Novalis und die Wissenschaften (Schriften Der Internationalen Novalis-Gesellschaft) (German Edition) 3484107413, 9783484107410

Die Auseinandersetzung mit den Wissenschaften ist für das Werk von Novalis konstitutiv gewesen. Kaum ein zweiter Autor d

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Novalis und die Wissenschaften (Schriften Der Internationalen Novalis-Gesellschaft) (German Edition)
 3484107413, 9783484107410

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Novalis und die Wissenschaften

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Schloß Oberwiederstedt

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Novalis und die Wissenschaften Herausgegeben von Herbert Uerlings

W Max Niemeyer Verlag Tübingen 1997 Brought to you by | University of Sydney Authenticated Download Date | 1/15/18 8:52 PM

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Schriften der Internationalen Novalis-Gesellschaft, Bd. 2

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme

Novalis und die Wissenschaft: hrsg. von Herbert Uerlings. — Tübingen : Niemeyer, 1997 NE: Uerlings, Herbert [Hrsg.}

ISBN 3-484-10741-3 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort: Herberc Uerlings

..-..-. - 220er

Zum Geleit: Hans-Joachim Mähl . ....

2...

2.222

2220.

Herbert Uerlings

Novalis und die Wissenschaften. Forschungsstand und PerspekUÜVEN

Sonn

Gabriele Rommel Novalis’ Begriff vom Wissenschaftssystem als editionsgeschichtliches Problem .... 2.22: 222 mannernn. John Neubauer Das Verständnis der Naturwissenschaften bei Novalis und Goethe

49

Dietrich von Engelhardt Noralis im medizinhistorischen Kontext.

. . -.-. ..

2:2...

Ulrich Stadler Zur Anthropologie Friedrich von Hardenbergs (Novalis).

. . . .

Dennis F. Mahoney

Hardenbergs Naturbegriff und -Darstellung im Lichte moderner Chaostheotien. . .. -. 222mm

107

Fergus Henderson Romantische Naturphilosophie. Zum Begriff des »Experiments« bei Novalis, Ritter und Schelling. -.. .... 2 22000.

I2ı

Manfred Engel »Träumen und Nichtträumen zugleich«. Novalis’ Theorie und Poetik des Traumes zwischen Aufklärung und Hochromantik . .

143

Daniel Lancereau

Novalis und Leibniz

. . 2:

Common

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vl

Inhaltsverzeichnis

Friedrich Strack Novalis und Fichte. Zur bewußtseinstheoretischen und zur moral-

philosophischen Rezeption Friedrich von Hardenbergs.

. . . .

193

.......

213

Gerhard Schulz Novalis’ Erotik. Zur Geschichtlichkeit der Gefühle Klaus Peter Novalis, Fichte, Adam

rung und Romantik.

Müller.

....::

Zur Staatsphilosophie

2:2.

Hmm

in Aufklä-

nennen

239

Ira Kasperowski Novalis und die zeitgenössische Geschichtsschreibung. Zum Bild des Mictelalters im Heinrich von Ofterdingen< ......... Nobuo Ikeda Novalisrezeption in Japan.

.....

> Sr nme

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Verwort

Der vorliegende Band dokumentiert die erste Fachtagung der Internationalen

Novalis-Gesellschaft.

Sie

fand

vom

29.9.-2.10.1994

in

der

For-

schungsstätte für Frühromantik auf Schloß Oberwiederstedt scatt und war dem Thema >Novalis und die Wissenschaften: gewidmet. Die Tagung wäre nicht zustandegekommen ohne die tätige Michilfe der Forschungsstätte für Frühromantik. Für ihre Bereitschaft, dafür über einen längeren Zeitraum hinweg bis an die Grenzen des Zumutbaren und darüber hinaus zu arbeiten, sei der Leiterin der Forschungsstätte,

Frau Dr.

phil. habil. Gabriele Rommel, und ihren Mitarbeiterinnen noch einmal nachdrücklich gedankt. Herzlicher Dank gebührt außerdem Sophia Vietor, Hamburg, für ihre Diskussionsmitschriften, Gertrud Hoffmann, Trier, für ihre Mitarbeit bei

der Transkription der Tonbänder und der Erstellung der Druckvorlage und vor allem Herrn Dr. Johannes Endres, Trier, für die Mühen der Korrektur. Ohne finanzielle Unterstützung hätte die Internationale Novalis-Gesell-

schaft ihre erste Fachtagung nicht in der Form, in der sie dann stattfand, durchführen können. Für die großzügige Förderung ist sie der DFG und dem Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes SachsenAnhalt zu Dank verpflichter. Aus den Werken Friedrich von Hardenbergs wird in den Beiträgen dieses Bandes zitiert nach: Novalis. Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Begründer von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Hrsg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit

mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. 3., nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage in vier Bänden mit einem Begleitband. Stuttgart, Bd. ı: 1977, Bd. 2: 1981, Bd. 3: 1983. Bd. 4 wird nach der

2. Aufl. 1975, Bd. 5 nach der ı. Aufl. 1988 zitiert. Die Zitatnachweise erfolgen im laufenden Text in runden Klammern nach dem

Muster (Bandzahl, Seite: Nr. einer Aufzeichnung).

Trier, den 26. Juli 1995

Herbert Uerlings

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Zum

Geleit

Die Internationale Novalis-Gesellschaft, in deren Schriftenreihe der vorlie-

gende Tagungsband erscheint, wurde am 2. Mai 1992, dem 220. Geburtstag des Dichters, im Schloß Oberwiederstedt (Sachsen-Anhalt) gegründet.

Novalis, nach heutigem Urteil der bedeutendste Dichter und Denker der deutschen Frühromantik, fiel in der ehemaligen DDR bekanntlich über Jahrzehnte hinweg unter das Verdikt eines Schwärmers und Reaktionärs, und so kam dem Gründungsakt in seinem Geburtshaus, zu dem sich Mit-

glieder aus den alten wie aus den neuen Bundesländern gleichermaßen zusammenfanden, auch eine kulturpolitische Bedeurung zu. Unsere Gesellschaft fühle sich dabei dankbar verpflichtet dem Einsatz mutiger Wiederstedter Bürger aus der Zeit noch vor der Wende, ohne den es das Schloß, den heutigen Sitz der Gesellschaft und einer Forschungsstätte für Frühromantik, nicht mehr gäbe: Dieser regionale Wurzelgrund, aus dem die Gesellschaft erwachsen und hervorgegangen ist, nämlich die vielfältigen Initiativen am Ort Wiederstedt und im Mansfelder Land, die dem Erhalt und der Restaurierung des bereits zum Abriß bestimmten Schlosses galten, sollten nicht in Vergessenheit geraten und werden daher

auch durch die Wahl unseres Tagungsortes bei den jährlich stattfindenden Mitgliederversammlungen dankbar unterstrichen. Die Zahl unserer Mitglieder ist seit der Gründung der Gesellschaft ständig angewachsen und umfaßt mittlerweile über 300 Personen aus insgesamt

ı7

Ländern,

darunter

führende

Romantikforscher

aus aller Welc.

Auch bedeutende Institutionen sind der Gesellschaft bereits beigetreten, so die Eichendorff-Gesellschaft oder die Friedrich-Schiller-Universitär Jena. Die Gesellschaft will nach den in ihrer Satzung festgelegten Aufgaben und Zielen die Auseinanderseczung mir dem Werk und der Persönlichkeit

Friedrich von Hardenbergs fördern und einer weiteren Öffentlichkeit Anregungen zur Beschäftigung mit ihm geben. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten soll sie die Erforschung des Werkes und der Biographie sowie die Sammlung von Novalis-Dokumenten unterstützen und sich an der Erhal-

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X

Zum Geleit

tung und Pflege der Wirkungsstätten von Novalis und anderen Künstlern der Romantik

in der sächsisch-anhaltinischen Region

beteiligen. Durch

ihre Veranstaltungen, die Vorträge, Ausstellungen, Lesungen, Exkursionen umfassen, will sie auf die Bedeutung des Dichters im Kontext der Frühroınantik für die Gegenwart aufmerksam machen. Diese Ziele sind in den zurückliegenden drei Jahren uncer lebhafcer Resonanz in der Öffentlichkeit und mit Unterstützung durch staatliche Stellen und private Stiftungen verfolgt und in ersten Schritten richtungsweisend verwirklicht worden: Die Bemühungen um den Wiederaufbau des Schlosses Oberwiederstedt und die Rettung der vom Verfall bedrohten Schloßkirche wurden in Zusammenarbeit mit dem Kuratorium »Novalis Geburtshaus« weitergeführt; in der Forschungsstätte wurde mit der Sammlung aller, über viele Orte und Länder verstreuten Handschriften von Novalis in Form von Filmen und Photokopien sowie mit dem Aufbau einer Bibliochek begonnen, die alle aus den Lekrürenotizen und Bücherli-

sten des Autors zu erschließenden Werke des zeitgenössischen Schrifttums sammelt und zu einer »imaginären Bibliothek« zusammenstellt; bei den jährlichen Festveranstaltungen standen neben wissenschaftlichen Vorträgen auch Ausstellungen der modernen bildenden Künste, musikalische Darbie-

tungen aus der Zeit der Romantik, Lesungen romantischer Texte und Exkursionen zu den Wirkungsstätten Hardenbergs und anderer Romantiker im Mittelpunkt des Programms. Erstmals wurde im Herbst 1994 mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft auch eine wissenschaftliche Fachtagung

unter dem

Leitthema >Novalis und die Wissenschaften in Schloß Oberwiederstedt veranstaltet, für deren gedankliche und organisatorische Vorbereitung wir unserem Präsidiumsmitglied Herbert Uerlings zu besonderem Dank verpflichter sind. Es war das erste Mal in der Geschichte der Romantikforschung, daß unserem Autor überhaupt eine eigene Konferenz gewidmet wurde

— wenngleich Novalis in allen Romantik-Kongressen

der letzten

beiden Jahrzehnte natürlich irmmer schon eine zentrale Rolle gespielt hat. Das Leitthema erklärt sich aus der Tatsache, daß kein zweiter Autor der Romantik

sich so gründlich

und

vielseitig mit

den

unterschiedlichsten,

auch naturwissenschaftlichen Disziplinen beschäftigt und Entwürfe zu einer romantischen »Enzyklopädistik«, einer Universalwissenschaft vorgelegt hat. Die von ihm hinterlassenen Studien und Fragmente zielen damit auf eine der kühnsten Ideen, die in der deutschen Geistesgeschichte auftauchen, und umfassen eines der bedeutendsten Dokumente des frühromantischen Geistes um 1800.

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Zum Greleit

xl

Das Konzept bot, wie dem vorliegenden Band zu entnehmen ist, Raum für eine breite Auffächerung höchst interessanter Einzelthemen. Der in der Satzung festgelegte internationale Charakter unserer Gesellschaft wurde durch die Tatsache unterstrichen, daß insgesamt 15 Wissenschaftler aus 8 Ländern ihre Forschungsergebnisse vortrugen; auch unter den mehr als ı00 Teilnehmern befanden sich viele Gäste aus dem Ausland, die z. T. von weither angereist waren. Auf jeden Vortrag folgte eine ausführliche

Diskussion, an der sich nicht nur die Spezialisten beteiligten und von der Ausschnitte in diesern Band mitgeteilt werden. Umrahmt wurde die Tagung von einem musikalischen und literarischen Abendprogramm, das von Gabriele Rommel, die in Personalunion als Leiterin der Forschungsstätte im Schloß zugleich die Aufgaben eines Sekretärs der Gesellschaft wahrnimmt, neben vielen organisatorischen Vorbereitungen zusätzlich zusammengestellt worden war. Weitere Fachtagungen der Gesellschaft sind für die Zukunft geplant, so für 1997 eine Veranstaltung unter dem rezeptionsgeschichtlichen Leitthema »’Blüthenstaub’ — Rezeption und Wirkung des Werkes von Novalis«. Möge die vorliegende Dokumentation unserer Konferenz der Romantikforschung neue Anregungen und Impulse vermitteln und auch bei den

Mitgliedern unserer Gesellschaft ein besonderes, vielfach schon bekundetes Interesse finden. Ihre Aufnahme und Wirkung sollten im Zeichen eines Wortes von Novalis stehen, das ich bei der Gründungsversammlung der Gesellschaft als Morto für ihre künftige Arbeit mit auf den Weg gab, weil hier dem toten das lebendige Wissen entgegengesetzt wird: Es ist nicht das Wissen allein, was uns glücklich macht — es ist die Qualitaet des Wissens — die subjective Beschaffenheit des Wissens. Vollkommnes Wissen

ist Überzeugung und sie ists, die uns glücklich macht und befriedigr. Todtes —

lebendiges Wissen. (III,690:689) Hans-Joachim Mähl Präsident der Internationalen Novalis-Gesellschaft

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Herbert Uerlings (Trier)

Novalis und die Wissenschaften. Forschungsstand und Perspektiven

Die Romantik und die Wissenschaften — das ist ein facetrenreiches und faszinierendes Thema. Es ergibt sich aus der besonderen Wechselbeziehung zwischen der Poesie und den Wissenschaften, die für die deutsche Literatur

im ausgehenden 18. Jahrhundert charakteristisch ist.’ Für diese so produktive Beziehung gibt es viele Gründe. Für die Frühromantik und vor allem Novalis von zentraler Bedeutung war, daß Kunst und Wissenschaften, allen voran die Philosophie als Wissenschaft der Wissenschaften, darin konkurrierten, Medium wirklicher Erkenntnis über den

Menschen und seine Stellung in der Welt zu sein. Die Frage war, ob und inwieweit Erkenntnis an das Medium des Begriffs gebunden ist oder durch nicht-begriffliches Sprechen überboten werden kann und soll. Im Kern ging es dabei um das szientistische Mißverständnis der Gleichsetzung les Thema. Daß (III,411:737)” an sondern Ausdruck

von Erkenntnis mit Wissenschaft, ein bis heure aktuelNovalis’ Wendung von der »poätlischen] Theorie« Adornos »Ästhetische Theorie« erinnert, ist kein Zufall, eines Wirkungszusammenhangs.?

‘Zu diesem Thema vgl. zuletzt: Die deutsche literarische Romantik und die Wissenschaften. Hrsg. von Nicholas Saul. München 1991 (Publications of the Institute of Germanic Studies, University of London, Vol. 47). Novalis ist leider kein Beitrag gewidmer. 2Zum Zusammenhang vgl. Stadler, Ulrich: Hardenbergs »poetische Theorie der Fern-

röhre«. Det Synkretismus von Philosophie und Poesie, Natur- und Geisteswissenschaften und seine Konsequenzen für eine Hermeneutik bei Novalis. In: Die Aktualität der Frühromantik. Hrsg. von Ernst Behler und Jochen Hörisch. Paderborn’München/Wien/Zürich

1987, 5. 51-62. 3Zu den Grenzen der Gemeinsamkeicen vgl. Peter, Klaus: Friedrich Schlegel und Adorno. Die Dialekrik der Aufklärung in der Romantik und heute. In: Die Aktualität der Frühromantik (s. Anm. 2), $. 219-235. Peter betont zu Recht, daß bei Adorno angesichts der Erfahrung des Faschismus und der Totalisierung der Warenwelt das »Ganze: anders als ın

der Frühromantik als Schrecken erscheint. Allerdings zielte die romantische Konstruktion auf ein ganz andersgeartetes »Ganzes«. Das Ganze eines Verblendungszusammenhangs, auf

den eine »Negative Dialektik« bezogen bleibt, gibt es auch in der Frühromantik, als

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2

Herbert Uerlings

Zu den Besonderheiten des Werkes von Novalis gehören — nicht nur gegenüber

dem

20. Jahrhundert,

sondern

auch

schon

am

historischen

Ort — der Optimismus und der Universalismus, mit dem er Poesie und Wissenschaften zu verbinden sucht. Die Kritik des Szientismus im Namen der Poesie, vorgeführt erwa im Schicksal des Schreibers in Klingsohrs Märchen, diese Kritik verbindet sich bei Novalis, anders als kurz darauf bei E. T. A. Hoffmann,

mit

dem

Vertrauen

auf die (potentielle)

Einheit

der

Welt. Diese Einheit wird bei Novalis in der Poesie ästhetisch antizipiert, sie wird aber auch außerhalb der Dichtung, im theoretischen Werk, durch

eine »Poetisierung der Wissenschaften«* zu realisieren gesucht. Solches Vertrauen wurde formuliert in einer epistemologischen Umbruchssituation, in der ein explosionsartiges Anwachsen des Wissens neue

Strukturmuster der Wissensorganisation erforderte, wobei für die deutsche Entwicklung der Rückgriff auf die Philosophie kennzeichnend war. Romantische Naturphilosophie und Dichtung sind der Versuch, noch einmal die Einheit der Welt im Namen eines Ganzen der »Natur< wiederherzustellen, ohne den Erkenntnisanspruch der Fachwissenschaften zu unterbieten. Im Gegenteil: Gerade die jüngste Wissenschaftsentwicklung schien zu den

größten Hoffnungen zu berechtigen. Hier liegen denn auch die Wurzeln für die in der neueren Forschung so betonte Fortsetzung der Aufklärung durch die Romantik.’ Es war ein schöner, aber kurzer Traum. Der Übergang zum 19. Jahrhundert war auch die Zeit der Historisierung der Natur, der Abkopplung normativer Fragen von der Wissenschaftspraxis und der Formierung

der

sogenannten »exakten< Wissenschaften.® Szientismus und als Verhältnisse, in denen die Gegenstände der Narur zu »Waaren geworden sind« (I,244). *An A. W. Schlegel schreibt Novalis am 24.2.1798: »Künftig treib ich nichts, als Poesie — die Wissenschaften müssen alle po@tisirt werden — von dieser realen, wissenschaftlichen Po&sie hoff ich recht viel mit Ihnen zu reden« (IV,252). Und in den »Logologischen

Eragmenten« schreibt er: »Die vollendete Form der Wissenschaften muß poetisch seyn. Jeder Satz muß einen selbstständigen Karacter haben duum,

— ein selbsrverständliches Indivi-

Hülle eines witzigen Einfalls seyn« (II,527:17).

>Für das Enzyklopädie-Projekt vgl. schon Schanze, Helmut:

Romantik und Aufklärung.

Untersuchungen zu Friedrich Schlegel und Novalis. Nürnberg 1966; vgl. zuletzt den in Anm. 2 genannten Beitrag von Stadler. *Zum Zusammenhang zwischen der Historisierung der Natur und dem Rückzug der Wissenschaften von normativen Fragen vgl. Lepenies, Wolf: Das Ende der Naturgeschichte.

Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. München

1976, und ders.: Historisierung der Natur und Entmoralisierung der

Wissenschaften seit dem 18. Jahrhundert. In: Lepenies: Gefährliche Wahlverwandtschaften. Essays zur Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart 1989 (Universal-Bibliorhek Nr. 8350),

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Novalis und die Wissenschaften

3

Ob das frühromantische Projekt deswegen schon ein Anachronismus war und ist, das ist sicher die spannendste Frage bei der Beschäftigung mit dem Thema »Novalis und die Wissenschaften«. Die Antwort kann weder einhellig ausfallen, das liegt in der Natur hermeneutischer Gegen-

stände, noch kann sie in toto gegeben werden, dazu ist das frühromantische Unternehmen zu komplex und zu sehr Projekt. Projekt, Entwurf ist es in einem doppelten Sinne. Zum einen ist es, auch bei Novalis, ein Entwurf geblieben. Zum zweiten aber war es von ihm immer auch nur als Entwurf gedacht, als »Gedankenreiz«

(H,485:3).

»Aller Reitz«

aber soll, schrieb

Novalis, »nur temporell, nur Erziebungsmittel, nur Veranlassung zur Selbstthätigkeit seyn« (IH,252:72).

I Themenfelder

Die Ansprüche auf Erkenntnis und Kritik, auf Universalität und auf Produktivität machen das Thema »Novalis und die Wissenschaften< zu einem

weiten Feld — zu weit, als daß es auf einer einzigen Tagung zur Gänze bestellt werden könnte. Das gilt selbst dann, wenn man die Frage, wie denn die Wissenschaften sich ihrerseits mit dem Werk von Novalis befaßt haben, ausklammert, ein Aspekt, der sicher auch zu »Novalis und die Wissenschaften« gehört, der aber in diesem Band nur bei Nobuo Ikeda (mit-)

thematisiert wird, der ein forschungsgeschichtliches Desiderat bearbeitet. Dennoch

also bleibt

»Novalis und

die Wissenschaften:

ein (zu) weites

Feld. Wer dabei etwa an den Dichter Novalis denkt, der wird das Thema

sofort mit philologischen Disziplinen wie Poetik und Ästhetik, Sprachtheorie und Hermeneutik verbinden, einem zentralen Bereich, der auf der

Tagung aber ausgespart wurde — in der Hoffnung, ihn zu einem späteren Zeitpunkt zu einem Schwerpunkt-Thema machen zu können. »Novalis und die Wissenschaften«, das berrifft dann ferner Disziplinen,

deren Thema Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens in Geschichte 5. 7-38. Für die deutschen Verhältnisse vgl. auch Engelhardt, Dietrich von: Historisches

Bewußtsein in der Naturwissenschaft von der Aufklärung bis zum Positivismus. Freiburg i. Br./München 1979 (Orbis Academicus, Problemgeschichten der Wissenschaft ın Dokumenten und Darstellungen, Sonderband 4), und ders.: Die Naturwissenschaft der Aufklärung und die romantisch-idealistische Naturphilosophie. In: Idealismus und Aufklärung. Kontinuität und Kritik der Aufklärung in Philosophie und Poesie um 1800. Hrsg. von Christoph Jamme und Gerhard Kurz. Stuttgart 1988 (Deutscher Idealismus, Bd. 14),

$. 80-06.

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4

Herbert Uerlings

und Gegenwart sind, also erwa Historiographie, Politik und Scaarstheorie. Darauf beziehen sich die Beiträge von Ira Kasperowski und Klaus Peter. »Novalis und die zeitgenössische Geschichtsschreibung: und »Novalis und die Staarstheorien der Aufklärung«, das sind zwei brisante Themen. Hier kommt, wie die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte gezeigt hat, die Verquickung von Poesie und Wissenschaft auf besonders heikle Weise zum Tragen. Allerdings hat Novalis gerade auf diesem Feld darauf hingewiesen,

daß er eine »dem Ton [...] oder den Bildern nach fremde Sprache« (II,485:1) spricht. Ohne Berücksichtigung dieser »Tropen und Räthselsprache« (ebd.) sind diese poetisch-politischen Texte also nicht angemessen zu lesen, aber wie sie zu verstehen sind, das ist weiter eine offene Frage. »Novalis und die Wissenschaften:, das betrifft aber auch Disziplinen,

die sich damals als Wissenschaften noch gar nicht etabliert hatten, bei denen aber im Rückblick erkennbar ist, daß im ausgehenden 18. Jahrhundert die Grundsteine gelegt wurden. Die romantische Entdeckung des Unbewußten,

die zur Entstehung

der modernen

Psychologie

führte, ist

vielleicht das prominenteste Beispiel dafür. Zwei Beiträge sind diesem Thema gewidmet: Manfred Engel befaßt sich mit »Novalis’ Theorie und Poetik des Traums

im

zeitgenössischen

Kontext«,

Gerhard

Schulz

mit

»Novalis’ Erotik« und der »Geschichtlichkeit der Gefühle«. »Novalis und die Wissenschaften«, das betrifft aber schließlich und vor

allem Hardenbergs Umgang mit den Wissenschaften im Blick auf eine Vereinigung aller Wissenschaften bzw. im Blick auf eine Vereinigung von Wissenschaft und Poesie. Diese Dimension liegt einerseits quer zu den bereits genannten, sie betrifft aber andererseits vor allem die Naturwissenschaften, die Mathematik und die Medizin sowie die Philosophie. Diese

Bemühungen gipfeln im theoretischen Werk in der Enzyklopädistik, dem Versuch, die Einheit der Natur, und das hieß: dıe Einheit der Wissenschaf-

ten, in einer »Wlissenschaft] d[er] W[issenschaften]« (III,249:56) darzustellen. Diesem Bereich lassen sich alle übrigen Beiträge dieses Bandes zuordnen.

I Poetisierung der Wissenschaften Die Editionslage, eine problematische Novalis-Legende und der Siegeszug des Positivismus im 19. Jahrhundert haben den Blick auf diese romanti-

sche Beschäftigung mit den Wissenschaften lange verstellt. Paradigma-

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Norvalıs und die Wissenschaften

5

tisch war Dilcheys Urteil, Hardenbergs Notizen zur Mathematik, Medizin,

Physik usw. seien wissenschaftlich wertios, hier würden die Disziplinen »durch eine grenzenlose Verallgemeinerung zum leeren, durch kein besonnenes Studium gestützten Spiel«.? Das ist Vergangenheit. Heute haben sich die Voraussetzungen grundlegend gewandelt. Wir sind sensibler geworden für die Notwendigkeit, Geist und Natur zusammenzudenken, der Positivismus hat seine Grenzen

und problematischen Kehrseiten längst offenbart, die scharfe Scheidung von exakten und nicht-exakten Wissenschaften ist ebenfalls fragwürdig geworden, und in jüngster Zeit gerät auch die Scheidung zwischen Wis-

senschaft und Dichtung in Fluß. Jede dieser Tendenzen hat zu einem erneuten Interesse an der romantischen Behandlung der Wissenschaften geführt und zu einer veränderten Einschätzung von Novalis’ Werk beigerragen. Hinzu kommt, daß sich unser Bild vom Kenntnisstand Hardenbergs gründlich verändert hat. Wir wissen heute, daß Novalis mit dem Stand der Mineralogie, der Geologie, der Marhematik,

der Chemie, der Physik

und der Medizin relativ gut vertraut war, und es ist unstrittig, daß er in den zeitgenössischen Auseinandersetzungen zwischen Transzendentalphilosophie

und

frühem

deutschen

Idealismus

ein

kompetenter

Mitstreiter

war.® Deshalb kommt Novalis im ausgehenden 18. Jahrhundert eine besondere Rolle zu. Er darf wohl der neben Goethe narurwissenschaftlich kompetenteste Dichter jener Zeit genannt und bezüglich seiner philosophischen Qualifikationen in die Nähe des jungen Schelling gerückt werden. Unter den Romantikern har kein zweiter eine so gründliche und vielseitige Ausbildung genossen wie Novalis und vice versa so intensiv an einer »Poe-

tisierung der Wissenschaften gearbeitet. Seine poetischen Texte, in besonderer Weise gilt das für die »Lehrlinge zu Sais< und Klingsohrs Märchen, sind voller Anspielungen auf Ergebnisse, Modelle und Theorien der zeitgenössischen Wissenschaften und der Naturphilosophie, und umgekehrt mündet die außerästhetische Behandlung der Wissenschaften in Fragen der Darstellung und endet mit der Überlegung, daß die Vielfalt des Wissens eine Vielfalt von Ausdrucksformen benötigt. ”Dilthey, Wilhelm: Novalis. In: Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing — Goethe — Novalis — Hölderlin. 14. Aufl. Göttingen Bd. 191), 5. 187— 241, 323-326, hier $. zı1.

1970

(Kleine

Vandenhoeck-KReihe,

®Zum Stand der Novalis-Forschung vgl. Uerlings, Herbert: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung. Stuttgart 1991.

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Herbert Uerlings

Die Beschäftigung mit den Wissenschaften ist also nichts, was dem Romantiker äußerlich geblieben wäre. Im Gegenteil: Über die Beschäftigung mit den Wissenschaften ist Novalis zum Romantiker geworden;? ein schöner Beleg dafür ist seine bekannte Definition des »Romantisirens«: Die Welt muß romantisirt werden. So findet man den urspr[ünglichen] Sinn wieder. Romantisiren isc nichts, als eine qualit[ative] Potenzirung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation idenuficirt. So wie wir selbst eine solche qualit[ative] Potenzenreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ıch dem Gemeinen einen hohen Sina, dem Gewöhnli-

chen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten,

dem

Endlichen

einen

unendlichen

Schein

gebe

so romantisire

ich

es



Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche — dies wird durch diese Verknüpfung logarythmisirt — Es bekommt einen geläufigen Ausdruck.

romantische

Philosophie. Lingna

romana.

Wechselerhö-

hung und Erniedrigung. (I,545:105)

Eine berühmte Notiz, deren Gedankengang ebenso verblüffend wie charakteristisch für Novalis ist. Er bilder eine Analogie zwischen der Integralund Differentialrechnung auf der einen Seire und Philosophie, Anthropologie und, am Rande, Sprachtheorie auf der anderen Seite. Diese Analogie verleiht

beiden

Seiten einen

seltsam

schillernden

Status, der ihr einen

Schein von Evidenz gibt. Die Voraussetzung für diese Analogie, das gemeinsame Dritte, ist jedoch schwer zu greifen. Sie scheint im >»ursprünglichen $inn« zu liegen, der aber soll erst noch gefunden werden. Eine paradoxe Struktur, die offenbar beabsichtigt ist, denn sie wiederholt sich noch

einmal. Die Formel vom »ursprünglichen Sinn« suggeriert eine Abschließbarkeit des »Romantisitens«, der das mathematische Modell gerade widerspricht: Potenzierung und Logarithmierung, Wechselerhöhung und Erniedrigung können ad infinitum fortgesetzt werden, so daß der »ursprüngliche Sinn« zum Grenzwert wird und das »Romantisiren< zu einer unendlichen Tätigkeit. Diese Idee einer unendlichen Tätigkeit scheint genau das gewesen zu

sein, was Novalis in der Mathematik zu finden glaubte. Sein Interesse an der Mathematik

war

eines

an

Phänomenen

wie Grenzwert,

Kontinuität

und Ableitung oder an den Versuchen, das Verhältnis endlicher und unendlicher Größen im Infinitesimalkalkül zu bestimmen. Es war also ein Interesse am funktionalen Charakter mathematischer Gegenstände. Hier werden nicht Gestalten, sondern Beziehungen gesetzt, die aus sich heraus ®Vgl. Uerlings, Herbert: Novalis in Freiberg — Die Romantisierung des Bergbaus. In: Aurora (im Druck).

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Novalis und die Wissenschaften

7

Größen generieren. Das einfachste Beispiel dafür ist die natürliche Zahlenreihe, die aus der Relation »+1< erzeugt wird und sich ins Unendliche selbst erzeugt.

»Wer

zuerst bis zwey

zu zählen

erfand, sah, wenn

ihm

auch selbst das Forezählen noch schwer ward, doch die Möglichkeit einer unendlichen Fortzählung nach denselben Gesetzen« (I1,558:142). Der Begriff der Funktion als einer Relation zwischen mindestens zwei festen oder veränderlichen Größen ermöglichte es, Größen nicht mehr nur als diskrete, sondern

auch

als kontinuierliche,

erzeugte und

sich selbst

erzeugende zu verstehen. Durch die Beschäftigung mit der Infinitesimalrechnung, d.h. der Analysis des Unendlichen und den Begriffen der Stetigkeit oder Kontinuität, gewinnt Novalis Modelle, die den stetigen Übergang zwischen Verschiedenem zu denken erlauben, in der Mathematik etwa den zwischen Ellipse, Parabel und Hyperbel und in der Mechanik den zwischen Ruhe und Bewegung. Abschließbar sind solche Prozesse nicht; in einem prinzipiell unendlichen Prozeß fallen Erzeugnis und Erzeugung zusammen, mit Novalis Wor-

ten: »Alle Vereinigung des Heterogener führt auf ©« (III,448:935). Hardenbergs Interesse an der Mathematik war also im Kern eines an einer »Erfindungskunst« (III,128), an einem System des Wissens, das Wissen nicht statisch wie auf einem Tableau ordnet, sondern unendlich er-

zeugt. In diesem Sinne heiße es einmal: »Jedes wahre System muß dem Zahlensystem ähnlich geformt seyn« (III, 396:682). Mit seinen Überlegungen stand Novalis in einer Tradition, die ihm gut

vertraut war. Auf dem Felde der Machemarik führt sie über Hindenburgs Kombinatorik und Kants Auffassung von den Sätzen der reinen Mathematik als synthetischen Urteilen a priori zurück bis zur ars combinatoria und zur Idee einer marhesis universalis bei Descartes und Leibniz. Neben der Mathematik bildet die Geschichte der Naturphilosophie einen weiteren wichtigen Bezugspunkt für Novalis’ Selbstverständigung. Seine Stellung in dieser Tradition hat er selbst einmal kurz umrissen. »Ritter ist Ritter und wir sind nur Knappen«, schrieb er Anfang 1799 an Caroline Schlegel. Aber auf Ritter, Baader und Schelling bezogen, heißt es dann selbstgewiß und hoffnungsfroh: Das Beste in der Natur sehn indeß diese Herrn doch wohl nicht klar. Fichte wird hier noch seine Freunde beschämen — und Hemsterhais ahndere diesen heiligen Weg zur Physik deutlich genug. Auch in Spinorza lebt schon dieser göttliche Funken des Naturverstandes. P/otin betrat, vielleicht durch Plato er-

regt, zuerst mit ächtem Geiste das Heiligthum — und noch ist nach ihm keiner wieder so weit in demselben vorgedrungen. In manchen ältern Schriften klopft

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Herbert Uerlings ein geheimnißvoller Pulsschlag und bezeichnet eine Berührungsstelle mit der unsichtbaren Welt — ein Lebendigwerden. Görhe soll der Litzrg dieser Physik werden — er versteht vollkommen den Dienst im Tempel. Leibnirzens Theodicee ist immer ein herrlicher Versuch in diesem Felde gewesen. Etwas ähnliches wird die künftige Physik — aber freylich in einem höhern Style. (TV,275f.)

