Die postmortale Gesellschaft (Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften) (German Edition) 353116922X, 9783531169224

„Wir wollen versuchen, sehenden Auges in den Tod einzugehn. “ Marguerite Yourcenar, Erinnerungen des Hadrian Mit dem Tod

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Die postmortale Gesellschaft (Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften) (German Edition)
 353116922X, 9783531169224

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Einleitung
Der Horizont der postmortalen Gesellschaft
Der Tod: ein soziales Totalphänomen
Das Individuum, der Tod und die Gesellschaft
Die Demokratie als Politik der Unsterblichkeit
Die Moderne oder der ins Gegenteil verkehrte Tod
Ein medizinisch privatisierter Tod
Natürlicher Tod, individueller Tod
Tod und Biomacht
Die Todesmaschine
Die Absurdität des Todes
Die Obszönität des Todes
Der demografische Wandel als Grundlage der Postmortalität
Die unmögliche Grenze oder die Unendlichkeit der Gegenwart
Anti-Age
Die Amortalität oder der Mythos von einer Langlebigkeit ohne Ende
Die postmortale Gesellschaft
Die neuen Grenzen des Todes
Der finale Prozess
Der bescheinigte Tod
Von der Reanimation zu einem neuen Begriff vom Tod
Der Hirntod: eine neue Definition der Subjektivität
Der Cyborg oder der programmierte Tod
Die Auferstehungsmedizin
Der Sieg über den Tod durch Auflösung der Gattungsgrenzen
Von den Ursachen zu den Risiken: einer unbestimmten Grenze entgegen
Von der Entropie zum Selbstmord der Zelle. Die biomedizinische Dekonstruktion des Todes
Die Entropie oder das Leben
Das Buch des Lebens
Das unsterbliche Gen
Die Evolution, die Sexualität und der Tod
Die Mystik des Klonens
Die Stammzellen: eine Waffe gegen die Entropie
Die Apoptose oder der für das Leben programmierte Tod
Die Biosteuerung: Auf dem Wege zu einer Biologisierung der Kultur
Der regenerierte Körper. Der Kampf gegen das Altern und die verlängerte Langlebigkeit
Das Alter, ein neues Gesicht des Todes
Das hohe Alter als Bedrohung
Die letzte Krankheit
Ein auf ewig funktionsbereiter Körper
Die Bionomik, ein Narzissmus neuer Prägung
Auf dem Weg zu einer streitbaren Wissenschaft
Der recycelte Körper der Regenerationsmedizin
Das Re-Engineering der Menschmaschine
Vom Ziel der Vervollkommnung zur Unsterblichkeit. Das endlose Leben des Posthumanen
Von der Perfektionierbarkeit zur Überwindung der menschlichen Gattung
Die Hybridisierung Mensch/Maschine: ein Weg zur Postmortalität
Die informationelle Unsterblichkeit
Die unbegrenzte Zukunft der Nanotechnologien
Die tief gefrorene Ewigkeit
Sich fortpflanzen und sterben: der geschlechtslose Körper des Posthumanen
Das Recht auf Unsterblichkeit
Die Rückkehr des Todes. Ende des Lebens – Ende des Sinns
An den Ursprüngen der Kultur: die Vorbereitung auf die große Reise
Den Tod neu denken: intime Riten und private Trauer
Der Sterbende oder der losgelöste Tod
Einem freiwilligen Tod entgegen
Die Euthanasie und der begleitete Suizid: der unter Kontrolle gebrachte Tod
Von der Würde zur Qualität: der biosoziale Tod
Die Illusion der Steuerung oder das unmögliche Band
Ende des Lebens, Lauf der Welt: die Transformation der Lebensalter
Schluss
Literatur

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CÉLINE LAFONTAINE DIE POSTMORTALE GESELLSCHAFT

NEUE BIBLIOTHEK DER SOZIALWISSENSCHAFTEN Die Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften versammelt Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Theoriebildung und zur Gesellschaftsdiagnose sowie paradigmatische empirische Untersuchungen. Die Edition versteht sich als Arbeit an der Nachhaltigkeit sozialwissenschaftlichen Wissens in der Gesellschaft. Ihr Ziel ist es, die sozialwissenschaftlichen Wissensbestände zugleich zu konsolidieren und fortzuentwickeln. Dazu bietet die Neue Bibliothek sowohl etablierten als auch vielversprechenden neuen Perspektiven, Inhalten und Darstellungsformen ein Forum. Jenseits der kurzen Aufmerksamkeitszyklen und Themenmoden präsentiert die Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften Texte von Dauer.

DIE HERAUSGEBER Jörg Rössel ist Professor für Soziologie an der Universität Zürich. Uwe Schimank ist Professor für Soziologie an der Universität Bremen. Georg Vobruba ist Professor für Soziologie an der Universität Leipzig. Redaktion: Frank Engelhardt

CÉLINE LAFONTAINE DIE POSTMORTALE GESELLSCHAFT

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Titel der Originalausgabe: Céline Lafontaine, La Société Postmortelle, Édition du Seuil, 2008 Aus dem Französischen von Annette Foegen

1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16922-4

Inhalt

Danksagung

7

Einleitung

9

Der Horizont der postmortalen Gesellschaft

13

Die neuen Grenzen des Todes

57

Von der Entropie zum Selbstmord der Zelle. Die biomedizinische Dekonstruktion des Todes

79

Der regenerierte Körper. Der Kampf gegen das Altern und die verlängerte Langlebigkeit

101

Vom Ziel der Vervollkommnung zur Unsterblichkeit. Das endlose Leben des Posthumanen

127

Die Rückkehr des Todes. Ende des Lebens – Ende des Sinns

153

Schluss

183

Literatur

187

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Danksagung

Zu großem Dank bin ich meinem Herausgeber Jean-Claude Guillebaud verpflichtet, der mein Projekt mit Nachdruck unterstützt und ermöglicht hat. Auch bei Arnaud Sales bedanke ich mich herzlich; als Dekan des Fachbereichs Soziologie der Universität Montreal hat er mir eine Reduzierung meines Lehrdeputats gewährt, so dass ich mich meinen Forschungsarbeiten widmen konnte. Dem Kanadischen Forschungsrat für Humanwissenschaften zeige ich mich erkenntlich, weil er mir im Rahmen eines Projekts zur Vorstellungswelt der Nanotechnologien die finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt hat, die zur Gestaltung dieses Buchs erforderlich waren. Keinesfalls möchte ich die sorgfältige und unverzichtbare Arbeit meiner Forschungsassistentin Sylvie Martin unerwähnt lassen: Die bibliografischen Recherchen, die Einfügung von Fußnoten, die Synthese der einzelnen Abschnitte, die Überprüfung und Übersetzung – all diese Arbeiten hat sie so professionell und engagiert erledigt, dass sie meiner Dankbarkeit gewiss sein kann. Auch möchte ich die Mitwirkung meiner Forschungsassistentinnen Michèle Robitaille und Daphné Esquivel Sada an meinen Arbeiten zu den Nanotechnologien betonen. Sehr freundschaftlich bin ich Jean Robillard verbunden, der das Manuskript im Gesamtzusammenhang gelesen und kommentiert hat; seine reichen Kenntnisse habe ich sehr zu schätzen gewusst. Meine Zuneigung gilt meinen Eltern, mit deren beständiger Unterstützung ich seit jeher rechnen konnte. Schließlich auch wenden sich meine Gedanken an meinen Mann, Yan Breuleux, der mich, einmal mehr, bei dem Wagnis dieses Buchs begleitet hat und weit darüber hinaus für mich da war. Meiner Tochter Marguerite

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Einleitung „Wir wollen versuchen, sehenden Auges in den Tod einzugehn.“ Marguerite Yourcenar, Erinnerungen des Hadrian

Mit dem Tod ist nicht zu spaßen. Sobald wir uns an seine Ufer wagen, mahnt uns die philosophische Tiefe der Fragen, die er aufwirft, zu größtmöglicher Vorsicht. Den Theologen, Philosophen und Dichtern wollen wir es überlassen, die unendliche Weite der geistigen und existenziellen Räume zu erforschen, die er beansprucht, und uns in den folgenden Seiten darauf beschränken, seine Spiegelbilder im gesellschaftlichen Leben zu betrachten. Über den Tod als solchen werden wir kaum etwas aussagen, außer dass er seit Beginn der Geschichte vom kollektiven Bewusstsein der menschlichen Gesellschaften so erschreckend Besitz ergreift, dass man symbolische Bollwerke aufrichten musste, um Zuflucht vor ihm zu finden. In Ton gemeißelt hat das Gilgamesh-Epos Jahrtausende durchquert, um vom Geschick des Menschen zu zeugen, das ihm aufnötigt, sich seiner Endlichkeit als dem Beweis für humanes Dasein zu stellen: „Als die götter die menschheit erschufen haben sie zugleich den tod für sie bestimmt – und punkt. nichts vermag vergessen zu machen daß sie auch deinen bruder sein schicksal haben erleiden lassen – daran ist nichts zu ändern noch wäre es das jemals gewesen.“1 Fast fünftausend Jahre nach diesem Epos, das Gilgamesh über die Unausweichlichkeit des Todes belehrt, über das Schicksal, das jedem Menschen beschieden ist, hat Martin Heidegger hieraus die volle philosophische Tiefe geschöpft, indem er das menschliche Sein als ein Sein zum Tode definierte.2 Zeitlich in die Perspektive seines Endes eingebunden, findet das individuelle Dasein seinen Sinn einzig in der Anerkennung seiner begrenzten Dauer – so lauten zusammengefasst die Grundlagen der Existenzphilosophie. Wir müssten uns nicht weiter auf dieses Feld wagen, wenn es nicht 1 2

Raoul Schrott (Hrsg.), Gilgamesh.Epos, Frankfurt (Fischer Taschenbuch Verlag) 2006, S. 144. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen (Max Niemeyer) 1963, S. 252 ff. Hinsichtlich einer Analyse des Status des Todes in der Philosophie von Heidegger und allgemeiner in der Geschichte der abendländischen Philosophie siehe Bernard N. Schumacher, Der Tod in der Philosophie der Gegenwart, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), 2004.

9 C. LAFONTAINE, DIE POSTMORTALE GESELLSCHAFT, DOI 10.1007/978-3-531-92063-4_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010

um die historische Aporie ginge, die hier angesiedelt ist. Während der das 20. Jahrhundert prägende philosophische Existenzialismus die Frage der Endlichkeit in den Mittelpunkt rückt, verschwindet diese allmählich aus dem philosophischen, kulturellen und sozialen Horizont, der aus dem Tod schließlich eine versteckte und verleugnete oder zumindest sozial unsinnige Realität werden lässt. Diesem Verschwinden und seinen soziohistorischen Konsequenzen ist dieses Buch gewidmet. Zahlreich sind die Historiker, Soziologen und Anthropologen, welche die Verleugnung des Todes in den modernen westlichen Gesellschaften konstatiert und die Widerstände benannt haben, die einem solchen Vergessen zugrunde liegen. Der erste Teil dieses Buches soll in Form eines Überblicks die Literatur wiedergeben, die sich mit dem Schicksal des Todes im Abendland befasst, um dabei die Verbindungen zwischen dem ihm symbolisch zugewiesenen Status und der Institution des „Gesellschaftsbandes“ (Rousseau) aufzuzeigen – namentlich dort, wo es um die Ausdrucksweisen von Individualität geht. Betrachtet man die Entwicklung des Verhältnisses zum Tod in den modernen Gesellschaften unter soziohistorischen Aspekten, so fallen zwei bedeutsame Grundlinien ins Auge. Die eine unterstreicht die steten Eroberungen der Medizin und der biomedizinischen Wissenschaft, die seit mehr als zwei Jahrhunderten einen bedingungslosen Kampf gegen den Tod führen. Den Tod zurückzudrängen, auf seine Ursachen einzuwirken, seine Grenzen zu verändern, die Gesamtheit seiner Parameter zu kontrollieren, seinen Prozess zu verstehen, um hierdurch das Leben so weit wie irgend möglich zu verlängern oder gar die zeitlichen Grenzen zu überwinden, die der menschlichen Existenz gesetzt sind: Dies sind die Zielsetzungen, die von den wissenschaftlichen und politischen Entscheidungsträgern ohne Unterlass verfolgt werden – bis hin zu dem Punkt, dass die Gesundheit in unseren Gesellschaften zum Hauptanliegen geworden ist. Die zweite Grundlinie, die sich abzeichnet, wenn wir das Verhältnis zum Tod in den modernen Gesellschaften untersuchen, markiert den Prozess der Desymbolisierung, der seit dem Zweiten Weltkrieg darauf zielt, aus dieser primären anthropologischen Gegebenheit ein bedeutungsloses Phänomen werden zu lassen. In die Intimsphäre zurückgedrängt, desozialisiert sich der Tod und zieht eben hierdurch die Zerrüttung des Gesellschaftsbandes nach sich. Die Verweltlichung der Gesellschaft, das Altern der Bevölkerung, der Individualismus und der Leistungskult tragen in jeweils unterschiedlichem Maße zur gesellschaftlichen Verdrängung der Sterblichkeit bei. 10

Das vorliegende Buch beabsichtigt den Entwurf eines soziologischen Bildes der Gegenwart, das von dem zweifachen Prozess der wissenschaftlichen Dekonstruktion und der Desymbolisierung des Todes ausgeht. Vom Stellenwert der Subjektivität bis zum wachsenden Einfluss der biomedizinischen Steuerung, von der demografischen Revolution bis zur Ich-Kultur, vom „Altersschreck“ bis zu den Fortschritten der Technowissenschaften: Die Analyse dieser verschiedenen Bereiche lehnt sich einem wissenschaftlichen Vorgehen an, das der britische Soziologe Nikolas Rose „eine Kartografie der Gegenwart“ nennt.3 Im Grunde geht es darum, Verbindungen zwischen Tendenzen herzustellen, die auf den ersten Blick gegenläufig oder zumindest unabhängig voneinander scheinen, um so ein Gesamtbild der Gegenwart zu erstellen. Zwar mag eine solche Synthese und Zusammenfügung jener Tendenzen ein wenig impressionistisch erscheinen, doch hat dieses Vorgehen den Vorteil, eine diffuse Bewegung sichtbar zu machen, von der die Gesellschaft als ganze durchzogen wird und die sich andernfalls in ihrer vollen Komplexität nicht begreifen ließe. Plausibel ist ein solches Verfahren nur dann, wenn es mit aller Eindeutigkeit seine Richtschnur benennt. Von daher müssen wir präzisieren, dass der Begriff „Postmortalität“ einzig dazu dient, ein neues, in unseren Gesellschaften tendenziell sich durchsetzendes Verhältnis zum Tode zu bezeichnen. Die Verwendung des Präfixes post ist hier sicherlich nicht ohne Bedeutung; vielmehr zielt sie genau darauf ab, den zweifachen Prozess von Dekonstruktion und Desymbolisierung des Todes im Gesamtprozess der Postmoderne anzusiedeln – wobei diese im weitesten Sinne als eine neue Art der gesellschaftlichen Regulierung begriffen wird, die sich von den Direktiven der Informatik und von technowissenschaftlicher Operationalität leiten lässt.4 Spezifischer noch bezieht sich der Begriff der Postmortalität auf den nachdrücklichen Willen, den Tod technisch zu besiegen, „zu leben, ohne zu altern“, das Leben ins Unendliche zu verlängern.5 Von daher tun wir gut daran zu präzisieren, dass es bei der folgenden Analyse nicht um eine Bestandsaufnahme der empirisch vielfältigen Praktiken geht, die in den gegen3 4 5

Nikolas Rose, The Politics of Life Itself. Biomedicine, Power and Subjectivity in the Twenty-First Century, Princeton/New Jersey (Princeton University Press) 2007. Vgl. Michel Freitag, L’Oubli de la société. Pour une théorie critique de la postmodernité, Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2002. Siehe die Sonderausgabe der Zeitschrift Science & Vie unter dem Titel „Vivre sans vieillir“, Nr. 1083, November 2007, S. 55-72.

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wärtigen Gesellschaften mit dem Tod verbunden sind, und noch viel weniger um das subjektive Erleben der Menschen, die hiermit konfrontiert sind. Ebenso lassen wir die Faszination außer Acht, die in der Welt der Medien vom Tod ausgeht, einer Welt, in der die Leichen von jungen amerikanischen und kanadischen Soldaten neben Tausenden und Abertausenden von Kriegsopfern erscheinen, neben Opfern von Hunger, Epidemien und Naturkatastrophen. Gleichermaßen ausgenommen von unserer Analyse sind der virtuelle Tod in den Videospielen wie auch der auf den blutrünstigen Bildschirmen weltweit verbreiteter Kinofilme. Um eine unterirdische Strömung zu verfolgen, von der die zahlreichen Kanäle des gesellschaftlichen Lebens großzügig gespeist werden, müssen wir jene zunächst in einer Übersicht erfassen, um von da aus den Details ihres Verlaufs nachzugehen. In diesem Buch beginnen wir mit einer umfassenden soziohistorischen Synthese der Wandlungen in der Beziehung zum Tod in den modernen Gesellschaften, um danach die Etappen jenes Prozesses von Dekonstruktion und Desymbolisierung zu beschreiben, die das Auftreten der Postmortalität bedingen. Während das zweite Kapitel zeigt, wie sich mit dem Vormarsch biomedizinischen Wissens die Grenzen des Todes verschieben, geht das dritte näher auf den Prozess ein, in dem der Tod wissenschaftlich dekonstruiert wird – auf ein irreversibles Phänomen, das sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entfaltet. In welchem Maße der Tod fortan mit hohem Lebensalter assoziiert ist, zeigt das vierte Kapitel, das zugleich die Widersprüche beleuchtet, die einer alternden Gesellschaft innewohnen, die gleichzeitig das Ziel einer immer weiter reichenden Lebensverlängerung verfolgt. Vor dem Hintergrund der Unlösbarkeit dieser Widersprüche untersucht das fünfte Kapitel die Bestrebungen der Technowissenschaften in ihrer öffentlichen Kampagne für eine Anti-Aging-Wissenschaft, welche die Mechanismen der Alterung außer Kraft setzen und, in letzter Instanz, den Tod abschaffen soll. Unter dem Titel der „Wiederkehr des Todes“ thematisiert das letzte Kapitel die konkreten Problemfelder rund um den Tod innerhalb einer Gesellschaft, die seine Unabwendbarkeit zu leugnen sucht. Es konzentriert sich auf die Person des Sterbenden und streift die schwerwiegenden Fragen der Euthanasie und des begleiteten Suizids, um damit nochmals hervorzuheben, was unter postmortalen Verhältnissen tatsächlich zur Disposition steht. Tragweite und Tiefe der Widersprüche, welche die Postmortalität in ihrem Strom transportiert, werden bei dieser Gelegenheit manifest; dieses Buch kann nur deren Ausmaß aufdecken. 12

Der Horizont der postmortalen Gesellschaft „Wer über den Tod verfügt, verfügt über die Macht.“ Edgar Morin1

Die Menschheit beginnt mit dem Tod. Wenn die Beherrschung von Sprache und Werkzeug einen zentralen Stellenwert im Prozess der Menschwerdung einnimmt, so ist es zweifellos das vorausschauende Bewusstsein vom Tode, das den der menschlichen Kultur eigenen symbolischen Raum eingrenzt. Seinen Einzug in die große Familie der Menschheit bekundete, dies lehrt uns hierzu die Paläontologie, der Neandertaler bereits vor nahezu zehntausend Jahren damit, dass er, wie die vorgefundenen Pollen belegen, den Leichnam von Seinesgleichen mit Blumensträußen bedeckte.2 Den Toten der eigenen Gattung ließ unser enger Verwandter eine besondere Behandlung zukommen, um so seine Empfänglichkeit für Bestattungsrituale zu zeigen, wie sie für die Welt des Menschen kennzeichnend ist. Über die einander folgenden Zeitalter hinweg und jenseits aller Vielfalt in den Grabstätten und Bestattungsriten, welche die Archäologie enthüllt hat, zeichnen sich die Konturen der menschlichen Gattung in der rituellen Bedeutung ab, die dem Tod und dem Übergang in die andere Welt beigemessen wird.3 Von daher zeigt sich, um eine Formulierung Edgar Morins aufzugreifen, „nach allem, was wir wissen, in dem Glauben an ein Eigenleben der Toten eins der primären Phänomene, das dieselbe Bedeutung besitzt wie das Werkzeug.“4 Von den primitiven Mythologien bis zu den großen historischen Religionen, von der Unsterblichkeit der Seele bis zu den Helden, die seit ewiger Zeit einander folgen, von der Wiederauferstehung bis zum Nirwana bilden das Bewusstsein vom Tod und das Verlangen, ihn zu überwinden, geradezu die 1 2 3

4

Edgar Morin, L’Homme et la Mort, Paris (Éd. du Seuil) 2002, S. 276. Vgl. Claude Gudin, Une histoire naturelle de la mort, Lausanne (L’Âge d’homme), 2005, S. 20. Vgl. Jean-Pierre Mohen, „Le propre de l’espèce humaine“, in: Lenoir, Frédéric und JeanPhilippe de Tonnac (Hrsg.), La Mort et l’Immortalité. Encyclopédie des savoirs et des croyances, Paris (Bayard) 2004, S. 320. Edgar Morin, L’Homme et la Mort, op. cit., S. 33.

13 C. LAFONTAINE, DIE POSTMORTALE GESELLSCHAFT, DOI 10.1007/978-3-531-92063-4_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010

Grundlage des Menschseins. Die Geschichte der menschlichen Gesellschaften lässt sich von daher als Gesamtheit von „Strategien“ begreifen, dem Traum von der Unsterblichkeit Leben einzuhauchen. Im Sinne eines primären anthropologischen Prinzips kennzeichnen das Bewusstsein des Todes und die sozialen Antworten, mit denen die zwangsläufig von ihm ausgehende Angst beherrscht werden soll, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Vom Verlauf des Lebens nicht zu trennen setzt der Tod die zeitliche Grenze, bis zu der das individuelle Dasein Gestalt annimmt. In diesem Sinne steht für Georg Simmel „die Kultur des innersten Lebens […] in jedem Zeitalter in enger Wechselwirkung mit der Bedeutung, die es dem Tode zuschreibt.“5 Mit der Unausweichlichkeit seines Endes konfrontiert, findet das Individuum Zuflucht in der ideellen Festung der Unsterblichkeit, die jede Gesellschaft errichtet, um ihr eigenes Überdauern zu gewährleisten. Im Jahre 1915 behauptete Freud unter Verweis auf den Urmenschen, dass „im Grunde […] niemand an seinen eigenen Tod [glaube] oder, was dasselbe ist: im Unbewussten sei jeder von uns von seiner Unsterblichkeit überzeugt.“6 Die psychischen Folgen dieser Verleugnung des Todes wurden von Ernest Becker weitergehend analysiert: Er wies nach, dass die Angst vor dem Tode und seine für das individuelle psychische Überleben notwendige Verleugnung zur Basis eines jeden kulturellen Gebäudes gehören.7 Von daher beruht „jede Gesellschaft auf der Zielsetzung der Unsterblichkeit.“8 Und diese Zielsetzung begründet die symbolische Ordnung, von der aus jede gesellschaftliche Organisation sich entfaltet.

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Georg Simmel, Zur Metaphysik des Todes, Gesamtausgabe Band 12 (Aufsätze und Abhandlungen 1909 -1918, Band I), Frankfurt (Suhrkamp) 2001, S. 81. Sigmund Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod, Studienausgabe Band IX (Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion), Frankfurt (S. Fischer Verlag) 1974, S. 49 Vgl. Ernest Becker, Dynamik des Todes. Die Überwindung der Todesfurcht – Ursprung der Kultur, Olten/Freiburg i. Br. (Walter), 1976. Georges Balandier, „D’une espérance à l’autre. L’émergence de l’homme amortel“, in: Lenoir/Tonnac (Hrsg.), La Mort et l’Immortalité, op. cit., S. 880.

Der Tod: ein soziales Totalphänomen Nicht nur ist das Bewusstsein des Todes ein universelles anthropologisches Prinzip, das gesellschaftlich begründete Verhältnis zur Sterblichkeit bildet auch ein soziales Totalphänomen.9 Im weitesten Sinn markiert das (mythologische, religiöse oder weltliche) Unsterblichkeitssystem die Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Es beschreibt den Sinnhorizont, mit dem das menschliche Dasein kollektiv versehen wird, und gewährleistet die Kontinuität der Gesellschaft über die Generationenfolge hinweg. So lässt sich mit Zygmunt Bauman behaupten, dass die Unsterblichkeit letztlich eine soziales Verhältnis ist.10 Da es aus praktischen Gründen nicht möglich ist, die mannigfaltigen Formen, die in der Menschheitsgeschichte der Unsterblichkeit verliehen wurden, in einem allumfassenden Bild festzuhalten, kann es hier nicht darum gehen, sämtliche potentiell mit ihnen verknüpften soziologischen Dimensionen zu analysieren. Doch sollten wir im Auge behalten, dass das Unsterblichkeitssystem über seine vielfältigen historischen Ausprägungen hinweg für die gesellschaftlichen Verhältnisse konstitutiv ist, und dies namentlich auf dem Wege der religiösen Macht, als Garantie des Übergangs von der Welt der Lebenden zur Welt der Toten. Wenn es zutrifft, dass es „der Mensch als soziales Wesen [ist], der Pyramiden und Grabmäler errichtet, Bestattungsriten erfindet“, so ist es derselbe „Mensch als soziales Wesen“, der auch die politischen und ökonomischen Machtverhältnisse begründet.11 Unsterblichkeit und Macht sind aufs engste miteinander verflochten.12 Entgegen dem volkstümlichen Sprichwort, dass wir „im Tod alle gleich“ sind, zeigen Geschichtswissenschaft und Soziologie nur allzu deutlich, dass die Realität eine völlig andere ist. Ob es um die Verschiedenartigkeit der Grabstätten geht, die in ein und derselben Gesellschaft koexistieren (vom Pantheon bis zu den Gemeinschaftsgräbern), oder darum, wie sich der 9

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Louis-Vincent Thomas, der den Begriff des „sozialen Totalphänomens“ aufgreift, wie Marcel Mauss ihn in seiner berühmten Abhandlung über die Gabe entwickelt hatte, weist nach, wie das gesellschaftlich begründete Verhältnis zum Tod sämtliche Dimensionen des sozialen Lebens erfasst: die ökonomische, religiöse, juristische, familiäre und die subjektive. Siehe zu diesem Thema Anthropologie de la mort, Paris (Payot) 1975, S. 44. Zygmunt Bauman, Tod, Unsterblichkeit und andere Lebensstrategien, Frankfurt (Fischer) 1994, S. 87. Jean Ziegler, Die Lebenden und der Tod, München (Goldmann), 2000, S. 37. Vgl. Louis-Vincent Thomas, Mort et Pouvoir, Paris (Payot) 1978.

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soziale Status in den Bestattungsriten kundtut (vom Staatsbegräbnis bis zu den einfachsten Beerdigungen), oder schließlich um die Unterschiede in den Sterberaten je nach sozialer Klasse: Es steht außer Zweifel, dass der Tod und das Unsterblichkeitssystem an der Reproduktion der hierarchischen Verhältnisse teilhaben, die in jeder Epoche die Gesellschaft strukturieren. Dieses Phänomen wird von dem Soziologen Claude Javeau auf den Begriff gebracht: „Es gibt keine Gleichheit im Tode, weder vor, noch im noch nach dem Sterben.“13 Unter diesem Aspekt ist leicht einzusehen, dass das Verhältnis zum Tod und das Unsterblichkeitssystem Teil der gesellschaftlichen Organisation sowie konstitutiv für die gesellschaftlichen Verhältnisse sind. Von daher ließe sich postulieren, dass ein radikaler Wandel im Unsterblichkeitssystem sein Korrelat in einem Wandel des Gesellschaftstypus findet. Und vor diesem Hintergrund impliziert die Postmortalität, die wir hier näher ins Auge fassen wollen, einen realen Wandel der Gesellschaftsordnung. Bevor wir diesen in groben Zügen umreißen, sollten wir uns jedoch noch für kurze Zeit beim Verhältnis von Sterblichkeit und Individualität aufhalten.

Das Individuum, der Tod und die Gesellschaft Der Tod ist Sache des Individuums, die Gattung als solche ist potentiell unsterblich. Beim Menschen verleiht das vorausschauende Bewusstsein des Todes dieser biologischen Realität ein tragisches Merkmal. Wie Simmel so eindringlich beschrieben hat, ist das Leben nur als Verkörperung des individuellen Daseins gegeben und daher vom Tod nicht zu trennen.14 So verleiht jede Kultur im Laufe ihrer Geschichte der Individualität ihren eigenen, mit dem Unsterblichkeitssystem eng verknüpften Ausdruck. Aus übergreifender anthropologischer Sicht hat Edgar Morin jenes grundlegende Verhältnis beleuchtet, das zwischen den Ausdrucksformen von Individualität und dem jeweiligen Unsterblichkeitssystem besteht.15 In einer animistischen Kultur zum Beispiel, in der Lebende und Tote in einer Logik von Kontinuität und Dialog miteinander verbunden sind, unterscheidet sich die gesellschaftliche Konstruktion von Individualität zwangsläufig von all denen, die aus den 13 14 15

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Claude Javeau, Mourir, Brüssel (Les Éperonniers) 2000, S. 35. Vgl. Georg Simmel, Zur Metaphysik des Todes, op. cit. Vgl. Edgar Morin, L’Homme et la Mort, op. cit.

großen biblischen Religionen mit ihrer klaren Trennung von Diesseits und Jenseits hervorgegangen sind. Erscheint das Individuum im Animismus als integraler Bestandteil eines organischen Ganzen, das eine Gesamtheit verschiedenartiger toter oder lebendiger Wesen in sich vereint (Mensch, Tier, Sache), räumen die Religionen der Bibel, allen voran das Christentum, der Individualität als Wert einen zentralen Platz ein. In der christlichen Tradition ist es das für sich betrachtete Individuum, das den Tod überwinden und in die Unsterblichkeit eintreten kann. Jenseits philosophischer Einzelheiten, auf die wir hier nicht eingehen können, scheint uns erwähnenswert, dass die großen orientalischen Geisteswelten wie der Brahmanismus und der Buddhismus das Verhältnis von Individualität und Sterblichkeit geradezu umgekehrt interpretieren: Da es allein das Individuum ist, das stirbt, muss sich seine subjektive Individualität in einem zeitlosen Kosmos auflösen, um auf diesem Wege Unsterblichkeit erlangen zu können.16 In seiner ausgezeichneten Studie zur Geschichte des Todes im Abendland hat der Historiker Philippe Ariès gezeigt, wie je nach Epoche die Haltung gegenüber dem Tod im Allgemeinen dem „Wandel des Selbstbewußtseins und des Bewußtseins vom Anderen“ entspricht, d.h. dem Status, den man der Individualität kollektiv zuschreibt.17 Die Veränderungen im Unsterblichkeitssystem und in den Einstellungen zum Tod nehmen im Abendland seit dem Ende des Mittelalters genau die Richtung, in der die Individualität eine Bestätigung als Wert findet. In der Tat lässt sich der moderne Individualismus nicht ohne das Unsterblichkeitssystem denken, das der christliche Universalismus eingeführt hatte. So behauptet Baudrillard in Der symbolische Tausch und der Tod, dass „die Unsterblichkeit der Seele während des ganzen Christentums als gleichmachender Mythos [wirkt], als Demokratie im Jenseits gegenüber der weltlichen Ungleichheit vor dem Tode.“18 Zu diesem Thema ist zweifellos Max Weber der überzeugendste Nachweis gelungen: Dass nämlich zwischen der Individualisierung des Bewusstseins im Protestantismus auf der einen und der im modernen Kapitalismus sich entwickelnden Askese von Akkumulation und Produktion auf der anderen Seite Ver-

16 17 18

Vgl. ibid., S. 247 f. Philippe Ariès, Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, München (dtv) 1981, S. 22. Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, Berlin (Matthes und Seitz) 2005, S. 202.

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bindungen bestehen.19 Hierzu analysierte er den nachhaltigen Einfluss des calvinistischen Dogmas der Prädestination, das die Gläubigen in ihrer materiellen Askese bestätigte, die ihrer Angst vor dem Tode durch den irdischen Nachweis ihres Heils in der Ewigkeit begegnen sollte. Damit hat Weber nicht nur das historische Verständnis der Grundlagen des modernen Individualismus ermöglicht, sondern auch aufgezeigt, wie die Formen, in denen Individualität sich ausdrückt, soziologisch geradezu untrennbar mit dem Unsterblichkeitssystem verknüpft sind. Die Postmortalität macht darin keine Ausnahme, ist sie doch aufs engste an die Entfaltung eines neuartigen Individualismus gekoppelt, dessen Konturen es näher zu umreißen gilt.

Die Demokratie als Politik der Unsterblichkeit Wenn der Philosoph Paul Ricœur in seinem Vorwort zur französischen Ausgabe von Arendts Vita activa anmerkt, dass „die Politik […] die höchste Stufe der Gedankenarbeit des Menschen [darstellt], durch die er sich selbst unsterblich macht“, trifft er ins Zentrum der Institution Demokratie.20 In der Tat nämlich ist es kaum ein Zufall, dass die Demokratie in einer Kultur entstanden ist, in der als das entscheidende Merkmal des Menschseins die Sterblichkeit galt, die zugleich dessen ontologische Isolierung innerhalb eines Kosmos ausmachte, der von unsterblichen Wesen und Gottheiten bewohnt war. Indem sie den Menschen als sterblich definierten, haben die alten Griechen auch das universelle Merkmal der Conditio humana festgelegt: Alle Menschen sind sterblich.21 Dieser primäre und für die Demokratie konstitutive Universalismus ist Teil einer Symbolwelt, in der das Individuum aufgefordert ist, die innerhalb der Stadt die eigene Endlichkeit durch Einschreibung eines heroischen Lebenswandels zu überwinden. In der Mythologie des antiken Griechenlands verkörpert die Figur des Helden, wie JeanPierre Vernant betont, die einzige dem Menschen erreichbare Form von Unsterblichkeit: „Die Wurzel der Heldentat ist der Wille, dem Altern und 19 20

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Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Erftstadt (Area) 2005. Paul Ricœur, Vorwort zu Hannah Arendt, Condition de l’homme moderne, Paris (Calmann-Lévy) 1983, S. 28. (Deutsch: Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich (Piper) 2002.) Vgl. Cornelius Castoriadis, Ce qui fait la Grèce, Paris (Éd. du Seuil) 2004.

dem Tod zu entkommen und beide, so ‚unvermeidbar‘ sie auch sein mögen, zu überwinden. Und der Tod lässt sich dadurch überwinden, dass man ihn fürstlich empfängt, anstatt ihn zu erleiden, dass man ihn beständig aufs Spiel setzt in einem Leben, das damit beispielhaften Wert erlangt und von den Menschen als Modell eines ‚unvergänglichen Ruhmes‘ gefeiert werden soll.“22 In ihrer Position zwischen den tierischen Gattungen, deren Unsterblichkeit sich dem Prozess der biologischen Erneuerung verdankt auf der einen, und den unsterblichen Göttern des Olymp auf der anderen Seite können die Bürger Griechenlands durch ihre Heldentaten zur Unsterblichkeit gelangen. Mit ihren Werken, ihren Großtaten und ihren Worten überwinden sie den Tod und gewährleisten damit bei aller Flüchtigkeit des eigenen Daseins den Fortbestand ihrer Stadt. Tief greifend beschreibt Hannah Arendt die politischen und philosophischen Implikationen des von den Griechen entwickelten Unsterblichkeitssystems: „Durch unsterbliche Taten, die, so weit das Menschengeschlecht reicht, unvergängliche Spuren in der Welt zurücklassen, können die Sterblichen eine Unsterblichkeit eigener, eben menschlicher Art erlangen und so erweisen, daß auch sie göttlicher Natur sind.“23 Bei den Griechen ist die Stadt der Ort, an dem das Individuum über seine Taten Unsterblichkeit erlangen kann. Wenn sich die Institution der politischen Gemeinschaft dafür verbürgt, die Erinnerung an den Ruhm der Helden wach zu halten, so ist ihr dies allerdings nur dadurch möglich, dass ihr selber ein Wert beigemessen wird, der über das individuelle Leben hinausreicht. Sofern er bereit ist, das eigene Leben für die Stadt hinzugeben, erhält der Bürger das Versprechen seiner Unsterblichkeit. Weit entfernt, sich auf den historischen Rahmen der griechischen Demokratie zu beschränken, liegt das Hinausreichen der politischen Gemeinschaft über das biologische Leben, wie Cornelius Castoriadis betont, dem Politischen selbst zugrunde: „Jede wirkliche Politik, die sich auf die Institution der Gesellschaft richtet, ist zugleich eine Politik des Sterbens: Sie sagt den Menschen, dass es sich lohnt, für den Erhalt der Polis zu sterben, für Freiheit und Gleichheit.“24 In seiner zutiefst weltlichen Prägung beruht das Unsterblichkeitssystem der 22 23 24

Jean-Pierre Vernant, L’Individu, la Mort, l’Amour. Soi-même et l’autre en Grèce ancienne, Paris (Gallimard) 1996, S. 52. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, op cit., S. 29 f. Cornelius Castoriadis, Sujet et Vérité dans le monde social-historique. Séminaires 19861987, Paris (Éd. du Seuil) 2002, S. 146.

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griechischen Stadt nicht auf dem Glauben an eine Fortsetzung des Lebens im Jenseits, sondern setzt auf eine irdische Unsterblichkeit, die in der kollektiven Erinnerung gründet. Während die Demokratie Athens die Endlichkeit eines jeden individuellen Lebens anerkennt, bildet sich im modernen Abendland hingegen die Überzeugung heraus, dass die christianisierten Individuen mit einer unsterblichen Seele ausgestattet sind. Unter dem Einfluss widersprüchlicher Unsterblichkeitssysteme wird die politische Moderne ein, vorsichtig ausgedrückt, zweideutiges Verhältnis zum Tode begründen.

Die Moderne oder der ins Gegenteil verkehrte Tod Die Geschichte des Todes im Abendland ist die seiner Auflösung. Auch wenn der Tod als solcher offenkundig weit davon entfernt ist zu verschwinden, beobachten wir doch, wie er im öffentlichen Raum zunehmend ausradiert, desymbolisiert wird. Im Gefolge der von Philippe Ariès in der Geschichte des Todes entwickelten These haben sich zahlreiche Historiker und spezialisierte Sozialwissenschaftler zu dieser „Tötung des Todes“ geäußert.25 Zwar können wir hier nicht den gesamten geschichtlichen Verlauf nachzeichnen, in dem der Tod sich zunehmend in der Intimsphäre verschanzt; doch sollten wir die größeren Etappen dieser symbolischen Privatisierung aufzeigen, um das in der Moderne sich herstellende Verhältnis zum Tode zu verstehen. Wenn Ariès die Einstellung zum Tode beschreibt, die vor Anbruch der Moderne im Abendland vorherrscht, spricht er vom „gezähmten Tod“. Während des gesamten Mittelalters und bis hinein ins 18. Jahrhundert nämlich ist der Tod integraler Bestandteil des Alltagslebens und prägt ganz überwiegend den symbolischen und rituellen Bereich des kollektiven Lebens. Hungersnöte, Epidemien, Kriege und Krankheiten: Der Sensenmann gewinnt sein Profil unter den Auspizien eines von außen kommenden, unausweichlichen Schicksals. Doch so tief der Tod sich auch im Alltäglichen verankerte, so wenig war er deshalb auch schon neutralisiert. So führen uns z.B. der im Mittelalter so populäre Totentanz oder auch die Vanitasdarstellungen des 16. und 17. Jahrhunderts die geistige Qual und das Entsetzen vor 25

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Zu dieser Frage siehe insbesondere Philippe Ariès, Geschichte des Todes , Zweites Buch, Der verwilderte Tod, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), 1996; LouisVincent Thomas, Anthropologie de la mort, op. cit.; Michel Vovelle, La Mort et l’Occident. De 1300 à nos jours, Paris (Gallimard), 2000.

Augen, die er auslöste.26 Mit den Archetypen von Hölle, Fegefeuer und Paradies ist die christliche Vorstellungswelt geradezu durchtränkt von jener gleichermaßen Schrecken erregenden wie Trost spendenden Präsenz des Todes. Ohne in das theologische Labyrinth des Christentums eintreten zu wollen, das sich in seiner langen Geschichte gebildet hat, ist uns hier nur daran gelegen zu zeigen, dass die Begriffe der unsterblichen Seele und der Wiederauferstehung von den Toten von der als Wert sich durchsetzenden Individualität nicht zu trennen sind. Das Christentum nämlich stellt, wie Edgar Morin darlegt, die Bedingungen dafür her, dass das moderne Abendland, einmal verweltlicht, den Kampf gegen den Tod aufnimmt. „Das Christentum ist die ultimative Heilsreligion, die letzte, welche die erste sein wird, die mit der größten Schlagkraft, der größten Einfachheit, der größten Allgemeingültigkeit den Aufruf zur individuellen Unsterblichkeit formuliert, den Hass auf den Tod.“27 Am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit hat sich die christliche Ablehnung des Todes vollständig in die Verheißung eines ewigen Lebens verwandelt, das sich in der Figur des wieder auferstandenen Christus verkörpert fand. Weit entfernt von jeglicher Verleugnung ist der Tod für den Gläubigen nun der letzthinnige Augenblick der Wahrheit. Philippe Ariès erinnert an den öffentlichen und hoch organisierten Charakter des Zeremoniells, das den Sterbenden im Moment seines Verscheidens umgibt, wie auch an das große rituelle Aufgebot der Totengedenkfeiern und Bestattungen.28 Freilich kommt es in der Zeit zwischen dem ausklingenden Mittelalter und der Aufklärung zu bezeichnenden Veränderungen im Unsterblichkeitssystem – mit Reformation und Gegenreformation auf theologischer, dann aber auch auf ritueller Ebene. Doch sollten wir begreifen und festhalten, dass der Tod in dieser Epoche einen Spiegel darstellt, durch den sich die moderne Subjektivität offenbart, um schließlich als Bruch zu erscheinen, als

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Zu diesem Thema siehe insbesondere Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters: Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, Stuttgart (Kröner) 2006, und Michel Vovelle, Mourir autrefois. Attitudes collectives devant la mort aux XVI° et XVII° siècles, Paris (Gallimard/Julliard) 2000. Edgar Morin, L’Homme et la Mort, op. cit., S. 226. Vgl. Philippe Ariès, Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, München/Wien (Carl Hanser) 1976, S. 24.

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Trennung von Lebewesen und Dingen, die ihre individuelle Identität geprägt hatten.29 Der Historiker Michel Vovelle beschreibt sehr eindringlich die Bedeutung, die das Verhältnis zum Tode bei der Herausbildung der neuzeitlichen Individualität in der Zeit des Barocks besitzt: „Dadurch eben, dass er die Krönung des gesamten Daseins darstellt, gewinnt der Augenblick des Todes seinen besonderen Wert. Er behauptet sich als der entscheidende Moment, von dem, wie die Testamente es besagen, eine glückliche oder aber unglückliche Ewigkeit abhängt […]. Im weiteren Sinn wird der Tod Anlass eines großen Zeremoniells, das aus ihm einen öffentlichen, exemplarischen Akt innerhalb eines kollektiven Erlebens macht.“30 Es ist die quälende Gewissheit des Todes, über die sich im 17. Jahrhundert Individualität durchsetzt. Mit der eigenen Sterblichkeit tagtäglich konfrontiert, misst der Gläubige der Sorge um seine Seele, sein ewiges Heil einen überragenden Wert bei. Nichts macht den Unterschied zwischen jenem Zeitalter und dem unseren deutlicher als das religiöse Credo: „Denke täglich an den Tod“. Von den zahlreichen Vorschriften, die Michel Vovelle in seinem Werk Mourir autrefois auflistet, nennen wir hier nur die folgenden Beispiele: „1. Denke an den Tod, wenn du schlafen gehst, bereite dich auf ihn vor. 2. Iss bei jeder Mahlzeit ein Stück Brot, um die Würmer zu füttern, die deine Leiche fressen sollen. 3. Erblicke in den Krankheiten die Weggefährten des Todes. 4. Nimm einen Totenschädel zu dir ins Zimmer und überlege, wer er war, was er getan, gesagt und gedacht hat. 5. Bereite dir dein Grab und deinen Schrein, küsse beide an jedem Tag.“31 Zumindest das eine lässt sich festhalten: Von einer Verleugnung des Todes, wie sie für die heutige Zeit bezeichnend ist, sind wir hier noch recht weit entfernt. Die Ablehnung des Todes, wie sie im christlichen Unsterblichkeitssystem vollzogen wird, sollte sich mit der Aufklärung in eine leibhaftige Attacke auf die Sterblichkeit verwandeln. Wurde der Tod bis dahin als Resultat göttlichen Willens betrachtet, der das menschliche Schicksal lenkte, so erscheint er fortan als Einbruch in die vernunftgeleitete Ordnung der Gesell-

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Hier nehmen wir unmittelbar Bezug auf die von Ariès entwickelten Konzepte: „der eigene Tod“ und „der Tod des Anderen“ als historische Etappen des Verhältnisses zum Tod in der Moderne. Michel Vovelle, Mourir autrefois, op. cit., S. 81. Ibid., S. 66-67.

schaft.32 Zwar ist er im Alltagsleben auch weiterhin sehr präsent, seinen schicksalhaften Status aber wird er immer weiter aufgeben, um fortan als natürliches Phänomen zu erscheinen, gegen das es zu kämpfen gilt. „Da er keine Strafe, keine schicksalhafte Gegebenheit ist, sondern ein Naturgesetz, ist es nicht nur legitim, sondern auch vernünftig, sich gegen ihn zu wehren und zu versuchen, seinen Zeitpunkt hinauszuschieben.“33 Indem der Tod die Vernunft, das Fortschrittsideal, den Glauben an die Perfektionierbarkeit des Menschen scheitern lässt, vereitelt er letztlich die vollständige Umsetzung der Ziele, unter denen die Aufklärung angetreten war. Vom radikalen Materialismus und dessen leuchtendstem Beispiel de Sade bis zu Robespierres Kult des Höchsten Wesens steht das 18. Jahrhundert für das Auseinanderbrechen des christlichen Unsterblichkeitssystems zugunsten einer Privatisierung der Glaubensbekenntnisse und einer Verweltlichung des öffentlichen Raums. Zwar können die christlichen Institutionen, was den rituellen Rahmen rund um den Tod betrifft, ihre Vorherrschaft noch bis Ende des 19. Jahrhunderts behaupten; dies ändert aber nichts daran, dass die symbolische Bedeutung des Todes innerhalb der Gesellschaft dahingehend problematisiert wird, dass er sich immer weiter aus dem öffentlichen Raum zurückzieht, um, wie wir sehen werden, schließlich ein strikt privates Phänomen darzustellen. So betont Michel Vovelle zu Recht: „Das Verhältnis zum Tode nimmt immer komplexere Formen an, je mehr wir uns der Gegenwart nähern.“34 Jenseits dieser Komplexität und jenseits aller Verwicklungen, wie sie in der Neuzeit in den Glaubensinhalten und Praktiken eingetreten sind, die sich auf den Tod richten, lassen sich jedoch zwei Grundlinien erkennen. Die erste unterstreicht einen Prozess, in dem der Tod sich nach und nach als natürliches Phänomen darstellt, das es, obschon unvermeidbar, zu bekämpfen gilt. Der aus der Untersuchung von Leichen gewonnene medizinische Wissensschatz wird von da an die Hauptwaffe sein, die in diesem gesellschaftlich erklärten Krieg gegen die Sterblichkeit zum Einsatz kommt. Die zweite Grundlinie, die hier unbedingt ins Auge zu fassen ist, markiert den Prozess der Verweltlichung des öffentlichen Raums, der in der Französischen Revolution kulminiert. Und dieser Prozess wird von Individuen getragen, die von der aus dem Christentum vererbten Verheißung einer indivi32 33 34

Vgl. Philippe Ariès, Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, op. cit., S. 69. Michel Vovelle, La Mort et l’Occident, op. cit., S. 400. Ibid., S. 475.

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duellen Unsterblichkeit erfüllt sind.35 Wenn die moderne Demokratie dann nach dem Vorbild der Antike ein Unsterblichkeitssystem errichtet, das auf dem kollektiven Gedächtnis beruht (Pantheon, Denkmäler für Kriegshelden, Kult des unbekannten Soldaten), so lässt sich gleichwohl nicht übersehen, dass es die Perspektive der individuellen Unsterblichkeit ist, die der Verfassung des modernen Staats zugrunde liegt.36 Der Wille, den Tod zu kontrollieren, ihn zurückzudrängen, prägt jeden Buchstaben des Fortschrittskults und die Idee der Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen selber, wie Condorcets Reflexion im berühmten Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes bezeugt: „Und würde es nach alledem widersinnig sein vorauszusetzen, daß die Vervollkommnung des Menschengeschlechts eines unbegrenzten Fortschritts fähig ist; daß eine Zeit kommen muß, da der Tod nurmehr die Wirkung außergewöhnlicher Umstände oder des immer langsameren Abbaus der Lebenskräfte sein wird; daß die mittlere Zeit von der Geburt bis hin zu diesem Abbau keiner bestimmbaren Grenze unterliegen wird?“37 Der Geist der Aufklärung lässt den Tod zwar nicht verschwinden, dessen Status als ontologischer Sockel aber beginnt zu bröckeln. Gleichwohl wird man bis zum 19. Jahrhundert mit seinem ungestümen Optimismus warten müssen, bis sein symbolischer Niederschlag im öffentlichen Raum eine Verbannung in die Intimsphäre erfährt.

Ein medizinisch privatisierter Tod Die Privatisierung des Todes ist von seiner Medikalisierung nicht zu trennen. Während er bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein öffentliches Phänomen blieb, das im kollektiven Leben symbolisch verankert war, wird er danach allmählich zur Angelegenheit voneinander isolierter, aus dem gesellschaftlichen Leben gewissermaßen herausgerissener Individuen.38 Zunehmend ist es der Arzt, der den Priester am Sterbebett verdrängt und sich 35

Zu dieser Frage siehe die von Marcel Gauchet in Le Désenchantement du monde, Paris (Gallimard) 1985 entwickelte These. 36 Siehe hierzu Zygmunt Bauman, Tod, Unsterblichkeit und andere Lebensstrategien, op. cit. 37 Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, Frankfurt (Suhrkamp) 1976, S. 219 f. 38 Vgl. Philippe Ariès, Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, op. cit.

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als Repräsentant eines „neuen weltlichen Klerus“ etabliert, dessen Mission weniger darin besteht, den Sterbenden zu begleiten, als vielmehr „die fatale Zäsur möglichst weit hinauszuschieben“.39 Als Sinnbild des Kampfes der modernen Wissenschaft gegen den Tod sieht der Arzt sich ab dem 19. Jahrhundert einem zumindest widersprüchlichen Auftrag gegenüber. Während seine primäre Aufgabe darin besteht, „menschliches Leben zu erhalten, zu schützen oder zu verlängern“, muss er künftig bei der Agonie des Sterbenden den Vorsitz übernehmen und, sobald der Vorgang abgeschlossen ist, den Tod bescheinigen.40 Die Angleichung des gesetzlichen an den medizinischen Tod, die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts vollzieht, ist ein bedeutsames Phänomen, auf das wir zurückkommen müssen. Wichtig an dieser Stelle ist die Erfassung der Beziehung, die sich zwischen dem Arzt und dem Sterbenden herstellt und durch die letzterer isoliert wird.41 Ohnmächtig gegenüber dem Todeskampf, trifft der Arzt in der Gestalt des Sterbenden auf die Grenzen seines Wissens. Das Gefühl der Niederlage, das die Agonie vermittelt, und zwar hinsichtlich der Macht der Medizin ebenso wie im Hinblick auf die Omnipotenz des Individuums, sorgt dann dafür, dass aus dem Tod ein Scham erzeugendes Phänomen wird, das es um jeden Preis zu verbergen gilt.42 Einer immer tiefer eingreifenden Medikalisierung unterworfen, wird der Sterbende zum Objekt einer speziellen Aufmerksamkeit, die seine „Einsperrung“ im Spital nach sich zieht, um den Ausdruck von Foucault aufzugreifen. Den Annehmlichkeiten seines Zuhauses und der Unterstützung durch seine Angehörigen entrissen, findet sich das Individuum im Todeskampf vom Rest der Gesellschaft abgeschnitten. Die Historikerin Anne Carol unterstreicht diese Logik der Isolierung, die sich an die Hospitalisierung des Sterbenden knüpft: „Der einsame Tod ist ein nahezu unvermeidliches Risiko beim Tod im Krankenhaus, und zwar definitionsgemäß, was immer die guten Absichten des einen oder anderen seien. Denn der Sterbende wird aus dem Zentrum seines Lebens entfernt, um besser behandelt zu werden.“43 Unter den zahlreichen Studien, die sich mit der Medikalisierung des Todes und dem 39 40 41 42 43

Michel Vovelle, La Mort et l’Occident, op. cit., S. 531 und Anne Carol, Les Médecins et la Mort XIX°-XX° siècle, Paris (Aubier) 2004, S. 83. Vgl. Anne Carol, ibid. Vgl. Jean Ziegler, Die Lebenden und der Tod, op. cit. Philippe Ariès, Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, op. cit. Anne Carol, Les Médecins et la Mort XIX°-XX° siècle, op. cit.

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Status des Sterbenden befassen, gehört die Analyse von Norbert Elias über die Einsamkeit des Sterbenden zu denen, die das Verhältnis zwischen Sterben und Individualität in der Moderne am präzisesten vergegenwärtigen.44 Aus den Verbindungen zwischen der Medikalisierung des Todes und dem neuzeitlichen Prozess der Individualisierung leitet Elias ab, dass sich infolge der Auflösung kollektiver Glaubensinhalte die Unsterblichkeitswünsche privatisieren. Wo das christliche Unsterblichkeitssystem sich verweltlicht, sind die Menschen gehalten, ihrem Leben einen Sinn zu verleihen und, vor allem, ihrem Tod. Nachdrücklich betont Elias die Gefahren der persönlichen Abkapselung. Sie ergeben sich aus der Desymbolisierung des Todes und der aufkeimenden Wunschvorstellung von einer irdischen Unsterblichkeit, die sich den biomedizinischen Errungenschaften verdankt.45 Seiner Argumentation zufolge ist das Gesellschaftsband durch das neuartige Verhältnis zum Tod in dem Maße bedroht, wie es an der Anerkennung der gegenseitigen Abhängigkeit rüttelt, welche die Generationen einander schulden: „Das Verständnis für diese Abhängigkeit aber wird gegenwärtig gerade dadurch ganz besonders erschwert, daß man so sehr zu vermeiden sucht, der Begrenztheit des einzelnen menschlichen Lebens, also auch der des eigenen, und dem kommenden Zerfall der eigenen Person ohne Verdeckung ins Auge zu sehen, und es daher unterläßt, sie bei der Art, wie man sein Leben […] einrichtet, insbesondere auch, wie man sich zu anderen Menschen verhält, in Rechnung zu stellen.“46 Zu sehr damit beschäftigt, dem eigenen Leben einen Sinn zu verleihen, sich das eigene Unsterblichkeitssystem zurechtzuschmieden, gelange das zeitgenössische Individuum schließlich dahin, seine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und seinen Platz in der Verkettung der Generationen zu vergessen, aus denen die Gesellschaft besteht. Hier stoßen wir auf eine der fundamentalen Entwicklungen, um die es bei der Postmortalität geht.

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Vgl. Norbert Elias, Über die Einsamkeit des Sterbenden in unseren Tagen, Frankfurt (Suhrkamp) 1990. Vgl. ibid., S. 54. Ibid.

Natürlicher Tod, individueller Tod Die Isolierung des Sterbenden, die wir im Laufe des 20. Jahrhunderts beobachten, verdankt sich nicht allein der intensiven Medikalisierung des Todes, sondern hat ihre tiefer liegende Entsprechung im Prozess der Zivilisation im Sinne von Elias.47 Die Befriedung der Umgangsformen, die Entwicklung der Hygiene und – nicht zuletzt aufgrund der Entdeckungen von Pasteur – die zunehmende Asepsis in den westlichen Gesellschaften haben nämlich den Anblick eines Körpers im Todeskampf, die direkte Konfrontation mit dem sich im Verfall befindenden Individuum nahezu unerträglich werden lassen. Dies umso mehr, als der Tod fortan als Gewaltakt begriffen wird, durch den der Mensch aus seinem Leben gerissen wird.48 Wie wir gezeigt haben, erscheint der Begriff vom Tod als Bruch erst spät in der Geschichte des christlichen Unsterblichkeitssystems; zuvor und in den meisten anderen Kulturen stellt er einen Abschnitt im kosmischen Zyklus dar, einen Übergang zu einer anderen Lebensform. So paradox es erscheinen mag: Erst die Neudefinition des Todes in Begriffen eines natürlichen Phänomens ermöglicht die Sichtweise, in der er als Einbruch, als Gewaltakt wahrgenommen wird. Weil er sich nicht mehr infolge eines göttlichen Willens, als Wirkung einer unheilvollen Macht oder das Schicksal leitender Kräfte darstellt, kann der Tod, entmystifiziert und desymbolisiert, tatsächlich in sich als Gewaltakt erscheinen. Und wenn dieser sich aus menschlicher Brutalität oder einem Unfall ergibt oder weil infolge von Krankheit oder Degeneration die Lebenskraft zum Erliegen kommt,49 dann hat man ihn zu bekämpfen. Wir beobachten hier also, um mit Zygmunt Bauman zu sprechen, eine wahrhaftige Dekonstruktion des Todes in dem Sinne, dass er seinen ontologischen Status zugunsten einer potentiell ins Unendliche gehenden Vermehrung seiner Ursachen aufgibt. Auf diese Weise verschwindet der Tod als solcher, um sich in die immer weiter vorangetriebene Erforschung seiner unfallassoziierten oder pathologischen Ursachen aufzulösen. Louis-Vincent Thomas bringt dieses Phänomen auf den Begriff, wenn er betont, dass man unter modernen Bedingungen „nicht mehr stirbt. Man stirbt nur an irgendet47 48 49

Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt (Suhrkamp) 1978. Vgl. Norbert Elias, Über die Einsamkeit des Sterbenden in unseren Tagen, op. cit., S. 78f. Vgl. Louis-Vincent Thomas, Anthropologie de la mort, op. cit.

