tatsächlich zur Äußerung zu bringen. Daher kann Fichte daraus schließen: „Ich, als Princip einer Wirksamkeit in der Körperwelt angeschaut, bin ein artikulirter Leib“ (SL – GA I / 5, 28). Somit wird von Fichte ein Zwischenbereich aufgedeckt, der in der Objektivität Gestalt annimmt und dennoch nicht als Substanz bzw. leblose Materie dargestellt werden kann, sondern sich als Kraft und Potenz und daher mit gewissen Charakteristika der Subjektivität versehen erweist. Dies 14  Siehe dazu auch: Virginia López-Domínguez: „Die Idee des Leibes im Jenaer System“, in: Fichte-Studien 16 (1999) 273–293.



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wird zum Beispiel dadurch bewerkstelligt, daß der Leib „artikuliert“ ist15, wobei die Artikulation für eine Beweglichkeit steht, die eine dem Leib zur Verfügung stehende Pluralität der Möglichkeiten eröffnet und ihn dabei der Notwendigkeit eines strengen Determinismus entzieht. Die Artikulation (bzw. Bewegung) kann außerdem durch Übung ausgeweitet und verbessert werden. Sie steht in dieser Hinsicht unter der Botmäßigkeit des Willens und des bewußten Zweckbegriffs. Folglich erlangt der Leib durch den Willen eine gezielte Kausalität. Diese Kausalität wirkt aber auf die Sinnenwelt durch die eigenen körperlichen Kräfte, die auch ihre natürlichen Tendenzen und Grenzen aufweisen und nicht nur als unvermeidbare Konsequenzen eines vom Willen ausgehenden Kettenprozesses angenommen werden sollen und können. Fichte synthetisiert diese vermittelnde Funktion als „organisierte Organisation“, die auf der einen Seite bereits eine unumgängliche Beschaffenheit aufweist und auf der anderen ein Prinzip der strukturierenden Tätigkeit in sich enthält, das auch einen gewissen Möglichkeitsbereich gewährt. Gleicherweise wird im Leib auch eine teleologische Komponente nachgewiesen, die zugleich dem höheren geistigen Trieb zugesprochen wird, obgleich die verfolgten Ziele sich im Bereich der Natur aufhalten und darauf eingeschränkt sind: „Der Naturtrieb geht auf Erhaltung, Bildung, Wohlseyn, kurz auf Vollkommenheit unseres Leibes […]; denn er ist selbst unser Leib in seiner Verkörperung. Aber der Naturtrieb geht nicht weiter als darauf. Denn die Natur kann sich nicht über sich selbst erheben. Ihr Zweck ist sie selbst“ (SL – GA I / 5, 196). Dadurch wird dem Leib immerhin eine innere Zweckmäßigkeit zuerkannt, die dann auch einen freien Raum für eine weitere und höhere Dimension der Funktionalität im Auftrag des Geistes gewährt. Parallel dazu wird ein ethisches Verhältnis zum Körper etabliert, das sich um seine Erhaltung zum Zweck der Freiheit bemüht und dennoch keine Ablehnung der Triebe und der Gefühle anordnet, denn „Ertödtung der Empfindungen und Begierden, Abstumpfung der Kraft, ist schlechthin gegen die Pflicht“ (SL – GA I / 5, 197). Auf der einen Seite erfolgt nämlich eine Unterordnung, die den Leib als Selbstzweck verneint und ihn als reines Werkzeug versteht; auf der anderen Seite aber können dem Leib nicht alle Charakteristika der Subjektivität abgesprochen werden, da die Wirksamkeit immerhin ihre Kausalität erst in diesem Bereich zur konkreten Äußerung bringen kann. Und die Definition des „organisierten Organisierenden“ trifft in dieser Hinsicht genau zu, weil sie sich dieser Duplizität be15  Für eine ausführliche Betrachtung dieses Aspektes siehe: Benedetta Bisol: Körper, Freiheit und Wille. Die transzendentalphilosophische Leiblehre J. G. Fichtes, Würzburg 2011, insbesondere Kap. 3.

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wußt ist und sie adäquat vertritt. Sie hebt den Leib von der reinen Materie ab, die unmittelbar auf Konsistenz, Permanenz und Stabilität hinweist, und öffnet den Weg zu einer in der Welt wirkenden Aktivität, die Kraft und Mobilität äußert. Durch den Trieb und den Leib wird auch eine neue Form des Bezugs auf die Natur gewonnen. In der Platner-Vorlesung (= PV) hatte Fichte darauf hingewiesen, daß zwischen Leib und Natur eine enge Korrespondenz besteht: „Das was unabhängig von dem Ich da ist, heißt eben darum Natur, der Leib ist Natur. – Organisirt, d. h. läßt sich nur dadurch erklären, daß die ganze Natur sey ein organisirtes, und organisirendes Ganze. – Er steht in der Verbindung mit der ganzen. Es giebt sonach gewisse chemische Beziehungen, Affinitäten zwischen dem Leibe, und der übrigen Natur“ (PV – GA II / 4, 82). Die Wechselbeziehung zwischen Leib und Natur könnte so dargestellt werden, daß das empirische Ich eine objektive, in der Welt angesiedelte Wirksamkeit nötig hat, um auf die Sinnenwelt konkret wirken zu können. Andererseits wird durch den Leib und den sich darin äußernden natürlichen Trieb, der dabei auch eine Organisation aufweist, die transzendentale Möglichkeit eröffnet, die Beschaffenheit der Natur zu erfahren und in vermittelter Weise rekonstruieren zu können16. Unter dieser Perspektive stellt sich die Natur selber als organisierte Organisation heraus, die dadurch der Passivität entzogen wird. In der Wissenschaftslehre nova methodo heißt es: „Die Natur ist […] organisirend und organisirt“ (WLnm – GA IV / 2, 259), d. h. „ein organisirtes Ganzes“ (WLnm – GA IV / 2, 259), das aber in sich das Gesetz ihrer Organisation trägt, welche das Verhältnis zwischen Teilen und Ganzem vereinend zum Ausdruck bringt und dabei vollzieht. Durch diese organisationsfähige Funktion, die tatsächlich dann sowohl durch die einzelnen Organismen als auch durch ihren gesamten Aufbau vollzogen wird, äußert sich die Wirksamkeit und die Kraft der Natur, die dadurch die Passivität und die Trägheit der einfachen Materialität überwindet. Und wenn das in der Practischen Philosophie angedeutete Modell geltend gemacht wird, handelt es sich um einen fortschreitenden Impuls, der von der durch die Pflanzen hervorgebrachten Organisation der Materie ausgeht und allmählich durch die Entwicklung einer vom Tierreich bis zum menschlichen Wesen sich steigernden Eigendynamik verinnerlicht wird17.

16  Bisol bemerkt diesbezüglich: „Der Körper erfüllt die Funktion, das Nicht-Ich zum Ich zu machen. Gerade aus diesem Grund ist gerade der Körper das erste Nicht-Ich, das ‚zum Ich gemacht‘ wird“ (ebd. 121 f.). 17  Über die Konzeption der Entwicklung unter einer transzendentalen Perspektive bei Fichte siehe Helmut Girndt: „Evolutionstheorie und transzendentaler Gedanke“, in: Fichte-Studien 4 (1992) 68–85.



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V. Die qualitative Veränderung des Geistes Dies bedeutet nichtsdestoweniger keine schlichte Angleichung der Natur an den Geist. Wie Fichte in der Sittenlehre hervorhebt, befindet sich die Natur, so wie der Leib, in der Spannung zwischen Bestimmtheit und Selbstbestimmung. Was im Gegensatz zu dem geistigen Bereich in der Natur nicht aufzufinden ist, ist die freiheitsschaffende Funktion des Begriffs, welcher einen Abstand zur Abhängigkeit von der eigenen Beschaffenheit gewährt und dabei die Eröffnung mehrerer alternativer Möglichkeiten bietet18. Das Sollen der Natur geht im Gegensatz zum Ich direkt von ihrem Sein und nicht von ihrem eigenen Sich-Machen und Sich-Bestimmen aus. „Sonach kann die Natur als solche sich nicht bestimmen, wie ein freies Wesen, durch einen Begriff. Die Natur bestimmt sich selbst, heißt, sie ist bestimmt, sich zu bestimmen durch ihr Wesen. […] Sie ist bestimmt, materialiter sich gerade so zu bestimmen, und hat nicht etwa, wie das freie Wesen, die Wahl zwischen einer gewissen Bestimmung und ihrer entgegengesetzten“ (SL – GA I / 5, 111). Dies verhindert im übrigen nicht, daß die Natur selbst ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation wiederholt aufweist und daß sie eine eigene Kraft und Kausalität zur Äußerung bringt. Fichte bringt diesbezüglich unterschiedliche Beispiele, die noch für die heutige Wissenschaft von Bedeutung sind. Was die innige Artikulation zwischen Teilen und Ganzem im Organismus angeht, wird insbesondere auf die Fähigkeit des natürlichen Triebs verwiesen, die Ersetzung eines Mangels mittels Ausgleich und Übernahme der Funktionen durch andere Teile zu vollbringen. Ein anderes wichtiges Beispiel wird durch die Selbsterhaltungsfunktion veranschaulicht, die auf unterschiedliche Weisen alle lebenden Wesen dazu treibt, ihren Grundbedürfnissen nachzugehen. Daß dabei einige auf Selbsterhaltung abzielende Tätigkeiten im Menschen vom Begriff beeinflußt werden können und andere nicht, liegt für Fichte an der Fähigkeit, sie unvermittelt zum Bewußtsein zu bringen. Folglich kann zum Beispiel die Ernährung durch bewußte Entscheidungen beeinflußt werden. Dies betrifft sowohl die Wahl der Nahrung als auch (mindestens zum Teil) die Art und Weise, wie sie verzehrt, verdaut und in den eigenen körperlichen Stoff umgewandelt wird. Daß eine gewisse Übung nämlich auch im Bereich der Verdauung zu einer durch bewußtes Handeln beeinflußten Haltung führen kann, dürfte von einem Fichteschen Standpunkt aus kaum in Frage gestellt werden, da Fichte im allgemeinen die Meinung vertritt, daß der Körper gepflegt und gesund gehalten werden solle. Dies bedeutet für ihn keine radikale Abschaffung der Natur im Menschen, sondern die Fähigkeit, durch Aufmerksamkeit, Übung 18  Vgl. dazu Luca Fonnesu: „Metamorphosen der Freiheit in Fichtes Sittenlehre“, in: Fichte-Studien 16 (1999) 255–271, insbesondere 257 ff.

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und erworbene Erkenntnisse sowie einen ausgesprochenen Willen auf fast alle Bereiche des natürlichen Lebens Einfluß auszuüben und vom Ich erwünschte Veränderungen zu erwirken19. Die Gründe dafür liegen in der eher zurückhaltenden Funktion der Natur im Menschen, wie Fichte in einer kurzen Schrift über das Wesen der Thiere von 1800 sagen wird: „Vielmehr ist im Menschen selbst, so weit er Natur ist, die Naturkraft selbst, um der Freiheit willen, nicht zu Ende gegangen; auf den Confinien der Natur und des Geistes liegt etwas, was der Natur besser zukommt“ (SL – GA II / 5, 422). Um diese ‚Zurückhaltung‘ der Natur dem Menschen gegenüber zu veranschaulichen, stellt Fichte auch im Naturrecht einen Vergleich zwischen Menschen und Tieren an. Dem Tier wird eine gewisse Art des Willens zugestanden, was die willkürliche Bewegung in einem bestimmten Umkreis angeht. Im allgemeinen kann von einem begrenzten Umfang von Optionen die Rede sein, was aber weder Grundveränderungen bewirkt, noch die individuelle Entwicklung bedeutsam differenziert, weil sie eben durch den Naturtrieb und nicht geistig-begrifflich gesteuert wird. Dem Menschen wird dagegen ein Bereich der unendlichen Bewegungsmöglichkeiten erschlossen, der auch radikale Veränderungen in Erwägung zieht, was insbesondere naturgeschichtlich laut Fichte dazu führte, daß sich die Menschengattung freiwillig vom Boden erhob und durch ihre handwerklichen Fähigkeiten Arme und Hände zum Werkzeug der Freiheit machen konnte. Darüber hinaus schreibt die Natur den Tieren einen viel vollständigeren Umfang der Fertigkeiten zu (hier folgt Fichte den Thesen Rousseaus), die von Anfang an fast vollständig vorhanden sind und kurze Zeit nach der Geburt keine bedeutenden Entwicklungen mehr aufweisen. Sie stattet Tiere derart vollständig aus, daß sie zum Beispiel keine Kleidung benötigen, um zu über­ leben, und deswegen nicht dazu aufgefordert werden, von der Natur sich entfernende Tätigkeiten zu unternehmen und Produkte zu verarbeiten. Die Behauptung Fichtes, daß der Mensch durch sich selbst werden solle, was er eigentlich ist, wird bereits in der Grundlage des Naturrechts (= GNR) durch die Zurückhaltung der Natur gerechtfertigt: „Kurz alle Thiere sind vollendet und fertig, der Mensch ist nur angedeutet und entworfen“ (GNR – GA I / 3, 379). Wenn dieses Argument konsequent zu Ende gedacht wird, kann es aber auch als Grund für den Übergang zum Bereich des Geistes und der Kultur betrachtet werden, was eine qualitative Veränderung hervorbringt, da für Fichte dann nicht bloß von einer höheren Potenz der Natur 19  Diese Art der Bezugnahme auf die Leiblichkeit ist bei Fichte ständig vorhanden und wird auch später weiter vertieft und ausgearbeitet. Siehe dazu: Benedetta Bisol: „Gewohnheit, Gewöhnung, Habitus: J. G. Fichtes Beitrag zur Durchdringung der Leiblichkeit“, in: Antje Stache (Hrsg.): Das Harte und das Weiche. Körper – Erfahrung – Konstruktion, Bielefeld 2006, 77–89.



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die Rede sein kann20. Dies kann darüber hinaus ebenfalls als ein Argument für die Freiheit angewendet werden. Die Behauptung Fichtes in der Sittenlehre, daß die Freiheit ein „Vehikel“ für die Erkenntnis sei, könnte so erweitert werden, daß die Unbestimmtheit und Unvollständigkeit der Natur im Menschen einen Grund für die Entwicklung der Erkenntnis liefern; dies setzt sich aber auch in Richtung der Freiheit fort, da zum Erkenntniserwerb und zum Prozeß der Bildung wiederum eine gewisse freiwillige Haltung der Aufmerksamkeit und des Interesses verlangt wird, die nicht automatisch erfolgt und für die Bestimmung der Fortschritte und der Entwicklungsrichtungen der Erkenntnis selbst nicht irrelevant ist. Die Zurückhaltung der Natur in bezug auf die Menschen kann auch in der Hinsicht Bedeutung erlangen, daß sie ein Erkenntnissystem zustande bringt, „das von Zeitalter zu Zeitalter sich ausbreitet, und vervollkommnet“ (SL – GA I / 5, 302). Die Äußerung der Kultur, die für Fichte auch ein Phänomen des Zeitalters darstellt und daher von Zeitalter zu Zeitalter spezifische Charakteristika erlangt, kann als weiterer Beweis für die den Menschen zugestandenen Fähigkeiten gelten, sich durch Begriff und Freiheit weiter selbst zu bestimmen. Die Tatsache, daß den Gelehrten die Aufgabe anvertraut wird, den Zustand der Kultur „höherzubringen“, und daß dabei die Erziehung die wichtige Funktion ausübt, die Kultur zu verbreiten, zeigt wiederum, daß die kulturelle Entwicklung keinen automatischen Prozeß einleitet und auf keinen vorauszusagenden Mechanismus zurückzuführen ist. Das Sich-Machen des Menschen wird somit nicht nur auf einen persönlichen Entwicklungsprozeß beschränkt, obwohl das sicher berücksichtigt wird und eine fundamentale Rolle spielt, sondern weitet sich zum allgemeinen Charakteristikum aus, das geschichtlich-kulturelle Prägnanz erhält. VI. Fichtes antideterministische Ansätze und ihre aktuelle Bedeutung Wenn man dann den Standpunkt Fichtes auf die heutige Debatte der Hirnforschung und insbesondere auf diejenigen Denker und Wissenschaftler bezieht, welche eine deterministische Anschauung vertreten, können einige wichtige Aspekte und Argumente hervorgehoben werden, welche zugunsten der Behauptung der Undeterminiertheit und der positiv sich bestimmenden Freiheit sprechen. Bereits im Bereich der Natur vertritt Fichte einen Standpunkt, der in eine dem Determinismus entgegengesetzte Richtung geht. Indem die Natur als Kraft und Wirksamkeit gedeutet wird, entkommt sie der strengen Vorherseh20  Vgl.

dazu auch: Reinhard Lauth: Con Fichte, oltre Fichte, Torino 2004, 27 f.

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barkeit und Vorbestimmtheit, die durch eine statische Substantialität der Natur unumgänglich wäre. Die Tatsache, daß Fichte die Natur, den Leib und sogar das Gehirn als organisierte Organisation bzw. organisiertes Organisierendes ansieht, impliziert eine gewisse Einschränkung und Wiederholbarkeit, die dennoch der Natur eine vereinende und ausgleichende Funktion zuschreiben und ihr einen begrenzten Spielraum für Dynamik, Vielfalt und Erneuerung gewähren. Dadurch werden Natur und Geist nicht dualistisch fixiert und radikal getrennt, sondern die Natur erweist sich als das Andere des Geistes, das Nicht-Ich des Ich, das ein komplexes und dynamisches, durch Analogie und Unterschied gekennzeichnetes Verhältnis mit dem Geist unterhält. Nichtsdestoweniger bedeutet die geistige Komponente und ihre bewußte Wirksamkeit in Form eines Willens eine viel radikalere Weise, die Freiheit performativ zu behaupten und in ihrem Sich-Bestimmen zu veranschau­ lichen. Gegen die Einwände des Determinismus zeigt Fichte auf, wie das Denken und die Reflexion bereits eine Unterbrechung der vermeintlich mechanischen Kette des Handelns hervorrufen. Anfänglich übernimmt Fichte deswegen den deterministischen Einwand, um ihn dann argumentativ zu entkräften: „Aber, dürfte man sagen, du gibst denn doch dem stärkeren in dir vorhandenen Triebe nach. Wenn das auch allgemein wahr wäre, so antworte ich: dieser Trieb würde nicht sein, nicht zum Bewußtsein gekommen sein, wenn ich nicht an mich gehalten, den Entschluß aufgeschoben, und auf das Ganze meines Triebs mit Freiheit reflektiert hätte“ (SL – GA I / 5, 151). Bereits das Moment des Anhaltens durch das Denken ist ein ausreichendes Zeichen dafür, daß das Leben des Menschen nicht als ununterbrochene, sich verkettende Kontinuität von rein natürlich geprägten Akten (oder besser: Reaktionen) dargestellt werden kann. Die Reflexion schafft eine Spaltung, eine Leerstelle, eine Aufhebung der bloßen Immanenz und ein Verweilen, die sich der reinen mechanischen Folge entziehen und sie mindestens für eine kurze Weile auseinanderbringen. Wenn aber die schlichte reflektierende Handlung sich als fähig erweist, diese Unterbrechung zu vollziehen, dann läßt sich hypothetisieren, daß die Übung, die Erziehung und schließlich die Moral um so mehr den Menschen in den Stand versetzen, Veränderungen zu verursachen und seine freie Entscheidung und Selbstbestimmung zu befördern21. Fichte bringt noch stärkere Argumente zugunsten der Freiheit, wenn es darum geht, von der Subjektivität und den zwischenmenschlichen Beziehungen zu sprechen und sie zu erörtern. Durch die Unterscheidung zwischen manipulativem und intersubjektivem Handeln, wenngleich sich ihre Ver21  Siehe dazu auch: Wilhelm Metz: „Freiheit und Reflexion in Fichtes Sittenlehre von 1798“, in: Fichte-Studien 27 (2006) 23–35.



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flechtungen als viel artikulierter und vielschichtiger erweisen als ihre Typisierung, wird kontrastiv und komparativ zugleich auf die verschiedenen Möglichkeiten des Handelns hingewiesen, und daher werden auch die unterschiedlichen Weisen des Umgangs mit den Menschen verdeutlicht. Wenn aber die effektive Möglichkeit besteht, mit dem Anderen beherrschend-objektivierend oder alternativ im Sinne der Freiheit und der gegenseitigen Anerkennung umzugehen, dann wird der Unterschied zwischen rein mechanischem und freiem Umgang mindestens ansatzweise aufgezeigt und konsequenterweise ihre vermeintliche Übereinstimmung zurückgewiesen. Was den Menschen überhaupt angeht, wird seine Ausdeutung im Sinne der Wirksamkeit und Tätigkeit von Fichte als Beweis genommen, daß die deterministisch geprägte Substantialität dadurch unterminiert wird. Der Determinismus, den Fichte als Dogmatismus bezeichnet, basiert seines Erachtens auf der falschen Annahme, daß die Person ursprünglich als Substanz betrachtet werde: „Da soll denn eine bestimmte Person diese Person sein, ehe sie es ist“ (SL – GA I / 5, 207). Auch wenn der genetische Code, wie es mittlerweile nachgewiesen worden ist, eine Prägung der Natur eines bestimmten Menschen bedeutet, ist die Hervorhebung seiner sich weiter bestimmenden Tätigkeit, die dabei in der ständigen Interaktion mit anderen Menschen und mit der Welt stattfindet, ein starkes Argument dafür, daß die ursprüngliche Bestimmtheit nicht als in allen Richtungen funktionierende Beschränktheit betrachtet werden kann und muß. Wenn dies bereits auf der Ebene des einzelnen Individuums festgestellt werden kann, so ist dies noch prägnanter nachweisbar, wenn die Verarbeitung der Natur und die geistigen Ausdrücke der Kultur und der Geschichte in Betracht gezogen werden. Die Fähigkeit der Menschen, sich selbst dazu zu machen, was sie sind und was sie werden sollen, wird um so mehr hervorgehoben, je mehr diese langwierigen Prozesse der sich organisierenden und schöpferisch entwickelnden Lebensgestaltung in Erwägung gezogen und als geistiges Gut geltend gemacht werden. Eine rein naturalistische Erklärung, auch wenn sie gewissermaßen den Charakter und die Tendenzen der einzelnen Personen zu durchdringen vermag, ist nichtsdestoweniger fortwährend mit der weiteren Schwierigkeit konfrontiert, die komplexen Phänomene der Kultur und des Geistes auf schlichte genetische Kombinationen und mechanisch verkettete mentale Prozesse zurückführen zu können (und zu müssen).

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Zwischen Natur und Geist Fichtes späte Wahrnehmungslehre Faustino Fabbianelli I. Einleitung Fichtes letztes Denken zeichnet sich durch die Unterscheidung verschiedener philosophischer Reflexionsebenen aus, denen jeweils eine unterschiedliche Darstellung der Philosophie entsprechen soll. Den Einleitungen in die Philosophie folgen die den Thatsachen des Bewußtseins gewidmeten Vorlesungen, die dann zur Wissenschaftslehre führen. Während in den Einleitungen die Frage nach der Philosophie als wissenschaftlichem Wissen sowie nach deren Mitteilbarkeit in ihren Grundlinien angegangen wird, geht es in der Wissenschaftslehre um das Verhältnis zwischen dem Absoluten und dem Wissen als Wissen des Absoluten. Die Thatsachen des Bewußtseins nehmen eine Mittelposition zwischen diesen zwei Extremen ein: Bei ihnen handelt es sich um die philosophische Darstellung der Hauptformen, in denen das Bewußtsein sich als Erscheinung des Absoluten manifestiert. Die kritischen Überlegungen beschränken sich hier darauf, Bewußtseinsgegebenheiten zu beschreiben, ohne nach deren Grund zu fragen: „Thatsachen, Facta des Bewußtseyns wollen wir darlegen; also nichts erdenken, nicht mit Freiheit die Objecte bilden sondern sie anschauen wie sie sind, wie sie sich selbst uns geben vermöge ihres objectiven Seyns“1. Dies impliziert jedoch eine besondere Einstellung: Die Darstellung der Tatsachen des Bewußtseins muß, obwohl keine transzendentale Konstruktion des betrachteten Materials (wie in der Wissenschaftslehre), nach einer Regel verfahren, in der die Einheit hervorgehoben wird, die unter Bewußtseinsfakten herrscht. Fichte bezeichnet diese Art philosophischen Vorgehens als Besonnenheit: Der Philosoph betrachtet hier keine einzelnen Bewußtseinsgegebenheiten, sondern sucht über sie hinausgehend den roten Faden zu finden, der sie alle verbin1  Vgl. Fichte: Thatsachen des Bewußtseins WS 1811 / 12 – Nachschrift Halle, in: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth, Hans Jacob, Hans Gliwitzky, Erich Fuchs und Peter K. Schneider, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962–2012. Im folgenden abgekürzt: TdB Halle, GA, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl, hier: GA IV / 4, 125.

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det: „Denn nichts ist uns hier da für sich und als solches; sondern wir gehen stufenweise von einem zum andern und das Gewonnene soll und muß jedesmal leiten und vorschweben für das Erwerben des folgenden neuen“2. Man könnte behaupten, daß diese Art „Deduktion“ von Tatsachen des Bewußtseins sich von derjenigen der Wissenschaftslehre darin unterscheidet, daß sie von den Gegebenheiten als bestimmten Erscheinungen des Wissens und nicht vom Wissen als solchem ausgeht. Damit ist auch das Verhältnis zwischen Philosophie und Psychologie erklärt: Während erstere interessiert ist, das unter den Tatsachen des Bewußtseins herrschende Gesetz zu finden, geht die andere in eine Gegenrichtung. Indem der Psychologe mit dem Begriff der Seele operiert (nach Fichte ein dunkles unbestimmtes Wesen, ein „reines ‚Gno‘men“3), wird implizit unterstellt, daß den Tatsachen des Bewußtseins etwas Unerklärliches zugrunde liegt. Darüber hinaus unterscheidet sich die Philosophie von der Psychologie durch ein höheres Niveau der Untersuchung4. Denn obwohl in beiden Disziplinen das betrachtete Material im wesentlichen dasselbe bleibt, ist deren Methode verschieden. Von der Wahrnehmung und ihren Bestandteilen ist in der Wissenschaftslehre unmittelbar keine Rede. Ihr Gegenstand ist Wissen, zu dem auch die Wahrnehmung gehört5: Hier geht es also nicht um die Bestimmung der sie fundierenden Elemente, sondern um deren Möglichkeitsbedingungen. Zu diesem Zweck muß der Philosoph zeigen, wie das Wissen überhaupt (weder das wahrnehmende noch das phantasierende noch das urteilende) dazu kommt, sich als Bild des Absoluten zu verstehen. Von der Wahrnehmung sprechen hingegen sowohl Fichtes Einleitungen in das philosophische Studium als auch seine Vorlesungen über Thatsachen des Bewußtseins. Die Wahrnehmung stellt erstens dasjenige theoretische Vermögen dar, das auf unterschiedliche Weisen untersucht werden kann: „historisch“, indem man sich auf die Merkmale beschränkt, die es kommunizierbar machen, oder „philosophisch“, indem man nach dessen Gründen sucht. Mit den Vorlesungen über die Thatsachen des Bewußtseins will Fichte hingegen keine Methode entwickeln, die sich vom psychologisch-pädagogischen Standpunkt aus als die beste erweist, um Philosophie zu vermitteln; in ihnen geht es darum, den Zuhörer zum „Standpunkt der absoluten Besonnenheit [zu] leiten, ihn das Phänomen sehn [zu] lassen welches die Wissen2  Vgl.

TdB Halle, in: GA IV / 4, 126. Fichte: Thatsachen des Bewußtseins WS 1811 / 12 – Nachschrift Cauer, in: GA IV / 4, 106. Im folgenden: TdB Cauer. 4  Vgl. Fichte: Einleitung WS 1810 / 11 – Nachschrift Twesten, in: GA IV / 4, 29. 5  So in der WL-1811: „Die Wahrnehmung giebt nur das Faktum, das Resultat der Thätigkeit, weil sie nur dessen Reflex ist“ (GA II / 12, 227). 3  Vgl.



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schaftslehre begründet“6. Auf diese Weise bleibt man nicht außerhalb der Philosophie, wie in den Einleitungen. Vielmehr befindet man sich schon unmittelbar vor den Phänomenen philosophischer Reflexion stehend und vollzieht sie durch gedankliches Übergehen von einer Tatsache des Bewußtseins zur anderen. Das Bewußtsein soll also nicht in der Wahrnehmung des äußeren Objekts aufgehen, sondern das Wahrnehmen selbst wahrnehmen7. Die Wissenschaftslehre schließlich wird sich dann mit der Deduktion der Fakten beschäftigen und zeigen, inwiefern sie keine Ausgangspunkte, sondern Resultate des Wissens darstellen. Fichtes späte Wahrnehmungslehre ist also innerhalb der Thatsachen des Bewußtseins zu finden. Im folgenden wird es darum gehen, das Faktum der „Wahrnehmung“ zu analysieren, ihre Hauptbestandteile zu entdecken und zu zeigen, inwiefern sie sich mit anderen Bewußtseinsgegebenheiten verbinden: Man könnte behaupten, daß man es bei den Thatsachen des Bewußtseins mit einer eidetischen Phänomenologie aus transzendentaler Sicht zu tun hat. Diese Tatsachen werden nicht in ihrer Singularität, sondern in ihrem Wesen untersucht8; zudem wird gezeigt, wie sie aus dem und für das Bewußtsein entstehen. Fichtes Phänomenologie stellt sich hier genetisch und nicht statisch dar9. II. Innere und äußere Wahrnehmung Fichte unterscheidet der philosophischen Tradition gemäß zwischen äußerer und innerer Wahrnehmung. Beide sind Formen des Wissens: die erste Form ist das Wissen eines Gegenstandes – vorläufig kann sie als die „Wahrnehmung jedes möglichen Gegenstands in einer Welt außer uns, in der Welt des nicht Ichs“ definiert werden10 –, die zweite Form ist das Wissen von der äußeren Wahrnehmung selbst. Beide zeigen Ähnlichkeit und Verschiedenheit hinsichtlich des ihnen entsprechenden Objekts auf. Das in ihnen enthaltene Wissen ist nämlich sowohl gleich dem Gegenstand, „denn wir nehmen doch an, daß das Object grade so beschaffen sei, wie wir es wahrnehmen und nicht anders“, als auch dem Gegenstand entgegengesetzt, denn 6  Vgl. Fichte: Einleitung WS 1811 / 12 – Nachschrift Schopenhauer, in: GA IV / 4, 66. 7  Vgl. TdB Halle sowie Fichte: Thatsachen des Bewußtseins WS 1811 / 12 – Nachschrift Schopenhauer, in: GA IV / 4, 125, 195. Im folgenden: TdB Schopenhauer. 8  Vgl. TdB Halle, in: GA IV / 4, 126. 9  Von Wahrnehmung ist auch in der Tranzendentalen Logik [TL I–II] viel die Rede. Sie stellt aber aufgrund ihres Themas keine Wahrnehmungslehre auf. Zu diesen Vorlesungen vgl. Alessandro Bertinetto: L’essenza dell’empiria. Saggio sulla prima „Logica trascendentale“ di J. G. Fichte, Neapel 2001. 10  Vgl. TdB Halle, in: GA IV / 4, 126.

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„unser Wissen von dem Objecte ist doch nicht das Ding selbst, sondern nur ein Bild von demselben oder ein Schema“11. In dieser Hinsicht zeigt sich jedoch eine merkwürdige Differenz zwischen der äußeren und der inneren Wahrnehmung: jene bleibt an die Wissensbestimmung des wahrgenommenen Objekts gebunden. Ihre Freiheit ist bloß Freiheit gegenüber dem Objekt; sie ist nur ein Bilden des Objekts. Die innere Wahrnehmung hingegen, die Fichte nach der Tradition ebenfalls Reflexion nennt, ist eine Wahrnehmung des Wahrnehmens und stellt deswegen ein höheres Niveau des Wissens dar: Die Wahrnehmung ist nun einerseits formal frei, und zwar als Wissen und Bilden, und andererseits auch material frei, d. h. in ihrem Objekt, das seinerseits bereits ein Bilden ist. Durch das Sich-Entfernen von diesem entsteht das Bewußtsein vom Bild, das zuvor nicht da war. Das Subjekt ist also freier in der inneren Wahrnehmung als in der äußeren, weil es in der inneren Wahrnehmung zu einem höheren Grad des Wissens emporgestiegen ist: „In der Wahrnehmung sagte das Bewußtsein: das Ding ist, und damit gut. Hier spricht das neu entstandene Bewußtseyn: es ist auch ein Bild, eine Vorstellung des Dinges. Da ferner dieses Bewußtseyn die realisierte Freiheit des Bildens ist, so spricht in Beziehung auf sich selbst das Wissen: ich kann jene Sache bilden und vorstellen, oder auch nicht“12. Es sieht jetzt deutlich, was in der äußeren Wahrnehmung noch „dunkel und unbewußt“ war13. Fichte nimmt auf und transformiert dabei den Primat des Inneren gegenüber dem Äußeren: Während nach Descartes ich mich hinsichtlich der äußeren Welt täuschen kann, aber nicht bezüglich meines Denkens der Welt – die Fragestellung war hier allerdings bloß erkenntnistheoretisch –, werden die Erkenntnisbeziehungen bei Fichte zu Verhältnissen von Bewußtsein und Freiheit14. Sowohl in der äußeren als auch in der inneren Wahrnehmung zeigt sich das Bewußtsein nicht als ein passiver Spiegel äußerer Realität: Das beide Wahrnehmungsweisen charakterisierende Wissen erhebt das Bewußtsein über die Wirklichkeit, befreit sie von der Notwendigkeit des Gegebenseins und prägt den Wahrnehmungen seine eigene Freiheit auf15.

11  Vgl.

TdB Cauer, in: GA IV / 4, 84. Fichte: Die Thatsachen des Bewußtseyns (1810 / 11), in: GA II / 12, 29–30. Im folgenden: TdB. 13  Vgl. TdB Schopenhauer, in: GA IV / 4, 203. 14  In seiner Religionslehre (1806) hatte Fichte behauptet, in der Tat hörten, sähen, fühlten wir gar nicht, wir seien uns nur unseres Hörens, Sehens und Fühlens bewußt. Vgl. Fichte: Die Anweisung zum seeligen Leben, in: GA I / 9, 83. 15  Vgl. TdB, in: GA II / 12, 25. 12  Vgl.



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III. Die Elemente der Wahrnehmungslehre Die drei voneinander untrennbaren und wesenhaften Momente der äußeren Wahrnehmung sind: 1. die Affektion des äußeren Sinnes oder die Empfindung, 2. die Ausdehnung im Raum und 3. das Objekt der Wahrnehmung16. Die Wahrnehmungsgegenstände haben eine räumliche Ausdehnung und wirken – zumindest auf dem ersten Reflexionsniveau – auf die Sensibilität. Dies bedeutet aber nicht, daß Objekte außerhalb des Bewußtseins existieren. Die Thatsachen des Bewußtseins sind kein Ausdruck eines dogmatischen Ansatzes. Vielmehr kann man Fichte zufolge zeigen, daß die drei die äußere Wahrnehmung charakterisierenden Momente in der Tat Produkte transzendentaler Subjektivität sind. Etwas empfinden oder wahrnehmen – Fichte identifiziert „empfinden“ und „wahrnehmen“ – weist nämlich nur auf eine Beschränkung des eigenen Bewußtseinsakts hin: „Ich nehme diese Blume als roth wahr, heißt nichts anderes, als: mein Sehen überhaupt, und insbesondere mein Sehen der Farbe, ist beschränkt auf dieses bestimmte Farbesehen, welches die Sprache durch den Ausdruck roth bezeichnet“17. Selbst die Ausdehnung stelle keine Qualität im Raum außerhalb des Bewußtseins dar, sondern das Produkt des intuitiven Vermögens, Angeschautes unendlich zu trennen und zu verbinden: „die Ausdehnung im Raume ist nichts anderes, denn die Sichanschauung des Anschauenden in seinem Vermögen der Unendlichkeit“18. Und das Wahrnehmungsobjekt ist ein die Wahrnehmung begleitendes Denkprodukt. Jede objektivierende Vergegenständlichung entsteht also durch Denken, und Fichte zufolge gibt es kein reines, vom Denken getrenntes Wahrnehmen. Dies bedeutet nicht bloß, wie bei Kant, daß Empfindungen unter Verstandeskategorien stehen – etwas Derartiges würde nämlich einen wesentlichen Unterschied zwischen Empfinden und Denken verlangen, was nach der Wissenschaftslehre nicht zutreffend ist, sondern daß das Wahrnehmungsmoment in sich auch das Denkmoment enthält. Durch Denken verläßt man das bloße, in den ersten zwei Bestandteilen des äußeren Wahrnehmens vorhandene Selbst­ anschauen und setzt als Möglichkeitsbedingung der Wahrnehmung das ­Objekt, das nach dem Verständnis des gesunden Menschenverstandes die

16  Vgl.

TdB Schopenhauer, in: GA IV / 4, 200. TdB, in: GA II / 12, 22. 18  Vgl. TdB, in: GA II / 12, 23. Fichte meint, daß zwischen Empfindung und Ausdehnung ein wesentlicher Unterschied bestehe, aufgrund dessen sie unabhängig voneinander gegeben würden: Die Farbe z. B. benötigt keine Ausdehnung, zu ihrem Dasein reiche ein mathematischer Punkt (TdB, in: GA II / 12, 22). Für die gegenteilige Auffassung kann man verweisen auf Carl Stumpf: Über den Ursprung der Raumvorstellung, Leipzig 1873. 17  Vgl.

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Körpersinne affiziert. Strenggenommen wird deswegen das Objekt gar nicht empfunden oder angeschaut, „sondern durchaus nur gedacht“19. Auch besteht die innere Wahrnehmung aus drei untrennbaren Bestandteilen: 1. die Anschauung der äußeren Wahrnehmung, wodurch ein Wissen des vorigen Wissens entsteht – das Bewußtsein weiß sich an eine Beschränktheit des inneren Sinnes gebunden, die durch die äußere Wahrnehmung entsteht –; 2. die Anschauung des unendlichen Setzungsvermögens – dies war schon der Fall bei der äußeren Wahrnehmung, jetzt aber ist die bis ins Unendliche teilbare räumliche Ausdehnung nicht mehr die eines bestimmten, d. h. des wahrgenommenen Dinges, sondern ist nur möglich: das Bewußtsein weiß sich als Prinzip möglicher Unendlichkeit; 3. das Denken, wodurch nicht etwas Äußeres wie das Objekt der äußeren Wahrnehmung, sondern ein innerliches Etwas gesetzt wird: das Ich. Das Bewußtsein drückt sich hier wie folgt aus: „ich bin, bin unabhängig da, selbst von diesem michfinden, von nun an und auf ewig. Ich schaue mich freilich an, aber ich bin nicht durch diese Anschauung, und werde nicht aufhören zu seyn, wenn diese Anschauung ihren Odem zurück zieht, sondern ich habe ein selbstständiges auf sich selbst beruhendes Daseyn“20. IV. Gesundes und krankes Wahrnehmen: Die Aufmerksamkeit und der Wahnsinn Durch die innere Wahrnehmung hat sich das Bewußtsein das Wissen eines substantiellen Trägers des Wissens angeeignet: das Ich. Dadurch hat es sich von der unmittelbaren, in der äußeren Wahrnehmung vorhandenen Kausalität befreit, aufgrund deren das Objekt der Affektion gesetzt wurde, und vom Sein zum Prinzip des Bewußtseins entwickelt. Während das Bewußtsein zuvor noch in seinem einfachen Sein war, ist es und hat es jetzt ein doppeltes Sein: das vorige Sein und das Sein, das über dem ersten insofern schwebt, als es das Bewußtsein desselben ist. Dank dieser Veränderung hat das Leben des Bewußtseins eine neue Form gewonnen: „Vorher hatte dasselbe durch sein bloßes Seyn Kausalität, jezt durchaus nicht mehr, sondern nur durch eigene freie That kann etwas in ihm entstehen“21. Von diesem höheren Bewußtseinsniveau kann jedoch das Bewußtsein frei zum niedrigeren zurückkommen: dies ist die von der Aufmerksamkeit dargestellte Tatsache des Bewußtseins. Auf etwas aufmerksam sein, bedeutet nach Fichte, sich neuen Wahrnehmungen zu öffnen. Zu diesem Zweck muß man sich seines eigenen Wissens als eines vom Inhalt der äußeren Wahrnehmung 19  Vgl.

TdB, in: GA II / 12, 24. TdB, in: GA II / 12, 36. 21  Vgl. TdB, in: GA II / 12, 32–33. 20  Vgl.



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Verschiedenen bewußt sein. Ich kann mich etwas widmen, d. h. ich kann meine Aufmerksamkeit insofern darauf richten, als ich mich vom kausalen Vorgang befreit habe, der zwischen meinem äußeren Sinn und der Affektion zustande kommt. Ich könnte also gar nicht aufmerksam sein, wenn ich mir nicht des Wissens bewußt wäre, das ich insofern bin und besitze, als ich zum Selbstbewußtsein emporgestiegen bin. Fichte zufolge kann die Tatsache der Attention vom ontogenetischen Standpunkt aus einem Kind nicht zugesprochen werden. Es erfährt nur eine direkte Abfolge von Gegenstandswahrnehmungen: ein Kind und ein Erwachsener (Fichte führt das Beispiel des Naturforschers an, der seine Aufmerksamkeit auf die Pflanze richtet) können denselben Gegenstand vor sich haben, dennoch ist ihre äußere Wahrnehmung verschieden – die des Kindes unterschiedlich sowohl hinsichtlich der Qualität (man könnte sagen, dem bloßen Bewußtsein bzw. dem Selbstbewußtsein eigen) als auch der Quantität nach. Denn der Erwachsene sieht im Unterschied vom Kind verschiedene Details desselben Gegenstandes, weil sein Wahrnehmen von einem Zweckbegriff geleitet wird22. Die durch Aufmerksamkeit entstehende differenzierte äußere Wahrnehmung beweist, psychologisch gesprochen, daß die wahrnehmende Person gesund ist. Sich nicht konzentrieren zu können, vom Strom seiner eigenen Phantasien mitgerissen zu werden, bedeutet hingegen in einen kindischen Zustand zurückzukehren, in dem man in der Kausalität des Seins befangen ist. „Wurzelt die Krankheit so tief ein, daß im Anhalten jenes Stromes ein Wenden der Attention auf die äußere Wahrnehmung, und eine Entgegensetzung derselben mit der Einbildung ganz und gar nicht mehr möglich ist, so heißt sie Wahnsinn“23. V. Die äußere Wahrnehmung im Bild Eine äußere Wahrnehmung findet nicht bloß statt, d. h. wird nicht nur unmittelbar erlebt, sondern sie kann auch reproduziert werden. Dadurch entsteht keine eigentliche Wahrnehmung, d. h. Wahrnehmung im Original, sondern das Bild einer Wahrnehmung. Wenn ich das auf meinem Schreibtisch stehende Photo vor mir sehe, so rekonstruiere ich in meiner Phantasie das Bewußtsein dieses Gegenstandes. Anders als im Fall der Aufmerksamkeit wird hier der äußere Sinn nicht affiziert, vielmehr muß die Einbildungskraft imstande sein, „die Wahrnehmung in ihren bestimmten Theilen wieder zu erwecken“24. Dabei wird der Inhalt der Wahrnehmung in der Reproduk22  Vgl.

TdB, in: GA II / 12, 33. TdB, in: GA II / 12, 34. 24  Vgl. TdB, in: GA II / 12, 40. 23  Vgl.

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tion produziert, bleibt nicht nur Faktum, sondern ist auch „fiens“, während der ursprüngliche Wahrnehmungsgegenstand bloßes Faktum ist. Produkt und Produzieren sind im einen Fall aufeinander bezogene Wechselbegriffe, im anderen hingegen ist das Gegebene kein Produkt der Spontaneität, sondern hat den Charakter toten Seins: „Der eigentliche Unterschied zwischen Reproduction und Wahrnehmung ist also: daß in der Reproduction das Ich sich sieht und alles andere durch sich hindurch. – In der Wahrnehmung aber ist das Ich unsichtbar und es findet kein ‚Reflex‘ des Wissens auf sich selbst“25. Solche Reproduktion der Wahrnehmung hat als ihre Möglichkeitsbedingungen: 1. ein Ich, das die Entscheidung trifft, sich in eine derartige Situation zu begeben und in ihr zu bleiben: „Auch ist nun klar, wie die unmittelbare Wahrnehmung sich unterscheidet von ihrem Bilde in der Reproduktion. Das leztere wird immerfort von dem Bewußtseyn der Selbstthätigkeit begleitet, und es kommt kein Zug in ihm vor, von dem das Ich nicht würde sagen müssen: ich mache ihn; dagegen ist die wirkliche Wahrnehmung immerfort begleitet von dem Bewußtseyn der Nichtfreiheit und Gebunden­ heit“26. 2. Ein Ich, das sich auf das Niveau der Reflexion und des Selbstbewußtseins erhebt, sonst könnte es nicht in der Phantasie wahrnehmen, d. h. bewußt und frei vom eigenen Wissen Gebrauch machen. Das Bewußtsein eigenen Wissens wird dadurch gewonnen, daß man über es reflektiert oder es innerlich wahrnimmt. 3. Eine Regel, der in der Reproduktion der äußeren Wahrnehmung zu folgen ist, und die im Begriff des zu reproduzierenden Objekts der äußeren Wahrnehmung besteht. Auch in diesem Fall zeigt sich die enge Beziehung zwischen Wahrnehmung und Begriff: Ohne den Begriff wäre die Wahrnehmung, wenn auch nur im Bild, unmöglich. Die Reproduktion wird jedenfalls durch die Regel sehr erleichtert: Ich kann die eben gehörte Rede besser reproduzieren, wenn ich die logischen, begrifflich strukturierenden Zusammenhänge verstehe. Fichte ist der Meinung, daß eine gute Reproduktion der äußeren Wahrnehmung auf Schrift nicht verzichten kann, da eine auf sich selbst gestellte Einbildungskraft das Risiko eingeht, sich zu verlieren und zu verwirren27. VI. Wahrnehmung, Zeit, Erinnerung Das Ich als Prinzip muß notwendigerweise unendlich sein: wenn es durch anderes beschränkt würde, wäre es nicht mehr absolut, sondern bedingt, nicht Prinzip, sondern Prinzipiat. Das Ich als Träger aller Wahrnehmungen 25  Vgl.

TdB Cauer, in: GA IV / 4, 103. TdB, in: GA II / 12, 41. 27  Vgl. TdB, GA II / 12, 42. 26  Vgl.



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erstreckt sich deswegen ins Unendliche; und das sein Bilden regulierende Gesetz ist die Zeit28. Die verschiedenen Wahrnehmungen, sowohl äußere wie innere, weisen sich als Prinzipiate aus, da sie in der Zeit einander folgen. Und sie folgen nacheinander, weil sie sich gegenseitig ausschließen: „Soll daher ein neues eintreten, so muß erst das vorhandene aufgehoben und vernichtet werden; sie folgen nach einander“29. Es sind die einzelnen Wahrnehmungen, die für die Mannigfaltigkeit des Zeitinhalts verantwortlich sind; vom zeitlichen Standpunkt aus ist nämlich eine Wahrnehmung ein Zeitmoment wie jeder andere. Sie kann einem anderen Zeitmoment zuvorkommen oder folgen, jede Wahrnehmung ist aber Teil des Ganzen der Zeit. Die von Fichte verwendete mereologische Begrifflichkeit (von Teil und Ganzem) will vor allem ausschließen, daß das Bewußtsein in jedem Wahrnehmungsmoment ein anderes ist; in diesem Fall gäbe es keine zeitliche Kontinuität, jede Wahrnehmung wäre in sich geschlossen und der Zusammenhang von Wahrnehmungen zerrissen. Man hätte es mit einem „vielfärbigen, verschiedenen“30 Ich zu tun. Damit es Zeit gibt, darf das Ich sich nicht im einzelnen Zeitmoment erschöpfen, sondern muß sich unabhängig von der Mannigfaltigkeit in seiner Einheit erhalten. Ein solches mereologisches Verhältnis muß richtig verstanden werden: Man könnte nämlich denken, daß die Zustände des Ich zufällig aufeinander folgten (man könnte meinen, von x zu y, aber auch von y zu x übergehen zu können). Ihr wechselseitiges Ausschließen bedeutet jedoch noch nicht, daß sie einander auf bestimmte Art und Weise folgen, vielmehr muß das ausschließende Verhältnis zu einer bedingten Beziehung werden: „Hier schließen die Mannigfaltigkeiten sich nicht nur aus, sondern sie bedingen sich auch, und weisen dadurch ihre Stelle in der Reihe sich an; es ist nicht mehr, wie oben, ein vor und nach überhaupt, sondern ein gebundenes vor und nach“31. Die Möglichkeitsbedingung eines solchen Verhältnisses wird von Fichte darin begründet, wie das Ich sein eigenes Vermögen anschaut, das nicht regellos, sondern „an eine a priori bestimmte Reihenfolge seiner Entwicklung in der Wirklichkeit“ gebunden ist32. Der Wahrnehmungsvorgang verlangt also eine unumkehrbare Reihe des Aufeinanderfolgens und damit eine notwendige Beziehung zwischen den sie ausmachenden Momenten; daß einer von ihnen aber zu einem bestimmten Zeitpunkt vorkommt, ist gar nicht notwendig33. 28  Ebenfalls 1808 hatte Fichte die Zeit in Zusammenhang mit der Reflexion, dem „Sehen des Sehens“, dem Ich gebracht: Seit d. 1. April. 1808, in: GA II / 11, 210. 29  Vgl. TdB, GA II / 12, 44. 30  Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft (A= 1781, B = 1787), B 134. 31  Vgl. TdB, in: GA II / 12, 47. 32  Vgl. TdB, in: GA II / 12, 48. 33  Vgl. ebd.

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Das Bewußtseinsleben zeigt sich also als einheitlich; Fichte behauptet auch, jeder letzte Zustand des Bewußtseins setze das ganze vorhergegangene Leben als bedingend voraus. Jeder von uns wäre nicht der, wer er ist, hätte er nicht eine bestimmte Vergangenheit. An vieles Geschehene kann man sich erinnern, nicht aber an alles, denn die Erinnerung verlangt einen Zustand frei von der äußeren Wahrnehmung. Denn es ist die freie Attention, die den Übergang vom aktuellen zum vergangenen Zustand vermittelt: Ich richte meine Aufmerksamkeit auf die Beziehung zwischen dem jetzt Bestimmten und dem vorher Bestimmenden und rekonstruiere in der Erinnerung die die zwei Zeitpunkte verbindende Reihe. Wie die Rekonstruktion der äußeren Wahrnehmung in der Phantasie stellt auch die Erinnerung eine Form von Vergegenwärtigung vergangener Erfahrung dar. Sie darf nicht mit dem Gedächtnis verwechselt werden, mit dem sich die Psychologie befaßt. Da sie einen fundierenden Wert für das gesamte Bewußtseinsleben hat, gehört die Erinnerung in die kritische Überlegung der Thatsachen des Bewußtseins: „Ohne dieses Vermögen wäre das Bewußtseyn, das in einzelne Momente ohne allen Zusammenhang zerrissene […] und es käme nicht einmal zu einem Bewußtseyn des Ich, als des bleibenden im Wechsel der Zustände“34. VII. Wahrnehmung und praktisches Bewußtsein Die Wahrnehmung bildet für den transzendentalen Idealismus keinen theoretischen, von jeder praktischen Komponente gereinigten Akt. Dies ist zweifelsohne ein Merkmal von Fichtes Denken; seit der ersten Darstellung der Wissenschaftslehre hängt das Setzen eines das Ich bedingenden NichtIch vom Setzen eines das Nicht-Ich bedingenden Ich ab. Dieses Verhältnis zwischen theoretischem und praktischem Teil der Philosophie wurde durch deren Trennung bestätigt. Bereits die folgende Darstellung, die Wissenschaftslehre nova methodo, hatte jedoch diese Ausgestaltung des gesamten Wissens aufgehoben. Mit den Thatsachen des Bewußtseins kommt eine ähnliche Struktur wieder hervor: Fichte unterscheidet hier zwischen drei Vermögen: dem theoretischen, dem praktischen und dem sogenannten „höheren“. Er will damit zeigen, daß die äußere Wahrnehmung, von der das ganze Bewußtsein ausgeht, überhaupt nicht „als ein für sich bestehendes und abgesondertes“ zu betrachten ist35. Die Möglichkeitsbedingungen äußerer Wahrnehmung sind nämlich im praktischen und höheren Teil der Philosophie als die drei Hauptmomente des Bewußtseins zu finden36: 1. Et34  Vgl.

TdB, in: GA II / 12, 50. TdB, in: GA II / 12, 57. 36  Zu diesen sind als Hauptbedingungen noch der Leib (TdB, in: GA II / 12, 62), die Individualität (TdB, in: GA II / 12, 71, 97 ff.) und die Sinnenwelt (TdB, in: GA II / 12, 78 ff.) hinzuzufügen. 35  Vgl.



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was wahrnehmen bedeutet etwas zu fühlen: das Gefühl ist das unmittelbare Bewußtsein einer wirklichen Begrenzung. Der (äußere oder innere) Sinn ist das Vermögen, das den verschiedenen Gefühlen zugrunde liegt. Das Gefühlte ist aber kein Gegenstand, sondern Trieb. 2. Das vom Gefühl bestimmte Bewußtsein eigener Beschränkung geht mit der Anschauung des Vermögens zusammen, aufgrund dessen das Ich eine Reihe von Ereignissen anfangen kann, deren Ausgangspunkt jene Beschränkung ist. Dabei zeigt sich die Fähigkeit des Bewußtseins, nach einem Zweckbegriff zu handeln, nach dem man seine Wirksamkeit gestalten kann. Hier zeigt sich der Primat des praktischen Bewußtseins, die Herrschaft des Geistes über die Natur, die sich ihrerseits notwendig und blind reagierend verhält. 3. Die durch (unbewußte) produktive Einbildungskraft hervorgebrachte Materie ist durch bestimmte sinnliche Qualitäten ausgezeichnet37 und wird als Widerstand gegen die Kausalität praktischen Bewußtseins erlebt. Sinnenhafte Affektionen (von Objekten) erweisen sich dementsprechend als Resultate geistiger Handlungen (in ihrer Funktion als produktive Einbildungskraft). „Also die ganze äußere Wahrnehmung ist überhaupt gar kein Bewußtseyn, sondern sie ist ein bewußtes, durch absolute Produktion der Einbildungskraft dem Bewußtseyn erzeugtes Objekt“38. Dieser Zusammenhang erklärt, weshalb das gemeine Bewußtsein der Täuschung einer äußeren, auf das Bewußtsein wirkenden Welt ausgesetzt ist. In Wahrheit besteht das Wesen äußerer wie innerer Wahrnehmungen im Denken39, dessen man sich als geistigen Aktes jedoch nicht bewußt wird, so daß äußere wie innere Wahrnehmungen als etwas Unmittelbares und Unabhängiges erscheinen. Der Primat des Denkens gegenüber dem Anschauen zeigt sich auch in der Fähigkeit, den eigenen materiellen Leib zu erfassen. Während man nach Fichte imstande ist, den Körper einer anderen Person äußerlich wahrzunehmen, hat man vom eigenen Leib weder eine innere noch eine äußere Anschauung – man hat kein inneres Totalgefühl von ihm, sondern nur ein Gefühl seiner Teile, z. B. wenn man einen bestimmten Schmerz empfindet und dabei nur Teile seines eigenen Leibes fühlt; man sieht außerdem nur Teile des Körpers. Vom eigenen Leib kann man nur insofern einen Begriff haben, als man ihn durch Denken als Ganzes erfaßt40.

37  Vgl.

TdB, TdB, 39  Vgl. TdB, 40  Vgl. TdB, 38  Vgl.

in: in: in: in:

GA GA GA GA

II / 12, II / 12, II / 12, II / 12,

53–57. 58. 60. 76.

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VIII. Schlußbemerkung Daß der ‚dogmatische‘ Begriff einer äußeren Natur sich vom Standpunkt der kritischen Reflexion als unstatthaft erweist, zeigt ganz klar die transzendentale Wahrnehmungslehre. Denkt man nämlich daran, daß man es z. B. im Fall der äußeren Wahrnehmung nicht mit der ersten Form einer Relation zwischen zwei heterogenen Elementen zu tun hat, die sich in einem Verhältnis der Opposition befinden, sondern vielmehr mit dem ersten der Momente, in denen das Ich mit sich selbst konfrontiert ist, ist man gezwungen zu behaupten, daß die Äußerlichkeit der Natur in der Tat eine Innerlichkeit des Subjekts darstellt. Ist, anders gesagt, Wahrnehmen nichts als Fühlen und letzteres als Sichfühlen zu verstehen, kann letztendlich die äußere Natur nur ein revisionsbedürftiger Begriff sein. Der sich hier auszeichnende Primat des Geistes gegenüber der Natur bzw. die transzendentalphilosophisch kontrollierte Transformation der letzteren in den ersteren, die – wie bereits ausgeführt – unter anderem durch den Primat des Denkens gegenüber dem Anschauen sowie des Praktischen gegenüber dem Theoretischen gerechtfertigt werden kann, findet eine Bestätigung auch in der Lehre der inneren Wahrnehmung. Nehme ich nämlich nicht eine angeblich äußere Natur wahr, sondern nur meine unterschiedlichen Akte des Wahrnehmens selbst, wodurch die äußerliche Gegenständlichkeit wahrgenommen werden soll, postuliere ich, daß das hierbei Wahrgenommene eine Natur ist, die nichts anderes als mein eigenes Ich selbst darstellt. Andererseits zeigt aber eben die transzendentale Wahrnehmungslehre, daß die Natur kein objektives Ich im Sinne von Hegels Differenzschrift sein kann41. Würde sie eine dem Ich gleichwertige Realität darstellen, müßte ihre Realität selbst denken, d. h. sich selbst wahrnehmen; das der Wahrnehmung zugrundeliegende Denken ist aber ein Akt des ‚subjektiven‘ Ich. Die Reflexivität stellt, anders gesagt, ausschließlich ein Merkmal der Subjektivi­ tät dar: Gegen jede spekulative Auffassung der Natur, die die zur Reflexion notwendige Entzweiung in der Natur selbst wiederfindet, stellt eine transzendentale Naturlehre42 fest, daß die echte Wechselwirkung als Ich-Tätig41  „Nur indem das Objekt selbst ein Subjektobjekt ist, ist Ich = Ich das Absolute; Ich = Ich verwandelt sich nur dann nicht in: Ich soll gleich Ich seyn, wenn das Objektive Ich selbst Subjekt = Objekt ist.“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Differenzschrift des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, in: Gesammelte Werke, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. v. der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Bd.  IV, Hamburg 1968 ff., 65). 42  Vgl. dazu Reinhard Lauth: Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, Hamburg 1984.



Zwischen Natur und Geist231

keit verstanden werden muß. Geht also z. B. Schelling davon aus, man müsse in der Natur selbst eine „ursprüngliche Dualität“ voraussetzen, wodurch allein die Natur spekulativ möglich wird43, meint Fichte dagegen, daß „der wahre Gegensaz“ der „Intelligenz“ innewohnt44. Bibliographie Bertinetto, Alessandro: L’essenza dell’empiria. Saggio sulla prima „Logica trascendentale“ di J. G. Fichte, Neapel 2001. Fichte, Johann Gottlieb: Bei der Lectüre von Schellings tr. Idealismus, 1800 (GA II / 5). – Die Thatsachen des Bewußtseyns, 1810 / 11 (GA II / 12). – Die Thatsachen des Bewußtseyns [Nachschriften Cauer, Halle und Schopen­ hauer], 1811 / 12 (GA IV / 4). – Wissenschaftslehre 1811 (GA II / 12). – Fichtes Einleitung in seine philosophischen Vorlesungen [Nachschrift Twesten], 1810 (GA IV / 4). – Fichte’s Vorlesungen über das Studium der Philosophie [Nachschrift Schopenhauer], 1811 / 12 (GA IV / 4). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Gesammelte Werke, herausgegeben im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Hamburg 1968 ff. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Riga 17872 (KrV, B). Lauth, Reinhard: Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, Hamburg 1984. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Historisch-kritische Ausgabe, im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hrsg. v. H. M. Baumgartner, W. G. Jacobs, J. Jantzen, und H. Krings, Stuttgart 1976 ff. Stumpf, Carl: Über den Ursprung der Raumvorstellung, Leipzig 1873.

43  Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, in: Historisch-kritische Ausgabe im Auftrage der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Hans Michael Baumgartner, Wilhelm G. Jacobs, Hermann Krings u. Hermann Zeltner, I. Abteilung: Werke, Bd. 7, Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff., 81. 44  Vgl. Bei der Lectüre von Schellings tr. Idealismus, 1800, in: GA II / 5, 415.

III. Transzendentale und posttranszendentale Naturkonzeptionen im 19. und 20. Jahrhundert

Schillers transzendentalphilosophischer Naturbegriff Emiliano Acosta1 Im vorliegenden Aufsatz untersuche ich Schillers Begriff der Natur in seinem Werk Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (von nun an Ästhetische Briefe). Meine These ist, daß Schiller in dieser Schrift einen Naturbegriff entwickelt hat, der sich von Kants und Fichtes Naturbegriffen unterscheidet. Als Grund dieses Unterschieds will ich aufweisen, daß Schiller eine alternative Konzeption der transzendentalen Philosophie entwickelt hat. Schillers Naturbegriff soll dann als fundamental für das Verständnis der transzendentalen Philosophie in ihrer Komplexität betrachtet werden. Die Absicht des Aufsatzes ist es nicht, zu erweisen, daß Schillers Konzeption der Natur in den Ästhetischen Briefen in die Tradition der Transzendentalphilosophie einbezogen werden kann (denn darüber herrscht Konsens in den philosophischen Interpretationen von Schiller), sondern eher, daß diese Schrift eine andersartige Transzendentalphilosophie entwickelt, deren Studium nötig ist, wenn man einen Begriff von Transzendentalphilosophie in ihrer Fülle gewinnen will. Zur Unterstützung meiner These werde ich zeigen, daß nicht nur der Naturbegriff, sondern auch das zentrale Begriffsinstrumentarium der Ästhetischen Briefe weder auf Kants noch auf Fichtes Philosophie reduziert werden können, weil der Unterschied zwischen den drei Denkern in der 1  Der vorliegende Aufsatz präsentiert einige der wichtigsten Resultate meines durch den Fond für Wissenschaftliche Forschung Flanderns (FWO) unterstützten Forschungsprojekts über radikale Aufklärung. Ich möchte hierbei Herrn Tom Denter (MA) meinen Dank für seine Kommentare und kritischen Bemerkungen abstatten. Im vorliegenden Aufsatz bediene ich mich der folgenden Siglen für die Zitate: SW: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke in 5 Bänden, München 2004; NA: Schillers Werke. Nationalausgabe. Historisch-kritische Ausgabe, begründet von J. Petersen, fortgeführt von L. Blumenthal, B. von Wiese und S. Seidel, hrsg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von N. Oellers, Weimar 1943 ff.; KrV: I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, 1. Auflage (A), Riga 1781; 2. Auflage (B), Riga 1787; AA: I. Kant: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften / Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin / Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin / New York 1900 ff. GA: J. G. Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth, Hans Jacob, Hans Gliwitzky, Erich Fuchs und Peter K. Schneider, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962–2012.

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Grundlage ihrer entsprechenden transzendentalphilosophischen Unternehmungen selbst liegt. Ich werde argumentieren, daß der Unterschied dieser Schrift zu Fichtes und Kants Philosophien darin besteht, daß die Ästhetischen Briefe eine Transzendentalphilosophie vorführen, die im Gegensatz zu den oben erwähnten Positionen auf dem Primat der ästhetischen Vernunft beruht2. Eben dieser Unterschied zu den anderen Transzendentalphiloso­ phien, was die leitende Idee und Absicht der Entwicklung des Systems anbelangt, zeigt die konzeptuellen Beschränkungen der herkömmlichen interpretativen Subsumierung der Ästhetischen Briefe unter die Philosophien von Kant3 und Fichte4. Im vorliegenden Aufsatz möchte ich diesen Unterschied anhand von Schillers Naturbegriff in den Ästhetischen Briefen illustrieren, um die Unmöglichkeit der erwähnten Subsumierung zu erweisen. Zur Analyse der nachkantischen Entwicklung der Transzendentalphilosophie im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts in Deutschland bezieht man sich hauptsächlich auf die Schriften von Reinhold, Fichte und Schelling. Andere Schriftsteller bzw. Philosophen jener Zeit, die sich mit der transzendentalen Philosophie befaßt haben, werden hingegen bloß als Beispiele der Anwendung von Konzepten und Methoden der Kantischen Philosophie oder der erwähnten Philosophen betrachtet. Zu dieser Gruppe von angeblich sekundären oder philosophisch nicht relevanten Weiterentwicklungen der (Kantischen) transzendentalen Philosophie zählt, für die Mehrheit der Ausleger, Schiller. Diese Interpretation von Schiller als Nebenfigur der Konstellation der transzendentalen Philosophie kann wohl als richtig betrachtet werden, aber nur, wenn sich die Interpretation auf Schriften wie die KalliasBriefe oder Über Anmut und Würde richtet. Wenn aber die Ästhetischen Briefe in die Analyse einbezogen werden, dann gilt diese These nicht mehr, denn die Kernbegriffe dieser Schrift sind, wie sich zeigen wird, von einer differenten Idee der transzendentalen Philosophie her gedacht worden. Schillers Ästhetische Briefe sind in der Tat für die bisherigen Kommentatoren seiner philosophischen Schriften nicht von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der Transzendentalphilosophie, sondern – kurz gesagt – eher nur eine Anwendung von Kantischen bzw. Fichteschen Prinzipien und 2  Hierzu siehe E. Acosta: Schiller versus Fichte. Schillers Begriff der Person in der Zeit und Fichtes Kategorie der Wechselbestimmung im Widerstreit, Amsterdam / New York 2011, und „Schiller and the Recognition of the Other in his or her Otherness. The challenge of thinking Intersubjectivity according to a Logic of the Difference“, in: Pensamiento 68 (2012) 225–247. 3  Siehe u. a. F. Beisers Versuch, Kuno Fischers Kantische Interpretation der Schillerschen theoretischen Schriften zu revidieren, in F. Beiser: Schiller as Philosopher: A Re-Examination, Oxford 2005. 4  Siehe als Paradigma einer solchen „fichtisierenden“ Interpretation der Ästheti­ schen Briefe H.-G. Pott: Die schöne Freiheit, München 1980.



Schillers transzendentalphilosophischer Naturbegriff237

Begriffen auf die Ästhetik5. Um die konzeptuellen Schwierigkeiten einer solchen Interpretation zu zeigen, muß die Originalität von Schillers Ästheti­ schen Briefen erwiesen werden. Diese Originalität werde ich hauptsächlich anhand der Schillerschen Konzeption der Natur in dieser Schrift zum Vorschein bringen. Ich werde argumentieren, daß die Originalität von Schillers Naturbegriff in seiner zwiefachen Betrachtung der Natur besteht. Schiller versteht Natur einerseits als Prinzip (innerhalb der zwiefachen Grundlage des ästhetischen Denkens und dem Geistprinzip ebenbürtig). Andererseits begreift er die Natur als eine der notwendigen Bestandteile der (ästhetisch, nicht sittlich) freien Umwelt der edlen Seele. Mit anderen Worten: als Grund­ element des Spielraums, in dem der Mensch als Mensch – d. h. weder als ein sinnliches Wesen mit Verstand noch als ein Ich mit einem Körper – alle seine Vermögen realisieren kann. Diese Betrachtung der Natur impliziert die Konzeption der Natur (in Kantischem Sinne), als ob sie Person wäre und, demzufolge, die Denkbarkeit einer besonderen Art von Intersubjektivität (nicht in praktischem, sondern in ästhetischem Sinne) zwischen Menschen und Natur, die das Potential der transzendentalen Philosophie hinsichtlich zeitgenössischer Debatten, wie der über eine Anerkennung von Rechten der Tiere, zeigt. I. Das ästhetische Denken: Natur als Prinzip Neben der Frage nach der Natur, die eine vorkritische Philosophie stellt, nämlich: „Was ist die Natur?“, fragt die transzendentale Philosophie nach der Bedingung der Möglichkeit derselben. Für eine transzendentale Philosophie ist die Natur in der Tat kein Ding, sondern Erscheinung, d. h. Seiendes, das weder an sich noch durch sich ist, denn es hat Realität und Wirklichkeit nur für und durch das Subjekt. Die Natur erscheint also ausschließlich dem Subjekt und muß demnach in ihrem konstitutiven Bezug auf dieses bestimmt werden. Die Frage nach einem transzendentalen Naturbegriff führt demzufolge zurück zu der Frage nach dem Subjekt, dem die Natur als Erscheinung erscheint. Die erste Bestimmung, die das Subjekt in den Ästhetischen Briefen erhält, entspricht einer besonderen Denkungsart, die ich im folgenden als ästhetisches Denken bezeichnen möchte. Die Auslegung des ästhetischen Denkens soll dann der erste Schritt zu einer Darstellung von Schillers transzendentalem Naturbegriff sein. Die Rekonstruktion dieser besonderen Denkungsart wird uns zu der zwiefachen Grundlage des ästhetischen Den5  Zu einem Überblick über die bisherigen Interpretationen von Schillers philosophischen Schriften siehe meine Abhandlung Schiller versus Fichte, 10–39.

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kens führen, in der wir Schillers Konzeption der Natur als Prinzip des Denkens finden werden. Nach dem Gesagten sollte es uns dann nicht überraschen, daß die erste Aufgabe, die Schiller in seinen Ästhetischen Briefen übernimmt, die Erklärung dessen ist, was ich ästhetisches Denken nennen möchte. Das ästhetische Denken besteht für Schiller in einer Denkungsart, die nicht nur einer besonderen Untersuchung „über das Schöne und die Kunst“6 fähig ist, sondern auch eine für sein Selbstverständnis wesentliche ist. Eben im letzten liegt die Besonderheit von Schillers Untersuchung. Die Ästhetischen Briefe sind demnach, wie Wilkinson und Willoughby trefflich gesehen haben, keine Abhandlung über Kunsttheorie oder Pädagogik7, sondern vielmehr eine systematische Darstellung der Idee des Schönen (oder der Schönheit)8 und der Kunst als Gegenstände, die „mit dem besten Teil unsrer Glückseligkeit in einer unmittelbaren, und mit dem moralischen Adel der menschlichen Natur in keiner sehr entfernten Verbindung [stehen]“9. Es geht also um eine Konzeption der Bestimmung des Menschen nach dem Schönheitsprinzip. Ziel der Ästhetischen Briefe ist demnach, aufzuweisen, daß der Mensch (NB: als Mensch, nicht als Ich) nur im Element der Schönheit, d. h. im Reich des Scheins bzw. in der Seinsweise des Spiels, seine Vollkommenheit erreicht. „Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Be­ deutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“10. 1. Der ästhetische Imperativ und das Primat der ästhetischen Vernunft Die Aufgabe des ästhetischen Denkens besteht demnach wesentlich in der begrifflichen Konstruktion einer Sinntotalität, die eine Versöhnung der Haupt­bestandteile des Antagonismus im Menschen, nämlich von Formtrieb (Geist) und sinnlichem Trieb (Natur), in einem nach der Idee der Schönheit geschmiedeten Menschenbegriff denkbar macht. Das ästhetische Denken ist demzufolge auch ein Systematisieren im Sinne von Kants und Fichtes Transzendentalphilosophien. Denn auch für Schiller besteht ein System in der Einheit der Mannigfaltigkeit unter einer Idee. Die Idee, nach der sich das System entwickelt, ist ein Vernunftbegriff, der den Zweck und die Form des Ganzen in sich enthält11. 6  SW

V, 570. siehe E. Wilkinson / L. A.Willoughby: „Introduction“, in: F. Schiller: On the Aesthetic Education of. Man, Oxford 1982, xi–xii. 8  In den Ästhetischen Briefen verwendet Schiller beide Termini synonym. 9  SW V, 570. 10  SW V, 618. 11  Vgl. u. a. KrV, B 860; GWL – GA I / 2, 270; u. SW V, 600 u. 615. 7  Hierzu



Schillers transzendentalphilosophischer Naturbegriff239

Diese Idee ist für Kant und Fichte die der absoluten Freiheit der Vernunft. Ihre Philosophien entwickeln sich nach dem Primat der praktischen Vernunft. Die Wirklichkeit (actualitas) dieses Primats finden wir u. a. in Kants Auflösung der Antinomien durch die Einführung des praktischen Interesses der Vernunft in der Schlichtung eines solchen Konflikts12 und in Fichtes Einführung des Machtspruchs der Vernunft zur Auflösung der Antinomie zwischen absolutem Ich und absolutem Nicht-Ich in § 3 und § 5 der GWL13. Das Denken vollzieht sich dann als eine Dialektik zwischen absoluter Freiheit und absoluter Notwendigkeit, und deren Bewegung ist ein Streben – d. h. eine Kausalität, die per definitionem nicht vollbracht werden kann14 – entsprechend der Idee absoluter Freiheit. Diese Dynamik bestimmt, wie Fichte in der Rezension des Aenesidemus (1792) sagt, „die Bedeutung des Ausdrucks: Die Vernunft ist praktisch“15. Die Entwicklung des Denkens zu dieser Dialektik, die nach der Vernichtung einer der beiden Seiten der Entgegensetzung strebt, folgt dann dem Primat der praktischen Vernunft. Das Systematisieren, das Schillers ästhetisches Denken ausmacht, hat zwar eine ähnliche Struktur: eine Dialektik zwischen Geist und Natur, deren Lösung eine versöhnende Aktivität ist, die darin besteht, eine Idee zu realisieren. Diese Idee ist aber nicht die Idee der absoluten Freiheit, sondern die Idee des Schönen. Der Imperativ, der als die dem System formgebende Idee konzipiert ist, ist demzufolge nicht sittlicher, sondern ästhetischer Natur: „Das Schöne ist kein Erfahrungsbegriff, sondern vielmehr ein Imperativ. Es ist gewiß objectiv, aber bloß als eine nothwendige Aufgabe für die sinn­liche vernünftige Natur; in der wirklichen Erfahrung aber bleibt sie gewöhnlich unerfüllt, und ein Object mag noch so schön sein, so macht es entweder der vorgreifende Verstand augenblicklich zu einem vollkommenen, oder der vorgreifende Sinn zu einem bloß angenehmen. Es ist etwas völlig Subjectives, ob wir das Schöne als schön empfinden; aber objectiv sollte es so sein.“16

Indem sich das ästhetische Denken nach dem Schönheitsimperativ bestimmt, folgt es dem Primat der ästhetischen Vernunft. Ästhetisch ist für Schiller die Vernunft, denn sie fordert nicht, daß Freiheit und Notwendigkeit (Geist und Natur) in der Idee bzw. dem Ideal der absoluten Freiheit der Vernunft versöhnt werden, sondern daß der Antagonismus zwischen Geist und Natur in einer schönen Gemeinschaft geschlichtet werde (was Schiller die harmonische Wechselwirkung nennt, auf die der Spieltrieb gerichtet ist): 12  Vgl.

KrV, B 490 ff. resp. GWL – GA I / 2, 268 ff. u. 396, Anm. 14  Vgl. GWL – GA I / 2, 397 u. 417. 15  GWL – GA I / 2, 65. 16  Schiller: „Brief an Ch. G. Körner vom 25.10.1794“, in: NA XXVII, 71. 13  Vgl.

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„Die Vernunft stellt aus transzendentalen Gründen die Forderung auf: es soll eine Gemeinschaft zwischen Formtrieb und Stofftrieb, d. h. ein Spieltrieb sein, weil nur die Einheit der Realität mit der Form, der Zufälligkeit mit der Notwendigkeit, des Leidens mit der Freiheit den Begriff der Menschheit vollendet.“17

Wie Kants und Fichtes Transzendentalphilosophien fordert auch Schillers Vernunft weder die Subsumierung der Natur (Stofftrieb) unter den Geist (Formtrieb) nach der Relation der Kausalität noch die invertierte Alternative. Denn beides sind Lösungen, gehören einem vorkritischen Idealismus und einem vorkritischen Empirismus an. Schillers Vernunft fordert im Gegensatz zu Kant und Fichte aber auch keine Lösung des Gegensatzes von Natur und Geist, die Vernichtung des nicht-rationellen Elements der Entgegensetzung Die ästhetische Vernunft fordert vielmehr eine harmonische Wechselwirkung von Natur und Geist im Menschen: eine Gemeinschaft von Natur und Geist, in der ein harmonisches (schönes) Verhältnis zwischen Materie (Natur) und Form (Geist) stattfindet. Dieses Verhältnis entsteht dadurch, daß weder die Natur noch der Geist das Primat in der Bestimmung der gegenseitigen Beziehung beansprucht. Die herzustellende Gemeinschaft soll für Schiller also schön (i. e. harmonisch) sein. Dies impliziert erstens, daß die Begriffe ‚vollendeter Mensch‘ und ‚schöner Mensch‘ Synonyme sind; zweitens, daß sich die Idee der Schönheit „als eine notwendige Bedingung der Menschheit aufzeigen lassen [müßte]“18. Die Idee der Vollendung der Menschheit ist deshalb für das ästhetische Denken ohne die Idee der Schönheit und deren Verwirklichung undenkbar. „Sobald sie [sc. die (ästhetische) Vernunft] demnach den Ausspruch tut: es soll eine Menschheit existieren, so hat sie eben dadurch das Gesetz aufgestellt: es soll eine Schönheit sein.“19

2. Die grundlegend duale Natur des ästhetischen Denkens Natur und Geist sollen für Schiller nach dem Primat der ästhetischen Vernunft in der Wechselwirkung, die beide vereinigt, als ebenbürtig behandelt werden. Wenn diese Wechselwirkung hingegen nach dem Primat der praktischen (Idee der Freiheit) oder der theoretischen Vernunft (i. e. Notwendigkeit) gedacht wird, dann kann diese Ebenbürtigkeit nicht als endgültige Form der Beziehung bestimmt werden. Denn einerseits soll nach dem Primat der praktischen Vernunft die antagonistische Wechselwirkung zwischen Geist und Natur in der Einheit der Idee absoluter Freiheit aufgelöst 17  SW

V, 615. V, 600. 19  SW V, 615. 18  SW



Schillers transzendentalphilosophischer Naturbegriff241

werden (auch wenn das nur idealiter zu verstehen ist), andererseits soll nach dem Primat der theoretischen Vernunft diese Zwietracht in einer mechanistischen Erklärung der Totalität der Realität aufgelöst werden. Beide Lösungen haben aber für Schiller ihre Rechtfertigung ausschließlich innerhalb ihrer Gültigkeitsbereiche (des Praktischen oder des Theoretischen). Die Arbeit des jeweiligen Rechtfertigens wird in jedem der Fälle durch eine Denkungsart durchgeführt, die sich vom jeweiligen Vernunftprimat her im voraus schon bestimmt hat. Um zu verstehen, warum Geist und Natur nicht in eine Einheit aufgelöst werden sollen, muß sich das Denken nach dem Primat der ästhetischen Vernunft bestimmen. Nach diesem Primat soll das Prinzip das Schema der Ebenbürtigkeit (als eine unüberwindbare Dualität) zwischen Natur und Geist widerspiegeln. Die Grundlage des ästhetischen Denkens soll demnach eine duale sein. Die Erklärung dieser dualen Struktur in der Grundlage des ästhetischen Denkens findet sich zu Beginn der Ästhetischen Briefe: „Ich werde die Sache der Schönheit vor einem Herzen führen, das ihre ganze Macht empfindet und ausübt und bei einer Untersuchung, wo man ebensooft genötigt ist, sich auf Gefühle als auf Grundsätze zu berufen, den schwersten Teil meines Geschäfts auf sich nehmen wird.“20

Natur und Geist werden in Gefühlen und Grundsätzen repräsentiert. Jene Instanzen machen die zwiefache Grundlage des ästhetischen Denkens aus. Die Natur ist weder ein absolut Erstes noch ein Zweites im Sinne einer Aufstellung von Prinzipien. Natur und Geist sollen nach Schiller als ebenbürtige Prinzipien betrachtet werden. Um deren Dualität zu überwinden, postuliert das ästhetische Denken eine höhere Einheit. Und um diese Dualität der Grundlage in ihrem Element erfahren zu können, soll das Denken die Dynamik eines Schwebens zwischen Pflicht (Geist) und Neigung (Natur) annehmen, wie es an verschiedenen Stellen der Ästhetischen Briefe angedeutet wird. Während die Bewegung des Fichteschen Strebens von einem Moment der Entgegensetzung und durch die Forderung nach absoluter Einheit bzw. absoluter sittlicher Freiheit verursacht wird, wird das Schweben des ästhetischen Denkens durch eine besondere Freiheit ermöglicht, die ich hier im Gegensatz zur sittlichen Freiheit ästhetische Freiheit nennen möchte. Den Unterschied zwischen beiden Freiheitsarten erklärt Schiller auf folgende Weise: „Um aller Mißdeutung vorzubeugen, bemerke ich, daß sooft hier von Freiheit die Rede ist, nicht diejenige gemeint ist, die dem Menschen als Intelligenz betrachtet, notwendig zukommt und ihm weder gegeben noch genommen werden kann, sondern diejenige, welche sich auf seine gemischte Natur gründet. Dadurch, daß der Mensch überhaupt nur vernünftig handelt, beweist er eine Freiheit der ersten Art, 20  SW

V, 570.

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dadurch, daß er in den Schranken des Stoffes vernünftig und unter Gesetzen der Vernunft materiell handelt, beweist er eine Freiheit der zweiten Art.“21

Die ästhetische Freiheit gründet sich dann in der gemischten (dualen) Natur des Menschen, nicht in der absoluten Einheit der Vernunft bzw. des absoluten Ich (denn Schiller meint im oben zitierten Text mit ‚Intelligenz‘ nicht Fichtes Begriff des Ich als Intelligenz). Diese Freiheit ist zwar eine Einheit, aber eine Einheit, die aus der Dualität von Geist und Natur entsteht – also nicht diejenige, die durch Reflexion (Selbsteinschränkung) zur Dualität wird, wie in Fichtes absolutem Ich. Die Natur ist für Schiller deshalb auch Ursache der Freiheit des ästhetischen Denkens, insofern diese Freiheit „eine Wirkung der Natur“22 ist. Sie ist erst nach einem Naturprozeß m ­ öglich, durch den „der Mensch vollständig ist und seine beiden Grundtriebe [sc. Geist und Natur sich als Formtrieb und Stofftrieb23] sich entwickelt haben“24. Die ästhetische Freiheit ist eine Freiheit sowohl gegenüber der Pflicht als auch gegenüber der Neigung, sagt Schiller25, also: Freiheit von den An­sprüchen beider, einziges Prinzip sein zu sollen. Diese Freiheit ist keine Negation von Pflicht und Neigung, sondern bedeutet eine Distanzierung von den Ansprüchen beider. Darüber hinaus integriert die ästhetische Freiheit eben das, wovon sie sich als einander ausschließenden Gegensätzen distanziert. Die Synthesis des Vernünftigen und des Natürlichen im Menschen. Sie ist Bedingung der Möglichkeit ästhetischer Freiheit, ein Schweben des ästhetischen Denkens, eine Harmonie zwischen Geist und Natur, oder ein Gleichgewicht zwischen beiden, in dem Sinnlichkeit und Vernunft zugleich tätig sind26. Beide sind stark genug, um nicht durch ihr Entgegengesetztsein vernichtet zu werden. Die Harmonie ist demnach für Schiller eigentlich nicht die Abwesenheit von Konflikten, sondern deren Maximum, in dem weder Geist noch Natur sich durchsetzen können: „Die Schalen einer Waage stehen gleich, wenn sie leer sind; sie stehen aber auch gleich, wenn sie gleiche Gewichte erhalten“27. Dieses Verhältnis zwischen ästhetischer Freiheit und Vernunft und Natur oder Pflicht und Neigung spiegelt sich in der Struktur des ästhetischen Denkens wider. Denn dieses Denken setzt, auf Vernunft und auf Natur gegründet, andere Denkungsarten als Bedingung ihrer Möglichkeit voraus. In diesem Sinne ist das ästhetische Denken eine Einheit in der und durch die Dualität, eine 21  SW

V, 631. V, 632. 23  Vgl. SW V, 604 ff. 24  SW V, 632. 25  SW V, 576. 26  SW V, 633. 27  Ebd. 22  SW



Schillers transzendentalphilosophischer Naturbegriff243

Einheit, die aus einer ursprünglichen Dualität (zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, Geist und Natur) entsteht. Natur und Geist vereinigen sich nach dem Gesagten im ästhetischen Denken. Schiller nennt diese Denkungsart die des ‚Herzens‘: d. h. ein sowohl sinnlich als auch vernünftig angetriebenes Denken28. Die Freiheit des Herzens besteht deshalb nicht in der Behauptung der Freiheit in Entgegensetzung zu dem, was nicht frei ist, sondern darin, daß das Herz das Nicht-Freie erscheinen läßt, als sei es frei von den Nötigungen der Natur-Notwendigkeit, so als habe das Nicht-Freie die Freiheit des ästhetischen Denkens29. Keine Achtung (Primat der praktischen Vernunft), keine Begierde (Primat der Sinnlichkeit), sondern Liebe (Primat der ästhetischen Vernunft) ist also der eigentümliche Bezug des ästhetischen Denkens zur Natur, denn sie ist eines der konstitutiven Elemente des Menschen. – So kommen wir zur zweiten Betrachtung der Natur bei Schiller: Natur als Erscheinung (für das ästhetische Denken). II. Die Natur als ästhetische Erscheinung: Die schöne Natur Die Liebe ist für Schiller das einzig mögliche Subjekt-Objekt-Verhältnis, in dem Subjekt und Objekt frei zu sein scheinen. Erst durch die Liebe sieht das ästhetische Denken, bzw. das Herz, das Schöne aus seinem Element, d. h. als Freiheit in der Erscheinung, hervorgehen. Das Herz betrachtet das Objekt und mithin auch die Natur (als Inbegriff aller Erscheinungen) weder als etwas Angenehmes (sinnliche Perspektive) noch als Quantum (theoretische Aussicht) noch als Material sittlichen Handelns (praktischer Gesichtspunkt): „Alle Dinge, die irgend in der Erscheinung vorkommen können, lassen sich unter vier verschiedenen Beziehungen denken. Eine Sache kann sich unmittelbar auf unsern sinnlichen Zustand (unser Dasein und Wohlsein) beziehen; das ist ihre 28  In den ästhetischen Briefen wird ein solches Denken zwar auch Einbildungskraft genannt, nicht aber als abstrakte naturwidrige Phantasie (vgl. SW V, 598) oder „schwindelnde Imagination“ (SW V, 648) bezeichnet. Schillers Begriff vom Denken als Einbildungskraft läßt sich nicht als ein besonderes Vermögen unter anderen innerhalb einer theoretischen Erkenntnisstruktur erklären (vgl. SW V, 583). Als ästhetische Einbildungskraft ist das Herz vielmehr das einzige Vermögen, das die ursprünglichen und entgegengesetzten Momente im Menschen synthetisieren kann (vgl. SW V, 594, 596). Das ästhetische Denken ist ein freies Vermögen (vgl. SW V, 627) und ist eben deshalb eines Kunsterlebnisses fähig – im Sinne sowohl der Anschauung eines Kunstwerks (vgl. SW V, 638) als auch seiner Schaffung (vgl. SW V, 572). Zu dieser inneren Differenzierung der Einbildungskraft bei Schiller siehe auch SW V, 664. 29  Vgl. SW V, 634 Fn.

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physische Beschaffenheit. Oder sie kann sich auf den Verstand beziehen und uns Erkenntnis verschaffen; das ist ihre logische Beschaffenheit. Oder sie kann sich auf unsern Willen beziehen und als ein Gegenstand der Wahl für ein vernünftiges Wesen betrachtet werden; das ist ihre moralische Beschaffenheit. Oder endlich, sie kann sich auf das Ganze unsrer verschiedenen Kräfte beziehen, ohne für eine einzelne derselben ein bestimmtes Objekt zu sein, das ist ihre ästhetische Beschaffenheit.“30

1. Natur und ästhetische Freiheit Nach den Ästhetischen Briefen ist die Natur, als Erscheinung verstanden, für das ästhetische Denken eine Erscheinung der ästhetischen Freiheit. Für die Transzendentalphilosophien von Kant und Fichte erscheint die Natur in der ästhetischen Erfahrung allerdings auch, jedoch, mit Kant gesagt, als „Schema des Übersinnlichen“31. Das Übersinnliche sind für Kant und Fichte die sittlichen Ideen32. Die ästhetische Erfahrung ist also in Kants und Fichtes Philosophien vom Primat der praktischen Vernunft her gedacht. Für die Ästhetischen Briefe hingegen erscheint die Natur in der ästhetischen Erfahrung so, als sei sie befreit von der Aufgabe, Vehikel zur Anschauung der sittlichen Ideen zu sein. Die Natur gefällt dem ästhetischen Denken in der bloßen Betrachtung und durch ihre bloße Erscheinung, ohne daß dieses Denken in der Beurteilung „auf irgend ein Gesetz [Theorie] noch auf irgend­ einen Zweck [Praxis] Rücksicht [nimmt]“33. Das Übersinnliche, das sich nach den Ästhetischen Briefen in der ästhetisch freien Natur offenbart, ist eigentlich die Idee der Menschheit als Harmonie zwischen Geist und Natur: „Gäbe es aber Fälle, wo er [sc. der Mensch] diese doppelte Erfahrung zugleich machte, wo er sich zugleich als Materie fühlt und als Geist kennenlernte, so hätte er in diesen Fällen, und schlechterdings nur in diesen, eine vollständige An30  SW V, 633 Fn. Die Definition der Schönheit als Freiheit in der Erscheinung führt uns unmittelbar zurück zu Schillers wohlbekannter Passage in seinen KalliasBriefen: „Schönheit ist also nichts anders als Freiheit in der Erscheinung“ (SW V, 400). Der Rekurs auf diese Schrift vermag aber den Unterschied nicht sichtbar zu machen, der aus der Annahme des Primats der ästhetischen Vernunft entsteht. Denn obwohl der Ausdruck, den Schiller in den Kallias-Briefen und in den Ästhetischen Briefen verwendet, der gleiche ist, versteht Schiller in der ersten Schrift unter Freiheit die sittliche Freiheit, d. h., er bestimmt die Schönheit noch vom Primat der praktischen Vernunft her. Auch aus dem gleichen Grund vermeide ich, die vierfache Klassifizierung der verschiedenen Aussichten im Zitat auf die ähnliche Klassifizierung zu beziehen, die Schiller durch die Geschichte des überfallenen Menschen in den Kallias-Briefen illustriert (vgl. SW V, 405–407). 31  Kant: Kritik der Urteilskraft, in: AA V, 326. 32  Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft, in: AA V, 351–356; Fichte: System der Sittenlehre, in: GA I / 5, 308 f. 33  SW V, 634 Fn.



Schillers transzendentalphilosophischer Naturbegriff245 schauung seiner Menschheit, und der Gegenstand, der diese Anschauung ihm verschafte, würde ihm zu einem Symbol seiner ausgeführten Bestimmung, folglich (weil diese nur in der Allheit der Zeit zu erreichen ist) zu einer Darstellung des Unendlichen dienen.“34

Eine solche Erfahrung erhebt den Menschen nicht über seine Menschheit (Natur und Geist) hinaus. Eine Erhebung über die Sinnlichkeit und demzufolge über die menschliche Natur, deren Komponente das Sinnliche ist, kann zwar durch theoretische Kontemplation vollbracht werden, im Element des Ästhetischen aber findet diese Überwindung der menschlichen Dualität nicht statt. Denn die Ideen, die sich in der ästhetischen Erfahrung offenbaren, affirmieren und unterstützen die Zugehörigkeit des Menschen zur Natur: „Die Schönheit ist allerdings das Werk der freien Betrachtung, und wir treten mit ihr in die Welt der Ideen – aber was wohl zu bemerken ist, ohne darum die sinnliche Welt zu verlassen, wie bei Erkenntnis der Wahrheit geschieht.“35

Der Mensch identifiziert sich dann mit der Natur, wenn er durch die ästhetische Erfahrung bzw. Anschauung der Menschheit des Menschen (nicht des Ich) in der Natur seine Freiheit und seine Bestimmung erkennt. Aber die Anerkennung der eigenen Freiheit und Bestimmung im nicht-menschlichen Element geschieht auf eine indirekte Weise. Denn die Natur stellt nicht die Freiheit des Menschen dar, sondern bloß ihre eigene scheinbare Freiheit. Das Individuum selbst muß dann durch Analogie die Naturfreiheit mit der Freiheit verbinden, die ihm als Menschen eigentümlich ist. Der Mensch schaut dann die scheinbare Freiheit der Natur an, was Schiller als Harmonie zwischen Form und Stoff sowohl in einem Kunstwerk als auch in einer Naturlandschaft definiert hat, und erst dadurch, daß die Natur dem Menschen selbst frei zu sein scheint, ermöglicht diese Anschauung, daß das Individuum seine menschliche Freiheit erfährt. 2. Natur als Person: Ästhetische Intersubjektivität Die Natur erscheint aus dieser ästhetischen Perspektive dann nicht bloß als Objekt, sondern eher als Person, d. h. als Subjekt im Sinne von Selbstzweck. Deswegen schließen die Ästhetischen Briefe vom Begriff der Natur ihre Charakterisierung als „Mittel“ aus. Die ästhetische Erfahrung der Natur wird demnach in den Ästhetischen Briefen zu einer Form von Intersubjektivität36. Sie wird zu einer Beziehung zwischen Mensch und Natur, als ob 34  SW

V, 612. V, 653. 36  Hierzu siehe meinen Aufsatz „Schiller and the Recognition of the Other in his or her Otherness. The challenge of thinking Intersubjectivity according to a Logic of the Difference“, in: Pensamiento 68 (2012) 225–247. 35  SW

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beide Personen wären. Ästhetische Erfahrung der Natur heißt demnach Liebe zur Natur, aber nicht im Sinne von Schillers Über Anmut und Würde, denn da versteht Schiller die Liebe als ein Subjekt-Objekt-Verhältnis in moralischem Sinn37, sondern in ausschließlich ästhetischem Sinn als Produkt der Einbildungskraft. In diesem Sinne ist die Liebe als intersubjektive Beziehung zwischen Mensch und Natur etwas Imaginäres, oder, mit Schillers Worten: ästhetischer Schein. Das Subjekt der ästhetischen Erfahrung ist freilich das ästhetische Denken, aber genau gesehen ist dieses Subjekt der Mensch, und zwar vom Primat der ästhetischen Vernunft her gedacht. Die ästhetische Bestimmung des Menschen, auf deren Rechtfertigung alle Bemühungen in den Ästhetischen Briefen gerichtet sind, ist nicht, ein Ich werden zu wollen, d. h. als ein Ich in der Welt zu handeln, sondern als edle Seele, d. h. als schöne Wechselwirkung zwischen Natur und Geist, in der Welt leben zu lernen. Nach dem Primat der ästhetischen Vernunft wird eine Wechselwirkung zwischen Geist und Natur gefordert, deren Ziel nicht die Vernichtung einer der Seiten der Relation, sondern ein Gleichgewicht von Natur und Geist ist. Das Ziel ist die Herstellung der Harmonie zwischen Materie (Natur) und Form (Geist) im Menschen. Der Mensch ist demnach für Schiller nicht nur berufen, sittlich zu sein, sondern eben als schön zu scheinen38. In der oben erwähnten Identifizierung der scheinbaren Freiheit der Natur mit der ästhetischen Freiheit des Menschen fühlt sich der Mensch als lebendige Harmonie zwischen seinen beiden Polen (Sinnlichkeit und Vernunft). Er fühlt sich weder von der einen noch von der anderen Seite seiner Natur gezwungen, sondern zwitterartig, weil er zwischen beiden Polen schwebt: „Mein Verstand wirkt eigentlich mehr symbolisierend, und so schwebe ich, als eine Zwitterart, zwischen dem Begriff und der Anschauung, zwischen der Regel und der Empfindung, zwischen dem technischen Kopf und dem Genie.“39

Der Mensch erfährt in der Freiheit der Natur seine eigene (ästhetische) Freiheit, d. h. die Totalität seiner Natur, und zwar in Harmonie. Die ästhetische Betrachtung der Natur veranlaßt darüber hinaus das Gefühl, daß man in dieser sinnlichen Welt die ästhetisch angeschaute Totalität der menschlichen Natur realisieren kann, d. h. in einer Welt zu leben, in der man als Mensch, d. h. als Dualität von Geist und Natur, (ästhetisch) frei sein kann. Dieser Menschenbegriff realisiert sich in der Form einer besonderen Intersubjektivität, nämlich in der Behandlung der Natur, als ob sie frei und 37  SW

V, 483. V, 645. 39  Schiller: „Brief an Goethe, 31.8.1794“, in: NA XXVII, 32. 38  SW



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deshalb Person wäre. Die Betrachtung der Natur als Person bedeutet, daß die Natur als Endzweck behandelt wird. Dies hatten zwar Kant und Fichte schon gesehen. Kant hatte diese Art von Betrachtung in seiner dritten Kritik als ästhetisch bestimmt und thematisiert40. Fichte seinerseits denkt in seinen Vorlesungen über die Wissenschaftslehre nova methodo über eine Art von Freiheit und Selbständigkeit der Natur nach, als ein Moment der Bestimmung der Natur als ein organisiertes Wesen. Die Freiheit der Natur ist wie bei Kant „ein Analogon der [moralischen] Freiheit“41. Aber für beide bleibt diese Betrachtung der Natur der theoretischen und der praktischen Bestimmung der Natur untergeordnet (nämlich als Quanta und Material zur sittlichen Handlung). Deshalb ist für Kant und Fichte Intersubjektivität ausschließlich Wechselwirkung zwischen moralischen Wesen, und das Verhältnis zur Natur soll für beide Philosophen unter der Kategorie der theoretischen bzw. praktischen Kausalität begriffen werden. Die ästhetische Intersubjektivität, wie sie in den Ästhetischen Briefen Schiller präsentiert, umfaßt hingegen nicht nur die Wechselwirkung zwischen Menschen, sondern auch die zwischen Mensch und Natur. Den Menschen, der fähig ist, sich selbst und sein Anderes (andere Menschen und die Natur) in der ästhetischen Intersubjektivität als frei anzuerkennen, nennt Schiller „edle Seele“. Die Umwelt der edlen Seele wird in den Ästhetischen Briefen ein ästhetischer Zustand genannt. Es ist ein Zustand des (ästhetischen, nicht logischen) Scheins42, d. h. ein Zustand, in dem alles frei zu sein scheint. Die edle Seele betrachtet nach Schiller ihre Umwelt, als sei diese frei. Man könnte sagen, daß die edle Seele ihre Umwelt liebt, da sie ihre Umwelt idealisiert. „Edel ist überhaupt ein Gemüt zu nennen, welches die Gabe besitzt, auch das beschränkteste Geschäft und den kleinlichsten Gegenstand durch die Behandlungsweise in ein Unendliches zu verwandeln. Edel heißt jede Form, welche dem, was seiner Natur nach bloß dient (bloßes Mittel ist), das Gepräge der Selbstständigkeit aufdrückt. Ein edler Geist begnügt sich nicht damit, selbst frei zu sein, er muß alles andere um sich her, auch das Leblose in Freiheit setzen. Schönheit aber ist der einzig mögliche Ausdruck der Freiheit in der Erscheinung.“43

Transzendentalphilosophisch betrachtet ist jede Erscheinung ein Faktum, das als solches auf ein facere (tun bzw. machen) als seine Bedingung der Möglichkeit zurückbezogen ist. In Schillers transzendentalem Naturbegriff ist die Natur als Schein Faktum eines Tuns: Produkt der Aktivität der Einbildungskraft. 40  Kant:

Kritik der Urteilskraft, in: AA V, 367, 379–384. Wissenschaftslehre nova methodo – Nachschrift Krause, in: GA IV / 3,

41  Fichte:

518 (§ 19). 42  Vgl. SW V, 657. 43  SW V, 644 Fn.

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„Die Realität der Dinge ist ihr (der Dinge) Werk; der Schein der Dinge ist des Menschen Werk, und ein Gemüt, das sich am Scheine weidet, ergötzt sich schon nicht mehr an dem, was es empfängt, sondern an dem, was es tut.“44

Die idealisierte Natur umfaßt auch die Natur in der Konstitution des individuellen Menschen. Sein Körper, sein Charakter, sein Temperament, alles, was die Partikularität des Individuums als dieses konkrete Individuum, das mir begegnet, ausmacht, betrachte ich dann, als ob es kein Mittel zu etwas wäre, sondern Selbstzweck. Deshalb soll ich in der ästhetischen Intersubjektivität das Fremde als Fremdes anerkennen, d. h. als das, was meinem jeweiligen Anderen wesentlich konstitutiv ist. Es geht hier darum, das Fremde in seiner Fremdheit (d. h. in dem, was das Fremde von mir absolut unterscheidet) sein zu lassen und es nicht, wie in der sittlichen Intersubjektivität, als dem Individuum (als Vernunftwesen) nicht wesentlich angehörend (Heteronomie) in der Idee des reinen Willens aufzuheben. Anerkennung der ästhetischen Freiheit im Anderen ist also Anerkennung seiner unauflösbaren Differenz zu mir und mithin Anerkennung dessen, was mich und meine jeweiligen Anderen zu unwiederholbaren (unersetzbaren) Individuen macht: Anerkennung der Menschen als Menschen und nicht bloß als Vernunftwesen mit Körpern. Diese Idee des Wertes der Anerkennung des Fremden in seiner absoluten Andersheit bringt Schiller auf folgende Weise zur Sprache: „Wie können wir, bei noch so lobenswürdigen Maximen, billig, gütig und menschlich gegen andere sein, wenn uns das Vermögen fehlt, fremde Natur treu und wahr in uns aufzunehmen, fremde Situationen uns anzueignen, fremde Gefühle zu den unsrigen zu machen?“45

Im Fall des Verhältnisses zur Natur als Person ermöglicht die ästhetische Intersubjektivität, daß der Mensch lernt, Differenzen zu ertragen, sie sprechen zu lassen. Die ästhetische Intersubjektivität ermöglicht Einstellungen zum anderen, die die Vernunft in ihrem theoretischen oder praktischen Gebrauch weder fordert noch realisieren könnte: „Die Natur mag unsere Organe noch so nachdrücklich und so vielfach berühren – alle ihre Mannigfaltigkeit ist verloren für uns [sc. theoretische bzw. praktische Vernunftwesen], weil wir nichts in ihr suchen, als was wir in sie hineingelegt haben, weil wir ihr nicht erlauben, sich gegen uns herein zu bewegen, sondern vielmehr mit ungeduldig vorgreifender Vernunft gegen sie hinaus streben.“46

III. Schluß Sobald das Primat der ästhetischen Vernunft angenommen wird, wird die intime und grundlegende Verbindung zwischen Menschheit und Schönheit 44  SW

V, 656. V, 610 Fn. 46  SW V, 609 Fn. 45  SW



Schillers transzendentalphilosophischer Naturbegriff249

ersichtlich, auf deren Erweis die Ästhetischen Briefe abzielen, wie es Schiller selbst zu Beginn dieser Schrift deutlich ankündigt. So läßt sich ein Naturbegriff in den Ästhetischen Briefen rekonstruieren, der ersehen läßt, wo der echte Unterschied zwischen Schiller, Kant und Fichte als Formen der Transzendentalphilosophie liegt. Schillers transzendentalphilosophischer Naturbegriff eröffnet ein Gebiet des menschlichen Daseins, in dem zentrale Begriffe der transzendentalen Philosophie wie Freiheit, Pflicht, Notwendigkeit und Intersubjektivität eine Bedeutung erhalten, die in den Philosophien von Kant und Fichte nicht zu finden sind. Nicht zuletzt zeigt die Rekonstruktion von Schillers Naturbegriff das Potential der transzendentalen Philosophie hinsichtlich zeitgenössischer philosophischer Debatten, wie z. B. der Debatte über eine Anerkennung von Rechten der Tiere, zu der Schillers Konzeption der Natur als Person einen Beitrag liefern kann. Der vorliegende Aufsatz zielte darauf ab, die Originalität der Konzeption der Natur in Schillers Ästhetischen Briefen zu präsentieren, um dadurch aufzuweisen, daß die Konzeptionen der Natur, die uns die Transzendentalphilosophie des 18. Jahrhunderts anbieten kann, sich nicht ausschließlich auf die Beiträge von Kant und Fichte beschränken. Ein solches Plädoyer für die Pluralität von Naturkonzeptionen innerhalb der Transzendentalphilosophie zielt darauf ab, die inneren Möglichkeiten der Transzendentalphilosophie gegenwärtig zu machen, so daß der Unterschied einerseits zwischen Schillers transzendentalphilosophischer Naturkonzeption und der Naturkonzeption in den Systemen der Transzendentalphilosophie des 18. Jahrhunderts (Kants und Fichtes) und andererseits zwischen ihnen und unseren Naturkonzeptionen ersichtlich bzw. vernehmbar wird. In diesem Unterschied zu verweilen, um von dem Anderen unserer Gegenwart lernen zu können und so unsere eigene Position in Auseinandersetzung mit diesem Anderen zu bestimmen, bzw. zu begrenzen, und damit unsere Limitationen und unser Potential schätzen zu lernen, war das Interesse des vorliegenden Versuchs. Es geht deshalb nicht um eine Angelegenheit der Vergangenheit, sondern um gegenwärtige Möglichkeiten transzendentalphilosophischen Denkens. Es sei darum und zuletzt folgendes bemerkt: hier war ausschließlich die Rede von einem Unterschied, der zu denken gibt, dem Unterschied zwischen dem, was wir schon wissen, und dem, was unser Wissen nicht umfaßt und ihm deshalb eine Transformation zumutet47. Es war hier also von demjenigen Unterschied die Rede, der die Bedingung der Möglichkeit allen Lernens ist. 47  Hierzu siehe H. Boeder: „The Distinction of Reason“, in: H. Boeder: Seditions: Heidegger and the Limit of Modernity, Albany, N.Y. 1997, 101–109.

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Bibliographie Acosta, E.: „Exposición categorial del pensar en Schiller“, in: Anuario Argentino de Germanística II (2006) 51–61. – Schiller versus Fichte. Schiller versus Fichte. Schillers Begriff der Person in der Zeit und Fichtes Kategorie der Wechselbestimmung im Widerstreit, Amsterdam / New York 2011. – „Schiller and the Recognition of the Other in his or her Otherness. The challenge of thinking Intersubjectivity according to a Logic of the Difference“, in: Pensamiento, vol. 68, n. 256 (2012) 225–247. Amann, W.: ‚Die stille Arbeit des Geschmacks‘. Die Kategorie des Geschmacks in der Ästhetik Schillers und in den Debatten der Aufklärung, Würzburg 1999. Beiser, F.: Schiller as Philosopher: A Re-Examination, Oxford 2005. Boeder, H.: Topologie der Metaphysik, Freiburg / München 1980. – Seditions: Heidegger and the Limit of Modernity, ed. and trans. by M. Brainard, Albany, N.Y. 1997. – Die Installationen der Submoderne. Zur Tektonik der heutigen Philosophie, Würzburg 2006. Bolten, J. (Hrsg.): Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung, Frankfurt a. M. 1984. Düsing, W.: „Ästhetische Form als Darstellung der Subjektivität. Zur Rezeption kantischer Begriffe in Schillers Ästhetik“, in: Friedrich Schiller. Zur Geschichtlichkeit seines Werkes, Kronberg 1975. – „Kommentar“, in: Friedrich Schiller. ‚Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen‘. Text, Materialien, Kommentar, München / Wien 1980, 111–167. Pott, H.-G.: Die schöne Freiheit, München 1980. Wilkinson, E.: „Zur Sprache und Struktur der Ästhetischen Briefe. Betrachtung beim Anschluß einer mühevoll verfertigt Übersetzung ins Englische“, in: Akzente 6 (1959) 389–418. Wilkinson, E. / Willoughby, L. A.: „Introduction“, in: F. Schiller: On the Aesthetic Education of Man, Oxford 1982.

Die Natur und Ich: Über Aktualität und Bedeutung von Hegels Naturalismuskritik Christoph Binkelmann Die Natur ist heutzutage in aller Munde. Sie dominiert unsere Lebenswelt: Um sie zu bewahren, trennen wir täglich Müll. Um ihrer Authentizität nahezukommen, kaufen wir überteuerte Bioprodukte, machen Urlaub im Grünen, horchen tief in sie hinein und folgen ihrem Vorbild. Die Natur steht auch im Fokus der Wissenschaften und der sie fördernden Institutionen. Die Naturwissenschaften kassieren die höchsten Fördergelder, und dies zu Recht: Denn wer die Natur kennt, kann Menschen von Krankheiten heilen, die Bequemlichkeit im Alltag befördern, die Umwelt des Menschen bewahren und so umgestalten, daß ein besseres Leben für alle möglich wird. Also muß sich auch die Philosophie der Natur widmen. Ein Großteil der aktuell diskutierten philosophischen Positionen ist – wenn nicht auf postmodernen oder christlichen Sonderwegen – auf die Natur fixiert, oder deutlicher: er ist von naturalistischen Überzeugungen dominiert. Das ist freilich eine harte These. Viele werden sich jetzt fragen, was das denn eigentlich bedeutet: „Naturalismus“. Welche Überzeugung macht eine Theorie zu einer naturalistischen Theorie? Zu dieser Frage gibt es selbstverständlich Myriaden von Definitionsversuchen in der Forschungsliteratur1. Auch hier gilt die alte logische Trivialität: Je enger man den Naturalismus definiert, desto weniger Theorien fallen darunter. Um meine harte These zu unterstützen, werde ich einen weiten Begriff voraussetzen: Als Naturalismus bezeichne ich alle diejenigen philosophischen Theorien, welche die Natur zum einzigen und letzten der gesamten Wirklichkeit zugrundeliegenden Fundament ernennen. Altmodisch ausgedrückt: Die Natur ist die Substanz von allem, das Sein in allem Seienden. Das bedeutet nun nicht, daß alles – mithin auch geistige Prozesse – auf Natur reduzierbar wäre, sondern ledig1  Stellvertretend seien hier genannt: Ludger Honnefelder / Matthias C. Schmidt (Hrsg.): Naturalismus als Paradigma. Wie weit reicht die naturwissenschaftliche Erklärung des Menschen? Berlin 2007; Thomas Sukopp / Gerhard Vollmer (Hrsg.): Naturalismus: Positionen, Perspektiven, Probleme, Tübingen 2007; Geert Keil / Herbert Schnädelbach (Hrsg.): Naturalismus. Philosophische Beiträge, Frankfurt a. M. 2000.

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lich: daß alles weitere – also auch geistige Prozesse – darauf „aufruhen“ – auf welche Weise auch immer. Diese Vorstellung begleitet gleichermaßen die sogenannten epiphänomenalen Modelle wie diejenigen der Emergenz oder Supervenienz2. Die Natur liegt zu Grunde; alles, was ist, sprießt aus der Natur; vielleicht macht es sich selbständig und entflieht der Natur. Dies ändert nichts daran, daß es am Ende, d. h., wenn die Herkunftsfrage radikal zu Ende verfolgt wird, dort herkam. Der Geist kann seine Herkunft letztlich nicht verleugnen; er kann tun, was er will: einmal Natur, immer Natur. Was bedeutet das? Oder präziser: Was verstehe ich hier eigentlich unter Natur? Sicherlich nicht das Konstrukt der Naturwissenschaften; diese sind in ihrem Vorgehen derivativ bzw. sekundär und können daher mit der Vorstellung „Natur“ überhaupt nichts anfangen. Die Naturwissenschaften handeln gar nicht von der Natur. Um eine lange philosophische Diskussion brüsk abzukürzen, komme ich erneut mit einem Vorschlag: Natur ist der Inbegriff homöostatischer Prozesse. Der Natur geht es letztlich in allen ihren Gebilden und Konstellationen um Homöostase oder Selbsterhaltung – wie es früher genannt wurde. Auch in dieser Vorstellung gab und gibt es freilich unterschiedliche Ausprägungen; schon Hobbes und Spinoza differieren in ihrer Konzeption der Selbsterhaltung. Dennoch teilen sie eine Stoßrichtung, insofern jeder Begriff von Selbsterhaltung eine kritische Absetzbewegung impliziert: Hobbes wendet sich gegen die aristotelische Vorstellung von Teleologie oder Entelechie oder kurz: gegen die causa finalis als Erklärungsmodell der Wirklichkeit – darin ist er mit Spinoza einig3. Im weiteren geschichtlichen Verlauf gibt es eine Tendenz, auch noch das Selbst, das erhalten wird, aufzulösen: Es gibt keine festen Gattungen und Arten – dies lehrt die Evolution – es gibt kein zentral steuerndes Individuum; dies lehrt die Genetik. Wer strebt jetzt noch nach Selbsterhaltung? Nur noch das selfish gene à la Dawkins oder vielleicht auch das Gehirn4. Von diesen Unterschieden möchte ich absehen und im folgenden betrachten, was zu früherer Zeit gegen die naturalistische Dominanz von Natur und Selbsterhaltung vorgebracht wurde. Nicht von ungefähr prägen beide Begriffe das Denken Spinozas, des „Godfather“ des Naturalismus, der die 2  Diese Unterscheidungen werden vor allem in der Philosophie des Geistes getroffen. Vgl. dazu Ansgar Beckermann: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Berlin / New York 2001, 48, 203 f. 3  Vgl. die Entteleologisierung des Aristotelischen Begriffes der Glückseligkeit und ihr neues Verständnis im Zusammenhang der Selbsterhaltung bei Thomas ­Hobbes: Leviathan, Frankfurt a. M. 1984, 75, 95 (Teil I, Kap. 11 und 13). 4  Richard Dawkins: Das egoistische Gen, Hamburg 1996. Eine interessante Anknüpfung neurowissenschaftlicher Überlegungen an Spinoza und dessen Begriff der Selbsterhaltung liefert Antonio Damasio: Der Spinoza-Effekt, München 2007.