Hardenbergs Stellung in der Geschichte machematischen Denkens und der Tradition der Nacurphilosophie sind in der Forschung verschiedentlich untersucht worden, dennoch gibt es offene Fragen und Desiderata, und deshalb wird

in diesem

Band

den

Beziehungen

zu Fichte, zu Goethe,

zu

Leibniz, aber auch zu Johann Wilhelm Ritter nachgegangen, der ın dem Brief an Caroline Schlegel so seltsam doppeldeutig bewertet wird. Ein zentrales Thema der Forschung ist dabei die Frage, wodurch Hardenbergs »Physik in einem höhern Style: ihre Verbindlichkeit erhält, d.h. ob sie im Rückgriff auf die Tradition bzw. zeitgenössische Entwürfe metaphysisch oder transzendentalphilosophisch begründet wird oder in einer spezifisch frühromantischen Religiosität, oder ob wir in ihr eine Art Vorläuferin moderner oder gar postmoderner Konzepte sehen dürfen. Das ist im einzelnen, d.h. wenn man sich Hardenbergs Aufzeichnungen ansieht, die während der Auseinandersetzung mit dem Werk eines anderen

Autors entstanden sind, oft schwer zu sagen. Insgesamt aber bleibt seine Maxime zu bedenken: »Man studirt frernde Systeme um sein eigres System zu finden« (TII,278:220).

Was aber wäre das »eigne System« des Novalis? Die Frage ist schon deswegen schwer zu beantworten, weil wir nicht sicher sein können, ob er

aus seiner Sicht ein »eignes System« gefunden hat. Die Enzyklopädistik jedenfalls, aus deren Umfeld diese Wendung stammt, ist eine Matertalsammlung geblieben. Etwas »Eignes< aber, wenn auch vielleicht kein »System«, oder eben ein

sehr »romantisches< System, hat Novalis in der Denkbewegung gefunden, die er »Romantisiren< nennt und die das poetische, theoretische und »politische< Werk durchzieht. Über die geplante Enzyklopädistik heißt es einmal, sie enthalte »wissenschlafrtiche] Algeber — Gleichungen. Verhältnisse — Aehnlichkeiten — Gleichheiten



Wirckungen

der

Wissenschaften

auf

einander«

(III,

280:233). Das Projekt zielte nicht auf ein lexikalisches Kompendium, sondern auf eine systematische Wissenschaftskunde, eine Darstellung des Zu-

sammenhangs aller Wissenschaften. Die gesuchte Einheit wird bei Novalis nicht über die Sammlung substantiellen Wissens, nicht über Inhalte, son-

dern über Verfahren gesucht. Solche Herstellung von Einheit über Verfah-

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Norvalis und die Wissenschaften

9

rerı hat Novalis häufig »Construction< genannt. Diese Bezeichnung verweist auf die mathematische Konstruktion von Unbekanntem aus Bekanntem, und eine Notiz aus den »Physicalischen Fragmenten< macht die Uni-

versalisierung dieses Modells deutlich: Wie man in der Mathemfatik] durch regelmäßiges Functioniren bekannter Glieder und Theile der ganzen Gleichung — die Unbekannten successive finder und construirt, so finder und construist man

in allen Wissenschaften

Unbekannten, Fehlenden Glieder und Theile des Wissenschaftlichen durch Fanctionirungen der Bekannten Glieder und Theile. (IH,92)

— die Ganzen

»Constructionen« findet Novalis aber nicht nur in der Mathematik. Er nennt auch Fichtes Ich einen »Robinson — eine wissenschaftliche Fiction —

zur Erleichterung d[er] Darstellung und Entwickl[ung] d[er] Wfissenschafts]Lfehre]« (UI, 405:717); andere Beispiele sind die Idee eines Anfangs der Geschichte, die »Schilderung des phil[osophischen] Narurstandes eines isolirten Princips — oder Begriffs« (ebd.). Grundsätzlich hält Novalis fest: »Jeder Anfang ist ein Actus d[er] Freyheit — eine Wahl — Construction eines abs[oluten] Anfangs« (ebd.).

Die hier gemeinte »Construction«< bezeichnet ein hyporhetisches Vorgehen, das von Voraussetzungen Gebrauch macht, deren Legitimität sich immer erst im Nachhinein erweisen ließe, und zwar dadurch, daß gezeigt

wird, daß das Vorauszusetzende eine notwendige und hinreichende Bedingung von etwas Gegebenem ist. Die Möglichkeit eines solchen Beweises, des Abschlusses einer solchen »Construction« aber gibt es in den Augen von Novalis nicht. Insofern überschreitet die romantische Konstruktion die Grenzen der Wissenschaften. An die Stelle rationaler Selbst- und Letzt-

begründung triee eine romantische Konstruktion, die Novalis in einem schönen Bild veranschaulicht hat: »Das Ganze ruht ohngefähr — wie die spielenden

Personen, die sich ohne Stuhl, blos Eine auf der andern

Kuie

kreisförmig hinsetzen« (H,242:445). Aus dem Paradox von Norwendigkeit und Unmöglichkeit ergibt sich die spezifisch frühromantische Figur eines gegenläuftgen Denkens, die in den »Fichte-Studien« als »ordo inversus« entwickelt wird und dann als »Hin

und her® Zugleich hob Mähl hervor, daß Novalis (wenn auch mit deutlichem Unter-

schied zu Friedrich Schlegel) das Fragment unter »eigene ständig reflek3>Novalis: Werke und Briefe. Hrsg. von Ewald Wasmurh. Bd. 3. Berlin 1943, 8. 904.

36 Ebd., $. 903. 3’Ehd., 5.913. Völlig ähnlich wendet auch Alfred Kellerar in seiner Werkausgabe den Begriff »Fragment« im Sinne von »Bruchstück« an (vgl.: Novalis: Werke und Briefe. Hrsg. und

mit einem

Nachwort

versehen von

Alfred

Kellerar.

$Sturrgarı/Hamburg/München

1975, 8. 726ff., bes. 8. 728). >8 Mähl (s. Anm. 3), 5. 684.

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32

Gabriele Rommel

tierte Formgesetze« stellte und es funktional seinem auf äschetischer Bildung beruhenden Wirkungskonzept zuordnete.?? Das Fragment als Ideenkatalysator eines unendlich offenen Systems der buchstäblich gemeinten » Weltanschauung« — dieser Aspekt ist nach Mähl von »den früheren Editoren wie von den Interpreten gern übersehen worden — von Interpreten der jüngsten Zeit besonders dann, wenn einzelne Formulierungen, dem Buchstaben nach, erstaunliche Übereinstimmungen zu bestimmten Aspekten der modernen Dichtung, zu ästhetischen Begriffen und Kategorien« zeigen, wenn sıe also Aktualisierung ermöglichen, die sich bewußt von der »zeitgeschichtlich gebundene[n] Semantik« entfernt.*° Viele der älteren und neuen Editionen verzichten auf nachvollziehbare Einordnung

der als »Bruchstücke« ausgelösten Textsegmente ebenso wie auf eine historische Kommentierung, die für den Leser zugleich kultur- und quellengeschichtliche Stütze seines Textverständnisses sein könnte.

Ein Beispiel bietet die Auswahl ausschließlich poetischer Texte (Gedichte, Romanfragmente, »Glauben und Liebe«, »Geistliche Lieder»Zur Naturwissenschaft überhaupt«. In den morphologischen Heften werden zunächst die erwähnten biologischen

Schriften der ersten Phase veröffentlicht,

manchmal

als

Erstdruck. Sie werden mit Aufsätzen ergänzt, die über ihre Entstehung, über Goerhes naturwissenschaftliche Laufbahn und über die Entwicklung seines Denkens berichten. Die morphologischen Hefte sind also mit den damals

entstandenen

autobiographischen

Schriften



»Dichtung

und

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58

John Neubauer

Wahrheit«, >Icalienische ReiseHegel and the Sciences. Hrsg. von Robert $. Cohen und Marx W. Wartofksy. Dordrecht 1984; Schelling. Seine Bedeurung für eine Philosophie der Natur und der Geschichte. Hrsg. von Ludwig Hasler. Sturtgart/Bad Cannstatt 1981; Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling. Hısg. von Reinhard Heckmann, Hermann Krings und Rudolf W. Meyer. Scturtgart/Bad Cannstatt 1985; He-

gels Philosophie der Natur. Hrsg. von Rudolf-Perer Horstmann und Michael J. Petry. Srurtgart 1986; Hegel und die Naturwissenschaften. Hrsg. von Michael J. Petry. Stuttgart 1987; Hegel and Newronianism. Hrsg. von Michael J. Perry. Dordrecht 1993; Natur und geschichtlicher Prozeß. Studien zur Narurphilosophie FE W. J. Schellings. Hrsg. von Hans Jörg Sandkühler. Frankfurt am Main 1984. 4Romanticism and the Sciences. Hrsg. von Andrew Cunningham und Nicholas Jardine. Cambridge 1990; Verf.: Bibliographie der Sekundärliteratur zur romantischen Naturforschung und Medizin 1950-1975. In: Romantik in Deutschland. Hrsg. von Richard Brinkmann. Sturtgart 1978, 5. 307-330; Verf.: Romantische Narurforschung. In: Verf.: Historisches Bewußtsein von der Aufklärung bis zum Positivismus. Freiburg i. Br. 1979, $. 103-157; Leibbrand, Werner: Die spekulative Medizin der Romantik. Hamburg 1956; Lohff, Brigitte: Die Suche nach der Wissenschaftlichkeit der Physiologie in der Zeit der

Romantik. Ein Beitrag zur Erkenntnisphilosophie der Medizin. Stuttgart 1990; Romanticism in Science. Science in Europe 1790-1840. Hrsg. von Stefano Poggi und Mauritio Bossi. Dordrecht

1994; Romanticism

in National Context.

Hrsg. von Roy Porter und

Mikülä$ Teich. Cambtigde 1988; Rorhschuh, Karl Eduard: Naturphilosophische Konzepte der Medizin aus der Zeit der deutschen Romantik. In: Romantik in Deutschland (s.0.), $. 243-266; Sohni (s. Atım. 1); Wiesing, Urban: »Kunst oder Wissenschaft?« Konzeptionen der Medizin in der deutschen Romantik. $turrgare/Bad Cannstatt 1995.

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Novalis im medizinhistorischen Kontext

67

lands Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst< geplant, wurde aber nicht ausgeführt (vgl. III,377:622). Die Beiträge haben nur gelegentlich den Status eines romantischen Fragments als » Anfänge interessanter Gedankenfolgen — Texte zum Denken«,? sie entsprechen vielmehr dern Verzicht auf einen möglichen Abschluß: »so geb ıch nur die Methodik des Verfahrens — und Beyspiele — den allgemeinsten Theil und Bruchstücke aus den Besondern Theilen« (III,356:526). Einen Einfluß auf die Medizin seiner Zeit hat Novalis nicht ausgeübt. Dennoch verdient Novalis das Interesse der Medizingeschichte: als Re-

flex der zeitgenössischen Medizin um 1800 und als Ausdruck ihrer äschetisch-philosophischen Potentialität. Die medizinhistorische Auseinandersetzung legt sich auch im Blick auf die Gegenwart nahe; die Beziehung des Menschen zur äußeren Natur und seinem eigenen Leib, der Gesundheits- und Krankheitsbegriff, die Ziele der Therapie, die Arzt-PatientenBeziehung, ethische Fragen der medizinischen Forschung wie ärztlichen Praxis bewegen das Denken innerhalb der Medizin wie allgemein in der Öffentlichkeit; Novalis verspricht Anregungen auf allen diesen Ebenen.

II Medizin um

1800

Medizin um 1800 bedeutet eine Vielfalt von Positionen und Initiativen — auf den Ebenen der Theorie wie Praxis, der Lehre wie Forschung. Eine

besondere Bewegung jener Jahrzehnte — vor allem unter dem Einfluß der Naturphilosophie Schellings, aber ebenfalls anderer philosophischer wie theologischer Richtungen — stellt die sogenannte romantische Medizin oder besser Medizin im Zeitalter der Romantik dar.

Der sich seit dem Beginn der Neuzeit und vor aller im 18. Jahrhundert verstärkenden Tendenz zur Trennung der Medizin von der Philosophie werden noch einmal Versuche einer philosophischen Durchdringung und Begründung der medizinischen Theorie und therapeutischen Praxis entge-

gengesetzt. Der Zug zur Spezialisierung soll aufgehalten, die Verabsolurierung des mechanischen Denkens vermieden, die Spaltung von Natur- und

Geisteswissenschaften überwunden werden. Empirie und Metaphysik, Praxis und Theorie, Detail und Totalität, Geschichte, Gegenwart und Zukunft sollen sich verbinden lassen. »An A.C. Just am 26.12.1798 (vgl. IV,270).

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68

Dietrich von Engelhardt

Die Zeit einer besonderen Geltung der romantischen Medizin ist faktisch allerdings kurz; vom Ende der goer Jahre des ı8. bis in die 30er Jahre des 19. Jahrhunderts dauert diese Bewegung, die unterschiedlich in-

tensiv in den einzelnen deutschen Staaten und Universitätsorten ausfällt und auch in den Prinzipien und in der Ausführung keineswegs einheitlich ist. Einwände werden gegen den spekulariven Vernunftbegriff eines Schelling und vor allem Hegel erhoben. Novalis formuliert seinerseits: »Dies uns gegebne Absolute läßt sich nur negativ erkennen« (II,270:566). Glaube, Gefühl und Traum sollen den Verstand ergänzen, aber nicht erser-

zen; romantische Wissenschaft bedeutet keineswegs einseitige Verherrlichung der Irtationalität. In diesem Sinn heißt es auch bei Novalis: Ich bin überzeugt, daß man durch kalten, technischen Verstand, und ruhigen, moralischen Sinn eher zu wahren Offenbarungen gelangt, als durch Fantasie, die uns blos ins Gespensterreich, diesem Antipoden des wahren Himmels, zu leiten scheint. (II, 578:182}

Die Medizin um 1800 ist allerdings keineswegs insgesamt durch eine Phase der Romantik und des Idealismus hindurchgegangen — auch in Deutschland nicht. Sters gibt es empirische oder metaphysikfeindliche Standpunkte im Sinne einer strikten Ablehnung sowohl der Transzendentalphilosophie Kants als auch der Naturphilosophie Schellings oder Hegels. Diese Vielfalt und diese Enrwicklungslinien der Medizin müssen bei der Beurteilung von Novalis aus medizinhistorischer Perspektive ebenso beachtet werden wie die Fülle an neuen Beobachtungen, Erfindungen und speziellen theoretischen Beiträgen und Impulsen dieser Jahrzehnte. Der Bogen spannt sich von der wissenschaftlichen Grundlegung der Zahnheilkunde durch John Hunter (1771), der Schrift »Von der Lebenskraft (1774) von EK. Medicus, Mesmers »Sendschreiben über die Magnetkur« (1775), Johann Peter Franks »System einer vollständigen medicinischen

Polizey«

(1779ff.), John

Browns

»Elementa

Medicinae«

(1780),

dem »Magazin der Erfahrungsseelenkunde« (1783 1793) von Karl Philipp Moritz, der Interpretation der Atmung als Verbrennungsprozeß durch Lavoisier

und

Laplace

(1783),

Mascagnis

»Ouvrage

sur

le systäme

des

vaisseaux lymphatiques< (1784), die Eröffnung des Allgemeinen Krankenhauses in Wien (1784), Blumenbachs Abhandlung über den »Nisus formativus< (1787), Galvanis »De viribus electricitatis in motu muscuları commentarius« (791), Sömmerrings Schrift »Vom Bau des menschlichen Körpers
»80 ist es geschehen, daß ich mich hauptsächlich auf die äuserlichen Kennzeichen der Foßilien eingelaßen habe, und solche der Hauptgegenstand dieser Schrift geworden sind« (Werner, Abraham Gottlob: Von den äußerlichen Kennzeichen der Foßilien [...]. Leipzig

1774, 5. 6). 4Vgl. Dürler, Josef: Die Bedeurung des Bergbaus bei Goerhe und in der deutschen Roman-

tik. Frauenfeld/Leipzig 1936 (Wege zur Dichrung 24), 5. 19, und nach ihm Schulz, Gerhard: Die Berufslaufbahn Friedrich von Hardenbergs (Novalis). In: Novalis. Beiträge zu Werk und Persönlichkeit Friedrich von Hardenbergs. Hısg. von G. S. Darmstadt 1986 (Wege der Forschung 248), $. 313, und Cardinal, Rager: Werner, Novalis and the Sıgnature of Stones. In: Deutung und Bedeutung. Studies in German and Comparative Litera-

ture. Presenced to Karl-Werner Maurer. The Hague/Paris 1973, 5. 121. ’ Werner (s. Anm. 3), $ 14, 5. 32f.

6Ebd. & 39, S. Boff. ?»Unrer dem Wort Uebergang versteht man hier nach der Analogie der übrigen naturhistorischen Classifikacion, ein Classifikations-Grlied, das in seiner: Eigenschaften zwischen zwei andern das Mittel hält; und der Ausdruck, ein Fossil gehr in das andre über, will soviel

sagen: das Fossil nähert sich einer andern Gattung durch eine bei seinen Individuen allmählige Verminderung derjenigen Verschiedenheiten, welche es von dem letztern trennen; es wird sich sorıach immer ähnlicher und ähnlicher, und am Ende finden sich Individuen,

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Zur Anthropologie Friedrich von Hardenbergs

89

Hardenberg har sich nicht nur nachweislich mit Werners Schrift »Von den äußerlichen Kennzeichen der Fossilien« sehr intensiv auseinandergesetzt,®

er war auch als Student und Hörer Werners mit dessen Klassifikationsversuchen vertraut, die dieser in immer neuen Anläufen an der Bergakademie vortrug. Ein entschieden systematisches, ja enzyklopädisches Interesse war kennzeichnend für das Denken Werners. Novalıs schätzte diese Eigenschaft,? die er an Lavaters Physiognomie-Lehre schmerzlich vermißt hatte, wenn er es auch nichr unterließ, Werners Sysrematisierungsversuche als unzulänglich zu kritisieren. So genau und differenziert Werner nämlich die äußeren Merkmale beschrieben hat — viele der von ihm verwendeten

Termini sind noch heute bei der Deskription von Mineralien im Gebrauch —, so sehr bauen seine Bestimmungen doch auf einem unbedingten Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der sinnlichen Anschauung. Wie für Lavater besteht für Werner kein Zweifel daran, daß ein äußerliches Kenn-

zeichen die innere Beschaffenheit »zuverläßig« anzeige.'” Novalis leugnece zwar keineswegs einen Zusammenhang zwischen dem Äußeren und dem Inneren, aber er mißtraute entschieden dem Automatismus, mit dem die beiden vom einen aufs andere schlossen. Er versuchte statt dessen jenen

Zusammenhang durch eine Art doppelter Lektüre zu überprüfen, bei der die Aufmerksamkeit sich nicht nur vom Äußeren aufs Innere, sondern auch

vom Inneren aufs Äußere richten sollte. »Man beobachte nur fleißig« — so hielc er in seinen » Werner-Scudien« fest — »die äußern Veränderungen bey innern Veränderungen und umgekfehrt] und ich bin gewiß, man wird auf ächte, stäte, Relationsverhältnisse und Gesetze stoßen« (II,ı41). Auffällig

an dieser selbstauferlegten Maxime ist die Betonung des Dynamischen, die Absicht, die äußere Erscheinung und den inneren Zustand als Variable zu

fassen, deren Abhängigkeit voneinander in einem testenden Verfahren jeweils überprüft werden kann. Das Äußere ist für Novalis weder die Causa des Inneren, noch einfach bloß dessen sichtbar gewordenes Zeichen. Äußeres und Inneres erscheinen ihm vielmehr als wechselseitige Funktionen voneinander. An Werners simplem Abbildmechanismus vermißt Hardenberg ganz allgemein die Berücksichtigung des Zeitfaktors. Die Zeit als »Basis alles Veränderlichen« (III, 428:809)

ist für Novalis von entscheiden-

die zwischen beiden Gattungen genau das Mittel halten« (so Werner nach Frisch, Samuel

Gottlob: Lebensbeschreibung Abraham Gottlob Werners [...]. Leipzig 1825, 5. 65f.}. ®Vgl. IL, 135ff. ®Ygl. Schulz (s. Anm. 4), 5. 312.

‘Werner (s. Anm. 3), & 16, 8. 35.

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Ulrich Stadler

dem Einfluß auf chemische Verwandtschaften.‘" Schon gleich zu Begion seiner Exzerpte aus dem Buch Werners bemängelt er an dessen Einteilung das Fehlen eines Hinweises auf die Relarivität aller Kriterien. Diese müß-

ten stets auch aus der dreifachen Perspektive »Ehmals, jezt, künftig« betrachter werden (UIL,135). Dem

naiven erkenntnistheoretischen Empiris-

mus Werners liege kein notwendiges und vollständiges Prinzip zugrunde, vielmehr lasse sich dieser durch bloß zufällige Grundsätze leiten. Darum stelle seine Gesamtdarstellung der Fossilien nur ein »Convolut« {III,367:580) dar, nicht aber ein System. Ein solches könne schlechthin nicht unabhängig vom Menschen und dessen Position innerhalb der Natur aufgestellt werden. Werner hatte zwar auf eine Analogie zwischen Gesteins- und »Menschenkunde« hingewiesen,” und er harte diese Analogie auch in seiner Praxis anerkannt,

denn

man

fand in seinem

Nachlaß Auf-

zeichnungen über eine der mineralogischen Kennzeichenlehre entsprechende Psychologie, die der akademische Lehrer offensichtlich zur »individuellen Behandlung und Erziehung seiner Schüler« benützt hacte."? Gleichwohl hatte er in seiner Oryktognosie-Lehre den Gegensatz zwischen dem Reich der Mineralien und dem der Pflanzen, Tiere und Menschen geradezu schroff betont. Die Mineralien bestünden »aus einerlei Teilen«,

während die den höheren Narurreichen zugehörigen Körper aus verschiedenen Stoffen zusammengesetzt seien. Eine Verschleifung zwischen diesen niederen und höheren Bereichen gebe es nicht, Jedenfalls habe man »von den Uebergängen des Thier- und Pflanzenreichs ins Foßilienreich nichts, das Stich hielte, aufweisen können« und werde es auch niemals, »weil die natürliche Reihe der Verhältnisse bey den erstern [d.h. bei den Pflanzen,

Tieren und Menschen] in ihren Zusammensetzungen [...] und bey den letzern [den Mineralien] in ihren Mischungen [...] fortgeher«.'* Hardenberg bestritt eine solche grundsätzliche Getrenncheit der Naturreiche. Er distanzierte sich an diesen Punkt sowohl von Werner, der solche

Übergänge von unten nach oben ausgeschlossen hatte, wie auch von Lavacer, für den es Übergänge in der umgekehrten Richtung nicht geben durfte. Lavaters zentrales Interesse harte dem Menschen gegolten.‘? Dieser '7111,630:478; vgl. auch I1,108.

"®Ygt, Schmid, Heinz Dieter: Friedrich von Hardenberg (Novalis) und August Gottlob Werner. Phil. Diss. [Masch.] Tübingen 195 1, $. 88f. 3a YVgtl. ebd., S. 18. 4 Werner (s. Anm. 3), & ıı, $. 25f., Fußnote. '5YVgl. Lavater, Johann Caspar: Physiognomische

Fragmente,

zur Beförderung

der Men-

schenkenntrniß und Menschenliebe [....]. Vier Versuche. Bd. I. Ndr. der Ausgabe Leipzig/ Winterthur 1775-1778, Zürich

1968f., 5. 33, 154 und

157. — In der Ausrichtung all

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Zur Anthropologie Friedrich von Hardenbergs

91

war für ihn auch noch in seinen verworfensten Exemplaren und in den Mißgeburten ein Ebenbild Gottes.'* Er durfte nicht mit den niedereren Wesen

verbunden

erscheinen, sondern

mußte

stets von

ihnen

klar abge-

grenzt werden.'” Die Versuche Giovanni Battista della Porcas, die Ähnlichkeit mancher Tier- und Menschenphysiognomien aufzuzeigen, wehrte

Lavater als erzwungene Vergleichungen und als Produkte »einer überspannten Einbildungskraft« entschieden ab.'® Und das Zitat eines ungenannten Physiognomikers, der Salze mit Gesichtsformen verglichen hatte,

kommentierte er mit sichtlicher Empörung: Welche Vergleichung! Salze und Steinarten — mit einem von innen aus belebten organischen Körper! — Ein in dem tausendsten Theil eines Wassertropfens au-

genblicklich zerfließender Salzwürfel — und ein allen Anfällen der Witterung, und Millionen Eindrücken von außen Jahre und Jahrhunderte lang Trutz bieten-

der Schädel — Philosophie! erröthest du nicht bey dieser unbegreiflichen Vergleichung?

— Nicht allein Menschenorganisationen

— nicht allein Menschen-

schädel — nicht allein Thiere — nur Pflanzen, die doch ohne solche innere Resistenz, ohne solche Reßerts, wie sich in dem Menschen befinden [d. h. ohne

Knochengerüst, wie etwa dem

menschlichen

Schädel

— U. Sc.], — Millionen

sich kreuzenden Drücken des Lichts, der Luft u.s.f. ausgesetzt sind — welche verwandelt sich dadurch in eine andere Gestalt? welche wird unkenntlich dadurch für den Kenner? die allergewaltsamsten Zufälle können sie kaum unkenntlich machen

— so lange sie noch ihren Organismus behalten?'?

Hardenberg hingegen scheute vor Engführungen, bei denen Menschen sogar mit Steinen in Beziehung geserzt werden, keineswegs zurück. Seine anthropognostische Theorie ließe sich als »Mischung« der PhysiognomieLehre Lavaters und der Oryktognosie-Lehre Werners interpretieren, wenn der Begriff der Mischung im — noch zu erläuternden — Sinne der Chemie des 18. Jahrhunderts verstanden wird. Aus beiden übernahm er wesentliche Momente, und gegenüber beiden bezog er zuweilen auch sehr deutlich andere Positionen. Für das Resultat seiner Bemühungen darf der Kommentar gelten, den der Freund Friedrich Schlegel an Friedrich Schleiermacher im Sommer 1798 schickte: »Hard[enberg] ist daran, die Religion und die Physik durcheinander zu kneten. Das wird ein interessantes Rührey werden« (IV,620). seiner Überlegungen auf den Menschen als Mittelpunkt ist Lavater noch in einem viel strikreren Sinne ein Sohn der historischen Aufklärung als Novalis. !6Ygl. Lavater (s. Anm.

15), Bd. II, $. 31, ı89f. und

195, und Bd. IV, 5. 482.

'7Lavarer (s. Anm. "ÖL avater (s. Anm.

15), Bd. 11, 8. 28, 30, 174 und 218; Bd. III, S. 232 und 15), Bd. II, $. 218 und 192.

'®Lavarter (s. Anm.

15), Bd. IV, $. 30; Hervorhebungen getilgt.

Bd. IV, S. 177.

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Ulrich Stadler

Ich will dieses von Hardenberg zubereitete Gericht hier vorstellen, wenn

ich auch für seine Schmackhaftigkeir nicht bürgen kann. Ansetzen möchte ich — und das ist ebenfalls eine Rekapitularion früherer Darlegungen —”?° bei einer der vielen scheinbaren Gemeinsamkeiten zwischen Novalis und Lavater. Der Blick des letzteren ist auf eine Haupt- oder Grundform,?' derjenige Hardenbergs auf eine »Grundgestalt« (IEL,389:65 3) konzentriert,

die sich beide jeweils erst in der Negarion des Individuellen herausschälen. Was für Lavater Christus — »das Urbild aller körperlichen und geistigen Schönheiten und Vollkommenheiten«

— bedeuter,?”

das ist für Novalis

»der Tugendhafte«. Über ihn, die zentrale Instanz von Hardenbergs Programm einer »Moralisierung der Natur«, heißt es in den »Fragmenten und Studien der Jahre 1799- 1800«: »In der Tugend verschwindet die locale

und temporelle Personalitaet. Der Tugendhafte ist als solcher kein historisches Individuum

— Es ist Gott selbsc« (IN,670:610).

Entsprechend

der

Ausrichtung auf das Tugendhafte ist die Hardenbergsche Physiognomik nur an dem interessiert, was nicht »historisch« vergänglich ist. Nur das Beharrliche, das »Bleibende«

sei, so behauptet er, »unsrer ganzen

Auf-

mercksamkeit werth« (II,234:397 und 235:419). Mit dieser Auffassung ging Novalis auch auf Distanz zu Werner, der seine Charakteristik der Fossilien allzu sehr von seinen Beobachtungen an Einzelexemplaren abhän-

gig gemacht hatte: Werners Beschr[eibungen] sind zu individuell — zu sehr auf die individuelle Stufe, die er vor sich hatte, gerichtet. Aus richtigen mehreren individuellen Beschr[eibungen] eines Fossils entstehn allg[emeine] Beschr[eibungen] eines Fossils. (IH, 375:609; Hervorhebung von mir — U. St.)

Trotz dieser Kritik hätte Novalis seine Physiognomie-Lehre wohl kaum als antiindividualistisch eingestuft. Ihm ging es vielmehr darum, einen anderen Begriff von Individualität zu gewinnen. Er propagierte ein »substantielles

Individuum«,

das

sich aus

mehreren

historischen

Individuen

zusammensetzen sollte. Ein solches, die Eigentümlichkeit mehrerer Indivi-

duen umfassendes Wesen nannte er auch einen »Grenius«. So notierte er sich erwa unter dem Stichwore »MENSCHENBILD[UNGSIJL[EHRE]« im ‚Allgemeinen Brouillon«: Um

die Stimme zu bilden muß

der Mensch

den

— dadurch

substantieller.

wird sein Organ

mehrere Stimmen So

um

sich anbil-

seine Individualitaet

”° Vgl. den in Anm. ı genannten Aufsatz. ?! Lavater (s. Anm. 15), Bd. III, $. 43 und Bd. IV, S. 459. 2 [Lavater, Johann Caspar]: Aussichten in die Ewigkeit, in Briefen an Heren Joh. George Zimmermann [...]. 3. Bd. Zürich 1773, 5. 225.

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Zur Anthropologie Friedrich von Hardenbergs

93



auszubilden muß er immer mehrere Individualitaeten anzunehmen zu assimiliren wissen — Genius. (III,290:282)??

dadurch

Getreu seiner Theorie, wonach

wird

er z[um]

mehrere

haft« seien (II,428:36),”* verwendet

Namen

Hardenberg

substantiellen

und sich

Individuum.

für eine Idee »vorrheilneben dem

»Tugendhaf-

ten«, dem »substantiellen Individuum«, »Gott« oder dem »Genius« noch

einen weiteren Terminus für das Objekt gierde: den der »Gattung«.

seiner anthropologischen

Be-

Als Gattung hören wir nicht auf, aber als Einzelnes. [...] Unser Ich ist Gattung

und Einzelnes — allg[femein] und bes[onders]. [...] Das Allgemeine jedes Augenblicks bleibt, denn es ist im Ganzen. In jedem Augenblicke,

ın jeder Erscheinung

wirckt das Ganze

— die Menschheit,

das

Ewige ist allgegenwärtig — denn sie kennt weder Zeit noch Raum — wir sind, wir leben, wir denken in Gott, denn dis ist die personificirte Gattung. Es ist nicht in unsern Sınn ein Allgemeines, ein Besonders. Kannst du sagen es ist hier, oder dort?