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was“.50 Wollen wir die philosophischen und soziologischen Konsequenzen erfassen, die sich aus dieser Neudefinition des Todes in die Begriffe von Naturgegebenheiten ergeben, müssen wir kurz auf die historischen Ursprünge eingehen. Indem der Tod aus dem symbolischen und religiösen Rahmen heraustritt, der ihn von jeher beherbergt hatte, geht er auf Drängen der Aufklärung vom Status der Schicksalhaftigkeit zu dem eines Naturgesetzes über. Er hört auf, Ergebnis eines göttlichen Willens zu sein, um die Merkmale eines kontrollierbaren demografischen und medizinischen Phänomens anzunehmen.51 Die wissenschaftlichen Kenntnisse verkörpern die Allmacht der Vernunft und bringen das christliche Unsterblichkeitssystem ins Wanken, wenn sie sich mit den biologischen Grundlagen des Sterbens befassen. Diese von der biomedizinischen Wissenschaft veranlasste Umkehr der Perspektive ist in der Definition des Lebens vollständig erfasst, die der Begründer der modernen Anatomie, Xavier Bichat, im Jahr 1800 vornimmt: „Das Leben ist die Gesamtheit der Funktionen, die dem Tod widerstehen“. So einfach und selbstverständlich diese Definition erscheinen mag: Sie kennzeichnet nicht nur die Anfänge der klinisch-anatomischen Medizin, sondern zeugt auch von einem neuartigen, von der modernen Wissenschaft eingeleiteten Verhältnis zum Tode, das Foucault in seiner Geburt der Klinik analysiert hat: „Bichat hat den Begriff des Todes relativiert, hat ihn seiner Absolutheit beraubt, welche ihn zu einem unteilbaren, entscheidenden und unwiderruflichen Faktum gemacht hatte; er hat ihn sich in das Leben verflüchtigen lassen, indem er ihn in partielle und langsam fortschreitende Tode auflöste, die erst nach dem eigentlichen Tod abgeschlossen sind.“52 Aus klinisch-anatomischer Sicht ist der Tod beides gleichzeitig: Er definiert das Leben als Gesamtheit der Funktionen, die ihm entgehen, und verkörpert zugleich das, wogegen die Medizin zwingend vorgehen muss. Der auf diese Weise naturalisierte Tod nimmt das Aussehen der Krankheit an, deren Endpunkt er einfach nur markiert. Er löst sich auf in die unendliche Vielfalt seiner klinischen Manifestationen. Der Analyse von Foucault zufolge ist der Tod in Bichats Definition nicht mehr auf mysteriöse äußere Kräfte zurückzuführen, sondern wird zu einer dem Leben selber innewohnenden 50 51 52

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Ibid., S. 392. Vgl. Michel Vovelle, La Mort et l’Occident, op. cit., S. 400. Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt (Fischer) 1988, S. 158f.

Erscheinung. Mit dieser Verlagerung wandert er ins eigentliche Zentrum des menschlichen Körpers und richtet sich dort ein. Diese Verinnerlichung folgt einer doppelten, für die moderne Welt charakteristischen Logik von Individualisierung und Objektivierung. Diese auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinende Logik wird von Foucault hervorragend auf den Begriff gebracht: „Es ist von entscheidender und bleibender Bedeutung für unsere Kultur, daß ihr erster wissenschaftlicher Diskurs über das Individuum seinen Weg über den Tod nehmen mußte. Um in seinen eigenen Augen zum Gegenstand der Wissenschaft zu werden, um in seiner eigenen Sprache eine diskursive Existenz zu gewinnen, mußte sich der abendländische Mensch seiner eigenen Zerstörung stellen; […] aus der Einfügung des Todes in das medizinische Denken ist eine Medizin geboren worden, die sich als Wissenschaft vom Individuum präsentiert.“53 Die Entwicklung der Obduktion folgt haargenau dieser Logik der Individualisierung des Todes, hat ein jeder Todesfall doch seine eigene Ursache, die es zu verstehen und zu analysieren gilt.54 Und an dem Prozess der Privatisierung und Desymbolisierung des Todes partizipiert diese Dekonstruktion der Sterblichkeit, ihre Zerlegung in eine Vielzahl individueller Faktoren und Ursachen. Niemand mehr „stirbt am Tod“. Unter dem Gesichtspunkt der empirischen Verschiedenartigkeit der klinischen Fälle gibt es praktisch ebenso viele Todesursachen wie sterbende Personen. Dergestalt privatisiert, wird der Tod nicht mehr als der dem menschlichen Dasein eigene ontologische Sockel wahrgenommen, vielmehr wird er zum Gegenstand eines individuellen Kampfes ums Überleben, der sich des biomedizinischen Arsenals bedient. Wenn Zygmunt Bauman darauf hinweist, dass in der modernen Gesellschaft jede neu identifizierte Todesursache ein Risikokalkül und einen Interventionsmodus in Gang setzt, der sie bekämpfen soll (z.B. Infektionskrankheit/Impfung, Krebs/Chemotherapie), so behauptet er zu Recht, dass die Dekonstruktion des Todes die Medikalisierung der Menschen nach sich zieht, indem sie bei ihnen die Hoffnung weckt, sie könnten ihre Existenz in ewige Zeiten verlängern.55 Die Verinnerlichung des Todes als Folge seiner Zerlegung in klinisch-anatomische Begriffe führt historisch zu seiner Priva53 54

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Ibid., S. 207. Zur Frage der Ursachen des natürlichen Tods siehe die Arbeit von Anne FagotLargeault, Les Causes de la mort. Histoire naturelle et facteurs de risques, Paris (Vrin) 1989. Vgl. Zygmunt Bauman, Tod, Unsterblichkeit und andere Lebensstrategien, op. cit., S. 207f.

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tisierung, motiviert aber auch jeden Einzelnen, für seine individuelle Unsterblichkeit zu kämpfen. Denn eins lässt sich festhalten: Indem man ihn in eine Vielzahl pathologischer Ursachen zerpflückt, lässt man am Ende den Tod selber als Krankheit erscheinen.

Tod und Biomacht Wenn der Tod naturalisiert und in Begriffen eines analysierbaren, aufzugliedernden Prozesses erfasst wird, so impliziert dies keineswegs, dass er als unausweichlich hingenommen oder anerkannt wird. Im Gegenteil: „Die Geschichte des natürlichen Todes ist die Geschichte der Medikalisierung des Kampfes gegen den Tod.“56 Indem es die Prinzipien der instrumentellen Rationalität auf die Analyse des Lebendigen überträgt, fügt sich das biologische Konzept des „natürlichen Todes“ in die Denkweise der modernen Naturwissenschaft spielend ein, deren Ehrgeiz doch von jeher darin lag, die Natur zu beherrschen und zu kontrollieren. Bereits die Idee des natürlichen Todes selber setzt, mit anderen Worten, seine Überwindung stillschweigend voraus. Dies zumindest behauptet Baudrillard im Symbolischen Tausch: „Der natürliche Tod bedeutet also keine Akzeptierung des Todes, der zur ‚Ordnung der Dinge‘ gehörte, sondern eine systematische Leugnung des Todes. Der natürliche Tod unterliegt der Rechtsprechung der Wissenschaft und wird von der Wissenschaft tendenziell abgeschafft. Im Klartext bedeutet das: der Tod ist unmenschlich, irrational und sinnlos wie die ungebändigte Natur […]. Es gibt nur einen guten Tod, den besiegten und dem Gesetz unterworfenen: das ist das Ideal des natürlichen Todes.“57 So radikal sie auch erscheinen mag: Baudrillards Analyse verdeutlicht, wie das Konzept des natürlichen Todes an die Logik biomedizinischer Kontrolle gebunden ist, die sich in der Moderne ihren Platz erobert. So wird der Tod – oder genauer: der natürliche Tod – zur hauptsächlichen Zielscheibe der „Biomacht“ im Sinne von Foucault. Wenn, wie wir gesehen haben, der Tod den Grundstein eines jeden kulturellen Gebäudes, einer jeden gesellschaftlichen Ordnung bildet, ist er 56 57

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Ivan Illich, Die Nemesis der Medizin. Die Kritik der Medikalisierung des Lebens, München (C.H. Beck) 1995, S. 126. Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, op. cit., S. 255f.

schon deshalb mit der politischen Macht verknüpft. Wie Foucault es im Willen zum Wissen beschreibt, besteht die Macht des Souveräns vor allem in der legitimen Verfügung über das Recht auf Leben oder Tod. Ob es darum geht, eine Armee aufzubieten, um diese Souveränität zu verteidigen, oder darum, durch die Verhängung der Todesstrafe die Autorität des Rechts zu gewährleisten: Der Tod ist Quelle der politischen Macht. Dieses erstrangige Bindeglied zwischen Sterben und Souveränität wird in der Moderne eine grundsätzliche Umkehr erfahren, insofern nämlich, als das Leben selbst zu einem Gegenstand wird, auf den die Macht sich erstreckt: „Zum ersten Mal in der Geschichte reflektiert sich das Biologische im Politischen. Die Tatsache des Lebens ist nicht mehr der unzugängliche Unterbau, der nur von Zeit zu Zeit, im Zufall und in der Schicksalhaftigkeit des Todes ans Licht kommt. Sie wird zum Teil von der Kontrolle des Wissens und vom Eingriff der Macht erfaßt.“58 Aus dem Geist der Aufklärung und den Bedürfnissen des beginnenden Kapitalismus hervorgegangen, entfaltet sich die Biomacht an zwei Polen: Zunächst ist es der einzelne Körper – als Maschinenkörper –, den sie dressiert, um sich dann auf den Gattungskörper zu zentrieren, d.h. auf menschliche Populationen im Spektrum der Bevölkerungsstatistik (Geburten- und Sterberaten, Lebenserwartung etc.).59 Mit der Etablierung der Biomacht als Herrschaftsweise in den modernen Gesellschaften werden sich Lebenserhaltung und -verlängerung nach und nach in der Definition der Rolle des Staates durchsetzen – bis schließlich zu Beginn des 21. Jahrhunderts Gesundheit und Sicherheit den eigentlichen Schwerpunkt in jedem politischen Kampf darstellen. Aufs engste verknüpft mit den Kampf gegen den Tod, wie er für die Moderne kennzeichnend ist, folgt die Biomacht einer in unseren Gesellschaften sich immer weiter intensivierenden Logik von Sicherheitskontrolle, Gesundheitsvorsorge und therapeutischen Eingriffen. Ob es um die Normen der öffentlichen Hygiene geht, um die Sicherheitsreglementierungen oder die zahlreichen behördlichen Vorschriften in Sachen Nahrungsmittel oder Sport: Der Wille, den „Tod zu töten“, ist zweifellos das Hauptanliegen der Biomacht. Letzten Endes führt das Konzept des „natürlichen Tods“, wie Zygmunt Bauman es analysiert, zur Dekonstruktion der Sterblichkeit in eine Reihe von Ursachen; und aus diesen Ursachen wiederum ergeben sich 58 59

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit, Band I: Der Wille zum Wissen, Frankfurt (Suhrkamp) 1983, S. 170. Vgl. ibid., S. 166.

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ebenso viele Gründe für den Kampf dagegen, womit die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit sich schließlich in ein gewaltiges biomedizinisches Schlachtfeld zu verwandeln anschickt.60 In ihrer Kriegserklärung gegen das Rauchen, gegen den Alkohol am Steuer, die Fehlernährung, das Cholesterin, die UVStrahlen oder die Luftverschmutzung konzentrieren die westlichen Staaten einen wesentlichen Teil ihrer finanziellen Ressourcen darauf, das Leben zu schützen, zu verbessern und zu verlängern. Wenn wir dann noch die Sicherheitsvorschriften aller Art hinzunehmen, können wir ermessen, in welchem Umfang die Logik der Biomacht unsere Gesellschaften prägt. Das Ideal eines späten Todes, mit dem das von den Krankenversicherungssystemen geschützte Leben zu seinem Ende kommt, lag, wie Ivan Illich uns in Erinnerung ruft, im Zentrum der politischen Forderungen in einer sich durchsetzenden Gesellschaft des Massenkonsums.61 Der Tod wird damit allmählich zu einer rechtlichen Angelegenheit. Das Recht auf die wirksamsten medizinischen Behandlungen, das Recht auf künstliche Lebensverlängerung, das Recht auf würdiges Sterben, das Recht auf Euthanasie: Im Hintergrund der gegenwärtig sich multiplizierenden juristisch-politischen Debatten rund um die Neudefinition des Todes treffen wir stets auf das Thema der Biomacht. Auch wenn wir an dieser Stelle noch nicht auf die symbolische Bedeutung des „Rechts auf Sterben“ eingehen, können wir doch festhalten, dass es das genaue Korrelat des „Rechts auf Gesundheit“ bildet, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg in den westlichen Gesellschaften verankert. 1942 im Rahmen des Beveridge-Plans entworfen und von der britischen Regierung überarbeitet, verlangt dieses Recht auf Gesundheit, dass der Staat nicht nur die Aufgabe hat, die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten, sondern künftig auch für die Gesundheit des Einzelnen zuständig ist. Für Foucault begründet diese staatliche Anerkennung des Rechts auf Gesundheit eine neue Ära der Biomacht, die der „Somatokratie“: „Wir leben unter einer Herrschaftsform, für die die Pflege des Körpers, die körperliche Gesundheit, die Beziehung zwischen Krankheit und Gesundheit usw. zu den Zielsetzungen des staatlichen Eingreifens gehört.“62 Das Recht auf Gesundheit, seit 1945 oberstes Thema in den politischen Auseinandersetzungen, konkre60 61 62

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Vgl. Zygmunt Bauman, Tod, Unsterblichkeit und andere Lebensstrategien, op. cit., S. 207f. Vgl. Ivan Illich, Die Nemesis der Medizin, op. cit. Michel Foucault, „Krise der Medizin oder Krise der Antimedizin“, in Dits et Écrits, Schriften in vier Bänden, III, Frankfurt (Suhrkamp) 2003, S. 58.

tisiert sich in den Krankenversicherungssystemen und in den Werbekampagnen zugunsten der öffentlichen Gesundheit. In ständiger Aufwärtsbewegung begriffen, steht die Belastung der öffentlichen Haushalte durch den Gesundheitssektor übrigens im Mittelpunkt der politischen und ökonomischen Sorgen, die in der postmortalen Gesellschaft anfallen. Wenn sich die Biomacht infolge dieses Rechts auf Gesundheit schier ungebremst ausdehnt, so gerät hiermit das biomedizinische Wissen geradezu ins Zentrum der sozialen Regulierungen. Angesichts der Dekonstruktion des Todes hat „die Medizin […] allmählich keinen Bereich mehr […], der ihr äußerlich ist.“63 Mit der biomedizinischen Brille der Pathologie betrachtet, erscheint selbst das Alter als Krankheit.

Die Todesmaschine 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, wurde das Recht auf Gesundheit festgeschrieben. Wie Foucault sehr genau gesehen hat, zeugt dies von seinem hohen Symbolwert.64 Und wenn die Gesundheit zu einer politischen Angelegenheit in eben dem Augenblick wurde, als das Naziregime sich in eine leibhaftige Todesmaschine verwandelte, so bildet diese historische Koinzidenz das Grundraster, vor dem die Konturen der postmortalen Gesellschaft sich abzeichnen. Offenkundig bringt die Postmortalität den Tod als solchen nicht zum Verschwinden; sie impliziert aber, dass er negiert, dass sein symbolischer Status verworfen wird. Historisch bedeutet die geplante, verwaltete und technisierte Zerstörung von Millionen jüdischer Leben in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern die Negierung des Todes in seiner anthropologischen und symbolischen Dimension. Die Nazis haben die Juden nicht getötet, sie haben sie vernichtet. Entmenschlicht und entsubjektiviert, auf die Ebene der bloßen biologischen Existenz herabgezogen, wurden die KZ-Opfer auf doppelte Weise annihiliert: sowohl physisch als auch symbolisch. In Wirklichkeit wurden sie ihres Todes beraubt.65 Aus der menschlichen Gesellschaft herausgedrängt, von jeglicher rituellen Einfügung in die Welt der Lebenden ausgeschlossen, mussten sie dem „nackten Tod“ 63 64 65

Ibid., S. 68. Vgl. ibid., S. 55. Sandra M. Gilbert, Death’s Door. Modern Dying and the Ways We Grieve, New York/London (W.W. Norton & Company) 2006.

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ins Auge sehen, d.h. einem vom Menschen kalt verabreichten Tod, dem kein Gott und kein Schicksal einen Sinn verleihen kann. Dieser kalte und vollkommen sinnleere Tod hat das für den modernen Okzident charakteristische Regime der Biomacht entlarvt. In seinem Werk Homo sacer begreift der Philosoph Giorgio Agamben die Konzentrationslager als Paradigma der westlichen Biomacht. Über Foucaults Analysen hinausgreifend, fragt er nach den Ursprüngen der souveränen Macht im Abendland, nach deren ursprünglichem Verhältnis zu dem, was er das „nackte Leben“ nennt, d.h. dem Leben im Sinne des bloß biologisch Animalischen. Im archaischen römischen Rechtsgebäude war die Figur des Homo sacer als eine Person präsent, die legitim exekutiert, aber keinesfalls geopfert werden durfte. Dieser doppelte Ausschluss, zunächst durch seine Verurteilung, dann durch seine Tötung außerhalb des symbolischen Rahmens eines Opfers, macht aus dem Homo sacer eine Ausnahmefigur: Sein nacktes Leben ist Spielball einer souveränen Macht. Agamben zufolge begegnet man diesem Ausnahmezustand an der Basis souveräner Macht im Abendland: „Souverän ist die Sphäre, in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer zu zelebrieren, und heilig, das heißt tötbar, aber nicht opferbar, ist das Leben, das in diese Sphäre eingeschlossen ist.“ 66 Insofern sie sich auf das nackte Leben erstreckt, ist die souveräne Macht daher zutiefst eine Macht des Todes. In der Neuzeit ändert sich dies dahingehend, dass der Ausnahmezustand des Homo sacer zur Einsatzgröße auch der demokratischen Macht wird, wovon, Agamben zufolge, der juristische Grundsatz der Habeas corpusAkte und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zeugen. Die nationalsozialistischen Vernichtungslager sind die Extremform von „Ausnahme“, auf die sich die souveräne Herrschaft erstreckt. Auf radikale und unmenschliche Weise werfen sie die Frage der Biomacht auf. Bei allem Schrecken und Entsetzen, das sie erregt, fügt sich die von den Nazis geplante Endlösung in einen Rahmen von instrumenteller Rationalität, der die Industriegesellschaft und die administrative Effizienz moderner Bürokratien umrandet.67 Dass die Moderne eine leibhaftige Todesfabrik ermöglichte, verursacht zweifellos eine der größten Ängste unserer Zeit. Das Erbe des Holocaust, das wir am schwierigsten begreifen und überwin66 67

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Giorgio Agamben, Homo sacer: die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt (Suhrkamp) 2002, S. 93 (kursiv im Original). Vgl. Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg (Europäische Verlagsanstalt) 1992.

den können, liegt wohl in der Desymbolisierung des Todes, in seiner Entmenschlichung. Die Millionen aufgehäufter, übereinander geschichteter Leichen erinnern auf grausame Weise an die extreme Zerbrechlichkeit des nackten Lebens, wenn es einer omnipotenten souveränen Macht unterworfen ist. Das erschreckend Inhumane an dieser industriellen Tötungsweise liegt darin, dass sie von Menschen bewerkstelligt wurde, die unter den Wertmaßstäben der Moderne aufgewachsen waren. Die Banalität des Bösen, um den Begriff von Hannah Arendt aufzugreifen, versetzt uns in die Schwierigkeit, im Tod jener Millionen von Opfern des Naziregimes einen Sinn zu erblicken.68 Dies zu begreifen fällt uns angesichts der Mitwirkung von Wissenschaftlern und Ärzten des Naziregimes an den mit menschlichen Versuchskaninchen durchgeführten Experimenten noch schwerer. Diese aktive Teilnahme entlarvt, wie Agamben uns ins Gedächtnis ruft, die Verbindung zwischen der damaligen souveränen und der biomedizinischen Macht. Hätten deutsche Wissenschaftler das jüdische Volk nicht biologisiert und einem Ausnahmezustand unterworfen, wären die Nazibehörden nicht in der Lage gewesen, der totalitären Macht die Grundlagen für die Durchführung der Endlösung zu liefern. Auf den Rang von bloß biologisch Animalischem herabgewürdigt, galten die Opfer der Vernichtungslager von vornherein als Parasiten, als Bedrohung für die arische Lebenskraft. Unter Verweis auf die historische Verbindung zwischen Eugenik und Euthanasie behauptet Agamben, dass die Biopolitik von Beginn an auf dem Verdikt über das „lebensunwerte Leben“ aufbaut. Im direkten Angriff auf das nackte Leben ging das Naziregime mit der biopolitischen Definition des Lebens, das zu leben sich lohnt, bis an die Grenzen menschlichen Seins. Die extreme Gewalt der Kontrolle über das Leben erstreckte sich von Geburten regulierenden eugenischen Programmen wie dem Lebensborn über das der Euthanasie psychisch kranker und alter Menschen bis hin zur Vernichtung ganzer Bevölkerungsteile. Die Verschmelzung der souveränen mit der biomedizinischen Macht in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern bildet das unsägliche Vermächtnis, auf das die Postmortalität sich gründet. Die Frage des „lebensunwerten Lebens“ ist weit davon entfernt, der Vergangenheit anzugehören; vielmehr wird sie angesichts des Geburtenrückgangs und der Überalterung der Bevölkerung zum herausragenden politischen Thema in unseren Gesell68

Vgl. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München (Piper) 2003.

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schaften. Von der Befruchtung bis zum letzten Atemzug steht das nackte Leben des Bürgers im Mittelpunkt der gegenwärtigen Biopolitik. In einer bemerkenswerten Abhandlung unter dem Titel Le Statut du mourant formuliert der Psychoanalytiker Robert William Higgins folgende Hypothese: „Ließe sich die Stellung des Sterbenden, ausgeschlossen und in einen Ausnahmezustand versetzt, nicht als Projektion der Scham deuten, die vom Massensterben des Ersten und Zweiten Weltkriegs, der Schoah, den Konzentrationslagern herrührt, aus jener wissenschaftlich-industriell organisierten Zerstörung des Menschen seit 1914-1918 […]?“69 Ohne diese Frage beantworten zu können, müssen wir eins festhalten: Dass die Desymbolisierung des Todes durch das Naziregime einen wahren anthropologischen Bruch einleitet, den wir gerade erst bemerken. Die Postmortalität hat in der Tat zwei Grundlagen: die eine in der symbolischen Negierung des Todes in den Massenhinrichtungen, die das 20. Jahrhundert kennzeichnen, die andere in der biomedizinischen Dekonstruktion des Todes, die in den modernen Gesellschaften eine signifikante Verlängerung des einzelnen Lebens ermöglicht hat. Ob wir den natürlichen Tod betrachten oder das nackte Leben: So oder so gibt der Tod seinen Sinn auf, er wird buchstäblich unsinnig.

Die Absurdität des Todes Als Theoretiker der Entzauberung betonte Max Weber im Jahr 1919 den absurden Charakter, den der Tod in den Augen des zivilisierten, von der Logik eines unaufhörlichen Fortschritts ergriffenen Menschen annimmt. Ist der Fortschritt per se unbegrenzt, so erscheint der Stillstand des einzelnen Lebens in der Tat als eigentümlich ungerechtes Herausreißen aus einem unvollendeten Zustand, denn „niemand, der stirbt, steht auf der Höhe, welche in der Unendlichkeit liegt.“70 Gegenüber dem modernen Ideal des unbegrenzten Fortschritts hat nicht nur der Tod keinen Sinn, vielmehr scheint die ganze Zivilisation absurd: „Und weil der Tod sinnlos ist, ist es auch das 69 70

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Robert William Higgins, „Le statut du mourant“, in: Robert William Higgins, Jacques Ricot und Patrick Baudry, Le Mourant, France (M-Editer) 2006, S. 36. In dieser Bemerkung über die Absurdität des Todes für das moderne Individuum bezieht Weber sich auf den Tod des Iwan Iljitsch von Tolstoj. Siehe Wissenschaft als Beruf. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen (J.C.B. Mohr [Paul Siebeck]) 1968, S. 594.

Kulturleben als solches, welches ja eben durch seine sinnlose ‚Fortschrittlichkeit‘ den Tod zur Sinnlosigkeit stempelt.“71 Von daher ist der Tod aus der modernen Perspektive von Fortschritt und individueller Emanzipation bar jeden Sinns. Er ist nicht mehr das unausweichliche Zeichen göttlichen Willens, der Vorsehung oder des Schicksals, sondern ein einfaches, unbedeutendes Ende. Wenn die Fortschrittskultur, der Vormarsch der Medizin und der Rückgang der Sterblichkeit bereits im Jahr 1919 bei Weber die Sinnfrage aufwarfen, so erhält das der modernen Welt eigene Gefühl der Absurdität sein volles Gewicht doch erst mit Ausgang des Zweiten Weltkriegs. Angesichts des methodisch programmierten Todes von Millionen und des autodestruktiven Potenzials der Menschheit, wie sie seit kurzem mit der Atombombe erworben war, scheint die Welt definitiv ihres Sinns beraubt. Im Werk von Samuel Beckett verkörpert sich wohl am besten das dem Krieg geschuldete Gefühl von Absurdität und Unsinnigkeit. Wie viel im Gefolge des Zweiten Weltkriegs vom Fortschrittsglauben und dem Renommee der Aufklärung auch verloren ging: Die Wissenschaft in ihrem Kampf gegen den Tod wurde hierdurch keineswegs gebremst, sondern in ihrer Entwicklung offenbar noch beschleunigt. Wie Foucault gezeigt hat, werden Gesundheit, Sicherheit und Lebensverlängerung ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den vornehmlichen Problemzonen der politischen Macht. Mag die Welt fortan auch sinnlos erscheinen: Vor dem Hintergrund eines vollständig desymbolisierten Todes sollte das Vorhaben, das Leben ins Unendliche auszudehnen, nach und nach wissenschaftliche Adelswürde erlangen. Diese Flucht nach vorn, dieser Wille, den Tod technisch zu besiegen, fallen unter historischem Gesichtspunkt mit der Etablierung einer Konsumgesellschaft zusammen, die durch eine „Vergegenwärtlichung“ der sozialen Zeit charakterisiert ist, d.h. durch die endlose Verfolgung des bloßen Genusses des Individuums. Angesichts der Absurdität der Welt und des Todes findet sich der Sinn, den man von jetzt an dem Leben zubilligt, in der prinzipiell unbegrenzten Ausdehnung der sinnlichen Erfahrung: „Nichts darf ausgelassen werden. Denn der Konsummensch wird von der Angst verfolgt, etwas zu verpassen, welchen Genuss auch immer“.72 Diese unaufhörliche Suche nach einem stets zu erneuernden individuellen Glück ist das genaue Korrelat einer Gesellschaft, 71 72

Ibid., S. 595. Jean Baudrillard, La Société de consommation, Paris (Gallimard, coll. „Folio Essais“) 1970, S. 113.

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die sich durch die Verleugnung des Todes auszeichnet, durch die Unfähigkeit, jener primären Realität, der Urheberin aller Ängste, einen Sinn zu verleihen.73

Die Obszönität des Todes Der britische Soziologe Geoffrey Gorer, der sich mit dem Wandel im Verhältnis zum Tode beschäftigt, wie er in der Nachkriegszeit eintritt, veröffentlicht 1955 einen Artikel unter dem provozierenden Titel: „The Pornography of Death“.74 Ihm zufolge wird das oberste Tabu der viktorianischen Gesellschaft, die Sexualität, an den Tod als das fortan Verbotene und Obszöne weitergereicht. Dass die Sterbenden ab den Fünfziger Jahren auf das Abstellgleis geschoben werden, verrate sich darin, dass nicht nur sie selber zunehmend isoliert werden, sondern auch ihre trauernden Angehörigen. In einer entchristianisierten Welt werden die Rituale, die Tod und Trauer umgeben, immer diskreter; dies zieht ein symbolisches Defizit nach sich, das die Umgebung des Verstorbenen des notwendigen Ritus beim Übergang aus der Welt der Lebenden in die der Toten beraubt. Ob es um die amerikanische Erfindung einer Bestattungsindustrie geht oder um neuartige Rituale wie die Einäscherung: Die Privatisierung des Todes – sein Rückzug in die strikt intime Sphäre – geht in Richtung seiner von Gorer beobachteten „Pornografisierung“. Weit davon entfernt obsolet zu werden, hat seine Studie eine ganze Reihe historischer, soziologischer und anthropologischer Analysen der Verleugnung des Todes und ihrer Folgen für die gegenwärtigen westlichen Gesellschaften in Gang gesetzt.75 Zahlreiche Untersuchungen machen deutlich, wie der Tod in der westlichen Kultur zunehmend privatisiert und ausradiert wurde. Auch ohne näher auf sie einzugehen, sollten wir das in ihnen beschriebene Phänomen in seinen soziohistorischen Kontext einordnen, nämlich in den zweifachen Prozess, der aus dem Erbe des Zweiten Weltkriegs resultiert: den der bio73 74 75

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Siehe Zygmunt Bauman, Flüchtige Zeiten: Leben in der Ungewissheit, Hamburg (Hamburger Ed.) 2008. Geoffrey Gorer, „The Pornography of Death“, Encounter, Oktober 1955, veröffentlicht in Death, Grief and Mourning in Contemporary Britain, London (Cresset Press) 1965. In diesem Punkt haben die Arbeiten des Soziologen Louis-Vincent Thomas einen exemplarischen Stellenwert.

medizinischen Dekonstruktion und den der Desymbolisierung des Todes. Beim Übergang zu einem System der Postmortalität sind unter den vielfachen Veränderungen im Verhältnis zum Tode, die wir beobachten, wohl diejenigen am bedeutsamsten, die mit der „Psychologisierung der Trauer“ und deren Medikalisierung zu tun haben. Mit Depression assoziiert und unter rein negativem Blickwinkel betrachtet erscheint die Trauer fortan als pathologischer Zustand, als Zügelung des individuellen Glücks, womit eine professionelle und medizinische Intervention erforderlich wird. Vor dem Hintergrund eines entritualisierten und seines Sinns beraubten Todes zieht der Verlust eines geliebten Menschen, wie Geoffrey Gorer bereits anmerkte, eine Ausgliederung der trauernden Personen nach sich oder zumindest das stillschweigende Verbot, die Trauer öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Der Tod und alles, was ihn umgibt, werden als „Ergebnis eines Programmierungsfehlers hinsichtlich des okzidentalen Glücks“ betrachtet und fallen so in die Zuständigkeit des biomedizinischen Komplexes.76 Der Bann, der über dem Tod liegt, ist im vollen Umfang seiner soziologischen Implikationen nur zu verstehen, wenn man ihn in Parallele setzt zu dem, was Philippe Ariès im Hinblick auf den Konsumindividualismus der gegenwärtigen westlichen Gesellschaften die „Notwendigkeit des Glücks“ genannt hat.77 Unter dem Imperativ von unbegrenztem Genuss wird, mit anderen Worten, der Tod zu einem Hindernis der individuellen Entfaltung, zu einer Begrenzung, die es zu überwinden oder zumindest zu vergessen gilt. Durch diese Entfernung aus dem Alltagsleben wird seine bedrohliche Präsenz allerdings keineswegs eingedämmt. Wie die verdrängte Sexualität sich in der Pornografie auf vergröberte und hohle Weise spiegelt, sind es Mord, tödliche Gewalt und Unfälle, die in der gegenwärtigen Kultur mit ihrer Verleugnung des Todes einen erheblichen Raum einnehmen. Ob über die Fiktion oder über die journalistische Information – der Tod ist allgegenwärtig. Kriege, Massaker, humanitäre Katastrophen sind gängige Begriffe in der Kultur der Massenmedien.78 Die Überschwemmung mit Leichen, die uns von den Medien tagtäglich geboten wird, partizipiert an der Derealisation des Todes, bringt ihn auf symbolische Distanz, um gleichzeitig den Sicherheitswahn zu schüren.

76 77 78

Claude Javeau, Mourir, op. cit., S. 84. Vgl. Philippe Ariès, Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, op. cit. Vgl. Claude Javeau, Mourir, op. cit.

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Der demografische Wandel als Grundlage der Postmortalität Wenn, wie Claude Javeau zu Recht anmerkt, „der Tod als solcher nicht verschwindet, weil er im buchstäblichen Sinn belanglos geworden ist“79, so hat seine äußere Erscheinung sich doch vollkommen verändert. War ehemals das verletzbare, zerbrechliche Paar von Mutter und Säugling die Inkarnation des Todes, so tritt er fortan im Gewand des hohen Alters auf. So, wie man denken würde, „natürlich“ er auch erscheinen mag: Der Zusammenhang zwischen Altern und Tod manifestiert sich in Wirklichkeit erst sehr spät in der Geschichte des Okzidents. Er resultiert aus einer demografischen Umwälzung, die der postmortalen Gesellschaft den eigentlichen Nährboden bereitet. In seinem Werk Le Recul de la mort liefert der Soziologe Paul Yonnet eine sehr erhellende Analyse der kulturellen und sozialen Veränderungen im Gefolge dieses demografischen Wandels.80 Seit sich in den westlichen Ländern ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Lebenserwartung beträchtlich verlängert und die Sterberaten sich auf immer höhere Altersgruppen verlagern, wird das eine tendenziell unsichtbar: dass der Tod seit den Anfängen der Menschheit bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht nur Teil des Alltagslebens war, sondern am häufigsten beim Neugeborenen und Frauen während der Geburt eintrat. So ist jenes „Zurückweichen des Todes“, das nach Paul Yonnet den Eintritt in die moderne Gesellschaft bedingt, zunächst und vor allem auf eine bedeutende Reduktion der mütterlichen und kindlichen Sterblichkeit zurückzuführen: „Wir begreifen nichts von der modernen Gesellschaft, nichts davon, wie tief ihr Auftauchen mit den beidseitigen Veränderungen im Schicksal der Frau und des Kindes zusammenhängt, wenn wir uns nicht vor Augen halten, dass all dies mit dem Rückgang der Sterblichkeit beginnt: der Mutter bei der Entbindung und der des Kindes, durch die beide dem Tod und der Todesangst ausgesetzt waren, bis durch die Umkehr einer uralten Tragödie das Gebären zu einer Lebensverheißung wurde, die von diesen Befürchtungen weitgehend befreit ist.“81 Die Gesamtheit der Prozesse sozialen, kulturellen, symbolischen, politischen und 79 80 81

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Ibid., S. 60. Vgl. Paul Yonnet, Le Recul de la mort, Band I, L’Avènement de l’individu contemporain, Paris (Gallimard) 2006. Ibid., S. 115.

ökonomischen Wandels, die bereits seit der Renaissance zur Herausbildung der modernen Subjektivität beigetragen haben, dürfen wir in ihrer grundlegenden Bedeutung keineswegs unterschätzen; gleichwohl können wir festhalten, dass Individualität als Wert sich ohne den effektiven Rückgang des kindlichen und mütterlichen Todes seit Ende des 18. Jahrhunderts historisch niemals hätte durchsetzen können. Die These von Yonnet, dies ist ihr Verdienst, lässt den modernen Prozess der Individuation Gestalt annehmen und arbeitet heraus, wo konkret die Veränderungen verankert sind, die für die Entwicklung einer Gesellschaft von Individuen nötig sind.82 Ohne die demografische Revolution, welche die Frauen zunehmend von den Reproduktionszwängen befreien und zugleich einen zeitlichen Rahmen eröffnen konnte, innerhalb dessen die Zukunft des Kindes planbar wurde, wäre das Individuum, wie wir es heute kennen, ganz einfach nicht geboren worden. In Frankreich beginnt die mütterliche und kindliche Sterblichkeit zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert geringfügig abzunehmen. Bis zu diesem Zeitpunkt, und dies gilt für alle menschlichen Gesellschaften, waren Geburt und Tod immer eng aneinander gekoppelt. Zahlreiche gesundheitliche wie ökonomische oder wissenschaftliche Faktoren waren daran beteiligt, dass die Geburt und der Schutz der Neugeborenen sich dann merklich verbessern. Es ist dies die Epoche, in der, wie Yonnet analysiert, eine gesellschaftliche Reflexion über den Status der Kindheit und über die Erziehung beginnt – Rousseaus Emile liefert uns hier eins der eindrucksvollsten Beispiele. Das Interesse für das Kind und seinen Werdegang setzt voraus, dass es aus dem uralten Zyklus der Generationenfolge herausgenommen wird und aus sich heraus als Zukunftsträger erscheint. Diese Individualisierung des Kindes, wie sie den modernen Gesellschaften eigen ist, lässt sich vom Rückgang der Kindersterblichkeit nicht trennen. Im Übrigen war noch bis vor kurzem die Verlängerung der Lebenserwartung in den westlichen Ländern wesentlich auf die Verringerung und schließlich das nahezu vollständige Verschwinden der Kindersterblichkeit zurückzuführen. Der demografische Wandel beim Übergang „von einem System hoher Sterbe- und hoher Geburtenraten zu einem System niedriger Sterbe- und niedriger Geburtenraten“ vollzieht sich über „eine Anpassungsphase, in der die Sterblichkeit spürbar gesunken, die Geburtenziffern – begünstigt nicht 82

Vgl. ibid., S. 137.

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zuletzt durch den wissenschaftlichen und medizinischen Fortschritt – aber noch hoch sind, weshalb hier eine eindrucksvolle Zunahme der Bevölkerung zu beobachten ist“.83 Im Babyboom der Nachkriegszeit zeigt sich dieser von Yonnet analysierte Übergangsprozess. Aufgewachsen in einer Gesellschaft, die der Jugend und der individuellen Entfaltung einen hohen Wert beimisst, repräsentieren diese „Babyboomer“ die erste unter den Vorzeichen der Postmortalität geborene Generation. Sie waren die ersten Individuen, die umfassend vom neuen demografischen System profitierten, das sich durch den Beginn der Geburtenkontrolle und die beträchtliche Verlängerung der Lebenserwartung auszeichnete. Von seinen sozialen Entstehungsbedingungen nicht zu trennen, ist das neue, die heutigen westlichen Gesellschaften prägende demografische System Teil einer offenkundigen anthropologischen Revolution, indem es die Beziehungen der Generationen untereinander durch die „Neudefinition der Lebensalter“ tief greifend verändert.84 Auch ohne auf die Einzelheiten der von Gauchet und Yonnet analysierten soziologischen Veränderungen einzugehen, können wir das eine festhalten: Die Lebenserwartung hat sich im Laufe des letzten Jahrhunderts um fast dreißig Jahre ausgedehnt. Dabei kam es zu einem gewaltigen Wandel des Wertes, der dem individuellen Leben und dem Prozess der Individualisierung beigemessen wird. Die „Verlängerung der Lebenszeit ist ein sozialer und kultureller Tatbestand, der sich in einer Bewertung nach ökonomischen Maßstäben ausdrückt, aber auf anderer Ebene anzusiedeln ist. Er gehört zu einer Kultur des erlesenen Menschen, der ein Mensch ist, der – neben anderen Qualitäten – sich gut erhalten und gut entwickelt hat. An dieser Elle muss die gegenwärtige Hochschätzung der Individualität sich messen lassen“.85 Vom Wunschkind, programmgemäß entstanden und mit der schweren Aufgabe betraut, sein Leben in einen anhaltenden Individualisierungsprozess einzugliedern, über den Jugendlichen, dessen Status in der Gesellschaft immer weiter verlängert wird, bis zu den neuen „jungen Sechzigern“: Der Eintritt in die Postmortalität wird durch die ablaufende demografische Re-

83 84 85

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Ibid., S. 243. Marcel Gauchet, „La redéfinition des âges de la vie“, Le Débat n° 132, NovemberDezember 2004, S. 27-44. Ibid., S. 32f.

volution begünstigt.86 Tod und Generationenwechsel bilden nicht länger die Grundlage der gesellschaftlichen und symbolischen Ordnung, vielmehr wird die Gestaltung des individuellen Lebens zu einem klar formulierten kollektiven Projekt. Wenn der Tod sich immer weiter entfernt und sich statistisch in ein immer höheres Alter verlagert, so geht damit eine wahrhaftige Kulturrevolution einher, in deren Verlauf das Individuum das Gefühl der Unsterblichkeit erlangt. „Der Tod verschwindet nicht nur deshalb aus dem Horizont, weil der Einzelne sicher ist zu leben, sondern auch, weil der Tod um ihn herum verschwindet. Das Kind wird als unsterbliches in einer unsterblichen Welt aufgezogen, in welcher der Tod der unter Fünfzigjährigen, wenn er sich denn ereignet, als ungerechtes und abnormes Drama erlebt wird“.87 Das große statistische Intervall, das fortan die Geburt eines Menschen von seinem Tode trennt, ist an der Verleugnung des Todes, wie er unsere Gesellschaften auszeichnet, sicherlich nicht unbeteiligt. In diesem Sinne sieht Norbert Elias in der Verlängerung der Lebenserwartung einen Faktor, der dazu beitrug, dass der Tod gesellschaftlich verdrängt wurde und aus dem Horizont des Alltagslebens verschwand.88 Louis-Vincent Thomas macht in diesem Punkt übrigens darauf aufmerksam, dass es nicht nur das Verhältnis zum Tode ist, das mit der beträchtlichen Ausweitung der Lebensdauer vollständig umgewälzt wurde, sondern auch und vor allem die Beziehung zwischen den Generationen. War es bis in die jüngste Vergangenheit hinein noch eine geläufige Erfahrung, dass ein Elternteil den Tod seines Kindes erlebte – und auch ein Großteil der Kinder, ohne das Erwachsenenalter erreicht zu haben, den Tod eines Elternteils –, so ist der Mensch heute durchschnittlich fünfundfünfzig oder sechzig Jahre alt, wenn sich der erste für ihn bedeutsame Todesfall – der seines Vaters oder der seiner Mutter – ereignet.89 Der Tod trägt fortan das Antlitz des hohen Alters. Die Senkung der kindlichen und mütterlichen Sterblichkeit stand am Anfang des der okzidentalen Moderne eigenen demografischen Wandels, der schließlich zu einer vollständigen Umkehr der Alterspyramide in unseren 86

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Zum Thema des demografischen Wandels und der Kinder nach Programm siehe den ausgezeichneten Artikel von Marcel Gauchet: „L’enfant du désir“, Le Débat n° 132, November-Dezember 2004, S. 98-122. Paul Yonnet, Le Recul de la mort, op. cit., S. 231. Vgl. Norbert Elias, Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, op. cit., S. 72. Vgl. Louis-Vincent Thomas, Anthropologie de la mort, op. cit., S. 148.

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Gesellschaften führte. Von daher ist das Zurückweichen des Todes in der heutigen Zeit vom Prozess der Überalterung der Bevölkerung nicht zu trennen. Diese neue soziodemografische Realität bildet das Grundraster der postmortalen Gesellschaft. Tatsächlich ist die Generation des Babybooms, die heutzutage mit dem Altern konfrontiert ist, kulturell nicht darauf vorbereitet, dem eigenen Sterben ins Auge zu sehen. In diesem Sinne bemerkt Paul Yonnet, dass es „keineswegs mehr der Alte von früher [ist], der da altert, sondern ein junger Zeitgenosse, der in dem Gefühl aufgewachsen ist, dass ihm ‚das nicht so bald passieren kann‘, dass er noch viel Zeit hat, daran zu denken“.90

Die unmögliche Grenze oder die Unendlichkeit der Gegenwart Hineingeboren in eine Welt, die sich durch den zweifachen Prozess von Dekonstruktion und Desymbolisierung des Todes auszeichnet, wogen sich die Nachkriegsgenerationen in einer Sicherheit, die ihnen durch das liberale Versprechen eines unbegrenzten Wachstums vermittelt worden war. Nach den durch Krieg und Totalitarismen verursachten politischen Traumata wurden Meta-Berichte nicht weiter verfolgt; mithin war der Weg frei für die Entfaltung einer Konsumgesellschaft, deren Zeitbewusstsein im unmittelbar Gegebenen gründet und in der das individuelle Glücksstreben im Präsens konjugiert wird.91 Diese „Vergegenwärtlichung“ der sozialen Zeit trägt zu dem bei, was Zygmunt Bauman die „Dekonstruktion der Unsterblichkeit“ genannt hat.92 Jeder Kultur, jedem Unsterblichkeitssystem liegt der Wille zugrunde, den Tod über die Zeiten hinweg kollektiv zu überwinden, das Vorbeiziehen der individuellen Existenzen in das überdauernde Gedächtnis der kollektiven Institutionen einzumeißeln. Auf dem beschleunigten Veralten aller Gegenstände aufbauend und genährt durch die nicht enden wollende Flut der Massenmedien kennt die postmortale Gesellschaft nur die Perspektive, die sich aus der Projektion gegenwärtigen Geschehens in die Zu90 91

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Paul Yonnet, Le recul de la mort, op. cit, S. 231. Zur Frage der Meta-Berichte siehe Unsere postmoderne Moderne von Jean-François Lyotard, Berlin (Akademie) 2002. Siehe ebenfalls Jean Baudrillard, La Société de consommation, op. cit. Zygmunt Bauman, Tod, Unsterblichkeit und andere Lebensstrategien, op. cit., S. 128.

kunft ergibt – daher die heutige Tendenz, den Begriff der Zukunft durch den der Entwicklung zu ersetzen. Während der Gedanke der Zukunft einschließt, dass eine gemeinsame Zielsetzung und ein politischer Wille vorhanden sind, impliziert der Begriff der Entwicklung die exponentielle Weiterverfolgung bereits bestehender sozialer Logiken – wie man etwa von der Entwicklung der Märkte und von der technologischen Entwicklung spricht. Diese Projektion eines unendlichen Präsens in die Zukunft hat teil an der Dekonstruktion der Unsterblichkeit: mit der Entchristlichung existiert kein Jenseits des Todes mehr, und, nachdem die großen Ideologien verworfen sind, keine Möglichkeit mehr, über einen Platz in der Geschichte Unsterblichkeit zu erlangen.93 Wenn wir die Verlängerung der Lebenserwartung zum kulturellen Imperativ der persönlichen Entwicklung addieren, können wir leicht begreifen, dass es in unseren Gesellschaften immer schwieriger wird, das Altern und den Tod ins Auge zu fassen. Dies gilt umso mehr, als wir seit einigen Jahren beobachten, wie eine neue soziale Kategorie auftaucht: die jungen Sechziger.94 Seitdem nämlich jene „Baby-Boomer“ ins Rentenalter eintreten, wird dieses neu definiert, und zwar als „zweite Jugend“. Das Ideal des individuellen Glücks, der persönlichen Entfaltung und eines freien und autonomen Lebens hat sich von nun an von seinen zeitlichen Begrenzungen gelöst: „Das neue Lebensalter ist ein Amerika, das es zu entdecken gilt, ein unbekannter Kontinent unseres Daseins, der sich hinter dem Horizont der sechzig Jahre verbirgt“.95 Die erst kürzlich von den begüterten Mittelklassen der westlichen Gesellschaften erreichte Langlebigkeit bietet den Sechzigjährigen ein neues Eldorado. In die Jahre gekommen, ohne deshalb alt zu sein, dies also ist die Traumperspektive der Postmortalität. Der neue Jugendkult wird, wie der Demograf Jacques Véron betont, von der Generation der BabyBoomer veranstaltet, die „aufgrund ihrer Zahl und ihrer Geschichte – der einer befreiten und ökonomisch privilegierten Generation – immer die Tendenz haben, das ‚schöne Alter‘ als das ihrige zu definieren“.96 Weit entfernt, 93 94 95 96

Ich beziehe mich hier auf die These von Francis Fukuyama, La Fin de l’histoire et le Dernier Homme, Paris (Flammarion) 1992. Vgl. Jacques Véron, L’Espérance de vivre. Âges, générations et sociétés, Paris (Éd. du Seuil) 2005, S. 140. Joël de Rosnay, Jean-Louis Servan-Schreiber, François de Closets et Dominique Simonnet, Une vie en plus. La longévité, pour quoi faire?, Paris (Éd. du Seuil) 2005, S. 11. Jacques Véron, L’Espérance de vivre, op. cit., S. 140.

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das Altern als Fügung hinzunehmen, macht es sich die heutige Generation der Sechzigjährigen zur Aufgabe, dieses „Zusatzdasein bei guter Gesundheit, wenn nicht in blendender Verfassung“ zu konsumieren.97 „Unsere Langlebigkeit“ muss „von Erfolg gekrönt sein“98, so könnte durchaus die Parole der postmortalen Gesellschaft lauten. Genährt durch die Erwartung eines verlängerten Lebens gibt es für den Kult der ewigen Jugend als solchen keinerlei Grenze. Auf das Alter kommt es nicht an, zum Sterben ist man „immer zu jung“.99 Durch die Perspektive, sein Leben mithilfe der Technowissenschaften ins Unendliche verlängern zu können, sieht manch einer sich also verleitet, den Tod nicht mehr als unausweichliche Realität hinzunehmen. So namentlich Christine Overall, die in ihrem Werk mit dem Titel Aging, Death and Human Longevity die These vertritt, dass die unbegrenzte Verlängerung der Lebensdauer ein kollektiv getragenes Ziel sein sollte.100 In ihrem entschlossenen Bekenntnis zum Liberalismus stellt die Philosophin die Argumente zugunsten einer Lebensverlängerung denen gegenüber, die den individuellen Tod nicht nur als unausweichlich, sondern auch als wünschenswert einordnen. Die Begriffe, unter denen sie die Leitlinien ihrer Philosophischen Untersuchung festlegt, zeigen schlaglichtartig, dass sie sich bereits in den Gefilden der Postmortalität verortet: „Ich trete für die Lebensverlängerung ein, weil viele Menschen in der Tat länger leben möchten, weil dieses Leben das einzige ist, das wir haben, weil viele alte Menschen die Vorteile des Lebens haben entbehren müssen, weil am Leben zu bleiben die Aussicht auf ständige Gelegenheit für weitere Erfahrungen und weiteres Handeln eröffnet“.101 Ihre Sicht der Langlebigkeit beruht auf einem extremen Individualismus, in den sich feministische Forderungen mischen. Da Frauen sich statistisch einer höheren Lebenserwartung erfreuen als Männer, haben sie zusätzliche Jahre vor sich und damit die 97 98 99

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Joël de Rosnay et al., Une vie en plus, op. cit., S. 11. Ibid., S. 43. Der Demograf Jacques Véron erwähnt in seinem Buch die Ergebnisse einer französischen Umfrage in Familien mit fünf Generationen. Die Vertreter der fünften Generation fühlten sich, auch wenn sie sehr alt waren, tendenziell „zu jung, um zu sterben“. op. cit., S. 209. Vgl. Christine Overall, Aging, Death and Human Longevity. A Philosophical Inquiry, Berkeley (University of California Press) 2003. Ibid., S. 122. („I advocate prologevitism because many people in fact want to live longer, because this life is the only one we have, because many old people have been deprived of life’s goods, because continuing to live offers the prospect of ongoing opportunities for further experience and action“.)

Gelegenheit, die auf ihre Familie verwandte Zeit unter eigener Regie zurückzuerobern. Der Kult der persönlichen Entfaltung steht im Mittelpunkt dieser Konzeption von Individualität: „Ein verlängertes Leben eröffnet den Weg zur Selbstveränderung, die Möglichkeit, die individuelle Identität neu zu erschaffen durch Übernahme innovatorischer Lebensentwürfe, anderer Wertsetzungen, neuer Ziele. Viele Menschen, wenn nicht die große Mehrheit, haben nie die Gelegenheit, ihr ganzes Potenzial als physisch-emotionalmoralisch-intellektuelle Wesen in vollem Umfang zu erforschen und zum Ausdruck zu bringen.“102 Dieser extreme Individualismus ist in nichts begründet – weder im Gesellschaftsband noch in der Generationenfolge –, außer in Stiftung und Erweiterung der eigenen Identität. Wo immer sich die Frage auftut, wie die unendliche Verlängerung des Lebens von Einzelnen sich auf die künftigen Generationen auswirken mag, antwortet die Autorin mit folgendem ultraliberalen Argument: „Wie ich meinen eigenen Kindern gegenüber stärker in der Pflicht bin als gegenüber denen meines Nachbarn, so habe ich auch mehr Verpflichtungen gegenüber den Mitgliedern der gegenwärtigen und den uns nahe gelegenen Generationen als gegenüber den weiter entfernten.“103 Diese deutlich zur Schau getragene Gleichgültigkeit gegenüber den Generationen der Zukunft könnte, wie wir zeigen wollen, durchaus zu den charakteristischen Tendenzen der postmortalen Gesellschaft gehören. Zum Rang eines absoluten Werts aufgestiegen, tolerieren das individuelle Glücksstreben und die Entfaltung der Persönlichkeit keinerlei Grenze, auch nicht die des Todes. Dass ein philosophisches Werk sich mit dem ganzen Ernst des universitären Habitus für die unbegrenzte Lebensverlängerung ins Zeug zu legen vermag, bildet für sich genommen bereits ein greifbares Indiz für den Übergang zur Postmortalität. Bevor wir dieser Frage weiter nachgehen, wollen wir zeigen, wie der kollektiv geführte Kampf gegen das Altern sehr konkret die Ablehnung des Todes, seine Verwerfung als Grenze verkörpert. 102

103

Ibid., S. 184f. („A prolonged life creates prospects for self-transformation, for re-creating one’s identity by adopting innovative life plans, different values, and new goals. Many human beings, perhaps the vast majority, never have the chance fully to explore and express all their potential as physical/emotional/moral/intellectual beings.“) Ibid., S. 136 („But just as I have more of an obligation to my own children than to my neighbour’s children, so too I have more of an obligation to members of the current and near generations than to members of far ones.“)

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Anti-Age Die kontinuierliche Verlängerung der Lebenserwartung seit Ende des Zweiten Weltkriegs hatte die paradoxe Folge, dass alte Menschen kulturell entwertet und auch sozial isoliert wurden. Ehedem als Statthalter von Wissen und Tradition anerkannt, sind Menschen im Greisenalter heute aus unseren auf Produktivität beruhenden Gesellschaften so gut wie ausgeschlossen.104 Baudrillard hat dieses Phänomen sehr gut auf den Begriff gebracht: „Der Ausdruck Drittes Lebensalter sagt genau, was er beinhaltet: eine Art von Dritter Welt […]. In dem Maße, wie die Lebenden viel länger leben und über den Tod ‚triumphieren‘, werden sie nicht länger symbolisch anerkannt. Zu einem Tode verurteilt, der ständig zurückweicht, verliert dieses Alter seinen Rang und seine Vorrechte […]. Die verlängerte Lebenserwartung hat also nur zu einer Diskriminierung des Alters geführt, was sich logisch aus der Diskriminierung des Todes entwickelt.“105 Während die Zahl der jungen Menschen proportional immer weiter abnimmt und ihr relativer Anteil im Gesellschaftsaufbau tendenziell zurückgeht, sind es fortan die „jungen Alten“ aus der Generation des Baby-Booms, die den Kult der ewigen Jugend repräsentieren. Wenn die Zukunft erlischt und die soziale Zeit sich auf die Gegenwart reduziert, findet das Streben nach sofortigem Glück sein negatives Korrelat in der Angst vor dem Altern. Und diese Angst erreicht, wie Christopher Lasch zeigt, zivilisatorische Dimensionen: „Immer mehr Wissenschaften und Pseudowissenschaften sind speziell mit Alter und Tod befaßt: Geriatrie, Gerontologie, Thanatologie, Kälteforschung und ‚Immortalismus‘. Viele andere, darunter die Genetik, die Geburtenforschung und die Vorsorgemedizin, haben den Kampf gegen den ‚Zahn der Zeit‘ aufgenommen – einen Kampf, der einer sterbenden Kultur am Herzen liegt.“106 Der Kampf gegen das Altern, der von der biomedizinischen Dekonstruktion des Todes nicht zu trennen ist, trägt dazu bei, dass alte Menschen isoliert und entwertet werden. Der britische Soziologe John A. Vincent, der die wissenschaftlichen Vorstellungen vom Alterungsprozess analysiert hat, hebt die kriegerische Metaphorik hervor, die in den Abhandlungen über das

104 105 106

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Zu diesem Punkt siehe Christopher Lasch, Das Zeitalter des Narzissmus, München (dtv), 1979. Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, op. cit., S. 257. Christopher Lasch, Das Zeitalter des Narzißmus, op. cit., S. 232.

hohe Lebensalter Verwendung findet.107 Ausdrücke wie „Sie können das Alter besiegen“, „die Falten bekämpfen“ oder auch „den Zeichen der Zeit den Krieg erklären“ sind in der Werbung für kosmetische Produkte gang und gäbe. Wenn das Alter ein Zustand ist, gegen den der Kampf um jeden Preis geboten ist, dann sind die hieran „Erkrankten“ nicht nur aus der Gesellschaft ausgeschlossen, sondern, auf dem Wege einer immer weiter vorangetriebenen Medikalisierung, auch Spielball der Biomacht. Dies gilt umso mehr, als auf medizinischer Ebene eine Verwischung der Grenze zwischen Krankheit und Alter zu beobachten ist, die so weit geht, dass aus dem hohen Lebensalter eine Pathologie wird.108 Der Kampf gegen das Altern, das inzwischen zum Rang eines wahrhaftigen zivilisatorischen „Problems“ aufgestiegen ist, mobilisiert ein ganzes Arsenal von Berufen und Produkten, die dazu dienen sollen, die individuellen Zeichen der Zeit zu mildern oder sogar auszumerzen. Die Systematik, die John A. Vincent hierzu entwirft, lässt die Größenordnung des Phänomens erfassen.109 Die erste Kategorie beinhaltet Produkte, die die Effekte des Alterns überdecken oder ausgleichen sollen, wie Anti-Falten-Cremes, Vitamine, Diäten, Trainingsprogramme oder auch Medikamente wie Viagra oder Wachstumshormone; sie zielen darauf ab, die mit dem hohen Lebensalter verknüpften Symptome zu reduzieren. Die zweite Kategorie umfasst die ganze kurative Medizin, die heute eine beträchtliche Verlängerung der Lebensdauer ermöglicht wie – als klassisches Beispiel – die Behandlung der Krebsleiden. In die dritte Kategorie ist die präventive Wissenschaft einzuordnen, die dem Phänomen der Alterung auf der eigentlich zellulären Ebene zu begegnen sucht; hierzu gehören die Genetik und die Gentechnik oder auch die Forschung über degenerative Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson. In die vierte Kategorie schließlich fallen die Personen, die sich offen dafür einsetzen, die Alterung auszurotten und das einzelne Leben mit den Mitteln der Technowissenschaften wie der Regenerations- und Nanomedizin ins Unendliche zu verlängern. Die transhumanistische Bewegung, in der sich Wissenschaftler, Künstler und Intellektuelle zusammenfinden, versinn107 108 109

Vgl. John A. Vincent, „Science and Imagery in the ‘War on Old Age‘“. Vorgestellt auf dem RC-II, World Congress of Sociology, Durban/Südafrika, 30. Juli 2006. Vgl. John A. Vincent, „Ageing Contested: Anti-Ageing Science and the Cultural Construction of Old Age“, Sociology 40, n° 4, 2006, S. 688. Ich greife hier die Hauptelemente der Typologie auf, die John A. Vincent in „Science and Imagery in the ‚War on Old Age‘“ entwickelt hat, op. cit.

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bildlicht dieses Streben nach einer unbegrenzten Lebensverlängerung, die selbst die biologischen Grenzen der menschlichen Gattung überwindet.110 Mit dem Transhumanismus und den Unsterblichkeitsbewegungen verlassen wir allerdings den Rahmen der Wissenschaft und ihres Kampfes gegen das Altern, um in die imaginären Domänen der Postmortalität vorzurücken.