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Natur zur Substanz macht. Eine sehr profunde Kritik an diesem Konzept – detaillierter als bei seinem geistigen Vorgänger Johann Gottlieb Fichte – liefert Hegel an vielen Stellen in seinem Werk durch Rehabilitierung eines anderen Prinzips, nämlich des Geistes und seines Selbstbewußtseins5. Hegel hat in der Phänomenologie des Geistes und der Wissenschaft der Logik, aber auch im weniger bekannten zweiten Jenaer Systementwurf von 1804 / 05 explizit thematisiert, ob der Natur und deren Prinzip der Selbsterhaltung oder dem Geist und dem Prinzip der Subjektivität (Selbstbewußtsein) der Vorrang in der Wirklichkeitsbegründung gebührt. Sein impliziter Gesprächspartner ist dabei stets Spinoza. Interessant daran ist vor allem Hegels Theorie einer strukturellen Analogie in der Prozessualität von Natur und Geist, die ebenso deren strukturelle Differenz mitreflektiert. Im folgenden Kapitel werde ich zunächst diese Analogie darstellen, um anschließend der Differenz sowie der Frage meine Aufmerksamkeit zu widmen, warum nach Hegel ein Übergang zum Geist als Wirklichkeitsprinzip nötig ist. Anschließend wird auf die aktuelle Brisanz dieses Modells eingegangen. I. Die strukturelle Analogie von Selbsterhaltung und Selbstbewußtsein Die Analogie von Natur und Ich schildert Hegel vor allem im Kapitel über Selbstbewußtsein aus der Phänomenologie des Geistes. Dieses beginnt bekanntlich mit der Begierde, deren Gegenstand das natürliche Leben oder besser: das Lebendige ist. Hegel erörtert zunächst den Gegenstand, um im Anschluß zum „anderen Leben“, dem Ich, überzugehen, das sich dann seinerseits „bereichern und die Entfaltung erhalten [wird], welche wir an dem Leben gesehen haben“6. Das Ich erhält mithin die oder zumindest eine analoge Entfaltung zu derjenigen, die bereits am natürlichen Leben festgestellt wurde. Darum wenden wir uns zunächst dem natürlichen Leben zu, das im folgenden auch einfach „Leben“ genannt wird (wenn von Leben die Rede ist, meine ich also Natur). 5  Damit begebe ich mich gewissermaßen in die Höhle des Löwen. Über die immer noch andauernde Schwierigkeit, die Philosophie Hegels vor Fichte-Kennern anzupreisen und umgekehrt, vgl. Christoph Binkelmann: Theorie der praktischen Freiheit. Fichte – Hegel, Berlin / New York 2007, 11 f. Daß ich auch gute Worte zu Fichte in dieser Thematik finde, habe ich bewiesen in „Leben und leben lassen. Zum Stellenwert der Philosophie zwischen Lebenswissenschaften und Lebenswelt“, in: Carl Friedrich Gethmann (Hrsg.): Lebenswelt und Wissenschaft. Akten des XXI. Deutschen Kongresses für Philosophie, Hamburg 2011, 893–908. 6  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1986, 143.

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Hegel thematisiert die „Bestimmung des Lebens, wie sie sich aus dem Begriffe oder dem allgemeinen Resultate ergibt“7. Obzwar diese Terminologie an dieser Stelle nicht verwendet wird, weiß man aus anderen Schriften (wie der Wissenschaft der Logik) oder auch von anderer Stelle der Phänomenologie, daß für Hegel das Leben durch drei „Selbsterhaltungsprozesse“ im weitesten Sinne konstituiert wird: 1. die interne Selbsterhaltung des Organismus, 2. die Selbsterhaltung des Lebendigen durch Assimilation der Umwelt (z. B. durch Nahrungsaufnahme) sowie 3. die kopulative Selbsterhaltung der Gattung oder Art. In allen drei Prozessen variiert der Begriff des Selbst, das erhalten wird. Gemäß den Momenten des Begriffs, über den man Näheres in Hegels Begriffslogik erfährt, wird das Selbst einmal als Einzelnes erhalten (der in sich funktionierende Organismus), dann als Besonderes (das in seine Umwelt eingepaßte und mit dieser im ständigen Austausch stehende Lebewesen) und schließlich als Allgemeines (die Gattung). Hinterfragt man die Tätigkeitsstruktur der Selbsterhaltung – also die Erhaltung als solche –, dann liegt die Vermutung nahe, es handle sich um eine Art von Reproduktion: Etwas bereits Vorhandenes (ein Selbst) wird durch die Tätigkeit erhalten. Hegel betont gegen diese statische oder diskrete Vorstellung die Dynamik: Das jeweilige Selbst, das sich erhält, existiert überhaupt erst durch diesen Akt, oder anders gesagt: es ist dieser Akt. Der Organismus ist identisch mit den homöostatischen Prozessen, wie die Gattung nichts anderes als der Prozeß der Fortpflanzung ist. Ein analytischdiskretes Herangehen an den Begriff der Selbsterhaltung ist zum Scheitern verurteilt: In der Aussage „Etwas erhält sich“ kann man Subjekt, Prädikat und Objekt nicht sinnvollerweise unterscheiden: sie fallen alle in eins; in die dynamische Tätigkeit der Selbsterhaltung. Anders gesagt: Subjekt wie Objekt existieren mithin gar nicht abgelöst von der Tätigkeit; sie sind diejenigen Pole, die sich in der das Leben konstituierenden Tätigkeit ausdifferenzieren. Hier folgt Hegel einer Einsicht Spinozas, der die fundamentale Bedeutung der Selbsterhaltung (conatus in suo esse perservandi) hervorhob: Der Conatus ist nicht die Realisationsform eines für sich bestehenden Wesens, sondern er ist identisch mit dem Wesen8. In der Selbsterhaltung gibt es nun neben der „praktischen“ Tätigkeit der Erhaltung ebenso einen theoretischen Aspekt, der darin besteht, daß das selbstreferentielle „System“ kognitiv ist, d. h. über ein „Wissen“ von sich im weitesten Sinne verfügt. Die Rede von einer Selbsterhaltung setzt voraus, daß sich das Subjekt der Selbsterhaltung mit demjenigen, was es erhält, 7  Ebd.,

140. „Conatus, quo unaquaeque res in suo esse perseverare conatur, nihil est praeter ipsius rei actualem essentiam“ (III, prop. 7), in: ders.: Ethica. Opera II, hrsg. von Konrad Blumenstock, Darmstadt 2008, 272. 8  Spinoza:



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kognitiv identifiziert, beide als eins weiß. Auch das selfish gene muß die Information darüber in sich enthalten, was es selbst ist, um sich erhalten zu können. In diesem Sinn kann man an der Selbsterhaltung eine praktische und eine theoretische Selbstreferenz unterscheiden, wiewohl beide nicht getrennt voneinander vorliegen, sondern gewissermaßen verschiedene Aspekte in einem lebendigen Vollzug, dem Vollzug der Natur, darstellen. Diese selbstbezüglichen Momente bedürfen der Ergänzung durch einen Fremd- bzw. Umweltbezug. Die praktische Reproduktion impliziert ein Verhalten zum Anderen (als des Selbst), wie auch das Selbstwissen stets ein Wissen um das Andere einschließt. Den drei Konzepten des Selbst in den drei Arten der Selbsterhaltung korrelieren nun drei Konzepte des Anderen: 1. Das Andere bei der internen Selbsterhaltung des einzelnen Organismus erscheint als das Andere im Organismus. Dazu zählt dasjenige im Organismus, was das reibungslose Ablaufen unterbricht und zu zerstören droht (Krankheitserreger jeglicher Art). 2. Die Reproduktion des besonderen Lebendigen impliziert einen Selbstbegriff, der explizit durch Entgegensetzung zum Nicht-Lebendigen, der als anorganisch aufgefaßten Umwelt, bestimmt ist. Dabei meint „anorganisch“ alles dasjenige, was in Bezug auf den eigenen Organismus steht, aber noch nicht in diesem ist. Die Selbsterhaltung vollzieht sich in diesem Fall durch Vernichtung oder Assimilation des Anorganischen im Lebendigen. 3. In der Fortpflanzung, mithin der eigentlichen Selbsterhaltung der Gattung, konstituiert sich die Umwelt kraft der selek­ tiven Wahrnehmung von Gattungsgenossen (des anderen Geschlechts). Sowohl das Selbst als auch das Andere werden unter dieselbe Gattungsallgemeinheit subsumiert; das Andere ist das Andere derselben Gattung. Wir werden noch genauer auf diese Lebensprozesse bei Hegel eingehen. Nun gilt es, ihre Gemeinsamkeiten mit dem Selbstbewußtsein aufzudecken. Diese bestehen zunächst einmal in den gerade unterschiedenen selbst- und fremdreferentiellen Momenten sowie insbesondere in deren analogem Verhältnis, nämlich von: 1. der Selbsterhaltung im Organismus und dem Selbstbewußtsein überhaupt; 2. Assimilation und Begierde sowie 3. Fortpflanzung und Anerkennung. Analogie meint hier und im folgenden lediglich, daß bei beiden Prozessen Verhältnisse (logoi) oder Verhaltensweisen, Tätigkeiten im weitesten Sinne, vorkommen, die über eine vergleichbare Struktur verfügen. Dabei wird die lange Ideengeschichte des Analogiebegriffs ausgeblendet9. Ad 1. Die Analogie von Selbstbewußtsein und Organismus – das Leben als geistige Vorform, der Geist als lebendige Einheit – ist ein häufig behan9  Wolfgang Kluxen: „Analogie“, I, in: Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel 1971, 214–227.

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deltes Thema in der Hegel-Forschung10. Beide Entitäten konstituieren sich durch eine „Bewegung in sich selbst“ (Selbstreflexion). Wie oben an der Selbsterhaltung im Allgemeinen gezeigt wurde, so gilt auch für das Selbstbewußtsein, daß Subjekt wie Objekt der Tätigkeit, nämlich das Ich, nicht unabhängig von der Tätigkeit existieren; sie entstehen erst im Akt der praktisch-theoretischen Identifikation. Des weiteren differenziert sich die Bewegung in sich aus: in Organe auf der Seite des sich selbst erhaltenden Organismus und in Gegenstandsvorstellungen auf der Seite des Selbstbewußtseins. Diese sind aber nur interne Momente der Tätigkeit, sie besitzen kein von der Tätigkeit unabhängiges Sein (an sich), sondern existieren in deren funktionellem Kontext, in deren Einheit. Hegel nennt sie deshalb Unterschiede, die keine sind11. Diese rein interne Betrachtung eines Lebewesens oder eines Ich ist indes einseitig. Dies erfordert einen Übergang zur nächsten Stufe: Ad 2. Ein Organismus kann sich nur selbst erhalten, wenn er in aktiver Beziehung zur Außenwelt steht und sich in diesem Austausch erhält; ein Selbstbewußtsein hat nur Vorstellungen, wenn diese sich auf etwas, das die „Gestalt des Seins“ besitzt, beziehen. Auf kognitiver Ebene führt dies zu einem konkreteren Begriff des Selbst, denn das Wissen vom Selbst als einer bestimmten Entität setzt das unterscheidende Wissen von einem Anderen voraus12. In beiden Fällen wird das Andere als Nicht-Selbst aufgefaßt, oder deutlicher: als Noch-Nicht-Selbst. Das Lebendige steht dem Anorganischen, das Selbstbewußtsein dem Lebendigen, also in Hegels System gesprochen: jeweils ihren Vorstufen, gegenüber. Die Selbsterhaltung erlangt in dieser Situation eine neue Bedeutung, insofern sich die Vorstellung des Selbst gewandelt hat. Das Selbst in der immanenten Erhaltung des Organismus wie im immanenten Vollzug des Selbstbewußtseins (1) ist kein möglicher distinkter Gegenstand eines kognitiven Aktes: Weil die Unterschiede verschwindend sind, enthält dieses Selbst keine distinkten Merkmale. Von unserem Organismus besitzen wir nur sehr undeutliche Informationen, die in vagen Gefühlen wie Schmerz und Lust vermittelt werden. Auch das Selbstbewußtsein deutet Hegel auf dieser Stufe eher in Form eines Selbstgefühls. Erst mit der expliziten Entgegensetzung gegen eine Umwelt (ein Noch-Nicht-Selbst) wird das Selbstwissen mit Inhalt angereichert. Beide Seiten sind, was das Andere jeweils nicht ist, und umgekehrt. Dementsprechend vollzieht sich die Selbsterhaltung, indem das jeweils Andere vernichtet wird; sei es in der natürlichen 10  Dies war nicht zuletzt Hauptthema des Kongresses der Internationalen HegelGesellschaft 2004 in Toulouse; einzusehen in Andreas Arndt (Hrsg.): Das Leben denken, 2 Teile, in: Hegel Jahrbuch (2006, 2007). 11  Hegel: Phänomenologie, 138; 140. 12  Dies gilt gemäß dem Spinoza zugeschriebenen Diktum: Omnis determinatio negatio est.



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Assimilation des Anorganischen oder in der das Lebendige verzehrenden Begierde. Der kognitive Fremdbezug wird durch Vernichtung des Anderen zur kognitiven Selbstreferenz (das Nicht-Selbst zum Selbst) und daher zum Wissen um eine reüssierte Selbsterhaltung. Das Problem dieser Prozesse und der Grund, warum laut Hegel zu einem anderen Prozeß übergegangen werden muß, lassen sich als ein Scheitern der Selbsterhaltung schildern. Bestimmt die jeweilige Entität ihr Selbstwissen durch Entgegensetzung gegen das Andere, so führt die Vernichtung desselben zugleich zur Vernichtung des differenzierten Selbstwissens; statt dessen tritt in der befriedigten Begierde oder Assimilation lediglich das augenblickliche, ephemere Selbstgefühl der Einzelheit wie auf der vorherigen Stufe auf, die aber sofort durch das neue Auftreten des Bedürfnisses abgelöst wird13. In beiden Fällen entsteht dadurch kein kontinuierliches Selbstwissen, keine theoretische Identität. Dasjenige Selbst, um das gewußt wird, wird durch die Tätigkeit nicht erhalten, folglich widersprechen sich der theoretische und der praktische Aspekt der Selbstreferenz: Das Selbst wird so im strengen Sinne nicht erhalten. Ad 3. Um diesen Widerspruch in der Selbsterhaltung zu überwinden, bedarf es eines anderen Selbstverständnisses, welches das einzelne und besondere Selbst übersteigt und beide umfaßt. Dies sieht Hegel im allgemeinen Selbst der Gattung. Darunter versteht er sowohl die natürliche als auch eine geistige Gattung: die Vernunft (bzw. das Ich). Indem das einzelne Gattungsexemplar sein Selbst als Gattung versteht, sieht es im Anderen als dem anderen Gattungsexemplar sich selbst; kognitive Selbst- und Fremdreferenz fallen zusammen. In der tätigen Vereinigung beider Seiten reproduzieren sie die Allgemeinheit ihrer Gattung, mithin sich selbst im allgemeinen Sinne. Daß Hegel in der Fortpflanzung eine natürliche Form der Anerkennung sieht, zeigt sich überdeutlich im zweiten Jenaer Systementwurf. Er schreibt dort über das Lebendige in der Begattung: „es ist in seinem Gegentheil [also dem Anderen], statt sich selbst negirt zu haben, vielmehr positiv; das andere an sich, ist nicht die Negation seiner selbst, sondern es erkennt in dem andern sich selbst; die Gattung reißt sich in die Geschlechtsdifferenz auseinander; aus dem Erkennen in das Anerkennen“14. Statt der vorherigen Widersprüche zwischen Selbst- und Fremdbezug sowie zwischen theoretischer und praktischer Referenz stellt sich in beiden 13  Die vielleicht schönste, wenn auch nicht treffendste Interpretation dieser Stelle in Hegels Phänomenologie gibt Hans-Georg Gadamer in dem Aufsatz „Hegels Dialektik des Selbstbewußtseins“, in: Hans Friedrich Fulda / Dieter Henrich (Hrsg.): Materialen zu Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘, Franfurt a. M. 1998, 224. 14  Hegel: Jenaer Systementwürfe II, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VII, hrsg. von Peter Horstmann und Johann Heinrich Trede, Hamburg 1971, 146.

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Fällen der Anerkennung die Einheit her: Das Subjekt vollzieht die theoretische Selbstreferenz (Identifizierung), indem es ein Anderes als sich selbst erkennt. Diese Selbsterkenntnis darf nicht bloß theoretisch sein: Man kann den Anderen nur als sich selbst erkennen, wenn man ihn gemäß dieser Erkenntnis behandelt, sich also mit ihm praktisch (durch vernunftgemäßes Behandeln oder Kopulation) vereinigt. Ebenso ist die praktische Identifikation mit dem Anderen nur möglich, wenn man den Anderen als Gattungsgenossen, folglich als Selbst, erkennt. Dies setzt voraus, daß der Andere „mitspielt“, also die gleiche Erkenntnis hat und praktisch vollzieht. Diese freilich nur allgemeine und abstrakte Struktur ist dem natürlichen Lebens- wie dem Selbstbewußtseinsprozeß gemein. Die zentralen Unterschiede zwischen beiden sollen im folgenden Kapitel dargestellt werden. Erst jetzt werden Hegels Kritik am Naturalismus und dessen Emphase auf die Selbsterhaltung, mithin an Spinoza, virulent. II. Die strukturelle Verschiedenheit von Selbsterhaltung und Selbstbewußtsein Trotz der Analogie in der Prozessualität bildet das Selbstbewußtsein eine höhere Form von Selbstreferentialität als die natürliche Selbsterhaltung aus. Hegel schildert den Übergang von der höchsten natürlichen Stufe, der Begattung, zum Selbstbewußtsein an keiner Stelle auf ausführliche Weise. Häufig gibt er sich mit Hinweisen wie dem folgenden aus der Logik zufrieden: „In der Begattung erstirbt die Unmittelbarkeit der lebendigen Individualität; der Tod dieses Lebens ist das Hervorgehen des Geistes“.15 Die Sachlage im zweiten Jenaer Systementwurf von 1804 / 05 verhält sich dadurch anders, daß Hegel den Übergang von der Begattung zum Selbstbewußtsein durch Einführung einer „Zwischeninstanz“ präzisiert: Die Entwicklung führt von der Begattung des Lebendigen zum „höchsten Wesen“, der Substanz Spinozas, und von dort zum Ich. Um diese Übergänge nachvollziehen zu können, muß zunächst auf die selbstreferentiellen Mängel der Begattung eingegangen werden. Die dort konstatierte Koinzidenz von Selbst- und Fremdbezug wie auch von theoretischer und praktischer Selbstreferenz ist defizitär: Das einzelne Lebendige identifiziert sich (sein Selbst) zwar augenblicklich in der Begattung mit der Gattung, aber neben diesem Trieb strebt es weiterhin nach Erhaltung seines einzelnen Selbst: Im Allgemeinen der Gattung findet sich das Individuum nicht auf diejenige Weise wieder, daß es Individual- und Gattungserhaltung 15  Hegel: Nürnberger und Heidelberger Schriften 1808–1817, in: ders.: Theorie Werk Ausgabe, Bd. 4, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1986, 486.



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widerspruchsfrei vereinbaren könnte. Für das einzelne Lebendige, das in der individuellen Selbsterhaltung tätig ist, stellt die Gattung „das Fremde“, ein Nicht-Selbst, dar. Die Gattung pflanzt sich fort, egal ob das einzelne Lebendige sie befördert oder nicht, es ist völlig unwesentlich. Mehr noch: Indem es an der Begattung teilnimmt, affirmiert es gleichsam seine eigene Endlichkeit und Unwesentlichkeit; damit widerspricht es explizit in seinem Tun der Erhaltung und dem Wissen um seine einzelne Existenz. Dennoch gründet – wie gezeigt – die Möglichkeit der Begattung darauf, daß sich beide Lebewesen gemeinsam mit der Gattung identifizieren, also sich selbst als Gattung verstehen. Das Lebendige ist das „Subjekt dieses Widerspruchs“16. Diese Widersprüchlichkeit demonstriert gerade den Mangel der Selbsterhaltung, d. h. deren notwendiges Scheitern, oder weniger dramatisch ausgedrückt: deren Endlichkeit. Das Subjekt besitzt zwei intentionale, also objektive „Selbste“, mit denen es sich abwechselnd identifiziert und die es tätig reproduziert. Fragt man sich nun, die beiden Prozesse überblickend, was sich darin eigentlich erhält, so ist es weder das einzelne Lebendige, das ja gerade durch sein Tun in der Begattung seiner eigenen Vernichtung entgegenarbeitet, noch die bestimmte Gattung, die ja nur in einem Prozeß erhalten wird, sondern vielmehr das Leben überhaupt. Auch wenn die beiden Erhaltungsprozesse für das Einzelne wie für die bestimmte Gattung widersprüchlich scheinen, so sind sie vom allgemeinen Lebensprozeß aus betrachtet gerade die Art und Weise, wie sich das Leben erhält und reproduziert. Das Einzelne ist lebendig, wenn es am Leben ist, d. h. qua Akzidens an der Substanz. Das Leben ist die Einheit, welche sich im Lebewesen in der Zweiheit der Prozesse der Individual- und Gattungserhaltung manifestiert. Was ist nun dieses Leben? Hegel schreibt: „Indem die Gattung oder das Allgemeine nicht als irgend eine bestimmte Gattung, sondern als die Absolute Gattung [ist…], so ist sie überhaupt das höchste Wesen, das nicht selbst Moment, und in die bestimmte Existenz einer andern gegenübertretend, vielmehr die absolute Existenz selbst […], also ihr [der bestimmten Existenz] Wesen oder ihre Substanz ist“17.

Inwiefern ist dies eine Antwort auf unsere Frage? Zur Verdeutlichung muß man wie Hegel von unten aufsteigen: Im einzelnen Lebendigen widersprechen sich die individuelle Existenz und das gattungsspezifische Wesen. Einerseits strebt es nach Erhaltung seiner einzelnen Existenz, die es als sein Selbst erkennt; andererseits strebt es auch nach Erhaltung seiner Gattung, die es ebenso erkennt. Die Einheit des Lebendigen, die sich freilich nicht für das Lebendige manifestiert, aber angenommen werden muß, damit es Jenaer Systementwürfe II, 150. 152.

16  Hegel: 17  Ebd.,

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überhaupt als eine Entität angesprochen werden kann, ist demnach eine unmittelbare Einheit von Essenz und Existenz, mithin etwas, „dessen Wesen die Existenz involviert“ (cuius essentia involvit existentiam), wie die Definition der absoluten Substanz bei Spinoza lautet. Die widersprüchliche Trennung von Essenz und Existenz und damit die Endlichkeit, das Scheitern der Selbsterhaltung, betrifft nicht die Substanz selbst; diese ist ewig. Man kann vereinfachend folgendes hinzusetzen: Das Leben ist insofern Substanz, als es sich im Gegensatz zum Lebendigen nicht aus etwas anderem genetisch erklären lässt. Das Leben entsteht und vergeht nicht, es ist; nur die einzelnen Exemplare unterliegen diesem Wandel. Wenn ich mithin vom Wesen des Lebens rede, dann kann ich mir dieses Wesen nicht anders als existierend denken. Die Vorstellung, aus etwas Anorganischem sei irgendwann einmal Leben (nicht Lebendiges) entstanden, ist absurd, ein kategorialer Denkfehler, der die Ebene einzelner Entitäten mit der allgemeinen Ebene konfundiert. Solange ich aber behaupte, die höchste Form der Wirklichkeit sei Leben (bzw. Natur) – und dies ist eine Auffassung, die heutzutage große Popularität genießt –, setze ich eine causa sui im Sinne Spinozas voraus, die nicht als bloße Möglichkeit, sondern immer nur als Aktualität (Wirklichkeit) gedacht werden kann. Da man sich heutzutage nur selten um die Fundamente von Theorien kümmert, bleibt diese Tatsache freilich verschleiert. Um den Lebensprozeß in der Wirklichkeit angemessen beschreiben zu können, muß man die Lebenssubstanz in der eben dargestellten Hinsicht voraussetzen. Hegel behauptet nun, daß die Voraussetzung der unmittel­ baren Einheit alles erklärt bis auf die Voraussetzung selbst. Was ist damit gemeint? Die Überlegungen haben ergeben, daß die Verwendung der Kategorien individueller und gattungsspezifischer Selbsterhaltung auf die Wirklichkeit nur dann sinnvoll ist, wenn man sie als konkrete Bewegungen betrachtet, in welchen sich das Leben als „absoluter Grund“ ausdrückt. Dessen Eigenart ist es, niemals als solcher im Bereich des Endlichen zu erscheinen, weil darin gerade Existenz und Essenz voneinander getrennt sind. Hegel sagt, „die Einheit von beydem ist das nicht hervortretende innere, oder das nicht gesetzte für diesen Wechsel, sondern nur das von uns gesetzte, oder das äußere“18. Das substantielle Leben gibt dem Lebendigen sein einheitliches Sein, doch die Vorstellung des höchsten Wesens gelangt nicht in das Bewußtsein des Lebendigen, es verharrt in seinem widersprüchlichen Treiben zwischen individuellem Selbst und natürlicher Gattung. Insofern übersteigt man auch den Bereich der Selbsterhaltung; das Absolute bzw. Leben muß sich nicht 18  Ebd.,

150.



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selbst erhalten, es ist schlechthin ewiger Grund und Urquell des Lebendigen. Wie aber kann der Philosoph den absoluten Grund voraussetzen? Gewiß nicht, insofern er ausschließlich als Lebewesen (homo sapiens) ist und agiert, weil er sonst etwas voraussetzte, das er per definitionem gar nicht erkennen kann. Wenn er aber zu dieser Erkenntnis nur in der Lage ist, falls er nicht in der Substanz aufgeht, dann spricht schon diese Tatsache dagegen, daß die Substanz absolutes Prinzip, d. h. Prinzip von allem, ist. Setzt man das natürliche Leben als absolutes Fundament der gesamten Wirklichkeit voraus, so erklärt dieses nicht die Voraussetzung, die doch offensichtlich Bestandteil der Wirklichkeit ist; mehr noch: sie widerspricht ihr. Widerspricht aber die Erkenntnis der Substanz ihrem Inhalt, der Substanz, dann müßte die wahre Erkenntnis, um wahr zu sein, sich vernichten, mithin in der Substanz restlos aufgehen. Folglich gäbe es aber keine Erkenntnis der Substanz mehr. Erkennen und Substanz bleiben unversöhnt: Das Erkennen „zerschmilzt verschwindet in ihm [dem absoluten Wesen], aber daß es so verschwinde, setzt voraus daß es gewesen ist, oder es behält sein Für sich seyn; und diß für sich seyn und das absolute Wesen bleiben getrennt“19. Man muß noch deutlicher die eigentliche Pointe dieser Argumentation herausstellen: Hegel zeigt auf, daß eine Wirklichkeitsbeschreibung mit den Kategorien von Selbst- und Gattungserhaltung implizit ein „Wesen dieser Bewegung“ voraussetzt, gleichsam die absolute Gattung oder die Natur schlechthin. Schon allein diese menschliche Einsicht zeigt, daß es für den Menschen eine höhere Gattung als seine natürliche (als homo sapiens) gibt. Er geht nicht restlos im Entstehen und Vergehen des akzidentellen Lebendigen auf. Dies eingesehen zu haben, ist ein Verdienst Spinozas, indem er das Wesen des Menschen in die Selbsterhaltung der Vernunft und nicht in dessen natürliche Gattung verlegt. Dennoch beharrt er auf einer merkwürdigen Zwischenstufe20. In der philosophischen Einsicht spiegelt sich ein analoges Verhältnis zwischen absoluter Gattung und Mensch wider, wie zwischen natürlicher Gattung und Lebendigem: Die identifizierende Erkenntnis der Gattung (Substanz) mißlingt, solange sich das Erkennen nicht vernichtet, denn dieses als Vollzug einer individuellen Entität ist gerade das Gegenteil der allgemeinen Gattung. Mit der Vernichtung der Erkenntnis ist trivialerweise ein identifizierendes Erkennen der Gattung nicht mehr möglich. Oder andersherum: Das Vernichten des Erkennens ist gerade eine Forderung des Erkennens, mithin erhält es das Erkennen. Einerseits erhält das Erkennen sich selbst, andererseits verlegt es sein Wesen (als wahres Erkennen) in die absolute Substanz, die es aber nur zugunsten der Vernich19  Ebd.,

154. die problematische Theorie der Unsterblichkeit der Seele im fünften Teil von Spinozas Ethik. 20  Vgl.

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tung seiner selbst erreichen und damit wiederum nicht erreichen kann. Wie Selbst- und Gattungserhaltung im Lebendigen, so widersprechen sich hier Erkennen des Absoluten und Erkennen selbst. Dem Menschen ist somit keine höhere Form von Selbsterhaltung möglich. Er ist aber nicht wie das Tier an dieses widersprüchliche Oszillieren zwischen Individualität und Allgemeinheit gebunden; er vermag es vielmehr, beide in der Einheit seines Selbst zu verbinden. Der Widerspruch von Individual- und Gattungserhaltung ist dann für den Menschen versöhnt, wenn er eine allgemeine Gattung ansetzt, welche der Einzelheit nicht widerspricht, sondern sie gerade notwendigerweise beinhaltet: das Ich. Schon Fichte beschreibt das Ich als bewußte Einheit von Wesen und Existenz, Setzen und Sein. Wer zu sich „ich“ sagt, drückt darin zugleich seine konkrete Einzelheit wie auch eine allgemeine Bestimmung aus, die allen Menschen zukommt: „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist“ – wie es in der Phänomenologie heißt21. Wenn das menschliche Erkennen bis zur höchsten, der absoluten Gattung vorstößt, die es über die natürliche Gattung erhebt, so findet es darin nicht das anonyme Naturleben, die substantielle Einheit von Wesen und Existenz. Deren bewußte Identifizierung weist diese Gattung vielmehr als Vernunft aus: Der Mensch ist mehr als homo sapiens, er ist Vernunft. Erst dadurch vermag er die widersprüchlichen Selbstbezüge, die er in der natürlichen Selbsterhaltung mit dem Lebendigen teilt, zu überwinden und zu einem kontinuierlichen identischen Selbstbegriff vorzustoßen: dem eigentlichen Selbstbewußtsein. In der Erhaltung der ewigen Vernunft erhält sich der Mensch auf nachhaltige Weise. III. Schluß Ich möchte mich an dieser Stelle noch in aller Kürze über die Aktualität der Überlegungen Hegels äußern. Mit der Gegenüberstellung von Selbsterhaltung und Selbstbewußtsein als derjenigen Vollzüge, die Natur und Geist konkretisieren, hat Hegel ein Fundament für eine Diskussion geliefert, die auch heute noch weitergesponnen werden sollte. Dazu zählt insbesondere die Frage, wie beide Seiten zu interpretieren sind – und spätestens dann muß man sich freilich auch von Hegel trennen. Ich möchte aber hier nicht auf die historische Bedingtheit Hegels verweisen, sondern auf sein zeitloses Verdienst. Dieses besteht m. E. in zwei Thesen, deren erste augenscheinlich ist: nämlich daß jede Theorie des Naturalismus nicht mehr die Möglichkeit ihrer selbst als Theorie erklären kann. Diese Aussage werden Naturalisten bestreiten, und hierin gebe ich Fichte recht, der sagt, daß jede Philosophie letztlich nicht von Argumenten, sondern von Menschen getragen wird. 21  Hegel:

Phänomenologie, 145.



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Die zweite These Hegels ist hingegen viel aufschlußreicher, nämlich diejenige von der strukturellen Analogie zwischen Natur und Ich. Den Grund der Annahme, daß beide gleich strukturiert sind, könnte man auf vierfache Weise denken: Demnach gründet die Analogie darin, daß 1. die Natur das umfassende Prinzip ist. Das Ich ist wie die Natur, weil es von der Natur ist (Naturalismus). Selbstbewußtsein ist nichts anderes als eine höhere Form von Selbsterhaltung bzw. steht in deren Diensten; daß 2. das Ich Prinzip, die Natur nur Projektum des Selbstverständnisses dieses Ich ist. So steht für Fichte das Naturverständnis im Dienste menschlichen Freiheitsdrängens; daß 3. es ein Natur und Ich übergreifendes Prinzip gibt, das bei Hegel absoluter Geist heißt; daß 4. die Frage offengehalten werden muß, um nicht in einen Monismus zu verfallen, ohne aber in einem Dualismus zu verharren. Der letzte Punkt scheint mir der interessanteste zu sein, weil er den Unterschied von Natur und Ich aufrechterhält – wie der Punkt 3 –, ohne ihn aber in einer höheren Einheit aufzuheben. Hegels Lösung vermag heutzutage nicht mehr zu überzeugen; die Gleichursprünglichkeit von Selbsterhaltung und Selbstbewußtsein und nicht eine Auflösung der ersteren in der absoluten Subjektivität scheint mir plausibler zu sein. Insofern ist die heutige Dominanz der Natur in der philosophischen Diskussion berechtigt. Dennoch darf die Betonung des Eigenwertes der Natur nicht dazu führen, die Subjektivität aufzulösen. Der heutige Naturalismus erscheint wie eine immer noch andauernde Trotzreaktion auf Hegel. Es wird Zeit, das Eigengewicht des Selbstbewußtseins wieder in die Waagschale zu werfen; aber nicht zugunsten einer neuen Einseitigkeit, sondern um ein Gleichgewicht, eben die Gleichursprünglichkeit von Natur und Ich anzuvisieren. Die Rede von Analogie verhindert dabei, daß der Dualismus fixiert wird: Natur- und Selbstverständnis befinden sich in einer permanenten Wechselwirkung, deren Ausdruck gerade die Analogie ist. Um diese Wechselbeziehung offenzuhalten, darf der Grund dieser Analogie nicht einseitig in der Natur (Punkt 1) oder im Ich (Punkt 2) angesetzt werden. Die Erzielung eines Gleichgewichts ist niemals statisch, sondern – und hier schließt sich der Kreis – wie beim Selbstbewußtsein und der Selbsterhaltung prozessualdynamisch (natürlich wie historisch) und daher nicht objektivierbar. Jeder Versuch, ein Gleichgewicht herzustellen, muß notwendigerweise scheitern, da es nicht Ziel einer Poiesis, sondern der Praxis ist, auch und gerade der Praxis der Theorie. Bibliographie Arndt, A. (Hrsg.): Das Leben denken, 2 Teile, in: Hegel-Jahrbuch (2006, 2007). Beckermann, A.: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Berlin / New York 2001.

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Binkelmann, Ch.: Theorie der praktischen Freiheit. Fichte – Hegel, Berlin / New York 2007. – „Leben und leben lassen. Zum Stellenwert der Philosophie zwischen Lebenswissenschaften und Lebenswelt“, in: Carl Friedrich Gethmann (Hrsg.): Lebenswelt und Wissenschaft. Akten des XXI. Deutschen Kongresses für Philosophie, Hamburg 2011, 893–908. Damasio, A.: Der Spinoza-Effekt, München 2007. Dawkins, R.: Das egoistische Gen, Hamburg 1996. Gadamer, H.-G.: „Hegels Dialektik des Selbstbewußtseins“, in: Hans Friedrich Fulda / Dieter Henrich (Hrsg.): Materialen zu Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘, Frankfurt a. M. 1998. Hegel, G. W. F.: Phänomenologie des Geistes, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1986. – Nürnberger und Heidelberger Schriften 1808–1817, in: ders.: Theorie-WerkAusgabe, Bd. 4, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1986. – Jenaer Systementwürfe II, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VII, hrsg. von Peter Horstmann und Johann Heinrich Trede, Hamburg 1971. Hobbes, Th.: Leviathan, Frankfurt a. M. 1984. Honnefelder, L. / Schmidt, M.  C. (Hrsg.): Naturalismus als Paradigma. Wie weit reicht die naturwissenschaftliche Erklärungdes Menschen? Berlin 2007. Keil, G. / Schnädelbach, H. (Hrsg.): Naturalismus. Philosophische Beiträge, Frankfurt a. M. 2000. Kluxen, W.: „Analogie“, I, in: Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel 1971, 214–227. Spinoza, B. de: Ethica. Opera II, hrsg. von Konrad Blumenstock, Darmstadt 2008. Sukopp, Th. / Vollmer, G. (Hrsg.): Naturalismus: Positionen, Perspektiven, Probleme, Tübingen 2007.

Transzendentale Naturbetrachtung und romantische Poetik bei Friedrich von Hardenberg (Novalis) Martin Götze Der Positivismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts pflegte bekanntlich das Vorurteil, bei der romantisch-idealistischen Naturphilosophie handle es sich um bloße Schwärmerei, die in keinerlei Beziehung zur „harten“, empirisch verfahrenden Naturwissenschaft stehe. Angesichts des heute erschlossenen Quellen- und Textmaterials kann man dieses Vorurteil als widerlegt betrachten1. Das gilt nicht zuletzt für den frühromantischen Dichter und Philosophen, von dem hier die Rede sein soll: Schon bei oberflächlicher Durchsicht der Schriften Friedrich von Hardenbergs (Novalis) sticht der große Anteil naturwissenschaftlicher Studien, Exzerpte und Notizen am Gesamtwerk des Autors ins Auge. Chemie, Mineralogie, Geologie, Medizin und Arzneikunde – all dies und noch mehr hat das Interesse Hardenbergs gefunden. Und er wußte diese Kenntnisse, die er zum Teil durch eigene Feldstudien vertiefte, durchaus in den Horizont des damaligen Forschungsstandes einzuordnen. Natürlich hat das auch mit Hardenbergs Berufslaufbahn und akademischer Ausbildung zu tun2. Jedoch – und damit komme ich zum Thema meines Beitrages – war für den Romantiker Hardenberg die empirisch orientierte Naturforschung, überhaupt die Beschäftigung mit der Natur als solcher, nicht alleine Gegen1  Genannt seien zwei jüngere Publikationen, die Einblick in Vorgehensweise und Sachkenntnis romantischer Naturphilosophie geben: „Fessellos durch die Systeme“. Frühromantisches Naturdenken im Umfeld von Arnim, Ritter und Schelling, hrsg. v. Walther Ch. Zimmerli, Klaus Stein u. Michael Gerten, Stuttgart-Bad Cannstatt 1997; sowie Klaus Stein: Naturphilosophie der Frühromantik, Paderborn u. a. 2004. 2  Wichtig ist hierbei vor allem Hardenbergs Studium an der Bergakademie Freiberg von Dezember 1797 bis Mai 1799. Die Vertiefung seiner Kenntnisse in Salzwerk- bzw. Bergwerkskunde wurde für Hardenberg notwendig, nachdem er im Jahre 1796 seine Stelle beim kursächsischen Salinendirektorium in Weißenfels angetreten hatte. In Freiberg wurde der gelernte Jurist vor allem in Sachen Chemie, Mineralogie und Mathematik auf den Stand seiner Zeit gebracht. Besuche in den Gruben und chemisch-physikalische Versuche gehörten ebenfalls zum Studienprogramm. Zur Freiberger Zeit im Überblick: Dennis F. Mahoney: Friedrich von Hardenberg (Novalis), Stuttgart u. a. 2001, 57–68.

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stand eines beruflichen oder gar privaten Interesses. Und sie stand auch nicht unvermittelt neben den beiden anderen großen Themen seines intellektuellen Lebens, nämlich der Philosophie und der Dichtung. Vielmehr sind philosophische Spekulation, Poetik beziehungsweise poetische Praxis und Naturbetrachtung in einem Zusammenhang zu sehen, will man die Stellung Hardenbergs im Kontext von Frühromantik und Frühidealismus angemessen beschreiben. Natürlich ist hier nicht die Stelle, den angedeuteten Zusammenhang im Detail zu erörtern und aus den umfangreichen Notizkonvoluten Hardenbergs hinreichend zu belegen. Auch möchte ich nicht auf einzelne Aspekte der naturwissenschaftlichen Studien des Autors eingehen3. Statt dessen wird sich mein Beitrag darauf beschränken, diejenigen systematischen Motive zu skizzieren, die meines Erachtens für das Verhältnis von transzendentaler Naturbetrachtung und romantischer Poetik bei Hardenberg konstitutiv sind. Insbesondere will ich im Zuge meiner Ausführungen versuchen, folgende These plausibel zu machen: Sowohl Hardenbergs Ansatz zu einer Naturphilosophie als auch seine davon nicht zu trennende poetologische Konzeption einer ästhetischen Naturhermeneutik wurzeln in einer philosophischen Position, die er bereits im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794 / 95) bezogen hat. Hinsichtlich des philosophischen Ausgangspunktes will ich in einem ersten Schritt andeuten, daß Hardenberg die Frage nach Prinzip und Grundsatz der Philosophie, wie sie in der nachkantischen Debatte aufgeworfen wird, als Frage nach der Darstellbarkeit des Absoluten durch die Reflexion auffaßt. „Darstellung“ ist aber, so möchte ich dann in zwei Abschnitten zeigen, zugleich die Kategorie, mit deren Hilfe Hardenbergs Engführung von Naturphilosophie und Poetik verständlich gemacht werden kann4. Daraufhin kehre ich zum Begriff der Naturforschung zurück, um diesen abschließend in die bis dahin erarbeitete Rekonstruktion des Hardenbergschen Denkens über Natur einzufügen. 3  In dieser Hinsicht haben in neueren Untersuchungen speziell Hardenbergs mineralogisch-geologische Studien beim seinerzeit berühmten Freiberger Professor Werner und ihr Einfluß auf das literarische Werk Aufmerksamkeit gefunden. Siehe hierzu Irene Bark: „Steine in Potenzen“. Konstruktive Rezeption der Mineralogie bei Novalis, Tübingen 1999; sowie Michaela Haberkorn: Naturhistoriker und Zeitenseher. Geologie und Poesie um 1800. Der Kreis um Abraham Gottlob Werner (Goethe, A. v. Humboldt, Novalis, Steffens, G. H. Schubert), Frankfurt a. M. u. a. 2004, 194–232. 4  Daß sich frühromantische Philosophie und Literaturtheorie gleichermaßen am Leitfaden des Problems der Darstellbarkeit interpretieren lassen, habe ich – jedoch ohne naturphilosophischen Fokus – in meiner Bamberger Dissertation ausführlich entwickelt. Siehe dazu vom Verfasser: Ironie und absolute Darstellung. Philosophie und Poetik in der Frühromantik, Paderborn u. a. 2001.



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I. Zunächst muß in aller Kürze von Fichtes Selbstbewußtseinstheorie und ihrer Rezeption durch Hardenberg die Rede sein. Nach Fichtes Darlegung in seiner ersten Wissenschaftslehre ist die eigentümliche, jeden diskursiven Zugriff unterlaufende Unmittelbarkeit, mit der das Selbstbewußtsein sich besitzt, nur auf der Grundlage einer irreduziblen „reinen“ Identität erklärlich. Die höchste Bedingung des Bewußtseins ist somit die bezugsfreie Tathandlung des „absoluten Ich“, das noch gar keine Unterscheidungen aufweisen kann. Jedoch ist diese fugenlose Identität für das Bewußtsein als Einheit im strengen Sinne gar nicht zu fassen. Zwar befindet sich das Selbstbewußtsein immer schon im Besitz einer Einheitsgewißheit; sofern aber die anvisierte Einheit jedem bestimmten Denken zuvorkommt und ihm vorausgesetzt werden muß, läßt sie sich nicht objektivieren, ohne dabei der Dualität einer Wissensrelation anheimzufallen. Das ist, verkürzt gesprochen, die Problemlage, vor die sich frühromantisches Philosophieren gestellt sieht: Der Grund des Bewußtseins (das absolute Ich oder schlicht „das Absolute“, wie es dann oft heißt) ist einerseits nur durch die Reflexion thematisierbar, doch andererseits sind es gerade die reflexiven Operationen des Unterscheidens und Beziehens, welche die Verfassung jenes Grundes nicht angemessen artikulieren5. Die frühromantische Bewußtseinstheorie – und darin besteht ihre Innovation – thematisiert die Fichtesche Unterscheidung von Bewußtsein und Bewußtseinsgrund im Sinne eines Problems der Darstellbarkeit. Hardenberg vollzieht diesen Schritt schon recht früh, und zwar in seinen Fichte-Studien von 1795 / 96. Ich will nur in wenigen Worten auf diese umfangreiche Sammlung schwer zu verstehender Aufzeichnungen eingehen. 5  In der Sittenlehre von 1798 schreibt Fichte: „Diese absolute Identität des Subjekts, und Objekts im Ich läßt sich nur schließen, nicht etwa unmittelbar als Thatsache des wirklichen Bewußtseyns nachweisen. Wie ein wirkliches Bewußtseyn entsteht, sei es auch nur das Bewußtseyn unsrer selbst, erfolgt die Trennung“ (Fichte: System der Sittenlehre, in: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth, Hans Jacob, Hans Gliwitzky, Erich Fuchs und Peter K. Schneider, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962–2012. Im folgenden abgekürzt: GA, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl, hier: GA I / 5, 21). Dieser Satz umschreibt den Problemhorizont der frühroman­ tischen Bewußtseinstheorie, die zwar Fichtes Position kritisch transformiert, aber darin auch Denkfiguren der Wissenschaftslehre treu bleibt. Den relativ engen Anschluß der Frühromantik an Fichte zu betonen, war ein Anliegen meiner Disser­ tation (vgl. Anm. 4). Was speziell das Verhältnis Hardenbergs zu Fichte angeht, ist des weiteren auf die Arbeit von Bernward Loheide zu verweisen: Fichte und Novalis. Transzendentalphilosophisches Denken im romantisierenden Diskurs, Amsterdam u. a. 2000 (= FSS 13).

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Schon in der ersten Notiz bringt Hardenberg seine Einschätzung des philosophischen Grundsatzes (Ich = Ich) auf eine Formel, die sich ohne weiteres auch als Leitmotiv der frühromantischen Dichtungstheorie verstehen läßt: „Das Wesen der Identität läßt sich nur in einem Scheinsatz aufstellen. Wir verlassen das Identische um es darzustellen“ (NS II, 104, Nr. 1)6. Stößt die Philosophie als eine Weise methodischer Darstellung auf ein Undarstellbares, nämlich das Absolute (Hardenberg spricht auch schlicht vom „Sein“), so scheitert das Ideal des vollkommenen Begreifens. Denn die Mittel der Darstellung sind immer Mittel der Reflexion. Der Grundsatz gibt somit zu sagen vor, was er aufgrund seiner Struktur nicht zu sagen vermag. Die Reflexion bringt es angesichts des Absoluten nur zur Aussage einer relativen Identität, glaubt aber, es mit dem Ursprünglichen und Unmittelbaren zu tun zu haben. Erst eine zweite, die Vernichtung der ersten beabsichtigende Denkbewegung kann die Unmittelbarkeit, wie sie im Modus des „Selbstgefühl[s]“ (NS II, 113, Nr. 15) zugänglich ist, wieder in ihr Recht setzen7. Die durch Reflexion geleistete Darstellung des Absoluten bleibt hinsichtlich dessen, was sie abbilden soll, aber nicht abbilden kann, immer nur „Schein“. Das Wesen der abzubildenden Identität ist dagegen das wahrhafte „Sein“. Darstellung des Identischen ist nur im „Nichtseyn, durch ein Nichtidentisches“ möglich. „Nichtsein“ in diesem Sinne ist für Hardenberg das „Zeichen“ (NS II, 104, Nr. 1) als materialer Träger aller Darstellung. Auch das Ich muß radikal als Nichtsein verstanden werden; es ist selbst bloßes Zeichen. Daß das Bewußtsein als eigentliches Nichtsein zugleich etwas vom Sein in sich bewahrt, macht für Hardenberg die Definition des 6  NS = Novalis. Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. von Paul Kluckhohn u. Richard Samuel, Stuttgart 31977 ff. [Band, Seite, Fragment-Nr.]. 7  Nach Hardenberg hat der reflexive Akt des Bewußtseins eine eigentümliche Verdrehung zur Folge, so daß „[i]m Bewußtseyn ein Schreiten vom Beschränkten zum Unbeschränkten, im Grunde aber das Gegentheil sey“ (NS II, 115, Nr. 17). Der zweiten Reflexion, die das ursprüngliche Verhältnis wiederherstellen soll, enthüllt sich das bisherige Unternehmen als „Schreiten vom Unbeschränkten zum Beschränkten“. Aber auch diese neue Richtung ist nur scheinbar eingeschlagen, „ist eigentlich gerade ein umgekehrtes Schreiten“ (ebd.), weil nun die Einsicht in die wahre Beschaffenheit des Absoluten gefunden ist. Der negativen Reflexion auf den refle­ xionslosen Zustand des Gefühls, welcher die Identität des „Urseyns“ (NS II, 142, Nr. 63) bewahrt, folgt die Negation der Negation. Erst dieser zweite Akt nimmt den rechten Weg zum Unbeschränkten, indem er den Schein der Reflexion durchschaut. – Das ist, wenn hier auch nur in Abbreviatur vorgetragen, die berühmte Lehre vom „ordo inversus“ (NS II, 127, Nr. 32 u. passim), die Manfred Frank als erster aus den Aufzeichnungen Hardenbergs extrahiert hat. Franks Interpretation liegt in verschiedenen Fassungen vor. Ich verweise hier auf die monumentale Studie „Unendliche Annäherung“. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt a. M. 1997, 814–828.



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Zeichens oder „Bildes“ aus: „Ein unrechtes Seyn außer dem Seyn ist ein Bild“ (NS II, 106, Nr. 2). Das bedingte Bewußtsein ist auf ein Unbedingtes bezogen, welches sich ihm zugleich entzieht. Diese ambivalente Gleichzeitigkeit von Verlust und Bezug formuliert Hardenberg in ontologischer Diktion: Beim Selbstbewußtsein handele es sich um ein „Seyn außer dem Seyn“, welches sich doch auch „im Seyn“ findet (ebd.), da empirisches Bewußtsein ja auf irgendeine Weise an der absoluten Identität partizipiert. Jenes Sein, das nicht das Sein des Absoluten ist, verhält sich zu diesem wie das Zeichen zum Bezeichneten. Nur von letzterem läßt sich im emphatischen Sinne sagen, daß es „sei“. Das endliche Ich ist aber ebensosehr das Bezeichnende; es muß die Rela­tion auf das Absolute erst herstellen, indem es sich als Zeichen begreift. Wir werden sehen, wie sich die in den Fichte-Studien anvisierte Subjekttheorie im Sinne einer „Theorie des Zeichens“ (ebd.) in späteren Notizen Hardenbergs mit der Idee einer spekulativen Naturphilosophie verbindet. Zuvor muß noch kurz von einem weiteren Aspekt frühromantischen Denkens die Rede sein, nämlich von der Auffassung des praktischen Ich, die ebenfalls an Fichte anschließt. In der Freiheit, so lautet die wohl populärste Botschaft der Fichteschen Philosophie, besteht das wahre und einzige „Wesen“ des Ich. Dies Wesen wird von Hardenberg im Wortsinne als „ex-zentrisch“ verstanden. Denn um zum Für-sich-Sein zu gelangen, muß ja die bloße Identität verlassen werden. In die Positivität des Seins gerät derart die Differenz, die Negativität des reflexiven Selbstbezugs. So kommt es zu jenem Widerstreit zwischen objektlos-unendlicher und objektiv-endlicher Tätigkeit, der nach Fichtes Darlegung im zweiten Teil der Wissenschaftslehre das Streben nach dem Ideal wiederhergestellter Identität in Gang bringt und für Hardenberg schlechterdings die „Caracteristick des Ich“ (NA II, 127, Nr. 32) ausmacht. Das Streben des Ich erklärt sich aus dessen Mangel an Identität – oder, wenn man so will, aus seinem Mangel an Sein. Für Naturphilosophie und Poetik ist hierbei gleichermaßen der Gedanke wichtig, daß der Fluchtpunkt der Progressivität des Ich nicht mehr als unterschiedslose Einheit, sondern vielmehr als Totalität zu bestimmen ist. In einer wichtigen Notiz spricht Hardenberg vom „freywillige[n] Entsagen des Absoluten“, durch welches die Tätigkeit der Freiheit in uns entstehe; diese sei „das Einzig mögliche Absolute, was uns gegeben werden kann“ (NS II, 269 f., Nr. 566). Freiheit ist also die alleinige Weise, in der dem Subjekt das Unbedingte zugänglich ist oder in der letzteres gleichsam erscheint. „Ich bedeutet jenes negativ zu erkennende Absolute“, so Hardenberg, das „nur durch Handeln erkannt werden kann und was sich durch ewigen Mangel realisirt“ (NS II, 270, Nr. 566). Das von reiner Identität

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losgerissene Ich entsagt zwar dem Absoluten, entwirft sich aber derart als Darstellung des Absoluten durch Freiheit. Die Praxis der Darstellung, das Resultat der freien Tätigkeit des Ich, begreift Hardenberg aber als „Verknüpfung des Mannichfaltigen“ (NS II, 269, Nr. 565). Tätigkeit und Ziel der Freiheit hat Fichte mit seiner Formulierung des kategorischen Imperativs wie folgt benannt: Die Bestimmung durch das Nicht-Ich ist aufzuheben und die ursprüngliche Identität zu restituieren8. Unter Bedingungen der Mittelbarkeit des Subjekts ist allerdings die Tätigkeit der Freiheit als Aneignung, nicht als bloße Negation des Nicht-Ich durch das Ich zu verstehen. Nach frühromantischer Auffassung meint also die Praxis des Bewußtseins wesentlich eine Syntheseleistung. Das praktische Ideal heißt mithin – um Friedrich Schlegel, den engsten Weggefährten Hardenbergs, zu zitieren – „die Vereinigung der Einheit und Fülle und die Einheit ihres Zusammenhangs“9. Das Ich tritt in einen produktiven Austausch mit dem Nicht-Ich; es bringt die endliche Sphäre des Denkens und der Dinge mit dem unvordenklichen Sein in Berührung, indem es sich mit dem Bedingten vermittelt. Durch Synthesis erfüllt sich das einzig im Endlichen gegebene Unbedingte – „Thätigkeit begründet also das Seyn“ (NS II, 148, Nr. 91). Oder anders gesagt: „Selbstbew[ußt]S[eyn] ist Action“ (NS III, 431, Nr. 832). Zwar muß dabei dem Ich nach Hardenberg „alles Gegeben werden“, doch andererseits „kann nur ihm etwas gegeben werden und das Gegebene wird nur durch Ich etwas. […] Was ihm gegeben ist, ist auf Ewigkeit sein – denn Ich ist nichts als das Princip der Vereigenthümlichung. Alles ist sein, was in seine Sfäre tritt – denn in diesem Aneignen besteht das Wesen seines Seyns. Zueignung ist die ursprüngliche Thätigkeit seiner Natur.“ (NS II, 273 f., Nr. 568)

Wesentliche Konstituente des Lebens, mithin der realen Gegenstandssphäre für das Ich, ist nach Fichtes „Deduktion der Vorstellung“ die produktive 8  Im Zusammenspiel von zentripetaler und zentrifugaler Tendenz stellt sich das Ich eine dem Nicht-Ich zugeschriebene Tätigkeit gegenüber und konstituiert den Bereich der Gegenstände der Erfahrung. Die Unterscheidung der Tätigkeiten muß gegeben sein, da ohne sie keine Objekte für das Ich bestehen können. Dennoch wird ihre Gleichheit nach Maßgabe des absoluten Ich gefordert: „So wie das Ich gesezt ist, ist alle Realität gesezt; im Ich soll Alles gesezt seyn; das Ich soll schlechthin unabhängig, Alles aber soll von ihm abhängig seyn. Also, es wird die Uebereinstimmung des Objekts mit dem Ich gefordert; und das absolute Ich, gerade um seines absoluten Seyns Willen, ist es, welches sie fordert.“ In dieser Perspektive interpretiert Fichte den kategorischen Imperativ als „absolutes Postulat der Uebereinstimmung mit dem reinen Ich“, aufgrund der „Voraussetzung eines absoluten Seyns des Ich, durch welches alles gesezt wäre, und, insofern es nicht ist, wenigstens seyn sollte“ (GA I / 2, 396). 9  Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung v. Jean-Jacques Anstett u. Hans Eichner, Bd. XII, Paderborn u. a. 1958 ff., 407.



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Einbildungskraft10. Diesen zentralen Passus der Wissenschaftslehre verbindet Hardenberg mit seiner Ansicht vom Darstellungscharakter des Ich. Die auch unter Titeln wie „Schöpfungskr[aft]“ oder „Darstellungskr[aft]“ (NS II, 188, Nr. 248) firmierende produktive Einbildungskraft gewährt die Bedingung jeder Praxis, nämlich die fundamentale Wechselbestimmung von Ich und Nicht-Ich. Sofern sie Subjekt und Objekt vereint, verläuft über sie der Aneignungsakt des Ich, die Vermittlung des Unbedingten mit den Dingen. Aufgrund dieser synthetischen Leistung kann Hardenberg unter Einbildungskraft die Fähigkeit der Darstellung des Absoluten durch Freiheit verstehen. Anders gesagt: „Freyheit bezeichnet den Zustand der schwebenden Einbild[ungs]kr[aft]“ (NS II, 188, Nr. 249)11. Diese wirkt als „objectives Medium“, damit „d[as] empirische Ich sein eignes Bild entwerfen“ kann (NS II, 169, Nr. 220). Der Wechsel bildet diejenige raum-zeitliche Sphäre, in der sich die Existenz des vom Grunde abgerissenen Bewußtseins vollzieht. Dabei ist, in Hardenbergs Terminologie gesprochen, das Nicht-Ich ein Bild des Ich, aber auch umgekehrt das Ich ein Bild des Nicht-Ich. In der Tat modifiziert Hardenberg den Fichteschen Begriff der Wechselbestimmung im Sinne seiner Bildtheorie des Ich: Es handelt sich für ihn um eine Wechselrepräsentation. „Deutlich wird etwas nu[r] [d]urch Repraesentation“, heißt es im Allgemeinen Brouillon: „Man versteht eine Sache am leicht[este]n, wenn man sie repraesentiert sieht. So versteht man das Ich nur insofern es vom N[icht]-I[ch] repraesentiert wird. Das N[icht]-I[ch] ist das Symbol des Ich, und dient nur zum Selbstverständniß des Ich. So versteht man das N[icht]-I[ch] umgekehrt, nur insofern es vom Ich repraesentiert wird, und dieses sein Symbol wird.“ (NS III, 246, Nr. 49)

Diese Passage enthält meines Erachtens die Grundidee nicht nur von Hardenbergs Ästhetik, sondern auch seiner Naturauffassung. Ich will sie zunächst vor dem Hintergrund der frühromantischen Überlegungen zum Subjektivitätsproblem kurz erläutern. Das Ich, so haben wir gesehen, realisiert sich lediglich im Medium der Mittelbarkeit. Zwar ist die Spontaneität 10  Geschieht auf die unendliche Tätigkeit des absoluten Ich ein Anstoß, ergibt sich die schon erwähnte Differenz von zentripetaler und zentrifugaler Richtung. Aus ihr geht (über eine komplexe Kette von Mittelgliedern) die Anschauung hervor, d. h. die Unterscheidung von Anschauendem und Angeschautem. Die Sphäre der Anschauung, und damit zusammenhängend diejenige der Vorstellung, wird von der schwebenden Einbildungskraft gestiftet. Letztere vereinigt somit in ihrem Produkt Entgegengesetzte: Subjekt und Objekt bzw. die gegenläufigen Reflexe des Ich. 11  Vgl. dazu auch NS II, 266, Nr. 555: „Frey seyn ist die Tendenz des Ich – das Vermögen frey zu seyn ist die productive Imagination […] Alles Seyn, Seyn überhaupt ist nichts als Freyseyn – Schweben zwischen Extremen, die nothwendig zu vereinen und nothwendig zu trennen sind. Aus diesem Lichtpunct des Schwebens strömt alle Realität aus – in ihm ist alles enthalten.“

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des Selbstbewußtseins die Bedingung jedes Objektwissens, doch ersteres bedarf – das hat schon Fichte betont – zu seiner Realität der Entgegensetzung des Nicht-Ich. Nun ist das Selbstbewußtsein nicht nur ein abstraktes Vertraut-Sein mit sich. Als Individualität erwirbt es ein konkretes „Verständnis“ seiner eigenen Existenz erst im Spiegel der Akte, die es in der Welt, das heißt am Nicht-Ich, ausübt. Das Ich definiert sich durch seinen tätigen Umgang mit dem Anderen seiner selbst. Insofern wird das Ich, wie Hardenberg sagt, vom Nicht-Ich „repräsentiert“. Gleiches gilt auch umgekehrt: Das Ich repräsentiert das Nicht-Ich. Denn das Ich ist einerseits das Tätige, es bildet die Objekte und verschafft diesen ihre Bestimmtheit; und andererseits wirkt die Beschaffenheit der Dinge auf die Form der Ich-Tätigkeit zurück. So kann man die Wechselbestimmung, in der sich die Bewußtseinspraxis vollzieht, mit Hardenberg beschreiben. II. Das Nicht-Ich als Bild oder Symbol des Ich und umgekehrt – ersetzen wir den Begriff des Nicht-Ich durch denjenigen der Natur, so kommen wir der Naturauffassung Hardenbergs im Grundsätzlichen schon recht nahe. Sofern in dieser Auffassung das Theorem der Wechselbestimmung die zentrale Rolle spielt, hält sie sich relativ eng an Vorgaben der Wissenschaftslehre von 1794 / 95: Mittels produktiver Einbildungskraft konkretisieren sich die Glieder des Wechsels zu einem empirischen Bewußtsein einerseits und andererseits zu einer realen Objektsphäre – und zu letzterer muß auch und vor allem die Natur gerechnet werden. Nun ist bekanntlich der Naturbegriff für den frühen Fichte nur von marginaler Bedeutung12. Aber Fichte gibt doch das Paradigma vor, nach dessen Maßgabe die frühidealistische Naturphilosophie zu betrachten ist. Die Pointe dieses Paradigmas – und das ist auch für Hardenberg ausschlaggebend – besteht in der philosophiegeschichtlich gesehen völlig neuen 12  Allerdings hat Reinhard Lauth den systematischen Versuch unternommen, auf der Basis des Theorems der produktiven Einbildungskraft einen Naturbegriff im Sinne der Fichteschen Philosophie abzuleiten bzw. aus verschiedenen Schriften und Vorlesungen Fichtes zu rekonstruieren: Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, Hamburg 1984. Fichte selbst war es nicht vergönnt, eine systematische Naturphilosophie zu entfalten, obgleich er wiederholt Reflexionen über die Natur und insbesondere ihr Verhältnis zur menschlichen Freiheit und Vernunftbestimmung anstellte. Ein fast lebenslanger Gegenstand der Kritik und Beschäftigung war ihm offenbar die Naturphilosophie Schellings. Vgl. dazu Christoph Asmuth: Natur als Objekt – Natur als Subjekt. Der Wandel des Naturbegriffs bei Fichte und Schelling. In: Neuzeitliches Denken. Festschrift für Hans Poser zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Günter Abel, Hans-Jürgen Engfer u. Christoph Hubig, Berlin u. a. 2002, 305–321.



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Idee, daß die Konstitution des Selbstbewußtseins mit der Konstitution der Natur in einem Zusammenhang betrachtet werden müsse – oder anders gesagt, daß das Selbstbewußtsein als Schlüssel zur Natur zu sehen, die Genese des Selbstbewußtseins und die Verfaßtheit der Naturphänomene aus einem Ursprung zu denken sei. Ich bringe ein Fichte-Zitat an, das die grundlegend neue Stoßrichtung der Naturauffassung in der frühen Moderne schlaglichtartig beleuchtet: „Es giebt keine Natur an sich; meine Natur und alle andere Natur, die gesetzt wird, um die erste zu erklären, ist nur eine besondere Weise, mich selbst zu erblicken.“13 Während dieser zündende Gedanke bei Hardenberg nur in verstreuten Äußerungen greifbar wird, bleibt es Schelling überlassen, den Kontext in systematischer Form zu formulieren14. Ich berufe mich hierbei auf das System des transzendentalen Idealismus von 1800, in dem die Fichtesche Lehre von der Wechselbestimmung gegenläufiger Tendenzen des Ich zur Erklärung der Existenz einer Natur außer uns herangezogen wird. Die zentrifugale Tätigkeit nennt Schelling „reell“ und „begrenzbar“, die zentripe­ tale  „ideell“ und „begrenzend“ (SSW I / 3, 385 f.)15. Zeichnet jene für das unbewußte Produzieren des Objektiven verantwortlich, so diese für die bewußten Formen des Subjektiven. Der Akt, aus dem alle Realität für das Ich resultiert, ist die Synthesis beider Tendenzen. Um deren ursprüngliche Identität zu erweisen, führt Schellings genetische Darstellung einer „Geschichte des Selbstbewusstseyns“ das vom Philosophen konstruierte Ich durch eine „Stufenfolge von Anschauungen“, in deren Verlauf es sein unbewußtes Produzieren auf immer höherem Niveau reflektiert und vergegenständlicht, bis ihm die Einheit des Bewußten und Unbewußten völlig trans13  Fichte: System der Sittenlehre (1798), in: GA I / 5, 127. Obgleich der Bezug naheliegend scheint, ist das noch nicht im Sinne der spekulativen Naturlehre Schellings und der Frühromantik gemeint. Natur bleibt in Fichtes ethischem Idealismus vornehmlich ein Problem der Praxis, das im Zusammenhang des Freiheitsbewußtseins zu denken ist. In dieser Perspektive versteht er auch die innere und äußere Natur des Menschen als Medium der Freiheit, deren personelle Individuation sowohl im Kontext anderer Individuen als auch auf der Basis einer natürlichen Lebenswelt betrachtet werden muß. Vgl. dazu Thomas Sören Hoffmann: „‚… eine besondere Weise, sich selbst zu erblicken‘: Zum systematischen Status der Natur nach Fichte“, in: Praktische und angewandte Philosophie II. Beiträge zum vierten Kongreß der Internationalen Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft in Berlin vom 03.–08. Oktober 2000, hrsg. v. Helmut Girndt u. Hartmut Traub, Amsterdam u. a. 2003, 1–17. 14  Hardenberg hat die philosophische Entwicklung Schellings aufmerksam verfolgt und vor allem dessen naturphilosophische Schriften nachweislich rezipiert. Vgl. dazu Gabriele Rommel: „Novalis (Friedrich von Hardenberg)“, in: Naturphilosophie nach Schelling, hrsg. v. Thomas Bach u. Olaf Breidbach, Stuttgart-Bad Cannstatt 2005, 401–431, besonders 410–419. 15  SSW = Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Sämmtliche Werke in 14 Bänden, hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart / Augsburg 1856–1861.

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parent wird, es „zum Bewußtseyn in der höchsten Potenz sich erhebt“ (SSW I / 3, 331)16. Auf diese Weise entstehen dem Ich Empfindung, Objekte überhaupt und schließlich die Anschauung der organisierten Natur. Schelling faßt dabei einen „Parallelismus der Natur mit dem Intelligenten“ ins Auge (ebd.), der im Phänomen des Organismus zutage tritt, eine zweckmäßige Ordnung der Naturdinge signalisiert und als Produkt der absoluten Synthesis des Selbstbewußtseins begriffen werden muß. „Die vollendete Theorie der Natur“, so Schelling, „würde diejenige seyn, kraft welcher die ganze Natur sich in Intelligenz auflöste.“ Denn die „todten und bewußtlosen Produkte der Natur sind nur mißlungene Versuche der Natur sich selbst zu reflektiren, die sogenannte todte Natur aber überhaupt eine unreife Intelligenz, daher in ihren Phänomenen noch bewußtlos schon der intelligente Charakter durchblickt. – Das höchste Ziel, sich selbst ganz Objekt zu werden, erreicht die Natur erst durch die höchste und letzte Reflexion, welche nichts anderes als der Mensch, oder, allgemeiner, das ist, was wir Vernunft nennen, durch welche zuerst die Natur vollständig in sich selbst zurückkehrt, und wodurch offenbar wird, daß die Natur ursprünglich identisch ist mit dem, was in uns als Intelligentes und Bewußtes erkannt wird.“ (SSW I / 3, 341)

Dem Parallelismus von Geist und Natur entspricht beim frühen Schelling ein methodischer Parallelismus von Transzendentalphilosophie und Naturphilosophie. Impliziert ist aber auch schon der Gedanke eines übergreifenden Gesamtsystems, das Subjektivität und Objektivität als gleichwertige Glieder des einen Absoluten begreift. Den Ansatz hierzu entwickelt bereits Schellings Frühwerk Vom Ich als Princip der Philosophie (1795), das auf den ersten Blick nicht viel mehr als eine Reformulierung der Wissenschaftslehre zu sein scheint. In Wirklichkeit entwirft diese Schrift die Grundlinien eines dynamischen Spinozismus des Ich, der das bei Fichte transzendental gedachte Absolute zur ubiquitären Substanz im Sinne einer selbstmächtigen causa sui erklärt17. Diese folgenreiche Umdeutung bildet eine wesentliche Inspirationsquelle frühromantischer Naturspekulation. Überhaupt muß man sagen, daß die Naturauffassung in Frühromantik und Frühidealismus ihr eigentümliches 16  Natürlich ist dabei der Terminus „Geschichte“ nicht wörtlich zu nehmen. Er bezeichnet die Vorgehensweise des Philosophen, der den einen synthetischen Akt des Selbstbewußtseins zum Zwecke seiner genetischen Konstruktion in „Epochen“ zergliedert. Vgl. hierzu bes. SSW I / 3, 393, 398. 17  Vgl. dazu vom Verfasser Ironie und absolute Darstellung (Anm. 4), 104–114. In seinen ersten Arbeiten zur Naturphilosophie überträgt Schelling entsprechend das Schema des Zusammenspiels von zentrifugaler und zentripetaler Tendenz des Ich auf die Natur und interpretiert es als Verhältnis unendlich produktiver natura naturans und objektiv-endlicher natura naturata.



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Profil erst im Zuge der Rezeption vorkantischer Metaphysik erhält. Zu denken ist hier neben Spinoza unter anderem an Jakob Böhme und – mit Blick auf Hardenberg – an die Emanationslehre Plotins. Bevor ich auf die Verquickung von Naturspekulation und Poesie als Formen der nach „Vereigentümlichung“ strebenden Bewußtseinspraxis zu sprechen komme, möchte ich die Aufnahme spinozistisch-neuplatonischer Denkfiguren durch Hardenberg mit wenigen Worten andeuten. Das Motiv des Spinozismus macht sich bereits in den Fichte-Studien bemerkbar und zeichnet später, in der Freiberger Zeit, für Hardenbergs Interesse am Neuplatonismus verantwortlich, sofern er glaubt, die Spinoza zugeschriebene (und bei Fichte vermißte) Lehre von der Identität des Idea­ len und Realen bei Plotin wiederzufinden18. Bezeichnend ist die Zusammenführung von Plotin und Spinoza in einem Brief Hardenbergs an Caroline Schlegel vom 20.01.1799: „Hemsterhuis ahndete diesen heiligen Weg zur Physik deutlich genug. Auch in Spinotza lebt schon dieser göttliche Funken des Naturverstandes. Plotin betrat, vielleicht durch Plato erregt, zuerst mit ächtem Geiste das Heiligthum – und noch ist nach ihm keiner wieder so weit in demselben vorgedrungen“ (NS IV, 275 f.)19. Weil das neuplatonische Emanationssystem die Ordnung der Dinge als Ausdruck vollkommener Harmonie deutet, kann eine direkte Linie zur Lehre von der wechselseitigen bildhaften Repräsentation der sinnlichen und geistigen Welt gezogen werden. Eine Notiz stellt beide Begriffe in unmittelbare Nachbarschaft und legt ihre Identifikation nahe: „Wechselrepraesentationslehre des Universums. Emanationslehre“ (NS III, 266, Nr. 137). In Plotins Metaphysik entdeckt Hardenberg, was er bei Fichte nicht findet und 18  Ich bringe hier nur ein Beispiel für die Spuren spinozistischer Denkfiguren in den Fichte-Studien: „Das analytische Ich überhaupt erfüllt das Synthetische Ich. Das leztere ist die Sfäre des Analytischen – Sein Eins und Alles. Das synthetische Ich ist die nothwendige Substanz“ (NS II, 140, Nr. 53.). Das Begriffspaar „synthetisches“ und „analytisches“ Ich steht für die Relation von transreflexivem „Ursein“ und endlichem Bewußtsein. Bei der Wendung „eins und alles“ kann es sich durchaus um eine Anspielung auf das pantheistische hen kai pan handeln, wie es seit Lessing und Jacobi als Losungswort des Spinozismus galt. – Zum Plotin-Einfluß vgl. auch die immer noch grundlegende Studie von Hans-Joachim Mähl: „Novalis und Plotin. Untersuchungen zu einer neuen Edition und Interpretation des ‚Allgemeinen Brouillons‘“, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1963, 139–250. 19  Die Idee der „Physik“ stellt Werner Beierwaltes in seinem Abriß der PlotinRezeption Hardenbergs in den Mittelpunkt: Platonismus und Idealismus, Frankfurt a. M. 1972, 87–93. Vgl. dort zur Naturauffassung Plotins bes. 88 ff. Die Vernunftbegriffe (logoi) stellen demnach rationale Formen dar, die den Geist (nous) an die Natur (physis) vermitteln und das Absolute in seinem Anderen zur Entfaltung bringen. Natur, so Beierwaltes, sei bei Plotin die „schaffende Konkretion ihres geistigen Grundes“ (ebd., 89).

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in dieser Weise gar nicht finden kann. Dort, wo seiner Ansicht nach von einer konstitutiven Voraussetzung der theoretischen Philosophie die Rede sein sollte, nämlich von einer höchsten Einheit, die als gemeinsamer Grund der Wechselglieder fungiert, spricht die Wissenschaftslehre nur von einem Imperativ praktischer Vernunft. „Ich = N[icht]I[ch]“, so Hardenbergs forcierte Auffassung, sei aber „höchster Satz aller Wissenschaft und Kunst“ (NS II, 542, Nr. 83). „Die Hypostase versteht Fichte nicht“, wird entsprechend bemängelt, „und darum fehlt ihm die andre Hälfte des schaffenden Geistes“ (NS III, 465, Nr. 1067). Als Hypostasen bezeichnete Plotin die einzelnen Stufen jener Seinsordnung, zu der sich das Absolute oder schlicht „Eine“ im Zuge seiner Emanation entfaltet. Sie sind im Wortsinne reale Verkörperungen idealer Begriffe (der Ideen), ja zu guter Letzt Verkörperungen des einen göttlichen Seins20. Hardenberg entdeckt so in der Emanationslehre eine Denkfigur, die neben der ideellen Hälfte der absoluten Poiesis auch deren reelle in sich faßt, während bei Fichte das Nicht-Ich, eigentlich als Hypostase und damit Realität des Idealen zu verstehen, ein anstößiges Fremdes bleibe. Der scheinbar unbekümmerte Zugriff auf neuplatonische Vorstellungen steht somit im Zeichen der Forderung nach Vereinigung von Idealismus und Realismus. „Idealisirung d[es] Realism – und Realisirung d[es] Idealism führt auf Wahrheit“, so formuliert Hardenberg im Allgemeinen Brouillon seine Überzeugung. „Der Beweis des Realism ist der Idealism – und umgekehrt“ (NS III, 383 f., Nr. 634). In dieser Perspektive interpretiert Hardenberg Plotins System als Immanenzphilosophie à la Spinoza. Die Vorteile liegen für ihn auf der Hand: „nur pantheistisch erscheint Gott ganz – und nur im Pantheismus ist Gott ganz überall, in jedem Einzelnen“ (NS III, 314, Nr. 398). Wir werden gleich sehen, daß solch ein holistischer, auf die Korrespondenz von schaffender und geschaffener Natur verweisender Gottesbegriff erst durch „Vereigentümlichung“ für das Bewußtsein augenfällige Realität erhält. Daher bleibt zugleich der Appell an die freie Tätigkeit des Subjekts ungebrochen: „Wir sollen alles in ein Du – in ein zweytes Ich verwandeln – nur dadurch erheben wir uns selbst zum Großen Ich – das Eins und Alles 20  Im Rahmen meiner Untersuchung kann ich lediglich in Stichworten auf Plotins Philosophie verweisen. Vgl. dazu die umfangreiche Darstellung von Jens Halfwassen, die besonders Plotins Denkmethode und seinen Begriff des Absoluten analysiert: Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin, Stuttgart 1992, 34–182. Zur Konzeption einer Philosophie der „Alleinheit“ bei Plotin vgl. eine weitere Studie von Werner Beierwaltes: Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1985, 38–64.



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zugleich ist“ (ebd.). Auch in der Zeit neuplatonischen Einflusses ist für Hardenberg die praktisch akzentuierte Bewußtseinstheorie Fichtes maßgebend: Die ideelle Durchdringung der Wirklichkeit, die Offenbarung des Geistes in der Natur – unter ästhetischem Vorzeichen auch als „symbolische Construction der transzendentalen Welt“ (NS II, 536, Nr. 48) bezeichnet –, unterliegt der Tätigkeit des nach Darstellung strebenden Ich. III. Hardenbergs Bewußtseinstheorie versteht das selbstbewußte Ich als eine Darstellung des bewußtlosen Absoluten, welche das letztere mittels ihrer Zeichenhaftigkeit in der Sphäre des Endlichen artikuliert. Das Ich ist Darstellung. Aber es ist dies in praktischer Weise: Das Ich ist als sich darstellend zu begreifen. Halten wir bezüglich des Standortes, den die Natur in diesem Kontext erhält, noch einmal die grundlegende Übereinstimmung mit Fichte fest: Das Ich ist Prinzip der Natur, sofern es im Zuge der Bildung von Realität durch die Einbildungskraft die Objekte erst zu bestimmten macht. Derart partizipieren Nicht-Ich und Ich am selben Grunde, der aber nicht anders als durch die Syntheseleistung des Bewußtseins zur Erscheinung gelangt. Entscheidend für die Konvergenz von Naturbetrachtung und Poetik ist nun folgendes: Die oben zitierte Notiz zur Repräsentationslehre enthält im Keim die Idee einer ästhetischen Version des Wechseltheorems. Den Schlüssel gibt der hier nicht von ungefähr gebrauchte Begriff des Symbols an die Hand: Liefert die in der Mittelbarkeit des Wechsels statthabende Aneignungstätigkeit des Ich mit ihren Syntheseprodukten das Bild des Absoluten, so ließe sich durch eine symbolisch-ästhetische Form der Aneignung des Nicht-Ich als Natur das Bild als Bild zur Anschauung bringen. Daß wir das Identische verlassen, um es darzustellen, ist somit nicht alleine Kerngedanke der Hardenbergschen Bewußtseinsphilosophie, sondern ebensosehr der philosophisch fundierten Poetik. Dabei avanciert die Einbildungskraft auch zum poetologischen Leitbegriff. Denn das Mittel zur Verwandlung des Nicht-Ich – und das heißt: der Natur – in ein „Du“ ist die poetische Imagination. Woran Hardenberg festhält, ist weniger der Buchstabe der Fichteschen Philosophie, als vielmehr ihre innerste Intention, die sie eine „Aufforderung zur Selbstthätigkeit“ (NS II, 271, Nr. 567) sein läßt. Vor allem diese praktische Stoßrichtung ist mit Blick auf die Ästhetik bedeutsam. Sie wird von Hardenberg bekräftigt, indem er die Tilgung des Anstoßes für die Einbildungskraft fordert. „Aechter Fichtism, ohne Anstoß – ohne N[icht]-I[ch] in seinem Sinn“ – das ist die Maxime für Hardenbergs ästhetische „Entw[icklung] der

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Formel Ich“ (NS III, 385, Nr. 639). Das meint keinen überdrehten Subjektivismus. Die Äußerung verweist auf die Grundoperation der Poesie. Die produktive Einbildungskraft ist zwar schlechthin produktiv, steht jedoch in theoretischer Hinsicht unter der Bedingung der Negativität des Nicht-Ich; ihr Schweben ist ohne vorgängigen Anstoß der noch richtungs­ losen absoluten Ich-Tätigkeit undenkbar. Sofern die Produktion unbewußt verläuft und die Produkte in ihrer Bestimmtheit für die Anschauung schlichtweg gegeben sind, produziert sie die Sphäre der Realität nicht frei. Die ästhetische Produktion hingegen, die den Symbolcharakter, das heißt den verborgenen Repräsentationsstatus der Wechselglieder, zum Bewußtsein erheben soll, muß auf reflektiertem und willkürlichem Gebrauch der Einbildungskraft beruhen. Der entscheidende Schritt besteht für Hardenberg demnach in der Transformation der produktiven Einbildungskraft in die auch „Fantasie“ (NS II, 298, Nr. 327) genannte ästhetische21. Erst die letztere genügt den Anforderungen, die Hardenberg an die Praxis stellt. Kunsttätigkeit läßt sich daher als „Ausbildung unsrer Wircksamkeit“ definieren (NS II, 284, Nr. 639); sie ist die potenzierte Praxis der exzentrischen Subjektivität, da diese zum freien und durch Reflexion regulierten Gebrauch des transzendentalen Organs übergeht. Die Produkte ästhetischer Imagination erscheinen nicht als unabhängig von einer produzierenden Subjektivität gegeben. Sie sind nicht unwillkürlich, sondern willkürlich hervorgebracht und tragen ihre ideelle Abkunft offen zur Schau. Darum ist es die poetische Metamorphose der vorgefundenen Natur, welche der Idealität oder dem Darstellungscharakter des Realen eigens Realität für das rezipierende Bewußtsein verschafft. Dieses Konzept wird der Vorstellung vom genuin praktischen Charakter des Ich zugeordnet. Verwirklichung der Freiheit heißt Verwirklichung des Unbedingten mittels „vereigentümlichender“ Belebung des Bedingten. „Das Princip Ich“ ist demnach „das ächte gemeinschaftliche und liberale, universelle Princip […]. Es macht […] alle Best[immungen] möglich und fest – und gibt ihnen abs[oluten] Zusammenhang und Bedeutung“ (NS III, 429 f., Nr. 820). 21  Die ästhetische Bedeutung der Einbildungskraft bei Hardenberg wird von mir nur im Grundriß behandelt. Eine ausführliche Monographie zum Thema hat Bernd Küster vorgelegt: Transzendentale Einbildungskraft und ästhetische Phantasie. Zum Verhältnis von philosophischem Idealismus und Romantik. Königstein 1979. Zu Hardenberg vgl. ebd., 188–227. Küster bezeichnet die romantische Poesie zu Recht als „Versuch, mit Hilfe der Anschauung die dem philosophischen Denken immanenten Beschränkungen zu überwinden, und das Unbedingte nicht als […] unerfüllbaren Grundsatz, sondern als ästhetischen Anschauungszusammenhang zu objektivieren“ (ebd., 189). Vgl. dazu auch den neueren Überblick von Herbert Uerlings: „Einbildungskraft und Poesie bei Novalis“, in: Novalis. Poesie und Poetik, hrsg. v. Herbert Uerlings, Tübingen 2004, 21–62.



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Während die transzendentale Wechselbestimmung von Subjekt und Objekt Voraussetzung für die Bewußtseinspraxis ist, wirken in der ästhetischen Wechselrepräsentation die animierten Objekte stimulierend auf das Bewußtsein zurück und werden so seinem „Selbstverständnis“ förderlich. Das Nicht-Ich erscheint jetzt als ideell durchwirkte Natur, in der auch das Geistige sein Heimatrecht hat. „Der Sfärenwechsel“, so Hardenbergs Prämisse, „ist nothwendig in einer vollendeten Darstellung – Das Sinnliche muß geistig, das Geistige muß sinnlich dargestellt werden“ (NS II, 283, Nr. 633). Um diese wechselseitige symbolische Repräsentation von Subjekt und Objekt – oder die Darstellung des Unbedingten im Bedingten – leisten zu können, ist es nötig, die Fähigkeit der Einbildungskraft zu erweitern: Sie soll Mittel zur freien Produktion sein. Die ästhetisch gebrauchte Einbildungskraft entledigt sich der rezeptiven Anteile, die ihr unter theoretischem Blickwinkel noch anhaften, und avanciert zum Mittel der „Magie“. Unter Magie versteht Hardenberg eine „Kunst, die Sinnenwelt willkührlich zu gebrauchen“ (NS II, 546, Nr. 109). Das Attribut des Magischen – und noch mehr die oftmals überbewertete Formel vom „magischen Idealismus“ (NS II, 605, Nr. 56) – hat zu mancherlei Mißverständnissen der Interpretation geführt22. Wenn man von einem magischen Idealismus sprechen will, ohne dabei irrationalistischen Vorstellungen zu unterliegen, muß man wissen, was Hardenberg damit bezeichnet: eine radikale Poetik der Konstruktion. Erst die „magische“ Variante des Idealismus bringt die unbewußte Poiesis der Einbildungskraft unter die Botmäßigkeit des Bewußtseins und erhebt sie damit in den Stand emphatischer Freiheit. Hinsichtlich der Dichtungstheorie wird das poietische Vermögen nicht nur für die Reflexion thematisch, sondern für die Reflexion handhabbar. Das Ergebnis ist die „freye Generationsmethode d[er] Wahrheit“ oder die „Wissenschaft des thätigen Empirismus“ (NS III, 445, Nr. 924). Die paradox anmutende Formel vom „tätigen Empirismus“ macht deutlich, daß für Hardenberg die Magie keineswegs im leeren Raum konstruiert, sondern sich von der Beobachtung sinnlicher Außenwelt leiten läßt. Freilich liegt der Akzent auf dem Moment des Tätigseins: „Das Obj[ect] darf nur der Keim, der Typus seyn, der Vestpunkt – die bildende 22  Der Begriff „magischer Idealismus“ findet sich in Hardenbergs Notizkonvoluten nicht eben häufig. Das Register der historisch-kritischen Textausgabe nennt ihn viermal (NS V, 587). Das scheint mir als Fundament für die Behauptung, Hardenberg artikuliere mit dieser Formel den Ansatz eines eigenen Systems der Philosophie, nicht auszureichen. Diese Vorstellung ist aber des öfteren nahegelegt worden. Zur Überbewertung der Formel vom magischen Idealismus vgl. den Forschungsbericht von Herbert Uerlings: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung, Stuttgart 1991, 105–146, 105–114.

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Kraft entwickelt an, in und durch ihn erst schöpferisch das schöne Gantze“ (NS II, 282, Nr. 633). Bildende, tätige Kraft ist die Imagination als Organon freier Darstellung. Es handelt sich um einen Empirismus, der das Gegebene zugleich modelliert, es zum „schönen Ganzen“, zur Gestalt der Wechselrepräsentation verknüpft. Das Generieren, das schöpferische Entwerfen solcher „Wahrheit“ mittels Phantasie, löst beobachtbare Gegenstände aus ihrem natürlichen Zusammenhang und gibt ihnen die Funktion von magisch wirkenden Zeichen. Der Bezug der Magie auf Empirie erinnert an die realistische Wendung zum Bedingten als die einzige Möglichkeit, das Absolute zu realisieren. Mit dem Realismus geht der Impetus einer kalkulierenden Phantasie einher. „Die Vernunft sezt, die Fantasie entwirft – der Verstand führt aus“ (NS II, 544, Nr. 99). So umreißt Hardenberg die Arbeitsteilung der Gemütskräfte, deren gemeinsames Produkt die romantische Dichtart sein soll. Das schwebende Oszillieren und Vermitteln der Einbildungskraft zwischen Entgegengesetzten überträgt Hardenberg auf die Form der poetischen Imagination. Produkt der Vermittlung ist im Falle transzendentaler Synthesis die Relation von Anschauendem und Angeschautem, die empirische Realität für das Ich. Demgegenüber erscheint die ästhetisch applizierte Einbildungskraft, die Phantasie, wie die Ausübung einer potenzierten Form der Konstruktion. Künstlerische Darstellung, an der Reflexion mittätig ist, erhebt den Widerstreit des Bedingten und Unbedingten mitsamt seiner Vermittlung in den Stand des Bewußtseins. Dazu bedarf es einer bestimmten poetischen Arbeitsweise, die Hardenberg unter dem Stichwort „Romantisierung“ skizziert. Fichtes Kategorie der Wechselbestimmung wird hierbei als „Wechselerhöhung und Erniedrigung“ gefaßt (NS II, 545, Nr. 105). Damit gibt Hardenberg zwei zusammengehörige, jedoch ambivalente Tendenzen an, deren Vorbild in den beiden widerstreitenden Bewegungsrichtungen des Ich zu suchen ist. Diese Tendenzen sollen in der poetischen Darstellung vereinigt werden. Es gilt, das „Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche“ in die Sphäre des Bedingten hinabzuziehen, dieses aber umgekehrt, indem es einen „unendlichen Schein“ erhält, in eine Verbindung mit dem Unbedingten zu erheben. Diese Einschreibung des Unbedingten in die Darstellung wird mit Hilfe einer Verfremdung des Dargestellten hervorgerufen: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es“ (ebd.). Aufgrund ihres reziproken Verhältnisses sind aber Erhöhung und Erniedrigung simultane Prozesse: Die „qualit[ative] Potenzirung“ des Endlichen mittels ästhetischer Verfremdung „logarythmisirt“ zugleich die angestrebte



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Unendlichkeit (ebd.). Erst die Wechselseitigkeit der Operationen bewirkt die Darstellung des Unendlichen, die mit der ästhetischen Deformation des Endlichen intendiert ist. Die Verfremdung entspringt dabei der Willkür, mit der die kalkulierte Phantasie des Autors sich über die faktische Beschaffenheit des in der Welt Gegebenen hinwegsetzt, um „die magische Anschauung der Gegenstände“ (NS II, 537, Nr. 53) zu initiieren. Im Widerspiel von Erniedrigung und Erhöhung begegnet das Bewußtsein gewissermaßen seinem Grunde, sofern die poetische Synthesis das Bedingte mit dem Unbedingten vermischt, um hinter dem Bedingten das es Bedingende sichtbar zu machen. Nur ein poetischer point of view, wie er durch die romantisierende Einbildungskraft eröffnet wird, macht nach Hardenberg den Ausdruck des Geistes in der Natur sichtbar und signalisiert die vorgängige Einheit des Idealen und Realen in einer „transzendentalen Welt“. Zwar ist endliche Subjektivität immer nur „Supplement“ (NS III, 314) eines im Zeichen Spinozas und Plotins pantheistisch zu denkenden „großen Ich“; doch sie alleine repräsentiert die Nahtstelle, an der sich das reale „Außen“ mit dem idealen „Innen“ berührt, sofern sie sich zum Wissen, eben dieses vereinigende Mittelglied zu sein, aufgeschwungen hat und durch den belebenden poetischen Akt die Geistigkeit der Natur aus ihrer Versteinerung befreit. Hardenberg denkt die künstlerische Aktivität als Umsetzung der Forderung nach ideeller Durchdringung der Wirklichkeit, welche ebenso als „Selbstdurchdringung des Geistes“ (NS II, 526, Nr. 13) zu verstehen ist. Im Rahmen solch hochfliegender Gedankengänge fällt das frühromantische Losungswort von der transzendentalen Poesie. „Der Künstler“, so heißt es lakonisch, „ist durchaus transscendental“ (NS II, 534, Nr. 40). Wenn indes durch Poesie „die höchste Sympathie und Coactivität, die innigste Gemeinschaft des Endlichen und Unendlichen“ entsteht (NS II, 533, Nr. 31), so bezieht sich das Transzendentale auf das Verhältnis des Idealen und Realen, besonders aber auf die naturphilosophisch inspirierte Vorstellung der verborgenen Identität beider. In dieser Perspektive besteht die Aufgabe transzendentaler Poesie darin, die Phantasie für die Belebung der Dinge, die Entzifferung des Unendlichen in der endlichen Natur zu mobilisieren. Damit erweist sich ästhetische Einbildungskraft nicht alleine als reflexiv gelenkte; sie stellt sich zudem in den Dienst der Vernunft und ihrer Begriffe. Hardenberg skizziert seinen zentralen Gedanken wie folgt: „Die Poësie hebt jedes Einzelne durch eine eigenthümliche Verknüpfung mit dem übrigen Ganzen – und wenn die Philosophie durch ihre Gesezgebung die Welt erst zu dem wircksamen Einfluß der Ideen bereitet, so ist gleichsam Poësie der Schlüssel der Philosophie, ihr Zweck und ihre Bedeutung; denn die Poësie bildet die schöne Gesellschaft – die Weltfamilie – die schöne Haushaltung des Universums.“ (NS II, 533, Nr. 31)

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Diese Überlegung deckt sich weitgehend mit den Intentionen des sogenannten Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus. Auch dort fungiert die Poesie als „Schlüssel der Philosophie“, weil diese zwar die Bedeutung der Vernunftideen entdeckt und ihre Wirksamkeit auf Moral, Gesellschaft und Natur vorbereitet, ihnen jedoch keine Realität für die Anschauung gegeben habe. Zur Kompensation dieses Defizits bedürfe es des Ästhetischen. Denn Kunst konkretisiere die Zusammenstimmung von zweckmäßigen Ideen und gesetzmäßiger Natur für das verständige Gemüt23. Nicht viel anders lautet das Credo transzendentaler Poesie: Schönheit macht sichtbar, was das Denken postuliert; sie verbürgt gewissermaßen die Realität des Idealen, sofern die belebende „Verknüpfung“ das Bedingte der Natur als Symbol des Unbedingten enthüllt. Der Verfasser des Systemprogramms stellt noch einen anderen Zusammenhang her, der in ganz ähnlicher Weise für Hardenberg, Friedrich Schlegel und auch Hölderlin geltend zu machen ist: Der Plan einer spekulativen Naturphilosophie steht in engster Beziehung zum romantischen Totalitätskonzept einer „Neuen Mythologie“24. Soll das „System aller Ideen“ versinnbildlicht werden, so ist als entsprechendes künstlerisches Medium ein System von Symbolen und symbolischen Handlungen gefordert. Weil letzteres aber eben im „Dienste der Ideen“ zu stehen hat, muß es sich laut Systemprogramm um eine „Mythologie der Vernunft“ handeln25. Eine solche Mythologie der Vernunft dient zwar vornehmlich zum Medium einer neuen Religion, dem „lezte[n] und gröste[n] Werk der Menschheit“26; als symbolische Umsetzung des Systems aller Ideen ermöglicht sie es aber ebensosehr, die Natur als zweckmäßig und nach ideellen Maßstäben gebildet zu betrachten. Genau darauf zielt auch Hardenbergs Magie der Einbildungskraft, welche die „schöne Haushaltung des Universums“ offenbart.

23  So heißt es im Systemprogramm am Ende einer Skizze des „System[s] aller Ideen“: „Zulezt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischem Sine genomen. Ich bin nun überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfast, ein ästhetischer Akt ist, und daß Wahrheit und Güte, nur in der Schönheit verschwistert sind“. Zitiert nach: Mythologie der Vernunft. Hegels „ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus“, hrsg. v. Christoph Jamme u. Helmut Schneider, Frankfurt a. M. 1984, 11–14, hier: 12. Alle Kürzel und editionstechnischen Zeichen sind von mir aufgelöst. 24  Am deutlichsten tritt der Gedanke einer modernen Mythologie auf naturphilosophischer Basis in zwei Beiträgen Friedrich Schlegels für die frühromantische Zeitschrift Athenäum hervor. Gemeint sind die Fragmentsammlung Ideen (1799) sowie das berühmte Gespräch über die Poesie (1800). 25  Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus, zitiert nach: Jamme (Hrsg.): Mythologie der Vernunft, 13. 26  Ebd., 14.



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Der sich bei Hardenberg abzeichnende Gedanke einer poetischen Naturmythologie läßt sich auch im Rekurs auf eine durchaus ähnliche Vorstellung in Schellings System von 1800 erläutern. Schellings Schrift ist gewissermaßen sogar ein „romantisches“ System, sofern es für das Darstellungsproblem der Philosophie die ästhetische Lösung der Frühromantik bereithält. Ich skizziere kurz den Kontext: Die Poiesis der Einbildungskraft bleibt dem empirischen Ich unbewußt, die ursprüngliche Identität der ideellen und reellen Tätigkeit im Absoluten – und somit die Identität von Geist und Natur – gelangt daher nicht zur Anschauung27. Die Darstellung der Identität kann aber, so Schelling, in einer ästhetischen Anschauung gewährt werden. Auf diese Weise befriedigt sich der produktive Antagonismus im Ich, endet die Geschichte des Selbstbewußtseins, nachdem ihm infolge seines Widerstreits die Sphären der Freiheit und Natur entstanden sind. Mittels Kunst wird also die auf das transzendentale Ich sich gründende Einheit des Idealen und Realen der Intelligenz zugänglich. Ausgangspunkt dieser Überlegung, die ich hier nur sehr verkürzt wiedergeben kann, ist der schon angesprochene Gedanke, daß die Poiesis – von Kant und Fichte als ursprüngliches Wesen des Menschen kenntlich gemacht – sich in ihrer ästhetischen Form vollende, sofern letztere das unbewußte Produzieren seinerseits zum Bewußtsein erhebt und in den Dienst der Progression durch Freiheit stellt. Die Annahme einer Konvergenz von Kunstpraxis und ursprünglicher Tätigkeit wird von Schelling bestätigt: „Die idealische Welt der Kunst und die reelle der Objekte sind also Produkte einer und derselben Thätigkeit; das Zusammentreffen beider (der bewußten und der bewußtlosen) ohne Bewußtseyn gibt die wirkliche, mit Bewußtseyn die ästhetische Welt“ (SSW I / 3, 349). Kunst kann, da sie die Identität der objektiv-unbewußten Produktion, auf der die Naturanschauung beruht, mit der ideell-bewußten durchsichtig macht, geradezu als erfüllte Naturteleologie verstanden werden. Hierfür ist nach Schelling insbesondere eine Mythologie geeignet, denn das mythologische Verfahren besteht in der symbolischen Belebung der Natur. Auf diese Weise dechiffriert Kunst den Organismus als schöne Botschaft und Spiel des Geistes mit sich selbst: „Die Ansicht, welche die Philosophie von der Natur künstlich sich macht, ist für die Kunst die ursprüngliche und natürliche. Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer wunderbarer Schrift verschlüsselt liegt.“ (SSW I / 3, 628) 27  Zwar strebt das Selbstbewußtsein über die bloße Rezeptivität hinaus, erkennt sich als freies Wesen und in den Dingen die Mittel seines vernünftigen Handelns. Aber auch die Praxis verschafft dem Subjekt noch keine Vereinigung mit dem ihm Entgegengesetzten, muß ja der Freiheit – soll ihr Begriff sinnvoll sein – ein als selbständig erfahrenes Reich der Notwendigkeit gegenüberstehen. Vgl. zusammenfassend die „Allgemeine Anmerkung zu dem ganzen System“ (SSW I / 3, 631–634).

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Diese Auffassung entspricht ziemlich genau dem Standpunkt Hardenbergs. Im Begriff der „Schrift“ klingt ein alter, auch im 18. Jahrhundert beliebter Topos an, nämlich die Rede vom „Buch der Natur“, das es zu entziffern gelte. Für die Aufklärung bezeichnet dies bereits den Imperativ des naturwissenschaftlich-technischen Zeitalters: Natur beinhaltet nicht mehr das Geheimnis der Schöpfung durch einen transmundanen Schöpfer, sondern ist gleichsam ein komplexes Ensemble von Gesetzen, die zwar noch verborgen, aber prinzipiell verstehbar und durch den menschlichen Verstand zu enthüllen sind. Im Sinne einer neuen Naturmythologie muß jedoch der Richtungssinn des Topos vom liber naturae gewissermaßen umgekehrt werden: Es geht nicht mehr um die rationalistische Enthüllung des Naturmechanismus, sondern um die Wiederverzauberung der Natur im Namen einer philosophischen Einsicht. Anders gesagt: Auch die von Hardenberg anvisierte romantische Poesie soll die Natur lesbar machen – aber eben nicht als vollkommen transparenten Text, sondern weit mehr als rätselhafte „Hieroglyphe“, wie es im romantischen Sprachgebrauch heißt28. Um die Tragweite und den Standort dieses ästhetisch-naturphilosophischen Konzeptes innerhalb der frühidealistischen Konstellation zu verdeutlichen, möchte ich hier einen kleinen Exkurs zu Kants Kritik der Urtheilskraft einfügen. Dieses Werk ist nicht alleine eine wesentliche Inspirationsquelle für Naturphilosophie und Ästhetik im Deutschen Idealismus; es stellt auch beide Disziplinen in einen Zusammenhang. Denn die reflektierende Urteilskraft, die im Begriff der Zweckmäßigkeit ihr eigenes transzendentales Prinzip fin28  Die Lehre von der poetischen Hieroglyphe, die wir ähnlich in den Dichtungen Ludwig Tiecks finden, ist eine Anspielung auf die mystische Sprach- und Naturauffassung des schlesischen Theosophen Jakob Böhme. Dessen offenkundige Tendenz zum Pantheismus kann ebenfalls mit der sich an Fichtes Ich-Spekulation entzündenden Idee einer Naturphilosophie in Verbindung gebracht werden. In der späten Schrift Von der Geburt und Bezeichnung aller Wesen (1622) verkündet Böhme, Gottes weltstiftendes Wort habe sogenannte „Signaturen“ in der Schöpfung hinterlassen, Spuren des Geistes, in denen dieser selbst noch anwesend sei. Die richtige Entzifferung dieser Spuren könne den Menschen befähigen, die nur stumm scheinende Natur zum Sprechen zu bringen. Im Rekurs auf diese mystische Sprachauffassung etabliert sich für die Bezeichnung des verborgenen Sinns der Natur der Begriff der Hieroglyphe. An exponierter Stelle erscheint die Rede von der Natur als Hieroglyphe bereits in den von Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder verfaßten Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1796), nämlich in dem Abschnitt Von zwey wunderbaren Sprachen. Dem Ästhetischen wird dabei ein der Natur vergleichbarer metaphysischer Stellenwert zugesprochen. Denn in Analogie zur hieroglyphischen Natur verweist ebenso die allegorisch-vieldeutige Kunst auf das Göttliche. Spuren derselben Auffassung weisen die Kunstgespräche in Tiecks Roman Franz Sternbalds Wanderungen (1798) auf: Die Hieroglyphe sei es, „die das Höchste, die Gott bezeichnet“, und in diesem Sinne kann sich dem Menschen durch Naturanschauung „die Ahndung der Gottheit“ eröffnen (Ludwig Tieck’s Schriften, Bd. XVI, Berlin 1828 ff., 274).



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det, verfährt einerseits teleologisch in der Beurteilung der Natur als objektivzweckmäßig, andererseits aber ästhetisch im subjektiv-zweckmäßigen Geschmacksurteil über das Schöne und Erhabene. Noch folgenreicher ist aber Kants Gedanke, daß sowohl die Naturteleologie als auch das Kunstschöne – wenn auch nur in regulativer Absicht – auf einen durch theoretische Vernunft nicht faßbaren Einheitsgrund von Natur und Freiheit verweisen. Diese Konfiguration, die Naturphilosophie und Ästhetik zusammenrückt, wird in der Frühromantik und auch bei Schelling aufgegriffen, aber im Sinne einer Vollendung der Spekulation durch ästhetische Darstellung gewendet: Ist der lebendige Organismus Anzeige der verborgenen Identität des Idealen und Realen29, so kann letztere durch Kunstanschauung vor das betrachtende Bewußtsein gebracht werden, und zwar vermöge einer Eigenschaft der symbolisch verfahrenden Kunst, die man mit Kants Begriff der „ästhetischen Idee“ beschreiben kann. Jene besondere und zur Hervorbringung von Kunst benötigte schöpferische Gabe, so Kant, ist „das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen“. Unter einer solchen Idee versteht Kant „diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein be29  Wegweisend für die naturphilosophische Spekulation ist Kants Auffassung, daß insbesondere durch Anschauung des lebendigen Organismus die teleologische Urteilskraft veranlaßt werde, Naturdinge als zweckmäßig zu erachten. Die Vollkommenheit organisierter Wesen, so Kant, deute auf eine intelligible Endursache der Natur. Kants Organismusbegriff kann an dieser Stelle nicht ausgeführt werden. Zentral sind die §§ 65 und 66 der Kritik der Urtheilskraft (KdU, B 289–295). Entscheidend ist Kants Feststellung: „dieser Begriff [des Organismus; M. G.] führt die Vernunft in eine ganz andere Ordnung der Dinge, als die eines bloßen Mechanisms der Natur, der uns hier nicht mehr genug thun will. Eine Idee soll der Möglichkeit des Naturproducts zum Grunde liegen“ (KdU, B 297). Text hier und im folgenden zitiert nach: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften / Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin / Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin / New York 1900 ff. Freilich muß man nach Kant stets das erkenntniskritische Verdikt des „als ob“ berücksichtigen. Im Unterschied zur ästhetischen betrachtet zwar die teleologische Urteilskraft Natur unter dem Blickwinkel objektiver Zweckmäßigkeit (nicht subjektiv in bloßer Beziehung auf den Zustand des betrachtenden Bewußtseins). Gleichwohl handelt es sich ebenfalls um ein lediglich regulatives Prinzip, da es wie das ästhetische Geschmacksurteil der reflektierenden, nicht der logisch-bestimmenden Urteilskraft angehört. Für Schellings naturphilosophische Position ist es bezeichnend, daß für sie die Kantische Einschränkung keine Rolle mehr spielt: Das teleologische Erscheinen der Natur beruht auf der Identität der ideellen und reellen Tätigkeit (vgl. SSW I / 3, 607). Diese höchste Ansicht wird aber erst durch die Kunstanschauung hergestellt. Denn: „Die Natur in ihrer blinden und mechanischen Zweckmäßigkeit repräsentirt mir allerdings eine ursprüngliche Identität der bewußten und der bewußtlosen Thätigkeit, aber sie repräsentirt mir jene Identität […] nicht als eine solche, deren letzter Grund im Ich selbst liegt“ (SSW I / 3, 610).

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stimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann“ (KdU, B 192 f.). Mit den ästhetischen Ideen verweist Kant zugleich auf die künstlerische Verfahrensweise, die solche Unausdeutbarkeit ermöglicht: die symbolische Verfahrensweise. Kant erklärt die Kunst sogar im Ganzen zum „Symbol der Sittlichkeit“, sofern sie die Versinnlichung von anders nicht darstellbaren Vernunftbegriffen erlaubt (vgl. KdU, B 254–260). Die Kunst kann deshalb das „Sittliche“ (also die Vernunftidee der Freiheit) symbolisieren, weil sie aufgrund der Struktur ihrer Darstellung unendlich deutbar oder reflektierbar ist. Kant nennt die ästhetische Idee daher auch ein „Pendant“ der Vernunftidee: Erstere ist eine Anschauung der Einbildungskraft, welcher kein Begriff, letztere umgekehrt ein Begriff, dem keine Anschauung in der Welt sinn­ licher Erscheinungen adäquat sein kann30. Der teleologisch beurteilte Organismus läßt sich naturwissenschaftlich zergliedern und seine Funktionsweise durch Anwendung von Verstandes­ kategorien erklären. Das Kunstschöne hingegen zeichnet sich durch eine „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ aus (KdU, B 44). Es handelt sich zwar um ein Artefakt, jedoch erscheint es – wenn es denn Produkt des Genies ist – so, als sei es absichtslose Natur. Die Zweckmäßigkeit wird erst durch die ästhetische Erfahrung eruiert, läßt sich aber nicht definitiv letztgültig bestimmen, sondern zeigt sich als unerschöpfliche Sinnfülle. Das Schöne ist Gegenstand einer potentiell unabschließbaren ästhetischen Reflexion und kann daher das unvordenkliche Absolute (die Vernunftidee) symbolisieren. Mit Fichte und Schelling wandelt sich freilich der theoretische Hintergrund für Kants Erläuterung der spezifischen Leistung des Ästhetischen dramatisch. Das von Kant etablierte Konstruktionsparadigma der Philosophie wird von Fichte produktionsidealistisch reformuliert und damit zugleich überboten. Der Zusammenhang der Naturerscheinungen wird nicht mehr alleine durch die Apperzeption des „ich denke“ sowie die Ordnungsleistung der Kategorien hergestellt und im Zeichen einer Konnexion von Naturkausalität und Freiheit unter dem regulativen Begriff der Zweckmäßigkeit gebündelt, sondern in der Wechselbestimmung der Einbildungskraft generiert. Schelling geht nun einen Schritt weiter – und dies ist der Schritt zur spekulativen Naturphilosophie –, indem er Fichtes Ansatz in einen dynami30  Vgl. KdU, B 193, 240, 242. Vernunftideen läßt sich ein Äquivalent in der Sinnenwelt nur auf symbolische Weise verschaffen. Solche Realität ist nicht objektiv, sie bietet keine Kongruenz von Anschauung und Begriff, keine Erkenntnis der Idee. Das Symbol ist der Vernunftidee gerade deshalb angemessen, weil es ebenfalls eine unendliche Kluft zwischen Anschauung und Begriff offen hält. So sagt Kant, „man könne die ästhetische Idee eine inexponible Vorstellung der Einbildungskraft, die Vernunftidee aber einen indemonstrablen Begriff der Vernunft nennen“ (KdU, B 240).



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schen Spinozismus des absoluten Ich überführt, der Natur und Subjekt als Artikulationsformen eines zwar transreflexiven, aber immanenten und unter der Hand mit Eigenschaften der spinozistischen Substanz ausgestatteten „Urseins“ erklärt. Die Natur ist nicht mehr als bloße Matrix physikalischmechanistischer Gesetze zu denken. Vielmehr gebiert sie produktiv, ewig sich bildend und verwandelnd, ihre Gestalten. Der Schlüssel dieser immanenten Schöpfungsprozesse ist aber die Produktivität des Absoluten, die einmal als Verhältnis von natura naturans und natura naturata, zum anderen jedoch im Selbstbewußtsein als Wechselspiel der zentrifugalen und zentripetalen Tendenz erscheint. Dies ist, verkürzt gesprochen, die Folie, auf der Hardenberg sein Konzept einer poetischen „Tropen und Räthselsprache“ (NS II, 485) entwickelt, welche die Natur als Hieroglyphe, somit als Symbol der Identität von unbewußt-produktiver und bewußt-produktiver Tätigkeit im Ich darstellen soll. Kants Auffassung vom Genie als Vermögen ästhetischer Ideen läßt sich dabei in die von Schelling, Spinoza und Plotin inspirierte naturphilosophische Perspektive einbetten: In der Gestalt des poetischen Genies wendet sich die produktive, nun zum Geist gewordene Natur auf sich selbst zurück. Indem die unerschöpfliche Polysemie der ästhetischen Idee auf die Natur projiziert wird, erscheint letztere als rätselhafte Hieroglyphe oder – wie es auch oft heißt – als „Allegorie“ des Unbedingten31. Schon Kant hat festgestellt, daß besonders die poetische Sprache geeignet sei, Natur als „Schema des Übersinnlichen“ erscheinen zu lassen32. Indem das poetische Zeichen das Bezeichnete verwandelt, wird dieses zur gedan31  Im frühromantischen Diskurs werden die Termini „Symbol“ und „Allegorie“ in der Regel synonym gebraucht. Anders als die übliche Definition nahelegt, ist die allegorische Darstellung also hier nicht eine solche, die ohne weiteres diskursiv entschlüsselt und in eine vollständige Gleichung mit dem Gemeinten überführt werden könnte. Man kann die Kantische Fassung des Symbols, die ich auch für Hardenberg geltend machen will, mit Manfred Zahn als „Sinnbild, in dem ein Ideelles zur Erscheinung kommt“, verstehen, wobei sich dieses Sinnbild „in einem nicht auf einen bestimmten Begriff zu bringenden Beziehungsreichtum“ darbietet (Manfred Zahn: „Zeichen, Idee und Erscheinung. Symbolkonzepte in der Philosophie des Deutschen Idealismus“, in: Beiträge zu Symbol, Symbolbegriff und Symbolforschung, hrsg. v. Manfred Lurker, Baden-Baden 1982, 217–228, hier: 217). Einen umfassenden Versuch, das Werk Hardenbergs am Leitfaden des Symbolbegriffs zu interpretieren, hat jüngst Andreas Kubik unternommen: Die Symboltheorie bei Novalis. Eine ideengeschichtliche Studie in ästhetischer und theologischer Absicht, Tübingen 2006. 32  Vgl. KdU, B 215: „Sie [die Dichtkunst; M. G.] stärkt das Gemüth, indem sie es sein freies, selbstthätiges und von der Naturbestimmung unabhängiges Vermögen fühlen läßt, die Natur als Erscheinung nach Ansichten zu betrachten und zu beur­ theilen, die sie nicht von selbst weder für den Sinn noch den Verstand in der Erscheinung darbietet, und sie also zum Behuf und gleichsam zum Schema des Übersinnlichen zu gebrauchen.“

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kenvollen Signatur eines begrifflich nicht auslotbaren Zusammenhangs. „Ein Gedicht muß“, so die unerläßliche Forderung an das ästhetische Gebilde, „ganz unerschöpflich seyn, wie ein Mensch und ein guter Spruch“ (NS III, 664, Nr. 603). Dergestalt kann die Welt die Bedeutung einer Hieroglyphe erhalten. Indes ist diese Bedeutung der Moderne mit ihrer rationalistisch verengten Perspektive verlorengegangen: „Ehemals war alles Geistererscheinung. Jetzt sehen wir nichts, als todte Wiederholung, die wir nicht verstehen“ (NS II, 545, Nr. 104). Der unendlich bedeutsame Verweisungscharakter alles Seienden bleibt dem analytischen Verstande verschlossen, und somit wird das innewohnende Leben des Seins in allem Dasein unkenntlich. Die Wiederbelebung des wahren Sinnes für die Natur soll durch Poesie erfolgen. „Aus einem Menschen spricht für dieses Zeitalter Vernunft und Gottheit nicht vernehmlich nicht frappant genug – Steine, Bäume, Thiere müssen sprechen, um den Menschen sich selbst fühlen, sich selbst besinnen zu machen. Die erste Kunst ist Hieroglyphistik“ (NS II, 571, Nr. 214). „Hieroglyphistik“ macht Natur als Manifestation und unerschöpfliche Mitteilung des Unendlichen erfahrbar; sie lenkt den Blick auf das Erscheinende hinter der Erscheinung, so daß Vernunft und Gottheit „frappant genug“ zur Sprache kommen. IV. Zum Schluß möchte ich den bisher aufgezeigten Zusammenhang noch einmal in einem anderen Lichte betrachten und auf die Verquickung von Naturspekulation, Poetik und empirischer Naturforschung bei Hardenberg zu sprechen kommen. In dieser Hinsicht zeichnet sich eine Eigentümlichkeit frühromantischen Denkens ab, die ich zunächst im Ausgang von einer Äußerung Schellings umreißen möchte. In einem seiner frühen naturphilosophischen Versuche, den Ideen zu einer Philosophie der Natur von 1796, formuliert Schelling die Intention seiner Überlegungen wie folgt: „Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn. Hier also, in der absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns, muß sich das Problem, wie eine Natur außer uns möglich sey, auflösen“ (SSW I / 2, 56). Bezeichnet ist damit nicht nur die Grundüberzeugung frühromantischer Naturbetrachtung, sondern mehr noch die Forderung nach einem noch zu konstruierenden System der Philosophie, das sich dem Nachweis jener absoluten Identität widmet. Nach 1800 wird Schelling mit Blick auf dieses Programm denn auch von „Identitätsphilosophie“ sprechen. Erinnern wir uns nun an einen bereits zitierten Imperativ Hardenbergs, in dem es heißt, man solle alles in ein „Du“ beziehungsweise ein „zweites



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Ich“ verwandeln. Dies scheint der Ansicht Schellings auf den ersten Blick zu entsprechen. Jedoch geht es bei Hardenberg – und das gilt für das frühromantische Denken generell – gerade nicht um die Konstruktion eines Systems der Philosophie. Vielmehr ist hier das Sollen, so haben wir gesehen, tatsächlich im Sinne der Praxis zu deuten, nämlich als Aufforderung nach ideeller Durchdringung der Naturwirklichkeit mittels der aneignenden Syntheseleistung des Bewußtseins. In diese Perspektive muß eingerückt werden, daß sich frühromantisches Philosophieren geradezu durch eine Aversion gegen strenges Systemdenken auszeichnet. Die Motive der frühromantischen Antisystematik kann ich hier nur andeuten: Das Absolute ist für Hardenberg (und auch Friedrich Schlegel) nicht – wie dann später bei Hegel – Gegenstand eines absoluten Wissens, mithin kein luzides Prinzip, nach dessen Maßgabe sich die Phänomene der Wirklichkeit deduzieren und in einem geschlossenen System organisieren lassen. Das Absolute ist vielmehr nur als Gegenstand einer non-diskursiven Gewißheit zugänglich – und damit gerade nicht ein Grundsatz des Wissens. Daraus resultiert ein systemkritischer Impetus, der sich aber zugleich an die transzendentale Voraussetzung eines „Grundes“ gebunden weiß und stets die Idee der Einheit im Blick behält. Dasjenige, was Einheit stiften kann, ist nun aber die Synthesis als Leistung des Selbstbewußtseins, als Ausdruck der Spontaneität des Ich. Hier greift nun wieder jener zentrale Gedanke, den Hardenberg auf die griffige Formel von der Freiheit als dem „einzigen uns gegebenen Absoluten“ bringt. Die Einheit in der Vielheit der Phänomene ist nicht Resultat eines Systems, sondern erscheint nur transitorisch und fragmentarisch in der Verbindung, der Vereinigung auch des scheinbar Unvereinbaren und Auseinanderliegenden, im Erstellen von Korrespondenzen. Das Identische darzustellen, um es mit Hardenberg zu sagen, ist also nur indirekt möglich, nämlich anhand der „Vereigentümlichung“ der potentiell unendlichen Fülle von Sachverhalten durch das praktische Ich. Auf dieser Basis werden Begriffe wie „Experiment“, „Witz“ oder „Analogie“ zu methodischen Kategorien der Wissenschaft. Gemeint ist damit stets die tätige Synthesis des Bewußtseins. In letzterer ist das Absolute, das sich uns in Gestalt der Freiheit sozusagen mitteilt, auch immer mittätig. Jede Synthesis ist zwar für sich gesehen fragmentarisch, aber zugleich auch fragmentarische Darstellung des Grundes, der in der Totalität aller Syntheseprodukte realisiert wäre. So gesehen, handelt es sich um eine systematische Antisystematik. Aufgrund seiner einheitsstiftenden Fähigkeit stellt nach Hardenberg das Individuum „ein magisches – willkührliches Princip“ dar: „Individuen vereinigen das Heterogène […] Sie bringen wunderbar das Verschiedenartigste in Eine Gemeinschaft des Zwecks und d[er] Arbeit“ (NS III, 466, Nr. 1070).