Es ist alles, es ıst überall; In ihm leben, weben und werden wir seyn. Alles Ächte dauert ewig — alle Wahrheit — alles Persönliche. (II,248f.:462;

Hervorhebungen getilgr)”° »Gattung«

ist

ein

Terminus,

der

in

der

Oryktognosie-Lehre

Werners

gleichfalis vorkommt. Er ist auch dort dem Begriff des Individuums, d.h. dem des einzelnen Minerals oder Fossils, zugeordnet, und auch dort bezeichnet er nicht seine Negation. »Gattung« umgreift vielmehr nach Wer-

ner alle Individuen, bei denen das gleiche Mischungsverhältnis vorliegt.** Novalis indessen versucht mit seinem Gattungsbegriff noch sehr viel mehr ”3Ygl. auch IE,645:466: »Jede Person, die aus Personen besteht, ist eine Person in der zrer Potenz — oder ein Gerizs. In dieser Beziehung darf man wohl sagen, daß es keine Griechen, sondern nur einen Griechischen Genius gegeben har. Ein gebilderer Grieche war nur sehr mittelbar, und nur zu einem sehr geringen Theil sein eignes Werck. Daher erklärt sich die große und reine Individualitaet der griechischen Kunst und Wissenschaft [...]«. 24 Ygl. auch I1,592:298: »Jede Idee hat eine Skale von Namen [...]« und dıe Passage aus dem »Christenheit. Eine der Substanzen (oder mehrere) muß (müssen) flüssig sein, damit eine neue, höhere entstehen kann. Allerdings darf 3. nicht alles flüssig sein, weil die neu entstehende Mischung auch etwas Festes braucht, das ihre Kristallisation ermöglicht oder, wie es in der Fachsprache heißt,

an dem sie »anschießen« kann.

7 Vgl, u.a. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Encyelopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Frankfurt am Main 1970 (Theorie-Werkausgabe. Hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Bd. 8), $ 96, $. 204, Zusarz.

8 Kapicza, Peter: Die frühromantische Theorie der Mischung. Über den Zusammenhang von romantischer Dichtungstheorie und zeitgenössischer Chernie. München 1968 (Münchener Germanistische Beiträge 4), 8. 94ff. und 103. ®9Vgl. z.B. Lavater (s. Anm. 15), Bd. I, $. a2”, 9, 13 und 94; Bd. II, 5. 16 und 72; Bd. UI, 5.58 und Bd. IV, 5. 56, 208 und zıı u. ö.

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Zur Anthropologie Friedrich von Hardenbergs

95

ad ı. In Friedrich Albert Grens Nachschlagewerk »Systematisches Handbuch der gesammten Chemie« (1787ff.), einem Werk, das Hardenberg be-

saß,?° finder sich die folgende Unterscheidung zwischen Zusammenhäufung und Mischung: Die Verbindung der gleichartigen Theile unter einander zu einem Ganzen heißt die Zusammenhäufung

oder Zusammenfügung

(aggregatio),

die Verbindung

von

ungleichartigen zu einem homogenen Ganzen hingegen die Mischung oder Zusammensezung (synthesis, compositio, mixtio). Durch jene erhält man natürlicher Weise keinen neuen Körper, sondern nur einen der Masse nach vergrößerten und ähnlichen; durch diese aber einen ganz neuerzeugten und verschiedenen.?'

Jede Höherentwicklung beruht also auf der Verbindung ungleichartiger, heterogener Teile; werden homogene Teile zusammengefügt (z.B. zwei Wassermoleküle), so kann nichts Neues, und schon gar nichts Höheres

entstehen.3? Die neu erworbene Homogenität erheischt einen neuen, anderen heterogenen

Stoff, damit

sie sich noch höher entwickeln

kann, und

dieser Vorgang schlingt die ganze Kette aller Wesen in sich hinein. Wenn der Mensch sich zu einem Tugendhaften, zu einem »substantiellen Individuum«, zum Genius, zu Gott oder zur Gatrung verwandeln soll, dann muß er mit Nicht-Menschlichem, mit Steinen, Pflanzen, Tieren und $ter-

nen Verbindungen eingehen, bzw. es muß ihm etwas von diesen Entitäten eigentümlich sein. Der Roman »Heinrich von Ofterdingen« liefert dafür immer wieder anschauliche Beispiele. Zu Beginn des 2. Teils stößt der zum

Pilger gewordene

Romanheld

auf einen

Felsen, den

er mit

seinem

alceen thüringischen Hofkaplan und einem Eichbaum verwechselt (vgl. 1,320). Und nach dem Fest in Augsburg geht Heinrich auf, welcher »sonderbare Zusammenhang« zwischen Marhilde und der blauen Blume seines Traums besteht (I,277). Er bringt seine Geliebte mit Rosen und einer Lilie

in Verbindung (vgl. 1,270) und nennt sie obendrein einen »köstlichen lautern Sapphir« (1,280). Und in den Paralipomena heißt es vom projektierten Schluß des Romans: »Menschen, Thiere, Pflanzen, Steine und Gestirne, Flammen, Töne, Farben müssen hinten zusammen, wie eine Familie

[...] handeln und sprechen« (III,677:631). # Vgl. IV,697:57 und IV, 1064. 3'Zie. ist nach der 2. Auflage. Erster Theil.

Halle

1794, $ 21, 5.32.

— Vgl. auch den

Schluß des 3. »Dialogs< von Novalıs (I1,667). 2 [Johann Christian Reil kleidete diese Ansicht in die Frage: »Sind gleich die einfachen Stoffe zur Hervorbringung gewisser Erscheinungen nicht fähig, warum nicht die Mi-

schung derselben?« (Von der Lebenskraft. Ndr. der Ausgabe Halle 1796. Hrsg. von Karl Sudhoff. Leipzig ı91a [Klassiker der Medizin 2], $ 4, 5. ı ıf.)

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96

Ulrich Stadler Wie

können

verstanden

solche

werden?

Heterogenitäten

als »Familie«,

Es ist hier erforderlich,

zunächst

als Verwandtschaft einmal

den Begriff

der Verwandtschaft zu klären. Unser Verständnis des Worts ist weitgehend ein biologisches; wir benützen das Wort, um eine Ähnlichkeit zu bezeich-

nen, die zwischen verschiedenen Entitäten aufgrund einer gemeinsamen Herkunft besteht. Für Novalis war diese Bedeutung von » Verwandtschaft: jedoch keineswegs die einzige. Mindestens ebenso vertraut mußte er mit dem Bedeutungsinhalt gewesen sein, den der Begriff der chemischen Verwandtschaft Ende des 18. Jahrhunderts besaß. In der 1780 erschienenen Schrift »Revision der Grundlehren von der chemischen Verwandtschaft der Körper: von Johann Christian Wiegleb, dem ersten Chemie-Lehrer Hardenbergs,?? heißt es: Nur Newtons Scharfsinn blieb es vorbehalten, diese wichtige Grundursache der größten Wirkungen der Natur und Kunst [gemeint sind die Gesetze der Gravitatıon — U. St.] zu finden. Er entdeckte nämlich die Anziehungskraft in der Natur, und daß solche der Grund von allem Zusammenhange

[...] seitdem

ist nun

auch

bekanntermaßen

der Körper sei

die Anziehungskraft

von

den

größten Naturforschern für den wahren Grund von der chemischen Verwandtschaft der Körper anerkannt worden.?*

Die chemische Verwandtschaft zwischen zwei Substanzen läßt sich demnach gar nicht an optischen Kriterien, wie dem der Ähnlichkeit, festmachen, sondern wäre — wie bei der Beziehung zwischen zwei Planeten — nur eruierbar an der Art und Weise, wie zwei Körper aufeinander wechsel-

seitig reagieren. Sie ist zwar nicht identisch mit Heterogenität, wohl aber ist diese notwendige Voraussetzung von ihr. Nicht die äußere Beschaffenheit, sondern die Begierde der verschiedenen Substanzen, miteinander eine

»Mischung« einzugehen, entscheider über die chemische Verwandtschaft. Gold und Silber wären dann z.B. gar nicht miteinander verwandt, wohl aber Natrium und Salzsäure. (Deren Bereitschaft, miteinander eine chemi-

sche Verbindung einzugehen, sollte man freilich besser nicht ausprobieren.) Wenn Hardenberg von »Verwandtschaft« spricht, so meint er fast immer? die chemische Verwandtschaft. Bezieht man diesen Verwandtschaftsbegriff auf die Verhältnisse im »Heinrich von Ofterdingen«, dann 3 Bei ihm hatte Hardenberg schon im Januar 1796 einen vierzehntägigen Kurs in Chemie und Halurgie abgelegt. Erfurt 1780, 8. 4; zit. nach Kapitza {s. Anm, 28), $. 41. 33 Anders z.B. im »Öfterdingen« (vgl. 1,215). — Hardenberg

legte allerdings Were darauf,

der biologischen und den chemischen Verwandtschaftsbegriff als miteinander vereinbar erscheinen zu lassen. Ein Hinweis hierauf ist seine Definition der Kontraste als »inverse Aehnlichkeiten« (II,244:32).

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Zur Anthropologie Friedrich von Hardenbergs

97

zeigen sich ganz andere Verwandtschaftsbeziehungen als die immer wieder hervorgehobenen.

Dann

rücken nicht so sehr die Dichterfiguren

(Arion,

der Jüngling des Atlantismärchens und Heinrich) oder die weisen Alten (der Bergmann, der Graf von Hohenzollern, Sylvester) zusammen, sondern

komplementäre Gestalten, die in einem erotischen oder pädagogischen Spannungsverhältnis zueinander stehen, also z.B. Heinrich und Mathilde oder Heinrich und Klingsohr. Heinz Dieter Schmid hat diese Verwandt-

schaftsverhältnisse in seiner ausgezeichneten, leider ungedruckten Tübinger Dissertation von

19513°

deraillierr aufgezeigt, allerdings hat er sie

bloß auf den menschlichen Bereich beschränkt gesehen. Sie machen jedoch auch vor dem Naturreich der Pflanzen, Tiere und Steine nicht halt. Das geht jedenfalls aus der Behauptung der Kaufleute im zweiten Kapitel des

‚Ofterdingen Jurassic Park« am selben Ort. Aber im Unterschied zur Reise von Eros und Fabel zu Freya wartet kein »Paradies«, sondern höchstens ein »Paradigmenwechsel: Vgl, hierzu auch Berg, Hermann/Richter, Klaus: Entdeckungen zur Elektrochemie, Bioelektrochemie und Photochemie. Von Johann Wilhelm Ritter. Leipzig 1986 (Östwalds Klassiker der exakten Wissenschaften. Bd. 271), 8. 35f.

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Romantische Naturphilosophie

133

In den wichtigsten Experimenten seines Werkes von 1798, die in den Figuren 67-71 abgebilder sind, unternimmt Ritter präzise Modifikationen an den organischen Teilen der Ketten (d.h. am Muskel und am Nerv

des Froschschenkels), um zu demonstrieren, daß die gleiche fortdauernde Kraft (d.h. Wirkung) sowohl in den organischen als auch in den anorgani-

schen Teilen der Ketten tätig ist. Genauer gesagt, modifiziert Ritter den Nerv in diesen Experimenten, um zu zeigen, daß die Ursache der Nervtätigkeit in der gleichen internen fortdauernden Wirkung liegt, die in der elektrochemischen Wirkung der anorganischen Teile der Ketten tätig ist. Um die Anwesenheit einer forcdauernden internen Wirkung in galvanischen Ketten

zu demonstrieren,

baut Ritter Experimente auf, wo keine

neuen Leiter zu den Ketten hinzugefügt werden. Hätte er einen neuen Leiter hinzugefügt, hätte dies impliziert, daß galvanische Wirkungen durch das Addieren eines neuen Leiters und nicht durch die interne Wirkung in den Ketten allein entstehen. Statt dessen wird in diesen Experimenten der Nerv auf sich selbst zurückgebogen, um einen neuen Kontaktpunkt in der Kette herzustellen und damit eine galvanische Wirkung zu verursachen. In der 68. Figur z.B. schließt die Schlinge des Nervs »ß« die Kette am Punkt »&«. Indem Ritter den Nerv auf sich selbsc zurückbiegt, läßt er die Kette als ein geschlossenes Ganzes ungestört. Die Art und Weise, wie der Nerv, auf sich selbst zurückgebogen, eine galvanische Wirkung verursacht, wird symbolisch dafür, daß alle Ketten geschlossene Formen

sind, innerhalb derer die Materie sich verändert und galvanische Tä-

tigkeit stattfindet. Für Ritrer besteht die ganze Natur aus galvanischen Ketten: Die ganze Natur ist ein geschlossener Prozeß, worin sich die Materie dynamisch verändert.?? Die Einheit von Ritters naturphilosophischer »Produktivität« und seiner Theorie des Galvanismus

besteht daher darin, daß seine Idee der Form

galvanischer Ketten mit der Verwendung der Formen (d.h. der Abbildungen) in seinem Entdeckungsprozeß analog ist. Diese Idee von Formen wird auch in Novalis’ Bemerkungen über Ritter begründet. Ritters Begriff von Stoff und Form — wie es in seiner Vorstellung der riesigen galvanischen Kette der Natur dargestellt wird — stimmr mit Novalis’ Ansicht überein, daß Substanzen, wenn sie miteinander reagieren, ihre Formen aneinander

weitergeben. Wenn Novalis von Ritters Experimenten spricht, betont er,

Vgl, z.B. Ritter, Johann Wilhelm: Beweis, daB ein beständiger Galvanismus den Lebensproceß in dem Thierreich begleite. Weimar 1798, 5. 171.

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134

Fergus Henderson

daß allein durch die Veränderung

der Form

einer Kette (und nicht durch

Addieren eines neuen Leiters) galvanische Tätigkeit erfolgt: Man kann Reitz oder Thätigkeir durch bloße Veränderung der Kettenglieder hervorbringen. Alles ist Glied einer Kette. Jedes neue Glied veranlaßt Repraesentationen in den andern Gliedern — dadurch Thätigkeit [...]. (III,612:350)

In dieser Feststellung über Materierheorie nennt Novalis die Formen der Substanzen ihre »Repräsentationen«, und diese Ansicht über die Materie stimmt mit Novalis’ Gesamtansicht zur Erkenntnis überein. Anderswo nennt Novalis die Form eines Phänomens seine »Figur«, und in einer

größeren Perspektive sieht Novalis Formen und »Figuren« in allen zweckmäßigen Tätigkeiten der Natur: die Figuren bilden die große Varietät der Sprachen der Natur (1,79; vgl. III,ı23f.). Novalis’ Begriffe von »Erkenntnis« und »Örganisarion< drehen sich um die Idee der Repräsentation in den Sprachen der Natur und des Menschen: alle diese Sprachen werden von Novalis als zweckmäßige Tätigkeit verstanden. Was Ritter nach Meinung von Novalis geleistet hat, ist, die Figuren der Natur in die schöpferischen Figuren seiner Abbildungen zu übersetzen, und auf diese Weise erschließe sich ihm die galvanische Sprache der Natur. In Ritters Arbeit wird auch deutlich, was Novalis meint, wenn er sagt, daß der Naturfor-

scher »ein Gefühl« für die Natur haben muß (vgl. IH,179 und 256:89). Durch seine schematischen Abbildungen der Phänomene komme Ritter immer näher an ein konktet-begriffliches Verständnis der Phänomene, Im Rückblick auf die Bedeutung von Herders »Plastik< kann man sagen, daß Ritter sowohl ein Gefühl als auch einen inneren Sinn für galvanische Phä-

nomene erreichte.

V Es bleibt noch zu fragen, wie Novalis’ und Ritters Idee der Wissenschaft mit Novalis’ Literatur verbunden ist und in welcher Form Novalis darin

auf Ritters Idee des Galvanismus Bezug nimmt. Offensichtliche Anklänge an diesen werden in dem »Märchen« in »Heinrich von Ofterdingen« gefunden.?? Das Märchen erzählt von einer Suche. Eros soll die Prinzessin Freya

finden, sie küssen und die Welt dadurch zu ihrer ursprünglichen Harmonie 3 Vgl. auch Wetzels, Walter D.: Klingsohrs Märchen als Science Fiction. In: Monatshefte

65 (1973), $S. 167-175; Burwick, Frederick: The Damnatien of Newton: Goethe’s Color Theaty and Romantic Perception. Berlin/New York 1986, $. 109-117.

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Romantische Naturphilosophre

135

zurückkehren lassen. Es ist bedeutsam, daß die beiden Persönlichkeiten,

die Eros auf seiner Suche helfen, symbolisch für eine erfahrungsmäßige und konkrete Art des Denkens sind. Eros’ Helfer sind Ginnistan, die für die Einbildungskraft steht, und Fabel, die offensichtlich für die stark

schöpferische literarische Form ihres Namens steht.?* Tarsächlich spielt sie bei der Suche die größte Rolle. Es ist Fabel, die die Welt von den bösen Parzen und den erbarmungslosen rationalistischen Schreibern befreit (vgl. 1,307ff.).

Sie

ist es auch,

die Atlas

und

den

Vater

wiederbelebt

(vgl.

1,3 10f.}. Und es ist Fabel, die Eros zur Prinzessin Freya begleitet und die Eros anleitet, wie er die Prinzessin erwecken

soll (vgl. 1,313). Alle diese

Wiederbelebungen werden mit Hilfe des Galvanismus ausgeführe. Für die Wiederbelebung von Atlas und dem Vater benutzt Fabel ihre zwei Begleiter Gold und Zink sowie die Flüssigkeit in dem Gefäß der Sophie. In diesen Wiederbelebungen werden galvanische Kerten aus den Metallen, der Flüssigkeit und den Menschen konstruiert. Dies ist jedoch nicht der einzige Aspekt des Anklangs von Ritters Begriff des Galvanismus in diesem Märchen. Genauso bedeutsam für die Ereignisse im Märchen sind die Begriffe »Stromrichtung« und »fortdauernde galvanische Wirkung«.

Stromrichtung

impliziert

dabei

eigentlich

die Idee einer fortdauernden Wirkung, da diese Wirkung immer in galvanischen Kerten vorhanden ist: Es ist das Phänomen der Scromrichtung, welches die fortdauernde Wirkung sichrbar macht. Stromrichrung spiegelt sich nicht nur offensichtlich in dem Märchen, sie hat auch die Rolle einer grundlegenden symbolischen Funktion. Hier kann man sehen, daß die

naturwissenschaftlichen Ideen nicht nur einfach in der Literatur wiedergegeben werden, sondern die Welten der Naturwissenschaften und der Literatur hier einander auf eine grundlegendere Weise treffen. Eine Mechode bindet die beiden zusammen: sie verwenden beide repräsentative Symbole als konkrete Formelzeichen. Es gibt eine Serie von Episoden im Märchen, die Bezug auf »Stromrichrung< nehmen. Diese Episoden können als ein »Experimentencalcul< oder als eine »Instrumentalsprache« verstanden werden. Sie sind Bilder, die den Begriff von »Richtung< zunehmend näher definieren, ein Prozeß, analog dem in Ritters galvanischer Arbeit, wo die

Abbildungen immer näher an eine Formulierung seiner Theorie kommen. Novalis behandelt die Sprache nicht im Sinne von diskreten Wörtern, sondern er verwendet diese in den Mustern und den Wortgruppen seiner #4 Zur Bedeutung Ginnistans vgl. die Anmerkungen in der historisch-kritischen Ausgabe

(1,639).

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136

Fergus Henderson

Bilder, um Bedeutung zu vermitteln. Hinweise deutlich in den Szenen der Wiederbelebungen. sind die $zenen, die auf magnetischen Strom Stromrichtung ist symbolisch für die Richtung,

auf »Stromrichtung« sind Ebenfalls aufschlußreich verweisen. Magnetische in der die Helden, Eros

und Fabel, reisen müssen. Um Prinzessin Freya zu finden, müssen sie nörd-

lich zu Arkturs Reich wandern. Ein Stück Eisen als Kompaß hilft ihnen, und sie segeln mit einem Schiff aus Stahl, das sich magnetisch nach Arkturs Reich richtet (vgl. 1,313). Der Begriff der »galvanischen Stromrichtung« ist jedoch noch bedeutsamer als der der magnetischen Stromrichtung«. Die magnetische Stromrichtung symbolisiert nur den geographischen Pfad von Eros und Fabel. Die galvanische Stromrichtung symbolisiert jedoch die Richtung, die das Märchen selbst nimmt; sie bezeichnet den eigentlichen Zweck des Märchens: die Suche. Eros’ Suche hat natürlich ihren eigenen spezifischen Zweck und eine Richtung, die sie nehmen muß. Am Ende des Märchens

werden die beiden Ebenen der Richtung — die der galvanischen Stromrichtung und die der Suche — vereint, wenn Eros die Prinzessin küßt. Indem er das tut, wird die universale Kerte der Liebe in der Welt wieder geschlossen (vgl. 1,313).

Dies

ist ein Ereignis,

das sowohl

physikalisch

ist (eine

riesige galvanische Kerte wird geformt, wenn Eros die Prinzessin küßt) als auch moralisch, da der Kuß Ordnung in der Welt wiederherstellt. Die Beziehung zwischen Novalis’ Begriff der konkreten Formelzeichen und der universalen Kette der Liebe erfüllt Novalis’ Begriff der »Figur«. Der Symbolismus der Seromrichtung im Märchen zeigt, wie die Natur eine Figur ihrer Tätigkeit zeichnet. Auf einer anderen Ebene bilder Eros seine eigene biographische Figur in den Tätigkeiten seiner Suche ab. In der letzten Handlung der galvanischen Kette der Liebe werden beide Figu-

ren der Stromrichtung und der Suche des Eros eine und dieselbe Figur. Dies ist parallel zur Art und Weise, wie Ritters Abbildungen die galvanische Sprache der Natur zeichnen, und parallel zu Ritters eigener Figur seiner naturwissenschaftlichen Suche. Ritters naturwissenschaftliche Suche hat, wie die des Eros, das Ziel, das Zweckmäßige und das Physikalische zu vereinen. Die Figuren in Ritters Werk und in Novalis’ »Märchen« sind auch auf

eine weicere Weise verwandt. Die Schlüsselexperimente, die in den Figuren 67-71

abgebilder sind und die die Wirkungen

der Veränderungen

des

Nervs in der Kette zeigen, entsprechen einem Schlüsselteil des Märchens. Der Nerv ist ein Zeichen der Selbsttätigkeit eines Phänomens, da er auf

sich selbst zurückgebogen wird. Auf eine analoge Weise ist Fabel der

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Romantische Narurphilosophie

137

selbsttätige, selbstreflektierende Teil der Einbildungskrafe. In dem »Märchen«

übernimmt

Fabel die Aufgabe Ginnistans

(der Einbildungskraft),

auf Eros aufzupassen. Genauso wie die Selbscetätigkeic des Nervs zu Ritters Idee der galvanischen Tätigkeit steht, so ist Fabels Rolle im Märchen eine selbstreflektierende Erweiterung der Einbildungskraft: Fabel übernimmt Ginnistans Aufgabe,

definiert sie neu und unternimmt

auch wesentlich

mehr. Auf diese Weise beziehen sich eine wesentliche Grundlage eines Entdeckungsprozesses in den Naturwissenschaften und ein wesentliches strukturelles Element in einem literarischen Text aufeinander.

VI Das Zeichnen einer Figur hängt eng mit Novalis’ Begriff von »Experiment« zusammen. In allen Figuren wird das Wissen erfahren und auf eine repräsentative Weise fühlbar gemacht. Der Begriff der »Plastisirung« erklärt, wie in der Figur das Wissen taktil durch konkrete Symbole erfahren werden kann. Durch »Plastisirung« wird ein Gefühl und ein innerer Sinn für Ideen ermöglicht. Auf diese Weise wird der innere Sinn der Einbildungs-

kraft betätigt. Die Beziehung zwischen Naturwissenschaft und Literatur scheint einer-

seits in der Idee des »Plastisirens< zu liegen. Andererseits kann man sagen, daß es die Themen bzw. die grundlegenden Ansichten der Naturphilosophie sind, die die Naturwissenschaften und die Literatur verbinden. Da ‚Plastisirung< und Naturphilosophie beiden eigen sind, scheint es die spezifische Rolle der Literatur zu sein, den Naturwissenschaften moralische,

syrnbolische und »wircksame Begriffe: zu liefern. Was wir jedoch primär in der Naturwissenschaft Ritters, der Naturphilosophie Schellings und Novalis’ Literatur gesehen haben, ist »Produktivi-

tät< in verschiedenen Bereichen des Wissens: dies deutet auf das allgemeine Interesse an »Produktivität: der Romantiker hin und auf die zentrale Be-

deutung des »Experimencs« in Novalis’ Werk. Experimentieren heißt, Wissen als eine vermitteinde Handlung zu betrachten. In allen Bereichen des Wissens geht es um »Produktivität« und Erkenntnisgewinn, und dazu muß man experimentieren und das Wissen selbst als erwas Phänomenales behandeln. Nur wenn man das Wissen als etwas Phänomenales und Erfahtungmäßiges betrachtet, durch experimentales symbolisches Wissen zwischen Theorie und Praxis vermittelt und das Subjekt in den Prozeß des Erkenntnisgewinns einbringt, ist ein Wissensfortschritt möglich. Die Art,

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Fergus Henderson

wie Novalis naturwissenschaftliche Entdeckungprozesse oder »Produktivität< betrachtet, zeigt, wie das Subjekt verwendet werden kann, um

den

Regreß des Experimentators zu vermeiden. Novalis’ Gebrauch der Sprache scheint sich auch dafür zu eignen, den Sprachregreß des Dekonstruktivismus

zu überwinden,

da er das Subjekt

einholc.

Novalis

zeigt, wie das

Subjekt Symbole, Wortmuster und Wortgruppen verwendet, um zwischen dem Sprachzeichen und den Phänomenen selbst zu vermitteln und Bedeutung zu erreichen. Überhaupt können das Wissen und das »Absolute< nur transzendent durch Praxis und das Subjekt angenähert werden.

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Romantische Naturphulosophie

139

Abb. ı: Ritters galvanische Abbildungen, Figuren 67-71 (»Beweis«, 1798)

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140

Fergus Henderson

[2

Abb. 2: Unterschiedliche Abbildungen und Ansichten galvanischer Experimente. Von oben nach unten: Ritter (»Beweis«, 1798); Humboldt (Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser:, 1797); Volta (»Neues Journal der Physik«, 1797)

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Romantische Narturphilosophie

141

Aus der Diskussion Neubauer: Was Sie gesagt haben über die rhetorische, mnemotechnische Bedeutung von Experimenten fand ich höchst interessant, und es war mir einerseits unbekannt, andererseits bekannt. Unbekannt als rhetorische In-

terpretation von Experiment, bekannt von Goethe her. Auch bei Goethe, in dem von Ihnen genannten Aufsatz »Der Versuch als Vermiteler:, wird der Versuch als Wiederholen bereits gemachter Experimente bestimmt. Was mir nicht deutlich ist, ist, in welcher Weise das nun bei Novalis so

ist. Sie haben ja gemeint, das Experiment bei Novalis habe auch diese rhetorisch-mnemotechnische Bedeutung. Ich würde gern einen Unterschied

sehen zwischen Goethe und Novalis. Gibt es diese Bedeutung von »Experiment« bei Novalis wirklich und wenn ja, in welcher Weise? Henderson: Ich denke, daß im Falle Ritters sehr klar ist, daß die Experimente Wiederholungen einer Form sind. Auch von der Erfahrungsseite

her geht es um Wiederholungen, und bei Novalis ist die Plastisierung eine Wiederholung der Erfahrung des Ich. Neubauer: Wenn ich mir die Abbildungen anschaue, dann sehe ich eine Modifizierung. Die Experimente wiederholen sich, aber in einer modifizierten Weise. Es ist nicht ganz genau eine Prüfung dessen, was man

früher gemacht hat, sondern mehr eine Weiterentwicklung einer Technik oder einer Form. Goethe hat sich das Prisma geholt, hindurchgeschaut und gesagt: Ich sehe etwas anderes als Newton. Also wiederholt er das Experiment, erhält aber andere Resultate. Und das sehe ich hier bei Ritter nicht so. Es ist eine Reihe von Experimenten, aber doch in einer anderen Weise. Henderson: Ich beziehe mich auf die Bedeutung des Begriffs des »Experiments« in der Antike, wo in der mnemotechnischen Tradition ein Experiment als ein » Wiedererfahren« einer vergangenen Erfahrung gedeutet wird: Es war eine Tätigkeit, die das ganze Erkenntnisvermögen des Menschen

in Anspruch

nimmt.

Ein wesentlicher Teil davon

war die

Fähigkeit, sich eine Begebenheic oder einen Prozeß im Kopf plastisch vorstellen zu können. Herb:

Har Ritter versucht, seine Experimente

Henderson:

zu marhematisieren?

Ritter hat seine Froschschenkel-Experimente als Mittel be-

nuczt, um eine mathematische Merhode zu entwickeln, aber er hat lerzt-

lich keine mathematischen Modelle ausgearbeitet. Piper: Habe ich Sie recht verstanden, daß sie einen Gegensatz sehen zwischen der Narurphilosophie von Novalis und dem deutschen Idealismus?

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142

Henderson:

Fergus Henderson

Nein, keinen Gegensatz.

Ich habe mich darauf beschränkt,

die Ähnlichkeiten zwischen Schelling und Novalis hervorzuheben, nicht die Unterschiede. Die Ähnlichkeiten sehe ich im Blick auf Produktivität, im Blick auf Umgang mit Erfahrungswissen. Die Unterschiede zwischen Schelling und Novalis sind schon häufiger herausgestellt worden. Faber: Eine Frage zu Naturphilosophie, Nacurwissenschaft und Dichtung. Was ergibt sich dafür aus Ihrem Vortrag Herr Henderson? Henderson: Ich habe es am Ende gesagt: Die Narurphilosophie ist das Verbindungsglied zwischen der Literatur und der Naturwissenschaft. Die Naturphilosophie befaßt sich über Schelling mit der Frage der Zweckmäßigkeit der Natur, sie erschließt die transzendentalen Voraussetzungen der Erkenntnis und befaßt sich mit der poetischen Produktivität. Die Naturphilosophie befaßt sich mit der Frage, wie die Menschen die Natur eigentlich verstehen können, so daß sie einen höheren Stellenwert hat als die Dichtung.

Schulz: Es kommt noch eewas hinzu: Die romantische Dichtung löst sich von den klassischen Mustern und damit von Regelpoetiken. In einer solchen Dichtung wie dem Klingsohr-Märchen haben Sie experimentelle

Dichtung, die dort, wo Regelpoeriken gelten, natürlich nicht mehr möglich ist. Bei Novalis bedeutet das die Aufnahme der aktuellsten wissenschaftlichen Forschungsergebnisse zum Magnetismus und Galvanismus. Hier vollzieht sich ein Paradigmenwechsel.

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Manfred Engel (Erlangen)

» Träumen und Nichtträumen zugleich«. Novalis’ Theorie und Poetik des Traumes

zwischen Aufklärung und Hochromantik Kein Zweifel: Unter den romantischen Traumdichtern gehört Novalis zu den anerkannten Großmeistern: sein Traum von der »blauen Blume« hat in diesem Genre Epoche gemacht. Wer allerdings erwartet, in Novalis nun auch einen der führenden Traumtheoretiker der Romantik zu finden, wird

enttäuscht werden. Zwar weist das Register der Werkausgabe mehr als 120 Einträge zum Wortfeld »Traum« nach;' an theoretischen Passagen gibt es jedoch nur 24 Aufzeichnungen und einige kürzere Abschnitte in den Dichtungen und Briefen. Von einer Traumtheorie des Novalis kann so, im strengen Sinne, nicht gesprochen werden. Es finden sich allenfalls Ansätze dazu, die überdies, mindestens auf den ersten Blick, in recht ver-

schiedene Richtungen weisen. Jeder Rekonstruktionsversuch bedarf deswegen der extensiven Kontextualisierung; erst von der zeitgenössischen De-

batte über den Traum aus lassen sich die Problemstellungen und -lösungen in Novalis’ theoretischen Schriften in Ihrem systematischen

Zusammen-

hang begreifen. Ich werde daher in vier Schritten vorgehen: Ich stelle zuerst

die Traumtheorie

der

Aufklärung

(mit

deutlichem

Akzent

auf der

Späraufklärung) und dann die der Hochromantik zumindest in groben Zügen dar. Vor der Folie dieser beiden Nachbarepochen rekonstruiere ich dann in einem dritten Schritt Novalis’ frühromantische Position und schließe mit einigen Thesen zu seiner Traumpoetik.

In der Diskussion der Früh- und Hochaufklärung spielt die direkte Thematisierung

des Traums?

eine geringere

Rolle

als seine Funktionalisie-

' Ergänzend heranzuziehen wären die Einträge zu den Wortfeklern »Schlaf« und » Wachen«.