Die Amortalität oder der Mythos von einer Langlebigkeit ohne Ende Unabhängig von Kultur und Epoche gründen die meisten Unsterblichkeitssysteme auf der Verheißung eines Lebens nach dem Tode, seiner Fortsetzung im Jenseits. Die okzidentale Mythologie kennt jedoch noch einen anderen Zugang zur Unsterblichkeit, nämlich den, überhaupt nicht erst zu sterben. Das heißt, den Aufenthalt auf Erden ins Unendliche zu verlängern. In seiner Abhandlung über die Geschichte der Langlebigkeit im Abendland erinnert der rumänische Soziologe Lucian Boia daran, dass von der biblischen, mehrere hundert Jahre alten Gestalt des Methusalem bis zu unseren hundertjährigen Helden das Streben nach einem langen Leben, wenn nicht nach Unsterblichkeit auf Erden, integraler Bestandteil der westlichen Vorstellungswelt ist.111 In der zeitgenössischen Kultur allgegenwärtig und bis in die Antike verwurzelt ist der Drang nach einem System, in dem das endgültige Abdanken aufzuhalten wäre. Nebenbei zeigt Lucian Boia auch, dass die Nahrungsmittel, die in dem Ruf stehen, die Lebenserwartung zu erhöhen, je nach Kultur und Epoche variieren – um so die neuerliche Begeisterung für die Omega-3-Fettsäuren, die Antioxidanzien und das Arsenal von Wundermitteln zu relativieren, die aus uns junge Hundertjährige machen sollen. Sicherlich ist es nicht ohne Bedeutung, dass die Geschichte der modernen Wissenschaft seit Renaissance und Alchimie vom Streben nach einem langen Leben durchzogen ist. Von Francis Bacon bis zu Descartes, von Condorcet bis Benjamin Franklin entsprach der Glaube an den wissen110

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Zum Thema des Transhumanismus siehe die Dissertation von Michèle Robitaille, Culture du corps et Technosciences: vers une ‚mise à niveau‘ technique de l’humain? Analyse des représentations du corps soutenues par le mouvement transhumaniste, Universität Montreal, 2008. Vgl. Lucian Boia, Quand les centenaires seront jeunes. L’imaginaire de la longévité de l’Antiquité à nos jours, Paris (Les Belles Lettres) 2006.

schaftlich gelenkten Fortschritt und die Perfektionierbarkeit des Menschengeschlechts dem Willen, den Todeszeitpunkt immer weiter hinauszuschieben, wenn nicht gar zu eliminieren.112 So präsentiert Francis Bacon unter den Forschungsstätten und Errungenschaften in seinem erstmals 1627 veröffentlichten Neu-Atlantis „Räume, wo wir die Luft nach Belieben durchsetzen und erwärmen, je nachdem wir es für die Heilung der einzelnen Krankheiten oder für die Erhaltung der Gesundheit förderlich oder geeignet halten. […] Dabei haben wir viele wunderbare Entdeckungen gemacht, so etwa über die Fortdauer des Lebens, nachdem einige Teile, die ihr für lebenswichtig haltet, abgestorben sind oder entfernt wurden, über die Wiederbelebung einiger, die scheintot waren und Ähnliches.“113 Stellt man die Bedeutung dieses Philosophen für die Entwicklung der experimentellen Wissenschaften in Rechnung, lässt sich ermessen, welch tiefe Dimension der Glaube erreichen kann, dass eine Unsterblichkeit auf Erden möglich sei. Wie Lucian Boia zeigt, zählte die Verheißung eines langen Lebens in guter gesundheitlicher Verfassung zu den ideologischen Hauptanliegen der Industriegesellschaften. Nicht zuletzt das Sowjetregime hat sich lange mit den höchsten Quoten von Hundertjährigen gebrüstet. Auch wenn diese angebliche kommunistische Langlebigkeit auf dubiosen Statistiken beruhte, war sie politisch doch ausgesprochen wirkungsvoll. „Über Jahrzehnte hinweg musste der Archipel der Hundertjährigen herhalten, um den Archipel Gulag zum Verschwinden zu bringen, indem der Mythos der Langlebigkeit die sehr reale Industrie des Todes verschleierte“.114 Die Suche nach einem Rezept für langes Leben aber hat den Rahmen bloßer Ideologie verlassen, und über das ganze 20. Jahrhundert hinweg hat es an Forschungen und wissenschaftlichen Experimenten hierzu nicht gefehlt. Hinsichtlich der UDSSR erinnert Lucian Boia an den exemplarischen Fall des Doktor Woronow, der in dem Glauben, das Geheimnis der Langlebigkeit liege in den Hormonen, Schimpansenhoden auf senile Patienten zu transplantieren versuchte.115 Weit davon entfernt, der exklusive Anspruch des Kommunismus zu sein, nimmt der Wunsch, die Grenzen der menschlichen Langlebigkeit immer weiter hinauszuverlagern, auch in unseren Gesellschaften unvermutete öko112 113 114 115

Vgl. ibid. Francis Bacon, Neu-Atlantis, in: Der utopische Staat, hrsg. von Klaus J. Heinisch, o.O. (Rowohlt) 1968, S. 207f. Lucian Boia, Quand les centenaires seront jeunes, op. cit., S. 174. Vgl. ibid., S. 155.

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nomische, soziale und kulturelle Dimensionen an. Die fulminanten wissenschaftlichen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte scheinen dem Mythos einer Unsterblichkeit auf Erden nicht nur kein Ende, sondern neuen Boden bereitet zu haben. Auf den Begriff der Amortalität zurückkommend, den er 1951 in L’Homme et la Mort entwickelt hatte, präzisiert Edgar Morin in einem 2004 veröffentlichten Text: „Heute wissen wir, dass der Mensch, wenn er schon nicht unsterblich ist (da die Unsterblichkeit eine nicht verifizierbare religiöse Vorstellung ist), so doch amortal werden, d.h. theoretisch sein Leben ins Unendliche verlängern kann. Deshalb bleibt er nicht weniger sterblich: Weiterhin kann er durch Unfälle, Irrtümer, Katastrophen, Verhängnisse zugrunde gehen.“116 Schwerlich ließe sich eine präzisere Definition der mythisch-wissenschaftlichen Grundlagen der Postmortalität finden. Alles ist in ihr enthalten: die biomedizinische Dekonstruktion des Todes, seine symbolische Auflösung, seine Gleichsetzung mit einem Unfall, einem Irrtum der Natur und vor allem das Glaubensbekenntnis zur Allmacht der Wissenschaft. Denn unter anthropologischem Gesichtspunkt besteht für die biologische Amortalität selbstredend keine breitere empirische Grundlage als für die christliche Wiederauferstehung oder die hinduistische Reinkarnation.117 In Wahrheit ist der amortale Mensch nur eine weltliche und wissenschaftlich verkleidete Version des uralten Strebens nach irdischer Unsterblichkeit. Nämlich der kulturelle Ausdruck einer Gesellschaft, in der „Eschatologie […] erfolgreich in Technologie umgesetzt worden“ ist.118 Gestützt auf neuere Entdeckungen der Molekularbiologie und auf technowissenschaftliche Vorstöße, die sich vor allem der Gentechnik, der Informatik und den Nanotechnologien verdanken, behaupten mehrere namhafte, um den Kern des Immortality Institute sich gruppierende Forscher, die irdische Unsterblichkeit sei fortan zum Greifen nahe.119 Ohne uns hier schon näher auf dieses Phänomen einzulassen, auf das wir vertieft in den nächsten Kapiteln eingehen werden, können wir an dieser Stelle doch den Biologen und Informatiker Aubrey de Grey vom Fachbereich Genetik der Universität Cambridge 116 117 118 119

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Edgar Morin, „Ouverture“, in: La Mort et l’Immortalité, op. cit., S. 47. Zur Frage des amortalen Menschen siehe Georges Balandier, „D’une espérance à l’autre. L’émergence de l’homme amortel“, in: La Mort et l’Immortalité, op. cit. Zygmunt Bauman, Tod, Unsterblichkeit und andere Lebensstrategien, op. cit., S. 212. Vgl. Immortality Institute, The Scientific Conquest of Death. Essays on Infinite Lifespans, Alabama (LibrosEnRed) 2004.

als Beispiel nennen, wenn er nämlich allen Ernstes behauptet: „Der Mensch, der ewig leben wird, ist sicherlich schon geboren.“120 Norbert Elias war einer der ersten, die diese Störwellen zwischen Wissenschaft und Mythologie identifiziert haben, wenn es um Unsterblichkeit geht: „Der Traum vom Lebenselixier und vom Jungbrunnen ist gewiß recht alt. Aber erst in unseren Tagen nimmt er wissenschaftliche oder, je nachdem, auch pseudo-wissenschaftliche Gestalt an. Das Wissen, daß der Tod unabwendbar ist, wird durch das Bemühen, ihn mit ärztlicher und mit Versicherungshilfe mehr und mehr hinauszuschieben, und die Hoffnung, daß es gelingen könne, überlagert.“121 Hier stoßen wir auf den eigentlichen Kern der Postmortalität, die unter wissenschaftlichem und rationalem Aspekt fortsetzt, wovon die Menschheit seit unvordenklichen Zeiten träumt – bis auf den Unterschied, dass die Kräfte, die heute diesen Traum verwirklichen sollen, die Grundlagen der Gesellschaft selber erschüttern.

Die postmortale Gesellschaft Wenn die Angst vor dem Tod und die kollektiv erarbeiteten Strategien zu ihrer Besänftigung das Fundament eines jeden sozialen Gebäudes bilden, was ist dann mit einer Gesellschaft, in der der Tod vom Status eines ontologischen Sockels auf den von historischer Kontingenz abgleitet? Mit einer Gesellschaft, die dafür kämpft, dem Tod ein Ende zu bereiten, und jedes Mal, wenn er sich dann doch ereignet, eine wissenschaftliche Niederlage verbucht?122 In der die Tatsache der Sterblichkeit sich eher aus einer Ereignislogik ableitet als aus der Natur der Dinge? In der man das Altern als Krankheit betrachtet? Wo der Wille, das Leben auf Erden ins Unendliche zu verlängern, den Wunsch ersetzt, die Unsterblichkeit im Jenseits zu erlangen? In der nicht mehr der Tod selber als unausweichlich erscheint, sondern die technisch-wissenschaftliche Entwicklung? Eine solche Gesellschaft würde bereits dadurch einen fundamentalen Bruch auf anthropologischer Ebene herbeiführen, dass sie die Generationenfolge als Ordnungsprinzip und Grundlage der Menschheitsgeschichte erschüttert; darüber hinaus würde 120 121 122

Aubrey de Grey, in: Sherwin Nuland, „Aubrey de Grey, le mécano de l’éternel“, Courrier international n° 806, 13.-19. April 2006, S. 40f. Norbert Elias, Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, op. cit., S. 74. Vgl. Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, op. cit.

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ohne die Perspektive des Todes der Sinn, der mit Zeugung und Überlieferung verbunden ist, einem radikalen Wandel unterliegen – um von dem der Subjektivität zukommenden Status ganz zu schweigen. Auf soziologischer Ebene ist vorstellbar, dass es in einer solchen Gesellschaft zu einer neuen Form des Zusammenlebens käme, bei dem sich alles um den Gesundheitswahn und um Sicherheitskontrollen dreht. Das demografische Ungleichgewicht, das sich ergäbe, würde ideologisch durch den einstimmig gefeierten Kult der ewigen Jugend aufgewogen. Grundsätzlicher noch würde eine solche Gesellschaft ihren Ehrgeiz darein setzen, sich dem schweren Joch der Sterblichkeit durch Überschreitung der Grenzen zu entwinden, die der menschlichen Gattung gesetzt sind. Zu diesem Thema merkt Paul Yonnet an: „Damit stellt sich die Frage, ob wir nicht am Ende einer Menschheitsgeschichte angelangt sind, die vor mehr als zehntausend Jahren begonnen hat, ob der Rückzug des Todes nicht auf irgendeine Weise der Menschheit ein Ende setzt – ob es nicht eine andere Geschichte ist, die dann beginnt, eine Geschichte, deren Anfänge wir näherungsweise zu Gesicht bekommen, von der wir aber keine Ahnung haben, es sei denn die eine Gewissheit: Die Conditio humana wird völlig neu definiert und gestaltet daraus hervorgehen, sie wird in ihren Grundfesten erschüttert sein.“123 Hier geht es nicht um ein eventuelles posthumanes Dasein, sondern um eine reale anthropologische Fragestellung: was aus einer Welt wird, in der das Bewusstsein vom Tode verblasst und sich in ferne Zeiten verflüchtigt, und dies mit allen denkbaren soziodemografischen Konsequenzen. Als Testamentsvollstreckerin der westlichen Dekonstruktion könnte die postmortale Gesellschaft durchaus als designierte Erbin der so genannten Postmoderne auftreten. Über das Wortspiel hinaus aber sollten wir uns bewusst bleiben, dass greifbare gesellschaftliche Tendenzen uns daran hindern, das Konzept der Postmortalität als eine bloße rhetorische Formel abzutun. In dem Augenblick, in dem die biotechnologische Dekonstruktion die Philosophie verdrängt und die Demarkation zwischen Lebendigem und Artefakt auf den Kopf gestellt hat, beobachten wir, wie sich die Vorstellungen vom Tod und seinen Grenzen in neuen Formen manifestieren, die seine Unerbittlichkeit tendenziell bestreiten. Deutlich scheint dies durch in den theoretischen Debatten um das Klonen und die genetische Unsterblichkeit, in der Entwicklung der regenerativen Medizin, in der künstlichen Lebens123

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Paul Yonnet, Le recul de la mort, op. cit., S. 459.

verlängerung und in der zunehmenden Praxis der Kryokonservierung. Der Auftritt des Cyborg – eines in kompletter Symbiose mit der Technik existierenden Wesens – und des Posthumanen auf der kulturellen Bühne zeugt noch allgemeiner von der Entschlossenheit, die Dauer des menschlichen Daseins durch die Verschmelzung von Mensch und Maschine ins Unendliche zu verlängern. Wie alle auf die Unsterblichkeit gerichteten Mythen und Glaubenslehren müssen wir auch das technisch-wissenschaftliche Fantasiegebilde einer Postmortalität aus seinem soziohistorischen Gesamtzusammenhang verstehen, wenn wir seine ganze Reichweite begreifen wollen. Nur unter dieser Voraussetzung können wir klar erfassen, was dabei auf dem Spiel steht und welches die möglichen Konsequenzen für die Zivilisation sind. Auch wenn diese Wunschvorstellung auf der Ebene der Glaubensinhalte an den okzidentalen Fortschrittsmythos anknüpfen kann, so bleibt doch festzuhalten, dass dieser sich im Sinne einer radikalen symbolischen Umkehr entfaltet, die das Jenseits ins Diesseits abstürzen lässt. Die folgenden Kapitel sollen den technowissenschaftlichen Zuschnitt der Postmortalität konturieren und zunächst aufzeigen, wie die Grenzen des Todes sich seit Beginn der Moderne so weit verschoben haben, dass sie schließlich unkenntlich werden.

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Die neuen Grenzen des Todes „Clearly, death is not a self-evident phenomenon. The margins between life and death are socially and culturally constructed, mobile, multiple, and open to dispute and reformulation.“ Margaret Lock1

Wurde der Tod lange als unerschütterliche Grenze begriffen, die den Übergang in eine andere Welt markiert, so erscheint er fortan als Endpunkt eines komplexen Prozesses, dessen Umrisse fließend und wechselhaft sind. Des Status eines ontologischen Sockels beraubt und auf den Rang einer einfachen Naturerscheinung abgesunken, verliert er zugleich die Aura einer unumstößlichen Gewissheit, die sein Eintreten ehedem umgab. Tatsächlich scheint es lange her, dass der Augenblick des Ablebens der des letzten Atemzugs und der Herzstillstand der sichere und unumstößliche Beweis für den Tod waren. In dem Maße, wie dieser medikalisiert und das biomedizinische Aufgebot technisiert und vervollkommnet wird, erweisen sich seine Grenzen, die man für zeitlos gehalten hatte, als flexibel und historisch variabel. So ist der Tod nicht mehr wie früher das einzigartige und unumkehrbare Phänomen, der Beleg für das Verrinnen der Zeit, sondern vielfältig und facettenreich, einer Verlängerung ins Unendliche unterworfen.2 Um zu ermessen, wie dehnbar heute diese Grenzen sind, reicht es aus, an die Techniken der kardialen Reanimation zu denken, an die künstliche Beatmung oder auch an die Organtransplantation. Fließend ist dabei nicht allein die Bestimmung des Todeszeitpunkts, auch die Lokalisierung des körperlichen Zentrums ist geschichtlichen Variationen unterworfen: von der Lunge (At1

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Margaret Lock, Twice Dead. Organ Transplants and the Reinvention of Death, Berkeley, University of California Press 2002, S. 11. („Soviel ist klar: Der Tod ist keine Erscheinung, die sich von selbst versteht. Die Grenzen zwischen Leben und Tod sind gesellschaftlich und kulturell geschaffen, sie sind beweglich, vielfältig und offen gegenüber Anfechtung und Neubestimmung.“) Vgl. Bernard-Marie Dupont, „L’extrême-onction médicale. Assistance hospitalière pour la fin de la vie“, in: Lenoir, Frédéric und Jean-Philippe de Tonnac (Hrsg), La Mort et l’Immortalité, op. cit., S. 1144.

57 C. LAFONTAINE, DIE POSTMORTALE GESELLSCHAFT, DOI 10.1007/978-3-531-92063-4_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010

mung) über das Herz bis zum Gehirn. Diese Grenzverschiebungen, bei denen es sich um ein „soziales Totalphänomen“ handelt, haben beträchtliche symbolische, politische und ökonomische Implikationen, die sich namentlich an die zunehmende Bedeutung der Institution Biomedizin in unseren Gesellschaften knüpfen. Im Gegensatz zu dem, was wir annehmen würden, ist die Auffassung vom Tod als Prozess – und hiervon leitet sich die Neudefinition seiner physiologischen und symbolischen Merkmale ab – nicht eine Erfindung des 20. Jahrhunderts, sondern tief greifend bereits im 18. und im 19. Jahrhundert verwurzelt.3 Gleichwohl sind es die letzten Jahrzehnte, in denen im Gefolge der neuen Medizintechnik die Grenzen des Todes in einer solchen Größenordnung in Frage gestellt wurden, dass es praktisch und ethisch problematisch wird, eine klare Grenze zwischen Leben und Tod zu ziehen. Denn „je mehr der Tod technisiert wird, desto schwieriger ist es, ihn vom Leben zu unterscheiden“, behauptet zu Recht die Philosophin Jocelyne Saint-Arnaud.4 Wenn die technisch-wissenschaftlichen Errungenschaften es möglich machen, die Vitalzeichen über die subjektive Existenz eines Menschen hinaus zu verlängern, wie dies gegenwärtig bei hirntoten Patienten geschieht, wenn es auch den größten Spezialisten praktisch nicht möglich ist, eine klare und präzise Definition des finalen Moments festzulegen, dann wird die Grenze zwischen Leben und Tod so schmal, dass sie sich in definitorischem Nebel verliert, der, um es milde auszudrücken, Angst erregt. Die Postmortalität beginnt genau da, wo die Grenzen zwischen Leben und Tod so weit verschwimmen, dass manch einer fürchtet, sie könnten manipuliert werden. Mit der Biologisierung des Todes, wie sie Ende des 18. Jahrhunderts in Angriff genommen wurde, sind mithin seine gesellschaftlich festgelegten Parameter derart tief greifend infrage gestellt worden, dass wir uns heute einer gänzlich neuen Festlegung seiner sozialen und medizinischen wie auch juristischen Territorien gegenübersehen.

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Vgl. Anne Carol, Les Médecins et la Mort XIX°-XX° siècle, op. cit., S. 128. Jocelyne Saint-Arnaud, „Réanimation et transplantation: la mort reconceptualisée“, Sociologie et Sociétés 28, n° 2, Herbst 1996, S. 102.

Der finale Prozess Im wissenschaftlichen Licht der Aufklärung erscheint der Tod erstmals unter dem Blickwinkel eines natürlichen Vorgangs, der sich unterteilen und analysieren lässt.5 Der vom Sensenmann verkörperte schicksalhafte Moment löst sich allmählich auf, um einer Konzeption des Todes in Begriffen einer biologischen Übergangserscheinung Platz zu machen, welche die Desintegration der funktionellen Einheit eines Organismus markiert. „Solange ich lebe, übe ich Wirkungen und Rückwirkungen als Masse aus. Bin ich gestorben, so übe ich Wirkungen und Rückwirkungen in Molekülen aus“: Diese berühmten Sätze von Diderot6 drücken perfekt die Verwissenschaftlichung des Todes aus, die man in seiner Epoche in Angriff nimmt. Inspiriert durch systematische Untersuchungen an Leichen verläuft die Entwicklung der klinischanatomischen Wissenschaft seit Beginn des 19. Jahrhunderts im Sinne einer Dekonstruktion der zeitlich-räumlichen Einheit des Todes, im Sinne seines Zerfalls in eine Vielzahl sukzessiver Phasen. Foucault hat die damit gesetzte historische Kehrtwende im Verhältnis zum Tode meisterhaft auf den Begriff gebracht: „Der Tod ist also vielfältig und zeitlich gestreut: er ist nicht jener absolute und privilegierte Punkt, an dem die Zeiten anhalten und kehrtmachen; wie die Krankheit hat er eine sich vielfältig verzweigende Gegenwart, deren verschlungenen Wegen die Analyse im Raum und in der Zeit nachgehen kann; ganz allmählich löst sich, hier und da, ein Knoten nach dem andern auf, bis das organische Leben, zumindest in seinen Hauptformen, weicht; denn noch lange nach dem Tod des Individuums kommen kleine und partielle ‚Tode‘, um die hartnäckigen Inselchen des Lebens aufzulösen.“7 Nicht nur sollte ab dem 19. Jahrhundert der Wissensschatz der Biomedizin die ehemalige Einheit des Todes in eine Reihe physiologischer Etappen auflösen, sondern auch der Prozess des Sterbens wird sich, um es genau zu sagen, sowohl diesseits als auch jenseits der Grenzen des individuellen Lebens ausdehnen. Insofern wird man unabhängig voneinander das Funktionsversagen eines oder mehrerer lebensnotwendiger Organe (funktioneller Tod) von dem Tod aller Organsysteme (klinischer Tod) und dem Zelltod in sämtlichen Geweben unterscheiden, aus denen der Organismus sich zu5 6 7

Vgl. Michel Vovelle, La Mort et l’Occident, op. cit., S. 177. Denis Diderot, D’Alemberts Traum, in: Philosophische Schriften I, Berlin (Aufbau) 1961, S. 539. Michel Foucault, Die Geburt der Klinik, op. cit., S. 156.

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sammensetzt (elementarer Tod).8 Diese Unterscheidung zwischen dem Ableben eines Menschen und der irreversiblen Schädigung seiner Gewebe ebnet medizinischen Eingriffen den Weg, die eine Verlängerung dieses Prozesses gestatten. Wie nämlich der Anthropologe Louis-Vincent Thomas erläutert: „Daraus folgt, dass sich zwischen das Leben und den vollständigen (Gewebe-)Tod verschiedene Stadien einschieben lassen“.9 Damit wird es immer schwieriger, die Grenzen des individuellen Lebens festzulegen. Dies gilt umso mehr, als die Vitalparameter und die Zeichen des Todes durcheinander geraten und sich – wie fortan bei hirntoten Menschen – umkehren. Wir werden weiter unten auf dieses Thema zurückkommen. Die seit dem 19. Jahrhundert stattfindende biomedizinische Dekonstruktion des Todes ist von der Erforschung seiner körperlichen und physiologischen Äquivalente ebenso wenig zu trennen wie von dem Begehren, die Kriterien für den Todesnachweis definitiv festzulegen. Von daher erscheint es allerdings paradox, dass die Bestimmung des genauen Todeszeitpunkts umso weniger eindeutig ist, je weiter die medizinische Wissenschaft sich entwickelt und je mehr Möglichkeiten es gibt, in den finalen Prozess einzugreifen. Und dies in dem Maße, wie die Körperzonen, die man für die Lebenserhaltung verantwortlich macht, je nach technischem Instrumentarium wechseln, womit die klinische Todesfeststellung immer komplexer wird.10 Vom Stethoskop über den Respirator bis zum Elektroenzephalogramm ist die biomedizinische Neudefinition der Grenzen des Todes nämlich aufs engste mit technologischen Errungenschaften verknüpft. Wenn der Tod als Prozess begriffen wird – in dem seine zeitliche Einheit in eine Vielzahl physiologischer Etappen zerfällt –, wächst gleichzeitig die Unsicherheit im Hinblick auf den Status des Sterbenden. Im Niemandsland zwischen Leben und Tod besetzt letzterer einen hoch technisierten Raum, in dem die körperliche Individualität von der Subjektivität tendenziell abgespalten ist. Angefangen vom komatösen Zustand und seinen zahlreichen medizinischen Definitionen bis hin zum Begriff des Coma dépassé wirft jene undefinierte Zone, wie wir sehen werden, Probleme ethischer, symbolischer, politischer und juristischer Natur auf.

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Vgl. Bernardino Fantini und Mirko Grmek, „La flamme et le cristal“, in: Lenoir, Frédéric und Jean-Philippe de Tonnac (Hrsg.), La Mort et l’Immortalité, op. cit., S. 1416. Louis-Vincent Thomas, Anthropologie de la mort, op. cit., S. 30f. Vgl. Anne Carol, Les Médecins et la Mort XIX°-XX° siècle, op. cit., S. 167.

Der bescheinigte Tod Als der Tod noch mit dem Atemstillstand gleichgesetzt wurde, reichte es für seinen Nachweis aus, dass der Spiegel, den man dem Sterbenden vor den Mund hielt, nicht mehr beschlug.11 Mit der Entwicklung der Medizin im 19. Jahrhundert und den Erkenntnissen über das Koma wurde die Todesfeststellung so weit problematisiert, dass man in dieser Zeit mit dem Einsatz rechtsmedizinischer Mittel begann, um das Ableben eines Menschen und seinen Übergang in den Zustand einer Leiche zu bestätigen. Diese Praxis fällt, ebenso wie der zunehmende Austausch des Priesters gegen den Arzt am Totenbett, mit der Medikalisierung des Sterbenden zusammen, mit seiner immer üblicher werdenden Einweisung ins Krankenhaus. Allerdings zog die Erkenntnis über den Grenzzustand zwischen Leben und Tod während des 19. Jahrhunderts massive Befürchtungen nach sich, vor der Zeit – das heißt lebendig – begraben zu werden, worauf Michel Vovelle hinweist.12 Von daher wird die Suche nach den physiologischen Zeichen des Todes zu einem bedeutenden Anliegen der biomedizinischen Wissenschaft. Und dies umso mehr, seit der Arzt ab 1800 in Frankreich auf der Grundlage seiner wissenschaftlichen Kenntnisse den Standesbeamten ablösen sollte, der seinerseits seit 1792 die Aufgabe hatte, den Tod einer Person offiziell zwecks Erteilung der Bestattungsgenehmigung festzustellen. Vor der Revolution dagegen war es dem Klerus vorbehalten, die standesamtlichen Auszüge zu erstellen und über die Begräbnisse Buch zu führen. Hier begegnet uns ein sozialer Wandel ersten Ranges: Der Kampf zwischen Wissenschaft und Religion bildete den Hintergrund dafür, dass der Priester am Totenbett gegen den Arzt ausgetauscht wurde, der damit den Status eines Standesbeamten erhielt; und in diesem Kampf blieb der Tod ein symbolischer Hauptstreitpunkt.13 Die neue amtliche Funktion des Arztes trat dabei übrigens in Widerspruch zu seiner primären Aufgabe, nämlich „den Augenblick des

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Vgl. ibid., S. 289. In der volkstümlichen Kultur des 19. Jahrhunderts ist diese Angst, lebendig begraben zu werden, sehr präsent; man findet sie bei Schriftstellern wie Balzac und Edgar Alan Poe, um hier nur diese beiden zu nennen. Zu diesem Thema siehe die Werke von Vovelle, La Mort et l’Occident und Mourir autrefois, op. cit. Zu einer Synthese der Beziehungen zwischen Medizin und Religion siehe Jean Baubérot, ibid.

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Todes so weit wie möglich hinauszuschieben“.14 Die Todesfeststellung wird dabei gleichzeitig zum Eingeständnis einer Niederlage – die übrigens zu einer doppelten werden kann, da es mit der Entwicklung des biomedizinischen Wissens auf theoretischer Ebene immer schwieriger wird, das Zeichen des Todes eindeutig anzugeben.15 Wenn die Festlegung der Zeichen des Todes zu einem vordringlichen Thema der biomedizinischen Wissenschaft wird, dann verdankt sich dies der juristischen Bedeutung, die der genaue Todeszeitpunkt im Hinblick sowohl auf Erbschaftsangelegenheiten als auch auf die Behandlung der sterblichen Überreste besitzt. So stellt sich seit dem 18. Jahrhundert die Frage nach dem genauen Augenblick, in dem der Körper eines Individuums zu dem einer Leiche wird. Mit dem letzten Herzschlag? Wenn der Körper abkühlt und erstarrt? Mit dem Beginn seiner bläulichen Verfärbung? Oder wenn Zeichen von Verwesung auftreten?16 Um voreiligen Beisetzungen vorzubeugen, ging der Staat im 19. Jahrhundert zunehmend zur Einrichtung von Leichenschauhäusern über, so dass sich eine Frist zwischen Todesfeststellung und Beerdigung der Leiche ergab.17 Gleichwohl dauert es bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass die Eingrenzung des genauen Todeszeitpunkts zu einer juristischen Angelegenheit ersten Ranges wird: Erst im Laufe der Sechziger Jahre nämlich werden die Grenzen des Todes auf technologischem Wege geöffnet, und seine Neubestimmung unter dem Begriff des „Hirntodes“ setzt sich durch. Mit dieser neuen Begrifflichkeit ergibt sich nicht nur eine Kluft zwischen dem juristischen und dem biologischen Tod eines Individuums, sondern, wie Anne Fagot-Largeault betont, auch das Nebeneinander „zweier operationaler Definitionen des Todes eines Menschen“, nämlich der des kardiovaskulären Todes und der des Hirntodes.18

Von der Reanimation zu einem neuen Begriff vom Tod Wenn ab den Fünfziger Jahren die physiologischen Grenzen des Todes infrage gestellt und dieser in gänzlich neue Begriffe gefasst wurde, so verdankt 14 15 16 17 18

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Vgl. Anne Carol, Les Médecins et la Mort XIX°-XX° siècle, op. cit., S. 83. Vgl. ibid., S. 188. Michel Vovelle, La Mort et l’Occident, op. cit., S. 456. Vgl. ibid. Anne Fagot-Largeault, Les Causes de la mort, op. cit., S. 29.

sich dies im Wesentlichen den Vorstößen der biomedizinischen Wissenschaft. Tatsächlich sind die neuen Gesichter des Todes „diejenigen, die von der Medizin selber fabriziert wurden“.19 Ohne die Reanimationstechniken, die es gestatten, den Stillstand von Herz und Atmung zu beheben, hätte das Konzept des „Hirntodes“ sich nicht entwickeln können.20 Die technische Möglichkeit, die physiologischen Grenzen des Todes hinauszuschieben, erlaubt somit, wie die Anthropologin Margaret Lock erläutert, dessen Neudefinition: „Da die künstliche Beatmung die Vitalfunktionen bei Patienten aufrechterhalten konnte, die ohne diese Maßnahme zwangsläufig tot gewesen wären, führte der Einsatz des Beatmungsgeräts schließlich dazu, dass der Begriff des Todes im herkömmlichen medizinischen Sinne überdacht wurde.“21 Der biomedizinische Prozess der begrifflichen Neufassung des Todes wurde in den Fünfziger Jahren eingeleitet. Der Respirator hat darin einen zentralen Stellenwert insofern, als er nicht darauf beschränkt ist, das Leben zu verlängern, sondern buchstäblich einen Prozess umkehrt, den man für schicksalhaft gehalten hatte. In diesem Zusammenhang erläutert die Juristin Anne Fagot-Largeault, dass „durch die Möglichkeit, Menschen im Zustand des Versagens von Herz oder Atmung ‚wiederauferstehen‘ zu lassen (Defibrillation, assistierte Beatmung), die eventuell reversible, d.h. nicht zwangsläufige Natur dieses Versagens unterstrichen wurde“.22 Hingegen ist es nicht der einzige Effekt der Reanimationstechniken, den Stillstand von Herz und Atmung als definitives Todeskriterium infrage zu stellen; vielmehr sorgen diese Maßnahmen auch dafür, dass sich zwischen Leben und Tod ein neuer Begriff von Raum und Zeit eröffnet.23 Künstlich am Leben gehalten und – auch wenn sie ihre zerebralen Funktionen endgültig verloren haben – mittels massiver technischer Unterstützung fortgesetzter Atmung sind die in dieses neue räumlich-zeitliche Gefüge gepressten Patienten vollkommen ab-

19 20 21

22 23

Anne Carol, Les Médecins et la Mort XIX°-XX° siècle, op. cit., S. 285. Vgl. Jocelyne Saint-Arnaud, „Réanimation et transplantation: la mort reconceptualisée“, op. cit. Margaret Lock, Twice Dead, op. cit., S. 58. („Because artificial ventilation could maintain vital functions in patients who would certainly have died without it, the use of the ventilator eventually precipitated a reconsideration of the conventional medical understanding of death.“). Anne Fagot-Largeault, Les Causes de la mort, op. cit., S. 18. Vgl. Anne Carol, Les Médecins et la Mort XIX°-XX° siècle, op. cit., S. 283.

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hängig von biomedizinischer Steuerung.24 Sie sind es, die, auf technischem Wege eingefangen zwischen Leben und Tod, dazu beitragen werden, dass der Tod eine neue Definition erfährt, die sich auf die Hirnfunktion gründet. Mit der Reanimationstechnologie steht die medizinische Fachwelt demnach seit Beginn der Sechziger Jahre einem neuen Typus von Patienten gegenüber, bei dem die zerebrale Funktion definitiv erloschen, die des Körpers und seiner Organe aber erhalten ist. Es waren – ohne dass wir hier auf die klinischen Einzelheiten eingehen können – zwei verschiedene Anstöße, unter denen sich einerseits in Frankreich der Begriff des Coma dépassé, andererseits in den USA der des Hirntodes entwickelte: Der erste war an die Reanimationstechniken geknüpft, der zweite an die neuen Möglichkeiten der Organtransplantation.25 Die Historikerin Anne Carol präzisiert diese Situation: „Es taucht also eine neue Definition des Todes auf, die sich sowohl aus den Fortschritten bei der Reanimation als auch aus den Erwartungen der Transplantationsmedizin ergibt. An dieser Definition, die dem Gehirn den zentralen Stellenwert einräumt, ändert sich einstweilen nichts. Vielmehr sind es die Fortschritte und die Methoden zur Erfassung der zerebralen Aktivität, die sich immer weiter verfeinern und zu Korrekturen nötigen.“26 Die juristische Anerkennung des Hirntodes setzt eine vollständige Kehrtwende in den bis dahin bei der Todesfeststellung zugelassenen Kriterien voraus. So kann jetzt ein Mensch, dessen Herz noch immer schlägt, gesetzlich für tot erklärt werden. Der Abstand, der sich damit zwischen dem juristischen und dem biologischen Tod eines Menschen auftut, ist für den Anthropologen David Le Breton durch einen radikalen Bruch des biomedizinischen Wissens mit der Welt der sinnlichen Wahrnehmung erzeugt.27 Das Ende der Fünfziger Jahre entstandene Elektroenzephalogramm, das in den Vereinigten Staaten bei der Diagnostik des Hirntodes breite Verwendung findet, zeugt von jener Kluft zwischen der gemeinsamen, sinnlich erfahrbaren Welt und der Instrumentalisierung, die den biomedizinischen Kenntnissen zugrunde liegt.28 24 25

26 27 28

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Vgl. Margaret Lock, Twice Dead, op. cit., S. 64. In der deutschen Neurologie werden beide Begriffe benutzt. Das „Coma dépassé“ ist ein aufgrund von Reanimationsmaßnahmen überlebtes Koma; der Ausgang ist dabei ungewiss und liegt nicht zwangsläufig im Hirntod (Anm. d. Übers.). Anne Carol, Les Médecins et la Mort XIX°-XX° siècle, op. cit., S. 167. Vgl. David Le Breton, La Chair à vif. Usages médicaux et mondains du corps humain, Paris (Métailié) 1993, S. 271. Auch wenn es namentlich bei Patienten im toxischen Koma in die Irre geführt hat, gehörte das Elektroenzephalogramm zu den ersten diagnostischen Instrumenten, die zum

Die juristische Anerkennung des Hirntodes ist von der Entwicklung der Transplantationsmedizin im Laufe der Sechziger Jahre nicht zu trennen. In erster Linie diente sie dazu, die Entnahme lebenswichtiger Organe bei Patienten zu ermöglichen, die künstlich am Leben gehalten werden. Die neue, vornehmlich instrumentelle Definition des Todes umfasst eine Reihe von Kriterien und Maßnahmen, die den vollständigen und irreversiblen Verlust der Hirnfunktionen sichern sollen. Selbstverständlich hingegen ist der Begriff des Hirntodes keineswegs. In Wirklichkeit ist er das Ergebnis angeregter theoretischer und juristischer Debatten, in denen es einerseits darum ging, das Gehirn zum organischen Zentrum menschlichen Lebens zu machen und, auf der anderen Seite, die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Organtransplantation sicherzustellen. Historisch kam es dazu, als 1967 der südafrikanische Arzt Christiaan Barnard die erste Herzverpflanzung durchführte. Hier war es die medienwirksam und juristisch geführte Kontroverse, durch die sich die medizinische Fachwelt vor die Notwendigkeit gestellt sah, strenge Kriterien für den Hirntod festzulegen.29 Das „Ad Hoc Committee of the Harvard Medical School to Examine the Definition of Brain Death“ veröffentlichte 1968 unter dem Vorsitz von Henri K. Beecher seine Ergebnisse.30 Dieses Komitee, das sich aus zehn Ärzten, einem Rechtsanwalt, einem Theologen und einem Historiker zusammensetzte, sollte die klinischen Schritte angeben, die zur Diagnose eines Hirntodes führen. Drei Kriterien wurden dabei festgelegt: Erstens das vollständige Fehlen einer Reaktion auf Reize, auch auf stärkste Schmerzreize; zweitens das vollständige Ausbleiben von Bewegungen und Spontanatmung; drittens das vollständige Erlöschen aller Reflexe.31 Diese drei Kriterien, so beschloss das Komitee, müssen zweimal, und zwar im Abstand von einem Tag, erfüllt sein. Einzig der Arzt ist vom Gesetz her befugt, den Hirntod eines Patienten zu bescheinigen. Zudem muss er unabhängig sein von eventuellen mit der Organverpflanzung verknüpften Interessen. Es ist dies eine juristische Vorsichtsmaßnahme, die freilich den Widerspruch des biomedizinischen Systems nicht entschärft, den das Harvard-Komitee betont: dass

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Beweis des Hirntods eingesetzt wurden. Zu dieser Frage siehe Anne Fagot-Largeault, Les Causes de la mort, op. cit., S. 25. Zu einer detaillierten Analyse der juristisch und in den Medien geführten Debatten um den Hirntod siehe das bereits zitierte Werk von Margaret Lock. Vgl. ibid., S. 89. Zu diesem Thema siehe Anne Fagot-Largeault, Les Causes de la mort, op. cit., S. 20.

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nämlich Menschen im vegetativen Zustand künstlich am Leben gehalten werden, während andere aufgrund von Organmangel sterben.32 Mit der Grundlage für den rechtsmedizinischen Status des Hirntodes in den USA formulieren die Empfehlungen des Harvard-Komitees in Wirklichkeit gleichzeitig eine Strategie, die zumindest teilweise das Problem des Organmangels beheben soll. Im Übrigen bestätigt der Chirurg Norman Shumway im Jahr 1970 den rein instrumentellen Charakter des Hirntodes: „Ich behaupte, dass jemand, dessen Hirn tot ist, tot ist. Dieses Kriterium ist allgemein anwendbar, denn das Gehirn ist das einzige Organ, das sich nicht transplantieren lässt.“33 Als im Laufe der Siebziger und Achtziger Jahre der Hirntod in den meisten westlichen Ländern anerkannt wurde, gelangte man nicht nur zu einer doppelten Definition des Todes; vielmehr gewannen auch dessen Grenzen auf technischem Wege an Elastizität. In diesem Punkt ist Jocelyne Saint-Arnaud sehr deutlich: „Unter diesen Bedingungen ist es unmöglich, einen Todeszeitpunkt anzugeben. Nichts im allgemeinen Erscheinungsbild des Toten gestattet uns, die positiven Todeszeichen (Hypothermie, Leichenstarre etc.) aufzufinden oder auch die negativen Zeichen des Lebens, da Atmung und Herzschlag durch Maschinen gewährleistet sind.“34 Die medizinische Todesfeststellung wird, um es mit Anne Carol zu formulieren, „eher zu einer Prognose denn zu einer Diagnose“.35 Da er eine Vielzahl von Interpretationen zulässt, die sich namentlich an die Klassifikation komatöser Zustände knüpfen, bleibt der Begriff des Hirntodes unter sozialem und ethischem Aspekt problematisch. Denn er verleitet zu einer „Regionalisierung der Stelle, an der der Tod stattfindet“, und zu einer Vervielfältigung seiner Definitionen.36 Dies gilt umso mehr, als die Kriterien für den Hirntod, wie wir sehen werden, keineswegs allgemein anerkannt sind und eine vollständig neue Definition der Subjektivität voraussetzen.

32 33 34 35 36

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Vgl. Jocelyne Saint-Arnaud, „Réanimation et transplantation: la mort reconceptualisée“ op.cit., S. 99. Zitiert bei David Le Breton, La Chair à vif, op.cit., S. 312. Jocelyne Saint-Arnaud, „Réanimation et transplantation: la mort reconceptualisée“, op. cit., S. 99. Anne Carol, Les Médecins et la Mort XIX°-XX° siècle, op. cit., S. 289. Bernard-Marie Dupont, „L’extrême-onction médicale. Assistance hospitalière pour la fin de la vie“, in: La Mort et l’Immortalité, op. cit., S. 1147.

Der Hirntod: eine neue Definition der Subjektivität In ihrem Werk Twice Dead behauptet Margaret Lock, die Entdeckung des Hirntodes in den Sechziger Jahren sei ein eminent politischer Akt, ohne den die Transplantationsmedizin sich niemals hätte entwickeln können.37 Über die juristischen und soziologischen Implikationen der Legalisierung des Hirntodes hinaus analysiert sie die symbolischen und kulturellen Kräfte, unter denen die technologische Neubestimmung der Grenzen des Todes möglich wurde. Dabei vergleicht sie die relative Leichtigkeit, mit der das Konzept des Hirntodes in den nordamerikanischen Gesellschaften anerkannt und legalisiert wurde, mit dem massiven Widerstand, auf den es in Japan traf, um hieraus auf die tief liegende Verknüpfung zu schließen, die zwischen der Vorstellung vom Tod und dem Begriff von Subjektivität besteht. Was ist ein Mensch? Worin besteht die Verbindung zwischen einem Individuum und seinem Körper? Wann hört eine Person tatsächlich auf zu existieren? Die Debatten rund um die Anerkennung des Hirntodes machen deutlich, dass es eine universal gültige Antwort auf diese Fragen nicht gibt, dass vielmehr die Grenzen des Todes wie die der Subjektivität kulturell und historisch festgelegt werden. Nicht nur, dass der Begriff des Hirntodes von der instrumentellen Logik, wie sie dem neuzeitlichen Okzident eigen ist, nicht abgelöst werden kann, auch die in diesem Begriff stillschweigend vorausgesetzte Vorstellung von der menschlichen Subjektivität zehrt vom Erbe des christlichen Dualismus.38 Allein eine eindeutige Trennung zwischen Körper und Geist kann sozial rechtfertigen, dass der Tod eines Menschen gleichbedeutend ist mit dem definitiven Verlust seiner zerebralen Fähigkeiten, während sein Herz und seine Lunge dank technischer Unterstützung weiterfunktionieren.39 In der westlichen Kultur zutiefst verankert, schafft der Körper-Geist-Dualismus einen geeigneten Boden dafür, dass der juristische Tod eines Menschen und sein biologischer Tod entkoppelt werden – wobei für ersteren zwangsläufig ein genauer Zeitpunkt angegeben werden muss, während letzterer ein wis-

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Vgl. Margaret Lock, Twice Dead, op. cit., S. 74. Zu dieser Frage siehe auch Jocelyne Saint-Arnaud, „Réanimation et transplantation: la mort reconceptualisée“, op. cit., S. 101. Vgl. Margaret Lock, Twice Dead, op. cit., S. 8.

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senschaftlich undefinierter Vorgang bleibt.40 Der Hirntod basiert auf einer von der Körperlichkeit gelösten Vorstellung von Subjektivität. Tatsächlich assoziiert man seit Descartes den Körper mit einer Maschine, mit dem bloß mechanisch Animalischen, und einzig das Bewusstsein erscheint als Garant für wahrhaft menschliches Leben. Die Gleichsetzung des Hirntodes mit dem Ableben eines Menschen ist nur in diesem Kontext möglich. In diesem Zusammenhang macht Margaret Lock deutlich, dass sich der erhebliche Widerstand der Japaner gegen die Legalisierung des Hirntodes einer gänzlich anderen Vorstellung von der Beziehung zwischen Körper und Subjektivität verdankt. Hier ist es der Körper als ganzer, der vom Geist der Person belebt wird, und jedes seiner Teile beherbergt ein Fragment ihrer Individualität.41 So widersetzt sich die japanische Vorstellung vom Körper zum einen der Verortung des Geistes im Gehirn und zum anderen der utilitaristischen Sichtweise, der zufolge die Organe wieder verwendet und ausgetauscht werden können. Und wenn ein jeder Körperteil ein Fragment des Geistes enthält, kann die Transplantation in der Tat nur als Angriff auf die Integrität der Person gewertet werden.42 Der Begriff des Hirntodes ist demnach kulturell in dem für die westliche Welt charakteristischen Körper-Geist-Dualismus verwurzelt, schließt sich darüber hinaus aber auch an die kybernetische Revolution an, die unmittelbar nach dem Krieg in den Vereinigten Staaten einsetzte.43 Die Kybernetik, wie Norbert Wiener und seine Kollegen sie entwickelten, hatte zum obersten Ziel, eine „intelligente Maschine“ zu erzeugen; diese sollte in der Lage sein, das menschliche Gehirn künstlich zu reproduzieren, unter dem man im Wesentlichen ein Organ der Steuerung und Verarbeitung von Information verstand. Abgesehen von seinen direkten Auswirkungen auf die Entwicklung von Informatik und Automation entstammen dem kybernetischen Modell namentlich die kognitiven und die Neurowissenschaften, die bei der Konzeption des Gehirns als Schaltzentrale der menschlichen Subjektivität Pate standen.44 Wie Margaret Lock zu Recht behauptet, ist der Begriff 40 41 42 43 44

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Vgl. Bernard-Marie Dupont, „L’extrême-onction médicale. Assistance hospitalière pour la fin de la vie“, in: La Mort et l’Immortalité, op. cit., S. 1420. Vgl. Margaret Lock, Twice Dead, op. cit., S. 226. Vgl. ibid., S. 228. Zu dieser Frage siehe mein vorheriges, 2004 bei Seuil erschienenes Buch L’Empire cybernétique. Des machines à penser à la pensée machine. Siehe das Werk von Jean-Pierre Dupuy, das sich dieser Fragestellung widmet: Aux origines des sciences cognitives, Paris (La Découverte) 1999.

des Hirntodes von dieser Definition des Gehirns als Organ der Steuerung nicht zu trennen: „Der Kopf als Hülle des Geistes (mind), der Seele, des Gehirns oder des Computers, der die Wissenschaft ständig herausfordert, wird heutzutage als Kontrollzentrum des Körpers begriffen. Der Kern der Individualität hat sich nach oben verlagert, und in dem Moment, wo dieser Kern unwiderruflich geschädigt ist, tritt der Tod ein.“45 Das Konzept des Hirntodes setzt also eine Neudefinition der Subjektivität voraus, die im Begriff der informationellen Steuerung begründet ist. Diese Logik der Kontrolle bildet, wie wir sehen werden, das Kernstück der postmortalen Gesellschaft. Dabei sollten wir uns vergegenwärtigen, dass sich im kybernetischen Modell die Grenzen zwischen Mensch und Maschine auflösen, und dies zugunsten eines informationellen Kontinuums. Wenn man sie ausschließlich als informationelle Prozesse begreift, so folgen beide, Mensch und Maschine, ein und demselben negentropischen, also gegen die Entropie gerichteten Bestreben. Das kybernetische Paradigma treibt in der Tat ein neues Verhältnis von Mensch und Maschine voran, das für manch einen in greifbarer Form vom hirntoten Patienten verkörpert wird.

Der Cyborg oder der programmierte Tod Wenn sich gegenwärtig die Grenzen des Todes ausdehnen, so ist dies von den technologischen Errungenschaften auf dem Gebiet der Biomedizin nicht zu trennen. Sie haben den Status des Sterbenden zutiefst verändert und letzteren gar zum Sinnbild eines neuen Verhältnisses von Mensch und Maschine werden lassen. So ist die idealisierte Figur des friedlich auf seinem Bett ruhenden, von seinen Angehörigen umgebenen Sterbenden einem intubierten, an zahlreiche Maschinen angeschlossenen Patienten gewichen, mit einer Armee von Pflegekräften und Ärzten um ihn herum, die sich gegenseitig ablösen.46 Der systematische Einsatz immer invasiverer Geräte, mit denen die Patienten am Leben gehalten werden sollen, hat übrigens den Anthropologen Chris Hables Gray veranlasst, im sterbenden Menschen den Ide45

46

Margaret Lock, Twice Dead, op. cit., S. 199 („The head, container of the mind, soul, brain or computer that continues to challenge full scientific explanation, is understood today as the control center of the body. The core of individuality has been displaced upward, and when this core is irreversibly damaged, death occurs“). Vgl. Sandra M. Gilbert, Death’s Door, op. cit., S. 164-167.

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altyp des Cyborg zu erblicken. Der Tod ist nach seiner Auffassung „das, was Mensch und Technologie in Wahrheit miteinander verbindet“,47 weshalb er dafür plädiert, dass wir uns über das neue Verhältnis von Mensch und Maschine im Klaren werden. Auch ohne uns seiner These vom Cyborg in vollem Umfang anzuschließen, müssen wir ihm darin Recht geben, dass die biomedizinischen Technologien einen vorrangigen Stellenwert bei der Neufestsetzung der Grenzen des Todes einnehmen. Waren die Reanimationstechniken ursprünglich dazu gedacht, Menschen zu retten, die einen Atemstillstand oder eine Herzattacke erlitten hatten, ansonsten aber gesund waren, so werden sie jetzt global angewandt, ohne Rücksicht auf den Allgemeinzustand der Patienten.48 Unabhängig von den zahlreichen ethischen Problemen, die hierdurch aufgeworfen werden, erscheint diese Normalisierung im Einsatz der Reanimationstechniken, namentlich der künstlichen Beatmung, als „Paradigma der Verlängerungsmedizin“.49 Wenn in einem nordamerikanischen Krankenhaus jeder Patient, in welchem Gesundheitszustand auch immer er sich befinde, für eine Reanimation und künstliche Lebensverlängerung geeignet ist, dann bringt dies eine vollständige Kehrtwende im Verhältnis zum Tod und zum sterbenden Menschen mit sich. So lässt sich seit Mitte der Siebziger Jahre auf den Intensivstationen (ICU) beobachten, dass man hier vom Warten auf den Tod zur „Entscheidung des Sterben lassens“ übergeht, wie Sandra M. Gilbert erläutert.50 Die Verlängerungsmedizin versetzt das Pflegepersonal in die Situation, den Tod verwalten zu müssen, der sich mit technischen Mitteln und einer immer ausgefeilteren biomedizinischen Steuerung verzögern lässt. Hier liegt dann der Übergang vom „natürlichen“ zum verwalteten, wenn nicht programmierten Tod. Dass auf den Intensivstationen in den Vereinigten Staaten die Patienten häufig zwischen 17.30 Uhr und 18 Uhr versterben, erklärt sich für die Anthropologin Sharon Kaufman daraus, dass Ärzte und Familie sich in dieser Zeitspanne am besten am Bett des Sterbenden einfinden können, um ihn in seinen letzten Augenblicken zu begleiten.51 Der Tod 47 48 49 50 51

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Chris Hables Gray, Cyborg Citizen, New York/London (Routledge) 2002, S. 107. Vgl. Jocelyne Saint-Arnaud, „Réanimation et transplantation: la mort reconceptualisée“, op. cit., S. 94. Ibid., S. 101. Sandra M. Gilbert, Death’s Door, op. cit., S. 166. Vgl. Sharon Kaufman, And a Time to Die: How American Hospitals Shape the End of Life, New York (Scribner) 2005. Zitiert von Sandra M. Gilbert, ibid., S. 165.

wird, mit anderen Worten, je nach Organisation des sozialen Lebens gesteuert und geplant. Wenn eine solche Verwaltung des Todes bereits in den öffentlichen Debatten über die Euthanasie und den begleiteten Suizid durchscheint, wovon im letzten Kapitel die Rede sein wird, so erreicht sie ihren vollen Umfang doch erst in der Organspende hirntoter Patienten. Mit der juristischen Anerkennung des Hirntods konnten, im Einklang mit der Entwicklung der Transplantationsmedizin, nicht nur die Grenzen des Todes ausgeweitet, sondern auch dessen Spezifika völlig neu präzisiert werden. Engmaschig kontrolliert ist die Diagnose des Hirntodes an eine Reihe von Maßnahmen gebunden, die den Patienten künstlich am Leben halten sollen, und zwar in der Hoffnung, seiner Organe – das Einverständnis seiner Familie vorausgesetzt – habhaft zu werden. Wie Chris Hables Gray betont, stellt sich in dem Maße, „wie die Politik des Todes und die Transplantationsmedizin miteinander vernetzt“ sind, die Frage nach dem subjektiven Status des Spenders.52 Vor dem Gesetz sind sie tot, ihr Körper aber wird künstlich am Leben gehalten: Die Patienten im Zustand des Hirntodes halten sich in einem engmaschig überwachten sozialen Raum auf, in dem Biologie und Technik definitiv miteinander verschmolzen sind. Im Auf und Ab zwischen Leben und Tod bewohnen diese „lebenden Leichen“ oder „Neototen“ ein Niemandsland, in dem ihr Status als Subjekt buchstäblich suspendiert ist.53 Diese neuen Leichen weisen keine körperlichen Kennzeichen auf, die man für gewöhnlich mit dem Tod in Verbindung bringt. Und in Grenzsituationen nimmt die Verwirrung zu: so bei hirntoten Frauen, die man künstlich am Leben hält, um ihre Schwangerschaft regulär zu beenden – wie im Fall von Susan Torres, der 2005 in den Vereinigten Staaten für Schlagzeilen sorgte. Die technische Möglichkeit, dass eine Schwangere im Zustand des Hirntodes ein Kind zur Welt bringen kann, ist aus Sicht der japanischen Öffentlichkeit der Beweis dafür, dass diese Person trotz Versagens ihres Gehirns noch am Leben ist.54 Der technische und hochgradig kontrollierte Charakter des Hirntodes verwandelt das Ableben tendenziell in einen Verwaltungsakt. Ganz allgemein weckt dieser neue high-tech-Tod bei den Patienten eine doppelte Be52 53

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Chris Hables Gray, Cyborg Citizen, op. cit., S. 110. Die Begriffe des „Neototen“, der „warmen“ oder „lebenden Leiche“ wurden in der Literatur wechselweise benutzt. Siehe hierzu insbesondere die bereits zitierten Arbeiten von Margaret Lock und Chris Hables Gray. Vgl. Margaret Lock, Twice Dead, op. cit., S. 273.

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fürchtung: einerseits die, zu früh „abgeschaltet“ zu werden und vor der Zeit zu sterben, um den Bedarf an Organen zu decken, oder aber, im Gegenteil, einem therapeutischen Übereifer ausgesetzt und unnütz am Leben gehalten zu werden.55 Wenn die Furcht vor einer denkbaren Entmenschlichung der Patienten sich öffentlich in den Forderungen nach einem begleiteten Suizid Gehör verschafft, so erklärt die Angst, die sozial gesetzten Grenzbestimmungen des Hirntods könnten sich auf andere Patientengruppen ausdehnen, das juristische Zögern mancher Staaten, wie Deutschland und Dänemark. Natürlich sorgt hier auch das Schreckgespenst der eugenischen Politik der Nationalsozialisten für die erhebliche Zurückhaltung gegenüber einem hypothetischen Euthanasieprogramm.56 Die neuen Grenzen des Todes, im Verbund mit der parallelen Entwicklung von Verlängerungs- und Transplantationsmedizin, legen freilich eine utilitaristische Moral, eine Moral des Geschäftes zugrunde, bei der manch eine Frage offen bleibt.

Die Auferstehungsmedizin Nicht erst seit gestern werden Leichen in der Medizin verwendet, bildet das Sezieren, das bis in die Antike zurückreicht, doch geradezu die Grundlage der modernen Medizin. David Le Breton hat in La Chair à vif gezeigt, dass sich Verwertung und Kommerzialisierung der sterblichen Überreste von Menschen historisch nicht auf den Unterricht in der Anatomie begrenzten, sondern vielfältigen Zwecken dienten, die von der Verwendung für pharmazeutische Produkte bis zum Weiterverkauf von Zähnen reichten.57 Wenn die Transplantationsmedizin zu einem Teil an diese lange Tradition des Recycling von Leichen anknüpfen kann, so hebt sie sich gleichwohl von ihr ab, was den Umfang des symbolischen Bruchs betrifft, den sie voraussetzt und der sich ebenso drastisch in ihrer Auffassung vom Tod manifestiert wie in ihrer Vorstellung von körperlicher Individualität. Untrennbar verbunden mit der juristischen Anerkennung des Hirntodes ist die Organverpflanzung nämlich an einer Neubestimmung der Grenzen des Todes beteiligt, insofern sie eine direkte, vom Tode ausgehende Lebensverlängerung möglich macht. 55 56 57

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Vgl. ibid., S. 78. Vgl. ibid., S. 308. Vgl. David Le Breton, La chair à vif, op. cit., S. 124-126.

Im Anschluss an eine lange Untersuchungsreihe zur Organspende in den USA hat die Medizinanthropologin Lesley A. Sharp aufgedeckt, dass in der Vorstellungswelt rund um die Transplantation die Präsenz des Todes tendenziell ausgelöscht und die Tatsache, dass die Organe aus einem lebenden Leichnam stammen, verleugnet wird.58 Der Ausdruck „Lebensspende“, der gemeinhin benutzt wird, um Organentnahme und -verpflanzung zu umschreiben, trägt dazu bei, den morbiden Aspekt von Maßnahmen dieser Art zu verschleiern. Auch in den staatlichen Kampagnen für die „Organspende“ scheint dieses Phänomen der Verleugnung des Todes durch: In großem Umfang werden hier Metaphern benutzt, die der Landwirtschaft und der Botanik entlehnt sind – wie z.B. der Begriff der „Ernte“, wo es um Organentnahmen geht.59 Indem es die ökonomische Logik verschleiert, die hinter der Transplantationsmedizin steckt, trägt das Imaginäre der Spende dazu bei, den utilitaristischen und pragmatischen Charakter jener Medizin herunterzuspielen, auch wenn die Tatsachen dafür sprechen, dass diese in den USA zu den lukrativsten medizinischen Disziplinen zählt; zugleich erhalten auf diesem Wege die Kliniken, die sich ihr widmen, ihr institutionelles Prestige.60 Auch zielt die Metapher der Spende darauf ab, Befürchtungen zu mildern, die sich an Verkauf und Kommerzialisierung des menschlichen Körpers und seiner Teile knüpfen. In einem tieferen Sinn reiht sich die Transplantationsmedizin in die Logik von Kontrolle und Steuerung ein, wie sie dem Arsenal der Biomedizin eigen ist. Während es sich beim überwiegenden Teil der Patienten mit Hirntod um Unfallopfer handelt, um Opfer von Ereignissen also, die per se unkontrollierbar sind, verwandelt die Organentnahme und -verpflanzung einen solchen sinnlosen Tod in eine technische Heldentat, wobei es der Spender ist, der den Status des Helden erwirbt.61 So stellt die Transplantationsmedizin gewissermaßen das äußerste Stadium in dem von der modernen Wissenschaft geführten Kampf gegen den Tod dar.