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Im Sinne der Verknüpfungsarbeit als Praxis des Ich ist Freiheit selbst das magische Prinzip, die produktive Willkür, mittels deren sich das Ich ein „Sein“ verschafft oder, wie Hardenberg sagt, „sich darstellt“. In diesen Kontext kann auch die romantische Konvergenz von Poesie und Naturforschung eingeordnet werden. Denn in der eben angedeuteten Perspektive gelten theoretische Philosophie, Wissenschaft überhaupt, Ästhetik und schließlich auch das eigentlich praktisch-moralische Handeln als Ausdrucksformen der ursprünglichen Poiesis. Auf der Folie des praktisches Teils der Wissenschaftslehre von 1794 betrachtet, handelt es sich um jeweils defiziente und daher stets ergänzungsbedürftige und zu überbietende Entwürfe des endlichen Bewußtseins, sein Streben nach Restitution der Einheit mit dem absoluten Ich zu realisieren. Sehr verkürzt gesprochen ist dies die Grundlage einer Idee, die für die Frühromantik charakteristisch ist: die Idee einer Wechseldurchdringung von Philosophie, Wissenschaft und Kunst. Ich möchte diese Idee einer Fundamentalwissenschaft, in der sich alle Tätigkeiten des Geistes vereinen, als Poietik bezeichnen33. Das Gemeinsame und Bestimmende in allen Äußerungen des Geistes ist demnach jene Poiesis, die vom Idealismus Kants und Fichtes als eigentliches Wesen des Menschen enthüllt wird. Das betrifft natürlich auch Naturphilosophie und Naturforschung; in ihnen ist dasselbe Prinzip wirksam wie in Poetik und poetischer Praxis. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, daß der romantische Sprachgebrauch die Grenzen der Disziplinen überschreitet. Sehr schön sehen läßt sich das am Begriff der „Chemie“. Gemeint ist damit nicht alleine der Naturprozeß bzw. eine bestimmte Form des naturwissenschaftlichen Experiments, sondern auch die ebenfalls experimentell-synthetische Verbindung von Elementen durch den Geist34. Das „Experiment“ als naturwissenschaftliche Methode und insbesondere die Chemie als paradigmatische Form einer „Experimentirkunst“ (NS III, 445, Nr. 924) hat Hardenberg im Zuge seiner Niederschrift des Allgemeinen 33  Das Originelle der frühromantischen Literaturtheorie besteht darin, daß sie den traditionellen Begriff der Poesie an seine ursprüngliche Herkunft aus der poiesis zurückbindet. In diesem Sinne ist das emphatische Glaubensbekenntnis Hardenbergs zu verstehen, das der Lehre des ästhetischen Idealismus zugrunde liegt: „Die Poësie ist das ächt absolut Reelle. Dies ist der Kern meiner Phil[osophie]. Je poëtischer, je wahrer“ (NS II, 647, Nr. 473). 34  Mit den experimentellen Methoden der Naturwissenschaft seiner Zeit war Hardenberg aufgrund des Freiberger Studiums und später auch durch seine Tätigkeit als Bergwerksinspekteur durchaus vertraut. Insbesondere chemische Versuche hat Hardenberg selbst ausgeführt und in seinen Aufzeichnungen akribisch protokolliert. Vgl. hierzu Jürgen Daiber: Experimentalphysik des Geistes – Novalis als Experimentator an Außen- und Innenwelt, Stuttgart 2000.



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Brouillons – der Materialsammlung zur geplanten „Enzyklopädie“, wie er die anvisierte romantische Universalwissenschaft nennt – konsequent auf Philosophie und Poesie, aber auch auf alle möglichen anderen Formen geistiger Tätigkeit transponiert. Vorbildlich ist die chemisch-experimentelle Verfahrensweise des Scheidens, Auflösens und Mischens unterschiedlicher Elemente oder Stoffe, sofern aus deren Re-Kombination bzw. Transforma­ tion letztlich Neuartiges hervorgeht35. Die Fähigkeit des Bewußtseins zur innovativen Vereinigung auch des Heterogenen ist ebenso „intellectuelle Chemie“ (NS II, 648, Nr. 476) wie die Poesie, welche durch symbolische Konstruktion selbst die versteinerte Natur zum Leben erweckt. In dieser Hinsicht meint Chemie als „Erregungswissenschaft“ (NS III, 48) auch das Prinzip des „Witzes“, der im 18. Jahrhundert noch als Fähigkeit zur verblüffenden Kombination, als ars combinatoria verstanden wurde36. Nicht weniger witzig und chemisch als das poetisch-symbolische Handeln ist schließlich die romantische Naturforschung, die experimentell und gleichermaßen artistisch mit Analogien arbeitet, um den Zusammenhang aller Dinge und Wesen augenscheinlich zu machen. Begriffe wie „Experiment“, „Witz“, „Chemie“ oder „Analogie“ sind am Ende gar Synonyme, weil sie alle – naturphilosophisch gesehen – als Arbeit an der Idee der Natur aufgefaßt werden können. Das Entscheidende dabei ist der Umstand, daß dieses hier nur angedeutete Verfahren des romantischen Denkens den transzendentalphilosophischen Grundsatz von der konstitutiven Funktion des Bewußtseins zugrunde legt. Anders gesagt: Hardenberg denkt die in der Naturforschung enthüllte Produktivität der Natur in Rücksicht auf die Produktivität des je schon prakti35  Hardenbergs weitreichende Beschäftigung mit Chemie, die im Kontext des naturwissenschaftlichen Diskurses der Neuzeit zu verorten ist und auch auf hermetisch-alchemistische Traditionen zurückgreift, kann ich hier nicht einmal ansatzweise erläutern. Vgl. dazu die detaillierte und äußerst kenntnisreiche Arbeit von Ralf Liedtke: Das romantische Paradigma der Chemie. Friedrich von Hardenbergs Naturphilosophie zwischen Empirie und alchemistischer Spekulation, Paderborn 2003. Ausführlich wird Hardenbergs Methode der Erstellung struktureller Analogien zwischen ästhetisch-intellektuellen Verfahrensweisen und Denkfiguren zeitgenössischer Chemie und Mineralogie von Barbara Thums am Beispiel der „Kristallisation“ vorgeführt: „Die ‚Stimmung des Krystallisirens‘. Novalisʼ naturphilosophisch-ästhetische Theorie der Darstellung“, in: Darstellbarkeit. Zu einem ästhetisch-philosophischen Problem um 1800, hrsg. v. Claudia Albes u. Christiane Frey, Würzburg 2003, 71–96. 36  Vor allem Friedrich Schlegel hat die verblüffende und spontane Synthesis des Witzes, in der gewissermaßen für einen Augenblick das Absolute angedeutet wird, zum Gegenstand einer eigenen Witztheorie gemacht. Ich verweise in dieser Sache auf die Kölner Vorlesungen von 1805, in denen Schlegel noch einmal wesentliche Ideen der frühromantischen Zeit zusammenfasst.

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schen Ich37. So kommen wir wieder – wenn sie auch in verwandelter Form erscheint – auf Fichtes zentrale Lehre von der Wechselbestimmung zurück: Der „tätige Empirismus“ in Naturforschung, Naturphilosophie und Poesie meint die schöpferische Wechselbeziehung einer produktiven Idee der Natur einerseits und der Arbeit am naturgegebenen Sachverhalt andererseits. Experimentieren wird aber von Hardenberg als Repräsentieren verstanden: Es geht um das Aufzeigen der Idee, um die Darstellung des absoluten Grundes durch die aneignend-konstruierende Syntheseleistung der von ursprünglicher Identität entbundenen Subjektivität. – Ich will diesen Zusammenhang noch anhand eines Aspekts etwas genauer erläutern, nämlich anhand der Parallelisierung von ästhetischer und naturforschender bzw. naturphilosophischer Tätigkeit bei Hardenberg. Im Schlagwort des Experiments artikuliert sich nicht nur Hardenbergs Vorstellung von Naturforschung, sondern auch von kritischer Philosophie. Deren Wortführer wird mit entsprechendem Lob bedacht: „Fichte lehrt das Geheimniß des Experimentirens – er lehrt Thatsachen und Thathandlungen, oder wirckliche Sachen und Handl[ungen] – in Experimente und Begriffe verwandeln“ (NS III, 391, Nr. 657). Und stellt man dieser Einschätzung die Emanationstheorie mit ihrem Abstieg von der Idee des einen Seins zur Vielheit des Seienden gegenüber, so können Plotins Hypostasen als Ergebnis eines im Verhältnis zu Fichte umgekehrten Experiments erscheinen. Unter diesem Vorzeichen ist auch das Philosophieren als Ausübung einer Kunst, ihr Resultat als Konstruktion der positiv zu wertenden Willkür des Ich zu begreifen. So schreibt Hardenberg mit Blick auf die Postulatenlehre Kants: „Die Phil[osophie] kann kein Brod backen – aber sie kann uns Gott, Freyheit und Unsterblichkeit verschaffen“. Diesem Resümee fügt er bezeichnenderweise hinzu: „(Verschaffen ist Machen – Machen drückt nichts anders aus)“ (NS III, 315, Nr. 401). Verschaffen ist Machen – diese Maxime bildet den Kerngedanken der Poetik und der Naturphilosophie gleichermaßen. Wie die philosophische, so muß auch die poetische Praxis im Sinne einer „Experimentierkunst“ verstanden werden, die sich ihres heuristischen Charakters bewußt zu sein hat. Als Heuristik ist spekulatives Experimentieren opportun, solange es an die erkenntniskritische Basis gebunden bleibt. Ist schon nicht die Präsenz des Absoluten faßlich zu machen, so gibt es doch den Ausweg einer Veranschaulichung durch Repräsentanz, durch die Mittelbarkeit des Zeichens: 37  Die Nähe von „Produktivität“ und „Experiment“ bei Hardenberg betont auch Fergus Henderson, wobei jedoch der Bezug zum Praxisbegriff Fichtes gänzlich übergangen wird: „Romantische Naturphilosophie. Zum Begriff des ‚Experiments‘ bei Novalis, Ritter und Schelling“, in: Novalis und die Wissenschaften, hrsg. v. Herbert Uerlings, Tübingen 1997, 121–140.



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„Man muß d[ie] Wahrheit überall vergegenwärtigen – überall repraesentieren (im thätigen, producirenden Sinn) können“ (NS III, 445, Nr. 924). Hier wird es noch einmal deutlich gesagt: Vergegenwärtigung ist Resultat eines schöpferischen Vorgangs, eines Experiments. Diese Aktivität des tätigen Empirismus konstituiert den anvisierten Real-Idealismus. Wie bereits oben gesagt, steht der tätige Empirismus im Zeichen der Magie; er setzt dabei die Einsicht des Subjekts in die Verbundenheit mit einem transzendentalen „Ich höherer Art“ (NS II, 529, Nr. 21) voraus. Aber zugleich bringt er die Magie der produktiven Einbildungskraft in ein Verhältnis zur Empirie. Genau diese Haltung soll nach Hardenberg auch den Naturphilosophen kennzeichnen: Seine Arbeit beruht auf poietischem Bewußtsein, sofern er seine aus der Naturanschauung gezogenen Beobachtungen aktiv in ein Verhältnis zur spekulativen Idee der Natur zu setzen hat. Nicht anders als der Dichter ist daher der wahre Naturforscher als Genie zu begreifen. Es sind ja dieselben Fähigkeiten, welche gemeinsam die poetische und philosophische Praxis begründen. Eingedenk des neuplatonischen Begriffs der „Ekstase“ (NS III, 465, Nr. 1067) ist dies einmal die Disposition der geistig sensiblen Individualität zur mystischen Kommunion mit dem Ich höherer Art. Im Sinne der Genieästhetik sind darüber hinaus auch die Kategorien „Spontaneität“ und „Intuition“ zu nennen. Hardenberg macht aber noch eine weitere Bedingung des poetisch-philosophischen Genies namhaft. Dabei handelt es sich um das Gegenstück der Ekstase, insofern sich der Zustand des Inne-Seins des Absoluten nun nach außen an das „Universum“ wendet. Ekstase ist nur ein neuer Terminus für die in den Fichte-Studien so bedeutende Instanz des Gefühls, die nicht auf reflexive Akte reduzierbare Gewißheit von Identität38. Nun tritt ein Gefühl hinzu – ein „Sinn“, wie Hardenberg auch sagt –, das nicht dem Bereich der Introspektion angehört, sondern die Anwesenheit des Geistes in der Anschauung der kosmischen Ordnung erfaßt. Diesen Sinn für das Universum nennt Hardenberg das „moralische Organ“ beziehungsweise den „moralische[n] Sinn“ (NS II, 366, Nr. 27 u. passim). Damit rekurriert er auf einen Begriff des niederländischen Denkers Frans Hemsterhuis, der als Vertreter eines ästhetisch grundierten Neuplatonismus gilt39, und schließt ihn an das von 38  In diesem Sinne identifiziert Hardenberg die Ekstase auch mit der intellektuellen Anschauung. Vgl. NS III, 440, Nr. 896: „Ekstase – Innres Lichtphaenomen = intellectualer Anschauung.“ 39  Speziell zur Hemsterhuis-Auseinandersetzung Hardenbergs, der ich hier nicht detailliert nachgehen kann, vgl. Friedrich Strack: Im Schatten der Neugier. Christliche Tradition und kritische Philosophie im Werk Friedrich von Hardenbergs, Tübingen 1982, 151–167; sowie Hans-Joachim Mähl: „Novalis: Hemsterhuis-Stu­ dien“, in: Romantikforschung seit 1945, hrsg. v. Klaus Peter, Königstein 1980, 180–197.

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Fichte und Plotin her gebildete Konzept eines durch poetisches Experiment gegründeten Real-Idealismus an. Auch das moralische Organ beruht auf genialischer Intuition und läßt sich nicht auf eine diskursiv abgesicherte theoretische Einstellung des Bewußtseins reduzieren. Als „wunderartige Fähigkeit den Sinn der Natur zu treffen – und in ihrem Geiste zu handeln“ (NS III, 179) ist diese Form von Genie Grundstein des Experimentierens und der idealistischen Auffassung der Natur, die eine Notiz des Allgemeinen Brouillons als „phys[ikalische] Kunstl[ehre]“ auszeichnet. Dort wird auch explizit auf die methodische Bedeutung der Intuition hingewiesen: „Der ächte Experimentator muß ein dunkles Gefühl der Natur in sich haben, das ihn, je vollkomner seine Anlagen sind, um so sicherer auf seinem Gange leitet und mit desto größerer Genauigkeit das versteckte entscheidende Phaenomèn finden und bestimmen läßt. Die Natur inspirirt gleichsam den ächten Liebhaber und offenbart sich um so vollkommner durch ihn – je harmonischer seine Constitution mit ihr ist“ (NS III, 256, Nr. 89). Der mystisch-intuitive Sinn für die ideelle Abkunft der Natur verdient offenbar deshalb das Attribut des Moralischen, weil er Sinn für die Göttlichkeit des Weltalls ist. Muß man solches Bewußtsein als Bedingung des magischen Kalküls der Einbildungskraft fassen, so kann das Romantisieren auch unter dem Synonym des „Moralisierens“ erscheinen40. „Die Welt ist die Sfäre der unvollkommenen Vereinigung des Geistes und der Natur. Ihre Vollkommene Indifferenzirung bildet das Sittliche Wesen par exellence – Gott. Das Wesen Gottes besteht in der unaufhörlichen Moralisirung“ (NS III, 61). Moralisierung geschieht durch das seiner Freiheit gewisse Ich, indem es das Band knüpft zwischen Geist und Natur, Gemüt und Welt. In diesem Sinne kann Gott nicht als eine schlicht gegebene ontologische Größe gelten; vielmehr ist der Imperativ angemessener Modus für eine Rede von Gott: „Die Natur soll moralisch werden“ (NS III, 252, Nr. 73). Den Imperativ der Moralisierung hat die romantische Praxis einzulösen. „Wir müssen Magier zu werden suchen, um recht moralisch seyn zu können“ (NS III, 250, Nr. 61). Der Hemsterhuis-Interpretation Hardenbergs zufolge entspringen durch „Moralisirung des Weltalls“ die „magischen W[issenschaften]“ (NS III, 275, 40  Hardenberg knüpft dabei möglicherweise auch an Vorstellungen der Kantischen Philosophie an: Die Kritik der praktischen Vernunft verweist jede Rede vom Übersinnlichen an das sittliche Bewußtsein, sofern letzterem ein Zugang zum intelligiblen Substrat aller Erscheinungen gegeben ist. Vgl. auch NS III, 448, Nr. 934: „Schon das Gewissen beweißt unser Verhältniß – Verknüpfung – […] mit einer andern Welt […] Auf diesem Beweise beruht die Möglichkeit des thätigen Empirismus.“



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Nr. 197). Dieser Vermerk steht unter dem Stichwort „Enc[yclopaedistik]“, das den romantischen Plan einer material ausgeführten „Poietik“ bezeichnet. Charakteristisch für die enzyklopädische Vorgehensweise, welche sich von der Befolgung induktiver oder deduktiver Regelsysteme ablöst, ist die Bildung spekulativer Analogien41. Die „Erkenntniß des Ganze[n]“ hat hier den „Character der Analogie“ (NS II, 551, Nr. 118). Ähnliches läßt sich für die ästhetische Synthesis feststellen. Denn „Analogie“ ist auch ein Begriff der Poetik. Sie dient der Herstellung symbolischer Bezüge und damit dem Ziel einer Wechselrepräsentation des Ideellen und Reellen. „Alle Analogie“, sagt Hardenberg, „ist symbolisch“ (ebd.). „Poetisieren“ und „Analogisieren“ können geradezu synonym auftreten42. Was durch die Analogisierung auch der entferntesten Glieder gebildet wird, ist der unendliche, auf die unerforschliche Produktivität der Natur deutende Verweisungszusammenhang aller Dinge. Solche Darstellung verfremdet das dargestellte Sujet: Aus seiner gewöhnlichen Sphäre herausgerissen, erscheint es jetzt in paradoxer Korrelation, als Verbindung des Heterogenen, wie sie für Hardenberg beispielhaft in der literarischen Form des Märchens praktiziert wird43. Diesen Gedanken nehmen bereits die Fichte-Studien vorweg: „Höchste Darstellung des Unbe41  Vgl. hierzu Johannes Hegener: Die Poetisierung der Wissenschaften bei Novalis. Dargestellt am Prozeß der Entwicklung von Welt und Menschheit. Studien zum Problem enzyklopädischen Welterfahrens, Bonn 1975; sowie Herbert Uerlings: „Novalis und die Wissenschaften. Forschungsstand und Perspektiven“, in: Novalis und die Wissenschaften, 1–20, bes. 4–14. Uerlings definiert den Analogiebegriff Hardenbergs wie folgt: „‚Analogie‘ meint bei ihm [Hardenberg; M. G.] das, was wir heute eine ‚Homologie‘ nennen: eine Gleichheit, die durch einen gemeinsamen Ursprung verbürgt ist, auf den die Analogie verweist, der aber unbekannt ist und bleibt“ (ebd., 12 f.). 42  Vgl. hierzu Eckhard Heftrich: Novalis. Vom Logos der Poesie, Frankfurt a. M. 1969, 129–145, bes. 129 ff. 43  Das magische Prinzip des Märchens, den Determinismus und damit die Ungeistigkeit der Natur aufzuheben, faßt Hardenberg auch unter den Begriff des „Zufalls“. Gemeint ist das unvorhersehbar Schöpferische der Natur, der Einbruch des Un- und Übersinnlichen in das vordergründig nur Sinnliche. Indem der Zufall dem Kalkül der Gesetze mit seinen Invarianzen und Wahrscheinlichkeiten widerstreitet, ist er gewissermaßen ein Wink des Absoluten im Medium des Endlichen. Denn die heterogene Synthesis des Unwahrscheinlichen, Unerwarteten, Unvereinbaren, in der „Unmögliches möglich“ ist (NS III, 389, Nr. 653), stellt die logischen Axiome des Verstandes, die Grundsätze der Erfahrung auf den Kopf. Dieses Prinzip ist maßgeblich für den Vorgang der Romantisierung: „Der Poët braucht die Dinge und Worte, wie Tasten und die ganze Poësie beruht auf thätiger Idéenassociation – auf selbst­ thätiger, absichtlicher, idealischer Zufallsproduktion“ (NS III, 451, Nr. 953). Die Tasten-Metapher verweist auf das Vorbild der musikalischen Komposition: Als Tasten gebraucht, erhalten die Dinge und Worte den Charakter von Zeichen, die zu einem Text der Natur verbunden werden.

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greiflichen ist Synthese – Vereinigung des Unvereinbaren – Setzen des Widerspruchs, als Nichtwiderspruchs“ (NS II, 111, Nr. 12). Der romantisierende Akt der Einbildungskraft läßt sich nach Hardenberg auch als umfassende Analogisierung verstehen; er ist das poetische Experiment des morali­ schen Sinns mit der Erscheinung und transformiert diese durch produktive Willkür zum anschaulichen Ausdruck dessen, was der Sinn je schon als intelligiblen Charakter des Universums erfaßt hat. Intellektuelle Anschauung im Sinne mystischer Ekstase ist Voraussetzung des poetischen Idealismus. In Hemsterhuis’ moralischem Organ findet Hardenberg eine Bewußtseinshaltung, die darüber hinaus als intellektuelle Anschauung der Natur gedeutet werden kann. „Der Sinn für Poësie“, der sich auf das „Eigenthümliche, Personelle, Unbekannte, Geheimnißvolle, zu Offenbarende, das Nothwendigzufällige“ richtet, hat also „viel mit dem Sinn für Mysticism gemein“ (NS III, 685, Nr. 671). Geheimnisvoll und zu offenbaren ist die Wechselrepräsentation von Gemüt und Welt, die Einheit des Idealen und Realen. Auch der poetische Sinn „sieht das Unsichtbare, fühlt das Unfühlbare etc.“; aber anders als der mystische ist er vor allem Sinn für Darstellung – mehr noch: „Er stellt das Undarstellbare dar“ (ebd.). Damit ist auch der entscheidende Unterschied zwischen Naturspekulation beziehungsweise Naturforschung einerseits und ästhetischer Tätigkeit andererseits benannt. Dichter und Naturphilosoph bedürfen zwar gleichermaßen des moralischen Sinns, aber nur dem Kunstwerk kommt die Fähigkeit der Darstellung zu. Alle Darstellung, so lautet der Grundsatz der Zeichenlehre, „ist im Entgegengesezten“. Die Fähigkeit des Dichters wie auch des von Ideen geleiteten Naturforschers beruht aber auf seiner „Freyheit im Verbinden“; er „kann alles brauchen – er muß es nur mit Geist amalgamiren – er muß ein Ganzes daraus machen“ (NS III, 692, Nr. 696). Die poetische Synthesis der magischen Einbildungskraft zeigt sich jedoch – anders als ihr theoretisches Pendant – als Darstellung. Und daß sich diese auf das Absolute bezieht, wird in der Gestalt der ästhetischen Wirkung für das Bewußtsein fühlbar. Als „Handeln des Geistes“ geht die symbolische Darstellung der Poesie „vom Schein aufs Seyn“; sie „afficirt nicht unmittelbar“, sondern „veranlaßt Selbstthätigkeit“ (ebd.) – nämlich die selbsttätige Deutung der evozierten Sinnbezüge durch die Rezeption. Ich schließe meine Ausführungen mit einem kurzen Resümee: Das SichDarstellen des Ich erfolgt an der zunächst als fremd begriffenen Natur. Umgekehrt gelangt die Natur im Gemüt zur wahren Darstellung ihres eigenen Wesens. Denn die Imagination hebt die fremde Gegenständlichkeit auf, um deren ursprüngliche Geistigkeit zu befreien. Die Natur, so lautet Hardenbergs Devise, ist „ein encyclopaedischer systematischer Index oder Plan



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unsers Geistes.“ Warum aber, wird nun gefragt, „wollen wir uns mit dem bloßen Verzeichniß unsrer Schätze begnügen – laßt sie uns selbst besehn – und sie mannichfaltig bearbeiten und benutzen“ (NS II, 583, Nr. 248). Um diese Schätze besehen zu können, bedarf es der Arbeit an der Natur. Darin besteht die Aufgabe des poetischen wie naturphilosophischen Genies. Poetik und Philosophie finden bei Hardenberg ihren Ausgangspunkt im Bewußtsein der begrifflichen Inkommensurabilität des Unbedingten. Das literarische Romantisieren teilt daher einen seiner wesentlichen Züge mit der Verfahrensweise spekulativ inspirierter Naturforschung: Sie sind beide Formen des Experiments. Im Lichte solcher Experimentierkunst ist es bezeichnend, daß Hardenberg zwar spinozistische und neuplatonische Impulse aufnimmt, die Ausführung jedoch letztlich der dichterischen Phantasie überläßt. Die magisch gebrauchte Einbildungskraft liefert keine rational deduzierte Naturphilosophie, sondern eine poetische Naturhermeneutik, welche lehrt, das Reale als Ausdruck des Idealen zu verstehen. Bibliographie Asmuth, Christoph: Natur als Objekt – Natur als Subjekt. Der Wandel des Naturbegriffs bei Fichte und Schelling. In: Neuzeitliches Denken. Festschrift für Hans Poser zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Günter Abel, Hans-Jürgen Engfer u. Christoph Hubig. Berlin u. a. 2002. 305–321. Bark, Irene: „Steine in Potenzen“. Konstruktive Rezeption der Mineralogie bei Novalis. Tübingen 1999. Beierwaltes, Werner: Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte. Frankfurt a. M. 1985. – Platonismus und Idealismus. Frankfurt a. M. 1972. Daiber, Jürgen: Experimentalphysik des Geistes – Novalis als Experimentator an Außen- und Innenwelt. Stuttgart 2000. „Fessellos durch die Systeme“. Frühromantisches Naturdenken im Umfeld von Arnim, Ritter und Schelling. Hrsg. v. Walther Ch. Zimmerli, Klaus Stein u. Michael Gerten. Stuttgart-Bad Cannstatt 1997. Frank, Manfred: „Unendliche Annäherung“. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt a. M. 1997. Götze, Martin: Ironie und absolute Darstellung. Philosophie und Poetik in der Frühromantik. Paderborn u. a. 2001. Haberkorn, Michaela: Naturhistoriker und Zeitenseher. Geologie und Poesie um 1800. Der Kreis um Abraham Gottlob Werner (Goethe, A. v. Humboldt, Novalis, Steffens, G. H. Schubert). Frankfurt a. M. u. a. 2004. Halfwassen, Jens: Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin. Stuttgart 1992.

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Transzendentale Naturbetrachtung und romantische Poetik299

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Architektur und Transzendentalphilosophie, der Naturbegriff Karl Friedrich Schinkels und seine Kunst- und Architekturtheorie Petra Lohmann I. Einleitung Freiherr von Wolzogens Ausführungen zum Thema „Schinkel als Kunstphilosoph“ aus dem Jahr 1864 markieren in der Schinkel-Forschung den An­fang der zwar lang tradierten1, aber bisher kaum entwickelten Auffassung, daß für den berühmtesten Baumeister Preußens2 die Lehre J. G. Fichtes (1761–1814) zur „Richtschnur“ und „Offenbarung“3 wurde und „man […] ihn mit Fug und Recht als einen der prominentesten Schüler“4 des Philosophen bezeichnen darf. Fichtes Werke hat K. F. Schinkel (1784–1841) intensiv studiert, wie formale und inhaltlich fast wörtliche Anlehnungen an die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (= GWL), die Reden an die deutsche Nation, die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters und die Anweisung zum seligen Leben (= AzsL) zeigen. Darüber hinaus weisen Teilnehmerlisten und Mitschriften der WL 1810 und ihrer Präludien Schinkel als Hörer Fichtes an der Universität Berlin aus. Während sich früheste Ein­flüsse des Philosophen auf Schinkel schon in den ersten Fragmenten zu seinem Architektonischen Lehrbuch um 1803 ausmachen lassen, kulminiert Schinkels Wertschätzung Fichtes in seiner hochromantischen Phase zwischen 1810 und 1816, die durch das zentrale Ereignis der napoleonischen Besetzung Preußens und die auf sie folgenden Befreiungskriege bestimmt ist. Angesichts dieser historischen Situation läßt sich Schinkels Allegorie auf die Freiheitskriege (um 1814), anläßlich der gewonnenen Befreiungs1  Alfred Freiherr v. Wolzogen: „Schinkel als Architekt, Maler und Kunstphilosoph (1864)“, in: Bauakademie der DDR (Hrsg.): K. F. Schinkel 1781–1841. Ausgewählte Beiträge zum 200. Geburtstag, Berlin 1981, 70–88. 2  Barry Bergdoll: Karl Friedrich Schinkel. Preußens berühmtester Baumeister, München 1994. 3  Mario Alexander Zadow: Karl Friedrich Schinkel – ein Sohn der Spätaufklärung, Berlin 1980, 13. 4  Ebd., 175.

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kriege entworfen, als „konsequenter Ausdruck Fichtescher Volks- und Staats-Ideen“5 verstehen, so G. Peschken. Während die Schinkel-Forschung bislang hauptsächlich das Verhältnis zwischen Fichte und Schinkel aus historischer Sicht im Hinblick auf politische Analogien zur Zeit der Befreiungskriege untersuchte, soll hier das Verhältnis beider im Rückgriff auf den Begriff des Selbstbewußtseins bzw. den des Individuums begründet werden. Grundlegend ist dafür Schinkels „Grundthema“6, d. i. das Verhältnis von Architektur und Natur, das er ursprünglich in seinen Studien zum Landhaus eines Engländers (1804) entwickelte. E. Börsch-Supan zufolge hängt dieses „Grundthema“ „mit seiner von der Philosophie des Deutschen Idealismus geprägten Kunstanschauung zusammen, in der […] der Begriff der Freiheit und des Individuellen hervortreten“7. An Hand des genannten Vorhabens wird in der vorliegenden Untersuchung erstmals Fichtes Wirkung auf das Frühwerk Schinkels (1803–1806) erörtert. Es wird die These vertreten, daß das Schinkelsche Verhältnis von Architektur und Natur als bildliche Umsetzung der Fichteschen Konzeption des Verhältnisses von Vernunft und Sinnenwelt aus der GWL zu fassen sei. Impuls dieser Umsetzung sei Schinkels Bestimmung der Architektur als „Symbol des Lebens“ (M 92)8. Dieses Architekturverständnis formuliert Schinkel wortwörtlich zwar erst um 1810, aber die folgenden Ausführungen sollen zeigen, daß dessen konstitutive Bestimmungsstücke bereits zwischen 1803 und 1806 in seinem Werk angelegt sind. Sie manifestieren den Grundgedanken seiner schöpferischen Tätigkeit: Architektur soll Instrument der Kultivierung selbstbestimmten Lebens sein. Was in einer umfangreicheren Arbeit zu zeigen wäre, ist, daß er die konkrete sittlich-religiöse Ausgestaltung dieser Anforderung an die Architektur um 1810–1815 ebenfalls der Philosophie Fichtes entlehnt. Die Bedeutung, die Fichtes Philosophie für Schinkel hat, nimmt im Laufe der Jahre bis ca. 1815 stetig zu und reduziert sich erst, als sich Schinkel, der sich inzwischen in der Oberbaudeputation Berlins fest etabliert hat, mit den restaurativen politischen Verhältnissen in Preußen nach den Befreiungskriegen arrangieren muß. 5  Goerd Peschken: „Das Architektonische Lehrbuch“, in: Schinkel-Lebenswerk Bd. 14, München 1979, 25. Im folgenden im Haupttext zitiert als AL. 6  Ulrike Harten: „Die Bühnenentwürfe“, überarb. v. Helmut Börsch-Supan u. Gottfried Riemann, in: Schinkel-Lebenswerk, Bd. 17, Berlin 2000, 13. 7  Eva Börsch-Supan: „Architektur und Landschaft“, in: Der Senat von Berlin (Hrsg.): Karl Friedrich Schinkel – Werke und Wirkungen. Katalog zur Ausstellung im Martin-Gropius-Bau 13. März – 17. Mai 1981, Berlin 1981, 51. 8  Zitiert nach: Karl Friedrich Schinkel: Briefe, Tagebücher, Gedanken, ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Hans Mackowsky, Berlin 1922. Im folgenden zitiert als M.



Architektur und Transzendentalphilosophie303

Die folgende Untersuchung der Wirkung Fichtes auf den frühen Schinkel gliedert sich in zwei Abschnitte und eine Schlußbetrachtung. Der erste Abschnitt ist Schinkels Begriff des Individuums, so wie er sich in den Studien und Fragmenten zum Landhaus eines Engländers darstellt, gewidmet. Dafür ist Schinkels Bestimmung des Verhältnisses von Architektur bzw. Vernunft und Natur relevant. Die genannten Studien fertigte er auf seiner ersten Italienreise (1803 – 1805) an, mit der er seine Ausbildung an der Berliner Bauakademie abschloß. Im Reisegepäck soll Schinkel einige Werke Fichtes mitgeführt haben. Diese Annahme taucht zum ersten Mal bei dem Schinkel-Biographen und Zeitgenossen Freiherr von Wolzogen auf und wird seitdem in der Schinkel-Forschung kontinuierlich zitiert, ohne daß näher darauf eingegangen wird, um welche Werke Fichtes es sich handeln könnte9. Gelegentlich findet man die Vermutung, es könne sich um die GWL gehandelt haben. Diese Vermutung wird jedoch nie inhaltlich begründet, sondern lediglich deswegen angeführt, weil es sich bei dieser Schrift zum Zeitpunkt von Schinkels erster Italienreise um das bekannteste Werk Fichtes handelte. Demgegenüber soll hier im Rekurs auf Schinkels Fragmente zu den Studien gezeigt werden, daß diese Vermutung nicht nur historisch, sondern auch inhaltlich durchaus plausibel ist. Der Theoriestatus der genannten Materialien ist in einigen Punkten nicht ganz unproblematisch, weil Schinkels Architektonisches Lehrbuch aus nicht veröffentlichten und zudem undatierten Fragmenten besteht, die, was ihre Quellen betrifft, nicht eindeutig zugeordnet werden können, da er sie nicht angibt. Darüber hinaus verbindet er Theorien verschiedener Philosophen – neben Fichtes die von Fr. Schiller (1759–1805), Fr. W. Schelling (1775–1854), J. G. Herder (1744–1803) u. a. – mit denen seiner Architekturtheorie. Bei seinem Werk von 1804 handelt es sich zwar nur um einen Entwurf und nicht um einen realisierten Bau, der Vorteil des Entwurfs liegt allerdings darin, daß er eben als Ideenarchitektur die philosophische Substanz seiner Theorien besonders gut verdeutlicht. Im zweiten Abschnitt wird die abstrakte Grundlage des Fichteschen Selbstbewußtseinsbegriffs skizziert, so wie Fichte sie in der GWL formuliert hat. Besondere Berücksichtigung finden hierbei die Bestimmungsstücke des Selbstbewußtseinsbegriffs, die deutliche Analogien zu Schinkels Bestimmung des Verhältnisses von Architektur und Natur in den Fragmenten zu den Studien zum Landhaus eines Engländers aufweisen. Dabei handelt es sich um solche Bestimmungsstücke, die deutlich machen, daß Fichte zufolge Selbstbewußtsein ein Wissen von sich selbst ist, das sich der Form nach durch die Korrelation von zwei entgegengesetzten Relata (Vernunft / Natur) unter der Prämisse eines Absoluten auszeichnet, wobei die Relata in unendlicher Annäherung an das Absolute angeglichen werden sollen. 9  Vgl.

Zadow: Karl Friedrich Schinkel, 174.

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Die Schlußbetrachtung faßt Analogien und Differenzen zusammen, die zwischen Fichte und Schinkel hinsichtlich des Naturbegriffs bestehen, und zwar im Zusammenhang ihrer Überlegungen zum Begriff des Selbstbewußtseins bzw. des Individuums. Ein kurzer Überblick über die Entwicklung der Fichte-Rezeption Schinkels, die mit den Studien zum Landhaus eines Engländers ihren Anfang nimmt, bildet den Schluß der Ausführungen. Was die vorliegende Untersuchung leisten kann und was nicht, sei zunächst kurz angedeutet: Sie kann die historischen und spekulativen Perspektiven der Beziehung zwischen Fichte und Schinkel nicht hinreichend entwickeln. Denn eine Darstellung aus historischer Perspektive setzte eine Reflexion auf die Konstellationen des intellektuellen Diskurses der Zeit um 1800 in Berlin voraus und darüber hinaus die Erörterung der Fragen, wie und wodurch Schinkel mit Fichtes Philosophie bekannt wurde, wie er sie rezipierte und wie sein Verhältnis zur Philosophie in den zeitgenössischen Kontext einzuordnen wäre10. Was die Untersuchung hingegen leisten kann, ist, mit Rekurs auf den Begriff des Individuums resp. Selbstbewußtseins, die substantielle Grundlage für weitere Untersuchungen des Verhältnisses zwischen Fichte und Schinkel zu schaffen, auf der sich dann die genannten Perspektiven entwickeln lassen. II. Schinkel und das Landhaus eines Engländers Zunächst sollen die formalen Voraussetzungen des Schinkelschen „Grundthemas“ aufgeschlüsselt werden: das Verhältnis von Architektur und Natur. Dabei gilt es, den Einfluß des Fichteschen Begriffs des Selbstbewußtseins auf Schinkels Begriff des Individuums und dessen ästhetische Umsetzung nachzuweisen. Darauffolgend werden die inhaltlichen Bestimmungen aufgeschlüsselt, und zwar mit Hilfe der Schinkelschen Kompositionsfigur der Integration (Studien) und des Kompositionsprinzips der Asymmetrie (Fragmente). 10  Daß Schinkels Interesse an Philosophie kein Einzelfall war, zeigt u. a. die etwa zeitgleich erfolgende Auseinandersetzung L. v. Klenzes (1784–1864) mit Fr. W. Schelling. Vgl. dazu Adrian von Buttlar: Leo von Klenze, München 1999, 283–333. Die Untersuchung der spekulativen Perspektive würde die Rekonstruktion der Schinkelschen Umwandlung von Kategorien der Existenz in Kategorien der Ästhetik voraussetzen. Zu berücksichtigen wären dabei einerseits die normativen und disziplinären Motivationen (Systembegriff, Prinzip), die Schinkel Fichte entlehnt und die ihn zu dieser Umwandlung veranlaßt haben, sowie andererseits seine künstlerische Anverwandlung anthropologischer und vermögenstheoretischer Bestimmungsstücke der Philosophie Fichtes in einem neuen „Styl“ und „geistige[n] Princip […] unserer neuen Weltperiode“ (Alfred Freiherr von Wolzogen: Aus Schinkels Nachlaß, Reisetagebücher, Briefe und Aphorismen, Bd. III, EA Berlin 1862, Neudruck Berlin 1981, 334).



Architektur und Transzendentalphilosophie305

1. Die Kompositionsfigur der Integration Schinkels Studien zum Landhaus eines Engländers (Abbildung siehe S. 315) in der Nähe von Syrakus stellen nicht nur eine zentrale Werkgruppe seiner ersten Ita­lienreise (1803–1805) dar, sondern sie sind in eins Schlüsselwerke seiner romantisch geprägten Schaffensphase. Sie stellen laut G. Peschken den „auffälligste[n] Gewinn“11 dieser Reise dar. Für diese Studien ist bezeichnend, daß „die gleichzeitige Wahrnehmung der umgebenden Natur […] keine geringere Rolle als die Architektur selbst“12 spielt. In diesem Zusammenhang sind auch seine Zeichnungen eines „Landhauses auf Capri“ und einer „Kirche aus Italien“ (vgl. AL 13) zu sehen. Über diese Objekte schreibt Schinkel aus Sizilien an den Berliner Verleger Fr. G. Unger: „Auf einer Reise durch das feste Land Italiens und seine Inseln fand ich […] eine Menge interessanter Werke der Architektur […,] die in unbekannten Winkeln des ganzen Landes […] stehen [und die] durch die glückliche Auffassung der Idee und besonders durch die vortheilhafte Benutzung der Umgebung der Natur ohne alle Rücksicht der aufgestellten Kunstregeln der Palladio pp. charakteristischer sind, als der größte Theil dessen, was bei uns produciert wird“ (AL 11). Die Konzeptionsskizzen, in denen Schinkel laut G. Riemann und C. Heese von einem „Darstellungsideal“13 ausging, demgemäß „der Architekt die Mittel der Malerei ganz ausschöpfte“, sind keine authentische Dokumentation des real Gegebenen. Sie zeugen vielmehr von seiner experimentierenden Auseinandersetzung mit den historischen, eher schlichten und einfachen Architekturformen des Landhauses bei Syrakus14, die er in vielfacher Weise idealisiert. Während die reale Anlage des Engländers laut G. Peschken eher der „strengen Axialität des Barock“15 entsprechend auf eine Opposition von Architektur und Natur angelegt ist, ist Schinkels Entwurf integrativ forciert. Die wechselseitige Durchdringung von Architektur und Natur stellt für Schinkel die notwendige Voraussetzung eines „begünstigte[n]“ und „para­ diesische[n]“ Lebens dar (AL 13). In diesem Sinne führt er in den entspreArchitektonisches Lehrbuch, 13. Uhl: Karl Friedrich Schinkel Sammlung architektonischer Entwürfe, Nordlingen 2005, 13. Vgl. zu Schinkels Naturbegriff auch Martin Sperlich: „Schinkel als Gärtner“, in: Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin (Hrsg.): Festreden Schinkel zu Ehren 1846–1980, Berlin o. J., 363 ff. 13  Gottfried Riemann und Christa Heese: Karl Friedrich Schinkel. Architekturzeichnungen, Berlin 1996, 51. 14  Vgl. Emanuele Fidone: „Schinkel and the Mediterraneum. The ‚Landhaus bei Syrakus‘“, in: M. Paik (Hrsg.): Karl Friedrich Schinkel. Aspekte seines Werks, Stuttgart / London 2001, 30. 15  Peschken: Architektonisches Lehrbuch, 13. 11  Peschken: 12  Alfons

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chenden Fragmenten zum Entwurf „des einzelnen Mannes bessre[n] Sinn [an,] der den Genuß häußlichen Glücks unter […] mannigfaltiger Einwirkung der Schätze seines herrlichen Landes mit dem einkehrenden Kreis jenes Lebens zu vereinigen weiß und erkennt wieviel Vorzug ihm die natur verlieh“ (AL 13). Für Schinkel ist Natur eine wesentliche Voraussetzung eines harmonischen Lebens, weil sie die Grundlage und das Material für ein solches bereitstellt. Das heißt, er setzt auf die Einheit von Individuum und Natur im Sinne einer Einheit von Architektur und Natur. Diese Einheit entspricht seiner oben zitierten Rede vom Charakteristischen des individuellen Lebens insofern, als es sich innerhalb einer Wechselbeziehung von Körper und Geist entfaltet und sich gelungenes Leben durch Architektur nur so weit zu realisieren vermag, als sie die sowohl sinnlichen wie vernünftigen Voraussetzungen erfüllt, die das Individuum an sie stellt. Was Schinkel als „glückliche Auffassung“ (AL 11) versteht, die Integration von Architektur und Natur in einen architektonischen Entwurf umzusetzen, läßt sich in Abgrenzung zu dem von Schinkel kritisierten Architekten A. Palladio (1508–1580) rekonstruieren16: Verglichen mit der an einem relativ flachen Hang gelegenen, von Palladio erbauten Villa Barbaro (1549–8) in Maser, die in strenger, künstlicher Trennung von Architektur und Natur auch eine „Quellfassung in Höhe des Nobelgeschosses“17 besitzt, fügt sich G. Peschken zufolge Schinkels „in drei Höhen gestaffeltes“18 Landhaus „zwanglos“ in die Natur ein, indem es sich lagert, wie es die Natur mit ihrem steilen Felshang vorgibt. Der Legende eines Skizzenblattes läßt sich entnehmen, wie Schinkel seinen Entwurf im Unterschied zur realen Anlage des Engländers entwickelt. Das Motto seines Programms lautet: „[I]ch nehme mir diesem Zwecke zu Folge die Freiheit einzelne Teile welche an einem wirklich vorgefundenen Gegenstande gemein und ohne Character stehen“, d. h. die Natur unberücksichtigt lassen, „gegen andere an dem selben Ort gefundene bessere zu vertauschen, um dadurch an dem einen Gegenstande das Interesse zu vermehren“. Die für Schinkel relevanten Details der 16  Daß das Verhältnis von Architektur und Natur für Schinkels Auseinandersetzung mit dem eher bescheidenen realen Vorbild in Tremilia bestimmend war, meint auch Fidone: „the site of Tremilia does not seem to display any archtitectonic element or any specific detail that is remarkable in terms of ‚style‘. Therefore, one might ask: what is it, that impresses Schinkel’s aesthetic and formal sensibilities so deeply? It is the site of Tremilia itself, for its evocative grandeur emantes a great primeval strength, which places it over and above the history of architectural styles. Tremilia embodies the idea of a harmonic co-existence with nature. Schinkel stresses this theme and it becomes a substantial part of his project, along with an emphasis on the co-existence between building and setting“ (Emanuele Fidone: Schinkel and the Mediterraneum, 34). 17  Peschken: Architektonisches Lehrbuch, 15. 18  Vgl. ebd., 53.



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Einheit von Architektur und Natur sind, laut Legende, neben dem unteren Wirtschaftshof mit Ställen und Gesindewohnung vor allem der steil darüber gelegene Terrassengarten mit der Quellgrotte, dem Wasserfall, dem Brunnen, dem Bad, dem Felskeller, dem Milchsalon sowie das über Felstreppen erreichbare, hoch gelegene Wohnhaus19. Bei einer Interpretation des von Schinkel detailliert entwickelten Ineinandergehens von Architektur und Natur ist insbesondere das Einfließen von Natur in die Architektur einerseits und die Eigenständigkeit der Architektur gegenüber der Natur andererseits zu berücksichtigen. Im ersten Sinn thematisiert er den Eigenwert der Natur, die der Architektur gleichberechtigt gegenübersteht, indem sie ihr die Möglichkeit zur Entfaltung bietet (vgl. den architektonischen Rekurs auf Wasserfall, Felshang und Grotte). In letzterem Sinn wird dem Rezipienten ein Betrachterstandpunkt angeboten, der ihm sowohl eine Einheit zwischen Architektur und Natur präsentiert, die zwar deutlich macht, daß es ein harmonisches Leben nur in Einheit mit der Natur geben kann (vgl. Verschachtelung von Architektur und Natur durch Terrassen und Gärten), als aber auch eine Perspektive eröffnet, von der aus sein Blick über die Natur schweift und in ihm ein Bewußtsein von der Unterordnung der Natur unter die Architektur und damit mittelbar unter die Vernunft entsteht (vgl. das hochgelegene, die Gesamtsituation dominierende Wohnhaus), indem die Architektur Möglichkeiten der Natur ästhetisch verarbeitet und dadurch den Wert der Natur für das Individuum bewußt macht. Vor diesem Hintergrund ist die an der Aussage, die Subordination der Teile deute auf ein vollkommeneres Geschöpf (vgl. AL 119), orientierte Integration der Natur in Architektur als vom Künstler gesetzte Einheit Unterschiedener, in der Entgegengesetztes sich wechselseitig durchdringt, so zu verstehen, daß die Architektur, d. h. das Menschenwerk, und damit die Vernunft, zwar Vorrang vor der Natur hat, aber diese Vorrangstellung eben nicht durch sich selbst, sondern nur in und mit der Natur hat20. 19  Der Milchsalon darf als Reminiszenz an die mit Rousseau eingeführte Meierei-Methode, aber auch an eines seiner „interessanteste[n] Jugendwerke“ (Peschken: Architektonisches Lehrbuch, 15), d. i. das Molkenhaus, das er 1802 / 03 für seinen Gönner, den Herrn von Pritwitz, auf dessen Gut Quilitz errichtete, verstanden werden. Vgl. dazu Goerd Peschken u. Frank Augustin: Der junge Schinkel 1800–1803, Berlin 2006. Als frühes Beispiel für Schinkels gelungene „Einbindung von Architektur in Landschaft“ können laut H. Börsch-Supan, Schinkels „Entwürfe für das Landhaus Tilebein bei Stettin von 1806“ gelten. Der Bauherr des Landhauses lobt: Schinkel sei „zur Anlegung von Gärten vorzüglich geschickt“ (Ulrike Harten: Die Bühnenentwürfe, 20). Vgl. dazu auch Herman Sörgel: Für Schinkel „war die Architektur die ideale Organisierung des Bodens, auf dem sie steht“ (Architektur – Ästhetik. The­o­rie der Baukunst (1921), mit einem Nachw. v. Jochen Meyer, Berlin 1998, 222). 20  Mit der Integration von Architektur und Natur greift Schinkel ein Thema auf, das bis dato laut Peschken „äußerst selten“ vorkam und, abgesehen von John Nashs

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2. Kompositionsprinzip der Asymmetrie Die „Nachforschungen“21 über das der Kompositionsfigur der Integration (AL 11 f.) zugrundeliegende Kompositionsprinzip der Asymmetrie und Symmetrie haben bei Schinkel einen hohen Stellenwert. Sie sollten um 1803 und 1806 ein Werkchen über das Ideal und die Prinzipien der Baukunst einleiten. Während das Werkchen nur in Ansätzen vorliegt, hat er das genannte Kompositionsprinzip in einem fast dreißig Jahre später entstandenen Fragment namens Vollendung eines Kunstwerks (um 1830) umfassender als in seiner Frühphase erörtert. Beide Texte stimmen darin überein, daß Schinkel in ihnen das laut H. Wölflin für die Kompositionslehre grundsätzlich zwingende Kompositionsprinzip der Asymmetrie und Symmetrie22 mit der für ihn schon während der ersten Italienreise sich abzeichnenden Grundfrage nach der Bedeutung der Architektur für die Befindlichkeit des zu bildenden Rezipienten verbindet. Bezeichnend ist dafür bei Schinkel der Begriff der Ordnung. Im Werkchen über das Ideal und die Prinzipien der Baukunst geht er davon aus, daß „jeder zu einem gewissen Zweck bestimmte Gegenstand […] eine gewisse jenem entsprechende Ordnung“ (AL 19) erfordert. Sein Ansinnen, Architektur auf die skizzierte Konstitution des Individuums auszurichten und sich dabei formal auf die Ordnungsfiguren der Symmetrie und Asymmetrie zu stützen, basiert auf drei Leitmotiven. Diese sind erstens die Beziehung der Ordnung zu Gehalt und Zweck der Architektur, zweitens der Zugang des Rezipienten zur Ordnung und deren Wirkung auf ihn, sowie drittens das in der Wahl einer jeweiligen Ordnung sich ausdrückende schöpferische Vermögen des Architekten und der entsprechenden Qualität seines Werks. Ordnungen und damit verbundene Zwecke der Architektur lassen sich nach Schinkel in zwei große Gruppen einteilen. Sie können einerseits auf Klarheit, Deutlichkeit, Allgemeinheit, Verständlichkeit, Abstraktheit, Einfachheit, Gleichgewicht, Notwendigkeit sowie Gefaßtheit und andererseits auf DiffusiSommerhaus in Cronkhill, eher als Staffage in großen Landschaftsgärten wie von Hameau de la Rheine in Versailles oder im Wörlitzer Park umgesetzt wurde. Schinkels Wertschätzung der durch die Kompositionsfigur der Integration bestimmten Landhausarchitektur zeigt sich daran, daß er sie in seinem späteren Werk an pro­ minenten Objekten – wie z. B. 1820 an den Villen Glienicke und Charlottenhof in Potsdam – angewendet hat. Vgl. Peschken: Architektonisches Lehrbuch, 15, und Rand Carter: „Gartenreich Potsdam. Schinkels, Persius and Lenne’s summer retreats for the Prussian princess“, in: M. Paik (Hrsg.): Karl Friedrich Schinkel; Aspekte seines Werks, Stuttgart / London 2001, 71. 21  Gottfried Riemann: Reisen nach Italien. Tagebücher, Zeichnungen, Aquarelle, 2 Bde., Bd. I, Berlin / Weimar 1996, 220. 22  Heinrich Wölflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, München 1886, 20, 25 u. 30.



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tät, Disparatheit, Mannigfaltigkeit, Besonderheit, Zufälligkeit, Bewegtheit und Individualität zielen (vgl. AL 20). Die diesen Zwecken entsprechenden Ordnungen sind im ersten Fall die „Symmetrie“, d. h. die künstliche, absolute, unbedingte und gesetzmäßige Ordnung, im zweiten Fall die „Asymmetrie“, d. h. die natürliche, relative, bedingte und zufällige Ordnung. Beide Ordnungen stimmen darin überein, daß sie auf Einheit ausgerichtet sind. Für die natürliche Ordnung gilt dies in bezug auf die Einheit Unterschiedener und für die künstliche Ordnung in bezug auf Einheit als reine Identität, d. h. „gleiche Form, gleiche[n] Platz, gleiche Größe“ (AL 19). Schinkels Entwurf zum Landhaus eines Engländers ist ein Beispiel für die asymmetrische Ordnung. Die schon zitierte Architektur der Landvillen Palladios sowie „die Villen der alten und neueren Römer“ (AL 119) und der „Tempel der Minerva Pollias in Athen“ (AL 119) sind laut Schinkel Beispiele für die symmetrische Ordnung. Schinkels Wertschätzung der asymmetrischen Ordnung gründet darauf, daß er in der symmetrischen Ordnung ein bloß abstraktes Formprinzip erkennt, welches lediglich als Grenzfall der Harmonie aller Teile, nicht aber in bezug auf die von ihm als Instanz guter Architektur gesetzte Korrespondenz mit der Realität des Individuums ästhetische Bedeutung hat. Nach dem Fragment Vollendung eines Kunstwerks ist für Schinkel der Zugang zur symmetrischen Ordnung relativ einfach. Sie ist leicht faßlich. Der „Wissende und der Unwissende erkennen“ (AL 19) ein auf ihrer Grundlage konzipiertes Werk „gleich gut“ (AL 19). Das liegt an der deutlich gekennzeichneten Mitte und der Homogenität der umgebenden Teile im Sinne einer „grade[n] Anordnung“ (AL 19), der zufolge „die Hälften des Gegenstandes gleich werden“ (AL 19). Zum Inhalt des Werks hat die symmetrische Ordnung keine wesentliche Beziehung, oder anders gesagt, es hat außer der reinen Gleichheit keinen Inhalt. Schinkel spricht daher von „leere[r] Einförmigkeit“ (AL 119) und ferner sogar vom „Ekel der Symmetrie“ (AL 119). Die mit der Relationslosigkeit einhergehende Gleichheit führt seiner Auffassung nach zu Monotonie und „Langeweile“ (AL 118). Werke, die nach der symmetrischen Ordnung gestaltet sind, empfindet er als ermüdend, weil sie „aller Poesie und alles Malerischen“ (AL 118) entbehren, die nur mit den eingangs angeführten Aspekten der Asymmetrie zu erreichen sind. Der Künstler, der sein Werk nach der symmetrischen Ordnung gestaltet, ist für Schinkel ebenso unkreativ, wie diese Ordnung dogmatisch ist. Diesen Künstler bezeichnet Schinkel als „Pedant[en]“ (AL 118) und „trockene[n] Systematicus“ (AL 118), der sich aus Faulheit, Eitelkeit oder bloß mangelndem Talent der „Sklaverei der Regel“ (AL 118) unterordnet. Sein Werk ist Schinkel zufolge „tot“ (AL 118)23, weil es die nicht unter eine Regel zu 23  Laut E. Börsch-Supan ist „der […] Satz: ‚Die Symmetrie ist ohne Zweifel durch die Faulheit und durch die Eitelkeit entstanden‘, ein Zitat aus Geradins Werk

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bringende Vielfalt des Lebens ausschließt und auf dem Stand des zu Begreifenden, d. h. des Faktischen, verharrt, woraus folgt, daß ein solcher Künstler „nie zu einem höheren Gedanken kommen kann“ (AL 118). Die symmetrische Ordnung läßt Schinkel lediglich für öffentliche Bauwerke zu, die „große Massen von Menschen“ (AL 118) ansprechen müssen und deren „Benutzung nur durch allgemeine Gesetze [dadurch] erleichtert werden“ (AL 118), daß sie „allgemeine Beziehungen“ (AL 118) allgemeinverständlich ausdrücken. Mit der asymmetrischen Ordnung verhält es sich für Schinkel ganz anders. Während die symmetrische Ordnung auf die Allgemeinheit bezogen ist, gilt dies für die asymmetrische Ordnung hinsichtlich der Individualität, weil diese Ordnung die die Einzigartigkeit eines Gegenstandes garantierende ­ „größer[e] oder geringer[e] Selbständigkeit von Teilen“ (AL 20) des unter sie gefaßten Gegenstandes bedingt. Demnach ist „das relative die individuelle Charakteristik [eines asymmetrisch gestalteten] Gegenstandes“ (AL 119). Als Beispiele für diese Gegenstände zitiert Schinkel „Naturalienkabinett[e]“ und „Bibliotheken“ (AL 19), d. h. Gegenstände, die auf lebendige, je speziell ausgeprägte Fortentwicklung angelegt sind und damit dem üblichen Erscheinungsbild der Vielgestaltigkeit der Realität entsprechen, so wie es sich am Beispiel seines Entwurfs von 1804 ablesen läßt24. Da bei asymmetrischer „Anlage der Bauwerke die natürlich gegebenen Motive“ jeweils hinsichtlich ihrer Bedeutung für „die Charakteristik der einzelnen Theile einer Bau=Anlage“ (AL 118) geprüft werden, drücken für Schinkel „Bauwerke dieser Art das Individuelle einzelner menschlicher Verhältnisse“ (AL 118) aus, denn das durch die asymmetrische Ordnung gegebene „Charakteristische […] liegt in der größern oder geringern Selbständigkeit dieser Teile“ (AL 119), und durch dieses subordinierte Verhältnis ist das Individuum als empirisches Wesen definiert. III. Fichtes Begriff des Selbstbewußtseins Schinkels Bestimmungsstücke seines Begriffs des Individuums, der Vernunft, der Sinnlichkeit und äußeren Sinnenwelt sowie ihr Verhältnis zueinander (d. i. ihre Einheit unter der Prämisse der Vernunft) sind bei Fichte in dessen transzendentalem Begriff des Selbstbewußtseins begründet: Zunächst De la composition de paysages, (1777, 4), das Friedrich Gilly in der Sammlung nützlicher Gedanken von 1799 französisch zitierte und das sich Schinkel hier wohl daraus übersetzte“ (Börsch-Supan, Eva: Architektur und Landschaft, 61). 24  Vgl. Emanuele Fidon: „He proposes the use of asymmetrical architecture as a way to allow for the fluiditix of time to occur“ (ders.: Schinkel and the Mediterraneum, 37).



Architektur und Transzendentalphilosophie311

ist sein philosophischer Selbstbewußtseinsbegriff von dem alltäglichen Verständnis dieses Begriffs abzugrenzen, demzufolge Selbstbewußtsein lediglich das faktische Selbstwertgefühl des Individuums ausdrückt, das es sich selbst zuschreibt. Fichtes Selbstbewußtseinsbegriff ist grundsätzlich zu verstehen. Das heißt, er ist nicht mit empirischen Aspekten psychischer oder sozialer Art zu erklären, sondern Fichte hebt mit diesem Begriff auf die letztgültigen Bedingungen welthafter Erfahrung ab. Selbstbewußtsein in diesem Sinne ist Erklärungsgrund der Empirie und geht damit als Bedingung jeden möglichen Wissens allem konkreten Einzelwissen voraus. Da transzendentales Selbstbewußtsein also nicht aus empirischen Gegebenheiten erklärt werden kann, muß seine Erklärung in der Weise einer Selbstbegründung erfolgen. An Fichtes Explikation dieser Selbstbegründung entzündet sich der moralische Impuls von Schinkels Architektur. Denn gegenüber empirischen Sichtweisen auf das Selbstbewußtsein, die Fichte als deterministisch und fatalistisch disqualifiziert, weil sie den Menschen und sein Selbstbewußtsein aus empirischen Bedingungen erklären (vgl. GA II / 12, 54, 84), besteht sein Anliegen darin, das Prinzip des Selbstbewußtseins der empirischen Betrachtungsweise zu entziehen und es auf die höhere transzendentale Ebene zu setzen. Auf ihr herrscht Absolutheit, d. h. Unbedingtheit hinsichtlich kausaler Verhältnisse, die ermöglichen, daß sich menschliches Handeln verantwortungsbewußt und frei von Zwängen in der empirischen Welt entfalten kann. Fichte beginnt den Prozeß philosophischer Rekonstruktion der Vorgänge, die das Selbstbewußtsein ermöglichen, indem er vom „absoluten Faktum“ der intellektuellen Anschauung als „unmittelbarer Sichanschauung […] des Wissens“ ausgeht (GA II / 12, 69)25. Ihr liegt die sogenannte „Tathandlung“ des sich selbst konstituierenden absoluten Ich zugrunde, die zugleich das Prinzip seiner philosophischen Rekonstruktion begründet. Deren konstitutive Bestimmungsstücke hat Fichte erstmals in seiner dreigliedrigen Grundsatzphilosophie, in der GWL entwickelt26. Fichte beginnt mit einem schlechthin unbedingten Grundsatz und zwei nachgeordneten, teils bedingten Grundsätzen. Der erste Grundsatz, d. i. der Satz der Identität, drückt die „Thathandlung des absoluten Ich“ (GA I / 2, 25  Jürgen Stolzenberg: Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung: die Entwicklung in den Wissenschaftslehren von 1793 / 4–1801 / 2, Stuttgart 1986. 26  Vgl. zur Darstellung der Konzeption der Grundsatzphilosophie: Wolfgang H. Schrader: Empirisches und absolutes Ich. Zur Geschichte des Begriffs Leben in der Philosophie J. G. Fichtes, Stuttgart-Bad Cannstatt 1972. Jörg Peter Mittmann: Art. „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“, in: F. Volpi (Hrsg.): Großes Werklexikon der Philosophie, Bd. I, Stuttgart 1999, 487 f. Walter Schweidler: Art. „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“, in: F. Volpi / Julian Nida-Rümelin (Hrsg.): Lexikon der philosophischen Werke, Stuttgart 1988, 315 f.

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255 ff.) aus, in der es als „Quelle aller Realität“ (GA I / 2, 259) gedacht wird, in der alle je möglichen Äußerungen und Qualitäten des Bewußtseins ihren Ursprung haben, und mittels der das absolute Ich als Real-Grund des Wissens (vgl. GA I / 2, 368) erklärt wird. In der Identitätsaussage der Tathandlung fallen Subjekt-Ich und Objekt-Ich ursprünglich zusammen. Soll die Tathandlung jedoch mehr als bloß bewußtseinslose Spontaneität sein, d. h., soll das Selbstbewußtsein sich auch als solches wissen können, so müßte es in sich eine Relation besitzen, die ermöglicht, daß es die mit dem Akt der Tathandlung gegebene Spontaneität als seine Tätigkeit erfahren kann. Letzteres setzt voraus, daß sich das Bewußtsein von ihm äußeren Phänomenen abgrenzt, zu denen es dann in einer Relation steht. Das Aufsuchen der Relation wiederum bedingt zwei Folgesätze. Der erste Folgesatz, d. i. der Satz der Negation, besagt, daß dem Ich schlechthin ein Nicht-Ich entgegengesetzt wird (vgl. GA I / 2, 264 ff.). Die daraus resultierende Konkurrenz zum ersten Grundsatz ist nur lösbar, wenn über die Entgegensetzung hinaus das Bewußtsein in sich selbst den Widerstreit der Handlungen des ersten und des zweiten Grundsatzes lösen und, d. h. für Fichte, unter die Einheit des ‚Ich gleich Ich‘ bringen kann. Dafür führt er den zweiten Folgesatz an, in dem das absolute Ich im Ich dem teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich entgegensetzt (vgl. GA I / 2, 267 ff.). Entsprechend diesem Folgesatz ist die Realität als unaufhebbares Miteinander von Subjektivität und Objektivität zu begreifen, wodurch nichts anderes als das empirische Ich markiert ist, das allein über reales Selbstbewußtsein verfügen kann und dessen Aufgabe darin besteht, seine subjektiven und objektiven Konstitutiva in unendlicher Annäherung an das Absolute anzugleichen. IV. Schlußbetrachtung Die Ausführungen zeigen, daß Fichte und Schinkel in ihren Bestimmungen des Selbstbewußtseins und des Individuums sowie insbesondere im Hinblick auf inhaltliche Ausrichtungen und Konstruktionsvoraussetzungen weitgehend übereinstimmen. Schinkel entlehnt und ‚übersetzt‘ mit Vernunft und Natur nicht nur grundlegende Begriffe der Fichteschen Philosophie wie Ich und Nicht-Ich, sondern setzt sie auch in gleichsinnige Konstellationen (Korrelation) zueinander: in Wirkungsverhältnisse (der Unterordnung der Natur unter die Vernunft) und Rangverhältnisse (herrschende Vernunft und Freiheit gegenüber Sinnlichkeit und Sinnenwelt). Fichtes Konzeption des Selbstbewußtseins bietet damit das anthropologische und ideelle Fundament für Schinkels Bestimmungen des individuellen Selbst- und Weltverhältnisses, auf die er seine Architekturphilosophie gründet: Kultivierung des Menschen durch Architektur ihrem Inhalt und ihren Konstruktionsvoraussetzungen nach.



Architektur und Transzendentalphilosophie313

Darüber hinaus besteht bezüglich der Kultivierung der genannten Principiate eine weitere Analogie, die aber auch in eins eine Differenz in sich birgt. Darstellbar ist dies anhand des Theorems der Modifikation der Natur nach Vernunftgesetzen. Die folgende Skizze des Theorems bei Schinkel und Fichte gliedert sich in Angaben zum Theorem selbst, zum Problemhorizont, zu seiner Umsetzung und zum Begriff der Natur. In fast wörtlicher Anlehnung an Fichtes Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (vgl. GA I / 8, 324) formuliert Schinkel: „Die höhere Herrschaft über die natur, wodurch der widerstrebenden das majestätische Gepräge der Menschheit als Gattung, das der Idee aufgedrückt wird, diese Herrschaft ist das eigentliche Wesen der schönen Kunst. Sie ist das Werkzeug der Ewigkeit der Ideen“ (AL 19). „Die schöne Kunst drückt der widerstrebenden natur das Gepräge der Menschheit als Gattung auf“ (AL 31). Methodisch strengt Schinkel die Umsetzung des Modifikationstheorems mit Vorgaben an, durch die sich Lebendiges, Werdendes begreifen und anschauen läßt. Unter diese Vorgaben faßt er die Natur qua Entgegensetzung und Hierarchisierung. Entgegensetzung umfaßt bei Schinkel Entzweiung und Vereinigung der Naturobjekte durch das Individuum und manifestiert sich im ästhetischen Leben durch ständigen Wechsel von einem Naturobjekt zum anderen. Hierarchisierung versteht Schinkel als zunehmend vernunftbestimmte Reaktion auf Entgegensetzung (vgl. AL 32). Sie vollzieht sich in unendlicher Annäherung an die göttliche Vorgabe allen Seins (vgl. AL 32 u. 44). Schinkels Vorgehen erinnert an Fichtes Methode der „limitativen Dialektik“27, mit der dieser die Strategie verfolgt, die Entgegengesetzten Ich und Nicht-Ich solchermaßen zu vereinigen, daß man von einer vorgegebenen These zu einer Antithese übergeht und beide durch eine ihnen übergeordnete Synthese zur Einheit bringt. Dies geschieht bei Fichte vor dem Hintergrund, daß der „methodologische Sinn von Dialektik […] dem ontologischen“28 Sinn folgt. Der Prozeß der Limitation ist so lange durchzuführen, bis man Opponenten erhält, die in der völligen Identität der Thesis Ich = Ich, d. i. dem vollendeten Selbstbewußtsein, übereinstimmen. Er bildet die Grundhandlungen des Selbstbewußtseins in seiner organischen Einheit ab, deren zentraler struktureller Aspekt die Grenze in Form der Selbstbegrenzung darstellt (GA I / 2, 276). Diesem Moment der Selbstbegrenzung hat Schinkel mittels der Kompositionsfigur der Integration und des Kompositionsprinzips der Asymmetrie ein Bild gegeben. Mit ihm wurde einerseits der Fichtesche Gedanke an27  Der Ausdruck ‚limitative Dialektik‘ geht auf Wolfgang Janke zurück. Vgl. dazu ders.: Fichte. Sein und Reflexion – Grundlagen der kritischen Vernunft, Berlin 1970, 100 ff. 28  Ebd., 125.

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schaubar, und andererseits vermag Schinkel dadurch das vom ihm deskriptiv angegangene Anliegen der Kultivierung des Menschen durch Architektur normativ zu begründen. Trotz dieser Analogien bestehen zwischen Schinkel und Fichte jedoch auch Differenzen hinsichtlich des Naturbegriffs, die sich an drei Punkten festmachen lassen: erstens am Verhältnis von Natur und Kunst, zweitens am Verhältnis von Natur und Transzendenz sowie drittens am Verhältnis von Natur und Geist. Die in dem ersten Verhältnis implizierte Fragestellung, wie unter künstlerischer Perspektive die Natur nach Vernunftgesetzen modifiziert werden soll, mündet bei Schinkel in der Auffassung, ‚wahre‘ Kunst müsse den überindividuellen, d. h. göttlichen Lebenskern zur Darstellung bringen. Diese künstlerische Sichtweise auf die Natur spielt für Fichte überhaupt keine Rolle. Seine Aussagen dazu verlieren sich in diesem Kontext in Äußerungen wie denen, daß Natur in allgemeiner Hinsicht die Sphäre und das Material von Vernunfthandlungen gleich welcher Art darstellte (vgl. GA II / 12, 127). Hinsichtlich des zweiten Verhältnisses stimmen sie wieder überein, wenn sie einen von der Natur unabhängigen Seinsbereich annehmen, den sie als immateriellen, transzendenten Bereich des Geistes verstehen. Diese Übereinstimmung setzt sich in der Sicht auf das dritte Verhältnis fort. Natur wird hier von beiden als Bereich kausaler Gesetzmäßigkeit verstanden, von dem das Reich der Freiheit abzugrenzen ist. Diese Übereinstimmung gilt jedoch nicht uneingeschränkt. Denn an den drei genannten Verhältnissen zeichnet sich zwar ab, daß Schinkel in der Grundausrichtung des Theorems der Natur nach Vernunftgesetzen Fichte folgt, er aber als bildender Künstler, für den Material reale Qualität ist, im Unterschied zu Fichte Perspektiven auf die Natur annehmen kann, die Fichte infolge seines ihm schon von Schelling vorgeworfenen radikalen Bezugs auf den reinen Begriff von Natur nicht denken kann. Fr. W. Schellings Kritik an Fichtes Naturbegriff lautet: Für Fichte sei die Natur „todt, rein todt“, weil sie „lediglich im Denkenden“ (GA I / 8, 179) begründet ist. Schelling vertritt dagegen in seiner Metaphysik den Standpunkt der Immanenz: „Gott ist wesentlich das Seyn, heißt: Gott ist wesentlich die Natur und umgekehrt“29. Schelling entfaltet die Hypothese von der Verwirklichung des Göttlich-Geistigen in der Natur und faßt die organisch-geistige Entfaltung des Lebens mit der Analyse des Bewußtseins zu einem System gleichartiger Elemente und Strukturen zusammen. Darin besteht seine Identitätsphilosophie. Während es Fichte um eine vernunftdurchdrungene Welt durch vernunftgeleitete Überwindung der Natur geht, geht Schinkel – moderater als Fichte und in gewisser Nähe zu Schellings 29  Zitiert nach Franz Hoffmann: Franz von Baader in seinem Verhältnis zu Hegel und Schelling, Leipzig 1850. XCIII.



Architektur und Transzendentalphilosophie315

Karl Friedrich Schinkel: Landhaus bei Syrakus. Zeichnung / Feder in Schwarz, laviert (o. J.). 37,8 cm × 48,9 cm. Bpk / Kupferstichkabinett, SMB / Jörg P. Anders. Inventar-Nr.: SM 1b.14.

Denken – von der Existenz eines göttlichen Lebenskerns in der Natur aus. Schellings Position dürfte Schinkel durch seinen Freund F. K. W. Solger (1780–1819), einen Schüler des Philosophen, bekannt gewesen sein. Ihren göttlichen Lebenskern empfängt die Natur nicht erst aufgrund von Bestimmungen des transzendentalen Ich, vielmehr enthält sie diesen Lebenskern immer schon und von sich aus, und auf dieser Grundlage läßt sich das Ideal der Vernunft in der ‚wirklichen‘ Welt darstellen. Somit ist Schinkel als Künstler nicht auf den bloßen Gedanken der Jenseitigkeit der geistigen Welt angewiesen, sondern er kann ihn in der Natursymbolik seines Werks im Diesseits zur Anschauung bringen und für den Rezipienten unmittelbar und lebensnah wahrnehmbar machen. Im Erleben der Idee der Freiheit als vernunftgeleiteter Bewältigung der Natur gründet Schinkels Bestimmung der Architektur als „Symbol des Lebens“ (M 192). Eine Bestimmung, die ungeachtet der beschriebenen Differenz zu Fichte ohne dessen Philosophie nicht einsichtig ist und ihrer Vollständigkeit nach folgenden Nachweis voraussetzt: Schinkels Rede von der Kultivierung des Menschen durch Architektur darf man als architekturtheo-

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retische Präfiguration von Fichtes Theorie der Selbstobjektivation des Subjekts verstehen. Für diesen Nachweis, für den, wie eingangs angeführt, eine umfangreichere Untersuchung nötig wäre, sind folgende Aspekte relevant: Analogien zwischen Schinkel und Fichte, die sich auf zentrale Gedanken­ figuren (Selbstbewußtsein), Begriffskonstellationen (Zwei-Welten-Lehre), Theoreme (Einheit des Mannigfaltigen, Modifikation der Natur nach Vernunftgesetzen, Gefühl als Grund des Realitätsbewußtseins) und methodische Aspekte (Gedankenfigur der Gradation, pädagogisch motivierte Rührung des Gemüts, synthetisch-antithetisches Vorgehen) beziehen. Zu berücksichtigen sind dabei vor allem Schinkels „Architektur der Romantik“30 ab 1810 und Fichtes Zeitalterlehre sowie die Verbindung zwischen beiden durch den Begriff des seligen Lebens als konkrete Ausgestaltung des Begriffs des Individuums, wobei bei Schinkel die einzelnen Explikationsstufen dieser Ausgestaltung eine zunehmend tiefere und umfassendere Aneignung Fichteschen Gedankenguts spiegeln, die sich vorrangig auf dessen Spätphilosophie bezieht31. Bibliographie Bergdoll, Barry: Karl Friedrich Schinkel. Preußens berühmtester Baumeister, München 1994. Bisky, Jens: Poesie der Baukunst, Weimar 2000. Börsch-Supan, Eva: „Architektur und Landschaft“, in: Der Senat von Berlin (Hrsg.): Karl Friedrich Schinkel – Werke und Wirkungen. Katalog zur Ausstellung im Martin-Gropius-Bau 13. März–17. Mai 1981, Berlin 1981. Buttlar, Adrian von: Leo von Klenze, München 1999. Carter, Rand: „Gartenreich Potsdam. Schinkels, Persius and Lenne’s summer retreats for the Prussian princess“, in: M. Paik (Hrsg.): Karl Friedrich Schinkel. Aspekte seines Werks, Stuttgart / London 2001, 71–81. Fidone, Emanuele: „Schinkel and the Mediterraneum. The ‚Landhaus bei Syrakus‘“, in: M. Paik (Hrsg.): Karl Friedrich Schinkel. Aspekte seines Werks, Stuttgart /  London 2001, 30–37. Harten, Ulrike: Die Bühnenentwürfe, überarb. v. Helmut Börsch-Supan u. Gottfried Riemann, Schinkel-Lebenswerk, Bd. 17, Berlin 2000. Hoffmann, Franz: Franz von Baader in seinem Verhältnis zu Hegel und Schelling, Leipzig 1850. Bisky: Poesie der Baukunst, Weimar 2000, 201 ff., insbesondere 248. dazu Petra Lohmann: Architektur als ‚Symbol des Lebens‘. Zur Wirkung der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes auf die Architekturtheorie Karl Friedrich Schinkels (1803–1815), München / Berlin 2010. 30  Jens

31  Vgl.



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Janke, Wolfgang: Fichte. Sein und Reflexion – Grundlagen der kritischen Vernunft, Berlin 1970. Lohmann, Petra: Architektur als ‚Symbol des Lebens‘. Zur Wirkung der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes auf die Architekturtheorie Karl Friedrich Schinkels (1803–1815), München / Berlin 2010. Mackowsky, Hans: Karl Friedrich Schinkel. Briefe, Tagebücher, Gedanken, Berlin 1922. Mittmann, Jörg Peter: Art. „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“, in: F. Volpi (Hrsg.): Großes Werklexikon der Philosophie, Bd. I, Stuttgart 1999, 487 f. Peschken, Goerd: „Das Architektonische Lehrbuch“, in: Schinkel – Lebenswerk, Bd. 14, München 1979. Riemann, Gottfried: Reisen nach Italien. Tagebücher, Zeichnungen, Aquarelle. 2  Bde., Berlin / Weimar 1996. Riemann, Gottfried / Heese, Christa: Karl Friedrich Schinkel. Architekturzeichnungen, Berlin 1996. Schweidler, Walter: Art. „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“, in: Franco Volpi / Julian Nida-Rümelin: Lexikon der philosophischen Werke, Stuttgart 1988, 315 f. Schrader, Wolfgang H.: Empirisches und absolutes Ich; Zur Geschichte des Begriffs Leben in der Philosophie J. G. Fichtes, Stuttgart-Bad Cannstatt 1972.

Determinismus der Natur und Freiheit des Geistes Die Rezeption Fichtes in Frankreich und die Ursprünge des französischen Spiritualismus Tommaso Valentini I. Biran und Lequier vor Fichte: Historische Rezeption und mögliche spekulative Vergleiche In diesem Beitrag betrachte ich die Rezeption des Denkens von J. G. Fichte bei zwei Philosophen, die als die „Begründer des französischen Spiritualismus“ gesehen werden können. Es geht um François-Pierre Maine de Biran (Bergerac 1766 – Paris 1824) und Joseph-Luis-Jules Lequier (Quintin 1814 – Saint-Briec 1862). Nach einer kurzen Gesamtdarstellung der Schwerpunkte beider beschäftige ich mich – in zwei verschiedenen Teilen – mit der historischen und philologischen Frage, was die französischen Philosophen wirklich von den Werken Fichtes gekannt beziehungsweise verstanden haben. Wir können sofort sagen, daß beide in den Werken Fichtes ein Modell für die Überwindung des Determinismus der Natur sahen. Diese Überwindung wurde insbesondere in der ursprünglichen Freiheit des Geistes gesucht. Schließlich lenke ich meine Aufmerksamkeit auf die Ähnlichkeiten der Perspektiven von Fichte, Biran und Lequier. II. Biran und die Konzeption des menschlichen Geistes als freie Tätigkeit und effort Die Philosophie von Maine de Biran wird sehr oft, auch bei zahlreichen zeitgenössischen Interpreten, als einer der Höhepunkte der französischen Spekulation geschätzt. In den Werken Birans sieht man üblicherweise eine originelle Wiederaufnahme der Cartesianischen Philosophie des cogito, eine kräftige geistige und religiöse Reaktion gegen die Aufklärung und ihre atheistischen und materialistischen Tendenzen (man denke zum Beispiel an die Sichten von Voltaire, D’Olbach und La Mettrie) und eine theoretische Überwindung des Sensualismus von Condillac sowie der Philosophie der Idéologues (Destutt de Tracy und Cabanis).

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Biran hat seine Werke zum großen Teil nicht veröffentlicht. In diesem Zusammenhang muß man daran denken, daß er auch kein „Philosoph von Beruf“ war. Er hatte sich nämlich nur für wenige Jahre als Politiker in Paris engagiert und fast immer in der Provinz gelebt, um sich persönlich um seine Besitzungen in der Nähe von Bergerac zu kümmern. Deswegen können wir behaupten, daß er vor allem für sich selbst geschrieben und für sich selbst gedacht hat. Trotzdem finden sich in seinen Werken – die als erster Victor Cousin gesammelt und 1841 publiziert hat1 – tiefe spekulative Anschauungen, die großen Einfluß auf die folgende Philosophie des XIX. und des XX. Jahrhunderts gehabt haben. Jean Wahl und viele andere betrachten Biran als „den wirklichen Begründer“ des französischen Spiritualismus, der später mit Boutroux, Bergson und Blondel seine Höhepunkte fand2; Emmanuel Mounier schätzte Biran als einen der Vorläufer des Personalismus3; Paul Ludwig Landsberg hat Biran als „den wirklichen Begründer“ der philosophischen Anthropologie bezeichnet4; Michel Henry hat im Denken Birans eine phänomenologische Perspektive ante litteram

1  Vgl. François-Pierre-Gonthier Maine de Biran: Œuvres philosophiques, hrsg. von Victor Cousin, 4 Bde., 1841 Paris (Frankfurt a. M. 1979 f.). 2  Nach Jean Wahl: Tableau de la philosophie française, Paris 1962, 85: „le plus grand des philosophes du début du XIXe siècle est Maine de Biran“. Hinsichtlich der Beziehungen zwischen Biran, Bergson und der französischen Philosophie des Geistes am Anfang des XX. Jahrhundertes hat Wahl betont: „Il nous est arrivé de prononcer le nom de Bergson en parlant de Biran. Rien de plus naturel. Biran est, avec Montaigne, Amiel et Proust, parmi les écrivains qui ont mieux saisi la fluidité de la vie intérieure“ (ebd., 83). Zur Rezeption von Biran bei den französischen Spiritualisten vgl. Michelangelo Ghio: Maine de Biran e la tradizione biraniana in Francia, Torino 1962; Jong-Won Park: Intériorité et extériorité: étude sur l’origine et la génération de la connaissance dans le spiritualisme français (Condillac, Maine de Biran, Bergson), Paris 1995; Su Young Park-Hwang: L’habitude dans le spiritualisme français: Maine de Biran, Ravaisson, Bergson, Paris 1997. Jong-Won Park: Intériorité et extériorité: étude sur l’origine et la génération de la connaissance dans le spiritualisme français (Condillac, Maine de Biran, Bergson), Paris 1995; Su Young Park-Hwang: L’habitude dans le spiritualisme français: Maine de Biran, Ravaisson, Bergson, Paris 1997; Céline Lefève: Maine de Biran et Bergson. Science et philosophie. La question de la psychologie subjective, Paris 2003. 3  Vgl. Emmanuel Mounier: Manifeste au service du personnalisme, Paris 1936. 4  Diesbezüglich hat Paul Ludwig Landsberg gesagt: „Das Werk von Maine de Biran ist so reich, daß auch die neue philosophische Anthropologie, die sich in Deutschland [vor allem mit Scheler, Gehlen und Plessner] entwickelt hat, bei ihm einen Vorläufer und auch mehr finden kann. Vor allem betrifft das den späten Biran, das heißt den Verfasser von Nouveaux essais d’anthropologie [1823–1824]“ (Paul Ludwig Landsberg: „Maine de Biran et l’anthropologie philosophique“, in: Revista de Psicología y Pedagogía 4 (1936) 343). Die Übersetzungen aus dem Französischen im vorliegenden Artikel stammen von uns, das gilt auch für die Zitate aus den Werken Birans.



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gefunden, die große Ähnlichkeiten mit der Husserls hat, vor allem in Hinsicht auf dessen Konzeption der Beziehungen zwischen Leib und Geist5. Wir teilen die historischen Rekonstruktionen von Ernest Naville und Giovanni Amendola6, nach denen man die Philosophie von Biran in drei große Perioden gliedern kann: 1. die Philosophie der Wahrnehmung, 2. die Philosophie des Willens und 3. die Philosophie der Religion. Die erste Periode beginnt im Jahr 1794. Biran beginnt, sein Journal intime zu schreiben. In diesem Journal versucht er, die Erinnerungen jedes Tages zusammenzufassen, indem er auch seine Empfindungen und seine inneren Wahrnehmungen ausdrückt. Es geht um eine Beschreibung seiner Innerlichkeit. Man kann sagen, daß Biran in diesem Tagebuch dem Beispiel der Bekenntnisse von Augustinus folgt. Wie Augustinus ist auch der junge Biran davon überzeugt, daß die Wahrheit nur in interiore homine und nicht in der Äußerlichkeit erreichbar ist. In diesem Werk kann man auch den Einfluß des Sensualismus von Condillac und der französischen Idéologues spüren – insbesondere von Destutt de Tracy, mit dem Biran einen bedeutenden Briefwechsel hatte. Die zweite Periode beginnt – nach Naville und Amendola – im Jahr 1804 mit dem Verfassen der Schrift Mémoire sur la décomposition de la pensée. Hier versucht Biran, den Empirismus von Hume und den Sensualismus von Condillac zu widerlegen, indem er die notwendige Rolle der Subjektivität in der Erkenntnis betont. Seit dieser Periode nähert sich die spekulative Auffassung Birans immer mehr der Transzendentalphilosophie von Kant und Fichte: Das Ich und die Erlebnisse des Bewußtseins werden das Fundament jeder möglichen Erkenntnis der Erfahrung. Wie wir auf den nächsten Seiten ausführlich betrachten werden, hat sich Biran gerade in diesen Jahren für die Philosophie Kants und der deutschen Idealisten interessiert7. 5  Vgl. Michel Henry: Philosophie et phénoménologie du corps. Essai sur l’ontologie biranienne, Paris 1965, 21987. Hierzu vgl. auch Yukio Naka: L’expérience de la passivité chez Maine de Biran: une intérpretation phénoménologique de l’ontologie biranienne, Paris 1991; Rolf Kühn: Pierre Maine de Biran – Ichgefühl und Selbstapperzeption. Ein Vordenker konkreter Transzendentalität in der Phänomenologie, Hildesheim u. a. 2006. 6  Vgl. Ernest Naville: Maine de Biran, sa vie et ses pensées, Cherbuliez, Paris 1857; Giovanni Amendola: Maine de Biran, Firenze 1911, 16 f. Weitere Gesamtdarstellungen der Philosophie Birans sind die von Victor Delbos: Maine de Biran et son oeuvre philosophique, Paris 1931; Henri Gouhier: Les conversions de Maine de Biran, Paris 1947; Bernard Baertschi: L’ontologie de Maine de Biran, Fribourg 1982; François Azouvi: Maine de Biran. La science de l’homme, Paris 1995. 7  Vgl. hierzu den Artikel von Ilaria Malaguti: „Maine de Biran lettore di Kant. La soggettività come effort“, in: Rivista di storia della filosofia, LXI, 4, supplemento (2006) 53–61. In den Jahren 1815–16 schreibt Biran die berühmten Notes sur la philosophie de Kant: Das Interesse Birans an Kants Philosophie beginnt allerdings

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Laut Amendola und Ernest Naville, dem ersten Biographen von Biran, erreicht der Philosoph von Bergerac den Höhepunkt seiner Spekulation in der Schrift von 1812: Essai sur les fondements de la psychologie. In diesem Werk analysiert Biran ausführlich die Funktionen der verschiedenen menschlichen Vermögen: Unter den Vermögen betont er die hervorragende Rolle, die der freie Wille in der Erkenntnis der Welt, in der Reflexion über sich selbst und im Handeln spielt. Daraus ergibt sich eine Philosophie des Willens, die dem theoretischen Standpunkt von Fichte in der Wissenschaftslehre nova methodo (= WLnm) sehr nahesteht. Die dritte Phase der Spekulation Birans ist stark von der christlichen Religion geprägt. Er betont immer mehr, daß die Innerlichkeit ihren Ursprung in der Transzendenz Gottes hat. Durch die Psychologie erreicht Biran eine metaphysische und religiöse Perspektive. Das ergibt sich klar aus dem letzten Werk des Philosophen: Nouveax essais d’anthropologie (1823 / 24). Wir können sagen, daß es nicht um drei verschiedene und total getrennte Perioden geht. Unseres Erachten hat die Philosophie Birans eine innere Einheit. Bei Biran findet sich eine einzige spekulative Perspektive – eine Philosophie der Subjektivität im Augustinischen und Cartesischen Sinne –, die allmählich nach verschiedenen Richtungen vertieft wurde. In seinen Werken hat Biran versucht, die ganze Philosophie aus einem Prinzip zu begründen. Dieses Prinzip heißt – auf verschiedene Weise – das Ich, der Geist (auf Französisch esprit) oder, besser gesagt, die innere Tätigkeit des Bewußtseins, die oft auch als effort bestimmt wird. Die Philoschon in den Jahren 1804–1805. Die Schrift Notes sur la philosophie de Kant findet sich in Band 11,2 (Paris 1993) in der Ausgabe: Maine de Biran: Œuvres, hrsg. von François Azouvi, 13 Bde., Paris 1984 ff. [Diese Ausgabe Birans wird im folgenden mit OMB zitiert]. Biran wurde von Jules Lachelier als „der französische Kant“ bezeichnet. Nach Henri Gouhier ist diese Bezeichnung nicht ganz richtig: „der Biranismus ist keine Form des Kantianismus“ (Gouhier: Les conversions de Maine de Biran, Paris 1947, 270); „die Themen, die Biran betrachtet, sind vom Kantianismus ganz unabhängig“ (ebd., 259). Zu diesem Zusammenhang vgl. auch Edmund König: „Maine de Biran, der französische Kant“, in: Philosophische Monatshefte XXV (1889) 150–265. Zur ersten Rezeption der Werke Kants in Frankreich vgl. Charles de Villers: Philosophie de Kant ou principes fondamentaux de la philosophie transcendentale, Metz 1801; Johannes Kinker: Essai d’une exposition succincte de la Critique de la raison pure, Amsterdam 1801. Aus dem Briefwechsel Birans mit Ampère entnimmt man, daß Biran diese Werke von Villers und Kinker gelesen hat. Vgl. vor allem den Brief vom 04.09.1812 in: Correspondance philosophique Maine de Biran-Ampère, in: OMB 13, 317. Zur ersten Rezeption des Denkens von Kant in Frankreich vgl. auch François Azouvi / Dominique Bourel: De Königsberg à Paris. La réception de Kant en France (1788–1804); Andrea Bellantone: „La prima circolazione del pensiero di Kant in area francofona“, in: Rivista di storia della filosofia LXI, 4, supplemento (2006) 45–52.



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sophie Birans betrachtet die Tatsache des Bewußtseins als „Fundament einer absoluten Gewißheit“8. Nach ihm „kann man nichts wissen ohne das innere Bewußtsein seines Selbst. Das ist die ursprüngliche Tatsache des inneren Sinnes (le fait primitif du sens intime), die Basis oder der Anfang jeder Wissenschaft“9. Bei diesen Äußerungen kann man wirklich viele Ähnlichkeiten mit dem spekulativen Programm der Wissenschaftslehre Fichtes bemerken. Sowohl Biran als auch Fichte haben versucht, eine strenge Wissenschaft zu begründen, ausgehend vom Ich und der Tätigkeit des Geistes. Darüber hinaus betonen beide, daß das Wesen des Geistes selbst die Freiheit ist. Ihr spekulatives Programm besteht wesentlich in einer Überwindung des Determinismus der Natur durch eine Philosophie des Ich und des Geistes. III. Ist Biran ein „französischer Fichte“? Schon in der Mitte des XIX. Jahrhunderts haben viele berühmte Historiker der Philosophie spekulative Ähnlichkeiten zwischen Biran und Fichte bemerkt. Victor Cousin zum Beispiel hat das Denken Birans in seinem Cours d’histoire de la philosophie als „eine schwache Spiegelung des subjektiven und persönlichen Idealismus von Fichte (un reflet affaiblì de l’idéalisme subjectif et personnel de Fichte)“10 betrachtet. Diese Auffassung wird von Cousin in einer anderen Schrift so gerechtfertigt: „Fichte est le grand représentant et […] le veritable héros de la philosophie du moi et de la volonté. La théorie de Fichte est celle de M. de Biran, mais plus profonde encore dans ses bases psychologiques, plus rigoureuses dans ses procédés, plus hardie dans ses conséquences. Fichte aussi, comme Maine de Biran, part de l’acte primitif du vouloir, dans lequel le moi s’aperçoit lui-même comme force libre, et se distingue de tout ce qui n’est pas lui. Ce moi qui se pose d’abord lui-même, qui va sans cesse se développant et se réfléchissant, est le principe unique du quel Fichte a tiré toute sa psychologie, toute sa métaphysique, toute sa religion, toute sa morale, toute sa politique; et le système entier fondé sur ce principe unique, il n’a pas craint de l’appeler lui-même idéalisme subjectif.“11

Nach Cousin ist die Theorie Fichtes wesentlich dieselbe wie die von Biran. Dieser Meinung ist auch Schelling, mit dem Cousin einen Brief8  Maine de Biran: Essai sur les fondements de la psychologie et sur ses rap­ports avec l’étude de la nature (1812 geschrieben, erstveröffentlicht 1859), in: ders.: Œuvres, Bd.VIII., accompagnées de notes et d’appendices, hrsg. von Pierre Tisserand, Paris 1932, 87. Diese Ausgabe wird im folgenden mit der Abkürzung „OT“ zitiert. 9  Ebd., 129. 10  Victor Cousin: Cours d’histoire de la philosophie, Paris 1828 (Neuausgabe 1991), 352. 11  Victor Cousin: „Préface“, in: Maine de Biran: Nouvelles considérations du physique et du moral de l’homme, Paris 1834, XL.

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wechsel gehabt hat: „Biran, hätte er länger gelebt, hätte geendet wie Fichte.“12 In einem 1840 erschienenen Artikel mit dem Titel Philosophie contemporaine hat sich Félix Ravaisson über die spekulativen Ähnlichkeiten zwischen Fichte und Biran folgendermaßen geäußert: „[Fichte] se rencontre, dans la dernière formule de sa philosophie souvent aussi bien mal comprise, avec Maine de Biran.“13 Außerdem hat Hippolyte Adolphe Taine diese Parallelität zwischen dem Denken Fichtes und Birans sehr stark ausgedrückt: „Biran ist der französische Fichte (le Fichte français).“14 Betrachten wir jetzt die historische und philosophische Frage, was Biran in seiner Zeit von der Wissenschaftslehre Fichtes gekannt hat! Im Jahr 1804 wurde in Frankreich das Werk von Joseph-Marie Degérando mit dem Titel Histoire comparée des systèmes veröffentlicht15. Aus dem Briefwechsel Birans entnimmt man, daß er das Kapitel über die Kantische Schule sehr sorgfältig gelesen hatte16. In der 1804 erschienenen Schrift Mémoire sur la décomposition de la pensée sagt Biran, daß er bei den Postkantianern „das grundlegende Prinzip (le principe fondamental)“17 seiner Philosophie wiedergefunden habe: das Ich als Prinzip jeder möglichen Erfahrung. Leider hat Biran, wie er selbst sagt, das Transzendentalsystem Fichtes nur durch Degérando und andere kleine historische Zusammenfassungen (von J.-P.-F. Ancillon, J.-C. Passavent, und Madame de Staël) kennengelernt18 und nie12  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: „Vorrede“, in: Victor Cousin: Über französische und deutsche Philosophie, Stuttgart und Tübingen 1834, VIII. 13  Félix Ravaisson: „Philosophie contemporaine“, in: Revue de deux monde, Paris 1840 (ND in: Métaphysique et morale, Paris 1986), 26. 14  Hippolyte Adolphe Taine: Les philosophes classiques du XIXe siècle en France, Paris 1857 (Neuausgabe Paris / Genève 1979), 61. 15  Joseph Marie Degérando: Histoire comparée des systèmes de philosophie, 3 Bd., Paris 1804. 16  Zu diesem Zusammenhang vgl. OMB 13,2. 17  OMB 3, 109. 18  Insbesondere können wir den Zitaten seiner Werke entnehmen, daß Biran eine in Jahr 1809 veröffentlichte historische Schrift von Jean-Pierre-Frédéric Ancillon gelesen hatte. Es geht um den „Essai sur l’existence et sur les derniers systèmes de métaphysique qui ont paru en Allemagne“, in: Ancillon: Mélanges de littérature et de philosophie, Bd. II, Paris 1809, 129–185. Diese Schrift von Ancillon wurde in dem Essai sur les fondements de la psychologie (1812) erwähnt: Vgl. OT VIII, 139. Biran hat auch im Jahr 1822 eine durch Jean-Charles Passavent geschriebene Zusammenfassung zweier Werke Fichtes gelesen. Es geht um Die Tatsache des Bewußtseins 1810–11 (Tübingen und Stuttgart 1817) und das Resumé des berühmten Werks Bestimmung des Menschen. Vgl. OMB 11,3, 405–431 (Appendice II, JeanCharles Passavent, Note pour Monsieur Maine de Biran. Annotations de Maine de Biran). Für die Rezeption des Denkens Fichtes in Frankreich ist sehr wichtig: Anne Louise Germaine Madame de Staël: De l’Allemagne, Bd. 2, Paris 1813 (Neuausgabe



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mals eine Fassung der Wissenschaftslehre direkt gelesen19. Trotz seiner wenigen Quellen über die deutsche Philosophie hat Biran doch wesentliche Ähnlichkeiten seines Denkens mit den Ansichten von Fichte und den Postkantianern bemerkt. Zu diesem Zusammenhang hat er sich so geäußert: „Ich teile mit der Kantischen Schule und Fichte dieselben grundlegenden Fragen, dieselben zu überwindenden spekulativen Schwierigkeiten [les mêmes ques­ tions fondamentales, les mêmes difficultés à résoudre]. Ich war erstaunt, den Ausdruck der gleichen Prinzipien wiederzufinden. Deswegen habe ich diese Ähnlichkeiten [ces analogies] leicht bemerkt. Es geht wirklich um eine Einleitung in eine Wissenschaft, die ich selbst zu konstruieren versucht habe.“20 IV. Die Fichtesche Begründung eines Systems der Freiheit Bei Fichte findet Biran eine tiefe Philosophie der Freiheit, eine Spekulation, die den strengen Determinismus der natürlichen Phänomene zu überwinden versucht. Nach Fichte ist das reine Ich das Fundament der Wirklichkeit, das transzendentale Prinzip, das alles menschliche Wissen der Realität ermöglicht. Außerdem wird in der Wissenschaftslehre – und besonders in den 1796–99 gehaltenen Vorlesungen Wissenschaftslehre nova methodo (= WLnm) – das reine Ich als freie Tätigkeit und als freier Wille gekennzeichnet. Die Transzendentalphilosophie Fichtes, die die ganze Wirklichkeit aus einem Prinzip zu entfalten versucht, hat – nach Biran – auch dieses Verdienst. Sie begründet eine Philosophie des Geistes und der Freiheit, eine Philosophie, die auf einem Primat des Willens basiert. Fichte selbst hat das in mehreren Schriften und auf verschiedene Weise betont. Der deutsche Paris 1950). Madame de Staël hat Fichte 1803 persönlich in Berlin kennengelernt. Dennoch hat sie das System Fichtes fast völlig mißverstanden und deswegen auch stark kritisiert. Nach Madame de Staël ist die Wissenschaftslehre eine Sammlung von Abstraktionen, eine Form des Solipsismus und des Materialismus, eine radikale Vergessenheit der Bedeutung der Natur: „Ce système […] est singulièrement difficile à suivre. Fichte ne considère le monde extérieur que comme une borne de notre existence, sur laquelle la pensée travaille. […] La nature et l’amour perdent tout leur charme par ce système; car si les objets que nous voyons et les êtres que nous aimons ne sont rien que l’oeuvre de nos idées, c’est l’homme lui même qu’on puet considérer alors comme le grand célibataire des mondes. […] Le matérialisme absorbe l’âme en la dégradant; l’idéalisme de Fichte, à force de l’exalter, la sépare de la nature. […] Fichte ne voit dans la nature que l’opposé de l’âme: elle n’est à ses yeux qu’une limite ou qu’une chaîne, dont il faut travailler sans cesse à se dégager“ (ebd., 172–174). 19  In der Schrift Mémoire sagt er: „alle meine Zitate kommen aus dem Werk von Degérando (Tome 2, Kapitel 17). Er selbst gibt die Garantie der Gewißheit seiner Zitate“ (Maine de Biran, 1804, in: OMB 3, 106). 20  Maine de Biran, 1804, in: OMB 3, 106 f.

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Philosoph sagt zum Beispiel: „Mein System ist von Anfang bis zu Ende nur eine Analyse des Begriffs der Freiheit“21, und: „Mein System ist das erste System der Freiheit“22. Jetzt betrachten wir kurz, wie Fichte in der WLnm sein System der Freiheit begründet hat. Dann können wir über die möglichen spekulativen Ähnlichkeiten mit der Perspektive Birans diskutieren. Während die im Jahr 1794 durch Fichte veröffentlichte Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre mit dem ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz allen menschlichen Wissens („Das Ich setzt sich selbst“) beginnt, liegt eine Besonderheit der WLnm darin: Sie hat eine „phänomenologische“ Perspektive und versucht, den transzendentalen Standpunkt ausgehend von einer Betrachtung der konkreten und empirischen Subjektivität zu erreichen, „von unten“ sozusagen. Die WLnm beschreibt den praktischen Weg des Bewußtseins, um die Erkenntnis der Objekte zu erreichen. In diesen Vorlesungen kann man – meines Erachtens – eine wirkliche „Architektur“ der menschlichen Vermögen finden. Im Unterschied zu der Grundlage werden die Vermögen des Ich hier ausführlich vorgestellt sowie sorgfältig und streng abgeleitet. Daher könnte man in der WLnm eine präzise Darstellung der Hauptelemente der transzendentalen Anthropologie Fichtes finden. Diese praktischen und gnoseologischen Elemente sind vor allem: die intellektuelle Anschauung, der Zweckbegriff, das Gefühl (sensus auf Lateinisch), die Reflexion, die Kraft, das Streben und der Trieb, die produktive Einbildungskraft, der Leib „als Umfang aller möglichen freien Handlungen der Person“23, die Aufforderung zur Freiheit, der empirische Wille und der reine Wille. Sie sind die practica constitutiva des synthetischen Bewußtseins und spielen eine entscheidende Rolle für die Bildung der Sinnenwelt. Die Reihenfolge des Bewußtseins beim Übergehen von Bestimmbarkeit zu Bestimmtheit wird außerdem von Fichte Fünffachheit24 genannt. Die Erkenntnis der Objekte ist nach Fichte eine Wechselwirkung von Freiheit (dem Wollen) und Beschränktheit (dem Gefühl, der Sinnlichkeit) im Bewußtsein: „Alles Denken, alles Vorstellen liegt zwischen dem ur21  Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Im folgenden abgekürzt: GA, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl, hier: GA III / 2, 206. 22  GA III / 2, 298. 23  GA I / 3, 363. Vgl. hierzu Reinhard Kottmann: Leiblichkeit und Wille in Fichtes ‚Wissenschaftslehre nova methodo‘, Münster 1998. 24  Vgl. hierzu Giovanni Cogliandro: „Die Dynamik der Fünffachheit der Wissenschaftslehre nova methodo“, in: Marco Ivaldo / Erich Fuchs / Giovanni Moretto (Hrsg.): Der transzendentalphilosophische Zugang zur Wirklichkeit. Beiträge aus der aktuellen Fichte-Forschung, Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, 167–197.



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sprünglichen Wollen und der Beschränktheit durch Gefühl in der Mitte“25. Der Ursprung der Erkenntnis wird daher in einem Wollen, in einem innerlichen Streben nach einem Gegenstand gesehen. Das ist eine Betrachtung, die man schon von einem empirischen Standpunkt aus in der mittelalter­ lichen Scholastik und besonders bei Thomas von Aquin finden kann: „intel­ ligo, quia volo“ sagt er zum Beispiel in der Quaestio VI von De Malo. Doch findet sich bei Fichte eine Radikalisierung und genetische Vertiefung dieses praktischen und gnoseologischen Prinzips. Nach Fichte wird dieses Prinzip (ich denke, weil ich will) aus einem transzendentalen Standpunkt begründet. Das synthetische Bewußtsein bildet eine Einheit von Denken und Willen26, und diese Einheit findet ihre letzte Begründung in einem Willen, der rein und prädeliberativ ist. Die Intuition des reinen Willens kann man jedoch nur durch Reflexion und strenge Abstraktion von empirischen Akten des Deliberierens (das heißt der Kenntnis27) erreichen. Der 25  Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift K. Ch. Fr. Krause 1798 / 99, hrsg. von Erich Fuchs, Hamburg 1994. Im folgenden zitiert als WLnm-K. Der Text findet sich auch in GA IV / 3, 307–524. 26  „Das Wollen und das Denken des Wollens sind im Bewußtseyn nicht getrennt, wie hingegen bey einer Vorstellung eines Objekts – wo ich das Vorstellende und das Vorgestellte unterscheide – sondern ich bin Eines, das Wollend denkende und das Wollende“ (Wissenschaftslehre nach den Vorlesungen von Hr. Pr. Fichte, in: GA IV / 2, 115. Dieses in der Bibliothek von Halle wiedergefundene Manuskript der WLnm wurde im Jahr 1937 zum ersten Mal veröffentlicht. Im folgenden zitiert als WLnm-H). Vgl. hierzu Günter Zöller: „Die Einheit von Intelligenz und Wille in der Wissenschaftslehre nova methodo“, Fichte-Studien 16 (1999) 89–114. 27  In der Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant dem Vermögen des Willens keine entscheidende gnoseologische Rolle zu. Im Gegensatz dazu schreibt Fichte diesem Vermögen – vor allem in der WLnm – eine zentrale Rolle zu. In diesem Werk „wird gezeigt, daß alle Vorstellung nur durch unser [empirisches und reines] Wollen hervorgebracht wird“ (Wissenschaftslehre nova methodo. Nachschrift Eschen. Fragment [1796–97], in: GA IV / 3, 178. Im folgenden zitiert als WLnm-E). Er versucht nämlich zu demonstrieren, daß die gnoseologische Bestimmung, über die Kant in der ersten Kritik spricht, wesentlich eine „Willensbestimmung“ ist (WLnm-E: GA IV / 3, 180). Nach Fichte „ist der Wille […] absolutes freyes Übergehen von Unbestimmtheit zur Bestimmtheit [mi]t d[em] Bewußtsein desselben“ (GA IV / 1, 75). Außerdem spricht er über eine mögliche Trennung zwischen einem empirischen und einem reinen Willen: Während der empirische Wille Ursache jedes einzelnen Aktes menschlicher Erkenntnis (d. h. jedes Aktes der Bestimmung) ist, ist der reine und prädeliberative Wille die höchste Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis. Der reine Wille ist die transzendentale Begründung des empirischen Willens. Franz Bader hat betont: „Die Lehre vom prädeliberativen Willen enthält […] das Zentrum von Fichtes Entfaltungen der Ichwelt aus praktischen Konstitutiven“ (Bader: „Zu Fichtes Lehre vom prädeliberativen Willen“, in: Albert Mues (Hrsg.): Transzendental­ philosophie als System. Die Auseinandersetzung zwischen 1794 und 1806, Hamburg 1989, 213). Vgl. auch Günter Zöller: „Bestimmung zur Selbstbestimmung. Fichtes Theorie des Willens“, in: Fichte-Studien 7 (1995) 101–118, und ders.: „Die Einheit von Intelligenz und Wille in der Wissenschaftslehre nova methodo“, Fichte-Studien

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reine Wille ist etwas Intelligibles und kann daher nur durch einen intuitus angeschaut werden. In den empirischen und freien Willensakten des Bestimmens kann die Präsenz eines reinen und prädeliberativen Willens angeschaut und aus ihnen abgeleitet werden: „Wollen ist […] ein selbstthätiges bestimmen, alles Bestimmen ist durch die Einbildungskraft vermittelt, es ist ein thätiges Bestimmen zu einem Zweckbegriffe. Sonach ist der ganze Begriff des Wollens sinnlich, alles Wollen ist Erscheinung. Das reine Wollen wird bloß als Erklärungsgrund vorausgesetzt, es ist in unserer Vorstellung und Sprache nicht zu fassen.“28 Der reine Wille wird daher als notwendige Voraussetzung unserer konkreten Willensakte deduziert und als Erklärungsgrund synthetischen Bewußtseins postuliert. Fichte nennt ihn „absolute Selbstheit, Autonomie, oder Freiheit“; aber „was“ das wirklich ist, bleibt „immer unbegreiflich“29. Der reine Wille in sich selbst bleibt etwas Unbestimmtes. Er ist eine „bloße Hypothese“, eine „Qualitas Occulta“30, die jedoch rein ist, weil sie außerhalb der Zeit liegt. Dennoch wird der reine Wille als notwendige Voraussetzung abgeleitet, um den Satz des Bewußtseins zu erklären. Ohne das Prinzip des reinen Willens als Genesis des Bewußtseins wäre die Möglichkeit der Erkenntnis und der menschlichen Freiheit undenkbar. Im reinen Willen sieht Fichte den Ursprung des Ich, seine überzeitliche Wurzel: „Dieses reine Wollen ist mein Seyn, und mein Seyn ist mein Wollen – beyde sind Eins und erschöpfen sich. […] Dies nannten wir oben die ursprüngliche Realität (Wurzel) des Ich, denn nur ein Wollen und das reine Wollen ist fähig unmittelbares Objekt des Bewußtseins zu werden, daher muss dieses reine Wollen ursprüngliche Realität haben.“31

In § 13 der WLnm finden sich mit dieser Willenslehre die transzenden­tale Begründung der menschlichen Freiheit und die Begründung der Transzendentalphilosophie als System der Freiheit, als System der freien Wesen. Eine wichtige Vertiefung der Lehre des reinen Willens als Begründung der Freiheit und der Intersubjektivität findet sich im dritten Buch der Bestimmung des Menschen. Hier wird die Lehre auch aus der Perspektive einer höchsten Synthesis (der Synthesis der Geisterwelt) und damit umfassender betrachtet als in der WLnm. 16 (1999) 89–114; Valentini, Tommaso: „Il concetto di volere puro in J. G. Fichte. Analisi del § 13 della Wissenschaftslehre nova methodo“, in: Alessandro Bertinetto (Hrsg.): Leggere Fichte, Napoli 2009, 49–86. 28  WLnm-K, 213. 29  WLnm-K, 230. 30  WLnm-H, GA IV / 2, 135. 31  WLnm-H, GA IV / 2, 148.