® Neben der immer noch fortwirkenden Diskussion über »übernarürliche« — gortgesandte

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144

tung

Manfred Engel

— als Argument

und Exemplum

— im Rahmen

zweier zentraler

Fragestellungen: im Versuch der Rationalisten, eine eigenständige Ontolo-

gie zu begründen, und im Kampf der Aufklärer — vor allem der Popularaufklärer —? gegen die Offenbarungsreligion und gegen den Aberglauben überhaupt. Zunächst

zum

ontologischen

'Iraumargument:*

Zu

den

wesentlichen

Gründungsakten der rationalistischen Philosophie gehört die Formulierung eines eigenständigen Wirklichkeitsbegriffs, der sich gleichermaßen von dem der christlichen Metaphysik wie von dem des Empirismus uncer-

scheidet. Es ist Rene Descartes (1596-1650), der in diesem Zusammenhang erstmals auf das Traumargument zurückgreift. In seinen »Meditationes de prima philosophia« von 164r steht es gleichermaßen am Anfang des mechodologischen Zweifelns wie an seinem Ende: Die Ununterscheidbarkeit von Traum und Wachen stellt zunächst die Gültigkeit jeder sinnlichen Erfahrung in Frage; am Schluß des Textes rundet dann eine gesicherte Unterscheidung die neu gewonnene Sicherheit des denkenden Subjekts ab. Allerdings hat Descartes in den »Meditationes< die selbst heraufbeschworenen Gespenster des Skeptizismus nur unzureichend wieder bannen können. oder allgemein prophetische — Träume versucht man sich hier vor allem an einer physiologischen Erklärung des Traums. Vgl. dazu und zur Traumtheorie des 18. Jahrhunderts überhaupt:

and

che

Crocker, Lester G.: Lanalyse des r&ves au

ı8ch Century 23 (1963), $. 271-310,

und

ıBe siöcke. In: Studies on Voltaire

Aikins, Janet E.: Accounting

for

Dreams in »Clarissa«: The Clash of Probabilities. in: Psychology and Literature in che ı8th Century. Hrsg. von Christopher Fox. New York 1937, 85. 167-197 {mit umfassenden Lirerarurangaben zur englischen Traumrheorie des ı7. und 18. Jahrhunderts). > Vgl. Holzhey, Helmut: Art. »Popularphilosophie«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd. 7. Darmstadt 1989, Sp. 1093-1100, und den Forschungsbericht von Altmayer, Claus: Popularphilosophie. Neue Forschungen zu einem immer noch vernachlässigren Thema. In: Das 18. Jahrhundert 15 (1991), $. 86-92.

*Vgl. dazu die umfassende Darstellung von Carboncini, Sonia: Transzendentale Wahrheic und Traum. Christian Wolffs Antwort auf die Herausforderung durch den Cartesianischen Zweifel. Stuttgart

1991

(Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung; Abr.

II: Monographien). Mir dem Siegeszug des Empirismus verliert das ontologische Traumargument zunehmend ar Bedeutung. Doch nennt es selbst ein so entschiedener Empirist wie Moritz noch als zweites von drei Zielen der Beschäftigung mir dem Traum: »Der

Weise macht den Traum zum Gegenstande seiner Betrachtungen, um die Natur des Wesens zu erforschen, was in ihm denkt, und träumt [also der Seele]; um durch den Unterschied zwischen Traum und Wahrheit die Wahrheit selbst auf festere Stützen zu stellen,

um dem Gange der Phantasie und dem Gange des wohlgeordneten Denkens bis in seine verborgensten Schlupfwinkel nachzuspähen«; Magazin zur Erfahrungsseelenkunde 4 (1786), H. 1; hier nach: Moritz, Karl Philipp: Die Schriften in 30 Bänden. Hrsg. von Petra und Uwe Nettelbeck. Bd. 4. Nördlingen 1986, 5. 22f.

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» Träumen und Nichtträumen zugleich«

145

Sein Kriterium für den Unterschied zwischen Traum und Wachen — nur die Erlebnisse des Wachenden sollen sich im Gedächtnis zu einer ununterbrochenen Folge verbinden —? bleibt ein bestreitbares psychologisches Argument. Eine wirklich überzeugende Abgrenzung von Traum und Wachen gelingt erst Christian Wolff (1679- 1754):° Dieser mißt den Traum nicht an seiner Übereinstimmung mit einer wie auch immer gearteten Erfahrung, sondern an den unveräußerlichen Wahrheiten und Gewißheiten der Vernunft. Dabei zeigt sich, daß dem Traum die »Ordnung« (»ordo«) fehlt —

Wolffs höchste ontologische Kategorie, die vor allem bestimmt ist durch den Satz vom zureichenden Grund und den Satz vom Widerspruch: »In der Wahrheit ist alles in einander gegründet, im Traume nicht«.” Wolff erläutert dies 1751 in seinen »Vernünfftigen Gedancken: am folgenden ausführlichen Beispiel: Bei einem nur geträumten geselligen Beisammensein [.-.] kan ich nicht sagen, warum jede Person zugegen ist, und wie sie dahin har kommen können; denn wenn ich Wirth bin, werde ich ungeladene, auch öfters fremde Gäste sehen, ja unter ihnen einige erblicken, die ich zu anderer

Zeit an weit entlegenen Orten gesehen, oder die auch wohl schon längst gestorben und unter der Erden verfaulet sind. Niemand wird sagen können, warum sie zugegen sind. Eine Person wird sich im Augenblicke in die andere verändern können, ohne daß man sagen kan, wie es weg seyn, ohne daß sie fortgegangen; andere hergekommen sind. Die ganze Gesellschaft ohne daß sie aufgestanden und fortgegangen

zugegangen. Es werden Personen hingegen da stehen, ohne daß sie wird in einem andern Orte seyn, ist.®

3 »Jetzt [...] merke ich, daß zwischen [Traum und Wachen] der sehr große Unterschied ist, daß meine Träume sich niemals mit allen übrigen Erlebnissen durch das Gedächtnis so verbinden, wie das, was mir im Wachen

begegnet«

(Descartes, Rene: Medirationen

über die Grundlagen der Philosophie. Auf Grund der Ausgaben von Arnır Buchenau neu hrsg. von Lüder Gäbe, durchgesehen von Hans Günter Zekl. Hamburg 1976 [Meiners Phil. Bibl. 271], 5. 80); vgl. dazu Carboncini (s. Anm. 4), $. 38-59. 6 Wolffs Traumlehre wird in der europäischen Aufklärung populär, weil der 1765 in der »Encyclopedie« erschienene Artikel »songe« fast wörtlich aufeeinen Aufsatz des Wolffianers Johann

Heinrich

Samuel

Formey

(1711-1797)

basiert;

vgl.

Carboncini

(s.

Anm. 4),

S. 184-189. Vor dem von Carboncini erwähnten Druck des »Essai sur les songes: in Formeys ‚Melange philosophique« (Bd. ı. Leiden 1754, S. 159-184) war der Aufsatz bereits 1746 in dem »Memoires de l’Acad&mie de Berlin« erschienen. Auf dieser Fassung beruht der »Versuch von den Träumen« in der »von einem Forscher im Gebiete der Mera-

physik« zusammengestellten »Sammlung der merkwürdigsten Träume«. Leipzig ı8ı0, 8. 13-18. ?"Weolff, Christian: Vernünfftige Gedancken von Gort, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupr [1751]. Nach dem Reprint in: Gesammelte Werke. 1. Abr, Bd. 2. Hısg. von Charles A. Corr. Hildesheim 1983, $. 76 ($ 143). 9Ebd,, 5. 75£.; ausführlich zu Wolffs Traumlehre: Carboncini (s. Anm. 4), 8. 90- 1353.

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Manfred Engel

Man sieht sofort, worin der unmittelbare Ertrag der ontologischen 'Traumdiskussion besteht: Sie schärft den Blick für eine Phänomenologie des spezifisch Traumhaften. Zugleich aber ist klar, daß damic der Traum als das Nicht-Wahre schlechthin gelten muß.? Auf neuer, rationalistischer Basis knüpft das ontologische Traumargument so an die metaphorische Verwendung des Wortes »Traum« an — berühmtestes Beispiel dafür ist der Titel von Calderons

Drama

>La vida es suefo«

—, die den Diskurs

über den

Traum seit jeher begleitet und immer wieder mit ihm interferiert."® Die zweite Funktionalisierung des Traumthemas finder sich im aufklärerischen Kampf gegen Offenbarungsreligion und Aberglauben. Einen guten Eindruck davon verschafft der 1745 erschienene Artikel »Traum« in Johann Heinrich Zedlers einflußreichem »Universallexikon«.'" Der »Zedler« unterscheider zwischen übernarürlichen und narürlichen Träumen. Erstere unterteilen sich in Träume göttlichen und satanıschen Ursprungs, letztere in

Träume, die »in der Natur unsers Cörpers« — hervorgerufen durch schwache Außen- oder Körperwahrnehmungen des Schlafenden — und in solche, die »in der Natur der Seele« gründen — "* hervorgerufen durch die assoziativ-kombinatorische Tätigkeit der Einbildungskraft. Diese Einteilung ist nicht ungewöhnlich; neu sind jedoch die dabei gesetzten Wertakzente. Der voraufklärerische Traumdiskurs konzentrierte sich auf den übernarürlichen

Traum, der natürliche war allenfalls von physiologischem und medizinischem Interesse. Jetzt dagegen verlieren gerade die übernatürlichen Träume an Bedeutung: Im »Zedler« wird zunächst eneschieden bestritten, daß es vom Teufel eingegebene Träume gibt. Bei göttlich inspirierten Träumen — die ja in der Bibel vielfach bezeugt sind — würde eine ähnlich entschiedene Absage zum direkten Konflikt mit der religiösen Orthodoxie ?Diese Abwertung des Traums ist im Rahmen der rationalistischen Episteme keineswegs zwingend.

Die 'Traumarbeit

der Seele könnte

ja — gemäß

der rationalistischen Zwei-

Substanzen-Lehre — auch als vom Körper befreire reine Seelentätigkeir gedeurer werden. Dies geschieht allerdings nur sehr selten, wichtigstes Beispiel ist die einflußreiche Abhandlung von Joseph Addison (1672-1719) ım Spectator Nr. 487 vom 18.9.1712: Hier gelten Träume nicht nur als »Relaxations and Amusements of che Soul, when she is disencumbered of her Machine«, sondern sogar als Indiz (»strong Intimations«) für die Unabhängigkeit der Seele vom Körper (Addison/Steele: The Spectator. 4 Bde. Hısg. von Gregory Smith. Bd. 4. London 1958, 5. 42-45, Zitate: 8. 42 und 45). '°An diese metaphorische Verwendung des Traumbegriffs anknüpfend, wird etwa Kant in den »Iräumen eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik< (1766) von »Träurmern der Vernunft« (Vertretern der dogmatisch-rationalistischen Metaphysik) und von » Träumern der Empfindung« (Schwäcmern wie Swedenborg) sprechen.

"T Großes Vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste. Bd. 45. Leipzig 1745. Reprint: Graz 1962, Sp. 173-209. "? Ebd., Sp. 177.

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»Träumen und Nichteräumen zugleich«

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führen. Vermutlich deshalb greift der Artikel auf die schwache Variante

der deistischen Wunderkritik zurück: Zumindest heute sind von Gott geschickte Träume ausgeschlossen, da dieser nicht mehr direkt in den natürlichen Gang der Dinge eingreift.'? Der Kampf gegen übernarürliche Träume und alle mit ihnen verbundene Formen des Aberglaubens begleitec den aufklärerischen Traumdiskurs als basso continuo."* Erst die Radikalempiristen der Spätaufklärung — etwa Moritz als Herausgeber des »Magazins zur Erfahrungsseelenkunde« — '? werden in ihrer vorbehaltlosen Offenheit für z4/e bezeugten Fakta auch die Möglichkeit prophetischer Träume wieder ernsthaft diskutieren. Ansonsten aber dominiert im popularaufklärerischen Schrifttum eindeutig der Versuch, alle Träume — auch die erschreckendsten und die scheinbar prophetischen — narürlich zu erklären. So erzählt etwa Georg Hermann Richerz, Universitätsprediger in Göttingen, ausführlich einen eigenen Alptraum, in dem er öffentlich hingerichtet wird, nur um ihn dann bis ins

kleinste Detail aus Tagesresten, Körperempfindungen und charakterlichen Eigenheiten zu erklären.'€ Er wendet sich dabei ausdrücklich an die Leser, '3Die schönste Begründung dafür hat Lessing in seiner »Erziehung des Menschengeschlechts: gegeben: Eın direktes Eingreifen Gottes war nur dem unmündigen Menschen der Vorzeit gegenüber nötig, ist in den heutigen aufgeklärten Zeiten aber überflüssig geworden.

’4Ich gebe nur einige Beispiele: Anonymus: Versuch über den Traum (aus dem Engl.; vgl. London Chroniele Nr. 3613 [1780]). In: Hannoverisches Magazin 18 (1780), zı. Stück [13. März], 5. 322-337 feine Kurzfassung von Beattie, James: Of Dreaming. In: Beattie: Dissertations Moral and Critical. London 1783. Facsimile-Reprint of the First Edition. The Philosophical Works. Hrsg. von Friedrich O. Wolf. Bd. 3. Stuttgart 1970, 5. 207230); Meisel, Josef: Natürlich- götclich- und teuflische Träume. Bewiesen einem guten Freund in Wien. Sieghartstein [Wien] 1783; Henning, Justus Christian: Von den Ahn-

dungen und Visionen. Leipzig 1777; ders.: Von den Träumen und Nachtwandlern. Weimar 1784; Fischer, Heinrich Ludwig: Das Buch vom Aberglauben, Mißbrauch und falschem Wahn. Ein nöthiger Beitrag zum Unterricht: Noch- und Hülfsbüchlein. Oberdeutschland [Hannover?] 1790, bes. $. 52-61; ders.: Das Buch vom Aberglauben. 2. Theil. Hannover 1793, bes. $. 37-63; Schaumann, Johann Gottlieb: Psyche oder Unterhalrungen über die Seele. Für Leser und Leserinnen. Halle 1791, bes. 5. 63-118. 5 „Es ist hier nicht die Frage, ob es den Menschen »äötzlicher sei, wenn sie an Ahndungen glauben, oder nicht daran glauben, sondern ob und in wie fetn diese Erscheinung in der Natur unsers Wesens würklich gegründet oder nicht darin gegründet sei? Ein Magazin zur Erfahrungsseelenkunde soll ja nicht unmittelbar Moral lehren, und eben so wenig unmitrelbar

dem Aberglauben entgegen arbeiten. [...] Ein solches Werk muß ja schlechterdings geger nichts geschrieben seyn« — sa weist Moritz energisch den Mitherausgeber Pockels zurecht, der während Moritz’ Abwesenheit in orthodox aufklärerischen »Revisionen« energisch gegen den Glauben an prophetische Träume polemisiert hatte (Magazin zur Erfahrungsseelen-

kunde 7 [1789], H. 3; nach: Schriften [s. Anm. 4], Bd. 7,8. 194 und 196). "* Muratori, Ludwig Anton: Über die Einbildungskraft des Menschen. Mit vielen Zusätzen hrsg. vor Georg

Hermann

Richerz. Leipzig

1785; Muratori

zum Traum:

$. 211-230,

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Manfred Engel

»die sich noch durch Träume befremden und beunruhigen lassen«.'7 Seine eigentliche Botschaft ist so ein gut aufklärerisches »Fürchtet euch nicht!«: Mag der manifeste Trauminhalt auch unvernünftig sein — als psychologisches Phänomen ist jeder Traum eindeutig rational zu erklären und untersteht so letztlich doch der Herrschaft des Satzes vom zureichenden Grund.'® Es gibt kein Anderes der Vernunft, sondern nur ihr psychologisch erklärbares Versagen; das Unvernünftige ist nur das Noch-NichtVernünftige, der Traum nichts anderes als eine verworrene und undeurliche »Copie des Wachens«.'? Bei seiner Traumerklärung kann Richerz — wie auch all die anderen den Abergiauben an »übernarürliche« Träume bekämpfenden Popularaufklärer — zurückgreifen auf die Ergebnisse der neuen Modedisziplin der zweiten Jahrhunderthälfte: der »Anthropologie« als empirisch orientierter, medizinisch fundierter, aber auch philosophisch ambitionierter Untersuchung der Wechselwirkung zwischen Körper und Seele.”° Im Paradigmenwechsel vom Rationalismus zum Empirismus rückt die von Wolff ursprünglich als bloße Hilfswissenschaft der »psychologia rationalis« vorgesehene »psychologia empirica«?' als »Erfahrungsseelenkunde« ins ZenZusätze von Richerz: $. 231-300, Erzählung und Deutung seines Traums: 5. 293-300.

Ähnlich wie Richerz verfährt Schaumann mit einem eigenen Traum: Psyche (s. Anm. 14), 8.92-08. "7 Muratori/Richerz (s. Anm. 16), $. 293.

"350 schon bei Wolff in den Passagen der »Vernünfftigen Gedancken« (s. Anm. 7), die den Traum als empirisch-psychologisches Phänomen behandeln (vgl. erwa $ 239f. und 799805). '®Pockels, Carl Friedrich: Psychologische Bemerkungen über Träume und Nachtwandler. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde 6 (1788); nach: Schriften (s. Anm. 4), Bd. 6, S. 239.

?° Ernst Platner, der wichtigste Pionier der neuen Disziplin, bestimmt Anchropologie als die Betrachtung von »Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zu einander« (Anthropologie für Ärzte und Welcweise. ı. Teil. Leipzig 1772, S. XVID. Im Gefolge von Hans-Jürgen Schings’ bahnbrechender Studie {Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Licerarur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977) hat die Germanistik in den letzten Jahren die eminence Bedeutung der Anchropologie für Denk- wie Literaturgeschichre der Aufklärung herausgearbeiter; vgl. dazu den eben erschienenen Forschungsberichr von Riedei, Wolfgang: Anthropologie und Literatur in der deutschen Späraufklärung. In: Interna-

tionales Archiv für Sozialgeschichre der deutschen Literatur. 6. Sonderheft: Forschungsreferare, 3. Folge (1994), 8. 93-158, und den Sammelband: Der ganze Mensch. Anthropolo-

gie und Literatur im 18. Jahrhundert. Hrsg. von Hans-Jürgen Schings. Stuttgart 1994 (Germanistische Symposien, Berichtsbde. XV). ?‘ Die »psychologia rationalis« handelr »von dem Wesen der Seele und eines Geistes überhaupt«, die »psychologia empirica« »von der Seele überhaupt, was wir nehmlich von ihr wahrnehmen« (Wolff: Vernünfftige Gedancken [s. Anm. 7], Überschriften von Kap. 5 und 3).

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»Träumen und Nichtrräumen zugleich«

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trum des anthropologischen Interesses. Ihr fällt die Analyse des Traums als eine ihrer wichtigsten Aufgaben zu.’” Etwa von der Jahrhundertmitte an”? gehr der aufklärerische Traumdiskurs so über in die Verantwortung

der »philosophischen Ärzte«.”* Ergebnis

dieser anthropologischen

Defizirtheorie

des Traums.”®

Studien

Der Traum

ist eine wohldurchdachre

erscheint

als defizitär, weil

ın

ihm wesentliche Vermögen des wachenden Menschen gar nicht oder nur in abgeschwächter Form wirksam sind. Carl Friedrich Pockels, der Mitherausgeber von Moritz’ »Magazin«, beschreibe das folgendermaßen: Im Traum verrichten unsere Sinne [...] nur gleichsam noch die Dienste der Invaliden, sie stellen uns die Objecte nicht mehr deutlich, sondern verworten dar, und unsere Seele nimmt aus schwe-

sterlicher Bekanntschaft mit dem Körper an diesem Zustande Theil.

Während

die Sinne

und

die oberen

Erkenntnisvermögen

(Denkkraft), Urteilskraft, Selbstbewußtsein (»innerer Sinn«)



Verstand

— gleicher-

maßen geschwächt sınd, übernimmt die Einbildungskraft »die Alleinherrschaft über unsern Geist«. »Ohne Aufsicht des Verstandes« wirft sie »die ** Zur Entwicklung der Psychologie im 18. Jahrhundert vgl. jerzt den gleichnamigen Forschungsbericht von Jürgen Jahnke in: Das 18. Jahrhundert 14 (1990), $. 253-278, und

den von E. Scheerer verfaßten Artikel »Psychologie« in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (s. Anm. 3), Bd. 7, bes. Sp. 1599- 1614. ?> Maßgeblich ist hier; Krüger, Johann Gottlob: Versuch einer Experimental-Seelenlehre. Halle 1756, bes. $. 180-211. Vgl. auch schon die Vorrede zu seinen 1754 in Halle erschienenen Träumen: (zweite vermehrte Auflage: Halle 1758% die in diesem Band

gesammelten Prosastücke sind freilich weirgehend Traumallegorien, -satiren und -parabeln, die mit nur wenig spezifisch traumhaften Zügen an die rhetorische Tradition dieser Gattungen als Formen uneigentlicher Rede anknüpfen. Vgl. zur Gartungseradition Klamtoch, Heinz: Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Traumsatire im 17. und 18. Jahrhundert. Diss. Bonn 1912.

®4+Vgl. etwa Nicolai, Ernst Anton: Gedancken von den Würckungen der Einbildungskraft in den menschlichen Körper. 2. Aufl. Halle 1751, bes. $. 136-202; Jakob, Ludwig Heinrich: Grundriß der Erfahrungs-Seelenlehre. Halle 1791, bes. 5. 286-295; Ich, Johannes: Versuch einer Anthropologie oder Philosophie des Menschen nach seinen körperlichen Anlagen. 2 Bde. Bern 1794/95, bes. Bd. 2, 5. 142-150; Darwin, Erasmus: Zoonomie

oder Gesetze des organischen Lebens. ı. Theil. Aus dem Engl. übersetzt und mir einigen Anmerkungen versehen von ]. D. Brandis. Hannover

1795, bes. 5. 369-428; Davidson,

Wolf: Ueber den Schlaf. Eine medizinisch-psychologische Abhandlung. Berlin 1796; Weikard, Melchior Adam:

Philosophische Arzneykunst oder von Gebrechen der Sensationen,

des Verstandes, und des Willens. Frankfurt 1799, bes. 8. 110-121. 25 Ich illustriere sie im folgenden der Einfachheit halber nur an den — durchaus repräsentativen — Beiträgen von Carl Friedrich Pockels im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde«; zur Rolle des Traums im »Magazın« vgl. Brantigan, Marcha Jane: »Magazin zur Erfahrungsseelenkunde«. Editors, Text and Context. Diss. John Hopkins University. Baltimore 1981, 8. 175-182.

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Manfred Engel

im Wachen gesammelten Bilder unter einander«, handelt ganz »nach ihren eigensinnigen Launen«.?° Pockels’ besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den verstörenden Ausfallerscheinungen im Bereich der oberen Erkenntnisvermögen: Weder verwundert sich die Seele über die »sonderbaren und widersinnigen« »Sprünge« im Traum, die die assoziative Verknüpfungslogik der Einbildungskraft erzeugt, noch vermag sie die Traumvorstellungen als selbstgeschaffene »Spielwerke der Einbildungskraft« von »Objecten würklicher Erfahrung« zu unterscheiden. Und schließlich versagt auch ihre Fähigkeit zur moralischen Selbstkontrolle: Im Traum sind wir gleichgültig »gegen die uns sonst liebsten moralischen Principien«; die Einbildungskraft, die ja den suspekten, auch im Wachen übermächtigen”” unteren Erkenntnisvermögen angehört, beschwört mit Vorliebe wollüstige Bilder, Blasphemien und Empfindungen der »weniger edlen $Sinne« — also von Gefühl, Geruch und Geschmack — herauf.”® Da der Traum so als Ensemble

von Fehlleistungen verschiedenster Art erscheint, stellen ihn seine anchropologischen Deuter in die unmittelbare Nachbarschaft von Schwärmerei, Rausch und Wahnsinn.

Bis hierher dürfte meine Rekonstruktion der aufklärerischen Traumtheorie durchaus geeignet sein, alle immer noch kurrenten Vorurteile über die Aufklärung zu bestätigen. Es darf aber nicht übersehen werden, daß es, quasi im Rücken dieser Defizittheorie des Traums, auch zu Aufwertun-

gen und Enttabuisierungen kommt:

So verengen sich die Grenzen des

Traumdiskurses zwar durch den Ausschluß der übernatürlichen Träume;

sie erweitern sich jedoch zugleich um die bisher tabuierten amoralischen Träume, über die nun erstmals geredet werden darf.”” Außerdem wird 26Pockels, Carl Friedrich: Über den Einfluß der Finsterniß in unsere Vorstellungen und Empfindungen, nebst einigen Gedanken über die Träume. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde 5 (1787), H. 2; nach: Schriften (s. Anm. 4), Bd. 5, $. 164-173; Zitate: S. 166 und 168. 27 Die Erkenntnis, daß die unteren Erkenntnisvermögen durch die oberen nur unzureichend kontrolliert werden können, gehört zu den schmerzlichsten Erfahrungen der Spätaufklärer. Wolfgang Riedel hat dies bereits für Sulzers 1759 erschienene Schrift ‚Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes: Daß der Mensch zuweilen nicht nur ohne sichtbare Gründe sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe handelt und

urtheiler« nachgewiesen (vgl. seinen Aufsarz: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer. In: Anchropologie und

Literatur [s. Anm. 20], $. 410-439). 2®Pockels (s. Anm.

19), in: Magazin

zur Erfahrungsseelenkunde

6 (1788), 3. Stück, und

7

(1789), 1. u. 2. Stück; nach: Schriften (s. Anm. 4), Bd. 6, $. 232-241, und Bd. 7, 8. 58-

95 und 140-164; Zitate: Bd. 6, 5. 236, 234, 238 und 240. 2? Dahei bleibt es umstritten, inwieweit der Träumende für solche Träume verantwortlich ist: Während Zedler (s. Anm. 11), Sp. 199, und Muratori (s. Anm. 16), $. 227, für die

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»Träumen und Nichtrräumen zugleich«

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dem Traum ein neuer zweifacher heuristischer Wert zugeschrieben: Er ist, erstens, ein wichtiges Mittel der Individualpsychologie, weil er Einblicke in Charakter und Leitideen des Träumers gewährt.?° Zweitens können wir

am Traum — wie in einer Experimentiersituation — die Gesetze der Einbildungskraft studieren. Da der Traum ja nichts anderes ist »als ein unwillkührliches Dichten«,?" dürften die dabei gewonnenen Ergebnisse auch von poetologischem Interesse sein. Auf jeden Fall ist so die Gleichserzung von Poesie und Traum vorbereitet, die etwa Jean Paul und Herder in den ooer Jahren formulieren werden.?* Schließlich — und damit beginnt die Defizitcheorie endgültig in ihr Gegenteil umzuschlagen — kann der Traum für die Spätaufklärer, die schon vor Kant an der metaphysischen Erkenntniskompetenz der theoretischen Vernunft verzweifeln, geradezu zum Organon der Metaphysik werden. Mit unterschiedlichen Akzenten machen Herder

in seinen

»Ideen«

(r. Teil:

1784),

Moritz

im

»Andreas

Hartknopf:«

(1. Teil: 1786) und Wieland im »Agathodämon« (1799) den Traum mit seiner vom Körper und von der sinnlichen Erfahrung unabhängigen Seelentätigkeit zum Indiz für den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele oder doch wenigstens zum empirischen Beleg für eine dem Menschen eigene Tendenz, über die empirische Welt hinauszustreben — also für ein praktisches Bedürfnis nach Transzendenz.’? Damit knüpfen sie, bewußt Unschuld des Träumers plädieren, sind sich Richerz (s. Anm. 16), $. 269 und 301, und Pockels da nicht mehr so sicher; Pockels etwa mutmaßt bei blasphemischen Träumen: »man hat auch vielleicht nie im Wachen, oder selten nach religiösen Principien gehandelt, da denn der Traun

nur eine Copie des Wachens

ıst« (s. Anm.

19).

3° Vgl. etwa Krüger: Experimental-Seelenlehre {s. Anm. 23), 8. 200f., und Richerz (s. Anm. 16), $. 274: »Träume sind indeß auch bedeutend, in so fern sich aus ihnen mit

ziemlicher Wahrscheinlichkeit auf den Charakter und die herrschende Neigung des Träumers etwas schliessen läßt«. 3" Jakob (s. Anm. 24), $. 291; vgl. auch Kant, der ın seiner » Anthropologie in pragmarischer

Hinsicht: (1798, 2. Aufl. Königsberg 1800) den Traum als »unwillkürliche Dichtung im gesunden Zustande« definiert {A/B 104) und ihn als »Spiel der Phantasie mit dem Men-

schen ım Schlafe« (A 80, B 81) im Abschnitt »Von dem sinnlichen Dichrungsvermögen der Bildung« behandelt. 32 Jean Paul nennt 1795 im Aufsatz »Über die natürliche Magie der Einbildungskraft«

im

»Quincus Fixlein« den Traum das »Tempe-Tal und Mucrerland der Phantasie« (Werke in ı2 Bänden. Hrsg. von Norbert Miller. Bd. 7. München 1975, $. 197), Herder bezeichnet 1801 in »Mährchen und Romane«, einem Beitrag für die »Adrastea-, den Traum als »das

Ideal des Mährchens sowohl als aller Romane« (Sämmtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. Bd. 23. Berlin 1885, 5. 295}; schon 1785 hatte er in Träumen »die ersten Musen,

die Mütter der eigentlichen Fiction und Dichtkunsce« gesehen (Ideen zur Philosophie der Geschichre der Menschheit. 2. Theil. In: Sämmtliche Werke. Bd. 13, $. 308). #3 Herder (s. Anm. 32), Bd. 13. Berlin 1887, 8. 187-189, und Moritz (Werke in 3 Bänden. Hrsg. von Horst Günther. Bd. ı. Frankfurt am Main 1981, $. 429-432} knüpfen direkt

an die alte Auffassung, daß sich im Traum die mindestens partielle Unabhängigkeit der

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oder unbewußt, an das emphatische Lob des Traums an, das Addison be-

reits 1721 im »Spectator« formuliert harre.*

1 Der Wechsel von der Aufklärung zur Frühromantik ist zunächst einmal ein Wechsel der Episteme im Sinne Foucaults, also eine Veränderung der das Wissen der Zeit strukturierenden kognitiven Schemata. Für unser Thema sind in diesem Übergang von Rationalismus/Empirismus zum Deutschen Idealismus vor allem die drei folgenden Neuerungen wichtig: 1. Das für alle Idealisten zentrale dialektische Grundptinzip einer produk-

tiven Interaktion polarer Prinzipien, das im Bereich der Geschichtsphilosophie zum triadischen Geschichtsmodell führt; 2. Die Aufwertung der Einbildungskraft, die nicht mehr im Übergangsbereich zwischen unteren und oberen Seelenvermögen angesiedelt wird, sondern zur produktiven Grundkraft aller Erkenntnisse avanciert — Novalis etwa nennt sie »das würkkende Princip« schlechthin (III,298:327).?? 3. In engem Zusammenhang

damit entsteht ein neuer Begriff des »Unbewußten«:3° Das von der Aufklätung entdeckte »Unbewußte: — man verwendete noch nicht die substantivierte Form, sprach allenfalls vom

»Unbewußtsein«

(Platner) — bestand

nur aus den »petites perceptions« von Leibniz bzw. den »dunklen und verwortenen Vorstellungen« Wolffs, also aus dem Teil der Vorstellungsaktivirät der Seele, der nicht vom Scheinwerfer der Aufmerksamkeit erfaßt

und erhellt wird. Die Frühromantik und der »objekrive Idealismus« dageSeele vom Körper zeige, und an die ebenfalls topische Analogie zwischen Erwachen und Tod an. Wieland führt die Entstehung der gesamten Religion auf Traumerfahrungen {Auf-

hebung von Raum und Zeit, Begegnung mit Verstorbenen) der frühen Völker zurück (Sämmrliche Werke. Hamburger Reprint-Ausgabe. Bd. 32. Hamburg

1984, 8. 190-198).

345. Anm. 9. 35 Vgl. etwa Küster, Bernd: Transzendenrale Einbildungskraft und äscherische Phantasie. Zum Verhältnis von philosophischen Idealismus und Romantik, Hansetin 1979 (Monographien zur phil. Forschung 185), und Engell, James: The Creative Imaginarion. Enlighrenment to Romanticism. Cambridge 1981.

36 Vgl. dazu: »Dieses wahre innere Afrika«. Texte zur Entdeckung des Unbewußrten vor Freud. Hısg. von Ludger Lürkehaus. Frankfurt am Main

18. Jahrhundert: Grau, Kurt Joachim:

1989 (Fischer Tb 6582), zum

Die Entwicklung des Bewußtseinsbegriffes im

XVII. und XVII. Jahrhundert. Halle 1916 (Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte 39). Reprint: Hildesheim T981; zum idealistischen Kontext: Sturma, Dietrich: Logik der Subjektivität und Natur der Vernunft. Die Seelenkonzeption der klassischen

deutschen Philosophie. In: Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Hrsg. von Gerd Jütternann, Michael Sonntag und Christoph Wulf. Weinheim

1991, $. 236-257.