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59 60 61

Vgl. Lesley A. Sharp, Bodies, Commodities and Biotechnologies. Death, Mourning and Scientific Desire in the Realm of Human Organ Transfer, New York (Columbia University Press) 2007, S. 24 f. In den USA wird durchgängig der Ausdruck „harvesting organs from donors“ verwendet, vgl. ibid., S. 25. Vgl. ibid, S. 55. Vgl. Margaret Lock, Twice Dead, op. cit., S. 10.

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Zum Rang des Helden aufgestiegen, ruft der hirntote Spender indessen einen Widerspruch hervor: den zwischen dem „anerkannten Recht des Individuums, in Würde zu sterben“, d.h. ohne Schläuche und Maschinen, und der Notwendigkeit, das Beatmungsgerät vor der Organentnahme eben nicht abschalten zu dürfen.62 Von der Familie und den Vertrauten schmerzlich empfunden, drückt dieser Widerspruch sich in einem radikalen Wandel der Haltung gegenüber dem Subjekt im Zustand des Hirntodes aus, sobald dessen Spenderstatus feststeht. Der Hirntote geht vom Zustand des sterbenden Patienten in den des lebenden Leichnams über, in einen Zustand nämlich, der zwecks Gewährleistung der bestmöglichen Qualität der zu entnehmenden Organe durch ein gewaltiges technisches Aufgebot unterhalten wird. Dieser Übergang vom einen Zustand in den anderen kommt einem Prozess von Entsubjektivierung und Entmenschlichung gleich.63 Hier treffen wir auf einen hochgradig paradoxen Aspekt der Organspende, die dem Spender zwar den Status des Helden verleiht, dies aber anonym. Soll diese Vorschrift der Anonymität die Angehörigen des Spenders wie auch die des Empfängers schonen, so verweist sie doch auch auf die symbolischen Eigenarten der Transplantationsmedizin und auf deren Folgen hinsichtlich der Vorstellung von Subjektivität. In Anlehnung an die religiöse Bildersprache des Christentums bezieht sich die Organspende metaphorisch auf die Auferstehung: hier wird das Leben unmittelbar aus dem Tode heraus wiedergeboren.64 Die Vorstellung, dass der Spender über seine Organe wieder zum Leben erweckt wird, ist bei den Transplantierten übrigens derart gegenwärtig, dass viele von ihnen behaupten, diese Erfahrung habe sie vollkommen verändert.65 Durch Organspende am Leben gehalten, empfinden die Personen, die sich einer Transplantation unterzogen haben, im Allgemeinen zwei Gefühle gleichzeitig – das von Dankbarkeit und das von Schuld gegenüber ihrem Spender. Ausgehend von einer an Organempfängern durchgeführten Studie zeigt die Anthropologin Arlene Macdonald, dass letztere eine komplexe Konzeption von Unsterblichkeit entwickeln, in der die Grenzen zwischen Körper und Sub62 63 64 65

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Anne Fagot-Largeault, Les Causes de la mort, op. cit., S. 23. Vgl. Lesley A. Sharp, Bodies, Commodities and Biotechnologies, op. cit., S. 44. Vgl. ibid. Vgl. Arlene Macdonald, „Immortal Organs: Spirituality in the resurrected Lives of Organ Transplant Recipients“, Omega: The Journal of Death and Dying 53, n° 1-2, 2006, S. 5167.

jektivität sich fundamental verschieben.66 In den USA und in Kanada sind sogar Gemeinden entstanden, in denen sich die Familien von Spendern und Empfängern zusammenfinden. Hier erleben wir die Geburt eines neuen Typs von Ritualen, die dem Andenken der Verstorbenen dienen und über deren transplantierte Organe die Kontinuität ihrer Präsenz unterstreichen.67 So spektakulär sie sich gibt, ist die Transplantationsmedizin gleichwohl sehr weit von Auferstehung und Heilung entfernt, bleibt die große Mehrzahl der Organempfänger doch körperlich schwach und krank sowie für den Rest des Lebens angewiesen auf starke Medikamente in hoher Dosierung.

Der Sieg über den Tod durch Auflösung der Gattungsgrenzen Wenn einerseits die Transplantationsmedizin zunehmende Erfolge verbucht, auf der anderen Seite aber die Strategie der Sicherheitsüberwachung die Zahl der Todesfälle pro Unfall reduziert, so resultiert hieraus eine Ökonomie der Güterknappheit der menschlichen Organe. Die staatlichen Kampagnen für die Organspende und verschiedene nationale Strategien zur Maximierung der „Ernte“ haben im Übrigen nicht zur Behebung dessen geführt, was man fortan als Organmangel bezeichnete. Um dieses chronische Defizit auszugleichen, hat man mehrere Ersatzlösungen ins Auge gefasst, so z.B. die Xenotransplantation. Im Zusammenhang der Transplantationsmedizin bedeutet sie speziell die Verpflanzung von tierischen Organen und Geweben in den menschlichen Körper.68 Wie die übliche Verwendung von Schweineinsulin in der Behandlung des Diabetes zeigt, ist der Rekurs auf andere Gattungen in der Humanmedizin verbreitet. Allerdings bedeutet dies, dass mit der Xenotransplantation eine Grenze zwischen den Gattungen überschritten ist, die bisher als unverrückbar galt. Die Experimente zur Verpflanzung tierischer Organe auf den Menschen haben in den Sechziger Jahren begonnen, namentlich mit dem Fall des Dr. Claude Hitchcock, der im Jahr 1963 einer 65 Jahre alten Frau die 66 67 68

Vgl. ibid. Vgl. ibid. und Lesley A. Sharp, Bodies, Commodities and Biotechnologies, op. cit. Zu einer detaillierten Definition der Xenotransplantation und der mit ihr verbundenen Praktiken siehe Robert D. O’Neill, „Xenotransplantation: The Solution to the Shortage of Human Organs for Transplantation“, Mortality 11, n° 2, Mai 2006, S. 211-231.

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Niere eines Pavians transplantierte, wobei diese Frau vier Tage nach der Operation starb.69 Wenn bereits die Verpflanzung menschlicher Organe zahlreiche ethische Probleme aufwirft, so rührt die Entwicklung der Xenotransplantation an den eigentlichen Grundfesten der humanistischen Vorstellungswelt. Mit der Transplantation von Organen tierischen Ursprungs vollzieht sich die Auflösung der kulturell etablierten Grenze zwischen Mensch und Tier. Der Soziologin Mary Murray zufolge ist in den Debatten rund um das Thema Xenotransplantation die Befürchtung ausgesprochen präsent, dass die Abgrenzungen bezüglich des menschlichen Körpers, die der Humanismus vornimmt, zusammenbrechen könnten.70 Hinter dem wissenschaftlichen Argument des Risikos einer Übertragung von Retroviren wie HIV auf den Menschen stecke eine viel tiefer gelegene Angst, nämlich die vor einer Hybridisierung Mensch/Tier.71 Wie Verlängerungs- und Transplantationsmedizin die Grenzen zwischen Mensch und Maschine verändern, so sind mit der Xenotransplantation die Weichen für eine Erweiterung der Grenzen des Todes offenkundig neu gestellt. Dies gilt umso mehr, als der Rekurs auf die Organe einer anderen Spezies, die im konkreten Fall von genetisch veränderten Schweinen stammen, eine Lösung darzustellen scheint, die in den USA bereits jetzt für weniger begüterte Patienten ins Auge gefasst wird. Womit sich zeigt, dass die Verschiebung der Grenzen des Todes nichts an sozialer Ungleichheit aufhebt, im Gegenteil.

Von den Ursachen zu den Risiken: einer unbestimmten Grenze entgegen Ob es um die Reanimationstechniken geht, um den Hirntod, um die Transplantation: Die Fortschritte der Medizin erschweren zusehends eine klare Trennungslinie zwischen Leben und Tod. Die Grenzöffnung bezieht sich aber nicht nur auf die Stelle des Körpers, an der man den Tod festmacht, sondern auch auf dessen eigentliche Ursachen. Demografisch lässt sich nachweisen, dass man heute nicht im selben Alter und nicht aus denselben 69 70 71

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Vgl. ibid. Vgl. Mary Murray, „Xenotransplantation, Zoonosis, and the Space and Place of Humans and Animals in Late Modern Society“, Mortality 11, n° 1, 2006, S. 45-56. Vgl. ibid.

Gründen stirbt wie vor hundert Jahren.72 Dieser Wandel der Todesursachen im Laufe der Geschichte war der Ansatzpunkt dafür, dass seine theoretische Auflösung in eine Vielzahl von Risikofaktoren möglich wurde. Hierzu bemerkt die Soziologin Glennys Howarth, dass die seit dem 19. Jahrhundert sich entwickelnde klinische Pathologie auf eine Kausalverknüpfung zielt, die es gestattet, die Gründe für den Tod eines Menschen zu identifizieren. Diese Maßnahmen zur Kontrolle sowie zur demografischen und pathologischen Klassifikation bilden die eigentliche Grundlage des modernen Verhältnisses zum Tode: Dieses nämlich kennzeichnet sich durch die Überzeugung, man könne ihn steuern, bekämpfen und zurückdrängen.73 Mit seinem Konzept der Biomacht hat Foucault übrigens nachdrücklich auf die Bedeutung der Demografie für die Politisierung der Biologie hingewiesen. Dem Beispiel von Demografie und Pathologie entsprechend gründet sich auch die Soziologie auf eine Erfassung des Todes in Begriffen von Mess- und Kontrollierbarkeit, wie Durkheims berühmte Studie über den Selbstmord belegt.74 Seit Ende des Zweiten Weltkriegs erleben wir eine wahrhafte demografische Revolution: Die Lebenserwartung ist um 30 Jahre gestiegen und gestattet es, in Nordamerika und Westeuropa ein Alter von ungefähr 80 Jahren zu erreichen.75 Im Jahr 1948 empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation eine einheitliche Todesbescheinigung, um auf internationaler Ebene Statistiken erstellen zu können.76 Zwar wurde noch im vergangenen Jahrhundert mit der klinischen Festlegung der Todesursachen begonnen. Von Bedeutung ist aber ihre Umsetzung in die jeweilige Politik des öffentlichen Gesundheitswesens, denn die Bescheinigung der Todesursachen ist kein einfacher Vorgang. Vielmehr setzt sie, wie Anne Fagot-Largeault gezeigt hat, komplexe wissenschaftliche Überlegungen zu einer genauen ätiologischen Diagnose voraus. Hier ist zunächst die unmittelbare Todesursache (Komplikation im Falle von Krankheit, tödliche Läsion bei Unfall etc.) von der initialen Ursache (Krankheit, Unfall, Suizid etc.) zu trennen.77 In die Statistiken der Sterbefälle geht nur diese initiale Ursache ein. Je weiter die biomedizinischen 72 73 74 75 76 77

Vgl. Zygmunt Bauman, Tod, Unsterblichkeit und andere Lebensstrategien, op. cit. Vgl. Glennys Howarth, Death and Dying. A Sociological Introduction. Cambridge (Polity Press) 2007, S. 25. Vgl. ibid., S. 26. Vgl. Michel Vovelle, La Mort et l’Occident, op. cit., S. 678. Vgl. Anne Fagot-Largeault, Les Causes de la mort, op. cit., S. 51. Vgl. ibid., S. 45f.

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Kenntnisse voranschreiten, desto schwieriger wird es, die in eine Vielzahl von Risikofaktoren aufgelösten Todesursachen anzugeben. Bis in die Fünfziger Jahre hinein stellten Epidemien und Infektionskrankheiten die Haupttodesursachen dar, später führten die so genannten degenerativen Krankheiten (kardiovaskuläre und Krebserkrankungen sowie Morbus Alzheimer) die Sterblichkeitsstatistiken an.78 Dieser Wandel in den Todesursachen ist das Pendant der Verlängerung der Lebenserwartung und der Öffnung der Grenzen des Todes. Während die gesamte Nomenklatur des 19. Jahrhunderts eine Gruppe oder Untergruppe „Tod durch Altersschwäche“ enthielt, ist diese aus der gegenwärtig gültigen Klassifikation der Todesursachen vollständig verschwunden. Anne Fagot-Largeault deckt einen der fundamentalen Züge der postmortalen Gesellschaft auf, wenn sie darauf hinweist, dass „in dem Augenblick, in dem sich die Lebenserwartung in den so genannten entwickelten Ländern beträchtlich verbessert, […] das Alter aus der Klassifikation der Todesursachen [verschwindet]“.79 Indem das Alter als Todesursache entfällt, ist die Eintrittspforte zur Postmortalität insofern beschritten, als es theoretisch überhaupt keine zeitliche Begrenzung für die Ausdehnung des menschlichen Lebens mehr gibt. Die biomedizinische Dekonstruktion des Todes und die Vervielfältigung der Risikofaktoren scheinen letztendlich den Tod als solchen aufzulösen. Sehr deutlich zeigt sich dies in der gegenwärtigen Infragestellung der biologischen Unausweichlichkeit des Todes, wie sie von André Klarsfeld und Frédéric Revah in ihrem Buch Biologie de la mort vorgenommen wird: „Ist der Tod ein biologisch ‚sinnvoller‘ Prozess, oder stellt er alles andere als eine natürliche Notwendigkeit dar?“80 Es wird Gegenstand der folgenden Kapitel sein, die soziologische Reichweite einer solchen Fragestellung zu analysieren.

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Vgl. Michel Vovelle, La Mort et l’Occident, op. cit., S. 678. Anne Fagot-Largeault, Les Causes de la mort, op. cit., S. 107. André Klarsfeld und Frédéric Revah, Biologie de la mort, Paris (Odile Jacob) 2000, im Einbandtext.

Von der Entropie zum Selbstmord der Zelle. Die biomedizinische Dekonstruktion des Todes „Mortality is not a fundamental feature of life.“ Stanley Shostak1

Der Tod, auf ein bloßes Naturphänomen reduziert, das sich aus zufälliger Ursache oder aus der Abnutzung durch die Zeit ergibt, ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem komplexen biologischen Prozess geworden, der sich in eine Reihe physiologischer Phasen zergliedern lässt. Die wissenschaftliche Dekonstruktion des Todes, die vom Voranschreiten der okzidentalen Moderne nicht zu trennen ist, wird sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in dem Maße intensivieren, wie die in dieser Zeit entstehenden Mittel der Biomedizin sich perfektionieren. Zu dieser ersten Auflösung des Todes mit den Methoden der Wissenschaft gesellt sich, wesentlich brutaler und tiefer greifend, seine Desymbolisierung in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern.2 Diese doppelte Dekonstruktion, die wissenschaftliche und die symbolische, umreißt die postmortale Situation. Unter historischem Gesichtspunkt war es die unmittelbar nach dem Krieg in den USA sich entfaltende Kybernetik, die dem Durchbruch einer neuen, technowissenschaftlichen Konzeption vom Tod einen fruchtbaren Boden bereitete. Aus dem militärisch-industriellen Komplex während des Zweiten Weltkriegs geboren, präsentiert sich die Kybernetik als beides zugleich: als Reaktion der Technowissenschaften auf die Schrecken des Krieges und als neue Weltanschauung.3 Indem sich die Kybernetik dem doppelten Werk von Dekonstruktion und Desymbolisierung des Todes verschreibt, stellt auch sie dessen anthropologische Grundlage infrage, dadurch nämlich, dass sie ihn unter den zweiten Hauptsatz der

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Stanley Shostak, Becoming Immortal. Combining Cloning and Stem-Cell Therapy, Albany (State University of New York Press) 2002, S. 161 („Das Sterben gehört nicht grundsätzlich zum Leben“). Siehe hierzu den Abschnitt „Die Todesmaschine“ im ersten Kapitel. Hier beziehe ich mich direkt auf das erste Kapitel meines Buchs L’Empire cybernétique, op. cit.

79 C. LAFONTAINE, DIE POSTMORTALE GESELLSCHAFT, DOI 10.1007/978-3-531-92063-4_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010

Thermodynamik subsumiert und ihn so der Entropie gleichsetzt.4 Wie wir noch sehen werden, ist die Bedeutung des Begriffs der Entropie im Prozess der biomedizinischen Dekonstruktion des Todes zu einem großen Teil dem enormen Aufsehen geschuldet, das, historisch gesehen, von der Kybernetik erregt wurde. Auch wenn der Begriff der Entropie etwas abstrakt erscheint, sollten wir hier kurz darstellen, wie Norbert Wiener und seine Mitarbeiter ihn interpretiert haben, um so die gegenwärtigen Debatten rund um die wissenschaftliche Definition des Todes erhellen zu können. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs bringt Norbert Wiener das durch ihn geschaffene Unheil mit dem unausweichlichen Wirken von Unordnung und Entropie in Verbindung. Im Rahmen seines politischen Pessimismus geht er so weit zu behaupten, „daß wir Schiffbrüchige auf einem zum Untergang bestimmten Planeten sind.“5 Insofern der zweite Hauptsatz der Thermodynamik nach seiner Darlegung besagt, dass „jedes isolierte System […] nach einem Zustand größtmöglicher Unordnung oder zu größtmöglicher Ausgeglichenheit [strebt], indem die Austauschvorgänge in seinem Innern sich verlangsamen und danach zum Stillstand kommen“6, handelt es sich hier um ein Gesetz, dem das Universum als ganzes unterworfen ist. Allerdings ist das Gesetz der Entropie nur für geschlossene Systeme gültig, und Wiener begreift die Erde als offenes System. Von daher setzt er die Menschheit angesichts ihrer technischen Möglichkeiten von Informationssteuerung und -verarbeitung mit „Inseln örtlich abnehmender Entropie“ gleich.7 Die Information als die entscheidende Gegenkraft – und von daher „negentropisch“ – erweist sich demnach als Grundprinzip und Quelle jeglicher Organisation. Theoretisch als quantifizierbares physikalisches Phänomen begriffen, dessen Wirksamkeit innerhalb eines gegebenen Systems 4

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Die Thermodynamik, die von der Industriellen Revolution und dem hiermit gesetzten Problem der Verwandlung von Energie in Wärme (Arbeit) nicht zu trennen ist, nimmt mit der Kybernetik eine rein statistische Dimension an. Unter Berufung auf die Arbeiten der Physiker Boltzmann und Gibbs entwickelt Norbert Wiener somit eine probabilistische Version der Entropie, in der die Information zum fundamentalen Ordnungsprinzip wird. Zu diesem Thema siehe Jacques Grinevald, „Progrès et entropie, cinquante ans après“, in: Dominique Bourg und Jean-Michel Besnier (Hrsg.), Peut-on encore croire au progrès? Paris (PUF) 2000, S. 197-227. Norbert Wiener, Mensch und Menschmaschine. Kybernetik und Gesellschaft, Frankfurt/Bonn (Athenäum) 1966, S. 36. Philippe Breton, L’Utopie de la communication, Paris (La Découverte) 1995, S. 32. Norbert Wiener, ibid., S. 35.

messbar ist, wird die Information zu einem Konzept, das tiefer greift als der Begriff des Lebens selber, da es sich ebenso auf Menschen wie auf Maschinen anwenden lässt.8 Als allgemeiner Grundsatz, dem die physikalischen Systeme, die organischen wie die anorganischen, in ihrer Gesamtheit unterworfen sind, reiht sich die Entropie so, wie sie von den ersten Kybernetikern neu bestimmt wurde, voll und ganz in das Werk von Dekonstruktion und Desymbolisierung des Todes ein, das die Nachkriegszeit kennzeichnet.9 Wenn Norbert Wiener glaubt, die Welt als ganze gehorche „dem berühmten zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, welcher besagt, daß ein System Ordnung und Regelmäßigkeit zwar spontan verlieren, aber praktisch niemals gewinnen kann“, so illustriert dies die kybernetische Auffassung von der Welt, in der die Entropie zum Rang einer metaphysischen Wahrheit aufsteigt.10 Trotz allem sollte der tiefe Pessimismus, der von diesem Modell ausgeht, die technowissenschaftliche Vorstellungswelt ab den Fünfziger Jahren in vollem Umfang beflügeln, namentlich bei der Eroberung des Weltraums. Hieraus erklärt sich, warum der Wärmetod des Weltalls durch die prognostizierte Auslöschung unseres Sonnensystems geradezu den Ursprung der postmodernen Philosophie bildet: „Die Menschheit“, so Jean-François Lyotard, „sieht sich bereits mit der Notwendigkeit konfrontiert, in viereinhalb Milliarden Jahren das Sonnensystem verlassen zu müssen“.11 Wenn der Tod als solcher aus der kybernetischen Darstellung der Welt auch nicht verschwindet, so wird er doch „entanthropologisiert“, zu einem Abstraktum bis hin zu dem Punkt, dass er mit dem kosmischen Lauf der Planeten verschmilzt, wie folgendes Zitat von Edgar Morin bezeugt: „Wir haben zur Kenntnis genommen, dass auch die Sonne, von der wir abhängen, eines Tages sterben wird. Gewiss, wir mögen uns vorstellen, dass die Menschheit Mittel und Wege finden wird, noch vor diesem Tod in andere Sonnensysteme auszu8 9

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Diese Frage habe ich im ersten Abschnitt meines Buches L’Empire cybernétique, op. cit. ausführlich erörtert. Im Gefolge des kybernetischen Paradigmas hat die Gleichsetzung des Todes mit der Entropie eine erhebliche philosophische Resonanz erfahren, so dass Lévi-Strauss in den Traurigen Tropen sogar vorschlug, die Anthropologie in Entropologie zu überführen. In Anthropologie de la mort (op. cit, S. 18-20) analysiert Louis-Vincent Thomas diesen konzeptuellen Übergang vom biologischen zum physikalischen Tod. Norbert Wiener, Mensch und Menschmaschine, op. cit., S. 18. Jean-François Lyotard, Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien (Passagen), S. 118.

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wandern, um dort ihr Geschick fortzusetzen. Unmöglich ist dies nicht. Aber die neuesten Informationen über den Kosmos sind extrem beunruhigend“.12 Mit der Einordnung in das Konzept der Entropie sollte der Tod also den durch seine biologischen Grenzen gesetzten Rahmen verlassen. Dies beinhaltet der Begriff der Amortalität, den Edgar Morin 1951 prägte. Mit der begrifflichen Zuordnung des Todes zur Entropie kann sich daher ein neues Unsterblichkeitssystem herausbilden, das sich von den biologischen Fesseln des Daseins befreit.13

Die Entropie oder das Leben Wenn Xavier Bichat ab dem Jahr 1800 das Leben als die „Gesamtheit der Funktionen“ definierte, „die dem Tod widerstehen“, legte er nicht nur den Grundstein für die Geburt der Klinik; vielmehr ging er ein Stück weiter, indem er den Tod naturalisierte und ihn ins eigentliche Zentrum des Lebens verlagerte.14 So wenig diese Definition bereits von der biomedizinischen Destruktionslogik zu trennen ist: Mit der Entwicklung der Molekularbiologie und der Neuformulierung des Todes in Begriffen der Entropie erhält sie einen noch radikaleren Sinn. Die Molekularbiologie, die sich dem Import kybernetischer Konzepte und dem endgültigen Einzug der Physik in die Wissenschaften vom Leben verdankt, treibt nämlich Bichats Prämissen noch weiter voran: Sie macht aus dem Leben ein der Entropie entgegenwirkendes, ein negentropisches Phänomen, wie der Genetiker Axel Kahn erläutert: „Das Leben ist ein weiteres Beispiel für den Mechanismus, durch den die Entropie lokal herabgesetzt wird und durch den sich damit das Niveau der molekularen Organisation im Innern lebender Organismen aufgrund einer Energiequelle erhöht […], die im Wesentlichen von der Sonne gestiftet wird“.15 Auch André Klarsfeld und Frédéric Revah betonen den negentropischen Charakter des Lebens, wenn sie behaupten, dass der Aufbau der le12 13 14 15

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Edgar Morin, „Ouverture. L’homme et la mort“, in: La Mort et l’Immortalité, op. cit., S. 48. Siehe hierzu namentlich das Werk von Lucien Sfez, La Santé parfaite. Critique d’une nouvelle utopie, Paris (Éd. du Seuil), 1995, S. 337. Zu dieser Frage siehe Michel Foucault, Die Geburt der Klinik, op. cit. Siehe ferner das Buch von André Klarsfeld und Frédéric Revah, Biologie de la mort, op. cit., S. 18. Axel Kahn, „Une vie qui s’éternise. Mort biologique et immortalité“, in: La Mort et l’Immortalité, op. cit., S. 1375.

benden Zelle „den lebenden Systemen ermöglicht, dem harten Gesetz der Entropie zu entkommen, weil er ihnen die Fähigkeit verleiht, Materie und Information mit ihrer Umgebung auszutauschen“.16 Zu Recht als einer der Begründer der Molekularbiologie bezeichnet, nimmt der Physiker und Nobelpreisträger Erwin Schrödinger in seinem 1944 veröffentlichten Werk Was ist Leben? eine Neugruppierung der Wissenschaften in Angriff, deren Zentrum das Paradigma der Informatik und das Konzept der Entropie darstellen.17 Auch wenn sich hierin viele gezwungene, ungenaue und spekulative Assoziationen finden, stützt sich das rein mechanistische Modell des Lebendigen, das Schrödinger in diesem Werk entwickelt, konzeptuell auf das neue Paradigma der Biologie. Und dieser Text ist es denn auch, der erstmals den Begriff des genetischen Codes präsentiert. Die Gesetze, denen die Übertragung des Erbguts gehorcht, bindet er in den von der Thermodynamik gesetzten Rahmen ein. Wie die Wissenschaftshistorikerin Evelyn Fox Keller erläutert, richtet Schrödinger sein Augenmerk nicht auf den Ursprung oder die Entstehung des Lebens, sondern auf dessen Fähigkeit, für eine gewisse Zeit dem Tod zu widerstehen, der Entropie zu entkommen.18 „Das Leben“, schreibt er, „scheint ein geordnetes und gesetzmäßiges Verhalten der Materie zu sein, das nicht ausschließlich auf ihrer Tendenz, aus Ordnung in Unordnung überzugehen, beruht, sondern zum Teil auf einer bestehenden Ordnung, die aufrechterhalten bleibt“.19 Aus Sicht des Physikers also zeichnet sich ein lebender Organismus durch seine Fähigkeit aus, zumindest zeitweilig die Entropie zu bekämpfen, die fortan ein anderes Wort für den Tod ist. Wenn Schrödinger einerseits auf Bichat rekurrieren kann, indem er das Leben als das definiert, was für eine bestimmte Zeit dem Tod widersteht, so führt ihn zu diesem Postulat doch eine gänzlich andere Art, das Leben zu betrachten: Schrödinger zufolge nämlich ist es der Transmissionscode des genetischen Materials, der Organisation und Lebenserhaltung eines Organismus garantiert. Noch bevor im Jahr 1953 Watson und Crick die Doppel16 17 18 19

André Klarsfeld und Frédéric Revah, Biologie de la mort, op. cit. S. 40. In diesem Abschnitt greife ich die Analyse auf, die ich bereits in L’Empire cybernétique, op. cit., S. 195-208 entwickelt habe. Vgl. Evelyn Fox Keller, Le Rôle des métaphores dans le progrès de la biologie, Paris (Les Empêcheurs de tourner en rond), 1999. Erwin Schrödinger, Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet, München/Zürich (Piper) 1999, S. 122.

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helix als Struktur der DNA entdecken, verlagert er seine Untersuchungen zur Funktionsweise des Lebenden auf die physikalisch-chemische Ebene, d.h. auf eine Ebene außerhalb des Lebens selber – von daher die konzeptuelle Angleichung des Todes an die Entropie. Allerdings gewinnt die neue Auffassung vom Lebenden ihren vollen Sinn erst, als Watson und Crick mit den Begriffen des genetischen Codes und der genetischen Information die kybernetischen Konzepte auf die Biologie übertragen.20 Wichtig hieran ist, dass die Molekularbiologie, dem Beispiel der Kybernetik folgend, an der Auslöschung der Grenzen zwischen Leben und Nicht-Leben insofern mitwirkt, als hier das Informationsmodell undifferenziert auf die Materie als ganze angewandt wird. „Selbst lebende Systeme jedoch“, erkannte Norbert Wiener 1964, „leben (aller Wahrscheinlichkeit nach) nicht unterhalb der Molekulargrenze“.21 Und, wie Foucault in „Das Leben: Die Erfahrung und die Wissenschaft“ präzisiert: „Das Leben und der Tod sind an sich keine Probleme der Physik“, ist doch „für den Physiker eine genetische Mutation, ob sie nun tödlich oder nicht ist, nichts anderes als die Ersetzung einer Nukleinbase durch eine andere.“22 Wo zwischen Lebendem und Nicht-Lebendem gar nicht erst unterschieden wird, kann man die Frage des Todes getrost auf das Phänomen der Entropie reduzieren. Verarbeitung und Steuerung von Information erscheinen dann als Methode, die Unordnung zumindest vorläufig zu bekämpfen und den Tod zurückzudrängen. Und im Übrigen ist es dieses Anliegen, die Dekodierung und Manipulation der genetischen Information, das sich ab den Sechziger Jahren die Molekularbiologie und ihr Korrelat, die Gentechnik, zueigen machen.

Das Buch des Lebens Unter Verweis auf die Bedeutung der Informationstheorie für die Entwicklung der zeitgenössischen Biologie bezieht Foucault sich auf den Philosophen der Naturwissenschaften, Georges Canguilhem, für den das Spezifi20

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Zur Frage der Verbindung zwischen dem kybernetischen Paradigma und der Molekularbiologie siehe das bereits zitierte Werk von Evelyn Fox Keller sowie Lily Kay, Das Buch des Lebens: wer schrieb den genetischen Code? Frankfurt (Suhrkamp) 2005. Norbert Wiener, Gott & Golem Inc., Düsseldorf/Wien (Econ) 1965, S. 69. Michel Foucault, „Das Leben: Die Erfahrung und die Wissenschaft“, Dits et Écrits, Schriften in vier Bänden, IV, Frankfurt (Suhrkamp) 2005, S. 955.

kum alles Lebendigen in seinem Potenzial liegt, Fehler zu produzieren und demnach gerade nicht mechanisch auf die ihm zugrunde liegenden informationellen Codes zu reagieren. „Denn auf dem fundamentalsten Niveau des Lebens geben die Spiele des Codes und der Dekodierung einem Zufall Raum, der, bevor er Krankheit, Mangel oder Missbildung ist, so etwas wie eine Störung im Informationssystem ist, etwas wie ein ‚Versehen‘. Letztlich ist das Leben – daher sein radikaler Charakter – das, was zum Irrtum fähig ist.“23 Zwar ist eine der wesentlichen Konsequenzen der Entdeckung der DNA-Struktur aus Sicht von Canguilhem die Neudefinition des Lebens als Nachricht, als Bedeutung; trotz allem aber bleibt es grundsätzlich unkontrollierbar.24 Und hier, wo der Philosoph der Naturwissenschaften das Wesen des Lebenden selbst sieht, nehmen andere nur eine Hürde wahr, die es zu nehmen gilt, will man zum Buch des Lebens gelangen. In ihrem Werk unter dem eindeutigen Titel Das Buch des Lebens: wer schrieb den genetischen Code? zeigt die Wissenschaftshistorikerin Lily Kay, wie sich im Begriff des genetischen Codes die okzidentale Metaphorik des „Großen Buches der Natur“ fortsetzt.25 In den Fußstapfen des biblischen Erbes und der Wissenschaft Newtonscher Prägung rekurriert der Begriff des Codes auf die Vorstellung von einer Universalsprache, die man nur verstehen und entziffern müsse, um sie alsdann zu beherrschen. Wenn sie den Begriff des Codes für den Modus der physikalisch-chemischen Übertragung des Erbguts wählen, tradieren die Gründungsväter der Molekularbiologie, ohne sich dessen unbedingt bewusst zu sein, die Metaphysik des „Buches der Bücher“ – mit dem kleinen Unterschied allerdings, dass es fortan darum geht, das Buch des Lebens zu dekodieren, d.h. das Genom. Von daher lässt sich der Gedanke eines universellen Codes des Lebenden unter historischem Aspekt zwanglos in die okzidentalen Grundvorstellungen einordnen. Dabei sollten wir allerdings nicht den Kontext aus dem Auge verlieren, in dem die Molekularbiologie entstand: in den Vereinigten Staaten der Nachkriegsjahre. In der Tat nämlich wird der genetische Code, wie Lily Kay darlegt, nach dem Krieg zum metaphorischen Steuerungs- und 23

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Ibid., S. 1593. Siehe auch Daniela Cerqui, „La société de l’information entre technologies de communication et technologies du vivant: l’immortalité par la maîtrise du code“, Revue européenne des sciences sociales, Band XL, n° 123, S. 169-180. Vgl. Nikolas Rose, The Politics of Life Itself, op. cit., S. 44. Ich nehme hier einen Abschnitt aus meinem Buch L’Empire cybernétique, op. cit., S. 200, wieder auf.

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Kontrollzentrum des Lebens.26 Diese wissenschaftliche Tendenz, eine Logik von Kontrolle und Befehl im eigentlichen Zentrum des Lebens zu implantieren, verkörpert sich vertieft im Begriff des genetischen Programms, wie neben anderen Forschern der Biologe und Nobelpreisträger François Jacob ihn entwickelte.27 Die Grundsätze des zentralen Dogmas der Molekularbiologie, wonach die genetische Information linearen Charakter trägt und die äußere Umgebung keinerlei Einfluss auf die Gene nimmt, werden hier noch ein Stück weitergetrieben: Das Konzept des genetischen Programms geht davon aus, dass Organisation und Überwachung der Lebewesen in ihrer Entwicklung von ihm ihre Befehle ebenso erhalten wie die Arbeitsgänge eines Computers durch das Programm der Informatik.28 Hinter den Begriffen des genetischen Codes oder Programms verbirgt sich im Grunde der Gedanke, dass ihre Dechiffrierung den Zugang zum „Buch des Lebens“ und zu dessen Beherrschung eröffnen kann, womit gleichzeitig die Grenzen des Todes aufgehoben wären.

Das unsterbliche Gen „Wir haben das Geheimnis des Lebens gefunden!“29 Diese Aussage, die Francis Crick zugeschrieben wird30, zeugt von den sakralen Qualitäten der Gene in unseren Gesellschaften. Wenn die Gene die Grundlage allen Lebens sind und gleichzeitig das, was über das individuelle Dasein hinaus fortexistiert, dann hüten sie in der Gedankenwelt von Wissenschaft und Medien die Geheimnisse der Unsterblichkeit.31 Im Zusammenhang mit der Evolutionsbiologie sorgt die Mystik des Gens dafür, dass dieses zum Inbegriff der Unsterblichkeit des Lebens wird; und die Individuen sind nichts weiter als dessen temporäre Vehikel. Da sie den Platz einnehmen, der ehedem im 26 27 28 29 30 31

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Vgl. Lily Kay, Das Buch des Lebens: wer schrieb den genetischen Code? op. cit., S. 20. Vgl. François Jacob, Die Logik des Lebenden: eine Geschichte der Vererbung, Frankfurt (Fischer) 2002. Vgl. Marie-Christine Maurel und Paul-Antoine Miquel, Programme génétique: concept biologique ou métaphore? Paris (Kimé) 2001. Zitiert in David F. Noble, Eiskalte Träume. Die Erlösungsphantasien der Technologen, Freiburg i. Br./Basel/Wien (Herder) 1998, S. 235. Francis Crick ist der Mitentdecker der Doppelhelix-Struktur der DNA. Vgl. Dorothy Nelkin, „God Talk: Confusion between Science and Religion. Posthumous Essay“, Science, Technology & Human Values, 29, n° 2, Frühjahr 2004, S. 140.

Christentum der Seele vorbehalten war, erblickt man in den Genen die Quelle der irdischen Unsterblichkeit: Mit Beendigung des körperlichen Lebens sind sie es, die reinkarniert werden.32 André Klarsfeld und Frédéric Revah fassen dies perfekt zusammen: „Im Gegensatz zu uns, den armen sterblichen Organismen, sind sie, die Gene, in gewisser Weise unsterblich, da sie von der einen Generation auf die nächste übergehen.“33 Die Heiligsprechung des Gens im Rahmen der Dechiffrierung des menschlichen Genoms entspricht der von Nikolas Rose als „Molekularpolitik“ bezeichneten Form der heutigen Biomacht, die das Leben als physikalisch-chemisches Phänomen betrachtet, das begriffen und beherrscht werden kann.34 Auch wenn die jüngste Genom-Forschung dem zentralen Dogma der Molekularbiologie widerspricht, wonach die Produktion eines Proteins aufgrund der Informationen eines einzigen Gens erfolgt, wird der den Genen zugedachte sakrale Charakter nicht infrage gestellt.35 Für die Soziologin Dorothy Nelkin spiegelt sich diese Anbetung der Gene unter anderem im Fetischismus der DNA, die sogar das wahre Wesen der subjektiven Individualität bergen soll.36 Nach allem, was man über das Genom hört, beherbergt jedes kleine Bruchstück der DNA, als förmliche Reliquie der postmortalen Welt, das informationelle Wesen eines Menschen, seine genetische Identität. Von den Verheißungen des Projekts „menschliches Genom“ begeistert, erklärte der Molekularbiologe und Nobelpreisträger Walter Gilbert im Jahr 1990, dass man demnächst den Inhalt eines Menschen auf eine CD brennen könne.37 Ein solcher Reduktionismus, so viel ist sicher, ruft eine „Genetisierung der Identitäten“ herbei, eine Definition der subjektiven Potentiale je nach individuellem Genom.38 Vom Gen für die Aggressivität bis 32 33 34 35

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Vgl. ibid., S. 145. André Klarsfeld und Frédéric Revah, Biologie de la mort, op. cit., S. 101. Vgl. Nikolas Rose, The Politics of Life Itself, op. cit., S. 44-46. Diese neueren Forschungen neigen zu der Annahme, dass das menschliche Genom nicht aus einer Reihe voneinander unabhängiger Gene als Trägern von Prädispositionen für bestimmte Krankheiten besteht, sondern dass es weit eher als ein komplexes Netzwerk von Interaktionen zwischen den Genen funktioniert. Zu diesem Punkt siehe Denise Caruso „A Challenge to Gene Theory, a Tougher Look at Biotech“, New York Times, 1. Juli 2007. Im Internet: http://query.nytimes.com/gst/fullpage.html?res=9D0DE4DA 173IF932A35754C0A9619C8B63 (abgerufen im Juli 2007). Vgl. Dorothy Nelkin, „God Talk: Confusion between Science and Religion. Posthumous Essay“, op. cit., S. 146. Vgl. Lily Kay, Das Buch des Lebens: wer schrieb den genetischen Code?, op. cit., S. 15. Vgl. Nikolas Rose, The Politics of Life Itself, op. cit., S. 109-113.

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zum Gen für die Depression: Die Konturen der subjektiven Identität finden sich immer detaillierter durch jenes sakrale Genom umrissen. Die Molekularpolitik resultiert bei weitem nicht nur aus Herrschaftsansprüchen der Wissenschaft, die sich den Individuen von außen her aufdrängen; vielmehr wird durch sie, Nikolas Rose zufolge, eine neue Form von Subjektivität begünstigt, bei der ein jeder für seine Gesundheit selber verantwortlich ist. Die aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung sich ergebende Einschätzung der eigenen genetischen Prädispositionen und Risikofaktoren für diese oder jene Krankheit erzeugt das Gefühl, seinen Körper ins Unendliche kontrollieren und perfektionieren zu können, um so gegen die Krankheit ankämpfen und letzten Endes sein Leben verlängern zu können.39

Die Evolution, die Sexualität und der Tod Von Freud bis Georges Bataille – für ihn ist die Erotik ein kleiner Tod – haben zahlreiche Autoren eine Verbindung zwischen Tod und Sexualität hergestellt. Aber auch in der Entwicklung der gegenwärtigen Biologie, die von diesen psychoanalytischen und philosophischen Betrachtungen unberührt ist, nimmt die Beziehung zwischen Sexualität und Tod einen hohen Stellenwert ein. Aus neodarwinistischer Sicht ist der Tod das Ergebnis der geschlechtlichen Fortpflanzung. Demnach wäre er die unvermeidbare Konsequenz des Anpassungsprozesses: Über die Kette der Generationen hinweg soll er das Überdauern der Gattung gewährleisten, da die Jungen im fortpflanzungsfähigen Alter biologisch besser geeignet sind zu überleben als ihre Vorfahren.40 Zwar wird dieser evolutionistische Ansatz – der Tod als Ergebnis der natürlichen Selektion – heutzutage angefochten; die Vorstellung von der genetischen Unsterblichkeit aber bleibt ihm theoretisch weiterhin verbunden. Lange bevor die Struktur der DNA entdeckt und der Begriff der genetischen Information entwickelt wurde, noch bevor also geklärt war, auf welchem Wege das Erbgut sich überträgt, hat der deutsche Biologe August Weismann die Biologie revolutioniert, indem er „eine strikte Trennung einführte zwischen dem unsterblichen Träger des Erbguts und

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Vgl. ibid. Vgl. André Klarsfeld und Frédéric Revah, Biologie de la mort, op. cit.

den Merkmalen, die der sterbliche Organismus zum Ausdruck bringt“.41 Auf der Suche nach einer wissenschaftlichen Erklärung für den Tod und das Altern vollzog er seit 1883 eine begriffliche Unterscheidung zwischen „den sterblichen (somatischen) Zellen des Körpers und den Keim- bzw. Geschlechtszellen“, um daraufhin die „These von der potenziellen Unsterblichkeit der einzelligen Organismen zu vertreten und den Tod in einen evolutionistischen Kontext zu rücken“.42 Zu Weismanns Unterscheidung zwischen Keim- und somatischen Zellen gesellt sich, dem Wissenschaftshistoriker Charles Lenay zufolge, in der heutigen Biologie die Trennung zwischen Genotyp und Phänotyp, d.h. zwischen dem genetischen Erbe als solchem und der Ausprägung, die es während des Lebens eines Individuums erfährt.43 Vor dem Hintergrund der theoretischen Untergliederung in Keim- und somatische Zellen lässt sich der Tod als unmittelbare Folge der geschlechtlichen Fortpflanzung verstehen; gleichzeitig wird im Zentrum der reproduktiven Zellen aber auch ein unsterblicher Kern platziert.44 Die in der geschlechtlichen Reproduktion gelegenen Schranken zu überwinden, um direkt zu jenem Kern von Unsterblichkeit vorzustoßen, ist dies nicht das aktuelle Anliegen aller Forschungen zum Klonen und zu den Stammzellen? Hier rühren wir an eine der tiefer gelegenen Triebfedern der wissenschaftlichen Vorstellungswelt unserer Tage.

Die Mystik des Klonens Die Geburt von Dolly im Jahr 1996 markierte den definitiven Eintritt der Wissenschaft in die postmortale Ära. Als erstes mittels Kerntransfer in eine erwachsene somatische Zelle geklontes Säugetier wurde das berühmte Schaf zum „Totemtier“ unserer Zeit, das den Siegeszug der Technowissenschaft

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Charles Lenay, „Les limites naturelles de la durée de vie et la question de l’hérédité de l’acquis“, in: Études sur la mort. Revue de la société de thanatologie, Paris, n° 124, 2003, S. 43. Marie-Christine Maurel, „Pérennité du germen, mortalité du soma“, in: ibid., S. 37. Vgl. Charles Lenay, „Les limites naturelles de la durée de vie et la question de l’hérédité de l’acquis“, in: ibid., S. 55. Vgl. ibid.

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versinnbildlichte.45 Ian Wilmut, einer von Dollys Schöpfern am Roslin Institute, sah in ihr denn auch den Beweis für das Ende des „biologisch Unmöglichen“. Mit diesem Schaf sollte sich also das Zeitalter der „biologischen Steuerung“ ankündigen, eine Epoche, in der die Biologie als solche dem Ehrgeiz des Menschen nicht länger Einhalt gebietet.46 Das Klonen von menschlichem Material, ob zum Zwecke der Fortpflanzung oder der Therapie, präsentiert sich als neuer Gral – mit der Macht, die vom organischen Leben gesetzten Grenzen wissenschaftlich zu überwinden. Zwar hat der vorzeitige Tod von Dolly im Jahr 2003 die Apostel des reproduktiven Klonens in ihrem Eifer ein wenig ernüchtert. Doch verkörpert der Klon auch weiterhin in radikaler Form die „Genetisierung der Identitäten“, indem er die Illusion einer möglichen informationellen Unsterblichkeit nährt. Jenseits der ethischen Fragen, die das reproduktive Klonen angesichts der mit ihm verbundenen Risiken von sich aus aufwirft47, und auch jenseits der Probleme des subjektiven und juristischen Status eines eventuellen Klons48 ist die Vorstellung verbreitet, dass die denkbare, genetisch identische Reproduktion eines Menschen einer „leibhaftigen Wiederauferstehung“ gleichkomme.49 Mit einem Buch unter dem Titel Oui au clonage humain. La vie éternelle grâce à la science hat Raël es im Januar 2003 geschafft, die internationale Presse in Atem zu halten: mit der Verlautbarung nämlich, dass ein erster menschlicher Klon geboren sei. Abgesehen vom Bluff und dem Werbegag für die Sekte findet diese Mystik des Klonens ihren Platz durchaus auch in der wissenschaftlichen Suche nach irdischer Unsterblichkeit. Das biologische Klonen 45

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Vgl. Sarah Franklin, „Ethical Biocapital. New Strategies of Cell Culture“, in: Sarah Franklin und Margaret Lock (Hrsg.), Remaking Life and Death. Toward an Anthropology of the Biosciences, Santa Fe (School of American Research Press) 2003, S. 105. Vgl. ibid., S. 100. Weit entfernt von ausreichender technischer Beherrschung befindet sich das Klonen per Kerntransfer vielmehr noch weitestgehend im experimentellen Stadium. So waren bis zum Klonen von Dolly nicht weniger als 250 Versuche nötig, ohne die entnommenen Eizellen mitzuzählen. Darüber hinaus haben die Forscher bei den geklonten Säugetieren ein vorzeitiges Altern festgestellt. Siehe hierzu Henri Bléhaut, Le Clonage humain, http://www.genethique. org/doss_theme/dossiers/clonage/article_blehaut.htm (abgerufen am 9. Juli 2007). Zu einer aufschlussreichen Analyse der mit dem Klonen von Menschen verbundenen ethischen und philosophischen Probleme siehe das Buch von Mark Hunyadi, Je est un clone, Paris (Éd. du Seuil) 2004. Axel Kahn und Fabrice Papillon, Le Secret de la salamandre. La médecine en quête d’immortalité, Paris (Nil) 2005, S. 297.

eines Menschen nämlich ist für Raël die erste Etappe auf dem Weg zum höchsten Klonen, das es gestatten soll, die Persönlichkeit und das Gedächtnis einer Person auf einen Computer herunter zu laden.50 Der utopische Flügel des informationellen Paradigmas, der an die genetische Unsterblichkeit durch das Klonen glaubt, verkörpert, Béatrice de Montera zufolge, das Extremstadium des gegenwärtigen Individualismus: „Das Klonen erscheint als idealer Ausweg, als Mittel der Befreiung nicht nur von den Zwängen der Gesellschaft über eine bis zum Äußersten gehende Individualisierung, sondern auch von den Zwängen der Natur durch eine Entlastung der Sexualität von der Fortpflanzungsfunktion“.51 Von daher nährt das Projekt des reproduktiven Klonens den Wunschtraum von einer Selbstbegattung der Individuen, die, den Unwägbarkeiten der geschlechtlichen Fortpflanzung enthoben, im gleichen Zuge unsterblich werden. Das Phantasma einer durch das Klonen erreichbaren Unsterblichkeit geistert längst nicht mehr allein in den Jagdgründen der Sciencefiction; vielmehr, dies werden wir in einem späteren Kapitel sehen, ist es in gewissen wissenschaftlichen Zirkeln überaus präsent. Wenn das reproduktive Klonen international eine massive moralische und juristische Verurteilung erfährt, so gilt dies nicht für seine „therapeutische“ Variante, die in der Öffentlichkeit wie auch unter Wissenschaftlern eine höhere Reputation genießt. Die Unterscheidung ist jedoch eine rein semantische, beruht die Differenz zwischen reproduktivem und therapeutischem Klonen unter wissenschaftlichen Aspekten auf keinen Tatsachen: In dem einen wie in dem anderen Fall geht es darum, einen menschlichen Embryo durch Kerntransfer zu erzeugen.52 Der Unterschied liegt also ausschließlich in der Zielsetzung: Während das reproduktive Klonen die Erschaffung eines Menschen intendiert, der mit einem anderen genetisch identisch ist, nutzt das therapeutische die Pluripotenz der Stammzellen, um bestimmte Krankheiten zu bekämpfen und dem Organismus gegebenenfalls die Regeneration zu ermöglichen. Für den Embryologen Stanley Shostak liegt, wie er in seinem Buch Becoming Immortal. Combining Cloning and Stem-CellTherapy zeigt, das Geheimnis einer möglichen irdischen Unsterblichkeit ge50

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Vgl. Raël, Oui au clonage humain. La vie éternelle grâce à la science, Montreal (Quebecor) 2001, S. 36. In meiner Arbeit L’Empire cybernétique, op. cit., S. 185-188, habe ich diese Frage unter einem anderen Blickwinkel aufgenommen. Béatrice de Montera, „Le clonage, une fausse immortalité“, in: Études sur la mort, op. cit., S. 66. Vgl. Henri Bléhaut, Le Clonage humain, op. cit.

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nau in dieser Kombination von reproduktivem Klonen und Zelltherapie. Im Hinblick auf eine wissenschaftliche Überwindung des Todes sind beide Praktiken aufs engste miteinander verflochten.53

Die Stammzellen: eine Waffe gegen die Entropie Seitdem das kybernetische Konzept der Entropie ins Zentrum des theoretischen Modells der Molekularbiologie vorgerückt ist, fügt es sich unmittelbar der Logik einer wissenschaftlichen Destruktion des Todes ein. Die Reichweite dieses Vorgangs können wir genauer ermessen, wenn wir bedenken, dass der zweite Hauptsatz der Thermodynamik Ausgangspunkt eines bioökonomischen Modells ist, das seinerseits Auswirkungen auf die Entwicklung des Kampfes gegen das Altern hat. In diesem Zusammenhang verfolgt die Soziologin Melinda Cooper in ihrem bemerkenswerten Artikel „Resuscitations: Stem Cells and the Crisis of Old Age“ die Verbindungen zwischen der aktuellen Entfaltung der Stammzellforschung und dem bioökonomischen Modell, das sich in den USA in den Siebziger Jahren durchsetzte.54 Anhand der als Beispiel zitierten Arbeiten des Ökonomen GeorgescuRoezen zeigt sie auf, wie der Aufstieg der Entropie zu einem bioökonomischen Gesetz die Entwicklung von Biokapital und Regenerationsmedizin begünstigt hat. Im Gefolge der ökologischen Bewegung der Siebziger Jahre wurde, ihrer Analyse zufolge, die Entropie mit der Energieverschwendung unter dem Fordismus in Verbindung gebracht, d.h. mit den Verfahren unter dem industriellen Regime nach dem Zweiten Weltkrieg. Aus dieser Perspektive schien es, als könne das Wirtschaftswachstum – der Kampf gegen die Entropie – durch eine Ökonomie gewährleistet werden, die auf dem Recycling und der Rückgewinnung der biologischen Prozesse basiert. Dies ist nach Auffassung von Cooper der Kontext, in dem die auf der Bioökonomie basierende industrielle Entwicklung wurzelt – mit der Agrarindustrie und dem pharmazeutischen Sektor als ihren Zugpferden. Angesichts dieses neuen Wachstumsmodells wird die Überalterung der Bevölkerung ab den Neunziger Jahren für die internationalen Wirtschafts53 54

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Vgl. Stanley Shostak, Becoming Immortal, op. cit. Vgl. Melinda Cooper, „Resuscitations: Stem Cells and the Crisis of Old Age“, Body & Society 12, n° 1, 2006, S. 1-23.

gremien zu einer Quelle der Besorgnis. 1994 veröffentlichte die Weltbank einen Bericht unter dem Titel Averting the Old Age Crisis: Policies to Protect the Old and Promote Growth, demzufolge das Wachstum angesichts der Überalterung an seine äußerste Grenze stößt.55 Im Verbund mit dem Aufstieg von Neoliberalismus und Biokapital hatte der erklärte Wille der Weltbank, „das Wachstum zu fördern und dabei das Alter zu schützen“, direkten Einfluss auf die Finanzierung der Forschung an Stammzellen, in denen man die Hauptmunition im Kampf gegen die entropische Vergreisung erblickte. Damit gliedern sich die Stammzellen nicht nur in die Ökonomie des Recycling ein, sondern werden zu Hoffnungsträgern für ein unbegrenztes Wachstum.56 Hervorgegangen sind diese Stammzellen, woran Axel Kahn und Fabrice Papillon erinnern, aus Forschungen an Embryonen, die mittels In-vitroFertilisation erzeugt wurden und danach als „überzählig“ galten, weil ein „Elternprojekt“ für sie nicht mehr infrage kam. In der Entwicklung der Regenerationsmedizin erweisen sie sich als wahre Goldmine.57 In ihrer Pluripotenz bergen jene Wunderzellen die großartigsten medizinischen Verheißungen unserer Tage wie die, gegen die Degeneration ankämpfen und so das Leben ins Unendliche verlängern zu können.58 In der Tat werden alle Wünsche des Erzeugers von Dolly hinsichtlich der biologischen Steuerung von den Stammzellen erfüllt. Ihre Plastizität nämlich ist außergewöhnlich, wie die Anthropologinnen Catherine Waldby und Susan M. Squier betonen: „Stammzellen können eingefroren, gelagert werden und kehren ins Leben zurück, sobald man sie auftaut. Infolgedessen gestattet diese Immortalisierung eine Unterbrechung, eine Immobilisierung, und auch wiederum den erneuten Einsatz jener undifferenzierten Zellen in bestimmten Momenten ihrer Entwicklung sowie, auf Befehl, die Reaktivierung differenzieller Aktivität.“59 Bevor wir näher auf die Regenerationsmedizin eingehen, die im Mit-

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Vgl. ibid., S. 4. Vgl. ibid., S. 10. Aktuell sucht man nach Methoden der Gewinnung von Stammzellen, ohne dabei Embryonen zerstören zu müssen, um so die ethischen Forschungshindernisse zu umgehen. Gleichwohl bleibt der Embryo eins der Hauptelemente der Regenerationsmedizin. Vgl. Axel Kahn und Fabrice Papillon, Le Secret de la salamandre, op. cit. Catherine Waldby und Susan M. Squier, „Ontogeny, Ontology and Phylogeny: Embryonic Life and Stem Cell Technologies“, Configurations 11, n° 27, 2003, S. 35. („Stem cells can be frozen, stored, and grown again once thawed. Thus immortalization permits

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telpunkt des folgenden Kapitels stehen soll, ist hier zweierlei festzuhalten: Die Stammzellforschung stellt die wissenschaftliche Verlängerung der Gleichsetzung von Tod und Entropie dar; des Weiteren kehrt sie symbolisch die Ordnung um, der die Erzeugung des Lebenden mit der Abfolge der Generationen gehorcht hatte. Aber es geht nicht nur um die ethischen Debatten über den Status des Embryos, die vom therapeutischen Klonen aufgeworfen werden. Darüber hinaus wird man die tieferen philosophischen Implikationen im Hinblick auf den Ablauf der einzelnen Stadien des Lebens ins Auge fassen müssen: Hier werden die ersten Zellen des Lebensprozesses entwendet, um aus ihnen Gewebe herzustellen, die großenteils die Defekte des hohen Lebensalters reparieren sollen.60 Wie wir ohne zu übertreiben in Dolly das Totemtier unserer Zeit sehen können, dürfen wir auch behaupten, dass die postmortale Gesellschaft den Raum für einen Kannibalismus neuer Prägung freigibt.