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V. Maine de Biran und Fichte Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Biran und Fichte sind wir mit der Meinung von Ives Radrizzani einverstanden: „Fichte hat den französischen Metaphysiker niemals gekannt, und Maine de Biran beherrschte die deutsche Sprache nicht gut. Deswegen hat er keinen direkten Kontakt mit der Wissenschaftslehre gehabt und hat sich keine eigene Auffassung über die Transzendentalphilosophie gebildet. Er hat die Position Fichtes nur durch den deformierenden Spiegel der französischen Historiker der Philosophie gehabt.“32

So können wir uns fragen, ob Biran durch die historischen Zusammenfassungen des deutschen Denkens wirklich den Sinn der Transzendentalphilosophie Fichtes gut verstehen konnte. Leider hat er – wie auch viele seiner Zeitgenossen (zum Beispiel Jacobi und Degérando) – das Fichtesche System als einen „subjektiven Idealismus“ interpretiert, in welchem das reine Ich als Schöpfer der Natur betrachtet wird. Mit dieser Auslegung ist Biran dem großen Mißverständnis des französischen Historikers Degérandos gefolgt, der den Deutschen Idealismus als Form eines absoluten Subjektivismus heftig kritisiert hatte. Nach den Idealisten wird, so Degérando, „alles Seiende als Produkte der Tätigkeit des Geistes begriffen [tous les êtres sont devenus des produits de l’activité de l’esprit]“33. Nach ihnen „schöpft das Ich die ganze Natur [le moi crée la nature]“34. Wir können sagen, Biran hat den wahren Sinn der Transzendentalphilosophie Fichtes nicht verstanden. Auch er kritisiert an Fichte, daß die Konstitution der Natur aus dem Ich und seiner schöpferischen Tätigkeit ganz unmöglich sei. Nach Biran „schöpft das Ich keine wirkliche Existenz [le moi ne crée aucune existence réelle]“35. Deswegen läßt sich behaupten, Biran habe die Transzendentalphilosophie als ursprüngliche Einheit des Seins und Bewußtseins nicht wirklich verstanden36: Er interpretiert das reine Ich der Wissenschaftslehre geradezu im Sinn „eines göttlichen Schöpfers“. 32  Yves Radrizzani: „Maine de Biran: un ‚Fichte français‘?“, in: Yves Radrizzani (Hrsg.): Fichte et la France, Bd. I, Paris 1997, 129. 33  Joseph Marie Degérando: Histoire comparée des systèmes de philosophie, 3 Bde., Paris 1804, 302. 34  Ebd., 326. Degérando betont, die modernen Idealisten „schöpfen von sich selbst das Seiende (créent les êtres)“ (ebd.). Deswegen sind ihre Systeme – nach Degérando und auch Ancillon – eine Chimäre: „leur entreprise est chimérique“ (Jean-Pierre-Frédéric Ancillon: Essai sur l’existence et sur les derniers systèmes de métaphysique qui ont paru en Allemagne, in: ders.: Mélanges de littérature et de philosophie, Bd. II, Paris 1809, 153). 35  Maine de Biran, 1823–24, in: OMB 10,2, 305. 36  Wir können sagen, daß die Transzendentalphilosophie Fichtes die Bedeutung der Natur und des Seins nicht vergessen hat. Sie versucht nämlich, die ganze Natur

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Trotz dieses grundlegenden Mißverständnisses der Bedeutung der Transzendentalphilosophie kann man zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen den Ansichten Fichtes und Birans ausmachen. Von einem systematischen Standpunkt aus könnte man – unseres Erachtens – sechs Punkte finden, auf Grund welcher die Positionen beider Philosophen einander sehr ähnlich und vergleichbar sind: 1. Beide versuchen – vor allem in den ersten Phasen ihrer jeweiligen Philosophien –, den Empirismus völlig zu überwinden: Fichte durch das Programm einer Transzendentalphilosophie, Biran durch die Entfaltung einer „synthetischen Psychologie“. 2. Beide verstehen das Ich als freien Geist, als etwas, das nicht auf Natur und ihre determinierenden Gesetze reduzierbar ist. 3. Beide betonen, daß die Philosophie mit der Reflexion über sich selbst anfangen muß (das heißt mit einer Selbstbeobachtung). Daher entfaltet die Spekulation – sowohl nach Fichte als auch nach Biran – ein Wissen des Wissens. Nach ihnen ist ein Hauptthema der Philosophie die Beschreibung der Tatsachen des Bewußtseins. 4) Beiden ist das Wesen des Ich der Wille. Der Wille wird als Ursprung der Erkenntnis betrachtet. 5) Nach beiden ist der Leib der Träger des Geistes und Organ der Verwirklichung des freien Willens in der Naturwelt. 6) Sowohl Fichte als auch Biran entfalten in den letzten Phasen ihrer Philosophie – wenn auch auf verschiedene Weise – eine Philosophie des Absoluten, die metaphysisch und christlich orientiert ist. – und das Sein überhaupt – in ihrer absoluten Genesis zu verstehen. Der transzendentale Standpunkt ermöglicht eine vernünftige Durchdringung der Wirklichkeit. Er versucht, die ganze Realität aus einem absoluten Prinzip zu erklären. Die Transzendentalphilosophie ist deswegen „eine deutliche intelligierende Einsicht in [dieses] Grundprinzip“ (Fichte: Erste Wissenschaftslehre von 1804, hrsg. von Hans Gliwitzky, Stuttgart 1969, 21. Vortrag, 127), d. h. die absolute Einheit von Sein und Bewußtsein. Zu diesem Zusammenhang schrieb Fichte 1804 an Appia: „Alle Philosophie bis auf Kant hatte zu ihrem Gegenstande das Sein. […] Alle [vorhergehenden Philosophen] übersahen […], daß kein Sein, außer in einem Bewußtsein, und umgekehrt, kein Bewußtsein, außer in einem Sein, vorkomme; daß daher das eigentliche An sich, als Objekt der Philosophie, weder Sein, wie in aller vorkantischen Philosophie, noch Bewußtsein, wie freilich nicht einmal versucht worden [wie Fichte betont, ist die Transzendentalphilosophie kein absoluter Subjektivismus!], sondern die absolute Einheit beider, jenseits ihrer Geschiedenheit sein müsse“ (Brief vom 23.06.1804, in: GA III / 5, 247). Die Wissenschaftslehre muß nach Fichte versuchen, „daß man jene ursprüngliche Einheit des Seins und Bewußtseins […], in dem, was sie an sich und unabhängig von ihrer Spaltung in Sein und Bewußtsein ist, durchdringe und darstellte. […] Wird man […] jene Einheit recht dargestellt haben, so wird man zugleich den Grund, warum sie in Sein und Bewußtsein sich spalte, einsehen, […] alles schlechthin a priori, ohne alle Beihülfe empirischer Wahrnehmung, aus jener Einsicht der Einheit; und also wahrhaftig das All in dem Einen, und das Eine in Allem begreifen, welches von jeher die Aufgabe der Philosophie gewesen“ (ebd.). Vgl. dazu Lauth: Die grundlegende transzendentale Position Fichtes, in: Klaus Hammacher (Hrsg.): Der transzendentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes, Hamburg 1981, 18–24.



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Bei Maine de Biran und Fichte findet sich eine Reaktion gegen die mögliche Zersplitterung des Ich, die die englische empiristische Philosophie kennzeichnet. Dabei denke man an David Hume und an sein Treatise of Human Nature: In diesem Werk wird das menschliche Bewußtsein mit einem Theater verglichen, auf dessen Bühne die verschiedenen Empfindungen kommen und gehen, ohne eine Spur zu hinterlassen. In der Perspektive Humes hat das Ich weder ein ontologisches Substrat noch findet es eine transzendentale Begründung37. Wie auch Isabelle Thomas-Fogiel und Karl Ameriks unterstreichen, entsteht die Transzendentalphilosophie Fichtes als Versuch einer Überwindung des Empirismus und seiner radikalen Folgen: des gnoseologischen Skeptizismus und der Zersplitterung des Bewußtseins in der Zeit, bestehend aus einer unendlichen Reihe der Wahrnehmungen38. In der Aenesidemus-Rezension betont Fichte sehr klar, daß er jede Form des Skeptizismus und bloßen Empirismus vermeiden will. Er will vielmehr der Philosophie eine strenge wissenschaftliche Begründung geben. Um das zu verwirklichen, versucht er die ganze Philosophie aus einem Prinzip zu entfalten. Dieses grundlegende Prinzip wird als transzendentales Ich oder „Tathandlung“39 bestimmt. Auch beim frühen Biran kann man den Versuch einer Überwindung des Empirismus finden. Das wird zum Beispiel auch von Lucien Event stark betont40. Der Anfang jeder möglichen wissenschaftlichen Kenntnis der Natur ist – nach Biran – die innere Gewißheit seiner selbst: „Der Mensch kann nichts wissen, ohne das innere Bewußtsein seines eigentlichen Ichs. Das ist die grundlegende Tatsache des inneren Sinnes [le fait primitif du sense intime], die Basis oder der Anfang jeder Wissenschaft“41. Dieser fait primitif ist Begründung einer apodiktischen Evidenz, und sie ist die Basis jeder absoluten Gewißheit. Das Ich ist – nach Biran – „certissima scientia et clamante conscientia“42. Hume: A Treatise of Human Nature (1739), London 1969, I, 4, 6. Isabelle Thomas-Fogiel „ist der Einfluß Humes auf Kant sehr betont und tief analysiert, aber ganz wenig bei seinen Nachfolgern. Das ist schade, weil der frühe Idealismus (Reinhold, Fichte) als eine spekulative Reaktion gegen den Humesche Skeptizismus betrachtet werden kann“ (Thomas-Fogiel: Fichte. Réflexion et argumentation, Paris 2004, 34). Vgl. auch Karl Ameriks: Kant and the Fate of Autonomy. Problems in the Appropriation of the Critical Philosophy, Cambridge, New York 2000, 163–267; das sind die Seiten des Werkes, die der Transzendentalphilosophie Fichtes gewidmet sind. 39  Fichte: Aenesidemus-Rezension (1794), in: GA I / 2, 46. 40  Vgl. dazu Event, Lucien: Maine de Biran, critique de Locke, Louvain-LaNeuve 1983. 41  OT VIII, 129. 42  OMB 3, 75. 37  Vgl.

38  Nach

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Das Bewußtsein wird von Biran als eine bewegende Tätigkeit [activité motrice] begriffen, und der Prozeß der Erkenntnis beginnt nur aus dieser grundlegenden inneren Tätigkeit. Eine Besonderheit der Philosophie Birans ist – wie schon vorher erwähnt – die Entfaltung des Begriffes von effort. Der effort ist eine innere Kraft des Bewußtseins, ein inneres Streben. Der Mensch kann seiner selbst nur durch den effort bewußt werden. Der effort ermöglicht das, was in der Wissenschaftslehre Fichtes als Reflexion über sich selbst und Selbstbeobachtung bestimmt wird43. Nach Biran versteht sich der Mensch nur dank dieses effort als freie Tätigkeit und als freien Willen. Außerdem entsteht der effort im Subjekt durch die Begegnung mit einer äußerlichen Hemmung, einer Resistenz (das heißt der Natur): „[O]hne Subjekt oder einen Willen, der die innere Bewegung bestimmt, und ohne eine äußerliche Hemmung gibt es keinen effort. Ohne effort gibt es keine Erkenntnis und keine mögliche Wahrnehmung [sans un sujet ou une volonté qui détermine le mouvement, sans un terme qui résiste, il n’y a point d’effort, et sans effort point de connaissance, point de perception d’aucune espèce].“44

Unseres Erachten könnte man die Rolle, die bei Biran der Begriff des effort spielt, mit der der intellektuellen Anschauung bei Fichte vergleichen. Der effort resp. die intellektuelle Anschauung ermöglicht das Verständnis der inneren Tätigkeit des Bewußtseins, außerdem sind sie die Prinzipien, durch welche das Subjekt seiner selbst bewußt wird. Eine weitere Auffassung, die uns einen Vergleich zwischen Fichte und Biran erlaubt, ist die des Willens. Beide sehen in dieser Fähigkeit eine 43  Die Wissenschaftslehre ist – so Fichte – eine „Beobachterin des menschlichen Geistes, in der ursprünglichen Erzeugung aller Erkenntnis“ (WLnm-H, GA IV / 2, 197). Die spekulative Aufgabe der Wissenschaftslehre ist daher „die genetische Einsicht [durch das Vermögen der intellektuellen Anschauung] in den Ursprung unsrer Vorstellungen“ (ebd.). 44  Maine de Biran: Influence de l’habitude sur la faculté de penser, 1802 Paris, 10. Diese Schrift ist eine der wenigen, die Biran selbst während seines Lebens veröffentlicht hat. Wir können sagen, daß der effort fast eine „transzendentale Funk­ tion“ ist: Wie das ‚Ich denke‘ Kants, ‚begleitet der effort alle Vorstellungen des Subjektes‘. Nach Biran ist der effort „das wahre ich bin, ich existiere (l’effort est le veritable je suis, j’existe)“. Über den Begriff effort läßt sich sagen: „il est primitif, puisque avant lui il n’y a pas de sujet éveillé à la conscience; il est conditionnant car il est la forme transcendentale de toutes les rapports, de toute les relations. Enfin, il est un fait du sens intime, car il est donné dans une expérience intérieure dont il n’y a aucun équivalent, aucune traduction, dans le langage des faits extérieurs: l’effort se constate, il ne se ‚représente‘ pas“ (André Jacob: „Maine de Biran. François-Pierre Gonthier de Biran“, in: Encyclopédie Philosophique Universelle III, Les œuvres philosophiques. Dictionnaire, Bd. I, Paris 1992, 1949). Zur Lehre vom effort vgl. Georges Le Roy: L’expérience de l’effort et de la grâce chez Maine de Biran, Paris 1937.



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entscheidende Rolle zur Entfaltung der Erkenntnis. Wie wir schon vorher unterstrichen haben, ist der Wille bei Fichte – insbesondere in der WLnm – die Grundfähigkeit des Menschen, die jeden einzelnen Erkenntnisakt des Bewußtseins ermöglicht. Ausgehend von der Betrachtung des Willens – beziehungsweise des reinen Willens – deduziert und begründet Fichte sein System der Freiheit. Eine ähnliche Perspektive findet sich auch bei Biran in der Schrift von 1812 Essai sur les fondements de la psychologie. Dort sagt er, daß der Wille eine über-organische Kraft [force hyperorganique] sei, was bedeutet, daß der Wille nicht nur das Zentrum des Bewußtseins, sondern, daß er auch eine geistige und freie Tätigkeit ist, die nicht auf einen psychologischen und organischen Determinismus reduzierbar sei45. Das Wesen des Willens ist die Freiheit, eine Freiheit, die die Naturwelt nicht kennt. Diese absolute Freiheit kennzeichnet nur den menschlichen Geist46. In der Entwicklung seines Denkens hat Biran die entscheidende Rolle des Willens immer mehr betont. In seinem letzten Werk (Nouveau essais d’anthropologie) wird das cogito als Wille bestimmt: „Descartes hat das Prinzip jeder Wissenschaft, die erste Wahrheit im reinen Denken gesehen: cogito, ergo sum, [das denkende Ich ist res cogitans]. Kraft der Evidenz des inneren Sinnes [avec l’evidence du sens intime] kann ich sagen: ich will, also ich bin [je veux, donc je suis].“47

Der Ursprung des Ich ist nach Biran „ein erster Wille [une volonté première]“48. Das bedeutet, das Prinzip des Lebens des Bewußtseins ist ein „effort voulu“. Der effort selbst wird durch den Willen – und folglich durch die Freiheit – produziert. Der effort ist nämlich ein Akt der Freiheit des Geistes. Ausgehend von diesem Primat des Willens hat Biran den modernen Rationalismus von Descartes bis Kant kritisiert. Diese zwei Philosophen und 45  Der Wille ist – nach Biran – „ein aktives Sein (être actif)“, das das Ich durch innere Selbstbeobachtung entdeckt. Dazu vgl. Maine de Biran: Mémoire sur la décomposition de la pensée, in: OMB 3, 110. Zur Willenslehre Birans vgl. Alfred Kühtmann: Maine de Biran: ein Beitrag zur Geschichte der Metaphysik und der Psychologie des Willens, Bremen 1901. 46  Hierzu vgl. Maine de Biran: Essai sur les fondements, in: OMB 8, 129 f. 47  Maine de Biran: Nouveaux essais d’anthropologie – Derniers fragments, in: OMB 10,2, 77. 48  Maine de Biran: De l’aperception immédiate, in: OMB 4, 107. Biran hat die Ergebnisse der Wissenschaftslehre nova methodo nicht mit Sicherheit gekannt: trotzdem hat dieser Begriff eines „ersten Willens“ tiefe Ähnlichkeit mit dem eines reinen Willens, den Fichte in der WLnm entfaltet hat. Der große Unterschied zwischen Biran und Fichte ist – unseres Erachtens – folgender: Der französischer Philosoph hat seine Auffassungen über den Willen nicht auf eine transzendentale Ebene gebracht. Er hat sie an eine empirische und synthetische Psychologie angrenzen lassen. Trotzdem kann man bei beiden eine Konzeption des Ich als voluntas in actu finden.

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die Rationalisten überhaupt haben eine große Kluft zwischen Verstand und Wille gesetzt. Sie haben nicht verstanden, daß das cogito in seinem Wesen ein „ich will“, ein „je veux“ ist. Das wird von Biran auch in den ersten Sätzen seiner Schrift Notes sur la philosophie de Kant betont: „Kant hat einen großen Fehler begangen: Er hat nämlich eine tiefe Trennung zwischen den Prinzipien der Erkenntnis und der Moralität gesetzt. Er hat nicht gesehen, daß der ursprüngliche Wille ein Prinzip der Wissenschaft und der Moralität ist, und nicht bemerkt, daß die gnoseologische Tätigkeit des Verstandes vom Willen abhängt“49. Nach Biran sollte der moderne Grundsatz der Wissenschaft und der Anthropologie sein: volo ergo sum, ergo cogito50. Michel Henry, Merleau-Ponty und Paul Ricoeur haben unterstrichen, daß das große Verdienst Birans die Entdeckung der philosophischen Bedeutung des Leibes sei51. Das ist natürlich wahr. Der Leib [le corp propre] ist – nach Biran – das Organ der Tätigkeit des Geistes, das „Werkzeug des Willens“. „Der Leib ist – außerdem – kein Gegenstand; er ist nicht vor dem Bewußtsein (als ein bloßes Objekt) gesetzt. Er ist zusammen mit dem Bewußtsein gesetzt“52. „Das Bewußtsein des Ich und das Bewußtsein des Leibes sind de Biran: Notes sur la philosophie de Kant, in: OMB 11,2, 133. Primat des Wollens findet sich auch bei Fichte. Außerdem ist das Wollen – bei Fichte – nicht vom Denken getrennt. Deswegen ist dieses Vermögen der Ursprung der Erkenntnis. Bei Fichte ist das Deliberieren (durch den Willen) ein konkreter Akt des Denkens: „Beides das Deliberieren und Wollen ist schlechthin nichts anders als ein Denken: das Deliberieren ein problematisches, das Wollen ein cathegorisches Denken“ (WLnm-E, GA IV / 3, 178). In den Fichteschen Schriften der Periode von Jena (1794–1799) kann man „eine voluntaristische Behandlung des Denkens“ – so Günter Zöller – und „eine intellektualistische Auffassung des Wollens“ finden (Zöller: „Bestimmung zur Selbstbestimmung. Fichtes Theorie des Willens“, in: Fichte-Studien 7 (1995) 108). Trotzdem haben Biran und Fichte nicht bemerkt, daß sich diese gnoseologische Primat des Wollens auch bei Descartes findet. Descartes betont zum Beispiel: „iudicium est opus voluntatis“; „la volonté aussi bien que l’entendement est requise pour jouger“ (René Descartes: Les Principes de la Philosophie, Paris 1647, Pars I, art. 34). In bezug auf die praktische und voluntative Konstitution des Cartesianischen cogito siehe Lauth: Descartes’ Konzeption des Systems der Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998. 51  Vgl. Michel Henry: Philosophie et phénoménologie du corps. Essai sur l’ontologie biranienne, Paris 1965, 21987; ders.: Incarnation. Une Philosophie de la chaire, Paris 2000; ders.: L’essence de la manifestation, Paris 1963, 1965. Vgl. auch Joseph Duchêne: „Merleau-Ponty lecteur de Biran: à propos du corps propre“, in: Revue philosophique de Louvain 103 (2005) 42–64. Zu Ricoeur lecteur de Biran vgl. Paul Ricoeur: Soi-même comme un autre, Paris 1990, insbesondere das Kapitel X; Chiara Cotifava: „‚Homo simplex in vitalitate, duplex in humanitate.‘ Maine de Biran e Ricoer a confronto“, in: Franco de Capitani (Hrsg.): Vigilantia silentiosa et eloquens. Studi in onore di Leonardo Verga, Milano 2001, 153–210. 52  Pierre Montebello: La décomposition de la pensée. Dualité et empirisme transcendental chez Maine de Biran, Grenoble 1994, 150. 49  Maine

50  Dieser



Determinismus der Natur und Freiheit des Geistes335

– laut Biran – nicht zwei getrennte Akte“53. Leib und Bewußtsein bilden vielmehr eine ursprüngliche Einheit, und das Ich kann beide durch den effort in einem einzigen Akt anschauen. Mit dieser Auffassung des Leibes versucht Biran, den modernen Dualismus zwischen reinem Denken und materiellem Leib zu überschreiten: Bewußtsein und Leib existieren in einer wesentlichen Einheit. Man könnte diese Konzeption Birans auch mit derjenigen Fichtes vergleichen. In der WLnm schreibt Fichte, daß der Leib die Versinnlichung des Wollens sei. Der Leib ist nach ihm „sinnliche Darstellung unseres Wollens in der materiellen Welt“54. Der Leib ist nämlich „Werkzeug“55 und „Erscheinung“56 des freien Willens. Auch Fichte – wie Biran – wollte einen radikalen Dualismus zwischen Geist und Leib vermeiden. Nach ihm bildet die menschliche Person eine Einheit: „Ich – mein Geist – mein Leib, alles dies heißt und sagt einerlei. Ich bin mein Leib und mein Geist, alles ist eines. Ich bin mein Leib, wenn ich mich anschaue. Ich bin Geist, wenn ich mich denke. Aber ich kann eines ohne das andere nicht, darum schreibe ich mir beydes zu – bloß aus verschiedener Ansicht werden beyde unterschieden.“57

Darüber hinaus kann der Leib nach Fichte auch als principium individuationis betrachtet werden. Nur durch den eigenen Leib entsteht das Individuum. Das bedeutet, „meine Individualität geht heraus aus der Masse des ganzen Vernunftreichs [nur durch den Leib]“58. Wir können sagen, der tiefe spekulative Unterschied zwischen Biran und Fichte findet sich in der Konzeption der göttlichen Transzendenz. In der letzten Phase seiner Philosophie begründet Biran die Freiheit des mensch­ lichen Geistes in der absoluten Freiheit Gottes. Bei Biran wird Gott klar als der transzendente Gott der christlichen Offenbarung begriffen59. In dieser Hinsicht hat die Auffassung Birans mehr Ähnlichkeiten mit der von Jacobi als mit derjenigen Fichtes. Zwar ist auch die Spekulation Fichtes religiös geprägt. Er definiert zum Beispiel die Vernunft als Gott60. Dennoch findet Baertschi: L’ontologie de Maine de Biran, Fribourg 1982, 84. GA IV / 2, 155. 55  WLnm-H, GA IV / 2, 155. 56  WLnm-H, GA IV / 2, 155. In bezug auf das Verhältnis Leib – Wille bei Fichte vgl. Kottmann: Leiblichkeit und Wille. 57  WLnm-H, GA IV / 2, 156. In bezug auf die Konzeption des Leibes bei Fichte vgl. auch Henry: L’essence. 58  WLnm-K, 179. 59  Zur Religionslehre Birans und zu seiner metaphysischen Auffassung des Menschen vgl. Geneviève Barbillion: De l’Idee de Dieu dans la Philosophie de Maine de Biran, Grenoble 1927; Werner Pelster: Das Metaphysische im Bild des Menschen bei Maine de Biran, Postberg 1938. 60  „Gott ist die Vernunft“ (GA IV / 1, 446). 53  Bernard

54  WLnm-H,

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sich in den verschiedenen Fassungen der Wissenschaftslehre keine traditionelle biblische Konzeption Gottes als absoluter Transzendenz, als totaliter alter61. Aber ebensowenig ist Fichte als Pantheist zu verstehen Mit Spinoza hat er sich immer kritisch auseinandergesetzt. So spricht Fichte in der ­Wissenschaftslehre von 1804 über eine Kluft (hiatus auf Lateinisch) zwischen dem Bewußtsein und dem Absoluten qua talis. Das bedeutet aber nicht, daß er Gott als „total transzendent“ und als einen Schöpfer ex nihilo verstand62. Dennoch versucht Fichte, die Transzendentalphilosophie mit dem Christentum zu vermitteln63. In der Anweisung zum seligen Leben hat er Christus selbst als den ersten Transzendentalphilosophen bezeichnet64. Eine solche Auffassung des Christentums und der Person Christi ist mit der Birans nicht vereinbar. Wir können daher behaupten, die Transzendentalphilosophie Fichtes unterscheidet sich trotz aller Gemeinsamkeiten vom Spiritualismus Birans, vor 61  Es geht um den persönlichen „Gott von Abraham, Isaak und Jacob“, worüber die Genesis spricht. Wie auch Luigi Pareyson betont hat, ist Er nicht der Gott der rationalistischen Philosophie, sondern des religiösen Glaubens: vgl. dazu Pareyson: „L’esperienza religiosa e la filosofia“, in: ders.: Ontologia della libertà. Il male e la sofferenza, Torino 1995, 85–149. 62  Die wirkliche Konzeption Gottes bei Fichte ist sehr schwierig zu verstehen. Über die Möglichkeit einer göttlicher Transzendenz bei Fichte gibt es verschiedene und gegensätzliche Meinungen. Vgl. dazu Emilio Brito: J. G. Fichte et la transformation du christianisme, Leuven 2004; Guido Ghia: J. G. Fichte und die Theologie. Elemente und Figuren einer theologischen Interpretations- und Wirkungsgeschichte von Fichtes Philosophie, Hamburg 2004; Björn Pecina: Fichtes Gott. Vom Sinn der Freiheit zur Liebe des Seins, Tübingen 2007. In den späten Wissenschaftslehren 1810, 1811 und 1812 hat Fichte – so auch nach der Meinung von Wolfgang Janke – eine echte Transzendentalität Gottes behauptet. Dort ist die Differenz (d. h. der hiatus) zwischen Gott und Erscheinung als das Bild Gottes selbst nur eine Weise des Sich-Erscheinens (oder Bildes) der Erscheinung. Die Differenz beider ist eine Differenz, die die Erscheinung macht und damit beide hypostasiert. Die Wahrheit und das Leben Gottes liegen vor jeder möglichen Differenzierung erscheinenden Denkens. Damit entfällt jede Möglichkeit, beide – in einer naiven, d. h. transzendental unreflektierten Weise – als „total transzendent“ zu behaupten. Eine solche Behauptung trifft ebensowenig zu wie eine naiv realistische Gleichsetzung beider, wie im Spinozismus. Gott ist das unobjektivierbare, nur zu lebende Leben vor jeder objektivierenden Differenzierung in individuelles und göttliches Leben. Gott ist also ­weder transzendent noch immanent, in den Differenzen diskursiven und objektivierenden Denkens nicht anzutreffen. Vgl. dazu Wolfgang Janke: „Die dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus. Schelling, Hegel und Fichtes ungeschriebene Lehre“, in: Fichte-Studien – Supplementa 22, Amsterdam / New York 2009. 63  Vgl. diesbezüglich das 1806 veröffentlichte Werk Fichtes Anweisung zum seligen Leben, in: GA I / 9, 1–211. 64  Vgl. Xavier Tillette: „Christologie et docrine de la science“, in: ders.: Fichte. La science de la liberté Paris 2003, 249–260.



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allem in bezug auf die verschiedenen Konzeptionen zur Religion und zum Absoluten. VI. Lequier und die Philosophie der Freiheit Für die Geschichte der Rezeption des Denkens von Fichte in Frankreich ist die Figur von Jules Lequier sehr wichtig. Lequier ist sicherlich einer der Vertreter der französischen Romantik. Er wird von manchen Gelehrten auch als Vorläufer Kierkegaards und des Existentialismus betrachtet65. Nach anderen Historikern der Philosophie ist Lequier – mit Maine de Biran – einer der Vorläufer des französischen Spiritualismus66. Manche Interpreten betrachten Biran als einen der ersten Vertreter einer Form des Personalismus67. Natürlich können wir in diesem Beitrag nicht über diese verschiedenen Auslegungen diskutieren. Wir können aber sicherlich betonen, daß die Philosophie Lequiers eine tiefe Philosophie der Freiheit ist. Die spekulative Hauptfrage dieses Denkers ist nämlich die der Überwindung der Notwendigkeit der Natur. Er hat sich selbst ständig in seinen Schriften gefragt, ob der Mensch wirklich frei sein könne, und wie die menschliche Freiheit mit den physischen Gesetzen der Natur vereinbar sei. Der Titel seines Hauptwerkes ist Recherche d’une première vérité (Erforschung einer ersten Wahrheit)68. In diesem Werk versucht er, eine wissenschaftliche Philosophie der Freiheit zu entfalten. Gegen den Materialismus 65  Jean Wahl ist einer der ersten Historiker der Philosophie, der „merkwürdige Ähnlichkeiten (des analogies curieuses)“ zwischen Lequier und Kierkegaard bemerkt hat. Zu diesem Zusammenhang vgl. Wahl: Études kierkegaardiennes, Paris 1938, 430–432. Vgl. auch Adolf Lazarev: „L’entreprise philosophique de Jules Lequier“, in: Revue philosophique de la France et de l’Étranger LXIII (1938) 161–182; Augusto Del Noce: „Jules Lequier e il momento tragico della filosofia francese. Introduzione all’edizione italiana delle Opere di Lequier“, in: Jules Lequier: Opere, Bologna 1968, 3–119; André Clair: Kierkegaard et Lequier. Lectures croisées, Paris 2008. 66  Vgl. dazu Louis Foucher: La philosophie catholique en France au XIXe siècle avant la renaissance thomiste et dans son rapport avec elle, Paris 1955, 136–143; Émile Callot: Propos sur Jules Lequier, philosophe de la liberté. Réflexions sur sa vie et sur sa pensée, Paris 1962. 67  Vgl. dazu Jean Lacroix: „L’actualité de Lequier“, in: Le Monde, 20–21 mai (1962); Giuseppe Riconda: „Alle fonti ottocentesche del personalismo“, in: Annuario filosofico 4 (1988) 103–131. 68  Dieses Werk wurde von Lequier nicht beendet. Zu Lebzeiten hat er fast keine seiner Schriften veröffentlicht. Erst sein Freund Charles Renouvier hat die Werke Lequiers gesammelt und publiziert. Vgl. Jules Lequier: La recherche d’une première vérité, hrsg. von Charles Renouvier, Saint-Cloud 1865. Eine weitere kritische Gesamtausgabe der Werke Lequiers ist: Œuvres complètes, hrsg. von Jean Grenier, Neuchâtel 1952. Im folgenden zitiert als OC.

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und den wissenschaftlichen Determinismus seiner Zeit versucht er zu demonstrieren, daß der Mensch wirklich frei und Freiheit das wahre Prinzip der Wissenschaft (principe de science) ist. Vier Jahre lang (von 1834 bis 1837) studiert Lequier in Paris an der l’École Polytechnique. Seine Bildung ist daher naturwissenschaftlich. In dieser Schule gab es keinen Platz für die philosophischen Probleme des Geistes. Materialismus und Szientismus waren in dieser kulturellen Atmosphäre sehr verbreitet. Die existentielle Frage, die sich der junge Lequier stellte, war diese: Wenn die ganze Natur streng durch die Newtonschen Gesetze determiniert ist, wie kann der Mensch – der selbst zur Natur gehört – dann noch frei sein? Die Frage, die die ganze Spekulation Lequiers bestimmt, ist jene nach der Möglichkeit des liberum arbitrium. Es geht um ein entscheidendes Problem: Falls die menschliche Freiheit bloße Täuschung wäre, gäbe es keine Moralität mehr, keine Verantwortung, keinen Unterschied zwischen Gut und Böse. Lequier lenkt deswegen seine Aufmerksamkeit auf die möglichen moralischen Folgen einer deterministischen und fatalistischen Auffassung der Natur und des Menschen: „[D]ie Notwendigkeit ist die Sammlung der Gesetze, die die ganze Welt bestimmen. […] Wenn die Lehre der Notwendigkeit wahr ist, muß man an die Folgen denken. Es gäbe weder Gute noch Böse. Der Mensch wäre nicht mehr verantwortlich für seine Handlungen [la nécessité n’est que l’ensemble des lois qui régissent des choses. […] Si la doctrine de la nécessité est vrai, dira-t-on, considérez-en les conséquences. Il n’y a plus ni bien ni mal, dont l’homme puisse être responsable].“69

Die Folgen des Determinismus sind daher ein moralischer Skeptizismus und die Gleichgültigkeit aller Werte. Außerdem wäre der Mensch ein „Sklave seiner Leidenschaften“70. Nach Lequier „ist die Existenz der Freiheit mit Hilfe der Selbstbeobachtung nicht erkennbar. Sie kann weder durch Beobachtung noch mit einem Gedankengang gerechtfertigt werden. Sie ist eine Wahrheit, eine erste logische Wahrheit [Puisque l’existence de la liberté ne saurait être reconnue ni à l’aide de l’observation directe ni à l’aide de l’observation et du raisonnement combinés, elle ne peut être considerée, si c’est une vérité, que comme une vérité de pure logique]“71. Daraus folgt, daß Lequier auch Maine de Biran und seine Rechtfertigung der Existenz der Freiheit durch 69  Lequier: Conséquences du déterminisme: scepticisme et panthéisme, in: OC, 366–367. In diesem Zusammenhang zitiert Lequier auch einen Satz aus der Bestimmung des Menschen: „Wenn die Notwendigkeit alles bestimmt, bestimmt sie unsere Tugenden und Laster (Puisque la nécessité détermine toutes choses, elle détermine donc aussi nos vertus et nos vices)“ (ebd., 367). 70  Ebd., 366. 71  Lequier: Faiblesse du sentiment intime de liberté, in: OC, 350.



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Selbstbeobachtung und innere Wahrnehmung stark kritisiert. Laut Lequier „ist es ganz unmöglich, die Notwendigkeit oder die Freiheit durch innere Erfahrung festzustellen [il est impossible de constater par l’expérience la nécessité ou la liberté]“72. Biran hat – wie wir schon analysiert haben – die Existenz der Freiheit durch le sens primitif de sens intime gerechtfertigt und begründet. Im Gegensatz dazu betont Lequier, daß die inneren Wahrnehmungen und Gefühle ein epistemologisch sehr schwaches Argument seien. Und sich von Biran absetzend, spricht er über „eine Schwachheit des inneren Gefühls der Freiheit [aiblesse du sentiment intime de liberté]73. Laut Lequier bedeutet der Satz Birans, „ich spüre, ich bin frei [je sens que je suis libre]“74, nur, daß „ich fühle, daß ich glaube, frei zu sein [je sens que je crois que je suis libre]“75. Dieses Spüren, dieses innere Gefühl der Freiheit sei nur ein Glaube (croyance) und sei deswegen „eine Abwesenheit der Gewißheit [absence de certitude]“76. Dazu hat Paolo Armellini in einer Monographie über den französischen Philosophen diese interessante Feststellung gemacht: „Nach Lequier sind die experimentellen und psychologischen Beweise der Existenz der Freiheit nicht wissenschaftlich überzeugend. Lequier kritisiert deswegen die introspektiven Argumente von Maine de Biran“77. Lequier betrachtet die Position Birans als eine Form des „spiritualistischen Positivismus“. Nach ihm kann man die Freiheit nicht als ein bloß psychologisches Faktum sehen. Außerdem „will Lequier gleichzeitig diese beiden Auffassungen vermeiden: die Betrachtung der Freiheit entweder als ein durchaus deduzierbares Prinzip oder als einen reinen Glaubensakt“78. Nach Lequier geht es um eine existentielle und religiöse Wahl: „entweder die reelle Existenz der Freiheit oder die Notwendigkeit des natürlichen Determinismus [ou liberté est ou nécessité est]“79. Unseres Erachtens ist diese von Lequier vorgeschlagene radikale Alternative der, von welcher Fichte in der Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre von 1797 spricht, sehr ähnlich. Es geht um die Alternative zwischen Idealismus und Realis72  Ebd.,

353. 349. 74  Lequier: Le problème de la science. Comment trouver, comment chercher une première vérité? in: OC, 54. 75  Ebd. 76  Ebd. Zu diesem Zusammenhang hat Augusto Del Noce richtig behauptet: „Während Maine de Biran über eine ursprüngliche Tatsache (un fait primitif) spricht, spricht Lequier über eine erste Wahrheit (une vérité première), die nicht als eine Tatsache des Bewußtseins gespürt werden kann“ (Del Noce: „Jules Lequier e il momento tragico“, 58). 77  Paolo Armellini: Lequier. La solitudine di Dio, Roma 1998, 48. 78  Ebd., 59. 79  Lequier: Le postulatum, in: OC, 398. 73  Ebd.,

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mus. Der Idealismus ist die philosophische Begründung der Freiheit, während der Realismus die Philosophie der Notwendigkeit ist, weil der Mensch durchaus von den äußeren Dingen der Natur determiniert wird. Lequier ist auch der Meinung, daß die Freiheit ein notwendiges Postulat ist, um das menschliche Handeln wissenschaftlich zu verstehen. Die Freiheit ist die erste Wahrheit, die postuliert werden kann: „Ich bin frei; […] ich bin eine unabhängige Abhängigkeit. Ich bin eine Person, verantwortlich mir gegenüber, der ich mein Werk bin, gegenüber Gott, der mich als Schöpfer meiner selbst geschaffen hat [je suis libre; […] je suis une independence dépendante; je suis une personne responsable de moi qui suis mon oeuvre, à Dieu qui m’a crée créateur de moi-même].“80

Nach Lequier ist die Frage nach der Freiheit nicht nur eine moralische Frage, sondern auch eine epistemologische: Ohne die Existenz der Freiheit festzustellen, könnte man nicht die Wirklichkeit des Menschen und den Ursprung des Handelns verstehen. Die Freiheit ist daher „eine positive Möglichkeit der Erkenntnis. Das heißt, sie ist ein Mittel der Erkenntnis [condition positive de la connaissance. C’est-à-dire moyen de connaissance]“81. Lequier betrachtet die Freiheit als eine „erste Wissenschaft“: Ohne das Postulat der Freiheit kann man die Besonderheit des Menschen gegenüber der Natur und sein Handeln nicht wirklich begreifen. Wir können betonen, daß Lequier bei dieser epistemologischen Betrachtung der Freiheit direkt der Spekulation Fichtes folgt82. VII. Die Bestimmung des Menschen: Ein Modell für die Überwindung des Determinismus der Natur Es ist sicher, daß Lequier im Jahr 1838 – während seines Aufenthaltes in Paris bei der École Polytechnique – Fichtes Werk Die Bestimmung des Menschen gelesen hat. Wir können das den biographischen Schriften von Fragments, in: OC, 70. Über die Philosophie der Freiheit bei Lequier vgl. Tillette: Jules Lequier ou le tourment de la liberté, Paris 1964; Jürgen Hengelbrock: „Cogito ergo sum liber. Un essai sur Jules Lequier“, in: Archives de philosophie 3.31 (1968) 434–455; Arnaldo Petterlini: Jules Lequier e il problema della libertà, Milano 1969; Paolo Pagani: Libertà e non-contraddizione in Jules Lequier, Milano 2000. 82  Auch Martial Gueroult betont, daß wir bei Lequier, Charles Renouvier und den französischen Spiritualisten das Fichtesche Problem des Überschreitens des natürlichen Determinismus durch eine Philosophie der Freiheit finden. Vgl. dazu ­ Gueroult: L’évolution et la structure de la doctrine de la science chez Fichte (Erstauflage 1930), Vorwort von Reinhart Lauth, Personenregister von Wilhelm ­Jacobs, Hildesheim u. a. 1982, 36. 80  Lequier: 81  Ebd.



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Prosper Hémon, Charles Renouvier und Jean Grenier entnehmen83. Er las das Werk Fichtes in einer französischen Übersetzung, die von A. T. Barchou de Penhöen im Jahr 1836 herausgegeben wurde. Das ist – möglicherweise – das einzige Werk des deutschen Philosophen, das Lequier direkt kannte. Die weiteren Kenntnisse Lequiers über Fichte und die verschiedenen Fassungen der Wissenschaftslehre gelangten vor allem aus einer in jener Zeit sehr verbreiteten Geschichte der Philosophie an ihn, die von Joseph Willm Le Strasbourgeois geschrieben wurde. Es geht um die Histoire de la philosophie allemande depuis Kant jusqu’à Hegel84. In seinen Schriften teilt uns Lequier selbst die Begeisterung über seine jugendliche Lektüre der Texte Fichtes mit. In der Recherche sagt er klar, daß das Denken Fichtes auf ihn lebenslang großen Einfluß gehabt habe: „Du hattest Recht, oh Fichte! […] Wir sind uns wieder begegnet! Das Denken meines ganzen Lebens hat mich zu jener furchtbaren Einsamkeit geführt, die dir eine der Meditationen deines Genies ein Tag inspirierte [Et tu avais raison, ô Fichte! […] Nous nous sommes rencontrés, ô Fichte! La pensée de toute ma vie m’a conduit dans cette terrible solitude que t’ouvrit un jour une des méditations de ton Génie].“85

Lequier denkt hier sicherlich an Die Bestimmung des Menschen. In der Bestimmung des Menschen findet Lequier ein Modell des Denkens, eine tiefe Problematisierung der Beziehungen zwischen Determinismus und Freiheit. In diesem Werk versucht Fichte, den strengen Determinismus der Natur zu überwinden und eine Philosophie der Freiheit zu begründen. Wir können sagen, daß Lequier in diesem Werk eine wirkliche „Wissenschaft der Freiheit“ (science de la liberté) findet. Das erste Buch der Bestimmung des Menschen beschreibt mit Präzision, was Fichte unter dem Determinismus der Natur versteht: „Die Natur schreitet durch die unendliche Reihe ihrer möglichen Bestimmungen ohne Anhalten hindurch; und der Wechsel dieser Bestimmungen ist nicht gesetzlos, sondern streng gesetzlich. Was da ist in der Natur, ist notwendig so, wie es ist, und es ist schlechthin unmöglich, daß es anders sei. Ich trete ein in eine geschlossene Kette der Erscheinungen, da jedes Glied durch sein vorhergehendes bestimmt wird, und sein nachfolgendes bestimmt.“86

Fichte beschreibt mit Pathos auch die furchtbaren Folgen des Determinismus, die zur Leugnung der Freiheit führen: „[I]ch selbst mit allem, was ich 83  Vgl. dazu Tillette: „Lequier lecteur de Fichte“, in: Yves Radrizzani (Hrsg.): Fichte et la France, Bd. I, Paris 1997, 191. 84  Siehe Joseph Willm: Régne de l’idéalisme critique et transcendental, Philosophie de Fichte, de Jacobi, in: ders.: Histoire de la philosophie allemande depuis Kant jusqu’à Hegel, Bd. 2, Paris 1847, 351–368. 85  Lequier: Fichte et Hegel, in: OC, 346. 86  Fichte: Die Bestimmung des Menschen (1800), Hamburg 2000, 10.

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mein nenne, bin ein Glied in dieser Kette der strengen Naturnotwendigkeit“87. „Durch Nachdenken über die ganze Natur finde ich, daß Freiheit schlechterdings unmöglich ist. Das erstere muß dem letzteren untergeordnet werden, denn es ist selbst durch das letztere sogar zu erklären“88, „Alles, was ich bin und werde, bin ich und werde ich schlechthin notwendig, und es ist unmöglich, daß ich etwas anderes sei“.89 Die existentielle Frage, die Lequier mit Fichte teilt, ist diese: „Bin ich frei und selbständig, oder bin ich nichts an mir selbst, und lediglich Erscheinung einer fremden Kraft? […] An der Beantwortung dieser Frage hängen meine ganze Ruhe, und meine ganze Würde. Ebenso unmöglich ist es mir, mich zu entscheiden; ich habe schlechthin keinen Entscheidungs-Grund weder für das eine noch für das andere.“90

Sowohl Fichte als auch Lequier können sagen: „[D]as System der Freiheit befriedigt, das entgegengesetzte tötet und vernichtet mein Herz“91. Im dritten Buch der Bestimmung des Menschen versucht Fichte, den Zweifel zwischen Naturnotwendigkeit und Freiheit durch praktischen Glauben zu überwinden: „[I]ch habe das Organ gefunden, mit welchem ich diese Realität [das heißt, die menschliche Selbständigkeit und die Freiheit des Willens], und mit dieser zugleich wahrscheinlich alle andere Realität ergreife. Nicht das Wissen ist dieses Organ; kein Wissen kann sich selbst begründen und beweisen; jedes Wissen setzt ein 87  Ebd.,

15. 20–21. 89  Ebd., 19. Über das Problem des Determinismus der Natur hatte Fichte schon in seiner Jugend reflektiert. Die Biographen sagen, daß er von einem Buch Karl Ferdinand Hommels sehr beeindruckt wurde. Zu diesem Zusammenhang vgl. Xavier Léon: Fichte et son temps, Bd. I, Paris 1922, 54. Das Buch von Karl Ferdi­ nand Hommel, das Fichte schon in seinen ersten Werken viel zitiert hat, ist das folgende: Joch, Alexander von [Pseudonym von Karl Ferdinand Hommel]: Über Belohnung und Strafe nach Türkischen Gesetzen, Leipzig / Bayreuth 1770. Hommel war Rechtsprofessor in Leipzig. Er starb im Jahr 1781. Vielleicht hat Fichte, der als Student im Jahr 1780 an der Universität von Leipzig war, ihn direkt kennengelernt. Auf jeden Fall ist sicher, daß der junge Fichte das Werk Hommels gut gekannt hat. Er kommentiert es auch im Versuch einer Critik aller Offenbarung von 1791 (vgl. SW I, 439–440), in der Ersten Einleitung von 1797 (vgl. SW I, 439–440), im ersten Buch der Bestimmung des Menschen (vgl. SW II, 179) und in der Staatslehre von 1813 (vgl. SW IV, 383). Der Biograph Fichtes, Hermann Nohl, behauptet, daß Fichte jedesmal, wenn er an den natürlichen Determinismus dachte, das Modell des Determinismus von Hommel im Kopf gehabt habe. Vgl. dazu Nohl: „Miscellen zu Fichtes Entwicklungsgeschichte und Biographie“, in: KantStudien 16 (1911) 373–378. 90  Fichte: Die Bestimmung des Menschen (1800), Hamburg 2000, 32 und 35. 91  Ebd., 32. 88  Ebd.,



Determinismus der Natur und Freiheit des Geistes343 noch Höheres voraus, als seinen Grund, und dieses Aufsteigen hat kein Ende. Der Glaube ist es.“92

Fichte betont, daß es um einen „notwendige[n] Glaube an unsere Freiheit und Kraft und um unser wirkliches Handeln“93 geht. Nach Fichte „ist die praktische Vernunft die Wurzel aller Vernunft“94. Diese praktische Vernunft ist der Glaube. Nur der Glaube kann wirklich eine Philosophie der Freiheit begründen. Nur mit diesem Organ kann man außerdem sagen: „[D]er Mensch ist nicht Erzeugnis der Sinnenwelt, und der Endzweck seines Daseins kann in derselben nicht erreicht werden. Seine Bestimmung geht über Zeit, und Raum, und alles Sinnliche hinaus“95. Wir können betonen: Lequier las Fichtes Buch mit Aufmerksamkeit, aber er teilte dessen spekulative Schlußfolgerungen nicht. Er kritisierte vielmehr die Begründung der Freiheit durch den philosophischen Glauben: „[S]ich für den Glauben zu entscheiden [pour la croyance se décider] ist eine traurige Schlußfolgerung und ein philosophisches Elend (das ist der große Unterschied zwischen meiner Position und dieser von Fichte)“96. Nach Lequier bleibt die menschliche Freiheit ein Geheimnis, das weder physische Gesetze noch die Spekulation erklären können. Die menschliche freie Handlung sei „ein Wunder [miracle], ein Faktum, das die Naturgesetze niemals erklären können. In diesem Sinne sind die freien Handlungen Wunder, und im Vergleich dazu sind die Dinge der Natur wirkliche Kleinigkeiten. […] Die Existenz der Freiheit ist ein undurchdringbares Geheimnis [un mistère], […] das die Philosophie niemals erklären können wird“97. Lequier teilt mit Fichte die Auffassung, daß die Frage nach der Existenz der Freiheit eine grundlegende Bedeutung hat und wirklich entscheidend ist. Im Gegensatz zu Fichte hat er jedoch betont, die Freiheit bleibe philosophisch unerklärbar. Ihre Existenz bleibt ein Geheimnis, das die menschliche Spekulation nicht lösen kann. Nach Lequier kann uns nur der christliche Glaube dazu helfen: Gott hat den Menschen frei geschaffen98, aber warum und wie? – auf einer philosophischen Ebene ist das unerkennbar. 92  Ebd.,

93  Ebd., 94  Ebd.

95  Ebd.,

92. 102.

148. Puissance de l’idée de nécessité, in: OC, 359. Wie wir bemerken können, teilt Lequier mit Fichte und Maine de Biran die Überzeugung von der großen Rolle, die der Wille im Erkenntnisprozeß spielt. Außerdem ist – so Lequier – „der Wille die Kraft, die unsere tiefe menschliche Würde erzeugt“ (ebd., 365). 97  Lequier: Critique du criterium de l’évidence, in: OC, 383–384. 98  Vgl. dazu Lequier: Puissance de l’idée de nécessité, in: OC, 365. Wir können sagen, Lequier – wie schon Descartes – betrachtet die Freiheit als eine der drei wunderbaren Dinge (mirabilia) der göttlichen Schöpfung: „Tria mirabilia fecit Do96  Lequier:

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Bei Lequier findet sich eine tiefe Problematisierung im Hinblick auf die Frage nach der Freiheit, jedoch keine definitive spekulative Lösung. Xavier Tillette hat unterstrichen, daß die Position Lequiers von einer „Folter der Freiheit“ (tourment de la liberté) gekennzeichnet sei99. VIII. Schlußfolgerungen Wir können sagen, Biran und Lequier schätzen die Fichtesche Problematisierung der Freiheit als sehr wichtig ein. Sie teilen die spekulativen Ziele der Wissenschaftslehre, d. h. „die Vereinigung von Naturnotwendigkeit und Freiheit [durch eine Philosophie des Geistes]“100. Trotzdem haben die zwei französischen Philosophen die Transzendentalposition Fichtes nicht wirklich und tief verstanden101. Sie waren vor allem mit der Fichteschen Idee der Notwendigkeit der Überwindung des natürlichen Determinismus einverstanden, ohne damit dem eigentlichen Anliegen Fichtes, einer philosophischen Begründung des Wissens, gerecht zu werden. Nach Fichte, Biran und Lequier ist die freie Wirksamkeit des Menschen mit Naturgesetzen nicht erklärbar. Nach ihnen zerbricht die Freiheit den Determinismus der Newtonschen Naturgesetze. Durch seine Freiheit kann der Mensch etwas ursprünglich Neues hervorbringen, etwas, das natürliche Gesetze nicht können. Durch die Freiheit kann der Mensch zu einem zweiten Schöpfer der Natur werden. Die Freiheit ist – nach Fichte, Biran und Lequier – der Natur gegenüber ein totaliter alter. Sie stimmen außerdem darin überein, daß man ohne die Existenz der Freiheit das Wesen des Geistes nicht verstehen könne. Fichte, Biran und Lequier teilen zudem die Überzeugung, es bestände eine Kluft zwischen Natur und Geist. Und die sich aus der Existenz dieser Kluft102 ergebende Problemstellung ist das minus: res ex nihilo, liberum arbitrium et Hominem Deum“ (Descartes: Cogitationes Privatae, in: ders.: Œuvres, Bd. 10, hrsg. von Charles Adam / Paul Tannery, Paris 1908, 218). In bezug auf die Konzeption der Freiheit ist die Position Lequiers sehr ähnlich der Friedrich Heinrich Jacobis. Jacobi schrieb in seinem berühmten Brief an Fichte von 1799, die Freiheit sei „ein schlechterdings unbegreifliches Faktum, ein der Schöpfung gleiches Wunder und Geheimniß“ (GA III / 3, 259). 99  Zu diesem Zusammenhang vgl. Tillette: Jules Lequier ou le tourment de la liberté, Paris 1964. 100  GA III / 6, 328. 101  Das ist vor allem dadurch verursacht, daß sie die Werke Fichtes nicht direkt durchgelesen und sie fast nur durch die Handbücher der Philosophie, die von Zeitgenossen geschrieben wurden, gekannt haben. 102  Wir bemerken, daß das Thema der möglichen Existenz einer Kluft zwischen Natur und Geist auch in der zeitgenössischen Philosophie sehr beachtet und diskutiert wird. Zu diesem Zusammenhang denke man an die Position des Epistemologen John Rogers Searle. Er hat oft über eine Kluft (auf englisch gap) zwischen den



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Natur als Widerstand: Dilthey und Fichte Mario Jorge de Carvalho I. Einleitung Bei Fichte und Dilthey – möchte man in Abwandlung einer Formulierung von Thomas Mann sagen –, da sieht man „kein notwendiges Oder, nicht einmal ein notwendiges Und, keinen notwendigen Vergleich“1. Im folgenden soll aber gezeigt werden, daß eine vergleichende Betrachtung ihrer Denkwerke sich in mancher Beziehung als anregend und lehrreich erweisen mag. Dies gilt vor allen Dingen in Hinsicht auf die Grundfrage nach der Realität der Außenwelt und auf die ausschlaggebende Rolle, welche das Phänomen des Widerstandes als tragender Bestandteil des Bewußtseins der Außenwelt, ja als tragender Bestandteil des ihm entsprechenden Gegenstandes spielen soll. Die transzendentalphilosophische Erörterung des Widerstandes als Bedingung und Grundbeschaffenheit des Nicht-Ich bildet bekanntlich einen Grundpfeiler der Fichteschen Wissenschaftslehre. Fichtes Analysen des Widerstandes stellen gleichsam den Ausgangspunkt einer langwierigen Diskussion dieses Grundphänomens dar, die über Bouterwek2, Cabanis3, Maine de Biran4, 1  Thomas Mann: „Brief an J. Ponten vom 12.9.1924“, in: Thomas Mann: Briefe, hrsg. von Erika Mann, Bd. I, 1889–1936, Frankfurt a. M. 1961, 215. 2  Friedrich Bouterwek: Idee einer Apodiktik. Ein Beytrag zur menschlichen Selbstverständigung und zur Entscheidung des Streits über Metaphysik, kritische Philosophie und Skeptizismus, Bd. I, Halle 1799, 363 f., Bd. II, Halle 1799, 32 f., 52 f., 60 ff., 63 ff., 67 ff., 70, 72 f., 83 ff., 88 ff., 111 ff., 126, 139 f., 224 ff., 233, 239, 281, 288, 306 u. 315. 3  Pierre Jean Georges Cabanis: Rapports du physique et du moral de l’homme, in: ders.: Œuvres complètes, Paris 1824, 1., 2., 3. und 10. Mémoire, Bd. III, 1 ff., 103 ff., 163 ff., Bd.  IV, 232 ff. 4  François-Pierre-Gonthier Maine de Biran: De l’existence. Textes inédits, hrsg. von Henri Gaston Gouhier, Paris 1966; Mémoire sur la décomposition de la pensée: précédé du Mémoire sur les rapports de l’idéologie et des mathématiques, in: ders.: Œuvres, Bd. III, hrsg. von Francois Azouvi, Paris 1988; De l’aperception immédiate (mémoire de Berlin 1807), in: ders.: Œuvres, Bd. IV, hrsg. von Ives Radrizzani, Paris 1995, I, § 4, II. ii, §§ 1–5; Essai sur les fondements de la psychologie, in: ders.: Œuvres, Bd. VII / 1–2, hrsg. von Francis Charles Timothy Moore, Paris 2001, Einleitung II, 1. Teil, 1. Abschnitt, I, II, i, ii, iii, iv; Rapports des sciences naturelles avec la psychologie et autres Écrits sur la psychologie, in: ders.: Œuvres,

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Destutt de Tracy5, Dilthey und Rickert6 bis hin zu Frischeisen-Köhler und Jaensch7, zur Phänomenologie Schelers8, zu Hartmanns Versuch einer Grundlegung der Ontologie9 und Heideggers existenzial-temporaler Daseinsanalytik10 reicht. Ein Meilenstein dieser Diskussion ist in Diltheys Beiträgen zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der AuBd. VIII, hrsg. von Bernard Baertschi, Paris 1986, 13 f., 71, 129, 164 ff., 186 ff., 269 f., 328 ff.; Nouvelles considérations sur les rapports du physique et du moral de l’homme suivies d’Écrits sur la physiologie, in: ders.: Œuvres, Bd. IX, hrsg. von Bernard Baertschi, Paris 1990, 117 f.; Commentaria et marginalia: Dix-septième siècle, in: ders.: Œuvres, Bd. XI / 1, hrsg. von Christiane Frémont, Paris 1990, 15, 30, 45, 95, 103, 150; Commentaria et marginalia: Dix-neuvième siècle, in: ders.: Œuvres, Bd. IX / 3, hrsg. von Joel Ganault, Paris 1990, 4 f., 29 ff., 49 ff., 58 ff., 71 f., 103 ff., 113 ff., 126, 171 f., 177 ff., 189 ff., 201 ff., 213 ff. und 317–335. 5  Antoine Louis Claude Destutt de Tracy: Éléments d’idéologie. 1re. Partie: Idéologie proprement dite, Paris 1817 (ND Paris 1970), Kapitel VII, 107–142, insbesondere 121 ff. 6  Heinrich Rickert: Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die Transzendentalphilosophie, 6., verbesserte Auflage, Tübingen 1926, 95 ff. 7  Erich Rudolf Jaensch: Über die Wahrnehmung des Raumes. Eine experimentell-psychologische Untersuchung nebst Anwendung auf Ästhetik und Erkenntnislehre, Leipzig 1911, 467 ff.; Max Frischeisen-Köhler: Wissenschaft und Wirklichkeit, Leipzig / Berlin 1912, 242 ff. 8  Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 2, Bern 1954, 147 ff.; Vom Ewigen im Menschen, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 5, hrsg. von Maria Scheler, Bern 1954, 215 ff.; Die Wissensformen und die Gesellschaft, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 8, 3., durchgesehene Auflage, Bern 1980, 343 ff. u. 359–378; Späte Schriften, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 9, hrsg. von Manfred Frings, Bern / München 1976, 208 ff., 236 ff., 261 ff.; Schriften aus dem Nachlaß, I: Zur Ethik und Erkenntnislehre, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 10, 2., durchgesehene und erweiterte Auflage, Bern 1957, 188 f., 481 ff.; Schriften aus dem Nachlaß, II: Erkenntnislehre und Metaphysik, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 11, hrsg. von Manfred Frings, Bern / München 1979, 73, 256, 265. 9  Nicolai Hartmann: Zum Problem der Realitätsgegebenheit, Berlin 1931; Die Grundlegung der Ontologie, Berlin 1935, bes. 177 ff., 183 ff., 198 ff. 10  Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, 14., durchgesehene Auflage, Tübingen 1997, 97, 137, 209 ff., 300, 356; Kant und das Problem der Metaphysik, 4., erweiterte Auflage, Frankfurt a. M. 1973, 70, 74 f., 79, 101, 104 f., 116 ff., 149 f., 186; Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 59, hrsg. von Claudius Strube, Frankfurt a. M. 1993, 157 ff.; Platon: Sophistes, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 19, hrsg. von Ingeborg Schüßler, Frankfurt a. M. 1992, 464, 485 f.; Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 20, hrsg. von Petra Jaeger, Frankfurt a. M. 1979, 293 ff., 302 ff.; Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 26, hrsg. von Klaus Held, Frankfurt a. M. 1978, 279; Der Deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und die philosophische Problemlage der Gegenwart, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 28, hrsg. von Claudius Strube, Frankfurt a. M. 1997, 176 ff., 326 ff.



Natur als Widerstand: Dilthey und Fichte353

ßenwelt und seinem Recht (1890)11 zu finden. Im folgenden wird der Versuch unternommen, die Denkansätze der Fichteschen und der Diltheyschen Auseinandersetzung mit dem fraglichen Grundphänomen, ihre Erörterung des Widerstandes (der von ihm gespielten Rolle sowie der Bedingungen, die den Widerstand bzw. die Widerstandserfahrung ermöglichen sollen) im Umriß zu vergleichen. Dieser Vergleich soll zur Klärung nicht nur der philosophiegeschichtlichen Zusammenhänge, sondern auch der dazugehörigen Sachfragen beitragen. II. Diltheys „neuer Ansatz“ Zuerst sei ein Blick auf Diltheys Behandlung des hier zur Erörterung stehenden Problemzusammenhangs geworfen. In den Beiträgen stellt sich Dilthey die Aufgabe, die Frage nach dem Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und zugleich auch die Frage nach dem Rechtsgrund dieses Glaubens zu erörtern12. Durch Klärung der ersten Frage soll auch die letzte, nämlich die Frage nach dem Rechtsgrund des Glaubens an die Realität der Außenwelt, ihrer Auflösung nähergeführt werden. Der Ausgangspunkt seiner ganzen Betrachtung ist das, was Dilthey den obersten Satz der Philosophie nennt: der Satz der Phänomenalität13. Nach diesem „steht alles, was für mich da ist, unter der allgemeinsten Bedingung, Tatsache meines Bewußtseins zu sein“. Denn „Gegenstand, Ding ist nur in einem Bewußtsein und für ein Bewußtsein da“14, und selbst die unermeßlichen und unerreichbaren unendlichen Fernen der Außenwelt „existieren für mich nur, weil und sofern das alles Tatsache meines Bewußtseins ist“15. Dilthey zufolge geht dieser oberste Satz „in unmerklicher Weise durch Trugschlüsse in den Phänomenalismus über“16. Nach diesem vermag mein Wissen „nirgend den Horizont der Phänomene, d. h. des Zusammenhangs von Bestandteilen meines Bewußtseins zu überschreiten“17. Das Bewußtsein 11  In: Wilhelm Dilthey: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. V: Die Geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens, 1. Hälfte, Leipzig / Berlin 1924, 90–138, im folgenden zitiert als BzLdF. 12  BzLdF, 90. 13  BzLdF, 90. 14  BzLdF, 90. Vgl. z. B. Wilhelm Dilthey: Logik und System der philosophischen Wissenschaften: Vorlesungen zur erkenntnistheoretischen Logik und Methodologie (1864–1903), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. XX, hrsg. von H.-U. Lessing, Göt­tingen 1990, 169 f. 15  BzLdF, 91. 16  BzLdF, 91. 17  BzLdF, 91.

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kommt sozusagen über sich selbst oder über die Erscheinungen, d. h. über seine eigenen, ihm innewohnenden Tatsachen, nicht hinaus. Der Phänomenalismus ist wiederum von dem Solipsismus zu unterscheiden, in welchen er auch dank einer sich leicht und unbemerkt einschleichenden Verwechslung übergehen kann. Denn der Solipsismus – indem er ein vom Bewußtsein Unabhängiges schlichtweg leugnet und somit über etwas, was ganz außerhalb des Horizonts der Phänomene oder des Bewußtseins liegt, einen Wissensanspruch erhebt – geht über die reinen Tatsachen des Bewußtseins entschieden hinaus und verstößt offenkundig gegen das Grundprinzip des Phänomenalismus, nämlich eine „bewußt kritische Einschränkung des Wissens auf Erscheinungen“18. Der Unterschied zwischen dem Satz der Phänomenalität und dem Phänomenalismus bzw. der Übergang von dem einen zum anderen spielt in den Beiträgen eine besonders wichtige Rolle. Dilthey vertritt die Auffassung, daß der Phänomenalismus unweigerlich aus dem Satz der Phänomenalität entsteht, wenn „die Voraussetzung zu ihm hinzutritt, daß die Bewußtseins­ tatsache: Ding oder Gegenstand aus vorstellungsmäßigen Bestandteilen […] zusammengesetzt sei“19. Das Entscheidende liegt also in dieser zusätzlichen Voraussetzung, der zufolge sämtliche Elemente und Vorgänge, die bei der Konstitution des Bewußtseins der Außenwelt eine Rolle spielen, rein vorstellungsmäßiger Natur sind. Den aus dieser Voraussetzung entstehenden, mit dem Satz der Phänomenalität nicht zu verwechselnden und sich keineswegs aus ihm ergebenden Standpunkt kennzeichnet Dilthey als intellektualistische Aus- und Umdeutung des Satzes der Phänomenalität. Es ist diese intellektualistische Aus- und Umdeutung des Satzes der Phänomenalität, die zum Phänomenalismus führt20. Worauf dieser Gedankengang hinauswill, ist ohne weiteres klar: 1. Der Satz der Phänomenalität soll an und für sich mit der eigentümlichen Einschränkung des Wissens auf Erscheinungen, d. h. mit der Einschränkung, die das Wesen des Phänomenalismus ausmacht, nicht das geringste zu tun haben. Der Satz der Phänomenalität soll ganz im Gegenteil mit der Möglichkeit eines über die Sphäre des Bewußtseins hinausgehenden Wissens durchaus vereinbar sein. Es gibt also doch einen Weg von den Tatsachen des Bewußtseins zur äußeren Wirklichkeit21. 2. Dilthey zufolge setzt dies aber voraus, daß man die besagte zusätzliche Voraussetzung fallen läßt, mit dem 18  BzLdF,

91. 91. 20  Vgl. BzLdF, 92 f. 21  BzLdF, 95. Diltheys Programm wird an dieser Stelle folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Ich möchte auch über die Annahme hinauskommen, daß die Realität der Außenwelt nur den Wert einer Hypothese hat.“ 19  BzLdF,



Natur als Widerstand: Dilthey und Fichte355

„Intellektualismus“ bricht und das Bewußtsein, insbesondere das Bewußtsein der Außenwelt, aus einer ganz anderen Sicht betrachtet, die seiner Kom­ plexität gerecht wird22. Denn das Bewußtsein in seiner Lebensfülle läßt sich nicht auf die vorstellungsmäßigen Elemente und Vorgänge reduzieren, und der Glaube an die Realität der Außenwelt ist nicht „aus einem Denkzusammen­ hang“ (bzw. aus einem Vorstellungszusammenhang), sondern viel­mehr „aus einem in Trieb, Wille und Gefühl gegebenen Zusammenhang des Lebens“ zu erklären23. Das ist der neue Ansatz, den die Beiträge verfolgen. Der Schlüssel für die Klärung sowohl der Frage nach dem Ursprung als auch der Frage nach dem Rechtsgrund des Glaubens an die Realität der Außenwelt liegt demnach darin, daß man aufhört, „die Außenwelt mit falscher Abstraktion den Gebilden der vorstellenden Tätigkeit einzuordnen“24, und einsieht, daß das Triebsystem, die Tatsachen des Willens und die Tatsachen der mit dem Triebsystem und dem Willen verbundenen Gefühle bei der Ent­stehung des fraglichen Glaubens eine wichtige, ja die entscheidende Rolle spielen25. Dilthey betont sowohl die Komplexität als auch die Einheit des hier in Frage stehenden, über alles Vorstellungsmäßige weit hinausreichenden Lebenszusammenhangs. Es handelt sich um eine Mannigfaltigkeit verschiedener, voneinander klar abgehobener Empfindungen, Vorstellungen, Triebe, Volitionen, Lust- und Unlustgefühle etc.26. Diese verschiedenen Bestandteile sind miteinander in einer „Struktur des Seelenlebens verbunden, welche bei allen animalischen Wesen dieselbe ist und das psychische Grundgesetz dieser Lebewesen ausmacht“27. Der Akzent liegt also auf der Kontinuität allen Seelenlebens, nicht zuletzt auch auf der ununterbrochenen Kontinuität zwischen dem tierischen und dem menschlichen Seelenleben – darum spricht Dilthey von der „tierisch-menschlichen“ Lebenseinheit28. Wichtig ist aber 22  BzLdF, 95: „[…] so möchte ich doch im folgenden versuchen, den Menschen in seiner empirischen Lebensfülle zugrunde zu legen und eine breitere Wirkung des Triebsystems, der Tatsachen des Willens und der mit ihnen verbundenen Gefühle zu erweisen.“ 23  BzLdF, 95. 24  BzLdF, 97, vgl. 125. 25  Die Zeilen aus dem Vorwort zur Einleitung in die Geisteswissenschaften (in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I, Stuttgart / Göttingen, 19798, XIX), die in den BzLdF auf den Seiten 97 f. angeführt sind, fassen diese Grundthese prägnant zusammen: „Dem bloßen Vorstellen bleibt die Außenwelt immer nur Phänomen, dagegen in unserem ganzen wollend fühlend vorstellenden Wesen ist uns mit unserem Selbst zugleich und so sicher als dieses äußere Wirklichkeit (d. h. ein von uns unabhängiges Anderes, ganz abgesehen von seinen räumlichen Bestimmungen) gegeben; sonach als Leben, nicht als bloßes Vorstellen.“ 26  BzLdF, 95. 27  BzLdF, 95. 28  BzLdF, 96.

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auch, daß die fragliche Lebenseinheit keinem Aggregat lediglich aneinandergereihter heterogener Elemente und Vorgänge entspricht, sondern vielmehr den Charakter eines durch und durch strukturierten Bündels besitzt. Empfindungen, Vorstellungen, Triebe, Volitionen, Lust- und Unlustgefühle etc. sind aufeinander bezogen und stehen miteinander im Zusammenhang29. Die einen von ihnen rufen die anderen hervor, entfesseln und motivieren sie oder stellen ohnehin ihre Bedingung dar, während gewisse Bestandteile des Komplexes vielmehr andere Elemente oder Vorgänge voraussetzen, diese modifizieren, auf sie reagieren etc. Ja, Dilthey spricht von einem „Grundtypus alles Seelenlebens“30, d. h. von einer Grundstruktur, welche die tierischmenschliche Lebenseinheit und den Zusammenhang zwischen allen ihren Bestandteilen und Vorgängen regelt. Auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung kann das Seelenleben (d. h. das ihm entsprechende zusammenhängende Bündel von Trieben, Vorstellungen, Volitionen und Gefühlen) zwar einfacher oder komplizierter sein, aber seine Grundstruktur bleibt unveränderlich und entspricht unweigerlich dem Schema, das in den Beiträgen folgendermaßen beschrieben wird: „Eindrücke und Bilder rufen in dem System unserer Triebe und der mit ihnen verbundenen Gefühle zweckmäßige Reaktionen hervor, durch diese werden willkürliche Bewegungen ausgelöst, und so wird das Eigenleben an seine Umgebung angepaßt. […] Die Vorgänge von Wahrnehmung und Denken, welche sich zwischen dem Reiz und der Willensreaktion auf den höheren Stufen des Lebens einschalten, erweitern und vermannigfaltigen sich nur in diesem Zusammenhang mit dem Triebleben. Daher hat jeder Vorgang von Wahrnehmung, jeder Denkprozeß eine innere Seite: Interesse, Aufmerksamkeit und die aus den inneren Strebungen stammende Energie und Gefühlsbetonung; durch diese hängt er mit dem Eigenleben zusammen.“31

Die fragliche Grundstruktur allen Seelenlebens läßt sich folgendermaßen verdeutlichen: Das Seelenleben wurzelt immer in einem mehr oder weniger komplexen Triebsystem und steht seinem Wesen nach unter dem Zeichen des Strebens32. Mit dem Triebsystem bzw. mit dem Grundphänomen des Strebens sind Gefühle oder Gemütszustände verbunden33. Aber damit nicht genug: Das Triebsystem ist auch an der Vorstellungstätigkeit und an den willkürlichen Bewegungen oder Handlungen beteiligt. Denn das Triebsystem ist es, das die Lebewesen für Eindrücke und die ihnen entsprechenden Bilder oder Vorstellungen gleichsam empfänglich macht. Diese haben mit den 29  BzLdF,

95 f. 96. 31  BzLdF, 96. 32  Vgl. BzLdF, 96. 33  BzLdF, 95 f. 30  BzLdF,



Natur als Widerstand: Dilthey und Fichte357

Vorstellungen eines völlig unbeteiligten, das in Erscheinung Tretende rein sachlich zur Kenntnis nehmenden Zuschauers nicht das geringste zu tun. Vielmehr besitzen sie von Grund auf den Charakter triebhaft motivierter, für das Triebsystem bedeutsamer Eindrücke und Vorstellungen34. Entsprechendes gilt auch für die willkürlichen Bewegungen oder Handlungen. Denn das Triebsystem ist es, das sie auslöst, ihre Richtung bestimmt etc.35. Das „vom Bedürfnis nach Befriedigung drängende“36 Triebsystem stellt also die Grundlage, den Grundstock und Nährboden für alles andere in dem „tierisch-menschlichen“ Seelenleben dar. Es ist das Medium, in welchem sich alles abspielt, und zwar dergestalt, daß es alles andere durchpulst. Eine Konstellation verschiedener Triebrichtungen, „welche gleichsam ihre Fangarme ringsumher nach Erfüllung und Befriedigung ausstreckt“37, bildet die Grundlage für den alles „tierisch-menschliche Seelenleben“ strukturierenden und für das Verständnis des Glaubens an die Realität der Außenwelt ausschlaggebenden Bogen oder Kreislauf, den Dilthey so beschreibt: Eindrücke und Bilder rufen in dieser nach Erfüllung und Befriedigung drängenden Konstellation verschiedener Triebe und Gefühle, die von den Trieben untrennbar sind, zweckmäßige Reaktionen hervor, durch die wiederum willkürliche Bewegungen ausgelöst werden38. Hierbei ist allerdings anzumerken, daß der Ausgangspunkt des so beschriebenen Kreislaufs nur dadurch seine Rolle spielen kann, daß er ins Spannungsfeld des triebhaften Lebens gerät und in diesem Sinne nicht den eigentlichen Ausgangspunkt des Kreislaufs, sondern vielmehr nur ein Durchgangsmoment im Zug des „vom Bedürfnis nach Befriedigung drängenden“ Trieblebens darstellt. M. a. W.: Der von den Eindrücken ausgehende „Kreislauf“ (Eindrücke und Bilder → zweckmäßige Reaktion → willkürliche Bewegung) kann nur im Spannungsfeld des „vom Bedürfnis nach Befriedigung drängenden“ Trieblebens stattfinden. Das triebhafte Bedürfnis bildet den Ausgangspunkt und die angestrebte Befriedigung den Zielpunkt dieses anderen, „kompletten Kreislaufs“. Und der von den Eindrücken ausgehende „Kreislauf“ stellt nur einen Teil dieses umfassenderen, ihn ermöglichenden, dem Triebleben innewohnenden „kompletten Kreislaufs“ dar.

34  BzLdF,

95 f. Vgl. 130. 95 f., 98. 36  BzLdF, 98. 37  BzLdF, 96. 38  Vgl. BzLdF, 96. 35  BzLdF,

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III. Der vielschichtige Aufbau des Glaubens an die Realität der Außenwelt Damit ist der Rahmen gesteckt für Diltheys Analyse vom Ursprung des Glaubens an die Realität der Außenwelt bzw. vom Ursprung der Unterscheidung von Selbst und Objekt und für seine Erörterung der Widerstandserfahrung sowie der ausschlaggebenden Rolle, welche die Widerstandserfahrung als Grundlage des Bewußtseins von der selbständigen Realität des Objekts spielt. Hier geht es allerdings nicht darum, den ganzen Gedankengang der Beiträge Schritt für Schritt zu verfolgen. Vielmehr soll das Schwergewicht auf einer Erörterung des Kerns der von Dilthey dargestellten Analysen liegen, nämlich auf der ursprünglichen Widerstandserfahrung, die ihm zufolge aller Unterscheidung von Selbst und Objekt und allem Glauben an die Realität der Außenwelt zugrunde liegt. Für Dilthey stellt die ohne Mitwirkung des Gesichts im Bereich des Tastsinnes vorkommende Widerstandserfahrung die fragliche Urform der Widerstandserfahrung dar. Dilthey konzipiert die Entstehung des Glaubens an die Realität der Außenwelt als einen sich nach und nach entwickelnden, mehrere Phasen durchlaufenden Prozeß, von denen die einen noch vor der Entwicklung der anderen stattfinden können, aber nicht umgekehrt. Oder genauer: Ihm zufolge stellt die Urform der Widerstandserfahrung, nämlich jene Form dieser eigentümlichen Erfahrung, welche auch ohne Mitwirkung des Gesichts mittels des Tastsinnes vorkommen kann, sozusagen das Urprinzip der Unterscheidung von Selbst und Objekt und die Grundvoraussetzung jeder weiteren Erfahrung dieser Unterscheidung sowie der selbständigen Realität des Objekts dar39. Alle anderen von Dilthey genannten Faktoren (namentlich die Phänomene, die für die Gesichtswahrnehmung spezifisch sind40, jene, die an der Gestaltung des Glaubens an die Realität anderer Personen beteiligt sind41, und schließlich auch die sehr entwickelten Denkvorgänge, welche das Selbst, die Sinnesorgane, die äußeren Ursachen und die mitwahrnehmenden Personen in Kausalverhältnisse zueinander setzen42) bilden zwar spezifische, über den Kern der Widerstandserfahrung weit hinausgehende, ihren eigentümlichen Beitrag leistende Modalitäten der Erfahrung der selbständigen Realität der Außenwelt. Dilthey betont aber sehr nachdrücklich, daß all die anderen von ihm behandelten Faktoren die Widerstandserfahrung und die durch sie vermittelte Realität der Außenwelt zur 39  Vgl.

BzLdF, 98 ff. 108 ff. 41  BzLdF, 110 ff. 42  BzLdF, 114 ff., 116 ff. 40  BzLdF,



Natur als Widerstand: Dilthey und Fichte359

Voraussetzung haben und an und für sich gar nicht in der Lage wären, die Unterscheidung von Selbst und Objekt und den Glauben an die Realität der Außenwelt zustande zu bringen – so daß ohne die primäre Widerstandserfahrung das Objekt bzw. die Außenwelt für uns gar nicht da wäre43. M. a. W.: Das Bewußtsein der Außenwelt besitzt zwar einen zusammengesetzten, vielschichtigen Charakter und kann je nach Art seiner Zusammensetzung verschiedene einfachere oder komplexere, elementarere oder differenziertere Gestalten annehmen. Aber Dilthey zufolge verhält es sich so, daß alle anderen über den Kern der Widerstandserfahrung hinausgehenden Faktoren oder Schichten des Glaubens an die selbständige Wirklichkeit der Außenwelt im Grunde genommen nur zur Bestätigung und Weiterentwicklung des durch die primäre Widerstandserfahrung bereits gebildeten Glaubens dienen; sie sind zusätzliche Faktoren, durch die dieser Glaube „Verstärkung und Bestimmung“44 empfängt und durch die das Bewußtsein von der selbständigen Realität des Objekts bzw. der Außenwelt „sich verdichtet“45 oder – wie er auch sagt – gesteigert46 und erweitert wird47. Im folgenden ist jedoch nur von der Urform, nämlich der primären Widerstandserfahrung als solcher, die demnach das alles tragende Herzstück, sozusagen das A und O des ganzen Stufenbaus des Glaubens an die Realität der Außenwelt darstellt, die Rede. Es handelt sich also um das Herzstück der in den Beiträgen dargestellten Lehre – ein Herzstück, mit dem Dilthey zufolge das Ganze steht oder fällt. Von all den anderen zu der Widerstandserfahrung hinzukommenden Faktoren und Momenten der phasenartigen Entwicklung bzw. der vielschichtigen Zusammensetzung des Bewußtseins der Außenwelt, auf die Diltheys Beiträge auch eingehen, wird hier völlig abgesehen. IV. Die Urform des Glaubens an die Realität der Außenwelt – Diltheys Analyse der primären Widerstandserfahrung Was nun die Widerstandserfahrung (und vor allen Dingen die primäre Widerstandserfahrung) als solche anbelangt, so ist zunächst einmal folgendes festzuhalten: Das Schema der Erfahrungen, in welchen das Selbst, das Eigenleben und das von ihm unabhängige Objekt auseinandertreten, liegt in der „Beziehung zwischen dem Bewußtsein der willkürlichen Bewegung und dem des Widerstandes, auf welchen die willkürliche Bewegung trifft“48. 43  Vgl.

etwa BzLdF, 112 f. sowie 114 f. 114. 45  BzLdF, 116. 46  BzLdF, 116. 47  Vgl. auch BzLdF, 130 f. 48  BzLdF, 98. 44  BzLdF,

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Alles geht von der willkürlichen Bewegung bzw. von dem Impuls zu einer Bewegung aus, den Dilthey in seinem Zusammenhang mit den Trieben und den von ihnen untrennbaren Gefühlen, d. h. in seinem Zusammenhang mit dem „vom Bedürfnis nach Befriedigung drängenden“ Leben, aufgefaßt wissen will49. Dilthey weist darauf hin, daß die Wahrnehmung der willkürlichen Bewegung auch bei Ausschluß der Mitwirkung von Gesichtsempfindungen einen zusammengesetzten Vorgang bildet50. Denn diese Wahrnehmung beschränkt sich keineswegs darauf, die tatsächlich stattfindende Bewegung festzustellen. Vielmehr ist sie so geartet, daß sie zugleich des dazugehörigen Impulses, der intendierten Bewegung, der bezweckten Wirkung, der Größe der hierbei angewandten Kraft oder Arbeit sowie der bei Ablauf der vorgestellten Bewegung entstehenden Gefühle gewahr wird51. Und der Komplex dieser verschiedenen Momente ist so strukturiert, daß 1. der bewußte Willensvorgang in verschiedenen Graden von Stärke eine Unterlage aller Erfahrungen über willkürliche aktive Bewegungen bildet, 2. jede willkürliche Bewegung nur dadurch zu einer solchen wird und als eine solche empfunden wird, daß sie als Bestandteil und Durchgangsmoment eines vom Bewegungsimpuls ausgehenden, zu der bezweckten Wirkung tendierenden Strebens erlebt wird, so daß 3. man wohl sagen kann, daß das Bewußtsein vom willkürlichen Bewegungsimpuls und von der ihn belebenden Tendenz zur bezweckten Wirkung den Kern jeder Wahrnehmung von willkürlicher Bewegung bildet52. „Dies Bewußtsein der willkürlichen Bewegung tritt nun aber zu der Erfahrung des Widerstandes in Beziehung“53. Dilthey zufolge ist der Eindruck des Widerstandes ganz eigentümlicher Art und weder mit dem Eindruck der Schwere noch mit dem des Druckes oder dergleichen zu verwechseln54. Denn der Kern der Widerstandserfahrung – oder, wie Dilthey sagt, des Bewußtseins, „bestimmt zu werden, einen Impuls zu erleiden“55 – setzt ebenfalls als Grundmoment einen Willensvorgang voraus, der ihm sein eigentümliches Gepräge verleiht und mit jenem verwandt ist, ja jenem entspricht, den Dilthey an der Wahrnehmung der willkürlichen Bewegung hervorhebt56. Dies tritt deutlicher hervor, wenn man bedenkt, daß auch die Widerstands­ erfahrung zusammengesetzt ist. Die ohne Mitwirkung des Gesichts, nur 49  BzLdF,

98. 100. 51  BzLdF, 100. 52  Vgl. BzLdF, 101. 53  BzLdF, 101. 54  BzLdF, 101 f. 55  BzLdF, 102. 56  BzLdF, 101 f. 50  BzLdF,



Natur als Widerstand: Dilthey und Fichte361

mittels des Tastsinnes vorkommende primäre und einfachere Widerstands­ erfahrung zeichnet sich dadurch aus, daß sie mit einer Druckempfindung wesentlich verbunden ist57. Eine wie auch immer geartete Druckempfindung ist aber an und für sich nicht in der Lage, eine Widerstandserfahrung zu bilden. Diese kann vielmehr nur im Zusammenhang mit dem Willensimpuls entstehen, und zwar indem die Erfahrung des Willensimpulses sich mit der Erfahrung der Hemmung seiner Intention verbindet und die tatsächlich eintretende Druckempfindung einer derartigen Hemmung entspricht und als eine solche wahrgenommen wird58. Das Entscheidende besteht also im Grunde genommen nicht darin, daß die fragliche Empfindung so oder so beschaffen ist (das ist mehr oder weniger gleichgültig!), sondern vielmehr darin, daß sie sich gleichsam gegen den Willensimpuls und die intendierte Bewegung durchsetzt und anstatt der Empfindungen eintritt, die der ungehemmten Ausführung der intendierten Bewegung entsprechen würden59. Ja, das Entscheidende besteht gerade darin, daß der Willensimpuls „nicht einfach untergeht“ und „in einem bloßen Empfindungszustand verschwindet“60. Vielmehr dauert der Willensimpuls fort – sein Fortdauern (sowie die sich daraus ergebende Spannung) stellt eine Bedingung des Bewußtseins von Willenshemmung dar, welches zur Widerstandserfahrung wesentlich dazugehört61. Nur so kann ein „Willens- und Gefühlszustand des Erleidens oder des Bestimmtwerdens“62 erfahren werden. Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei noch auf Folgendes hingewiesen. Man kann zwar sagen, daß die Widerstandserfahrung ihrem Wesen nach immer mit einer Art Druck zu tun hat. Es handelt sich aber nicht unbedingt um den Druck im Sinne der haptischen Druckempfindung, sondern eher um eine eigentümliche, mit dem Willensimpuls der willkürlichen Bewegung zusammenhängende Art von Druck – nämlich um den „Druck auf die psychische Aktion“63 und den ihm entsprechenden „gepreßten Zustand von Unlust und von Hemmung“64. Dieser wie auch immer entstandene „Druck auf die psychische Aktion“ (mit dem ihm entsprechenden „gepreßten Zustand von Hemmung“65) ist es, der „das Bewußtsein, bestimmt zu werden“ (bzw. das „Bewußtsein, einen Impuls zu erleiden“66), ausmacht. Daß Dilthey hinsicht57  BzLdF,

58  BzLdF, 59  BzLdF, 60  BzLdF, 61  BzLdF, 62  BzLdF, 63  BzLdF, 64  BzLdF, 65  BzLdF, 66  BzLdF,

101 f. 102. 102 f. 102. 102. 102. 102. 102. 102. 102.

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lich der im Bereich des Tastsinnes stattfindenden Widerstandserfahrung ebenso nachdrücklich betont, daß ein Aggregat von haptischen Druckempfindungen ein unentbehrliches Zwischenglied zwischen dem Bewußtsein des Impulses und dem der Hemmung der Intention bildet und unbedingt dasein muß, hat eine andere Bedeutung67. Es bedeutet nämlich, daß wir zum Bewußtsein der Außenwelt „nur durch Vermittlungen kommen“68, und daß das Hemmungsbewußtsein, das in der haptischen Widerstandserfahrung auftritt, „ein Druckempfindungsaggregat zur Vorbedingung hat“69. „Wie die Intention eine Bewegungsvorstellung einschließt, wie die willkürliche Bewegung ein mit der fortdauernden Intention verschmolzenes Aggregat von Empfindungen und Vorstellungen in sich faßt“, so hat auch das Hemmungsbewußtsein seine empfindungsmäßige Unterlage70. Es gibt demnach, wie Dilthey sagt, keine „unmittelbare Willenserfahrung des Widerstandes“, keine „psychologische Fiktion von unmittelbarem Gegebensein irgendeiner Art“71, und das die Widerstandserfahrung fundierende Hemmungsbewußtsein ist in diesem Sinne durch und durch empfindungsmäßig vermittelt. Der Kern der Widerstandserfahrung ist somit die Verbindung des Bewußtseins des Willensimpulses und der Intention (bzw. der intendierten und versuchten Bewegung) mit dem Bewußtsein der Hemmung der Intention (bzw. der Hemmung der intendierten und versuchten, aber gehinderten Bewegung) – also die Verbindung von „zwei Willenszuständen“72. Dilthey zufolge ist 67  Vgl. BzLdF, 103: „Dies Zwischenglied zwischen dem Bewußtsein des Impulses und dem der Hemmung der Intention, das in dem Aggregat der Druckempfindungen liegt, ist jedesmal da.“ 68  BzLdF, 102, vgl. 133 f. 69  BzLdF, 102 f. 70  BzLdF, 103. 71  BzLdF, 103: „Dies Zwischenglied zwischen dem Bewußtsein des Impulses und dem der Hemmung der Intention, das in dem Aggregat der Druckempfindungen liegt, ist jedesmal da. Wir kommen also zum Bewußtsein der Außenwelt nur durch Vermittlungen. Man kann sich die Begründung des Glaubens an die Realität der Außenwelt nicht durch irgendeine Art von Übertreibung erleichtern, etwa durch die Annahme einer unmittelbaren Willenserfahrung des Widerstandes oder überhaupt durch die psychologische Fiktion von unmittelbarem Gegebensein irgendeiner Art. Wie die Inten­ tion eine Bewegungsvorstellung einschließt, wie die willkürliche Bewegung ein mit der fortdauernden, verminderten oder verstärkten Intention verschmolzenes Aggregat von Empfindungen und Vorstellungen in sich faßt, so hat auch das Hemmungsbewußtsein, das in der Widerstandserfahrung auftritt, ein Druckempfindungsaggregat zur Vorbedingung.“ Vgl. ebd. 104: „Wir erkennen also: in der Widerstandsempfindung ist ein von mir Unabhängiges nicht in einer unmittelbaren Willenserfahrung gegeben. Die Lehre von der unmittelbaren Gegebenheit der Realität der Außenwelt erweist sich zunächst an diesem Punkte nicht als stichhaltig.“ Vgl. auch ebd. 127–128. Bekanntlich war diese Lehre Diltheys ein Stein des Anstoßes für Scheler. 72  BzLdF, 102, vgl. 103.



Natur als Widerstand: Dilthey und Fichte363

aber die genaue Zusammensetzung der Widerstandserfahrung damit noch nicht erschöpfend dargestellt. Denn es tritt ein weiteres Glied in dieser Verkettung von Prozessen auf, welche zum Bewußtsein des Widerstandes führen, nämlich ein vorstellungsmäßiges Moment (das Dilthey als „Denkvorgang“ beschreibt73), ohne welches es überhaupt kein Hemmungs- und somit kein Widerstandsbewußtsein geben könnte. Denn erst „im Auseinanderhalten der Bewegungsvorstellung“ und des tatsächlich in Erscheinung tretenden „Druckempfindungsaggregats“ (bzw. eines wie auch immer gearteten, von der Bewegungsintention und den ihr entsprechenden Empfindungen abweichenden Empfindungsaggregats) und „in dem dadurch entstehenden Bewußtsein ihres Unterschiedes kann das Urteil entstehen, daß das Eingetretene den Erwartungen, den Intentionen nicht entspreche“74, sondern mit ihnen im Widerspruch stehe – und daß die mit dem Impuls verbundenen und einer glatt ablaufenden Bewegung angehörigen Empfindungen aufgehört haben bzw. nicht eintreten, sondern von einer anderen Empfindungsmannigfaltigkeit, die nicht innerhalb der Intention lag, ersetzt worden sind75. Die hier in Frage stehende Feststellung eines Widerspruchs zwischen der Bewegungsintention und dem tatsächlich Eingetretenen – auch dies sei zur Vermeidung von Mißverständnissen nebenbei bemerkt – kann allerdings nicht unbedingt nur dann gemacht werden, wenn der fragliche Widerspruch in dem Sinne enttäuschend ist, daß er mit Unlustgefühlen verbunden ist. Denn die fragliche Feststellung kann ebenso gemacht werden und eine Erfahrung des Widerstandes fundieren, wenn das Unerwartete ganz im Gegenteil Lustgefühle auslöst. Das Entscheidende ist ja der Widerspruch als solcher, welcher auch in diesem Fall stattfindet76. Entsprechendes gilt gleichermaßen hinsichtlich eines abnehmenden, ja verschwindenden Drucks (wohlgemerkt: im Sinne des soeben genannten „Drucks auf die psychische Aktion“), welcher mit mangelndem Widerstand nichts zu tun hat, sondern vielmehr die Erfahrung einer dem Willensimpuls widerstehenden, vom Be73  BzLdF,

103. 103. 75  BzLdF, 103. Das Ganze wird dann (ebd. 103 f.) folgendermaßen zusammen­ gefaßt: „Sind alle diese Bedingungen erfüllt, laufen vom Impuls aus alle diese Beziehungen zwischen Empfindungen und deren Aggregaten in Denkvorgängen ab: dann entsteht nun in diesem System von Trieben, welches der Mensch ist, in welchem ringsum nach allen Seiten Strebungen ausgehen und Gefühle untrennbar mit ihnen verwoben sind, ein neuer Willenszustand, eine neue Erfahrung: die Erfahrung der Hemmung der Intention. Willensbestand und Gefühlsbestand sind in dieser Tatsache nicht trennbar. Sie ist als Tatbestand unmittelbar in der Erfahrung auftretend und durch alle Erfahrungen des Lebens immer neu bestätigt, ganz wie der Impuls. Sie ist der Kern der Widerstandserfahrung.“ 76  Das Entscheidende ist also, wie Dilthey weiter unten (BzLdF, 131) schreibt, das „Eintreten des Nichterwarteten“ oder das „Nichteintreten des Erwarteten“. 74  BzLdF,

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wußtsein unabhängigen Kraft fundiert, welche als zurückweichend perzipiert wird77. Es ist dies nicht der Ort, auf Diltheys Ausführungen noch näher einzu­ gehen. Es seien aber noch zwei wichtige Aspekte in aller Kürze erwähnt. Erstens: Die Widerstandserfahrung entsteht zwar in einem zusammengesetzten, aus einem breiten Bündel von Erfahrungen (von Impuls, Bewegung, Hemmung etc.) bestehenden Vorgang, kann aber dann im Bewußtsein nachträglich als ein Einfaches bzw. als eine schlichte, direkte Erfassung auftreten78. Sie ist demzufolge so geartet, daß sie ihrer Struktur nach mit einem unmittelbaren Gegebensein nicht das geringste zu tun hat und dennoch den Eindruck von einem solchen zum Ergebnis hat79. Zweitens: Die Widerstandserfahrung wird in den verschiedensten Gebieten durch allerhand Fälle gehemmten Willensimpulses immer neu bestätigt und geht durch das ganze Leben hindurch. „Ringsum scheinen uns Wände von Tatsächlichkeit zu umgeben, die wir nicht durchbrechen können“80: „Die Eindrücke halten stand, gleichviel ob wir sie ändern möchten; sie verschwinden, obwohl wir sie festzuhalten streben […]“81 etc. Entscheidend ist aber auch ein anderer, damit aufs innigste zusammenhängender Zug, nämlich daß die Widerstands­ erfahrung auch in dem Sinne eine Erfahrung bildet, daß sie über die jeweils bereits festgestellten Widerstandsmomente weit hinausgeht, noch nicht festgestellten Widerstand vorwegnimmt, den festgestellten Widerstand gleichsam verallgemeinert und die fragliche Vorwegnahme bzw. Verallgemeinerung durch weitere Erfahrungen immer wieder bestätigen läßt82. Dar77  BzLdF,

104. 104, 127 f. 79  Zum Vergleich etwa Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo, (im folgenden abgekürzt: WLnm-K) § 7, in: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth, Hans Jacob, Hans Gliwitzky, Erich Fuchs und Peter K. Schneider, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962–2012. Im folgenden abgekürzt: GA, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl, hier: GA IV / 3, 389 f. 80  BzLdF, 105. 81  BzLdF, 105. 82  Gerade darin besteht der Unterschied zwischen empeiria und mnêmê (bzw. der Unterschied zwischen empeiria und den „pollai mnêmai tou autou pragmatos“, von denen bei Aristoteles die Rede ist); siehe Aristoteles: Metaphysica, I, 1 und Analytica Posteriora II, 19. Im Gegensatz zur mnêmê geht die empeiria ihrem Wesen nach über das tatsächlich Wahrgenommene (und im Gedächtnis Behaltene) hinaus. Sie zeichnet sich dadurch aus, daß sie auch Nichtwahrgenommenes annimmt, und zwar so, daß dieses Nichtwahrgenommene dem Wahrgenommenen (nämlich den „pollai mnêmai tou autou pragmatos“) entspricht. Anders gesagt: die empeiria ist dadurch gekennzeichnet, daß sie eine Art „Projektion“ von Wahrgenommenem bildet. Ja, die empeiria zeichnet sich nicht zuletzt auch dadurch aus, daß sie noch nicht Wahrgenommenes – sozusagen noch Wahrzunehmendes – vorwegnimmt (und in diesem 78  BzLdF,



Natur als Widerstand: Dilthey und Fichte365

aus folgt, daß die Widerstandserfahrung sich in einem permanenten Ergebnis niederschlägt, dessen Gültigkeitsanspruch sich über jede Region ausweitet, und so zur Annahme einer durch Widerstand gekennzeichneten Welt – oder, wie Dilthey sagt, der „übermächtigen Außenwelt, welche das Eigenleben hemmt, beschränkt und gleichsam zusammendrückt“ – führt83. Es handelt sich also um viel mehr als vereinzelte, losgelöste Widerstandsmomente. Es handelt sich auch nicht nur um mehr oder weniger ausgedehnte Widerstandsbereiche. Es handelt sich um nichts Geringeres als eine Welt des Widerstandes. Es handelt sich nämlich um die ganze Außenwelt: „In dem Maße, in welchem diese inneren Bestandteile [Hemmung, Eintreten des Nichterwarteten, Versagen des Gewollten etc.] sich summieren, in einander wirken, übereinandergreifen, wächst der Charakter von Wirklichkeit, welchen die Bilder für uns haben. Sie wird zu einer Gewalt, die uns ganz umfängt, ein Netz, dessen Maschen nichts durchlassen, dem nichts sich entzieht“84. V. Widerstand und Realität der Außenwelt Nur auf diesem Standpunkte läßt sich Dilthey zufolge die Frage nach der Entstehung des Bewußtseins von der Außenwelt und im gleichen Atemzug auch das „Problem vom Rechte unseres Glaubens an eine äußere Wirklichkeit“ angemessen auflösen85. In den Erfahrungen der Hemmung und des Widerstandes ist uns „die Gegenwart einer Kraft gegeben, die wir dann als eine äußere, von uns getrennte auffassen müssen. Denn die Hemmung und der Widerstand schließen ebensogut Kraft in sich als der Impuls. Wie in dem Bewußtsein des Impulses die Erfahrung liegt, daß ich eine Kraft übe, so liegt in dem Bewußtsein der Hemmung und des Widerstandes, daß eine Kraft auf mich wirkt“86. „Hierbei ist das, was wirkt, von dem, auf welches es die Wirkung ausübt, eben durch dieses Verhältnis unterschieden“87. „[…] Da ein auftretender Empfindungsverband sich vom Impuls unabhängig erweist, mein Triebleben hemmt und mein Bedürfnis nicht zur Befriedigung gelangen läßt, so ist mir in diesen Wirkungen eine Kraft gegenwärtig, deren Außenseite gleichsam die Empfindungsverbindung ist“88. Sinne feststellt). Die empirische „Projektion“ bzw. Vorwegnahme ist aber mit einer derartigen Evidenz verbunden, daß sie einer Wahrnehmung gleichgestellt, ja als eine solche erlebt wird. 83  BzLdF, 105. 84  BzLdF, 131. 85  BzLdF, 131 ff. 86  BzLdF, 131 f. 87  BzLdF, 132. 88  BzLdF, 132.

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Die „Trennung eines Außen von einem Selbst ist nichts als das in dieser Erfahrung [von Hemmung oder Widerstand] gegebene Verhältnis“89. „Sofern ein Empfindungsverband die Struktur eines Willenszusammenhanges nicht besitzt, aber die permanente Ursache eines Systems von Wirkungen [d. h. von Hemmungen] ist“, wird er zum Objekt90. Der Widerstand ist es also, der „das Außen“ als solches konstituiert: Die Hemmung, die dem Willen nicht zugeschrieben werden kann, bildet etwas dem Willen Entgegenwirkendes und insofern Gegenüberstehendes, ihm gegenüber Unabhängiges91. Die Widerstandserfahrung ist demnach so geartet, daß sie ihrem Wesen nach zwei Selbständigkeiten auseinandertreten läßt. Und so ist in dieser Ansicht der „Phänomenalismus“ aufgehoben. Zwar verhält es sich so, daß die in der Widerstandserfahrung gegenwärtige Kraft („deren Außenseite gleichsam die Empfindungsverbindung ist“), wie Dilthey wiederholt betont, nicht direkt gegeben und zugänglich ist92. Sie wird aber auch nicht erschlossen (d. h. durch bloße Denkvorgänge abgeleitet)93. Vielmehr ist die nur für das strebende (und darum Hemmung oder Widerstand erfahren könnende) Bewußtsein mögliche Widerstandserfahrung so beschaffen, daß sich in ihr eine dem Streben entgegenwirkende Kraft aufdrängt. Darum spricht Dilthey von einer Art „Furchung innerhalb des Bewußtseins“94. Diese der Widerstandserfahrung wesenseigene „Furchung“ ist Dilthey zufolge so geartet, daß die fragliche Kraft kein Bewußtseinstranzendentes im eigentlichen Sinne darstellt, d. h. nicht völlig außerhalb des Bewußtseins liegt. Denn „der Wille und seine Hemmung treten innerhalb desselben Bewußtseins auf. Wie sie beide gleichsam umkleidet sind von Empfindungsaggregaten und Denkvorgängen, wird der Wille zu der im Körper erscheinenden Person, das Widerstehende zum Objekt. So kommt es, daß beide bewußte Tatsachen sind, und wir sagen können, daß das Bewußtsein beides umfasse“95. Hierbei besteht das Wesentliche gerade darin, daß die im Bewußtsein auftretende Hemmung der Willensintention „sich gleichsam jenseits des Willens ausstreckt“96. Beides – sowohl die „Immanenz“ (die Tatsache, daß die Hemmung bzw. der Widerstand „innerhalb des Bewußtseins auftritt“) als auch das Sich-jenseits-des-Willens-und-des-Bewußtseins-Aus89  BzLdF,

133. 133. 91  BzLdF, 134. 92  BzLdF, 104. 93  BzLdF, 104. 94  BzLdF, 124. 95  BzLdF, 134, vgl. auch 132 f.: „Das Selbst und die Objekte liegen daher beide innerhalb des Bewußtseins. Denn in den Wirkungen auf den Willen und die Gefühle ist die äußere Kraft gegenwärtig.“ 96  BzLdF, 134. 90  BzLdF,



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strecken – ist dieser eigentümlichen Art von Erfahrung bzw. ihrem Gegenstand wesenseigen. D. h.: Das dem Streben bzw. dem Willen Entgegenwirkende und insofern Selbständige tritt in der Widerstandserfahrung in Erscheinung, ja es tritt in den Bereich des Bewußtseins und des ihm entgegengesetzten, Widerstand erfahrenden Strebens oder Wollens hinein97. Insofern zeichnet sich die nur als Willensvorgang mögliche Widerstandserfahrung gerade dadurch aus, daß in ihr das Bewußtsein gleichsam über sich selbst hinausgeht und mit der Kraft in Berührung kommt, deren „Außenseite“ die mit der Willensintention in Widerspruch stehenden Empfindungen darstellen. Und gerade das, nämlich dieses der Widerstandserfahrung wesenseigene „Ineinander“ des Entgegengesetzten – oder genauer: dieses „Ineinander“ des Innen und Außen – soll die Urform des Schemas bilden, demzufolge „die Ursache gleichsam in das, worin sie wirkt, hineintritt und so in ihm gegenwärtig ist, aber zugleich jenseits desselben und von demselben getrennt bleibt.“98 Dieses Schema stellt im Grunde genommen nur den abstrakten und verallgemeinerten Ausdruck der hier in Frage stehenden, sozusagen seine Ursprungsstätte bildenden Erfahrung des Willens – nämlich der Widerstandserfahrung – dar99. Die Widerstandserfahrung bildet demnach sowohl die Ursprungsstätte des Glaubens an die Realität (und d. h. zugleich die Ursprungsstätte der Kategorie der Wirklichkeit oder Realität, welche diesem Glauben entspricht) als auch die Ursprungsstätte der Kategorie von Ursache und Wirkung. Dies bedeutet aber, daß die Widerstandserfahrung die Ursprungsstätte der Hauptbestandteile darstellt, aus denen sich der Begriff von Natur zusammensetzt, so daß sämtliche (auch die abstraktesten) Naturvorstellungen einen abgeleiteten Charakter haben und letzten Endes auf diese Urform der Naturvorstellung – nämlich die Widerstandserfahrung – zurückzuführen sind. VI. Dilthey und Fichte – ein „notwendiges Und“ Und nun zu Fichte. Diltheys Ausführungen zeigen eine auffällige Affinität zu Fichtes Lehre, „daß ein Nicht-Ich lediglich unter der Bedingung [ist], 97  Vgl.

BzLdF, 134. 134. 99  BzLdF, 134: „Die Begriffe von Wirkung und Ursache sind durch Verallgemeinerung und Abstraktion aus den angegebenen Erfahrungen des Willens entstanden. Wir nehmen nun an, daß die Ursache gleichsam in das, worin sie wirkt, hineintritt und so in ihm gegenwärtig ist; aber dies schließt für uns nicht aus, daß sie zugleich jenseits desselben und von demselben getrennt ist. Dies ist der abstrakte Ausdruck des Tatbestandes, nach welchem innerhalb des Bewußtseins ein Widerstand, eine Hemmung der Intention auftritt, die sich gleichsam jenseits des Willens erstreckt.“ 98  BzLdF,

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daß das Ich wirke und in dieser seiner Wirkung Widerstand fühle“100. Ja, der Ansatz der Fichteschen Analysen des Widerstands – nämlich daß der Widerstand ein unmittelbares Bewußtsein unserer Tätigkeit (und d. h. zugleich das der Tätigkeit zugrundeliegende, sie treibende Streben bzw. einen Trieb) voraussetzt, so daß a) alles von dem Streben, Treiben und Handeln ausgeht, b) die Setzung des Nicht-Ich bzw. der Natur der Setzung von Widerstand gleichkommt und c) der Widerstand, das „Gegenteil meines Han­ delns“101, nichts anderes als Beschränkung des strebenden, handelnden Ich und seiner Tätigkeit oder Wirksamkeit ist – zeigt allem Anschein nach, daß die Ansätze Fichtes und Diltheys in dieser Hinsicht weitgehend übereinstimmen. Wenn es einen Vorläufer der von Dilthey vertretenen Auffassung der Widerstandserfahrung als Grundlage und Herzstück des Glaubens an die selbständige Realität des Objekts bzw. der Außenwelt gegeben hat, dann ganz bestimmt Fichte102! Dabei stellt man aber zu seiner Verblüffung fest, daß der historische Rückblick, den Dilthey auf die Vorgeschichte des Problems wirft, Fichte und seinen Beitrag keines Wortes würdigt103. Zwar wird Fichte als Vorläufer der von Dilthey kritisierten „intellektualistischen“ Lehre über das „unbewußte Schlußverfahren“104 und auch als der erste genannt, der den sogenannten „moralischen Beweis“ für das Dasein anderer, „für sich bestehender, unabhängig von mir vorhandener, Zwecke fassender und ausführender Wesen“ formulierte105. Dieser Hinweis ist aber insofern irreführend, als er Fichtes Lehre über das Nicht-Ich oder die Natur als Widerstand merkwürdigerweise mit völligem Stillschweigen übergeht und zugleich nahelegt, daß Fichte entweder eine rein „intellektualistische“ Auffassung des Ursprungs 100  Fichte: Das System der Sittenlehre, in: GA I / 5, 95. Im folgenden abgekürzt: SL, in: GA I / 5. 101  SL, in: GA I / 5, 99. Fichte spricht auch von dem „Gegenteil der Tätigkeit“. Vgl. etwa SL, in: GA I / 5, 25. 102  Vgl. u.  a. Fichte: Grundlage der Wissenschaftslehre, in: GA I / 2, 283–384, besonders: 357 ff., 391 ff., 416–451, im folgenden abgekürzt: GWL, in: GA I / 2. Fichte: Grundriss des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre, §§ 2, 3 und 4, in: GA I / 3, 147 ff., 196 ff.; Vorlesungen über Platners Aphorismen, in: GA II / 4, 56 ff., 59, 61 f., 74 f., 83–92, 100; Vorlesung über die Moral (1796), in: GA IV / 1, 26 ff.; Vorlesung über Logik und Metaphysik (1797), in: GA IV / 1, 208 ff.; WLnm-K,, §§ 2, 3, 5, 6, 7, 8, 12, 13, 14, 15, in: GA IV / 3, 350 ff., 356 ff., 362 f., 368–373, 374–384, 384–393, 393–405, 427 f., 433, 436 ff., 448, 457 f., 459 ff.; SL, in: GA I / 5, 25 f., 93–95, 96–102, 203 ff.; Neue Bearbeitung der W.L, in: GA II / 5, 385–390; Nach dem Schluße der Vorlesungen, GA II / 9, 13; Thatsachen des Bewußtseyns (1810 / 11), in: GA II / 12, 55–61, 62 ff., 78 ff., 120 ff.; Einleitungsvorlesungen in die Wissenschaftslehre (1813), in: GA II / 17, 290 ff. 103  BzLdF, 93 f. 104  BzLdF, 93 f. 105  BzLdF, 111 f., vgl. BdM, SW II, 260, GA I / 6, 262.



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des Glaubens an die Realität der Außenwelt vertreten oder nur im besonderen Fall der anderen moralischen Wesen einen nicht „intellektualistischen“ Ansatz verfolgt habe. Dies alles gehört natürlich richtiggestellt. Das sonderbare und unerklärliche Versäumnis ist jedoch so offenkundig, ja himmelschreiend, daß es sich beinahe erübrigt, länger bei diesem Punkt zu verweilen. Das Hauptaugenmerk soll daher auf etwas anderem, nämlich auf den Unterschieden liegen, die bei aller Affinität zwischen der Fichteschen und der Diltheyschen Auffassung der Widerstandserfahrung (bzw. zwischen der Fichteschen und der Diltheyschen Auffassung des Strebens und Triebes, des Widerstandes und ihrer Schlüsselrolle für die Konstitution des Glaubens an die Realität der Außenwelt) doch bestehenbleiben. Denn „der Vorsichtige muß sich am meisten mit den Ähnlichkeiten in acht nehmen, ist es doch eine überaus schlüpfrige Art (olisthêrotaton gar to genos)“, wie es bei Platon im Sophistes warnend heißt106. Und bei Lichte besehen stellt sich in der Tat heraus, daß sich unter der besagten Ähnlichkeit zwischen Diltheys Auffassung der Widerstandserfahrung und Fichtes transzendentalphilosophischer Erörterung des Widerstandes als Bedingung und Grundbeschaffenheit des Nicht-Ich eine tiefgreifende Divergenz verbirgt107. Die vordergründige Ähnlichkeit soll also nicht darüber hinwegtäuschen, daß Fichtes Erörterungen einen ganz anderen Ansatz verfolgen, letztendlich zu einem ganz anderen Ergebnis führen und in der Tat sowohl die Grundvoraussetzungen der Analysen Diltheys als auch die Resultate seines Beitrages zur Lösung der Frage „vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht“ radikal in Frage stellen – und dies so sehr, daß sie gleichsam als Kontrastmittel dienen können, um die Schwächen der von Dilthey vorgeschlagenen Lösung des Problems hervortreten zu lassen. VII. Dilthey und Fichte – ein „notwendiges Oder“ Dabei muß man sich auf das Allerwesentlichste konzentrieren und dies auch nur in einem sehr knappen Umriß darstellen. Der erste Punkt, den man hier zu berücksichtigen hat, betrifft den Ansatz von Fichtes Erörterung des Widerstandes bzw. die Blickbahn, in der sich diese Erörterung bewegt. Auch in dieser Hinsicht kann hier nur ein Aspekt behandelt werden, der für Sophistes, 231a. ist es so, daß eine gründliche Erörterung der Unterschiede zwischen beiden Auffassungen der Widerstandserfahrung (und der damit zusammenhängenden Phänomene) auf eine eingehende Analyse der Affinität zwischen der Fichteschen und der Diltheyschen Lehre nicht verzichten kann. Hier muß man sich jedoch damit begnügen, einen knappen Einblick in die Auffassungsunterschiede zu geben, die Fichte und Dilthey trennen. 106  Platon:

107  Eigentlich

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das Verständnis des Unterschiedes zwischen Fichtes und Diltheys Begriff des Widerstandes (aber auch für das Verständnis des Unterschiedes zwischen der Fichteschen und der Diltheyschen Auffassung der Art und Weise, wie der Widerstand mit dem Glauben an die „Realität der Außenwelt“ zusammenhängt) von besonderer Bedeutung ist. Fichtes Behandlung des Problems zeichnet sich dadurch aus, daß sie die Frage nach dem Bewußtsein als solchem – d. h. die radikale Frage danach, was das Bewußtsein als solches ist, was es ausmacht, worin es besteht, was es zu erreichen vermag und was nicht – in den Mittelpunkt stellt108. Diese Frage ist sozusagen die Grundfrage, und von ihrer Beantwortung hängt letzten Endes die Klärung all dessen ab, was im Bewußtsein vorkommt, so daß letzteres bei der Beantwortung der besagten Frage nicht als bereits Geklärtes vorausgesetzt werden darf, sondern sozusagen mit in Frage gestellt ist. Hinzu kommt, daß Fichte diese Grundfrage so zu beantworten versucht, daß er die verschiedenen Elemente, welche das Bewußtsein prägen und aus denen es zusammengesetzt ist, in ihrem Zusammenhang zu begreifen sucht. Zusammenhang heißt aber in diesem Fall, daß diese verschiedenen Elemente ihrem Wesen nach dergestalt miteinander und mit dem Bewußtsein als solchem zusammenhängen, daß sie sich gegenseitig bedingen und die einen ohne die anderen überhaupt nicht stattfinden könnten109. Dies bedeutet unter anderem, daß beispielsweise das Streben und das Wollen unerläßliche Bedingungen des Bewußtseins als eines solchen darstellen, ohne die es überhaupt nicht bestehen könnte, und daß der Widerstand wiederum eine unerläßliche Bedingung des Strebens und Wollens bzw. des Bewußtseins vom Streben und Wollen110 und im gleichen Atemzug auch eine unerläßliche Bedingung der Selbsttätigkeit und des Handelns bzw. des Bewußtseins von Selbsttätigkeit und Handeln bildet111, ja nicht zuletzt auch eine unerläßliche 108  Vgl. z. B. Fichte: Grundlage des Naturrechts, in: GA I / 3, 330; Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, in: GA I / 4, 186; Vorlesung über Logik und Metaphysik (1797), in: GA IV / 1, 206 f.; SL, in: GA I / 5, 50; WLnm-K, Zweite Einl., §§ 1–8, in: GA IV / 3, 330–342; Darstellung der Wissenschaftslehre 1801, in: GA I / 6, 148 f., 188 f., 195 f.; Privatissimum für G. D., in: GA II / 6, 355, 358 f., 363 f.; Zur Ausarbeitung der Wissenschaftslehre, in: GA II / 6, 57; WL 1805, in: GA II / 9, 231; Thatsachen des Bewußtseyns (1810 / 11), in: GA II / 12, 29 ff., 35 ff., 41, 107 ff., 133 ff.; WL 1812, in: GA II / 13, 43 f., 134 ff.; Einleitungsvorlesungen in die Wissenschaftslehre (1813), in: GA II / 17, 245. 109  Vgl. z. B. WLnm-K, Zweite Einl., § 6, in: GA IV / 3, 337 f.; SL, in: GA I / 5, 23, 25 f., 70, 93 f. 110  Vgl. etwa Fichte: Grundlage der Wissenschaftslehre, in: GA I / 2, 404: „Im Begriffe des Strebens selbst aber liegt schon die Endlichkeit, denn dasjenige, dem nicht widerstrebt wird, ist kein Streben“. 111  Vgl. z. B. SL, in: GA I / 5, 25; WLnm-K, in: GA IV / 3, § 5, 369–373, § 6, 375 f.