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»Träumen und Nichtrräumen zugleich«

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gen — repräsentativ ist hier etwa Schellings »System des transzendentalen Idealismus< — bestimmen das Unbewußte als »Vorgeschichre des Bewußtseins« (eine Formulierung Odo Marquards),?’ deren es sich in einem quasi

anamnetischen Akt vergewissern kann: Unbewußt ist die Aktivität der Einbildungskraft, die die Vorstellungswelt hervorbringt; für das zum Selbstbewußtsein gekommene Ich scheint diese zunächst einfach vorhanden zu sein. Um sie als sein Werk zu erkennen, muß es in philosophischer Reflexion hinter den Punkt seiner Selbstbewußtwerdung zurückgehen. In der naturphilosophischen Erweiterung der Transzendentalphilosophie wird diese bewußtlose Tätigkeit der Einbildungskraft mit der Produktivität identifiziert, die allen anorganischen und organischen Prozessen zugrunde liegt: Was im Selbstentfaltungsprozeß des Absoluten auf der Stufe des Menschen zum Wechselspiel von bewußtloser und bewußter Tätigkeit wurde, ist nur die höchste Stufe einer Urpolarität von Expansion und Konzentration, von Zentrifugal- und Zencripetalkraft, die alle physikalischen und chemischen Prozesse der anorganischen Welt ebenso fundiert wie alle Lebensprozesse der organischen Welt. Damit aber wird das Unbewußte zunehmend

wußtseins

naruralisiert, es bekommt

einen Ort auch außerhalb des Be-

— und für den Menschen ist dieser Ort zunächst einmal der

eigene Leib.

Dies ist — sehr grob skizziert — der denkgeschichtliche Hintergrund, vor dem die Traumtheorie der Romantik entsteht. Wollen wir sie auf eine möglichst allgemeine Formel bringen, so ließe sich sagen: Während die Aufklärer im Traum das zwecklose Spiel der Einbildungskraft sehen, identifizieren ihn die Romantiker mit unbewußter Produktivität schlechthin. Bevor ich vor diesem Hintergrund die Traumrheorie von Novalis zu rekonstruieren suche, gehe ich — sozusagen als zweiten Teil einer historischen Umrahmung — auf das Traumkonzept der Hochromanıtik ein, da dies die eigentliche Blütezeit der romantischen Traumtheorie ist.?® Formuliert #7’ Transzendentaler Idealismus, romantische Narurphilosophie, Psychoanalyse. Köln 1987 (Schriftenreihe zur Philosophischen Praxis 3), 5. 96. Marquards Monographie —- als Habilschrift bereits 1963 abgeschlossen, aber erst jetzt veröffentlicht — rekonstruiert in überzeugender Weise eine Entwicklungslinie, die von der Transzendental- über die Nacurphilosophie bis hin zur Psychoanalyse reicht. Er kann so zeigen, daß die Psychoanalyse nichts anderes als die »deporenzierte« Form der Transzendenralphilosophie ist — Depotenzierung meint hier: »jene Bewegung, in der die Transzendentalphilosophie auf die Ohnmacht des »Ich« und das ihm gegenüber

»Andere«

als Grund

kommt«

{ebd., $. ı2r).

33 Zur romantischen Traumtheorie vgl. die verdienstvoll materialreiche, aber nicht sonder-

lich begriffsscharfe Monographie von B&guin, Albert: 'Traumwelt und Romantik. Versuch über die romantische Seele in Deutschland und in der Dichtung Frankreichs [zuerst als: Läme romantique er le r&ve. Marseille 1937]. Aus dem Frz. von Jürg Peter Walser. Hrsg.

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wird sie von den romantischen Anthropologen — die, anders als die aufklärerischen, von der Forschung erst noch wiederzuentdecken wären.?? Es handelt sich wiederum meist um Ärzte, die jetzt aber alle von Schellings Naturphilosophie geprägt sind. Der Einfluß dieser Anthropologen reicht bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, ja es ließe sich über Hartmann, Scho-

penhauer und Nietzsche durchaus eine Entwicklungslinie bis zu Freud ziehen. Der Übergang von der Früh- zur Hochromantik scheint mir weniger auf einer Veränderung der Episteme als vielmehr auf einer Veränderung der Mentalität zu beruhen. Epistemologisch gesehen, ist allenfalls eine immer stärkere Abschwächung des transzendentalen Vorbehalts zu beobachten, der freilich schon im Nach-Kantischen Idealismus in eine zuneh-

mend prekäre Position geraten war. In der Hochromantik werden die naturphilosophischen Aussagen zunehmend zu direkten ontologischen Särzen, die bei vielen Autoren irgendwann wieder in eine mehr oder minder orthodoxe

christliche Metaphysik

einmünden.

Wichtiger

noch

sind die

Veränderungen im Bereich der Mentalität: Zenrral ist hier der Verlust der frühromantischen Zukunftshoffnung. Mit ihm verlagert sich das Interesse vom nur noch vage konturierten utopischen Ende der Geschichte auf den uranfänglichen Verlust, den Sündenfall des Bewußtseins und der schuldhaften Ablösung aus dem großen Ganzen. Damit verwandelt sich die progredierende Dialektik zunehmend in den unaufhebbaren Dualismus einer »Duplizitär des Seins« (E. T. A. Hoffmann). Parallel dazu gerät die Encfaltung der Individualität — einer der höchsten Werte der Frühromantik - in

Mißkredit; das Individuum soll sich nun mit Demur ins Ganze einfügen. All dies sind keine abrupten Wandlungen, sondern graduelle Verschiebungen, die entsprechende Verschiebungen in der Konzeptualisierung des

Traumes mit sich bringen. Ein unübersehbares äußeres Zeichen dieser Veränderungen ist, daß in der Hochromantik die meisten Schriften über den Traum auch den magnetischen Somnambulismus*® thematisieren, also den und mit einem Nachwort versehen von Peter Grotzer. Bern 1972. Es gibt eine Reihe älterer Untersuchungen, die aber schon allein wegen ihres unzureichenden Romancik-

Begriffs als überholt gelten müssen. Wenig ergiebig ist Wiesmann, Louis: Die Wiederentdeckung des Traums in der Romantik. In: Traum und Träumen. Traurnanalysen in Wissenschaft, Religion und Kunst. Hrsg. von Therese Wagner-Simon und Gaetano Benederti. Görtingen 1984, 5. 102-112. #° Eine umfassende Bibliographie ihrer Schriften bei Marquard (s. Anm. 37), $. 397fH. 4° Der Mesmerismus ist zwar eine Erfindung der Spätaufklärung, die der österreichische Arzt Franz Anton Mesmer (1734-1815) in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts entwickelt und nach Frankreich expottiert hatte; seine für die Romantik wichtige Spielart — der

Kranke wird in eine Art von hypnotischen Zustand versetzt und gibr dann selbst Auskunft

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»Träumen und Nichteräumen zugleich«

traumähnlichen Zustand

155

des in Trance versetzten Kranken, der nicht nur

zu diagnostischen und therapeutischen Aussagen über die eigene Krankheit fähig ist, sondern oft auch über die Fähigkeit zur »clairvoyance« verfügt, also von fernen, von weit vergangenen und von zukünftigen Dingen künden kann.**

Soweit der Hintergrund, vor dem ich zwei Schriften näher berrachten will: Gotchilf Heinrich Schuberts (1780-1860) »Symbolik des Traums« von 1814* und das 'Traumkapitel in Ignaz Paul Vital Troxlers (1780-

über sein Leiden — entstehr jedoch erst in Frankreich (vor allem durch den in Straßburg tätigen Marquis de Puys&gur, 1751-1825) und wird von da um 1786 nach Deutschland re-importiert, wo sie ab erwa 1810 eine zweite Modewelle des »animalischen Magnetis-

mus« auslöst. In ihrer Folge wird dann auch der vergessen am Bodensee lebende Mesmer wiederentdeckt, und der Berliner Arzt Carl Christian Wolfart publiziert aus französischen Manuskripten Mesmers 1814 eine deutsche Gesamtdarstellung von dessen System. Zur Rezeption der ersten Phase des Magnetismus vgl. Ego, Anneliese: Anıimalischer Magnetis-

mus oder Aufklärung. Eine mentalitätsgeschichtliche Studie zum Konflikt um ein Heilkonzept. Würzburg

1991 (Episternaca 68}, zur Gesamtwirkung: Benz, Ernst: Franz Anton

Mesmer und seine Ausstrahlung in Europa und Amerika. München 1976 (Abhandlungen der Marburger Gelehrten Gesellschaft 2, 1975). Ein von den Zeitgenossen viel gelesenes Kompendium des nach Deurschland re-importierten Magnetismus ist: Kluge, Karl Ferdinand: Versuch einer Darstellung des anımalischen Magnetismus als Heilmittel. Berlin ı8ı1. 2. Aufl. 1815. 3. Aufl. 1819; vgl. auch Nees von Esenbeck, €. S.: Entwicklungsgeschichte des menschlichen Schlafes und Traums; in Vorlesungen [gehalten in Erlangen, Sommer 1818]. In: Archiv für den Thierischen Magnetismus [hg. von Eschenmayer, Kieser, Esenbeck; 1817-1824] 7 (1820), ı. Stück, S. 1-88, 2. Stück, $. 1-70. Zur Rezeption des Magnetismus im romantisch-naturphilosophischen Kontext vgl. Engelhardt,

Dierrich von: Mesmer in der Naturforschung und Medizin der Romantik. In: Franz Anton Mesmer und die Geschichte des Mesmerismus. Hrsg. von Heinz Schott. Stuttgart 1985, S. 88-107. Für die Verbindung von Traumrtheorie und animalischem Magnetismus gibr es grundsätz-

lich zwei Möglichkeiten: Entweder gilt der magnetische Schlaf als Indiz für die Potenzen, die auch dem

natürlichen Schlaf (und

besonders

dem

Traum)

innewohnen,

oder man

siehr — an das triadische Modell anknüpfend — im magnerischen Schlaf die höhere Potenz des natürlichen, die Verbindung von »natürlichem« Traumgeschehen mir Geiszesfrerheir

und Bewußcheit. Ein Vertrerer der ersten Ansicht ist etwa Schubert in seiner »Symbolik des Traums« (Bamberg 18134), die zweite Position vertrecen Eschenmayer, Adolf Karl August: Psychologie in 3 Teilen als empirische, reine und angewandte. Sturtgart 1817,

und Nees von Esenbeck. + Zur ausführlichen Beschreibung der gesteigerten Wahrnehmungs- und Divinationsfähigkeit vgl. Nees von Esenbeck, Kluge (s. Anm. 46) und Schubert, Gatchilf Heinrich: Ansichten von der Nachtseite der Narurwissenschaft. Dresden 1808. Reprint: Darmstadt 1967, 8. 326-360.

#5. Anm. 40. Hier nach dem von Gerhard Sauder besorgten Reprint: Heidelberg

1968

(Deutsche Neudrucke, Reihe Goethezeit). Vgl. dazu Tillierce, Xavier: Schubert und Schel-

ling. Schuberts Symbolik des Traumes. In: Gorchilf Heinrich Schubert. Gedenkschrift zum 200. Geburtstag des romantischen Naturforschers. Erlangen 1980 (Erlanger Forschungen A, 25), $. 51-71, und Beguin (s. Anm. 38), $. 129-154.

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Manfred Engel

1866) »Narurlehre des menschlichen Erkennens, oder Metaphysik«*? von 1828.

Wie der Titel von Schuberts Text deutlich macht, geht es ihm primär um die Symbolsprache, die sich an besonders bedeutungsvollen —** Jung wird sagen: »großen« — Träumen beobachten läßt; damit knüpft Schubert natürlich an die uralte, bis heute fortwirkende Tradition der Traumbücher

an.#?° Die Bildersprache dieser Träume ist für ihn Teil einer universellen, für alle Zeiten und Kulturen gültigen Symbolik, die sich auch in den ägyptischen Hieroglyphen, in Mythen, Orakeln und Religionen, in den Werken der großen Dichter, vor allem aber in den Bildungen der Natur selbst finder.*° Diese Überlegungen gehören offensichtlich zum bekannten romantischen Diskurs über die Sprache der Natur als Sprache einer Uroffenbarung. Daneben entwickelt Schubert jedoch auch eine eigene Theorie des Traums. Am wichtigsten ist hier dessen physiologische Verortung: Schubert unterscheidet im Menschen zwei völlig getrennt voneinander funktionierende Nervensysteme, das Cerebral- und das Gangliensystem. Das Cerebralsystem umfaßt die Erkenntnisfunktionen der Seele,*” das Ganglien- oder »symparhische System« umfaßt die Nerven der inneren Organe und der Blutgefäße. Es regelt alle dem Willen entzogenen Körperfunktionen, die »zur Bildung, Erhaltung und zum Wachschum des materiellen Organismus« dienen;* zugleich ist es jedoch Organ eines Gefühls 43 Zuerst: Aarau 1828. Hier nach dem von Hans Rudolf Schweizer hrsg. Neudruck: Hamburg 1985 (Meiners Phil. Bibl. 382). Vgl. dazu Heuser, Perer: Der Schweizer Arzt und Philosoph Ignaz Paul Viral Troxler. Seine Philosophie, Anthropologie und Medizintheorie. Basel

1984

(Basler Veröffentlichungen

zur Geschichte der Medizin

und

Biologie 34),

Spiess, Emil: Ignaz Paul Vital Troxler. Der Philosoph und Vorkämpfer des Schweizerischen Bundesstaates dargestellt nach seinen Schriften und Bern

1967, und B&puin (s. Anm.

4 Schubert

spekuliert

allerdings,

den Zeugnissen der Zeitgenossen.

38), 5. 113-128.

daß

es wahrscheinlich

»noch

einen

tieferen

Grad

des

Traumzustandes gebe, von welchem uns beym Erwachen nur höchst seleen eine dunkle Rückerinnerung zurückbleibt, weil er von der Region des Wachens durch dieselbe Kluft geschieden ist, als der Zustand der magnetischen C/zirvayancex (s. Anm. 42, 8. 12).

45 Vgl Fuchs, Feliziras: Von der Zukunftsschau zum Seelenspiegel. Eine Studie zur Traumauffassung und Traumdeutung am Beispiel der deutschsprachigen Traumbücher. Aachen 1987 (Acta culturologica 6).

+6 Grundthema all dieser Symbole ist »die Geschichte einer Wiederherstellung und Wiederbringung des Menschen zu seiner ursprünglichen Bestimmung, die Geschichte eines grofen Kampfes des Lichts mit der Finsterniß« (s. Anm. 42, 5. 36) — also nichts anderes als das Transparentwerden

des verborgenen

Geserzes

aller Entwicklung,

der rriadischen

Selbstentfaltung des Absoluten: »Der Inhalt jenes großen Hieroglyphen-Buches ist michin derselbe, als der der geschriebenen Offenbarung« (ebd., 8. 38). #7 Und zwar ohne jede emotionale Beimischung — Sirz der Leidenschaften ist nach Schubert die Leber (vgl. ebd., 5. 113).

+#Ebd., $. ıo1.

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» Träumen und Nichtrräumen zugleich«

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für den höheren, transempirischen Zusammenhang der Dinge (»Gemeingefühl«). Im Wachzustand gibt es so gut wie keinen Kontakt zwischen den zwei Systemen, wohl aber im Somnambulismus, beim Nachtwandeln,

im Wahnsinn — und eben im 'Traum,#? Dieser ist nichts anderes als »ein vermittelndes Glied«°° zwischen den beiden Seiten der menschlichen Natur und damit eine Wiederherstellung ihrer verlorenen Einheit. Denn einst bildeten die beiden Nervensysteme ein Ganzes — vor der Katastrophe des Sündenfalls,

in der sich der Mensch

durch

»Hochmuth«

und

»Selbse-

sucht«°' vom Naturganzen löste, wodurch sich ihm die Wirklichkeit zur bloßen Empirie, zum bloßen Mittel zu selbstsüchtigen Zwecken entzauberte.?” Diese Entartung des Menschengeschlechts macht den Traum für Schubert zum höchst ambivalenten Phänomen. Denn entarter ist primär die sinnliche Seite der menschlichen Nacur,?? damit eben auch das Gan-

gliensystem.

Daher muß

der Traum

heute als »partie honteuse«°*

der

menschlichen Natur gelten; wurde er zunächst als »der versteckte Poer in

uns«>> und als Quell aller trans-empirischen Erkenntnis’® gerühmt, so erscheint er jetzt als erschreckende Offenbarung der »Schartenseite« unseres gefallenen Selbst.?? 49 Vermirtlungsorgan ist, nach Schuberts eigenwilliger Anatomie, der Stimmnerv (vgl. ebd., $. 112). >> Ebd., 5. ıı.

»' Ebd., S. 189. 3? Das Kind kann heute diese Einheit noch erfahren (vgl. ebd., S. 143), und auch in gesteigerten Momenten des Daseins - wozu auch die künstlerische Inspiration gehört — gibt es noch einen Kontakr beider Systeme (vgl. ebd., 8. 150f. und 157). > Das Cerebralsystem dagegen har, obwohl es doch für das Heraustreten aus der Allverbundenheit ın Liebe verantwortlich war, »bey der alten, traurigen Katastrophe am wenigsten gelitten« und ist — wohl weil es »weder zu lieben noch zu hassen vermag« — »der ursprünglichen geistigen Bestimmung auch noch im jerzigen Zustande gerreu« (ebd., $. 158). Daher ist eine zukünftige Synthese nur durch Weirerentwicklung des cerebralen Teils zu erreichen (vgl. ebd., S. 163); dieser bedarf dazu freilich eines Anstoßes, welcher —

in einem Zustand »romantischer Liebe«, in dern der geliebte Gegenstand »die ganze Welt in sich begreifetr« — aus dem Gangliensystem erfolgen kann (ebd., $. 173). Oft entstehre jene höhere geistige Liebe aber erst nach dem »Tod der geliebten Personen« {ebd., $. 179) — nıchr umsonst ist den Geliebten in romantischen Romanen kein langes Leben beschieden! Der menschheitsgeschichtliche Weg zur neuen Synchese ist der einer demüti-

gen Selbstaufopferung, deren Modell und Ermöglichungsgrund der Opfertod Christi ist — hier münder das romantische Weltbild wieder in das der chrischchen, Orchodoxıie ein.

> Ebd., S. 118. 3 Ebd., S. 56. 56 Vgl. ebd., S. 152. ’? Ebd., 5.

118. — Nur dort, wo das Gangliensystem

noch wenigstens teilweise in seiner

ursprünglichen Funktion wirkt — Schubert erklärt nicht, wie und unter welchen Umständen das möglich ist —, »führen uns der Traum, der Somnambulismus, die Begeisterung und alle erhöhren Zustände unserer bildenden Narur in schöne, noch nie gesehene Gegen-

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Manfred Engel

Die Anthropologie des Schweizer Arztes und Philosophen Troxler ist wesentlich elaborierter und komplexer als die Schuberts, seine Traumrheorie fällt jedoch sehr ähnlich aus. Auch Troxler unterscheidet zwei Systeme im Menschen, die er als zwei Seelen mit einer je eigenen Form von Be-

wußtsein begreift: Der Mensch ist ein »Doppelwesen« und führt ein »Wechselleben«°® im rhythmischen Wechsel zwischen »leiblicher Psyche« (auch: »Leib« oder »untersinnliche Seele«) und

»Seele«

oder

ȟbersinnliche

Seele«).?? Auch

»seelischer Psyche«

für Troxler verbinden

(auch:

sich

beide im Traum, der nichts anderes ist als das »Wechselgespräch der zwei sehr redseligen Psychen«.°° Und auch Troxler begreift den Traum als eine

Wiederherstellung des »einen und ewigen Seelenich mit dem eigentlich reinen Urbewußtsein und der wahrhaft freien Selbstbestimmung«.°' Der Unterschied zu Schubert besteht darin, daß Troxler sozusagen mit einem gedoppelten Dualismus, einem »Tetraktys« genannten Viererschema, arbeiter: Leib und Seele sind als Mittelglieder und relative Gegensätze eingeschoben zwischen den absoluten Gegensatz von Geist und Körper. Indem Troxler das Traumgeschehen in eine quasi überkörperliche Ebene verlagert den, in eine neue und

selbsterschaffene,

reiche und erhabene

Natur, in eine Welt

voller

Bilder und Gestalten« (ebd., S. 155).

385. Anm. 43, 8. 2ı1. 5? Die leibliche Psyche bezieht den Menschen auf den Körper, die seelische auf den Geist (vgl. ebd., 5. 208). Die Erkenntnis der ersten geht »im Schlaf von der Innenwelt aus«

und »ist auf das Zukünftige gerichtet«, die der letzteren »hebt von der Außenwelt an« und »ıst der Vergangenheit zugewandt« (cbd., S. zı 1). Anders als für Schubert stehen für Troxler »Leib« und »Seele« in vielfältigem Kontakt; sie vermischen sich etwa in der »traumartigen« »Erkenntnisweise« der »Fanrasie«, die »eine ganze Sinnenwelt nur deswegen zu fassen und aufzunehmen vermag, weil sie die ganze Sinnenwelc aus sich hervorbringen und mehr als nur diese in sich schaffen kann« (ebd., S. 209). 6 Ebd., S. zrı.

61 Ebd., $. 208. — Dieses Urbewußtsein ist das menschheitsgeschichtlich ältere, eine »vorweltlich jugendliche Erkenntnisweise«, der »Urzustand der menschlichen Natur«, wie er sich lebensgeschichrlich in der Kindheit wiederholt; es wirkt in den alten Myrhen, in der

»Sehergabe« der Alten, im »Reich von Ahnungen, Vorgefühlen, Sehungen und Vorhersehungen«, im Aberglauben des Volkes, aber auch in den »gebildeten Geistesmenschen der Gegenwart« — Troxler nennt als Beispiele: $wedenborg, Stilling, Lavater, Haller, Lichten-

berg und Jean Paul (vgl. ebd., $. 212f.). »Ziel und End der menschlichen Erkenntnis« — das sich schon jerzt »in all jenen hehren Augenblicken« der »Eksrase« offenbarr, in denen »das göttliche Licht unsers wahren Gemütes zum Durchbruch kommt«, besonders aber in der Todesstunde — ist ein »Doppelwachen«, das »Aufgehen der Marerie ın den Geist« (ebd., 8. zı0). Der Weg des Menschen

— des Individuums

wie der Gattung

— führt also

vom Urbewußtsein bis zum Geist. 62 Alle Negativismen eines dualistischen Menschenbildes werden von Troxler so auf den Körper verlagert: Wie das Tier ist er »naturverwandt, gleichgestimmt und abhängıg von der Außenwelt« (ebd.,S. 205), das »körperliche Leben« ist »der Bereich der tiefsten Bewußtlosigkeit und Unwillkürlichkeit, der Naturnotwendigkeit im Menschen« (ebd., 5. 206).

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» Träumen und Nichtrräumen zugleich«

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und es so von der kruden physischen Materialität ablöst,°? entgeht er den Schubertschen Dualismen.“* Allerdings hat er damit das Problem eher ausgelagert als gelöst, da er nicht erklären kann, wie der Körper aus dem Geist hervorgehen konnte.° Ich breche meine Skizze an dieser Stelle ab. Es dürfte deutlich geworden sein, daß für die Hochromantiker der Traum die vorübergehende Rückkehr in einen ursprünglichen Einheitszustand bedeutet. Bündig formuliert das etwa Ritter in einem seiner Fragmente:

»Im Schlafe sinkt der Mensch in

den allgemeinen Organismus zurück «.°° Diese Einheitserfahrung wird — mehr oder weniger stark — an den Leib gebunden, die unbewußte Produktion des Traums wurzelt in der physischen Reproduktion.°” Darin aber liegt das eigentliche Problem, das zugleich das Zentralproblem der Natur-

philosophie überhaupt ist: Wie kann ich ein Maximum an Monismus erreichen, ohne dabei Freiheit und Autonomie des Subjekts aufzugeben? Die romantische Traumlehre muß dort prekär werden, wo sich die geistgeprägte »Romantiknatur« endgültig zur »Triebnatur« (Marquard) wandelt. Schopenhauer, Darwin und Nietzsche repräsentieren diesen Wandlungsprozeß in unterschiedlicher Weise, Freuds Traumtheorie ist dann in der Tat nur die logische Konsequenz dieser Entwicklung.

II

Novalis’ wichtigste Aufzeichnungen zum Traum°® fallen in das Jahr zwischen August 1798 und Mitte August 1799; die meisten davon gehören $3 „Der Körper entsteht aus dem Leib und wird von der Seele wieder in Geist aufgelöst«

{Heuser [s. Anm. 43], 8. 95). 64 Troxlers Traumkapitel endet so mit einer eindrucksvollen Balance der Gegensätze: » Drum ehre und pflege gleich fern von geistlichem Hochmur und weltlicher Wolluse, o Mensch!

die geheimnisvolle und wunderbare Ebbe und Flur von Geist und Materie als das Walten und Werden des Görtlichen in dir!« (Troxler [s. Anm. 43], 8. 214) — eine der letzten gelungenen Synthesen der mehr und mehr in ihre nicht mehr dialekrisch vermierelbaren Pole auseinanderdriftenden Naturphilosophie.

#5, Wie der Geist sich zu Gott erhebt, erkennen wir, wie aber der Körper aus ihm hervorging, ist Geheimnis« (Troxler: Fragmente. Erstveröffentlichung aus dem Nachlaß. Hrsg. von Willi Aeppli. St. Gallen 1936, $. 175£.). 66 Ritter, Johann Wilhelm: Fragmente aus dem Nachlaß eines jungen Physikers. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1810. Hrsg. von Heinrich Schipperges. Heidelberg 1969 {Deutsche Neudrucke, Reihe Goerhezeit), $. 79 (Nr. 475, datiert: 1806). 6 Darin liegt der wesentliche Unterschied zur Aufklärung und zur Frühromantik: Der Traum ist nicht mehr eine Aktivität der Seele, sondern eine des Körpers. 68 Novalis' Traumtheorie ist selten systematisch untersucht worden — schon gar nicht in ihrem denkgeschichtlichen Kontext; vgl. vor allem B&guin (s. Anm. 38), 8. 236-263, und den —

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zu den

Manfred Engel

»Freiberger

’'99) und

zum

naturwissenschaftlichen

»Allgemeinen

Brouillon
= Zum Schlaf ohne Traum vgl. Leibniz: Neue Abhandlungen (s. Anm. 8), Bd. II, S. ı und 1; ders.: Kleine Schriften zur Meraphysik. Darmstadt 1985: »In der Vernunft begründete Prinzipien der Natur und Gnade« ($ 4. 5.419-421); »Die Prinzipien der Philosophie

oder die Monadologie« ($ 20, 5. 447). 33 Vgl. dazu Kictler, Friedrich A.: Heinrich von Ofterdingen«

als Nachrichtenfluß.

In: No-

valis. Beiträge zu Werk und Persönlichkeit Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. von Gerhard Schulz. Darmstadt 1986, S. 480-508. 3 Vgl. Schulz, Gerhard:

Die Poetik des Romans

bei Novalis. In: Jahrbuch des Freien Deur-

schen Hochstifts (1964), $. 120-157. 33 Vgl. Thom, Rene: Esquisse d’une semiophysique. Paris 1988, 8. 15-34.

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180

Daniel Lancereau

ten« Gestalten

verbreitet.

Die

Prägnanz

gehört

vielmehr

zur Welt

der

Kontinuität. Sie ist weniger intensiv, aber sie har eine langfristige Wirkung. Diese Propagation erfolgte nach zwei Arten und Weisen: entweder

durch Kontiguität, Kontakt oder durch Ähnlichkeit, Analogie. Diese Unterscheidung zwischen Propagation durch Kontiguität

und

Propagation durch Ähnlichkeit hat ihre Bedeutung für die Definition der Magie und der Wissenschaft. Denn die Propagation durch Analogie (actio in distans«; vgl. II,91, 302:342, 471f.:111o/L120) ist das erste Postulat

des magischen Denkens, ein Postulat, das von dem modernen wissenschaftlichen Denken verworfen wird, das nur die Propagation durch Kontakt und Kontiguität akzeptiert. Mit der einen Ausnahme, daß die Propagation durch Ähnlichkeit in den formalisierten Systemen der Logik und der Algebra gültig bleibt. In diesem Zusammenhang bieten sich bei Hardenberg drei Möglichkeiten an: 1. Möglichkeit: die Prägnanz im Raum: Die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf ein »saillantes« Objekt, das prägnant werden kann (z.B. die ‚blaue Blume«). Sie läßt vor dem Hintergrund des Gegenwärtigen ei Objekt auftreten, das alles an sich zieht. 2. Möglichkeit: die Prägnanz in der Zeit: Die Aufmerksamkeit konzentriert sich

auf eine

Erzählung

(z.B.

die

Erzählung

eines

Fremden).

Als

prägnantes Objekt bewirkt die Erzählung in der Seele des Zuhörenden eine Reaktion von großem Ausmaß. 3. Möglichkeit: diese dritte Form könnte man als Prägnanz in der Raum-Zeit kennzeichnen: Die Aufmerksamkeit konzentriert sich jeden Augenblick als stete Aufmerksamkeit auf den Fingerzeig Gottes, auf dessen Winke und Zeichen (man denke hier an die jesuitische und pieristische

Mantik, die Kunst des Befragens Gottes):3€ »Ein wahrhaft gottesfürchtiges Gemürh sieht überall Gottes Finger und ist in steter Aufmercksamkeit auf seine Winke und Fügungen« (III, 648:544). Diese Theorie der Aufmerksamkeit finder eine besondere Anwendung sowohl im »Öfterdingen« als auch in den »Lehrlingen«. Im folgenden seien nur ein paar Hinweise gegeben. Nicht zufällig beginnen die »Lehrlinge« mit den mannigfachen Wegen: »Mannigfache Wege gehen die Menschen« (1,79). Nicht zufällig beginnt der »Ofterdingen< mit dem Schlafen, mit der bloßen Mannigfaltigkeit also: »Der Jüngling lag unruhig auf seinem

36 Vgl, Barthes, Roland: Sade, Fourier, Loyola. Paris 1971, 8. 50-54.

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Novalis und Leibniz

181

Lager [...]« (1,195).3” Der »Ofterdingen«< beginnt mit der Mannigfaltigkeit des Schlafs genauso wie die »Lehrlinge: mit der Mannigfaltigkeit der Wege beginnen. Zunächst werden unabhängige Wege, Reihen, Welten gegeben,

die eine Multiplizitär bilden,

dann

kommt

es vor allem darauf

an, die Analogien oder geregelten Korrespondenzen?® zwischen ihnen aufzuweisen: so entsteht die Welt der Analogie.?? Erst werın eine Mannigfaltigkeit gegeben wird, können Analogien gezeigt werden.*° Dann wird die Aufmerksamkeir hie und da punkriert (durch Reden/Erzählungen oder Auftreten

eines wundersamen

Objekts,

einer wunderbaren

Figur usw.).

Deshalb hat man im »Ofterdingen« einen Wechsel zwischen ungeteilter und geteilter Aufmerksamkeit:*" das Objekt (blaue Blume) oder die Erzäh-

lung (des Fremden z.B.) erscheinen als prägnante Objekte. Die faszinierce Aufmerksamkeit wird vom »saillanten« Objekt gefesselt, gebunden, aber diese Faszination breiter sich aus. Wenn der Erzähler einen Fremden auftreten läßt, fesselt dieser die Aufmerksamkeit der anderen durch seine

Reden und Erzählungen. Die auftretende Figur des Fremden verkörpert die Romantisierung der Aufmerksamkeit, die sonst ins Alltägliche, Gewöhnliche, Empirie.

Bekannte

versinkt



bis zur Trunkenheit,

zum

Rausch

der

Es würde sich lohnen, folgende Passage aus den »Lehrlingen: Wort für Wort zu erläutern, und zwar nach der oben definierten Theorie der Aufmerksamkeit: 37 Interessanr dabet ist, daß Leibniz dıe Situarion des Schläfers mic diesen Worten kennzeich-

ner: »Alle Eindrücke haben ihre Wirkung, aber nichr alle Wirkungen sind immer merk-

lich. Wenn ich mich eher nach der einen als nach der anderen Seite wende, so geschieht das oft auf Grund

einer Kette von kleinen Eindrücken

[...]« (s. Anım. 8, 8. ır3).