Die Apoptose oder der für das Leben programmierte Tod Dass die Unausweichlichkeit des Todes schlicht und einfach bestritten wird: Dies ist das Werk seiner bis an die äußersten Grenzen getriebenen biomedizinischen Dekonstruktion. Aus Sicht der neuesten Forschungen gibt es, André Klarsfeld und Frédéric Revah zufolge, „keinerlei oberstes Gesetz, wonach jedes Lebewesen unerbittlich zum Altern und zum Tod verurteilt wäre, auch wenn hier jede einzelne Gattung strikt ihren eigenen Regeln gehorcht“.61 Unter dieser Perspektive ist der Tod alles andere als ein intrinsisches Merkmal des Lebenden. Hier wird aus ihm vielmehr ein Ergebnis, wenn nicht ein Scheitern der natürlichen Selektion.62 Aufgrund ihrer Unausweichlichkeit wird die Entropie also auf einen „Gemeinplatz“ verwiesen, der sicherlich „nicht uninteressant“ sei, allerdings nicht ausreichen könne, die Komplexität der in die Biologie des Todes involvierten Mechanismen zu

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the arrest, immobilization, and redeployment of undifferentiated cells at specific points in their development, and the reactivation of differentiating activity on command.“) Vgl. ibid., S. 27-46. André Klarsfeld und Frédéric Revah, Biologie de la mort, op. cit., S. 95. Vgl. ibid., S. 128.

erklären.63 Vielmehr sind es die Entdeckung der Apoptose und die Infragestellung des Konzepts der zellulären Unsterblichkeit, die seit den Sechziger Jahren ein neues Stadium der biomedizinischen Vorstellungen vom Altern und vom Tod einläuten: das ihrer möglichen Reversibilität. Die Formulierung des Dogmas von der zellulären Unsterblichkeit, das bis zu den Sechziger Jahren in der Biologie vorherrschte, verbindet sich mit dem Namen von Alexis Carrel. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts hatte er gezeigt, dass in vitro gezüchtete Kükenzellen sich über ihre Grenzen hinaus vermehren können, wenn sie innerhalb des Organismus verbleiben. Daraus folgerte er, dass die Zellen als solche unsterblich seien.64 Erst im Jahr 1961 wurde dieser Gedanke durch die Arbeiten von Leonard Hayflick und Paul Moorhead definitiv widerlegt, indem sie zeigten, dass „fötale Zellen sich in einer Kultur nur einer begrenzten Zahl von Teilungen unterziehen können“.65 Als Hayflick-Grenze bezeichnet, ist diese maximale Zahl von Teilungen das intrinsische Merkmal eines jeden Zelltyps, und zwar unabhängig vom umgebenden Milieu.66 Dieser programmierte Zelltod, den man in Anlehnung an das griechische Wort für das Abfallen der Blätter im Herbst als „Apoptose“ bezeichnet, ist keineswegs zwangsläufig mit dem Tod des Organismus verbunden. Vielmehr ist er Teil eines lebendigen Prozesses, der für sein Wachstum und seinen Bestand von entscheidender Bedeutung ist.67 Mit der Entdeckung der Apoptose wird der Tod nicht nur zu einem komplexen zellulären Prozess, sondern zu einem reversiblen Phänomen: Von ihm hängt das Leben des Organismus ab. So betont die Anthropologin Hannah Landecker: „Dadurch, dass der Tod in der Zelle lokalisiert wird, in ihr einen Raum belegt, steht er nicht unbedingt mehr im Gegensatz zum Leben, sondern erscheint vielfach als das, wovon das Leben abhängt, oder zumindest als das, was Leben und Krankheit unlösbar miteinander verbindet.“68 Der Tod als zelluläres Phänomen ist seitdem untrennbarer Bestandteil des Lebensprozesses selber. 63 64 65 66 67 68

Ibid., S. 242. Vgl. Cécile Klingler, „Vieillir ou laisser mourir“, La Recherche n° 406, dossier spécial, „À quoi sert de vieillir?“, März 2007, S. 31-34. Ibid., S. 32. Vgl. André Klarsfeld und Frédéric Revah, Biologie de la mort, op. cit., S. 135 f. Vgl. ibid., S. 189. Hannah Landecker, „On Beginning and Ending with Apoptosis. Cell Death and Biomedicine“, in: Sarah Franklin und Margaret Lock (Hrsg.), Remaking Life and Death, op. cit., S. 56: („With the localization and spatialization of death in the cell, death has become

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Als eifriger Apologet der Apoptose behauptet der Biologe Jean-Claude Ameisen, die Fähigkeit zur Selbstzerstörung sei ein intrinsisches Merkmal des Lebenden. Wenn der zelluläre Suizid als ein Prinzip der Selbstorganisation begriffen wird, so verändert sich radikal die Auffassung vom Tod, der dann, Ameisen zufolge, ein zur Komplexität gehöriger Evolutionsprozess wäre: Gegen „das alte Bild vom Tod als dem Sensenmann, der in zerstörerischer Absicht von außen her auftaucht, hat sich, zumindest auf zellulärer Ebene, eine radikal neue Vorstellung durchgesetzt, die eines Bildhauers, der mitten im Leben tätig ist, um dessen Form und Komplexität mitzugestalten.“69 Genetisch vorprogrammiert, bildet der Zelltod eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung des Organismus, für die Anpassung an seine Umgebung. So führt die These von Jean-Claude Ameisen im Gefolge der kybernetischen Sekunde (der der Selbstorganisation und der Komplexität70) zu einer Auffassung vom Tod als eines potenziell reversiblen Phänomens; nicht zuletzt deshalb bezieht Edgar Morin sich hierauf in seiner Definition der Amortalität. Ameisen, der vom Grundsatz eines „außerordentlichen Grades von Plastizität“ der Langlebigkeit im Bereich der tierischen Gattungen ausgeht, meint daher, dass eine genauere Kenntnis der Mechanismen des Zelltodes gegebenenfalls die Verlängerung des Lebens ermöglichen könnte: „Den Krankheiten vorzubeugen, sie zu heilen, indem man die Auslösung des zellulären Selbstmords unterbindet, dies markiert eine neue Grenzstation, zu deren Überwindung die Medizin zu Beginn des 21. Jahrhunderts vielleicht gerüstet sein wird.“71 Auch wenn wir nach seiner Auffassung im Augenblick noch Gefangene des „Spiels um Leben und Tod“ sind, machen uns die Forschungen zur Apoptose doch glauben, „dass wir eines Tages vielleicht die Möglichkeit haben, das Blatt zu wenden, und damit die Macht, uns neu zu erfinden“.72 Die erneute Thematisierung der zellulären Unsterblichkeit und die Entdeckungen hinsichtlich der Apoptose sind weit davon entfernt, den alten Traum von einer unendlichen Lebensverlängerung aussterben zu

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for biomedicine not necessarily that to which life is opposed but, in many cases, that on which life is dependant, or at least that in which life and disease are inextricably bound.“) Jean-Claude Ameisen, „Dans l’oubli de nos métamorphoses. Aperçus sur les mécanismes d’autodestruction cellulaire“, in: La Mort et l’Immortalité, op. cit., S. 1470 f. Diese Thematik habe ich ausführlich bearbeitet in L’Empire cybernétique, op. cit. Jean-Claude Ameisen, „Quand la forme en une autre s’en va. La mort et la sculpture du vivant“, in: Études sur la mort, op. cit., S. 106. Ibid., S. 116.

lassen. Vielmehr nähren sie eher umgekehrt das Begehren, die Kontrolle über die vitalen Mechanismen zu erlangen und sich von den durch die Biologie gesetzten Grenzen zu befreien. So betont die Philosophin Marina Maestrutti unter Bezug auf Ameisens These: „Ist der Mythos von der Unsterblichkeit der Zellen erst einmal erloschen, so wird er vom Traum seines Wiederaufbaus abgelöst.“73 Auf direktem Wege betreten wir hier das Hoheitsgebiet der Biosteuerung, in der die Postmortalität verwurzelt ist.

Die Biosteuerung: Auf dem Wege zu einer Biologisierung der Kultur Die biomedizinische Dekonstruktion des Todes ist Teil einer wesentlich breiteren historischen Bewegung, in der die Gesundheit und die Verlängerung der Lebenserwartung zum Hauptanliegen der westlichen Demokratien werden. In Anlehnung an Foucaults Thesen zur Biomacht analysiert Nikolas Rose, wie am Ende des Zweiten Weltkriegs die Gesundheit der Bevölkerung und das „Wohlbefinden“ des Einzelnen an die Stelle der großen modernen Projekte treten, welche die Politik verfolgt hatte, um sich schließlich als einziger kollektiver Horizont durchzusetzen.74 Dass jedermann in die Lage versetzt werde, sein Geschick auf biologischem Wege selbst zu steuern, so also lautet das Ideal der postmortalen Gesellschaft. Die von Foucault beschriebene Biopolitik der modernen Staaten weicht einer Bioökonomie, in der die Pharmaindustrie, die Agrarwirtschaft und die biomedizinische Forschung einen zentralen Platz einnehmen. Das Leben selber, dies will der von Catherine Waldby geprägte Ausdruck des biovalue besagen, wird hier zu einem produzierten und kapitalisierbaren Wert.75 Im Gleichschritt mit der genetischen Revolution folgt die Logik des Biokapitals einer neuen Form von Biopolitik: einer Biosteuerung, bei der sich jeder Einzelne von biomedizinischen Heerscharen aus Experten jeglicher Couleur aufgerufen sieht, sein Leben nach Maßgabe einer ständig zunehmenden Zahl von Risikofaktoren einzurichten. Das Leben selbst – life itself ist der angelsächsische Begriff, der 73 74 75

Marina Maestrutti, Les Imaginaires des nanotechnologies, philosophische Doktorarbeit, Universität Paris X-Nanterre, 2007. Vgl. Nikolas Rose, „The Politics of Life Itself“, Theory, Culture and Society 18, n° 6, 2001, S. 1-30. Vgl. ibid., S. 15.

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die aktuellen biopolitischen Tendenzen umschreibt – wird dabei zu einem Gut, das es je nach dem Potenzial der eigenen Erbmasse zu verwalten und zu maximieren gilt. Mit dem modernen Projekt der Emanzipation gleichgeschaltet, verfügt die Biosteuerung über die technischen Voraussetzungen, direkt auf das Leben des Einzelnen einzuwirken, womit die Grenzen zwischen sozialem und biologischem Leben zum Verschwinden gebracht werden. Anders ausgedrückt bedeutet „die biologische Steuerung […] das soziale Engineering des Lebenden“.76 Nach Auffassung der Soziologin Karin Knorr Cetina erleben wir eine Biologisierung der Kultur und damit eine vollständige Kehrtwende in den politischen Grundsätzen, die uns von der Aufklärung überliefert wurden.77 Das politische Ideal der Aufklärung hatte auf dem Glauben beruht, dass die Gesellschaft sich vervollkommnen lasse und es hierzu des Willens bedürfe, die Lebensbedingungen durch gemeinsames Handeln zu verbessern. Demgegenüber kennzeichnet sich die postmortale Gesellschaft durch die Überzeugung, das Leben als solches sei zu perfektionieren. Es ist also nicht die Gesellschaft, die es zu ändern gilt, sondern das Individuum, das man in erster Linie als biologisch und informationell determiniertes Wesen begreift. Dieser Übergang von der Perfektionierbarkeit der Gesellschaft zur Perfektionierbarkeit des Lebens selber entspricht, Knorr Cetina zufolge, einer Entpolitisierung der Gesellschaft zugunsten eines Individualismus neuer Prägung. Dieser basiert auf dem Glauben an die Allmacht der Wissenschaft, an ihr Vermögen, in den Lebensprozess einzugreifen.78 Der erklärte Wille, das Leben mit den Mitteln der Gentechnik und der Biotechnologien zu verbessern und zu vervollkommnen, drückt sich negativ also in der Absage an die politische Emanzipation aus. Zu emanzipieren hat man sich fortan von den Beschränkungen, die aus dem Leben selber, der ihm innewohnenden Begrenztheit folgen; dies ist die Konsequenz zumindest dann, wenn man die philosophischen Debatten rund um posthumane Wesen und Zustände oder auch militante Bewegungen wie den Transhumanismus ernst nimmt.

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Sarah Franklin, „Ethical Biocapital. New Strategies of Cell Culture“, in: Sarah Franklin und Margaret Lock (Hrsg.), Remaking Life and Death, op. cit., S. 105. Vgl. Karin Knorr Cetina. „The Rise of a Culture of Life“, EMBO Reports [European Molecular Biology Organization] n° 6, 2005, S. 76-80. Vgl. ibid.

Die Biologisierung der Gesellschaft äußert sich, Knorr Cetina zufolge, auch in einem soziologischen Modell der Umverteilung nach intergenerationellen Kriterien. Diese nämlich verdrängen die alten politischen Solidaritätsstiftungen wie die Klassenzugehörigkeit und das Ideal der Verteilungsgerechtigkeit.79 Der Begriff der Generation als solcher, der sich in den Reden der Politiker und den Medien zunehmend durchsetzt, verweist auf eine sehr viel individualistischere Auffassung von Verteilung: von daher die wachsende Bedeutung der Rentenfrage und der persönlichen Investitionen, die es im Hinblick auf ein langes Leben vorzunehmen gelte. Die erste Gruppe, die sich dieses Denken in Begriffen der Generation zueigen macht, ist die der Baby-Boomer: Sie haben der Vorstellung von einem in Lebensabschnitte unterteilten Dasein den Weg bereitet. Die zeitlichen Grenzen dieses auf seine rein biologische Dimension verwiesenen Lebens werden unaufhörlich hinausgeschoben. Und die Emanzipation als gesellschaftliches Projekt wird vom Suchen nach Unsterblichkeit definitiv abgelöst.

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Der regenerierte Körper. Der Kampf gegen das Altern und die verlängerte Langlebigkeit „Biology is no longer destiny.“ Nikolas Rose1

„Daß eine Zeit kommen muß, da der Tod nurmehr die Wirkung außergewöhnlicher Umstände oder des immer langsameren Abbaus der Lebenskräfte sein wird“2: Mehr als zweihundert Jahre, nachdem Condorcet diesen Traum aufzeichnete, scheint er seiner Verwirklichung nahe. Zumindest gaukeln uns dies einige der neuesten biomedizinischen Errungenschaften vor, namentlich die Fortschritte der Regenerationsmedizin. Letztere ist nach der Definition von Sophie Petit-Zeman eine Sammelbezeichnung für eine Reihe therapeutischer Strategien und Maßnahmen mit dem Ziel, die Gewebeschäden des menschlichen Körpers, ob infolge Unfalls oder aber degenerativer Krankheiten entstanden, zu reparieren oder durch andere Stoffe zu ersetzen.3 Von der Organverpflanzung bis zur Gentherapie über die Herstellung von Ersatzgeweben verkörpert die Regenerationsmedizin bereits von sich aus die Logik der Biosteuerung, welche die postmortale Gesellschaft kennzeichnet. Zug um Zug folgt sie der neuen Form von Biopolitik, wie sie von Nikolas Rose beschrieben wird. Nach seiner Typologie gliedert sich die Politik des Lebens selbst in fünf Hauptcharakteristika: die Molekularisierung der Kultur, die individuelle Optimierung der Lebenskräfte, die Verantwortungszuweisung an den Einzelnen für seine biologische Ausstattung, einen immer weiter vorangetriebenen biomedizinischen Sachverstand sowie schließlich eine auf die Produktion von Biokapital ausgerichtete Bioökonomie, die aus lebenden Elementen austauschbare und reproduzierbare Waren

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Nikolas Rose, „The Politics of Life Itself“, op. cit., S. 253. „Die Biologie ist nicht mehr unser Schicksal.“ Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, op. cit., S. 219. Vgl. Sophie Petit-Zeman, „Regenerative Medicine“, Nature Biotechnology n° 19, März 2001, S. 201.

101 C. LAFONTAINE, DIE POSTMORTALE GESELLSCHAFT, DOI 10.1007/978-3-531-92063-4_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010

macht.4 Als wahrhaftiges Re-Engineering des Körpers stellt die Regenerationsmedizin die vollendete Form der heutigen Biopolitik dar. In konkreter Form kündigt sich in ihr der Aufstieg einer „Kultur des Lebens“ an, wie Karin Knorr Cetina sie konzipiert hat.5 Als Zentrum moderner Emanzipationsbestrebungen war der Glaube an die Perfektionierbarkeit des menschlichen Lebens, wie wir bereits im vorigen Kapitel erwähnt haben, nicht zu trennen von dem Gedanken des gesellschaftlichen Fortschritts, vom politischen Willen, die Daseinsbedingungen der Bürger umfassend zu verbessern. Unter diesem Aspekt setzte Condorcet das Anliegen der Aufklärung fort, als er die Hoffnung zum Ausdruck brachte, die Lebenserwartung werde sich ins Unendliche verlängern. Von einer neuen sozialen Utopie sind die Verheißungen der Regenerationsmedizin allerdings weit entfernt. Viel eher folgen sie der Spur, die vom Ruin der politischen Ideale des vergangenen Jahrhunderts, von der biomedizinischen Dekonstruktion des Todes und dem Niedergang der religiösen Glaubensinhalte hinterlassen wurden, einem schon längst eingeleiteten Niedergang zugunsten des Vertrauens in die Wissenschaft und ihre technischen Potenziale. Angesichts einer solchen Umkehr der Perspektive verwundert es nicht, dass der gegen das Altern gerichtete Kampf der Medizin wie auch die Verlängerung des Lebens unsere heutigen Gedanken viel mehr beschäftigen als alle sonstigen technisch-wissenschaftlichen Projekte.6 In engstem Verbund mit der biomedizinischen Dekonstruktion des Todes leitet die Biologisierung der Kultur, auf der die Entwicklung der Regenerationsmedizin basiert, zu einer vollständigen Neudefinition der Lebensalter über, bei der das fortgeschrittene Alter einen zentralen Stellenwert einnimmt. Als eine neue Welt, die es zu erobern gilt, erregt es Schrecken ebenso wie Hoffnung. Den Schrecken eines der Vergreisung, dem Zahn der Zeit anheim fallenden Körpers. Die Hoffnung, die durch die Biologie gesetzten Grenzen besiegen und mögliche Wege in Richtung einer Regenerierung entdecken zu können. Insofern eröffnet die Regenerationsmedizin eine der wichtigsten Orientierungen der postmortalen Gesellschaft, in der sich die Bedeutung des Todes, auch wenn dieser hier weiterhin grassiert, zweifellos gewandelt hat. Bevor wir direkter auf die Frage eingehen, was bei der Regenerationsmedizin ethisch und symbolisch auf dem Spiel steht, müssen wir klären, in 4 5 6

Vgl. Nikolas Rose, The Politics of Life Itself, op. cit., S. 5-7. Vgl. Karin Knorr-Cetina, „The Rise of a Culture of Life“, op. cit. Vgl. ibid.

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welchem Zusammenhang ihr der Durchbruch gelang, um so die ihr zugrunde liegenden gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen zu erfassen. Zu ihnen zählt der zunehmende Stellenwert der alten Menschen in unseren Gesellschaften: Er gestattet es, von der postmortalen Gesellschaft als einer alternden Gesellschaft zu sprechen. Was dies unter soziologischem Gesichtspunkt bedeutet, gilt es im Folgenden zu klären.

Das Alter, ein neues Gesicht des Todes Als eine der sicherlich tiefstgreifenden und nachhaltigsten Revolutionen in der Geschichte der Menschheit führt der demografische Umbruch, der unsere Epoche kennzeichnet, zu einer vollständigen Neudefinition unseres Verhältnisses zur Zeit und zum Tod. Die demografische Landschaft der fortgeschrittenen Gesellschaften hat aufgrund des doppelten Rückgangs – sowohl der Fruchtbarkeit als auch der Sterblichkeit – während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine radikal andere Gestalt angenommen.7 Die verlängerte Lebenserwartung – sie liegt in Japan und der Mehrheit der westlichen Länder bei ungefähr 80 Jahren – ist zum eigentlichen Symbol der Moderne und des Fortschritts geworden.8 Die Alterung der Bevölkerung, die sich im zunehmenden Anteil der über 65jährigen ausdrückt, ist ein statistisch gesichertes Phänomen, dessen gesellschaftliche Folgen es erst noch zu bestimmen und zu analysieren gilt.9 Eine der unmittelbarsten und sichtbarsten Auswirkungen dieses demografischen Wandels besteht im Rückzug des Todes „in die Gefilde des Greisenalters“.10 In seinem Artikel „The Transformation of Dying in Old Societies“ behauptet der Soziologe Clive Seale, dass die Verknüpfung des Todes mit dem hohen Alter nicht nur die Art und Weise verändert, in der wir den Tod begreifen, sondern auch die des Ster-

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Hier stütze ich mich auf die These von Paul Yonnet, Le Recul de la mort, die er im ersten Kapitel darlegt. Zu einer detaillierten Übersicht über die Lebenserwartung auf internationaler Ebene siehe den Artikel von Gilles Pison, „Tous les pays du monde (2007)“, Population & Sociétés n° 436, Juli/August 2007. Vgl. ibid. Clive Seale, „The Transformation of Dying in Old Societies“, in: Malcolm L. Johnson (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Age and Ageing, Cambridge (New York), Cambridge University Press 2005, S. 378.

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bens selber und die Erfahrung des Lebensendes.11 Während bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts der Tod seinen Schrecken in den Wiegen verbreitete, Säuglinge und Frauen bei der Entbindung überfiel, präsentiert er sich fortan im Antlitz eines gebrechlichen und kranken Greises, der geduldig auf die Ankunft des Sensenmanns wartet, bis dieser auch ihn schließlich abholt. Dies mag überzeichnet erscheinen, doch steht fest – dies haben wir bereits im ersten Kapitel gesehen –, dass sich bis vor ganz kurzer Zeit die Verlängerung der Lebenserwartung im Wesentlichen dem Rückgang der Sterblichkeit von Mutter und Kind verdankte. Auch konnte der Tod aufgrund der allgemeinen Existenzbedingungen über den Gesamtverlauf eines Lebens hinweg zuschlagen, so dass nur eine relativ begrenzte Zahl von Personen eine Lebensphase erreichte, die man mitunter als das „goldene Alter“ bezeichnet.12 Der ständig wachsende Anteil älterer Menschen in den fortgeschrittenen Gesellschaften ist das greifbare Ergebnis der allgemeinen Verbesserung der Lebensbedingungen und der Einrichtung von öffentlichen Gesundheitssystemen im Laufe des letzten Jahrhunderts. Von daher hatte infolge des drastischen Rückgangs der Sterblichkeit zwischen 1900 und 1970, der in direktem Zusammenhang mit den Impfkampagnen, der Entwicklung der Antibiotika, den sanitären Maßnahmen und der Reinigung der Gewässer steht, die Mehrzahl der Menschen die Möglichkeit, ins Rentenalter einzutreten. Diese Verlängerung der Lebensspanne hat zur Folge, dass das Verhältnis zum Tod sich erheblich verändert, zumal dieser sich in relativ neuer Form manifestiert: Hiervon zeugt die blitzartige Zunahme degenerativer Krankheiten wie Krebs, Parkinson und Alzheimer. Wenn wir vom Krieg absehen, so blieben bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Infektionskrankheiten mit ihren verheerenden Symptomen und ihrem schnell fatalen Verlauf die bedeutendste Todesursache.13 Man starb, mit anderen Worten, nicht nur jünger, sondern auch schneller. Dagegen vollzieht sich der Tod mit seiner statistischen Verlagerung auf höhere Altersgruppen immer langsamer. Mit einer degenerativen Krankheit können Patienten durchaus einige Jahre leben, bevor sie allmählich dahinscheiden. Der Tod wird zum Endpunkt einer langen Periode von Krankheit, die immer ausgefeiltere Behandlungs- und Pflegemaßnahmen 11 12 13

Vgl. ibid. Vgl. Malcolm L. Johnson, „The Social Construction of Old Age as a Problem“, in: ibid., S. 569. Vgl. Jill Quadagno, Jennifer Reid Keene und Debra Street, „Health Policy and Old Age: An International Review“, in: ibid., S. 605.

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erforderlich macht. Ohne dass wir an dieser Stelle schon die Frage der Euthanasie und des begleiteten Suizids anschneiden wollen, sollten wir hier festhalten, dass der Gestaltwandel des Todes in den fortgeschrittenen Gesellschaften eng mit der Alterung der Bevölkerung zusammenhängt. Mit Tod und Verfall assoziiert erscheint das Alter damit als ein Mangel, eine Plage, die es um jeden Preis zu bekämpfen gilt.

Das hohe Alter als Bedrohung In seinem schockierenden Werk La Guerre des âges zeigt der Forscher Jérôme Pellissier, wie die alten Menschen zu den Sündenböcken unserer Zeit geworden sind.14 Manch einer sieht im hohen Alter eine Bedrohung von Fortschritt und Wohlstand, gleich einer Klippe, an der die Gesellschaft zerschellen könnte. Diese negative Vorstellung vom Alter reicht weit über Frankreich hinaus und lässt sich in den meisten westlichen Gesellschaften nachweisen. Ob es um die wirtschaftliche Produktivität geht, um die Gesundheitskosten oder um den politischen Konservatismus: In zahlreichen sozioökonomischen Untersuchungen erscheint die Überalterung der Bevölkerung als ein Faktor von Stagnation und Rückschritt.15 Der Begriff der „Krise des hohen Alters“, der von den einflussreichsten internationalen Institutionen wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds benutzt wird, fügt sich nahtlos in den Kontext der kapitalistischen Globalisierung: Hier erscheint jene Überalterung dann als kollektiv zu bewältigende Bürde, aber zugleich auch als Risiko, für das die Individuen haftbar zu machen sind.16 Man muss nur an die Bedeutung der Rentenfonds für die Wirtschaft der fortgeschrittenen Länder denken, um zu begreifen, was in diesem Zusammenhang sozialpolitisch auf dem Spiel steht. In der Tat haben wir hier einen Prozess vor Augen, den Karin Knorr Cetina als Biologisierung der sozialen Beziehungen bezeichnet. Hier nämlich tritt die Frage der Ressourcenverteilung zwischen den Generationen an die Stelle der nach Klassenunterschieden, auf die sich die allgemeine Verteilungspolitik traditionell stützte.17 14 15 16 17

Vgl. Jérôme Pellissier, La Guerre des âges, Paris (Armand Colin) 2007. Vgl. ibid. Vgl. Brett Neilson, „Globalization and the Biopolitics of Aging“, The New Centennial Review n° 2, 2003. S. 161-186. Vgl. Karin Knorr Cetina, „The Rise of a Culture of Life“, op. cit.

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Unter allgemeinerem Gesichtspunkt ist die Problematisierung des Alterungsprozesses unter dem Begriff der „Krise“ nicht davon zu trennen, dass eine Bioökonomie auf den Plan rückt, die ihrerseits auf der Pharmaindustrie, der Gentechnik und der Entwicklung der biomedizinischen Forschung als ganzer aufbaut. Die Überalterung, dies weist der Soziologe Brett Neilson nach, ist nicht nur zu einem der Hauptprobleme der westlichen Staaten geworden, sondern steht auch im Mittelpunkt der gegenwärtigen Biopolitik mit ihrem Ziel, die Menschen hinsichtlich ihres Gesundheitszustands zu kontrollieren und in die Pflicht zu nehmen.18 Diese These deckt sich mit den bereits zitierten Arbeiten von Melinda Cooper. Sie stellt eine Verbindung her zwischen dem von der Weltbank vorhergesagten, der Überalterung der Bevölkerung angelasteten ökonomischen Desaster und den gewaltigen Investitionen in die Stammzellenforschung, mittels derer die Übel des hohen Alters bekämpft werden sollen.19 Die Verlängerung der Lebenserwartung, in der man gern ein Symbol für Fortschritt und Wohlstand der entwickelten Gesellschaften sieht, hat parallel dazu, so paradox dies erscheint, eine Entwertung des Alters mit sich gebracht, wenn nicht geradezu eine Stigmatisierung älterer Menschen. Die traurige Bilanz betagter Personen, die infolge der großen Hitze des Sommers 2003 in Frankreich umkamen, verdeutlicht auf dramatische Weise, wie sie abgeschoben werden. Als Baudrillard anmerkte, dass „die verlängerte Lebenserwartung […] also nur zu einer Diskriminierung des Alters geführt [hat], was sich logisch aus der Diskriminierung des Todes entwickelt“, hat er nur den tiefen Widerspruch ans Licht gehoben, auf dem die postmortale Gesellschaft aufbaut.20 Dass man aus dem hohen Lebensalter ein Problem konstruiert, ist mit seiner Biologisierung aufs engste verknüpft, nämlich mit der Assoziation von Verfall und Gebrechlichkeit. Die Quelle der Stigmatisierung ist dabei nicht einmal das Alter als solches; weit eher liegt sie bei den körperlichen Zeichen des Alterungsprozesses.21 Die Ghettoisierung der alten Menschen ist die Kehrseite des Jugendkults in einer Welt, die den äußeren Schein zur Richtschnur macht.22 Sie 18 19 20 21 22

Vgl. Brett Neilson, „Globalization and the Biopolitics of Aging“, op. cit. Vgl. Melinda Cooper, „Resuscitations: Stem Cells and the Crisis of Old Age“, op. cit. Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, op. cit., S. 257. Vgl. Chris Gilleard, „Cultural Approaches to the Aging Body“, in: Malcolm L. Johnson (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Age and Ageing, op. cit., S. 162. Vgl. ibid.

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steht in direktem Kontrast zu der Anerkennung, die das hohe Alter in den meisten traditionellen Gesellschaften erfährt: als Form von Weisheit und Erfahrung.23 Da die Zahl der Personen, die hier in ein ehrwürdiges Alter eintreten, begrenzt ist, wird ihnen ein besonderer sozialer Status zuteil, ein Prestige, das sich ihrer Ausdauer und ihrer größeren Lebenserfahrung verdankt. Umgekehrt scheint die immer offensichtlichere Gegenwart alter Personen in den entwickelten Gesellschaften eine systematische Entwertung ihres sozialen Status nach sich zu ziehen: Dies bezeugt nicht zuletzt die Praxis ihrer Infantilisierung, wie sie in den Alten- und Pflegeheimen zu beobachten ist. Greise, die man wie Kinder behandelt, erleiden gewissermaßen eine Entsubjektivierung: Man missachtet ihre Individualität.24 Um dieses Phänomen zu illustrieren, hat übrigens der Psychiater Robert N. Butler 1975 den Ausdruck „Altersschreck“ geprägt.25 Die Diskriminierung der „alten Herrschaften“, wie wir sie gelegentlich nennen, hängt zum großen Teil damit zusammen, dass sie sozial deutlicher ins Auge fallen. In ihrer Verwundbarkeit und Zerbrechlichkeit betrachtet man sie fortan als zum Verfall verurteilte Opfer, die sich ohne mit der Wimper zu zucken in das Verdikt eines sich ankündigenden Todes fügen.26 Diese Viktimisierung der alten Menschen beruht auf einer Gleichsetzung des Alters mit einer todbringenden Krankheit, mit einem Übel, dem, wenn man ihm schon nicht Einhalt gebieten kann, doch irgendwie begegnet werden muss.

Die letzte Krankheit Mit Begründung der Gerontologie durch den Nobelpreisträger für Medizin, Elie Metchnikoff, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Tendenz zur Biologisierung des hohen Lebensalters in Gang gesetzt, die es gleichzeitig zum Gegenstand professioneller Beschäftigung werden ließ. Maßgeblich 23 24 25 26

Vgl. Andrew W. Achenbaum, „Aging and Changing: International Historical Perspective on Ageing“, in: ibid., S. 358. Vgl. Mike Featherstone und Mike Hepworth, „Images of Ageing: Cultural Representations of Later Life“, in: ibid., S. 568. Vgl. Malcolm L. Johnson, „The Social Construction of Old Age as a Problem“, in: ibid., S. 568. Vgl. Courtney Everts Mykytyn, „Anti-Aging Medicine: A Patient/Practitioner Movement to Redefine Aging“, Social Science & Medicine n° 62, 2006, S. 646f.

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hierfür war der Wille, das Leben so weit wie möglich zu verbessern und zu verlängern.27 Nichtsdestotrotz hatte während des letzten Jahrhunderts die Entwicklung biomedizinischer Berufe, die sich ausschließlich mit dem Alter befassten, ihre Konsequenzen: Dass sich nämlich, wie John A. Vincent analysiert, die Unterscheidung zwischen Altern und Krankheit zunehmend verwischte.28 Waren Gerontologie und Geriatrie ursprünglich zur Prävention und Behandlung von Leiden ins Leben gerufen worden, die dem Alterungsprozess und dem durch ihn verursachten körperlichen Abbau zuzuordnen sind, wurden sie schließlich zu Säulen der Politik bei der Regulierung und Steuerung der alten Bevölkerungsgruppen.29 So sehr sie sich auch um die Lebenserhaltung einer ständig wachsenden Zahl von Menschen verdient macht, die sonst verstorben wären: Die Medikalisierung des Alters begünstigt trotz allem seine Gleichsetzung mit einer chronischen Krankheit. Stellt man in Rechnung, dass die Kosten der Spitzenmedizin im selben Rhythmus steigen wie die Zahl der alten Menschen, so sieht man sich vor die von den internationalen Wirtschaftsgremien angekündigte „Krise des hohen Lebensalters“30 gestellt. In besonderem Maße heikel, so viel wird man sagen müssen, wird es bei der Frage der Kosten, wenn man das Thema der medizinischen Versorgung alter Menschen anschneidet – und dies umso mehr, als am Horizont bereits Argumente auftauchen, die sich in dieser Hinsicht für Restriktionen nach Maßgabe des Lebensalters stark machen.31 In der Tat hat sich in dem Maße, wie die Grenze zwischen Alter und Krankheit eingeebnet wurde, der Etat für die Behandlung chronischer Krankheiten explosionsartig aufgebläht. Mit der Kalkulation nach (genetischen, umweltbedingten, soziokulturellen) Risikofaktoren werden nämlich die mit dem hohen Alter verknüpften Krankheiten auf eine Vielzahl von Umständen zurückgeführt, gegen die sich wiederum gegebenenfalls etwas unternehmen lässt. An ihrem äußersten Ende mündet die biomedizinische 27 28 29 30

31

Vgl. Robert N. Butler, „Do Longevity and Health Generate Wealth?“ in: Malcolm L. Johnson (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Age and Ageing, op. cit., S. 549. Vgl. John A. Vincent, „Ageing Contested: Anti-Ageing Science and the Cultural Construction of Old Age“, op. cit. Vgl. Mike Bury, „Reviews. Stephen Katz, Disciplining Old Age: The Formation of Gerontological Knowledge“, Ageing and Society n° 17, 1997, S. 354. Vgl. Ruud Ter Meulen und Josy Ubachs-Moust, „Healthcare Rationing: Is Age a Proper Criterion?“, in: Malcolm L. Johnson (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Age and Ageing, op. cit., S. 656-661. Zu diesem Thema siehe das bereits zitierte Werk von Jérôme Pellissier.

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Dekonstruktion des Alterungsprozesses, wie wir noch sehen werden, in der Idee, man könne dessen tödliche Effekte eventuell überwinden und so das Leben ins Unendliche verlängern. In diesem Sinn behauptet der Biophysiker Gregory Stock in seinem Buch mit dem sehr bezeichnenden Titel Redesigning Humans. Our Inevitable Genetic Future: „Vielleicht fangen wir an, im Altern nicht nur eine Krankheit zu sehen, sondern die Krankheit. Es befällt einen jeden, es tötet, ist brutal, und plötzlich würde man in ihm etwas entdecken, das potenziell zu behandeln ist.“32 Wer in dieser Form vorgibt, das Alter sei die letzte Krankheit, die man eines Tages vollständig bezwingen oder zumindest gebührend unter Kontrolle bringen werde, macht aus ihm einen sinnlosen Abschnitt – und die betagten Menschen von heute angesichts des nahenden Siegeszugs der Wissenschaft zu Verlierern.33 Hier handelt es sich keineswegs um ein isoliertes Phänomen. Vielmehr scheint die Tendenz, im Altern und im Tod eine Niederlage zu sehen, in zunehmendem Maße verbreitet, vor allem wenn man an die Politik der öffentlichen Gesundheitsfürsorge denkt: Die Kampagnen gegen das Rauchen, gegen Übergewicht, bestimmte Fette etc. laufen darauf hinaus, die Bürger individuell in die Pflicht zu nehmen, ihnen persönlich die Schuld an ihrem Gesundheitszustand zuzuschreiben. So betont der Gerontologe Robert N. Butler, dass hinter dem „Altersschreck“ eine Ideologie wirksam sei, der zufolge die Menschen für ihren Gesundheitszustand verantwortlich zu machen sind und von daher im voraus die Kosten der Langzeitpflege bedenken sollten, die mit der weiteren Ausdehnung ihres Lebens entstehen.34 Soviel allerdings ist richtig: Eine Gesellschaft, in der der Wettlauf um Leistung Maß aller Dinge ist, disqualifiziert automatisch den kranken und entkräfteten Alten. Ihr Ideal ist es, so lange wie irgend möglich jung und funktionsbereit zu bleiben.

32

33 34

Gregory Stock, Redesigning Humans. Our Inevitable Genetic Future, Boston/Massachusetts (Houghton Mifflin) 2002, S. 85: („We might start to see aging not simply as a disease, but as the disease. It affects everyone, it kills, it is brutal and suddenly it would be seen as potentially treatable.“) Vgl. John A. Vincent, „Ageing Contested: Anti-Ageing Science and the Cultural Construction of Old Age“, op. cit., S. 693f. Vgl. Robert N. Butler, „Do Logevity and Health Generate Wealth?“ in: Malcolm L. Johnson (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Age and Ageing, op. cit., S. 547.

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Ein auf ewig funktionsbereiter Körper Ebenso, wenn nicht sogar mehr als auf den Tod selbst richtet sich die Angst vor dem hohen Alter auf den Autonomieverlust und die Abhängigkeit, mit denen es oft genug einhergeht.35 Die Gleichsetzung des Alters mit der Einbuße von Leistungsfähigkeit hat nebenbei einige Spezialisten der Alzheimerschen Krankheit dazu veranlasst, deren letzte Stadien als „sozialen Tod“ zu bezeichnen.36 Auf den fortschreitenden Verfall der körperlichen Kräfte, auch wenn er nicht den Schweregrad von degenerativen Krankheiten aufweist, richtet sich in der postmortalen Gesellschaft ein ganzes biomedizinisches Arsenal, das die Funktionsbereitschaft des Einzelnen aufrechterhalten soll. Um die kulturelle Logik zu verstehen, die hier am Werk ist, müssen wir uns in die Situation der Nachkriegsjahre einschließlich des damaligen BabyBooms zurückversetzen, als nämlich die Jugend zum Rang eines sozialen Werts aufstieg. Als erste Generation, deren Selbstverständnis wesentlich durch das Lebensalter geprägt ist, preisen die Baby-Boomer Autonomie und Freiheit als obersten Modus der individuellen Erfüllung. Und bis zu welchem Lebensabschnitt sie auch vorrücken: Auf ihn jeweils übertragen sie weiterhin diese Werte. Es ist, folgt man Chris Gilleard, dieser Hintergrund, vor dem ab den Achtziger Jahren eine ganze Reihe von Werbeslogans und kommerziellen Produkten auf dem Markt erscheinen, die das reife Alter zur zweiten Jugend befördern.37 Diese Übertragung von Werten der Jugend auf immer höhere Altersgruppen steigert sich im Laufe der Neunziger Jahre. Davon zeugt die Bedeutung, die gesellschaftlich den Rentenfonds beigemessen wird, die ja dazu dienen sollen, das soeben errungene lange Leben in größtmöglichem Umfang zu nutzen. Mit der sozialen Konstruktion des „schönen Alters“ entsteht daher ein gewaltiger Markt speziell für die frisch Berenteten, und auf ihm nehmen die in der Werbung gepriesenen Mittel zur Milderung und Ver35 36

37

Siehe das bereits zitierte Werk von Jérôme Pellissier. Vgl. Annette Leibing, „Devided Gazes. Alzheimer’s Diseases, the Person within, and Death in Life“, in: Annette Leibing und Lawrence Cohen (Hrsg.), Thinking about Dementia. Culture, Loss, and the Anthropology of Senility, New Brunswick (New Jersey)/ London (Rutgers University Press) 2006, S. 248. Vgl. Chris Gilleard, „Cultural Approaches to the Ageing Body“, in: Malcolm L. Johnson (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Age and Ageing, op. cit., S. 158f.

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schleierung der physischen Auswirkungen des Alterungsprozesses einen zentralen Platz ein.38 Um die Größenordnung dieses Vorgangs einzuschätzen, müssen wir uns nur den phänomenal gestiegenen Zulauf zur plastischen Chirurgie oder auch zu der ganzen Palette von Anti-Aging-Mitteln vor Augen halten.39 Die Befürchtung, man könne je nach Manifestationsgrad der Altersindizien sozial kategorisiert werden, spiegelt sich auch, wenn wir Bill Bytheway folgen, in entsprechenden Umgangsformen: „Das schmeichelhafteste Kompliment, das man in Amerika einer betagten Person machen kann, lautet, dass sie jünger aussieht, als sie ist, oder auch, dass ihr Verhalten nicht auf ihr Alter schließen lässt.“40 Um es den „neuen Jungen“ zu ermöglichen, dem Strom der Zeit zu trotzen, wurde somit auch eine ganze Reihe pharmazeutischer Produkte auf den Markt geworfen. Wenn Autonomie und Jugendlichkeit als Werte bejaht werden, so steht, in Verbindung mit der sexuellen Revolution der Sechziger und Siebziger Jahre, eine Vorstellung von Freiheit im Hintergrund, die sich mit Vergnügen und Genuss verbindet. Die Forschungen zum Alterungsprozess, bei denen man sich zunächst auf die physiologischen Wechseljahresbeschwerden konzentrierte, konnten schließlich auch das Nachlassen der Sexualfunktion erfolgreich als behandelbares und steuerbares medizinisches Problem einordnen.41 Im Sinne dieser Tendenz ist die Hormontherapie in den fortgeschrittenen Gesellschaften sehr schnell zum Allgemeingut geworden, konkret also die Einnahme von Östrogenen, die auch bei Frauen ab den Wechseljahren Vitalität und Weiblichkeit erhalten sollen. Allerdings kam es erst mit dem Marktdurchbruch von Viagra im Jahre 1998 in vollem Umfang zur Medikalisierung des Alterungsprozesses, so dass schließlich die Erektionspille zu einem Symbol der Moderne wurde. Mit etwas Abstand betrachtet hat die Tatsache, dass „heute […] jedermann um die Existenz von Viagra [weiß], als ob die Erektionsschwierigkeiten alternder Bevölkerungsgruppen eins der Hauptprobleme der Menschheit darstellten“, dann doch, wie Jacques Véron anmerkt, etwas Verwunderliches.42 „Forever Functional: Sexual Fitness and the Ageing Male Body“: Unter diesem Titel zeigt der Artikel von Barbara 38 39 40 41 42

Vgl. Jacques Véron, L’Espérance de vivre, op. cit.., S. 140. Vgl. ibid., S. 161. Bill Bytheway, „Ageism“, in: Malcolm L. Johnson (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Age and Ageing, op. cit., S. 339. Vgl. Hannes B. Staehelin, „Promoting Health and Wellbeing in Later Life“, in: ibid., S. 173. Jacques Véron, L’Espérance de vivre, op. cit., S. 158f.

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Marshall und Stephen Katz auf, wie die altersbedingte Impotenz Gegenstand einer biomedizinischen Dekonstruktion wurde, die aus der „erektilen Dysfunktion“ eine organische Krankheit gemacht hat, die medizinisch unter Kontrolle zu bringen sei.43 Perfekt passen die mit dem Alter verknüpften Erektionsprobleme zur Logik der Biomacht, wie sie von Foucault beschrieben wurde: Im Laufe der Neunziger Jahre werden sie zum Problem der öffentlichen Gesundheit, ebenso vordringlich wie die Adipositas und der Diabetes. Zusammen mit den Einbußen an Autonomie und Lebensfreude werden die Schwierigkeiten bei der Erektion nicht nur Gegenstand biomedizinischer Untersuchungen, sondern gleichzeitig auch mit Degeneration assoziiert. Als ob fortan der erigierte Penis auf den Status eines lebensnotwendigen Organs vorgerückt sei. Die im gesellschaftlichen Diskurs über Viagra transportierte Botschaft besagt, wenn wir uns an Marshall und Katz halten, nichts mehr und nichts weniger, als dass das Ausbleiben der Erektion der Vorbote des Todes ist.44 Durch die Angst vor der Dysfunktionalität wird ein Leistungskult unterhalten, der seinerseits eine neue Form von Narzissmus nährt: einen Narzissmus, bei dem es zentral darum geht, den Körper instand zu halten und in Form zu bringen.

Die Bionomik, ein Narzissmus neuer Prägung Auf seine rein physiologischen Dimensionen reduziert, erscheint das Altern mithin als degenerativer Prozess, der sich gegen die Integrität der Person richtet. Um dem Nachlassen der körperlichen Fähigkeiten im Alter zu begegnen, unterwirft man sich zunehmend einer Reihe von Imperativen, die sich auf die Techniken des Selbst in dem von Foucault gemeinten Sinn berufen. Körperliche Trainingsprogramme, die der Schrumpfung der Muskulatur vorbeugen und das Herz-Kreislauf-System funktionsfähig halten sollen, bis zu Diäten jeglicher Couleur: Der Kampf gegen das Altern wird bei den jungen Rentnern zu einem dauernden Bemühen darum, ihr ausstehendes langes Leben, wie Joël de Rosnay und seine Kollegen es nennen, „erfolgreich zu bewältigen“.45 In offenkundiger Konsumhaltung versichern sie 43 44 45

Barbara L. Marshall und Stephen Katz, „Forever Functional: Sexual Fitness and the Ageing Male Body“, op. cit., S. 55. Vgl. ibid. Joël de Rosnay et al., Une vie en plus, op. cit., S. 43.

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unter Bezug auf die dank der erhöhten Lebenserwartung hinzugewonnenen Jahre, dass sie „diesen Nachschlag zu unserem Dasein […] bei guter Gesundheit und in bester Verfassung konsumieren“ können.46 Hierzu befürworten die jungen Rentner die Entwicklung der Bionomik, d.h. einer Wissenschaft von der Lebensführung.47 Als ökonomisches Gegenstück zur Biologie hat die Bionomik das Ziel „zu lernen, den eigenen Körper gut zu managen“.48 Tatsächlich ist das Modell der Körperführung, das diese Autoren empfehlen, dem betrieblichen Management entlehnt und folgt darin direkt der von Nikolas Rose analysierten Logik der Biosteuerung. Eine ausufernde „Sorge für sich selbst“ kennzeichnet den neuartigen Individualismus, der mit der Biologisierung der Kultur Hand in Hand geht. „Die Angst vor dem Alter“, so deutet der Soziologe Christopher Lasch diesen Zeitgeist, „entspricht aber nicht dem ‚Jugendkult‘, sondern dem Kult des Ichs.“49 Folgt man seiner Analyse, so führt die systematische Entwertung älterer Menschen in Verbindung mit dem biomedizinischen Aufgebot zum Kampf gegen das Altern in die Richtung einer Entsolidarisierung der Individuen gegenüber den aufsteigenden Generationen. Wenn manche Wissenschaftler ausdrücklich äußern, die Grenzen des Todes so weit wie möglich hinausschieben, wenn nicht überwinden zu wollen, dann findet dies, so Lasch, seine Parallele in den Wunschträumen narzisstischer Individuen, die außerstande sind, den im menschlichen Dasein gelegenen Beschränkungen ins Auge zu sehen.50 Autoren wie David Le Breton und Alain Ehrenberg haben auf bemerkenswerte Weise die Frage nach dem Verhältnis zum Körper und der gegenwärtigen Form des Narzissmus angeschnitten.51 Doch ist es Christine Overall, die uns dies am konkretesten veranschaulicht. Wenn sie sich für eine unbegrenzte Lebensverlängerung mit den Mitteln der Technowissenschaften ausspricht, so dürfe dabei die Solidarität zwischen den Generationen die mit der langen Lebensdauer verbundenen Genussmöglichkeiten keinesfalls einschränken – wobei allerdings die Lebensverlängerung auch eine strikt individuelle Entscheidung sei.52 Abgesehen davon, dass ihre Ar46 47 48 49 50 51 52

Ibid. Vgl. ibid., S. 44. Ibid. Christopher Lasch, Das Zeitalter des Narzissmus, op. cit., S. 242. Vgl. ibid. Vgl. David Le Breton, L’Adieu au corps, Paris (Métailié) 1999; Alain Ehrenberg, Le Culte de la performance, Paris (Calmann-Lévy) 1991. Vgl. Christine Overall, Aging, Death and Human Longevity, op. cit., S. 190.

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gumentation auf dem Postulat einer unbegrenzten Ausdehnung der Lebenserwartung beruht, befremdet bei Overall der extreme Individualismus, den sie dabei zugrunde legt. Nicht nur laufen ihre Gedankengänge schlicht und einfach auf eine Neuauflage des Liberalismus hinaus, sondern darüber hinaus auf eine Rückbildung der Kultur zum Leben als solchem, wie folgendes Zitat beweist: „Es ist rational, sich ein längeres Leben zu wünschen, denn das Leben selbst ist die Voraussetzung für alles andere, was wir uns wünschen könnten. Dem Grunde nach bildet ein verlängertes Leben die Gelegenheit für zusätzliche und mannigfaltige Erfahrungen“.53 Eine Vorstellung von Freiheit in Form des individuellen Genusses und der Erweiterung persönlicher Erfahrungen ist die Basis des heutigen Narzissmus. Und dieser ist von der Biologisierung der Kultur insofern nicht zu trennen, als die Fortsetzung des Lebens als solchem zu einer Zielsetzung wird, und zwar unabhängig von jeder anderen kulturellen, sozialen oder politischen Dimension.

Auf dem Weg zu einer streitbaren Wissenschaft Der Traum von einem Jugendelixier stammt nicht von gestern, woran Lucian Boia in seinem Buch Quand les centenaires seront jeunes erinnert. Die Sehnsucht nach einem Leben ohne Ende war keineswegs den großen Mythen und Religionen vorbehalten. Vielmehr ist ab der Renaissance die Suche danach in vollem Umfang ein intellektuelles und wissenschaftliches Thema ersten Ranges. In diesem Sinne bemerkt Descartes, dass, wie er im Jahr 1645 schreibt, „die Erhaltung der Gesundheit“ immer das Hauptziel seiner Studien gewesen sei, da diese, so heißt es bereits in seinem Hauptwerk, „ohne Zweifel das erste Gut und die Grundlage aller anderen Güter des Lebens ist.“54 Unter den Mitteln, die das Leben verlängern sollen, wird der Ernährung und der Lebensführung ein bevorzugter Platz eingeräumt. Auch wenn die verordneten oder verbotenen Nahrungsmittel je nach historischer Epoche oder nach Region variieren, blieb die Mäßigung in allen Anweisungen 53

54

Ibid., S. 184. („It is rational to want a longer life because life itself is the precondition for all else that we might want. At its most fundamental level, prolonged life offers the opportunity for additional and varied experiences.“) René Descartes, Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung, französisch-deutsch, übers. u. hrsg. von Lüder Gäbe, Hamburg (Meiner) 1997, S. 101.

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zur Lebensverlängerung eine Konstante. In diesem Punkt macht unsere Zeit keine Ausnahme, preisen viele renommierte Wissenschaftler die Begrenzung der Kalorienzufuhr doch als Mittel, länger zu leben. Seit Mitte der Dreißiger Jahre wurden wissenschaftliche Tests an zahlreichen Tiergattungen durchgeführt, und die gewonnenen Daten sprechen dafür, dass sich mit einer drastischen Senkung der aufgenommenen Kalorien in Verbindung mit einem Überschuss an Vitaminen eine signifikante Verlängerung der Lebenserwartung erreichen lässt.55 Seit Ende der Achtziger Jahre befassen sich Laboratorien wie die des National Institute on Aging mit den Auswirkungen der Kalorienreduktion auf den Alterungsprozess: Diese an Affen durchgeführten Forschungen haben ergeben, dass die Tiere, die man dieser Diät unterworfen hatte, trotz ihres fortgeschrittenen Alters gute Werte für die lebenswichtigen Hormone aufweisen, dass ihr Blutdruck niedriger ist und dass sie weniger unter chronischen Krankheiten leiden als die normal ernährten.56 Trotz einiger ernster Probleme, zu denen ein starker Rückgang der Reproduktionsfähigkeit zählt, ist aus Sicht manch eines Wissenschaftlers die Kalorienreduktion der greifbare Beweis für die Möglichkeit, direkt auf den Alterungsprozess einzuwirken. Folgen wir dem Pathologen Richard A. Miller, so gestattet es die mit der Kalorienrestriktion einsetzende Umstellung des Stoffwechsels daher nicht nur, den Eintritt bestimmter Krankheiten und damit des Todes hinauszuschieben, sondern auch den Altersabbau als solchen zu verzögern.57 Manch ein Wissenschaftler mag sich daher auf Forschungsergebnisse wie z.B. die zur Kalorienreduktion berufen, wenn er den natürlichen und unausweichlichen Charakter bestreitet, der für gewöhnlich dem Alterungsprozess zugeschrieben wird. In Fortsetzung der biomedizinischen Dekonstruktion des Todes hat Anfang der Neunziger Jahre die Infragestellung der Grenzen, die der menschlichen Langlebigkeit gesetzt sind, die Biogerontologie entstehen lassen. Während für die Geriatrie Erforschung und Behandlung altersbedingter Krankheiten im Mittelpunkt stehen, zielt diese junge wissenschaftliche Dis55

56 57

Zu diesem Thema siehe den President’s Council on Bioethics, Beyond Therapy: Biotechnology and the Pursuit of Happiness, Kap. IV, „Ageless Bodies“. Online: http://www. bioethics. gov/reports/beyondtherapie/chapter4.html (abgerufen im Oktober 2007). Vgl. ibid., S. 8. Vgl. Richard A. Miller, „Extending Life: Scientific Prospects and Political Obstacles“, in: Stephen G. Post und Robert H. Binstock (Hrsg.), The Fountain of Youth. Cultural, Scientific and Ethical Perspectives on a Biomedical Goal, New York (Oxford University Press) 2004, S. 196.

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ziplin darauf ab, die biologischen Vorgänge zu begreifen und zu beherrschen, die den Alterungsprozess ausmachen.58 Aus einer offenen „AntiAging“-Position heraus verwirft die Biogerontologie die allgemein akzeptierte Vorstellung vom Altersabbau als eines unvermeidbaren natürlichen Phänomens und vom Tod als biologischer Notwendigkeit. Hiergegen setzt sie die Überzeugung vom Potenzial der Wissenschaft, auf den Alterungsprozess dergestalt einzuwirken, dass man ihn in seinen Effekten bremst oder aber, noch optimistischer, komplett verhindert.59 Auf zellulärer und molekularer Ebene argumentierend, schwankt die Biogerontologie zwischen zwei großen wissenschaftlichen Erklärungsansätzen zur altersbedingten Degeneration. Die erste Hypothese besagt, dass hier ein durch die Evolution vorprogrammiertes Phänomen wirksam sei, während die zweite postuliert, dass es sich eher um ein zufälliges Abfallprodukt der natürlichen Selektion handelt.60 Nach dieser zweiten Hypothese wäre der Altersabbau ein Irrtum und hätte vom Standpunkt der Evolution keinerlei spezielle Funktion.61 Er verdankt sich hiernach schlicht dem Umstand, dass die natürliche Selektion die Reproduktion bevorzugt und eine Verlängerung des organischen Lebens nach der Periode der Fortpflanzung nicht „vorgesehen“ hat. Hieraus erkläre sich, dass unter natürlichen Bedingungen – und dies gelte für die Mehrzahl der tierischen Gattungen wie auch für den Menschen – nur sehr wenige Individuen das Alter ihrer Reproduktion erreichen oder überschreiten. Allein dieses Argument, so der Bioethiker Arthur L. Caplan, rechtfertige bereits, das Altern als eine Krankheit und nicht etwa als natürliches Phänomen zu betrachten.62 Ob es nun das Ergebnis einer genetischen Programmierung oder aber die unvorhergesehene Folge der Evolutionsgesetze darstellt: Aus Sicht

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Vgl. Courtney Everts Mykytyn, „Anti-Aging-Medicine: Predictions, Moral Obligations and Biomedical Intervention“, Anthropological Quarterly 79, n° 1, 2006, S. 5-31. Vgl. Ronald Klatz, „New Horizons for the Clinical Speciality of Anti-Aging Medicine. The Future with Biomedical Technologies“, The Annals of the New York Academy of Sciences n° 1057, 2005, S. 536-544. Vgl. B. Anton, L. Vitetta, F. Cortizo und A. Sali, „Can we Delay Aging? The Biology and Science of Aging“, Annals of the New York Academy of Sciences n° 1057, 2005, S. 525 535. Vgl. Arthur L. Caplan, „An Unnatural Prozess: Why it Is Not Inherently Wrong to Seek a Cure for Aging“, in: Stephen G. Post und Robert H. Binstock (Hrsg.), The Fountain of Youth, op. cit., S. 280. Vgl. ibid.

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der Biogerontologen ist das Altern eine tödliche Geisel, gegen die anzukämpfen von der Wissenschaft erwartet werden muss.63 Mit der American Academy of Anti-Aging Medicine (A4M), die 1992 eine Gruppe von Wissenschaftlern und Ärzten ins Leben ruft, erhält die Biogerontologie ihre institutionelle Grundlage.64 Diese A4M, die eher einer sozialen Bewegung gleicht als einer neuen wissenschaftliche Disziplin, die diesen Namen verdient hätte, setzt sich nicht nur für einen alternativen Zugang zum Alterungsprozess ein; auch und vor allem ist ihr an einer neuen Form der medizinischen Praxis gelegen. So behauptet der Anthropologe Courtney Everts Mykytyn, die von der A4M geförderte biomedizinische Anti-Aging-Strömung gehe darüber hinaus, „ein Konstrukt vom Alter als natürlichem Phänomen oder aber als Krankheit zu präsentieren“; vielmehr verfolge sie den Zweck, „die Gesundheit und die Erfahrungen des Körpers zu optimieren“.65 Ziele dieser Vereinigung, die über 11.000 Mitglieder zählt, sind die Bekämpfung der Symptome des Alters, die Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit älterer Menschen und die Lebensverlängerung.66 Wenn die Mitglieder der A4M die Gerontologie und die Geriatrie bezichtigen, sich einem „Kult des Todes“ zu verschreiben, so wehren sie sich dagegen, den Altersabbau und den Tod als selbstverständliche Vorgänge zu betrachten.67 Abgesehen von der in ihr verbreiteten rein negativen Vorstellung vom hohen Lebensalter, die aus Greisen willige Opfer macht, tritt diese Anti-Aging-Bewegung durch eine ausgesprochen kampflustige Position innerhalb der biomedizinischen Gemeinschaft hervor. So wird aus wissenschaftlichen Kreisen, und namentlich von gerontologischer Seite, eine herbe Kritik dahingehend laut, dass ihre theoretischen Modelle hochgradig spekulativ seien und dass, wenn es um die Behandlungen geht, die Patienten Experimenten ausgesetzt werden.68 Auch weil man sie als gewinnsüchtige Scharlatane bezichtigt, sind, nebenbei gesagt, die in der A4M vereinten Bio63 64 65 66 67 68

Vgl. Courtney Everts Mykytyn, „Anti-Aging Medicine: A Patient/Practitioner Movement to Redefine Aging“, op. cit. Siehe http://www.a4m.com/. Courtney Everts Mykytyn, „Anti-Aging Medicine: A Patient/Practitioner Movement to Redefine Aging“, op. cit., S. 644. Vgl. Eric T. Juengst, „Anti-Aging Research and the Limits of Medicine“, in: Stephen G. Post und Robert H. Binstock (Hrsg.), The Fountain of Youth, op. cit., S. 321-339. Vgl. Courtney Everts Mykytyn, „Anti-Aging Medicine: Predictions, Moral Obligations and Biomedical Intervention“, op. cit., S. 23. Vgl. ibid.

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gerontologen Gegenstand lebhafter Debatten.69 Dabei sollte man hinzufügen, dass sie selber sich als Abenteurer präsentieren, die sich entgegen einem konservativen und unterwürfigen biomedizinischen Establishment berufen fühlen, sich auf das hohe Alter zu stürzen.70 In seiner Feindseligkeit gegenüber der Autorität der Medizin und den um die ethischen Konsequenzen der Anti-Aging-Medizin besorgten Gerontologen beteuert dementsprechend der Biogerontologe Aubrey de Grey: „Wir laufen Gefahr, uns am Tod von mehr als 10.000 Menschen pro Tag schuldig zu machen, wenn wir die Antiaging-Technologien und -Behandlungen nicht weiterentwickeln“.71 Auf der Basis von Behandlungen und Maßnahmen, die von Nahrungsergänzungsmitteln über die Genanalyse bis zur Injektion von Wachstumshormonen reichen, neigt die A4M entschieden zu einer futuristischen Prophezeiungsmedizin.72 Wie Courtney Everts Mykytyn klarstellt, findet sich kein einziger Geriater oder Gerontologe auf der Mitgliederliste dieser Vereinigung. Diese setzt sich vielmehr aus Personen verschiedener Fachrichtungen zusammen, die mit dem biomedizinischen Bereich in irgendeiner Weise zu tun haben.73 Vertraut man den Weissagungen des Doktor Ronald Klatz, eines Mitglieds von A4M, so sind die Aussichten der Anti-Aging-Medizin praktisch endlos, da in Kürze die Grenze des menschlichen Höchstalters, bisher bei ungefähr 120 Jahren festgelegt, überschritten sein und eine theoretische Unsterblichkeit erreicht werden könnte. Wenn es nach diesem praktischen Arzt geht, so erstreckt sich der klinische Horizont der Anti-AgingMedizin in vier Hauptrichtungen: 1) die Regenerationsmedizin, 2) die Technologien zur Herstellung und Verwendung von Stammzellen zwecks Behandlung degenerativer Krankheiten, 3) die Gentechnik und 4) die Nanotechnologien, die Eingriffe in die biologischen Prozesse auf fundamentalem Niveau zulassen.74 In der Tat scheint die Gesamtheit der technowissen69 70 71 72 73 74

Siehe namentlich den Artikel von Robert H. Binstock, „The War on ‚Anti-Aging Medicine‘“, The Gerontologist n° 43, Band 1, 2003, S. 4-14. Vgl. Courtney Everts Mykytyn, „Anti-Aging Medicine: A Patient/Practitioner Movement to Redefine Aging“, op. cit., S. 651. Aubrey de Grey, „An Engineer’s Approach to Develop Real Anti-Aging Medicine“, in: Stephen G. Post und Robert H. Binstock (Hrsg.), The Fountain of Youth, op. cit., S. 265. Vgl. Courtney Everts Mykytyn, „Anti-Aging Medicine: Predictions, Moral Obligations and Biomedical Intervention“, op. cit., S. 645. Vgl. Courtney Everts Mykytyn, „Anti-Aging Medicine: A Patient/Practitioner Movement to Redefine Aging“, op. cit., S. 645. Vgl. ibid., S. 539.