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Bedingung des Bewußtseins selbst, ohne welche es gleichfalls kein Bewußtsein als solches geben könnte112. Von all dem ist bei Dilthey so gut wie keine Spur zu finden. Diltheys Beiträge sind erstens dadurch gekennzeichnet, daß das Bewußtsein eine unhinterfragte Grundvoraussetzung der ganzen Betrachtung bildet. Zwar geht Dilthey von dem „Satz der Phänomenalität“ aus und stellt die Frage, wie das Bewußtsein zur Annahme der Außenwelt kommt bzw. die Außenwelt erreicht. Von Anfang an wird aber das Bewußtsein seinen Überlegungen ohne weiteres zugrunde gelegt, ohne daß gefragt wird, was das Bewußtsein als solches ausmacht, worin es eigentlich besteht und was alles dazu erforderlich ist, damit es zustande kommt. Das Bewußtsein wird als das gemeinsame Medium vorausgesetzt, in dem sich alles (Triebsystem, Streben, Impulsintention, Hemmung, Widerstandserfahrung) abspielt113. Wie diese Phänomene mit dem Bewußtsein zusammenhängen, inwiefern sie nur im Bewußtsein bzw. als Bewußtseinsphänomene stattfinden können, ja ob sie eine Rolle bei der Konstitution des Bewußtseins selbst spielen, wird jedoch nicht untersucht, geschweige denn geklärt. Diltheys Beiträge beschreiben eine Art Entwicklungsprozeß des Bewußtseins, in dem es letzten Endes um seine Ausdehnung oder Erweiterung bzw. um eine Ausdehnung oder Erweiterung dessen geht, was als Gegenstand des Bewußtseins in Erscheinung tritt, als was es in Erscheinung tritt etc.114. Dabei wird stillschweigend vorausgesetzt, daß die verschiedenen Phasen oder Elemente des fraglichen Erweiterungsprozesses voneinander unabhängig sind und daß die einen Elemente oder Vorgänge zu den anderen gleichsam von außen hinzukommen – so daß es beispielsweise auch ein nicht von Trieben oder Willen durchdrungenes Bewußtsein oder ein nicht auf Widerstand stoßendes Streben oder Wollen geben könnte. Zwar betont Dilthey, daß das Selbstbewußtsein und das Bewußtsein der Außenwelt sich wechselseitig bedingen. Denn „ein Selbst ist ja für uns nur da, sofern es von einer Außenwelt unterschieden wird, und das Wort Außenwelt hat nur einen Sinn, sofern diese vom Selbst abgesondert wird“115. Das ändert jedoch nichts daran, daß Dilthey auch in diesem Fall von einer Bewußtseinsebene ausgeht, welche der von ihm beschriebenen, sowohl das Selbst als die Außenwelt konstituierenden „Furchung“ vorhergeht. Es handelt sich um eine Bewußtseinsebene, die sich dadurch auszeichnet, daß sie noch kein Selbst und keine Welt kennt – eine 112  Vgl.

z. B. SL, in: GA I / 5, 23 f. zwar so, daß dieses gemeinsame Medium zur „tierisch-menschlichen“ Lebenseinheit“ dazugehört und ihrer ganzen Entwicklung zugrunde liegt. 114  D. h., es geht um die Ausdehnung eines von Anfang an bestehenden Bewußtseins, so daß die fragliche Entwicklung sozusagen nur den Umfang des Bewußtseins bzw. den Umfang und die Komplexität dessen betrifft, was im Bewußtsein auftritt. 115  BzLdF, 124. 113  Und

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Bewußtseinsebene, deren Beschaffenheit und deren Unterschied gegenüber der Bewußtseinsebene des Selbst und der Außenwelt Dilthey allerdings nicht näher untersucht, sondern völlig unbestimmt läßt (und damit auch völlig unbestimmt läßt, wie das der Entstehung des Selbst und der Außenwelt vorhergehende Streben und Wollen – oder die entsprechende Intention, Hemmungserfahrung etc. – eigentlich geartet sind). In summa: Diltheys Behandlung des Problems setzt so etwas wie eine Reihe verschiedener, voneinander unabhängiger „Bausteine“ voraus, d. h., er folgt stillschweigend dem Modell des Aggregats. Diese Grundvoraussetzung seiner Beiträge wird aber von Fichte in Frage gestellt. Die ganze Konstellation der Herausforderung, die Fichte diesbezüglich für Dilthey bedeutet, verdichtet sich in einer Reihe von Fragen, die hier nur aufgeworfen werden können, nämlich a) ob die Widerstandserfahrung ein vorgängiges Bewußtsein der eigenen Tätigkeit (bzw. des Strebens) voraussetzt und eine Transformation dieses bereits vor ihr bestehenden Bewußtseins darstellt oder vielmehr dem Bewußtsein der eigenen Tätigkeit (bzw. des Strebens) als unerläßliche Bedingung zugrunde liegt, b) ob der Widerstand nur ein weiteres Merkmal der vorgestellten Gegenstände oder vielmehr die Grundbeschaffenheit oder die Urform des Gegenstandseins als solchen bildet, und damit einhergehend c) welche Rolle dem Widerstand zukommt und ob er nur einen besonderen Bewußtseinsinhalt bzw. ein weiteres Moment der Entwicklung des Bewußtseins oder vielmehr einen Wesensbestandteil bzw. eine unerläßliche Bedingung des Bewußtseins überhaupt und all seiner anderen Elemente bildet. Ein zweiter wichtiger Punkt betrifft die Beschaffenheit des Widerstandes als solchen bzw. die Frage, wie dieser zu verstehen ist: Wie ist so etwas wie Widerstand – oder genauer: Wie ist so etwas wie Widerstandsbewußtsein – möglich? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit es überhaupt etwas Derartiges gibt? Worin besteht das Widerstandsbewußtsein, woraus setzt es sich zusammen? Um diese Fragen angemessen zu erörtern, wäre es notwendig, a) einen Überblick über die verschiedenen Stellen Fichtes zu geben, die das Problem des Widerstandes behandeln, b) die aus diesen verschiedenen Stellen hervorgehende Lehre herauszuarbeiten, sie dann c) mit den oben dargestellten Thesen Diltheys eingehend zu vergleichen, um schließlich d) die daraus resultierenden Probleme zu besprechen. Aber das würde den Rahmen dieses Beitrags bei weitem sprengen. So muß man sich darauf beschränken, nur einen Aspekt hervorzuheben. Auf den ersten Blick stimmen Fichte und Dilthey darin überein, daß Trieb, Streben und Wollen eine ausschlaggebende Rolle als unerläßliche Bedingungen der Möglichkeit des Widerstandes spielen. Fragt man aber, was Dilthey unter Bestimmungen wie Trieb, Streben und Wollen, die für die



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Konstitution des Widerstandes wesentlich sind, versteht, so stellt sich heraus, daß er eigentlich die elementarsten Formen im Auge hat, die auch für die Tiere oder etwa für den menschlichen Embryo charakteristisch sein sollen. Zwar spricht er natürlich auch von den höheren Formen des Strebens und Wollens, aber so, daß diese im Grunde für die vor ihrer Entstehung bereits bestehende Widerstandserfahrung (oder wenigstens für den alles tragenden Kern dieser Erfahrung) keineswegs konstitutiv und unentbehrlich sind. Bei Fichte lautet die Antwort indes ganz anders. Denn Fichte versteht Streben und Wollen, welche die Bedingung der Möglichkeit des Widerstandes bilden, so, daß sie eher mit dem Ich, mit der freien Tätigkeit des Ich zu tun haben und also dem entsprechen, was er in Anlehnung an den Sprachgebrauch Kants gelegentlich das obere Begehrungsvermögen nennt116. D. h.: Für Fichte ist gerade das als Wesensbedingung des Widerstandes entscheidend, was für Dilthey eine komplexere und abgeleitete Form des Strebens und Wollens, sozusagen eine späte Entwicklungsstufe des Lebens und der Widerstandserfahrung bildet. Zwar verhält es sich so, daß das Triebsystem im Sinne des „niederen Begehrungsvermögens“ auch bei Fichte eine wichtige, ja ausschlaggebende Rolle als Wesensbedingung des Widerstandes spielt. Seine entscheidende Rolle spielt dieses „niedere Begehrungsver­ mögen“117 aber nicht als etwas an und für sich Bestehendes, Isoliertes, der Entstehung des „oberen Begehrungsvermögens“ Vorhergehendes (als etwas also, was mit dem „oberen Begehrungsvermögen“, mit dem Ich etc. noch nichts zu tun hat), sondern ganz im Gegenteil nur im Zusammenhang mit dem Ich und dem „oberen Begehrungsvermögen“118. M. a. W.: Für Fichte kann das „niedere Begehrungsvermögen“ nur als etwas im Wesen des Ich und des „höheren Begehrungsvermögens“ Impliziertes, d. h. als integrierender Bestandteil des Komplexen (dessen also, was für Dilthey das Spätere, Abgeleitete bildet), seine Rolle spielen, und zwar dergestalt, daß es überhaupt nur als Moment des Komplexen vorkommt und mit ihm unauflöslich verbunden ist. Es zeigt sich, daß der hier in Frage stehende Auffassungsunterschied zwischen Fichte und Dilthey groß und folgenreich ist und daß es sich um keine reine Ansichtssache handelt. Es ist vielmehr eine Frage der philosophischen Strenge. Denn Dilthey scheint den Standpunkt zu vergessen, von dem aus die völlig selbständigen elementaren Formen des Begehrens oder Wollens betrachtet werden. D. h., er verfährt, als ob ein völlig neutraler Standpunkt einzunehmen wäre, von dem aus vermöge dessen reiner „Durchsichtigkeit“ es möglich sein soll, vom Komplexeren abzusehen und 116  SL,

in: GA I / 5, 126. in: GA I / 5, 122, 136. 118  Vgl. etwa SL, II. Hauptst., in: GA I / 5, 73–146. 117  SL,

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einen Einblick in die Beschaffenheit des Einfacheren zu gewinnen. Anders gesagt: Er setzt voraus, daß wir ohne weiteres in der Lage seien, die Epigenesis des Komplexeren, welche dem Menschen wesenseigen ist, gleichsam rückgängig zu machen und durch eine Art Zergliederung und Abbau des Komplexeren das Elementare (in diesem Fall das „elementare Seelenleben“), i. e. das, was der fraglichen Epigenesis (bzw. der fraglichen Reihe von Epigenesen) vorhergeht, als etwas problemlos Zugängliches zu begreifen und nachzuvollziehen119. Oder vielmehr: genauso wie die Beiträge ständig mit einem ungeklärten, durchschnittlichen, undifferenzierten und sozusagen „eingeebneten“ Bewußtseinsbegriff operieren, so operieren sie auch mit einem ungeklärten, undifferenzierten und sozusagen „eingeebneten“ Begriff von Streben und Wollen, der sich dadurch auszeichnet, daß er sowohl einen gemeinsamen Nenner als auch Unterschiede zwischen dem „niederen“ und dem „oberen Begehrungsvermögen“ voraussetzt, aber ohne genau zu bestimmen, worin dieser gemeinsame Nenner (der Faden der Kontinuität) und worin die Unterschiede eigentlich bestehen – ja, ohne die Fragen zu stellen, ob es überhaupt einen gemeinsamen Nenner gibt, ob die völlig selbständigen elementaren Formen des Strebens nicht vielmehr ­etwas  ganz Fremdes, für uns nicht mehr Zugängliches darstellen und ob der fragliche umfassende, undifferenzierte Begriff von Streben und Wollen (und d. h. zugleich der umfassende, undifferenzierte Begriff von Hemmung etc.) nicht schlichtweg äquivok ist.120 Daß diese Fragen nicht einmal gestellt, geschweige denn geklärt werden, bedeutet, daß der vermeintliche Einblick in das elementare „Seelenleben“ Gefahr läuft, letzten Endes nichts anderes als eine Art sich verkennender Hineinprojektion unseres eigenen Strebens und Wollens (bzw. unseres „höheren Seelenlebens“) in das elementare „Seelenleben“ zu bilden, so daß Diltheys Begriff vom elementaren Streben und Wollen zwar actu signato den Rückgang auf das Elementare bezeichnet und einen solchen Rückgang für vollzogen hält, actu exercito aber nicht von der Stelle kommt, im Grunde genommen also nichts anderes als das uns eigentümliche Streben und Wollen vorstellt, d. h. einer Art protestatio facto contraria entspricht, und somit das, was er zu begreifen beansprucht, vollkommen verfehlt. Dieses Problem steht aber im Mittelpunkt der Fragestellung Fichtes. Fichte weist nämlich darauf hin, daß die fraglichen „verabsolutierten“ elemen119  Als ob man es mit dem Elementaren selbst – mit den elementaren Formen des Begehrens oder Wollens selbst – und nicht mit etwas Vorgestelltem (und zwar mit etwas von einem bestimmten Standpunkt aus Vorgestelltem) zu tun hätte. 120  Zu diesem Problem vgl. Mário Jorge de Carvalho: „Wahrnehmung und Selbstreferenz – der selbstreferentielle Charakter der Wahrnehmung nach Hierokles“, in: Edmundo Balsemão Pires / Burkhard Nonnenmacher / Stefan Büttner von Stülpagel (Hrsg.): Relations of the Self, Coimbra 2010, 109–139, insbesondere 137 f.



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taren Formen von Streben und Wollen schließlich auch etwas von uns Vorgestelltes, im Bewußtsein (nämlich in unserem Bewußtsein) Konstituiertes sind (oder, wie Dilthey sagt, „Tatsachen des Bewußtseins“ – sind, nach dem oben angeführten „Satz der Phänomenalität“, dem Dilthey in dieser Hinsicht eigentlich untreu wird!). Ja, die fraglichen selbständigen, „verabsolutierten“ elementaren Formen von Streben und Wollen sind dergestalt etwas von uns Vorgestelltes (Tatsachen des Bewußtseins im Sinne Diltheys), daß letzten Endes auch sie mit der Grundstruktur des Widerstandes zusammenhängen – wohlgemerkt, nicht primär mit dem Widerstand, der von dem vorgestellten Streben und Wollen erfahren werden soll, sondern vielmehr mit jenem, der unser Bewußtsein prägt, welches sich das elementare Streben und Wollen vorstellt. Und es zeigt sich, daß der hier in Frage stehende Widerstand dadurch gekennzeichnet ist, daß er sozusagen zum ‚vollen‘, ‚komplexen‘ Streben und Wollen, zu unserem Streben und Wollen: zu dem Ich und zu seiner Tätigkeit – und nicht zum elementaren Streben und Wollen – relativ ist. Was dies bedeutet, ist klar: Es ist fraglich, ob wir überhaupt in der Lage sind, über den so konstituierten Widerstand (nämlich den, der dem „vollen“ Streben und Wollen bzw. dem Ich und seiner Tätigkeit entspricht) hinauszugehen bzw. hinter den so konstituierten Widerstand zurückzugehen. Denn all das, womit wir in Kontakt kommen, hat mit dem „vollen“ Streben und Wollen bzw. mit dem Ich und seiner Tätigkeit und mit dem Widerstand in dem Sinne zu tun, der dem Ich und seiner Tätigkeit bzw. dem „vollen“, ichbezogenen Komplex des „oberen“ und „niederen“ Begehrungsvermögens entspricht. Alles andere (all das, was jenseits dieser Sphäre liegt) ist entweder ein Unding oder doch etwas, wovon man im Grunde genommen nur eine apophatische Vorstellung (d. h. so gut wie überhaupt keine Ahnung) hat – jedenfalls etwas ganz anderes als das, was irrtümlicherweise für eine adäquate Erfassung des Elementaren gehalten und mit ihm verwechselt wird. Da Dilthey ein Spektrum verschiedener, einfacherer und komplexerer Abarten der Widerstandserfahrung konzipiert und die oben genannten Fragen nicht stellt, ist sein Widerstandsbegriff äquivok. Dabei ist allerdings hinzuzufügen, daß die hier in Frage stehende Äquivocität sich dadurch auszeichnet, daß die Reduktion dieser Äquivocität eigentlich nur eine einzige Modalität von Widerstand zurückläßt, denn alle anderen bleiben unzugänglich und besitzen den von Dilthey verkannten Charakter einer Unbekannten. Der dritte in dieser flüchtigen Skizze zu erörternde Punkt betrifft den nervus probandi der von Dilthey aufgestellten Grundthese. Dilthey zufolge ist die Widerstandserfahrung so geartet, daß sie sozusagen die Überwindung des „Phänomenalismus“ ermöglicht und mit der Kraft in Berührung kommt, deren „Außenseite“ die mit der Willensintention im Widerspruch stehenden

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Empfindungen darstellen. In der Widerstandserfahrung geht das Bewußtsein gleichsam über sich hinaus, und zwar dergestalt, daß es mit der absoluten Tatsächlichkeit von etwas ihm Entgegengesetztem, von ihm Unabhängigem (d. h. mit der absoluten Tatsächlichkeit der Außenwelt im wahrsten Sinne des Wortes) direkt konfrontiert wird. Läßt man den „intellektualistischen“ Ansatz fallen, betrachtet man die Widerstandserfahrung und ihre ausschlaggebende Rolle, so wird man in die Lage versetzt, den Kreis der Immanenz zu durchbrechen. So und nur so – das ist die von Dilthey vertretene Lehre – kann die Frage nach dem Recht des Glaubens an die Realität der Außenwelt gelöst werden. Aber hier spielt Fichte wiederum eine etwas ernüchternde Rolle. Denn er verfolgt keinen „intellektualistischen“ Ansatz, sondern geht vielmehr von Trieb und Wollen bzw. von der strebenden Tätigkeit aus und erkennt genauso wie Dilthey, daß der Widerstand die Basis darstellt, auf der der Glaube an die Realität der Außenwelt beruht. Diese Feststellung hat für ihn jedoch eine ganz andere Bedeutung: „Daß solcher Widerstand erscheint, ist lediglich Resultat der Gesetze des Bewußtseins, und der Widerstand läßt sich daher füglich als ein Produkt dieser Gesetze betrachten.“121 So daß es „von diesem Standpunkt aus als völlig widersinnig erscheint, ein Nicht-Ich als Ding an sich mit Abstraktion von aller Vernunft anzunehmen“122. Diltheys These, daß der „Phänomenalismus“ sich aus einer „intellektualistischen“ Aus- und Umdeutung des „Satzes der Phänomenalität“ ergebe, wird also allem Anschein nach ihrer Grundlage beraubt. Denn obwohl die von Fichte vertretene Lehre mit „Intellektualismus“ nicht das geringste zu tun hat, 121  SL,

in: GA I / 5, 25. in: GA I / 5, 101. Vgl. etwa WLnm-K, § 5, in: GA IV / 3, 372 f.: „Es wird sich finden, daß jene Beschränktheit des Handelns zu einem NichtIch führt, zwar nicht auf ein an sich vorhandenes, sondern auf etwas, das durch die Intelligenz nothwendig gesetzt werden muß, um jene Beschränktheit zu erklären. Es dürfte sich auch im einzelnen ergeben, daß alle möglich Würklichkeit, die es geben kann[,] aus einem würklichen entstehe. Der Urgrund alles würklichen ist demnach die Wechselwürkung, oder Vereinigung des Ich und NichtIch[.] Das NichIch ist sonach nichts würkliches, wenn es sich nicht auf ein Handeln des Ich bezieht, denn nur durch diese Bedingung und Mittel wird es Object des Bewustseins; dadurch wird nun das Ding an sich auf immer aufgehoben. So ists auch mit dem Ich; das Ich kommt im Bewustsein nur in Beziehung auf ein NichIch vor. Das ich soll sich sezen, es kann dieß nur im Handeln; Handeln ist aber eine Beziehung auf ein NichIch. Das Ich ist nur in sofern etwas, als es mit der Welt in Wechselwürkung steht, in dieser Verbindung kommen beide vor. Hinterher[,] nachdem man sie gefunden hat; kann man sie trennen, aber jedes, wenn es abgesondert betrachtet wird, erhält seinen ursprünglichen Charakter, jedes wird nur in Beziehung auf das andere vorgestellt. […] Aber das NichtIch kann nicht gedacht werden, auser in der Vernunft. Das ich ist das erste, das NichtIch das zweite, drum kann man das Ich abgesondert denken[,] aber nicht das NichtIch.“ 122  SL,



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entspricht sie nichtsdestoweniger ganz eindeutig dem, was Dilthey unter „Phänomenalismus“ versteht und als solchen brandmarkt. Das ist aber bei weitem nicht das Wichtigste. Das Wichtigste liegt vielmehr darin, daß die von Fichte vertretene Auffassung sich auf die Struktur des Bewußtseins und der Widerstandserfahrung berufen kann. Denn der Widerstand bildet seinem Wesen nach ein Korrelat des Widerstandsbewußtseins, d. h. also eine Tatsache des Bewußtseins im Sinne Diltheys. Ja, selbst die Kraft, als deren „Außenseite“ die Widerstandserfahrung perzipiert wird, ist nichts anderes als ein Vorgestelltes und insofern eine bloße Tatsache des Bewußtseins. Der Widerstand als Tatsache des Bewußtseins, als Korrelat eines Widerstandsbewußtseins, ist aber etwas grundsätzlich anderes als ein an sich bestehendes, von dem Bewußtsein ganz unabhängiges Seiendes. Es gilt, dies etwas genauer ins Auge zu fassen: 1. Die Tatsächlichkeit des erfahrenen Widerstandes ist eine Tatsächlichkeit des Bewußtseins und hat mit der Tatsächlichkeit einer außer des Bewußtseins liegenden Kraft nicht das geringste zu tun. Die eine Tatsächlichkeit läßt sich zwar mit der anderen verwechseln, dies heißt aber noch lange nicht, daß sie identisch sind oder daß die eine die notwendige Bedingung der anderen darstellt. 2. Die von Dilthey beschriebene „Furchung“ findet im Bereich des Bewußtseins statt, und zwar dergestalt, daß sie dem Streben bzw. dem Willen (und nicht unbedingt dem Bewußtsein überhaupt) etwas ihm Entgegengesetztes aufdrängt. Ja, selbst zugegeben, daß die fragliche „Furchung“ so geartet ist, daß sie vom Bewußtsein etwas dem Bewußtsein Entgegengesetztes absondert, selbst dann bleibt die Tatsache bestehen, daß dieses dem Bewußtsein Entgegengesetzte doch ein Korrelat des Bewußtseins ist – d. h. also nicht unbedingt etwas in dem Sinne dem Bewußtsein Entgegengesetztes, daß es außerhalb des Bewußtseins liegt, sondern vielmehr nur in dem Sinne, daß es als etwas dem Bewußtsein Entgegen­ gesetztes vorgestellt, erfahren oder perzipiert wird. 3. Der Widerstand ist seinem Wesen nach durch und durch etwas auf Trieb, Streben und Wollen Bezogenes, durch Trieb, Streben und Wollen Bedingtes, an Trieb, Streben und Wollen Gebundenes. Seine Beschaffenheit ist durch und durch vom Bezug zum Trieb, Streben und Wollen geprägt (d. h. also nichts weniger als die Beschaffenheit eines an sich Seienden). Entsprechendes gilt aber auch für die Kraft, deren dem Willen entgegenwirkende Gegenwart in der Widerstandserfahrung festgestellt wird. 4. Die Widerstandserfahrung ist der Frage gegenüber vollkommen neutral, ob die das Streben und Wollen bzw. das Bewußtsein beschränkende (oder genauer: ob die als das Streben und Wollen bzw. das Bewußtsein be-

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schränkend empfundene) Kraft „von außen“ kommt oder, wie Fichte will, nur einem Wesensgesetz des Bewußtseins selbst entstammt (so daß das fragliche „Außen“ nichts weiter als ein vom Bewußtsein als Bewußtseinskorrelat gebildetes „Außen“ ist). Was dies wiederum bedeutet, dürfte auch klar sein. Es bedeutet nämlich zunächst einmal, daß es offen bleibt, ob es etwas außer dem Bewußtsein Liegendes gibt oder nicht. Die Widerstandserfahrung ist nämlich so geartet, daß sie sich sowohl mit der einen als auch mit der anderen Möglichkeit vereinbaren läßt. Die Frage ist also von dieser Warte aus einfach nicht zu entscheiden. Und der Versuch Diltheys ist letzten Endes zum Scheitern verurteilt. Es kommt aber noch ein zweiter, ebenso wichtiger Aspekt hinzu, der auch mit der Art und Weise zu tun hat, wie Fichtes Erörterung des Widerstandes gleichsam den Finger in die Wunde legt und die Schwächen des Diltheyschen Versuchs hervortreten läßt. Denn aus dem soeben Ausgeführten geht auch folgendes hervor: Selbst zugegeben, daß es eine äußere, an sich seiende Wirklichkeit bzw. eine Außenwelt in diesem Sinne gibt und daß die Widerstandserfahrung auf diese äußere Wirklichkeit zurückzuführen ist, selbst dann bleibt eine entscheidende Schwierigkeit bestehen, der Diltheys Versuch in keiner Weise Rechnung trägt, die aber von Fichte besonders betont wird. Die Frage ist, was unter der besagten an sich seienden Kraft zu verstehen, wie sie geartet und bestimmt ist und wie das Bewußtsein Zugang zu ihr hat. Man darf ja nicht vergessen, daß der Begriff einer solchen Wirklichkeit auf etwas hindeutet, was sich gerade dadurch auszeichnet, daß es vom Widerstand, ja von jedem Bewußtseinskorrelat wesensmäßig verschieden ist. Zwar neigen wir dazu, einer Illusion (einer trügerischen Evidenz), dies erfassen und problemlos verstehen zu können, zu erliegen. Das soll uns aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß ein solches Ansich entweder ein Unding (eine notio deceptrix, eine repraesentatio inanis im Sinne Leibniz’123 bzw. ein „Nichtgedanke“, wie Fichte sagt124) oder doch etwas ist, wovon man im 123  Vgl. etwa Gottfried Wilhelm Leibniz: Meditationes de cognitione, veritate et ideis, in: ders.: Die philosophischen Schriften, hrsg. von Carl Immanuel Gerhardt, Bd. IV, Berlin 1880 (ND Hildesheim 1978), 422–426, besonders 424–426; an Conring, in: ders.: Die philosophischen Schriften, Bd. I, Berlin 1880 (ND Hildesheim 1978), 201; Colloquium cum Dno. Eccardo, ebd., 213; an Eckard, ebd., 268; an Malebranche, ebd., 338 f.; an Foucher, ebd., 385; an Arnauld, ebd., Bd. II, 62 f.; an Th. Burnett, ebd., Bd. III, 257, Raisons que M. Jacquelot …, ebd., 443, ohne Überschrift, ebd., Bd. IV, 275, 293 f., Animadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum, ebd., Bd. IV, 360, Discours de metaphysique, ebd., 449, Nouveaux essais, Bd. V, 244 ff. Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, hrsg. von der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften / Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Bd. VI, 4, Berlin 1999, Nr. 132 Divisio terminorum ac enumeratio attributorum, 558, Nr. 134, De ente, existente, aliquo, nihilo et similibus, 570, Nr. 280, Absurdum, falsum, difficile Cartesii, 1467.



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Grunde genommen nur eine apophatische Vorstellung (d. h. so gut wie überhaupt keine Ahnung hat) – jedenfalls etwas ganz anderes als das, was irrtümlicherweise für eine adäquate Erfassung des in Frage Stehenden gehalten und mit diesem verwechselt wird. 124

Dies wirft aber ein Schlaglicht auf Diltheys Beiträge und ihre tönernen Füße. Dilthey will durch seinen neuen Ansatz den Glauben an die Realität der Außenwelt und sein Recht begründen. Es stellt sich aber heraus, daß der von ihm eingeschlagene Weg weder die Daß-Frage (ob es so etwas wie eine Außenwelt im üblichen Sinne gibt) noch die Was-Frage (worin eine derartige Außenwelt besteht, wie sie geartet ist) klärt, sondern vielmehr diese Fragen aus den Augen verliert, und zwar dergestalt, daß er im Grunde genommen die Realität der Außenwelt einfach voraussetzt. Bibliographie Bouterwek, Friedrich: Idee einer Apodiktik. Ein Beytrag zur menschlichen Selbstverständigung und zur Entscheidung des Streits über Metaphysik, kritische Philosophie und Skeptizismus, Halle 1799. Cabanis, Pierre Jean Georges: Œuvres complètes de Cabanis, Paris 1824. De Carvalho, Mário Jorge de: „Wahrnehmung und Selbstreferenz – der selbstreferentielle Charakter der Wahrnehmung nach Hierokles“, in: Balsemão Pires, Edmundo / Nonnenmacher, Burkhard / Büttner-von Stülpagel, Stefan (Hrsg.), Rela­ tions of the Self, Coimbra 2010. Destutt de Tracy, Antoine Louis Claude: Éléments d’idéologie. 1re. Partie: Idéologie proprement dite, Paris 1817, Ndr.: Paris 1970. Dilthey, Wilhelm: Gesammelte Schriften, Bd. V, Die Geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens, 1. Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Leipzig / Berlin 1924. – Gesammelte Schriften, Bd. 20, Logik und System der philosophischen Wissenschaften: Vorlesungen zur erkenntnistheoretischen Logik und Methodologie (1864–1903), hrsg. v. H.-U. Lessing, Göttingen 1990. Fichte, Johann Gottlieb: Sämtliche / nachgelassene Werke, hrsg. von I. H. Fichte, Bonn / Berlin, 1834, 1845, Ndr.: Berlin 1971 (SW). – Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob, Stuttgart / Bad Cannstatt 1962 ff. (GA). – Darstellung der Wissenschaftslehre 1801, SW II, GA I / 6. – Die Anweisung zum seeligen Leben, SW V, GA I / 9. – Die Thatsachen des Bewußtseins 1810–11, SW II, GA II / 12. 124  SL, in: GA I / 5, 22. Vgl. Recension von Bardili’s Grundriss der ersten Logik, in: GA I / 6, 448.

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– Die Wissenschaftslehre 1812, SW X, GA II / 13. – Einleitungsvorlesungen in die Wissenschaftslehre (1813), SW IX. – Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, SW I, GA I / 4. – Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW I, GA I / 2. – Grundlage des Naturrechts 1796, SW III, GA I / 3. – Grundriss des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre, SW I, GA I / 3. – Nach dem Schluße der Vorlesungen, GA II / 9. – Neue Bearbeitung der W.L, GA II / 5. – Privatissimum für G. D., GA II / 6. – Recension von Bardili’s Grundriss der ersten Logik, SW II, GA I / 6. – System der Sittenlehre (1798), SW IV, GA I / 5. – Vorlesung über die Moral SS 1796, GA IV / 1. – Vorlesung über Logik und Metaphysik SS 1797, GA IV / 1. – Vorlesungen über Platners Aphorismen, GA II / 4. – Wissenschaftslehre 1805, GA II / 9. – Wissenschaftslehre nova methodo (Krause), GA IV / 2. – WL-1805, GA II / 9. – Zur Ausarbeitung der Wissenschaftslehre, GA II / 6. – Ultima Inquirenda, J. G. Fichtes letzte Bearbeitungen der Wissenschaftslehre Ende 1813 / Anfang 1814, Sutttgart / Bad Cannstatt 2001. Frischeisen-Köhler, Max: Wissenschaft und Wirklichkeit, Leipzig / Berlin 1912. Hartmann, Nicolai: Zum Problem der Realitätsgegebenheit, Berlin 1931. – Zur Grundlegung der Ontologie, Berlin 1935. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 1997, 14., durchges. Aufl. – Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt a. M. 1973, 4., erw. Aufl. – Gesamtausgabe, Frankfurt a. M. 1975 ff.: – Bd. 59: Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung, hrsg. v. C. Strube, Frankfurt a. M. 1993; – Bd. 19: Platon: Sophistes, hrsg. v. I. Schüßler, Frankfurt a. M. 1992; – Bd. 20: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, hrsg. v. P. Jaeger, Frankfurt a. M. 1979; – Bd. 26: Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, hrsg. v. K. Held, Frankfurt a. M. 1978; – Bd. 28: Der Deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und die philosophische Problemlage der Gegenwart, hrsg. v. C. Strube, Frankfurt a. M. 1997. Jaensch, Erich Rudolf: Über die Wahrnehmung des Raumes. Eine experimentellpsychologische Untersuchung nebst Anwendung auf Ästhetik und Erkenntnislehre, Leipzig 1911.



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Leibniz, Gottfried Wilhelm: Die philosophischen Schriften, hrsg. v. C. J. Gerhardt, Bd. IV, Berlin 1880, Ndr. Hildesheim 1978. – Sämtliche Schriften und Briefe, hrsg. v. d. Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften / Akademie der Wiss. in Göttingen. VI, 4. Aufl., Berlin 1999. Maine de Biran, François-Pierre-Gonthier: De l’existence. Textes inédits, hrsg. v. H. Gouhier, Paris 1966. – Œuvres de Maine de Biran: – Bd. III: Mémoire sur la décomposition de la pensée: précédé du Mémoire sur les rapports de l’idéologie et des mathématiques, hrsg. v. F. Azouvi, Paris 1988; – Bd. IV: De l’aperception immédiate (mémoire de Berlin 1807), hrsg. I. Radrizzani, Paris 1995; – Bd. VII / 1–2: Essai sur les fondements de la psychologie, hrsg. v. F. C. T. Moore, Paris 2001; – Bd. VIII: Rapports des sciences naturelles avec la psychologie et autres Écrits sur la psychologie, hrsg. v. B. Baertschi, Paris 1986; – Bd. IX: Nouvelles considérations sur les rapports du physique et du moral de l’homme suivies d’Écrits sur la physiologie, hrsg. v. B. Baertschi, Paris 1990; – Bd. XI / 1: Commentaria et marginalia: Dix-septième siècle, hrsg. v. C. Frémont, Paris 1990; – Bd IX / 3: Commentaria et marginalia: Dix-neuvième siècle, hrsg. v J. Ganault, Paris 1990. Mann, Thomas: Briefe, hrsg. v. Erika Mann, Frankfurt a. M. 1961. Rickert, Heinrich: Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die Transzendentalphilosophie, Tübingen 1926, 6., verb. Aufl. Scheler, Max: Gesammelte Werke: – Bd. 2: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Bern 1954; – Bd. 5: Vom Ewigen im Menschen, hrsg. v. M. Scheler, Bern 1954; – Bd. 8: Die Wissensformen und die Gesellschaft, Bern 1980, 3., durchges. Aufl.; – Bd. 9: Späte Schriften, hrsg. v. M. Frings, Bern / München 1976; – Bd. 10: Schriften aus dem Nachlass I. Zur Ethik und Erkenntnislehre, Bern 1957, 2., durchges. u. erw. Aufl.; – Bd. 11: Schriften aus dem Nachlass II Erkenntnislehre und Metaphysik, hrsg. v. M. Frings, Bern / München 1979.

Natur als Korrelat der transzendentalen Intersubjektivität bei Edmund Husserl Peter Hess In Edmund Husserls C-Manuskripten, die zwischen 1929 und 1934 entstanden sind, wird „[…] die ichliche Zeitkonstitution im Lebensmedium der konkreten lebendigen Gegenwart untersucht“1. Husserl strebt dabei die Aufklärung aller Konstitutionsstufen an, die aus der lebendig fließenden subjektiven Gegenwart zur objektiven realen Welt führen. Konstitution ist hier der Oberbegriff für alle subjektiven, assoziierenden Leistungen, die Objektivität und Sein „produzieren“. In den C-Manuskripten schreibt Husserl: „Konstitution in allen ihren Gestalten ist Assoziation in einem stetig sich erweiternden Sinne“2. Der folgende Text faßt die Analysen der C-Manuskripte zusammen, die das subjektive Leisten beschreiben, das die reale Welt konstituiert. Herausgehoben ist dabei die Funktion des Leibes für den „Aufbau“ der weltlichen Natur. Natur wird in diesem Zusammenhang als der Bereich des umweltlichen Seienden definiert, der nicht aus subjektivem Handeln entstanden ist. Naturobjekte sind „von selbst […], wie sie sind“3, sie sind „ungeistig“4. In allen Konstitutionsschichten ist Natur das „Ichfremde“ und als solches durch Leistungen der jeweils vorausgehenden Schicht konstituiert. 1  Edmund Husserl: Späte Texte über Zeitkonstitution (1929–1934). Die C-Manuskripte, hrsg. von Dieter Lohmar, in: Husserliana Materialien VIII, Dordrecht 2006. Im folgenden abgekürzt mit Husserl: CMan, mit Angabe der Seitenzahl, hier: CMan, XVI. 2  Husserl: CMan, 345. 3  Husserl: CMan, 397. 4  „[…] denn wesensmäßig gehört zur konstituierten Welt ein Bereich von Seiendem, der mindestens nicht aus handelnder Leistung entsprungen sein muss, oder der umweltlich, also in der wirklich durchgeführten Erfahrung, von niemandem, als aus einer psychischen Geistigkeit entsprungen, erfahren ist. Wir alle reden von Naturobjekten, die von selbst sind, wie sie sind, ungeistig“ (Husserl: CMan, 397). In einer Randbemerkung schreibt Husserl: „Die Welt ist konstituiert für einen jeden und jede Menschengemeinschaft als Welt in umweltlicher Endlichkeit und diese Umwelt als praktisches Feld möglicher praktischer Bestrebungen (Feld der Selbsterhaltung); darin gibt es stets und notwendig einen Horizont bloßer Natur, bloß von selbst seiender“ (Husserl: CMan, 397).

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Entsprechend der Konstitutionsschichtung, von der ursprünglichen absoluten lebendigen Gegenwart zur gemeinsamen realen Welt, ist der vorliegende Text gegliedert. Einleitend folgt eine Eingrenzung und Beschreibung von Husserls Philosophie, der transzendentalen Phänomenologie. I. Transzendentale Intersubjektivität als Arbeitsfeld der Philosophie Die transzendentale Subjektivität, die für Husserl stets eine Intersubjektivität ist, wird durch die transzendentale Reduktion offengelegt. Die Reduktion ist eine Reflexion, in der sich der Blick des analysierenden Philosophen von der naiv hingenommenen Welt in ihrem „Für-sich-Sein“ hinwendet auf das subjektive Leisten, das allem Weltlichen korreliert5. Dem entspricht Husserls Sprachgebrauch: Husserl spricht in seinen Analysen häufig von „meinem“ Bewußtsein, „meinem“ Ich, „meinen“ Affektionen und Apperzeptionen. „Meine“ Subjektivität, das Bewußtsein des Phänomenologie betreibenden Philosophen, ist das Arbeitsfeld der phänomenologischen Analysen. Nur das Bewußtsein als intentionales Bewußthaben von jeglichem für uns Seienden ist für Husserl als apodiktische Gegebenheit eine hinreichende Grundlage echter Wissenschaftlichkeit. Daß Husserl trotz dieser in einem einschränkenden Sinne subjektiven Arbeitsgrundlage die Universalisierbarkeit seiner Erkenntnisse behauptet, gibt uns einen deutlichen Hinweis auf sein Verständnis der transzendentalen Subjektivität. Die Subjektivität, die durch die transzendentale Reduktion bzw. Epoché zugänglich wird, ist eine transzendentale Intersubjektivität. Meine Monade impliziert transzendental die Gemeinschaft der Monaden. Eo ipso sind die Erkenntnisse, die ich auf dem Boden „meiner“ transzendentalen Subjektivität gewinne, universalisierbar, wenn ich mich methodisch von allen Naivitäten und Vorurteilen der natürlichen Einstellung freigemacht habe. Dann, bzw. nach der Durchführung der transzendentalen Reduktion, zeigt sich, daß die transzendentale Subjektivität nicht nur Korrelat der Welt im Sinne eines optionalen „Anhängsels“ ist, das das „Für-sich-Sein“ der weltlichen Realitäten nicht weiter berühren würde6. Welt erweist sich im Ge5  „Das Fungieren und fungierende Ich ist aber, während es das ursprünglich lebendige ist, verborgen, unthematisch. Es wird erst zugänglich durch eine ganz eigenartige Reflexion, durch die Urmethode aller philosophischen Methoden, die transzendentale Reduktion“ (Husserl: CMan, 16). 6  „Aber alles Seiende ist konstituiert vom Ich her, von der transzendentalen Subjektivität, von dem Ich-All. Seinskonstitution als ichliche Leistung ist aber zurückbezogen und ständig zurückbezogen auf das Feld der Immanenz. Die objektive Zeitlichkeit, in der alles Reale verzeitlicht ist und auf die alles Ideale zurückbezogen ist, oder noch besser, die objektive Natur, in der alle Ich als Personen (als persona-



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gensatz dazu als Sinnstiftung der transzendentalen Subjektivität, die der Welt immer schon vorausgeht. „Die immerzu strömend vonstatten gehende Welterfahrung des transzendentalen Ich ist eine kontinuierlich vollzogene Seinsgeltung des Sinnes […], in dem Welt jeweils mir gilt als die dieser Erfahrung. Die jeweilige Sondererfahrung dieser oder jener Objekte ist Erfahrung im Rahmen der Totalerfahrung, sie sind erfahrene im Welthorizont. Diese unter dem Titel […] transzendentale Welterfahrung […] vollzogene Leistung impliziert in Verborgenheit eine Stufenfolge von Leistungen, in denen die Totalleistung (diejenige, wodurch Welt ‚für mich ist‘) fundiert ist, d. h. welche notwendig in Vollzug sein müssen, damit diese Endleistung zustande kommt“7. Welt ist durch und durch Korrelat eines intentionalen Bewußtseins, und gemäß Husserl gehört das „[…] zur Fundamentaltheorie der Intentionalität […]. Es ist fundamental, den weltlichen Erfahrungsbegriff und Bewusstseinsbegriff […] zu verstehen als den eines konstitutiven Resultats“8. Das Weltphänomen, wie auch jedes andere Erfahren, ist wesentlich gegeben als ein gegenwärtiges Wahrnehmungsfeld. Wahrnehmen ist für Husserl die „Bewußtseinsweise, in welcher das darin Bewusste sich als es selbst zeigt“9. Wahrnehmend sind wir auf „leibhaftig“ Da-Seiendes gerichtet und auf horizonthafte Verweisungen, die das Wahrnehmungsfeld in einen in seinen Einzelheiten einholbaren Gesamtkontext stellen10. Dieser Kontext le Subjekte ihrer Akte und ihrer Habitualitäten naturalisiert-verzeitlicht sind), in der ferner alle Kulturgeistigkeit ihre Verräumlichung und Verzeitlichung hat, diese objektive Welt ist objektiv verzeitlicht, indem sie für das Ich jeweils aktuell sich darstellt in immanenter Erfahrung – die objektive Zeitlichkeit weist zurück auf die Erlebniszeitlichkeit, letztlich auf das ‚Feld der immanenten Wahrnehmung von Weltlichem‘. Wahrnehmung von Weltlichem ist es aber als Apperzeption, und da kommen wir auf das Hyletische und die Auffassung, auf den Auffassungskern und die Auffassung-als“ (Husserl: CMan, 344). 7  Husserl: CMan, 4 f. 8  Husserl: CMan, 335, Anm. 9  „Ich bin wahrnehmend auf mich gerichtet, rein auf mich selbst als (den,) den ich wahrnehme, und so wie ich mich wahrnehme. Wahrnehmen ist die Bewusstseinsweise, in welcher das darin Bewusste sich als es selbst zeigt“ (Husserl: CMan, 146). 10  „Versuchen wir, mindestens in einem ersten rohen Anhieb die Struktur des transzendentalen Weltphänomens, so wie es in meiner transzendentalen Gegenwart gegeben ist, zu beschreiben, so finden wir als Erstes in dieser Gegenwart ein Wahrnehmungsfeld als Gesamtinbegriff dessen von der Welt, was im Jetzt wahrnehmungsmäßig (‚leibhaft da‘) gegeben ist. Das Wahrnehmungsfeld ist transzendental in sich charakterisiert als Gegebenheitsweise der Welt und nicht bloß als Gegebenheitsweise des im Feld in eins Wahrgenommenen. Das Feld weist über sich hinaus, es ist bewusst sozusagen als wahrnehmungsmäßiger Ausschnitt aus der Welt, es hat einen ‚Horizont‘ des plus ultra, der nicht wahrgenommen, der überhaupt nicht explicite bewusst ist. Jede Einzelheit, jedes Sonderfeld, das eventuell nachträglich

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hat einerseits zeitlichen Charakter. Ich kann mich der Vergangenheit zuwenden und mich an Vergangenes erinnern oder mir antizipierend Zukünftiges vorstellen bzw. vergegenwärtigen, dessen Eintreten ich durch die induktive Leistung der Erwartung voraussehe. Andererseits kann ich in die räumliche Gegenwart eindringen und mir z. B. die Rückseite eines Körpers ansehen11. bewusst wird für das transzendentale Ich, hat dann einen ebensolchen Charakter, seinen ‚Horizont‘– einen Außenhorizont, wie wir sagen wollen. Zu diesem Horizont gehört, roh gesprochen, ein mehrfaches evidentes ‚Ich kann‘: Ich kann in ihn eindringen in Richtung der Zukunft, oder ich kann in die Mit-Gegenwart eindringen, von der Orientierungsstruktur innerhalb der Wahrnehmungsgegenwart geleitet in ihren mannigfaltigen Orientierungsrichtungen in das plus ultra eindringend. Damit deuten sich schon vielerlei Beschreibungen vor: Das Eindringen ist ein Zur-Weckung-Bringen und ein Verwirklichen des zur Weckung Kommenden durch Vergegenwärtigung, – durch Wiedererinnerungen (Rückerinnerungen), Wiedervergegenwärtigungen von Vergangenem, durch Vor-Erinnerungen (Vor-Vergegenwärtigungen von Künftigem), Mit-Erinnerungen, Vergegenwärtigungen von Mitgegenwärtigem der Welt. Halten wir uns innerhalb der Wahrnehmungsgegenwart unter Absehen von ihren Außenhorizonten, also an das wahrnehmungsmäßig Gegebene von der Welt, so ist es, wie die strömend transzendentale Gegenwart überhaupt, ein Strömend-Einheitliches und muss als das Thema der Beschreibung werden. Die strömend konkrete Wahrnehmungsgegenwart, zunächst mit den Horizonten bzw. dem einheitlichen ungeschiedenen Gesamthorizont, heißt strömend vermöge der Unterschiede, die ich als transzendental-phänomenologisierendes Ich, wie in der lebendigen transzendentalen Gegenwart überhaupt, so an ihm machen kann, Unterschiede des Jetzt, des Soebengewesen und des Kommend. Das konkrete Weltphänomen als mein jetziges Phänomen ist Phänomen von der Welt im Jetzt. Aber das ist zweideutig. Im Urphänomen des Strömens liegt, dass ich im Zugleich ein Jetzt, ein Soeben-Gewesen und ein Soeben-Kommend unterscheide und dass dieser Bestand des Zugleich eine Einheit ist, die – als konkrete phänomenale Gegenwart bezeichnet – strömt. Im Strömen ist stetig ein Außenhorizont mit da, der wie der unterschiedliche Gehalt des ‚Zugleich‘ sich strömend wandelt – all das in besonderen und enthüllbaren Strukturen“ (Husserl: CMan, 26). 11  „Wir gehen hier in einer bestimmten Richtung vor, um in dem eigentlichen Gegenwartskern des Phänomens Welt (oder dem eigentlichen Wahrnehmungsfeld von der Welt, das das Mitmoment Jetzt-von-ihr-mir-eigentlich-erscheinend bezeichnet) abermals einen Kern der Eigentlichkeit zu unterscheiden. Zu diesem Felde gehören – in welcher Koexistenzstruktur immer – diese oder jene erscheinenden Weltobjekte. Jedes und so das eigentliche Gegenwartsfeld im Ganzen ist ‚eigentlich‘ nur wahrnehmungsmäßig gegeben von einer ‚Seite‘. Die ‚Seite‘ ist Seite von dem Wahrgenommenen und im ersten Sinne ‚eigentlich‘ Wahrgenommenem als solchem. Nur die ‚Merkmale‘, innere Objektbestimmungen, die sie befasst, sind in einem neuen, strengeren Sinne ‚eigentlich‘ wahrgenommen, wirklich als ‚leibhaft‘ selbst Gegenwärtiges ‚vom‘Objekt charakterisiert. Dieses ‚von‘ bezeichnet offenbar einen neuen ‚Innenhorizont‘; die Seite lässt sich nach den anderen Seiten befragen, sie weist auf Möglichkeiten der Enthüllung in Möglichkeiten (auch meinen Vermöglichkeiten) der künftigen Wahrnehmung und Vermöglichkeiten der Vergegenwärtigung vor, mit zugehörigen Wesensformen. Verfolge ich den Gang des Strömens in der konkreten Gegenwart, so geht durch die Folge der Seiten das Einheitsphänomen der Wandlung der Seite in Seite hindurch, dabei aber auch hindurch das Einheitsphäno-



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Weiter kann ich die Wahrnehmungen anderer Menschen vergegenwärtigen, die gleichzeitig mit mir im Raum sind. Husserl spricht in diesem Zusammenhang von Möglichkeiten bzw. Vermöglichkeiten des „Ich kann“, die als solche Wesensmerkmale der Horizonthaftigkeit sind. Das Wahrnehmungsfeld ist dabei in einer ständigen strömenden Bewegung. Ständig geht ‚Jetzt‘ in ‚Soeben-Gewesen‘ über, ‚Soeben-Kommend‘ wird zum gegenwärtigen ‚Jetzt‘. Und diese Bewegung ist ihrerseits Teil der Gesamtwahrnehmung. Jegliches Seiende wird in einer Extension der Dauer bewußt, die durch die strömende Bewegung des Wahrnehmungsfeldes konstituiert ist. Und jedes Dauern ist unselbständig, es hat seine Horizonte der Vergangenheit und Zukunft. In dieser Unselbständigkeit liegt für Husserl das Grundprinzip der Kausalität: „Kausalität ist nichts anderes als Unselbständigkeit jeder Zeitstrecke, jedes Jetztpunktes als Grenze der Zeitstrecke, jede impliziert die ganze Zeit […] und ist selbst Totalfolge jeder früheren in kontinuierlicher Mittelbarkeit“12. Um die Schichten und die Genese der Weltkonstitution bis in ihre letzten Verborgenheiten aufzuklären, führt Husserl innerhalb der transzendentalen Reduktion einen weiteren Reduktionsschritt aus: Er abstrahiert von allen Sinnschichten, die andere Subjekte bzw. „fremde“ Subjektivität voraussetzen. Als Untersuchungsfeld verbleibt dann „meine“ Primordialität, das in eingeschränktem Sinne mir Eigene13, das Husserl für den Bereich der Wahrmen desselben sich von verschiedenen Seiten zeigenden Dinges – solange es im Felde eben leibhaft erscheint. Aber nicht nur das. Im festhaltenden Blick auf irgend­ ein Merkmal, z. B. ein körperliches der Gestalt oder Farbe, das im stetigen Wandel der Seite stetig als eigentlich wahrgenommenes verbleibt, so erscheint es zwar als dasselbe, aber als dasselbe in stetig verschiedenen Gegebenheitsweisen, in verschiedenen Perspektiven. Also, das eigentlich erscheinende Merkmal hat selbst wieder ein in noch eigentlicherem Sinne Eigentliches, in einem radikaleren Sinne eigentlich original Gegebenes: die Perspektive als Perspektive von diesem Merkmal. Und nun hat diese Perspektive mit dem ‚von‘ seinen Horizont; nur dass jetzt die Perspektive nicht mehr selbst Bestandstück des Weltlichen, des Objekts ist, das ‚erscheint‘, sondern etwas, wodurch die Selbsterscheinung des Objektmerkmals verwirklicht ist. Dieses ‚durch‘ deutet auf eine eigene Richtung des Rückgangs der Auslegung des Wahrnehmungsphänomens von Welt und weltlich einzelnem“ (Husserl: CMan, 28). 12  Husserl: CMan, 408. 13  „Das Weltphänomen reduziert auf Primordialität. Methode: Die Sinnschichten, die Andere voraussetzen, ausschalten. Die Sinnschichten der primordialen Welt – Natur kein Leib; Zweckdinge höherer Stufe. Natur setzt Leib voraus, aber Leib ist auch Natur. Sie sind irgendwie verflochten. Das Phänomen der reduzierten Welt – in lebendiger Gegenwart, Einheit strömender Mannigfaltigkeiten“ (CMan, 68). „Ich muss unterscheiden, indem ich die Natur im objektiven weltlichen Sinn primordial reduziere: das, was von der Natur für mich jeweils wirklich anschaulich – primordial-anschaulich gegeben ist, und das, was primordial in Mitgeltung bleibt als primordial anschaubar. Ich erhalte durch Reduktion das jetzt Anschauliche der ‚Natur‘, und dieses Jetzt ist ein stehendes Jetzt. Meine Anschauung oder der Inbegriff dessen,

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nehmung in dem folgenden Zitat beschreibt und eingrenzt: „Halten wir uns an unsere ‚primordialen‘ Wahrnehmungen und Erfahrungen und an ihre in Form der Einstimmigkeit verlaufenden Synthesen, in denen je dieselben Dinge und schließlich dieselbe Natur sich konstituiert, so sind die verlaufenden Erfahrungen immanente Zeitlichkeiten in der Einheit meiner in iterativ-immanenter Zeitigung sich für sich selbst konstituierenden transzendentalen Subjektivität (meines konkreten Ego). In diesen Synthesen konstituiert sich nun Naturales als ein der Immanenz transzendentes Seiendes. Die Wahrnehmung ist als ‚äußere‘ ein die Immanenz transzendierendes Erlebnis, aber das nur als Moment der universalen synthetischen Naturerfahrung, die in meiner transzendentalen Subjektivität nicht nur ein wirklicher Verlauf ist, sondern in ihrer Weise als Verlauf für mich immanent konstituiert ist […]. Unter dem Titel Immanenz stehen nicht nur die wirklich jetzt als lebendig strömend bewussten Erlebnisse meines transzendentalen Ich, sondern auch die Erlebnishorizonte mit dem zugehörigen Vermögensbewusstsein […]. Ich bin für mich Ich eines zeitlichen Lebens, das der lebendigen Gegenwart entquillt, aber in ihr auch als zusammenhängenden Niederschlag die ganze immanente Zeitlichkeit bekundet“14. In allen Schichten der Weltkonstitution finden wird den Unterschied von Akt (bzw. Auffassung) und Inhalt15. Ausgangspol der Akte ist dabei ständig „mein“ identisches Ich, der Ichpol, auf den alles, was für mich ist und je sein kann, bezogen ist16. Um die einzelnen Schichten der Weltkonstitution was an ‚Körpern‘ anschaulich ist, ist ein strömender Inbegriff. Zunächst hätte ausdrücklich gesagt werden müssen, dass durch die Reduktion aus der objektiven Natur als nun allein in Geltung zu Setzendes wieder ein Universum von ‚Körpern‘ wird, aber von Körpern, die vermöge der Geltungswandlung ihren Sinn reduziert haben, also ebenfalls in Anführungszeichen zu setzen sind. Des Weiteren ist dieses Strömende, dieser Urwandel im Jetzt zu beschreiben – in meiner primordialen Einsamkeit, in der ich nichts von Anderen, von Welt und Sozialität ‚weiß‘. Freilich, der Urwandel als solcher ist ein Urphänomen, aber ich kann doch erfassen, festhalten, identifizieren, unterscheiden, auf das Festgehaltene wiederholt zurückkommen, es wieder vergegenwärtigen und das wiederholt – und dass ich so tue und tun kann, das kann ich selbst wieder ebenso behandeln. Ich im primordialen strömenden Jetzt unterscheide: mich und meine Akte und Vermögen, und das, worauf sie sich ‚beziehen‘, das Naturale, auf das ich geradehin gerichtet bin, erfassend etc. – und das reflektiv und nur reflektiv zu Erfassende, d. i. erst aufgrund geraden Erfassens in ‚Rückwendung‘ zu Erfassende“ (Husserl: CMan, 205). 14  Husserl: CMan, 34. 15  „Aber wie weit wir zurückgehen mögen, immer ist dieses Zweierlei notwendig: 1. der Aktus, der ursprünglich erwerbend ist, schafft Geltung, Seinsgeltung, Geltung eines Inhalts; 2. und Inhalt ist immer schon vorausgesetzt, damit ein Akt, ein Tun, anheben und mit ihm sein Vorhaben erfüllen kann“ (Husserl: CMan, 349). 16  „Ich finde in diesem beständigen Sich-Spalten des Ich [Spaltung durch Reflexion in reflektiertes und reflektierendes Ich] und Sich-dann-wieder-Identifizieren ein



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herauszuarbeiten, trennt Husserl stufenweise Auffassungen und Auffassungsinhalte. Ausgangspunkt ist dabei das volle Weltphänomen, das auf seinen passiven Kern, auf die „bloße Natur“ zurückgeführt wird. Von der bloßen Natur führt die Rückfrage mit der primordialen Reduktion auf verharrende Einheiten, die sich als identische im ständigen Strömen meines Bewußtseins konstituieren. Mit dem „letzten“ Abstraktionsschritt, der Abstraktion von jeglichem ichlich orientierten Auffassen, erreichen wir die ursprüngliche Hyle, das „letzte Nicht-Ichliche“17. Das übergreifende Strukturmerkmal aller erfahrenen Phänomene, aller Konstitutionsschichten sowie ständig auch des Erfahrens selber ist das stetig ständige Strömen des Bewußthabens von Inhalten. Ständig geht ‚Jetzt‘ in unmittelbar ‚Gewesen‘, soeben bzw. retentional Gewesenes in Vergangenheit und unmittelbar Bevorstehendes in Gegenwart über. Wir stoßen hier auf das „[…] ‚Urphänomen‘, in dem alles, was sonst Phänomen heißen mag und in welchem Sinn immer, seine Quelle hat. Es ist die stehend-strömende Selbstgegenwart bzw. das sich selbst strömend gegenwärtige absolute Ich in seinem stehend-strömenden Leben, einem Leben, das ständig strömendes Erleben, Intentionalität, Bewussthaben ist, stehend-strömende Seinsgeltung Ich, das ich als Urpol, als ursprünglich fungierendes Ich bezeichne, und das dem Ur-Ich zum Gegenüber, zum Seienden gewordene Ich und den Umkreis dessen, was für dieses und für mich als anonymes Ich als Nicht-Ich da ist, darunter die Welt außer mir, in dieser andere Ich, weltlich als leiblich waltende, mit Naturkörpern, den Leibern verbundene Ich und alles sonst Weltzugehörige, das ist, aber nicht ein Ich in sich trägt“ (Husserl: CMan, 2). 17  „Rückfragend kommen wir auf die hyletische Sphäre als das letzte NichtIchliche. Aber vorher natürlich Rückfrage von dem vollen Weltphänomen und seiner ontischen Auslegung auf den passiven Kern der Welt, auf die ‚bloße‘ Natur. Der Mensch, psychisches Wesen in der Welt – Absehen von allen psychischen Subjekten; verbleibt die Natur, die passiv verläuft, d. h. da alle Aktivität psychisch ist, ist dies wegabstrahiert; also nicht, dass keine Aktivität in der Welt wäre und natürlich schon Geschehen von Aktivität geleitet wäre, sondern reine Blickrichtung auf die res extensa etc.; darauf bezüglich die Frage der Konstitution, die konkreter dann wird zur Konstitution der beseelten Natur, der kultivierten Natur, der weltlichen personalen Gemeinschaften, der Entwicklung, der Geschichte von dem jeweils seiend gewordenen etc. Von der ‚bloßen Natur‘ kommen wir auf das Hyletische und auf die transzendental strömende Gegenwart in der entsprechenden Abstraktion, gegenüber dem konkret Hyletischen. Affektivität und die Affektivität des Ich etc. […]. Ist man, beschränkt auf Natur, zum ‚Subjektiven‘ zurückgekommen, so ist das erste die Scheidung der hyletischen Felder, in denen sich die Natur ‚darstellt‘, ‚abschattet‘. Hier muss nun unterschieden werden: Das jeweilige Feld ist eine ‚Welt‘ von verharrenden Daten. Was macht die Einheit eines Datums und Mehrheit von Daten, und was macht Einheit des Feldes aus, was das ‚Verharren‘ eines Datums, strömende Gegenwärtigung, das Strömen, die Zeitigung, durch die Einheit sich konstituieren kann als konkrete Einheit? Das erste ist die Vorgegebenheit der konkreten Einheiten und Mehrheiten; das zweite die ideelle Aufhebung dieser Konkretionen, ideelle Konstruktion des Sinnesfeldes ohne Objekte“ (Husserl: CMan, 86).

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in vielerlei Modalitäten und Modalitäten sehr verschiedenen Charakters und Sinnes in sich tragend, Seinsgeltung mit Inhalt oder Sinn, der selbst in den Gehalt des Strömenden hineingehört“18. II. Das ursprüngliche Strömen Die „unterste“ Schicht, die die Analyse der Weltkonstitution aufweist, ist das vorzeitlich ständig strömende Leben der transzendentalen Subjektivität. Durch eine „erste“ Leistung der Verzeitlichung konstituiert dieses Strömen die inhaltlich gefüllte immanente Zeit, wobei das Strömen als solches sich ebenfalls verzeitlicht19. In dem gezeitigten Bewußtseins- oder Erlebnisstrom können sich auf einer weiteren Konstitutionsschicht immanente Einheiten abheben, die durch auffassende (und transzendierende) Leistungen der Subjektivität die Vorgegebenheiten der realen Welt konstituieren. 18  Husserl: CMan, 145; „Das Urphänomen hinsichtlich der Welterfahrung, der Welterkenntnis – darin beschlossen das Urphänomen für jede Erfahrung und Erkenntnis von einzelnen Weltobjekten – ist der Heraklitische Fluss der subjektiven Welthabe, des subjektiv vorgegebenen Weltlichen, ob es sich bewegt oder ruht, sich wie immer verändert oder unverändert bleibt. Doch gehört auch dies in den Heraklitischen Fluss der Welthabe, dass diese in strömenden Erscheinungsweisen als die eine und selbe erscheinende Welt in sich selbst strömend sei; Welt ‚im Strom der Zeit‘ ihre invariante raumzeitliche Form erhaltend im unaufhörlichen Strömen der Zeitmodalitäten, als Welt der Realitäten (realer Substanzen) sich verändernd, aber in ihren Veränderungen sich in der Weise des Verharrens identisch erhaltend. Das ‚Urphänomen‘ des Strömens ist das Phänomen aller Phänomene, alles für uns in irgendeinem Sinne Seienden, – denn alles ist im urphänomenalen Strömen als darin ‚sich gebend‘ und in einem weitesten Sinn in strömenden Modis als Selbiges verharrende Einheit. Auch wenn wir, genauer: wenn ich auf das urphänomenale Strömen hinschaue, so ist es selbst als ‚das‘ im urphänomenalen Strömen in sonderbarer Weise auf sich selbst bezogen“ (Husserl: CMan, 1). 19  „In der lebendigen Gegenwart habe ich auf sie reduzierend (Abbau) die Vorgegebenheit der Welt als lebendig-gegenwärtige Vorgegebenheit, genau wie sie in dieser Lebendigkeit Vorgegebenheit ist. Die Welt ist vorgegeben – vorgegeben als ein lebendig strömendes Wie der totalen Gegebenheitsweise. Aber dabei ist zu unterscheiden: 1. die urlebendige strömende Zeitigung, in der sich die ‚Erscheinungsweisen‘ der Dinge, der Wahrnehmungsumgebung etc. mit allen ungeklärten Horizont-Vor- und Rückdeutungen immanent verzeitigen; und 2. eben diese immanente Koexistenz und Sukzession von gezeitigten Erscheinungen bzw. die Erlebnisströme der Gesamterscheinungen von der Welt im Ganzen. Lebendige Zeitigung ist ‚Leistung‘, ist ein Erwerben von Einheiten. Diese Einheiten sind hier die Welterscheinungen, die als Erscheinungen-von in demselben Strömen (urzeitlichen) Einheit, Raumdinge, dingliche Dauer im Modus des Wie der Gegebenheitsweise konstituieren. Die erwerbende Zeitigung ist nicht das Gezeitigte, hier das Immanente. Nun aber ist das Paradox, dass auch die Zeitigung sich zugleich selbst verzeitigt, dass lebendige Gegenwart selbst wieder, als gegenwärtige lebendige Gegenwart, in soeben gewesene lebendige Gegenwart kontinuierlich überleitet usw. Auch diese Paradoxie muss zur Klärung kommen“ (Husserl: CMan, 50).



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In der untersten strömenden Schicht bzw. Struktur unterscheidet Husserl zwischen einem hyletischen Kern und ichlichen „Richtungen“ oder Intentionalitäten. Der hyletische Kern umfaßt das impressional in der Weltwahrnehmung wahrnehmungsmäßig Gegebene. Der Begriff „impressional“ wird von Husserl im Regelfall im Zusammenhang mit der transzendierenden Wahrnehmung gebraucht. Impressional gegeben ist das Jetzt-Wirkliche, gegenwärtig konkret Wahrgenommene. Das Ichliche umfaßt die Auffassungen und Vergegenwärtigungen, das Horizontbewußtsein und die Affektionen und Aktionen des Ichs. Husserl schreibt: „Die Urhyle in ihrer eigenen Zeitigung ist der sozusagen ichfremde Kern in der konkreten Gegenwart. Wir hätten dann zu sagen: Im Strömen der konkreten Urpräsenz zeitigt sich stetig die rein immanente Zeit als die Urzeit, in der das urindividuelle Sein ist. Wir setzen damit in Geltung den reinen Erlebnisstrom, das erste ‚Transzendente‘ gegenüber der urimpressionalen, strömenden Gegenwart der konkreten Urpräsenz“20. Die Scheidung zwischen Ichlichem und Hyletischem in der untersten Schicht ist aber nur eine abstrahierende Strukturierung, die Merkmale aus einem Urgrund heraushebt, der in sich immer schon ungeschieden ist. „Also: Konstitution von Seienden verschiedener Stufen, von Welten, von Zeiten, hat zwei Urvoraussetzungen, zwei Urquellen, die zeitlich gesprochen (in jeder dieser Zeitlichkeiten) immerfort ihr ‚zugrundeliegen‘: 1. mein urtümliches Ich als fungierendes, als Ur-Ich in seinen Affektionen und Aktionen, mit allen Wesensgestalten an zugehörigen Modis. 2. mein urtümliches Nicht-Ich als urtümlicher Strom der Zeitigung und selbst als Urform der Zeitigung, ein Zeitfeld, das der Ur-Sachlichkeit, konstituierend. Aber beide Urgründe sind einig, untrennbar und so für sich betrachtet abstrakt“21. 20  Husserl: CMan, 110; „[I]m aktuellen Strömen unterscheiden wir als unterste Struktur: 1. den hyletischen Kern (Hyle dann unterscheidbar in Urhyle (Hyle im älteren Sinn der Ideen) und Hyle im erweiterten Sinn des impressional oder wahrnehmungsmäßig weltlich Erscheinenden überhaupt) – des aus Aktivität Seienden, wie sich später zeigt; 2. die in den Kern und im Besonderen in irgendwelche Komponenten desselben hineinreichenden ichlichen ‚Richtungen‘, Akt-Intentionalitäten (‚Interessen‘)“ (Husserl: CMan, 70). „Diese urimpressionale strömende Gegenwart der konkreten Urpräsenz hat dann folgende allgemeinste Struktur: a) das phänomenologische Residuum der eigentlich wahrnehmbaren Seiten von mundanen Realitäten etc., nämlich die Empfindungshyle, die Urhyle in ihrer eigenen Zeitigung; b) das ‚Ich‘ mit allen offenen und verborgenen ichlichen Beständen, dahin gehörig: allen Beständen der weltlichen Auffassung, allen Beständen der weltlichen ‚Verweisung‘, des weltlich Horizontmäßigen, der weltlichen Vergegenwärtigung usw. In dieser Hinsicht bedarf es weiterer Scheidungen. […]. Durch die immanente Zeit geht kontinuierlich hindurch das hyletische Feld, das also der hyletische Kern (Stoff) der urimpressionalen Sphäre ist“ (Husserl: CMan, 110). 21  Husserl: CMan, 199.

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III. Einheitenbildung im primordialen Bewußtseinsfluß Das Grundgesetz der Einheitenbildung im gezeitigten urströmenden Leben ist die passive Synthese der Assoziation. „In ihr entspringen immer wieder neue synthetische assoziative Einheiten, die ‚Daten‘ der immanenten Zeit als Form der Einheiten der Immanenz und der sich konstituierenden Einheit des Erlebnisstromes. Aber die sich in dieser Sphäre auszeichnenden Erlebniseinheiten, die da weltliche Wahrnehmungen heißen, […] beruhen in ihrer Konstitution wesentlich auf Aktivitäten des Ich […]“22. Die ursprüngliche Hyle und das ursprüngliche Ichliche sind in sich nicht differenziert. Das Ichliche ist hier „‚reine[]‘ Kinästhese, die nichts anderes ist als Ichrichtung“23 auf die undifferenzierte Hyle. Das „ungeschiedene Gerichtetsein auf die ungeschiedene Hyle ist ein kontinuierlicher Wandel, in dem sich die sich mitwandelnde Hyle als Einheit erhält“24. Durch Assoziation erwachsen aus der urströmenden Hyle hyletische Felder, deren Gleichförmigkeit weltlich z. B. als Optik, Akustik oder taktiles Feld aufgefaßt wird. Stets korrelieren dabei vom Ich ausgehende kinästhetische Verläufe mit hyletischen Verläufen. Kinästhesen sind auf dieser Konstitutionsstufe „ichliche Vorgänge“, sie sind Affektionen und Aktionen, die sich in verschiedene kinästhetische Systeme sondern25. Die Korrelation von hyletischen und kinästhetischen Verläufen ist für Husserl der Ausgangspunkt der Transzendenzkonstitution. Transzendenz „entsteht“ durch die passive Verknüpfung meines „Eingreifens“ mit hyletischen Beständen26. CMan, 42. CMan, 226. 24  Husserl: CMan, 226. 25  „Wie haben wir uns das ursprüngliche Funktionieren der Kinästhese zu denken? Wie sind sie als ichliche Vorgänge zu denken? Ichliche Vorgänge sind Affektionen und Aktionen. Ist ursprüngliche Affektion nicht Instinkt, also eine Weise des leeren, des noch der ‚Zielvorstellung‘ entbehrenden Strebens, das sich in einem entsprechend enthüllenden Akt erfüllt? Der instinktive Trieb ist also die Vorform der Vorhabe, so wie die Trieberfüllung die Vorform des eigentlichen Aktes ist“ (Husserl: CMan, 326). In einer Randbemerkung schreibt Husserl: „Es ist nicht berücksichtigt, dass nicht alle Kinästhesen ein einziges, kontinuierlich prozesshaft zu durchlaufendes System sind, sondern es sind gesonderte kinästhetische Systeme, so dass nur ein solches für die [hier wohl] gegebene Konstruktion in Frage kommt“ (Husserl: CMan, 328). 26  „In der immanenten Sphäre vollzieht sich die Konstitution von nicht-immanenten Gegenständen; ein vom Ich inszenierter, also kinästhetischer Verlauf ‚bedingt‘ einen Verlauf in der alleruntersten, der rein hyletischen Sphäre, die in ihren hyletischen Feldern durch pure Assoziation ein Feld der Koexistenz ist. Die beständige kinästhetisch-hyletische Koexistenz hat die ‚Bedeutung‘ angenommen eines kinästhetisch-hyletischen (ichlich-nichtichlich) verbundenen Weil bzw. Wenn-So. Sie trägt einen Horizont von ichlich-kinästhetischen Möglichkeiten von dem betref22  Husserl: 23  Husserl:



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„Es bilden sich Sondereinheiten, die in sich geschlossenen verschmolzenen Sinnesfelder in beständigem Zusammen mit den ihnen zugehörigen Sonderkinästhesen […]. Dann (bilden sich) wieder Sonderabhebungen […], etwa im visuellen Feld wieder besondere Kinästhesen aus der totalen visuellen Kinästhese […]. Dabei entspringen in dieser Urstufe immer neue Apperzeptionen“27. Identifikation entsteht in dieser „Urstufe“ durch die Deckung von Sonderabhebungen. Praktische Möglichkeit entsteht als Vermögen, Kinästhesen zu verwirklichen. Innerhalb der Assoziation unterscheidet Husserl zwischen der Urverschmelzung, die Einheit begründet, und der Urkontrastierung, die Abstand begründet. Die ursprüngliche impressionale Konstitution von Einheiten durch Verschmelzung bezeichnet Husserl auch als „Konstitution einer im Strömen verharrenden impressionalen Gegenwart“28. Die Einheit des Verharrens wird dabei einerseits durch die ständige Deckung des im stetigen Fluß Befind­ lichen von Jetzt und Retentionen bzw. soeben Gewesenem gleichen Inhaltes konstituiert. Die verharrende Gegenwart ist insofern kein Momentan-Jetzt, sondern ein ständig extendiertes Dauerndes29. „Seiendes im Ursinn ist Seienfenden k an sich und einen korrelativen Horizont von ‚zugehörigen‘, bedingten hyletischen Möglichkeiten, bzw. die Koexistenz k0 – h0 hat den Horizont der von da ausstrahlenden Möglichkeiten von Erscheinungen-von als Nachsätzen ihrer entsprechenden k, und im bestimmten Verlauf der k. Den Erwartungshorizont der kommenden Erscheinungen – diese aber polarisiert, in kontinuierlich einheitlicher Konstitution hinleitend zum Optimum. Doch da ist noch vieles zu sagen. Jedenfalls, alle Transzendenz-Konstitution in der Immanenz beruht auf bestimmten Weisen des ‚Eingreifens‘, des unwillkürlichen (reaktiven, reflexmäßigen) und aktiven Eingreifens des Ich. Nun ist das Ich ja überhaupt waches ich, und der Untergrund eines Feldes von schon Seiendem ein Feld für das Ich und für es nur seiend aus spezifisch ichlichen Quellen, und das muss durch systematischen Abbau geklärt werden; darunter, dass das funktionierende Ich anonymes ist in seinen Funktionen, da dass, was für es seiend ist, ursprünglich es ist aus einer Aktualität, die ihrerseits verflochten ist mit nicht-aktuellen Kinästhesen und vielleicht Gefühlen. Ichliche Aktivität setzt Passivität voraus – ichliche Passivität – und beides setzt voraus Assoziation und Vorbewusstsein in Form des letztlich hyletischen Untergrundes“ (Husserl: CMan, 52). 27  Husserl: CMan, 226. 28  Husserl: CMan, 83. 29  „Im impressionalen Momentanfeld haben wir nun sich durch besondere Simultanverschmelzungen zusammenschließende und abhebende Einheiten, die im Strömen, zwischen Strömen und Verströmen konkret fortdauernde, während der Dauer immerfort impressionale (wahrnehmungsmäßige) Einheiten ‚aufbauen‘, konstituieren. Und die Konstitution einer Einheit besagt Konstitution einer im Strömen verharrenden impressionalen Gegenwart. Ein Gegenwartsbegriff ist der einer Momentanimpression, das ist eine bloße Abstraktion. Ein anderer Gegenwartsbegriff ist der konkrete, bezogen auf konstituierte konkrete Objekte, deren konkrete Gegenwart die eines im Strömen sich bildenden und abhebenden Währens, Dauerns ist, ein

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des in ursprünglicher konkreter Gegenwärtigung, In-ursprünglicher-konkreter-Impression-Sein, Jetzt-wirklich-Sein, – im Kontrast zu Seiendes als ursprüngliches gegenwärtiges Gewesen-Sein. Seiendes, jetzt gegenwärtig seiend […], ist (wirkliches) Dauern, und Dauern ist Verharren in Unveränderung und Veränderung […]. Die Zeitigung der konkreten Gegenwart als impressionale Gegenwart von verharrenden Einheiten und Mehrheiten in der hyletischen Sphäre ist die erste und ursprünglichste Zeitigung der Zeitmodalität Gegenwart, und danach der Zeitmodalität Vergangenheit“30. Weiter wird das Verharren durch die einheitsbildende Verschmelzung hyletischer Wandlungen konstituiert, die durch kinästhetische Abläufe motiviert sind31. Damit und mit dem Vermögen, wieder auf die gleiche Gegenständlichkeit zurückkommen zu können, erwächst die Korrelation von Gegenstandspol und Ichpol. Der Gegenstand ist der gleiche, den ich zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Perspektiven wahrnehme. Jeder Gegenständlichkeit, die für mich ist, korreliert mein identisches Ich, mein Ichpol, der Voraussetzung jeder gegenständlichen Einheit ist, die für mich sein kann32. fortwährendes Wahrnehmen, Impressional-Haben, in dem das Wahrgenommene nicht das bloße Gegenwartsmoment ist, sondern das Verharrende (identisch Dauernde) durch seine Dauer hindurch, ursprünglich impressional seiend als ständig seiend in der Ständigkeit seines Werdens“ (Husserl: CMan, 83). 30  Husserl: CMan, 84. 31  „Im Wandel der immer kinästhetisch motivierten Darstellungen stellt sich mir ein Anschauliches, ein sinnlich-wahrnehmungsmäßig Identisches identischer Bestimmungen einstimmig dar. Dieses selbst im Wandel neuer Motivation konstituiert in neuer Stufe ontische Identität und nach allen anschaulichen Bestimmtheiten als je dieselbe ontische Bestimmtheit konstituierenden“ (Husserl: CMan, 289). 32  „Während im einheitlichen Bewusstseinsstrom Bewusstseinssonderheiten strömend zur Einheit kommen, kontinuierlich oder in diskreten Synthesen Einheit je einer Gegenständlichkeit bewusst machen, verläuft dieses Bewusstmachen in dieser doppelten Weise, in der der Affektion bzw. wirksamen Motivation von den gegenständlichen Einheiten auf das ‚Ich‘ hin, und der thematisierenden Aktion des ‚Ich‘ in Richtung auf diese Einheiten hin. Das sagt: Alle meine Akte, alle meine Bewusstseinsweisen, in denen ich irgendwie aktiv bin, tätig wahrnehmend, Schritt für Schritt von seinen Eigenheiten Kenntnis nehmend, tätig mich wiedererinnernd und seinen Besonderheiten nachgehend, tätig auf das Künftige gerichtet, tätig denkend, vergleichend, unterscheidend, begreifend, ausdrückend, zwecktätig praktische Möglichkeiten erwägend, handelnd usw. – alle diese Aktivitäten haben als meine ihre Einheit: In allen ihren Richtungen bin ich, das identische Ich, gerichtet. Wir sagen danach auch: alle Akte haben ihre Zentrierung im Ichpol, von dem sie ausgehen und sich auf das jeweils Gegenständliche richten, das als das Worauf Thema des Aktes heißt (und freilich auch so heißt mit Rücksicht auf die Thesis, den Modus der Stellungnahme, der in jedem Akt liegt). Der jeweilige Gegenstand ist seinerseits auch Pol; unterscheidend sprechen wir von Gegenstandspol, nämlich als das Identische, worauf mannigfaltige Akte und in ihnen ich, derselbe Ichpol, gerichtet sind oder gerichtet werden können. Im Nacheinander zur Synthesis kommend, konstituiert sich das einheitliche, die Sonderakte verknüpfende Aktbewusstsein eben von demselben



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Die Einheit durch Verschmelzung konstituiert in einem ersten Schritt Gegenständliches, das in Veränderung oder Unveränderung in der immanenten Zeit verharrt. In einer weiteren Konstitutionsleistung entstehen durch Simultanverschmelzungen gleichförmige Felder (z. B. das optische Feld). Gemäß Husserl gilt dann weiter: „Die Form ist Form für einen Inhalt dadurch, dass auf dem Boden einer durchgehenden Kontinuität Diskontinuität möglich (ist). Die simultane Verschmolzenheit, die simultane Einheit kontinuierlicher Abwandlung, die das optische Momentanfeld ausmacht, konstituiert im Strömen die Feldform […]“33. Thema dieser verschiedenen Akte. Offenbar gilt Ähnliches von allen Affektionen bzw. von den wechselnden Bewusstseinsweisen, deren gegenständliche Einheiten im Charakter von affizierenden bewusst sind. Die affektiven Strahlen aller Gegenstände, die für mich sind, und in welchen Modi sie es auch sonst sind, haben affektive Richtung auf mich als den einen Ichpol“ (Husserl: CMan, 364). 33  Husserl: CMan, 77; „Zum Urbau des urphänomenalen Lebens (des urströmenden) gehört, dass es als zeitigendes Strömen eine strömende ‚Urkoexistenz‘, und zwar als diese eine kontinuierliche Simultanverschmelzung, ist, die in der Form Urjetzt, retentional soeben, protentional kommend in kontinuierlicher Abschattung ist. Im Strömen deckt sich kontinuierlich dieses Urzeitfeld in seiner Form, und zwar in Kongruenzdeckung (völlige Gleichheit). Und zugleich geht im Strömen durch die retentionalen Abwandlungen hindurch diejenige intentionale Verschmelzung, welche in kontinuierlicher Deckung die erste Zeit als Form von Einheiten konstituiert. Diese kontinuierliche Deckung ist aber so, dass sie Einheiten der Veränderung und Unveränderung konstituiert. Aber solche Einheiten können sich nur konstituieren und eine Zeitform dieser Einheiten, das ist eine Form, in der simultane und sukzessive Einheiten verharrend als unverändert und verändert (verharrend in Veränderlichkeit), als seiend, kann sich nur konstituieren, wenn in jeder konkreten Lebensgegenwart es so ist, dass die Form des Urjetzt Form ist für eine inhaltlich-simultane Verschmelzung, die Einheit einer Kontinuität ist: ein Feld, z. B. das optische Feld. Auch hier haben wir Form und Inhalt zu unterscheiden: Die Form der simultanen Verschmelzung, in der alle Phasen urimpressionale sind, erhält sich in der sukzessiven Deckung (abgewandelt in allen Retentionen, also auch in ihrer simultanen Kontinuität), in starrer Deckung, während der Inhalt sich wandelt. Eben darin gründet die Auszeichnung der Form, dass sie als eine einzige und immer dieselbe da und erfassbar ist (so wie alle Form, die sich als zur Zeitigung gehörig als Zeit verschiedener Stufe, als Sukzessionszeit und als Simultanzeit konstituiert). Die Form ist Form für einen Inhalt dadurch, dass auf dem Boden einer durchgehenden Kontinuität Diskontinuität möglich ist. Die simultane Verschmolzenheit, die simultane Einheit kontinuierlicher Abwandlung, die das optische Momentanfeld ausmacht, konstituiert im Strömen die Feldform als Ortskontinuum, wenn man hier schon von ‚Orten‘ sprechen kann, da Orte nur Orte sind für einheitliche Gegenstände, die Orte haben, eventuell den Ort verändern, an verschiedenen Orten sind und an ihnen gleich, ähnlich oder unähnlich sind usw. Es fragt sich, ob Form einer simultanen Ähnlichkeitskontinuität schon alles sagt. Innerhalb dieser Form stehen nun Inhalte. Was liegt darin Neues? Im Feld hebt sich ein Datum für sich ab, eine Diskontinuität, ein Bruch der Kontinuität ist ausgezeichnet, eine Sonderkontinuität setzt ein und wird selbst wieder gebrochen“ (Husserl: CMan, 76 f).

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Das Wahrnehmen ist für Husserl ein Tun des Ichs. Wahrnehmung ist das Erfassen dessen, was schon ist, wobei das „schon Seiende“ nicht durch die Handlung zustande kommt. „Was da ursprünglich zustande kommt, ist, wie in jedem Tun, das Getane als solches, so wie es im Tun sich verwirklicht, und das ist hier die Erfüllung der wahrnehmungspraktischen Apperzeption“34. Das Wahrnehmen ist nicht hinreichend für die Konstitution von bleibendem Seiendem. Wesentlich für die Konstitution von Seiendem, z. B. realen Körpern und Natur, ist die Möglichkeit der wiederholenden Identifizierung von erstmalig apperzipierten Gegenständlichkeiten. „Das Wahrgenommene ist hier [bei der Konstitution eines verharrenden Realen] apperzipiert in einer praktischen Möglichkeit, von der Wahrnehmung aus systematisch von Wahrnehmung zu Wahrnehmung in einer synthetisch wahrnehmenden Handlung fortschreiten zu können. […] Und wieder gehört dazu, dass diese vermögliche Handlung oder eine Handlung aus diesem System, und darin jede, (sich) immer wieder erneuern könnte und in der Erneuerung als wirkliche Wahrnehmung [… sich] mit den Wiedererinnerungen an die früheren zur Synthese der Identifikation bringen könnte: Es wird so konstituiert (die) individuelle Identität des Realen“35. Gemäß Husserl konstituiert sich Räumlichkeit bereits in der primordialen, auf „mein“ Ego zurückgezogenen Sphäre. Grundlage dieser Leistung ist einerseits die Simultan-Verschmelzung, die die gleichzeitige Präsenz mannigfaltiger Einheiten in Wahrnehmungsfeldern herstellt. Dazu kommen die ichlichen Vermögen, aktiv durch Kinästhesen in die Wahrnehmungsfelder einzugreifen. Das Organ der Kinästhesen ist der Leib, der sich mit der Räumlichkeit bzw. mit den räumlichen körperlichen Einheiten der entsprechenden Wahrnehmungsfelder konstituiert. Ich habe „[…] eine bleibende Räumlichkeit mit Dingen erfüllt […] mit meinem stets verbleibenden Leib, als frei beweglich im waltenden Tun den Platz wechselnd. ‚Gehe ich weiter‘, vollziehe ich eine Mannigfaltigkeit leiblichen Tuns gewisser Art, so habe ich eine neue Nahsphäre, die zum Teil dieselben Dinge hat wie die frühere, zum Teil neue. Aber ich kann dieses leibliche Tun umkehren, ich kann an meinen alten Platz zurückkehren – die neue Nahsphäre geht in die alte über, und nach Belieben wieder die alte in die neue. Dadurch konstituiert sich eine weitere Raumsphäre, und vermöge des iterativen Stils jede Raumsphäre in gleicher Art als eine solche, die immer wieder erweitert werden kann, und jede darin beschlossene frühere als solche, die hätte erweitert werden können […]. […] [W]ir haben eine Synthesis von Nahsphären unter Identifikation von gemeinsamen Dingbeständen, eine Synthese in der Abwandlung, (die) die Einheit einer fortschreitenden Erfahrung einer 34  Husserl: 35  Husserl:

CMan, 238. CMan, 223.



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sich zeitlich konstituier[enden] Koexistenz […] als eine immer umfassendere […] Räumlichkeit gibt. Jeder anschauliche Raum dabei könnte endlich gedacht werden, wenn eben über ein abgeschlossenes Raumdingfeld, etwa ein Zimmer, nie hinausgegangen würde und nie hinausgegangen worden wäre. Aber sobald das oft geschieht in der Weise des ‚Immer-Wieder‘Hinausgehens und sich der Stil des Hinausgehens und Immer-wieder-hinausgehen-Könnens als Raumhorizont niederschlägt, ist, was jeweils als Nahfeld erfahren ist, eben als das eines endlos offenen Raumes erfahren. […] Die später gebildete oder fortgebildete Apperzeption überträgt sich auf die frühere. Ich hätte schon damals darüber hinausgehend Raum erfahren können, wie ich es später wirklich tat“36. Mit der Räumlichkeit ist schon für das primordiale Ich eine Natur konstituiert, wobei Husserl in diesem Zusammenhang Natur als das „Universum der Körper bezeichnet“. „Jeder Körper ist Substrat von Eigenschaften, und zwar res externa, und hat raumzeitliche Konnexion, […] die Konnexion räumlicher Gestalt und zeitlicher Dauer. […] Er ist in der Natur, dem Universum der Körper, welche in der einen Zeit Dasein haben […]. Das alles gilt in der Primordialität. Subjektiv ist jeder Körper in den Zeitmodis Gegenwart etc. hinsichtlich der Sukzessionszeit gegeben, und hinsichtlich der Simultanzeit, also räumlich, in den Modis Hier und Dort“37. In der primordialen Natur findet sich als ausgezeichneter Körper mein Leibkörper. Dieser zeichnet sich dadurch aus, daß er bei allen Apperzeptionen und Aktionen ständig mitfungiert38. Der Leib ist Voraussetzung für die Konstitution einer primordialen raumzeitlichen Welt, denn diese kann sich nur konstituieren „[…] durch eine Erfahrung, in der das Erfahren in leiblichem Tun vonstatten geht, so dass weltliches Objekt und Leib korrelativ konstituiert sind“39. Deswegen gilt: „Der Leib mit seinen abgegliederten Organen ist eine Sedimentierung von Vermögen des in solchen und solchen typischen Formen Tun-Könnens“40. CMan, 159 f. CMan, 206 f. 38  „Halten wir uns in der primordialen Abstraktion und was innerhalb derselben als konstituierend und konstituiert aufzuweisen ist, so finden wir in ihr die primordiale Natur mit dem ausgezeichneten Leibkörper. Er ist ausgezeichnet dadurch, dass er in besonderer Weise konstituiert ist, bei allem anderen Objektiven mitfungiert, und dadurch natürlich, dass das Ich eben im eigentlichen Sinne das Fungierende ist und im konstituierten Leib das erfahrend Fungierende. Ich als Ich bin überall ‚dabei‘, aber nicht als Objekt konstituiert, solange eben nicht eine besondere Konstitution mich objektiviert hat, geschweige denn, dass ich weltlich als psychophysisches Objekt, als weltlich reales mit körperlichem Leib und Seele konstituiert wäre“ (Husserl: CMan, 338). 39  Husserl: CMan, 345. 40  Husserl: CMan, 345. 36  Husserl: 37  Husserl:

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Sedimentierung ist die stetige Anreicherung des Ichs um Bestände, in denen sein ständiges erfahrendes und handelndes Leben festgehalten wird. Dabei ist die Vergangenheit durch die Leistung des „Wiedererkennens“ immer auch in der Konstitution gegenwärtiger Gegenständlichkeiten wirksam. Sukzessiv erwirbt das Ich Typen von Gegenständlichkeiten und praktischen Handlungsmöglichkeiten, die einerseits Vorgabe jeder weiteren Apperzeption sind und andererseits durch neue Apperzeptionen angereichert und geändert werden41. 41  „Ich in meinem konkret-urtümlichen gegenwärtigen Sein bin nicht bloß als Ich der impressionalen passiv-aktiven Gegenwart, sondern Inhaber meiner gesamten erworbenen Vergangenheit in ihrem strömenden und sich von der impressionalen Gegenwart her bereichernden Sein. Das Neue der seiend-kommenden stetigen Gegenwart, und die Neubildung von thematischen Sukzessionen und Kollektionen, ist in ‚Deckung‘ mit der, aus welchen Motiven (auch) immer, geweckten ähnlichen Vergangenheit. In der Deckung ist die Aktivität nicht nur neue Aktivität, sondern in eins zugleich ‚erinnernde‘ Wiederholung der früheren Aktivität. In dieser erinnernden Wiederholung haben wir nicht zu sehen eine parallele erinnernde Aktivität, nur irgendwie ‚verdeckt‘, als ob sie in ihren Linien wirklich und explizit vonstatten gehen würde, also als gewöhnliche Erinnerung, welche als urtümliche Gestalt der Vergegenwärtigung eben Vergangenes, vergangene Impression (nicht impressional Gegenwärtiges) zur Selbstgegebenheit bringt. Jetzt aber wird impressionale Gegenwart, im Wiedererkennen nämlich, als Wiederholung von Vergangenem, aber nicht selbst aktuell Vergegenwärtigtem, bewusst. Die gegenwärtige Aktivität mit ihrem gegenwärtigen Inhalt ist in sich bewusst als Verähnlichung, als Wiederholung. Die entsprechende Retention im retentionalen Strom ist ‚geweckt‘, die neue Aktivität ist mit dem (der) entsprechenden geweckten Retention einig und ist selbst deren wiederholende Verwirklichung, so wie sonst die gewöhnliche Erinnerungsanschauung es ist. Die wiederholende Verwirklichung hat ihre Künftigkeit, aber anders wie die nicht-wiederholende. Geweckt ist nicht eine abstrakte retentionale Phase, sondern der ganze Akt bzw. Erwerb, und dann weiter der ganze Aktzusammenhang und sein ganzer Erwerb. Aber da stocken wir. Ist hier nicht die Gefahr, das Entscheidende zu überspringen? Ist nicht der Erwerb nur erworbener Erwerb aus Wiederholung, aus Wiedererkennen, aus Wiederhaben und Wiederhaben-Können, und dabei uns erinnernd wieder zurückkommen können, und (zwar auf) ‚dasselbe‘, und dann (von da) aus wieder hingehen, wieder impressional verwirklichen können? So für die Konstitution einer verharrenden Gegenwart als Habe, wirklich jetzt für mich seiend. Andererseits Konstitution einer Vergangenheit als vergangene Habe. Indessen, in der Genesis kann ursprüngliches Wiedererkennen nicht schon Wiedererkennen von ‚Seiendem‘ sein, wie ursprüngliche Retention natürlich voran liegt der Retention und Wiedererinnerung von Seiendem bzw. der Retention, die Wahrnehmung von Gegenständen retentional verwandelt. Das Wesentliche der obigen Betrachtung bleibt, auch wenn die ursprünglichen Akte noch nicht auf Seiendes gerichtet sind, dass (es) vielmehr erst in gewissen Erwerben als Seiendes für das Ich entspringt. Indem Ähnliches der impressionalen Gegenwart mit Ähnlichem der Retention sich ‚verähnlicht‘, gewinnt das Gegenwärtige erwartungsmäßige ‚ähnliche‘ Zukunft. Das patente Ich der Gegenwart, das ‚aktuell‘ gegenwärtige im wirklichen Tätigsein, gewinnt wiedererkennend Gemeinschaft mit sich selbst, Deckungseinheit mit sich selbst als dasselbe Ich, Akt-Ich, und dadurch Zukunftshorizont; als dasselbe wird es



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IV. Gemeinschaftliche Weltkonstitution Andere bzw. fremde Subjekte werden mir durch einfühlende Vergegenwärtigungen bewußt. Sie werden mir dabei bewußt als in ihrem eigenen Leben Seiende, „[…] darin Welt habend und dasselbe wie ich erfahrend“42. Mein vor-objektiv seiender Leib, „ich darin waltend, […] fundiert die Seinsgeltung fremder Leib, worin fremdes Ich waltet und fremde – nämlich seine – Einheiten von Erscheinungen als Natur in Geltung hat […]. Damit erwächst für mich in motivierter Weise das für uns Objektive, nämlich gemeinsame Natur, aber auch mein Leib als nicht nur Leib, worin ich walte, sondern auch für ihn (den für mich zur Seinsgeltung gekommenen Anderen), ‚ein‘ Leib, nicht sein, sondern mein Leib […]“43. Die Leibwahrnehmung ist ständiger Bestand der ursprünglichen Gegenwart und dementsprechend ist mein Leib immer schon in der immanenten Zeit gezeitigt. Durch identitätsstiftende Synthesen konstituiert sich mein Leib als identischer Pol, um den die raumzeitliche Natur orientiert ist. Kinästhesen werden apperzeptiv als leibliche Aktionen und Vermögen aufgefaßt, die in die Horizonte der aktuellen Wahrnehmungsfelder bzw. in die raumzeitliche Natur „eindringen“. Gemäß Husserl gilt damit: „[…] für die Konstitution der Welt als Welt wirklicher und möglicher objektiver Erfahrung spielt für mich […] der eigene Leib die zentrale, die Kern-Rolle, aber die anderen Leiber sind dann doch sekundäre Zentra der objektiven Naturalisierung – die objektive Natur ist auf das offene Universum der Leiber bezogen“44. dasselbe tun. Sagt man, uranfänglich ist das Ich im Instinkt mit leerem Horizont, so ist es Wiederholung, durch die die Instinktenthüllung erfolgt. Im neuen, aber gleichen Streben, von ähnlichem Gefühl des ‚Ungenügens‘ (aus), (wird) das Strebensziel, und als Ziel eines ähnlichen Erfüllungsweges, patent gemacht. Man wird sagen müssen, dass Wiederholung als Wiedererkennen das Ursprünglichste ist und Wiedererinnerung schon ein Sekundäres“ (Husserl: CMan, 283). 42  Husserl: CMan, 13. 43  Husserl: CMan, 15. 44  Husserl: CMan, 112; „Gehen wir nun über zu anderen ‚Transzendenzen‘. Wir können jetzt ausgehen von der konkreten immanent zeitlichen Sphäre (einem ersten Universum in einer ersten Zeitlichkeit), die dem Strömen der konkreten Gegenwart entquillt und in ihr immerfort intentional ‚impliziert‘ ist. In dieser strömenden Immanenz, sich explizierend in der expliziten immanenten Zeit, bekundet sich ‚die‘ objektive Welt, und zwar sagt das, es geht durch die immanente Zeit kontinuierlich hindurch eine darin erfahrene Welt, oder, es gehört zur Struktur der strömenden Gegenwart eine kontinuierliche mundane Wahrnehmung. Dem urhyletischen Kern entspricht, jetzt ein neuer Kern, eine neuartige Hyle: Das ist in der strömenden Präsenz das naturale Wahrnehmungsfeld und in der mundanen Allzeitlichkeit (bzw. in der Welt als erfüllter Zeit) die universale Natur. Die Empfindungshyle fungiert als ‚Auffassungsmaterie‘ für die Wahrnehmung der naturalen Hyle, und die Auffas-

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Für die Konstitution der raumzeitlichen Welt, der Tiere und Menschen und meiner selbst als psychophysischer Realität unter anderen Dingen im Raum sind die Anderen Voraussetzung. Mit dem Adjektiv „psychophysisch“ beschreibt Husserl die ständige Bezogenheit des intentionalen menschlichen Bewußtseins, der Psyche, auf die „äußerliche“ Körperwelt. Mensch bin ich, „[…] nachdem Andere schon konstituiert sind, nicht nur als Andere, sondern als andere Menschen, seiend als Substanzen ihres Ortes, seiend als beweglich in der Bewegung, identische Einheiten ihrer ‚Qualitäten‘, dabei psychophysisch ‚zweiseitig‘ etc. Transzendental gehe ich den Anderen vorher, für die empirische Konstitution gehen die anderen Menschen meinem Sein als Menschen vorher. Wenn ich mich als Menschen ursprünglich anschaulich erfahre, sehe ich mich an, als ob ich dort ein anderer Mensch wäre“45. Mit der Einfühlung treten neue Affektionen und Apperzeptionen auf, die einerseits meine Vermögen erweitern und andererseits „unbeseelte“ Körper der primordialen Sphäre als psychophysische Einheiten auffassen. Wie bereits angedeutet, ist jedes Seinsbewußtsein durch mein antizipiertes Vermösung ist hier ein neuer und näher zu erforschender Modus der zugleich gegenwärtigenden und vergegenwärtigenden Funktion. Die ‚Natur‘ ist Kern, Materie (Hyle) der Welt als erfahrener – ein Kern, der ‚Vergeistigung‘ annimmt und im Weltbewusstsein vorweg schon hat; aber die objektive Natur ist nicht aufgrund der einheitlichen Hyle schlicht konstituiert, sondern erst konstituiert ist der primordiale Kern, durch den für mich der Sinn Natur in erster Stufe sich konstituiert. In der Stufe vor der Natur: Geht auch die Konstitution der Hyle (Zeitigung des Empfindungsdatums) an sich voraus der Konstitution des konkreten Erlebnisstroms als eines einheitlichen Seinsfeldes? Das ist noch näher zu überlegen. Ferner: Der naturalen Zeitigung, und zwar der an sich ersten, der primordialen, entspricht im Kern primordialer Natur sozusagen der Kern der naturalen Zeitigung, d. i. die strömende naturale Wahrnehmung (als Kern jeder mundanen Wahrnehmung) usw. In diesem Wahrnehmungskern ist dann beschlossen der hyletische Urkern als Auffassungsmaterial – aber diese ganze Zeitigung ist selbst schon konstituiert, nämlich mit Rücksicht auf die Urzeitigung des Empfindungsmaterials und seiner Auffassung. Ferner: Für die Zeitigung der Natur in der Primordialität bzw. in meiner immanenten Sphäre stoßen wir noch einmal und schon früher auf einen Kern, nämlich in der primordialen Natur ist mein Leib ausgezeichnet und für die primordiale Kernwahrnehmung, für Naturwahrnehmung, die Leib-Wahrnehmung. Die Natur zeigt sich als raumzeitliche Natur und der Raum in Orientierung um meinen Leib und seiner ausgezeichneten Erscheinungsweise. In der strömenden Urpräsenz haben wir unabänderlich immer schon Leib Wahrnehmung, und so in der Zeitigung der immanenten Zeit geht durch diese ganze Zeit kontinuierlich hindurch mein Leibwahrnehmen, synthetisch identisch denselben Leib allzeitlich konstituierend. […] und für die Konstitution der Welt als Welt wirklicher und möglicher objektiver Erfahrung spielt für mich (und dann für jedermann entsprechend) der eigene Leib die zentrale, die Kern-Rolle, aber die anderen Leiber sind dann doch sekundäre Zentra der objektiven Naturalisierung, die objektive Natur ist auf das offene Universum der Leiber bezogen“ (Husserl: CMan, 110). 45  Husserl: CMan, 236.



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gen konstituiert, „jederzeit“ auf das Seiende zurückkommen zu können bzw. es in Selbstgebung überführen zu können. Diese Antizipation bzw. Präsumtion erfährt eine Erweiterung, wenn meine Vermöglichkeiten um das Vermögen der Anderen ergänzt werden. „Treten wir nun von der transzendentalen Egologie in die transzendentale Soziologie über bzw. vom abstraktiv solipsistisch gedachten Ego zur Menschengemeinschaft und ihrer Welt, (so) erweitert sich für mich als Ego (und dann für jedes Ich) in neuer Weise die seiende Welt, die nun einen intersubjektiven Seinssinn annimmt. Dabei erweitert sich auch die Naturhistorie in ihrer weltliches Sein mitkonstituierenden Funktion und verflicht sich mit der jetzt neu in Frage und in eben solche Funktion tretenden Geisteshistorie, natürlich als soziale Menschheitshistorie verstanden. Im primordial betrachteten Ego hatten wir die Synthesis der Nahwelten zur Einheit derselben, im fortgehenden Leben erfahrenen Welt, unter beständiger Rückprojektion der Apperzeptionen oder rückgreifender Sinngestaltung. Sowie Andere für mich da sind und Gemeinschaft hergestellt (ist), vollzieht sich eine Synthesis meiner Wahrnehmungswelt als Nahwelt mit der des Anderen und so überhaupt eine Synthese meiner, für mich konstituierten Welt mit der für den Anderen konstituierten. Auch diese Synthese führt zur konstitutiven Erweiterung. Was dem Anderen zugänglich ist, wird mittelbar auch für mich zugänglich, obschon jeweils innerhalb gewisser, wandelbarer Grenzen. Und so auch umgekehrt. Das betrifft zunächst meine Gegenwart und die der mir gegenwärtigen Anderen. Es überschieben sich aber auch die Vergangenheiten, und eine ‚weiter zurückreichende‘ Vergangenheit des Anderen wird mir durch ihn zugänglich“46. Die vergegenwärtigende Einfühlung konstituiert Subjekte als Objekte, die in ihren Leibern walten und Welt erfahren. Durch diese Objektivierung entsteht der Mensch als psychophysische Einheit. „Wir haben nun weltlich eine konkrete Einheit zweier Schichten, in welcher die eine Schicht, die zu allen konkreten Objekten gehörige physische, ihre eigene physische Individualität hat und die andere die ihr wiederum eigene seelische Individualität, die eines in sich relativ konkreten Ichsubjekts. Die physische hat als innere Form ihres individuellen Seins die raumzeitliche Extension, ihre Dauer, in welcher in jeder Phase der ihr zugehörige individuelle Gehalt räumlich extendiert ist in kontinuierlich einheitlichem Übergang. Diese räumlichzeitliche Extension ist von vornherein objektiv, eingeordnet der universalen 46  Husserl: CMan, 165 f.; „Nämlich um Weltliches wahrzunehmen, sind Bedingungen zu erfüllen, und möchte ich auch Wahrnehmungen im Mutterleib gehabt haben, so doch nicht solche, die weiterreichen, und zum Wahrnehmen gehört ein Leib mit ausgebildeten, von mir frei beweglichen Organen. – Schließlich eine Vergangenheit, die für die Anderen erinnerungsmäßig gegeben ist, in der ich überhaupt kein Mensch war in der Welt“ (Husserl: CMan, 168).

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raumzeitlichen Extension, der universalen Individualform, die alle physischen Naturobjekte in der Einheit einer physischen Natur umspannt“47. Durch die gemeinsame Welterfahrung konstituiert sich nicht nur eine individuelle „Geschichte“, deren Träger die Sedimente und Typenbildungen jedes einzelnen Menschen sind. Auch eine intersubjektiv sedimentierte naturhistorische Typik baut sich durch die ständige Welterfahrung auf. Die individuelle und die gemeinschaftliche Typenbildung sind wesentlich induk47  Husserl: CMan, 386 f.; Husserl schreibt weiter: „Was nun die Seelen der animalischen Individuen, im Besonderen der Menschen, anbelangt, so haben sie natürlich durch die raumzeitliche Extension ihrer Körper ‚objektive‘ Raum-Zeitlichkeit in ihrer Dauer und räumliche Lokalisation. Aber in einer Seele selbst liegt natürlich diese Form der Individuation nicht und nicht in der Allheit der weltlichen Seelen, diese rein betrachtet unter Absehen von den Körpern, die universale Form der Raumzeitlichkeit. Aber wir finden als innere seelische Individualform ein Analogon der objektiven Dauer bzw. Analoga von Vorgängen während einer Dauer. Hinsichtlich der Seele im Ganzen eine Totalform, ihr Sein in strömendem Fortwähren als lebendige Gegenwart, die zugleich eine offenendlose Vergangenheit hinter sich und eine offene Zukunft vor sich hat, in die sie hineinwährt. Im fortwährenden Strom des Bewusstseinslebens ‚verharrt‘ das Ich als dasselbe in ihm Erlebende und hat als dieses Verharrende relativ verharrende Eigenschaften, die nicht die Erlebnisse sind, sondern sich in diesen ‚bekunden‘. Als Ich dieser in einem besonderen Sinne ich­ lichen (oder in besonderen personalen) Eigenschaften verharrt das Ich, indem es zeitweise sich treu bleibt, in seinen Eigenschaften unverändert – oder sich darin verändernd. Es ist so auch Verharrendes in diesen ihm eigentümlichen Weisen des Sich-Veränderns, die formal etwas Analoges, aber in Wahrheit ein dem Sinne nach und (dem) Typus nach ganz Anderes sind als das Verharren physischer Körperlichkeit in ihren physischen Veränderungen und Unveränderungen, die ihrerseits bezogen sind auf raumzeitliche Extension. Was das Räumliche anbelangt, so fehlt es in der Seele. Räumlichkeit ist in ihr Bewusstes (nicht Sache des Erlebnisses als Bewussthabens, sondern des darin Erlebten, Bewussten, Erscheinenden, Vermeinten). Es ist nicht etwa eine zweite Räumlichkeit da in der Weise eines reduplizierenden Abbildes, und auch nicht eine Individualform gleicher Formstruktur. Nur als eine entfernte Analogie haben wir im Seelischen, und zwar an den ihr zugehörigen (‚bloß subjektiven‘) Erscheinungen von Dingen, an den Perspektiven, eine jeweilige Ausbreitung, in der sich räumliche Extension darstellt, und zwar nicht eine einzige, sondern verschiedene, in der Weise der abschattenden Sinnesfelder (Abschattungen für die Wahrnehmungsfelder von Objekten), als Sehfeld, Tastfeld etc. Fehlt auch ein eigentlicher Raum als Form der zeitlichen Koexistenz, so fehlt es doch nicht an (der) Form der Koexistenz überhaupt, so schwer sie zu beschreiben sein mag. Es ist eben eine Analogie der objektiven Zeitlichkeit in jeder eigenseelischen Zeitlichkeit gegeben als Individualform der Seele. Ein eigenes Problem der Auslegung ist dies, inwiefern die Allheit der Seelen, und rein seelisch genommen, einen Zusammenhang hat, in dem die innerseelischen Zeiten zu einer Einheit gebracht werden. Aber dies können wir ausgeschaltet halten“ (Husserl: CMan, 387). „Konstitution individuell identischer Gegenstände als intersubjektiv identifizierbare – nicht nur durch Anschaulichkeit, sondern durch Konstitution einer intersubjektiven Stellenzeit mit festbestimmten Stellen, fest für jedermann unterscheidbaren und identifizierbaren. Das ist der Hauptthema der objektiven Weltkonstitution“ (Husserl: CMan, 217).



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tiv antizipierend. „Ebenso gibt es mit Rücksicht auf sie [die Erfahrung als Teil der naturhistorischen Gesamterfahrung] eine Vorzeichnung der Zukunft und eine solche, die für mich praktisch wird und eine praktische Zukunft möglich macht. […] Die Welt hat einen induktiven Stil, nicht nur im Besonderen biologisch oder geologisch als ‚naturhistorische‘ Welt, in den ich eingreifen kann. […] Das Induktive ist die konkrete, durchaus induktive Typik der Erfahrungswelt, induktiv gemäß ihrer ganz ursprünglichen Sinnbildung. Im induktiven Stil liegt eo ipso ein Allgemein-Historisches. […] Im Kleinen wie im Großen ist eine konkrete ‚Naturgeschichte‘ (da), und im Geschehen der Erfahrungswelt jeder Phase herrscht dann auch eine induktivkausale Typik bedingender Umstände, der nachgegangen werden kann. […] Und das bestimmt hinsichtlich der Gegenwart das handelnde Eingreifen, das ja von einer konkreten gegenwärtigen Situation ausgeht und sie typisch schon aufgefasst haben muss, um eingreifend Veränderungen erwägen und durchführen zu können“48. 48  Husserl: CMan, 162; „Die passive Extension der Welt ins Unendliche ist analogisierende (assimilierende), transzendierende Apperzeption, welche natürlich keine Phantasie, sondern positionale Geltung ist und eine homogen-iterativ zu gewinnende Fortsetzung der Erfahrbarkeit der Welt analogisierend antizipiert, in Seinsgewissheit vorzeichnet – als ob Erfahrung in infinitum fortschreiten könnte, während in Wahrheit die Grenzen vermöglicher Erfahrung überschritten sind. In naiver Weise werden die Schranken vermöglicher Erfahrbarkeit als wie zufällige behandelt und so die unendlich antizipierte Welt als in Wahrheit seiende. Eben damit ergibt sich aber der Gedanke der Möglichkeit von indirekten induktiven Bewährungen – ganz so, wie wir innerhalb der weiten, offenen irdischen Welt, der irdischen Menschheit und menschheitlichen Umwelt, de facto auch nicht alles bewähren, nicht alle Menschen befragen können etc. Wir induzieren und bewähren ständig das Induzierte, nicht durch bloß direkte Erfahrung (was nur in ganz geringem Maße uns möglich ist), sondern indirekt durch Bewährung der Voraussagen für unseren Erfahrungskreis und die für ihn antizipierten kausalen Folgen. Willkürliche Experimente etc. […]. Natürlich stückt sich die Welt nicht aus den primordial reduzierten Welten zusammen. Jedes primordiale ist Reduktionsprodukt von einem intersubjektiv und generativ konstituierten Sinn, der Seinssinn ist aus der intersubjektiv zusammenstimmenden Erfahrung eines jeden, einer Erfahrung, die schon auf die Intersubjektivität Sinnbeziehung hat. Meine Erfahrung als Welterfahrung (also jede meiner Wahrnehmungen schon) schließt nicht nur Andere als Weltobjekte ein, sondern beständig (in seinsmäßiger Mitgeltung) als Mitsubjekte, als Mitkonstituierende, und beides ist untrennbar verflochten. Die subjektive Seite der Welt – konstituierte Geistigkeit in der Welt, konstituiert durch die letztlich transzendentale Aktivität, und zwar die handelnde. Für alle Abbau-Reduktion gilt der Hauptsatz, dass die Abbauschichten nicht etwa für sich in der Genesis konstituiert sind, in einer genetischen Abfolge, die der Fundierungsabfolge entspricht. Zwar entspricht jeder Schicht eine Schicht in der Genesis; alle Intentionalität, durch die vorgegebene Welt konstituiert ist, ist genetisch erworben und ist im genetischen Fortwerden begriffen. Aber alle Genesen aller Schichten fungieren immanent zeitlich zusammen, es sind koexistierende Genesen“ (Husserl: CMan, 393).

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Jedes weltliche Subjekt ist Realisierung einer Monade. Gemäß Husserl impliziert jede Monade die Gemeinschaft der Monaden. Diese Gemeinschaft enthält sowohl wache weltkonstituierende Monaden wie auch „schlafende“ Monaden, die nicht an der Weltkonstitution teilnehmen. Auch Tiere sind Realisierungen von Monaden. Der wesentliche Unterschied in der Konstitution von Tieren und Menschen liegt in der andersgearteten vergegenwärtigenden Einfühlung49, die den Menschen als erkenntnisfähige psychophysische Einheit konstituiert. „Jede Monade ist individuell als Monade und ist unzerstörbar, ob sie auch in animalischer Weise sich objektivierend zu leben beginnt im Zusammenhang der universalen monadischen Kausalität oder ihr Leben endet und nun tot ist. […] Entwicklung [der Monaden] ist animalischseelische Entwicklung, die einzige, die wirklich erfahrbar ist und direkt erkennbar. Aber der Erkennende ist ein Mensch und nicht ein Tier, und die Wesensnotwendigkeit der Erkennbarkeit des Seins, also auch des absoluten monadischen Seins, fordert eine Kausalität der Monaden, in der sie nicht nur überhaupt Welt konstituieren, sondern eine Menschenwelt ‚im Laufe der Zeit‘“50. Charakteristisch für die „vollkonstituierte Welt“ ist, daß jede neue Urstiftung innerhalb der einen im voraus seienden Welt bleibt und „ein ihr schon Seiendes nur verändert, verändert freilich in einer Weise, die Seiende neuen Sinnes zwar mitschafft, aber solche, die eben von vornherein zum Horizont der Welt gehören, und [so, dass] das neu Zugewachsene auch als Weise der Veränderung durch Kausalität gilt“51. In der Welt finden wir Natur und Naturobjekte als Seiendes, das unabhängig von der menschlichen Psyche und von menschlichem Handeln vorhanden ist. Gemäß Husserl ist die Vorfindlichkeit von Seiendem, das nicht aus subjektivem Leisten existiert, Wesensmerkmal der Welt und konstitutiv für die Welt. „Die Konstitution der Welt als einer solchen des objektiven Geistes setzt Ausdruck der zu konstituierenden geistigen Sinnhaftigkeit voraus und letztlich ein absolut solchen ‚geistigen‘ Sinnes Bares, und das ist Natur. Diese ganze Seinsschicht der Welt setzt für die Möglichkeit ihrer Erfahrung schon das Sein tätiger Menschen in einer menschlichen Gemeinschaft voraus. Menschen können füreinander nicht sein, es sei denn, dass in der transzendentalen Subjektivität, die ihnen entspricht, schon primordiale Natur und dann intersubjektiv-gemeinsame Natur konstituiert ist und mit ihr 49  „Tiere sind intentionale Modifikationen der Menschen und als solche indirekt erfahren hinsichtlich ihres Seelischen, also auch als Tiere und nicht als Körper. Die tierische Umwelt ist, als wie sie tierisch erfahren ist, eine intentionale Modifikation der menschlichen. Tiere derselben Spezies untereinander haben wieder Gemeinschaft in analogem direktem Sinn wie wir Menschen“ (Husserl: CMan, 174). 50  Husserl: CMan, 177. 51  Husserl: CMan, 239.