38 Vgl. Sinaceur, Hourya: Ars inveniendi er theorie des modeles. In: Dialogue 27 (1988), 8. 591-613; vgl. auch Breger, Herbert: Der Ähnlichkeitsbegriff bei Leibniz. In: Mathesis

rationis. Festschrift für Heinrich Schepers. Hrsg. von Albert Heinekamp, Wolfgang Lenzen und Martin Schneider. Münster 1990, 5. 223-232. 3° Vgl. Vieillard-Baron, Jean-Louis: Microcosme et macrocosme chez Novalis. In: Les Erudes

philosophiques 2 (1983), 5. 195-208; ders.: Placonisme er interpr&tacion de Plaron & l’epoque moderne. Paris 1988. 4 Ygl. Verf.: Sur l'’edition critique des ceuvres de Novalis. In: Erudes germaniques 3 (1989), 5. 304-308; Verf.: Friedrich von Hardenberg (Novalis) er Jean-Frangois d’Aubuisson de Voisins ä la Bergakademie de Freiberg. In: Revue de synchöse 1-2 (1092), 5. 109-134; Verf.: Novalis, B&zour er Bossur. Les manuels de mathemariques dans la tradition frangaise

de l’Encyclopedie (unveröffentlicht); Verf.: Po&sie, philosophie et science chez Novalis, In: Les Erudes philosophiques 4 (1992), 5. 463-486; Verf.: La poftique de la terre chez Novalis. In: Cahiers de Geopoftique 3 (1992), $. 59-76; Verf.: Etar escherique, Etar po£tigque, Etat rationnel. In: Le pouvoir. Hrsg. von Jean-Christophe Goddard et Bernard Mabille. Parıs 1994. 8. 178-187. * Zur ungeteilcen, ganzen Aufmerksamkeit vgl. Fichte: Die Wissenschaftslehre (1804).

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182

Daniel Lancereau

Auf alles, was der Mensch vornimmt, muß er seine »ngetherlte Aufmerksamkeit oder sein Ich richten [...]. Er kann dieses Spiel oft gleich wieder vernichten, indem er seine Aufmerksamkeit wieder theilc [...]. Höchst merkwürdig ist es, daß der Mensch erst in diesem Spiele seine Eigenthümlichkeit, seine specifische Freiheit recht gewahr wird, und daß es ihm vorkommt, als erwache er aus einem

tiefen Schlafe, als sey er nun ersc in der Welt zu Hause, und verbreite jetzt erst das Licht des Tages sich über seine innere Welt. (I,96f.)

Ich begnüge mich hier damit, auf die Nähe hinzuweisen, die zwischen der Notiz aus dem Tiedemannschen Werk und dieser Seite aus den »Lehrlingen« besteht. Das Walten der ungereilten Aufmerksamkeit erscheint hier als Spiel des freien Ich. Außerdem wird dieses Spielen einem Erwachen aus dem tiefen Schlaf gleichgeserzt.*” Drei Momente kommen hier zum Ausdruck: ı. das freie Spiel der ganzen Aufmerksamkeit (des Ich); 2. die Teilung der Aufmerksamkeit als Vernichtung des Spiels; 3. die Teilung der Aufmerksamkeit oder Vernichtung des Spiels als Anregung zum tiefen Schlaf. Es besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen der vollen und der

halben, »zerstreuten« Aufmerksamkeit. Die ganze Aufmerksamkeit wirft sich in ihr Objekt, und geht darin vollkommen auf. Sie füllt den Geist ganz, so daß für andere Objekte kein Raum mehr übrig ist. Während die erste keine Grade hat, ist letztere unendlicher Grade fähig.*? Trotzdem kann und muß die ganze, volle Aufmerksamkeit nicht nur geweckt, sondern auch geübt werden.** Im Laufe des Tages herrscht der Wechsel zwischen ungeteilter und geteilter Aufmerksamkeit. Was passiert aber am folgenden Tag? Ist der folgende Tag eine bloße Wiederholung des vorigen? Um

die Situation richtig einschätzen zu können, muß man

die Mathema-

tik der Reihen mit berücksichtigen. Drei Idealfälle bieten sich an: — die Wiederholung (im Fall a): der Wechsel der Aufmerksamkeit wiederholt sich von Tag zu Tag; innerhalb des Tages geht die Aufmerksamkeit über ein Maximum

(+) und ein Minimum

(-), aber ohne Fortschritt auf

dem globalen Wege; Hrsg. von Reinhard Lauch und Joachim Widmann. Hamburg 1986, $. 46: »[...] das Talent der ganzen vollen Aufmerksamkeit. Dieses sollte erworben und geübt sein, noch ehe man an das Studium der W.L. geht«. +: Diese Seire aus den »Lehrlingen: erinnert an den Schluß

der leibnizschen Schrift

»De

rerum«: auch hier gilt es, die schlummernden Monaden aus dem tiefen Schlaf zu erwecken. Aber dieses Erwecken kann nur, wie bekannt, auf konrinuierlichem, infinitesimalem Wege

erfolgen. #3 Vgl. Fichte (s. Anm. 41), S. 43.

+4 Vgl. Teil IV dieses Beitrags.

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Novalis und Leibniz

183

— die Nicht-Wiederholung (in den Fällen b und c): entweder weist die

globale Reihe der Schwankungen einen Progreß (Fall b) auf oder sie kann auch einen Regreß (Fall c) aufweisen. Charakteristisch ist, daß Hardenberg die drei Möglichkeiten nennt (a, b und c);

— das Schwanken des Bewußtseins zwischen zwei Polen, dem Wachen und dem Schlaf; —

das Hervorrufen

des Schlafs durch Übung

6Wille

zur Nacht«)

und

die Einführung einer neuen Periodisierung, Rhythmisierung des Wachens und des Schlafs (vgl. I,622:442);

— das Streben nach einem Verwischen des Schlafs zugunsten des Wachens* und der Aufklärung.

IH Eine Theorie der Analogie: Der Schlaf als Analogon Die Dynamik zwischen Wachen und Schlaf läßt sich am besten durch eine Infinitesimalgeomertrie und einen Infinitesimalkalkül darstellen. Das tut Leibniz in seiner »Theodizee«:*® Man erstaune nicht, wenn ich diese Dinge durch Vergleiche mit der reinen Mathematik aufzuklären suche, in der alles ordnungsgemäß verläuft und in der man Mittel und Wege hat, sie durch eine genaue Untersuchung zu entwirten, aus der wir sozusagen einen erfreulichen Einblick in die göttlichen Ideen gewinnen. Man kann eine Folge oder Serie von Zahlen annehmen, die augenscheinlich ganz unregelmäßig ist und in der die Zahlen ganz verschieden zu- und abneh-

men, ohne daß sich irgendeine Ordnung darin zeigt; und trotzdem wird derjenige, welcher den Schlüssel zu dem Rätsel besitzt und den Ursprung und Aufbau dieser Zahlenfolge kennt, ein Gesetz aufstellen können, das, richtig aufge-

faßc, die Serie als durchaus regelmäßig und sogar wohlproportioniert zeigt. Man kann dies durch Linien noch besser zeigen: eine Linie kann vorwärts oder rück-

wärts gehen, auf- und absteigen, Ducchschnittspunkte, Wendepunkte, Unterbrechungen und andere Verschiedenheiten besitzen, so daß man durchaus nicht 45» Auch ich kann den Schlaf nicht vermeiden — aber ich freue mich doch des Wachens und wünschte beimfich immer zu wachen«

(IV,280).

46 Hardenberg liest die »Theodizee« in der von Gottsched herausgegebenen Ausgabe Leibniz, Gottfried Wilhelm: Theodicee, das ist, Versuch von der Güre Gottes, Freyheit des Menschen, und vom Ursprunge des Bösen, bey dieser vierten Ausgabe durchgehends verbessert, auch mit verschiedenen Zusätzen und Anmerkungen vermehrt von Johann Christoph Gottscheden. Hannover und Leipzig, 1744. Zur Problematik der Theodizee vgl. Marquard, Odo: Idealismus und Theodizee. In: Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt am Main 1982, 85. 52-65; Bohrer, Karl Heinz: Die permanente Theodizee. In: Nach der Natur. München’Wien 1988, $. 133-161.

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Daniel Lancereau

daraus schlau werden kann, zumal wenn man nur einen Teil der Linie betrachtet. Und dennoch kann man ihre Gleichung und Konstruktion aufstellen, in

der ein Geometer den Grund und die Übereinstimmung all dieser angeblichen Unregelmäßigkeiten finden würde: so muß man auch Mißgeburten und andere angebliche Mängel des Universums beurteilen.*?

Das Raisonnement, das von Leibniz vorgebracht wird, ist doppelter Natur, und zwar arithmetischer und geomerrischer Natur. Einerseits wird eine Zahlenreihe berücksichtigt, andererseits der Lauf einer Linie. Und beide Verfahren drücken einander aus. Auf dem Theater des Lebens, wo alles so

unordentlich aussieht, kann eine Ordnung aus dem Chaos*® gewonnen und zum Ausdruck gebracht werden. Nach Leibniz ist nämlich der Schlaf nichts anderes als ein Analogon für alle Rückschritte im allgemeinen.

Im Leben erfährt ein beliebiges Objekt einen unregelmäßigen Wechsel von Aufstieg und Abstieg, von Fortgang und Rückgang. Seine Entwicklung kann durch eine hochdifferenzierte schwingende Bewegung dargestellt werden. Das Komplizierte, wenn man die Einzelheiten des Wechsels betrachtet, kann auf das Einfache ihrer Minima reduziert werden. Die Ent-

wicklung ist eine progressive, wenn die Kurve ihrer Minima eine ansteigende, zunehmende ist. Die Definition läßt sich auch umkehren: die Ent-

wicklung ist regressiv, wenn die Kurve ihrer Maxima eine absteigende, abnehmende ist. Der Wechsel Wachen/Schlaf ist ein alternierender Wechsel,*? der über

ein Maximum und ein Minimum geht. Nehmen wir an, die Kurve aller Minima steigt an, dann ist die Reihe eine zunehmende Reihe. Da die Reihe nicht nur aus positiven Punkten aus negativen (Minima),

(Maxima) besteht, sondern auch

ist die Reihe eine alternierende.

Der Fortschritt in der Aufklärung ist kein linearer, sondern ein infinitesimaler und differentieller.°° Das Schema des globalen Fortschritts, der globalen Aufklärung?' läßt sich also in Stufen differenzieren: Es besteht 47 Leibniz (s. Anm. 46), $ 242. 43 Vgl, Marquer, Jean-Frangois: Chaos er culture dans les philosophies du romantisme allemand. In: Les Etudes philesophiques ı (1983), 8. 33-68; ders.: Liberte er existence. Etude

sur la formation de la philosophie de Schelling. Paris 1973. Zum Wechsel bei Hölderlin vgl. Holl, Herbert: La dislocarion est le risque du present. In: Literature, Medecine, Socier€ 6 (1984), 8. 141-154; Han, Kza et Holl, Herbert: Le contentement. In: Ebd. ı0 (1989), 8. 195-209; dies.: Ores que le suc de la vigne. In: Ebd. ıı (1992), 8. 1-19; dies.: Oü te trouvet, lumiere? In: Recucil 23f. (1992), $. 80-87. 3° Leibniz: Kleine Schriften zur Metaphysik (s. Anm. 32), $. 369 (»Über den Fortschritt ins Unendliche«), $. 369-373 (»Ob die Welt an Vollkommenheit zunimmt«). — Vgl. Serres,

Michel: Le systeme de Leibniz et ses modeles math&matiques. 2 Bde. Paris 1968. 5' Vgl. Mähl, Hans-Joachim: Der poetische Staat. Utopie und Utopiereflexion bei den Früh-

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Novalis und Leibniz

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aus partiellen Progressen, Regressen und Stabilitätsebenen. Diese drei Stufen könnnen z.B. entweder durch geometrische oder durch arichmerische Modelle exemplifiziert werden (Lauf der Linie/unendliche Zahlenreihe).

Hier wollen wir die Stufen »Progreß« und »Stabilität« ausklammern. Was entspricht dieser Denkstruktur auf dem Gebier der Regresse? Welches sind die konkreten Inhalte dieser partiellen Regresse? Leibniz verweist uns auf das Vergessen, den Schlaf, den Irrtum, das Übel, den Schmerz, Sünde, den Verfall, die Barbarei, die Diskordanz usw.’?

die

Eben weil der Fortschrite der Aufklärung differenziert werden soll,?? wird der Schlaf zur Norwendigkeit, genauso wie in einer hochdifferenzierten schwingenden Bewegung die Minima erforderlich sind, um dem Prinzip der Mannigfaltigkeit gerecht zu werden.?* Diese Notwendigkeit ist auch dem großen Rhythmus von Flut und Ebbe? Progreß und Regreß unterworfen,

wobei

die differenciellen, die kleinen

Vorstellungen,

inte-

griert werden. Außerdem ist der Schlaf eine Marke, ein Zeichen dafür, daß wir endliche

Wesen sind, daß unser Standpunkt also ein endlicher ist. Wenn man die Theorie der Schatten mit berücksichtigt, ist der Schlaf — wenigstens für uns endliche Wesen — die Schattenseite des Wachens, eine Art Projektion.

Unser Endlichsein machr das Versinken in den Schlaf ebenso norwendig, wie es eine Theorie der Schatten impliziert. Das endliche Wesen kann das Ganze der Vigilanz in jedern Augenblick, das Ungeteilte der Aufmerksamkeit, nicht ertragen. wendigkeit

Das Versinken

in einer globalen,

die Linie bzw.

die Kurve

in den Schlaf erscheint als eine Not-

unendlichen,

(krumme

alternierenden

Reihe,

damit

Linie) so variiert, so differenziert

sei

wie möglich. Insofern ist der Schlaf das Maß unserer Unvollkommenbheit,

unserer Unvollständigkeit, unserer Endlichkeit also. Umgekehrt soll die von der Aufklärung bewirkte Vervollkommnung des Menschen den Schlaf und den Schatten immer überflüssiger machen. Andererseits meint Hardenberg — wie Leibniz in der »Theodizee«: das Unregelmäßige soll auf das Regelmäßige reduziert werden. Aber wir befinromantikern. In: Ütopieforschung. Main 1985, 5. 282, 284 und 295.

Hrsg. von Wilhelm

5? Leibniz: Die philosophischen Schriften (s. Anm.

Voßkamp. 3. Bd. Frankfurt am

25), Bd. VIL 5. 160-168.

33 Vgl. Courtine, Jean-Frangois: Le deploiement schellingien de Funit&: de Funiversto & l’universitas. In: Les Etudes philosophiques

3 (1978), 8. 363-371.

54 Leibniz {s. Anm. 8), $. 99ff.: »Die gleichförmigen Dinge, die keine Vielfalt in sich schlie-

ßen, sind immer nur Abscraktionen [.. .]«55 Vgl. Roder, Flortarı: Novalis. Die Verwandlung des Menschen. Leben und Werk Friedrich

von Hardenbergs. Stuttgart 1992, $. 636-648.

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Daniel Lancereau

den uns hier erst auf halbem Wege. Um den kombinatorischen Anforderungen zu genügen, die auf »Fülle« hinzielen, muß man dann das RegelmäBige differenzieren, dem Bekannten die Würde des Unbekannten geben (vgl. H,545:105), die Kunst entwickeln, aus gegebenen »Datis« die unbekannten Glieder zu finden (vgl. IUl,364:566), aus wenigen bekannten Gliedern eine Menge unbekannter Glieder hervorbringen schließlich romancisieren.

(vgl. III,68), d.h.

Hardenberg will das Wachen umkehren. Wie? Durch Teilung der Aufmerksamkeit. Er muß die Aufmerksamkeit teilen, d.h. schwächen, asthenisch machen, um die Seele ın die Nacht, in den Schlaf zu versenken. Indem er die Seele in die Nacht, in den Schlaf versenkt, zwingt er sie,

einen Tiefpunkt zu erproben, ohne welchen ihre seriale Existenz sich nicht denken läßt. Im Teilen der Aufmerksamkeit offenbart sich der »Wille zur Nacht«.’° Dadurch scheint der romantische Dichter Hardenberg das Andere der Vernunft,’” das scheinbar Unreine der Vernunft

zu erforschen.

Man darf aber nicht vergessen, daß dieses Unreine der Vernunft nichts anderes ist als eine Unregelmäßigkeic; und daß jede Unregelmäßigkeir — so monströs (vgl. »Theodizee®

IV

Der Wille zur Nacht: Der Schlaf als Übung Eines dürfen wir nicht vergessen: Das Teilen, also das Schwächen der Aufmerksamkeit, sei sie mathematischer oder dynamischer Art, ist ein will-

kürlicher Akt. Dieser Akt gehört zur Strategie der Selbstbeherrschung des Selbst. Das Wesen des magischen Idealisten besteht bekanntlich darin, daß er zweierlei in seiner Gewalt hat: »Beyde Operationen sind idealistisch. Wer sie beyde vollkornmen in seiner Gewalt hat ist der magische Idealist« 56Ygl. Montaigne: Essais. Bd. I. Paris 1972. Buch II, Kap. VI: »De l’exercicarion«; de Loyola, Ignace: Exercices spirituels, texte definitif traduit er comment par Jean-Claude Guy. Paris 1982. Vgl. dazu Valentin, Jean-Marie: Theatzum Carholicum. Les jEsuites et la scäöne allemande au XVIe er au XVIIe siöcles. Nancy 1990; Kitrler, Friedrich: Die Laterna magica der Literatur. Schillers und Hoffmanns Medienstrategien. In: Arhenäum. Jahrbuch für Romantik 4 (1994), 5. 219-237. 37Ygl. Böhme, Hartmut und Böhme, Gernot: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1992.

5% In seinem »Ursprung der Geomertrie« hat Husserl die fundamentale Frage gestellt: Was wird aus der Mathematik während des Schlafs?

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Novalis und Leibniz

187

(III,301:338). Diese Operationen lassen sich so charakterisieren, daß sie reversibel sind. Seit den Studien von Manfred Frank ist die sordo inversus«Lehre besonders gut bekannt.’? In der Novalis-Forschung ist der Inversions-Begriff (Umkehrung) fast ausschließlich auf Fichte und die »FichteStudien bezogen worden. Es lohnt sich aber, den Inversions-Begriff aus einer anderen Perspektive zu betrachten und zu verallgemeinern. Denn in der leibnizschen Merhodologie ist der Inversions-Begriff von grundsätzlicher Bedeutung. In der Novalis-Forschung ist unseres Wissens die Umkehtung nie in Beziehung auf die Kombinacorik gedacht worden. Bei Leibniz aber entsteht das Mannigfaltige aus dem Einfachen mittels der Inversion und der Gesetze der Kombinatorik. In dem oben genannten Zusammenhang bieten sich zwei reversible Operationen an:

— entweder kann der magische Idealist den Schlaf in die Aufklärung versenken, d.h. die Seele aus dem Schlaf erwecken, sie ans Licht bringen,

sie auf den Weg zur Aufklärung bringen. So entsteht der Fortschritt (die Lichtseite des historischen Menschen) auf infinitesimalem Weg;

- er kann aber auch die Aufklärung in den dunklen Schlaf versenken, sei es in den langen, sei es in den kurzen Schlaf. Der lange Schlaf ist nichts anderes als ein »Analogon des Todes« (T1,622:442). Ganz anders der kurze

Schlaf: Als wirksames Stärkungsmittel verfügt er über eine viel größere Wirkung: »Kurzer — aber öfterer Schlaf. Seine Restaurirende Wirckung [...]. Je weniger Schlaf man braucht — desto vollkommner ist man. Eine augenblickliche Unterbrechung

stärckt fast mehr, als eine Lange. Halbes B[e-

wußt]S[eyn] im Schlafe« (ebd.). Insofern ist der Wille zur Nacht ein Wille zur kurzen, öfteren, stärkenden Nacht. Hardenberg entscheidet sich hier für die Intensität der Nacht. Länge und Tiefe werden dann preisgegeben. Die Aufmerksamkeit teilen oder schwächen heißt soviel, wie den langen, tiefen Schlaf bewirken; sie vervielfachen oder stärken, den kürzeren, öfteren, intensitätsvolleren Schlaf bewirken.

Der Differentialkalkül behandelt solche Operarionen wie die Integration und die Differentiation. Über die Begriffe hinaus ist Leibniz sogar der erste, der diese mathematischen Operationen als reversible Operationen >> Frank, derlin, Gajek in der

Manfred/Kurz, Gerhard: Ordo inversus. Zu einer Reflexionsfigur bei Novalis, HölKleist und Kafka. In: Geist und Zeichen. Hrsg. von Herbert Anton, Bernhard und Peter Pfaff. Heidelberg 1977, 8. 75-80; Frank, Manfred: Das Problem »Zeit« deutschen Romantik. Zeitbewußtsein und Bewußtsein von Zeitlichkeit in der früh-

romantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung. 2. Aufl. München 1992; ders.: Philosophische Grundlagen der Frühromantik. In: Arhenäum 4 (1994), 8. 37-130.

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Daniel Lancereau

betrachtet har. In mancher Hinsicht ist Hardenberg ihm gefolgt.“ Der Wille zur Nacht bei Hardenberg entfaltet sich in einem Raum, der von Leibniz im Abschnitt 242 seiner »Theodizee< definiert worden ist (vgl. II1,469:1096). Was ist der Wille zur Nacht anderes als eine Operation der Differenzierung? Im Gegensatz dazu ist der Wille zur Aufklärung ein Versuch der Integration (vgl. »De rerum.). Von Leibniz zu Fichte wurde die ganze Metaphysik dem Begriff des Operierens anverwandelt. Hinter dem Operieren aber steckt der Wille." Die Geschichte des Willens ist ein langer Kampf gegen den Schlaf. Damit eine geistliche Übung in Ausübung gebracht werden kann, muß ein willkürlicher Akt vorhanden sein. Sowohl die jesuitische (Loyola) als auch die

pietistische (Zinzendorf) Tradition hat den Voluntarismus gefördert und den Willen des Übenden zu bilden versucht. Insofern sie sich auf die Übung allein konzentriert, wird die Aufmerksamkeit allmählich gebilder, bis sie punktiert wird. Eine der meist verbreiteten geistlichen Übungen ist gerade die vor dem Schlafengehen und dann die nächtliche Übung. Diese nächtlichen geistlichen Übungen wenden sich gegen die mangelnde Aufmerksamkeit der Seele. Der Rhythmus der Übungen ist dazu da, jeden Entzug des Bewußtseins zu verhindern. Die Übung zum Einschlafen spielt den Willen gegen den Willen aus. Sie erlaubt es, den Willen des Ich mit dem Willen der Welt zu identifizie-

ren: Im Schlafe sinkt der Mensch in den allgemeinen Organismus zurück. Hier ist sein Wille unmittelbar der der Natur, und umgekehrt. Beyde sind jetzt Eins. Hier ist der Mensch wirklich physisch allmächtig, und wahrer Zauberer.”

In gewisser Hinsicht bedeutet der Übergang vom Wachen zum Schlaf soviel wie der Übergang vom willkürlichen Bewußtsein zur automatischen

Aktivität. Ritter fährt fort: 5° Zur Integration/Differentiation vgl. IIL,66, x 16f., 127, 168 und 286:256 etc.

$ı Ygl. 11,587ff. und II, 364:568: » Wir stossen immer zulezt an dfen] Willen - [...]«. 62 Ritter, Johann Wilhelm: Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. Heidelberg 1969, $ 475, 5. 79. Zitiert van Andre Breton in: Point du jour. Paris 1970, 5. 121. Breton kennzeichnet Ritter, den großen Apologeten des Schlafs, als einen »surräaliste

avant Ja lerere«. Es würde sich lohnen, die Beziehungen zwischen Schlafen und Schreiben zu untersuchen. Hardenberg ist kein Einzelfall. Man denke hier an die Praxis des automatischen Schreibens bei den Surrealisten und des kombinatorischen Schreibens in der potenciellen Literarur eines Queneau. Maurice Blanchot har die Situation am besten charakterisiert in: L’espace lirt£raire. Paris 1955, $- 246: »Qui veur £crire [...], il Iui faut sans cesse endormir en soi cette exaltation. La maitrise suppose ce sommeil par lequel le cr&ateur apaise et trompe la puissance qui l’entraine«.

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Novalis und Leibniz

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Es giebt ein Bewußtseyn, was dazu des Willens und seiner Uebung nicht mehr nöthig hat. Es ist eben das im Schlafe, im gewöhnlichen, wie im magnetischen,

das Bewußtseyn des Unwillkührlichen. Wille ist hier nicht einmal möglich.

Als infinitesimaler, intensiver Schlaf ise der Schlaf auf dem Weg des Fortschritts ein partieller Regreß. Durch die Umkehrung des Wachens wird die unendliche Fülle der Welt dargestellt: Die Leere des Tages und des Wachens wird variiert, d.h. ausgefüllt, angefüllt, erfüllt. Die Teilung der Aufmerksamkeit kann einerseits auf diskrete Art und Weise erfolgen als fraktale Dissoziation oder arithmetische Serialität. Sie kann andererseits auf kontinuierliche Art und Weise erfolgen als Auflösung der Gestalt im Grund, im Hintergrund. Diese zwei Wege der Interprecation führen zur Grundaporie von Hardenbergs Schreiben und Denken: der Aporie von Diskontinuität und Konrinuicät nämlich.

Aus der Diskussion

Mähl: Sie haben in ungemein selbständiger und produktiver Weise über das Verhältnis von Novalıs und Leibniz nachgedacht. Mir war dabei nicht immer ganz klar, ob Sie jetzt noch eng an den Texten philosophieren oder ob Sie darüber hinausgehen. von Engelhardt: Wie verhält sich Novalis zum Dererminismus von Leibniz? Lancereau:

Natürlich gibt es bei Leibniz einen Determinismus,

aber er

legt auch Wert darauf, daß die Vielfalt der Welt sich durch Variationen

und Mulciplikationen frei entfaltet. Es geht eben um die Einheit einerseits und die Fülle der Welt andererseits. Beides wollte auch Novalis denken und darstellen. Kwaadsteniet: Ich möchte ergänzen, daß Leibniz die Monaden zugleich als frei und determiniert gedacht hat. Durch die Voraussetzung einer prästabilierten Harmonie ist es möglich, daß jede Monade ihren eigenen inneren Entwicklungsgeserzen folgen kann und doch mit dem Ganzen

in Übereinstimmung bleibt. Mähl: Mir fälle auf, Herr Lancereau, daß Sie von einem Exzerpt ausgehen, das bei Tiedemann mitgeteilt wird, was auf die Bedeutung von Quellenstudien verweist. Novalis° Kenntnisse sind hier vermittelt durch ein anderes, sekundäres Werk. Bei der kombinatorischen Analysis, die ja zu

kühnen Schlußfolgerungen in der Experimentalphysik des Geistes, zur kombinatorischen Musik und kombinatorischen Sprache bei Harden-

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Daniel Lancereau

berg führt, fällt immer der Name Leibniz, und mir ist aufgefallen, daß die zentralen Überlegungen von Leibniz zur Kombinatorik Novalis vermittelt worden sind durch Hindenburgs

Buch, der ja in seiner

Vorrede Leibniz-Exzerpte bringt. Hindenburg teilt Auszüge aus Leibniz’ lateinischen Abhandlungen mit, und die werden zur Quelle für Hardenbergs Kenntnis der Überlegungen von Leibniz zur Kombinatorik und der kühnen Schlußfolgerungen daraus. Würden Sie das auch so sehen? Sie haben ja sehr freizügig aus Leibniz zitiert, und ich hatte dabei immer die Frage im Hintergrund: Kaunte Novalis Leibniz oder nicht? Lancereau: Novalis har wohl die Schriften von Leibniz nicht direkt gekannt, außer der »Theodizee«.

Man

darf aber nicht vergessen, daß es

einen diffusen Leibnizianismus im

18. Jahrhundert gegeben hat. Die

Ideen von Leibniz sind nicht zuletzt durch Kanr, Fichte und Schelling, vor allem die leibnizsche Tradition (Wolff, Lambert, Maimon, Hindenburg etc.) verbreitet worden.

Peter: Gibt es eine Beziehung zwischen Mathematik und Dialektik bei Novalis?

Lancereau: Es ist weniger die Dialektik als die Mathematik für Novalis wichtig geworden. Bei seiner Rezeption der Mathematik steht das Zugleich zweier Operationen im Mittelpunkt, sowohl die Integration des Mannigfaltigen als auch die Differenzierung und Variation des Einfachen. Leibniz war nun der erste, der diese Praxis der doppelten Wege hat. Bei Novalis spielt die Hin-und-Her-Direktion eine entscheidende Rolle. Das hat er von Leibniz. Leibniz war der erste, der

die Reversibilität jeder Operation in die Philosophie der Wissenschaften und die Mathematik eingeführt hat. Leibniz war der Erfinder des Infinitesimalkalküls. Aber das eigentlich Neue bei Leibniz war die

Art

und

Weise,

wie

er den

Kalkül

verstand.

Leibniz

hat

die

Umkehrbarkeit jedes Setzens erkannt und damit Novalis’ Idee der Wechselrelation vorbereitet. Neubauer: Es geht um die Aufhebung des Satzes vom Widerspruch. Sie haben gesprochen u.a. über das Verhältnis von Null und Eins, und man könnte sagen: Dialektik ist ein Versuch, diesen Gegensatz aufzuheben. Leibniz’ Lösung, so wie Sie es besprochen haben, ist eine ganz andere Lösung. Die füllt den Raum zwischen Null und Eins mit unendlich kleinen Teilen

aus. Würden

Sie dem

zustimmen,

daß hier von zwei

verschiedenen Arten der Aufhebung des Satzes vom Widerspruch reden wäre?

zu

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Novalis und Leibniz

Ig9I

Lancereau: Ja, dem würde ıch zustimmen. Und Noyalis hat keine dialektische, sondern eine »mathematische« Lösung (im Sinne des »ordo inver-

sus«, des Infinitesimalen und der Erschöpfungsmerhode) gesucht. Mähl: Wir sollten darüber aber nicht vergessen, daß Novalis hier, wie in

anderen Disziplinen, immer auch eine »Offenbarung Gottes: gesucht hat: »Das Leben der Götter ist Mathematik« (I1,594:241), oder: »Kann sich Gott nicht auch in der Machemartik offenbaren, wie in jeder andern Wissenschaft?« (III,665:603)

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Friedrich Strack (Heidelberg)

Novalıs und Fichte. Zur bewußtseinstheoretischen und zur moralphilosophischen Rezeption Friedrich von Hardenbergs

I Streng genommen dürfte das zu behandelnde Thema im Rahmen dieser Tagung, die sich mit »Novalis und den Wissenschaften« beschäftigt, gar nicht diskutiert werden; denn die Philosophie, um die es hier geht, gehört nach Novalis’ »Fichte-Studien: aus dem Jahre 1795 (ich halte mich an die

»Unbestimmren Sätze«) nicht zur Wissenschaft. Ihr »eigentlicher Wirkungskreis« ist keine »gelehrte Kunst«. Sie soll »nicht von Gegenständen und Kenntnissen abhängen, die erworben werden müssen [...] Wenn also jene Wissenschaften

sind, so ist sie keine« (l1l,113:15). Der Philosophie

wird damit ein Sonderstarus attestiert, der sie aus dem chen)

Wissenschaften

ausgliedert.