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schaftlichen Forschungen auf biomedizinischem Gebiet in der Anti-AgingMedizin zusammenzulaufen. Mit ihrem grundsätzlichen Paradigmenwechsel wird die Regenerationsmedizin nämlich gewissermaßen zum wissenschaftlichen Aushängeschild des Kampfes gegen das Altern.

Der recycelte Körper der Regenerationsmedizin Die Unterscheidung zwischen normal und pathologisch, zwischen Altern und Krankheit zählt hier nicht mehr. Die Regenerationsmedizin setzt sich die Reproduktion der biologischen Prozesse zum Ziel, die dem Körper die Wiederherstellung, wenn nicht gar seine Neuerschaffung gestatten sollen. Es geht also nicht mehr, wie in der klinischen Medizin, um die Bekämpfung von Krankheiten, durch die das Gleichgewicht des Körpers aufrechterhalten werden soll, sondern um die Bekämpfung des Altersabbaus als solchem. Entsprechend ist das Ziel nicht mehr die Gesundung, sondern die Regeneration, die aus sich heraus keinerlei Grenze setzt. Axel Kahn und Fabrice Papillon haben sich mit den Entwicklungen auf diesem Gebiet näher beschäftigt.75 Beispielgebend war für sie der Salamander, dieser kleine Lurch mit der Fähigkeit, einzelne seiner Körperteile zu regenerieren. Diese Fähigkeit zur Selbstrekonstruktion sei, so die Autoren, auch beim Menschen angelegt, wie z.B. bei den Knochen, der Haut und der Leber. Eine der grundlegenden Hypothesen, auf denen die Regenerationsmedizin aufbaut, behauptet demnach den Verlust dieser Fähigkeit im Laufe der Evolution.76 Die Forschungen, durch die das Geheimnis des Salamanders gelüftet werden soll, konzentrieren sich also auf molekularer Ebene darauf, die Spur des oder der für die Regeneration verantwortlichen Gene aufzuspüren, um diese reaktivieren zu können.77 Molekularbiologie, Genomanalyse, Gentherapie, Proteomik und Gentechnik sind daher aufgerufen, unsere regenerativen Fähigkeiten wiederzubeleben. Trotzdem ist es weiterhin die zelluläre Ebene, auf der die Verheißungen der Regenerationsmedizin konkretere Gestalt annehmen, und zwar mit der Entdeckung der berühmten Stammzellen: „Erst seit wenigen Jahren wirklich erforscht, bergen die Stammzellen, um 75 76 77

Vgl. Axel Kahn und Fabrice Papillon, Le Secret de la salamandre, op. cit., S. 12. Vgl. ibid., S. 344. Vgl. ibid., S. 77 und S. 101.

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nur das Mindeste zu sagen, einen Teil vom Geheimnis des Salamanders. Auf unterschiedlichen Ebenen sind sie in der Lage, Gewebe oder sogar Organteile zu rekonstruieren und sich nach Belieben in zahlreiche Zelltypen zu verwandeln, die für viele Kranke unverzichtbar sind“.78 Aufgrund ihrer Formbarkeit und Plastizität sind diese „Wunderzellen“ die Hoffnungsträger einer eventuellen Regeneration des menschlichen Körpers.79 Bis heute ist, nebenbei gesagt, das Anti-Aging-Potenzial der Stammzellen Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen.80 Nachdem die embryonalen Stammzellen erstmals 1998 von James A. Thomson isoliert worden waren, verbanden sich mit ihnen, wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, die verheißungsvollsten biomedizinischen Vorstöße.81 Als Motor der Regenerationsmedizin fügen sie sich in die von Melinda Cooper beschriebene Bioökonomie des recycelten Körpers ein. Die Herstellung von Gewebeersatzstoffen macht allerdings Verfahrenstechniken zur Wiederaufbereitung organischer Abfälle erforderlich. So stammten die ersten transplantierten Hautlappen aus der Vorhaut beschnittener Säuglinge, und die Blutbanken, auf denen zur Gewinnung von Stammzellen Nabelschnurblut gelagert wird, sind nicht mehr zu zählen. 82 Für Stanley Shostak steht außer Zweifel, dass die Zukunft der Biologie in jenem Recycling körperlicher Abfälle liegt: „Manch ein Biologe gelangt schließlich zu der Einschätzung, dass das Leben auf das Recycling von Abfällen und Leichen angewiesen ist.“83 Auch wenn der soziale und juristische Status der embryonalen Stammzellen umstritten ist: Der Logik des biologischen Recycling fügen sie sich nahtlos ein. Dabei wird die Verwendung so genannter „überzähliger“ Embryonen zu experimentellen Zwecken durch den Standpunkt 78 79

80 81 82 83

Ibid., S. 346. Trotz der lebhaften Hoffnungen, die auf dem Gebiet der Regenerationsmedizin in sie gesetzt werden, sind die Stammzellen weit von einem problemlosen Allheilmittel entfernt. Abgesehen von den ethischen Fragen, die sich in Bezug auf ihre Herkunft stellen, erzeugen sie in großem Umfang Tumore. Zu diesem Thema siehe die bereits zitierte Arbeit von Axel Kahn und Fabrice Papillon. Vgl. Mahendra S. Rao und Mark P. Mattson, „Stem Cells and Aging: Expanding the Possibilities“, Mechanisms of Ageing and Development n° 122, 2001, S. 713-734. Vgl. Melinda Cooper, „Resuscitations: Stem Cells and the Crisis of Old Age“, op. cit., S. 2f. Vgl. ibid., S. 9f. Stanley Shostak, Becoming immortal, op. cit., S. 35, (zitiert von Melinda Cooper, ibid.) („Some biologists have come to appreciate that life itself depends on the recycling of wastes and corpses.“)

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legitimiert, man dürfe diese wertvollen Ressourcen des Lebens doch nicht „vergeuden“.84 Die Embryonen, die, ursprünglich für eine In-vitro-Fertilisation erzeugt, auf keinen „Kinderwunsch“ von Paaren mehr treffen, werden über einen standardisierten Prozess zu biomedizinischen Produkten recycelt, um alsdann der Forschung zur Verfügung zu stehen. Im Rahmen einer globalisierten Bioökonomie, in der sich alles um den Kampf gegen das Altern dreht, erhalten die menschlichen Embryonen auf dem Weltmarkt einen Biowert, der sie zu einer hoch begehrten Ware macht.85 Mit der künstlichen Schaffung überzähliger menschlicher Embryonen haben die neuen Reproduktionstechnologien einer Regenerationsmedizin den Weg geebnet, der höchste Renditen erwarten lässt, wie der wirtschaftliche Erfolg der amerikanischen Gesellschaft Geron bezeugt.86 1992 von einigen in die Anti-Aging-Medizin involvierten Wissenschaftlern gegründet, ist aus Geron inzwischen das Symbol für die florierende biopharmazeutische Industrie geworden. Diese Gesellschaft, an der Börse beim Nasdaq-Index notiert, monopolisiert den aufblühenden Markt der Regenerationsmedizin.87 Auf Differenzierung und Reprogrammierung von Stammzellen zur Herstellung menschlicher Gewebe spezialisiert, versteht sich dieses Unternehmen darauf, aus dem Kampf gegen das Altern ein neues Biotech-Eldorado zu machen.88 Von den diagnostischen Verfahren bis zur Xenotransplantation: Die Aktivitäten von Geron künden von der Entschlossenheit, den Alterungsprozess mit dem Ziel seiner Umkehrung zu steuern. In Form solcher Angebote offeriert die Gesellschaft eine biologische Lösung für die mit dem hohen Lebensalter aufgeworfenen sozialen Probleme. Und innerhalb dieser Logik wird die Gesundheit zu einem Kapital, in das der Einzelne aufgefordert ist finanziell zu investieren, wenn er sein Leben verlängern will.89 Hier sollte man hinzufügen, dass die von Geron angebotenen Behandlungsexperimente den Rahmen der Krankenversicherungssysteme voll und ganz sprengen, so dass es also von der Finanzkraft der Patien84 85 86 87 88 89

Catherine Waldby, „Stem Cells, Tissue Cultures and the Production of Biovalue“, Health 6, n° 3, 2002, S. 317. Siehe die bereits zitierten Artikel von Melinda Cooper und von Catherine Waldby. Für eine Übersicht über die Aktivitäten dieser Gesellschaft siehe ihre Webseite: http://www.geron.com (abgerufen am 15. Oktober 2007). Vgl. Melinda Cooper, „Resuscitations: Stem Cells and the Crisis of Old Age“, op. cit., S. 14. Vgl. Sarah Franklin, „Ethical Biocapital. New Strategies of Cell Culture“, in: Sarah Franklin und Margaret Lock (Hrsg.). Remaking Life and Death, op. cit., S. 98-123. Vgl. ibid., S. 122.

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ten abhängt, ob sie diese gänzlich private Medizin in Anspruch nehmen können oder nicht.90 In Wirklichkeit wird bei Geron, wie die Anthropologin Sarah Franklin erläutert, aus der Sehnsucht nach Unsterblichkeit Kapital geschlagen, und dies über eine geschickte Vermarktung so genannter wissenschaftlicher Errungenschaften, die sich allerdings der Spekulation zumindest ebenso bedienen wie der konkreten Umsetzung.91 Was hier verkauft wird, ist nichts mehr und nichts weniger als der Traum, die „Menschmaschine“ (Wiener) zu steuern und umzuprogrammieren, um sie potenziell unsterblich werden zu lassen.92

Das Re-Engineering der Menschmaschine Indem die Regenerationsmedizin die biologischen Prozesse so, wie sie von ihr erfasst werden, umgestaltet und steuert, kommt sie in ihrer Denkweise einem Bio-Engineering näher als der klinisch-medizinischen Praxis. Kommerzialisierung, Reproduktion und Manipulation von menschlichen Ersatzgeweben setzen, wie Linda F. Hogle analysiert, ein rein technisches Verständnis des Körpers voraus, bei dem sich die Arbeit des Chirurgen der des Ingenieurs angleicht.93 Der englische Biogerontologe Aubrey de Grey, von seiner beruflichen Herkunft her Informatiker, verkörpert auf radikale Weise die Figur des Bio-Ingenieurs. Dieser Forscher, der ohne Umschweife versichert, dass „das Alter eine medizinische Pathologie“ und „die Medizin eine Branche des Ingenieurswesens“ seien, steht an der Spitze des 2005 gegründeten Projekts SENS (Strategies for Engineered Negligible Senescence). Ziel von Aubrey de Grey ist ein vollständiges Re-Engineering des Körpers auf zellulärer und molekularer Ebene, womit er gegen den körperlichen und geistigen Abbau ankämpfen will. So behauptet er, dass die Ziellinien der Anti-Aging-Medizin auf keinem anderen Weg als dem der konkreten Anwendung des problem solving zu erreichen seien, d.h. der Methode der Ingeni90 91 92 93

Vgl. Courtney Everts Mykytyn, „Anti-Aging Medicine: A Patient/Practitioner Movement to Redefine Aging“, op. cit., S. 649. Vgl. Sarah Franklin, „Ethical Biocapital. New Strategies of Cell Culture“, in: Sarah Franklin und Margaret Lock (Hrsg.), Remaking Life and Death, op. cit., S. 123. Vgl. ibid. Vgl. Linda F. Hogle, „Life/Time Warranty. Rechargeable Cells and Extendable Lives“, in: Sarah Franklin und Margaret Lock (Hrsg.), Remaking Life and Death, op. cit., S. 74f.

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eure. „Um eine technische Lösung für ein spezifisches Problem zu finden, wird man sich an eine Person wenden, die dafür ausgebildet ist, d.h. an einen Ingenieur“.94 Auch wenn es sich hier um einen Extremfall handeln mag, offenbart das Modell des Bio-Engineering des Körpers doch die der Regenerationsmedizin eigene technowissenschaftliche Logik. Das Vorhaben, die mit dem Altern verbundenen biologischen Mechanismen zu steuern und zu manipulieren, lässt sich daher eindeutig auf die Absicht zurückführen, dem menschlichen Körper ein „neues Design“ zu verleihen. Dieses Phänomen fasst die Anthropologin Linda F. Hogle für das Gewebe-Engineering treffend zusammen: „Wenn die Genetik den Grundriss vorgibt, dann ist das Gewebe-Engineering der Designer der Architektur des Körpers.“95 Bei der Regerationsmedizin beschränkt man sich also nicht mehr darauf, den Körper zu behandeln; man zielt auf seine Umgestaltung. Eindeutig im Hinblick auf die künftigen Schritte des Unternehmens benennt der Geschäftsführende Direktor der Gesellschaft Human Genome Sciences, William Haseltine, die vier Etappen, über die man zu einer echten Regenerationsmedizin gelangen werde.96 In der ersten sollen die Mechanismen der Selbstreparatur des Körpers stimuliert und kopiert werden, während in der zweiten die Implantation von Geweben oder Organen stattfindet, die außerhalb des Körpers produziert wurden. Die dritte Phase der Regenerationsmedizin sieht die Entwicklung von Technologien zur Auffrischung von Zellen vor, die aufgrund der Steuerung durch die innere biologische Uhr einer Abnutzung anheim gefallen sind. In der vierten Phase schließlich soll mithilfe der Nanotechnologien ein komplettes Re-Engineering der molekularen und zellulären Mechanismen vorgenommen werden.97 Wir müssen uns hier nicht damit aufhalten, dass sich bei einem futuristischen Entwurf nach diesem Muster die Grenzen zwischen Wissenschaft und Sciencefiction offensichtlich auflösen. Wichtig ist aber, in ihm das Mo94

95

96 97

Aubrey de Grey, „An Engineer’s Approach to Develop Anti-Aging Medicine“, in: Stephen G. Post und Robert H. Binstock (Hrsg.), The Fountain of Youth, op. cit., S. 252. („To find a technical solution to a specific problem, you ask someone who has the appropriate training: an engineer.“) Linda F. Hogle, „Life/Time Warranty. Rechargeable Cells and Extendable Lives“, in: Sarah Franklin und Margaret Lock (Hrsg.), Remaking Life and Death, op. cit., S. 65. („If genetics is the blueprint, then tissue engineering is the ‘design-build’ phase of bodily architecture.“) Vgl. Sophie Petit-Zeman, „Regenerative Medicine“, op. cit., S. 201f. Vgl. ibid.

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dell zu erkennen, auf dem die Regerationsmedizin ihrer eigenen Idee zufolge beruht: Dass nämlich der Körper in jeder Hinsicht umformbar ist und die Differenzen zwischen Natur und Artefakt der Tendenz nach verblassen. Wie Eugene Thacker am Thema des Gewebe-Engineering aufzeigt, hat die Möglichkeit, menschliche Gewebe außerhalb des Körpers zu reproduzieren, um sie ihm dann wieder einzufügen, Anteil daran, dass die körperlichen Grenzen sich vernebeln, so dass der Traum, die von der Natur gesetzten Schranken zu überwinden, neue Nahrung erhält.98 Das Ziel der Steuerung biologischer Prozesse – indem man sie künstlich außerhalb des Körpers reproduziert oder indem man auf die inneren Funktionsabläufe des Organismus einwirkt – führt dazu, wie neben Thacker auch Hogle klarstellt, die Differenzierung zwischen Natur und Kultur zu beseitigen: „Wenn die Körper sich dank ihrer eigenen ‚natürlichen‘ Prozesse reparieren, diese Prozesse aber Resultat einer Programmierung sind, die vom Menschen erfunden und in Gang gesetzt wurde, wie und wo soll man dann noch das Artefakt dingfest machen?“99 Das Gewebe-Engineering zielt nämlich im Gegensatz zur Transplantationsmedizin darauf, dem Körper die Fähigkeit zurückzugeben, sich selbst zu regenerieren.100 Insofern beruht das neue technowissenschaftliche Modell nicht mehr auf der traditionellen Körper/Maschine-Vorstellung, sondern geradezu auf einer neuen Ontologie des Körpers als einer Sammlung programmierter Maschinen.101 Das Modell des Re-Engineering des Körpers, wie es der sich entfaltenden Regenerationsmedizin inhärent ist, folgt einer Logik, welche die Kultur biologisiert und die Gesundheit kapitalisiert, wobei die Lebensverlängerung zum höchsten Wert der postmortalen Gesellschaft wird. In seiner Begeiste98 99

100 101

Vgl. Eugene Thacker, The Global Genome. Biotechnology, Politics and Culture, Cambridge/Massachusetts (MIT Press) 2005, S. 275-303. Linda F. Hogle, „Life/Time Warranty. Rechargeable Cells and Extendable Lives“, in: Sarah Franklin und Margaret Lock (Hrsg.), Remaking Life and Death, op. cit., S. 90. („When bodies repair themselves using their own ‚natural‘ processes, but these processes have been programmed in using human effort and innovation, how do we locate artifice?“) Vgl. ibid., S. 63. Vgl. Céline Lafontaine und Michèle Robitaille, „Entre science et utopie, le corps transfiguré des nanotechnologies“, in: Virginie Tournay und Annette Leibing (Hrsg.), Technologies de l’espoir. Les débats publics autour de l’innovation médicale – un objet anthropologique à définir, Québec (Presses de l’Université Laval) 2008. Zu diesem Thema siehe auch die laufende Doktorarbeit von Michèle Robitaille, Culture du corps et technosciences: vers une „mise à niveau“ technique de l’humain?, op. cit.

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rung für die Weiterentwicklung der Bionomik befürwortet Joël de Rosnay am Ende sogar Verträge über eine „Wartung“ des Körpers, die zwischen den einzelnen Bürgern und den mit Versicherungsgesellschaften assoziierten pharmazeutischen Unternehmen abzuschließen wären.102 Eigentlich ist es, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, die Suche nach der Unsterblichkeit, zu der die Forschungen über ein mithilfe der biomedizinischen Technowissenschaften verlängertes Leben überleiten. So zeichnet die Regenerationsmedizin die imaginären Konturen eines „todlosen Körpers“, um den Ausdruck von Eugene Thacker aufzugreifen.103 In der Überzeugung, dass die künftigen Errungenschaften der Wissenschaft eine technische Lösung des Problems der Sterblichkeit erbringen werden, sehen manche Forscher bereits kommen, dass der Mensch in der uns bekannten Beschaffenheit schlicht und einfach überholt sein wird. Lucian Boia erfasst dies genau, wenn er anmerkt: „Es wäre naiv zu glauben, dass unsere gegenwärtige intellektuelle Entwicklung unsere Vorräte an Mythologien mindern würde. Das Gegenteil ist der Fall: Die aus der Wissenschaft geborene Mythologie ist um einiges gehaltvoller und abwechslungsreicher als die unserer Vorfahren, die auf das Konto der Religion ging. Und zwar einfach deshalb, weil die Wissenschaft unerschöpflich ist und unsere Zielsetzungen sich vervielfältigt haben“.104 In ihrem radikalen Flügel nährt die postmortale Gesellschaft den Wunschtraum, dem Posthumanen Leben einzuhauchen.

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Joël de Rosnay et al., Une vie en plus, op. cit., S. 75. Eugene Thacker, The Global Genome, op. cit., S. 267. Lucian Boia, Quand les centenaires seront jeunes, op. cit., S. 218.

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Vom Ziel der Vervollkommnung zur Unsterblichkeit. Das endlose Leben des Posthumanen „Life extension could be as basic an application of biology in the twenty-first century as electricity was for physics of the twentieth century.“ Michael R. Rose1 „What becomes difficult to imagine is a description of the human that does not take the intelligent machine as a reference point.“ N. Katherine Hayles2

Die biomedizinische Dekonstruktion des Todes und seine demografische Verbannung in die Gefilde des hohen Alters beflügelt bei zahlreichen Wissenschaftlern und Forschern den Wunschtraum, die der menschlichen Existenz gesetzten biologischen Grenzen zu überwinden, das Leben ins Unendliche zu verlängern, wenn nicht gar Unsterblichkeit zu erlangen. Zwar wird dieser Begriff in mehreren Abhandlungen erwähnt, die sich für eine unendliche Ausdehnung der Langlebigkeit mithilfe der Technowissenschaften aussprechen. Doch ist, wo von Unsterblichkeit die Rede ist, immer auch eine übernatürliche Dimension impliziert, die sich vom menschlichen Dasein und seiner Beschaffenheit gänzlich abhebt. Allein ein Wesen, das der Natur und der mit ihr gesetzten imperativen Sterblichkeit enthoben ist, könnte, so argumentiert dementsprechend auch der Bioethiker Steven Hor-

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Michael R. Rose, „The Metabiology of Life Extension“, in: Stephen G. Post und Robert H. Binstock (Hrsg.), The Fountain of Youth, op. cit., S. 168f. („Die Lebensverlängerung könnte in dem Maße zum Hauptanwendungsgebiet der Biologie des 21. Jahrhunderts werden wie die Elektrizität es im 20. Jahrhundert für die Physik war.“) N. Katherine Hayles, „Computing the human“, Theory, Culture and Society 22, n°1, 2005, S. 131. („Es wird schwierig, das Menschliche in Begriffe zu fassen, die nicht die intelligente Maschine zum Bezugspunkt wählen.“)

127 C. LAFONTAINE, DIE POSTMORTALE GESELLSCHAFT, DOI 10.1007/978-3-531-92063-4_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010

robin, als unsterblich betrachtet werden.3 Will man hingegen den Tod auf wissenschaftlichem Wege besiegen, so bewegt man sich innerhalb einer naturalistischen Denkweise, in der ein Bezug auf eine die Natur transzendierende mythologische oder religiöse Welt nichts zu suchen hat. Infolgedessen geht es hier nicht darum, zu einer anderen Welt aufzubrechen, und nicht einmal darum, der Beschaffenheit des Menschen als solcher zu entfliehen. Vielmehr ist es nur das Leben hier auf Erden, das in Ewigkeit fortgesetzt werden soll. Um genau zu sein, müssten wir hier eher von Amortalität in dem Sinne sprechen, wie Edgar Morin sie definiert, nämlich als „unbegrenzte Fähigkeit zu leben, solange kein Unfall dazwischen kommt“.4 Angesichts des hochgradig spekulativen Charakters einer Diskussion über die unendliche Verlängerung des irdischen Lebens mag man eine solche Akribie belächeln. Und doch können wir mit der begrifflichen Unterscheidung zwischen Immortalität und Amortalität das Raster besser erkennen, das von der technowissenschaftlichen Denkweise gezogen wird. Denn wo immer die Forschungen zur Ausdehnung des menschlichen Lebens propagiert werden, richtet sich die Argumentationsweise an der spezifisch rationalistischen und materialistischen Logik der okzidentalen Moderne aus. In seinem utopischen und radikalen Flügel aber verschmilzt der Rationalismus, wie wir noch sehen werden, so umfassend mit der Bilderwelt von Mythen, dass die Grenzen zwischen Wissenschaft und Sciencefiction sich vernebeln. Jedenfalls tun wir gut daran, von Anfang an klarzustellen, dass der Glaube an eine unbegrenzte Ausdehnung des menschlichen Lebens durch die Wissenschaft unter sozioanthropologischem Gesichtspunkt keinen größeren Wahrheitsgehalt und keine breitere empirische Grundlage beanspruchen kann als die Wiederauferstehung Christi oder der Eintritt ins Nirwana. Wenn die Verfechter der Idee einer eventuellen Amortalität sich auf wissenschaftliche und technische Kenntnisse berufen, so verleiht ihnen dies freilich eine soziale Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft, die man nicht übersehen sollte. Die finanziellen und operationalen Ressourcen verschaffen den Lebensverlängerungsforschern eine beachtliche soziale Akzeptanz, und dies umso mehr, als ihre von Wissenschaftsgläubigkeit strotzenden Darlegungen einen Ultraliberalismus proklamieren, der aus dem Tod eine indivi3 4

Vgl. Steven Horrobin, „Immortality, Human Nature, the Value of Life and the Value of Life Extension“, Bioethics 20. n°6, 2006, S. 287. Edgar Morin, „Ouverture. L’homme et la mort“, in La Mort et l’Immortalité, op. cit., S. 46f.

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duelle Option macht.5 Von daher verdient die „Unsterblichkeitsbewegung“, auch wenn sie eher ein Randphänomen darstellt, unsere Aufmerksamkeit, wenn wir die tiefer gelegenen Triebfedern der postmortalen Gesellschaft begreifen wollen. Nicht allein, weil die Personen, die sich in dieser Bewegung zusammenfinden, aufgrund ihres beruflichen Status ein gewisses Sozialprestige genießen, sondern auch deshalb, weil diese Bewegung ihren theoretischen Ausgang in einer technowissenschaftlichen Kultur nimmt, die sich tendenziell gesamtgesellschaftlich durchsetzt. Jenseits der Radikalität dieser Bewegung geht es beim Begriff der Amortalität um den Stellenwert der Subjektivität in der heutigen Welt, um deren Verhältnis zu Fortschritt und Vervollkommnungsfähigkeit.

Von der Perfektionierbarkeit zur Überwindung der menschlichen Gattung Der Mensch als grundsätzlich der Vervollkommnung fähiges Wesen: Diesen Leitsatz der Aufklärung treiben die Biogerontologie und die Anti-AgingMedizin zusammengenommen bis an seine äußersten Grenzen. Dabei folgen sie der Überzeugung, dass eine engmaschige Überwachung der Lebensweise, im Verbund mit einer entsprechenden Entwicklung der biomedizinischen Technologien, die mit dem Alterungsprozess verknüpften biologischen Schwachpunkte eliminieren und letztlich das Zerstörungswerk des Zeitverlaufs aufheben könne. So abstrakt er auch erscheinen mag, so bedeutsam ist der Begriff der Perfektionierbarkeit am Ende dann doch: Mit ihm lässt sich die Reichweite des kulturellen und symbolischen Umsturzes ermessen, der hinter der Lebensverlängerungsbewegung steckt.6 Vor dem Hintergrund der heutigen Biopolitik, die das Leben als solches zum Funda5

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Vgl. John K. Davis, „The Prolongevists Speak Up: The Life-Extension Ethics Session at the 10th Annual Congress of the International Association of Biomedical Gerontology“, The American Journal of Bioethics 4, n° 4, 2004, S. 6-8. Zum Thema der Vervollkommnungsfähigkeit und ihrer Bedeutung in den gegenwärtigen Debatten über den Posthumanismus möchte ich besonders auf die laufende Doktorarbeit von Nicolas Le Devedec hinweisen: Humanisme/Posthumanisme. La question de la perfectibilité humaine à l’heure des technologies du vivant, Universität Rennes I (Rechtsund Politikwissenschaftliche Fakultät) und Universität Montreal (Fachbereich Soziologie).

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ment der Gesellschaft macht, stützt sich das Vorhaben einer Lebensverlängerung ins Unendliche auf eine sehr spezielle Interpretation der Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen.7 War diese im Licht der Aufklärung die Grundlage eines durch die Vernunft geleiteten umfassenden Fortschritts, so wird der Sinn dieses Begriffs, wie die Verfechter des Kampfes gegen das Altern ihn verstehen, in eine strikt individualistische und biologische Richtung verbogen.8 Diese „Kultur des Lebens“ macht die Perfektionierung des menschlichen Körpers zum obersten Ziel der postmortalen Gesellschaft. Nicht mehr also geht es um die Veränderung der Welt, sondern nur noch darum, den menschlichen Körper zu verbessern und zu vervollkommnen, um sich damit seiner Begrenztheit zu entledigen. Dieser Wille, den Rahmen der menschlichen Gattung zu transzendieren, bildet, wie Edgar Morin betont, das eigentliche Kernstück der Bewegung, die das Leben markant zu verlängern verspricht: „Den Tod, ihn spezifisch, zu besiegen, würde auch bedeuten, dass man sich die Gattung auf allen Ebenen gefügig macht. Mit der Bezwingung der Gattung bezwingt man auch den Tod: Dies ist der Triumph der Individualität, ihr ins Unendliche reichendes Potenzial. Hier liegt der Grund dafür, dass die Perspektiven der wissenschaftlichen Entwicklung eine Tendenz nicht nur dahingehend aufweisen, den Tod in zunehmendem Maße anzunagen, sondern ebenso eine Tendenz, den Menschen in seiner eigentlichen Natur zu revolutionieren“.9 Dementsprechend geht das Projekt der „Immortalisten“ mit dem Willen einher, den durch die Evolution gesetzten Rahmen der menschlichen Gattung zu sprengen, um sich Zugang zur Posthumanität zu verschaffen.10 Regenerations- und Anti-Aging-Medizin wie auch die Biogerontologie nehmen nicht nur ihren Ausgang bei einer biomedizinischen Dekonstruktion des Todes und des Alterungsprozesses. Ausdrücklich vielmehr zielen sie darauf ab, die individuellen biologischen Fähigkeiten zu optimieren, um den „Irrtümern“ der Natur entgegenzuwirken.11 Wo „einzig der Unfalltod der

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Vgl. Nikolas Rose, The Politics of Life Itself, op. cit. Vgl. Karin Knorr Cetina, „The Rise of a Culture of Life“, op. cit. Edgar Morin, L’Homme et la Mort, op. cit., S. 348. Zu einer umfassenden Bestandsaufnahme der posthumanistischen Bewegungen siehe die von Antoine Robitaille veröffentlichte journalistische Umfrage: Le Nouvel Homme nouveau. Voyage dans les utopies de la posthumanité, Montreal (Boréal) 2007. Vgl. Courtney Everts Mykytyn, „Anti-Aging Medicine: A Patient/Practitioner Movement to Redefine Aging“, op. cit., S. 644.

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natürliche“ ist12, wird es schwierig, zwischen notwendiger Behandlung und Hochleistungsmedizin zu unterscheiden – und dies umso mehr, als das Ideal der Perfektionierbarkeit aus sich selbst heraus keinerlei Grenze setzt.13 Indem sie die Vervollkommnungsfähigkeit mit technowissenschaftlicher Leistungsfähigkeit gleichsetzen, machen sich die Anhänger der Lebensverlängerungsbewegung zu glühenden Verfechtern des Posthumanen, d.h. eines durch die Technowissenschaften verbesserten und neu gestalteten Lebewesens.14 Ray Kurzweil, ein berühmter Ingenieur und Spezialist für die künstliche Intelligenz, schlägt deshalb vor, den menschlichen Körper vollkommen umzuprogrammieren, um eine Version 2.0 herzustellen, die besser angepasst und bedeutend leistungsfähiger wäre als die biologische Originalversion.15 Diese Version 2.0 des menschlichen Körpers ist für ein ewiges Leben bestimmt. Wenn es nach ihrem Konstrukteur geht, soll sie in drei sukzessiven Phasen ihre vollständige Fassung erhalten. Die erste soll den Körper mit den bereits verfügbaren Therapien und einer beispielhaften Lebensführung, die dem wissenschaftlichen Stand hinsichtlich Ernährung und Körpertraining entspricht, bei bestmöglicher Kondition halten. Auf diese Weise soll man sich einer guten Gesundheit lange genug erfreuen, um die zweite Phase beschreiten zu können, in der nämlich die Errungenschaften der Gentechnik und die Biotechnologien zum Einsatz kommen, die dann einen aktiven Kampf gegen die Zellalterung ermöglichen. Die dritte Phase der Version 2.0 des menschlichen Körpers, d.h. die posthumane, wird schließlich in vollem Umfang mit der Entwicklung der Nanotechnologien und der künstlichen 12 13 14

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Edgar Morin, L’Homme et la Mort, op. cit., S. 321. Vgl. Eugene Thacker, The Global Genome, op. cit., S. 295. Als Metapher ist der Posthumane aus einer Verbindung zwischen der postmodernen Philosophie, dem Poststrukturalismus und dem von der Kybernetik übernommenen technizistischen Gedankengut hervorgegangen. Seinen ersten öffentlichen Auftritt hatte er 1999 in Deutschland, mit dem Erscheinen von Peter Sloterdijks Regeln für den Menschenpark (Frankfurt [Suhrkamp]). Hierin setzt sich der Philosoph offen für eine über die Gentechnik und die Biotechnologien bewerkstelligte anthropo-technologische Selbstdomestikation ein. Das Konzept des Posthumanen beruht, in enger Verbindung mit der Kritik des klassischen Humanismus, auf dem Postulat eines anthropologischen Primats der Technik. Das Thema des Posthumanen habe ich in meiner Arbeit L’Empire cybernétique, op. cit., ausführlich behandelt. Vgl. Ray Kurzweil und Terry Grossman, Fantastic Voyage. Live Long Enough to Live Forever, USA (Rodale Books) 2004, S. 4f. Die Autoren benutzen den Begriff bridge, um die Etappen zu bezeichnen, die zum Posthumanen führen; ich übersetze diesen Terminus mit „Phase“.

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Intelligenz erreicht sein. Sie also sollen auf molekularem Niveau eine vollständige Rekonstruktion des Körpers und des Gehirns ermöglichen.16 Auch wenn es hochgradig theoretisch, um nicht zu sagen fiktiv ist, versinnbildlicht dieses technowissenschaftliche Modell dann doch den Charakter der Lebensverlängerungsbewegung. Als Mitglied des Immortality Institute bindet Ray Kurzweil die Ausdehnung der Lebensdauer unmittelbar an eine komplette biologische Veränderung der Gattung.17 In diesem Punkt nähert sich sein Projekt der transhumanistischen Bewegung, die sich für das Recht auf ewiges Leben unter Nutzung aller verfügbaren Verlängerungstechnologien stark macht, die Kryonik eingeschlossen.18 Bevor wir jedoch direkter auf diese Fragen eingehen, sollten wir uns die gewaltige historische Verzerrung verdeutlichen, die dem Ideal der Perfektionierbarkeit durch die posthumanistischen und die Lebensverlängerungsbewegungen widerfahren ist.19 Mit dem modernen Ziel der politischen Autonomie unlösbar verbunden, machte der humanistische Begriff der Vervollkommnungsfähigkeit den Menschen nicht nur zum Mittelpunkt und Maß aller Dinge, sondern auch zum einzigen Akteur der Geschichte, war diese Fähigkeit doch der Garant seiner Freiheit.20 Wenn sie 16 17

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Vgl. ibid. Das Immortality Institute, das nicht als gewinnbringende Einrichtung konzipiert ist, macht es sich zur Aufgabe, „die Plage des unfreiwilligen Todes zu bekämpfen“. Es setzt sich aus Forschern verschiedener Disziplinen zusammen, die sich unter der Zielsetzung vereinen, den Tod auf wissenschaftlichem Wege zu besiegen. Siehe die Webseite des Instituts: http://www.imminst.org/ Zu einer genaueren Analyse der transhumanistischen Bewegung siehe die Doktorarbeit von Michèle Robitaille, Culture du corps et technosciences: vers une „mise à niveau“ technique de l’humain?, op. cit. Zur Verbindung zwischen Anti-Aging-Medizin und Posthumanismus siehe den Text von Stephen G. Post, „Decelerated Aging: Should I Drink from a Fountain of Youth?“, in: Stephen G. Post und Robert H. Binstock (Hrsg.), The Fountain of Youth, op. cit., S. 72-90. Historisch ist es die berühmte Oratio de hominis dignitate von Pico della Mirandola, die den humanistischen Begriff der Vervollkommnungsfähigkeit am eindeutigsten artikuliert: „Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst.“ (Stuttgart [Reclam] 2009, S. 9). In dieser Abhandlung, einem Denkmal des italienischen Quattrocento, ist die Fähigkeit des Menschen zu seiner eigenen Vervollkommnung die Grundlage seiner Freiheit und Selbstbestimmung. Auch wenn der Diskurs von Pico della Mirandola von den Verfechtern einer kompletten technowissenschaftlichen Transformation des Menschen tausendfach wieder aufgenommen und zi-

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sich auf diesen Begriff der Perfektionierbarkeit berufen, so entfernen sich die Protagonisten der Lebensverlängerungsbewegung doch sehr weit von seiner ursprünglichen Bedeutung. Indem sie ihn rein technisch-wissenschaftlich und individualistisch definieren, lösen sie ihn aus jeglicher politischen Dimension – wie und insofern es für sie angesichts einer von vornherein festgelegten technologischen Evolution ohnehin keine Geschichte mehr zu geben scheint. In diesem evolutionistischen Modell weicht die Freiheit, um der Anpassungsfähigkeit Platz zu machen. Damit ist es nicht mehr der Tod, der unausweichlich ist, sondern die Entwicklung der Technowissenschaften. Besser angepasst, leistungsfähiger und virtuell unsterblich: Die Freiheit des Posthumanen ist von daher auf seine biologischen und technischen Potenziale reduziert. Die Vorstellung vom Menschen, die der Posthumanismus und die Lebensverlängerungsbewegung erzeugen, ist letztlich die von einem Behinderten, der, eingepfercht in die biologischen Fesseln der Sterblichkeit, aus diesem Status einzig durch eine Verschmelzung mit der Maschine zu erlösen wäre.

Die Hybridisierung Mensch/Maschine: ein Weg zur Postmortalität „Wir haben unsere Umwelt so radikal verändert, dass wir uns nun selbst verändern müssen, um in dieser neuen Umwelt zu existieren. In der alten

tiert wurde, müssen wir dem entgegenhalten, dass er historisch im Kosmos der Renaissance verankert ist, in dem der Begriff der Vervollkommnungsfähigkeit auf das der Antike entlehnte Konzept der Vollkommenheit und so auf ein Ideal von moralischer Versenkung und Perfektion zurückweist. Mit der von der transhumanistischen Bewegung proklamierten technischen Perfektionierbarkeit hat dies also rein gar nichts zu tun. Auch wenn der Begriff der technisch-wissenschaftlichen Perfektionierbarkeit im 17. Jahrhundert im utopischen Werk von Francis Bacon, Neu-Atlantis (1627), op. cit., auftaucht, wird er seinen vollen Sinn erst Ende des 18. Jahrhunderts, nämlich bei Condorcet, erhalten. Aber auch bei ihm bleibt der Begriff der Vervollkommnungsfähigkeit an das Ideal einer umfassenden Verbesserung des menschlichen Daseins gebunden, bei der Wissenschaft und Technik nicht mehr als eine Version beisteuern. Zu diesem Thema beziehe ich mich auf die laufende Doktorarbeit von Nicolas Le Devedec, Humanisme/posthumanisme, op. cit.

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können wir nicht mehr leben.“21 Diese Worte Norbert Wieners, des Begründers der Kybernetik, resümieren in sich bereits die Logik von technowissenschaftlicher Adaptation und Perfektionierbarkeit, der die Verfechter des Posthumanismus sich rühmen. Gegen Ende des Krieges formuliert, basiert dieser Imperativ der Autotransformation durch die Technik auf einer Entwertung der humanistischen Grundsätze zugunsten einer Vorstellung von der Welt nach dem Muster der Informatik. Und in dieser Welt erscheint die menschliche Gattung nur als Etappe in einem niemals endenden Evolutionsprozess.22 Um die imaginäre Dynamik genauer zu begreifen, die sich darin durchsetzt, müssen wir uns das Elend und den abgründigen Pessimismus der Nachkriegsjahre vergegenwärtigen, eine Situation, in der einen Trost vermutlich nur die technisch-wissenschaftliche Macht bot, die man gerade erst mit der Atombombe erlangt hatte. Dies ist der Kontext, in dem die Kybernetik und ihr Vorhaben beheimatet sind, eine „intelligente Maschine“ zu erzeugen. Ohne hier auf die historischen Details einzugehen, sollten wir doch daran erinnern, dass der Mathematiker Norbert Wiener im Rahmen des amerikanischen Kriegseintritts die servomechanisch kontrollierte, sich selbst korrigierende Schusswaffe AA Predictor erfunden und mit ihr den Grundstein des theoretischen Modells für ein neues Verhältnis Mensch/Maschine gelegt hatte. Indem Wiener eine Artillerievorrichtung erdachte, die ihr Ziel ausfindig machen und verfolgen konnte, hat er theoretisch den Piloten eines Flugzeugs mit einer sich selbst regulierenden Maschine gleichgesetzt. Rückblickend betrachtet erscheint der feindliche Pilot als allererster Cyborg. Nach dem Krieg soll aus ihm das Modell werden, anhand dessen die Kybernetiker das Verhältnis von Mensch und Maschine konzipieren. Um zu verdeutlichen, vor welchem Hintergrund Wiener den Cyborg entstehen ließ, prägte der Wissenschaftshistoriker Peter Galison denn auch den Ausdruck der „Ontologie des Feindes“.23 Die Verschmelzung von Mensch und Maschine, auf der das kybernetische Modell beruht, lässt sich in ihrem vollen Sinn erst erfassen, wenn wir 21

22 23

Norbert Wiener, Cybernétique et Société. L’usage humain des êtres humains, Paris (UGE, 1954, S. 56 (Anm. d. Übers.: In der deutschen Übersetzung von The Human Use of Human Beings. Cybernetics and Society ist diese Textpassage nicht enthalten. Dies gilt auch für das folgende Wiener-Zitat). Siehe hierzu meine Arbeit L’Empire cybernétique, op. cit. Peter Galison, „The Ontology of the Enemy: Norbert Wiener and the Cybernetics Vision“, Critical Inquiry n° 21, 1994, S. 228-266.

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sie in den theoretischen Zusammenhang des informationellen Paradigmas einordnen: Hier ist die Information, und zwar unabhängig von ihrer (physikalischen, biologischen, technischen oder menschlichen) Herkunft die primäre Gegebenheit. Da nur sie es ist, die sich der Entropie widersetzt, ist ihr Wert dem des Lebens selbst überlegen. Für Wiener liegt dies auf der Hand, denn für ihn gibt es „keinen Grund, aus dem die Maschinen nicht den Lebewesen ähneln sollten, insofern nämlich, als beide Nischen abnehmender Entropie im Innern eines Systems [der Erde] darstellen, in dem die Entropie zuzunehmen tendiert“.24 Wie wir in einem früheren Kapitel gesehen haben, geht die Kybernetik mit der Entropie als ihrem metaphysischen Horizont von einer doppelten, den Tod gleichermaßen desymbolisierenden wie dekonstruierenden Logik aus, die den Nährboden der postmortalen Gesellschaft bildet. Das von Edgar Morin entwickelte Konzept der Amortalität ist übrigens ohne seine theoretische Anbindung an die Kybernetik gar nicht zu begreifen. Über die im engeren Sinne biomedizinischen Errungenschaften hinaus sind in Wirklichkeit die Technowissenschaften in ihrer Gesamtheit dieser Vorstellungswelt verhaftet, zu deren Hauptmerkmalen die systematische Entwertung des menschlichen Körpers zählt. Als verbesserungs- und veränderungswürdiges Objekt fasst man den Körper, bevor er dann physisch von der Maschine ins zweite Glied gedrängt wird, nämlich als eine Art Entwurf ins Unreine auf, den es vollständig zu überarbeiten gilt.25 Nicht von ungefähr war es der Prothesenbau, dem Wiener die letzten Jahre seines Schaffens widmete: Höchstpersönlich zeichnete er darin die Umrisse des um den Drehpunkt seiner Mängel kreisenden technowissenschaftlichen Abbilds des Körpers. Von dem Philosophen Peter Sloterdijk wird dieses Phänomen perfekt veranschaulicht, wenn er uns wissen lässt: „In dieser Sicht sind die Invaliden die Vorboten von morgen.“26 Eine solche, aus seinen Schwachpunkten sich herleitende Konzeption des Körpers, die in den posthumanistischen und Lebensverlängerungsdiskursen vorherrscht, ist im Projekt Human Body Version 2.0 mehr als deutlich. Wenn Ray Kurzweil meint, der Verdauungsapparat passe schlecht in die neue technowissenschaftliche Welt, so drückt er dies beispielsweise folgen24 25 26

Norbert Wiener, Cybernétique et Société, op. cit., S. 38. Die Idee vom Körper als eines Schmierzettels entlehne ich David Le Breton in L’Adieu au corps, op. cit. Peter Sloterdijk, Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, Frankfurt (Suhrkamp) 2000, S. 360.

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dermaßen aus: „Heute ist diese biologische Strategie [der Verdauungsapparat] extrem kontraproduktiv. Die veraltete Programmierung unseres Stoffwechsels bildet die Grundlage für die gegenwärtige Epidemie der Adipositas und unterhält die Prozesse degenerativer Pathologien wie die koronare Herzkrankheit und den Typ II-Diabetes.“27 Abgesehen davon, dass Darlegungen dieser Couleur jegliche Frage nach Gesellschaft und Lebensweise beseitigen, führen sie zu einer kompletten Entwertung des menschlichen Körpers. So ist ja der Verdauungsapparat nicht das einzige System, das aus Sicht des Futurologie-Ingenieurs obsolet ist, vielmehr ist dies der menschliche Organismus als ganzer. Wenn die menschliche Natur auf der Ebene der Evolution derart dem Verfall anheim gegeben ist, dann ist es nur folgerichtig, dass Kurzweil sich den Eintritt in die Post-Biologie herbeiwünscht, d.h. in die Ära der Überwindung des Körpers mit den Mitteln der Informationstechnologien und der künstlichen Intelligenz.28

Die informationelle Unsterblichkeit Wie der Historiker David F. Noble in seinem Buch Eiskalte Träume gezeigt hat, ist der Glaube an die informationelle Unsterblichkeit in den Kreisen um die künstliche Intelligenz und die Informationstechnologien recht verbreitet. Er findet sich übrigens auch bei dem Roboterspezialisten Hans Moravec, für den angesichts seines vollen Vertrauens in das Überdauern der Informatik und ihrer Verfahren die intelligente Maschine die nächste Etappe der Evolution darstellt.29 Wenn wir seinen Gedankengängen folgen, so wird die Übertragung des menschlichen Geistes (mind) auf einen künstlich erzeugten Träger den Übergang vom Homo sapiens zur Machina sapiens gewährleisten, d.h. zur Höchstform einer von den Schrecken der Sterblichkeit befreiten Intelligenz. In der Welt der Cyberkultur ist diese Idee ebenfalls sehr präsent: Dass man gegebenenfalls den Inhalt der menschlichen Intelligenz auf eine Maschine herunterladen könne, damit sie auf diese Weise ihr post-biologisches Dasein fortsetze. Dieselbe Idee findet sich bei der Prophetin Raël ebenso 27 28 29

Ray Kurzweil, „Human Body Version 2.0“, in: Immortalility Institute, The Scientific Conquest of Death, op. cit. Vgl. ibid., S. 103. Vgl. David F. Noble, Eiskalte Träume. Die Erlösungsphantasien der Technologen, op. cit., S. 209-211.

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wie bei einem Guru der Cyberkultur namens Timothy Leary.30 Als ein der National Science Foundation nahe stehender Soziologe geht William Sims Bainbridge so weit zu behaupten, dass die Informationsübertragung vom Gehirn auf den Computer zu einer wirklichen Befreiung vom Körper werde, der doch nur ein zerbrechlicher und fehleranfälliger Träger unseres informationellen „Wesens“ sei.31 Obwohl sie direkt einem Sciencefiction-Szenario zu entspringen scheint, findet sich die Idee, den Inhalt eines Menschen eventuell einem künstlichen Träger zu übereignen, wörtlich bei Norbert Wiener in seiner Abhandlung Gott & Golem, Inc.: „Hier haben wir einen Gedanken, mit dem ich schon früher gespielt habe – daß es begrifflich möglich ist, einen Menschen durch die Telegraphenleitung zu senden.“32 Dieselbe Richtung schlug 1990 der Nobelpreisträger für Molekularbiologie Walter Gilbert ein, als er verlauten ließ, man werde bald den Inhalt eines Menschen auf einer einzigen CD unterbringen können, um diese bei Gelegenheit aus der Tasche zu ziehen.33 Jenseits solchen technowissenschaftlichen Blendwerks aber sollten wir nicht aus dem Auge verlieren, dass der Traum von einer informationellen Wiederauferstehung von demselben Paradigma ausgeht wie die Definition des Hirntodes. Sicherlich müssen wir hier Zurückhaltung üben, um die Produkte einer der Sciencefiction benachbarten Vorstellungswelt nicht mit der biomedizinischen Neudefinition des Todes zu vermengen. Wichtig erscheint uns aber der Hinweis darauf, dass das informationelle Paradigma insgesamt auf der Analogie von Gehirn und Computer aufbaut.34 So beruht der Begriff des Hirntods auf einer mit der Informatik konvergierenden Vorstellung von der menschlichen Subjektivität, in der das Gehirn den Stellenwert eines Verarbeitungs- und Steuerungszentrums besitzt. Innerhalb dieser Sichtweise bedeutet der neuronale Funktionsstillstand nichts mehr und nichts weniger als den Tod, und dies auch dann, wenn der Körper der Person momentan

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Vgl. Eric Gullichsen, „Cybernetic Methods for Attaining Immortality“, in: Timothy Leary, Chaos and Cyberculture, Berkeley/Kalifornien (Ronin Publishing Inc.) 1994, S. 199-202. 31 William Sims Bainbridge, „Progress Toward Cyberimmortality“, in: Immortality Institute, The Scientific Conquest of Death, op. cit. 32 Norbert Wiener, Gott & Golem, Inc., op. cit., S. 58. 33 Zitiert nach Lily Kay, Das Buch des Lebens, op. cit, S. 15. 34 Zu dieser Frage siehe mein Buch L’Empire cybernétique sowie Jean-Pierre Dupuy, Aux origines des sciences cognitives, op. cit.

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weiterlebt. Nicht zuletzt hieraus erklärt sich, warum manch einer im hirntoten Patienten den Prototyp des Cyborg erblickt.35 Nun ist diese Vorstellung von der Subjektivität alles andere als allgemein anerkannt. Zwar geht sie auf den kartesianischen Dualismus zurück, doch entfernt sie sich von ihm in ihrer direkten Anbindung an das der Kybernetik entstammende informationelle Paradigma. Von der Anthropologin Daniela Cerqui wird dies perfekt auf den Begriff gebracht: „Wir befinden uns hier nicht mehr im Kontext der kartesianischen Trennung von Körper und Geist. Die Grenzlinie verläuft nun anders. Nämlich zwischen Körper und Geist, die einmal unter ihren molekularen und von daher materiellen Aspekten betrachtet und, auf der anderen Seite, in Informationseinheiten übersetzt werden. Wobei letztere den PIN-Code liefern, über den welche Materie auch immer intellektuell erfasst und nachgebildet werden kann.“36 Das aktuelle technowissenschaftliche Paradigma schwankt zwischen einem extremen Materialismus, der die Subjektivität auf molekularer Ebene begründet sieht, und einem Idealismus, der jegliche Realität in Informationseinheiten übersetzt. Infolgedessen geht es davon aus, dass Mensch und Maschine, Natur und Artefakt, Lebendes und Nicht-Lebendes vom Konzept her nicht unterscheidbar seien. Innerhalb dieser Vorstellungswelt findet jene Verwischung der Grenzen ihre Entsprechung in dem Glauben, dass die Subjektivität sich kontinuierlich vom körperlichen auf den artifiziellen Datenträger fortsetze – von daher die abstruse Idee des Downloading. Ebenso schlägt sich diese Aufhebung der Grenzen in Projekten nieder, die den Körper auf ein besseres Niveau heben oder ihm durch Einpflanzung molekularer Maschinen sogar Amortalität verleihen sollen. Zahlreiche Forscher erwähnen die Nanotechnologien als eine Art Wundermittel für die Probleme, die sich aus den Schwachpunkten und der Sterblichkeit des Menschen ergeben: So verkörpern jene das technowissenschaftliche Ideal einer von Raum und Zeit befreiten Welt ohne Grenzen. Tatsächlich sind sie, wenn wir uns an Eric Gullichsen halten, die eigentliche Seele der postmortalen Gesellschaft: „Die DNA steht für eine molekulare Seele. Das Gehirn ist eine neurologische Seele. Die Elektronenspeicherung erzeugt die Silikonseele. Die

35 36

Vgl. Chris Hables Gray, Cyborg Citizen, op. cit. Daniela Cerqui, „La société de l’information entre technologie de la communication et technologie du vivant: l’immortalité par la maîtrise du code“, op. cit., S. 173.

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Nanotechnologie ermöglicht die Atomseele.“37 Als Träger aller Hoffnungen weisen uns die Nanotechnologien den perfekt ausgeschilderten Weg zur Amortalität.

Die unbegrenzte Zukunft der Nanotechnologien Als Ergebnis einer technowissenschaftlichen Konvergenz an der Schnittstelle von Quantenphysik, Mikroelektronik, Informatik, Molekularbiologie und Gentechnik kennzeichnen sich die Nanotechnologien durch Manipulation und Rekombinierung der Materie auf der Ebene der Atome.38 Es geht hier um die Dimension. Und diese ist von so grundsätzlicher Bedeutung, dass der Wechsel des Maßstabs bei der Erfassung und Manipulation der Materie von manchen Autoren durch Begriffe wie „Nanokosmos“, „Nanowelt“ oder „Nanokultur“ unterstrichen wird.39 Historisch war es der Physiker und Nobelpreisträger Richard P. Feynman, der 1959 in einem berühmten Vortrag vor der American Physical Association erstmals den Gedanken an eine Reorganisation der Materie auf atomarem Niveau äußerte.40 Doch erst 1986 kam es auf dem Gebiet der Technowissenschaften zu einem radikalen Wechsel der Perspektive, und zwar mit dem Buch von Eric Drexler, dem hellseherische Fähigkeiten nachgesagt werden.41 Ihm zufolge soll es über ein 37

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Eric Gullichsen, „Cybernetic Methods for Attaining Immortality“, op. cit., S. 201. („The DNA is a molecular soul. The brain is a neurological soul. Electron storage creates the silicon soul. Nanotechnology makes possible the atomic soul.“) Hier nehme ich einen Teil der Analyse wieder auf, die ich im Artikel „Le Québec Nanotech. Les discours publics en matière de nanotechnologies entre promotion et fascination“, Quaderni n° 61, Paris (Maison des sciences de l’Homme) 2006, S. 39-53, vorgenommen habe. Vgl. William Atkinson, Nanocosm. The Big Change that’s Coming from the Very Small, Canada (Viking) 2003. Siehe auch Jean-Louis Pautrat, Demain le nanomonde, Paris (Fayard) 2002 und N. Katherine Hayles (Hrsg.), Nanoculture: Implications of the New Technoscience, Los Angeles County Museum of Art, Portland (Intellect Books) 2004. Vgl. Richard P. Feynman, „There’s Plenty of Room at the Bottom“, American Physical Society Conference, Caltech 1959. Zu einer gründlichen Analyse von Geschichte und Vorstellungswelt der Nanotechnologien siehe die philosophische Doktorarbeit von Marina Maestrutti, Les Imaginaires des nanotechnologies, op. cit. Vgl. Eric Drexler, Engines of Creation. The Coming Era of Nanotechnology, New York (Ancore Books) 1986. Französische Übersetzung: Engins de création. L’avènement des nanotechnologies, Paris (Vuibert) 2005.

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aszendierendes Vorgehen (bottom-up) möglich werden, die Materie Atom für Atom zu manipulieren. Unter dieser Zielsetzung also verändern die Nanotechnologien die leblose oder lebende Materie auf der Ebene der molekularen Verbindungen. Damit erzeugen sie neue Materialien, deren physikalische, chemische oder biologische Eigenschaften bislang unbekannt sind. Auf dieser Stufe demnach ist eine Verschmelzung lebender Gattungen mit Maschinen theoretisch vorstellbar. Eine Logik der Hybridisierung von Lebendem und Leblosem, von Natur und Artefakt, von Mensch und Maschine ist die Ausgangsbasis der Nanotechnologien sowohl in ihrem theoretischen Entwurf als auch in ihrer praktischen Anwendung. In Wirklichkeit handelt es sich hier um einen „Regenschirm“-Begriff für die Gesamtheit des technowissenschaftlichen Wandels, denn es sind mehrere Forschungsbereiche, deren Zusammenfließen am Ursprung der Nanotechnologien steht. Wo es um ihre Zukunft geht, ist das Thema der Hybridbildung überaus präsent und mit dem Perspektivwechsel infolge der Veränderung des Maßstabs aufs engste verknüpft. Wenn man keinen Unterschied macht zwischen organischer und anorganischer Materie, landet man bei dem Postulat der Einheit der Materie auf atomarer Ebene, und hieraus resultiert dann der Gedanke, dass Lebendes und Maschine integrierbar sein müssten. Es ist ein zweifacher Prozess, von dem die Nanotechnologien ausgehen: dem der Naturalisierung der Technik und dem der Artifizialisierung der Natur. Beide Vorgänge leiten zu dem Gedanken über, man könne durch Erzeugung neuer Materialien die Natur gegebenenfalls nicht nur nach-, sondern auch verbessert gestalten.42 Wird diese doppelte Logik auf den Menschen übertragen, so mündet dies darin, dass sich das Projekt der Verbesserung und Modifizierung des Körpers durch die Nanotechnologien als „natürliche“ Fortsetzung der Evolution präsentiert. Eine solche Schlussfolgerung, so wird man mit Jean-Pierre Dupuy präzisieren müssen, ist allerdings nur deshalb möglich, weil auf erkenntnistheoretischer Ebene die Natur und das Leben im Vorhinein umdefiniert wurden – in nanotechnologische Begriffen nämlich, d.h. als manipulierbare und steuerbare molekulare Verbindungen.43 42 43

Siehe die Analyse von Bernadette Bensaude-Vincent in Se libérer de la matière? Fantasmes autour des nouvelles technologies, Paris (Éd. de l’INRA) 2004. Vgl. Jean-Pierre Dupuy, Impact du développement futur des nanotechnologies sur l’économie, la société, la culture et les conditions de la paix mondiale, Projet de mission, Conseil général des Mines, Paris 2002.

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Nicht zuletzt weil die Nanotechnologien sich noch im experimentellen Stadium befinden, öffnen sie der Spekulation von Forschern und Futurologen Tür und Tor. Die Kopplung von lebenden Organismen und lebloser Materie auf molekularer Ebene lässt z.B. die Idee aufkommen, man könne die Grenzen des menschlichen Körpers durch elektronische Chips und Nanoroboter erweitern. In der Tat bieten die sensationellen Potenziale der Nanotechnologien den Nährboden für eine futuristische Vorstellungswelt, die eine strenge Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Sciencefiction infragestellt.44 Diese „Futurisierung“ des wissenschaftlichen Diskurses kann sich auf ihre Inauguration durch den Ingenieur Eric Drexler und seine Zukunftsvision in den Engines of Creation berufen, wonach die Nanoroboter dazu bestimmt sind, eine Verschmelzung von Mensch und Maschine zu bewerkstelligen. In Drexlers Abhandlung erwecken die Nanotechnologien den Eindruck, alle nur denkbaren wissenschaftlichen Heldentaten vollbringen zu können einschließlich der, den Alterungsprozess zu bekämpfen und gegebenenfalls den Tod zu besiegen. „Mit den Maschinen für die Zellreparatur allerdings wird klar, wie weit die Möglichkeiten einer Ausdehnung des Lebens reichen. […] Diejenigen, die lange genug überleben, werden von einer Epoche profitieren, in der das Altern vollständig reversibel sein wird.“45 Robert A. Freitas, Nanomedizin-Forscher am Foresight Institute, argumentiert in dieselbe Richtung: „Die meisten Forscher glauben, das Altern resultiere aus einer Reihe molekularer Prozesse und zellulärer Ausfälle. Wenn die Nanomedizin es schafft, diese vollständig rückgängig zu machen, müssten die Menschen, die zwischen zwei Lebensabschnitten stehen, und sogar die Alten ein Gutteil ihrer Gesundheit und ihrer Jugend, ihrer Kraft und Schönheit wiedererlangen und sich einer nahezu unbegrenzten Ausdehnung ihres Lebens erfreuen können.“46 Nebenbei hat Robert A. Freitas in der Überzeugung, dass der Alterungsprozess auf molekularer Ebene durch die Nanotechnologien umkehrbar sei, ein Forschungsprojekt begon44

45 46

Zu diesem Thema siehe Milburn Colin, „Nanotechnology in the Age of Posthuman Engineering: Science Fiction as Science“, Configurations n° 10, 2002, S. 261-295, und José Lopez, „Bridging the Gaps: Science Fiction in Nanotechnology“, Hyle International Journal for Philosophy of Chemistry 10, n° 2, 2004, S. 129-152. Eric Drexler, übersetzt nach der französischen Fassung Engins de création, op. cit., S. 127 und 139. Robert A. Freitas, „Say Ah!“, The Sciences n°40. Juli/August 2000, S. 26-312. Online: http://www. Kurzweilai.net/meme/frame.htmal?main=/articles/art0189.html (abgerufen im Mai 2006).