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die ursprüngliche Konstitution der Raumzeitlichkeit gewonnen ist. […] Die Konstitution der Natur ist die an sich erste, immer fundierend, von vornherein untrennbar verflochten mit der Konstitution der Leiblichkeit, die als System von Organen das erste ‚geistige‘ Objekt ist […]“52. V. Telos der Weltkonstitution Sowohl der einzelne Mensch wie auch die historische Menschheit durchlaufen einen Prozeß kontinuierlicher Typenbildung, mit dem sich die Welt als Sinnstiftung immer weiter anreichert. Gemäß Husserl gewinnt die Menschheit damit „Echtheit“; sie nähert sich dem, was als vollständige Einheit von realem Sein und transzendentaler Bestimmung ein in der Unendlichkeit liegendes Ziel ist. „Alle Weiterentwicklung [des Kindes] vollzieht sich so, dass der kindliche Horizont sich mit immer reicheren Vorzeichnungen ausstattet. Das Kind gewinnt neuartige Apperzeptionen auf dem Grund seiner alten, es gewinnt nicht nur neue Bekanntschaften, sondern damit auch für den Horizont, als den der offenen Möglichkeiten, neue Bekanntschaften von Typen möglichen Seins. Das geht nun freilich immer weiter als Entwicklung des Menschen und der Menschheit überhaupt und damit der Welt der Menschheit. Denn die Welt, die für den Menschen jeweils ist, ist das Universum des ihm individuell Bekannten, aber im Horizont der ihrerseits typisch bekannten Möglichkeiten. Hat der Mensch schon einen Menschheitshorizont in geschichtlicher Entwicklung, und deutlicher gesprochen, schon ein Weltbewusstsein durch eine, die Entwicklung enthüllende, Historie, so hat er auch konkret vor Augen, wie in der Entwicklung völlig neuartige Typen von Bekanntheiten erwachsen, wie für ihn in der Welt neuartige Weltgegenständlichkeiten zur Geltung kommen, wie also sein Welthorizont neue Sinnesvorzeichnung erhält“53. Das Streben nach Echtheit ist ein ständiges intentionales Implikat unseres bewußten Lebens54. Echtheit ist Einstimmigkeit aller Geltungen. Zu dieser Einstimmigkeit werden wir durch einen „transzendentalen Instinkt“ geleitet, in dem sich eine ständige universale Teleologie auswirkt55. Die wachsende CMan, 401 f. CMan, 242. 54  „Welt als Natur, Welt als faktische Geisteswelt – jede in ihrer relativen ‚Wahrheit‘, Welt als wahre und echte Welt, Welt echter Menschen, die die Sachenwelt, die außermenschliche, zur konsequenten Echtheit (der korrelativen echten Menschentums) zu gestalten streben. Auch das ist intentionales Implikat im universalen lebendigen Leben“ (Husserl: CMan, 21). 55  „Transzendental: Die Welt ist die in der strömenden Lebendigkeit der transzendentalen Subjektivität sich konstituierende Geltungs- und Bewährungseinheit, strömend sich konstituierend in der Weise einer einheitlichen intentionalen Zeiti52  Husserl: 53  Husserl:

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Einstimmigkeit befriedigt das Ich. Auf allen Stufen der Konstitution wirkt sich die universale Teleologie als Streben aus. Als ursprünglich seinskonstituierender Wille durchdringt und leitet sie die transzendentale Intersubjektivität auf ihrem unendlichen Weg zur Vollkommenheit56. Bibliographie Husserl, Edmund: Späte Texte über Zeitkonstitution (1929–1934). Die C-Manuskripte, hrsg. von Dieter Lohmar, Dordrecht 2006 (= Husserliana Materialien Bd. VIII).

gung, in ihr immerzu Fortgang von urmodal einsetzenden Akten mit urmodalen Erzielungen, die bald ungehemmt sich auswirken, teils Hemmung erfahren. Dazugehörig das jeweils intentional Erzielte und im Fortgang zu neu einsetzenden Akten Verwandlung der alten Akte und ihrer Ergebnisse in Behaltungen in unaufhörlich sich wandelnden Modis. Alle neue Aktivität (ruht) auf dem Grund einer Passivität und Rezeptivität, d. i. auf dem Grund der aufbewahrten Erwerbe, des Vermögens ihrer Weckung und Rezeption als Wiederaktivierung. Alle Aktivität ist Aktivität im Horizont, in dem die wirklichen und möglichen Ziele liegen. Das universale Leben, transzendental-konkrete Einheit der Intentionalität, Einheit der intentionalen Habe im Strömen, im Gang immer neuer Konstitution von Habe, neuer Erwerbe, unter begleitender Intention auf Einstimmigkeit, auf Beseitigung der Hemmungen, auf Beseitigung der Modalisierung in Überführung in neue Einstimmigkeit. Transzendentaler Instinkt – in einem Sinn die durch die Totalität der Intentionalität des Ego hindurchgehende universale Tendenz – die ständige universale Teleologie. In der Einheit des teleologischen, des konstituierenden Lebens ist ständig konstituiert, aber konstituiert sich auch fort, die Welt, in welcher die konstituierende Subjektivität sich immerfort selbst verweltlicht findet. Im Konstituieren der Welt entwickelt sich das konstituierende Ich als Ich seiner einstimmigen Geltungen, als das immerfort in der Einheit eines Fortstrebens zu immer weiter reichenden universalen Geltungseinstimmigkeiten und damit zur Fortentwicklung seines eigenen Ichseins; worin auch liegt, zu immer vollerer, immer besser standhaltender universaler Befriedigung. Diese Entwicklung in ihrer jeweiligen Entwicklungsgestalt (ihrem Stadium) und der strömenden Aktualität ihres Fortgangs tritt objektiviert in dem menschlichen Entwicklungsstreben (und so (in) allem animalischen) auf“ (Husserl: CMan, 260). 56  „Der ‚Wille‘, der seinskonstituierend ist, hat hinter sich ein Ursprünglicheres, das Streben, Hinstreben, Strebend-in-Prozess-Überführen als das Streben erfüllend, im Vor-Willen, Vor-Handeln ein Vor-Ergebnis offerierend, weiter nach sich ziehend, ein ichliches Streben zu wiederholen, ein gelegentlich ungehemmt in Wiederholung Überführendes, aber auch gehemmt etc. Urvorkommnisse, welche Voraussetzungen aller ursprünglichsten Stiftung von Apperzeptionen sind und in ihrer Weise, gleich den hyletischen Daten, zur Teleologie der Seinskonstitution, der universalen Seinskonstitution gehören. Natürlich auch: vor dem seienden Ich und Wir das Vor-Seiende“ (Husserl: CMan, 260).

Ausdruckswahrnehmung und Dingwahrnehmung Zum Verhältnis von Kultur und Natur bei Ernst Cassirer Sebastian Ullrich Ernst Cassirer hat zeit seines Lebens um den Begriff des Ausdrucks gerungen1. Wirken seine diesbezüglichen Ausführungen im dritten Band der ‚Philosophie der symbolischen Formen‘2 noch stellenweise psychologisierend, so hat er in unentwegt weitergeführten Überlegungen versucht, die „Ausdruckswahrnehmung“ deutlicher als eigenständigen, objektivierenden Funktionszusammenhang auszuweisen. In seinen nachgelassenen Notizen aus der Mitte der 30er Jahre findet sich ein Argumentationsgang skizziert, mit dem er seinem Ziel vielleicht nähergekommen ist3. Dieser Argumentationsgang soll hier rekonstruktiv nachverfolgt werden, mit dem Zweck, zugleich eine Verhältnisbestimmung der Begriffe der Natur und der Kultur im Cassirerschen Verständnis zu gewinnen. I. Cassirers Argumentation setzt ein mit der Behauptung der Vermitteltheit der Erscheinung: „Alle Realität ist uns immer durch a-theoretische Funktio1  Vgl. zum Problem des Ausdrucks z. B. Aud Sissel Hoel: „Cassirer’s Dynamic Conception of Form“, in: Gunnar Foss / Eivind Kasa (Hrsg.): Forms of Knowledge and Sensibility. Ernst Cassirer and the Human Sciences, Kristiansand 2002, 192 ff.; Thomas Knoppe: Die theoretische Philosophie Ernst Cassirers. Zu den Grundlagen transzendentaler Wissenschafts- und Kulturtheorie, Hamburg 1992, 151–171; ders.: „Idee und Urphänomen. Zur Goethe-Rezeption Ernst Cassirers“, in: Enno Rudolph /  Bernd Olaf Küppers (Hrsg.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg 1995, 337; John Michael Krois: Cassirer. Symbolic Forms and History, New Haven / London 1987; Birgit Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Hamburg 2004, 46–48. 2  Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis. Zitiert als PSF III nach: Ernst Cassirer. Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe (ECW), hrsg. von Birgit Recki u. a., Band 13, Hamburg 1995 ff., 64–103. 3  Cassirer: Kulturphilosophie: Vorlesungen und Vorträge: 1929–1941. Zitiert als ECN nach: Ernst Cassirer. Nachgelassene Manuskripte und Texte, hrsg. von John Michael Krois u. a., Hamburg 1995 ff., 105 ff.

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nen (durch ‚Erlebnisse‘) vermittelt“4. Den damit ins Spiel gebrachten Begriff des Erlebnisses setzt Cassirer mit Humes Begriff des belief gleich: Dieser – genauso wie „Erlebnisse“ – „ist die unerschütterliche, durch logische Argumente nicht-angreifbare, feste Basis für jegliches ‚Realitätsbewusst­ sein‘“5. Den Bezug zu Hume stellt Cassirer freilich nur in der kritischen Absicht her, um sogleich darauf abzustellen, daß bei Hume „die (synthetisch-objektivierende) Funktion des Belief […] verkannt [ist]“6. Damit führt Cassirer zugleich eine Unterscheidung logischer Ebenen ein: Erlebnisse, genauso wie Belief, vermitteln uns die Realität bzw. sind das, worin oder wodurch uns Realität gegeben ist, also das geistige Medium der Realität. Geistige Medien können unterschiedlich geartet sein – es sind Cassirers symbolische Formen. Theorie (im engeren Sinne) verbleibt genauso wie Ästhetik (Kunst), mythisches Bewußtsein oder Sprache auf der Ebene des Mediums, das Realität nur vermitteln kann, indem es als reale Struktur oder als realer Prozeß aktuell ist. Symbolische Formen sind „nicht verschiedene Weisen, in denen sich ein an sich Wirkliches dem Geiste offenbart, sondern sie sind die Wege, die der Geist in seiner Objektivierung, d. h. in seiner Selbstoffenbarung, verfolgt“7. Die synthetisch-objektivierende Funktion, die durch Belief bzw. durch Erlebnisse zur Geltung kommt, muß Cassirer deshalb in Abhebung vom medialen Verständnis des Theoretischen als „a-theoretisch“ bezeichnen. Diese a-theoretische Funktion, die als synthetisch-objektivierende die Bedingung der Möglichkeit theoretischer Durchdringung, ästhetischer Empfindung, mythischer Auffassung oder sprachlicher Kommunikation von Realität ist, ist die transzendentale „Grundlage“8 von Belief oder Erlebnis – wobei diese Durchdringung, Empfindung, Auffassung und Kommunikation sich selbst real und als Teil des Ganzen der Realität vollziehen muß. Cassirer setzt für „Erlebnisse“ seinen charakteristischen, eine „Doppel­ heit“9 der Funktion anzeigenden Begriff des Ausdruckserlebnisses10 bzw. der Ausdruckswahrnehmung ein, um dessen Aufklärung es ihm zu tun ist. Die von Cassirer gemeinte „Doppelheit“ läßt sich am leichtesten mit Bezug auf die „Dingwahrnehmung“, d. h. auf das gegenständliche Realitätsbewußtsein verständlich machen – hier verläßt sich Cassirer auf die Kritik der 4  Ebd. 5  Ebd. 6  Vgl.

ebd., 106. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache, in: Gesammelte Werke / 11. Hamburger Ausgabe, Hamburg 1995, 7 (PSF I, ECW 11). 8  ECN 5, 107. 9  Vgl. ebd., 108. 10  Vgl. ebd., 107. 7  Cassirer,:



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reinen Vernunft: Die Doppelheit, nämlich „des ‚materialen‘ und des ‚formalen‘ Faktors[,] diese synthetische Einheit des Verschiedenen giebt erst die Natur, die Konstitution des (empirischen [gegenständlichen]) Realitätsbewusst­ seins“11. Cassirer differenziert jedoch den Begriff der Realität, indem er zwischen der „Realität des Fremdpsychischen“ und der Realität „der ‚Außenwelt‘“ unterscheidet12. Jedenfalls ist die Realität des Fremdpsychischen der Ausgangspunkt von Erlebnis oder Belief als unmittelbarer Ausdruck der synthetisch-objektivierenden Funktion, nicht theoretische Erkenntnis im engeren Sinne. Dennoch diskutiert der gründliche Cassirer einige im engeren Sinne theoretische Ansätze, die jeweils auf ihre Weise des Problems des Fremdpsychischen Herr werden wollen – Behaviorismus, Intuitionismus und verschiedene Spielarten von Analogieschlüssen der sogenannten Einfühlungstheorie und der Biologie13, die für den hier dargelegten Zusammenhang ausgeblendet bleiben können. Cassirer geht es um die Frage, „wie weit und auf Grund welcher Krite­rien wir den Bereich des ‚Fremdpsychischen‘ ausdehnen dürfen“14. Seine philosophische Reflexion ist in dem Sinne theoretisch und praktisch zugleich, als sie mit der Reflexion ihren eigentlichen Gegenstand erst hervorbringt, indem sie darauf abstellen muß, „sich den Grund und Boden, auf welchen sie sich stellt, selbständig zu erarbeiten und zu sichern“15. Diese „Selbstbesinnung und Selbstrechtfertigung erstreckt sich nicht nur auf ihre Resultate, auf den Bestand bestimmter Lehrsätze, sondern richtet sich in erster Linie auf das Ganze ihrer Fragestellung und auf das Ganze ihrer Methode“16. Ohne auf Cassirers Philosophieverständnis und den systematischen Status des Begriffs der „philosophischen Erkenntnis“17 eingehen zu können – dies ist an anderen Orten schon eingehender geschehen18 –, kann hier nur festgehalten werden, daß es für Cassirer eine Aufgabe der Philosophie ist, daß sie Rechenschaft ablegt über sich selbst19 – und damit Rechenschaft ablegt von 11  Vgl.

ebd., 108. ebd., 107. 13  Vgl. PSF III, ECW 13, 64–103. 14  ECN 5, 113. 15  PSF III, ECW 13, 54. 16  Ernst Cassirer: Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs (1929), zitiert nach ECW 17 als FFW, ECW 17, 342. 17  Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, zitiert nach ECN 1, 264. 18  Dazu ausführlich Sebastian Ullrich: Symbolischer Idealismus. Selbstverständnis und Geltungsanspruch von Ernst Cassirers Metaphysik des Symbolischen, Hamburg 2010. 19  Vgl. FFW, ECW 17, 342; Donald Philip Verene (Hrsg.): Symbol, Myth, and Culture. Essays and Lectures of Ernst Cassirer, New Haven / London 1979, 49 f. 12  Vgl.

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den geistigen Formen20, indem sie nämlich letztlich einen philosophisch gerechtfertigten Sinn der Rechtfertigung bezüglich kulturell relevanter Wertfragen ausweist. II. Bei der philosophischen Behauptung der Realität des Fremdpsychischen soll es sich, genauso wie bei der Behauptung der Realität der ‚Außenwelt‘, „um eine kategorische, nicht um eine hypothetische Behauptung“21 handeln. Der philosophischen Reflexion enthüllt sich diese Behauptung als Selbstbehauptung: eine Selbstbehauptung dieser Realität als unmittelbares Zur-Geltung-Kommen der synthetisch-objektivierenden Funktion des Geistes bzw. geistigen Lebens. Für Cassirers Argumentation ist bereits an dieser Stelle eine entscheidenden Einsicht erreicht: Die Reflexion der Realität des Fremdpsychischen kann nicht in einer psychologischen Theorie erreicht werden, sondern ist genuine Aufgabe einer transzendentalen Reflexion. Wenn dann Cassirer doch an anderer Stelle vom „einzig gültigen Beweis des Seelischen“ spricht, dann stellt er entsprechend zugleich klar, daß „der freilich nicht in formal-logischen Schlüssen, durch abstrakte Demonstration und Deduktion, gegeben werden kann, sondern immer nur in der Form des ErWeisens, [des] Aufweisens“22. Die Grundlage bzw. der Grund der Realität des Fremdpsychischen wie der ‚Außenwelt‘ findet sich dabei an der Basis jeglicher Realität überhaupt, der „Grund ist ‚gegeben‘“23, und zwar genau in der Weise, wie dies in philosophischer Reflexion als Funktion der Selbstoffenbarung des Geistes zu durchschauen ist. Cassirer stellt sich in seinen Überlegungen die Aufgabe, ein Analogon der „Doppelheit“ des gegenständlichen Realitätsbewußtseins, nämlich der Doppelheit des materialen und des formalen Faktors in der Konstitution der Erscheinung der ‚Außenwelt‘ zu finden, auch für die Realität des Fremdpsychischen. Sich auf diese so verstandene Aufgabe einzulassen bedeutet freilich, sie in einer transzendentalen Reflexion anzugehen. Sie hat zum Ziel, die immanente Vollzugsstruktur der synthetisch-objektivierenden Funktion aufzuklären, die unmittelbar bzw. an eben jener „Basis des Realitätsbewusstseins“24 in der medial vermittelten Realität des Fremdpsychischen zur Geltung kommt. Für die gegenständliche Realität gilt für Cassirer die kategoriale Einheit von Empfindung und Anschauungsform als 20  ECN

1, 128. 5, 107. 22  Vgl. ebd., 125. 23  Vgl. ebd., 107. 24  Vgl. ebd., 105. 21  ECN



Ausdruckswahrnehmung und Dingwahrnehmung411

erwiesene Vollzugsstruktur der Doppelheit der synthetisch-objektivierenden Funktion. Nach einer analogen Vollzugsstruktur fragt Cassirer nun für die Ausdrucksfunktion, womit sich die Annahme der Geltung der Erlebnisse von Realität des Fremdpsychischen im Sinne der philosophischen Reflexion rechtfertigen ließe. Daraus erwächst eine weitere, entscheidende Frage: Welche Auswirkungen hat es für unsere sekundären, nämlich theoretischen (und auch ästhetischen, mythischen, sprachlichen) Vermittlungsformen von Realität, wenn die ausdrucksmäßige Entfaltung des geistigen Lebens für das Bewußtsein von Realität überhaupt eine konstitutive Funktion hat? Wenn also die Medien, durch die uns bzw. in denen uns Realität im gegenständlichen Sinne einzig und allein vermittelt ist, eine sich in ausdrucksmäßige Objektivität entfaltende Funktion zu Grunde liegen haben? – Zieht man in Betracht, daß Cassirer die Ausdruckswahrnehmung und die Realität des Fremdpsychischen wie Wechselbegriffe verwendet, so deutet sich immerhin bereits an, daß Cassirer in seiner Reflexion auf die Totalität der Vollzugsstruktur der synthetisch-objektivierenden Funktion, also der grundlegenden Bedingung der Möglichkeit von Realität überhaupt, die immanent in die Realität des Fremdpsychischen und die Realität der ‚Außenwelt‘ disjungiert ist, auf die methodische Trennung von mundus intelligibilis und mundus sensibilis abstellt: „Die Scheidung von mundus sensibilis und mundus intelligibilis […] bleibt also in der Tat bestehen – nur darf sie nicht metaphysisch, sondern sie muss methodisch verstanden werden – nicht Trennung zweier ‚Welten‘, sondern zweier ‚Dimensionen‘ (‚Standpunkte‘) der Sinn-Beur­ teilung.“25 III. Um die begrifflichen Verhältnisse von Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung – von Natur und Kultur – also aufzuklären, stellt Cassirer zunächst als Faktum fest: „Es gibt eine ‚Objektivität‘ des Psychischen genauso wie des Physischen.“26 Der damit eröffnete Zugang zur transzendentalen Fragestellung entspricht dem, was auch Cassirers Kant-Vermittler Cohen lehrte: Es ist vom Faktum auszugehen27. Zur Erschließung der Faktizität des objektiv Psychischen, der Kultur, führt Cassirer zahlreiche Studien ins Feld. Freilich kann das Faktische nur als Anstoß der Reflexion dienen. Denn, so Cassirer in seiner ‚Logik der Kulturwissenschaften‘ – sei25  Ernst Cassirer: Geschichte. Mythos. Mit Beilagen: Biologie, Ethik, Form, Kategorienlehre, Kunst, Organologie, Sinn, Sprache, Zeit, zitiert nach ECN 3, 197. 26  ECN 5, 109. 27  Dazu Birgit Recki: Kultur als Praxis, 45.

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ner eigentlich transzendentalen Logik28 –, „die [transzendentale] Logik fragt nicht nach den Realgründen des Geschehens, sondern nach den Erkenntnisgründen. Für sie lautet also die eigentliche Hauptfrage, welche Erkenntnisart es ist, der wir unser Wissen vom Menschen, als dem Träger und Schöpfer der Kultur, zu verdanken haben.“29 Cassirers Vorgehen kann als „kritische Phänomenologie“30 zusammengefaßt werden. Hier soll zur Veranschaulichung und als Plausibilitätsargument in einem Exkurs seine Argumentation gegen Taines Naturalismus, die er in der ‚Logik der Kulturwissenschaften‘ führt, nachvollzogen werden. Dort hantiert Cassirer mit dem Ausdruck der Stilbegriffe, mit denen objektive Merkmale von Kulturalität benannt werden und auf die hier nicht weiter eingegangen zu werden braucht. Das Interessante an Taines Vorstoß besteht für Cassirer darin, daß dieser versuche, „jede Eigenart der Stilbegriffe zu bestreiten“31. Taine geht es nämlich darum, alle Ausdrücke, die wir brauchen, um Kulturalität zu beschreiben, auf rein naturalistische Ausdrücke zurückzuführen; Taine versuche, „die ‚Kulturbegriffe‘ aus den ‚Naturbegriffen‘ zu entwickeln“32. „Und ebendies“, so zieht Cassirer eine Zwischenbilanz, „war offenbar das Ziel, das er erreicht zu haben glaubte, als er seine berühmte Trias der kulturwissenschaftlichen Erklärungsgründe aufstellte. Diese Erklärungsgründe: die Begriffe von Rasse, Milieu, Moment, schienen in keiner Hinsicht den Kreis dessen zu überschreiten, was wir mit rein naturwissenschaftlichen Mitteln feststellen können.“33 Um zu überprüfen, ob Taine sein „verheißungsvoll[es]“34 Programm tatsächlich streng durchführen konnte, fragt Cassirer: „Ist er allmählich von der Physik zur Botanik und Zoologie, zur Anatomie und Physiologie aufgestiegen, um mit 28  In ECN 5 erarbeitet sich Cassirer einen Begriff der Methode, die einen umfassenden Reflexionsblickpunkt ermöglicht, von dem aus nicht nur „die Erkenntnisbedingungen der Mathematik, der Naturwissenschaften […], sondern auch der Geschichte, der ‚Geisteswissenschaften‘ etc. untersucht“ werden können – „und die Logik (‚Formenlehre‘) der Geisteswissenschaften ist die ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ – eine Logik, die sich freilich nicht ‚logistisch‘, wie die Mathematik darstellen lässt[.] Aber das braucht uns nicht zu beirren: […] Wir brauchen eine ‚bewegliche‘ Logik, die ihren besonderen ‚Gegenständen‘ angemessen ist. Diese Logik wird nicht dialektisch im Sinne Hegels sein, […] wohl aber ‚transscendental‘[.]“ (ECN 3, 200) – Cassirer gewinnt damit sachlich genau seine „Logik der Kulturwissenschaften“ (zitiert nach ECW Band 24 als LKW, ECW 24, 357 ff.). 29  LKW, ECW 24, 440 f. 30  Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), zitiert nach ECW Band 12 als PSF II, ECW, hier: 12, 16. 31  LKW, ECW 24, 435. 32  Vgl. ebd., 437. 33  Ebd. 34  Vgl. ebd., 438.



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der Psychologie und Charakterologie zu enden und hieraus schließlich die besonderen Kulturphänomene zu erklären?“35 Cassirers Antwort auf diese Frage ist freilich erwartungsgemäß: „Wenn man näher zusieht, so findet man, daß dies keineswegs der Fall ist.“36 Diese Antwort erläutert Cassirer, indem er die Beschreibung der niederländischen Landschaft und des dazugehörigen flämischen Menschentypus kritisch resümiert, die Taine zum Zwecke der Demonstration seiner naturalistischen These gegeben hat. „Wenn Taine von der […] niederländischen Landschaft spricht, so müßte er, wenn er seiner Methode treu bleiben wollte, diese Landschaft nach ihren ‚physischen‘ Merkmalen, also als Geologe oder Geograph, beschreiben. […] Aber bald begegnen wir einer ganz anderen Charakteristik, die man im Gegensatz zur physischen eine ‚physiognomische‘ Charakteristik nennen könnte. Die Landschaft ist düster oder heiter, streng oder lieblich, zart oder erhaben. Dies alles sind offenbar […] reine Ausdruckscharaktere.“37 Dem geht Cassirer nach und entdeckt, daß das „Gesamtbild“38, das uns Taine mit seiner vermeintlich naturalistischen Beschreibung geben will, tatsächlich im wahrsten Sinne des Wortes von der Kunst abgeschaut ist. „Worauf gründet sich also dieses Gesamtbild“, fragt nämlich Cassirer weiter, „das Taine in solcher Anschaulichkeit vor uns hinstellt und auf das er immer wieder als auf den eigentlichen Erklärungsgrund zurückgreift? […] Und die Antwort auf diese Frage lautet, daß kein anderer als – Rubens diese Vlamen zuerst so gesehen hat“39. Und weder aus „unmittelbarer Naturbeobachtung“, noch aus „empirischer Vergleichung“ konnte der wiederum die Typik der Landschaft und des Flamen entnehmen. Rubens hat diese nicht „vorgefunden“, sondern „geschaffen“40. – Für den Hauptargumentationsgang, der hier gezeichnet werden soll, sei festgehalten, daß für Cassirer dem Ausdruck selbstverständlich ein schöpferischer Akt zugrunde liegt. Cassirer resümiert seine Kritik an Taine folgendermaßen: „Alle diese Umschreibungen des Objekts der Kunst bleiben im Grunde ebenso viele Rätsel, wenn man an den Ausgangspunkt der Taineschen Theorie denkt. Denn durch welches Mittel soll denn bestimmt werden, worin das ‚Wesen‘ eines bestimmten anschaulichen Gegenstandes, sein ‚hervorstechender Charakter‘, seine hauptsächliche Eigenschaft besteht? Die unmittelbar empirische Beobachtung läßt uns hier offenbar im Stich. Denn alles, was sie uns 35  Ebd. 36  Ebd. 37  Vgl. 38  Vgl.

39  Ebd. 40  Ebd.

ebd., 439. ebd., 441.

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an Merkmalen bietet, steht, von ihrem Standpunkt aus gesehen, auf gleicher Linie: Kein Merkmal besitzt vor dem anderen einen Wesens- oder Wertvorzug. Ebenso ist klar, daß statistische Methoden uns hier nicht weiterhelfen können. Das Bild des Niederländers, das Rubens in seinen Gemälden gibt, ist ja nach Taine selbst keineswegs als bloßes Durchschnittsbild anzusehen, das aus Hunderten von Einzelbeobachtungen zusammengelesen ist. Es stammt nicht aus direkter Naturbeobachtung und war durch ihre Methode nicht zu finden. Es stammt aus der Seele des Künstlers“41. Was Cassirer damit Taines Argumentation letztlich nachgewiesen hat, ist eine petitio principii: „Taine wollte die Welt der Kunstformen aus der Welt der physischen Kräfte ableiten und erklären. Aber er mußte diese Formen unter einer anderen Benennung wieder einführen“42. – Damit können wir aus dem Exkurs in die Logik der Kulturwissenschaften wieder in unseren Hauptargumenta­ tionsgang zurückkehren. Der Falle der Zirkularität, so läßt sich nun sagen, wäre Taine nämlich nur dann entgangen, wenn er anerkannt hätte, daß „das Kunstwerk immer auf ‚uns selbst‘, die aesthetisch-empfindenden und aesthetisch urteilenden Subjekte bezogen“43 ist – womit Taine freilich seinen Naturalismus überwunden gehabt hätte. Mit diesem Zitat konturiert sich uns Cassirers Ansatz weiter: Es ist die „schöpferische[] Subjektivität“44, die sich in ihren eigenen Akten für die Wahrnehmung des objektiven Ausdrucksgehalts der Realität, der sich nicht auf Naturbegriffe zurückführen läßt, erst öffnet. Entsprechend geht es, genauso wie für die Realität der ‚Außenwelt‘, nicht um die Frage, „ob es jenseits und ausserhalb der Sinneswahrnehmung [bzw. Ausdruckswahrnehmung] ein Gebiet unabhängiger, an sich bestehender ‚Objekte‘ giebt, die durch die Wahrnehmung ‚abgebildet‘ werden“45, sondern vielmehr um die Frage „ob die Sinneswahrnehmung bestimmten Gesetzen der Verknüpfung, bestimmten allgemeinen Regeln gehorcht“46. Also auch mit Blick auf die Ausdruckscharaktere und die darauf aufbauenden Kulturbegriffe geht es nicht um an sich bestehende Entitäten, sondern um Akte und „Aktbezogenheit“.47 Die Regel der Verknüpfung, die Cassirer jeweils reflektieren können muß, um sein Programm einzulösen, ist genau das, was er mit dem Begriff der inneren Form systematisch einholen will.

41  Vgl.

ebd., 442 f. ebd., 444. 43  ECN 5, 109. 44  ECN 1, 7. 45  Vgl. ebd., 110. 46  Ebd. 47  Vgl. ebd., 112. 42  Vgl.



Ausdruckswahrnehmung und Dingwahrnehmung415

IV. Über Cassirers Begriff der inneren Form gäbe es freilich einiges zu sagen. Hier seien nur einige die Aspekte evoziert, die sich für das Verständnis des nachgezeichneten Argumentationsgangs als hilfreich erweisen sollten. Cassirer reflektiert auf alle „echt-geistigen Energien [… Diese] alle ‚sind‘ nur, indem sie sich betätigen und indem sie in eben dieser Betätigung sich selber gestalten.“48 In „Akt[en] des reinen Setzens“49 lebt der Geist, also immer in einem notwendigen Bezug auf seine Produkte bzw. Werke, d. h., nur im Objektivieren kommt der Geist zu sich selbst: „der Geist muss sich selbst entfremden, um sich selber zu ‚haben‘“50. „Eine Selbsterfassung des Lebens ist nur möglich, wenn es nicht schlechthin in sich selbst verbleibt. Es muß sich selber Form geben; denn eben in dieser ‚Andersheit‘ der Form gewinnt es, wenn nicht seine Wirklichkeit, so doch erst seine ‚Sichtigkeit‘.“51 Also an der Entgegensetzung der Form, nämlich als innerer Form des erscheinenden Werks, findet sich das geistige Leben in seiner reinen Tätigkeit (der notwendige Wechselbezug zwischen schöpferischer Subjektivität und objektivem Werk wird im Verlaufe des hier dargestellten Argumentationsgangs weiter aufgeklärt werden); auf der anderen Seite hat auch das, „was wir [die] bleibende ‚innere Form‘ zu nennen pflegen, […] seine eigentliche Aktualität nur in der Mannigfaltigkeit der wechselnden und sich stets erneuernden Akte“52, nämlich eben der Betätigungen der echtgeistigen Energien. Die innere Form erweist sich insofern zugleich als konstitutives Moment der Funktion des geistigen Lebens, die – dies sei an dieser Stelle gleich mit hineingenommen – eine wesentliche Dynamik aufweist: „Diese Funktion kann sich nicht anders betätigen als dadurch, daß sie fortschreitend immer neue Gestalten aus sich hervorgehen läßt“53. Solche Funktion setzt sich nur in der Einheit des Geistes ins Werk, welche Einheit objektiv als innere Form des Werks zur Geltung kommt: „Findet sich in ihr [nämlich der Funktion] bei allem Wechsel der Einzelmotive [der Setzungen des geistigen Lebens] eine relativ [zu allen Momenten] gleichbleibende ‚innere Form‘, so schließen wir von ihr nicht auf die substantielle Einheit des Geistes zurück, sondern diese Einheit gilt uns eben hierdurch als konstituiert und bezeichnet.“54 Die Regel der Verknüpfung der Erscheinungen, die lapidar 48  ECN

1, 15. ebd., 245. 50  Vgl. ebd., 212. 51  PSF III, ECW 13, 45. 52  ECN 1, 15. 53  PSF II, ECW 12, 275 f. 54  Vgl. ebd., 15. 49  Vgl.

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formuliert eine „bestimmte innere Form des Zusammenhangs“55 darstellt, ist also die im Werk zur Geltung kommende objektive Einheit des zu sich selbst kommenden Geistes. V. Es ist an dieser Stelle sicherlich sinnvoll, noch einmal zusammenzufassen, um welches Problem es hier geht: Es soll mit Cassirer die Vollzugsstruktur herausgearbeitet werden, die an der Basis jeglichen Realitätsbewußtseins überhaupt konstitutiv für den Bezug von schöpferischer Subjektivität auf objektiv Psychisches ist, das damit innerhalb der Realität eigenständige Bereiche des objektiv Kulturellen bildet und nicht auf Natur­begriffe zurückführbar ist; wodurch zugleich der Begriff der Natur eine systematische Begrenzung erfährt. Das objektiv Psychische gibt sich in den Ausdruckscharakteren bzw. den diesen korrelierenden Ausdruckswahrnehmungen kund. Die weiterführende Frage lautet daran anschließend, was für Konsequenzen sich aus der Anerkennung und transzendentallogischen Aufklärung der konstitutiven Funktion des Ausdrucks ergeben. Die Antwort darauf zwingt letztlich dazu, den systematischen Ort des Naturbegriffs neu, bzw. jedenfalls auf der Grundlage der Anerkennung des Ausdrucks zu bestimmen. Es wurde bereits angedeutet, daß die objektivierende Funktion des Ausdruckserlebnisses in einer konstitutiv interpersonalen Verfaßtheit des geistigen Lebens zur Geltung kommen muß: Der Fokus der Reflexion liegt auf dem von Cassirer so genannten Fremdpsychischen. Dessen Faktizität steht fest, läßt sich für Cassirer nicht sinnvoll in Zweifel ziehen: „Daß es überhaupt Fremdpsychisches ‚giebt‘ – das braucht weder ‚bewiesen‘ zu werden noch kann es (im analytisch-formalen Sinne) bewiesen werden[.] Die Grundlage des ‚Belief‘ ist hier unerschütterlich und in dieser Unerschütterlichkeit auch für alle theoretischen Ansprüche, die mit Recht erhoben werden können, ausreichend.“56 Freilich fängt mit der Feststellung der unerschütterlichen Faktizität des Fremdpsychischen die Arbeit für die philosophische Reflexion erst an. Entsprechend ist es Cassirer sehr darum zu tun, mit Plausibilitätserwägungen diese Assertion zu untermauern. Dies zu leisten ist eine Aufgabe von Cassirers analytischem Verfahren der „kritischen Phänomenologie“. So führt er beispielsweise an, daß der Solipsismus „nicht einmal formulierbar“57 sei, weil jeder sprachliche Akt die Anerkennung eines Adressaten, eine „Be55  SuF,

ECW 6, 287. Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910, ²1923), zitiert nach ECN 5, S 111. 57  Vgl. ebd., 112. 56  Ernst



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kenntnis zum Fremdpsychischen“58 beinhalte, „von [dem] er aufgefasst und verstanden werden will“59. Ausschlaggebend ist an diesem Argument der Begriff des Willens, wobei natürlich einzuräumen ist, daß das bloße Wollen nicht die Realität des Gewollten verbürgt, dabei aber zu sehen ist, daß in diesem Einwand wiederum der Begriff der Realität im Sinne der Realität der gegenständlichen ‚Außenwelt‘ fungiert. Das Entscheidende im Hinblick auf die konstitutive Aktbezogenheit des Ausdrucks, die das Argument trägt, ist damit allerdings eingeholt: „[W]ir können also nicht durch Sprache die Realität des Fremdpsychischen bezweifeln[;] ebensowenig freilich“, wie Cassirer noch einmal klärend nachschärft, „durch Sprache die Realität beweisen wollen“60. Schon bei der Rekapitulation von Cassirers Argumentation gegen Taine konnte gesehen werden, daß die Auffassung von Ausdruckscharakteren einen nicht naturalistisch reduzierbaren Bereich des objektiven Wissens bildet. Die grundlegende Funktion der schöpferischen Subjektivität, die dort ins Spiel kam, kommt auch in Cassirers wenigen expliziten Notizen zum Ethischen zum Tragen. Auch dort ist es ihm um die Kriterien des Fremdpsychischen zu tun. Denn „[n]ur an das, was ausdrucksmäßig als ‚Person‘ […] bestimmt ist, kann sinngemäß die ethische Forderung ergehen“61. „Wir nennen ein x eine ‚Persönlichkeit‘, […] wenn an dieses x ‚sinngemäß‘ eine bestimmte Forderung ergehen kann[,] wenn wir auf Grund bestimmter Kriterien urteilen, daß seine ‚Taten‘ nicht blosse Reflexe, sondern echte ‚Taten‘ sind – daß sie ‚Ausdruck‘ eines Willensentschlusses sind – daß wir sie ­einem ‚Ich‘ ‚zurechnen‘ können.“62 Die Kriterien, solches tun zu können, sind freilich wiederum nichts anderes als Cassirers „Ausdruckscharaktere“63: „Wir sehen in der Tat nicht das bloss Getane, Gewirkte, die [im engeren Sinne] ‚faktischen‘ Veränderungen der Dingwelt – wir blicken durch sie [nämlich die Ausdruckscharaktere] hindurch auf den Täter – es ‚erscheint‘ uns in ihr das Ich – als ein nicht-physisches, sondern ‚übersinnliches‘ intelligibles“.64 Allgemein erläutert Cassirer seine Idee der Ausdruckswerte im Zusammenhang mit dem mythischen Bewußtsein, das – aus der Sicht der Theorie – die ganze Welt als von personalen Kräften durchwaltet erlebt65. Auch an der entsprechenden Stelle betont Cassirer die primäre 58  Ebd. 59  Ebd. 60  Ebd.

61  ECN 62  Ebd. 63  PSF

3, 196.

III, ECW 13, 85. 3, 197. 65  „Der Mythos […] versetzt uns in den lebendigen Mittelpunkt dieses Gebiets.“ (PSF III, ECW 13, 74) 64  ECN

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Realität des Ausdrucks: „Wo der ‚Sinn‘ der Welt noch als reiner Ausdruckssinn genommen wird, da weist jede Erscheinung in sich selbst einen bestimmten ‚Charakter‘ auf, der aus ihr nicht bloß erschlossen oder gefolgert wird, sondern der ihr unmittelbar zukommt. Sie trägt in sich die Züge des Düsteren oder Heiteren, des Erregenden oder Sänftigenden, des Beruhigenden oder Furchteinflößenden. Als Ausdruckswerte und Ausdrucksmomente haften diese Bestimmungen den erscheinenden Inhalten selbst an[.]“66 Das Entscheidende an den Ausdruckscharakteren ist die Tatsache, daß diese durchgehend in emotionalen Prädikaten gefaßt werden. Cassirer stellt aber gerade nicht auf eine psychologische Theorie der Emotionalität ab. In diesen emotionalen Prädikaten ist vielmehr stets ein Aspekt gegeben, der sich nur an ein Wesen richten kann, das sich zu diesem Aspekt verhalten kann, das sich – und darauf läuft Cassirers Explikation der Ausdruckswahrnehmung letztlich hinaus – in seinem Urteilen, Wollen und Handeln zu diesen Charakteren in ein Verhältnis setzen kann; nicht zufällig spricht Cassirer ja auch von Ausdruckswerten. VI. Die Selbstentfaltungen des geistigen Lebens in ausdrucksmäßig sich vermittelnden Bezügen sowie in gegenständliche Objektivität setzenden Akten sind nicht Prozesse, die innerhalb der Realität zu verorten sind, sondern es sind notwendige, konstitutive Erscheinungsformen des geistigen Lebens überhaupt. Sie sind deshalb keiner positivistischen Aufklärung zugänglich. Cassirer hat für diese Akte den Ausdruck „Basisphänomene“ geprägt67. Die 66  „[Die Ausdruckswerte] werden nicht erst auf dem Umweg über die Subjekte, die wir als hinter der Erscheinung stehend ansehen, aus ihnen herausgelesen. […] In Wahrheit gelangen wir zu den Data der ‚bloßen‘ Empfindung – wie hell oder dunkel, warm oder kalt, rauh oder glatt – erst dadurch, daß wir eine bestimmte Grund- und Urschicht der Wahrnehmung auf die Seite stellen, daß wir sie, in einer bestimmten theoretischen Absicht, gewissermaßen abtragen. […] Denn alle Wirklichkeit, die wir erfassen, ist in ihrer ursprünglichen Form nicht sowohl die einer bestimmten Dingwelt, die uns gegenüber- und entgegensteht, als vielmehr die Gewißheit einer lebendigen Wirksamkeit, die wir erfahren. Dieser Zugang zur Wirklichkeit aber ist uns nicht in der Empfindung, als sinnlichem Datum, sondern allein in dem Urphänomen des Ausdrucks und des ausdrucksmäßigen ‚Verstehens‘ gegeben“ (PSF III, ECW 13, 80 ff.). 67  Vgl. ECN 1, 113 ff. – Vgl. Jean-Chrysostome Kapumba Akenda: Vielfalt und Objektivität der Kulturformen. Zur Wissenschaftstheorie der Kulturwissenschaften bei Ernst Cassirer, Münster 1998; Detlev Pätzold: „Ernst Cassirers Philosophiebegriff“ in: Hans Jörg Sandkühler / Detlev Pätzold (Hrsg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Stuttgart / Weimar 2003, 64 f.; Birgit Recki: Art. „Werk“ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, 550; Heiko Schmitz: Von der ‚Kritik der historischen Vernunft‘ zur ‚Kritik der Kultur‘. Über die



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Aufgabe der transzendentallogischen Reflexion ist dementsprechend nicht, wie eingangs herausgestellt, einen im engeren Sinne theoretischen Beweis des Fremdpsychischen zu liefern, sondern vielmehr den Zusammenhang zwischen der grundlegenden Erscheinungsform des Fremdpsychischen – dem „Du“ als einem der drei Cassirerschen Basisphänomene – und der grundlegend synthetisch-objektivierenden Verfaßtheit des Geistigen aufzuzeigen. Als eine Voraussetzung der Cassirerschen Argumentation ist hier aufzunehmen, daß das geistige Leben die Grundform der Intentionalität hat – und dies ergibt sich ja auch aus notwendigen Selbstentgegensetzungen des geistigen Lebens in der Andersheit der inneren Form: „Alles Geistige hat die Form der ‚Darstellung‘“68, wie sich das in Cassirers Diktion liest. Der philosophisch reflektierende Blick ist demgemäß im Ausgang von den faktischen Hervorbringungen der schöpferischen Subjektivität auf ihr Hervorbringen zu wenden. Diese Reflexion ist anhand der unterschiedlichsten symbolischen Formen möglich – Cassirers Klassiker sind die Sprache, der Mythos, das wissenschaftliche Erkennen, die Kunst. Hier wird exemplarisch Cassirers Argumentation mit Blick auf das Phänomen der Sprache gefolgt. Es ist entsprechend der Blick auf die Bedingungen der Möglichkeit der „darstellende[n] Sprache“69 zu richten. Dabei erweist sich, was sich schon oben gezeigt hat, nämlich das Phänomen des Verstanden-werden-Wollens, als ausschlaggebend: „Das ‚Sich-Verständigen‘ durch darstellende Sprache ist der feste Urgrund alles Wissens vom Fremdpsychischen und alles Verstehens vom Fremdpsychischen.“70 – Um das selbstgesteckte Ziel der Cassirerschen transzendentallogischen Reflexion zu erreichen, muß also von hier ausgehend gezeigt werden, daß der konstitutive Wille (hier im Willen zur Verständigung) in sich eine interpersonale Struktur hat. Der Spezifität von Cassirers Philosophieren gemäß kann dies nur in inniger Verquickung mit der Grundstruktur des objektiv – nämlich als Kultur – erscheinenden Geistes geleistet werden. Es liegt jedenfalls im Wesen eines jeden sprachlichen Akts, der von einem „Ich denke“ muß begleitet werden können, daß darin das Verstandenwerden-Wollen impliziert ist. Dieses hat zur Bedingung der Möglichkeit, daß sich der Akt in einem objektivierenden Darstellen vollzieht. Das objektivierende Darstellen bezeichnet Cassirer als Poiesis71: ein Erzeugen, das in Nähe der Projekte von Wilhelm Dilthey und Ernst Cassirer, Würzburg 2006, 155 ff., bes. 235–241. 68  ECN 5, 121. 69  Ebd. 70  Ebd. 71  ECN 1, 187. – Vgl. Birgit Recki: Kultur als Praxis, 58 f., 166.

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der Darstellung endet, indem in einem freien Akt des Setzens ein „Werk“ gebildet wird: „Das Werk ist das Ziel des Wirkens; aber in ihm ist das Wirken auch zu seinem Ende gelangt.“72 Für den Akt des objektivierenden Darstellens, der Poiesis, läßt sich soweit sagen, daß dieser „immer den ‚Hinweis‘ auf ein Objektives, Gemeinsames [gibt]“73. Das Gemeinsame, sprich intersubjektiv zur Geltung Kommende, ist eben das Werk, auf das im Verstanden-werden-Wollen als das objektiv gelten Sollende hingewiesen wird. Dieser Hinweis kann freilich nur als die Aufforderung gedeutet werden, daß das Gemeinte und im Werk zum Ausdruck Gebrachte in anderen subjektiven Akten gelten gelassen, sprich: verstanden wird. Als Bedingung der Möglichkeit des objektivierenden Darstellens ergibt sich somit eine Setzung des Geltensollenden in einer notwendig intersubjektiven (und letztlich interpersonalen, wie noch nachzuschärfen ist) Sphäre: „In der ‚Darstellung‘ (z. B. im sprachlichen Satz) finden sich die verschiedenen Subjekte in einer gemeinsamen Sinn-Ebene zusammen […] und sie sondern sich zugleich in diesem Akt des Sich-Findens – denn es ist je eine individuelle Form der ‚Erfassung‘ des (objektiv) Sinnhaften, die jedem Subjekt eigentümlich ist.“74 In der sozusagen synthetisch-analytischen Einheit des Findens und Sonderns wird in einer gemeinsamen Sinn-Ebene so das in einem Akt des Darstellens als Gemeinsames gelten Sollende gesetzt. Das Gemeinsame des jeweils in konkreten Akten der Poiesis zu setzenden Werks ist als das Geltensollende die innere Form eines Werks, z. B. einer sprachlichen Äußerung, aber auch eines Kunstwerks, einer wissenschaftlichen Hypothese usw. – und natürlich auch einer jeden Behauptung, welche „die Natur“ betrifft. VII. Es wurde soeben darauf hingewiesen, daß die bisher abgeleitete Intersubjektivität tatsächlich im vollen Sinne als Interpersonalität verstanden werden muß. Denn die objektivierende Darstellung ist natürlich nur als Freiheitsakt zu verstehen. Ansonsten nämlich würde es sich um kausale Hervorbringungen von Dingen bzw. Dingverknüpfungen handeln müssen, also um bloße Naturprozesse. Der Wertgehalt der Ausdrucksphänomene, die Ausdrucks­ charaktere bzw. Ausdruckswerte, und das Phänomen des Sinns wären so nicht zu erfassen. Jedes objektivierende Darstellen ist ein „Akt des reinen Setzens“75. Dadurch wird die konstitutiv interpersonale Sinn-Ebene, in der 72  ECN 73  ECN

1, 136. 5, 122.

75  ECN

1, 244.

74  Ebd.



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sich das eigentliche geistige Leben vollzieht, gesetzt. „Der Mensch tritt in diese Sphaere ein – mit dem ersten sinnvollen Wort der ‚Darstellungssprache‘[.] Aber behaupten kann er sich in ihr nur und weiter hineinwachsen in sie kann er nur durch selbständige autonome Aktivität […,] durch ein geregeltes, systematisches Tun, durch eine bestimmte Folge von Aktionen. Diese Aktionen bauen für uns die objektiv-geistige Welt auf“76. Die SinnSphäre mit den inneren Formen der Werke als intelligiblen Objekten ist das notwendig interpersonal konstituierte Reich der Geister, der mundus intelligibilis. – Mit Cassirers oben eingeführtem, metaphorisch starkem Terminus auf eine Formel gebracht: Durch die Aktionen finden sich die Subjekte. Damit ist die Vollzugsform der Interpersonalität ausgewiesen, und zwar als notwendige Bedingung der Möglichkeit des Ausdrucksgehalts der objektiven Werke, die wiederum in ihrer Gesamtheit die Kultur bilden. Damit ist aber noch nicht genug über das „Ich denke“ gesagt, das jeden geistigen Akt muß begleiten können, der sich in der interpersonalen Konstitutionsform des Reichs der Geister – Cassirer nennt dies mit seiner berühmten Formel das symbolische Universum – vollzieht. Es ist der philosophisch reflektierende Blick wieder zu wenden auf die geistige Vollzugsform des animal symbolicum. Denn in der Tat ist die Konstitution des Reichs der Geister, das in den Ausdrucksgehalten des konkret-historisch existierenden symbolischen Universums, nämlich der Kultur77, zur Geltung kommt, die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß sich individuelle Subjektivität personal ausbilden kann: „An [den] Gestaltungen des Kulturbewußtseins und an dem Gesetz der Abfolge, das in ihnen sichtbar wird, lernen wir auch die Grundzüge des Individualbewußtseins erst schärfer erfassen und verstehen. Denn der Mensch reift zum Bewußtsein seines Ich erst in seinen geistigen Taten heran; er besitzt sein Selbst erst, indem er, statt in der fließend immer gleichen Reihe der Erlebnisse zu verharren, diese Reihe abteilt und sie gestaltet. Und nur in diesem Bilde der gestalteten Erlebniswirklichkeit findet er sodann sich selbst als ‚Subjekt‘, als monadischen Mittelpunkt des vielgestaltigen Daseins wieder.“78 „Das spezifische Ich-Bewusstsein entwickelt sich eben erst kraft der Sprache, kraft des Mythos, kraft der Religion u. s. f.“79 – Wiederum in eine Formel gebracht: An den Werken sondern sich die Subjekte. 76  ECN

5, 122 f. gesagt ist ‚Kultur‘ […] ein Relationsbegriff, der die Beziehung eines historisch zeitlich Gegebenen auf eine Sinndimension u. also auf ein immer neu ‚Aufgegebenes‘ in sich schließt“ (ECN 1, 245). 78  PSF III, ECW 13, 101. 79  ECN 5, 28. – Vgl. Detlev Pätzold: „Ernst Cassirers Philosophiebegriff“, a. a. O., 62: „Das erkenntnistheoretisch traditionelle Subjekt steht vielmehr auf der Ebene der einzelnen Vorstellung, während das Bedeutungsganze bei ihm [Cassirer] überindividuell, eben kulturell gedeutet wird.“ 77  „Näher

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In seiner Theorie des mythischen Bewußtseins liefert Cassirer interessante Überlegungen zu einer transzendentalphilosophischen Theorie des Sichbildens von Subjektivität, die sich in ihrer Selbsterfassung und Konkretisierung als um sich wissendes und sich in Freiheit als zur Anerkennung aufrufendes, „dynamisches Zentrum“80 des geistigen Lebens anerkennt. Darauf kann hier nicht eingegangen werden; diese Bemerkung ist nur notwendig, um Cassirers Bemerkung systematisch zu verorten, die individuelle personale Subjektivität sei die „höchste Form des Sich-Kennens“81. Denn wenn es auch möglich sein sollte, eine transzendentalphilosophische ‚Ent­ wick­ lungs‘­­theorie der Subjektivität zu formulieren, so könnte dafür doch nicht ein realer Prozeß der Entstehung subjektiv-psychischer oder auch intersubjektiv-psychischer Strukturen substituiert werden. Dies würde notwendig ein kausales Verständnis dieser Strukturprozesse implizieren und damit den Weg transzendentalphilosophischen Reflektierens verlassen. Es läßt sich hierauf Cassirers Aussage wenden, die er im engeren Kontext seiner transzendentalkritischen Erschließung der „Basisphänomene“ formuliert: Es kann sich bei den in einer solchen ‚Entwicklungs‘theorie postulierten Phasen der Selbsterfassung personaler Subjektivität „nicht um Stufen innerhalb einer absoluten Wirklichkeit handeln, [… sondern] lediglich um die Artikulation [des geistigen Lebens] selbst und um die Beziehungen, die in [ihm] obwalten“82. Es muß also vielmehr auf die Prinzipien des geistigen Lebens überhaupt reflektiert werden, und dabei müssen sich alle Prinzipien finden, die in der höchsten Form des Sich-Kennens zur Geltung kommen. Entsprechend reflektiert Cassirer im weiteren auf die transzendentale Apperzeption, die im „Ich“ bzw. „Ich denke“ als einem der drei Basisphänomene zum Ausdruck kommt, allerdings nicht mehr nur in den Grenzen der Kritik der reinen Vernunft, sprich: als gegenständlich-objektivierende Funktionseinheit, sondern eben erweitert um die interpersonal konstituierte, sinnstiftende bzw. „Sinnverknüpfung[en]“83 setzende Ausdrucksfunktion: „Ein solches gemeinsames Tun – ein Einsetzen einer seelischen ‚Energie‘ für ein ‚Werk‘ (Ergon), das als solches ein objektiv-gemeinsames Werk darstellt“ – nämlich das Tun in den Aktionen, die (für uns) die gemeinsame objektiv-geistige Welt aufbauen – „ist der Ausgangspunkt für die höchste Form des Sich-Kennens“84. Und dann spricht es Cassirer noch einmal eigens aus: „Dieses Sich-Kennen ist daher nur vermittelst des ‚Anderen‘ und 80  ECN

2, 10. 5, 123. 82  Ernst Cassirer: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, zitiert nach ECN 2, 12. 83  PSF III, ECW 13, 113. 84  ECN 5, 123. 81  ECN



Ausdruckswahrnehmung und Dingwahrnehmung423

vermittelst des objektiven Werkzusammenhangs […] möglich.“85 Damit ist der systematische Zusammenhang zwischen der Ausdruckswahrnehmung und dem Fremdpsychischen aufgedeckt, der über die in den Werken inkorporierte86 innere Form als intelligibles Objekt vermittelt ist: „Wir ‚kennen‘ uns, indem wir gemeinsam an einem Werk tätig sind – und zwar nicht nur an ihm schaffen, sondern auch von ihm wissen – und dieses Wissen vom ‚Werk‘ ist die Grundlage des Wissens von ‚uns selbst‘.“87 Das mit Cassirer gesuchte Analogon der Doppelheit des formalen und materialen Aspekts der Synthesis der gegenständlichen Erscheinungsrealität in der Synthesis der interpersonal konstituierten, ausdrucksmäßigen Erscheinungsrealität ist gefunden: Es ist die Doppelheit von innerer Form der Werke, die als intelligibles Objekt das Analogon des formalen Faktors bildet, und der sich in der interpersonalen Setzung der Sinn-Sphäre an den inneren Formen der Werke setzenden schöpferischen Subjektivität, deren individuelle Setzungsakte als konkretes Handeln, als „schöpferische Tat“ der Person das Analogon des materialen Faktors bilden. Den damit zugleich ausgesprochenen Gedanken der sich wechselseitig bedingenden bzw. – wie es Cassirer gerne ausspricht – korrelativen Konstitution von innerer Form des geistigen Werks und schöpferischer Subjektivität, bzw. von Kultur und Individuum, bringt Cassirer in einer Notiz prägnant auf den Punkt: „Alle überpersonalen Einheiten“, schreibt Cassirer, und er meint mit den überpersonalen Einheiten eben die inneren Formen, die im Ausdruck bzw. in der Ausdruckswahrnehmung der Werke zur Geltung kommen, „sind nicht [naturale] Lebenseinheiten, sondern geistig-ethische Vollzugseinheiten, die vom geistigen Subjekt her aufzubauen sind.“88 In der insofern dialektischen Spannung von überpersonaler Einheit und geistig-subjektivem Vollzug spiegelt sich die oben bezeichnete synthetisch-analytische Einheit des Suchens und Findens. „Der Begriff des ‚konkreten Geistes‘ erfährt daher erst in d[]en Symbolformen seine Realisierung – die Dialektik ist ausgeglichen, setzt sich aber freilich in die einzelnen Symbolformen fort […]. Diesen Sinn des ‚Lebens‘ haben tiefer als die ‚Modernen‘ Fichte, Schelling, Hegel erkannt.“89 Zu der Dialektik, die sich in den einzelnen Symbolformen, in den inneren Formen der Werke, fortsetzt, ließe sich freilich einiges sagen. Hier gründet z. B. die oben bei der Einführung des Begriffs der inneren Form bereits angeführte Dynamik des geistigen Lebens, die im Zusammenhang mit der Erwähnung des Begriffs des Kulturbewußtseins als Gesetz der Abfolge in 85  Ebd. 86  Vgl.

ebd., 128 f. ebd., 123. 88  ECN 1, 248. 89  Vgl. ebd., 266. 87  Vgl.

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den Blick kam. Weil nämlich die Objektivität der inneren Formen als solche von den Setzungsakten, die in den Aktionen der individuellen schöpferischen Subjekte zur Geltung kommen, in korrelativer Wechselbestimmung abhängig ist, bedeutet jeder Setzungsakt zugleich eine Anreicherung der Form durch neue Aspekte: Die Formen sind in einer ständigen „Metamorphose“90 begriffen, sie weisen einen „Rhythmus der Um- und Fortbildung auf“.91 „Die ‚Objektivität‘“, schreibt in diesem Sinne Cassirer, „beweist sich hier […] in der zeitlichen Dauer, in der Permanenz der Form und in der Fortwirkung der Form“92. Und mit Blick auf die „objektiven Gebilde“, nämlich die Werke, in denen die inneren Formen zur Geltung kommen, schärft Cassirer nach: „Ihre ‚Objektivität‘ besteht gerade in ihrer ‚Praegnanz‘[, nämlich in ihrer Funktion, eine] Fülle neuer und doch einander ähnlicher Gestalten aus sich hervorgehen zu lassen“.93 Diese „eigentümliche Permanenz“, die sich damit ergibt, darf freilich „nicht mit irgend einer metaphysischen Substanzialität vermengt oder verwechselt werden“94 – dies würde nur wieder den alten Dämon des Dinges an sich auf den Plan rufen; vielmehr ergibt sich dadurch ein „‚Formgesetz der Kultur‘, das sich nicht abstrakt-formulieren lässt, sondern das empirisch – an dem jeweiligen ‚Material‘ der einzelnen Kulturwissenschaften […] aufzuweisen ist“.95 Hier verweist die transzendentale Reflexion wieder aus sich heraus auf die historische Faktizität. Der methodisch reflektierende Kreisgang von Er-Weisen bzw. Aufweisen, in den sich das philosophische Denken im Ausgang vom Faktum begeben hat, schließt sich und verweist das philosophierende Subjekt zurück an die „Welt des Werdens […:] die Welt, in der wir leben, weben und sind“ – nämlich die Welt, „auf die wir ethisch hingewiesen (– nicht nur vital angewiesen) sind. In ihr also müssen wir Fuß fassen – und sie mit dem Licht der Erkenntnis durchdringen – das ist der ‚Weg zur Wahrheit‘, der uns, als endlichen Wesen, verstattet ist.“96 VIII. Zugleich ist damit ein spezifisches Verhältnis der Begriffe der Kultur und der Natur bestimmt. Wenn nämlich die Konstitution von Subjektivität im korrelativen Wechselverhältnis von einer interpersonal konstituierten Sinn90  ECN

5, 127. ebd., 129. 92  Vgl. ebd., 126. 93  Vgl. ebd., 127. 94  Vgl. ebd., 126. 95  Vgl. ebd., 129. 96  ECN 3, 161. 91  Vgl.



Ausdruckswahrnehmung und Dingwahrnehmung425

Sphäre bedingt ist, dann ergibt sich auch für den durch die kategorialen Leistungen der Dingwahrnehmung dieser Subjekte konstituierten, raumzeitlichen Kausalzusammenhang namens Natur mit eiserner Konsequenz: „Die ‚Natur‘ etc. konstituiert sich nur in geistigen Werken.“97 Eine entscheidende Konsequenz dieser Lehre ist, daß Cassirer die Frage nach dem Ursprung der Kultur in der Natur, „die Frage nach dem Ursprung der Sprache oder die Frage nach dem Ursprung des Mythos, der Kunst, der Religion“98, als eine mythische Frage qualifizieren muß, denn Natur ist als äußere Erscheinungsrealität konstituiert durch geistige Funktionen, die im Ausdruck der konkreten Werke der Kultur originär zur Geltung kommen: „Statt sie [nämlich die „Kausalfrage“] an die Erscheinungen innerhalb einer bestimmten Form zu richten, richtet[] man sie [in der Frage nach dem Ursprung] an diese Form als solche, als in sich geschlossenes Ganze. Hier aber läßt uns die Kategorie von Ursache und Wirkung, die in ihrem Bereich so unentbehrlich und so fruchtbar ist, im Stich.“99 – „Man kann nicht fragen, wie die ‚Verbindung‘ des Reiches der Form mit dem Reich des Werdens zustande gekommen sei[, …] ohne schon mit dieser Frage dem Mythos anheimzufallen“100. – Für die eigentlich kulturell relevanten Probleme der 97  ECN

1, 248. ECW 24, 457.

98  LKW, 99  Ebd.

100  ECN 3, 215. – Cassirer verweist hier das philosophische Denken wieder an Platon, bei dem gemäß Cassirer „die wesentliche geistige Grundvoraussetzung alles philosophischen Begreifens und aller philosophischen Welterklärung zuerst in expliziter Gestalt heraustritt“, insofern als „bei ihm das Sein, das dort in der Form eines einzelnen Seienden als fester Ausgangspunkt genommen wurde, zum ersten Mal als Problem erkannt worden sei. [Platon] fragt nicht mehr schlechthin nach der Gliederung, nach der Verfassung und der Struktur des Seins, sondern nach seinem Begriff und nach der Bedeutung dieses Begriffs“ (PSF I, ECW 11, 2). Denn: „Das Problem, das hier vorliegt, ist so alt wie die wissenschaftliche Philosophie selbst […:] Wie kann ‚Werden‘ am ‚Sein‘, ‚Leben‘ an ‚Form‘, Veränderliches an Dauerndem, Seele […] an Idee ‚Anteil‘ gewinnen[?] Platon hatte diese […] ‚Gegenwart‘ der Idee im Sinnlichen […] für bestehend, für wahr, für ‚seiend‘ erklärt – aber er ist sich bewusst, daß er für dieses Urverhältnis keine kausale ‚Erklärung‘ geben kann[:] Man kann nicht fragen, wie die ‚Verbindung‘ des Reiches der Form mit dem Reich des Werdens zustande gekommen sei [, …] ohne schon mit dieser Frage dem Mythos anheimzufallen[.] [… Platon] hat darüber zwei große Mythen gedichtet – den kosmologischen Timaios und den psychologischen Phaidros. […] Unzählige Male in der Geschichte der Philosophie und in der Geschichte des menschlichen Denkens überhaupt sind diese beiden Mythen nachgedichtet worden […] – kein Wunder – denn sie enthalten die einzig mögliche Lösung, wenn man einmal das Formproblem gesehen hat – und wenn man andererseits beharrt, die ‚Objektivität‘ der Form als etwas Transzendentes, an-sich-Seiendes zu setzen[. |] Die ‚Transzendenz‘ ruft immer wieder die beiden Urmythen – den Schöpfungsmythos und den Seelenmythos auf den Plan[.] Sie wirken bis in die moderne, ja modernste Philosophie hinein – sie sind auch in ihr nur verkleidet, aber keineswegs überwunden“ (ECN 3, 215 f.). – Solche

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Rechtfertigung, die sich im Zusammenhang mit Wertfragen ergeben, so zeigt sich also Cassirers implizite Botschaft, ist eine Berufung auf ‚die Natur‘ nicht möglich, ohne damit zugleich den Boden einer wissenschaft­ lichen Auseinandersetzung mit der Welt zu verlassen. Das eigentliche „Wissen vom Menschen, als dem Träger und Schöpfer der Kultur“101 ist nicht das Wissen als Mittel zu vielen kulturell wichtigen Zwecken, darunter nicht zuletzt so höchst bedeutsames wie medizinisches und technologisches Wissen vom Menschen, der auf die Welt „vital angewiesen“102 ist, also vom Menschen als Naturwesen, sondern das Umsichwissen des ethisch auf die Welt hingewiesenen, endlichen Vernunftwesens, d. h. das unmittelbar in der autonomen Selbstbestimmung gegebene Vollzugswissen. Bibliographie Akenda, Jean-Chrysostome Kapumba: Vielfalt und Objektivität der Kulturformen. Zur Wissenschaftstheorie der Kulturwissenschaften bei Ernst Cassirer, Münster 1998. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, in: ders.: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. von Birgit Recki / u. a., Bd. 13, Hamburg 1995 ff. Abgekürzt: ECW. – Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), in: ECW 12. – Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache, in: ECW 11. – Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs (1929), in: ECW 17. – Kulturphilosophie, in: ders.: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hrsg. von John Michael Krois / u. a., Hamburg 1995 ff. Abgekürzt: ECN. – Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ECN 1. – Geschichte. Mythos. Mit Beilagen: Biologie, Ethik, Form, Kategorienlehre, Kunst, Organologie, Sinn, Sprache, Zeit, in: ECN 3. – Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910, ²1923), in: ECN 5. – Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, in: ECN 2. Hoel, Aud Sissel: „Cassirerʼs Dynamic Conception of Form“, in: Gunnar Foss / Eivind Kasa (Hrsg.): Forms of Knowledge and Sensibility. Ernst Cassirer and the Human Sciences, Kristiansand 2002, 183–207. Verkleidungen zu enthüllen ist eine Aufgabe, die sich Cassirer mit seinen kritischen Analysen zeitgenössischer Theorien und Ansätze vornimmt, auf die weiter oben kurz verwiesen wurde. 101  LKW, ECW 24, 441. 102  ECN 3, 161.



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Knoppe, Thomas: „Idee und Urphänomen. Zur Goethe-Rezeption Ernst Cassirers“, in: Enno Rudolph / Bernd-Olaf Küppers (Hrsg.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg 1995, 326–352. – Die theoretische Philosophie Ernst Cassirers. Zu den Grundlagen transzendentaler Wissenschafts- und Kulturtheorie, Hamburg 1992. Krois, John Michael: Cassirer. Symbolic Forms and History, New Haven / London 1987. Pätzold, Detlev: „Ernst Cassirers Philosophiebegriff“ in: Hans Jörg Sandkühler / Detlev Pätzold (Hrsg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Stuttgart / Weimar 2003, 45–69. Recki, Birgit: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Hamburg 2004. – Art. „Werk“ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12 (2004), 547– 553. Schmitz, Heiko: Von der ‚Kritik der historischen Vernunft‘ zur ‚Kritik der Kultur‘. Über die Nähe der Projekte von Wilhelm Dilthey und Ernst Cassirer, Würzburg 2006. Ullrich, Sebastian: Symbolischer Idealismus. Selbstverständnis und Geltungsanspruch von Ernst Cassirers Metaphysik des Symbolischen, Hamburg 2010. Verene, Donald Philip (Hrsg.): Symbol, Myth, and Culture. Essays and Lectures of Ernst Cassirer, New Haven / London 1979.

IV. Zur Aktualität transzendentaler Naturkonzeptionen

Transzendentale Naturlehre im Zeitalter von Relativitätstheorie und Quantenphysik Neuinterpretationen von Raum, Zeit und Kausalität durch Cassirer, Medicus und Weyl Norman Sieroka In der Philosophie der Physik war und ist eine Rezeption der Wissenschaftslehre nicht sehr weit verbreitet. Daß es sie dennoch, insbesondere in den 1920er Jahren, im deutschsprachigen Raum gab und wie sie sich von entsprechenden Kantischen Ansätzen abgrenzen läßt, soll im folgenden aufgezeigt werden. Um das tun zu können, muß allerdings zunächst kurz etwas zum physikgeschichtlichen Hintergrund und seiner allgemeinen philosophischen Relevanz gesagt werden. I. Relativitätstheorie und Quantenmechanik als philosophische Herausforderungen? Die Physik hat zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zwei große theoretische Neuerungen vollzogen. Das eine war die Aufstellung der Speziellen und der Allgemeinen Relativitätstheorie 1905 bzw. 1915, die eine enge Ver­ knüpfung der physikalischen Dimensionen von Raum und Zeit behaupten, wobei letztere die physikalische Grundkraft der Gravitation aufs engste mit der geometrischen Struktur dieser kombinierten Raumzeit in Verbindung bringt. Das andere war um 1925 die Quantenmechanik, die bei bestimmten physikalischen Größen keine kontinuierliche Verteilung ihrer Werte annimmt und deren Aussagen über Meßgrößen der Statistik eine besondere, grundlegende Rolle zuschreibt. Mit ihr werden Wahrscheinlichkeitsaussagen zu einer vorher so nicht dagewesenen genuinen Form der Beschreibung in der Physik. Formal bedeutet die Quantenmechanik im Vergleich zur Relativitätstheorie eine besondere Herausforderung, weil sie sich mathematischer Methoden bedienen muß, die nicht (bzw. nur in einem sehr erweiterten Sinne) anschaulich-geometrisch verstanden werden können. Nun sollte es einerseits offensichtlich sein, daß mit diesen empirisch fundierten physikalischen Neuerungen nicht jegliche Transzendentalphilosophie widerlegt oder unterlaufen wäre. Andererseits sollten allerdings, so

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scheint es, transzendentalphilosophische Ansätze, insbesondere insofern sie aprioristische Elemente in der Physik annehmen, Stellung beziehen zu den Vorstellungen oder Begriffen von Kausalität, Raum und Zeit und dazu, wie sich diese zu den Befunden der Quantenmechanik und der Relativitätstheorie verhalten1. – Daß eine philosophische Position hier tatsächlich stärker unter Druck geraten kann, zeigt, nebenbei bemerkt, das Beispiel der Husserlschen Phänomenologie: Hier scheint es symptomatisch, daß in den 1920er Jahren Husserls herausragender Schüler, was eine Phänomenologie der exakten Wissenschaften betrifft, nämlich Oskar Becker, zwar die geometrisch-anschauliche Allgemeine Relativitätstheorie noch mehr oder weniger phänomenologisch „fundieren“ kann, aber nicht die Quantenmechanik. Denn deren grundlegende symbolische Darstellungsformen (gruppentheoretisch strukturierte Vorgänge in einem Hilbertraum) sind nur schwer im Sinne katego­rialer oder gar sinnlicher Anschauungen zu interpretieren2. Im folgenden sollen zwei Ansätze vorgestellt werden, die zur gleichen Zeit entstanden und die versuchen, nicht nur die Allgemeine Relativitätstheorie, sondern gerade auch die Quantenmechanik systematisch einzuordnen, und die man – wenn auch mit unterschiedlicher Nuancierung – als transzendentalphilosophisch bezeichnen kann. Zunächst wird die Position des Neukantianers Ernst Cassirer kurz dargestellt bzw. in Erinnerung gerufen. Anschließend wird die vermutlich nicht so bekannte Agenstheorie der Materie behandelt, die der Mathematiker und theoretische Physiker Hermann Weyl in intensiver Wechselwirkung mit seinem langjährigen Kollegen und Fichte-Experten Fritz Medicus entworfen hat3. – Diese vergleichende 1  So fordert es beispielsweise Ernst Cassirer: „Zur Einsteinschen Relativitätstheorie“, in: ders.: Zur modernen Physik, Oxford 1957 [1921], 7 f. 2  Vgl. Oskar Becker: „Beiträge zur phänomenologischen Begründung der Geometrie und ihrer physikalischen Anwendungen“, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 6 (1923) 554–559. Vgl. weiterhin ders.: „Mathematische Existenz. Untersuchungen zur Logik und Ontologie mathematischer Phänomene“, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 8 (1927) 747. Becker ist sich dieser Problematik durchaus bewußt und verweist für eine philosophische Interpretation der Quantenmechanik auf die von Fichte und Leibniz beeinflußte Agenstheorie von Hermann Weyl (siehe unten). – Übrigens hatte einige Jahre zuvor auch Weyl, der bei Husserl in Göttingen studiert hatte, versucht, über den Ansatz einer klassischen, vereinheitlichten Feldtheorie die Physik zu einer Art „phänomenologischen Weltgeometrie“ zu machen (vgl. Thomas A. Ryckman: The Reign of Relativity: Philosophy in Physics 1915–1925, Oxford 2005, Kap. 5). Um 1920 und mit dem Aufkommen der Quantenmechanik kam er dann aber zu einer immer stärkeren Bezugnahme auf Fichte (siehe unten; vgl. Norman Sieroka: „Weyl’s ‚Agens Theory‘ of Matter and the Zurich Fichte“, in: Studies in History and Philosophy of Science 38 (2007) 84–107. Vgl. weiterhin ders.: Umgebungen. Symbolischer Konstruktivismus im Anschluß an Hermann Weyl und Fritz Medicus, Zürich 2010, 223–244.



Transzendentale Naturlehre, Relativitätstheorie und Quantenphysik433

Darstellung soll den Unterschied zwischen einem eher Kantischen und einem eher Fichteschen Ansatz einer transzendentalen Naturlehre verdeutlichen. Dabei steht, insbesondere was Weyl betrifft, sicherlich nicht die pünktliche Exegese eines philosophischen Gesamtwerkes im Vordergrund, sondern der Versuch, bestimmte Elemente oder Motive (hier eben von Fichte) aufzunehmen, weil sich diese besonders gut zur Interpretation der modernen Physik eignen4. 3

II. Die Fortführung der Kantischen Transzendentalphilosophie bei Cassirer Cassirer hat bekanntermaßen in zwei Werken aus der Perspektive eines aus dem Marburger Neukantianismus stammenden Philosophen zur Interpretation von Allgemeiner Relativitätstheorie und Quantenmechanik Stellung bezogen; nämlich 1921 in Zur Einsteinschen Relativitätstheorie und 1937 zur Quantenmechanik in Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik. Cassirer orientiert sich in diesen Schriften explizit am allgemeinen transzendentalphilosophischen Programm aus Kants Kritik der reinen Vernunft (so wie er es versteht), nicht aber an Kants eigener aprioristischer Physik, wie sie dieser in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft entwickelt hatte. Die Metaphysischen Anfangsgründe verurteilt Cassirer sogar als ungerechtfertigtes Hinausgehen über die Transzendentalphilosophie. Denn während Raum und Zeit zwar reine Anschauungsformen seien, könne doch das, was in ihnen existiert, ausschließlich Untersuchungsgegenstand einer empirisch arbeitenden Physik sein5. Damit kritisiert er Kants Versuch, im Dynamik-Kapitel der Metaphysischen Anfangsgründe die Materie konstruieren zu wollen. Außerdem, so Cassirer weiter, sei auch ein mögliches faktisches Ineinander von Raum und Zeit ein rein empirischer Untersuchungsgegenstand, so daß das methodische und begriffliche Primat einer Raumzeit in der Allgemeinen Relativitätstheorie nicht der transzendentalphilosophischen Unterscheidbarkeit zwischen zwei getrennten Anschauungsformen des Nebeneinander und des Nacheinander widerspreche6. 3  Für Details der historischen Konstellation Weyl-Medicus vgl. Norman Sieroka: Umgebungen, 31–36, 248–253; vgl. auch ders.: „Hermann Weyl und Fritz Medicus: Die Zürcher Fichte-Interpretation in Mathematik und Physik um 1920“, in: FichteStudien 36 (2012) 129–143. 4  Die folgende Darstellung beschäftigt sich also mit transzendentalphilosophischen Gedankengängen, ist dabei aber nicht im engeren Sinne als ein Beitrag zu einer transzendentalen Elementarlehre zu verstehen. 5  Vgl. Cassirer: „Zur Einsteinschen Relativitätstheorie“, 51 f. 6  Vgl. ebd., 73, 79, und 84 ff.

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Hier standen laut Cassirer die Metaphysischen Anfangsgründe und auch Teile der Kritik der reinen Vernunft einfach zu sehr unter dem historisch überwältigenden Eindruck der Axiomatisierung der Euklidischen Geometrie und der Newtonschen Mechanik, als daß Kant die Möglichkeit in Betracht gezogen hätte, die Anwendbarkeit dieser Axiomensysteme auf die Physik könnte selbst empirisch kontingent sein. Diese Kritik faßt Cassirer auch so zusammen, daß sich Kant und andere philosophische Autoren zu sehr von Substanzbegrifflichem hätten leiten lassen, statt auf der Ebene der Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung im Sinne methodisch struktureller oder mathematisch funktionaler Voraussetzungen zu operieren. Cassirer bringt hier die zentrale philosophische These seines Buches von 1910, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, in Anschlag, nach der in den exakten Wissenschaften anschauliche Gegebenheiten zunehmend in den Hintergrund treten würden zugunsten einer symbolischen Formung, wie sie sich in dem Aufstellen rein funktionaler Zusammenhänge ausdrücke7. Das leitet direkt über zum allgemeinen Kausalsatz, der für Cassirer die rein methodische Einsicht bezeichnet, daß sich Erfahrungsurteile überhaupt zu so etwas wie einem „System der physikalischen Erkenntnis“8 verbinden lassen. Der Kausalsatz ist quasi der Leitfaden, der von Erkenntnis zu Erkenntnis treibt, und Cassirer definiert ihn schlicht „durch die Forderung der strengen funktionalen Abhängigkeit“9. Sobald die Kantische Kategorie der Kausalität aber so verstanden wird, ist die Interpretation der Quantenmechanik unproblematisch, und Cassirer kann insbesondere festhalten: „[D]rücken wir die Forderung der Kausalität lediglich durch die allgemeine Forderung der Gesetzlichkeit aus, so bilden die Heisenbergschen Unbestimmtheit-Relationen keine Gegeninstanz zu ihr“10. Mehr noch: Die Unbestimmtheits- oder Unschärferelation stellt eine Einschränkung für mögliche Maßaussagen dar; d. h., mit ihr wird eine spezielle funktionale Verknüpfung eingeführt zwischen den dynamischen Grundgleichungen der Theorie und dem, was und wie es gemessen werden kann11. Da es etwas Vergleichbares Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) Darmstadt 1994. Ernst: „Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik“ (1937), in: ders.: Zur modernen Physik, Oxford 1957, 197. 9  Ebd., 345. 10  Ebd., 268. 11  Genauer unterscheidet Cassirer vier Typen von Aussagen in der Physik, die an die Stelle des seiner Meinung nach zu simplen Oberbegriffs „Erfahrungsurteil“ zu treten hätten: nämlich Maßaussagen, Gesetzesaussagen, Prinzipienaussagen und der allgemeine Kausalsatz (ebd., 161–209). Die Heisenbergsche Unschärferelation, die durch strenge Beziehungen (Gesetzesaussagen) zwischen Beobachtungsgrößen hergeleitet wird, stellt für ihn eine „Anweisung“ dar, wie (mikro-)physikalische Ge7  Vgl.

8  Cassirer,



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in der klassischen Physik nicht gab, kann Cassirer sogar behaupten, daß mit der Quantenmechanik mehr Funktionalität, mehr Gesetzlichkeit in die Physik Einzug gehalten habe. Das einzige, was durch die Quantenmechanik unter Druck geraten sei, waren für Cassirer also substanztheoretische Vorstellungen, die physikalische Theorieaussagen allzu direkt an gegenständlich-anschauliche Einzelvorgängen in Raum und Zeit anschließen wollten12. Insgesamt hält Cassirer also im Zusammenhang der Allgemeinen Relativitätstheorie an der grundlegenden Bedeutung der Anschauungsformen von Raum und Zeit als dem Nebeneinander und Nacheinander bei der Erfahrung fest und im Kontext der Quantenmechanik an der grundlegenden Bedeutung der Kategorie der Kausalität im Sinne der Forderung allgemeiner Gesetzlichkeit. Raum, Zeit und Kausalität bleiben für ihn apriorische Elemente jeder Physik, werden allerdings nunmehr rein regulativ aufgefaßt, werden auf eine rein methodische Ebene gehoben. Der Cassirersche Ansatz eignet sich auch heute noch, um Teildisziplinen der Einzelwissenschaften zu interpretieren13. Allerdings tut er das auf eine sehr schematische Weise, und es ist in diesem Zusammenhang wohl kein Zufall, daß Cassirer diesen funktionalistischen Ansatz in seiner Philosophie der symbolischen Formen zu einer Kritik der menschlichen Kultur als ganzer ausbauen konnte. – Vielleicht kann man es überspitzt wie folgt formulieren: So anachronistisch-überbordend heute die physikalisch-inhaltlichen Bemühungen von Kants Metaphysischen Anfangsgründen erscheinen müssen, so zeitlos-anämisch mag einem Cassirers Funktionalismus vorkommen. Man könnte vermuten, hier sei von einem inhaltlichüberreichen direkt zu einem quasi „leerlaufenden“ Apriorismus der Physik gewechselt worden. Diese Vermutung erhärtet sich zumindest teilweise, sobald man den Gang der Physik zu Beginn des zwanzigsten Jahrhundert genauer betrachtet (und Realgeschichte war auch für Cassirer wichtig, um aus der Entwicklung der modernen Physik philosophisch-systematische Konsequenzen zu ziehen): Denn in der Tat, das haben eine Reihe neuerer Arbeiten gezeigt, sind zwar die für die Entwicklung ihrer Disziplin so wichtigen Physiker und Mathematiker wie etwa Helmholtz, Poincaré, Weyl oder Eddington durch die setze „formuliert werden müssen, um den Bedingungen unserer Erfahrungserkenntnis gerecht zu werden“ (ebd., 266). – Zur genaueren Diskussion dieser verschiedenen Aussagetypen und ihrer Relevanz für die heutige Physik vgl. Hans Günter Dosch: „Cassirers Erkenntnistheorie, Kommentar eines Physikers“, in: W. Marx (Hrsg.): Determinismus – Indeterminismus, Frankfurt a. M. 1990, 111–135. 12  Vgl. Cassirer: „Determinismus und Indeterminismus“, 346. 13  Vgl. beispielhaft für die Interpretation der Quantenfeldtheorie Hans Günter Dosch / Volkhart F. Müller / Norman Sieroka: „Symbolic Constructions in Quantum Field Theory“, in: M. Bitbol / P. Kerzsberg / J. Petitot (Hrsg.): Constituting Objectivity: Transcendental Approaches of Modern Physics, Dordrecht 2009, 403–413.

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Transzendentalphilosophie beeinflußt worden; allerdings nicht in dem Sinne, daß für sie (wie für Cassirer) Kausalität, Raum und Zeit zu rein regulativen, methodisch aber absoluten aprioristischen Elementen würden, sondern eher in dem Sinne, daß sie historisch relativierte, aber inhaltlich konstitutive Prinzipien darstellten14. – Und das gilt insbesondere auch für das Fichtesche Erbe bei Weyl und Medicus. III. Ansätze einer Fichteschen Naturlehre bei Medicus und Weyl Bevor erneut genauer auf die Begriffe oder das Verständnis von Kausalität, Raum und Zeit einzugehen ist, soll zumindest kurz die allgemeinere Motivation umrissen werden, die Weyl und Medicus den Anschluß an Fichte suchen ließ. Ausgehend von mathematischen Überlegungen hat sich Weyl in seinen philosophischen Arbeiten von Beginn an mit dem Verhältnis von Kontinuität zu Diskretheit und damit immer auch mit dem Verhältnis vom Unendlichen zum Endlichen, von Bestimmbarkeit zu Bestimmtheit beschäftigt15. Wie sehr er hier über Medicus durch Fichte beeinflußt war, macht folgende Passage deutlich, in der er benennt, wo dieses für ihn philosophisch zentrale Verhältnis seinen systematischen Ausgangspunkt hat: „Das eigentliche Rätsel liegt […] in der Doppelstellung des Ich: es ist nicht bloß da-seiendes, reale psychische Akte vollziehendes Individuum, sondern zugleich ‚Gesicht‘, sich durchdringendes Licht (sinngebendes Bewußtsein, Wissen, Bild, oder wie man es nennen will); als Individuum fähig zur Wirklichkeitssetzung, sein Gesicht offen gegen die Vernunft; ‚Kraft, der ein Auge eingesetzt ist‘, wie Fichte sagt.“16

Dementsprechend kritisiert Weyl auch den Cassirerschen Ansatz. Dessen Auffassung von symbolischen Formen und symbolischer Formung könne bestenfalls ausreichen, um eine „Einheit des Wissens“ zu rekonstruieren; die „Einheit des Seins“ allerdings, das „Licht-Ich“, vermag er laut Weyl so 14  Vgl. insbesondere Michael Friedman Dynamics of Reason, Stanford 2001; sowie erneut Thomas A. Ryckman: The Reign of Relativity. (In ersterem (65 f.) wird der Unterschied zum Cassirerschen Ansatz kurz behandelt.) Allgemeiner zum Einfluß des Deutschen Idealismus auf die Entwicklung der modernen Mathematik vgl. Marie-Luise Heuser-Keßler: „Spekulative Konstruktion und mathematische Physik: Kant, Schelling und die Dynamisierung der Geometrie im 19. Jahrhundert“, in: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Interaktionen zwischen Philosophie und empirischen Wissenschaften: Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte zwischen Francis Bacon und Ernst Cassirer, Frankfurt a. M. 1995, 135–146. 15  Vgl. Hermann Weyl: Das Kontinuum. Kritische Untersuchungen über die Grundlagen der Analysis, Leipzig 1918, 65–74. Siehe auch die Bemerkungen zum „Schweben der Einbildungskraft“ unten. 16  Weyl, Hermann: Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft, München 1927, 160.



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nicht einzuholen17. Man merkt hier bei Weyl, wie auch an vielen Stellen bei Medicus, eine starke Betonung des Lebensbegriffs18. Nun hatte Medicus zwar eine Zeitlang bei Eucken studiert, aber seine Bezugsquelle ist nicht so sehr die damals zeitgenössische Lebensphilosophie, sondern vor allem Fichte. Die Wissenschaftslehre, so Medicus, ist „letztlich immer Interpretation des Lebens“19. Fichte habe nach Kant eine anthropologische Wende in der Philosophie vollzogen, die sich zum Menschen und dessen konkreten Erfahrungen hin gekehrt habe. Nur dadurch konnte laut Medicus – und das führt nun langsam zum eigentlichen Thema dieses Beitrags zurück – die „Unzulänglichkeit des Kantischen Ausgleichs von Naturnotwendigkeit und Freiheit“ überwunden werden20. Kant hatte angenommen, daß die physikalische Wirklichkeit geschlossen sei und in ihr ein Laplacescher Determinismus gelte. Doch damit wird, so kritisiert Medicus, „das ganze in Raum und Zeit ablaufende Geschehen […] für die sittliche Wirklichkeit eine überflüssige Veranstaltung“, was für ihn schlichtweg inakzeptabel ist21. Diese unzulängliche Trennung habe dann als erster Fichte durchbrochen22. Allerdings habe dieser die naturphilosophischen Konsequenzen nicht genügend herausgearbeitet. Doch das, so Medi17  Hermann Weyl: „Address on the Unity of Knowledge“, in: Columbia University in the City of New York Bicentennial Celebration (1954); wieder abgedruckt und hier zitiert nach Hermann Weyl: Gesammelte Abhandlungen in vier Bänden, hrsg. v. K. Chandrasekharan, Band IV, Berlin 1968, 630. 18  In seinen späten Arbeiten sind für Weyl die symbolischen Konstruktionen der exakten Wissenschaften überdies eng an ein alltägliches Handlungswissen gebunden. Denn der Mathematiker und Physiker geht für Weyl ganz entscheidend mit Symbolen als konkreten physikalischen tokens manipulierend um; vgl. Sieroka: Umgebungen, 344–349. 19  Fritz Medicus: Menschlichkeit. Die Wahrheit als Erlebnis und Verwirklichung, Zürich 1951, 14. Auch Fichte selbst bezeichnet die Wissenschaftslehre als „Lebenslehre“ und behauptet, daß „eine wahrhaft lebendige Philosophie vom Leben fortgehen müsse zum Sein, und daß der Weg vom Sein zum Leben völlig verkehrt sei und ein in allen seinen Teilen irriges System erzeugen müsse“ (Fichte: Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre (1806), in: GA II / 10, 31); vgl. Medicus: Menschlichkeit, 185. 20  Medicus: Die Freiheit des Willens und ihre Grenzen, Tübingen 1926, 82. Die Geschlossenheit und innere Notwendigkeit der Erscheinungswelt, wie sie bei Kant durch Raum und Zeit als Anschauungsformen und die Kausalität als Verstandes­ kategorie folgt, steht laut Medicus innerhalb von Kants philosophischem System der Freiheitslehre völlig unvermittelt gegenüber (ähnlich auch Weyl: Philosophie, 157). 21  Medicus: Die Freiheit des Willens, 83. Wenn es tatsächlich ein sittliches Leben bzw. ein unbedingtes sittliches Gebot gibt, dann müsse es „in derselben Welt, die Kant dem Naturmechanismus preisgibt“, Gültigkeit haben (ebd.). 22  Dies ist eng mit der Unterscheidung verbunden, die Marco Ivaldo (ebenfalls in diesem Band) im Anschluß an Fichte und Lauth zwischen modal notwendiger und modal möglicher Kausalität macht.

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cus aus der Perspektive des Jahres 1926, könne aufgrund der Erkenntnisse der Quantenmechanik nun um so beeindruckender nachgeholt werden. Nun könne man, und hier bezieht sich Medicus vor allem auf Arbeiten von Weyl, Fichtes Überlegungen ergänzen und mögliche Übergänge vom Reich der Spontaneität und Freiheit zur Welt der materiellen und raumzeitlichen Erscheinungen, und umgekehrt, weiterdenken. Dieses Ernstnehmen und In-Beziehung-Setzen der physikalischen Erscheinungswelt und des menschlichen Handelns zeigt sich bereits im Kausalitätsbegriff von Medicus und Weyl, der nicht so sehr der Kantisch-Cassirersche ist, der es primär mit objektiven Urteilen zu tun hat. Statt dessen stellt Weyl unter Berufung auf Fichte und Leibniz ein „Ich tue etwas“, „Ich wirke“ in den Vordergrund, was gerade auch für die experimentelle Physik zentral sei23: ,,Für den Experimentator sind die Bedingungen derjenige Teil des Geschehens, der in seiner Gewalt steht. […] Im Willen erleben wir eine von uns ausgehende bestimmende Macht, und wenn wir so nicht handelnd und leidend in den Strom der Natur mit hineingerissen wären (sei es auch nur als Experimentator, der die Bedingungen des Experiments schafft), würden wir sie kaum unter dem metaphysischen Aspekt von Ursache und Wirkung betrachten.“24

Das Besondere, das nach Weyl zu Beginn der 1920er Jahre durch eine ganze Reihe mathematischer und physikalischer Überlegungen und Befunde gefordert wird, ist eine zumindest teilweise Übertragung dieses Begriffs von Kausalität, von Wirkung und aktivem Hervorbringen auf die Materie. Auch die Materie müsse im Zuge der aufkommenden Quantenmechanik als etwas verstanden werden, das handelnd und leidend mit der Darstellung der raumzeitlichen Wirklichkeit verbunden ist. – Am einfachsten läßt sich das wohl über sein Verständnis der Statistik kurz erläutern. Weyl hatte bereits 1920 betont, man müsse aufgrund bestimmter experimenteller Befunde „der Statistik eine selbständige Rolle neben dem ‚Gesetz‘ [im Sinne der klassischen Physik] zuweisen“25. Diese Anerkennung von Wahrscheinlichkeitsaussagen als genuinen Beschreibungsmitteln in der Physik bedeutet für ihn zugleich, daß die physikalische Beschreibung in zwei Punkten dichter und überzeugender an die konkrete alltägliche Erfahrung, an das Leben, heranrückt: nämlich in ihrer Auffassung von Kausalität und 23  Vgl. Weyl: The Open World, New Haven 1932, 31: „The basic intuition through which we approach the essence of causality is: I do this.“ Vgl. Fichte: Das System der Sittenlehre (1798), in: GA I / 5, 21 ff., und ders.: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, in: GA I / 2, 416 f. 24  Weyl: Philosophie, 147. 25  Weyl: „Das Verhältnis der kausalen zur statistischen Betrachtungsweise in der Physik“, in: Schweizerische Medizinische Wochenzeitschrift 50 (1920); wiederabgedruckt und hier zitiert nach Weyl: Gesammelte Abhandlungen II, 121.



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vom Fluß der Zeit. Laut Weyl weisen statistische Aussagen immer eine zeitliche Gerichtetheit auf, Wahrscheinlichkeitsaussagen betreffen immer die Möglichkeit zukünftiger Ereignisse26. Damit werde durch die Quantenmechanik zum einen die formale Invarianz gegen eine Umkehr der Zeitrichtung gebrochen, wie sie noch für die klassische Physik charakteristisch war, für das Erleben aber völlig unplausibel; zum anderen werde nun endlich die Materie „in ihre alten Wirklichkeitsrechte wieder eingesetzt“27, auch sie wirkt wieder in Raum und Zeit. – Weiterhin glaubte Weyl zu dieser Zeit, eine mathematisch befriedigende Analyse eines Kontinuums lasse sich ebenfalls nur mit Hilfe der Statistik erreichen, wodurch ihm die Quantenmechanik auch als besonders geeignet erscheinen mußte, etwas zum für ihn genuin philosophischen Problem der Klärung des Verhältnisses von Kontinuität und Diskretheit beitragen zu können28. Weyls und Medicus’ Verständnis der Kontinua von Raum und Zeit und ihres Zusammenhangsverhältnisses läßt sich ebenfalls in Anlehnung an Fichte verstehen; insbesondere an dessen Begriff des „Linienziehens“, der auch in Reinhard Lauths Entwurf einer transzendentalen Naturlehre eine wichtige Rolle spielt29. Denn damit beschreibt Fichte die „reine Selbstdarstellung des Ich“30, bei der in der Anschauung Raum und Zeit noch gar nicht getrennt sind. Und auch Weyl benutzt einen solchen „proto-raumzeitlichen“ Begriff des Linienziehens durch das Ich31. Das soll selbstverständlich nicht heißen, Fichte habe hier die Allgemeine Relativitätstheorie antizipiert (auch Medicus und Weyl interpretieren ihn nicht so). Zusammen mit den Bemerkungen zum Kausalitätsbegriff deutet es allerdings an, inwiefern Fichtes Philosophie durch die zwei großen Umbrüche in der Physik des zwanzigsten Jahrhunderts weit weniger unter Druck gerät als insbesondere Kants Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft32 und daß sie für die Physik zumindest inhaltlich anschlußfähiger und heuWeyl: Philosophie, 155. „Feld und Materie“, in: Annalen der Physik 65 (1921); wiederabgedruckt und hier zitiert nach Weyl: Gesammelte Abhandlungen II, 255. 28  Vgl. Sieroka: Umgebungen, 226–238. 29  Vgl. Fichte: Grundlage des Naturrechts, in: GA I / 3, 362, sowie Medicus: Lectures on Logic by Fritz Medicus, hrsg. v. F. Marti / H. Medicus, Washington 1982, 52 f. Vgl. auch R. Lauth: Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, Hamburg 1984. 30  Medicus: „Bemerkungen zum Problem der Existenz mathematischer Gegenstände“, in: Kantstudien 19 (1914) 13. 31  Vgl. Weyl: „Zur Gravitationstheorie“, in: Annalen der Physik 54 (1917); wiederabgedruckt in Weyl, Hermann: Gesammelte Abhandlungen I, 678 f. Vgl. außerdem Weyl: Philosophie, 82. 32  Vgl. Medicus, Fritz: J. G. Fichte. Dreizehn Vorlesungen gehalten an der Universität Halle, Berlin 1905, 191. 26  Vgl.

27  Weyl:

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ristisch überzeugender erscheint als die Cassirer-These, nach der es zwar eine faktische, aber keine transzendentalphilosophische Verkopplung von Raum und Zeit gibt. – Als eindringlicher Beleg sei auf die detaillierte Studie des Mathematikhistorikers Erhard Scholz verwiesen, die zeigt, wie stark Weyls konstruktives Vorgehen in seiner Arbeit zum Raumproblem von 1921 durch den Abschnitt zur Bestimmung des Angeschauten im Raum in Fichtes Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre inspiriert bzw. angeleitet wurde33. Dieses Zusammen von Raum und Zeit in der Anschauung erlaubt es Weyl und Medicus, sämtliche raumzeitliche Erscheinungen, wie sie die klassische Physik beschreibt (also insbesondere die Feldtheorien von Elektrodynamik und Allgemeiner Relativitätstheorie), als Wirkungen einer quantenmechanisch verstandenen, aktiven Materie zu begreifen, die selbst nicht mehr Teil dieser Raumzeit ist. Wenn, wie Medicus schreibt, gemäß der Quantenmechanik die Materie als etwas verstanden werden muß, das den Raum durch „Aktivität“ erfülle, dann dürfe sie gerade nicht mehr im alten Sinne als ein „Gegenstand“ aufgefaßt werden34. Statt dessen werde sie (wie die Beschreibung menschlicher Handlungen und subjektiver Erfahrungen) zu einem „Quasi-Objekt“, das sich erst in geistigen Vollzügen erschließt; zu einer „idealen Setzung“, wie Weyl es nennt35. Der eindrücklichste Nachweis dafür ist laut Medicus die Tatsache, daß man Materie wie Handlungen oder Überzeugungen formal lediglich mit statistischen Mitteln fassen kann36. Insbesondere dürfe die Materie, wie Subjektivität und Bewußtsein, nicht als etwas Raumzeitliches (also insbesondere nicht als physikalisches Feld) mißverstanden werden: „Ich bin nicht Feld“, heißt es bei Weyl, „sondern das, was aus dem Jenseits ins Feld hineinwirkt“37. Hineinwirken kann das Ich aufgrund seiner Leibbehaftetheit, wobei der Leib selbst wiederum eben aus 33  Vgl. Erhard Scholz: „Hermann Weyl’s Analysis of the ‚Problem of Space‘ and the Origin of Gauge Structures“, in: Science in Context 17 (2004) 165–197. Vgl. weiterhin Weyl: „Das Raumproblem“, in: Jahresbericht der Deutschen Mathematikervereinigung 30 (1921); wiederabgedruckt in Weyl: Gesammelte Abhandlungen II, 212–228. Diese allgemeine Inspiration erfolgte ungeachtet dessen, daß Weyl die pseudomathematische Notation im gerade genannten Abschnitt bei Fichte (Fichte: Grundriß des Eigentümlichen, in: GA I / 3, 204–208) für „haarsträubend“ (Weyl: Notizen zu Fichte, ETH-Bibliothek Zürich, Archive, Hs 91: 75, undatiert, 4) hielt. 34  Vgl. Medicus: Die Freiheit des Willens, 89–99. 35  Vgl. Weyl: „Diskussionsbemerkungen zu dem zweiten Hilbertschen Vortrag über die Grundlagen der Mathematik“, in: Abhandlungen aus dem mathematischen Seminar der Hamburgischen Universität 6 (1928); wiederabgedruckt und hier zitiert nach Weyl: Gesammelte Abhandlungen III, 149. 36  Vgl. Medicus: Die Freiheit des Willens, 89–99. 37  Weyl: Mathematische Analyse des Raumproblems – Was ist Materie? Darmstadt 1963, 87.



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nicht-raumzeitlicher Materie besteht: Damit ist die Materie bis zu einem gewissen Grade „analog dem Ich, dessen Wirkungen, trotzdem es selber unräumlicher Art ist, durch seinen Leib hindurch jeweils an einer bestimmten Stelle des Weltkontinuums entspringen“38. In einem Maße, wie es zuvor zumindest in der Geschichte der Physik nicht möglich war, läßt sich nun mit Fichte sagen: „was ich rund um mich herum erblicke, ist Mir verwandt“39. Laut Weyl erfordern es die Beschreibungen und Befunde der Physik, die Materie dem Ich bis zu einem gewissen Grade als verwandt oder analog aufzufassen. Die Materie wird damit nicht identisch zum Ich erklärt, aber sie wird als ein Agens betrachtet; als etwas Aktives, das Wirklichkeit im Sinne raumzeitlicher Ereignisse schafft. An anderer Stelle heißt es bei Fichte: „[M]eine Natur und alle andere Natur, die gesetzt wird, um die erste zu erklären, ist nur eine besondere Weise, mich selbst zu erblicken.“40 Auch dieser Satz kann als treffende Charakterisierung des von Weyl angenommenen Verhältnisses von Leib, Materie und Ich verstanden werden. Denn die Natur, die gesetzt wird, um meine Natur, also meinen Leib, zu erklären, wäre dann genau die als Agens verstandene Materie, die gerade kein Gegenstand in Raum und Zeit ist; und die Reflexion auf sie wäre dementsprechend ein Vorgang, in dem ich mich selbst erblickt. Weiterhin müßte dann eine Geschichte des Materiebegriffs im Sinne Fichtes zur „pragmatischen Geschichte des menschlichen Geistes“41 beitragen können. – Tatsächlich scheint es das Anliegen einiger historisch-systematischer Arbeiten von Weyl zu sein, einen solchen Beitrag zu leisten42. Denn in diesen Arbeiten betont er das historische Hin und Her zwischen MaterieAuffassungen, die, wie die klassische Feldtheorie, den Ausdehnungsbegriff und damit die Geometrisierung der Physik in den Vordergrund stellen, und solchen, die Materie als etwas Eigenständiges, Aktives begreifen. Seit Descartes und Leibniz (und in den frühen 1920ern aktuell mit dem Gegensatz von reiner, klassischer Feldphysik und Quantenmechanik) sei dieser Widerstreit die treibende Kraft im Materieverständnis der Physik, und ein einheitlicher historischer Trend nicht auszumachen. 38  Weyl: „Was ist Materie?“, in: Die Naturwissenschaften 12 (1924); wiederabgedruckt und hier zitiert nach Weyl: Gesammelte Abhandlungen II, 510. 39  Fichte: Die Bestimmung des Menschen, in: GA I / 6, 306. 40  Fichte: Das System der Sittenlehre (1798), in: GA I / 5, 127. Vgl. Thomas Sören Hoffmann: „ ,… eine besondere Weise, sich selbst zu erblicken‘: Zum systematischen Status der Natur nach Fichte“, in: Fichte-Studien 24 (2003) 5. 41  GA I / 2, 365. 42  Vgl. insbesondere Weyl: „Was ist Materie?“, sowie das Kapitel zur Materie in Weyl: Philosophie.

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Zumal Weyl eine analoge Dialektik auch für die Geschichte der Kontinuumsanalyse in der Mathematik schreibt, liegt es nahe, hier im Hintergrund das Fichtesche Motiv des Schwebens der Einbildungskraft zu vermuten43. Denn die Vorstellung von Materie ist gemäß Weyl gerade nichts Fixiertes, sondern wird „gehalten“ durch die Momente der Bestimmtheit (Bestimmung) einerseits und der Aktivität („Nicht-Bestimmung“) andererseits. Dabei meint Bestimmtheit insbesondere Einschränkung und Endlichkeit, denn die geometrisch-feldtheoretischen Ansätze betrachten die Materie ja allein als bestimmte und endliche, also beschränkte räumliche Ausdehnung, während sie von der Agenstheorie als unendlich und unbestimmt tätig begriffen wird. In diesem Sinne schwebt seit Descartes und Leibniz die Materievorstellung der Physik „zwischen Bestimmung, und Nicht-Bestimmung, zwischen Endlichem, und Unendlichem“44. Diese Sichtweise Weyls markiert nochmals einen Gegensatz zu Cassirer und was oben als das „Anämische“ seines Ansatzes kritisiert wurde. Denn Cassirer schreibt in seiner Arbeit Zur Einsteinschen Relativitätstheorie von 1921 auch eine Geschichte des Materiebegriffs, interpretiert sie aber ganz im Sinne eines einheitlichen Trends hin zu einem funktionstheoretischen Primat in der physikalischen Beschreibung, wobei er zu diesem Zeitpunkt besondere philosophische Hoffnungen an die Vorstellungen einer klassischen, vereinheitlichten Feldtheorie knüpft45. – Zwar konnte er dann 1937 diese vormalige Hoffnung innerhalb seines funktionalen Ansatzes relativ einfach revidieren46, aber eine inhaltlich-systematische Geschichtsschreibung des Materiebegriffs kann damit nicht mehr erfolgen bzw. wird sie zu einem sehr viel skizzenhafteren Unternehmen als Weyls Arbeiten aus den 43  Zum „Schweben der Einbildungskraft“ vgl. Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, in: GA I / 2, 359 ff., 414 f. Vgl. weiterhin Jürgen Stolzenberg: Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung, Stuttgart 1986, Kap. 3; Lore Hühn: „Das Schweben der Einbildungskraft. Eine frühromantische Metapher in Rücksicht auf Fichte“, in: Fichte-Studien 12 (1997) 127–151. Die erwähnte Dialektik der Kontinuumsanalyse findet sich – mit expliziter Bezugnahme auf Fichte – in Weyl: „Die heutige Erkenntnislage in der Mathematik“, in: Symposion 1 (1925); wiederabgedruckt in Weyl: Gesammelte Abhandlungen II, 511–542. 44  Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, in: GA I / 2, 360. Siehe auch die bereits erwähnte Bestimmung der Anschauung im Raume (Fichte: Grundriß des Eigentümlichen, GA I / 3, 203: Das Ich, das seine Freiheit durch die Einbildungskraft setzt, „schwebt zwischen Bestimmtheit, und Bestimmbarkeit“). Vgl. weiterhin Lauth: Die transzendentale Naturlehre, 23, 177. 45  Vgl. Cassirer: „Zur Einsteinschen Relativitätstheorie“, 52–56. 46  Vgl. Cassirer: „Determinismus und Indeterminismus“, 129–133. Cassirer bezieht sich sogar mehrfach explizit auf Weyl: „Was ist Materie?“ (ebd., 168, 277– 278), kritisiert aber zugleich aufs schärfste jegliche Übertragung eines Aktivitätsbegriffs auf die Natur (ebd., 263, 369 f.).



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frühen 20er Jahren, die die Bemühungen um eine klassische, vereinheitlichte Feldtheorie bereits als ein weiteres Stadium im historischen Schweben zwischen Bestimmtheit und Aktivität verortet hatten47. IV. Resümee Diese kurze Skizze hat hoffentlich deutlich gemacht, daß bereits in den 1920er Jahren wichtige und tiefsinnige Arbeiten zum Verhältnis von Transzendentalphilosophie und moderner Physik vorlagen, in denen das Verständnis von Raum, Zeit und Kausalität physikalisch wie philosophisch fruchtbar hinterfragt und weitergedacht wurde. Das konnte, wie dargelegt, vor dem Hintergrund eines Neukantianismus oder eines Neufichteanismus geschehen – eine weitere, hier nicht behandelte Möglichkeit war der Anschluß an eine Schellingschen Naturphilosophie. Insbesondere haben mit Weyl und Medicus zwei sehr prominente und einschlägige Autoren zur Interpretation der modernen Physik dezidiert auf Elemente der Wissenschaftslehre Bezug genommen. Weyls Auffassung der Geschichte des Materiebegriffs als eines Schwebens zwischen Bestimmtheit und Aktivität (im Sinne von geometrisch-anschaulich versus agenstheoretisch-konstruktiv) läßt sich sogar, wie ich an anderer Stelle versucht habe zu zeigen, bis zur Gegenwart weiterschreiben48. Auch heute stehen Versu47  Wollte man diese Dialektik des Materiebegriffs direkt auf Fichtes fünffache Sicht der Natur beziehen (vgl. Fichte: Die Anweisung zum seeligen Leben, in: GA I / 9, 154 f., sowie Helmut Girndt: „Die fünffache Sicht der Natur im Denken Fichtes“, in: Fichte-Studien 1 (1990) 108–120), so lägen wohl folgende Assoziationen nahe: Die klassische, vereinheitlichte Feldtheorie, in der keine Aktivität ist und im engeren Sinne nichts geschieht, entspräche vermutlich dem Standpunkt des stehenden Objektes; die Agenstheorie, nach der die Materie wirkt und sich erst im kreativen, geistigen Vollzug erschließt, dem Standpunkt des sich bildenden Subjekts. Weyls nachträgliche Reflexion auf diese Einstellungsarten zur Natur könnte man dann wiederum mit dem Standpunkt der philosophischen Wissenschaft assoziieren. 48  Vgl. Sieroka: „Geometrisation Versus Transcendent Matter: A Systematic Historiography of Theories of Matter Following Weyl“, in: British Journal for the Philosophy of Science 61 (2010) 769–802. Vgl. weiterhin Sieroka: „A Post-Kantian Approach to the Constitution of Matter“, in: G. Van de Vijer / B. Demarest (Hrsg.): Objectivity after Kant: Its Meaning, Its Limitations, Its Fateful Omissions, Hildesheim 2013, 41–55. (Statt „Bestimmtheit“ wird in diesen Arbeiten allerdings „Passivität“ bzw. „Rezeptivität“ als Gegenbegriff zu „Aktivität“ verwendet.) Dabei wird der zentralen Cassirerschen Einsicht in gewisser Weise immer schon Rechnung getragen, da das Hin und Her zwischen den verschiedenen Materie-Auffassungen in der Physik seit Descartes und Leibniz immer mehr mathematisch-funktional eingeschränkt und bestimmt wird.

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che, die Materie eher in geometrische Vorstellungen aufzulösen, solchen gegenüber, für die Materie etwas ist, das aus einer Art „Jenseits“ in Raum und Zeit hineinwirkt. Mehr noch als die Details der Weyl-Medicusschen Agenstheorie ist gerade das ein eindrücklicher Beleg dafür, wie ein von Fichte motivierter Ansatz für die gegenwärtige Philosophie der Physik relevant sein kann. Bibliographie Becker, Oskar: „Beiträge zur phänomenologischen Begründung der Geometrie und ihrer physikalischen Anwendungen“. In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 6 (1923) 385–560. – „Mathematische Existenz. Untersuchungen zur Logik und Ontologie mathematischer Phänomene“. In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 8 (1927) 440–809. Cassirer, Ernst: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Darmstadt 1910 / 1994. – „Zur Einsteinschen Relativitätstheorie“. In: ders.: Zur modernen Physik. Oxford 1921 / 1957, 1–125. – „Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik“. In: ders., Zur modernen Physik. Oxford 1937 / 1957, 127–376. Dosch, Hans Günter: „Cassirer’s Erkenntnistheorie. Kommentar eines Physikers“. In: Determinismus – Indeterminismus. Hrsg. v. Wolfgang Marx. Frankfurt a. M. 1990, 111–135. Dosch, Hans Günter / Müller, Volkhart F. / Sieroka, Norman: „Symbolic Constructions in Quantum Field Theory“. In: Constituting Objectivity: Transcendental Approaches of Modern Physics. The Western Ontario Series in Philosophy of Science. Hrsg. v. Michel Bitbol / Pierre Kerzsberg / Jean Petitot. Dordrecht 2009, 403–413. Friedman, Michael: Dynamics of Reason. Stanford 2001. Girndt, Helmut: „Die fünffache Sicht der Natur im Denken Fichtes“. In: FichteStudien 1 (1990) 108–120. Heuser-Keßler, Marie-Luise: „Spekulative Konstruktion und mathematische Physik“: Kant, Schelling und die Dynamisierung der Geometrie im 19. Jahrhundert. In: Interaktionen zwischen Philosophie und empirischen Wissenschaften: Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte zwischen Francis Bacon und Ernst Cassirer. Hrsg. von Hans Jörg Sandkühler. Frankfurt a. M. 1995, 135–146. Hoffmann, Thomas Sören: „,… eine besondere Weise, sich selbst zu erblicken‘: Zum systematischen Status der Natur nach Fichte“. In: Fichte-Studien 24 (2003) 1–17. Hühn, Lore: „Das Schweben der Einbildungskraft. Eine frühromantische Metapher in Rücksicht auf Fichte“. In: Fichte-Studien 12 (1997) 127–151. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Frankfurt a. M. 1781 / 1787 / 1990.



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– Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Hamburg 1786 / 1997. Lauth, Reinhard: Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre. Hamburg 1984. Medicus, Fritz: J. G. Fichte. Dreizehn Vorlesungen gehalten an der Universität Halle. Berlin 1905. – „Bemerkungen zum Problem der Existenz mathematischer Gegenstände“. In: Kantstudien 19 (1914) (= Festschrift zum 70. Geburtstag von Alois Riehl), 1–18. – Die Freiheit des Willens und ihre Grenzen. Tübingen 1926. – Menschlichkeit. Die Wahrheit als Erlebnis und Verwirklichung. Zürich 1951. – Lectures on Logic by Fritz Medicus. Hrsg. v. Fritz Marti / Heinrich Medicus. Washington 1982. Ryckman, Thomas A.: The Reign of Relativity: Philosophy in Physics 1915–1925. Oxford 2005. Scholz, Erhard: „Hermann Weyl’s Analysis of the ‘Problem of Space’ and the Origin of Gauge Structures”. In: Science in Context 17 (2004) 165–197. Sieroka, Norman: „Weyl’s ‚Agens Theory‘ of Matter and the Zurich Fichte“. In: Studies in History and Philosophy of Science 38 (2007) 84–107. – Umgebungen. Symbolischer Konstruktivismus im Anschluss an Hermann Weyl und Fritz Medicus. Zürich 2010. – „Geometrisation Versus Transcendent Matter: A Systematic Historiography of Theories of Matter Following Weyl“. In: British Journal for the Philosophy of Science 61 (2010) 769–802. – „Hermann Weyl und Fritz Medicus: Die Zürcher Fichte-Interpretation in Mathematik und Physik um 1920“. Erscheint in: Fichte-Studien (2012). Stolzenberg, Jürgen: Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung. Stuttgart 1986. Weyl, Hermann: „Zur Gravitationstheorie“. In: Annalen der Physik 54 (1917) 117– 145. Wiederabgedruckt und hier zitiert nach: ders.: Gesammelte Abhandlungen (GA), 4 Bde.: Hrsg. v. Komaravolu Chandrasekharan. Berlin 1968 (GA I, 670– 698). – Das Kontinuum. Kritische Untersuchungen über die Grundlagen der Analysis. Leipzig 1918. – „Das Verhältnis der kausalen zur statistischen Betrachtungsweise in der Physik“. In: Schweizerische Medizinische Wochenzeitschrift 50 (1920) 737–741 (GA II, 113–122). – „Das Raumproblem“. In: Jahresbericht der Deutschen Mathematikervereinigung 30 (1921) 92–108 (GA II, 212–228). – „Feld und Materie“. In: Annalen der Physik 65 (1921) 541–563 (GA II, 237– 259). – „Was ist Materie?“ In: Die Naturwissenschaften 12 (1924) 561–568, 585–593, 604–611 (GA II, 486–510).

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– „Die heutige Erkenntnislage in der Mathematik“. In: Symposion 1 (1925) 1–23 (GA II, 511–542). – Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft. München 1927. – „Diskussionsbemerkungen zu dem zweiten Hilbertschen Vortrag über die Grundlagen der Mathematik“. In: Abhandlungen aus dem mathematischen Seminar der Hamburgischen Universität 6 (1928) 86–88 (GA III, 147–149). – The Open World. New Haven 1932. – „Address on the Unity of Knowledge“. In: Columbia University in the City of New York Bicentennial Celebration (1954) (GA IV, 623–630.) – Mathematische Analyse des Raumproblems – Was ist Materie? Darmstadt 1963. – Notizen zu Fichte. ETH-Bibliothek Zürich, Archive, Hs 91 (undatiert): 75. Zitiert als „Weyl, NzF“, mit Angabe der Seitenzahl.