»Sie handelt

von

Rahmen einem

der fübli-

Gegenstande,

der nicht gelernt wird« (ebd.). Da aber alle Gegenstände »gelernt« werden müssen, so folgert Novalis weiter, kann Philosophie nicht an »Gegenstände« gebunden sein. Das heißt: der Gegenstandsbegriff soll — im Hinblick auf das, was Philosophie zu leisten vermag — von vornherein ausgeschaltet werden. Sie läßt sich mit nichts vergleichen, was in der Welt ist

und das menschliche Erkenntnisvermögen anspricht. »Was könnte es [sie] wohl seyn?«, fragt Novalis in didaktischer Manier, als wolle er sich selbst anstacheln, dem eigentümlichen Wesen der Philosophie nachzuspüren. Da sie weder mit »Gegenständen« zu tun haben soll, noch gelernt werden kann, ergibt sich die weiterführende Frage: Könnte sie »vielleicht vom Lernenden handeln, also von uns, wenn wir Gegenstände lernen?« (Ebd.) —

Damit wendet sich die Blickrichtung: Es wäre denkbar, daß der Gegenstand der Philosophie, der nicht als Gegenstand gefaßt werden darf, die Tätigkeit des Lernens selbst betrifft. Da sie sich »im Lernenden« ereignet: »Nun da wird sie Selbstberrachtung seyn«, folgert der unruhig hin und her Getriebene etwas vorschnell (ebd.); doch nur, um auch diese Erwägung

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Friedrich Strack

sogleich wieder in Frage zu stellen: »Ey! wie fängt es der Lernende an sich selbst in dieser Operation zu belauschen. Er müßte sich also lernen«, sagt Novalis (ebd.). Da auch das »sich«, das »gelernt« werden müßte, ein »Ge-

genstand« wäre, kann Philosophie letztlich doch keine »Selbstbetrachtung« sein. Die zu rasch gegebene Antwort führt in eine Sackgasse. Novalis’ Intention, die Tätigkeit des Philosophierens weder als Gegenstandserfahrung noch als Reflexion zu begreifen, die nur voraussetzt, was sie er-

gründen will, wird hier faßbar.” Bei der Rückwendung im Akt der »Selbscbelauschung:« verdinglicht sich das Reflexivum Gsich«) zum »Gegenstand« und vereitelt jene ursprüngliche Aktivität zu erkennen, die das

Philosophieren eigentlich ausmacht. So wird eine wogen: Sie (die Philosophie) ist »ein Selbstgefühl tung, die zu neuen Überlegungen Anlaß gibt, was Ich unterbreche die Betrachtung dieser frühen

weitere Möglichkeit ervielleicht«; eine Vermuein »Gefühl« sei (ebd.). Aufzeichnung aus dem

Rahmen der »Fichte-Studien« hier zunächst einmal, um die Weise der methodischen Ableitung der Philosophie zu beleuchten, der ein exzeptioneller Status im Rahmen der Wissenschaften zukommen soll: Novalis demon-

striert Zug um Zug, was Philosophie »ichr sein kann (wobei er methodisch einkalkulierte Irrgänge nicht scheut), um schließlich ihren paradoxen Sonderstatus ins Licht zu rücken: Philosophie scheint das »Lernen« selbst zu betreffen, das, was allen Wissenschaften »zum Grunde« liegt (II,265:554). Im Fichteschen Sinne: >Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre: zu sein (wie der Titel der Fichteschen Hauptschrift von 1794 lauter). Novalis versucht diesen »Grundlagen«-Charakter der Philosophie zu entwickeln. »Filosofiren muß eine eigne Art von Denken seyn«, heißt es später (I1,269:566). »Was thu ich, indem ich filosofire? ich denke über einen

Grund nach. Dem Filosofiren liegt also ein Streben nach dem Denken eines Grundes zum Grunde [...]« (ebd.). Demzufolge definiert Novalis im Fortgang seiner Überlegungen Philosophieren als »Ergründen« (1,271:567). Eben solchem »Streben nach dem Denken eines Grundes«, der nicht als »Ursache im eigentlichen Sinne« gedacht werden soll, sondern als »innre Beschaffenheit«, als »Zusammenhang mit dem Ganzen« (II,269:566), sucht Novalis auch

in der vorliegenden Aufzeichnung

(s.o.) nachzukom-

men, wenn er auf das Lernen des Lernens zielt. Es gleicht einer » Aufforde‘Vgl. Henrich, Dieter: Fichtes ursprüngliche Einsicht.

Frankfurt am Main

1967, S. ııff.,

und Frank, Manfred: Das Problem »Zeit« in der deutschen Romantik. Zeitbewußtsein und Bewußtsein von Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie und in Tiecks Dichrung. München 1972, 8. 13 7ff.

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Novalis und Fichte

195

rung zur Selbstchätigkeit«, die Novalis (mit Recht) als das Zentrum der

»Ficheische[n] Filosofie« erachtet (II,271:567). So gesehen, sind die Argumentationsbewegung und das Frage- und Antwortspiel, in dem der Autor voranschreitet, kein zufälliges Beiwerk. Sie haben als mimischer Ausdruck dieser » Aufforderung zur Selbstrhätigkeit« zu gelten, ın der sogar die Interjektionen

(»nun«,

»ey!«)

ihren

spezifischen

Stellenwert

erhalten.

Sie

stacheln dazu an, die Denkbewegung selbsttätig zu vollziehen. Durch Selbsttätigkeit soll Selbsttätigkeitr »gelernt« werden — anders ist Philosophie gar nicht zu begreifen. Man muß diesen ersten Schritt zur, sagt Fichte, und Novalis hälc sich daran — ın Geist und Stil: »ıch kann keinem erwas erklären von Grund aus, als daß ich ihn auf sich selbst verweise, daß

ich ihn dieselbe Handlung zu thun heiße, durch die ich mir erwas erklärt habe« (I1,271:567). Erst indem man die Denkbewegung vollzieht und reflektiert, erfaßt man die Bedingungen des Denkens, die das Geschäft der Philosophie ausmachen.

Da sie selbst aber keine Erkenntnisse sind (solche

vielmehr synthetisch bewirken), weder begriffen noch angeschaut werden können,

müssen

sie wohl

auf andere Weise

»gewahrt«



Novalis sagt:

»gefühle« — werden. Dementsprechend führt die unterbrochene Aufzeichnung weiter aus: »Die Filosofie ist ursprünglich ein Gefühl. Die Anschau-

ungen

dieses

Gefühls

begreifen

die

filosofischen

Wissenschaften«

(I1,113:15).?

Obgleich in dieser resümierenden Feststellung nicht klar ist, was »Anschauungen [des] Gefühls« sein sollen und auch die grammatischen Bezüge ungeklärt bleiben (begreifen die » Anschauungen [des] Gefühls« die »filosofischen Wissenschaften« oder umgekehrt?), wird deutlich, daß sich

Novalis im Horizont Fichtescher Gedanken bewegt, die auf ces im Ich hinzielen: auf eines, vor aller Möglichkeit »Ich« er übersetzt Fichtes Überlegungen in seine eigene Sprache; die mit transzendentalphilosophischen Deduktionsgängen hat. Er versucht,

die Bedingungen

ein Unbedingzu sagen; aber in eine Sphäre, wenig gemein

der Erkenntnis, die aller Erkenntnis

vorausliegen, erfahrbar (wenngleich nicht wiBbar) werden zu lassen. In die-

sem Sinne sind seine weiteren Meditationen über das »Gefühl« zu verstehen, das nicht nur eine andere Vokabel für die »intellektuelle Anschau-

ung« sein will (durch welche Fichte unser Wahrnehmen der Tätigkeit, die zugleich

ein Reflektieren

ist, zu erfassen

versucht),?

sondern

auch

die

Weise unserer errotionalen Teilhabe am »Ganzen« festhalten möchte. Indem ® Vgl. dıe wichtigen Ausführungen von Frank (s. Anm. >Ebd., 5. 146.

1), 8. 144ff.

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Friedrich Strack

er sich auf ein »Gefühl« beruft, um die Philosophie zu begründen — seine pietiscische

Herkunft

bleibt

mitzubedenken

—, versucht

Novalis,

deren

transzendentalen Charakter auch sinnlich zu machen. Das führt zwangsläufig zu paradoxen Spannungen: Es muß ein Gefühl von innern, nothwendig freyen Verhältnissen seyn. Die Filosofie bedarf daher allemal etwas Gegebenes [etwas Vor-gegebenes] — ist Form —und doch re=/ fund ideal zugleich, wie die Urhandlung. Construiren läßt sich Filosofie nicht. Die Grenzen des Gefühls sind die Grenzen der Filosofie. Das Gefühl kann sich nicht selber fühlen. (I,ı 13f.:15)

Novalıs will damit zum Ausdruck bringen, daß »Gefühl« immer auf ein Etwas bezogen sein muß, das heißt: daß auch dasjenige, was allem Erfahrbaren weorausliegen soll, als ein »Gegebenes« (doch nicht im Sinne der Empirie) zu gelten hat. Als reine Tätigkeit produziert es im Wechsel (mit dem Nicht-Ich)

die Erfahrung;

aber es ist auch etwas für sich, das sich im

»Gefühl« mitteilt: »Das dem Gefühl Gegebne scheint mir die Urhandlung als Ursache und Wirkung zu seyn« (Il,114:15), folgert Novalis aus dem paradoxen Sachverhalt, daß ein Gefühl eine Grenze markiert, die es nicht überschreiten kann, deren transreale Geltung und Wirksamkeit aber für ihn in keiner Weise zu leugnen ist. Novalis kann das »Gefühl« von jenem fraglos »Gegebenen« (ein Verlegenheitswort!) nicht umschreiben oder erklären; es wird lediglich konstatiert als Folge eines Wirkenden, als Reflex eines Handlungaktes. Man hat versucht,

diesem

»Gefühl«

»Offenbarungscharakter«

zuzu-

schreiben, es als »gegenstandsloses Bewußtsein« eines »transzendenten Grundes« zu deuten.* In nahezu »schlafwandlerischer Sicherheit« und »offenbar ohne sich zunächst einer Abweichung von Fichte bewußt zu sein«, so Manfred Frank, habe Novalis seinen Lehrer an philosophischer Konsequenz überboten und ein präreflexives Selbstbewußtsein postuliert, das Fichte erst mit seiner Neufassung der »Wissenschaftslehre< von 1802 erreicht habe. Aus dem »Ungenügen« an der Fichteschen Position sei Hardenbergs »eigener philosophischer Entwurf motiviert«.? Eine solche Einschätzung des bewußtseinsphilosophischen Anspruchs der Novalisschen

Meditationen

wird (meines

Erachtens} dem

Sachverhalt

nicht gerecht. Novalis war 1795 kaum in der Lage, Fichte Paroli zu bieten, wenn er sich einer Abweichung von dessen Lehre — wie Frank einräumt —

»zunächst« nicht einmal bewußt war. Tatsächlich lassen sich nur wenige +Ebd., $. 142ff. (bes. $. 143 und 145). >Ebd., $. 139ff.

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Novalis und Fichte

197

Anhaltspunkte dafür finden, daß Novalis vor 1797 mit Fichte hätte rivali-

sieren wollen, schon gar nicht mit dessen bewußtseinsphilosophischem Ansatz. Wenn es einmal heißt: »Spinotza stieg bis zur Natur — Fichte bis zum

Ich, oder der Person.

Ich

bis zur These

Gott«

(Il,1ı57:151),

so ist

mitzubedenken, daß Novalis kurz zuvor behauptet hatte: »Gott ist Ich. /Unendlichkeit — Allheit in der Theilbarkeit/ Er wechselt mit der znendlichen Persönlichkeit identisch und absolut. Analytisches Ich ist Person« (11,141:54).

Eine Distanzierung von Fichtes bewußtseinsphilosophischen Theoremen (oder gar deren Überbierung) ist unter diesen Voraussetzungen nur schwer nachzuvollziehen. Wenn Novalis tatsächlich Fichte vorwerfen sollte, nur bis zur »Person« oder dem »analytischen Ich« (dem Reflexions-Ich) gelangt zu sein, so wäre ihm schlicht zu entgegnen: Hier irrt Novalis; denn auch Fichtes Ich in der »Wissenschaftslehre< von 1794 ist keineswegs nur ein begrenztes, personales, suisuffizientes Ich, wie vielfach behauptet wird, sondern durchaus

(in Hardenbergs

Sprache)

»unendliche

Persönlichkeit«,

also eines, das Absolurheitscharakter beansprucht.* Fichte hat das Ich von Anfang an als freie Produktivität gedacht, die sich in der Reflexion begrenzt; und Novalis hat das auch entsprechend gewürdigt, sogar als Fichtes

eigenscen Gedanken erfaßt, selbst wenn er ihn in seine eigene Begrifflichkeit überträgt. Wenn er dennoch in der zitierten Aufzeichnung (vgl. 1E,157:1751) über Spinoza und Fichte hinauszusteigen vorgibt, entspricht das einem Gedankenapergu, einer provisorischen Überlegung, die rasch umschlagen kann, wie es häufig in den »Fichte-Studien« der Fall ist. Diese

verdienen als Den&versuche Beachtung, nicht als anspruchsvolle philosophische Konzeption.’ Eine Fülle heterogener Bausteine (nicht nur philosophi$Vgl. 8 3 der »Grundlage« Fichtes Werke. Hrsg. von Immanuel Hermann Fichte. Bd. I. Fotomechanischer Nachdruck Berlin 1971, $. 119: »Ich und Nichr-Ich, sowie sie durch den Begriff der gegenseitigen Einschränkbarkeir gleich- und entgegengeserzr werden, sind selbst beide erwas (Accidenzen)

im Ich, als rheilbare Substanz; gesetzt durch das Ich, als

absolutes unbeschränkbares Subject, dem nichts gleich ist, und nichts entgegengesetzt ist«. — Fichte kennt also sehr wohl ein präreflexives Ich; nur zieht er — wie Dieter Henrich weit vorsichtiger als seine Nachfolger betont — aus der »Verschiedenartigkeit der Relata« »noch keine Konsequenz« (Henrich [s. Anm. ı], $. 20). — Weiterhin heißt es bei Fichte, 5. 119: »Darin besteht nun das Wesen der &ritzschen Philosophie, dass ein absolutes Ich als schlechthin unbedingt und durch nichts höheres bestimmbar aufgestellt werde [...]«. — Fichtes absolutes Ich« ist nichts anderes als der sogenannte »unverfügbare Grund«, den Novalis (nach dem

Willen

seiner Interpreten) Fichte voraushaben

soll. Daß

das Ich nach Fichte »schlechthin sich selbst setzt«, besagt gerade, daß sein Tun nicht hinterfragbar ist. "Vgl. Mähl, Hans-Joachim: Einleitung in der historisch-kritischen Ausgabe (II,29ff., insbe-

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198

Friedrich Strack

scher, sondern auch ästhetischer und höchst privater Natur) machen keine

Theorie aus, und eine »Kohärenz« der Gedanken ist nur bedingt erkennbar.® Seinem Lehrer Fichte ist Novalis » Aufmunterung« schuldig. »Er ists, der mich weckte, und indirecre zuschürt«, schreibt Novalis an Friedrich Schlegel (IV,188), dem er zutraut, die »aufstcebenden Selbstdenker« gegen

»Fichres Magie« zu schützen (IV,230). Dessen »furchtbare[m] Gewinde von Abstractionen« setzt er den »Schöpfungsachem« der Liebe entgegen, den er bei Spinoza und Zinzendorf zu finden glaubt, nicht erwa eine tiefer fundierte Bewußkseinstheorie. »Filosofie ist die Seele meines Lebens und der Schlüssel

zu meinem

eigensten Selbst«,

behaupter

Novalis,

nachdem

er zuvor bekannt hatte: »Mein Lieblingsstudium heißt [...] wie meine Braut. Sofie heißt siex. »Etwas zu schreiben und zu heyrathen« wird ihm »Ein Ziel fast [seiner Wünsche« (TV,188). Unter solchen Voraussetzungen kann Hardenbergs Auseinanderserzung

mit Fichte wohl kaum auf die Selbstbewußtseinsproblemarik reduziert werden. Eine klar ausgeformte theoretische Konzeption eines »unvordenklichen Grundes< wird weder den Textbefunden noch den subjektiven Dispositionen Hardenbergs gerecht. Er studierte Fichte nicht etwa, um ihn auf dessen eigenstem Feld der Philosophie anzugreifen, sondern um sich selbst in seiner geistig-seelischen Verfassung zu orientieren. Die Bewußtseinsphilosophie macht dabei nur einen Teilaspekt aus. Sie ist wenig geeignet, in eine Erlebnissphäre transponiert oder gar temporalisiert zu werden. Gerade dies aber versucht Novalis, wenn er Fichtes » Wechselbestimmung« von Ich und Nicht-Ich, die einen simultanen Bewußtseinsakt meint, in den »ordo inversus« verwandelt, der im Hinein und Heraus, im »Vor und

Zurück« den Gang des Ich zu seiner höheren Selbsterkenntnis zu fassen versucht und diese auch poetisch gestaltet. In solcher Umsetzung und Poetisierung philosophischer Theoreme (es sind nicht nur die Fichces) ist die eigentliche Leistung Hardenbergs zu sehen, die er selbst — in sonderbarer Wortverdrehung — als »Zueignung« begreift.? Psychologisierung,

Temporalisierung und Poetisierung sind die drei wichtigsten Weisen der »Zueignung«

transzendentalphilosophischer

Sachverhalte,

die

Novalis

sondere $. 35: »In den »Fichte-Studien« fehlt [...] jeder Hinweis auf die [später] so schroff geübte Kritik«. BTjiese scheint auch Uerlings, Herbert: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk

und Forschung. Sturtgart 1991, $. 106, vorauszuserzen, 9 »„Zueignung« ist hier nicht als » Widmung«, als »Übereignung: einer Gabe zu verstehen, sondern im Sinne der »Aneignung«, der Assimilation {vgi. II,274:568 und 645:463). — Auch dieser Wortgebrauch ist bei Fichte vorgeprägt (vgl.: Grundkiss. $ 3. Zweiter Lehr-

satz: Fichtes Werke [s. Aum. 6], Bd. I, $. 340).

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Noyalis und Fichte zwar

nicht

zum

philosophischen

Dichter

199

(wie

Hölderlin),

aber doch

zu

einem Dichter der Philosophie werden lassen.

1 Die Zeit des sogenannten Sophienerlebnisses (Mai

1797) bedeutet einen

Einschnitt in Hardenbergs Fichte-Rezeption. So wenig dieses Ereignis unter dem

Eindruck einer angeblich

frühen (bereits in den

»Fichte-Studien«

vollzogenen) Überbietung Fichtes Beachtung gefunden hat, so sehr verdient es im Hinblick auf Novalis’ philosophische Neukonzeption, die mit einer abermaligen Lektüre Fichtes verbunden ist, wieder ins Licht gerückt zu werden.'° Die Unverfügbarkeit des »Grundes«, mit andern Worten: die Verborgenheit des »Absoluten« ist für Novalis seit dem Grabeserlebnis vom 13. Mai kein Faktum mehr. War er bis dahin Fichtes Grundsatz gefolgt, daß dem absoluten Ich wissend nicht beizukommen sei, so hält es Novalis fortan für das »willkührlichste Vorurcheil [...], daß dem Menschen das Vermögen zußer sich zu seyn, mit Bewußtseyn jenseits der Sinne zu seyn, versagt sey«. Der Mensch

vermöge

»in jedem Augenblicke ein

übersinnliches Wesen zu seyn«, behauptet Novalis jetzt; freilich sei die »Sich Selbst Findung« in diesem Zustand »sehr schwer«, weil sıe mit den

»übrigen Zustände[n] verbunden« bleibe. Je mehr wir uns aber dieses Zustands bewußt zu seyn vermögen, desto lebendiger, mächtiger, genügender ist die Überzeugung, die daraus entsteht — der

Glaube an ächte Offenbarungen des Geistes. Es ist kein Schauen — Hören — Fühlen

— es ist aus allen dreyen

zusammengesezt

— mehr, als alles Dreyes

-

eine Empfindung unmittelbarer Gewisheit — eine Ansicht meines wahrhaftesten, eigensten Lebens |[...]. Für den Schwachen ern Glasbensartickel. (11,420:23) Was

es für den

Starken

sei, läßt Hardenberg

ist das Factum dieses Moments

hier {in den

»Vermischten

Bemerkungen.) offen; aber man darf wohl davon ausgehen, daß er es jetzt für eine ekstatische Gewißheit der absoluten Selbsttätigkeit hält. Mit den »aufblitzende[n] Enchusiasmus Momente[n]« am Grabe Sophiens (IV,35f.)

glaubt er endgültig, daß ihm die »Geisterwelt< nicht mehr verschlossen ist. Und

das gilt in gleicher Weise

für die Philosophie

und

die zuvor

anerkannten Restriktionen Fichtes: Sie werden jetzt nicht mehr akzeptiert. »Zwischen dem Schlagbaum und Grüningen« meint Novalis überraschend "© Ygl. Mähl (s. Anm. 7), 5. 34.

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200

Friedrich Strack

den »eigentlichen Begriff vom Fichtischen Ich« gefunden zu haben (TV,42). Das kann zu dieser Zeit (Juni 1797) nichts anderes bedeuten, als die Fichteschen Grenzen überwunden zu haben. Novalis glaubt fortan von einem »Ich höherer Arc« reden zu dürfen, das vom

»Factum«

des endli-

chen Bewußtseins freigeworden ist und ein »Factum höherer Art« anerkennt. Auf diese Weise hofft er, eine »höhere W[issenschafts ]L[ehre]« begründen zu können (II,529:21). Fichte wird zwar immer noch als »Erfin-

der einer ganz neuen Art zu denken« anerkannt; aber Novalis hält es durchaus für wahrscheinlich, »daß es Menschen giebt und geben wird — die weit besser Fichtisiren werden,

als Fichte«

(1l,524:ı1).

Es könnten

»wunderhare Kunstwercke |...] entstehn — wenn man das Fichtisiren erst artistisch zu treiben« beginne (ebd.). Das bedeutet, daß jetzt das Fichte-

sche Tätigkeitsprinzip auch auf die Einbildungskraft übertragen wird ein (Fichte

und

Kant

gegenüber)

höchst

sonderbarer

Gedanke,

der

nun

ganz unerhörte Fähigkeiten freiserzt: von »ächte[n} Offenbarungen des Geistes« ist die Rede (II,421:22), die der Dichter in der »schaffende[n] Betrachtung« empfängt und als »Seheschöpfer« ins Kunstwerk verwandelt (11,646:469). Die Phantasie wird für Novalis zu einem Vermögen der visionären Schöpfungskraft, die alle anderen Vermögen umgreift. Nur ihren (pseudoreligiösen) »Eingebungen« bleibt sie verpflichtet, die sie in zeirlicher Entfaltung »setztGefühl< Gewußte,

umschreiben;?!"

als einen

die absolute Identität von Subjekt

und Objekt, [die] kein Gegenstand theoretischen Wissens« werden kann, paradox in die »Darstellung« hinüberzuretten.'? Eine Klärung der philosophischen Prämissen ist damit freilich noch nicht erreicht. Im Gegenteil: Die heikle Verschränkung von Absolutem und Endlichem, die Novalis’ Ansatz kennzeichnet, wird in einer brillanten Formulierung verdeckt. Daß Hardenbergs (vermeintlich) »höhere« Bewußtseinstheorie kaum

mehr als

eine verkappte Genielehre darstellt, die sich an Fichte orientiert und als »Offenbarungsgeschehen« präsentiert, wäre zu explizieren. »Jchseyr« nennt Novalis »identisch ewig wirckendes Genie«;, die freie »Thätigkeit d[er] pro-

duktiven Imagination« (II,267:556) wird zum Schlüssel seines Denkens, ""Derlings (s. Anm. 8), 8. 220ff. '?Ebd., 5. 229. — Uerlings hebt zwar hervor, daß solche »Darstellung« nie adäquat gelingen kann; er reflektiert aber nicht, daß sie nach Novalis mehr sein soll als bloßer Schein und

als Realisation des Absolucen kann, wäre zu bedenken.

Gelrung

beansprucht,

Wie

und

ob beides möglich

sein

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Novalis und Fichte

201

das Ewiges und Zeitliches umfassen will, aber nicht klärt, wie das Unend-

liche »gefühlt« werden kann.'? Eine konzise Theorie von »Selbstbewußcsein< — gar eine solche, die Fichte überbieten könnte — har Novalis weder

vor noch nach dem »Sophienerlebnis< geliefert. Das religiöse Vokabular im bewußtseinsphilosophischen Kontext entlarvt ihn letztlich als philosophischen Synkretisten.

Il Der letzte und entscheidende Punkt von Hardenbergs Fichte-Rezeption berrifft die Aufnahme und Bewertung Praktischer Prinzipien der » Wissenschaftslehre«. Denn es besteht kein Zweifel, daß für Novalis (wie für Fichte) die praktische Philosophie noch wichtiger war als die Theorie, in deren Rahmen alles Bisherige einzuordnen ist.

Mit Kant war Fichte der Ansicht, daß sich die Philosophie allererst in der Praxis — und das heißt prägnant: in der Moralphilosophie vollenden könne. So gilt ihm auch die theoretische Wissenschaftslehre nur als Hinführung zum praktischen Teil, aus dem die Theorie ihre Rechtfertigung erhält.'* Daß das Ich »absolute Tätigkeit« ist, wird nach Fichte allererst durch die praktische Wissenschaftslehre (und die praktische Vernunft) erwiesen. Erst hier wird die vorläufige Vermittlung der Wechselglieder durch »einen absoluten Machtspruch der Vernunft« behoben, »durch ein: es soff

[...] überhaupt kein Nicht-Ich seyn«, wodurch »der Knoten zwar nicht gelöst, aber zerschnitten« werde.'? Novalis hat sich die entsprechenden Bemerkungen in seinem Exzerpt von 1797 auf einem gesonderten Blart, das problematische Stellen der »Wissenschaftslehre< feschälc, überraschend genau notiert: »Die höchsce Aufgabe [isc]: Wie dfas] Ich auf das Nlicht]I[fch] oder das Nl[icht]Ifch] '3Diese Aufgabe stellt sich dem Philosophen, der Hardenbergs Ansatz begreifen will. Uerlings jedoch ignoriert diese Aufgabe. Statt dessen erblickt er in meinen früheren Ausführungen (vgl. Verf.: Im Schatten der Neugier [1982]) »eine Mischung aus Christentum,

Kantianismus, »Dialekrik der Aufklärung« und unrefiektierter Übernahme der alten These vom subjektiviscisch übersteigerten »Fichteanismus« Hardenbergs«, die er »den Prämissen des Interpreten« anlasten will (ebd., $. 142). '4Vgl.: Grundlage. $ 4. Abschnitt E: Fichtes Werke (s. Anm. 6), Bd. I, $. 178, 144 und 264, wo gezeigt wird, daß die Vernunft selbst nicht theoretisch sein könnte, ohne praktisch zu sein. Fichte meint hier sogar, »es sey keine Intelligenz im Menschen möglich,

wenn nicht ein praktisches Vermögen gründe sich auf das lerztere«.

in ihm sey; die Möglichkeic aller Vorstellung

'5Ebd. Bd, I, 5. 144.

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202

Friedrich Strack

auf das Ich unmittelbar einwirken könne, da sie beyde einander völlig entgegengesezt seyn sollen« (Il,355:10), heißt es in exakter Übernahme des Fichteschen Wortlauts; und stichwortartig führt er die Möglichkeiten einer Vermittlung im Theoretischen (»Einschiebung von Mittelgliedern«) und im Praktischen hinzu; nämlich: »Practische Zerhauung d[es] Knotens«, die an Stelle von Fichtes »Zerschneiden« des Knotens durch einen

»absoluten Machtspruch der Vernunft« eingerückt wird. In einer weiteren Notiz, die die Summe zieht aus den vorangegangenen Aufzeichnungen, bemerkt

Novalis

danrı

zusammenfassend

(aber durchaus

Fichte

gemäß):

»Im practischen Theile d[er] W[issenschafts]L[ehre] wird dfas} absol[ute] Produkt[ions]Verm[ögen] auf ein noch Höheres zurückgeführt« (IH, 355: 12). Ob sich Novalis diese Bemerkungen »zueignet« oder ob er sie nur exzerpiert, ist an dieser Stelle nicht zu ermitteln. Aber aus allen weiteren Äußerungen, die er sonst hinterlassen hat, darf man schließen, daß er das »practische Ich« tatsächlich als das »eigentliche Grundich« anerkannt hat (II,294:659). Und das bedeutet für ihn — wie für Fichte und Kant, dessen »Metaphysik der Sitren< (die »>Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre< von 1797) er gleichzeitig studiert und exzerpiert, daß die Moralphilosophie ins Zentrum seiner Berrachtungen rückt: »Die Moralität muß

Kern unsers Daseyns seyn«, heißt es demgemäß bereits ın den »FichteStudien« (I1,266:556); und noch einmal nachdrücklich: »Die höchste Filosofie ist Ethik« (II,267:556). Es stellt sich die Frage, wie diese bei Novalis

und bei Fichte konzipiert ist? Diese Frage zielt nicht auf eine dogmatische Moral (welcher Art auch immer), sondern auf das transzendentale Problem

einer Möglichkeit der Moral überhaupt. Wern ich dabei Kant als Maßstab anlege, so vor allem deshalb, weil er (vielleicht als einziger) eine konzise Theorie vorgelegt hat, die den Bedin-

gungen des moralischen Handelns auf den Grund geht. Er schreibt nicht vor, was zu tun sei, sondern

klärt die Vorausserzungen

moralischen

Han-

delns. Ob Novalis’ und Fichtes Überlegungen einer solchen Theorie standhalten (oder sie gar übertreffen), ist im folgenden zu prüfen; und daran

scheiden sich letztlich die Geister im Hinblick auf Hardenbergs philosophische Grundlagen. Kein Streit dürfte darüber bestehen, daß sittliches Handeln das soziale

Zusammenleben der Menschen — und vielleicht darüber hinaus: den verantwortungsvollen Umgang mit allem Lebendigen — zu gewährleisten har; eine schwierige Aufgabe, wenn man bedenkt, von welchen Interessen und

Egoismen der menschliche Wille gewöhnlich beherrscht wird. Es bedarf also eines Kompasses, der für jeden verbindlich sein muß — eines objekti-

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Novalis und Fichte

203

ven Gesetzes —, wenn Sittlichkeit möglich sein soll. Nach Kant: des kate-

gorischen Imperativs, der nichts Bestimmtes fordert, sondern einen Appell

an den Willen formuliert.'° Es fragt sich nur, ob der Mensch auch fähig sei, einem solchen »Geserz< aus freien Stücken zu folgen, ob nicht Interes-

sen und Triebe seinen guten Willen untergraben oder hintergehen. Um sittliches

Handeln

zu sichern,

ıst Freiheit

nach

Kant

eine unabdingbare

Voraussetzung. Sie ist die Kraft, den persönlichen Willen nach dem Gesetz zu regulieren, das heißt: die eigenmächtigen Bestrebungen (welcher Art auch

immer)

einer allgemeinen

Verbindlichkeit

unterzuordnen.

Nur wer

so handelt — seinen eigensinnigen Willen also zügelt —, handelt nach Kant frei.'? Es bedarf keiner weitläufigen Erörterung, um zu zeigen, daß weder Fichte noch Novalis dieser Minimalbedingung moralischen Handelns in ihren Theorien genügen."® Nach Fichte ist jedes Serzen der Vernunft - also auch jede theoretische »Handlung« — ein Akt der Freiheit. Das Bewußtsein der Selbsttätigkeit, des intellektuellen Kraftimpulses, genügt ihm, um Freiheit zu postulieren. Diese Neufassung der Freiheit entspricht dem emanzipatorischen Denken der Zeit, ist aber das gerade Gegenteil der sicrlichen Freiheit, wie Kant sie fordert und wie sie konzipiert sein müßte,

wenn sittliches Handeln eine solide Grundlage erhalten sollte. Indem ich meinen Willen behaupte und in der Realität energisch verfolge, handle ich nach Fichte bereits »freic. Aus der Selbst-Bestimmung der Vernunft — ich meine: der Bestimmung des Selbst — ist bei Fichte die Selbst-Besizmmung geworden, die Bestimmung durch das Selbst, die unendliche Produktionskraft des absoluten Ich.'? In der Umakzentuierung eines einzigen ’4Der kategorische Imperativ ist nach Kant keine Regel für Handlungen, sondern immer nur für die Maximen (das heißt für die subjektiven Bestimmungsgründe) der Handlungen. Er sagt nicht, was zu tun sei — »denn das tur das jus« —, sondern wie der wörekeive Bestimmungsgrund auf Allgemeinheit hin korrigiert werden kann (vgl.: Metaphysik der Sitten. Einleitung ın dıe Tugendlehre. Abschnitt VI, A ı8ff.; vgl. auch: Grundlegung, BA 43).

’7Novalıs dagegen behauptet: » Wenn ein Mensch plötzlich wahrhaft glaubte — er sey moralisch so wird er es auch seyn. Supposition des [deals — des Gesuchren — ist die Merhode es zu finden« (I11,373:603). — Danach isr es nicht mehr nötig, den Willen pflichtmäßig zu bestimmen. Der Glaube allein scheint Berge zu versetzen. Ob auf solche »Veste« eine »hohe sirtliche Weltordnung« (1,90) zu gründen ist, muß hier dahingestellt bleiben. 505 Noyalıs oder Fichte sitrliche Persönlichkeiten waren, steht hier nicht zur Debatte. Es geht allein um ihre Moraliheorie. ‘Vgl. Verf.: Sietliche Verantwortung und Erfindungsgeist. Friedrich von Hardenbergs Moralspekularionen und ihre Voraussetzung. In: Verantwortung und Utopie. Zur Literatur der Goechezeir. Ein $ymposium. Hrsg. von Wolfgang Witckowski. Tübingen 1988, 5.387 -403.