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nen, aus dem sich ein therapeutisches Vorgehen zur „Entchronifizierung“, d.h. zur Zellverjüngung, ergeben soll. Unter der Zielsetzung, die zum natürlichen Tod führenden Schwachpunkte zu beheben, müsse die Entchronifizierung zuallererst jede Zelle von den in ihr akkumulierten Giftstoffen befreien. Danach würde man die mit genetischen Fehlern behafteten Chromosomen austauschen, um schließlich diejenigen Zellen, deren Struktur größeren Schaden genommen hat, eine nach der anderen zu reparieren.47 Angesichts solcher Verheißungen werden die alten Menschen, die Tag für Tag zu Tausenden sterben, zu bedauernswerten Opfern einer technologisch unterentwickelten Welt, in der man zaudert, dem Altern den Krieg zu erklären.48 Indem sie die Grenzen zwischen Wissenschaft und Sciencefiction verwischen, reihen sich die Äußerungen rund um die Nanotechnologien unmittelbar in die Nachkommenschaft der posthumanistischen und Lebensverlängerungsbewegungen ein. Die Zielsetzung der Modifizierung und Verbesserung des Menschen durch die Nanotechnologien ist keineswegs auf einen kleinen Zirkel von Randfiguren aus Forschung bzw. Futurologie beschränkt. Vielmehr geht es hier um ein Projekt, das im Jahr 2002 Gegenstand eines Forschungsprogramms unter Vorsitz der National Science Foundation wurde. Unter dem Titel Converging Technologies for Improving Human Performance präsentiert das NBIC-Programm (nano, bio, info, cogno) prospektiv die technowissenschaftlichen Errungenschaften, mit denen dank der in den Nanotechnologien zusammenlaufenden Kräfte zu rechnen ist.49 Mit der Eroberung des unendlich Kleinen verbindet sich manch eine Verheißung, wobei die Verbesserung der menschlichen Leistungsfähigkeit und die Verlängerung der Lebensdauer einen zentralen Stellenwert besitzen. Wichtig erscheint uns hier der Hinweis darauf, dass einer der Unterzeichner des 47

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Vgl. Robert A. Freitas, „Nanomedicine. The Quest for Accident-Limited Healthspans“, in: Immortality Institute, The Scientific Conquest of Death, op. cit., S. 78-87. Ich nehme hier den Abschnitt eines Kapitels wieder auf, das ich zusammen mit Michèle Robitaille geschrieben habe: „Entre science et utopie: le corps transfiguré des nanotechnologies“, in: Virginie Tournay und Annette Leibing (Hrsg.), Technologies de l’espoir, op. cit. Vgl. Aubrey de Grey, „An Engineer’s Approach to Develop Real Anti-Aging Medicine“, in: Stephen G. Post und Robert H. Binstock (Hrsg.), The Fountain of Youth, op. cit., S. 265. Vgl. Mihail C. Roco und William Sims Bainbridge (Hrsg.), Converging Technologies for Improving Human Performance, Arlington/Virginia, (National Science Foundation), Juni 2002. Online: http://www.wtec.org/Converting/Technologies/1/NBIC_report.pdf (abgerufen im November 2007).

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NSF-Programms niemand anderes ist als der Soziologe William Sims Bainbridge, derselbe nämlich, der die Idee einer Cyberimmortalität vertritt, die er durch die Überleitung der Intelligenz von ihrem biologischen auf einen informationellen Datenträger hergestellt sehen will. Institutionell sind die Lebensverlängerungsforscher also keineswegs isoliert, sondern auf der politischen und ökonomischen Bühne im Gegenteil recht gut positioniert. Und ihre spekulativen Darbietungen passen, so viel lässt sich sagen, ausgezeichnet zum technologischen Determinismus ihres Umfelds. Das Thema von Beherrschung und Manipulation, das die Abhandlungen über die Nanotechnologien prägt, zeugt von dem erkenntnistheoretischen Primat der technologischen Verwertbarkeit.50 Auf einem technologischen Reduktionismus begründet, der die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Technik tendenziell aufhebt, ist das Vorgehen der Nanotechnologien im Grunde auf doppelte Weise deterministisch. In den Darlegungen zu ihrer Entwicklung finden sich nämlich, wenn wir dem Wissenschaftshistoriker Cyrus C. M. Mody folgen, zwei verschiedene Typen deterministischer Argumentation.51 Der erste manifestiert sich in dem Gedanken einer autonomen Entwicklung der Technik, während im zweiten Typus die Technologie als Hauptdeterminante der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung erscheint. Und haargenau auf diesen beiden deterministischen Argumentationsweisen basieren die posthumanistischen und die Lebensverlängerungsbewegungen. Da der menschliche Körper angesichts des Evolutionsprozesses überholt sei, müsse er sich unweigerlich einem Wandel unterziehen, um seinem neuen technowissenschaftlichen Umfeld gerecht zu werden. Und die zu erwartende technologische Revolution könne zu nichts anderem als zu einer Erlösung führen, da sich mit ihr die Hoffnung auf ein Dasein verbinde, das von Krankheit und Tod zu guter Letzt befreit wäre. Wenn sie schon abwarten müssen, dass die gewaltigen Investitionen in die nanotechnologische Forschung etwas bewirkt, so können die begüterten Greise unserer unterentwickelten Epoche, dank der Kryonik tief gefroren, doch wenigstens darauf hoffen, dass unsere technowissenschaftliche Entwicklung ihrer Vollendung entgegen treibt. 50

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Vgl. Jan C. Schmidt, „Unbounded Technologies: Working through the Technological Reductionism of Nanotechnology“, in: Davis Baird et al. (Hrsg.), Discovering the Nanoscale, op. cit. Vgl. Cyrus C. M. Mody, „Small, but Determined: Technological Determinism in Nanoscience“, Hyle International Journal for Philosophy of Chemistry 10, n° 2, 2004, S. 7.

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Die tief gefrorene Ewigkeit Die biomedizinische Dekonstruktion des Todes manifestiert sich in Extremform in der Kryonik, in der sich die technowissenschaftliche Vorstellungswelt der Postmortalität bis zum Äußersten verkörpert. Die Schranke zwischen Wissenschaft und Sciencefiction wird hier definitiv hinfällig, und es sind dieselben theoretischen Quellen, aus denen die Protagonisten dieser Methode der Leichenkonservierung und auf der anderen Seite die Anhänger von posthumanistischen- und Lebensverlängerungsbewegungen schöpfen. In den Visionen des Nanotechnologie-Ingenieurs Eric Drexler bietet die Kryonik denn auch die praktische Lösung für alle, die von den zu erwartenden Heldentaten der Molekularmaschinen zu profitieren hoffen.52 Und die Führungskräfte der Alcor Life Extension Foundation, eines der bedeutendsten Unternehmen auf dem Gebiet der menschlichen Kryokonservierung in den USA, heben ihrerseits den großen Reputationsgewinn hervor, der ihnen von Seiten der Nanotechnologien verschafft wurde: „Alcor entfaltete sich in seinen ersten Jahren nur langsam – bis auch die Nanotechnologien den Glauben an die Möglichkeiten künftiger Wissenschaft rechtfertigten, die durch die Einfrierung entstandenen Zellschäden zu beheben.“53 Wenn es jetzt die zukunftsweisenden Verlautbarungen rund um die Entwicklung der Nanotechnologien sind, die der Kryonik einen Legitimitätsvorteil einbringen, so keimte die Idee selber doch schon zu einem früheren Zeitpunkt: im Kopf des Physik-Professors Robert Ettinger nämlich, der in seinem Werk Aussicht auf Unsterblichkeit? vorschlug, die „Patienten“ unmittelbar nach ihrem Tod chemisch einzufrieren, damit sie später aus eventuellen Fortschritten der Wissenschaft ihren Nutzen ziehen können.54 Unter Berufung auf die bei der Kryokonservierung von Zellen gewonnenen wissenschaftlichen Kenntnisse sowie die in der biomedizinischen Definition des Todes vollzogenen Veränderungen vertritt Ettinger die Auffassung, man könne einen in den kryonischen Wartestand versetzten Menschen unter Umständen ins Leben zurückholen. Dabei erfasst er den Tod 52 53

54

Vgl. Eric Drexler, Engins de création, op. cit., S. 146-150. Alcor Life Extension Foundation: http://www.alcor.org (abgerufen im Oktober 2007). („Alcor grew slowly in its early years, before the concept of nanotechnology helped to legitimize the possibility that future science could repair cell damage caused by freezing.“) Vgl. Robert C.W. Ettinger, Aussicht auf Unsterblichkeit? Freiburg i. Br. (Hyperion), 1965.

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im Zusammenhang der Neudefinition seiner Grenzen radikal in Begriffen eines Prozesses: Die klinischen Kriterien des Todes, so versichert er, variieren nämlich in Abhängigkeit von technowissenschaftlichen Entwicklungen. Aus dieser Sicht kann ein klinisch für tot erklärter Patient auf zellulärem Niveau durchaus noch für einige Zeit weiterleben. Wenn er sich in die Biostase, d.h. in einen tief gefrorenen Zustand versetzen lasse, könne ein solcher Patient also darauf hoffen, seine Gesundheit wiederzuerlangen und sein Leben auf unbestimmte Zeit fortzusetzen: „Klinischer Tod ist oft umkehrbar. Die Kennzeichen des biologischen Todes wechseln ständig. Selbst der Zelltod erfolgt stufenweise. Dabei ist es möglich, eine Einzelzelle durch sehr geringe, vielleicht reparable Schädigungen außer Funktion zu setzen.“55 Trotz ihres deutlich fiktionalen Gehalts konnte Ettingers These bei manchen Wissenschaftlern Beifall ernten, so bei Jean Rostand, dem französischen Biologen und Mitglied der Académie Française, der in seinem Vorwort zu Ettingers Prospect of Immortality in der Kryonik eine Art Pascalscher Wette sah, „die sich auf den Glauben an die Wissenschaft gründet.“56 Und Rostands Arbeiten zur Einfrierung von Lurchensperma und -eiern hatten ihrerseits, dies sollten wir hinzufügen, für Ettingers Argumentation Pate gestanden. Dass die vitalen Prozesse auf zellulärer Ebene ausgesetzt und später wieder in Gang gebracht werden können – wovon ja die Experimente am menschlichen Embryo im Rahmen der In-vitro-Reproduktion zeugen –, ist eins der Hauptargumente zur Verteidigung des wissenschaftlichen Geltungsanspruchs der Kryonik.57 Eine wissenschaftliche Legitimation bezieht diese Praxis aus der Technik der Vitrifizierung: Die Leiche wird hier bei unter -20°C eingefroren, wodurch die Bildung von Eiskristallen und damit die irreversible Zellschädigung vermieden wird. Und endgültig würden, wie die Alcor-Gesellschaft versichert, die Nebenwirkungen dieser Konservierungsmethode durch die Nanotechnologien aufgehoben, wenn der Patient erst einmal aufgetaut ist.58 Das Loblied auf die Kryonik passt also sehr genau zu der Molekularisierung der Kultur, der Nikolas Rose im Einzelnen nachgegangen ist. In 55 56 57 58

Ibid., S. 25f. Zur Interpretation dieses Zitats siehe Marina Maestrutti, Les Imaginaires des nanotechnologies, op. cit., S. 182. Siehe die bereits zitierte Webseite der Alcor Life Extension Foundation. Siehe hierzu die bereits angegebene Webseite der Alcor Life Foundation.

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freilich radikaler Form tun die Verfechter der Kryonik im Grunde nichts anderes, als bereits vorhandene Tendenzen der technowissenschaftlichen Welt zu extrapolieren und sie in ein futuristisches Gedankengebäude einzubauen. Wenn das Führungspersonal von Alcor geltend macht, dass die heutigen Fristen für eine Reanimation bei Herzstillstand unter Vermeidung irreparabler Hirnschäden sich mit der künftigen Entwicklung biomedizinischer Techniken beträchtlich ausweiten werden, so liegt dies ganz auf der Linie der biomedizinischen Dekonstruktion des Todes. Schon von daher werden die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse obsolet, die in die Definition des Todes eingehen.59 Aus diesem Grund übrigens legen die Verantwortlichen des 1976 von Robert Ettinger gegründeten Cryonics Institute allen Wert darauf, dass die Kryonik nicht eine Methode der Leichenkonservierung ist, sondern eine Behandlung derjenigen „Patienten“, bei denen die zellulären Prozesse nicht vollständig erloschen sind.60 Nach Angaben der Alcor-Gesellschaft sind seit 1967 mehr als hundert Personen in den Schwebezustand versetzt worden, und tausend weitere haben ihre Vitrifizierung juristisch und finanziell geregelt. Mit 150.000 Dollar für eine Ganzkörper-Suspendierung bis hinunter zu 80.000 Dollar für eine Neurosuspendierung – die Vitrifizierung des Gehirns im Hinblick auf ein eventuelles Downloading seines Inhalts auf einen biologischen oder informationellen Träger – richten sich die Alcor-Angebote nicht gerade an die gewöhnlichen Sterblichen.61 Soziologisch kennzeichnen sich die Mitglieder der beiden Hauptgesellschaften der Kryokonservierung (Alcor und Cryonics Institute) dadurch, dass sie, abgesehen von ihrem ökonomischen Wohlstand, zu einem Großteil der technowissenschaftlichen Zunft angehören. Man muss nur einen Blick auf die Liste der wissenschaftlichen Beiräte dieser beiden Unternehmen werfen, um ihrer Verfilzungen mit dem institutionellen und finanziellen Milieu der universitären Forschung gewahr zu werden.62 Zwar mag die Kryonik ein Randphänomen darstellen, doch ist sie 59 60 61 62

Vgl. ibid. Vgl. Cryonics Institute: http://www.cryonics.org (abgerufen im Oktober 2007). Siehe die bereits angegebene Webseite der Alcor Life Extension Foundation. Ein Überblick über die Webseiten der auf dem Sektor der Lebensverlängerung, der Nanomedizin, des Transhumanismus und der Kryonik tätigen Unternehmen lässt erkennen, dass oft ein und dieselben Personen im wissenschaftlichen Beirat mehrerer Unternehmen mit unterschiedlichen Aufgabenbereichen vertreten sind. So ist z.B. Ralph C. Merkle Direktor des Foresight Institute zur Förderung und Entwicklung der nanotechnologischen Forschung und gleichzeitig Direktor der Alcor Life Extension Foundation.

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gleichzeitig Teil eines weiträumigen technowissenschaftlichen Netzwerks, dessen Einfluss auf die übergreifende Orientierung der Forschung nicht zu übersehen ist. Im Zustand permanenter Suspendierung eingefroren, sind die kryonisierten „Patienten“ de facto Leichen, die der Bestattungsriten im selben Maße beraubt sind, wie ihren Angehörigen die Trauer verwehrt ist. Gesetzlich für tot erklärt, werden sie in einen technowissenschaftlichen Raum verlegt, der vom Wechsel der Generationen unberührt bleibt. In diesem Sinne pflanzen sie einer unendlichen Gegenwart eine unwirkliche und aller Geschichtlichkeit enthobene Zukunft ein. Denn ein auf immer tief gefrorener Mensch lässt wenig Platz für seine Nachkommen.

Sich fortpflanzen und sterben: der geschlechtslose Körper des Posthumanen Sexualität und Tod sind eng miteinander verknüpft. Auf der Ebene der Evolution sichert die Reproduktion den Fortbestand der Gattung, während sie auf anthropologischer Ebene die Generationenfolge markiert, den symbolischen Eintrag der Menschheit in die Geschichte. Geboren werden, sich entwickeln, altern, sterben: Dies ist, auf die einfachste Formel gebracht, der natürliche Fluss des menschlichen Lebens. Und eine Verzögerung des Alterungsprozesses mit dem Ziel der Daseinsverlängerung bedeutet vor diesem Hintergrund einen technischen Eingriff in seinen biologischen Ablauf. Ein von den Verfechtern der Lebensverlängerung bevorzugter Zugangsweg zur Unsterblichkeit besteht denn auch darin, die physiologische Reifungs- und Wachstumskurve des Menschen durch die biomedizinischen Technologien zu modifizieren. Nicht nur, dass die Frage der Verbindung zwischen Sexualität und Sterblichkeit in ihren Verlautbarungen immer wieder auftaucht. Sie Obendrein ist er Mitglied mehrerer seriöser wissenschaftlicher Verbände wie u.a. der American Chemical Society. Ähnlich verhält es sich bei Marvin Minsky, Professor am MIT Media Lab und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Alcor. Zu genaueren Analysen der wissenschaftlichen und institutionellen Netzwerke, in denen die KryonikUnternehmen mit den Lebensverlängerungs- und transhumanistischen Bewegungen verbunden sind, siehe die beiden bereits zitierten Doktorarbeiten von Marina Maestrutti und von Michèle Robitaille sowie das Buch von Antoine Robitaille, Le Nouvel Homme nouveau, op. cit.

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erhält darüber hinaus ihre Antwort: darin nämlich, dass die Subjektivität komplett entsexualisiert und der Stellenwert der Generationenbildung als Fundament menschlicher Gesellschaften negiert wird. Als Mitglied des Immortality Institute verdeutlicht der Biologe João Pedro de Magalhães perfekt die Auffassung von Sexualität, die im Milieu der Lebensverlängerungsforschung vorherrscht: „Das Altern ist eine sexuell übertragbare Krankheit, die sich als eine Reihe von im Körperinnern stattfindenden Veränderungen definieren lässt, welche ihrerseits zu Unpässlichkeit, Leid und eventuell zum Tode führen.“63 Und da der Alterungsprozess bekanntlich mit dem Nachlassen der reproduktiven Funktionen beginne, bestehe die beste Methode zu seiner Verlangsamung darin, die Phase der sexuellen Reifung so weit wie möglich hinauszuschieben. In seinem Buch Becoming Immortal schlägt Stanley Shostak denn auch vor, den menschlichen Körper genetisch dahingehend zu modifizieren, dass seine biologische Entwicklung vor der Pubertät zum Stillstand gebracht wird. Auf immer präpubertär würden die so transformierten Menschen die Leiden des Alterns gar nicht erst kennen lernen und könnten endlos leben.64 Durch die künstliche Blockierung ihrer Entwicklung wären sie steril, weder Mann noch Frau, vielmehr asexuelle und körperlich unreife, obwohl intellektuell erwachsene Wesen.65 Alles, was dieses Phantasma von Unreife, Asexualität und Unsterblichkeit über unsere Gesellschaft aussagt, lassen wir bereitwillig erst einmal beiseite – könnte sich bei deren unbewussten Triebfedern doch so manch ein Psychoanalytiker die Hände reiben. Hier geht es nur darum, dass Shostaks Modell durchgängig von der theoretischen Figur des Cyborg inspiriert ist, wie sie von Donna Haraway entworfen wurde.66 Halb natürlich, halb künstlich, zur Hälfte Mann, zur Hälfte Frau ist der Cyborg als ein von all den Zwängen befreites Wesen zu begreifen, die sich aus dem Geschlechtsunterschied, aus Rassenunterdrückung und der Fortpflanzung ergeben. Aus 63 64 65 66

João Pedro de Magalhães, „The Dream of Elexir Vitae“, in: Immortality Institute, The Scientific Conquest of Death, op. cit., S. 48. Vgl. Stanley Shostak, Becoming Immortal, op. cit. Vgl. ibid., S. 207. Vgl. Donna Haraway, „A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century“, in: Simians, Cyborgs and Women. The Reinvention of Nature, London/New York (Routledge) 1991, S. 149-181. Aus poststrukturalistischer und postmoderner Sicht beinhaltet die Figur des Cyborg eine Befreiung von den biologischen Determinanten der sozialen Unterdrückung (Geschlechts- und Rassenzugehörigkeit).

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der technowissenschaftlichen Perspektive einer kompletten Neuprogrammierung des Körpers würde dann die Reproduktion der Produktion weichen. Innerhalb dieser Gedankenwelt wird die Fortpflanzung gänzlich von der Sexualität gelöst, wird zu einer Angelegenheit der Technik und einer Apparatur wie der künstlichen Gebärmutter.67 Angesichts der Möglichkeit, die Lebensdauer ins Unendliche zu verlängern, wird die Fortpflanzung nicht nur problematisch, sondern fakultativ. Da es, wie sie selber sehen, mit einer erhöhten Lebensdauer zur Übervölkerung kommen muss, setzen sich die Verfechter der Lebensverlängerung dafür ein, die Geburtenrate rigoros zu kontrollieren und zu begrenzen. Im Sinne dieser Argumentation geht Marvin Minsky so weit zu verlangen, „dass wir umdenken müssen, was die Erzeugung zusätzlicher Kinder betrifft.“68 Hier sehen wir, was in der postmortalen Gesellschaft fundamental auf dem Spiel steht, wenn es um den Stellenwert von Subjektivität und Generationenfolge geht. Aubrey de Grey verdeutlicht uns das Phänomen, indem er es überzeichnet: Wenn man nämlich die Menschen vor die Wahl stelle, ewig zu leben oder sich fortzupflanzen, so werde, da ist er sich sicher, die große Mehrheit für die Unsterblichkeit optieren.69 Zwar mag es sich bei einer solchen Aussage um reine Spekulation handeln. Und doch vermittelt sie uns den narzisstischen Individualismus, der sich in unserer Gesellschaft zunehmend durchsetzt. In einer Gesellschaft, in der man im Tod selber eine Angelegenheit der persönlichen Wahl sieht.

Das Recht auf Unsterblichkeit Indem sie den Eindruck erweckten, der Tod sei beherrschbar, haben die biomedizinische Dekonstruktion, die Verlängerung der Lebenserwartung und die Forschungen zum Kampf gegen das Altern daran mitgewirkt, das 67

68 69

Zu diesem Thema siehe das Buch von Henri Atlan, L’Utérus artificiel, Paris (Éd. du Seuil) 2005, sowie die laufende Magisterarbeit von Sylvie Martin, L’Utérus artificiel ou l’Effacement du corps maternel. De l’obstétrique à la machinique, Fachbereich Soziologie, Universität Montreal 2008. Marvin Minsky, „Will Robots Inherit the Earth?“, in: Immortality Institute, The Scientific Conquest of Death, op. cit., S. 132. Vgl. Aubrey de Grey, nach Sherwin Nuland, „Aubrey de Grey, le mécano de l’éternel“, op. cit., S. 41.

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Unausweichliche aus seinem Horizont zu vertreiben. In deutlichen Worten beschreibt Marina Maestrutti diese neue Haltung gegenüber dem Tod: Die „praktische Hauptbeschäftigung mit den lebensbedrohlichen Risiken schiebt die metaphysische Beschäftigung mit dem Tod als dem unvermeidlichen Schlussstrich unter das Dasein beiseite. Wenn die gesunde Lebensweise die Todesursachen beeinflussen kann, ergibt sich der Eindruck, man könne aktiv Gegenmaßnahmen ergreifen. Aus einem fundamentalen und unlösbaren Problem wird so eine Reihe leicht lösbarer Probleme: Die Sorge für den Körper und seine Verfassung, für die Ernährung und die Gesundheit – all dies sind Aufgaben, die das Individuum in eigener Verantwortung beim täglichen Kampf gegen das Ende in Angriff nimmt.“70 Angesichts des besonderen Augenmerks, das sich auf die Erhaltung und Verbesserung der Gesundheit richtet, schickt der Tod sich an, aus dem Alltagsleben zu verschwinden. Fortan weiß man zwar um ihn als einen notwendigen Gang, seine biomedizinischen Parameter sind nichtsdestotrotz in den Griff zu bekommen. Vor diesem Hintergrund treten dann Bewegungen auf den Plan, die das Recht auf ein Sterben in Würde mittels Euthanasie oder begleitetem Suizid erstreiten wollen. Allerdings wird man in diesem Punkt zugeben müssen, dass die zunehmende Technisierung des Todes den Patienten und ihren Angehörigen nur wenig Raum lässt. So umfassend werden sie, wie das nächste Kapitel zeigen soll, vom biomedizinischen Komplex aufgesogen. Parallel zu den Forderungen nach dem Recht, in Würde zu sterben, machen sich andere Bewegungen breit. Sie tragen zwar eher marginalen Charakter, sind aber, wie etwa die World Transhumanist Association, sehr gut organisiert und kämpfen offen für eine maximale Lebensverlängerung durch den unbeschränkten Einsatz biomedizinischer Technologien.71 In der Tat erwecken die technowissenschaftlichen Verheißungen der Anti-Agingund der Reproduktionsmedizin, der Bio- und Nanotechnologien ja die Illusion, man könne gegen den Tod bis hin zu seiner vollständigen Ausrottung vorgehen. Und dies erscheint umso weniger illusionär, als eine ganze Reihe hoch finanzierter Forschungsprojekte und Unternehmen in diese Richtung zielen und Errungenschaften auf diesem Gebiet durch Preise höchst seriöser wissenschaftlicher Institutionen wie den Methuselah Mouse Prize belohnt

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Marina Maestrutti, Les Imaginaires des nanotechnologies, op. cit., S. 176. World Transhumanist Association: http://www.transhumanism.org/index.php/wta/ communities/seniorcitizens/ (abgerufen am 29. November 2007).

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werden.72 Innerhalb dieser Gedankenwelt wird der Tod zu einer Option unter anderen, namentlich der, auf die Kryonik zu rekurrieren, um eines Tages ins Leben zurückkehren zu können. Im Übrigen verwerfen die Transhumanisten ja genau deshalb den Gedanken an die Unausweichlichkeit des Todes, weil sie an seinen optionalen Charakter glauben wollen. Als Deathist, d.h. einer Religion des Todes angehörend, bezeichnen sie denjenigen, der sich einer Transformation des Menschen widersetzt, die sein Leben über die natürlichen Befristungen hinaus verlängern soll. Sie bestehen darauf, dass „der Tod freiwillig zu sein hat“, dass es sich bei ihm also um eine individuelle Entscheidung handelt. Im Klartext: „Ein jeder muss die Freiheit haben, sein Leben zu verlängern und Maßnahmen zu seiner kryonischen Suspendierung zu ergreifen […]. Ebenso wie die Euthanasie stellt die Lebensverlängerung, das aufgeklärte Einverständnis vorausgesetzt, ein menschliches Grundrecht dar“.73 Wenn wir von dem für den gewöhnlichen Sterblichen etwas surrealistisch anmutenden Unterton absehen, so verdient der extreme Liberalismus solcher Äußerungen doch unsere Aufmerksamkeit, insofern er nämlich das ideologische Gerüst der postmortalen Gesellschaft bildet. Dekonstruiert und desymbolisiert ist der Tod zu einer strikt individuellen Angelegenheit geworden, mit der sich Rechte oder sogar Auswahlmöglichkeiten verbinden. In der Lebensverlängerungsbewegung erreicht der liberale Individualismus Hochformat, da hier das Recht auf die Verlängerung des eigenen Lebens Priorität gegenüber der Entstehung künftiger Generationen beansprucht. Vom individualistischen Standpunkt aus kann es, wie Christine Overall betont, keinen Grund geben zu sterben, weil man einer neuen Generation Platz machen soll.74 Überzeugend erscheint ein solcher Standpunkt umso mehr, als gleichzeitig das Leben auf die Summe subjektiver Erfahrungen, individueller Empfindungen und Genüsse zusammengestrichen wird, wie dies z.B. im Transhumanismus und bei ultralibera-

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Von Aubrey de Grey und David Gobel geschaffen und verwaltet, verfolgt The Methuselah Mouse Prize das Ziel, die Forschung zur Verlängerung der Lebensdauer zu belohnen und zu beschleunigen, die anhand von Experimenten an Mäusen durchgeführt wird. Im Jahre 2006 belief sich dieser Preis nach den Daten, die von Marina Maestrutti gesammelt wurden (Les Imaginaires des nanotechnologies, op. cit., S. 185), auf 3,6 Millionen Dollar. World Transhumanist Association, Isn’t death part of the natural order of things? Online: http://transhumanism.org/index.php/WTA/faq21/78/ (abgerufen im November 2007). Vgl. Christine Overall, Aging, Death and Human Longevity, op. cit.

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len Philosophen wie Christine Overall geschieht.75 Seltsam genug haben die kulturelle, wissenschaftliche und demografische Vertreibung des Todes wie auch die Idee, ihn aktiv bekämpfen zu können, nichts von dem Schrecken gemildert, den er auslöst, im Gegenteil. Für den Bioethiker John K. Davis besteht eine der ethischen Hauptkonsequenzen der Lebensverlängerungsbewegung genau darin, dass der Tod eines Greises von 97 Jahren insofern tragisch erscheint, als er, bezogen auf die Verheißung der Amortalität, eine Niederlage darstellt.76 Wo man im Tod nur das elendige Ende eines allmächtigen Individuums sieht, erregt er mehr Schrecken denn je zuvor.

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Vgl. ibid . Siehe auch die bereits zitierte Webseite der World Transhumanist Association. Vgl. John K. Davis, „The Prolongevists Speak Up: The Life-Extension Ethics Session at the 10th Annual Congress of the International Association of Biomedical Gerontology“, op. cit., S. W7.

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Die Rückkehr des Todes. Ende des Lebens – Ende des Sinns „Das Sterben ist das Ergebnis eines Programmierungsfehlers hinsichtlich des okzidentalen Glücks.“ Claude Javeau1

So zerstückelt und entfremdet der Tod in unserem technowissenschaftlichen Universum auch sein mag: Er bleibt gleichwohl allgegenwärtig. Seine zahlreichen Wandlungen, die Metamorphose seiner Merkmale und Formen haben überhaupt nichts daran geändert, dass wir ihn unverkennbar an uns vorbeistreifen sehen. Ganz wie zu Beginn der Menschheitsgeschichte streckt er stets noch seine Fühler aus, lauert jedem von uns an der nächsten Ecke auf. Das Sterben als eindeutige Tatsache verschwindet offensichtlich nicht aus der postmortalen Gesellschaft. Was dagegen ausgelöscht wird, ist sein ontologischer Stellenwert, d.h. seine grundlegende Rolle im Aufbau der Kultur, der symbolischen Ordnung, die dem Dasein und der Welt ihren Sinn verleiht. Wenn es zutrifft, dass es „ohne den Tod keine Kultur“ gäbe, so ist doch der Sinn, welcher der Endlichkeit des Menschen gesellschaftlich verliehen wurde, beträchtlich geschrumpft, so dass aus ihr schließlich eine strikt individuelle Angelegenheit wird, nicht mehr und nicht weniger als das Ende eines Lebens.2 „Der ‚natürliche‘ Tod ist sinnlos, weil die Gruppe daran keinen Anteil hat. Er ist banal, weil er mit dem banalisierten individuellen Subjekt und der banalisierten Familienzelle verbunden ist und weil er nicht mehr kollektives Freud und Leid ist.“3 Mit diesen Worten schildert Jean Baudrillard in Der symbolische Tausch und der Tod, wie sich infolge der Privatisierung des Todes das Gesellschaftsband lockert. Der Tod als individuelles Ereignis, das unerbittlich am Horizont der postmortalen Gesellschaft auf1 2

3

Claude Javeau, Mourir, op. cit., S. 84. In einer kürzlich erschienenen Arbeit präsentiert die Soziologin Glennys Howarth eine ausgezeichnete Synthese von Rolle und Status des Todes in den soziologischen Theorien, insbesondere hinsichtlich des gesellschaftlichen Aufbaus der Kultur. Siehe Death and Dying, op. cit. Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, op. cit., S. 260.

153 C. LAFONTAINE, DIE POSTMORTALE GESELLSCHAFT, DOI 10.1007/978-3-531-92063-4_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010

steigt, stellt sich daher unter sozioanthropologischem Gesichtspunkt als Dekonstruktion der symbolischen Grundlage dar, von der bis dahin ein jegliches soziales Leben getragen wurde. Vom demografischen Wandel nicht zu trennen, der unsere Zeit charakterisiert, scheint „der Sinnhorizont im selben Maße geschwunden, wie die Lebenserwartung gestiegen ist“.4 Dabei signalisiert die Desymbolisierung des Todes nicht unbedingt die Auflösung eines jeden sozialen Zusammenhalts, sondern eher die Zerbrechlichkeit einer weitestgehend atomisierten Gesellschaft. Von daher ist die postmortale Gesellschaft im Grunde eine Gesellschaft von Individuen in dem Sinne, dass hier das Gesellschaftsband nicht vorgegeben ist, sondern immer neu gebildet und wiederhergestellt werden muss. In ihr kumulieren die hinsichtlich der Beherrschung der Welt radikalisierte Logik der Moderne und der postmoderne Relativismus mit seiner Auflösung jeglicher Sinnhaftigkeit.5 Und, um die Definition von Norbert Elias aufzugreifen: „‚Sinn‘ ist eine soziale Kategorie; das zugehörige Subjekt ist eine Pluralität miteinander verbundener Menschen.“6 Unter Betonung des kollektiven Charakters des Sinns macht dieser Soziologe des weiteren geltend, dass der „besondere Akzent, den in der neueren Zeit die Vorstellung erhält, daß man im Sterben allein ist, […] dem stärkeren Akzent [entspricht], den in dieser Periode das Empfinden gewinnt, daß man im Leben allein sei.“7 In den Begriff von Autonomie übersetzt stellt diese Einsamkeit den obersten Wert der postmortalen Gesellschaft dar. Und da sie historisch etwas radikal Neues ist, zeugt diese Allmächtigkeit des Individuums von einem Bruch nicht nur auf gesellschaftlicher Ebene, sondern in der Grundordnung des Lebens selber, d.h. in der Abfolge der Generationen.8 Um erfassen zu können, um welchen Einsatz es bei der Individualisierung des Verhältnisses zum Tode geht, sollten wir zu dessen anthropologischen Grundlagen zurückkehren. 4 5 6 7 8

Pierre-Henri Tavoillot, „Les tourbillons de la vie“, Philosophie Magazine n° 10, Mai 2007, S. 40. Hier beziehe ich mich auf die von Michel Freitag entwickelte soziologische Theorie, insbesondere in L’Oubli de la société, op. cit. Norbert Elias, Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, op. cit., S. 84. Ibid., S. 90. In Le Recul de la mort, op. cit., S. 459 behauptet Paul Yonnet, dass die effektive Ausräumung des Todes das Wesen des Menschen und den Rahmen seiner Existenz, wie er seit Beginn der Geschichte gesetzt war, radikal verändere. In diesem Verständnis würde das Zurückweichen des Todes streng genommen das Ende der Geschichte ankündigen.

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An den Ursprüngen der Kultur: die Vorbereitung auf die große Reise Als primäres anthropologisches Prinzip und soziales Totalphänomen liegt das Bewusstsein vom herannahenden Tod an der Quelle der menschlichen Kultur als solcher. Von Freud bis Simmel über Bauman und Becker sind die sozio-anthropologischen Theorien nicht mehr zu zählen, die den Tod als die Grundlage des Menschseins sehen.9 So sei es die Angst und das Grauen, das der Tod erregt, wodurch die Menschen, um sich davor zu schützen, zur Konstruktion symbolischer Bollwerke gebracht wurden. Anders ausgedrückt: Die Kultur ist eine Verleugnung des Todes.10 In seiner bemerkenswerten Abhandlung A Social History of Dying kehrt der Soziologe Allan Kellehear diese allgemein akzeptierte These allerdings um, indem er behauptet, dass es nicht wirklich die Verleugnung des Todes sei, in der die Kultur gründet, sondern seine Vorwegnahme, die kollektiv inszenierte Vorbereitung auf ihn.11 Wenn man dagegen unterstellt, dass der Tod verleugnet wird, so projiziert man aus seiner Sicht nur die spezifische Vorstellung der okzidentalen Moderne auf die gesamte Menschheitsgeschichte, nämlich die von einer Auflösung des Ichs und eines subjektiven Identitätsverlusts – eine Vorstellung, die sich exemplarisch bei Freud finde. Eine solche Übertragung kultureller Gegebenheiten verschleiere nicht nur die historischen Besonderheiten unseres eigenen Verhältnisses zum Tode; vielmehr mache sie darüber hinaus, Kellehear zufolge, auch eine erstrangige anthropologische Realität unsichtbar: dass nämlich in der Mehrzahl der Kulturen „der Tod […] nicht der Gegensatz des Lebens [ist], sondern weit eher seine Fortsetzung.“12 Wenn wir die Ursprünge der Kultur aus der Antizipation des Todes, aus der Vorbereitung auf ihn begreifen und weniger unter dem Blickwinkel seiner Verdrängung, können wir die historische Entwicklung des Status, den die Gesellschaft dem Sterbenden zuschreibt, unter einem anderen Licht betrachten. Um seine These zu untermauern, greift Kellehear bis zur Vorge9 10

11 12

Zu diesem Thema siehe die Argumentation und die Verweise des ersten Kapitels. Freuds Thesen zur Verleugnung des Todes wurden von Ernest Becker in seinem Buch Dynamik des Todes. Die Überwindung der Todesfurcht – Ursprung der Kultur – op. cit., am weitesten vorangetrieben. Vgl. Allan Kellehear, A Social History of Dying, New York (Cambridge University Press) 2007. Ibid., S. 59.

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schichte zurück, um in ihr die Spuren der Ursprünge des Verhältnisses zum Tode nachzuzeichnen.13 Er kann sich auf anthropologische Erkenntnisse über zahlreiche Gesellschaften von Jägern und Sammlern stützen, wenn er folgert, dass das Sterben für die ersten menschlichen Gemeinschaften eine weite Reise darstellt, die eine umfangreiche Vorbereitung und eine große Ausstattung verlangt, für die die Überlebenden verantwortlich sind.14 Die Gaben, die man dem Verstorbenen darbringt, sollen ihm den Übergang in die andere Welt erleichtern. In Gesellschaften, in denen sich der Tod normalerweise schnell und brutal ereignet (durch Angriffe von Raubtieren, Unwetter, Mangel an Versorgung, hohe mütterliche und kindliche Sterblichkeit), obliegt der Gemeinschaft die Vorbereitung auf die letzte Reise.15 Sie ist es, die den Verstorbenen auf seiner Wanderung zu begleiten hat, um sein Überleben im Jenseits zu gewährleisten und das Wohlwollen seines Geistes zu empfangen. In zeitlicher Hinsicht bedeutet dies, dass die Begleitung des Sterbenden und seine Abreise organisiert werden, sobald der Tod festgestellt ist. Die Sorge für den Sterbenden fällt also gänzlich in die Zuständigkeit der Gemeinschaft. Sein Übergang in die andere Welt mobilisiert die Gruppe als ganze, wodurch sich gleichzeitig deren Zusammenhalt festigt. Während des längsten Abschnitts der Menschheitsgeschichte war das Sterben also ein kollektives Erlebnis, mit dessen Vorbereitung nach dem Ende der biologischen Existenz begonnen wurde. Erst mit dem Zeitalter der Hirtenvölker, d.h. mit den Anfängen der Sesshaftigkeit bis zu den ersten Ansiedlungen, ist „das Sterben […] zwar immer noch eine Reise in die andere Welt, wird aber auch zu einer Erfahrung im Diesseits“.16 Außer dass man den Verstorbenen bei seinem Übergang ins Jenseits unterstützt, gehört zur Vorbereitung auf die große Reise auch die Organisation seiner Nachfolge, an der alle, der Sterbende inbegriffen, mitzuwirken haben. Die demografische Konzentration infolge der Entstehung der Landwirtschaft und der ersten Dörfer macht es möglich, den Tod längst vor seinem Eintritt zu antizipieren. An die Stelle des raschen, unfallbedingten 13

14 15 16

Allan Kellehear stellt in seinem Buch (ibid.) das methodische Vorgehen dar, mit dem er versucht, die Ursprünge des Verhältnisses zum Tod zu rekonstruieren. Im Wesentlichen handelt es sich darum, die archäologischen und ethnografischen Erkenntnisse über die Bestattungspraktiken zusammenzutragen und von hier aus die Ursprünge der menschlichen Gesellschaften in spekulativer Form darzustellen. Vgl. ibid., S. 36. Vgl. ibid., S. 22. Ibid., S. 81.

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Todes der Vorgeschichte tritt nun der durch Hungersnöte und Epidemien. Von daher lassen sich die Symptome einer Krankheit ebenso erkennen wie die einzelnen Etappen der Agonie: Wann das Ende eines Menschen naht, ist also vorhersehbar. Und an diese Vorhersehbarkeit ist die Aufstellung von Regeln für die Testamentsabfassung gebunden.17 Auch wenn der Tod ein kollektives Phänomen bleibt, beginnt er doch, sich in dem Maße zu individualisieren, wie der Sterbende nun bereits zu Lebzeiten an den Vorbereitungen für sein Verscheiden mitwirkt. Diese zunehmende Einbindung des Sterbenden in die Organisation seines Todes sollte sich gegen Ende des Mittelalters und im gesamten Verlauf der Neuzeit nochmals verstärken. Überzeugendes Beispiel für diese Individualisierung des Sterbens ist das Ideal des schönen Todes, eine lange Agonie nämlich, bei der dem Todkranken die Zeit bleibt, den Angehörigen seinen letzten Willen zu verkünden.18 Mit der Urbanisierung und Industrialisierung sollte die Organisation des Todes, wie wir wissen, eine bedeutende Wende erfahren, um von da an allmählich zu einer vom Rest der Gesellschaft abgekoppelten Privatsache zu werden. Medikalisierung und Hospitalisierung werden zum integralen Bestandteil der Vorbereitung auf den Tod. Als nunmehr rein subjektive Erfahrungen dehnen sich die Antizipation und das Warten auf das Ableben aus und können sich sogar über Monate erstrecken. In dem Maße, wie die Sterberaten sinken und die Lebenserwartung steigt, individualisiert sich der Tod dahingehend, dass er ganz einfach als Ende eines Lebens begriffen wird. Im kosmopolitischen Zeitalter – um die Typologie von Kellehear aufzugreifen – ist die Organisation des Sterbens schließlich auf die medizinische Begleitung und die bei dem großen Schlussakkord eingesetzten technischen Mittel konzentriert. So wird aus dem Tod nicht nur eine wissenschaftlich kontrollierte Privatangelegenheit, sondern er markiert das Ende einer langen Reise – auf der, für große Teile der Bevölkerung, der Mensch den definitiven Bestimmungsort erreicht. Der Soziologe Philippe Bataille bringt diese kulturelle Wende auf den Begriff, wenn er behauptet, dass „die öffentliche Meinung […] sich viel mehr für die Persönlichkeit des Sterbenden und die Bedingungen [interessiert], unter denen sein Tod stattfindet, als dass sie sich damit

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Vgl. ibid., S. 120f. Die Historiker Philippe Ariès und Michel Vovelle haben, jeder auf seine Weise, das Modell des schönen Todes und den historischen Prozess der Individuation des Todes ausführlich analysiert. Siehe die bereits zitierten Werke.

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abgibt, was nach dem Tod geschieht“.19 Vor diesem Hintergrund erscheint das Sterben umso tragischer, als es zu etwas Antisozialem wird.20 Diese Individualisierung des Sterbens schafft insbesondere den Anlass für ein neues Arsenal von Bestattungsriten und -feierlichkeiten, das wir kurz vorstellen wollen, um besser begreifen zu können, welches Ansehen der Sterbende in unserer Gesellschaft genießt.

Den Tod neu denken: intime Riten und private Trauer Die Verleugnung des Todes, sein zunehmendes Verschwinden aus dem öffentlichen Raum, die biomedizinische Steuerung, der er unterworfen ist: All dies hält man gemeinhin für charakteristische Merkmale der Moderne. Diese moderne Negierung des Todes, von Historikern und Sozialwissenschaftlern heftig kritisiert, beinhaltet zweifellos eine Infragestellung der traditionellen Formen, keineswegs aber die Abschaffung der Ritualisierung. In Wirklichkeit nämlich ist gegen Ende des letzten Jahrhunderts ein neuer Typ von Ritualen entstanden, der sich einer hochgradig individualisierten und technisierten Gesellschaft besser einfügt und von einem umfassenden Wandel im Prozess der Vergesellschaftung zeugt. Mit diesen neuen Totengedenkfeiern hat sich der britische Soziologe Tony Walter näher befasst, da er sich gegen eine allzu wörtliche Interpretation der Diagnose vom „Tod des Todes“ wehrte.21 Aus dem Zentrum dieser „neu erblühten“ Bestattungspraktiken ragt das Ideal des freien und autonomen, bis zu seinem Ende souveränen Individuums empor. Deutlich wird dies darin, dass die traditionellen Begräbnisfeierlichkeiten zugunsten personbezogener Riten aufgegeben werden, die zu einer Art Ode an die Individualität des Sterbenden werden. In enger Verbindung mit der Entwicklung eines professionellen Sachverstands ist die Personalisierung des Zeremoniells und der Rituale das Erkennungszeichen für das neuartige Verhältnis zum Tod, wie es sich in der postmortalen Gesellschaft ausgebildet hat.22

19 20 21 22

Philippe Bataille, „La mort de l’autre au bout de soi“, in: Michel Wieviorka (Hrsg.), Disposer de la vie, Disposer de la mort, op. cit., S. 174. Vgl. Allan Kellehear, A Social History of Dying, op. cit., S. 214. Vgl. Tony Walter, The Revival of Death, London/New York (Routledge) 1994. Vgl. ibid., S. 33.

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Solange sie religiös eingerahmt sind, erinnern die Bestattungsfeierlichkeiten und -rituale daran, dass der Tod eine kollektive Begebenheit von zweifellos primärer Bedeutung ist. Zugleich bekräftigen sie nochmals die Zugehörigkeit des Verstorbenen zu seiner Gemeinschaft. „Der Platz der Toten“ nämlich grenzt den der Lebenden ein.23 So sind die Begräbnisrituale der Ort, an dem sich die sozialen Bindungen konsolidieren und als Wegweiser für das Zusammenleben das Überdauern der Gesellschaft gewährleisten. Im Gegensatz zu dieser Verstärkung des Kollektivs steht die Individualisierung der heutigen Rituale, die so durchgreifend ist, dass diese stets neu gedacht werden.24 Die Soziologen Patrick Baudry und Henri-Pierre Jeudy beschreiben eindrücklich den gegenwärtigen Wandel in den Bestattungszeremonien: „Heutzutage werden die Anwesenden zu beteiligten Akteuren. Man kann einen Text vorlesen, eine Schallplatte ertönen lassen, und was auch sonst geschieht, das bestimmt nicht mehr ausschließlich der Veranstalter. Der vorgelesene Text muss nicht unbedingt aus einem religiösen Werk stammen. Doch auch wenn er profaner Natur ist, gewinnt er sakrale Qualität durch die Emotionen, die er weckt, und die Zusammenhänge, die er herstellt. Durchaus mag auch Unterhaltungsmusik erklingen. Ihre Bedeutung erhält sie dadurch, dass der Verstorbene sie geliebt hat, oder wegen des gesungenen Textes, in dem man seinen Geschmack oder den Sinn seines Lebens wieder findet.“25 Zugunsten eines persönlichen Engagements bei den Feierlichkeiten verzichten die Trauernden fortan auf das anerkannte Zeremoniell und die etablierten Rituale.26 In die Intimsphäre gedrängt lösen sich die Begräbnisfeierlichkeiten aus ihrer kollektiven Verankerung, um so der Individualität Ausdruck zu verleihen. Und die Menschen, die sich zum persönlichen Einsatz und zur Schaffung ihrer eigenen Riten aufgefordert sehen, nehmen die auf die Individualität des Toten bezogenen Dienste von Bestattungsmanagern in Anspruch, die eine ganze Palette von „Produkten“ mit ständig sich erweiternden Auswahlmöglichkeiten anbieten. Jener Verkauf von Zeremonien 23 24

25 26

Vgl. Patrick Baudry, La Place des morts. Enjeux et rites. Paris (L’Harmattan) 2006. Zur Beschreibung der neuen Ritualformen benutzt Tony Walter eher den Begriff des Neomodernen als den des Postmodernen. Mit dem Relativismus seines analytischen Ansatzes aber nähert er sich den postmodernen Theorien. Vgl. The Revival of Death, op. cit. Patrick Baudry und Henri-Pierre Jeudy, Le Deuil impossible: fenêtre sur la mort, Paris (Eshel) 2001, S. 62. Vgl. Jean-Hugues Déchaux, „Neutraliser l’effroi. Vers un nouveau régime du deuil“, in: La Mort et l’Immortalité, op. cit., S. 1166.

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„nach Maß“ ist Teil einer von Anthony Giddens analysierten breiteren Strömung in den fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften, in der die subjektive Identität beständig neu erzeugt wird. Von daher bezeichnen diese maßgeschneiderten Trauerfeierlichkeiten das äußerste Stadium der Vermarktung von kultureller Identität.27 Eindrücklich umreißt der Soziologe JeanHugues Déchaux dieses Phänomen: „Die normativen Orientierungen werden nicht mehr von der Tradition geliefert, sondern von einem professionellen Sachverstand, in dem sich eine neoliberale Markt- und Beratungskultur offenbart. Intimisierung und Professionalisierung des Todes gehen Hand in Hand.“28 Ohne kollektive Bezugspunkte werden die Praktiken der Bestattung zu einem Kunterbunt ohne zusammenhängende Konturen. Oft genug ist es der Verstorbene selbst, der im Vorhinein seinen Abgang vorbereitet hat, so dass der Tod zu einer Gelegenheit wird, die eigene Originalität als „letzte Vollendung“ unter Beweis zu stellen.29 Zwischen extremer Diskretion – bis dahin, dass sie gar nicht erst stattfinden – und, auf der anderen Seite, dem Überschwang des Gedenkens liegen die wechselnden und vielfältigen Formen der gegenwärtigen Bestattungsfeierlichkeiten. Die Individualisierung des Zeremoniells aber macht nicht Halt bei der Totenfeier, sondern zeigt sich auch im Umgang mit der Leiche. Die an die katholische Tradition gebundene Beerdigung hat ihr kulturelles Monopol aufgegeben, um anderen Ritualformen zu weichen, namentlich der Einäscherung. Ehedem von der Kirche verboten, hat sich die Verbrennung der Leichen seit einigen Jahrzehnten immer weiter durchgesetzt.30 Als Symbol der Verwerfung religiöser Traditionen zeugt diese Praktik von der zunehmenden Individualisierung des Verhältnisses zum Tod. In ihrer Dissertation zu den kulturellen und symbolischen Aspekten der Verbrennung unterstreicht auch Valérie Souffron die Verbindung, die zwischen der Entscheidung für das Krematorium und der Betonung der eigenen Subjektivität besteht. Tatsächlich entspringt die Einäscherungsbewegung einer „Menschenrechtsideologie“, in der unter allen verfochtenen Werten der

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Vgl. Tony Walter, The Revival of Death, op. cit., S. 31. Jean-Hugues Déchaux, „Neutraliser l’effroi. Vers un nouveau régime du deuil“, in: La Mort et l’Immortalité, op. cit., S. 1166. Ibid. Vgl. Jean-Didier Urbain, „Les cendres et la trace. La vogue de la crémation“, in: La Mort et l’Immortalité, op. cit., S. 1210f.

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Wille und die Freiheit der Verstorbenen den ersten Rang bekleiden.31 Oft haben Fachleute darauf hingewiesen, wie schnell, rationell und hygienisch die Verbrennung doch sei, um damit ihre zunehmende Beliebtheit zu erklären. Wenn die Leichen sich in Rauch auflösen, so scheint dies zu einer von Technik und Hygiene bestimmten Gesellschaft gewissermaßen besser zu passen. Der Individualismus, der die Verbreitung dieser Bestattungsmethode bewirkt, spiegelt sich auch in der Art und Weise, wie mit der Asche umgegangen wird. Man muss sich nur die Bedeutung der Friedhöfe in der Anlage von Städten und Dörfern in Erinnerung rufen, um den erstrangigen symbolischen Stellenwert des Geländes zu ermessen, das in der Geschichte der abendländischen Gesellschaften für die Toten vorgesehen war. Die „Erfolgswelle“ der Einäscherung bringt diesen den Verstorbenen gewidmeten kollektiven Raum zum Verschwinden, womit sich auch die historischen Spuren der Lebenden verwischen. Wenn die Asche an einem für den Verstorbenen bedeutsamen Ort verstreut oder die Urne im privaten Raum aufbewahrt wird, so sind dies Praktiken, die, „von einem Massenindividualismus beseelt“, dazu beitragen, die Präsenz der Toten auszulöschen. Dies vollzieht sich in Form ihres „Wechsels von den offiziellen und öffentlichen Orten des Todes“ zu intimeren Plätzen, die einen Bezug zum Privatleben des Verstorbenen haben.32 Von daher erscheint die Einäscherung rundweg als Desozialisierung des Todes zugunsten einer Privatisierung der Bestattungspraktiken.33 Wenn diese nicht gleich vollständig verschwinden, so werden sie doch in die Intimsphäre verlagert. Die Privatisierung der Bestattungsriten erstreckt sich auch darauf, wie die Trauer erlebt und ausgedrückt wird. War diese ehedem präzise kodifiziert (schwarze Kleidung, Demonstration der Betroffenheit, genaue Ein31

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Valérie Souffron, Choix de mort, Choix de vie. Pour une socio-anthropologie de la crémation, soziologische Doktorarbeit an der Universität Toulouse-II, 1999. Gestützt auf eine Reihe qualitativer Interviews mit Verfechtern der Einäscherungsbewegung sowie Trauernden, die sich dieser Praktik bedient hatten, zeichnet diese Dissertation ein umfassendes Bild davon, welche Glaubensinhalte und Sinnsetzungen sich in Frankreich mit diesem Verfahren verbinden. Mit dem Nachweis dieses Zusammenhangs liefert die Autorin gleichzeitig eine ausgezeichnete Analyse der gegenwärtigen „Erneuerung“ des Verhältnisses zum Tod. Jean-Didier Urbain, „Les cendres et la trace. La vogue de la crémation“, in: La Mort et l’Immortalité, op. cit., S. 1215. Vgl. Patrick Baudry, La Place des morts, op. cit., S. 193-196.

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grenzung der Witwenzeit), wird sie heute als eine psychische Probe erlebt, die professioneller Unterstützung bedarf. Seine Trauer angemessen zu erleben, heißt von nun an, die Phasen zu durchleben, die von Fachleuten methodisch definiert wurden. Sie diktieren den Weg, den es zu nehmen gilt, wenn man das Übermaß an Leid und Emotionen „bewältigen“ will. So wird die Trauer als Methode begriffen, sich subjektiv von dem verstorbenen Angehörigen zu lösen. Patrick Baudry und Henri-Pierre Jeudy zufolge setzt sich dieses Gebot allerdings darüber hinweg, dass die Verstorbenen für diejenigen, die sie gekannt haben, weiterexistieren und eine fundamentale Bedeutung für das Regelwerk besitzen, dem die künftige Generationenfolge unterliegt. „Die Trauer unter Beziehungs- und Verhaltensaspekten zu managen, bedeutet nicht nur eine Hilfestellung, sondern auch, sie dem Trauernden auszureden. Um ihm zu zeigen – und der Schmerz sei hierfür ja der Beweis –, dass er nicht gut daran tut, sich zum Gefangenen irgendwelcher Phantastereien über Generationen und fiktiver Prinzipien zu machen.“34 Anders gesagt geht die Psychologisierung der Trauer von einer Desymbolisierung aus, die vom Tod nicht mehr übrig lässt als schlicht und einfach das Ende des Lebens. Vor dem Hintergrund der Desozialisierung des Todes darf das Ende eines Lebens auf keinen Fall die soziale Produktivität der Einzelnen beeinträchtigen. So erwartet man, wie Jean-Hugues Déchaux uns in Erinnerung ruft, „von den Trauernden nach Ablauf von ein paar Wochen, dass sie wieder ganz in ihr normales Leben eintauchen.“35 Auf der Grundlage präziser wissenschaftlicher Kriterien engen sich die „normalen“ Phasen der Trauer in dem Maße ein, wie ihre Medikalisierung sich generalisiert. So vermerkt der DSM-IV – der offizielle diagnostische Leitfaden für psychiatrische Störungen –36, dass im Fall der Trauer eine Major Depression normalerweise nicht diagnostiziert wird, es sei denn, dass „die Symptome noch zwei Monate

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Patrick Baudry und Henri-Pierre Jeudy, Le Deuil impossible, op. cit., S. 29. Jean-Hugues Déchaux, „Neutraliser l’effroi. Vers un nouveau régime du deuil“, in: La Mort et l’Immortalité, op. cit., S. 1155. Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) wird in seinen sukzessiven Versionen von der Amercan Psychiatric Association herausgegeben. In der deutschen Psychiatrie trägt es keineswegs „offiziellen“ Charakter. Gesetzlich ist hier – wie auch in den übrigen medizinischen Disziplinen – vielmehr die Diagnosestellung nach der International Classification of Diseases (ICD) vorgeschrieben, die von der Weltgesundheitsorganisation veröffentlicht und aktualisiert wird (Anm. d. Übers.).

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nach dem Verlust anhalten.“37 Wenn demnach die Trauer ab dem dritten Monat ein pathologisches Phänomen darstellt, entspricht sie nach Expertenmeinung einem Zustand, den es unter anderem medikamentös zu behandeln gilt. Demzufolge sieht der trauernde Mensch sich in seinem subjektiven Leid einer abnormen und asozialen Situation überlassen. In der Pathologisierung ihrer Trauer verlängern die Angehörigen letztendlich nur den „Ausnahmezustand“, den man dem Sterbenden selber zubilligt.38

Der Sterbende oder der losgelöste Tod Allmächtig geworden, steht das Individuum heute dem Tod allein gegenüber. Diese Last wiegt umso schwerer, als das Lebensende – der nun gebräuchliche Ausdruck – den Sinn des Daseins aufzuzehren scheint. In einer Gesellschaft, in der die biomedizinische Dekonstruktion seine Fatalität in eine Vielzahl individueller Risiken und Prädispositionen zerfallen lässt, bleibt der Tod zweifellos eine Gewissheit, doch verliert er den Stellenwert eines kollektiv geteilten Schicksals: Er desozialisiert sich.39 Auf ihre Weise sind die Individualisierung des Todes und seine Verdrängung in die Intimsphäre Teil eines solchen Desozialisierungsprozesses. In diesem Sinne behauptet Patrick Baudry, dass man da, wo man „an der Sozialisierung des Todes, des Sterbens und dem Raum für die Toten spart, die Sozialisierung des Daseins selber schwächt.“40 Symbolisch auf das Ende eines Lebens reduziert, auf die biologische Auslöschung eines Menschen, wird der Tod, um den Ausdruck von Robert William Higgins aufzugreifen, zu einem „Ausnahmezustand“.41 Nicht nur, dass er nicht länger als Teil des Lebens begriffen wird: Er bedroht fortan die Werte von Autonomie und Produktivität. 37

38 39 40 41

M.L. Bourgeois, „Études sur le deuil. Méthodes qualitatives et méthodes quantitatives“, Annales médico-psychologiques, revue psychiatrique 164, n° 4, Juni 2006, S. 278-291 (siehe den Anhang A2), Hervorh. von mir, C.L. Dieser Artikel liefert einen guten Überblick über die verschiedenen wissenschaftlichen Ansätze zum Thema Trauer und die zur Bewertung der Symptome eingesetzten Methoden. Vgl. Robert William Higgins, „Le sujet mourant. La mort en état d’exception“, in: La Mort et l’Immortalité, op. cit., S. 1091. Vgl. Glennys Howarth, Death and Dying, op. cit., S. 252f. Patrick Baudry, La Place des morts, op. cit., S. 19. Robert William Higgins, „Le sujet mourant. La mort en état d’exception“, in: La Mort et l’Immortalité, op. cit., S. 1091.