Neurowissenschaft und Transzendentalphilosophie Reflexionen zur aktuellen Determinismusdebatte Matthias Scherbaum I. „Aus dem bisher Gesagten geht hervor, daß alle kognitiven Leistungen, auch unsere als frei empfundenen Entscheidungen, auf sich selbst organisierenden neuronalen Prozessen beruhen müssen, die den Naturgesetzen gehorchen. Dies widerspricht unserer Intuition von Freiheit und bedarf deshalb einer Diskussion.“1

Wolf Singer, aus dessen Aufsatz „Freiheit und neuronaler Determinismus“ aus dem Jahre 2007 dieses Zitat entlehnt ist, gehört – zumindest im deutschsprachigen Raum – zweifellos zu den führenden Forschern auf dem Gebiet der Neurowissenschaften2. Singers Kollege Gerhard Roth stellt in der Schrift „Aus der Sicht des Gehirns“ seinen neurowissenschaftlichen Standpunkt aus einem etwas anderen Blickwinkel dar: „Das bewußte, denkende und wollende Ich ist nicht im moralischen Sinne verantwortlich für dasjenige, was das Gehirn tut, auch wenn dieses Gehirn ,passender Weise‘ 1  Wolf Singer: „Freiheit und neuronaler Determinismus“, in: Manfred Lahnstein / Joachim Sartorius (Hrsg.): Berliner Lektionen 2000–2007. Eine politisch-kulturelle Chronik der Gegenwart, Berlin 2007, 114. 2  Mit dem Sammelbegriff „Neurowissenschaften“ sollen in diesem Beitrag terminologisch alle relevanten Disziplinen der modernen Hirnforschung umfaßt werden, wie sie sich in der Neurobiologie, Neurophysiologie und in bestimmten medizinischen und psychologischen Wissenschaften zur Erforschung neuronaler Prozesse greifen lassen. Aufgrund seiner Ausbildung und spezifischen Forschungen ist Wolf Singer strenggenommen als Neurophysiologe zu bezeichnen, was hier aber aus Gründen der Vereinfachung unberücksichtigt bleiben und die Bezeichnung Neurowissenschaft / Neurowissenschaftler Verwendung finden soll. Vgl. als weiterführende Literatur zum Thema etwa Carsten Könneker (Hrsg.): Wer erklärt den Menschen? Hirnforscher, Psychologen und Philosophen im Dialog, Frankfurt a. M. 2006; Eric Richard Kandel: Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes, Frankfurt a. M. 2006; Michael Hagner: Der Geist bei der Arbeit. Historische Untersuchungen zur Hirnforschung, Göttingen 2006; Michael Hagner: Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Frankfurt 2000; Olaf Breidbach: Die Materialisierung des Ichs. Zur Geschichte der Hirnforschung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1997 und Thomas Budde / Sven Meuth: Fragen und Antworten zu den Neurowissenschaften, Bern 2003.

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dem Ich die entsprechende Illusion verleiht. Nach allem, was wir über das Ich gehört haben, kann es auch gar nicht zum großen Steuermann werden […]. Das Ich ist unerlässlich für komplexe Handlungsplanung, es wägt ab, erteilt Ratschläge, aber es entscheidet nichts […]“3. Etliche weitere Passagen aus dem Werk beider Wissenschaftler unterstreichen hinsichtlich der Distanzierung von der Idee menschlicher Freiheit die hier wiedergegebenen Äußerungen4. Der Kern sämtlicher neurowissenschaftlicher Forschungen besteht in der durch zahlreiche Untersuchungen untermauerten Ansicht, daß das Gehirn und seine verschiedenen neuronalen Wirkweisen entscheidend zu Ablauf und Organisation aller Vorgänge in einem Lebewesen beitragen, und daß damit entsprechend auch der Mensch in seinem Verhalten, in seinem Denken und v. a. in seinem Willen durch hochkomplexe neuronale Prozesse des Gehirns bestimmt ist5. Diese Prozesse werden verstanden als mit naturwisRoth: Aus der Sicht des Gehirns, Frankfurt a. M. 2003, 80. den Schriften Singers wäre hierbei besonders zu erwähnen: Unser Menschenbild im Spannungsfeld von Selbsterfahrung und neurobiologischer Fremdbeschreibung, Ulm 2003; Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, Frankfurt a. M. 2003; Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt a. M. 2002; Gehirn und Bewußtsein, Heidelberg 1994; Gehirn und Kognition, Heidelberg 1992. Aus dem Werk Roths ist hierbei v. a. Brain, Evolution and Cognition, New York 2001; Neurowissenschaften und Philosophie. Eine Einführung, München 2001; Aus der Sicht des Gehirns, Frankfurt a. M. 2003 und Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Frankfurt a. M. 2003 zu nennen. Wolf Singer und Gerhard Roth können zu Recht als Protagonisten der humanbiologischen Neurowissenschaften und Hirnforschung im mitteleuropäischen Gebiet bezeichnet werden, sie sind allerdings bei weitem nicht die einzigen Vertreter dieser Richtung. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang ebenfalls Patricia Churchland: Neurophilosophy. Toward a Unified Science of the Mind-Brain, Cambridge /  Mass. 1986; Brain-Wise. Studies in Neurophilosophy, Cambridge / Mass. 2002); Michael Pauen: Neurowissenschaften und Philosophie, München 2001; Illusion Freiheit?, Frankfurt a. M. 2004; Was ist der Mensch?, München 2007; Daniel Dennett: Content and Consciousness, London / New York 1969; Kinds of Minds, New York 1996; Freedom Evolves, New York 2003); Ansgar Beckermann: Gründe und Ursachen, Kronberg 1977; Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Berlin 1999; Thomas Metzinger: Neuere Beiträge zur Diskussion des Leib-Seele-Problems, Frankfurt a. M. 1985; Being No One. The Self-Model Theory of Subjectivity, Cambridge / Mass. 2003; Henrik Walter: Neurophilosophie der Willensfreiheit. Von libertarischen Illusionen zum Konzept natürlicher Autonomie, Paderborn 1998, und Kai Vogeley: Repräsentation und Identität. Zur Konvergenz von Hirnforschung und Gehirn-Geist-Philosophie, Berlin 1995). 5  Dies ist der einhellige Befund tatsächlich aller neurowissenschaftlichen Forschungen bzw. die durch zahlreiche Untersuchungen und Experimente fundierte Position aller Neurowissenschaftler, angefangen bei Oskar Vogt (1870–1959), Walter Rudolf Hess (1881–1973) und Wilder Graves Penfield (1891–1976), später John Carew Eccles (1903–1997) und Roger Sperry (1913–1994), weiter über Benjamin 3  Gerhard 4  Aus



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senschaftlich beschreibbarer Gesetzmäßigkeit ablaufend. Diese genannten Ergebnisse und Positionen der neurowissenschaftlichen Forschung finden einen bemerkenswerten, zumeist ausgesprochen negativen, bisweilen sogar aggressiven Niederschlag in der breiten Öffentlichkeit; so kann etwa Wolf Singer teilweise nur unter Polizeischutz Vorträge vor einem bestimmten Publikum halten6. Libet (1916–2007), Joseph Bogen (1926–2005), Giacomo Rizzolatti (geb. 1937), Erwin Neher (geb. 1944) und Christof Koch (geb. 1956), bis hin zu aktuell prominenten Forschern wie etwa erwähntem Wolf Singer und Gerhard Roth, um nur einige zu nennen. Neigten die früheren Hirnforscher – wie etwa Libet mit seinem berühmten Experiment aus dem Jahre 1979 und John Eccles in den Schriften Das Ich und sein Gehirn (1982) und Wie das Selbst sein Gehirn steuert (1994) – noch dazu, die neuronalen Prozesse im menschlichen Gehirn als Begleiterscheinung bzw. Folge des menschlichen Willens in seiner Freiheit zu interpretieren, so tendiert wohl die überwiegende Mehrzahl der gegenwärtigen Forscher dazu, dieses Verhältnis umzukehren bzw. den freien Willen für eine neuronal hervorgerufene Illusion zu erklären. Vgl. hierzu etwa Wolf Singer: „Entscheidungsgrundlagen“, in: Walfried Linden / Alfred Fleissner (Hrsg.): Geist, Seele und Gehirn. Entwurf eines gemein­ samen Menschenbildes von Neurobiologen und Geisteswissenschaftlern, Münster 2005, 28: „Es gibt also nachvollziehbare Gründe, warum wir zwischen unbewußten und bewußten Abwägungsprozessen unterscheiden und letztere als unserem freien Willen unterworfen wahrnehmen, auch wenn in beiden Fällen der Entscheidungsprozeß selbst auf deterministischen neuronalen Prozessen beruht.“ Aber nicht nur Neurowissenschaftler, auch der Psychologe und Kognitionswissenschaftler Wolfgang Prinz bestreitet prinzipiell die menschliche Willensfreiheit und erklärt das subjektive Gefühl derselben für ein soziokulturelles Konstrukt. In der pointierten Formel: „Wir tun nicht, was wir wollen; wir wollen, was wir tun.“ (ders.: „Freiheit oder Wissenschaft?“, in: M. v. Cranach / K. Foppa (Hrsg.): Freiheit des Entscheidens und Handelns, Heidelberg 1996, 98 f.) kann man den Nukleus seiner diesbezüglichen Überlegungen greifen. Weitere Literatur von Wolfgang Prinz wäre etwa „Die Reaktion als Willenshandlung“, in: Psychologische Rundschau 49 (1998) 10–20, und „Kognitionspsychologische Handlungsforschung“, in: Zeitschrift für Psychologie 208 (2000) 32–54. 6  Vgl. hierzu Wolf Singer: „Tierversuche: Polemik oder Diskurs. Wolf Singer und Leo Montada im Gespräch“, in: Wolf Singer: Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, Frankfurt a. M. 2003, 124: „[Wolf Singer] ist einer der exponiertesten ,Affenforscher‘; er wird deshalb auch von Tierschützern besonders angefeindet. Anläßlich der Verleihung des Hessischen Kulturpreises mußte er unter Polizeischutz gestellt werden.“ Aus dem philosophischen Lager hat in jüngster Zeit v. a. Jürgen Habermas scharfe Kritik gegen den Reduktionismus und Determinismus der Singerschen Position und der aller naturwissenschaftlich geprägten Menschenbilder erhoben, begründet in der Befürchtung, dadurch soziale und rechtliche wie auch moralische Werte einzubüßen. Verschiedene Artikel der Süddeutschen Zeitung geben diese Kontroverse wieder (so etwa die Ausgabe vom 19.01.2006 und vom 25.04.2006), ebenso eine öffentliche Podiumsdiskussion im AudiMax der Phillips-Universität Marburg am 29.09.2006. Vgl. hierzu auch Jürgen Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 2005.

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Diese Reaktionen verhältnismäßig großer Teile der Gesellschaft können als verwunderlich bezeichnet werden, denn die genannten neurowissenschaftlichen Theorien sind in ihrem Prinzip doch alles andere als neu (auch wenn die aktuellen Neurowissenschaften sicherlich gerade durch ihre verbesserten Untersuchungsmethoden – allen voran durch die sogenannten bildgebenden Verfahren – einen bis jetzt ungekannt hohen Grad an wissenschaftlicher Validität beanspruchen): Bereits im Jahre 1748 hat der französische Arzt und Vertreter eines philosophischen Materialismus Julien Offray de La Mettrie in seinem Hauptwerk vom „L’homme machine“, vom Menschen als Maschine gesprochen, dies aus einer medizinisch-physiologisch motivierten Perspektive7. Ludwig Büchner, Bruder des bekannten Literaten Georg Büchner, selbst Mediziner und Philosoph, veröffentlichte im Jahre 1855 die Schrift „Kraft und Stoff“, in der er sämtliche Tätigkeiten und Erscheinungsformen des Geistes auf hirnphysiologische Prozesse zurückführt: „Nicht minder ist der Phosphor von der höchsten Bedeutung für die chemische Konstitution des Gehirns, und das Geschrei, welches über Moleschotts bekannten Ausspruch: ,Ohne Phosphor kein Gedanke!‘ erhoben wurde, beweist nur die Kenntnislosigkeit und wissenschaftliche Borniertheit der Schreier.“8 7  Vgl. hierzu Julien Offray de La Mettrie: L’homme machine – Die Maschine Mensch, übers. u. hrsg. v. Claudia Becker, Hamburg 1994. 8  Ludwig Büchner: Kraft und Stoff, Leipzig 1932, 114. Erwähnter Moleschott war ein niederländischer Arzt und Physiologe des späten 19. Jh., der zusammen mit Carl Vogt, erwähntem Ludwig Büchner und Heinrich Czolbe als einer der wichtigsten Vertreter des wissenschaftlichen Materialismus gilt. Des weiteren schreibt Büchner in obigem Sinne: „Anlaß zu diesem Kapitel gibt uns die bekannte und vielgeschmähte Äußerung Vogts: ,Die Gedanken stehen in demselben Verhältnis zu dem Gehirn, wie die Galle zur Leber oder der Urin zu den Nieren‘ – eine Äußerung, welche übrigens von Vogt selbst mit den Worten eingeleitet wird: ,um mich einigermaßen grob hier auszudrücken.‘ Ohne uns dem allgemeinen Verdammungsgeschrei, welches diese Äußerung in der wissenschaftlichen, publizistischen und theologischen Welt gegen ihren Urheber zuwege gebracht hat, auch nur entfernt anschließen zu wollen, können wir doch nicht umhin, diesen Vergleich sehr schlecht gewählt zu finden. Auch bei genauester Betrachtung sind wir nicht imstande, ein Analogon zwischen der Gallen- oder Urinsekretion und dem Vorgang, durch welchen der Gedanke im Gehirn erzeugt wird, aufzufinden. Urin und Galle sind greif-, wäg- und sichtbare Stoffe, obendrein Auswurfsstoffe, welche der Körper verbraucht hat und aus sich abscheidet, – der Gedanke, der Geist, die Seele dagegen ist nichts Mate­ rielles, nicht selbst Stoff, sondern der zu einer Einheit bewachsene Komplex verschiedenartiger Kräfte, der Effekt eines Zusammenwirkens vieler mit Kräften oder Eigenschaften begabter Stoffe. Wenn eine von Menschenhand gefertigte Maschine einen Effekt erzielt, sich selbst oder andere Körper in Bewegung versetzt, einen Schlag ausübt, die Stunde zeigt oder dergleichen, so ist dieser Effekt an sich betrachtet doch in der Tat etwas sehr wesentlich Verschiedenes von gewissen materiellen Auswurfsstoffen, welche sie vielleicht dabei produziert“ (Ludwig Büchner: Kraft und Stoff, Leipzig 1932, 120 f.).



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Wie diesen Worten Büchners zu entnehmen ist, verursachten diese (protoneurowissenschaftlichen) Überlegungen offensichtlich bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts heftigen Widerwillen. So verständlich diese ablehnend-affektiven Reflexe, besonders vielleicht verschiedener Gruppen des religiös-kirchlichen Lagers, aus bestimmten Perspektiven zunächst auch sein mögen9 – falls es sich dabei um gültige Ergebnisse einer seriösen Wissenschaft handelt, wäre es sicher angemessener, dieselben nicht zu inkriminieren, sondern diese Überlegungen als stimmige wissenschaftliche Position anzuerkennen. Selbstredend unterlaufen erwähnte neurowissenschaftliche Theorien die unmittelbare menschliche Selbstwahrnehmung10 und vielleicht auch den menschlichen Narzißmus bzw. bestimmte liebgewonnene menschliche Selbstbilder11, aber wenigstens im wissenschaftlichen Kontext sollte die Validität bestimmter Forschungsergebnisse, auch wenn sie unbequem sind, sicherlich über emotional-psychologischen Abneigungen bzw. Präferenzen stehen. Freuds drei berühmte Kränkungen der Menschheit12 – Kopernikus’ Widerlegung des geozentrischen Weltbildes13, Darwins Überlegungen zur Entstehung der biologischen Arten samt ihrer Rück9  Die Vertreter des kirchlichen Lagers befürchten dabei sicherlich in erster Linie, daß mit diesen Forschungsergebnissen der Neurowissenschaften die Schöpfungslehre, wie sie zu Beginn der Genesis dargestellt wird, als widerlegt angesehen werden müsse, damit in eins verbunden ebenso die Lehre der Gottesebenbildlichkeit des Menschen sowie überhaupt die Existenz Gottes und – was wohl der gravierendste Punkt in diesem Zusammenhang ist – die Hoffnung auf Erlösung und ewiges Leben. 10  Vgl. hierzu erneut Wolf Singer: „Freiheit und neuronaler Determinismus“, in: Manfred Lahnstein / Joachim Sartorius (Hrsg.): Berliner Lektionen 2000–2007. Eine politisch-kulturelle Chronik der Gegenwart, Berlin 2007, 114: „Aus dem bisher Gesagten geht hervor, daß alle kognitiven Leistungen, auch unsere als frei empfundenen Entscheidungen, auf sich selbst organisierenden neuronalen Prozessen beruhen müssen, die den Naturgesetzen gehorchen. Dies widerspricht unserer Intuition von Freiheit und bedarf deshalb einer Diskussion.“ 11  Vgl. hierzu etwa Wolf Singer: „Einführung“, in: ders.: Gehirn und Bewußtsein, Heidelberg 1994, VII: „Weniger leicht scheinen wir uns jedoch mit der Erkenntnis abzufinden, daß auch Persönlichkeitsmerkmale, Stimmungen, soziale Bindungsfähigkeit, Denkgewohnheiten, emotionale Färbungen von Erfahrungen und das Selbstwertgefühl auf Hirnfunktionen beruhen und daß Veränderungen dieser Eigenschaften ebenfalls hirnorganische Ursachen haben müssen. Diese Einsicht wird oft verdrängt, rührt sie doch an die Grundfesten unseres Menschenbildes.“ 12  Vgl. hierzu Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. 11: Werke aus dem Jahr 1917, Frankfurt a. M. 1952 ff., 294–295, und Bd. 12: Werke aus dem Jahr 1917–1920, Frankfurt a. M. 1952 ff., 7–11. In der gegenwärtigen Diskussion über dieses Diktum Freuds herrscht die Tendenz vor, Freuds These als Suggestion zur Profilierung seiner Psychoanalyse, zumindest als historisch falsch zu interpretieren. So etwa Michael Pauen: Was ist der Mensch?, München 2007. 13  Vgl. hierzu Nicolaus Copernikus: De revolutionibus orbium coelestium, Nürnberg 1543.

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führung des Menschen auf tierische Vorfahren14 und Freuds Psychoanalyse selbst mit der Auffassung, daß der Mensch „nicht Herr im eigenen Haus“ sei15 – könnten so gesehen durch die Neurowissenschaften um eine vierte bereichert werden16. Auch wenn diverse Stimmen aus diesem Grund den Stab über diese Wissenschaften brechen – ein Wissenschaftler ist primär der Wahrheitsfindung verpflichtet, und ein bloßes Unwohlsein kann und darf in diesem Zusammenhang sicherlich nicht über die Stellung einer Wissenschaft bzw. einer Theorie entscheiden. Auch wäre es falsch, wollte man in derjenigen Form gegen die Forschungsergebnisse von Singer usw. argumentieren, daß man auf die verschiedenen, für die Gesellschaft teilweise vielleicht nicht wünschenswerten, problematischen Konsequenzen des durch die Neurowissenschaften evozierten neuartigen Menschenbildes hinwiese, wie sie sich etwa im Bereich von Moral und Recht niederschlagen17. Es ist richtig, daß etliche diesbezügliche Normen eine starke Relativierung, eventuell auch gänzliche Widerlegung und damit letztlich praktische Außer-Kraft-Setzung erfahren würden: Aber dann wäre es von der Gesellschaft gefordert und zu erwarten, sich in bestimmter Hinsicht auf diese neuen Erkenntnisse einzustellen und sich in diesem Bereich zum Umdenken motivieren zu lassen. Recht verstanden bereiten diese Konsequenzen der Neurowissenschaften auch gar keinen Anlaß zur Besorgnis: Unter dem Motiv der gesteigerten sozialen Toleranz 14  Vgl. hierzu Charles Darwin: On the origin of species by means of natural selection, or the persevation of favoured races in the struggle for life, London 1859. 15  Vgl. hierzu etwa Sigmund Freud: Die Traumdeutung (1900), Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1904), Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse (1917), Das Ich und das Es (1923) u. a. 16  Vgl. hierzu Gerhard Vollmer: „Die vierte bis siebte Kränkung des Menschen. Gehirn, Evolution und Menschenbild“, in: Aufklärung und Kritik 1.1 (1994) 81 ff. 17  Dieser Gedanke wird von zumindest einigen Neurowissenschaftlern immer wieder in die Diskussion eingebracht mit dem Hinweis, daß die neuronale Determiniertheit menschlicher Willensentscheidungen eine entscheidende Modifikation des Strafrechts bzw. -vollzugs erfordere. Exemplarisch sei hierzu Wolf Singer: „Entscheidungsgrundlagen“, in: Walfried Linden / Alfred Fleissner (Hrsg.): Geist, Seele und Gehirn. Entwurf eines gemeinsamen Menschenbildes von Neurobiologen und Geisteswissenschaftlern, Münster 2005, 21: „Entscheidungen sind das Ergebnis von Abwägungsprozessen, an denen jeweils eine Vielzahl unbewußter und bewußter Motive mitspielt. Diese legen gemeinsam das Ergebnis fest, sind in ihrer Gesamtheit kaum zu erfassen, weder vom entscheidenden Ich noch vom außenstehenden Beobachter. Hirnforscher behaupten, daß Entscheidungen vom Gehirn getroffen werden, also auf neuronalen Prozessen beruhen. Sie müssen deshalb erklären, wie das Wissen neuronal repräsentiert ist, auf dem Entscheidungen beruhen, wie sich die Motive für Entscheidungen im Nervensystem manifestieren, wie die Abwägungsprozesse organisiert sind, wie das wollende und entscheidende ,Ich‘ sich konstituiert, und schließlich, welches die Konsequenzen der Antworten für unser Selbstverständnis und die Beurteilung von Fehlentscheidungen sind.“



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aufgrund der Einsicht in die neuronale Bedingtheit und damit Nicht-Verantwortlichkeit menschlicher Handlungen und geistiger Vollzüge werden diese Folgen von den meisten Neurowissenschaftlern als positive für die Gesellschaft und das Individuum interpretiert18. Allerdings, dies gilt es nachdrücklich zu betonen, scheinen die Neurowissenschaften in bezug auf ihre Forschungsresultate in bestimmten Aspekten epistemologisch fragwürdig zu sein. Ich kann und will an dieser Stelle nicht auf den ganzen komplexen Problemkreis von Versuchsanordnungen und -bedingungen samt der Frage nach der Gültigkeit der Befunde eingehen19, sondern vielmehr darauf hinweisen, daß, es klang bereits an, so gut wie alle neurowissenschaftlichen Positionen einen Determinismus vertreten, auch wenn manche Neurowissenschaftler dies überraschenderweise bestreiten20. Der Sache nach sind die Neurowissenschaften zum allergrößten Teil als Determinismus, zumindest als eine Spielart desselben, zu klassifizieren21. Das ist wissenschaftlich zunächst neutral zu beurteilen, und impulsive 18  Vgl. hierzu etwa Wolf Singer: „Das Ende des freien Willens?“, in: ders.: Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, Frankfurt a. M. 2003, 33: „Ich glaube, daß sich an der Art, wie wir miteinander umgehen, nicht sehr viel ändern würde, wenn wir der naturwissenschaftlichen Sichtweise mehr Bedeutung zumäßen. Wir würden allerdings – und das wäre erfreulich – vermutlich ein wenig toleranter werden, nachsichtiger, verständnisvoller. Wir würden nicht so schnell aburteilen.“ 19  Kritische und diskussionswürdige Punkte in diesem Zusammenhang sind die Fragen nach der Präzision der Meßergebnisse, des spezifischen Aussage- und Ergebnisfeldes der Messungen, der Interpretierbarkeit der Messungen sowie der wissenschaftliche Stellenwert der experimentellen Methode generell. Da diese Fragen aber allzusehr in komplizierte und komplexe Details hineinlaufen und ein Konsens hierbei zunächst nicht erwartbar ist, sollen sie an dieser Stelle lediglich erwähnt, jedoch nicht weiter besprochen werden. 20  So etwa Wolf Singer: „Freiheit und neuronaler Determinismus“, in: Manfred Lahnstein / Joachim Sartorius (Hrsg.): Berliner Lektionen 2000–2007. Eine politischkulturelle Chronik der Gegenwart, Berlin 2007, 105–125. 21  Die These, daß alles menschliche Bewußtsein und damit alles menschliche Denken, Wollen und Handeln seine Ursache in neuronalen Prozessen des Gehirns habe, die ausnahmslos nach naturgesetzlichen Parametern ablaufen, wie dies alle Neurowissenschaftler und neurowissenschaftlichen Theorien formulieren, kann selbstredend nichts anderes als einen vollumfänglichen Determinismus des menschlichen Bewußtseins und aller seiner Funktionen und Äußerungen zur Folge haben; dies ist logisch vollkommen zwingend: Wo Vorgänge nach (Natur-)Gesetzen ablaufen, kann prinzipiell kein nicht- bzw. un-gesetzlicher Spielraum veranschlagt werden, auch wenn in bestimmten Fällen die (Natur-)Gesetze in vielfacher Kombination bzw. Verschränkung mit sich selbst und / oder anderen (Natur-)Gesetzen nicht mehr die lineare Struktur und damit Prognostizierbarkeit eines einfachen (Natur-)Gesetzes aufweisen, sondern eine gewisse autopoietische Eigendynamik entfalten, wie dies von vielen Neurowissenschaftlern für das Gehirn in seinen Abläufen behauptet wird. Dies ändert aber in der Tat nichts an dem Umstand, daß hierbei die Sphäre der (Natur-)Gesetzlichkeit prinzipiell niemals verlassen wird. Wenn aber (Natur-)Gesetze

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Ablehnungen diesbezüglich sollten dann keine Rolle spielen, wenn sich diese Theorie als wahr erweist – aber auch nur dann, wenn sie sich als wahr erweist, worüber in den folgenden Ausführungen Klarheit gewonnen werden soll. Der Befund der Position des Determinismus in den Neurowissenschaften ist für das gegenwärtige Thema insofern von Interesse, als die Idee des Determinismus auf philosophische Reflexionen hin transparent ist22 (was für die reinen neurowissenschaftlichen Forschungen im Sinne von Medizin und Biologie nicht umstandslos behauptet werden kann) und daher eine dementsprechende Untersuchung sowie Stellungnahme zu diesem Standpunkt aus philosophischer Perspektive möglich und sinnvoll ist. Dem Titel des Aufsatzes entsprechend soll sich hierbei in erster Linie auf die Transzendentalphilosophie als Werkzeug der philosophischen Untersuchung bezogen werden, genauerhin auf die einschlägigen Reflexionen und Argumente zu diesem Themenbereich aus den Schriften Johann Gottlieb Fichtes und Immanuel Kants. Dies hat seinen Grund v. a. in demjenigen Umstand, daß (v. a. Fichtes) Transzendentalphilosophie ein Argumentationsniveau von hohem Rang sowie großer Schärfe erreicht und daher diese Gedanken im gegenwärtigen Kontext vielleicht besser als andere Philosophien dazu geeignet sind, systematisch über das Problem des Determinismus zu reflektieren. Damit ist auch zugleich das Selbstverständnis dieses Beitrags angesprochen: Es geht darum – in systematischer und weniger in historischer Weise –, das Thema der Neurowissenschaften unter dem spezifischen Aspekt des Determinismusproblems mit transzendentalphilosophischen Überlegungen zu in bestimmten Gebieten gelten und walten (oder dies zumindest angenommen und vorausgesetzt wird), dann laufen die Prozesse, die im Geltungsbereich dieser veranschlagten (Natur-)Gesetze ablaufen, allerdings streng und ausnahmslos mit (natur-) gesetzlicher Notwendigkeit ab: das bedeutet der Begriff des Gesetzes und dies wird als Gesamttheorie als Determinismus bezeichnet. 22  Der Begriff des Determinismus kann zu Recht als genuin philosophischer bezeichnet werden (vgl. hierzu etwa Rainer Kuhlen u. a.: Art. „Determinismus / Indeterminismus“, in: HWPh 2 (1971 ff.) Sp. 150 ff.), weswegen die Neurowissenschaften, wenn sie deterministische Konsequenzen ihrer Forschungen proklamieren, strenggenommen ihr eigenes methodisches und wissenschaftliches (Aufgaben-)Feld verlassen und sich in Urteilsmodalitäten einer Fremdwissenschaft begeben. Aus diesem Grunde greift an dieser Stelle auch die philosophische Kritik, da es sich in diesem Fall um Probleme und Fragen ihres eigenen Gebietes handelt. Vgl. hierzu etwa Ted Honderich: Wie frei sind wir? Das Determinismus-Problem, Stuttgart 1995; Klaus Mainzer: „Determinismus“, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart 2005, 167 ff.; Ulrich Pothast (Hrsg.): Seminar: Freies Handeln und Determinismus, Frankfurt a. M. 1988, und Christian Geyer: Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt a. M. 2004.



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bedenken. Daher müssen vor den eigentlichen Ausführungen zum Thema Begriff, Geschichte und Bedeutung des Determinismus geklärt werden, um den Gegenstand der Untersuchung so präzise als möglich zu bestimmen. II. Der Begriff des Determinismus erscheint explizit in der philosophischwissenschaftlichen Literatur erstmalig im 17. Jahrhundert23. Hintergrund hierfür ist die damals stark zunehmende Entfaltung der Naturwissenschaften mit einer ebenso stark zunehmenden Ausprägung eines entsprechenden naturwissenschaftlich-mechanisch bestimmten Weltbildes24. Zu denken wäre hierbei in erster Linie etwa an Galilei, Kepler, Kopernikus und Newton, in späterer Zeit auch an Laplace25. Allerdings ist das Motiv, das zu jener Zeit den Namen des Determinismus erhält, im philosophischen Denken der Sache nach bereits seit der griechischen Antike bekannt26. Aristoteles thematisiert dieses Problem im Kontext von Aussagen, die mit Bestimmtheit von notwendigen Ereignissen in der Zukunft sprechen: „Im Kontext der Analyse des Satzes ,Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden‘ führt Aristoteles semantische Gründe an, die für einen ontologischen Determinismus zu sprechen scheinen. Wenn ‚Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden‘ wirklich wahr ist, dann ist der Satz – so hatte schon Parmenides für vollständig ausformulierte Aussagen angenommen bzw. gefordert – situations- und zeitinvariant wahr. Wenn er falsch ist, gilt dasselbe. Im ersten Fall muß dann aber jetzt schon wahr sein, daß eine Seeschlacht stattfindet. Dann kann nicht mehr der Fall sein, daß keine stattfindet.“27 Boethius, der aus christlicher Perspektive Interesse an der Aufrechterhaltung menschlicher Freiheit zeigte, wendete sich der Frage mit dem Hinweis auf das Verhältnis von Gottes Ewigkeit und irdisch-menschlicher Zeitlichkeit zu28, und ganz in diesem Sinne wird noch von Thomas von Aquin dieser Gedanke weiterentwickelt29. 23  Vgl. hierzu Rainer Kuhlen u. a.: Art. „Determinismus / Indeterminismus“, in: HWPh 2 (1971 ff.) Sp. 150 f. 24  Vgl. ebd. 25  Vgl. hierzu Gerhard Frey: Art. „Determinismus / Indeterminismus“, in: HWPh 2 (1971 ff.) Sp. 155 ff. 26  Vgl. hierzu Rainer Kuhlen u. a.: Art. „Determinismus / Indeterminismus“, in: HWPh 2 (1971 ff.) Sp. 151. 27  Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie, Hamburg 1999, 231. (Die Abkürzungen wurden aufgelöst.) Vgl. hierzu auch Aristoteles: De interpreta­ tione, 1865 ff. 28  Vgl. hierzu Boethius: De consolatione philosophiae, V, 3. 29  Vgl. hierzu Thomas Aquinas: Summa theologica, I., q. 14, a. 13.

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Von weitreichender Bedeutung für die soziale, politische und gesamtkulturelle Entwicklung des Abendlandes wurde dieser Gedanke jedoch zunächst im religiös-christlichen Umfeld: Als Prädestination wird Augustinus in bezug auf die Menschen die göttliche Gnadenwahl zum Heil wie zur Verdammnis bezeichnen30. Das Mittelalter kannte zwar Augustinus’ Ausführungen zu diesem Thema, vertrat aber in den meisten Fällen (abgesehen vom Mönch Gottschalk und seiner starken Betonung der Augustinischen Position31) eine sehr gemäßigte Auffassung in dieser Sache, indem es wenigstens die ethischen, politischen und v. a. heilsrelevanten Folgen dieses Gedankens einschränkte32. Zur Zeit der Reformation erfährt der Glaube an die göttliche Prädestination dann wieder eine ausgesprochene Aufwertung und Renaissance, wird er doch von solch einflußreichen Theologen wie Luther, Zwingli und Calvin, teilweise mit einigem Nachdruck, vertreten33. Immer geht es in diesem Zusammenhang um die entscheidende Frage nach dem freien menschlichen Willen: In der Regel wird aus spezifisch theologischen Reflexionen von genannten Reformatoren der freie Wille zumindest partiell geleugnet. Weniger auf die theologischen, dafür aber um so stärker auf die naturwissenschaftlichen Vorstellungen in dieser Angelegenheit Bezug nehmend, wird sich dann die Philosophie des 17. Jahrhunderts ausdrücklich mit dem Thema des Determinismus beschäftigen. Spätestens34 in der Philosophie Spinozas 30  Im wesentlichen lassen sich fünf Schriften Augustins benennen, in denen er – meist in Auseinandersetzung mit dem Pelagianismus – die Prädestinationslehre entwickelt. Es handelt sich dabei um De diversis quaestionibus ad simplicianum (396), De natura et gratia (413–415), De gratia christi et de peccato originale (418), De gratia et libero arbitrio (426–427) sowie um De praedestinatione sanctorum (428–429). Vgl. hierzu auch Kurt Flasch (Hrsg.): Die Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo. De diversis quaestionibus ad Simplicianum, Mainz 1990. 31  Vgl. hierzu Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 1986, 160 ff. 32  Vgl. hierzu v. a. Johannes Scotus Eriugena: De divina praedestinatione liber, hrsg. von Goulven Madec, Turnhout 1978. 33  Bei Martin Luther (1483–1546) wäre in diesem Zusammenhang wohl besonders an sein Werk De servo arbitrio (1525) zu denken. Schärfer fassen Ulrich Zwingli (1484–1531) und Johannes Calvin (1509–1564) den Gedanken: Unter dem Namen der „doppelten Prädestinationslehre“ vertreten sie die Auffassung, daß Gott alleine aus (willkürlicher) Gnade die Menschen entweder zum Heil (ohne Verdienst) oder zur Verdammnis (ohne Schuld) von Ewigkeit vorherbestimmt habe. 34  Gedankliche Vorläufer für Spinoza (1632–1677) kann man zweifellos in den Philosophien Francis Bacons (1562–1626) und René Descartes’ (1596–1650) erblicken, die beide ein ausgeprägtes Interesse für die Naturwissenschaften, unter anderem auch für Mechanik, in ihren Schriften zeigten. Die Idee der durchgängig waltenden Kausalität in der Natur ist insofern, gerade für jene Zeit, von Interesse, da die Natur qua Einsicht in diese in ihr nach strenger und ausnahmeloser Gesetzmäßigkeit ab-



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gelangt der philosophisch relevante Determinismus zu seiner vollen Schlagkraft: In der mit strenger Notwendigkeit erfolgenden Selbstentfaltung der causa sui in Attribute und Modi sind nicht nur alle möglichen Universen, sondern ist v. a. auch der Mensch in allen seinen Belangen strikt determiniert. Die einzige denkbare „Freiheit“ bestünde nach diesem Konzept in der vollständigen, determinierten Notwendigkeit einer Entität, die dann ihrer Bestimmung vollgültig entspräche35. Andere Philosophen dieser Epoche, wie etwa Hobbes36 und Hume37, plädieren für einen Determinismus, der die Sphäre der menschlichen Verantwortlichkeit unberührt läßt. Hintergrund für diese Konzeption einer Durchdringung von Freiheit und Determinismus sind in diesem Fall vorrangig politische bzw. staatskonstitutive Überlegungen. Leibniz beschreitet gedanklich einen ähnlichen Weg, indem er – ausgehend von der Idee der „Fensterlosigkeit“ der Monaden – die menschliche Willensfreiheit als reine Selbstabhängigkeit bestimmt, wobei ihm für diese metaphysischen Reflexionen die Unterscheidung in absolut notwendige Vernunftwahrheiten sowie in hypothetisch notwendige Tatsachenwahrheiten dient38. Wolff wird diese Ideen Leibniz’ weitgehend übernehmen39, wohingegen Kant das Problem differenzierter angeht. Wie die dritte Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft und die Idee der noumenalen Freiheit als transzendentaler Idealismus und somit Loslösung aus der kausalen Deter­ minationskette zeigt40, geht Kant das Problem von Determinismus / Indeterlaufende Kausalität beherrschbar und – bis heute von entscheidender Bedeutung – für den Menschen nutzbar wird. 35  Spinoza, Baruch de: „Brief an G. H. Schuller“, in: ders.: Briefwechsel, hrsg. von Carl Gebhardt, Hamburg 1986, 235. 36  Thomas Hobbes (1588–1679) führt dies aus in seiner Schrift Tripos, Aalen 1962 (Reprint), 273: „Liberty is the absence of all the impediments to action that are not contained in the nature and intrinsical quality of the agent.“ 37  In dem Werk A treatise of human nature, Aalen 1964 (Reprint), 181 ff., entfaltet David Hume (1711–1776) diesen Gedanken wie folgt: „’Tis universally acknowledg’d, that the operations of external bodies are necessary, and that in the communication of their motion, in their attraction, and mutual cohesion, there are not the least traces of indifference or liberty. Every object is determin’d by an absolute fate to a certain degree and direction of its motion, and can no more depart from that precise line, in which it moves, than it can convert itself into an angel, or spirit, or any superior substance. […] ’Tis commonly allow’d that mad-men have no liberty. But were we to judge by their actions, these have less regularity and constancy than the actions of wise-men, and consequently are farther remov’d from necessity.“ 38  Vgl. hierzu Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hrsg. v. Carl Immanuel Gerhardt, Bd. VI, Hildesheim 1960 ff., 37 ff. 39  Vgl. hierzu Christian Wolff: Philosophia practica universalis, Frankfurt / Leipzig 1738, § 47. 40  Das Antinomienkapitel aus Immanuel Kants (1724–1804) Kritik der reinen Vernunft (= KrV) gilt zu Recht als eine Schlüsselstelle seiner theoretischen Philosophie

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minismus dergestalt an, daß Freiheit vernünftigermaßen nur gedacht werden kann, wenn die willentliche Determination als verursacht aus Achtung vor dem moralischen Gesetz verstanden wird. Im Begriff der Autonomie als moralischer Selbstgesetzgebung der Vernunft werden Freiheit und Determina­ tion als identisch gedacht. Anknüpfend an Kant und dessen Ideen eines moralischen Gesetzes, dessen Kern die Autonomie und qualifizierte Freiheit ist, wird Fichte seine Gedanken zu diesem Thema entwickeln. Die diesbezüglich wichtigste Schrift in seinem Oeuvre dürfte hierbei das System der Sittenlehre von 1798 sein, gefolgt von der Staatslehre von 1813, was im folgenden ausgeführt werden soll. Ebenfalls von Bedeutung ist Die Bestimmung des Menschen von 1800 (relevant für das gegenwärtige Thema sind in dieser Schrift v. a. Buch I und Buch II bzw. der Übergang zwischen beiden), die Wissenschaftslehre 1801 / 02 (dieser Text zeigt die Grundlegung bzw. Konstituierung von Wissen als einen Akt prinzipieller Indeterminiertheit) und die Anweisung zum seligen Leben oder auch die Religionslehre von 1806 (wobei man hier im besonderen an die Lehre der fünf Standpunkte und ihrer Entwicklung vom Natürlich-Bestimmten zu immer größerer Freiheit denken kann). III. Johann Gottlieb Fichte hat sich in seinem Schaffen selbstredend nicht mit der expliziten Fragestellung der Hirn- bzw. Neurowissenschaften auseinandergesetzt41, sehr wohl aber sich zur diesen Fragen zugrundeliegenden Thematik des Determinismus geäußert, wobei er hierfür zumeist den Termiüberhaupt. Für die gegenwärtige Thematik vgl. hierzu KrV, A 444 ff., in: ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften / Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin / Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Bd. IV, Berlin / New York 1900 ff. Im folgenden mit KGS abgekürzt. 41  Bezug hätte Fichte im philosophischen Kontext, historisch bedingt, ohnehin nur auf La Mettries „L’homme machine“ nehmen können; Ludwig Büchner veröffentlichte Kraft und Stoff erst 40 Jahre nach Fichtes Tod, also 1854; Carl Vogt wurde 1817 geboren, Jakob Moleschott 1822. Allgemein beginnt die ausdrückliche medizinischphysiologische Erforschung des Gehirns erst ab etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts, was sicherlich nicht zuletzt an der Entwicklung bzw. Verbesserung der technischen Hilfsmittel – Mikroskop, chemische Analysen und diverse Entdeckungen auf dem Feld der Elektrizität – liegt. Vgl. hierzu etwa Stephen Finney Mason: Geschichte der Naturwissenschaften, Stuttgart 1991. Der einzige mir bekannte Bezug zur Thematik von Gehirn und Denken usw. findet sich in den Platnervorlesungen Fichtes (vgl. ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth, Hans Jacob, Hans Gliwitzky, Erich Fuchs und Peter K. Schneider, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962–2012. Im folgenden abgekürzt: GA, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl, hier: GA II / 4).



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nus der „Prädestiniertheit“ verwendet. Er knüpft dabei wie erwähnt weitgehend zunächst an Kant und dessen Idee der Sittlichkeit als Autonomie im Sinne vernünftiger Selbstgesetzgebung an, geht aber dann insofern entscheidend darüber hinaus, als er seine diesbezüglichen Überlegungen in das Schema von Ich und Nicht-Ich einbettet und damit eine philosophisch gesehen tiefere, grundlegendere Ebene erreicht als das letztlich heuristisch entdeckte Kantsche Faktum der Vernunft im Sinne des autonomen Sittengesetzes. Er versucht hierbei, eine systematische Verortung der Widersprüchlichkeit von Freiheit und Prädestiniertheit im Bereich des Sittlichen zu liefern, wie sie sich etwa angesichts der Begrenztheit und Unverfügbarkeit bestimmter Mittel zur Erreichung von Zwecken darstellt. So schreibt er beispielsweise hierzu im System der Sittenlehre (1798) das Folgende: „Diese Beschränktheit unserer Wirksamkeit auf den Gebrauch bestimmter Mittel, um einen bestimmten Zweck zu erreichen, muß von dem Gesichtspunkte des gemeinen Bewußtseins erklärt werden, durch eine bestimmte Beschaffenheit der Dinge, durch bestimmte Naturgesetze, die nun einmal so sind. Mit dieser Erklärung aber kann man sich von dem transscendentalen Gesichtspunkte einer reinen Philosophie keineswegs genügen lassen, d. h. auf demjenigen Gesichtspunkte, wo man alles Nicht-Ich vom Ich abgesondert und das letztere rein gedacht hat. Von diesem Standpunkte aus erscheint es als völlig widersinnig, ein Nicht-Ich als Ding an sich mit Abstraction von aller Vernunft anzunehmen. Wie ist sie denn nun in diesem Zusammenhange zu erklären, nicht etwa ihrer Form nach, d. h. warum überhaupt eine solche Beschränktheit gesetzt werden müsse, denn gerade diese Frage ist es, die wir gegenwärtig durch Deduction beantwortet haben, sondern ihrem Materiale nach; d. h. warum diese Beschränktheit gerade so gedacht werde, wie sie gedacht wird; gerade solche Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zweckes führen sollen, und keine andere. Da hier schlechthin nicht weder Dinge an sich, noch Naturgesetze als Gesetze einer Natur außer uns angenommen werden sollen; so läßt diese Beschränktheit sich nur so begreifen, daß das Ich selbst sich nun einmal so beschränke, und zwar nicht etwa mit Freiheit oder Willkür, denn dann wäre es nicht beschränkt, sondern zufolge eines immanenten Gesetzes seines eigenen Wesens; durch ein Naturgesetz seiner eigenen (endlichen) Natur.“42 42  Fichte: System der Sittenlehre, in: GA I / 5, 101. Des weiteren führt Fichte in dieser Schrift aus: „Wer bin ich denn überhaupt? Es bleibt dabei: der, zu dem ich mich mache. – Ich habe nun so und so weit gehandelt, und bin dadurch der und der; das Individuum, dem die Reihe der Handlungen A. B. C. u. s. f. zukommt. Von diesem Augenblicke an liegt wieder eine Unendlichkeit von prädestinierten Handlungen vor mir, aus der ich auswählen kann; die Möglichkeit und Wirklichkeit aller ist prädestiniert: aber gar nicht, daß gerade die, die ich wähle, an die ganze Reihe, die bis jetzt meine Individualität ausmacht, an A. B. C. sich anfügen sollen, und so ins Unendliche. Es gibt erste bestimmte Punkte der Individualität; von da an liegt vor jedem eine Unendlichkeit: und welches bestimmte unter der von nun an liegt vor Jedem eine Unendlichkeit: und welches bestimmt unter den von nun an noch möglichen Individuen es wird, hängt gänzlich ab von seiner Freiheit. Meine Behauptung ist also die: es sind alle freien Handlungen von Ewigkeit her, d. i. außer aller Zeit durch die Vernunft prädestiniert: und jedes freie Individuum ist in Rücksicht der

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Was aus diesen Äußerungen Fichtes deutlich wird, ist dieses: Es wäre falsch, wollte man davon ausgehen, der Mensch – hier vorgestellt als sittlich handelndes Wesen – sei in seinem Selbstvollzug vollkommen und unWahrnehmung mit diesen Handlungen in Harmonie gesetzt. Es liegt für die gesammte Vernunft ein unendlich Mannigfaltiges von Freiheit und Wahrnehmung da: alle Individuen theilen sich gleichsam darein. Aber die Zeitfolge und der Zeitinhalt ist nicht prädestiniert, aus der hinreichenden Ursache, daß die Zeit nichts ewiges und reines sondern bloß eine Form der Anschauung endlicher Wesen ist; d. h. die Zeit, in welcher etwas geschehen wird, und die Thäter sind nicht prädestiniert. Und so löst sich durch eine kleine Aufmerksamkeit die unbeantwortlich geschienene Frage von selbst auf: Prädetermination und Freiheit sind vollkommen vereinigt.“ (Fichte: System der Sittenlehre, in: GA I / 5, 206 f.) In der Staatslehre von 1813 hören wir zum Thema folgendes: „Wir erhalten sonach, worauf es ankommt, ausser dem in der Natur Gegebenen, in dem möglicherweise Gegebenen auch noch eine Welt der Freiheitsproducte, aufgetragen durch absolute Freiheit auf die erste, in dieser aber, die mit jener todten Kraft geschlossen war, durchaus nicht begründet. Wozu es der Regung einer menschlichen Hand bedürfte, das gehört durchaus nicht in jene Sphäre, sondern in diese; denn die Natur vermag zwar wohl eine menschliche Hand hervorzubringen (der Strenge nach in ihrem Wesen, wie wir es bisher begriffen, nicht einmal dies, wie wir an einer andern Stelle sehen werden: hier jedoch schenken wir dies); aber sie vermag dieselbe nicht in Bewegung zu setzen. (Ueberhaupt denken Sie sich als jene Kraft den zur freien und zweckmäßigen Bewegung organisirten menschlichen Leib.) Die Natur giebt sich ihren Herrn von der einen Seite; von der anderen, der Herr, die Freiheit, bringt ihr Werkzeug und ihren Stoff mit sich. – Daraus die Sphäre der Freiheitsproducte, als eines möglicherweise und unter einer gewissen Bedingung Gegebenen: diese sind für die Anschauung ein Zufälliges, also eben zur Geschichte, als einer Darstellung des also Gegebenen, sich qualificirend. Nun ist schon oben bemerkt: diese Freiheitsproducte sollen aus deutlicher Einsicht, die bis auf das sittliche Gesetz zurückgeführt ist, hervorgehen; und so die ganze Welt der Freiheitsschöpfungen ohne alle Ausnahme. – So soll es seyn, so wird es auch einst seyn, wenn die Freiheitswelt in allen ihren Individuen vollständig gegeben, und die Freiheit durchaus frei, d. i. vom klaren Begriffe durchdrungen seyn wird: aber so ist es dermalen nicht. Das Meiste kommt zu Stande ohne diese Zurückführung auf das sittliche Gesetz, nur nach einem von ungefähr aufgerafften Begriffe; die Aussonderung der beiden Bestandtheile, falls es ja etwas vom ersten gäbe, würde schwer seyn, oder unmöglich, und so möchte es nach diesem Maassstabe kaum eine Geschichte geben“ (GA II / 16, 85). Unmittelbar daran anknüpfend schreibt Fichte weiter: „So darum steht die Sache: Bei weitem das Meiste der etwa in einem Zeitraume der Anschauung vorliegenden Freiheitsproducte ist zu Stande gekommen nicht nach dem deutlichen Begriffe vom sittlichen Gesetze, also nicht nach diesem Gesetze; ebensowenig aber ist es zu Stande gekommen durch das Naturgesetz, indem dieses geschlossen ist vor dessen Erzeugung, und es zu Stande gekommen ist durch Freiheit. – Da es nun ausser diesen beiden keine Gesetzgebung giebt, erfolgen sie ganz gesetzlos, von ohngefähr. Dies nun eigentlich und notorisch der Gegenstand der bisherigen Menschengeschichte: Aeusserung der Freiheit, darum nicht der Natur, aber nicht aus dem sittlichen Gesetze zu erklären; – die freien, willkürlichen, gesetzlosen Handlungen der Menschen: – nur nicht in dem Sinne, daß sie willkürlich und gesetzlos nach einem bewußten Begriffe handeln wollen, sondern daß es ihnen ebenso sich begeben, weil ihr Ver-



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beschränkt frei im Sinne von Gesetzlosigkeit und Willkür. Dies verbietet ja alleine schon die Idee der Autonomie als eigentlicher Nerv des Sittengesetzes. Allerdings geht Fichte in seinen Reflexionen über diesen Gedanken in dem entscheidenden Punkt hinaus, wenn er mit dem Gesagten nicht nur das Faktum der Vernunft und der Autonomie als Identität von Freiheit und Determiniertheit in der inneren Sphäre des Ich erklären will, sondern damit in eins auch der gesamte als nicht-ichlich gesetzte Bereich einer unabhängig von mir mich beschränkenden, bestimmenden Sphäre einer möglichen Außenwelt – zumindest dem Anspruch nach – abgeleitet werden soll. Dies ist deswegen von Interesse, weil Fichte damit die Problematik von Determiniertheit und Freiheit im bloßen Bereich des Sittlichen überschreitet und das Problem ausweitet auf das Gebiet aller möglichen Gesetzlichkeit und Kausalität im Sinne von Naturgesetz und natürlicher Kausalität. Sein Ergebnis bei diesen Überlegungen ist, wie gesehen, die These, daß Determination und Freiheit sowohl im sittlichen wie auch im natürlichen Bereich als identisch gedacht werden, weil das Gesetz der Vernunft alles immer schon prädestiniert bzw. determiniert hat, was allerdings durch die zeitliche Abfolge im Bewußtsein des endlichen Vernunftwesens als kontingent, ungesetzlich und damit frei erscheint. Damit wird Fichte zu einem geeigneten philosophischen Gesprächspartner hinsichtlich der Neurowissenschaften, da der Gegenstand der Neurowissenschaft selbstredend nicht Moral, sondern das nach Naturgesetzen ablaufend vorgestellte menschliche Gehirn ist, das aus dieser Perspektive als vollständig determiniert erscheint.

stand

und ihr deutlicher Begriff nicht weiter gegangen. – Mehr unerklärliche und auf kein Gesetz zurückzuführende Begebenheiten an der Freiheit, als Handlungen derselben. Durchaus gesetzlos, absolut vom blinden Ohngefähr abhängig, wie man dies ausdrückt? – So sieht es aus, zufolge des Räsonnements der beiden Gesetzgebungen. Können wir geneigt seyn, es dabei bewenden zu lassen? Gewiss nicht; so gewiss wir die Geschichte verstehen wollen: Verstehen aber heisst Einsehen aus einem Gesetze. Wiewohl wir nun durch die Anlegung beider Gesetzgebungen in ihrer Geschiedenheit abgewiesen worden, haben wir es denn versucht mit beiden in der Vereinigung? – Die Natur mit ihrem inneren Gesetze ist ja durch das Gesetz der Sittlichkeit selber, als Seyns- und Naturgesetz: – sie ist Stoff für jene; sind nicht also alle diese Begebenheiten ganz gewiss auch dies, Stoff, an welchem die Sittlichkeit sich zeigen könne? Also eine gewisse Aeusserung der Sittlichkeit wäre nicht möglich, wenn nicht diese Producte der unsittlichen Freiheit zum Guten zu wenden wären. So gehören auch sie unter das Gesetz der Sittlichkeit, als Sichtbarkeit eines gewissen Inhaltes desselben. (Was auch die gesetzlose und gesetzwidrige Freiheit beginne, eine Aufgabe für die sittliche Freiheit enthält es immer, es zum Besten zu wenden. – Alle Dinge sollen zum Besten dienen, – selbst die Werke des Teufels, der Unterdrücker u. s. w.)“ (GA II / 16, 85 f.).

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IV. Die oben erwähnten transzendentalphilosophischen Erörterungen Fichtes lassen sich für das gegenwärtige Thema von Freiheit, Determinismus und Neurowissenschaften fruchtbar machen. Es soll allerdings im folgenden weniger darum gehen, die Position Fichtes in dieser Frage näher zu erörtern, als vielmehr um den Versuch, diese transzendentalphilosophischen Gedanken selbst unmittelbar und in systematischer Weise auf die Positionen der Neurowissenschaften anzuwenden. Ich beginne mit einer formalen Untersuchung. Wissenschaftstheoretisch gesehen problematisch ist der Standpunkt der Neurowissenschaften im Zusammenhang des Determinismusproblems in folgenden Hinsichten: Ein geschlossenes neuronales System (das menschliche Gehirn) muß, um die Theorien der Neurowissenschaften aufstellen bzw. verstehen zu können, aus sich selbst heraustreten, sich selbst beobachten und beschreiben, um schließlich die Gültigkeit dieser Theorien beanspruchen zu können. Denn jede wissenschaftliche Theorie will ja selbstredend gültig und eben nicht falsch sein. Daß dies aber im gegenwärtigen Fall einen eklatanten Selbstwiderspruch enthält, der auf einem faktischen und logisch notwendigen theoretisch-kognitiven Prozeß des entsprechenden Wissenschaftlers beruht, soll nun gezeigt werden. Sofern eine wissenschaftliche Theorie gesetzt ist, ist diese in ihrer Genese zurückzuführen auf einen bestimmten Wissenschaftler, der diese Theorie aufstellt. Besteht der Inhalt der Theorie in der Aussage „Das menschliche Bewußtsein ist determiniert“, dann gilt dies selbstredend auch für den bestimmten Wissenschaftler bzw. dessen Bewußtsein, mit dem er diese Theorie aufstellt. Daraus resultiert schließlich der Befund, daß die Theorie mit dem Inhalt „Das menschliche Bewußtsein ist determiniert“ in ihrer Genese wie ihrer eigenen Validitätsqualität selbst das Gepräge der Determiniertheit trägt. Diese Einsicht ist verhältnismäßig anspruchslos, und es haben sie einige wenige Neurowissenschaftler selbst ausdrücklich auch so formuliert, durchaus mit einem im philosophischen Sinne differenzierten Problembewußtsein in dieser Frage, und man kann daher diese skizzierte Reflexionsfigur nicht als originell oder im wissenschaftstheoretischen Sinne als ausschlaggebend bezeichnen43. Jedoch haben die Neurowissenschaftler meines Erachtens die 43  Vgl. hierzu etwa Wolf Singer: „Freiheit und neuronaler Determinismus“, in: Manfred Lahnstein / Joachim Sartorius (Hrsg.): Berliner Lektionen 2000–2007. Eine politisch-kulturelle Chronik der Gegenwart, Berlin 2007, 105: „Die Aufklärung der neuronalen Grundlagen höherer kognitiver Leistungen ist mit epistemischen Problemen behaftet. Eines folgt aus der Zirkularität des Unterfangens, da Explanandum und Explanans eins sind. Das Erklärende, unser Gehirn, setzt seine eigenen kogni-



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gravierenden epistemologischen Konsequenzen dieser Überlegung nicht, zumindest nicht scharf genug, durchdacht, weswegen dieselben nun eingehender untersucht werden sollen. Die folgenden Überlegungen verstehen sich als zunächst formale Argumente. Man kann in diesem Zusammenhang behaupten – und die darüber reflektierenden Neurowissenschaftler tun dies auch –, daß ihre Theorien als Produkt des determinierten Bewußtseins eines Wissenschaftlers inhaltlich selbst sehr wohl determiniert seien, daß dies aber kein Problem darstelle, sondern eben die logischen und notwendigen Folgen dieses neuronalen Sachverhaltes seien. Es läßt sich jedoch zeigen, daß zwei grundlegende Momente, auf die jede wissenschaftliche Theorie Anspruch erhebt – nämlich Verstehbarkeit sowie Geltung bzw. Wahrheit –, nicht mit der Idee bzw. der voraus­ gesetzten Gültigkeit des Determinismus in Einklang zu bringen sind. Wir verstehen einen Satz bzw. ein Urteil zunächst dann, wenn wir die sprachliche Zuweisung von Wörtern zu bestimmten Objekten verstehen, was in der Regel trivial ist. Interessanter ist die Frage, wie das Verständnis des entscheidenden Elements eines Urteils bewerkstelligt wird, nämlich der logischen Kopula „ist“, wie etwa in dem Urteil „Der Tisch ist hart“. Die Kopula „ist“ stellt keinen empirischen, sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand (wie dies für den Tisch oder die haptische Qualitas der Härte zutrifft) dar, sondern vielmehr die Aufforderung, „Tisch“ und „hart“ aufeinander zu beziehen und (gedanklich) die Einheit beider herzustellen: Als Urteilsspezifikum stiftet die Kopula „ist“ als Aufforderung zur geistigen Identitätsbildung zweier differenter Elemente – „Tisch“ und „hart“ – die eigentliche Bedeutung, den Sinngehalt der Aussage, und ermöglicht damit die Verstehbarkeit. Die Semantik dieses Satzes beruht also zum einen auf einer Bedeutungszuweisung seiner realen Bestandteile („Tisch“ und „hart“), die von uns als solche nachvollzogen werden muß, und zum zweiten auf der geistigen Synthesis derselben („ist“), die sich als Appell an uns richtet, indem wir dadurch dazu aufgerufen werden, die gemeinte Verknüpfung selbsttätig nachzuvollziehen und herzustellen. Was verstehen wir demnach, wenn wir das Urteil „Der Tisch ist hart“ verstehen? Primär also Intentionalität. Intentionalität kann ich aber nur als solche verstehen, wenn ich sie in bezug auf mich (nicht in ihrem Sosein bzw. Dasein) als unableitbar und tiven Werkzeuge ein, um sich selbst zu begreifen, und wir wissen nicht, ob dieser Versuch gelingen kann. Ein weiteres Problem rührt daher, daß sich das Gehirn evolutionären Prozessen verdankt, die nicht notwendigerweise zur Ausbildung eines kognitiven Systems führen, das unfehlbar ist. Wir können nur erkennen, was wir beobachten, denkend ordnen und uns vorstellen können. Die Grenzen des Wißbaren werden demnach durch die Beschränkungen der kognitiven Fähigkeiten unseres Gehirns gezogen. Zu fragen ist also, wie es mit der Verläßlichkeit und den Begrenzungen dieses kognitiven Apparates bestellt ist.“

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kontingent verstehe, denn verstünde ich sie in bezug auf mich als notwendig, könnte ich sie nur als Zwang oder Mechanismus und damit nicht als Appell zum eigenen, selbständigen Nachvollzug verstehen. Und somit würde ich nicht verstehen, sondern wäre schlicht kognitiv bestimmt, so wie ich es bin, wenn ich eine Farbe sehe, einen Ton höre usw., wobei ich eben nichts verstehe, sondern mich schlicht passiv und mit Notwendigkeit bestimmt vorfinde, wozu ich auch keine Alternative habe. Zum Verstehen hingegen habe ich sehr wohl eine Alternative: ich kann ein Urteil oder einen Satz auch nicht verstehen, was zeigt, daß Verstehen kein passives, kognitives Bestimmt-Sein und somit auch nicht Notwendigkeit oder Zwang ist, sondern als die Erfüllung einer Aufgabe von meiner Seite zu deuten ist. Wenn ich ein Urteil verstehe, so verstehe ich dabei Intentionalität, Unableitbarkeit und Appell zum Nachvollzug, weshalb Verstehen und Semantik als wesentlich praktisch und frei (als deren Ermöglichungsbedingung) interpretiert werden müssen. Dies bedeutet aber Kontingenz und Indeterminiertheit, weshalb man sagen kann: Theorie – hier in der Form von Verstehbarkeit – ist bedingt und ermöglicht durch Kontingenz, Praxis und Indeterminiertheit (Freiheit).44 Kommen wir zum zweiten Problem, dem der Geltung. Ein Urteil gilt, sehr vereinfacht gesagt, wenn die Aussage mit dem Beurteilten übereinstimmt, was dann der Fall ist, wenn die als gültig behauptete Relation von Urteil und Beurteiltem als evident erscheint. Dieses Evidenzgefühl des Bewußtseins finde ich als mir zunächst unableitbare Faktizität vor – ein Befund, der aufgrund seiner unmittelbaren Unverständlichkeit danach verlangt (zumindest im Feld der Philosophie), verständnismäßig eingeholt zu werden. Die Gültigkeit eines Urteils, wurde gesagt, wird dann realisiert, wenn die Relation von Urteil und Beurteiltem als evident erscheint. Evidenz wird aber erst dann valide, wenn das, was als evident erscheint, auch als evident anerkannt wird, und zwar in doppelter Hinsicht. Nämlich zum einen dann, wenn ich aus Achtung vor dem Ideal von Wahrheit und Geltung dieselbe prinzipiell und unabhängig von einem bestimmten Fall konkret möglicher Evidenz als positiv und sein-sollend bewerte. Die Ermöglichungsbedingung eines Evidenzgefühls liegt damit an der apriorischen Anerkennung von a priori geforderter und als positiv bewerteter Geltung: Ein Evidenzgefühl kann mir immer nur dann im Bewußtsein erscheinen, wenn ich Geltung überhaupt als sein-sollende immer schon anerkannt habe, was als auf 44  Vgl. hierzu auch sehr aufschlußreich Fichte: „Mein System ist vom Anfange bis zu Ende nur eine Analyse des Begriffs der Freiheit […]; denn das Bewußtseyn der persönlichen Freiheit kann man nur in sich selbst finden und die Realität desselben nur glauben. Zu peinigen ist er, wie jeder Dogmatiker; denn ohne Voraussetzung der Freiheit ist das Bewußtseyn sogar nicht begreiflich“ (Fichte: „Brief an Karl Leonhard Reinhold vom 8. Januar 1800“, in GA III / 4, 182 f.).



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praktisch-apriorischer Ebene – prädeliberativ und präreflexiv stattfindend – postuliert werden muß. Daß ich apriorisch Geltung schlechthin als Ideal gesetzt habe, kann ich nicht als begründet oder notwendig verstehen, sondern so betrachtet als unableitbar und bloß vorfindbar. Der gesamte Bereich des Apriorischen stellt, das sei an dieser Stelle erwähnt, selbstverständlich keine Tatsache des Bewußtseins dar, sondern ist eine qua Reflexion und Abstraktion erschlossene und als Ermöglichungsbedingung von X notwendig postulierte philosophische Konstruktion. Dieses a priori auf dem Weg von prinzipieller Anerkennung genetisierte Evidenzgefühl, in dem ich mich auf empirischer Ebene in entsprechenden Fällen faktisch vorfinde, muß ich aber zum anderen auf dieser empirisch-faktischen Ebene – deliberativ und reflexiv – ebenfalls anerkennen, um überhaupt erst ein Urteil mit Geltungsanspruch bilden zu können. Es ist in dieser Hinsicht grundsätzlich jederzeit möglich, das eigene Evidenzgefühl zu leugnen und ihm die Anerkennung zu verweigern. Anerkennung als Bedingung von Geltung überhaupt muß also in zweifacher Hinsicht, a priori und empirisch, vollzogen werden, soll Geltung beansprucht werden können. Beide Male handelt es sich dabei um einen wertsetzenden Vollzug der Vernunft. Das Urteil „Der Tisch ist hart“ gilt also dann, wenn – auf der Grundlage von dem Verstehen dieses Urteils – die behauptete Übereinstimmung von Aussage und Beurteiltem als wahr und evident erscheint, was folglich von mir a priori entsprechend beurteilt worden sein muß, sofern Wahrheit von mir Anerkennung und positive Bewertung gefunden hat, sowohl apriorisch als auch empirisch: Geltung ist Verstehen von Relation und positive Bewertung von Wahrheit und damit in ihrer Möglichkeit bedingt durch entsprechende Entscheidung und Wertsetzung, was in apriorisch erschlossener Hinsicht als notwendig postuliert, auf empirischer Ebene hingegen, weil faktisch gefunden, als kontingent verstanden werden muß. Im Aspekt von Anerkennung und Wertsetzung bewege ich mich in einer Sphäre, die ich nicht anders als praktisch verstehen kann, apriorisch als reflexiv erschlossene, konstruierte und postulierte notwendige Ermöglichungsbedingung, empirisch, weil gefunden und meiner Willkür unterworfen, als kontingent. Reflektiere ich auf den Charakter der Ermög­ lichungsbedingung des Apriorischen, erscheint es mir in dieser Hinsicht als notwendig; reflektiere ich hingegen auf seine unterstellte eigene qualitas und seinen wertsetzenden Charakter, so erscheint mir auch das Apriorische als kontingent. So betrachtet ist der apriorisch wie empirisch für Evidenz konstitutive Aspekt von Anerkennung in jeder Beziehung kontingent. Kontingenz bedeutet hier wie auch für das Problem von Verstehbarkeit grundsätzliche Unableitbarkeit und Indeterminiertheit. Theorie – hier in der Form von Geltung und Wahrheit – ist letztlich bedingt und ermöglicht durch Kontingenz, Praxis und Indeterminiertheit (Freiheit).

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Wenn formal gesehen das Urteil der Neurowissenschaften, daß Bewußtsein und Intelligenz determiniert seien, zu dem Schluß führt, daß diese Theorie selbst immer nur determiniert sein kann, so bedeutet dies inhaltlich: Sofern diese Theorie Geltung beansprucht, gerät sie ungewollt und unvermittelt in den Selbstwiderspruch, daß sie (in Forschung und Theoriebildung gleichermaßen) selbst praktisch notwendigerweise immer etwas investiert – nämlich generelle Verstehbarkeit und Gültigkeit und damit Kontingenz und Indeterminiertheit –, was sie in der Position des Determinismus gerade theoretisch kategorisch leugnet – nämlich generelle Verstehbarkeit und Gültigkeit, und damit Kontingenz und Indeterminiertheit. Schärfer gesagt: Jede Theorie, die inhaltlich einen Determinismus vertritt, schlägt in dem Augenblick, in dem sie Anspruch auf Verstehbarkeit und Geltung erhebt bzw. denselben als eingelöst behauptet, in einen paradoxen Selbstwiderspruch um: Sollte eine solche Theorie stimmen, kann sie weder verstanden werden noch wahr sein. Dies gilt insofern uneingeschränkt, als die entsprechende Theorie uneingeschränkte Geltung beansprucht; limitiert die Theorie den Umfang ihrer Gültigkeit auf eine bestimmte Sphäre, so muß sie nicht notwendigerweise in den skizzierten Selbstwiderspruch verfallen, sondern kann für einen bestimmten Bereich gültig sein. Diese gewichtigen epistemologischen Konsequenzen scheinen den meisten Vertretern eines deterministischen Welt- und / oder Menschenbildes weitestgehend nicht bewußt zu sein. Der formallogische Zirkel, in dem die Theorie des Determinismus damit inhaltlich und sie selbst betreffend auf sie zurückfällt, führt unweigerlich zu den skizzierten wissenschaftstheoretischen Problemen. Ein weiteres Argument an dieser Stelle wendet sich gegen den methodischen Gebrauch des Begriffes Determinismus. Wie die Neurowissenschaftler selbst ausführlich darlegen45, gelangen sie zu ihren Ergebnissen aufgrund experimenteller Forschung, sprich Empirie46. Nun ist spätestens seit Hume 45  Vgl. hierzu die bereits angeführten und einschlägigen Werke von Benjamin Libet, Wolf Singer, Gerhard Roth, Michael Pauen u. a. 46  So redet Wolf Singer beispielsweise gerne von der „Dritte-Person-Perspektive“, womit er den wissenschaftlichen Beobachter im Gegensatz zur unmittelbar erlebnisbestimmten „Erste-Person-Perspektive“ des Subjekts charakterisiert. Vgl. hierzu etwa Wolf Singer: „Wer deutet die Welt? Ein Streitgespräch zwischen dem Philosophen Lutz Wingert und dem Hirnforscher Wolf Singer über den freien Willen, das moderne Menschenbild und das gestörte Verhältnis zwischen Geistes- und Naturwissenschaften“, in: Wolf Singer: Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, Frankfurt a. M. 2003, 22: „Wir sind gespalten zwischen dem, was wir aus der Erste-Person-Perspektive über uns wahrnehmen, und dem, was uns wissenschaftliche Analyse aus der Dritte-Person-Perspektive über uns lehrt. Wir müssen in beiden Welten gleichzeitig existieren. Trotzdem vermute ich, daß wir irgendwann eine Metasprache finden werden.“



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klar, daß wir qua Empirie niemals zu gültigen wissenschaftlichen Gesetzen oder sicherem Wissen über die Welt gelangen können, höchstens zu Wahrscheinlichkeitsaussagen, die sich aufgrund von feststellbarer Wiederholung und damit Gewohnheit einstellen47. Kant wird im Anschluß an diese Überlegungen zeigen, daß sämtliche Begriffe, mit denen wir unsere empirische Erkenntnis ordnen, ebenfalls nicht a posteriori der Empirie entlehnt sein können, sondern daß dieselben apriorisch auf unsere Anschauungen appliziert sein müssen48. Nun ist das Urteil, daß das menschliche Gehirn und infolgedessen alle geistigen Akte des Menschen determiniert seien, zweifellos ein empirisch gewonnenes, wobei der Terminus Determination als ein kategorialer Begriff im Sinne der Kantischen Transzendentalphilosophie fungiert, da er die totale und ausnahmslose Gültigkeit von Kausalität meint. Denn Determination kann via Beobachtung niemals der Natur abgeschaut werden, sondern muß zwingend als ein Apriori verstanden werden, handelt es sich dabei letztlich ja, wie erwähnt, um eine bestimmte Variante der Kausalität. In diesem Fall kann man der klassischen Grundlegung der transzendentalen Denkmethode Kants in meinen Augen weitestgehend folgen49. Wenn aber die Kantischen Ausführungen in diesem Punkt zutreffend sind, dann kann der kategoriale Begriff der „Determination“ niemals als eine objektive, für sich bestehende Naturwirklichkeit verstanden, sondern muß bestimmt werden als eine apriorische und ordnende Kategorienapplikation der Vernunft auf das für sich gesehen amorphe Material der sinnlichen Anschauung. Erst die Investition dieser apriorischen Kategorie der „Determination“ läßt mir die sinnliche Anschauung des durch bestimmte Experimente eruierten Stoffes bestimmter sinnlicher Daten zu einer verstandenen, d. h. zur Empirie werden. Wie das im einzelnen zu beurteilen ist, soll an dieser Stelle offenbleiben; von Wichtigkeit scheint mir hierbei in erster Linie die Feststellung zu sein, daß Determination keine objektive Größe der an sich bestehenden Natur ist, sondern eine apriorische Vernunftkategorie, die auf Seiten des Wahrnehmenden zu veranschlagen ist, und erst im Begriff der Empirie beide Sphären miteinander synthetisiert werden. Diese Konstellation ändert zwar überhaupt nichts am Modus wissenschaftlicher, v. a. natürlich naturwissenschaftlicher Forschung, vielmehr ermöglicht sie dieselbe überhaupt erst; aber sie ändert hierzu etwa Hume: A treatise of human nature, Aalen 1964 (Reprint), 240 f. der Kritik der reinen Vernunft (KGS III) wird Kant diesen Gedanken v. a. in der „Transzendentalen Logik“, zum Teil auch in der „Transzendentalen Ästhetik“ und in der „Einleitung“ entfalten. 49  Kant entwickelt diese revolutionären und grundlegenden Überlegungen die Transzendentalphilosophie betreffend in den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (KGS IV) und hauptsächlich in der Kritik der reinen Vernunft (KGS III / IV). 47  Vgl. 48  In

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etwas an der letztlich tatsächlich philosophischen Position des Realismus, den diese Überlegungen als unhaltbar erscheinen lassen. Da aber die Position des Realismus sicherlich die unhinterfragte, grundlegende und konstitutive der gegenwärtigen Naturwissenschaft und des gegenwärtigen Naturwissenschaftlers darstellt, können die soeben angestellten Reflexionen zumindest zu einem dienen: nämlich dazu, dieses fehlerhafte realistische Selbstverständnis von Naturwissenschaft und Naturwissenschaftler durch kritisches Hinterfragen und den Aufweis bestimmter als problematisch zu beurteilender (natur-)wissenschaftlicher Aussagen als in verschiedenen Aspekten revisionsbedürftig offenzulegen und vielleicht den Impuls dazu zu liefern, eine differenziertere, wissenschaftstheoretisch und philosophisch besser haltbare Position in dieser Angelegenheit zu entwickeln. Zu diesem Zweck scheint mir gerade die Transzendentalphilosophie von Kant und Fichte ein in ihrem spezifischen systematischen Denkansatz probates Mittel bereitzustellen. Wenden wir uns an dieser Stelle wieder den Neurowissenschaften im speziellen zu. Auch wenn die Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften epistemologisch insofern problematisch sind, als sie zumeist uneingeschränkten Geltungsanspruch erheben50 und damit in jene oben skizzierte selbstwidersprüchliche Urteilsform verfallen und sich damit zumindest formallogisch selbst widersprechen, sind sie deswegen nicht automatisch bloßer wissenschaftlicher Humbug. So problematisch die Äußerungen der Neurowissenschaften als Urteilsform aus wissenschaftstheoretischer und philosophischer Hinsicht auch sein mögen, so bleiben ihre Resultate in Form der konstitutiven Bedeutung der neurophysiologischen Dimension des Menschen gerade bezüglich seines Bewußtseins doch ernst zu nehmen. Entscheidend wäre an dieser Stelle allerdings, daß die Natur- und in diesem Fall die Neurowissenschaften – neben ihrer erwähnten Revisionsbedürftigkeit hinsichtlich ihres realistischen Standpunktes – sich Gedanken über den Geltungsbereich ihrer Forschungsergebnisse macht. Die oben genannten spezifischen formallogischen Selbstwidersprüchlichkeiten wären in weit geringerem Maße virulent, wenn sich die Neurowissenschaften weniger als monistische und reduktionistische Universaltheorie verstünden und den Gültigkeitsbereich ihrer Aussagen zumindest auf die methodische Bedingtheit ihrer Versuchsanordnungen einschränkten. Der verallgemeinernde Schritt über die eigene methodische Sphäre hinaus, der von den Vertretern der Neurowissenschaften zumeist unternommen wird, ist wissenschaftlich illegitim und nicht haltbar. Die wissenschaftlichen Leistungen der Neurowissenschaften können und sollen hier in keiner Weise wegdiskutiert werden, denn die diversen Versu50  So beispielsweise Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 1997, 331.



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che zeigen eindrücklich, daß sowohl physische wie auch mentale und psychische Akte bzw. Zustände des Menschen bestimmt werden durch diverse neuronale Abläufe im Gehirn, zumindest sich auf dieser Ebene abbilden, und daß somit eine ausgesprochen enge Beziehung zwischen Gehirn und Bewußtsein besteht. Durch chemische und / oder elektrische Manipulationen am Gehirn kann man einem Menschen sehr präzise vorhersagbare, unterschiedlichste Wahrnehmungen induzieren bzw. motorische Akte provozieren, die nichts mit der eigentlichen Realität zu tun haben bzw. von der Versuchsperson nicht als solche gewollt sind. Die Forschungsergebnisse bestechen sicherlich durch einen sehr hohen Grad an Plausibilität. Darüber hinaus gilt es zu erwähnen, daß die Neurowissenschaften als Teilgebiet der Medizin etliche als sehr positiv zu bewertende Entdeckungen und Erfindungen im Bereich des menschlichen Gehirns gemacht haben. Zu denken wäre hierbei etwa an Psychopharmaka und Neuroleptika, überhaupt verbesserte Therapieformen bei psychotischen Erkrankungen, erhöhte Heilungschancen bei Hirnverletzungen, Epilepsie, Parkinson, Alzheimer, Demenz und Hirntumoren. Ebenso muß die im begrüßenswerten Sinne folgenschwere Einsicht der Neurowissenschaften erwähnt werde, daß bestimmte Gehirnkrankheiten eben Krankheiten und keine Form dämonischer Besessenheit oder dergleichen sind, was zu einem, verglichen mit früheren Zeiten, ungleich humaneren, ja teilweise überhaupt erst humanen Umgang mit solchen Personen geführt hat51. Schließlich wäre auch darauf hinzuweisen, daß Erkenntnisse bezüglich des Wachstums und der Ausbildung des menschlichen Gehirns dazu führen, daß diese Prozesse besser durch effektive Pädagogik und Didaktik beeinflußt werden können im Sinne einer Optimierung der Synapsenbildung usw.52. Die Meriten der Neurowissenschaften stehen damit in der Tat außer Frage. 51  Vgl. hier etwa Wolf Singer: „Das Ende des freien Willens?“, in: Wolf Singer: Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, Frankfurt a. M. 2003, 33: „[…] Was sollte uns da nachsichtiger machen? […] Die gleiche Überlegung, die uns gegenüber Epileptikern und Schizophrenen nachsichtig gemacht hat. Als wir jene noch als vom Teufel besessen angesehen haben, haben wir sie ausgegrenzt, verurteilt und sind nicht sehr zimperlich mit ihnen umgegangen. Als wir dann begriffen haben, daß sie krank sind, haben wir zwar immer noch versucht, sie vor sich selbst zu schützen – oder uns vor ihnen, wenn sie für uns gefährlich wurden. Aber wir gehen wegen der Einsicht in die Bedingtheit ihres Verhaltens nun wesentlich humaner mit ihnen um. Wir haben sie als Opfer verstanden, die für ihre Handlungen nichts können.“ Allerdings muß man auch darauf aufmerksam machen, daß in bestimmten Kulturkreisen Personen, die man als psychotisch einstufen würde, auch großes Ansehen genossen haben und zum Teil auch heute noch genießen. Zu denken wäre in diesem Zusammenhang wohl besonders an das Phänomen des Schamanismus, dessen ausübende Priester generell als Heilige verehrt wurden und werden. 52  Vgl. hierzu etwa Wolf Singer: „Wer deutet die Welt? Ein Streitgespräch zwischen dem Philosophen Lutz Wingert und dem Hirnforscher Wolf Singer über den

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Nur darf bei allen unleugbaren Leistungen nicht übersehen werden, daß aus oben entwickelten Gründen die Neurowissenschaften ihre einsichtigen, zumindest formallogischen Grenzen haben. Die entscheidende Frage an dieser Stelle ist also, wie bereits erwähnt, diejenige nach dem Gültigkeitsbereich dieser Theorie. Denn es wurde deutlich gemacht: Insofern die Neurowissenschaften ein Erklärungsmodell mit Totalitätsanspruch bezüglich des Menschen sein wollen, geraten sie in eklatante Selbstwidersprüche, mit denen diese Wissenschaften per consequens ihre Geltung überhaupt verlieren. Der Geltungsbereich der Neurowissenschaften muß daher limitiert werden, um widerspruchsfrei Geltungsansprüche erheben zu können. In welchen konkreten Grenzen die Neurowissenschaften Geltung beanspruchen können, kann und soll hier nicht diskutiert werden. Jedoch wäre dies eine lohnende und verdienstvolle Aufgabe für weitere diesbezügliche Untersuchun­ gen. Denken könnte man hierbei vielleicht hauptsächlich an die Ausarbeitung einer wirklich tragfähigen philosophischen Anthropologie, die – trotz zahlreicher diesbezüglicher Bemühungen53 – bis auf den heutigen Tag als ein nicht eingelöstes Desiderat von besonderer Dringlich- und Wichtigkeit zu bezeichnen ist54. Ich werde gleich darauf zurückkommen. freien Willen, das moderne Menschenbild und das gestörte Verhältnis zwischen Geistes- und Naturwissenschaften“, in: Wolf Singer: Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, Frankfurt a. M. 2003, 23: „[…] Dennoch greift der Glaube an die Allmacht der Gene um sich. Manche Pädagogen, die es mit schwierigen Fällen zu tun haben, sagen einfach: Das sind die Gene. […] Dieser Fatalismus ist fatal und verkennt, daß die Ausbildung von Hirnfunktionen ganz wesentlich von Erfahrung und Lernen mitbestimmt wird. Lehrer und Erzieher verantworten nicht nur die Weitergabe kultureller Inhalte, sondern prägen Verhalten für ein Leben. Ihre Bedeutung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werde.“ 53  Vgl. hierzu die vielfältigen Bemühungen von etwa Max Scheler, Michael Landmann, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen. Vgl. hierzu unten ausführlicher. 54  Trotz jahrhunderte- oder gar jahrtausendelanger Bestrebungen von Philosophen, Theologen, Medizinern, Psychologen, Anthropologen, Ethnologen, Biologen und in jüngster Zeit Neurologen usw. ist die Wissenschaft in der Frage nach dem Menschen bis heute nicht entscheidend weitergekommen. Entweder bewegt sich das Denken dabei in letztlich unauflösbaren Antinomien, wie dies beispielsweise in diesem Beitrag unter den Begriffen von Freiheit versus Determination darzustellen versucht wurde, einem Konflikt, dem letztlich immer noch der Descartesche Dualismus von res cogitans und res extensa – in welcher Spielart und in welcher Präferierung der Seiten auch immer – zugrunde liegt, oder es setzt eine unbewiesene Einheit beider voraus: denken könnte man hierbei etwa an Schellings Identitätsphilosophie und die in deren Gefolge entstandenen Reflexionen. Dogmatische Menschenbilder wie etwa orthodox- oder fundamental-religiöse Positionen scheiden in wissenschaftlichem Kontext ohnehin aus. Allerdings ist die Bedeutung der Frage nach dem Menschen kaum zu überschätzen. Denkt man in diesem Zusammenhang an Kants berühmtes Diktum aus seiner Logik in dieser Angelegenheit, so wäre mit der Ausarbeitung einer Anthropologie nicht weniger erreicht als ein Antwortversuch auf die Frage: Was ist Philosophie? In diesem Ansatz Kants scheint in mehrerlei Hinsicht



Neurowissenschaft und Transzendentalphilosophie471 „Ich glaube, daß die Kulturwissenschaften viele der rezenten Einblicke [der Naturwissenschaften] nicht wahrgenommen oder zumindest nicht kommentiert haben. Es hat noch nie innerhalb so kurzer Zeit so viele Veränderungen in unserem Wissen über die Welt gegeben. Doch von den Geistes- und Kulturwissenschaften kommt dazu kaum ein Kommentar. Allenfalls Bedenken, kein Versuch der Neuordnung. Und so machen sich die Naturwissenschaften auf, das unbesetzte Terrain selbst zu bearbeiten.“55

Diese Äußerung Wolf Singers darf man sicherlich ernst nehmen. Das Gespräch zwischen Geistes- und Naturwissenschaften ist tatsächlich fast nicht oder nur rudimentär vorhanden, jedenfalls findet zumeist kein produktiver Austausch zwischen beiden Wissenschaftsgattungen statt56. Die Gründe dafür sind sicherlich vielfältig und teilweise auch nachvollziehbar57. Nichtsviel Ernstzunehmendes zu liegen, und es wäre von daher wissenschaftlich-philosophisch ausgesprochen wichtig, sich dieser Frage erneut ausführlich zuzuwenden. 55  Wolf Singer: „Wer deutet die Welt? Ein Streitgespräch zwischen dem Philosophen Lutz Wingert und dem Hirnforscher Wolf Singer über den freien Willen, das moderne Menschenbild und das gestörte Verhältnis zwischen Geistes- und Naturwissenschaften“, in: Wolf Singer: Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, Frankfurt a. M. 2003, 23. 56  Als eine der wenigen wissenschaftlich tragfähigen Ausnahmen in dieser Frage sei exemplarisch genannt Jürgen Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart 2005. Vgl. hierzu auch Albert Mues: Die Einheit unserer Sinnenwelt, München 1979; „Das Problem der Kausalität. Kritische Anmerkungen zu W. Stegmüllers und W. Spohns Konzeption der Kausalität“, in: Philosophisches Jahrbuch 96.1 (1989) 132–150; „Naturkausalität – keine Kausalität der Natur. Das Wesen der Energie. Die naturphilosophische Begründung des Energie­ erhaltungssatzes“, in: Philosophisches Jahrbuch 97.2 (1990) 322–327; „Der Grund der Materie und des Indeterminismus in der physikalischen Natur. Die Lösung eines quantenphysikalischen Rätsels“, in: Fichte-Studien 6 (1994) 277–301. 57  Zu nennen wäre in dieser Hinsicht zunächst die grundlegend differierende Methode von Geistes- und Naturwissenschaft: So gut wie ausschließlich Experiment und Beobachtung, sprich Empirie auf der einen, ein teilweise unübersehbares Spektrum verschiedenster methodischer Ansätze, manchmal auch verschiedene methodische Kombinationen und eklektische Formen auf der anderen Seite. Des weiteren eine relativ hohe innere Homogenität wissenschaftlicher Grundannahmen und -anschauungen, hohe intersubjektive Vermittelbarkeit und ein hohes Quantum an verbindlich vermittelbaren und (über-)prüfbaren Lehrinhalten bei den Naturwissenschaften, dem eine fast durchgängige innere Heterogenität alleine im Bereich der Philosophie mit ihren diversen Schulen und Ansätzen (Idealismus versus Realismus, Kritizismus versus Dogmatismus, Transzendentalphilosophie versus Empirismus, Metaphysik und Sprachphilosophie, Sprachphilosophie versus Metaphysik, Existenzphilosophie versus Universitätsphilosophie usw.), geschweige denn der Geisteswissenschaften überhaupt gegenübersteht; abgesehen von den historischen Aspekten sind hier auch so gut wie keinerlei konsensfähige Lehrinhalte festzustellen, und über die Grundlagen wird in diesem Bereich seit den antiken Anfängen bis auf den heutigen Tage gestritten, und es ist in keiner Weise absehbar, daß sich dies irgendwann einmal ändern könnte. Dann ist auch zu erwähnen, daß die Geisteswissenschaften

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destotrotz können die Geisteswissenschaften nicht einfach die Forschungsergebnisse der Naturwissenschaften – hier der Neurowissenschaften – ignorieren. Andererseits können auch die Naturwissenschaften nicht umhin, sich die Kritik der Geisteswissenschaften gefallen zu lassen, zumal was methodologische Überlegungen anbelangt58. Gewiß gibt es Grenzen der Kompatibilität beider Wissenschaftsbereiche59, diese gälte es aber im wissenschaftlichen Eigeninteresse genau zu bestimmen und die sich in diesem Gefolge eröffnenden Chancen und Möglichkeiten zum gegenseitigen Austausch auch zu nutzen. Dies müßte aber von Seiten der Geisteswissenschaften in erster Linie systematisch geschehen, da die Naturwissenschaften mehr oder weniger ausschließlich systematisch arbeiten und ihre Ergebnisse auch ein entsprechendes Gepräge aufweisen, womit gerade die Philosophie als Gesprächspartner in diesem Dialog prädestiniert wäre60. Dies würde jedoch ein durchaus tiefergehendes Neuverständnis der aktuellen Philosophie der abendländischen Welt bedeuten, schlagwortartig gesagt: „Weg von der Historiographie, hin zur Systematik“. Daß dies mit diversen spezifischen Schwierigkeiten verbunden ist, muß nicht eigens betont ein ganz anderes Wirklichkeitsverständnis nicht nur voraussetzen, sondern durch ihre Arbeit auch hervorbringen, als die Naturwissenschaften. Andere Aspekte vervollständigen diesen Befund. Auf unmittelbarer Ebene scheint von daher eine effektive und funktionierende Kooperation beider Wissenschaftsgattungen nicht problemlos möglich zu sein. Allerdings wäre es denkbar, daß sich dies auf einer Metaebene, zumindest partiell, ändern könnte. Aber eine solche ist noch nicht gefunden, und es wäre ein interessantes Unterfangen, sich diesem Problem zu widmen. 58  Vgl. hierzu etwa Jürgen Mittelstraß’ Wissenschaftstheorie bzw. -kritik. Diese Philosophie ist eines der wenigen Beispiele dafür, daß von Seiten der Geisteswissenschaften, hier der Philosophie, eine fruchtbare Begegnung von Geistes- und Naturwissenschaften stattfindet. Vgl. hierzu auch Michael Hampe: Gesetz und Distanz, Heidelberg 1996; Alfred North Whitehead, München 1999; Notwendigkeit, Experiment, Zufall. Kasseler Philosophische Schriften, Bd. 4., Kassel 1999; „Ohne Fundament. Zum Verhältnis wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Symbolsysteme“, in: Scholion Bulletin 2001, 76–79; Erkenntnis und Praxis, Frankfurt a. M. 2006; Die Macht des Zufalls, Berlin 2006. 59  Die tatsächlichen Grenzen einer Zusammenarbeit von Geistes- und Naturwissenschaften liegen im besonderen, wie erwähnt, auf methodisch-methodologischer Ebene. 60  Vgl. hierzu etwa Wolf Singer: „Wer deutet die Welt? Ein Streitgespräch zwischen dem Philosophen Lutz Wingert und dem Hirnforscher Wolf Singer über den freien Willen, das moderne Menschenbild und das gestörte Verhältnis zwischen Geistes- und Naturwissenschaften“, in: Wolf Singer: Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, Frankfurt a. M. 2003, 10 f.: „Wir Naturwissenschaftler sind durch die Eigendynamik unserer Forschung dazu gebracht worden, uns mit Fragen zu befassen, die traditionell von den Geisteswissenschaften behandelt wurden. Hirnforscher können Fragen nach der Natur von Erkenntnis, Empfindung, Bewußtsein oder dem freien Willen nicht mehr ausweichen. Die Philosophie sollte dabei die Rolle einer Metawissenschaft einnehmen.“



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werden61. Will aber die Philosophie sowohl in der öffentlichen Diskussion als auch im internen wissenschaftlichen Dialog mehr Gehör finden und ernst genommen werden – was sie als Wissenschaft strenggenommen nicht nicht wollen kann –, so wird sie sich dieser Herausforderung über kurz oder lang wohl auch stellen müssen. So versteht sich gegenwärtiger Aufsatz als ein Beitrag zu diesem Aufgabenbereich. V. Das Thema der gegenwärtigen Ausführungen war es, das Verhältnis von Neurowissenschaft als Vertreterin der Naturwissenschaften und Philosophie, speziell der Transzendentalphilosophie, zu untersuchen. Leitende Idee war hierbei die Thematik des Determinismusproblems. Die Ausführungsversuche waren bestrebt zu zeigen, daß die Investition eines vollumfänglichen Determinismus – zumindest bezüglich des Menschen und seines Gehirns – zu spezifischen epistemologischen Schwierigkeiten führt und somit als wissenschaftliche Theorie zu einem bestimmten Welt- und Menschenbild mit totalem und universellem Gültigkeitsanspruch aus angeführten Gründen zurückzuweisen ist. Nun wäre es aber ganz gewiß vorschnell und auch falsch, wollte man auf der Grundlage der oben angestrengten transzendentalphilosophischen Überlegungen die These aufstellen, daß, wenn der Determinismus in dieser Hinsicht als unzureichend oder gar widerlegt angesehen werden könne, Freiheit ein menschliches Faktum sei, ein Datum unserer Existenz, das evidentermaßen unbestreitbar sei, philosophisch bewiesen werden könne und die Basis aller Interpersonalität darstelle. So einfach verhält sich die Sache sicherlich nicht. Jede Position, die einen allein gültigen Determinis61  V. a. natürlich der universitäre Bereich der Philosophie, der als der gegenwärtig wichtigste, zumindest im Abendland, bezeichnet werden muß, ist damit nur schwer in Übereinstimmung zu bringen. Systematisches Denken in der Philosophie mündet recht organisch im Problem der Letztbegründung, und wie heikel dieses Thema ist, hat man seit mittlerweile zweieinhalb Jahrtausenden Philosophie deutlich erkennen können. Universitäre Philosophie muß – alleine, was den Lehrbetrieb anbelangt – abprüfbare Inhalte vermitteln, sonst ist das Studium der Philosophie mit Noten und Zeugnissen undurchführbar. Das Mittel, das dies in der Philosophie gewährleistet, ist die Philosophiegeschichte. Auch die Forschung begibt sich weit weniger auf unsicheres Terrain, wenn sie im Gebiet des Historischen bleibt: Nachvollziehbarkeit und intersubjektive Vermittelbarkeit sind in dieser Form des Arbeitens in großem Maße gewährleistet. Dies alles ist von Seiten der universitären Philosophie auch fraglos nachvollziehbar. Trotzdem wäre es zu überlegen, ob man nicht in gesteigerterem Maße, als dies aktuell üblich ist, sich den systematischen Problemen der Philosophie zuwenden sollte, denn Philosophie ist weniger verfügbares Wissen über die eigene Geschichte, als vielmehr lebendiges Denken am Problem.

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mus des menschlichen Willens und menschlichen Denkens proklamiert, führt freilich zu spezifischen, performativen Selbstwidersprüchen und läßt sich damit als ernstzunehmende und gültige Theorie in dieser Form nicht aufrechterhalten; daraus aber das Gegenteil, die unbeschränkte, gegebene Freiheit des menschlichen Willens und Daseins abzuleiten, ist ebenfalls philosophisch unhaltbar. Man denke in diesem Zusammenhang nur an Fichtes Diktum: „Nun kann der Mensch handeln, […] getrieben durch irgendein über ihn waltendes Gesetz, das ihm verborgen ist. – Es ist klar, daß in diesem Falle Er gar nicht handelt, nicht frei ist. Das Ich handelt? Nein; dies ist Täuschung: Gesetz I. h. – I. ist nur Glied in der Kette der Naturnothwendigkeit. Es kann wohl seyn, daß das Handeln der gewöhnlichen Menschen durchaus so ist. […] Es ist ganz klar, und unter der Voraussetzung der bewußtlosen Kräfte ganz richtig: der Mensch ist auch nur ein Glied in der Reihe der Naturkräfte, und so unwiderstehlich bestimmt: es giebt keine Freiheit. […] Es sollte nun doch in diesem Sinne Freiheit seyn: wie müßte diese seyn? Wir haben sie zu denken, zu construiren. Dies unser Postulat.“62 Es scheint mir gerade das Spezifikum der Transzendentalphilosophie in dieser Frage zu sein, daß sie das Problem von einer ganz anderen, wenn man so will charakteristisch transzendentalphilosophischen Seite angeht: Freiheit wird bei Kant und Fichte nicht vorgestellt als objektives, reales Naturding oder dergleichen, das das Fundament der verschiedenen Bereiche der Praxis, in erster Linie wohl von Recht und Moral, abgibt und worin sich diese Sphären verwirklichen könnten. Hegels berühmter, an Kant63 und 62  Fichte: Die Staatslehre (1813), in: GA II / 16, 25 f. Vgl. hierzu auch: „Warum ist das Ich nicht frei? Weil eine höhere Kraft gesetzt ist, zu der die Willensbestimmung des Ich sich verhält wie Bewirktes, wie Principiat“ (GA II / 16, 26). In diesen Zusammenhang gehört auch Fichtes Rede von der „Erziehung zur Freiheit“, wie er es im Diarium I in bezug auf den Staat und den Regenten mehrfach formuliert: „Also: – Erziehung zur Freiheit ist die erste Pflicht des Zwingherrn“ (Fichte: Diarium I, in: GA II / 15, 232). Vgl. hierzu auch im Diarium I: „Die Menschen müssen dem Rechte folgen: das wollt ihr alle. Sie müssen aber nur ihrer Einsicht folgen. Ihr Recht auf Erziehung ist drum ihr Urrecht. So bin ich drum wahrhaft Stifter einer neuen Zeit: der Zeit der Klarheit; bestimmt angebend den Zwek alles menschl. Handelns: mit Klarheit Klarheit wollend. –. Alles andere will mechanisiren: ich will befreien. Erziehung zur Klarheit ist nemlich Erziehung zur Freiheit; denn nur in der Klarheit ist u. wie ist sie von der der höhern verschieden. – 1.). Einsicht über die Freiheit, drum über Sittlichkeit, u. Recht, ist allgemein“ (GA II / 15, 268, 290 f. und 292–297). 63  Vgl. hierzu Kant: Kritik der praktischen Vernunft (= KpV), in: KGS V, 283: „Aber der Heiligkeit der Pflicht allein alles nachsetzen und sich bewußt werden, daß man es könne, weil unsere eigene Vernunft dieses als ihr Gebiet anerkennt und sagt, daß man es tun solle, das heißt sich gleichsam über die Sinnenwelt selbst gänzlich erheben und ist in demselben Bewußtsein des Gesetzes auch als Triebfeder eines die Sinnlichkeit beherrschenden Vermögens unzertrennlich wenn gleich nicht immer mit



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Fichte angelehnter Spruch „Du kannst, weil du sollst“64 kehrt die gewöhnliche Denkrichtung in dieser Hinsicht geradezu diametral um: Das Sittengesetz ist bestimmend als Faktum der Vernunft und als unbedingtes Sollen, das meine Freiheit als unbedingtes Postulat zur Realisierung und Ermöglichung des Sittengesetzes allererst konstituiert bzw. als Aufgabe setzt. Freiheit wird hier nicht als Voraussetzung, sondern als praktische Folge des Sollens gedacht, im Sinne einer vernünftigen und auch notwendigen Forderung, keineswegs jedoch als Datum bzw. Faktum. Diesen Befund gilt es, nach meinem Dafürhalten, in besonderer Form zu beachten, denn diese transzendentalphilosophische Konzeption von Freiheit scheint eine der wenigen, vielleicht sogar die einzige haltbare philosophische Theorie zu diesem Thema zu sein. Vor diesem gedanklichen Hintergrund liegt Freiheit nicht in der Naturanlage des Menschen, sondern ist – wie das Sittengesetz selbst – unbedingte Forderung der Vernunft: Der Mensch ist nicht frei, vielmehr soll er frei werden65 – in dieser Einsicht und Formulierung erlangt Freiheit den positionellen Status eines Postulats, einer Idee und eines Ideals66, das theoretisch weder bewiesen noch widerlegt werden kann, da es in der unmittelbaren Sphäre des Praktischen verortet werden muß und auch hier nur Gültigkeit beanspruchen kann. Dieses Postulat der Freiheit läßt sich nicht theoretisch-argumentativ belegen. Es läßt sich nur zeigen, daß es – anläßlich der Unbedingtheit des Faktums der Vernunft und seines Appellcharakters – notwendig veranschlagt werden muß, um die praktische Gültigkeit des Sittengesetzes zu gewährleisten. Die Transzendentalphilosophie hat mit ihren Reflexionen über dieses Problem wohl das Äußerste erreicht, was in dieser Frage gedacht werden kann. Wenn Freiheit als Postulat und Ideal bestimmt werden muß, dann gilt dies, aufgrund seiner engen Verknüpfung mit der gesamten Willens-, Geistes- und Existenzthematik, in gleicher Weise auch für den Menschen selbst: Auch der Mensch erscheint auf dieser gedanklichen Folie als Postulat und Ideal seiner selbst, was die Transzendentalphilosophie in gewisser Hinsicht dazu prädestiniert, eine noch ausstehende Anthropologie auszuarbeiten, denn diesem bedeutungsvollen, wichtigen philosophischen Anliegen wurde Effekt verbunden, der aber doch auch, durch die öftere Beschäftigung mit derselben, und die anfangs kleinern Versuche ihres Gebrauchs, Hoffnung zu seiner Bewirkung gibt, um in uns nach und nach das größte, aber reine moralische Interesse daran hervorzubringen.“ 64  G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Sein (1832), in: ders.: Gesammelte Werke, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. v. der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Bd. XXI, Hamburg 1968 ff., 121. 65  Vgl. Fichte: Die Staatslehre (1813), in: GA II / 16, 25 f. 66  Vgl. hierzu auch KpV, in: KGS V, 5 ff.

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wie gesagt in der Tat bis auf den heutigen Tag nicht in angemessener Weise entsprochen67. Führt man sich nämlich Kants berühmtes Wort aus seinen Vorlesungen zur Logik vor Augen, in dem er die zentralen Bereiche der 67  So grundlegend verschiedene Überlegungen vor allem aus der Antike für eine philosophische Anthropologie gewesen sind – man denke nur an Chilon, einen der Sieben Weisen, an Heraklit, Demokrit und Protagoras, wobei sicherlich besonders Platon und Aristoteles als sehr wichtige Denker in diesem Bereich genannt werden müssen, wie auch Boethius –, so blieb es doch der Neuzeit vorbehalten, eine philosophische Anthropologie als eigenständige Disziplin im Fächerkanon der Philosophie zu entwickeln und zu etablieren. Den Beginn zu dieser Entwicklung kann man in der 1486 erschienen Schrift Oratio de hominis dignitate des Pico della Mirandola erblicken. Knapp 20 Jahre später erscheint 1501 erstmals der Begriff der Anthropologie als terminus technicus im Werktitel Anthropologium de hominis dignitate, natura et proprietatibus von Magnus Hundt. Im Jahre 1594 verfaßte schließlich Otto Casmann die Schrift Psychologia anthropologica sive animae humanae doctrina, die einen Versuch zur Seelenlehre auf dem Boden der zeitgenössischen Schulphilosophie darstellt. Historisch für gegenwärtige Thematik bedeutsame Texte von Buthelius und Rethe (Anthropologia seu synopsis considerationis hominis quoad corpus et animam, 1605), Gvenius (Anthropologia seu de hominis secundum corpus et animam constitutione, 1613), Descartes (Traité de l’homme, 1632) und Hobbes (De homine, 1658) erscheinen nacheinander in rascher Folge, weswegen man vornehmlich das 17. Jahrhundert als die Wiege der philosophischen Anthropologie bezeichnen kann. Wie schon in den Bereichen von Erkenntnistheorie, Moral und Ästhetik, so wird es auch im Fall der philosophischen Anthropologie Immanuel Kant sein, der hierzu in seinen Schriften maßgebliche und zukunftsweisende Ideen vorträgt. Auf ihn geht letztlich die Konstitution einer philosophischen Anthropologie als spezifische Disziplin der Philosophie zurück, und dies sowohl ihrem spezifischen Inhalt als auch ihrer Bedeutung nach. Diese richtungsweisenden Gedanken finden sich fragmentarisch über sein ganzes Werk verstreut (zumal in seinen diversen Schriften zur Sittenlehre), in eigentlich systematischer Form jedoch besonders in seinem 1798 publizierten Werk Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Seine wohl berühmteste Äußerung über die Bedeutung des Menschen im Rahmen des Systems der Philosophie liest man aber in der Einleitung zur Vorlesung über die Logik, die bis weit in die Moderne und Gegenwart starke Nachwirkungen hatte. Wenn die Probleme von Metaphysik, Moral und Religionsphilosophie – nach Kant der gesamte Umkreis philosophisch relevanter Thematik – zuletzt in der Anthropologie kulminieren, so ist es nur folgerichtig, wenn Max Scheler 1929 schreibt: „Wenn es eine philosophische Aufgabe gibt, deren Lösung unser Zeitalter mit einzigartiger Dringlichkeit fordert, so ist es die einer philosophischen Anthropologie“ (Max Scheler: „Mensch und Geschichte“, in: M. Frings (Hrsg.): Philosophische Weltanschauung, in: Werke 9, Bern 1976, 120). Im Jahre 1962 formuliert dann schließlich Michael Landmann in rigoroser Konsequenz: „Jede Philosophie läßt sich in eine Anthropologie umschreiben, wie ein Musikstück in eine andere Tonart oder auf ein anderes Instrument“ (ders.: De homine, Freiburg 1962, XII). Die Hauptvertreter einer philosophischen Anthropologie sind im Verlauf des 20. Jahrhunderts neben erwähntem Max Scheler (v. a. Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1947) und Michael Landmann (Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur, 1961; Das Ende des Individuums, 1971; Fundamental-Anthropologie, 1979) in erster Linie Helmuth Pless­ ner (Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1928) mit seiner Rede vom



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Philosophie im Sinne von Erkenntnistheorie, Ethik und Religionsphilosophie in der basalen Frage nach dem Menschen kulminieren und kondensieren läßt68, so ist die Arbeit an einer philosophischen Anthropologie nichts weniger als ein Beitragsversuch zur Beantwortung der letztlich bis heute ungeklärten Frage: Was ist Philosophie? Bibliographie I. Quellen Aristoteles: Aristoteles Opera, hrsg. v. Immanuel Bekker, Berlin 1831 ff. Augustinus: Sancti Aurelii Augustini Hipponensis episcopi opera omnia, hrsg. v. ­Jacques Paul Migne, Paris 1845 ff., 32 ff. ­ enschen als „exzentrischem Lebewesen“ und Arnold Gehlen (Der Mensch, 1940), M der – mit Herder – im Menschen vordringlich ein „Mängelwesen“ erblickt. Auch die französische und deutsche Existenzphilosophie mit ihren Protagonisten Jean-Paul Sartre (v. a. La transcendence de l’ego, 1936; L’être et le néant, 1943), Albert Camus (Le mythe de Sisyphe, 1942; L’homme révolté, 1951), Karl Jaspers (Philosophie, 1932; Von der Wahrheit, 1947) und Martin Heidegger (Sein und Zeit, 1927; Wegmarken, 1967) kann als wichtiger Beitrag zu einer philosophischen Anthropologie gelesen werden. Für diese philosophische Strömung – wie für die nach­ idealistische Philosophie insgesamt – sind als wichtige Vordenker in erster Linie Friedrich Nietzsche (Also sprach Zarathustra, 1883 ff.; Jenseits von Gut und Böse, 1886; Der Wille zur Macht, 1901) und Søren Kierkegaard (Enten – Eller, 1843; Begrebet Angest, 1844; Sygdommen til Doeden, 1849) zu nennen. Zumal Nietzsche stellte mit scharfem Blick auf die unbewußten Motive menschlicher Handlung die Weichen zu einer neuen, philosophisch-korrosiv konzipierten Anthropologie, die nicht anders als das christliche Menschsein-Denken Kierkegaards seinen Fokus bevorzugt auf das „Abgründige“ menschlicher Existenz richtet. Beide Denker erreichten in ihren Bemühungen um die Frage nach dem Menschen Tiefe und Relevanz der Einsicht, an die vielleicht erst heute wieder angeknüpft wird. Vgl. hierzu etwa auch Dieter Claessen: Instinkt, Psyche, Geltung. Bestimmungsfaktoren menschlichen Verhaltens, Köln 1968; Maurice Godelier: Ökonomische Anthropologie, Reinbek 1973; Hans Kunz: Grundfragen der psychoanalytischen Anthropologie, Göttingen 1975; Michael Landmann: De homine, Freiburg 1962; Wilhelm Mühlmann: Geschichte der Anthropologie, Bonn 1948; Max Scheler: „Mensch und Geschichte“, in: M. Frings (Hrsg.): Philosophische Weltanschauung, in: ders.: Werke 9, Bern 1976; Ulrich Sonnemann: Negative Anthropologie, Frankfurt a. M. 3 1981. 68  Kant: Logik, „Einleitung III“, in: KGS IX, A 25 f.: „Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich auf folgende Fragen bringen: 1. Was kann ich wissen? – 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? 4. Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion, und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.“

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Matthias Scherbaum

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Neurowissenschaft und Transzendentalphilosophie479 III. Sekundärliteratur

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Berühren verboten! – Das Leib-Seele-Problem und das Narziß-Paradoxon Harald Münster Die vorliegende Arbeit nimmt ihren Ausgang von Colin McGinns Fragestellung Can we solve the mind-body problem?1. Transzendentalphilosophisch verstanden weist sie den Weg zur Klärung des Leib-Seele-Problems, indem sie fragt: Läßt sich logisch widerspruchsfrei ein Standpunkt denken, von dem aus der Zusammenhang von Mentalem und Physischem eingesehen werden kann? Zu diesem Zweck sollen im Anschluß an Immanuel Kant und Niklas Luhmann zunächst grundlegende erkenntnistheoretische Überlegungen angestellt werden, um abschließend die Notwendigkeit einer praktischen Auflösung des Leib-Seele-Problems im Geiste Johann Gottlieb Fichtes verständlich zu machen2. I. Das Leib-Seele-Problem fragt traditionell und in seiner allgemeinsten Form nach dem Zusammenhang von Mentalem und Physischem: „Das Problem: Wie läßt sich die Beziehung zwischen unserem Geist und der materiellen Natur unseres Seins – bzw., allgemeiner, zwischen mentalen und materiellen Eigenschaften – klären und einsichtig machen?“3

Unter dem Physischen sollen dabei jene Phänomene verstanden werden, die räumlich ausgedehnt sind und einen definiten Ort haben. Als solche sind sie mit René Descartes als res extensae zu bestimmen, die sich durch Ausdehnung nach Länge, Breite und Tiefe4 auszeichnen. Demgegenüber hat Mentales keine räumliche Ausdehnung, sondern ist zeitlich strukturiert, wie Immanuel Kant festhält: 1  Siehe Colin McGinn: „Can we solve the mind-body problem?“, in: ders.: The Problem of Consciousness: Essays Towards a Resolution, Oxford 1991, 1–22. 2  Die folgenden Überlegungen finden sich ähnlich bereits in: „handschriftlich nachgetragene bibliographische Angabe im Anhang“. 3  Jaegwon Kim: Philosophie des Geistes, Wien / New York 1998, 8. 4  Siehe René Descartes: Meditationes de Prima Philosophia, in: Charles Adam /  Paul Tannery (Hrsg.): Œuvres de Descartes, Bd. VII, Paris 1983, 63.

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„Die Zeit ist nichts anderes, als die Form des inneren Sinnes, d. i. des Anschauens unserer selbst und unseres inneren Zustandes. Denn die Zeit kann keine Bestimmung äußerer Erscheinungen sein; sie gehört weder zu einer Gestalt, oder Lage usw., dagegen bestimmt sie das Verhältnis der Vorstellungen in unserem inneren Zustande.“5

Physisches dagegen wird in einer räumlichen Ordnung gedacht6, denn „[d]er Raum ist nichts anderes, als nur die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, d. i. die subjektive Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein uns äußere Anschauung möglich ist“7. Im Anschluß an Kants erkenntniskritische Untersuchungen läßt sich die Unterscheidung von Raum und Zeit somit als „Gegenüberstellung von materiellen Prozessen einerseits und innerem Zeiterleben und Begründungsfolgen logischer Bedeutungen andrerseits, die tatsächlich nicht räumlich zu denken sind“8, verstehen. Diese ist jedoch als Relation notwendig und ihre Relata sind nicht (kausal) aufeinander reduzierbar, d. h. inkommensurabel, da ohne die Differenz von innerem und äußerem Sinn keine Erkenntnis der Wirklichkeit möglich wäre, wie Kant deutlich macht: „Ich bin mir meines Daseins als in der Zeit bestimmt bewußt. Alle Zeitbestimmung setzt etwas Beharrliches in der Wahrnehmung voraus. Dieses Beharrliche aber kann nicht etwas in mir sein, weil eben mein Dasein in der Zeit durch dieses Beharrliche allererst bestimmt werden kann. Dieses Beharrliche aber kann nicht eine Anschauung in mir sein. Denn alle Bestimmungsgründe meines Daseins, die in mir angetroffen werden können, sind Vorstellungen, und bedürfen als solche, selbst ein von ihnen unterschiedenes Beharrliches, worauf in Beziehung der Wechsel derselben, mithin mein Dasein in der Zeit, darin sie wechseln, bestimmt werden können.“9 5  Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (Zweite Auflage 1787), in: ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften / Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin / Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin / New York 1900 ff., hier: B 49 f. Im folgenden mit AA abgekürzt und mit Bandangabe in lateinischen Ziffern. 6  Damit wird freilich nicht behauptet, daß äußere (physische) Erscheinungen nicht auch zeitlich strukturiert sind, weshalb die angegebene Alternative Raumanschauung – äußerer Sinn, Zeitanschauung – innerer Sinn streng genommen nicht zutreffend ist, da die äußere Anschauung keineswegs nur räumliche Dimensionen hat, sondern auch zeitlich strukturiert ist; die zeitliche Dimension des Physischen widerspricht dabei jedoch in keiner Weise der Unterscheidung von Raum und Zeit, da die Zeit kein Konstituens räumlicher Verhältnisse darstellt: Gestalt und Lage sind keine zeitlichen Bestimmungen, sondern räumliche. Die zeitliche Dimension des Physischen zeigt lediglich an, daß das räumlich gegebene Erkenntnisobjekt immer durch den inneren Sinn des Erkenntnissubjekts vermittelt ist und (als solches Objekt für das Subjekt) notwendig auch zeitlich verfaßt ist. 7  Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 42. 8  Gerd Irrlitz: Kant-Handbuch. Leben und Werk, Stuttgart / Weimar 2002, 200. 9  Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 275.



Das Leib-Seele-Problem und das Narziß-Paradoxon483

Ohne die Differenz von räumlicher und zeitlicher Anschauung wäre demnach keine Unterscheidung zwischen räumlich ausgedehnter Objektwelt und zeitlich verfaßter Subjektivität möglich; man könnte schlichtweg nicht innere und äußere Zustände bzw. das erkennende Subjekt und das Erkenntnisobjekt gegeneinander abgrenzen, sodaß die Erkenntnis eines Objekts durch ein Subjekt unmöglich wäre. Eine theoretische Auflösung des Leib-Seele-Problems stellt jedoch gerade die paradoxe Anforderung an uns, einen Standpunkt jenseits dieser epistemologisch konstitutiven Differenz von innerem und äußerem Sinn, d. h. von Raum und Zeit, beziehen zu müssen, um den Zusammenhang von Physischem und Mentalem einsehen zu können: Beide Phänomenbereiche ließen sich nur von einer neutralen Position und deren Sprache aus10, einem view from nowhere, um mit Thomas Nagel11 zu sprechen, aufeinander beziehen. Dafür aber müßte sich das Bewußtsein auf widersprüchliche Weise gleichsam selbst überwinden, denn, „die Seele“, so Kant, „[kann] sich nur durch den inneren Sinn, den Körper aber (es sei inwendig oder äußerlich) nur durch äußere Sinne wahrnehmen, mithin sich selbst schlechterdings keinen Ort bestimmen, weil sie sich zu diesem Behuf zum Gegenstand ihrer eigenen äußeren Anschauung machen und sich außer sich selbst versetzen müßte; welches sich widerspricht“12. Statt dessen macht die für Erkenntnis konstitutive Struktur der Unterscheidung von Raum und Zeit per se das Erfassen des Zusammenhangs von Mentalem und Physischem unmöglich – gleichsam wie bei Narziß, der sein eigenes Spiegelbild im Wasser niemals zu fassen bekommt, weil er es dadurch zerstört, indem er es ergreift13. Eine theoretische Beantwortung des Leib-Seele-Problems fordert von uns somit logisch Unmögliches und zeichnet sich insofern gewissermaßen durch eine ‚double-bind‘-Struktur aus: Es liegt eine Handlungsaufforderung vor, die Handeln unmöglich macht, d. h. eine pragmatische Paradoxie14. Ein Beispiel hierfür ist etwa die widersprüchliche Aufforderung ‚Sei spontan!‘, da Spontaneität per de10  Vgl. Wilhelm Lütterfelds: „Das neurobiologische Repräsentationsmodell des Subjekts und die idealistische Theorie des Selbstbewußtseins – Eine unversöhnliche Theoriekonkurrenz?“, in: Fichte-Studien 18 (2000) 217–231, hier: 222 und 226. Zum grundsätzlichen Problem der begrifflichen Bestimmungen innerhalb des LeibSeele-Problems siehe Peter Janich: Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung, Frankfurt a. M. 2009. 11  Siehe Thomas Nagel: The View from Nowhere, Oxford 1989. 12  Kant: Briefwechsel (1795–1803), in: AA XII, 35. 13  Siehe Ovid: Metamorphosen, übers. v. Erich Rösch, München 1997, III, 425– 429. 14  Paul Watzlawick: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen, München 1976, 25 ff.