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Das Problem der Endlichkeit, das ausschließlich auf die Person des Sterbenden verlagert wird, beginnt vor einem Hintergrund zu verblassen, der das Sterben psychologisiert und unter dem Begriff des Lebensendes abhandelt.42 Hospitalisiert, isoliert und zur Gänze dem biomedizinischen System übereignet, trägt der Sterbende die Last einer verdrängten Endlichkeit, eines unsinnigen Endes. Institutionelle und technische Vorrichtungen werden alsdann reihenweise aufgeboten, um die gähnende Leere zu besänftigen, der sich die Menschen am Ende ihres Lebens gegenübersehen. Abgeschnitten von seiner sozialen Umgebung und ausgesondert aus dem Rest der Gesellschaft ist der Mensch, der auf seinen Tod wartet, zu einem Ausnahmewesen mutiert, außerhalb der Gemeinschaft der Lebenden. Tatsächlich hat „unsere Gesellschaft […] eine neue Kategorie von Bürgern geschaffen, die der Sterbenden.“43 Der etwas provozierende Unterton, der in dieser Formulierung von Robert William Higgins durchscheint, will die Logik des Ausschlusses verdeutlichen, von der die Privatisierung des Todes beherrscht ist. Im Grunde ist der Sterbende, von der Welt abgekoppelt, seines Bezugs zur Gemeinschaft der „Kette der Toten und Lebendigen“ beraubt, seiner „kollektiven Genealogie“, der „gemeinsamen Endlichkeit“ und nicht zuletzt „seiner Menschlichkeit“.44 All das spielt sich so ab, als wäre der Sterbende der einzige, der sterben muss, als wären wir nicht alle im fundamentalen Sinn sterbliche Wesen. Um der Angst und dem Leid zu begegnen, die aus diesem „Ausnahmezustand“ resultieren, hat das biomedizinische System ein hohes Maß an Sachverstand zur Begleitung des Menschen am Ende seines Lebens entfaltet. Im Widerstand gegen die beiden Extreme, den therapeutischen Übereifer auf der einen und die Euthanasie auf der anderen Seite, sind im Laufe der Sechziger Jahre Bewegungen zur Humanisierung des Lebensendes auf den Plan gerückt. Unter biomedizinischem Gesichtspunkt verfolgt die palliative Versorgung das Ziel, den Patienten die letzten Augenblicke ihres Lebens bei strikter Beachtung ihrer Subjektivität zu erleichtern.45 Vom Ge42 43 44 45

Vgl. Robert William Higgins, „Le statut du mourant“, in: Robert William Higgins et al., Le Mourant, op. cit., S. 25. Robert William Higgins, „Le sujet mourant. La mort en état d’exception“, in: La Mort et l’Immortalité, op. cit., S. 1093. Ibid., S. 1102. Vgl. René Schaerer, „La bonne mort. Naissance des soins palliatifs“, in: La Mort et l’Immortalité, op. cit., S. 1116.

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sundheitssystem als ganzem nicht zu trennen, liegt ihr Schwerpunkt in der Milderung des Leidens von Krebskranken, sobald die Medizin sich bei ihnen als machtlos erwiesen hat. Obwohl die Palliativbehandlung im Prinzip allen Menschen am Ende ihres Lebens zur Verfügung stehen sollte, richtet sie sich vornehmlich an die „Opfer des Scheiterns der Medizin“.46 Insofern ihre Aufgabe darin besteht, die Grenzen der Wissenschaft zu bemänteln, trägt sie implizit dazu bei, die Sterbenden in eine Opferrolle zu drängen. Denn der Tod erscheint hier als Krankheit, als Heimsuchung, die in die Hände von Spezialisten gehört. Wenn nämlich der Sterbende in einen Ausnahme- und Opferzustand versetzt wird, so verbirgt sich dahinter, wie Higgins betont, die Vorstellung, dass sein Tod hätte vermieden werden können und die Wissenschaft in diesem Punkt versagt hat.47 Der Tod selber wird zur Ausnahme. Palliativbehandlung und Sterbebegleitung gehören zu einer breiteren Strömung, die den Tod individualisiert. Der professionelle Sachverstand, der das Lebensende humanisieren und dem Tod wieder einen Sinn verleihen soll, heftet sich hier an die rein psychologischen und subjektiven Aspekte der Endlichkeit. So, wie hier der Tod auf den Begriff der Autonomie zentriert wird, erscheint er unter dem Blickwinkel einer individuellen Erfüllung, als the final stage of growth.48 Als persönliche und intime Erfahrung erlebt, ist der ideale Tod heute ein Vorgang ohne Bewusstsein, diskret und hygienisch.49 Ohne größeren medizinischen Sachverstand undenkbar, der den körperlichen Schmerz zu mildern, die Todesangst chemisch unter Kontrolle zu bringen, den Geruch und die sonstigen Spuren der Agonie unschädlich zu machen verspricht, geht ein solches Ideal allerdings mit einer ständigen Spannung zwischen Beherrschung auf der einen und Abhängigkeit auf der anderen Seite einher.50 Als Dreh- und Angelpunkt der postmortalen Gesellschaft reibt sich das Ideal der Steuerung an dem der Autonomie, ohne dass dieser grundlegende Widerspruch überhaupt wahrgenommen würde.

46 47 48

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Robert William Higgins, „Le statut du mourant“, in: Robert William Higgins et al., Le Mourant, op. cit., S. 17. Vgl. ibid. Vgl. Elisabeth Kübler-Ross (Hrsg.), Death, the final stage of growth, Englewood Cliffs (Prentice Hall) 1975. Kübler-Ross gehört zu den Pionieren der Sterbebegleitung. Ihre zahlreichen Werke gelten auf diesem Gebiet als Bezugspunkt. Vgl. Paula La Marne, Vers une mort solidaire, Paris (PUF) 2005, S. 92. Vgl. Allan Kellehear, A Social History of Dying, op. cit., S. 186.

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Einem freiwilligen Tod entgegen Die moderne Privatisierung des Verhältnisses zum Tod hat, so widersinnig dies erscheint, zu einer Politisierung der Intimsphäre geführt.51 Als rein subjektive Realität empfunden, taucht der Tod rund um die Fragen der Euthanasie und der begleiteten Selbsttötung dann doch auf der politischen Bühne auf. Diese thematische Wiederkehr des Todes verdankt sich einer Bewegung, die auf die künstliche Lebensverlängerung und die Macht der Biomedizin in der Verwaltung des Lebensendes reagiert. Im weitesten Sinn passen die gegenwärtigen Forderungen nach dem „Recht auf Sterben“ zu dem radikalen Individualismus, der unsere Zeit kennzeichnet. In diesem Sinn betont die Philosophin Paula La Marne, dass „die Bedeutung, die in unseren Gesellschaften die Verlautbarungen zum Freitod angenommen haben – bis dahin, dass sie zur vorherrschenden Debatte werden –, vermutlich in der Resonanz begründet ist, den sie in unserer modernen Denkweise auslösen.“52 Charakteristisch für diese Mentalität ist sehr wahrscheinlich der überragende Wert, der heute der individuellen Freiheit und Autonomie beigemessen wird. Die biomedizinische Verschiebung der Grenzen des Todes, die inzwischen allgemeine Verbreitung der Reanimationstechniken, die Möglichkeit, das Leben künstlich zu verlängern, all dies hat die Erfahrung des Sterbens so tief greifend verändert, dass fortan der Moment des Todes anscheinend zur Wahl steht. Angesichts des technowissenschaftlichen Arsenals fordert das Individuum das Recht ein, den Augenblick seines Endes zu steuern, ihn sich auszusuchen. Im Grunde beinhaltet der Trend zum selbst gewählten Tod eine neue Form, die Sterblichkeit zu negieren. Der Vorstellung nach stellt sich der subjektive Wille selbst über die Idee der Endlichkeit. Die Bewegung für den Freitod ist eine der hervorstechenden Merkmale, in denen sich die postmortale Gesellschaft politisch ausdrückt. Um zu verstehen, welches die tieferen ideologischen Triebfedern sind, die sich hinter den Forderungen nach dem „Recht auf Sterben“ verbergen, sollten wir daran erinnern, dass gerade diejenigen, die für die Lebensverlängerung eintreten, zu den glühendsten Verfechtern des selbst gewählten Todes zählen. So stellt aus transhumanistischer Sicht die Möglichkeit, das eigene Leben ins 51 52

Vgl. Tony Walter, The Revival of Death, op. cit., S. 47f. Paula La Marne, Vers une mort solidaire, op. cit., S. 92.

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Unendliche zu verlängern oder aber ihm ein Ende zu setzen, ein individuelles Grundrecht dar, das durch keinerlei juristische Normen eingeschränkt werden dürfe.53 Christine Overall argumentiert übrigens in dieselbe Richtung, wenn sie das Recht auf Sterben mit dem verbindet, sein Leben zu verlängern.54 Wenn man schon den Tod nicht eigentlich eliminieren kann, so ist man doch bemüht, ihn zu kontrollieren und aus ihm eine Angelegenheit individueller Entscheidung zu machen. In Wirklichkeit sind die Dinge wesentlich komplizierter. Der heutige Individualismus beruht auf Vorstellungen, die stark von Werten wie Unabhängigkeit und Leistungsfähigkeit geprägt sind. In einem solchen ideologischen Kontext erscheinen körperlicher Kräfteverfall und Abhängigkeit als unmittelbare Bedrohung der subjektiven Integrität eines Individuums. Patrick Baudry und Henri-Pierre Jeudy beschreiben dieses Phänomen exakt: „Aufhören, bevor der Tod das Ende bringt, bevor der Körper mit dem Sterben beginnt. So lautet das Ideal einer ‚individualistischen‘ Vorstellung, bei der weniger das Individuum geschützt, als vielmehr ein Individualismus hofiert wird.“55 Angesichts der Leistungsanforderungen, mit denen die Menschen konfrontiert sind, lässt sich das Ideal des selbst gewählten Todes auch als eine Form von Nihilismus interpretieren, von Unfähigkeit, den letzten Momenten einen Sinn zu verleihen, während für die Verfechter der Palliativbehandlung „der Sinn […] noch immer möglich“ ist.56 Bei der Übermedikalisierung und dem therapeutischen Übereifer, denen sich Uralte und Kranke am Ende ihres Lebens allzu oft ausgesetzt finden, erweist es sich, so wird man einräumen müssen, mitunter als schwierig, in der Fortsetzung der Existenz einen Sinn zu entdecken.

Die Euthanasie und der begleitete Suizid: der unter Kontrolle gebrachte Tod Ein tiefgründiges Paradox liegt der Freitod-Bewegung zugrunde: Begreift sie sich einerseits als Gegenwehr zum therapeutischen Übereifer und zur bio53 54 55 56

Die entsprechenden Belege finden sich in Kapitel V. Vgl. Christine Overall, Aging, Death and Human Longevity, op. cit., S. 191. Patrick Baudry und Henri-Pierre Jeudy, Le Deuil impossible, op. cit., S. 40. Paula La Marne, Vers une mort solidaire, op. cit., S. 95 und 109.

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medizinischen Steuerung, ist sie andererseits, wenn sie mit der Euthanasie und dem begleiteten Suizid das Recht auf Selbstbestimmung des Subjekts durchsetzen will, doch zur Gänze auf technische und medizinische Unterstützung angewiesen.57 Ist es nicht geradezu die Definition der Biomacht, dass in ihr der Ausdruck individueller Freiheit mit einer Logik von Steuerung und Kontrolle untrennbar verbunden ist? Auch diesen Punkt hat Foucault sehr genau erkannt, als er im Willen zum Wissen nachwies, wie die modernen Proklamationen der individuellen Emanzipation mit dem Einsatz von Kontrollmechanismen Hand in Hand gehen. So liegt es in der Konsequenz des Prinzips der Autonomie, des zentralen Punktes der Forderungen nach einem „Recht auf Sterben“, dass die Patienten von den biomedizinischen Entscheidungsträgern immer stärker gesteuert und abhängig werden. Das Begehren, den begleiteten Selbstmord zu legalisieren, ist, wenn wir uns die Bedeutung des Suizids in der abendländischen Definition der Freiheit vor Augen halten,58 in Wirklichkeit eine Form der Negierung subjektiver Autonomie, da die endgültige Entscheidung über die Herbeiführung des Todes dann doch von den medizinischen Autoritäten getroffen wird. Die Freiheit der Menschen am Ende ihres Lebens ist also, anders ausgedrückt, voll und ganz der biomedizinischen Kontrolle unterworfen.59 Unter seinem Spitznamen „Dr. Death“ wurde der Arzt Jack Kevorkian zur Galionsfigur der Freitod-Bewegung.60 Mit seinem Thanatron – einer Maschine, die es den Patienten ermöglichen soll, die tödlichen Gifte in Selbstbedienung einzunehmen – erlangte dieser Arzt internationale Bekanntheit durch den Aufbau eines ambulanten Dienstes für den begleiteten Selbstmord. Zu einer schweren Gefängnisstrafe im Staat Michigan verurteilt, wurde Kevorkian mit seinem Kleintransporter zu einer Symbolfigur für alle 57 58

59 60

Vgl. Pascal Hintermeyer, „La mort consentie. Débats contemporains sur l’euthanasie“, in: La Mort et l’Immortalité, op. cit., S. 1049f. Die Frage des Selbstmords als des äußersten Ausdrucks individueller Freiheit nimmt in der abendländischen Philosophie einen zentralen Platz ein. Die Symbolfigur ist hier Sokrates mit seiner Entscheidung, das Gesetz der Stadt zu beachten und sich zu töten, statt zu fliehen. Im 20. Jahrhundert steht die Verbindung zwischen Suizid und Freiheit im Mittelpunkt der existenzialistischen Philosophie, namentlich im Werk von Albert Camus. Vgl. Thomas F. Tierney, „Death, Medicine and the Right to Die: An Engagement with Heidegger, Bauman and Baudrillard“, Body & Society 3, n° 4, 1997, S. 51-77. Vgl. Bob Beschizza, „The Thanatron, Jack Kevorkians’s Death Machine“, Wired Juni 2007. Online: ttp://blog. Wired.com/gadgets/2007/06/the_thanatron_j.html (abgerufen am 9. Januar 2008).

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Forderungen nach dem Recht auf Sterben. Der theatralische, um nicht zu sagen karikaturistische Aspekt im Vorgehen des Dr. Death verschleiert allerdings den dramatischen Charakter der Leiden und der Sinnlosigkeit, denen die Kranken ausgesetzt sind, die auf einen so gearteten Dienst rekurrieren. Freilich müssen wir hier einschränkend hinzufügen, dass der begleitete Suizid und die freiwillige Euthanasie in den Bereich ethischer und moralischer Überlegungen fallen, die den Rahmen dieses Buches bei weitem sprengen. Gleichwohl gibt es eine von mehreren Autoren betonte Verbindung zwischen der Euthanasiebewegung und der für unsere Zeit charakteristischen Verleugnung des Todes. So behauptet der Soziologe Pascal Hintermeyer, dass „unsere Zeitgenossen […] sich mit der freiwilligen Euthanasie der Prüfung zu entziehen [suchen], die der Tod darstellt, indem sie die letzte Niederlage vorwegnehmen und auf das vorhersehbare Ergebnis einer Entscheidung reduzieren.“61 Die Frage der Kontrolle erweist sich als zentral, wenn wir die Debatten rund um die Euthanasie und den begleiteten Selbstmord verstehen wollen. Sie wirft aber auch Licht auf ein weiteres Paradox, das die Vorstellung von Autonomie selber betrifft. Dass man sich den Augenblick, zu dem man stirbt, aussuchen kann, wird fortan als Grundrecht begriffen, das eines juristischen Rahmens bedürfe. Gleichzeitig verkörpert sich das Ideal des schönen Tods heute in einem plötzlichen und bewusstlosen Verscheiden.62 Mit der Alterung der Bevölkerung und der Entwicklung der Sicherheitskontrollen nimmt indessen die statistische Wahrscheinlichkeit ab, plötzlich zu versterben.63 Denn im Gegensatz zum raschen und unerwarteten Tod, nach dem sich viele unserer Zeitgenossen sehnen, wird die Agonie heute länger und länger und kann sich sogar über Monate erstrecken. Demgegenüber scheint das Ideal eines bewusstlosen Todes, das sich eher im Einklang mit den aktuellen Verhältnissen befindet, das medizinische Vorgehen in großem Umfang beeinflusst zu haben. Unter der Zielsetzung, wie Paula La Marne meint, „eine Krise des Sterbens zu umgehen“, den Patienten und seine Umgebung ruhig zu stellen, ist die Sedierung der Sterbenden gängige Praxis geworden. Für diese Philosophin zeugt die Generalisierung der Sedierung am Lebensende von dem tiefen Unbehagen, das der Tod in unserer Gesellschaft auslöst. „Das durch die Einschläferung 61 62 63

Pascal Hintermeyer, „La mort consentie. Débats contemporains sur l’euthanasie“, in: La Mort et l’Immortalité, op. cit., S. 1047. Vgl. Allan Kellehear, A Social History of Dying, op. cit., S. 20. Zu diesem Thema siehe Tony Walter, The Revival of Death, op. cit.

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erzwungene Schweigen erstickt jegliche Frage. Auf dem Gesicht des Eingeschlafenen lässt sich keine intensive Suche nach dem Sinn mehr erkennen, nach jenem Sinn, den die Gesellschaft nicht mehr verleihen kann oder will und dessen Herstellung nicht in den Zuständigkeitsbereich der Medizin fällt.“64 Im Angesicht des Todes findet die Autonomie der Person ihren letzten Ausdruck also in dem Willen, mit medizinischen Mitteln in die Bewusstlosigkeit versetzt zu werden und so der Todesangst zu entfliehen.

Von der Würde zur Qualität: der biosoziale Tod Die Euthanasie – wörtlich der „gute“ oder der „glückliche“ Tod – reicht bis zur Antike zurück.65 Doch hat der Begriff seinen heutigen Sinn erst im 20. Jahrhundert erhalten, nämlich den einer medizinischen Herbeiführung des Todes mit dem Ziel, ein als nutzlos erachtetes Leiden abzukürzen oder einen als menschenunwürdig erachteten Zustand zu beenden. Historisch an die Eugenik geknüpft, wird die Euthanasie in den Dreißiger Jahren zum Spielball der Politik in den angelsächsischen Ländern, wo Bewegungen zu ihrer Durchsetzung entstehen.66 Dann allerdings hat der Nationalsozialismus mit seiner systematischen Vernichtung von psychisch kranken und behinderten Menschen einen finsteren und unheilvollen Schatten auf diese Praxis geworfen.67 Und doch ist trotz dieser schweren historischen Bürde die Euthanasie mit Einwilligung der Betroffenen seit einigen Jahren zum Symbol des Kampfes für das Recht auf ein Sterben in Würde geworden. Zwar sind die Tötung auf Verlangen und der begleitete Suizid in den meisten westlichen Ländern juristisch untersagt. Gleichwohl können diese Forderungen sich in der Tat auf die subjektive Autonomie berufen, die ihrerseits seitdem den Nimbus eines obersten Wertes trägt. So, wie es von den Verfechtern des Freitodes vertreten wird, geht das mit dem Prinzip der Würde des Menschen amalgamierte Konzept der Autonomie allerdings von

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Paula La Marne, Vers une mort solidaire, op. cit., S. 28. Vgl. ibid., S. 50f. Vgl. ibid., S. 45. Einen Überblick über die Euthanasiepolitik unter dem nationalsozialistischen Regime bietet der Artikel von Suzanne Heim, „De l’euthanasie’ à la solution finale“, Le Monde diplomatique, Mai 2005, S. 22f.

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einer Begriffsverwirrung aus, die auf ethischer und moralischer Ebene für Probleme ersten Ranges sorgt. Im Diskurs über das „Recht, in Würde zu sterben“, zeigt sich nämlich eine Umdeutung des Begriffs der Würde, die seinen ursprünglichen Sinn verfälscht.68 Als Grundlage der Menschenrechte und des kantianischen Humanismus ist die Würde in der neuzeitlichen Tradition eine der Person des Menschen innewohnende Qualität und prinzipiell unantastbar. Wenn „das Menschsein als solches Würde bedeutet“, so hängt diese in keiner Weise von der physischen oder psychischen Beschaffenheit eines Subjekts ab.69 Um es klar auszudrücken: Unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte verliert ein Subjekt, in welcher Verfassung auch immer es sich befinde, niemals seine Würde. So kann man also nur unter der Voraussetzung, dass die Würde auf eine individualistische und hedonistische Konzeption von Autonomie reduziert wird, von einem „Verlust der Würde“ bei Sterbenden und Uralten sprechen. Das Konzept der Lebensqualität bezieht sich, indem es die von der Freitod-Bewegung gepriesenen Werte in verkürzter Form übernimmt, direkt auf die gegenwärtige Neudefinition des Begriffs der Würde. So abstrakt und subjektiv sie auch sein mag: Die „Lebensqualität gewinnt letztlich“, wie Paula La Marne erläutert, „die Oberhand über die Unantastbarkeit des Lebens und setzt sich, als Zeichen unserer Zeit, in der medizinischen Welt immer mehr durch.“70 Was also ist Lebensqualität? Wenn wir der Freitod-Bewegung folgen, bedeutet sie die Möglichkeit, sich voll und ganz seiner Autonomie zu erfreuen. Abgesehen davon, dass eine solche Konzeption durch und durch relativ ist, stellt sie die subjektive Realität der Sterbenden und der Alten am Ende ihres Lebens nicht in Rechnung. Was sie erleben, mag vom Standpunkt eines jungen und völlig gesunden Menschen als Einbuße an Lebensqualität erscheinen, wird jedoch von den Betroffenen selber keineswegs zwangsläufig so interpretiert. Der relative Charakter des Begriffs der Lebensqualität erklärt denn auch zum Teil, warum „die Forderung nach Euthanasie […] massiv von vollkommen gesunden Personen als Wunsch für spätere Zeiten vorgetragen [wird]. Von den Schwerkranken selber wird sie kaum jemals

68 69 70

Vgl. Paula La Marne, Vers une mort solidaire, op. cit., S. 90 und Jacques Ricot, „La dignité du mourant“, in: Robert William Higgins et al., Le Mourant, op. cit. Vgl. Paula La Marne, Vers une mort solidaire, op. cit., S. 90. Ibid., S. 73.

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erhoben.“71 Doch auch wenn es zutrifft, dass „ein wirkliches Verlangen nach Tötung […] nicht gerade verbreitet ist“, sollten wir festhalten, dass die Freitod-Bewegung zu einer neuen Definition von Würde und Autonomie beiträgt, und sich gleichzeitig die Verhältnisse von Abhängigkeit, Isolierung und Leid, denen sterbende und alte Menschen ausgesetzt sind, immer weniger hinnehmen lassen.72 Vor dem Hintergrund der Neufestsetzung der Grenzen des Todes ist die Schranke zwischen „verordneter und gewollter Euthanasie […] unsicherer, als sie scheinen mag“, zumal dem biologischen Tod sehr oft ein biosozialer vorangeht.73 Insbesondere bei betagten Menschen, die in Heimen leben, tritt der physische Tod oft erst Jahre nach dem sozialen ein, d.h. nachdem sie aus ihrem sozialen Milieu herausgerissen wurden und ihren gesellschaftlichen Status verloren haben.74 In diesem Zusammenhang wird die Abgrenzung zwischen freiwilliger und erzwungener Euthanasie umso schwammiger, da das Gefühl, unnütz, entwertet und für die Angehörigen eine Last zu sein, von den Patienten häufig als Grund angegeben wird, ihre Tötung zu verlangen. Bekanntlich fluktuiert ein solches Anliegen „mit den Schwankungen von depressiven- und Schmerzempfindungen“, so dass fraglich ist, ob sich „wirklich von einem freien Willen oder von einer Entscheidung“ sprechen lässt, „wenn jemand unter dem Diktat des Schmerzes sterben will.“75 Hierzu meinen die Verfechter der Palliativbehandlung, dass eine verbesserte Qualität der Pflege und der Schmerzkontrolle sowie eine angemessene psychologische Unterstützung dem Lebensende wieder einen Sinn verleihen und die Tötungsforderungen verringern könnten. Diejenigen dagegen, die in der Euthanasie und im begleiteten Suizid Grundrechte sehen, erheben die Autonomie zu einem Wert ersten Ranges und vertreten einen sehr dehnbaren Begriff von Lebensqualität. In den Niederlanden, die für die liberalste Gesetzgebung in diesem Bereich bekannt sind, ist die freiwillige Euthanasie bei Patienten mit schwerer Depression erlaubt.76 Fließender noch wird die Definition der Lebensqualität, auf die die Verfechter der Tötung auf Verlangen 71 72 73 74 75 76

Patrick Baudry, La Place des morts, op. cit., S. 102. Auch Paula La Marne betont die Seltenheit realer Euthanasieforderungen bei Todgeweihten. Paula La Marne, Vers une mort solidaire, op. cit., S. 147. Pascal Hintermeyer, „La mort consentie. Débats contemporains sur l’euthanasie“, in: La Mort et l’Immortalité, op. cit., S. 1051. Vgl. Glennys Howarth, Death and Dying, op. cit., S. 118f. Paula La Marne, Vers une mort solidaire, op. cit., S. 147 und 65. Vgl. ibid., S. 56.

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sich berufen, wenn die Lebensbedingungen von Menschen beurteilt werden sollen, die nicht mehr in der Lage sind, ihren Willen zu äußern. Die Anerkennung des Hirntodes war, dies sollten wir uns ins Gedächtnis rufen, in großem Umfang an der Neudefinition der menschlichen Subjektivität beteiligt.77 Darüber hinaus behauptet Paula La Marne, dass „mit der neuen Definition des Todes, die an das Gehirn gebunden ist, […] sich die Person heute mehr denn je zuvor durch ihr Bewusstsein zu kennzeichnen [scheint]. Nun aber ist für die Neurowissenschaften das Bewusstsein kein allzu eindeutiges Konzept“.78 Wie der Begriff der Lebensqualität ist auch der des Bewusstseins schwerlich klar und präzise zu definieren. Trotzdem fließt der Bewusstseinszustand, der allgemein mit den kognitiven Fähigkeiten, namentlich dem Gedächtnis, gleichgesetzt wird, als eins der Hauptkriterien in die Definition der Lebensqualität ein. Nach diesen Postulaten verändert die Einbuße kognitiver Fähigkeiten – namentlich des Gedächtnisses – den Status der Subjektivität selber. So beweglich und dehnbar, wie sie von nun an sind, werden die Grenzen des Todes um eine neue Kategorie erweitert: die des biomedizinischen Todes.79 Von den wissenschaftlichen Kapazitäten als „Krankheit des Jahrhunderts“ präsentiert, als wahrhafte demografische Apokalypse, symbolisiert die Alzheimersche Krankheit bereits für sich allein genommen diese neue Kategorie von Toten.80 Die Demenz, der Verlust von Autonomie und die totale Abhängigkeit der von dieser Krankheit Betroffenen lassen sie als Inbegriff allen Übels erscheinen. „Lebende Leiche“, „Bestattung ohne Ende“, „Hölle und Verheerung“: Das sind die Begriffe, mit denen die Symptome der Alzheimerschen Krankheit im fortgeschrittenen Stadium beschrieben werden.81 In der Tat führt die heutige, ausschließlich auf den kognitiven Fähigkeiten basierende Vorstellung von Subjektivität dazu, dass man im Demenzkranken nicht nur einen lebenden Toten sieht, sondern darüber hinaus eine Unperson – von daher der Ausdruck, der Patient sei „nicht mehr da“, sei 77 78 79

80 81

Zu diesem Punkt siehe das dritte Kapitel. Paula La Marne, Vers une mort solidaire, op. cit., S. 66. Vgl. Annette Leibing, „Divided Gazes. Alzheimer’s Disease, the Person within, and Death in Life“, in: Annette Leibing und Lawrence Cohen (Hrsg.), Thinking about Dementia, op. cit., S. 248. Vgl. Sharon R. Kaufman, „Dementia-Near-Death and Life Itself“, in: Annette Leibing und Lawrence Cohen (Hrsg.), Thinking about Dementia, op. cit., S. 27. Vgl. Pia C. Kontos, „Embodied Selfhood. An Ethnographic Exploration of Alzheimer’s Disease“, in: ibid., S. 195-217.

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„schon abgetreten“.82 Wo man vom biosozialen Tod spricht, geht man davon aus, die der Subjektivität eigenen Dimensionen von Affektivität, Sensibilität und Kontaktfähigkeit hätten sich verflüchtigt. Vor dem Hintergrund, dass in der Welt der Biomedizin die Qualität des Lebens seinen ehrwürdigen Charakter verdrängt, können wir leicht erkennen, wie unsicher das Terrain einer verordneten Euthanasie ist. Etwas brutal, aber sehr anschaulich resümiert Robert William Higgins die dem Begriff des biosozialen Todes zugrunde liegende Logik: „Man kann ja niemanden töten, der schon tot ist, längst vor der Spritze sozial getötet wurde.“83 Die Verlagerung der Grenzen des Todes hat daher eine neue Kategorie von Individuen entstehen lassen, die nämlich biologisch am Leben, subjektiv aber tot sind. Wo die Autonomie und Lebensqualität sich mit Unabhängigkeits- und Leistungsidealen vermengen, wirft das Schicksal von Menschen im Zustand des biosozialen Todes zahlreiche Fragen auf. Die Begriffe von Autonomie oder Lebensqualität sind unzureichend, diese Fragen zu beantworten und den ethischen Rahmen der postmortalen Gesellschaft abzustecken. Denn in einer Gesellschaft, die nach „der Unsterblichkeit der Jungen und der Euthanasie der Uralten“ strebt, riskiert die Rückkehr des Todes auf die öffentliche Bühne die Auslösung eines Sturms der Entrüstung.84

Die Illusion der Steuerung oder das unmögliche Band Im Ergebnis mündet die geforderte Zulassung des selbst gewählten Todes in zunehmende biomedizinische Steuerung. Doch ist dies nicht die einzige für die postmortale Gesellschaft typische Aporie. Zweifellos abstrakter, aber tiefer gehend, tritt eine zweite hinzu, die an den Fundamenten des Gesellschaftsbandes rüttelt. In ihrem extremen Individualismus neigt die postmortale Gesellschaft letztendlich dazu, die „Abhängigkeit der Menschen voneinander“ zu negieren und zu bestreiten, „dass der Sinn alles dessen, was ein Mensch tut, in dem liegt, was er für andere bedeutet, und zwar nicht nur für die Gegenwärtigen, sondern auch für die Kommenden, also seine Abhän82 83 84

Annette Leibing, „Divided Gazes. Alzheimer’s Disease, the Person within, and Death in Life“, in: ibid., S. 259. Robert William Higgins, „Le sujet mourant. La mort en état d’exception“, in: La Mort et l’Immortalité, op. cit., S. 1095. Axel Kahn, „Une vie qui s’éternise, mort biologique et immortalité“, in: ibid., S. 1391.

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gigkeit von dem Fortgang der menschlichen Gesellschaft durch die Generationen hin.“85 Von der Geburt bis zum Tod ist menschliches Leben ohne dieses Band gegenseitiger Abhängigkeit überhaupt nicht denkbar, das den Zusammenhalt unter den Generationen im Verlauf der Geschichte gewährleistet. Mit der gegenwärtigen Neudefinierung der Subjektivität in Begriffen von Autonomie und Lebensqualität – als Unabhängigkeit und Leistungsfähigkeit verstanden – verdrängt der narzisstische Individualismus die kollektive Basis eines jeden individuellen Lebens. Indem die postmortale Freiheit mit einer unbegrenzten Ausweitung individueller Rechte und Vergnügungen gleichgesetzt wird, untergräbt sie die Fundamente eben der Institutionen, die ihre eigene Entfaltung ermöglicht haben. Wenn man den Status der Abhängigkeit eines jeden Menschen von seinem Kollektiv verneint, bestreitet man seine wahre Autonomie. Denn, wie Cornelius Castoriadis sehr treffend formuliert, „ein freies Individuum ist sich im Innersten bewusst, was es anderen schuldet. Und dies nicht nur im konkreten Sinn – dem Vater, der Mutter, den Lehrern und Freunden –, sondern in einem viel tieferen Verständnis: Wir sind sprechende Wesen, weil andere, weil die Menschheit die Sprache geschaffen hat. Wir können uns als denkend erleben, weil andere, unendlich viele, vor uns gedacht haben.“86 Das Bewusstsein des Todes, die Anerkennung der Endlichkeit offenbaren im Grunde jenen Zustand von Abhängigkeit, von dem aus die Subjektivität sich entfaltet. Den Tod zu kontrollieren, aus ihm eine rein individuelle Realität werden zu lassen, dieses Streben ist illusionär, denn der Tod ist nicht subjektiv. Vielmehr ist er die Grenze, die das Subjekt mit der Welt verbindet.87 Für den japanischen Denker Osamu Nishitani macht man sich bereits bei der Idee eines Freitods etwas vor. Denn beim Tod geht es „nicht um eine Handlung, sondern um ein Ereignis, das außerhalb unserer Reichweite liegt, um etwas, das von außen auf uns zukommt und über das wir keine Macht haben“; und „trotz seines Bedürfnisses nach Autonomie wird der Mensch vom Tode definitiv unabgeschlossen, unvollendet hinterlassen.“88 So ist es diese primordiale 85 86 87

88

Norbert Elias, Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, op. cit., S. 54 Cornelius Castoriadis, Sujet et Vérité dans le monde social-historique, op. cit., S. 148. Zu dieser Frage siehe Osamu Nishitani, „The Wonderland of ‚Immortality‘“, in: Richard F. Calichman (Hrsg.), Contemporary Japanese Thought, New York (Columbia University Press) 2005, S. 131-157. Osamu Nishitani, „Sécularité et traduction de la modernité au Japon“, Cahiers de la Villa Gillet, Sonderheft, Circé, Mai 1999, S. 109. Und vom selben Autor: „Georges Bataille et le mythe du bois: une réflexion sur l’impossibilité de mourir“, Lignes n° 17, Mai 2005, S. 53.

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Unfertigkeit, die physisch, so viel ist sicher, vor allem aber symbolisch die Menschen miteinander verbindet. Die Autonomie als der von der postmortalen Gesellschaft gepriesene Wert ist in ihrer Verwechslung mit einem Ideal von Unabhängigkeit an der Erosion des kollektiven Sinns des Todes beteiligt und, genau deshalb, des Gesellschaftsbandes, von dem jedes menschliche Dasein abhängt. Die wissenschaftliche Desozialisierung und Dekonstruktion des Todes nähren eine verkehrte Auffassung von Autonomie insofern, als sie die vollständige Abhängigkeit der Menschen von technowissenschaftlichen Maßnahmen und biomedizinischer Steuerung unterschlagen. Wenn wir in Betracht ziehen, in welch hohem Maße die gegenwärtige Definition der Subjektivität sich aus Vorstellungen speist, die der Kybernetik, den Neurowissenschaften und der Gentechnik entlehnt sind, können wir das Missverständnis besser einschätzen, auf dem die postmortale Gesellschaft beruht. Die Autonomie, wie sie sich heute darstellt, ist nur die zugespitzte Form eines Zustands von Abhängigkeit, der den westlichen Gesellschaften eigen ist und dessen Ursprung und Sinn den Menschen vollkommen entgeht. Diesen Gedanken bringt Paul Yonnet perfekt auf den Begriff: „Historisch und praktisch ist die Autonomie also die Weise, in der sich die Abhängigkeit der Menschen gegenüber der Macht und der Komplexität vertieft. Dieser Wechsel des Maßstabs erfolgt nicht ohne Gegenleistung, er ist von ihnen gewollt. Im tiefsten Sinn ist die Autonomie ein Gleitmodul zur Verschiebung der Abhängigkeit vom einen Stadium ins andere, von einer Dimension zur nächsten“.89 Angesichts der belastenden Rückkehr des Todes, die sich mit der Alterung der Bevölkerung ankündigt, wird die Aporie, die dem Ideal der Autonomie zugrunde liegt, auf eine harte Probe gestellt. Diese Konfrontation kann die historische Gelegenheit bieten, die demokratischen und symbolischen Grundlagen des Zusammenlebens neu zu definieren oder aber, sofern man weiter in der Illusion der biomedizinischen Steuerung versinkt, die Eingangspforte zur Postmortalität auftun.

89

Paul Yonnet, Le Recul de la mort, op. cit., S. 407.

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Ende des Lebens, Lauf der Welt: die Transformation der Lebensalter Vierzig Jahre nach den Heldentaten ihrer verwöhnten Jugend, derer so oft gedacht wurde, erreichen die Achtundsechziger heute das Rentenalter. Diese Generation, Apostel der freien Liebe und des Verbots der Verbote, „die sich einem Jugendkult hingegeben hatte, ist nun ins Alter gekommen.“90 Als erste Alterskohorte, die mit den Wohltaten der öffentlichen Gesundheitssysteme und der Konsumgesellschaft aufgewachsen war, kommen die BabyBoomer im Rentenalter mit dem Vorhaben an, eine zweite Jugend zu erleben, sich mit Macht ins schöne Lebensalter zu drängen, kurz: sich als „Sexyger“91 zu fühlen. Getragen von der Verheißung eines langen Lebens bei guter Gesundheit, hat diese Nachkriegsgeneration die Transformation der Lebensalter in Gang gesetzt, die für die postmortale Gesellschaft charakteristisch ist. In ihrem Streben nach endloser Jugend hat sie ihr demografisches Gewicht in die Waagschale geworfen und an der Entstehung einer Kultur mitgewirkt, die auf das Ich und die Suche nach neuen Erfahrungen ausgerichtet ist – zugleich mit einer radikalen Verwerfung elterlicher Autorität und Tradition. In ihrer Empfänglichkeit für die verjüngenden Qualitäten der Anti-Aging-Wissenschaft haben die Baby-Boomer die Werte Genuss und Neuheit aufrechterhalten, die ihre Jugend doch so beglückt hatten. Bis zu dem Punkt, dass „die Jugend nachzuäffen […] heutzutage die sicherste Methode der Verjüngung [scheint]. Früher haben die jungen Leute die Erwachsenen imitiert, heute sind es letztere, die mit der Zeit gehen und aus den Lektionen der Jüngeren lernen wollen.“92 Ohne denen böse Absichten zu unterstellen, die erstmalig mit dem Mythos eines endlosen Lebens aufgewachsen sind, sollten wir doch mit Paul Yonnet festhalten, dass es „nicht mehr der Alte von gestern [ist], der altert, sondern ein junger Zeitgenosse, der in dem Gefühl erzogen ist, ‚dass es so schnell nicht passiert‘, dass man noch viel Zeit hat, daran zu denken, ein junger Mensch also […], der absolut 90 91

92

Meta Wagner, „La ‚génération d’après‘ vous envie et vous en veut“, Courrier international n° 894f., 20. Dezember 2007-1. Januar 2008, S. 62. Ein von Jacques Véron, L’Espérance de vivre, op. cit., S. 132, übernommener Ausdruck. Anm. d. Übers.: Im Französischen lautet dieser Ausdruck „les sexygénaires“; es handelt sich um ein Wortspiel mit dem Begriff der „sexagénaires“, d.h. der Altersgruppe von 6069 Jahren. Lucian Boia, Quand les centenaires seront jeunes, op. cit., S. 202.

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nicht auf das Altern vorbereitet wurde.“93 Wie soll diese Generation der eigenen Endlichkeit begegnen, wo sie doch mit der Hoffnung in die Welt trat, das Sterben lasse sich in immer weiter entfernte Horizonte drängen? Wie soll sie auf die Rückkehr des Todes reagieren? Welches politische Gewicht wird sie in den Debatten über den Freitod ausüben, welchen wirtschaftlichen Wert wird sie für die Entwicklung der Regenerationsmedizin und der Anti-Aging-Behandlungen darstellen? Worin wird letztendlich das wirkliche kulturelle und politische Erbe bestehen, das diese erste Generation von alt gewordenen Jungen hinterlässt? Es ist viel zu früh, hierauf zu antworten. Erst die noch offene Geschichte der künftigen Welt wird das Testament dieser Männer und Frauen zeigen. Einige aktuelle Tendenzen aber lassen uns bereits jetzt erahnen, was in der postmortalen Gesellschaft auf dem Spiel steht. Als Kinder des demografischen Wandels haben die unmittelbar nach dem Krieg Geborenen erlebt, wie ihre Lebenserwartung im Gleichschritt mit den Versprechungen von persönlicher Freiheit und Emanzipation stieg, namentlich im Hinblick auf die Pluralisierung der familiären Strukturen. Die sexuelle Befreiung, der Feminismus und die Anti-Baby-Pille, welche die Dekonstruktion der traditionellen Familie entscheidend vorantrieben, begünstigen eine neuartige demografische Struktur: mit Sterberaten, die sich statistisch auf ein fortgeschrittenes Lebensalter verlagerten, und niedrigen Geburtenraten, die in einem Großteil der westlichen Länder nicht einmal die Schwelle zu einer konstanten Bevölkerungszahl erreichten.94 Kulturell hat dieser demografische Wandel in hohem Maße an der Verschiebung der Altersgruppen mitgewirkt bis dahin, dass die zeitlichen Markierungen, die in einer jeden Gesellschaft den Übergang von einer Generation zur nächsten anzeigten, sich vollständig verwischten. In Verbindung mit der Aufwertung des Lebens als solchem zeugt übrigens auch die gegenwärtige Definition der soziopolitischen Streitfragen in den Begriffen der Generation von der laufenden kulturellen Umwälzung.95 Ordnungsgemäß programmiert, werden die „Wunschkinder“ fortan unter einem Lebenshorizont geboren, den vor ihnen keine Generation kennen gelernt hat. Geboren werden sie aber auch mit der Bürde, ihren Platz in einer Welt zu finden, in der die Sicherheitskontrollen, die Renten und die 93 94 95

Paul Yonnet, Le Recul de la mort, op. cit., S. 231. Hier beziehe ich mich auf die von Paul Yonnet (ibid.) entwickelte übergreifende These. Zu diesem Thema siehe Karin Knorr Cetina, „The Rise of a Culture of Life“, op. cit.

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technowissenschaftliche Suche nach einer Langlebigkeit ohne Ende einen Großteil der öffentlichen Sphäre beanspruchen.96 So behauptet Marcel Gauchet in einem Artikel zur Neudefinition der Lebensalter: Die „öffentliche Bühne der Zukunft ist auf dem besten Weg, mit der Entpolitisierung der Jungen und der Politisierung des Alters besetzt zu werden.“97 Welchen Platz wird man den kommenden Generationen lassen? Diese Frage nämlich steht in der postmortalen Gesellschaft zuvorderst auf dem Spiel. Die Verlängerung der Lebenserwartung und die Verringerung der Geburtenrate haben das demografische Gewicht der jungen Menschen in den fortgeschrittenen westlichen Gesellschaften beträchtlich geschmälert. So paradox dies erscheint: Auf kultureller Ebene geht das Altern der Bevölkerung mit einer Überbewertung der Jugend und einer systematischen Entwertung des Alters einher. In einem noch fundamentaleren Sinn drohen die biomedizinische Dekonstruktion des Todes und die Anti-Aging-Medizin mit ihrer Verheißung eines Lebens ohne Ende die Leitlinien des menschlichen Daseins außer Kraft zu setzen. Als linear und dehnbar begriffen, stellt sich das Leben aus der Perspektive der Lebensverlängerungsbewegung als eine Reihe austauschbarer Momente und Erfahrungen auf einer zeitlichen Geraden dar, die in miteinander identische Einheiten zerlegbar wäre.98 Nun aber entspricht das menschliche Leben in keiner Weise dieser fiktiven Zeitlichkeit. Vielmehr fügt es sich in einen Zyklus ein, der mit der Geburt in Gang gesetzt wird und sich über eine Reihe von Etappen entfaltet, die körperlichen, subjektiven und sozialen Veränderungen entsprechen. Der Tod schließt dann diesen individuellen Lebenszyklus, indem er symbolisch den Weg für die Verkettung der Generationen freigibt.99 Sofern das Bewusstsein dieses Lebenszyklus wach gehalten wird, gewinnt das Alter als eine Zeit von Bilanz und Weitergabe seinen Sinn als die der letzten Reise vorangehende Etappe. Die lineare Vorstellung von einem theoretisch unbegrenzten Leben dagegen zieht nicht nur die Entwertung des Alters nach sich, sondern vermittelt darüber hinaus ein Gefühl von Sinnlosigkeit.

96 97 98

99

Vgl. Marcel Gauchet, „L’enfant du désir“, op. cit., S. 101. Marcel Gauchet, „La redéfinition des âges de la vie“, op. cit., S. 33. Vgl. Leon Kass in The President’s Council on Bioethics, Beyond Therapy: Biotechnology and the Pursuit of Happiness, Kapitel IV, „Ageless Bodies“. Online: http://www. bioethics.gov/reports/beyondtherapy/chapter4.html (abgerufen im Oktober 2007). Vgl. ibid.

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Zum Altersschreck der postmortalen Gesellschaft gesellt sich die Verweigerung von Kindern, d.h. die Negierung der Generationenfolge. Hier trifft Marcel Gauchet den Punkt, wenn er behauptet, dass „die Gesellschaft, die das Wunschkind an vorderste Stelle rückt, […] objektiv eine Gesellschaft [ist], die das Kind ablehnt“.100 Wie die Entwicklung der Empfängnisverhütung und der künstlichen Befruchtung, die Embryonenselektion oder erst recht die Forschungen zur künstlichen Gebärmutter zeigen, gerät die Geburt heute, genauso wie der Tod, ins Visier der biomedizinischen Kontrolle. Nicht nur, dass die über alles begehrten Kinder, die nun zur Welt kommen, sich keinem genealogischen Vorher oder Nachher mehr einfügen: Sie werden zum Objekt einer existenziellen „Erfahrung“ ihrer Eltern. Welche psychischen, sozialen und kulturellen Konsequenzen wird diese neue Art und Weise haben, in der diese Kinder zur Welt kommen?101 Auch hier wiederum ist es zu früh für eine Antwort. Die Absage an Kinder zeigt sich in der Zunahme von Personen, die aus unterschiedlichen Gründen ihr Leben ohne Nachkommen gestalten wollen. Und bei denen, die sich dann doch für die Adoption oder Erzeugung eines Kindes entscheiden, weitet sich der kinderlose Lebensabschnitt immer mehr aus: Die erste Geburt oder Adoption ereignet sich heute „durchschnittlich in einem Alter, das überhaupt zu erreichen der Mensch über Jahrtausende nicht hoffen konnte“.102 Hier kann es nicht darum gehen, die Absage an ein Kind moralisch zu bewerten, die in unserer Welt vielmehr völlig legitim ist. Wichtig aber erscheint der Hinweis darauf, dass diese Tendenz von politischen Strömungen wie der Lebensverlängerungsbewegung untermauert wird. Deren Sichtweise wird von Christine Overall präzise zusammengefasst: „Die alten Menschen stehen nicht schon deshalb in der Pflicht zu sterben, weil sie einem neuen Platz machen sollten.“103 Vor einem solchen Hintergrund scheint es unvereinbar mit den Werten Genus und persönliche Entfaltung zu sein, zu sparen, um den Kindern ein Erbe zu hinterlassen.104 Angesichts 100 101 102 103 104

Marcel Gauchet, „L’enfant du désir“, op. cit., S. 109. Zu dieser Frage siehe die beiden bereits zitierten Artikel von Marcel Gauchet und das Buch von Paul Yonnet. Paul Yonnet, Le Recul de la mort, op. cit., S. 299. Christine Overall, Aging, Death, and Human Longevity, op. cit., S. 139. Gegen Ende der Neunziger Jahre zeigte ein amerikanischer Bestseller, wie man seine finanziellen Ressourcen im Laufe seines Lebens am besten nutzt, um beim Tod nichts zu hinterlassen. Vgl. Stephen M. Pollan und Mark Levine, Die Broke. A Radical Four-Part Financial Plan, New York (Harper Collins) 1997.

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eines theoretisch unbegrenzten Lebens verliert es in der Tat seinen primären Sinn, dass Kinder geboren werden, um das Leben derer fortzusetzen, die uns vorangegangen sind. Ähnlich argumentiert der Soziologe Christopher Lasch: „Der Gedanke, daß wir stellvertretend in unseren Kindern fortleben (und im weiteren Sinne in den kommenden Generationen), versöhnt uns damit, daß wir selbst beiseite treten müssen. […] Wenn die Perspektive der Ablösung durch die nächste Generation – die natürliche Folge der Elternschaft – unerträglich wird, so nimmt Elternschaft beinahe die Form von Selbstzerstörung an.“105 Auch sollten wir hier die Ausführungen von Hans Jonas zur Suche nach einem technisch unbegrenzten Leben nicht außer Acht lassen: Wenn „wir den Tod abschaffen, müssen wir auch die Fortpflanzung abschaffen, denn die letztere ist des Lebens Antwort auf den ersteren, und so hätten wir eine Welt von Alter ohne Jugend, und von schon bekannten Individuen ohne die Überraschung solcher, die nie zuvor waren.“106 Wenn, wie Hannah Arendt uns so deutlich in Erinnerung ruft, politisches Handeln nur möglich ist, sofern Kinder geboren werden, sofern nämlich die Welt von einer Generation zur nächsten neu überdacht werden kann,107 stellt sich die Frage, welche politische Zukunft uns die postmortale Gesellschaft bescheren wird. Aber auch hier wiederum ist es zu früh für eine Antwort. Im Maßstab der Menschheitsgeschichte, dieser unendlichen Kette von Lebenden und Toten, ist nie etwas im Vorhinein festgelegt. Das Schicksal der postmortalen Gesellschaft ist noch nicht besiegelt, nicht mehr zumindest als der weitere Lauf der Welt.

105 106 107

Christopher Lasch, Das Zeitalter des Narzißmus, op. cit., S. 235f. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die Technologische Zivilisation, Frankfurt (Suhrkamp) 2003, S. 49. Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, op. cit.

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Schluss „Keiner sieht jemals den Tod, keiner erblickt jemals das gesicht des Todes, keiner vernimmt jemals die stimme des Todes, den grausamen Tod, den schnitter der menschheit. Und trotzdem gründen wir weiter einen hausstand, und trotzdem gehen wir weiter unsere verpflichtungen ein, und trotzdem teilen brüder weiter ihr erbe auf, und trotzdem entstehen weiter zwistigkeiten im land. Und trotzdem ist der fluß weiter gestiegen und hat uns überflutet, wie die eintagsfliege, die im wasser treibt.“ Gilgamesh-Epos

Eine immer tiefer eingreifende biomedizinische Steuerung und eine astronomische Summen verschlingende experimentelle Forschung: Um diesen Preis streben die Reichen dieser Welt verzweifelt danach, die Zeichen der Zeit aufzuhalten und mit allen Mitteln die endgültige Niederlage hinauszuschieben, während die große Mehrheit der Menschen auf demselben Planeten tagtäglich um das Überleben ihrer Kinder kämpft. Hungersnöte, Kriege, Epidemien sind das Los derer, die angesichts ihrer Lebensbedingungen nicht einmal davon träumen können, unser Rentenalter zu erreichen. Von wachsender Bedeutung für die globalisierte Wirtschaft lässt das Biokapital – d.h. die Vermarktung von Organen, Geweben, Zellen, Genen von Menschen und anderen Gattungen – eine neue Form von Herrschaft und Ungleichheit erahnen, und dies sowohl im Welt- als auch im nationalen Maßstab. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung und zu den biomedizinischen Spitzentechniken wird wahrscheinlich eins der sensibelsten sozialpolitischen Themen in den nächsten Jahrzehnten sein. Worauf dies hinausläuft, ist schwer zu sagen, zumal die Statistiken ankündigen, die Lebenserwartung in guter gesundheitlicher Verfassung könne sich bei den kommenden Generationen aufgrund einer Konsumhaltung verkürzen, die einen ständig wachsenden Teil der jungen Menschen und Kinder adipös und körperlich inaktiv

183 C. LAFONTAINE, DIE POSTMORTALE GESELLSCHAFT, DOI 10.1007/978-3-531-92063-4_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010

werden lässt.1 Die Verleugnung des Todes, so viel lässt dieses triste Bild erkennen, schwächt mitnichten seinen Einfluss auf die Organisation des gesellschaftlichen Lebens; seine Präsenz wird, ganz im Gegenteil, umso aufdringlicher, als er an Sinn verliert. Die kritische Analyse des gegenwärtigen Verhältnisses zum Tod könnte insofern deplatziert erscheinen, als sie von dem Schmerz, der Sinnsuche, der Angst und dem Elend Abstand nimmt, mit denen Ärzte und Krankenschwestern wie überhaupt alle konfrontiert sind, die tagein tagaus für Kranke, Greise und Sterbende sorgen. Deshalb sollten wir daran erinnern, dass es sich hier um eine soziologische Studie handelt, die von daher ausschließlich gesellschaftliche Tendenzen ans Licht zu heben beansprucht. Nicht nur lässt ein solcher Ansatz die ungeheure Vielfalt der konkreten Probleme beiseite, die sich an den Tod und das Sterben heften, sondern er schöpft aus sich selbst heraus keinerlei Recht, ein Urteil über Praktiken und Verhältnisse zu fällen, die außerhalb seiner Reichweite liegen. Dies bedeutet, dass die bei dieser „Kartografie der Gegenwart“ auftauchenden Fragen früher oder später in einem kollektiven Rahmen zu stellen sind.2 Allerdings lässt sich nicht übersehen, dass diese Untersuchung, bei der es um das gegenwärtige Verhältnis zum Tod geht, die eine große Frage fast völlig auslässt: den Selbstmord, obwohl dieser doch seit Durkheim einen zentralen Platz in der Soziologie belegt. Er nämlich ist der finstere Schatten der postmortalen Gesellschaft. Als ultimative Regung derer, für die das Leben nur noch Verzweiflung bedeutet, beendet der Suizid ein existenzielles Leiden, das durch kein Mittel gelindert werden konnte. In einer Welt, in der man bemüht ist, die Zeichen des Zustands fundamentaler Abhängigkeit ihrer Bürger zu verbergen, führt der Selbstmord der Jungen und der Alten in grausamer Form die Zerbrechlichkeit der Menschen gegenüber der Sinnleere vor Augen, die dem Dasein kollektiv aufgenötigt wurde. In eine Langlebigkeit hineingeboren, die sich unablässig ausdehnt, sind die jungen Menschen heute voller Erwartungen hinsichtlich der Teilnahme an einem aktiven Leben, und doch verlängert sich ihre soziale Bevormundung immer weiter. Der Graben, der sich damit zwischen ihrer biologischen und ihrer sozialen Reife auftut, erweist sich im Verlauf ihres Lebens als Klippe, mit 1

2

Vgl. Louise-Maude Soucy, „Obésité: les enfants vivront moins vieux que leurs parents“, Le Devoir, 28. März 2007. Online: http://www.ledevoir.com/2007/03/28/137196.html (abgerufen im Dezember 2007). Vgl. Nikolas Rose, The Politics of Life Itself, op. cit.

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deren Überwindung der eine oder andere überfordert ist.3 Im Spektrum der postmortalen Gesellschaft begegnen wir an seinem Gegenpol isolierten und kranken Greisen, die in dem Gefühl, nutzlos und eine Last zu sein, den Entschluss fassen, sich vor der Zeit zu entziehen. Durchaus wird manch ein Verfechter des Freitodes ein solches Handeln mutig und würdevoll finden. In einer Gesellschaft jedoch, die davon träumt, die Schranken der Zeit zu durchbrechen, verkörpert es nur Scheitern und Hoffnungslosigkeit. Diese finsteren Betrachtungen aber sollten uns nicht davon abhalten, auch die positiven Seiten der Aufwertung des individuellen Lebens ins Auge zu fassen als eines Ideals, das noch in keiner Gesellschaft vor der unsrigen so weit vorangetrieben wurde. Der Tod ist, ebenso wie das Leben, Sache des Individuums. Als Erbe aus dem Christentum ist die Erhebung des individuellen Lebens zum obersten Wert eine der Ursprünge der modernen Demokratie. Historisch nämlich hat der Glaube an die Unsterblichkeit eines jeden individuellen Lebens die Anerkennung der politischen Autonomie des Subjekts begründet, wie Hannah Arendt treffend anmerkt: „Jedenfalls mußte diese christliche Todlosigkeit der Person nicht nur zu der Akzentverlagerung auf eine erhoffte jenseitige Welt, sondern […] in eins damit auch zu einer außerordentlichen Steigerung der Relevanz des diesseitigen Lebens führen. Entscheidend hierfür ist, daß das Christentum stets großes Gewicht darauf gelegt hat, daß das Leben, dem es Unsterblichkeit und also Endlosigkeit verhieß, mit einer Geburt auf Erden anfängt.“4 Als Grundwert der postmortalen Gesellschaft ist das individuelle Leben heute vom Zusammenbruch seines demokratischen Fundaments bedroht, das ihm die Durchsetzung und Entfaltung ermöglicht hatte. In dem Versuch, sämtliche hinderlichen sozialen und kulturellen Fesseln zu sprengen, gibt sich das heutige Individuum der Illusion seiner Allmacht hin. Indem es das Band, durch das es mit der Gesamtheit der Lebenden und der Toten verknüpft ist, bis hin zur schlichten Negierung verdrängt, vergisst dieses Individuum zum Schluss, dass seine Autonomie nur möglich ist, wenn es die tatsächliche Abhängigkeit anerkennt, der es seine Existenz verdankt. Die Ausblendung dieser Realität des menschlichen Daseins begünstigt einen Abzug der Interessen aus dem öffentlichen Raum, da ein jeder sein Schicksal vorgefestigten Strukturen übergibt, auf die er nur sehr wenig 3 4

Zur Frage des Suizids junger Menschen und der Wandlungen im Lebenslauf siehe Paul Yonnet, Le Recul de la mort, op. cit., S. 365. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, op. cit., S. 402.

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Einfluss hat. Denn wir sollten uns daran erinnern, dass das Individuum heute seine relative Autonomie einem breiten technowissenschaftlichen Aufgebot schuldet, das dazu tendiert, seine politische Autonomie zu gefährden. Wenn dieses Individuum sich fortan dem Tod allein gegenübersieht, verliert es leicht aus dem Auge, dass dieser in der Welt des Menschen niemals ein endgültiger Schlussstrich ist, sondern für die nachfolgenden Generationen das Fenster zur Zukunft. Dies insbesondere hatte wie Hannah Arendt uns in Erinnerung ruft, die christliche Tradition durchaus begriffen, ist ihr politisches Erbe doch voll und ganz in jener frohen Botschaft aufgehoben: „Ein Kind ist uns geboren.“ So wenig zahlreich sie auch sein mögen, sind sie doch Quellen von Hoffnung, und um diese Kinder willkommen zu heißen, müssen die Alten von morgen ihrerseits zu Zukunftsträgern werden.

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