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finitionem weder geplant noch verordnet werden kann. Im Hinblick auf Narziß läßt sich die (Selbst-)Anordnung mit den Worten ‚Berühre dein Spiegelbild im Wasser, aber zerstöre es dadurch nicht!‘ wiedergeben. Im Falle des Leib-Seele-Problems lautet die Anweisung schließlich: ‚Erkenne den Zusammenhang von Mentalem und Physischem, aber behalte die für Erkenntnis konstitutive Differenz von Raum und Zeit, d. h. von äußerem und innerem Sinn, bei!‘ II. Im Anschluß an die von Kant genannte Bestimmung der Zeit als „Form des inneren Sinnes, d. i. des Anschauens unserer selbst und unseres inneren Zustandes“15, fallen unter das Mentale folglich jene Phänomene, die (potentiell) aus der Perspektive der ersten Person, d. h. allein von einem bzw. einer jeden selbst erfahrbar sind: Sowohl der Akt als auch der Inhalt mentaler Prozesse können ausschließlich aus der Perspektive der ersten Person wahrgenommen werden. Unabhängig davon, ob der intentionale Gegenstand real oder ideal, möglich oder unmöglich ist: der Bewußtseinsakt ist auf ihn gerichtet und als solcher nur der Perspektive der ersten Person zugänglich. Gegenüber diesem gleichsam privilegierten Zugang zum Mentalen sind physische Prozesse und Ereignisse im Anschluß an Kants Definition des Raumes als „Form der äußeren Anschauung“ aus der Perspektive der dritten Person beobachtbar und insofern im Prinzip für sämtliche Beobachter (intersubjektiv) verfügbar. Im Rückgriff auf Niklas Luhmann läßt sich nun zeigen, daß die Differenz zwischen der Perspektive der ersten und der dritten Person, d. h. von Selbstreferenz und Fremdreferenz bzw. innen und außen, die logisch notwendige Bedingung für Wirklichkeitserkenntnis überhaupt darstellt: Ohne sie, so Luhmann, „würde das System [hier: Bewußtsein; H. M.] seine eigenen Operationen fortwährend mit denen seiner Umwelt, Bewußtseinszustände mit äußeren Zuständen oder Wörter mit Sachen verwechseln. Es wäre nicht in der Lage, die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz vorzunehmen. Es könnte nicht einmal äußere und innere Zustände miteinander vergleichen. Es könnte den Beobachter nicht vom Beobachteten trennen. Es könnte keine Erkenntnis produzieren.“16 Kritik der reinen Vernunft, B 49. Luhmann: „Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung“, in: ders.: Aufsätze und Reden, hrsg. v. Oliver Jahraus, Stuttgart 2001, 262–294, hier: 281. Auf diese Weise wird auch der Zusammenhang von Bewußtsein und Intentionalität deutlich: Der o. g. Umstand, daß zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz, d. h. zwischen Erster- und Dritter-Person-Perspektive, notwendig unterschieden werden muß, damit Erkenntnis überhaupt möglich wird, beschreibt nichts anderes als 15  Kant:

16  Niklas



Das Leib-Seele-Problem und das Narziß-Paradoxon485

Ohne die primary distinction17 von Innen und Außen bzw. der Perspektiven von erster und dritter Person würde sich das erkennende Subjekt somit immerzu in seine Erkenntnisobjekte auflösen und so Erkennen unmöglich machen. Insofern macht sie die Struktur erfahrbarer Wirklichkeit überhaupt aus, so daß ihre Relata nicht mehr weiter (kausal) aufeinander zurückzuführen, d. h. inkommensurabel sind. Die Einsicht in die Lösung des Leib-Seele-Problems würde jedoch gerade eine Aufhebung der für Erkenntnis konstitutiven Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz bzw. der Differenz der Perspektiven der ersten Person und der dritten Person verlangen: Um den Zusammenhang von Physischem und Mentalem einsehen zu können, bedürfte es eines (gegenüber dieser Differenz) gleichsam neutralen bzw. indifferenten Standpunktes sowie dessen Sprache. Ein solcher läßt sich jedoch im Anschluß an die erkenntnistheoretischen Ausführungen Luhmanns widerspruchsfrei nicht denken. Die Einheit, d. h. der Zusammenhang der Differenz von Physischem und Mentalen kann immer nur als Paradoxie gedacht werden, da – wie René Descartes bereits festgestellt hat – „der menschliche Geist [nicht] ganz deutlich den Unterschied zwischen der Seele und dem Körper und ihre Union zu konzipieren fähig ist, weil man sie, um das zu vollziehen, als ein einziges Ding und zugleich sie als zwei begreifen müßte, was sich widerstreitet“18. das Phänomen der Intentionalität – gefaßt als Korrelationsapriori von Bewußtsein und Gegenständlichkeit (Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erster Band: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, in: Husserliana III / 1, Den Haag 1976, § 87 ff.), d. h. Selbstbezüglichkeit und Gegenstandsbezüglichkeit. Denn „[w]ir können nicht denken, ohne an etwas zu denken; wir können nicht wahrnehmen, ohne etwas wahrzunehmen; wir können nicht begehren, ohne etwas zu begehren“ (Godehard Brüntrup: Das Leib-Seele-Problem. Eine Einführung, Stuttgart 1996, 16). Insofern besteht Intentionalität in der Gleichursprünglichkeit der Perspektiven von erster und dritter Person und läßt keinen Primat der einen oder der anderen Seite zu: Keine Selbstreferenz ohne Fremdreferenz und keine Fremdreferenz ohne Selbstreferenz. 17  Siehe Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1977, 150. 18  René Descartes: Correspondance. Janvier 1640–Juin 1643, in: Charles Adam /  Paul Tannery (Hrsg.): Œuvres de Descartes, Bd. III, Paris 1988, 693, nach der ­Übersetzung von Reinhard Lauth: Descartes’ Konzeption des Systems der Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, 168, Fn. 24. Zu einem ähnlichen Schluß kommt ­Joseph Levine: „What I want to argue […] is that the mind-body problem, at least with respect to the issue of conscious experience, presents us, in a way, with a Kantian antinomy. We have excellent reason for thinking that mental phenomena, including conscious experience, must be a species of physical / natural phenomena. On the other hand, we also have excellent reasons for thinking conscious experience cannot be captured in physical / natural terms. The total physical / natural story seems to leave out conscious experience“ (Purple Haze: The Puzzle of Consciousness, Oxford 2001, 9 f.).

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III. Rückblickend können wir somit festhalten, daß sich der Zusammenhang von Physischem und Mentalem sowohl unter dem Begriffspaar räumlichzeitlich als auch unter dem Begriffspaar objektiv-subjektiv logisch widerspruchsfrei nicht denken läßt. Denn die Unterscheidungen von Raum und Zeit sowie von Selbstreferenz und Fremdreferenz sind konstitutiv für Wirklichkeitserkenntnis überhaupt und als solche nicht hintergehbar, so daß der Übergang von Hirn- zu Bewußtseinsprozessen notwendig undenkbar bleiben muß, wie John Tyndall bemerkt: „[T]he passage from the physics of the brain to the corresponding facts of consciousness is unthinkable. Granted that a definite thought, and a definite molecular action in the brain occur simultaneously; we do not possess the intellectual organ, nor apparently any rudiment of the organ, which would enable us to pass by a process of reasoning, from the one to the other. They appear together, but we do not know why.“19

Insofern stehen wir (epistemologisch gesehen) vor der Lösung des LeibSeele-Problems wie Narziß vor seinem Spiegelbild, das er niemals zu fassen bekommt, weil er es dadurch zerstört, indem er es ergreift; und genau in diesem Narzißparadoxon liegt jener Zustand der Erstarrung (gr. narkôdês: erstarrt) begründet, den Francis Crick scharf kritisiert20, wenn er sämtlichen philosophischen sowie theologischen Bemühungen der letzten zweitausend Jahre, das Leib-Seele-Problem zu bewältigen, vorwirft, daß sie auf der Stelle treten würden. Dabei ist jedoch eine Naturwissenschaft des Bewußtseins, welche eine (wie auch immer geartete21) Identität von mentalen und neuronalen Prozessen annimmt und von der sich etwa Crick und viele andere Erfolg bei der Lösung des Leib-Seele-Problems versprechen, vor diesem Paradox nicht gefeit; denn als Erkenntnisform der Wirklichkeit unterliegen die Naturwissenschaften ebenso notwendig der Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz wie die Philosophie, die Psychologie oder die Theologie, und können nicht über sie hinausgehen, wenngleich sie bisweilen vorgeben, die Position eines externen Beobachters einzunehmen, für den die Innen / Außen-Unterscheidung für seinen Forschungsgegenstand bereits gegeben zu sein scheint, wie Luhmann erklärt: 19  John Tyndall: Fragments of Science for Unscientific People. A Series of Detached Essays, Lectures, and Reviews, London 1871, 121. 20  Siehe Francis Crick: Was die Seele wirklich ist. Die naturwissenschaftliche Erforschung des Bewußtseins, München 1994, 316. 21  Siehe dazu Jaegwon Kim: Philosophie des Geistes, Wien / New York 1998, 59 ff., sowie Michael Pauen: Grundprobleme der Philosophie des Geistes. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 22001, 106 ff.



Das Leib-Seele-Problem und das Narziß-Paradoxon487 „[Es] ist für die Abgrenzung von Nervensystem und Bewußtsein wichtig, daß Nervensysteme lediglich zur Selbstbeobachtung fähig sind und im rekursiven Bereich ihrer eigenen Operationen keinen Kontakt zur Umwelt durchführen können. Sie können, das versteht sich von selbst, nicht außerhalb ihrer eigenen Grenzen operieren. Sie dienen, könnte man auch sagen, der Selbstbeobachtung des Organismus im Hinblick auf wechselnde Zustände, im Hinblick also auf einen Zeitmodus, den man vielleicht schon hier mit dem Begriff der Information bezeichnen kann. Vor allem können sie etwas nicht, was das Bewußtsein kann, nämlich im laufenden Operieren jeweils Selbstreferenz und Fremdreferenz kombinieren. Die Neuromagie, die das zustande bringt, ist unbekannt. Das laufende Unterscheiden von Selbstreferenz und Fremdreferenz in allen Operationen des Bewußtseinssystems, also als Charakteristikum der Operationsweise dieses Systems, setzt wenn nicht ‚Sinn‘, so doch eine Zeichenstruktur voraus, die dazu zwingt, Bezeichnendes (signifiant) und Bezeichnetes (signifié) im Sinne von Saussure simultan zu prozessieren. Dem liegt eine bereits für Tiere verfügbare, neurophysiologisch nicht wirklich erklärte Fähigkeit zum ‚Externalisieren‘ zugrunde, die möglicherweise zusammenhängt mit Inkonsistenzen in der neurophysiologischen Datenverarbeitung, die auf diese Weise über das, was dann als Bewußtsein Aufmerksamkeit reguliert, aufgelöst werden können. Erst Sprache zwingt jedoch das Bewußtsein dazu, Bezeichnendes und Bezeichnetes und in diesem Sinne: Selbstreferenz und Fremdreferenz kontinuierlich auseinanderzuhalten und trotzdem gemeinsam zu prozessieren.“22

Die vorangegangenen Untersuchungen machen somit deutlich, daß der Zusammenhang von Physischem und Mentalem grundsätzlich nicht logisch widerspruchsfrei zu denken ist, d. h. theoretisch vollständig wiedergegeben werden kann (sei es z. B. in Form eines Funktionalismus, eines Eliminativismus, eines Emergentismus, eines psycho-physischen Dualismus oder einer psycho-physischen Identitätstheorie). Dennoch ist uns die Identität, d. h. der Zusammenhang von Körper und Geist, etwas sehr Vertrautes und in unserem Alltag eine Selbstverständlichkeit, wie Johann Gottlieb Fichte betont: „Niemand fragt nach dem Zusammenhange des Willens mit dem Körper. Darüber hat sich bisher auch kein Philosoph gewundert; beides ist ihm ganz eins: Leib und Seele, z. B. ich habe mich geschnitten, und: ich dachte, ich habe mich geschnitten. […] Beides ist unzertrennlich vereinigt; die erstere denke ich nur, mithin auch nur das letztere; sie ist auch etwas in mir, und letzteres ist auch, das erstere, nur von der anderen Seite; dieß stellt die transc[endentale] Philosophie deutlich dar.“23 Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997, 18 f., Fn. 9. Wissenschaftslehre nova methodo, in: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth, Hans Jacob, Hans Gliwitzky, Erich Fuchs und Peter K. Schneider, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962–2012. Im folgenden abgekürzt: GA, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl, hier: GA IV / 2, 255. Vgl. auch René Descartes, der in einem Brief vom 28. Juni 1643 bemerkt: „Es geschieht nur im täglichen Leben und im normalen 22  Niklas

23  Fichte:

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Wie ist dann jedoch diese „Verbindung des äußern u. innern Organs“24 näher zu verstehen? IV. Zur Beantwortung dieser Frage ist es notwendig, zu unseren differenztheoretischen Überlegungen am Anfang zurückzukehren. Wir hatten dort festgestellt, daß Wirklichkeit (sei es im Erkennen, Sprechen oder Handeln) immer schon eine Differenzstruktur in Anspruch nimmt: Ohne die Unterscheidung von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt, von Signifikant und Signifikat oder von Bestimmbarem und Bestimmtem ist kein Erkennen, Sprechen oder Handeln möglich. Wie aber kann nun unser Wissen oder Sprechen von der Wirklichkeit die Wirklichkeit bzw. Wahrheit seiner selbst wissen bzw. aussprechen, wenn es sich doch als Wissen oder Sprechen von Wirklichkeit immer schon von derselben notwendig unterscheidet? Fichte hat im Rahmen seiner Erörterungen über die Wissenschaftslehre – gegen Schelling und Hegel – deutlich gemacht, daß „kein Wissen sich selbst begründen und beweisen [kann]“25; denn „jedes Wissen setzt ein noch Höheres voraus, als seinen Grund, und dieses Aufsteigen hat kein Ende“26. Ausdruck dieses infiniten Regresses der Begründung der Wahrheit eines jeden Wissens ist für Fichte die totale Skepsis, in der uns die Wirklichkeit sowie schließlich wir selbst vollkommen unwirklich, d. h. zu bloßen (Wissens-)Bildern der Wirklichkeit27 werden: „Es giebt überall kein Dauerndes, weder außer mir, noch in mir, sondern einen unaufhörlichen Wechsel. Ich weiß überall von keinem Seyn, und auch nicht von Gespräch, wo wir uns des Meditierens und des Studiums von Dingen, die unser Vorstellungsvermögen reizen, enthalten, daß wir die Einheit von Körper und Seele begreifen lernen […] jene Einheit, die jeder ohne zu philosophieren immer bei sich selbst wahrnimmt“ (Descartes: Correspondance. Janvier 1640–Juin 1643, 692 und 694, nach der Übersetzung von Richard Rorty: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt a. M. 21992, 75 f.). 24  Fichte: Vorlesungen über Logik und Metaphysik, in: GA IV / 1, 346. 25  Fichte: Die Bestimmung des Menschen, in: GA I / 6, 257. 26  Ebd. 27  So ist das Bild einer Pfeife selbst keine Pfeife, wie René Magritte in La trahison des images (1948) anschaulich zeigt: „Die berühmte Pfeife […] Man hat sie mir zur Genüge vorgehalten! Und trotzdem […] können Sie sie stopfen, meine Pfeife? Nein, nicht wahr, sie ist nur eine Darstellung. Hätte ich also unter mein Bild ‚Dies ist eine Pfeife‘ geschrieben, hätte ich gelogen!“ (ders.: Sämtliche Schriften, hrsg. v. André Blavier, München 1981, 536 f.). Siehe dazu im Zusammenhang mit dem Bildbegriff bei Fichte auch Christian Danz: „Das Bild als Bild. Aspekte der Phänomenologie Fichtes und ihre religionstheoretischen Konsequenzen“, in: FichteStudien 18 (2000) 1–17.



Das Leib-Seele-Problem und das Narziß-Paradoxon489 meinem eignen. Es ist kein Sein. Ich selbst weiß überhaupt nicht, und bin nicht. Bilder sind: sie sind das Einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder: Bilder die vorüberschweben, ohne daß etwas sey, dem sie vorüberschweben; die durch Bilder von den Bildern zusammenhängen, Bilder, ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck. Ich selbst bin eins dieser Bilder; ja, ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern. Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, dem da träumt; in einem Traum, der in einem Traume von sich selbst zusammenhängt. Das Anschauen ist der Traum; das Denken, die Quelle alles Seyns, und aller Realität, die ich mir einbilde, meines Seyns, meiner Kraft, meiner Zwecke, ist der Traum von jenem Traume.“28

Kein Wissen kann somit die Wirklichkeit bzw. Wahrheit seiner selbst wissen, weil jegliches Wissen (als Wissen) immer schon eine diskursive, d. h. auf der Unterscheidung von Wissen und Gewußtem basierende Struktur in Anspruch nimmt, die ihr jegliches Wissen des Zusammenhangs bzw. der Einheit von Wissen und Gewußtem per se unmöglich macht. Die Diskursivität des Wissens begründet – als sein transzendentaler Ermöglichungsgrund – somit zugleich jene „Tragödie des Wissens“, die darin besteht, daß es das, was es zu ergreifen versucht, gerade dadurch zerstört, daß es dies ergreift, wofür – wie wir bereits gesehen haben – Narziß wohl das prominenteste Beispiel ist. Theorietechnisch gesprochen scheitert somit grundsätzlich jegliches diskursive Verfahren (sei es Wissen oder Sprechen) daran, das fundamentale Problem jeder Theorie der Wirklichkeit, nämlich das der Selbstbegründung ihres eigenen Wahrheitsanspruches, aufzulösen. Demgegenüber bemerkt Fichte: „Ich habe das Organ gefunden, mit welchem ich diese Realität, und mit dieser zugleich wahrscheinlich alle andere Realität ergreife. Nicht das Wissen ist dieses Organ; kein Wissen kann sich selbst begründen und beweisen; jedes Wissen setzt ein noch Höheres voraus, als seinen Grund, und dieses Aufsteigen hat kein Ende. Der Glaube ist es; dieses freiwillige Beruhen bei der sich uns natürlich darbietenden Ansicht, weil wir nur bei dieser Ansicht unsere Bestimmung erfüllen können; er ist es, der dem Wissen erst Beifall gibt, und das, was ohne ihn bloße Täuschung seyn könnte, zur Gewißheit, und Überzeugung erhebt. Er ist kein Wissen, sondern ein Entschluß des Willens, das Wissen gelten zu lassen.“29

Aus diesem Grund ist uns die basale Differentialität bzw. Relationalität der Wirklichkeit (sei es in Form von Subjekt und Objekt, Signifikant und Signifikat oder in Form von Ich und Anderem) nicht bloß gegeben, sondern viel28  Fichte: 29  Fichte:

H. M.).

Die Bestimmung des Menschen, in: GA I / 6, 251. Die Bestimmung des Menschen, in: GA I / 6, 257 (Hervorhebungen

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mehr aufgegeben: Wir sind immer schon aufgefordert, Wirklichkeit diskursiv, d. h. als Beziehung zu realisieren bzw. zu bilden, was Reinhard Lauth als „de[n] entscheidende[n] Punkt der praktischen Konzeption Fichtes“30 bezeichnet: „Der praktische Grundcharakter des Faktums ist, daß es stets willensrelevant und deshalb keine Gegebenheit, sondern – im richtigen Sinne des Wortes natura – ein solches ist, das geboren werden soll. Das Faktum ist Anstoß zur praktischen Bewältigung“31 – oder wie Fichte in den Ultima Inquirenda sagt: „Die Sinnenwelt ist da in einem Postulate an die Freiheit“32. Insofern ist jedes Urteil – mit René Descartes gesprochen – immer schon „opus voluntatis“33, da es für sich Wahrheit beansprucht. Jenes initiiernde Sollen, Wirklichkeit als Beziehung (gleichursprünglicher Relata) zu verwirklichen bzw. zu setzen, begründet aber unmittelbar Interpersonalität, der zufolge wir immer schon in einer freien Stellungnahme dazu aufgefordert sind, in uns das Andere (in Form des moralischen Sollens) sowie uns selbst im Anderen (in Form der Anerkennung des Anderen als alter ego, d. h. als ebenso freies Vernunftwesen, das sich auch selbst Zweck ist und niemals bloß Mittel zum Zweck) zu bejahen – in den Worten des kategorischen Imperativs: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“34 Insofern finde ich mich, um mit Fichte zu sprechen, „in mir selbst [immer schon; H.  M.] aufgefordert frei zu handeln in einer bestimmten 30  Reinhard Lauth: „Der entscheidende Punkt der praktischen Konzeption Fichtes“, in: Hans Georg von Manz / Günter Zöller (Hrsg.): Fichtes praktische Philosophie. Eine systematische Einführung, Hildesheim 2006, 215–244. 31  Ebd., 223 f. 32  Fichte: Ultima Inquirenda. J. G. Fichtes letzte Bearbeitungen der Wissenschaftslehre Ende 1813 / Anfang 1814, hrsg. v. Reinhard Lauth, Stuttgart-BadCannstatt 2001, 211. 33  Descartes: Correspondance. Mai 1647–Février 1650, in: Œuvres de Descartes, Bd. V, Paris 1974, 159. Siehe dazu Reinhard Lauth: Descartes’ Konzeption des Systems der Philosophie, 58 f. sowie Friedrich Nietzsches prägnante Zusammenfassung: „Wesen des Urtheils (Ja-setzend)“ (ders.: Nachgelassene Fragmente 1885– 1887, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 12, München 21988, 352. 34  Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA IV, 429. Aus diesem Grunde ist die Verweigerung der Geisthaftigkeit des Menschen unmoralisch zu nennen, da sie eine Benutzung des Menschen als bloßes, physisches Objekt (wie dies z. B. ein Stuhl oder ein Schuh sind) zuläßt. Demgegenüber beinhaltet der Anspruch des Identitätsvollzuges von Körper und Geist die Forderung, sich sowie jeden anderen Menschen nicht wie einen bloßen physischen Körper, d. h. als mögliches Mittel zu einem Zweck (wie etwa einen Hammer) zu behandeln, wie dies in der zweiten Vorstellungsart des kategorischen Imperativs zum Ausdruck kommt.



Das Leib-Seele-Problem und das Narziß-Paradoxon491

Sphäre“35, nämlich der leiblich-sinnlichen Welt, die als solche notwendige Voraussetzung für mein freies Handeln ist. Dementsprechend ist es gerade jener praktische Akt des (freien) Setzens, der „Leib und Seele zusammenhält“, wie Günter Zöller es formuliert36, bzw. jenen (wie wir oben gesehen haben, theoretisch unbegreiflichen) Zusammenhang von mentalen und physischen Phänomenen immer schon voraus-setzt. Denn, so Fichte: „So gewiß ich eine Existenz setze, so gewiß muß ich mir eine Thätigkeit absprechen; um dieses zu können, muß ich mir sie innerlich bilden, zuschreiben; ich betrachte mich also auf eine doppelte Weise, als äußern u. innern Menschen. Dieses ist so zufolge den Gesetzen meines Denkens. Gäbe es eine andere Art zu erkennen für uns als diese, so würde auch nicht dasselbe folgen, wir würden uns nicht als äußern u. innern Menschen ansehen; aber da das erste ist, so auch das letzte. Es ist eine nothwendige doppelte Ansicht. Das Ich ist ein einfaches, sich selbst setzendes. Dieses Ich wird u. muß werden erkennend u. handelnd in einer Sinnenwelt, u. in so ferne wird das Ich doppelt angesehen, als Theil der Sinnenwelt u. als etwas innerlich thätiges, das ist Leib u. Seele; beydes ist dasselbe, nur verschieden angesehen. Es ist eben so, als wenn ich ein Objekt von verschiedenen Seiten ansehe; in einer Ansicht sehe ich es rund, in der andern länglich, die verschiedene Ansicht verändert es. Ich, aus 2 verschiedenen Gesichtspunkten angesehen, bin Leib u. Seele; aus einem höhern Gesichtspunkte aber angesehen bin ich nur eins. Leib u. Seele giebt es nur, in so ferne es durch das Ich gesetzt ist, u. beyde werden nothwendig gesetzt. […] So gewiß also dieses ist, so gewiß findet kein Vernunftwesen sich selbst, ohne andere seines Gleichen mit zu finden. Ich kann mich nicht denken ohne andere mit zu denken, ich muß sonach von dem andern eine Erkenntniß haben, u. dadurch ist die Erkenntniß meiner selbst, mein Selbstbewußtseyn bedingt. Ich soll die andern als meines Gleichen erkennen; diese Gleichheit besteht in dem frey handeln, denn nur in dieser Rüksicht bin ich Ich, indem ich frey handle; ich müste also dem andern Freyheit zuschreiben können in Beziehung auf mich, also eine freye Einwirkung auf mich, dazu müssen andere wirken auf mich, als auf ein freyes Wesen.“37

In diesem Sinne stellt das Leib-Seele-Problem und seine Beantwortung in der Ver-antwortung schließlich eine grundlegende anthropologische Angelegenheit dar, die das Selbst- und Wirklichkeitsverständnis menschlicher Existenz überhaupt betrifft. Es war das Anliegen der vorliegenden Arbeit, dies in einer begründenden Weise verständlich zu machen. Wissenschaftslehre nova methodo, in: GA IV / 2, 251. Günter Zöller: „Setzen hält Leib und Seele zusammen. Fichtes transzendentale Somatologie und das System der Vernunft“, in: Jürgen Stolzenberg (Hrsg.): Kant und der Frühidealismus, Hamburg 2007, 129–151. Folglich gilt die Einheit von Geist und Körper im Anschluß an Reinhard Lauths Descartesdeutung „in der Weise einer praktikablen Vorstellung, eines moralis sciendi modus, insofern sie nicht [theoretisch; H. M.] verdeutlicht werden kann“ (Lauth: Descartes’ Konzeption des Systems der Philosophie, 166; Hervorhebungen H. M.). 37  Fichte: Vorlesung über Logik und Metaphysik, in: GA IV / 1, 334 f. 35  Fichte: 36  Siehe

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Bibliographie Brüntrup, Godehard: Das Leib-Seele-Problem. Eine Einführung, Stuttgart 1996. Crick, Francis: Was die Seele wirklich ist. Die naturwissenschaftliche Erforschung des Bewußtseins, München 1994. Danz, Christian: „Das Bild als Bild. Aspekte der Phänomenologie Fichtes und ihre religionstheoretischen Konsequenzen“, in: Fichte-Studien 18 (2000) 1–17. Descartes, René: Correspondance. Mai 1647–Février 1650, in: Œuvres de Des­ cartes, hrsg. v. Charles Adam u. Paul Tannery, Bd. V, Paris 1974. – Meditationes de Prima Philosophia, in: Œuvres de Descartes, hrsg. v. Charles Adam u. Paul Tannery, Bd. VII, Paris 1983. – Correspondance. Janvier 1640 – Juin 1643, in: Œuvres de Descartes, hrsg. v. Charles Adam u. Paul Tannery, Bd. III, Paris 1988. Fichte, Johann Gottlieb: Vorlesung über Logik und Metaphysik von 1797 / 98, in: GA IV / 1, 175–450. – Wissenschaftslehre nova methodo, in: GA IV / 2, 17–267. – Die Bestimmung des Menschen, in: GA I / 6, 145–311. – Ultima Inquirenda. J. G. Fichtes letzte Bearbeitungen der Wissenschaftslehre Ende 1813 / Anfang 1814, hrsg. v. Reinhard Lauth, Stuttgart-Bad-Cannstatt 2001. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erster Band: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, in: Husserliana III / 1, Den Haag 1976. Irrlitz, Gerd: Kant-Handbuch: Leben und Werk, Stuttgart / Weimar 2002. Janich, Peter: Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung, Frankfurt a. M. 2009. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (Zweite Auflage 1787), in: AA III. – Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA IV, 385–463. – Briefwechsel. 1795–1803, in: AA XII. Kim, Jaegwon: Philosophie des Geistes, Wien / New York 1998. Lauth, Reinhard: Descartes’ Konzeption des Systems der Philosophie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998. – „Der entscheidende Punkt der praktischen Konzeption Fichtes“, in: Hans Georg von Manz / Günter Zöller (Hrsg.): Fichtes praktische Philosophie. Eine systematische Einführung, Hildesheim 2006, 215–244. Levine, Joseph: Purple Haze: The Puzzle of Consciousness, Oxford 2001. Lütterfelds, Wilhelm: „Das neurobiologische Repräsentationsmodell des Subjekts und die idealistische Theorie des Selbstbewußtseins – Eine unversöhnliche Theoriekonkurrenz?“, in: Fichte-Studien 18 (2000) 217–231. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997.



Das Leib-Seele-Problem und das Narziß-Paradoxon493

– „Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung“, in: ders.: Aufsätze und Reden, hrsg. v. Oliver Jahraus, Stuttgart 2001, 262–294. Magritte, René: Sämtliche Schriften, hrsg. v. André Blavier, München 1981. McGinn, Colin: „Can we solve the mind-body problem?“, in: ders.: The Problem of Consciousness. Essays Towards a Resolution, Oxford 1991, 1–22. Münster, Harald: „Fichte trifft Darwin, Luhmann und Derrida. ‚Die Bestimmung des Menschen‘ in differenztheoretischer Rekonstruktion und im Kontext der ‚Wissenschaftslehre nova methoda‘“. In: Fichte-Studien-Supplementa, Bd. 28 Amsterdam; New York 2011, 66–80. Nagel, Thomas: The View from Nowhere, Oxford 1989. Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente 1885–1887, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 12, München 21988. Ovid: Metamorphosen, übers. v. Erich Rösch, München 1997. Pauen, Michael: Grundprobleme der Philosophie des Geistes. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 22001. Rorty, Richard: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt a. M. 2 1992. Tyndall, John: Fragments of Science for Unscientific People. A Series of Detached Essays, Lectures, and Reviews, London 1871. Watzlawick, Paul: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen, München 1976. Zöller, Günter: „Setzen hält Leib und Seele zusammen. Fichtes transzendentale Somatologie und das System der Vernunft“, in: Jürgen Stolzenberg (Hrsg.): Kant und der Frühidealismus, Hamburg 2007, 129–151.

Personenverzeichnis Abraham  336 Acosta, Emiliano  6, 12, 235–250 Adams, Robert Merrihew  28, 40 Akenda, Jean-Chrysostome Kapumba  418, 426 Albes, Claudia  291, 298 Amann, W.  250 Amendola, Giovanni  321 f., 345 Ameriks, Karl  331, 345 Amiel, Henri-Frédéric  320 Ancillon, Jean-Pierre-Frédéric  324, 329, 345 Anstett, Jean-Jacques  270 Aristoteles  44, 364, 455, 476 f. Armellini, Paolo  339, 345 Arnim, Achim von  265 Asmuth, Christoph  203, 205, 216 f., 272, 297 Augustin, Frank  307 Augustinus  321, 456, 477, 479 Azouvi, Francois  321 f., 345, 348, 351, 381 Baader, Franz  314, 316, 327, 345 Bach, Thomas  273, 298 Bacon, Francis  436, 444, 456 Baertschi, Bernard  321, 335, 345, 352, 381 Baggesen, Jens  118 Balsemao Pires, Edmundo  379 Barbillion, Geneviéve  335, 345 Barchou, A. T.  341 Bardili, Christoph Gottfried  379 f. Bark, Irene  266, 297 Baumanns, Peter  95 f., 108 Baumgartner, Hans Michael  231

Becker, Hans-Joachim  86 f., 129 Becker, Oskar  432, 444 Beckermann, Ansgar  252, 263, 479 Behler, Ernst  270 Beierwaltes, Werner  275 f., 297 Beiser, Friedrich  236, 250 Bellantone, Andrea  322, 341 Bergdoll, Barry  301, 316 Bergson, Henri  320, 347 f. Bertinetto, Alessandro  221, 231, 328, 349 Binkelmann, Christoph  6, 12, 207, 216, 251–264 Bisky, Jens  316 Bisol, Benedetta  209 f., 212, 216 Blondel, Maurice  320 Blumenstock, Konrad  254, 264 Blumenthal, L.  235 Boeder, Herbert  249 f. Boethius  455, 476, 478 Bogen, Joseph  449 Böhme, Jakob  275, 284 Bolin, Wilhelm  29, 40 Börsch-Supan, Eva  302, 309 f., 316 Börsch-Supan, Helmut  302, 307 Bouterwek, Friedrich  351, 379 Boutroux, Étienne Émile Marie  320 Breidbach, Olaf  273, 298, 447, 479 Brito, Emilio  336, 345 Brüntrup, Godehard  485, 492 Buchheim, Thomas  132 Büchner, Georg  450 Büchner, Ludwig  450 f., 458, 478 Budde, Thomas  447, 479 Burnett, Th.  378 Buthelius, Christoph  476

496 Personenverzeichnis Buttlar, Adrian von  304, 316 Büttner von Stülpnagel, Stefan  374, 379 Cabanis, Pierre Jean Georges  319, 351, 379 Callot, Émile  337, 345 Calvin, Johannes  456 Camus, Albert  477 Carrara, Massimiliano  26, 42 Carter, Rand  308, 316 Carvalho, Mario Jorge de  6, 13, 107, 351–380 Casmann, Otto  476 Cassirer, Ernst  6, 13, 407–419, 421–427, 431–436, 440, 442 ff. Cesa, Claudio  193 Chilon von Sparta  476 Churchland, Patricia  479 Ciria, Alberto  139, 161 Claesges, Ulrich  199 Claessen, Dieter  477 Clair, André  337, 345 Clarke, Arthur C.  19, 26, 42 Cogliandro, Giovanni  326, 345 Cohen, Hermann  411 Condillac, Étienne Bonnot de  319 ff., 348 Cotifava, Chiara  334, 345 Cousin, Viktor  320, 323 f., 345 ff., 349 Couturat, Louis  38, 42 Cramer, Wolfgang  113, 131 Crick, Francis  486, 492 Crouch, Colin  61, 74 Crusoe, Robinson  122 Czolbe, Heinrich  450 Daiber, Jürgen  290, 297 Damasio, Antonio  252, 264 Danz, Christian  488, 492 Darwin, Charles  452, 493 Dawkins, Richard  252, 264

Degérando, Joseph-Marie  324 f., 329, 346 Del Noce, Augusto  337, 339, 346 Delbos, Victor  321, 346 Demokrit  476 Dennet, Daniel  448, 479 Descartes, René  9, 43 f., 51, 55, 82, 87, 91, 99, 119, 129, 135, 161, 222, 333 f., 344, 346, 442 f., 456, 470, 476, 478, 481, 485, 488, 490 ff. Destutt de Tracy, Antoine Louis Claude  319, 321, 352, 379 D’Holbach, Paul Thiry  319 Dilthey, Wilhelm  6, 13, 351–381, 419, 427 Dosch, Hans Günter  435, 444 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch  9, 135, 161 Druet, Pierre-Philippe Duchene, Joseph  334, 346 Eccles, John Carew  449 Eddington, Arthur Stanley  435 Eichner, Hans  270 Eidam, Heinz  199 Einstein, Albert  432 f., 442, 444 Elisabeth Charlotte, Herzogin von Orleans  44 f. Engfer, Hans-Jürgen  20, 40, 272, 297 Eriugena, Johannes Scotus  456, 478 Escher, Pfarrer  121 f. Eucken, Walter  437 Euklid  434 Event, Lucien  331, 346 Fabbianelli, Faustino  6, 12, 202, 207, 216, 219–230 Ferraguto, Federico  11, 163 Feuerbach, Ludwig  29, 40 f. Fichant, Michael  29, 40 Fichte, Eduard  131 Fidon, Emanuele  305 f., 310, 316 Finney Mason, Stephen  458, 479

Personenverzeichnis497 Fischer, Kuno  236 Flasch, Kurt  456 Fonnesu, Luca  211, 216 Foucher, Louis  337, 346 Frank, Manfred  268 Freud, Sigmund  451 f., 478 Frey, Gerhard  455 Friedman, Michael  436, 444 Frischeisen-Köhler, Max  352, 380 Gadamer, Hans-Georg  257, 263 Galilei, Galileo  65, 455 Garber, Daniel  29, 40 Gaudin, Jean-Francois-Aimé-Philippe  121 f. Gehlen, Arnold  320, 470, 477 Gerardin, René Louis de  309 Geyer, Christian  70, 454, 479 Ghia, Guido  336, 347 Ghio, Michelangelo  320, 346 Gilly, Friedrich  310 Girndt, Helmut  77 f., 88, 91 f., 95, 97, 131, 137, 160, 210, 216 Gloy, Karen  88 ff., 95, 109, 131, 137, 160 Godelier, Maurice  477 Goethe, Johann Wolfgang von  88 Gottschalk, von Orbais  455 Gouhier, Henri  321 f., 346 Grenier, Jean  341 Gueroult, Martial  340, 346 Gurwitsch, Aron  21 f., 40 Gvenius  476 Haberkorn, Michaela  266, 297 Habermas, Jürgen  204, 216, 449 Hagner, Michael  447, 479 Halfwassen, Jens  297 Hamann, Johann Georg  87 Hampe, Michael  472, 479 Harten, Ulrike  302, 307, 316 Hartmann, Nicolai  351 f., 380

Heese, Christa  305, 316 Heftrich, Eckhard  295, 297 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  12, 52, 55, 67, 98, 135 f., 143, 161, 183 f., 194, 196, 207, 230 f., 251, 264 Hegener, Johannes  295, 298 Heidegger, Martin  13, 249 f., 352, 380, 477 Heintel, Erich  66, 74, 88, 131 Heisenberg  434 Helmholtz  345 Hemsterhuis, Frans  275, 293 f., 296, 298 Henderson, Fergus  292, 298 Hengelbrock, Jürgen  340, 346 Henrich, Dieter  113 ff., 118, 131 Henry, Michel  320 f., 334 f., 346 Heraklit  390, 476 Herder, Johann Gottfried  87, 303, 477 Hess, Peter  13 Hess, Rudolf  449 Heuser-Keßler, Marie-Luise  436, 444 Hobbes, Thomas  252, 264, 457, 476, 478 Hoel, Aud Sissel  407, 426 Hoffmann, Franz  314, 316 Hoffmann, Thomas Sören  11, 99–102, 104, 131, 273, 298, 441, 444 Hölderlin  282 Hommel, Ferdinand (Joch)  342, 347 Honderich, Ted  454, 479 Hühn, Lore  442, 444 Hume, David  197, 321, 331, 346, 408, 457, 466 ff. Hundt, Magnus  476 Husserl, Edmund  13, 39, 41, 321, 383–406 Irrlitz, Gerd  482, 492 Isaak  336 Ivaldo, Marco  11, 161, 166, 180 f., 437

498 Personenverzeichnis Jacob  336 Jacob, André  332, 346 Jacobi, F. H.  83, 87, 118, 128, 275, 329, 335, 341, 344 Jacobs, Wilhelm G.  119, 131 f. Jacquelot, M.  378 Jaensch, Erich Rudolf  352, 380 Janich, Peter  483, 492 Janke, Wolfgang  38, 40, 77 f., 96 f., 109, 132, 199, 313, 317, 336, 347 Jaspers, Karl  477 Jerrentrup, Christian  138 Jonas, Hans  78, 132 Kaehler, Klaus Erich  10, 18, 20, 22, 29, 34, 38 ff. Kandel, Eric Richard  447, 479 Kant, Immanuel  10–14, 20, 39 ff., 43–55, 60, 62–74, 87–90, 111, 113, 117, 126, 129, 137 ff., 143, 147 f., 151, 160, 167, 167, 170, 184, 186, 194, 197 f., 201 f., 206, 223, 227, 235–240, 244, 247, 249, 283–287, 290, 292, 294, 321 f., 324 f., 327, 330–334, 341, 345, 347 ff., 352, 411, 433–439, 454, 457 ff., 467 f., 470, 474, 476 ff., 481–485, 490 ff. Kepler, Johannes  455 Kierkegaard, Sören  337, 345, 349, 477 Kim, Jaegwon  481, 486, 492 Kinker, Johannes  322, 347 Klenzes, Leo v.  304 Knoppe, Thomas  407, 427 Koch, Christof  449 König, Edmund  322, 347 Kopernikus, Nikolaus  451, 455 Kottmann, Reinhard  326, 335, 347 Krois, John Michael  407, 426 f. Kubik, Andreas  287, 298 Kuhlen, Rainer  454 f. Kühn, Rolf  321, 347 Kühtmann, Alfred  333, 347 Kunz, Hans  477 Küster, Bernd  278, 298

La Mettrie, Julien Offray de  319, 450, 458, 478 Lachelier, Jules  322 Lacroix, Jean  337, 347 Landmann, Michael  470, 476 f. Landsberg, Paul Ludwig  320, 347 Laplace, Pierre-Simon  64, 437, 455 Lauth, Reinhard  82–85, 88, 90 f., 97, 113, 119, 123, 130, 132, 135–161, 166–173, 176 f., 180 f., 183, 185, 188, 196, 199, 216, 230 f., 272, 298, 330, 334, 340, 346, 437, 439, 442, 445, 490 ff. Lazarev, Adolf  337, 347 Le Roy, Georges  332, 347 Lefève, Céline  320, 347 Leibniz, Gottfried Wilhelm  10, 17–42, 44, 64, 87, 197, 352, 378, 380 f., 432, 438, 441 ff., 457 Léon, Xavier  342, 347 Lequier, Joseph-Luis-Jules  13, 319, 337–349 Lessing, Gotthold Ephraim  275 Levine, Joseph  485, 492 Libet, Benjamin  345, 347, 449, 466 Liedtke, Ralf  291, 298 Locke, John  87, 331 Loheide, Bernward  267, 298 Lohmann, Petra  13, 127, 132, 206, 216, 316 f. López-Domínguez, Virginia  208, 216 Luhmann, Niklas  481, 484–487, 492 f. Lukjanov, Arkadij V.  161 Luther, Martin  456, 478 Lütterfelds, Wilhelm  483, 492 Mackowsky, Hans  302, 317 Magritte, René  488, 493 Mähl, Hans-Joachim  275, 293, 298 Mahoney, Dennis F.  265, 298 Maimon, Salomon  197 Maine de Biran, Francois-PierreGonthier  13, 319–348, 351, 381

Personenverzeichnis499 Mainzer, Klaus  454 Malaguti, Ilaria  321, 348 Mann, Thomas  351 Marx, Karl  5, 135, 161 McGinns, Colin  14, 481, 493 Medicus, Fritz  14, 431 ff., 436–440, 443 ff. Merleau-Ponty Michel Henry  334, 346 Mesmer, Franz Anton  173–176, 181, 203, 216 Metz, Wilhelm  115, 132, 199, 214, 216 Metzinger, Thomas  448, 479 Meuth, Sven  447, 479 Meyer, Jochen  307 Miodonski, Leon  203, 216 Mittelstraß, Jürgen  472 Mittmann, Jörg Peter  311, 317 Moiso, Francesco  184 f., 195, 197 ff., 202, 217 Moleschott, Jakob  450, 458 Montaigne, Michel de  320 Montebello, Pierre  334, 348 Mounier, Emmanuel  320, 348 Mues, Albert  137 f., 161, 471 Mühlmann, Wilhelm  477 Müller, Volkhart F.  435, 444 Münster, Harald  14, 493 Nagel, Thomas  483, 493 Naka, Yukio  321, 348 Nashs, John  307 Naville, Ernest  321 f., 348 Neher, Erwin  449 Newton, Isaac  87, 151, 338, 344, 434, 455 Nietzsche, Friedrich  61, 74, 125, 477, 490, 493 Nohl, Hermann  342, 348 Novalis (Friedrich von Hardenberg)  12 f., 265 f., 268, 273, 275, 278 f., 287, 290–293, 295, 297 ff.

Oesterreich, Peter Lothar  86, 97, 101 f., 112 f., 127 f., 132, 161 Ott, Anna  121 Ott, Antonius  121 Ovid  483, 493 Pagani, Paolo  340, 348 Palladio, A.  305 f., 309 Pareyson, Luigi  171, 181, 336, 348 Park, Jong-Won  320, 348 Park-Hwang, Su Young  320, 348 Parmenides  455 Passavent, J.-C.  324 Pätzold, Detlev  418, 421, 427 Pauen, Michael  448, 451, 466, 479, 486, 493 Pecina, Björn  336, 348 Pelagius  456 Pelster, Werner  335, 348 Penfield, Wilder Graves  449 Peschken, Goerd  302, 305–308, 317 Pestalozzi, Heinrich  116, 122, 128 Petterlini, Arnaldo  340, 348 Pico della Mirandola  65 Platon  43, 276, 297, 369, 425, 476 Plessner, Helmuth  470 Plethon, Georgios Gemistos  64 Plotin  26, 275 f., 281, 287, 292, 294, 297 f. Poggi, Stefano  174, 181 Poincaré, Henri  435 Pomponazzi, Pietro  64 f. Poser, Hans  19, 26, 29, 42 Pott, H.-G.  236, 250 Prinz, Wolfgang  449, 480 Pritwitz, von  307 Prosper, Hémon  341 Protagoras  476 Proust, Marcel  320 Radrizzani, Yves  329, 348 Rahn, Johann Hartmann  121

500 Personenverzeichnis Rahn, Johanna  116 Ravaisson, Félix  320, 324, 348 Recki, Birgit  407, 411, 418 f., 427 Reinhold, Karl Leonhard  115 f., 131 f., 170, 197, 236, 331, 464 Renouvier, Charles  337, 340 f., 347 Rhete, Johannes  476 Rickert, Heinrich  352, 381 Ricoeur, Paul  334, 349 Riconda, Giuseppe  337, 349 Riemann, Gottfried  302, 305, 308, 316 f. Rizzolatti, Giacomo  449 Rommel, Gabriele  273, 298 Rorty, Richard  488, 493 Rosales, Jacinto Rivera de  5, 10, 43–55, 139, 161 Roth, Gerhard  14, 70, 75, 447 ff., 466, 468, 480 Rousseau, Jean-Jacques  157, 212, 307 Rubens, Peter Paul  413 f. Rutherford, Donald  29, 42 Ryckman, Thomas A.  432, 436, 445 Sandkaulen, Birgit  94 Sartre, Jean-Paul  477 Scharpf, Fritz  61, 75 Scheler, Max  13, 320, 352, 381, 470, 476 f. Schelling, Friedrich Wilhelm Josef  11 f., 52, 55, 78–100, 104, 106 f., 109, 118, 128, 131 ff., 135 ff., 140, 153, 160 ff., 164, 170, 183 f., 196, 202, 217, 230 f., 236, 265, 272 ff., 283, 285–289, 292, 297 f., 303 f., 314 ff., 323 f., 336, 347, 349, 352, 380, 423, 436, 443 f., 470, 488 Schepers, Heinrich  29, 42 Scherbaum, Matthias  14 Schiller, Friedrich  12, 48, 55, 235–250, 303 Schinkel, Karl Friedrich  13, 301–317 Schlegel, Caroline  275 Schlegel, Friedrich  270, 282, 289, 291

Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich  93–96, 132, 137, 162 Schmitz, Heiko  418, 427 Scholz, Erhard  440, 445 Schopenhauer, Arthur  221 ff. Schrader, Wolfgang H.  311, 317 Schubert, G. H.  266, 297 Schulze, G. E.  115 f., 132 Schweidler, Walter  311, 317 Schweling, Johann Eberhard  18, 41 Searle, John Rogers  344 f., 347, 349 Senigaglia, Cristiana  12, 205, 217 Severino, Emanuelle  191, 199 Siemek, Marek  79, 88, 90 f., 95 f., 132 Sieroka, Norman  14, 432 f., 435, 437, 439, 443 ff. Singer, Wolf  14, 70, 75, 447 ff., 451 ff., 462, 466, 469–472, 480 Solger, F. K. W.  315 Soller, Alois K.  199 Sonnemann, Ulrich  477 Sörgel, Herman  307 Sperlich, Martin  305 Sperry, Roger  449 Spinoza, Baruch de  12, 44, 55, 99, 252 ff., 256, 258, 260 f., 264, 275, 287, 336, 456, 478 Spohn, W.  471 Staël, Madame de  324 f., 349 Steffens, Henrik  117 ff., 266, 297 Stegmüller, W.  471 Stein, Klaus  265, 298 Stephani, Heinrich  117 Stolzenberg, Jürgen  311, 442, 445 Strack, Friedrich  293, 298 Stumpf, Carl  223, 231 Sturm, Johann Christoph  33, 42 Taine, Hippolyte Adolphe  324, 349, 412 ff., 417, 457 Thomas von Aquin  455, 478 Thomas-Fogiel, Isabelle  331, 349 Thums, Barbara  291, 298

Personenverzeichnis501 Tieck, Ludwig  120, 284 Tillette, Xavier  336, 340 f., 344, 349 Tommaso, Valentini  13, 328, 349 Traub, Hartmut  11, 79, 81, 86, 93, 97, 101 f., 106 f., 112 f., 125, 127 f., 132, 136, 161 Tyndall, John  486, 493 Uerlings, Herbert  278 f., 295, 299 Ullrich, Sebastian  13, 409, 427 Unger, Fr. G.  305 Valla, Lorenzo  64 Villers, Charles de  322, 349 Vodret, Paolo  12 Vogeley, Kai  448, 480 Vogt, Carl  450, 458 Vogt, Oskar  448 Volder, Burchard de  20, 34 f., 37, 41 Vollmer, Gerhard  452 Voltaire  319 Wackenroder, Wilhelm Heinrich  120, 284

Wahl, Jean  320, 337, 349 Waibel, Violetta L.  94 Walter, Henrik  448, 480 Watzlawick, Paul  483, 493 Werner, Abraham Gottlob  266 Weyl, Hermann  14, 431 ff., 435–446 Whitehead, Alfred North  472 Widmann, Joachim  128, 133 Wilkinson, E.  238, 250 Willm, Joseph  341, 349 Willoughby, L. A.  238, 250 Wingert, Lutz  466, 469, 471 f. Witzleben, Frank  199 Wodarzik, Ulrich F.  137, 162 Wolff, Christian  457 Wölflin, Heinrich  308 Wolzogen, Alfred Freiherr von  301, 303 f. Zadow, Mario Alexander  301, 303 Zahn, Manfred  287, 299 Ziche, Paul  84, 133 Zöller, Günter  327, 334, 349, 491, 493 Zwingli, Huldreich  456

Sachwortverzeichnis Absolutes  48 (Anm. 11), 68, 92, 95 f., 101, 108 f., 111 f., 191 ff., 219 f., 230 (Anm. 41), 259, 260 f., 262, 266, 267, 268–271, 274, 275 (Anm. 19), 276 f., 280, 283, 286, 287, 289 f., 291 (Anm. 36), 292 f., 295 (Anm. 43), 296, 303, 312, 330, 336 f. – Bild des A.  108, 220, 277 – Erscheinung des A.  92, 112, 219 – Wissen des A.  219 Ästhetik  104 f., 106 (Anm. 36), 124 f., 132, 237, 250, 271, 277, 284 f., 290, 304 (Anm. 10), 307 (Anm. 19), 352 (Anm. 7), 380, 408, 467 (Anm. 48), 476 (Anm. 67) – transzendentale Ä.  65 Affektion  206, 223 ff., 229, 384, 391 f., 394 (Anm. 32), 400 Agenstheorie  14, 432, 442 ff. Aggregat  35, 356, 362 f., 372 Aktivität  25, 187, 195, 203 f., 210, 239, 247, 281, 293, 389 (Anm. 17), 391 (Anm. 20), 392, 393 (Anm. 26), 394 (Anm. 32), 398 (Anm. 41), 403 (Anm. 48), 406 (Anm. 55), 421, 440, 442 f. Aktuosität (der Vernunft)  21, 29, 33, 38 Akzidens  145, 152, 168, 177, 185, 269 Allgemeines  32, 38, 203, 207, 254, 256, 258 f., 271 Allgemeinheit  20, 72, 257, 262, 308, 310 Analyse  13, 49, 63, 79, 84, 96, 107, 114 f., 124, 126–129, 168, 174, 176, 178 f., 184, 314, 326, 345, 358 f., 368 f., 383 f., 390, 439, 440 (Anm. 37), 446, 455, 464 (Anm. 44), 466  (Anm. 46)

Anerkennung  70, 94, 111, 171, 203 (Anm. 6), 205 (Anm. 9), 215 ff., 237, 245, 248 f., 255, 257 f., 416, 422, 438, 464 f., 490 Anorganisches  77, 170, 255 ff., 260 Anschauung  11, 51, 54, 80, 87, 112, 126, 140, 145, 148, 152, 176, 179, 186, 191, 196, 198, 224, 229, 243 (Anm. 28), 244 ff., 271 (Anm. 10), 274, 277 f., 281 ff., 285 (Anm. 29), 286, 293, 296, 311, 315, 326, 332, 352 (Anm. 10), 380, 387 (Anm. 13), 432, 439 f., 442 (Anm. 43, 44), 445, 460 (Anm. 42), 467, 482 ff. – intellektuelle A.  11, 54, 80, 140, 196, 198, 293 (Anm. 38), 296, 311, 326, 332, 442 (Anm. 43), 445 Anschauungsform  65, 143, 410, 433, 435, 437 (Anm. 20) Anthropologie  11, 103, 139, 149, 158, 160, 203 (Anm. 6), 216, 320, 326, 334, 470, 475, 476 (Anm. 67), 477 Aposteriori, Aposteriorisches  85, 141 f., 151, 163, 167, 169 f. Apperzeption  178 ff., 286, 384, 385 (Anm. 6), 393, 396 ff., 400 f., 403 (Anm. 48), 405, 406 (Anm. 56) – transzendentale A.  47, 178 f., 422 Apprehension  126 Apriori, Apriorisches, Apriorismus, Apriorität  26, 85, 142 (Anm. 10), 150 f., 170, 202, 435, 465 Architektur  13, 124, 301–317 – A. der menschlichen Vermögen  326 Ascetik  102, 129 (Anm. 58), 130, 158 Assimilation  245 f., 257 Assoziation  383, 392 f. Attention  151, 171, 225, 228

504 Sachwortverzeichnis Ausdehnung  32, 123, 126, 128, 177 (Anm. 71), 223 f., 371, 441 f., 481 Außenwelt  126, 139, 141, 146 ff., 207, 256, 279, 351, 353 ff., 357 ff., 362, 365, 368–372, 376, 378 f., 409 ff., 414, 417, 461 Autonomie  69, 100, 198 f., 328, 448 (Anm. 4), 458 f., 461, 480 Axiom  51 (Anm. 16), 66, 295 (Anm. 43), 434 Bedingtes, Bedingtheit  39 (Anm. 37), 40, 262, 270, 278–282, 377, 453, 468, 469 (Anm. 51) Begierde  209, 243, 253, 255, 257 Begriff  10, 14, 29, 33 f., 47 (Anm. 8), 49–53, 68 f., 101, 103, 110 f., 151, 161, 183, 211, 213, 226, 229, 246, 254, 276, 281, 286, 287 (Anm. 31), 292, 367, 425 (Anm. 100), 460 (Anm. 42) – vollständiger B.  18–30, 34, 36 Besonnenheit  102, 219 ff. Bestimmtes, Bestimmtheit  20, 23 ff., 29, 31 (Anm. 27), 35, 66, 100 f., 141, 146 ff., 189, 207, 211, 215, 228, 272, 278, 326, 327 (Anm. 27), 361, 394 (Anm. 31), 436, 442 f., 455, 458, 464, 488 Bewegung  13, 19 f., 23, 24 (Anm. 16), 27 f., 32–35, 43 f., 46, 50, 51 (Anm. 16), 53, 64, 152–157, 159, 168, 209, 212, 239, 241, 252, 256, 260 f., 280, 332, 356 f., 359–364, 387, 400, 450 (Anm. 8), 480 (Anm. 42) Bewußtsein  12, 18, 20, 38, 44, 46–54, 59, 61, 66 (Anm. 9), 72, 78, 80 f., 101 ff., 108, 110 f., 126, 141 f., 144–148, 149f  (Anm. 16), 151, 156, 166, 171, 174–177, 179 (Anm. 82), 181, 189, 195 f., 201, 203, 211, 214, 219–229, 231, 260, 267, 268–272, 274, 276–281, 283, 285, 289 ff., 293 f., 296 f., 307, 312, 314, 321, 322 f., 326–336, 339 (Anm. 76), 351, 353 ff., 358–368, 370 ff., 375–378, 384 f., 389, 400, 408, 411, 417, 421 f., 436, 440,

453 (Anm. 21), 459, 461–466, 468 f., 472 (Anm. 60), 474 (Anm. 73), 483–487 – B. der Freiheit 61, 68 – betrachtendes B.  285 – mythisches B.  408, 417 – Tatsache(n) des B.  195, 219 f., 221, 224, 323, 330, 339 (Anm. 76), 354, 375, 377, 465 Bild, Bilder  13, 60 ff., 68, 74, 92, 96, 108, 111 f., 118 ff., 125 (Anm. 53), 146, 156, 174–180, 220, 222, 225 f., 269, 271 f., 277, 313, 336 (Anm. 62), 356 ff., 365, 414, 421, 436, 488 f. Bilden, Bildung  140 ff., 144, 152, 154 (Anm. 23), 156, 159 f., 169, 172, 178 f., 209, 213, 277, 222, 227, 280, 326, 338 Chaos  67, 142 Christentum  125 (Anm. 53), 336 Dasein  78, 92, 108 f., 127 (Anm. 55), 138 (Anm. 8), 149 (Anm. 16), 161, 165 (Anm. 9), 169, 181, 191, 194, 223 (Anm. 18), 243, 249, 288, 343, 352, 368, 397, 421, 463, 474, 482 Deduktion  146 f., 167, 168, 172, 220, 221, 270 f., 410 Denken  12 f., 21, 25 ff., 36, 43, 49, 51, 59, 62–66, 79, 82, 90 ff., 94 f., 100, 106, 106 f., 112, 117, 123, 126, 128, 131 f., 137 (Anm. 6), 136, 144, 160, 162, 164, 168 f., 172 ff., 176 f., 179, 206, 214, 219, 222 ff., 228 ff., 237–244, 246, 249, 252, 266 f., 269 f., 272 (Anm. 12), 276 (Anm. 20), 278 (Anm. 21), 282, 288 f., 291, 297 f., 315, 319 f., 322–327, 329, 333–337, 341, 356, 412 (Anm. 30), 424 ff., 443 (Anm. 47), 444, 448, 453 (Anm. 21), 455 f., 458 (Anm. 41), 470, 473 (Anm. 61), 474, 477 (Anm. 67), 480, 489, 491 Determinismus  13, 64, 209, 213 ff., 295 (Anm. 43), 319, 323, 325, 333, 338–341, 342 (Anm. 89), 344, 433,

Sachwortverzeichnis505 434 (Anm. 8), 435 (Anm. 11, 12), 437, 442 (Anm. 46), 444, 447, 449 (Anm. 6), 451 (Anm. 10), 453–458, 462 f., 466, 473, 479 f. Dialektik  46, 81, 183, 185, 195 f., 239, 257 (Anm. 13), 264, 313, 423, 442, 443 (Anm. 47) Dichter, Dichtkunst, Dichtung  118 (Anm. 47), 265 f., 268, 279 f., 284 (Anm. 28), 287 (Anm. 32), 293, 296 Ding an sich  142, 187, 197 f., 376, 459 Diskretheit  436, 439 Dogmatismus  81, 215, 471 (Anm. 57) Einbildungskraft  32, 47 (Anm. 8), 50, 115 (Anm. 41), 132, 144 ff., 148, 167 f., 178 f., 186, 188, 191, 194 ff., 205, 225 f., 229, 243 (Anm. 28), 246 f., 271 f., 277–283, 285 f., 293 f., 296–299, 326, 328, 436 (Anm. 15), 442, 444 Einheit  10, 12 f., 17 f., 20, 24 ff., 34–39, 41, 45 f., 49, 53, 63–67, 71, 96, 114, 117, 126, 137 (Anm. 6), 140, 145 f., 151 (Anm. 19), 152 f., 158 f., 161, 166 f., 195, 202, 219, 227, 238, 240–243, 255 f., 258 ff., 262 f., 267, 269 f., 273, 276, 281, 283, 289 f., 296, 306 f., 309 f., 312 f., 316, 322, 327, 329, 330 (Anm. 36), 335, 349, 355, 386–396, 401, 404 ff., 409 f., 415 f., 420, 423, 436, 450 (Anm. 8), 463, 470 (Anm. 54), 471 (Anm. 56), 485, 488 (Anm. 23), 489, 491 (Anm. 36) Einzelheit, Einzelnes  54, 254, 257, 259, 262, 276, 281, 385 Empfindung  51 (Anm. 16), 122 ff., 143 f., 155 f. (Anm. 25), 167, 191, 208 f., 223, 246, 274, 321, 331, 355 f., 361 ff., 367, 376, 408, 410, 418 (Anm. 66), 472 (Anm. 60) Empirie  67 f., 148, 150, 174, 176, 179, 280, 291 (Anm. 35), 293, 298, 311, 466 f., 471 (Anm. 57) Empirismus  18 (Anm. 2), 20 (Anm. 7), 40 f., 67, 151, 240, 279 f., 292 f., 294 (Anm. 40), 321, 330 f., 471 (Anm. 57)

Endliches, Endlichkeit  25 f., 125 (Anm. 53), 193, 197, 259 f., 270, 277, 280 f., 295 (Anm. 43), 370 (Anm. 110), 383 (Anm. 4), 436, 442 Entelechie  35, 64, 252 Erfahrung  18, 20 (Anm. 7), 43 f., 66, 79, 83 f., 105 f., 108, 126, 129, 137, 142–147, 150 f., 164, 169 f., 193, 212 (Anm. 19), 216, 228, 239, 270 (Anm. 8), 295 (Anm. 43), 311, 321, 324, 339, 358 ff., 364, 383 (Anm. 4), 385, 388, 390 (Anm. 18), 396 f., 399, 400 (Anm. 44), 402 ff., 434 f., 437 f., 440, 470 (Anm. 52) – ästhetische E.  244 ff., 286 Erhabenes  285 Erinnerung  60, 63, 72, 124, 226, 228, 321, 386, 398 Erkenntnis  10, 17, 19, 21 f., 26, 32, 38 ff., 44–47, 49, 67, 72, 80, 103, 105, 111 f., 122 ff., 127 (Anm. 55), 129, 131, 137, 169, 178, 181, 198, 201, 202 (Anm. 3), 205 f., 213, 244 f., 258, 261, 286 (Anm. 30), 321 f., 326 ff., 330, 332 ff., 340, 343 (Anm. 96), 352, 381, 384, 390 (Anm. 18), 407 (Anm. 2), 409, 412, 416 (Anm. 56), 424, 426, 434, 467, 472 (Anm. 58, 60), 482–485 Erkenntnislehre  18, 71, 352 (Anm. 7, 8), 380 f. Erkenntnisobjekt  482 (Anm. 6), 483, 485 Erkenntnissubjekt  37, 482 (Anm. 6) Erkenntnistheorie  198, 444, 476 (Anm. 67), 477 Erscheinung  10, 17, 19 (Anm. 4), 27, 29–32, 34–37, 43, 48, 52 f., 63–67, 69–73, 91 f., 96 f., 108, 111 ff., 117, 130, 140 f., 147, 159, 166, 170 f., 178, 197, 219 f., 237, 243 f., 247, 277, 286 ff., 294 (Anm. 40), 296, 299, 328, 335, 336 (Anm. 62), 341 f., 354, 357, 363, 367, 371, 390 (Anm. 19), 393 (Anm. 26), 399, 402 (Anm. 47), 407, 410, 415, 418, 425, 438, 440, 482

506 Sachwortverzeichnis Erscheinungsform  418, 450 Erscheinungsrealität  423, 425 Erscheinungsweise  35, 390 (Anm. 18) Ethik   129, 132, 138 (Anm. 8), 161, 201, 203 f., 261 (Anm. 20), 352 (Anm. 8), 381, 411 (Anm. 25), 426, 477 Evolution, Evolutionstheorie  60, 111, 156, 210 (Anm. 17), 216, 252, 448 (Anm. 4), 452 (Anm. 16) Existenz  13, 18–26, 28–31, 33 f., 36, 38, 70, 72, 77, 88, 94, 184, 188, 192, 198, 259 f., 262, 271 ff., 304 (Anm. 10), 315, 329, 432 (Anm. 2), 439, 444 f., 473, 475, 477 (Anm. 67), 491 – E. der Freiheit  338 ff., 343 f. – E. Gottes  451 (Anm. 9) Existenzphilosophie  471 (Anm. 57), 477 (Anm. 67) Formtrieb  238, 240, 242 Fortpflanzung  155, 254 f., 257 Freiheit  13 f., 27 (Anm. 23), 44–54, 59, 61, 63 f., 68–75, 77 f., 82, 85, 92, 94 ff., 99–111, 128, 130, 139, 142, 148 f., 155 f., 158 ff., 163, 168, 170, 175, 178 ff., 194, 196, 201–205, 207 ff., 211 (Anm. 18), 212–216, 219, 222, 236 (Anm. 4), 239–250, 263 f., 269–273, 278 f., 283, 285 f., 289 f., 294, 302, 306, 312, 314 f., 319, 322, 325 f., 328, 333, 335–344, 348, 420, 422, 437 f., 440 (Anm. 34), 442 (Anm. 44), 445, 447 ff., 451 (Anm. 10), 453 (Anm.  20), 455, 457 ff., 460 (Anm. 42), 461 f., 464 f., 470 (Anm. 54), 473 ff., 479 f., 490 – ästhetische F.  241–248 – moralische / sittliche F.  49, 52 f., 160, 241, 244 (Anm. 30), 247, 461 (Anm. 42) – praktische F.  207 (Anm. 13), 216 Freiheitsbewußtsein  68, 72, 273 (Anm. 13) Freiheitsgesetz  48, 202 Freiheitsnatur  70

Gattung  252, 254 f., 257–262, 313 Gedächtnis  228, 364 (Anm. 82) Gefühl  52 (Anm. 17), 53, 101 ff., 106, 113 (Anm. 39), 124, 127, 131 f., 144 f., 155 ff., 191, 193 f., 206, 209, 216, 229, 241, 246, 248, 256, 268 (Anm. 7), 293 f., 316, 326 f., 339, 355 ff., 360 f., 363 (Anm. 75), 366 (Anm. 95), 393 (Anm. 26), 399 (Anm. 41), 449 (Anm. 5) Gehirn  43, 45–48, 50, 54, 70 (Anm. 14), 75, 214, 252, 345 (Anm. 102), 447–453, 458 (Anm. 41), 461 ff., 467, 468 (Anm. 50), 469, 473, 479 f. Geist  10–13, 17–20, 23, 26, 32 (Anm. 28), 34 ff., 38, 43–48, 50 ff., 67, 81, 96, 100 (Anm. 31), 103, 105, 110 ff., 117, 120, 123, 127 (Anm. 55), 129 f., 137 (Anm. 6), 159, 162, 164, 184 ff., 188 f., 191, 193 f., 196 ff., 201–205, 207 ff., 211 f., 214 f., 219, 229 f., 237–247, 252 f., 255, 258, 262 ff., 274–277, 279, 281, 283, 284 (Anm. 28), 287 f., 290, 293 f., 296 f., 306, 314, 319–323, 325, 328 ff., 332 (Anm. 43), 333 ff., 338, 344, 379, 383 (Anm. 4), 401, 403 ff., 408, 410, 415 f., 419, 421, 423, 441, 447 (Anm. 2), 448 (Anm. 4), 450, 466 (Anm. 46), 479 ff., 485 ff., 489–493 Geisteswissenschaft  353 (Anm. 11), 355 (Anm. 25), 379, 412 (Anm. 28), 466 (Anm. 46), 470 (Anm. 52), 471, 472 (Anm. 58–60) Geistiges  18, 207, 279, 314, 379, 419 Geometrie  432 (Anm. 2), 434, 436 (Anm. 14), 444 Gesetzmäßigkeit  19, 22, 29, 35, 48, 65, 169, 202, 314, 449, 456 (Anm. 34) Gott  18–23, 25–29, 35, 45 (Anm. 4), 48, 82, 92, 96, 109, 111 f., 113, 141 f., 169 f., 176, 179, 191, 275f , 284 (Anm. 28), 288, 292, 294, 313 ff., 322, 329, 335 f., 340, 343, 248, 451 (Anm.  9), 455 f.

Sachwortverzeichnis507 Handeln, Handlung  12, 21, 27 (Anm. 23), 45, 47–52, 54, 69 ff., 80, 92, 96, 100, 104, 106, 117, 129 (Anm. 58), 140 ff., 146, 148, 150 (Anm. 16), 158 (Anm. 28), 170–173, 186, 188, 191, 196, 198 f., 202, 204 ff., 211, 214 ff., 229, 243, 247, 269, 282, 283 (Anm. 27), 290 f., 296, 311 f., 322, 326, 338, 340, 343, 356 f., 368, 370, 376 (Anm. 122), 383, 396, 404, 406 (Anm. 56), 418, 423, 438, 440, 448 (Anm. 4), 449 (Anm. 5), 453, 454 (Anm. 22), 459 ff. (Anm. 42), 469 (Anm. 51), 474, 477 (Anm. 2), 479 f., 480, 483, 488, 491 Hemmung  84 f., 104, 141, 144–150, 152, 154, 158 ff., 166, 168 ff., 176, 332, 361–366, 367 (Anm. 99), 371 f., 374, 406 (Anm. 55) Ich  12 f., 45 f., 50 f., 54, 60, 66 f., 74, 77 f., 80 f., 84, 86 f., 89, 99, 101 f., 104, 114 f., 117–120, 124 f., 142–146, 148 ff., 159, 164, 167 f., 171, 174, 178, 180, 183–199, 201, 203–208, 210 ff., 214, 221, 224, 226–230, 237 ff., 242, 245 f., 251, 253, 256 ff., 262 f., 267–278, 280 f., 283, 285 (Anm. 29), 287, 289 f., 292 ff., 296, 311 ff., 315, 317, 321–326, 328–331, 333 ff., 368, 373, 375 f., 384 ff., 388 f., 391–394, 396–399, 401 f., 406, 417, 421 f., 436, 439 ff., 442 (Anm. 44), 447 (Anm. 2), 448 f., 452 (Anm. 15, 17), 459, 461, 474, 479, 489, 491 – absolutes I.  87, 142 f., 184 f., 191 ff., 239, 242, 267, 270 (Anm. 8), 271 (Anm. 10), 278, 287, 290, 311 f., 389, 311 (Anm. 26), 317 – transzendentales I.  283, 315, 331, 385, 386 (Anm. 10), 388 Ideal  168, 239, 268 ff., 308, 315, 464 f., 475 Ideales, Ideelles  52, 185, 201, 275 f., 281 ff., 285, 287 (Anm. 31), 295 ff., 384 (Anm. 6)

Idealismus  28 (Anm. 25), 68, 79 f., 88 f., 96, 141 f., 160, 163 f., 188 f., 240, 275 (Anm. 19), 276, 278 (Anm. 21), 279, 290, 293 f., 297 f., 323, 331 (Anm. 38), 336 (Anm. 62), 339 f., 409 (Anm. 18), 427, 471 (Anm. 57) – ästhetischer / poetischer I.  290 (Anm. 33), 296 – deutscher I.  11, 45, 57, 90, 118, 282, 284, 287 (Anm. 31), 299, 302, 329, 347, 352 (Anm. 10), 380, 436 (Anm. 14) – magischer I.  279 – subjektiver I.  329 – transzendentaler I.  80, 196, 228, 231, 273, 457 Idee, Ideen  21 f., 44, 46, 52, 64, 71 f., 77, 104, 109, 172, 175, 185, 236, 238 ff., 244 f., 248, 269, 276 f., 281 f., 285–293, 296, 299, 303, 305, 313, 391 (Anm. 20), 407 (Anm. 1), 425 (Anm. 100), 427, 457 ff., 461, 463, 475 – ästhetische I.  284–287 – I. der Freiheit  71 f., 240, 315, 448 Identität  38, 49, 53, 80, 96, 122, 184, 186, 198, 257, 267–270, 273, 275, 281, 283, 285, 287 f., 292 f., 309, 311 ff., 394 (Anm. 31), 396, 448 (Anm. 4), 461, 463, 480, 486 f., 490 (Anm. 34) Identitätsphilosophie, -theorie  288, 314, 470 (Anm. 54), 487 Immanenz  214, 276, 314, 366, 376, 384 (Anm. 6), 388, 392, 393 (Anm. 26), 399 (Anm. 44) Individualität  24, 30, 62, 195, 228 (Anm. 36), 258, 262, 272, 293, 309 f., 335, 401, 459 (Anm. 42) Individuation  73, 100, 273 (Anm. 13), 402 (Anm. 47) Individuum, Individuen  12, 22 ff., 26 (Anm. 21), 29, 34, 42, 92, 107, 110, 158 (Anm. 29), 164 (Anm. 6), 204, 215, 245, 248, 252, 258, 289, 302 ff.,

508 Sachwortverzeichnis 306–313, 316, 335, 402 (Anm. 47), 423, 436, 453, 459 f. (Anm. 42), 476 (Anm. 67) Induktion  137, 147, 151, 163, 403 Intellektualismus  355, 376 Intelligenz  52 (Anm. 17), 106 f., 160, 164 (Anm. 6), 170, 192, 203, 231, 241 f., 274, 283, 327 (Anm. 26), 349, 376 (Anm. 122), 466 Intensität  145, 168 Intersubjektivität  13, 204, 205 (Anm. 9), 217, 237, 245–249, 328, 383 f., 403 (Anm. 48), 406, 420

Kultur  13 f., 62, 78, 90, 103, 107, 212 f., 215, 385 (Anm. 6), 407, 411 ff., 416, 419, 421, 423–427, 435, 476 (Anm. 67) Kulturgeschichte, Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft  78, 92, 107, 110 f., 407 (Anm. 3), 411 f., 414, 418 (Anm. 67), 424, 426 f., 471 Kunst, Kunstwerk  13, 20, 50, 80, 103, 238, 243 (Anm. 28), 245, 276, 278 f., 282–286, 288 f., 292, 294, 296 f., 301 f., 308 f., 313 f., 408, 411 (Anm.  25), 413 f., 419 f., 425 f.

Kausalität  14, 43, 48, 50, 53, 145, 147 f., 152 f., 179, 185, 195, 205 (Anm. 10), 206, 209, 211, 217, 224 f., 229, 239 f., 247, 387, 404, 431 f., 434–439, 443, 456 f. (Anm. 34), 461, 467, 471 (Anm. 56) Kausalitätskategorie  43, 48, 53, 147, 185, 434 f. Körper  19, 23, 27–36, 42 f., 45 (Anm. 4), 50, 54, 202, 209–212, 216, 224, 229, 237, 248, 306, 366, 386, 388 (Anm. 13), 396 f., 400, 402 (Anm. 47), 404 (Anm. 49), 450 (Anm. 8), 483, 485, 487 f., 490 (Anm. 34), 491 (Anm. 36) Körperwelt  29 (Anm. 25), 30 (Anm. 27), 208, 400 Konstruktivismus  99, 432 (Anm. 3), 445 Kontinuität  12, 64–67, 80, 214, 227, 355, 374, 395, 436, 439 Korrelation  295, 303, 312, 392, 394, 485 (Anm. 16) Kraft, Kräfte  11, 19 f., 25, 27–34, 36, 51, 74, 145, 147 (Anm. 14), 149 (Anm. 15), 153, 159, 168, 173 f., 178, 181, 196, 202, 204–211, 213, 244, 280, 326, 332 f., 342 f., 360, 364–367, 375, 377 f., 414, 417, 436, 441, 450, 458 (Anm. 41), 460, 474 f., 489 Künstler  106 (Anm. 34), 132, 281, 307, 309 f., 314 f., 414

Leben, Lebendiges  12, 44, 51 (Anm. 16), 67 f., 73 f., 81 f., 92, 95 f., 103 f., 109, 113 (Anm. 39), 124, 128, 132, 152, 154 f., 159, 169, 171, 174 ff., 180, 196, 212, 214, 253–264, 270, 288, 291, 302, 305 f., 310, 311 (Anm. 26), 313 ff., 317, 336 (Anm. 62), 353 (Anm. 11), 355 ff., 360, 364, 371 (Anm. 113), 373, 379, 388 ff., 392, 395 (Anm. 33), 398 f., 405 f., 410 f., 415 f., 418–423, 425 (Anm. 100), 437 f., 451 (Anm. 9), 489 – seliges L.  97 (Anm. 29), 102, 113 (Anm. 39), 127 (Anm. 55), 130, 136, 169, 170 (Anm. 34), 222 (Anm. 14), 301, 316, 336, 379, 443 (Anm. 47), 458 Lebewesen  36, 46 f., 64, 92, 157 (Anm. 27), 159, 254, 256, 259, 261, 355 f., 448, 477 (Anm. 67) Leib  11 f., 27 (Anm. 23), 32, 43–46, 48, 50–54, 66, 100 f., 126, 155, 157, 159 (Anm. 29), 179, 184, 203 (Anm. 6), 205 (Anm. 9), 208–212, 214, 216 f., 228 (Anm. 36), 229, 321, 326, 330, 334 f., 347, 383, 387 (Anm. 13), 389 (Anm. 16), 396 f., 399 ff., 405, 440 f., 448 (Anm. 4), 460 (Anm. 42), 479, 481, 483–489, 491 ff. Leib-Seele-Problem  448 (Anm. 4), 479, 481–486, 491 f. Leiden  48 (Anm. 11), 185, 187 ff., 202, 240, 361

Sachwortverzeichnis509 Logik  18 (Anm. 1), 39 (Anm. 36), 40 f., 63, 69, 127, 164 (Anm. 4), 174, 184, 221 (Anm. 9), 253, 352 (Anm. 10), 353 (Anm. 14), 368 (Anm. 102), 370 (Anm. 108), 379 f., 411 f., 414, 432 (Anm. 2), 444, 476 (Anm. 67), 477 (Anm. 68), 488 (Anm. 24), 491 (Anm. 37), 492 – formale L.  167 – transzendentale L.  164 (Anm. 4), 174, 412, 467 (Anm. 48), 470 (Anm. 54) Logos  10, 42, 295 (Anm. 42), 298 Mannigfaltigkeit  63 ff., 168, 227, 238, 248, 309, 355, 387 (Anm. 13), 396, 415 Materie  12, 14, 31–37, 48, 51 ff., 137 f. (Anm. 6), 152, 156, 161, 168, 185, 194, 203 f., 206, 208, 210, 229, 240, 244, 246, 400 (Anm. 44), 432 f., 438–446, 450 (Anm. 8), 471 (Anm. 56) – erste / zweite M.  34 f., 37 Mathematik, Mathematiker  117, 265 (Anm. 2), 212 (Anm. 28), 432, 433 (Anm. 3), 435, 436 (Anm. 14, 16), 437 (Anm. 18), 440, 442, 445 f. Mechanik  158 f., 434, 456 (Anm. 34) Mechanismus  44, 46, 49, 51 (Anm. 16), 53, 69 f., 81 f., 84, 86 ff., 92 ff., 155, 201, 207, 213 ff., 241, 284, 285 (Anm. 29), 287, 437 (Anm. 21), 455, 464 Mensch  13, 48, 55, 59 f., 63, 68 ff., 73, 77 f., 82 ff., 88, 91 f., 99, 101–108, 111, 117, 123, 125 (Anm. 53), 128, 139, 154 (Anm. 23), 155 (Anm. 24), 156–169, 173 f., 193 f., 201, 204, 206 ff., 211–215, 235, 237 f., 240–248, 250 f., 261 f., 264, 273 (Anm. 13), 274, 283, 284 (Anm. 28), 288, 290, 311, 314 f., 324 (Anm. 18), 328, 331 ff., 335 (Anm. 59), 337 f., 340–344, 348, 352 (Anm. 8), 355 (Anm. 22), 363 (Anm. 75), 374, 381, 389 (Anm. 17), 400 ff., 403

(Anm. 44), 404 f., 412, 421, 426, 437, 441 (Anm. 39), 447 (Anm. 2), 448, 450, 451 (Anm. 9, 12), 452, 456 ff., 460, 466–470, 473–480, 483 (Anm. 10), 490 (Anm. 34), 491 ff. Menschheit  77 f., 82, 95, 103, 111, 194, 240, 244 f., 248, 282, 295 (Anm. 41), 298, 313, 401, 403 (Anm. 44), 405, 451, 490 Metaphysik  10, 17 f., 20 (Anm. 7), 26, 37 f., 40, 60, 62 (Anm. 5), 64, 66, 71, 74, 113 (Anm. 40), 131, 250, 275, 314, 329, 333 (Anm. 45), 347, 351 (Anm. 2), 352 (Anm. 8, 10), 368 (Anm. 102), 370 (Anm. 108), 379 ff., 409 (Anm. 17, 18), 426 f., 467 (Anm. 49), 471 (Anm. 57), 476 (Anm. 67), 477 (Anm. 68), 488 (Anm. 24), 490 (Anm. 34), 491 (Anm. 37), 492 Mittelbarkeit  270 f., 277, 292, 387 Möglichkeit  21 ff., 25 (Anm. 20), 26, 45, 48 ff., 52, 72, 108, 135, 142, 155, 157 f., 167 f., 192 ff., 202, 205, 209 ff., 215, 220, 226 ff., 237, 242, 247, 249, 259 f., 307, 327 (Anm. 27), 338, 340, 354, 372 f., 378, 386 (Anm. 11), 387, 393 f., 396, 398, 401, 403 ff., 408, 411, 419 ff., 434, 439, 443, 459 (Anm. 42), 465 Monade, Monaden  10, 17–21, 23–38, 384, 404, 457 Moral, Moralisches  14, 81, 100–103, 129 (Anm. 58), 130, 158, 193, 214, 282, 294, 368 (Anm. 102), 380, 452, 461, 474, 476 (Anm. 67), 477 (Anm. 68) Moralisieren, Moralisierung  294 Moralismus  96 Moralität  96, 103, 334, 338 Moralphilosophie  81 Mythologie, Mythos  82, 90 f., 120, 282 ff., 298, 411 (Anm. 25), 417 (Anm. 65), 419, 421, 425 f. Naturalisierung  10 f., 17, 399, 400 (Anm. 44)

510 Sachwortverzeichnis Naturalismus  11 f., 59, 63, 66 f., 70 f., 73 f., 251 f., 258, 262 ff., 412, 414, 449 (Anm. 6) Naturerkenntnis  10, 143, 146, 150 Naturerscheinung, Naturphänomen  63 f., 83, 273, 286 Naturgesetz, Naturgesetzlichkeit  12, 20, 27, 48, 102, 151, 178, 343 ff., 447, 451 (Anm. 10), 459 ff. Naturlehre  9, 11 f., 14, 77 (Anm. 2), 82–85, 88 ff., 90 f., 97 f., 135–143, 146, 149 f., 154, 156–161, 163–181, 183, 273 (Anm. 13) – transzendentale N.  9, 14, 77 (Anm. 2), 82–85, 88, 90 f., 97, 135–138, 156, 161, 163–181, 230 f., 272 (Anm. 12), 298, 431–445 Naturmythologie  90, 283 f. Naturphilosophie  10 f., 77, 79–98, 109, 112, 118, 120, 131, 135, 140, 160 (Anm. 31), 170 (Anm. 38), 196 ff., 231 (Anm. 43), 265 f., 268 f., 272 ff., 282, 284 ff., 290 ff., 297 f., 443 Naturwissenschaft  10, 17, 38, 43, 45 f., 51, 53 f., 65, 88, 90 f., 94 f., 251 f., 265, 290 (Anm. 34), 412 (Anm. 28), 433, 436 (Anm. 16), 439, 441 (Anm. 38), 445 f., 455, 456 (Anm. 36), 458 (Anm. 41), 466 (Anm. 46), 468, 470 (Anm. 52), 471 ff., 479, 486 Neigung  202, 241 f. Neurowissenschaft  14, 447–454, 458, 461 ff., 466, 468 ff., 470, 472 f., 479 f. Nicht-Ich  12 f., 51 (Anm. 16), 77 f., 81, 84, 89, 99 f., 104, 110, 124, 142–145, 167 f., 183–199, 201, 208, 210 (Anm. 16), 214, 228, 239, 270 ff., 276–279, 312, 351, 367 ff., 376, 389, 391, 459 Nichts  142 f., 184 Notwendigkeit  24, 28 f., 37, 47, 69, 72, 176, 188, 190, 198, 201, 209, 222, 239 f., 243, 249, 283 (Anm. 27), 308, 337–340, 344, 437 (Anm. 20), 454 (Anm. 21), 457, 464, 472 (Anm. 58)

Objekt  13, 19 (Anm. 4), 20, 23, 44–47, 49 ff., 52 (Anm. 17, 20), 53, 65 ff., 71, 80, 90 f., 97, 98, 114, 122, 126, 141, 144–147, 150 (Anm. 16), 160, 170, 176, 185, 188, 190–194, 196 f., 203 ff., 208, 221–224, 226, 229, 230 (Anm. 41), 243–246, 254, 256, 267 (Anm. 5), 270 (Anm. 8), 271 f., 274, 277, 279, 283, 297, 312, 326 ff., 330 (Anm. 36), 334, 358 f., 366, 368, 385, 386 (Anm. 11), 389 (Anm. 17), 393 (Anm. 29), 397, 401 f., 405, 414, 440, 443 (Anm. 47), 463, 482 (Anm. 6), 483, 488 f., 490 (Anm. 34), 491 – intelligibles O.  421, 423 Objektives, Objektivität  45, 48, 50, 53 f., 67, 73, 117, 143, 145, 201, 206, 208, 230 (Anm. 41), 273f , 312, 383, 397 (Anm. 38), 399, 411, 418, 420, 424, 425 (Anm. 100), 426 Ontologie  12, 143, 352, 380, 432 (Anm. 2), 444 Organisation  52, 61, 139, 152 ff., 156, 157 (Anm. 27), 158 (Anm. 28), 159, 168, 203, 209 ff., 214, 448 Organisches  77, 139, 476 (Anm. 67) Organismus  37, 51 (Anm. 16), 152 ff., 159, 169 f., 202, 211, 254 ff., 274, 283, 285 f., 487 Pantheismus  276, 284 (Anm. 28) Passivität  202, 204, 208, 210, 393 (Anm. 26), 406 (Anm. 55), 443 (Anm. 48) Perzeption  20, 24 f., 30 ff., 35, 38 Pflanze  154 ff., 203, 210, 225 Pflicht  47, 85, 96, 106 (Anm. 34), 125 (Anm. 52), 132, 209, 241 f., 249, 474 (Anm. 62, 63) Phänomen  17, 19, 23, 24 (Anm. 16), 26–30, 35, 39 (Anm. 36), 41 f., 61, 65, 104, 107, 110, 164, 201, 213, 215, 220 f., 274, 289, 312, 325, 351, 353 ff., 358, 369 (Anm. 107), 371, 386 (Anm. 10), 387 (Anm. 13), 389, 390 (Anm. 18), 419 f., 432 (Anm. 2), 444, 469 (Anm. 51), 481, 484, 491

Sachwortverzeichnis511 Phänomenalismus  28 (Anm. 25), 353 f., 366, 375 ff. Phänomenalität  30 f., 353 f., 371, 375 f. Phänomenkontinuität  65 f. Phänomenologie  13, 39 (Anm. 36), 41 f., 78 (Anm. 3), 96 f., 108, 132, 207 (Anm. 13), 216, 221, 321 (Anm. 5), 347, 352, 380, 384, 407 (Anm. 2), 412, 416, 426, 432, 485 (Anm. 16), 488 (Anm. 27), 492 – Ph. des Geistes  67, 253 f., 256 (Anm. 11), 257 (Anm. 13), 262, 264 Phänomenwelt  73 Phantasie  225 f., 228, 243 (Anm. 28), 278 (Anm. 21), 280 f., 297 f., 403 (Anm. 48) Philosophie  10, 12, 17 f., 20 (Anm. 7), 38 f., 43–46, 50 ff., 54, 59 f., 62 f., 68, 73, 78, 80 ff., 84 ff., 90 f., 94, 97, 99 f., 102 f., 106, 110, 115, 117–120, 123 f., 127 (Anm. 55), 128 f., 135, 137, 167, 169, 192, 196, 198, 203, 219 ff., 228, 235 ff., 249, 251 ff., 262, 266, 268 f., 272 (Anm. 12), 276 f., 279 (Anm. 22), 281 ff., 286, 288–292, 294 (Anm. 40), 297, 302, 304, 312, 315, 319–325, 329–332, 334, 337, 340 f., 343 f., 353, 384, 407, 409, 425 (Anm. 100), 431, 437, 439, 444, 454, 456 ff., 459, 464, 470 (Anm. 54), 471 (Anm. 57), 472 f., 476 f., 486 f. Physik  11, 14, 64, 81, 137 (Anm. 6), 139, 148, 161 f., 275, 412, 431–445 Physiologie  73 (Anm. 18), 74, 412 Poetik  12, 265 f., 269, 277 ff., 288, 290, 292, 295, 297, 299 Polarität  202 Prinzip  11 f., 41, 52, 74, 79–82, 84, 89 f., 94, 97 ff., 104 ff., 115, 117 ff., 125, 129 (Anm. 58), 132 f., 135 f., 155, 160 f., 163–166, 170, 172 ff., 177–181, 195 f., 198 f., 203, 205, 207, 209, 224, 226 f., 236 ff., 241, 253, 261, 263, 266, 277, 284 f., 289 ff., 295 (Anm. 43), 298, 304 (Anm. 10), 308, 311, 322, 324 f., 327 f., 330

(Anm. 36), 331–334, 338 f., 422, 434 (Anm. 11), 436, 439, 445 f. – P. des Grundes  21, 23 – P. des Widerspruchs  21, 23 – Prinzipienlehre  68 Prozeß, Prozessualität  37, 46, 97, 110, 153, 201, 209, 213, 215, 242, 251–255, 257–260, 263, 280, 287, 290, 295 (Anm. 41), 298, 311, 313, 332, 343 (Anm. 96), 356, 358, 363, 371, 405, 406 (Anm. 56), 408, 418, 420, 422, 447–454 449, 462 f., 469, 482, 484, 486 Psychologie  69, 220, 228, 322 ff., 330, 333 (Anm. 48), 413, 486 Qualität  28, 30 f., 102, 110, 146 ff., 153 f., 168, 174, 187, 211 f., 223, 225, 229, 312, 314, 400 Quantenmechanik, -physik  14, 137 (Anm. 6), 161, 431–435, 438–441, 471 (Anm. 56) Quantität  186 f., 225 Rationalismus  20 (Anm. 7), 40, 87, 333 Raum  11, 14, 32, 34 (Anm. 32), 51, 65 ff., 83, 137, 139, 142 f., 146 f., 149 f., 155, 158, 167 f., 177 (Anm. 71), 179 (Anm. 83), 194, 209, 223, 279, 343, 352 (Anm. 7), 380, 387, 397, 400, 402 (Anm. 47), 431 ff., 435–446, 482 ff., 486 Reales, Reelles  32, 52, 84, 184 f., 192, 201, 275, 278, 281, 283, 285, 290 (Anm. 33), 295 ff., 384 (Anm. 6), 396 Realismus  68, 89, 188 f., 276, 280, 340, 468, 471 (Anm. 57) Realität  19–23, 25 f., 28, 30 f., 35 f., 38 f., 44, 47, 49 f., 52 ff., 71 ff., 97 (Anm. 29), 102, 145, 159, 185–189, 192 ff., 198 f., 203, 222, 230, 237, 240 f., 248, 270 (Anm. 8), 271 (Anm. 11), 272 f., 276 ff., 280, 282, 286 (Anm. 30), 309 f., 312, 316, 325, 328, 330 (Anm. 36), 342, 351 ff., 354

512 Sachwortverzeichnis (Anm. 21), 355, 357 ff., 362 (Anm. 71), 365, 367–370, 376, 379 f., 384, 390 (Anm. 18), 391 (Anm. 20), 400, 407–411, 414, 416 ff., 464 (Anm. 44), 469, 489 Rechtslehre, -philosophie  62 (Anm. 5), 74, 81, 130, 136 Reduktion  37, 83, 172, 375, 384, 387 ff., 403 (Anm. 48) – transzendentale R.  384, 387 Reflexion  39, 44 f., 48, 53 f., 94, 110 f., 114, 115 (Anm. 41), 126, 129, 140 f., 156, 166, 174, 196, 208, 214, 216, 221 f., 226, 227 (Anm. 28), 230, 242, 266 ff., 274, 278 ff., 280, 286, 304, 317, 322, 326 f., 330, 332, 384, 388 (Anm. 16), 409 ff., 416, 419, 424, 441, 443 (Anm. 47), 465 Relation  11, 21–24, 30, 34–37, 139, 143, 147, 152, 168, 172, 191, 195 f., 230, 240, 246, 267, 269, 309, 312, 434, 464 f., 482, 489 Relationskategorie  168, 177, 195 Relativitätstheorie  431 ff., 435, 439 f., 442, 444 Religion  102, 282, 322, 337, 421, 425, 449 (Anm. 6), 477 (Anm. 68) Religionslehre, -philosophie  125, 130, 136, 222 (Anm. 14), 321, 335 (Anm. 59), 458, 476 (Anm. 67), 477 Reproduktion  26, 175, 226, 254 f. Romantik, Romantiker  120, 265, 278 (Anm. 21), 293 (Anm. 39), 298, 316, 337 Schema  222, 241, 244, 274 (Anm. 17), 287, 356, 359, 367, 459 – Sch. des Übersinnlichen  244, 287 Schematisierung  143 Schematismus  65 Schönes, Schönheit  105, 238–241, 243, 244 (Anm. 30), 245 ff., 248, 282, 285f Schöpfung  18, 20–23, 26 (Anm. 21), 28 f., 38, 176, 271, 284, 287, 343 f. (Anm. 98), 425 (Anm. 100), 451 (Anm. 9)

Seele  27 (Anm. 23), 33, 43 ff., 123, 127, 174, 203 (Anm. 6), 220, 237, 246 f., 261 (Anm. 20), 397 (Anm. 38), 402 (Anm. 47), 414, 425 (Anm. 100), 450 (Anm. 8), 483, 485, 487 f., 491 Seiendes  17, 20 f., 27, 30, 43, 156, 191, 237, 251, 288, 292, 329, 377, 383 ff., 387–391, 393 f., 396, 398 (Anm. 41), 399, 401, 404, 425 (Anm. 100) Sein  17 ff., 21, 26 f., 30, 35 f., 51, 67 f., 70, 96, 99, 106, 132, 140 ff., 149 (Anm. 15), 164, 166, 169 ff., 175 f., 180, 199, 211, 219, 224 ff., 251, 256, 260, 262, 268–271, 278, 290, 292, 296, 313 f., 317, 328 ff., 333 (Anm. 45), 348, 380, 383 ff., 388 (Anm. 15), 391, 398 (Anm. 41), 400 ff., 404 f., 425 (Anm. 100), 436, 437 (Anm. 19), 461 (Anm. 42), 481, 488 f. – absolutes S.  108 f., 175, 198 Seinsordnung  276 Seinsweise  22 f., 25, 28, 31, 33, 238 Selbständigkeit  36, 59, 69, 198, 247, 310, 342, 366 Selbstbestimmung  61, 70, 100 ff., 104, 140, 166, 174, 178, 203 f., 211, 214, 327 (Anm. 27), 349, 426 Selbstbewußtsein  12, 18, 48, 59 f., 71, 79 f., 101, 113 ff., 117 ff., 123, 173 f., 199, 203, 225 f., 253, 255–258, 262 ff., 267, 269, 272 ff., 283, 287, 289, 302 ff., 310–313, 316, 371, 483 (Anm. 10), 492 Selbsterhaltung  12, 66, 207, 211, 252–263, 383 (Anm. 4) Selbstorganisation  211 Selbsttätigkeit  19, 31, 104 f., 226, 277, 296, 370 Sensibilität  223 Sensualismus  319, 321 Sinnenwelt  48, 54, 96, 100 f., 202, 204, 208 ff., 228 (Anm. 36), 279, 286 (Anm. 30), 302, 310, 312, 326, 343, 471 (Anm. 56), 474 (Anm. 63), 490 f.

Sachwortverzeichnis513 Sinnlichkeit  20, 30, 98, 109, 117, 146, 175, 242 f., 245 f., 310, 312, 326, 474 (Anm. 63), 482 Sittengesetz  160, 179, 459, 461, 475 Sittlichkeit  179, 286, 459, 461 (Anm. 42), 474 (Anm. 62) Sollen  113, 128, 211, 289, 475, 490 Spontaneität  25, 66, 105 f., 147, 188, 192, 203, 226, 271, 289, 293, 312, 438, 483 Sprache  13, 49 f., 62, 100 (Anm. 31), 284 (Anm. 28), 286 f., 328, 408, 411 (Anm. 25), 417, 419, 421, 425 f., 483, 485, 487 Stofftrieb  240, 242 Streben  24, 77, 101, 104 f., 125, 145, 152 ff., 158, 160, 168, 191, 193, 202, 239, 241, 269, 290, 326 f., 332, 356, 360, 366–375, 377, 392 (Anm. 25), 399 (Anm. 41), 405 f. Subjekt  11, 13, 17–22, 24, 26 f., 38 f., 41, 46–50, 53, 59, 61, 63, 66 f., 70, 80 f., 88 f., 94, 97, 100, 105, 114, 117, 122, 126, 144, 147, 174, 185, 190 f., 193–197, 204, 206, 222, 230, 237, 243, 245 f., 254, 256, 258 f., 267 (Anm. 5), 269 ff., 276, 279, 283 (Anm. 27), 287, 293, 297, 312, 316, 332, 385 (Anm. 6), 387, 389 (Anm. 17), 399, 401, 404, 414, 418 (Anm. 66), 420 f., 423 ff., 443 (Anm. 47), 466 (Anm. 46), 482 (Anm. 6), 483, 485, 488 f., 492 Subjektives, Subjektivität  10, 39 (Anm. 37), 40 f., 45 ff., 49–54, 59, 61, 63, 66 ff., 70, 89, 91, 100, 113 (Anm. 40), 131, 201 f., 204–209, 214, 223, 230, 250, 253, 263, 271, 273 f., 278, 281, 292, 312, 321 f., 326, 384 f., 387 f., 389 (Anm. 17), 390, 404, 405 f. (Anm. 55), 414–417, 419, 421–424, 440, 483 Subjektivismus  98, 278, 329, 330 (Anm. 36) Subjekt-Objekt-Beziehung, SubjektObjekt-Verhältnis  97, 114, 243, 246

Subjekt-Objekt-Identität  80, 122 Substantialität  31, 152, 185, 187, 204 f., 214 f., 424 Substanz, Substanzen  17, 19, 20 (Anm. 7), 23, 26, 28–32, 36, 39 (Anm. 36), 40 f., 48 f., 54, 64 f., 144 f., 152, 168, 177, 185, 208, 215, 251, 253, 258–261, 274, 275 (Anm. 18), 287, 303, 390 (Anm. 18), 400, 416 (Anm. 56), 426, 434, 444 – individuelle S.  17, 23, 26 Substanzmetaphysik, Substanzphilo­ sophie  60, 99 Symbol  13, 120, 125 (Anm. 53), 245, 271 f., 277 f., 282, 286 f., 298 f., 302, 315 ff., 408 f., 418 (Anm. 67), 423, 427, 437 (Anm. 18), 472 (Anm. 58) Synthese, Synthesis  31, 44 (Anm. 3), 47 (Anm. 8), 48–51, 96, 125 f., 144, 166 f., 186, 188 f., 192, 195, 198, 242, 270, 273 f., 277, 280 f., 289, 291 (Anm. 36), 292, 295 f., 313, 328, 388, 392, 394 (Anm. 32), 396, 399, 401, 423, 463 Tätigkeit  28, 40, 46, 67 (Anm. 10), 73, 91, 166 ff., 176 f., 184 f., 187–190, 192 f., 196 f., 201–204, 207, 209, 211 f., 215, 254–257, 269 f., 271 (Anm. 10), 272 f., 276 ff., 283, 285 (Anm. 29), 287, 290 ff., 296, 302, 312, 319, 322 f., 325, 329, 332 ff., 355, 368, 372 f., 375 f., 415, 450 Täuschung  229, 338, 474, 483 (Anm. 14), 489, 493 Tathandlung  122, 185, 187, 203, 267, 311 f., 331 Teilabsolutes  158 (Anm. 28) Teleologie  39 (Anm. 37), 40, 45, 159 f., 202, 252, 405 f. Theologie  38, 336 (Anm. 62), 346, 486 Tier  46, 51, 72, 154–157, 210, 212, 237, 249, 262, 373, 400, 404, 449 (Anm. 6), 487 Totalität  23 f., 26, 30, 35, 38, 48, 53 f., 64, 67, 159 (Anm. 29), 185 ff., 195,

514 Sachwortverzeichnis 241, 246, 269, 282, 289, 406 (Anm. 55), 411, 470 Transzendentalphilosophie  9 ff., 13 f., 59 (Anm. 1), 66 ff., 70 f., 77 (Anm. 1), 88 (Anm. 24), 112 (Anm. 37), 131 f., 135 (Anm. 3), 136–139, 141, 149 (Anm. 15), 156, 159 ff., 163 f., 179, 216 f., 235 f., 238, 240, 244, 249, 274, 301, 321, 325, 327 (Anm. 27), 328–331, 336, 345, 352 (Anm. 6), 381, 431, 433, 436, 443, 447, 454, 467 f., 471 (Anm. 57), 473 ff. Transzendenz  314, 322, 335 f., 392, 393 (Anm. 26), 399 (Anm. 44), 425 (Anm. 100) Trieb  52, 67, 77, 101 ff., 105, 115 (Anm. 41), 124 (Anm. 51), 125, 153 (Anm. 22), 155 f., 158, 172, 191, 194, 206–211, 214, 216, 229, 238, 258, 326, 355 ff., 360, 363 (Anm. 75), 368 f., 371 f., 376 f., 392 (Anm. 25) Unbedingtes, Unbedingtheit  39 (Anm. 37), 40, 48, 125, 192, 269 ff., 278–282, 287, 297, 311, 475 Unbestimmtes, Unbestimmtheit  213, 327 (Anm. 27), 328, 434 Unendliches, Unendlichkeit  68, 184, 193, 197, 223 f., 227, 245, 247, 268 (Anm. 7), 280 f., 288, 297, 403 (Anm. 48), 405, 436, 442, 459 (Anm. 42) Unmittelbares, Unmittelbarkeit  20, 37, 66 f., 74, 127 (Anm. 55), 169, 206, 229, 258, 267 f. Urakt  17 f., 19 (Anm. 4), 20, 22, 26 (Anm. 21) Ursache  21, 43, 46, 48, 50, 64, 69 f., 104, 144 f., 147 f., 152, 157 (Anm. 27), 168, 177, 214, 242, 285 (Anm. 29), 358, 366 f., 425, 438, 448 (Anm. 4), 451 (Anm. 11), 453 (Anm. 21), 460 (Anm. 42), 479 Urteilskraft, Kritik der Urteilskraft  45 ff., 50, 71, 74, 148, 152, 202, 244 (Anm. 31, 32), 247 (Anm. 40), 285 (Anm. 29)

– reflektierende U.  11, 139, 145 f., 151 f., 158, 168, 284 – teleologische U.  45f , 52, 285 (Anm. 29) Veränderung  19 f., 23 ff., 29 f., 32, 34 f., 150 (Anm. 16), 203, 206, 211 f., 214, 224, 390 (Anm. 18), 394 f., 402 (Anm. 47), 403 f., 417, 451 (Anm. 11) Vermittlung  37, 63, 65, 68, 80, 99, 126, 128, 171f , 198, 208, 271, 280, 362, 411 Vermögen  20, 72, 146, 158 (Anm. 28), 171, 174, 178, 204, 220, 223, 227 ff., 237, 243 (Anm. 28), 248, 271 (Anm. 11), 279, 285, 287, 308, 322, 326, 327 (Anm. 27), 332 (Anm. 43), 334 (Anm. 50), 388 (Anm. 13), 393 f., 396 f., 399 ff., 406 (Anm. 55), 474 (Anm. 63) Vernunft  10 ff., 17–27, 35–40, 44, 46 (Anm. 6), 48 f., 51, 61 ff., 66 ff., 71–74, 78, 80, 84, 86 (Anm. 17), 94–111, 118, 126, 130, 132, 139–144, 148 f., 152, 156–160, 163 f., 166–170, 172 f., 177 f., 180, 195, 199, 202, 204 f., 231, 236, 238–244, 246, 248, 257, 261 f., 272 (Anm. 12), 274 ff., 280 ff., 285 f., 288, 298, 302 f., 307, 310, 312–317, 327 (Anm. 27), 335, 343, 376, 409, 418 (Anm. 67), 422, 426 f., 433 f., 436, 444, 457–461, 465, 467, 474 (Anm. 63), 475, 490–493 – ästhetische V.  12, 236, 238–241, 243 f., 246, 248 – praktische V.  94, 106, 110, 163, 202, 239 f., 243 f., 248, 294 (Anm. 40), 343, 474 (Anm. 63) Vernunfteinheit  66 f., 71 ff. Vernunftidee  71, 282, 286 Vernunft-Natur  11, 99, 101–104, 109 f. Vernunftstaat  61 Vernunftwesen  80, 99 f., 158 (Anm. 28), 204, 248, 426, 461, 490 f. Verstand  11, 22 f., 32 f., 35, 47 (Anm. 8), 50, 63, 67 f., 94 f., 110 ff.,

Sachwortverzeichnis515 126, 139, 143 ff., 147 f., 151 (Anm. 18), 152, 158, 166, 237, 239, 244, 246, 280, 284, 287 (Anm. 32), 288, 295 (Anm. 43), 334, 460 (Anm. 42) Verstandeseinheit  65, 71 Verstandeskategorien  143 f., 151, 166, 223, 286, 437 (Anm. 20) Verwirklichung  10, 17, 22 f., 25, 36, 39, 46 f., 50, 42, 54, 78, 92, 100, 104, 106 f., 109, 153, 168, 172 f., 180, 197, 208, 240, 278, 314, 330, 398 (Anm. 41), 445 Vorstellung  11, 32, 63 f., 67, 92, 105, 139, 144, 151 (Anm. 19), 155 (Anm. 25), 178, 186, 189, 195, 197, 222, 252, 254, 256, 260, 270, 271 (Anm. 10), 276, 278 f., 285, 285 (Anm. 30), 327 (Anm. 26, 27), 328, 332 (Anm. 43, 44), 355 ff., 362, 375, 379, 429 (Anm. 79), 432, 435, 442, 444, 456, 482, 488 (Anm. 23), 490 (Anm. 34), 491 (Anm. 36) Wahnsinn  224 f. Wahrheit  10, 18, 20 f., 26, 38 f., 41, 54, 102 f., 117, 123 f., 127, 138 (Anm. 8), 160, 245, 276, 279 f., 282 (Anm. 23), 293, 321, 333, 336 (Anm. 62), 337–340, 405 (Anm. 54), 409 (Anm. 16), 424, 426, 437 (Anm. 19), 445, 452, 457, 463 ff., 477 (Anm. 67), 488 ff. – ästhetische W.  102 – transzendentale W.  160 Wahrnehmung  12, 66, 105, 126, 144, 148, 150, 175, 178, 205 f., 208, 220–230, 255, 305, 321, 330 (Anm. 36), 332, 339, 356, 360, 365 (Anm. 82), 385 (Anm. 6), 386 (Anm. 11), 388, 391, 396, 398 (Anm. 41), 399 f. (Anm. 44), 414, 418 (Anm. 66), 460 (Anm. 42), 482 – innere und äußere W.  221 f. Wechselwirkung  43, 47, 81, 84, 119 f., 124, 126 f., 129, 147 f., 152 ff., 159,

168 f., 177, 186, 195, 203 (Anm. 6), 230, 239 f., 246 f., 263, 326, 432 Welt  10, 13, 18, 19 (Anm. 4), 20–25, 27, 30, 35–39, 44 f., 47–42, 54, 61–65, 67 f., 71 ff., 80 f., 87, 90 f., 96, 100, 109–112, 118, 128, 132, 136 (Anm. 5), 139, 148 f., 152, 154, 159 (Anm. 30), 161, 163, 170 f., 175–178, 183, 191 ff., 195, 201–206, 208, 210, 215, 221 f., 229, 245 f., 272, 275, 277, 281, 283, 286, 288, 294, 296, 298, 311, 314 ff., 322, 335, 338, 353 (Anm. 11), 365, 371, 376 (Anm. 122), 379, 383–386, 387f  (Anm. 11, 13), 389 (Anm. 16, 17), 390 f., 397–406, 411, 417 f., 421 f., 424, 426, 438, 460 (Anm. 42), 466 (Anm. 46), 467, 471, 491 – intelligible W., mundus intelligibilis  71, 164 (Anm. 6), 411, 421 – transzendentale W.  277, 281 Weltkonstitution  171, 387 f., 390, 399, 402 (Anm. 47), 404 f. Weltphänomen  385, 386 (Anm. 10), 387 (Anm. 13), 389 Weltseele  87, 196 Weltzusammenhang  36, 47 Wesen, Wesenheit  10, 18, 21 f., 44, 46 f., 50 ff., 64, 101 f., 126, 128, 130, 132, 139, 148, 156, 188, 193, 201, 203 ff., 207, 210 f., 220 f., 237, 244, 247, 254, 258–262, 269 f., 283, 284 (Anm. 28), 285 (Anm. 299), 290 f., 294, 296, 310, 323, 328, 330, 344, 355, 368 f., 373, 389 (Anm. 17), 404, 413, 418, 424, 459 ff., 491 – vernünftiges W.  204 f., 244 – W. der Freiheit  100, 106 – W. der Natur  10, 104, 165 (Anm. 9) Widerspruch  21, 23, 59, 67 (Anm. 10), 180 (Anm. 83), 186 f., 189, 193 f., 257, 259, 262, 296, 363, 367, 375, 459 Widerständigkeit, Widerstand, Widerstandserfahrung  13, 77 f., 85, 177 (Anm. 71), 229, 351, 353, 358–378

516 Sachwortverzeichnis Wille, Wollen  19 (Anm. 4), 21 f., 26 (Anm. 21), 27, 29, 36, 51, 54, 61, 152, 172 f., 178 ff., 203, 209, 212, 214, 216, 244, 248, 270 (Anm. 8), 321 f., 325–328, 330, 332–335, 342, 343 (Anm. 96), 345, 347, 349, 355 f., 360–364, 366 f., 370–377, 406, 417 ff., 437 (Anm. 20), 438, 440 (Anm. 34, 36), 445, 428 f., 453 (Anm. 18), 456, 466 (Anm. 46), 469 (Anm. 51, 52f), 471 (Anm. 55), 472 (Anm. 60), 474f , 487, 489 Willensfreiheit  64, 70 (Anm. 14), 75, 155, 453 (Anm. 18), 454 (Anm. 22), 457, 479 f. Willkür  51, 61, 281, 290, 292, 296, 459, 461, 465 Wirklichkeit  10, 12, 20 ff., 31 f., 37, 44, 49, 85, 87, 89, 94, 100, 105, 135 (Anm. 3), 141 f., 144, 148, 149 (Anm.15, 16), 159, 161, 163, 165 (Anm. 10), 170–173, 176, 178, 222, 227, 237, 239, 251 ff., 260 f., 277, 281, 289, 325, 326 (Anm. 24), 330 (Anm. 36), 340, 345, 352 (Anm. 7), 354, 355 (Anm. 25), 359, 365, 367, 378, 380, 415, 418 (Anm. 66), 422, 426, 436 ff., 441, 459 (Anm. 42), 468 (Anm. 50), 472 (Anm. 57), 480, 482, 483 (Anm. 14), 464 ff., 488–491, 493 Wirkung  36, 43, 46, 48, 74, 104, 145, 147 f., 152–155, 157 (Anm. 27), 158, 168, 177, 206, 208, 242, 296, 312, 355 (Anm. 22), 360, 365–368, 425, 438, 440 f. Wissen  18 (Anm. 1), 40, 43, 50, 72 f., 80, 84 f., 106 ff., 113 ff., 124, 127 f., 165 f., 170–173, 176, 183, 191, 194, 197, 219–222, 224 ff., 249, 254–257, 259, 267, 281, 289, 303, 311 f., 325 f., 330, 342, 352 ff., 412, 417, 419, 423,

426, 436, 452 (Anm. 17), 467, 471, 473 (Anm. 61), 488 f. – absolutes W.  142, 159, 289 – transzendentales W.  97, 108, 112 Wissenschaft  10, 39 (Anm. 36), 41 f., 46 (Anm. 6), 49, 53, 71 ff., 86, 91, 94, 125 (Anm. 53), 136, 140, 163, 169f , 177, 189 f., 211, 251, 253 (Anm. 5), 276, 279, 289 f., 292 (Anm. 37), 295 (Anm. 41), 298 f., 323, 325, 331, 333 f., 338, 340 f., 352, 407 (Anm. 1), 418 (Anm. 67), 426 f., 432, 434, 436 (Anm. 14), 437 (Anm. 18), 443 (Anm. 47), 444, 447 (Anm. 2), 449 (Anm. 5), 451 f., 454 (Anm. 22), 467 (Anm. 49), 470–473, 480 – W. der Logik  253 f., 258, 475 (Anm. 64), 478 Zeichen  62, 100 (Anm. 31), 268 f., 277, 280, 287, 292, 295 (Anm. 43), 296, 299, 487 Zeit  14, 32, 34 (Anm. 32), 51, 65 f., 138 (Anm. 8), 143, 147 (Anm. 14), 149 f., 161, 226 f., 236 (Anm. 2), 245, 250, 331, 343, 352 (Anm. 10), 380, 387, 390 ff., 395, 397, 399, 404, 411 (Anm. 25), 426, 431 ff., 435 ff., 439–444, 459 f. (Anm. 42), 482 ff., 486 Zeitlichkeit  21, 384 f. (Anm. 6), 388, 391, 399 (Anm. 44), 402, 455 Zweck  44–50, 52, (Anm. 20), 53, 80, 92, 105 f., 111, 152–155, 159, 168 f., 172, 202, 209, 225, 229, 238, 244, 274 (Anm. 16), 281, 284 ff., 289, 306, 308 f., 326, 328, 368, 387 (Anm. 13), 459, 489 f. Zweckmäßigkeit  45 ff., 52 (Anm. 20), 168, 202, 209, 284, 285 (Anm. 29), 286