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Friedrich Strack

Wortes vollzieht sich eine kulturgeschichrliche Wende von größter Tragweite: sie verwandelt die moralische Fähigkeit zur Selbstbegrenzung in den Erweiterungs- und Machtanspruch des Selbst, der Expansion und Welteroberung impliziert. Oder ganz einfach gesagt: Sie verwandelt den moralischen Willen in den technischen Willen und gibr damit dem modernen Produktionsdenken seine (scheinbar) sittliche Rechtfertigung. Der Kraft-

impuls der instrumentellen Vernunft ersetzt das sittliche Bewußtsein. An solchen Theoremen hat Novalıs sich orientiert. »Freiheit« (im mora-

lischen Sinne) ist ihm kein restringierendes Vermögen mehr, sondern Kraft, Energie, die Begrenzungen des Ich zu überwinden. »jJe mehr wir uns unsrer Bestimmungen entledigen, desto freyer werden wir«, heißt es in den »Fichte-Studien« (II,288:647). »Alle Bestimmungen gehn aus uns

heraus — wir schaffen eine Welt aus uns heraus — und werden damit immer freyer [...]. Unsre Kraft hat um soviel Spielraum gekriegt, als sie Welt zrter sich hat« (ebd.).

»Sittliches Handeln«

erscheint demgemäß

in

den »Lehrlingen zu Sais« als [. -] jener große und einzige Versuch, in welchem alle Rächsel der mannichfal-

tigsten Erscheinungen sich lösen. Wer ihn versteht, und in strengen Gedankenfolgen ihn zu zerlegen weiß, ist ewiger Meister der Natur. (1,90)

Gewiß spricht hier nur die Stimme einer Romanfigur, nicht Novalis in eigener Person; aber diese Stimme kehrt immer wieder, auch in den Stu-

diennotizen — und selbst der weise Sylvester belehrt seinen Schüler Heinrich von Ofterdingen nach solchen Grundsätzen: Alle Bildung führt zu dem, was man nicht anders, wie Freyheit nennen kann,

ohnerachter damır nicht ein bloßer Begrif, sondern Daseyns bezeichnet werden soll. Diese Freyheit ist übt freye Gewalt nach Absicht und in bestimmter Die Gegenstände seiner Kunst sind sein, und stehn

der schaffende Grund alles Meisterschaft. Der Meister und überdachter Folge aus. in seinem Belieben und er

wird von ihnen nicht gefesselt oder gehemmt. Und gerade diese allumfassende Freyheit, Meisterschaft oder Herrschaft ıst das Wesen, der Trieb des Gewissens. (1,331)

Man traut seinen Ohren nicht bei solchen Bestimmungen des sittlichen Bewußtseins (und des Gewissens). Aber Sylvesters Belehrung enthält in

nuce die Prinzipien von Hardenbergs seibstentworfener »hohe[r} sittliche[r] Weltordnung«, der zufolge der Mensch »in die Unendlichkeit hinaus stets einiger mit sich selbst und seiner Schöpfung um sich her« werden soli (1,90). Kants

weisbare

Potenz

Selbstbegrenzung

voraussetzt,

wird

der Vernunft,

zur befreienden

die Freiheit als unaus-

»Meisterschaft«

und

»Herrschaft«, deren produktives Vermögen im »schaffenden Grund alles

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Norvalis und Fichte

205

Daseyns« zentriert und im »Gewissen«, als einem (auch im Verhältnis zu

Hernsterhuis) ganz neuartig konzipierten »moralischen Organ« lokalisiert ist.”° Die Kraft zur Bändigung der Willkür verwandelt sich in einen Stachel willkürlicher Schaffenskraft, die Welten aus sich entläßt und die Materie durch ihren Geist beherrscht. In diesem Sinne denkt Novalis an eine »Moralisirung des Weltalls«

(II,275:197),

sogar an eine »moralische |[...]

Astronomie« (IV,255); auch die »Chymie« will er »durch Moralitaet« zur Kunst erheben (III,253:77). — All das macht aber nur dann einen Sinn,

wenn die Seibsträtigkeit der Vernunft, die Fichte in seiner »Wissenschaftslehre« freigelegt harte, von Novalis zu einem Instrament der Welt- und Naturbeherrschung umgeformt wird; wenn »Freiheit< nicht als Restriktionskraft, sondern als Produktivität Geltung erlangt. So provozierend diese Behauptung im Hinblick auf Hardenbergs Idee einer liebenden Vereinigung von Geist und Natur erscheinen mag: sie ist deren Voraussetzung. Denn nur dann, wenn die Natur sich dem Geiste fügt, wenn sie zum domestizierten Gegenbild seiner selbst geworden ist, findet das Ich, über das Nicht-Ich hinaus, zum geliebten Du. Zuvor reizt die verschleierte Geliebte dieses Ich zur produktiven Selbsttätigkeit an, bis es im andern sich selbst entdeckt und vollendet. Das Wechselspiel des Geistes mit der Natur gleicht einem ungeheuren Narzißmus, in dem der Geist immer das Feld beherrscht; es ist kein Akt liebender Versöhnung, sondern eine teils in moralischer, reils erorischer Terminologie abgefaßte und poetisch überhöhte — Produktionslehre der Vernunft, die sich als Vollzugsorgan des göttlichen »Grundes« begreift, aber in Wirklichkeit einer unerschöpflich sprudelnden Einbildungskraft verpflichtet bleibt. »Practische Vernunft« ist für Novalis »reine Einbildungskraft« (I,258:498). In dieser eigenwilligen Definition ist am nachdrücklichsten festgehalten, wie sehr Novalis von Kant — aber auch von Fichte — abrückt. Denn die Einbildungskraft, als produktives Vermögen, hat dort allein eine theoretische Funktion. Sie ist für die Synrhesis der Vorstellungen im Bewußtsein verantwortlich und, darüber hinaus, für die »Schaffung gleichsam einer andern Natur, aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche

gibt«;”" =2I aber in keiner Weise für die moralische Aktivität der Vernunft. Daß ihr Novalis eine derartige Funktion zuspricht, macht deurlich, daß er die Grundkraft des tätigen Ich als eine eizzige begreift, die Verstand,

®>Ygl. demgegenüber Stadler, Ulrich: Die cheuren Dinge. Studien zu Bunyan, Jung-Stilling und Novalis. Bern/München 1980, 8. ıöqff. ?' Kant: Kritik der Urteilskraft. $ 49, Bıg3/A ı90.

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Friedrich Strack

Vernunft und Imagination in gleicher Weise betrifft und in dem am wenigsten geeigneten Vermögen, der Einbildungskraft, als einem Organ der Genialität, zentriert. Ich kann hier mir Kant nur wiederholen: »Es ist nicht Vermehrung, sondern Verunstaltung der Wissenschaften, wenn man ihre Grenzen ineinander laufen läßt«;** aber es ist auch bezeichnend für den Dich-

ter Novalis, daß er sich von dieser Seite her der kritischen Philosophie annähert. Erst über die Einbildungskraft erschließt sich ihm der innere Mechanismus des menschlichen Geistes. Und in der schöpferischen Aneignung seiner Vorbilder — das betrifft Fichte, Kant, Hemsterhuis und viele andere

in gleicher Weise — finder Novalis zu jener längst gewünschten »Erfindungskunst« (I1,454:91), die er in methodischer Vollendung später auch »Fantastik« nennt (III,455:988). Sie umfaßt alle Wissenschaften, weil sie das Spiel der Vorstellungen organisiert und sie dem »praktischen« Sollensanspruch (der freilich kein moralischer ist} unterwirft. Und eben darin, in

der Regulierung der Imagination als einer »Fantastik« — nicht etwa in der Überbietung des Fichteschen Selbstbewußtseins — sehe ich die besondere Leistung des »Philosophen« Novalis. Freilich wird diese Leistung durch die Poetisierung seiner Philosophie noch einmal gesteigert. Kräfte werden aktiviert, die eine unendliche »Evolution unsers Geistes — unsre Einwirk-

kung aufs Universum« ermöglichen sollen (HlI,597:263).

Aus der Diskussion

Schanze: Auf der Fichte-Tagung »200 Jahre “Wissenschaftslehre’< vor drei Tagen habe ich genau das Gegenteil gehört von dem, was Sie hier ausführen. Meine Fragen: 1. Warum haben Sie aus den »Fichte-Studien« die komplette Darstellungsproblematik weggelassen? Das hätte Ihnen sicherlich etwas Schwierigkeiten bereitet im Rahmen Ihrer schneidigen Ableitung. 2. Warum haben Sie die Frage der Zusammenarbeit mit Friedrich Schlegel völlig weggelassen? Müßte man nicht bei einer Berücksichtigung dieser beiden Punkce zu einer Relativierung Ihrer Ausführungen kommen? Mähl:

Ich möchte genau das aufnehmen,

was auch Sie als ersten Punkt

genannt haben: die Darstellungsproblemarik. Herr Strack, Sie haben gesagt, Novalis will Fichte nicht überbieten, aber er reflektiert ja ausdrücklich über eine andere Sprache, eine nicht-transzendentale Sprache 2 Kant: Kritik der reinen Vernunft. Vorrede zur zweiten Auflage, B VIH.

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Novalıs und Fichte

207

für die sangewandte Philosophie«. Die probiert er schon in den »FichteStudien« aus, er notiert sich: »Wir fühlen uns als Theil und sind eben

darum das Ganze« (II,138:49). Das führt dann zu den »Blüthenstaub«Fragmenten. Novalis unterscheidet sich von Fichte beträchtlich dadurch, daß er von Darstellungsproblemen handelt. Strack: Ich habe nicht davon gesprochen, daß Novalis sich nicht von Fichte unterscheidet. Ich bin ganz sicher, daß bei Novalis’ Überlegungen etwas anderes herauskommt, aber das kann man nicht als Überbietung von Fichte bezeichnen. Das sind Versuche der Selbstverständigung im Hinblick auf die Fichtesche Lehre. Wenn ich die Frage der Überbietung so in den Vordergrund geschoben habe, dann habe ich mich natürlich bezogen auf die Diskussion, die ın den letzten Jahren im Hinblick auf ein unvordenkliches Bewußtsein geführt worden ist. Es gibr bei Novalis kein Konzept, das Fichte einholt oder gar überbieter. Das war auch gar nicht seine Absicht. Es ist ja auch bei Fichte nicht einfach so, daß man sagen könnte, er setze nur ein endliches Ich voraus, nicht aber ein absolutes. Fichte entwickelt das nicht weiter in den frühen Fassungen der »Wissenschaftslehre«, weil er nicht darüber reden kann. Auch Kant bleibt stehen bei dem »Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können«, sonst würde etwas gedacht werden, was wir gar nicht im Bewußtsein haben ($ 16 der »Kritik der reinen Vernunft).

Kant geht darüber nicht hinaus. Fichte macht das auf seine Weise, indem er sagt: »Das absolute Ich muß vorausgesetzt werden, darüber zu spekulieren geht nicht«. Novalis setzt sich in dem Fragment, das ich eben vorgeführt habe, genau mit dieser Frage auseinander. Wir kommen an den Ursprung des begrifflichen Fassens. Wie können wir das, was allem Denken vorausliegt, überhaupt noch denken? Wir können es nicht, wir müssen es als ein »Gregebenes«

voraussetzen. Für diesen Zu-

sammenhang führt Novalis seinen Begriff des »Gefühles« ein, den man in keiner Weise als Überbietung Fichtes bezeichnen kann. Hier setzt in der Tat die Darstellungsproblematik ein, die ich nicht ausgeklammert habe, wenn Sie z.B. an meine Bemerkungen zur »narrativen Konstruktion«

denken.

Vierta: Das Modell der Überbietung mag problematisch sein, aber Novalis hat doch gegen die einseitige Subjekt-Philosophie angedacht und gegen

deren Prinzip der Selbstermächtigung des Subjekts, das sich beinahe Gott gleichsetzt. Dieses Prinzip har Novalis in seinen Schriften überwunden.

Das führt auch zu einer ganz anderen Sprache.

Hier gibt es

keine Metaphorik der Bemeisterung und Beherrschung der Natur. Die

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208

Friedrich Strack

Passage, die Sie aus den >»Lehrlingen« zitiert haben, ist ja nicht das letzte Wort. Das wechselt doch im Verlaufe der »Lehrlinge« hin zu einer Metaphorik der Liebe, des partnerschaftlichen Verhältnisses zwischen Mensch und Natur. Das ist eine ganz andere Sprache als die Sprache der Beherrschung der Natur. Hier liegt ein dialogischer Ansatz vor, nicht der der monologischen Selbstherrlichkeit des Subjekrs. Strack: Ja, unter der Perspektive von Novalis gesehen, würde ich Ihnen vollkommen zustimmen. Die Frage ist nur, ob das auch hinter dem philosophischen Ansatz steht. Ich wollte hier die Frage der Moralität

wieder ins Spiel bringen. Im Anschluß an eine Diskussion gestern möchte ich sagen: Soweit ich sehe, gibr es bei Novalis keine medizinische Ethik. Das wundert gar nicht. Wenn die Ethik transformiert worden ist in ein theoretisches Konzept, dann kann es auch diesen ganzen Bereich in der Philosophie nicht mehr geben. Ich glaube, daß hier eine ganz brisante Quelle für unser modernes Denken zu finden ist und für unser aller mangelndes Verständnis von Sittlichkeit und Tugend. Stadler: Wenn Sie mit Ihrer Interpretation zeigen wollten, daß Novalis am Anfang seiner Studien Fichte-konform gedacht hat, dann möchte ich das sehr bestreiten. Denn da steht ja ausdrücklich: »Das Gefühl kann sich nicht selber fühlen [...]. Es läßt sich nur in der Reflexion berrachten — der Geist des Gefühls ist da heraus« (II,114:15). Damit wird ganz klar gemacht, daß die Rückführung auf ein Prinzip nicht möglich ist, und damit wird eine nicht-Fichtesche Position bezogen. Da bin ich also anderer Meinung als Sie. Das zweite, was ich Sie fragen wollte: Sie sagten, Novalis sei zwar kein philosophischer Dichter, sondern ein Dichter der Philosophie. Was meinen Sie damit? Drittens: Das betrifft die Interpretation des Sylvester-Gesprächs. Das scheint mir nicht eine Definition von Freiheit zu sein, wie Sie es ausgelegt haben, sondern eine Definition dessen, der die Freiheit hat. Das ist ein Unterschied.

Insofern denke ich, haben Sie es verkehrt gelesen. Im übrigen glaube ich — aber diese Einschätzung von mir kennen Sie ja —, daß man Novalis verfehlt, wenn man ihm vorhält, daß er kein Kant ist.

Strack: Dieser Vorwurf ist mir nicht ganz fremd. Von Herrn Uerlings kam er auch. Zu Sylvester: Gut, er ist derjenige, der behauptet, aus Freiheit zu handeln. Aber was gibt er denn für Empfehlungen? Und in welcher Weise handhabt er denn die Freiheit? Da ist von Meisterschaft,

da ist von Beherrschung der Natur die Rede. Dahinter verbirgt sich ein theoretisch-konzeptioneller Akt, ein Ethik-Konzept, das die ästhetische

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Novalis und Fichte

209

Produktivität des Subjekts verabsolutiert. Und es geht mir nicht um die Kantische Moral. Wenn Sie mir eine bessere nennen können, würde

ich mich gerne auf einen solchen Theorie-Horizont beziehen. Neubauer: Herr Strack, Sie haben ja in gewisser Weise die Diskussionslinie fortgeführt, die wir schon hatten, also Konstruktion, Produktivität, Aktivismus, wie auch immer wir es nennen wollen. Nur haben Sie das

mit negativem Akzent versehen. Strack: Nein, nein. Neubauer: Gut, Sie haben die moralischen Fragen, die dabei entstehen, zusätzlich eingeführt.

Strack: Ja. Neubauer: Auch Sie haben nicht über eine andere Seite von Novalis gesprochen. Das haben wir, scheint mir, in diesen zwei Tagen eigentlich alle vernachlässigt. Ich denke an den Schluß der »Christenheit oder Europa« und an verschiedene Aufzeichnungen am Ende seines Lebens. Aber ich denke auch an »Heinrich von Ofterdingen«. Heinrich ist doch in einem Roman über Selbstbestimmung eine auffallend passive Figur. Ich meine, es ist in der Philosophie und Dichtung von Noyalis eine ganze Linie zu ziehen, wo immer wieder gegenüber Selbstbehauprung und

Selbstbestimmung auch eine — ich habe das »Spinozismus« genannt — eine Selbstbeschränkung, eine Selbstaufgabe da ist. Ich möchte gerne hören, was Sie dazu meinen. Strack: Ja, es ist diese Linie, die sch herausarbeiten

die Richtung des Theoretisch-Konzeptionellen Diskussion über den Kalkül. Allerdings schätze tes in diesem Zusammenhang sehr viel höher Diese theoretisierende Linie, die es bei Novalis

möchte.

Sie geht

in

und paßt z.B. zu unserer ich die Bedeutung Fichein als die von Leibniz. gibt, und die Tradition,

in der er hier steht, die ist durchaus faszinierend. Und Novalis hat diese

Impulse umgesetzt ın Poesie. In diesem Sinne sehe ich Novalis als Dichter der Philosophie, um die Frage von Herrn Stadler noch zu beantworten. Daß wird,

das, was

bei Novalis

bei Fichte als notwendig in eine

zeitliche Relation,

simultaner

Akt gedacht

in ein Hineinwärts

und

Herauswärts übertragen wird, das ist nur in der Dichtung möglich. In

ihr wird das Aktivitätsprinzip als Erschließung oder Durchgeistigung von Welt und Natur greifbar, nicht als voluntaristische Forderung.

Peter: Herr Strack, Sie sprechen Novalis in einer Weise die moralische Verantwortung ab, die mich ein bißchen an die Romantikkririk Carl Schmitts erinnert. Ich frage mich, wie kommen Sie dazu, da doch gerade Novalıs ständig von Moral spricht, von »Moralisierung der Welt« und

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2109

Friedrich Strack

von einem >moralischen Organ«? Die Moral spielt in allem, was er ge-

schrieben hat, eine ganz zentrale Rolle. Strack: Da widerspreche ich Ihnen gar nicht. Aber das sind Worte. Die Frage ist, was als Struktur hinter diesen Worten steckt. Ich habe versucht, die Struktur dieser Worte zu erläutern. Aus diesen Worten und aus dem Kontext, in dem sie gebraucht werden, läßt sich keine Moral konstruieren.

Mähl: Und Sie würden auch nicht sagen, daß in der Formel »Statt Nlicht]Ifch} — Du« (III,430:820), die ja eine zentrale Formel ist und die von ihm weiter ausgeführt wird, eine Überbietung Fichtes enthalcen ist.

Strack: Doch, das würde ich schon sagen. Aber das beantwortet die Frage des Moralischen nicht.

Mähl: Das sehe ich anders. Peter: Das ist doch die Idee der Liebe, etwas zentral Moralisches!

Faber: Herr Strack, auch ich teile Ihre Wertungen und Wertvoraussetzungen nicht, aber ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie Novalis als Philosophen ernst genommen haben und daß Sie, obwohl Sie von Kant aus fragen, vom Imperus her nicht im Horizont der Zeit geblieben sind. Natürlich ist die philologisch-historische Auseinandersetzung unverzichtbar. Aber

ich würde

es bedauern,

wenn

die Auseinandersetzung

mit Novalis auf diesem tendenziell doch antiquarischen Stand verbliebe. Ich möchte anregen, daß wir das weiter pflegen. Nakai:

Herr Strack, bei der Lektüre Ihres Buches

isce mir ein Problem

nicht klar geworden. Muß man bei der Frage nach Novalis’ Ethik nicht unterscheiden zwischen dem technischen und dem poetisch-künstlerischen Umgang mit der Natur?

Strack: Eine wichtige Frage. Natürlich wird die Kunst, gerade auch die moderne Kunst, häufig daran gemessen, ob sie eine Alternative bietet zu dem, was ich hier unter theorerischem Denken subsumiert habe. Ich

meine aber, das müßte man durchaus von der Strukturierung der Vernunft her, ihrer Vermögen also, einschließlich der Einbildungskraft, miteinander in Beziehung setzen können. Und zwar derart, daß das poetische Denken sich strukturell vom theoretischen Denken nicht we-

sentlich unterscheidet. Ich würde in der Tar beide parallelisieren, selbst wenn man Unterschiede machen muß im Hinblick auf die Resultate. Die Resultate sind in dem einen Fall, beim theoretischen Denken, durch

die Erfahrung ausweisbar, in dem anderen Falle bleiben sie Vorsteliungen der Einbildungskraft. Aber durchaus »Objekce«. Und da sind wir

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Norvalis und Fichte

211

genau dort, worauf Novalis versucht hat, die theoretische Vernunft rückzuführen, nämlich auf den Bereich der Vorstellungswelt. Man nicht vergessen, daß Novalis bei Reinhold studiert hat. Reinhold ein wichtiges Buch über das menschliche Vorstellungsvermögen

zudarf hat ge-

schrieben, in dem die Vorstellung als das Zentrale unseres Bewußtseins

herausgestellt wird. Da liegen Ansatzpunkte, die eine Vermittlung von theoretischem und poetischem Denken ermöglichen. Der Kalkül in der Poesie unterscheidet sich nicht sehr von dem Kalkül sei es in der Mathematik oder in der technischen Praxis.

Uerlings: Ich würde gerne noch einmal zurücklenken auf die Grundsatzkontroverse, die jetzt ja doch im Raume

steht. Herr Strack, Sie haben

die Einladung zum Vortrag angenommen mit der Bemerkung, das gebe Ihnen Gelegenheit, viele Mißverständnisse auszuräumen, die bei der Re-

zeption Ihres Novalis-Buches entstanden seien. Wenn ich mir nun die Diskussion hier anschaue, dann muß ich sagen, es sind der Reihe nach

alle die Argumente und Einwände gekommen, die Sie gut kennen. Deshalb möchte ich Sie einfach noch einmal fragen: In welchem für Ihre Sicht auf Novalis entscheidenden Punkte fühlen Sie sich von Ihren Kolleginnen und Kollegen mißverstanden?

Strack: Der eine Punkt wäre der der Überbierung Fichtes durch Novalis. Ich versuchte da, eine andere Akzentsetzung vorzunehmen. Das ist aber

immer übergangen worden. Mißverstanden fühle ich mich aber vor allem in dem Gesamtbereich, der die Frage des Erhischen betrifft. So als würde ich versuchen wollen, eine Kantische Moral neu zu installieren.

Aber darum geht es nicht. Es geht um die Frage, wie eine Moral aussehen muß, damit sie lebenstüchtig bleibt, damit die Möglichkeit gegeben ist, daß Menschen nach Regeln der Freiheit miteinander verkehren. Ich habe die Kantische Moral als ein Muster hingestellt, dies auch des-

wegen, weil Fichte sich daran orientiert und Novalis sich seinerseits wieder an Fichte orientiert, ohne der Idee der sittlichen Freiheit — trotz vieler Worte darüber — noch zu entsprechen. Es verwundert jedenfalls,

daß sich niemand auf die seltsame Konzeption der Novalisschen Moral ernstlich einläßt.

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Gerhard Schulz (Melbourne)

Novalis’ Erotik. Zur Geschichtlichkeit der Gefühle

»Die Liebe ist der Endzweck der Weltgeschichte — das Unum des Universums« (III,248:50). Der sechsundzwanzigjährige Novalis hat sich diese Worte im Jahre

1798 in sein »Allgemeines Brouillon« eingetragen. Wie

kommt ein junger Mann zu einer solchen Vision? Was einen am meisten interessiert und bewegt, darüber spricht man am meisten. Aus den Registern zu Novalis’ Werk geht hervor, daß neben Wörtern wie »Geist«, »Natur«, »Leben«, »Mensch« und »Gott« die »Liebe« tatsächlich eines

der von ihm meistgebrauchten Wörter ist. Nur wissen wir allerdings auch von dessen Vieldeutigkeit. Wer differenzieren möchte, nimmt gelegentlich die alten Sprachen zu Hilfe. So hat man zu unterscheiden versucht zwi-

schen dem

elementaren

»Sexus« einerseits

— heurtzurage meist griffiger

»Sex« genannt — und der »Agape«, dem frühchristlichen Liebesmahl als Sinnbild selbstloser Gemeinschaftlichkeit, verwandt der »Carıtas«, deren Namen sich sogar ein Verein angeeignet hat. Auch vom »Eros< wäre zu

sprechen, nicht nur vom griechischen Liebesgott oder der allegorischen Figur im Klingsohr-Märchen, sondern ebenso von ihm als Begriff für das psychologische Faktum gegenseitiger sinnlicher und seelischer Anziehung, getrennt von der sexuellen Tätigkeit, die aus dem Reproduktionstrieb des Naturwesens Mensch entspringt.‘ Schon im Urtext aller Liebestheorie, in

Platons »Gastmahl«, wird dergleichen Anziehung als »Sehnsucht und Drang nach dem Ganzen«” ein Medium geistiger Transzendenz. Uns ist "Vgl. Bataille, Georges: Erotism. Death and Sensuality [1957]. San Francisco 1986, $. ır: »Erotismm, unlike simple sexual actıviry, is a psychological quest independent of che natural

goal: reproduction and the desire for children«e. * Platon: Sokrates im Gespräch. Hrsg. von Bruno Snell. Frankfurt am Main/Hamburg

1953,

$. 162.

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214

Gerhard Schulz

Eros inzwischen geläufiger in Substantiven wie Erotik-Shop oder ErosCenter, was ziemlich wenig mit Transzendenz, einem griechischen Gott oder Novalis’ Märchen zu tun bat. Ich sage das nicht leichtfertig und frivol zur billigen: Erheiterung, sondern zur Illustration der zwar allgemein bekannten, aber noch kaum jen-

seits einiger Spezialstudien erfaßten Tatsache, daß Liebe in allen ihren angedeuteten Erscheinungsformen ebenso eine Geschichte hat wie das Denken, die wissenschaftliche Erkenntnis der Natur und das politische Handeln, nur daß Triebe, Affekte und Gefühle ganz offenbar anderen Ge-

seczen unterliegen. So läßt sich erwa behaupten, daß eine schaften des 20. Jahrhunderts die begriffliche Erfassung der damit das Reden über sie geworden ist. Das hat inzwischen unübersehbaren Fülle von Theorien über die Liebe geführt,

der ErrungenSexualität und zu einer schier vor allem um

ihre sexuelle oder gesellschaftliche Bedingtheit nachzuweisen, wenn nicht

gar sie als Wahn oder Betrug im Dickicht der Sprache zu verdächtigen.? In Zeiten weiblicher Emanzipation, die unsere Aufmerksamkeit auf die Selbstverklärung oder Gewaltausübung des Mannes gegenüber der Frau lenkt, wird das Wort »Liebe< schließlich noch eines weiteren Schleiers ent-

ledigt. Zu Novalis’ Zeiten hingegen gab es das Wort »Sexualität< noch nicht; »Wollust« oder »Sinnlichkeit« in seinem Wortschatz wiederum wa-

ren ihrerseits keineswegs eindeutig, bezogen sie sich doch ebenso auf Geschlechtliches wie auf höchst Geistiges und Religiöses. Trotz allem Widerstand der Wörter kann man mit guten Gründen Novalıs einen Artisten der Erotik nennen, der manchen raffınierten Artisten

des Fin de siecle hundert Jahre später kaum nachsteht und deshalb auch von diesen mit Interesse und Neugier wiederentdeckt wurde. In der Tar spielt Novalis auf vielen Registern der Erotik, und sein gesamtes Werk hallt davon wider - ein Pansexualismus von beträchtlichen Ausmaßen,

wenn man erst einmal zu beobachten begonnen hat. Jugendliche Liebeslust, die Unio mystica zartester seelischer Bindung, religiöser Liebesrausch und orgiastische Auflösung, Todestrieb als Todeswollust, Selbströcung als Liebestod, Nekrophilie gar, aber auch Pädophilie, Ehebruch, Inzest, Verge-

waltigung, Masturbation finden sich in seinen Schriften, und selbst so wilde Phantasien, wie sie zu gleicher Zeit der Marquis de Sade in Literatur

umsetzte, waren ihm nicht fremd: ein stattlicher Katalog.

32. B. Schneider,

Manfred:

Liebe

und

Berrug.

Die

Sprachen

des Verlangens.

München

1992.

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Novalis' Erotik

215

Für das sachliche Studium dieser Erotik ist es nun nötig, genau zwischen verschiedenen Diskursen, also Denk-

und Sprechweisen

zu unter-

scheiden. Persönlich-Biographisches, wie es sich in Briefen und Tagebüchern äußert, muß vom Theoretisch-Abstrakten in den kritischen und philosophischen Aufzeichnungen getrennt werden und dieses wiederum vom

Literarisch-Fiktionalen im poetischen Werk. Bei Novalis gehen zwar solche Diskurse nicht selten ineinander über. Im Sinne der romantischen »Universalpoesie« seines Freundes Friedrich Schlegel und mehr noch im Sinne seiner eigenen Vision von universaler Harmonie war es ıhm sogar besonders darum zu tun, sie zu verbinden, und die Verbindung ist ihm in

seinem poetischen Werk nicht nur meisterlich gelungen, sondern macht überdies dessen besondere Eigenart aus. Aber erst aus dem Bewußtsein ihrer Unterschiedlichkeit lassen sich Urteile mit größerer Sicherheit bilden.

1 Das im Hinblick auf Novalis’ Erotik wohl extremste und mutigste Dokument ist jenes »Journal«, das er vom 18. April bis zum 6. Juli 1797 führte.

Novalis’ Beziehung zu Sophie von Kühn, mit der er sich zwei Tage vor ihrem dreizehnten Geburtstag verlobte, und ihr qualvolles Sterben unter

den Händen der sich über jede Eiterung unendlich freuenden Ärzte* hat seiner Biographie jenes Element des Sensationellen verliehen, das generell in der tabuisierten Privatheit und Geheimnishaftigkeit alles Erotischen besteht, hier gesteigert noch durch jenes andere große geheimnisumgebene Geschehen, den Tod. Die Mychisierung der Braut freilich ist Novalis’ eigenes Werk, und zwar nicht erst seie ihrem Tode. Schon bald nach der ersten Bekanntschaft finden sich Andeutungen in seinen Briefen — »Mein Lieb-

lingsstudium heißt im Grunde, wie meine Braut. Sofie heißt sie — Filosofie ist die Seele meines Lebens und der Schlüssel zu meinem eigensten Selbst«

—?, Andeutungen, die vermuten lassen, daß Sophie und Philoso-

phie, Eros und Idealismus für ihn von Anfang an ineinander übergingen. Aber erst im »Journal< vollzieht sich dann unmißverständlich vor unseren *Vgl. den Brief von Jeannerte Danscour an Novalis vom 3.2.1797, in dem von der Sondie-

rung der Operationswunde Sophie von Kühns durch den »Rach« Blödau berichter wird, wodurch eine Menge »Marerie« freigesetzt wurde, und es dann heißt: »[...] der Rarh Freute sich unendlich über diese auslehrung der Wunde« > An Friedrich Schlegel am 8.7.1796 (IV,ı88).

(IV,471).

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216

Gerhard Schulz

Augen die Einverleibung der Toten in ein messianisches Konzept. Die Geliebte wird Muse und Medium des männlichen Propheten und existiert nur noch um seinetwillen. Die Unio mystica also als männliche Augenwischerei und Selbstverklärung? Auch so ist sie betrachtet worden.® Novalis hat, wie bekannt, im »Journal« die Tage nicht nur mit dem Datum bezeichnet, sondern zugleich auch mit der Zahl der Tage nach dem Tode Sophie von Kühns. Von Anfang an spricht er darin von dem »Entschluß«

(IV,29ff.), die Liebe zur Toten nunmehr

dadurch

zu vollzie-

hen, daß er ihr auf eine nicht genau erkennbare Art nachstirbt, eben jedoch in messianischer Absicht: »Beym Grabe fiel mir ein — daß ich durch meinen 'Tod der Menschheit eine solche Treue bis in den Tod vorführe — Ich mache ihr gleichsam eine solche Liebe möglich« (IV,38). Gegen Ende des »Journals< steht dann als Höhepunkt dieses Messianismus die Formel

»Xstus und Sopbie« (IV,48). Der Anspruch ist im Grunde von blasphemischer Vermessenheit, aber erweist zugleich seine Nähe zur Vision von der Liebe als Endzweck der Weltgeschichte. Novalis hat nun freilich sein »Journal< nicht spontan nach dem Tode der Braut begonnen. Als auslösende Faktoren treten zwei andere Ereignisse hinzu: einmal der Tod des Bruders Erasmus am 14. April, dem Karfreitag dieses Jahres, und zum anderen die christliche Ostermythe, die ihm durch die Gottesdienste in diesen Tagen besonders nahegebrachr werden mußte. Der Beginn ist denn auch mit »Dienstag. 3ten Osterfeyertag« (IV,29) überschrieben. Was jedoch als allererste Eintragung darauf folgt, ist nicht weniger als verblüffend. »Früh sinnliche Regungen«, heißt es da, und der weitere Gebrauch des Wortes im »Journal« läßt keinen Zweifel daran offen, daß damit sexuelle Phantasien gemeint sind. Spekulationen über deren Art und Gegenstand sind unmöglich, wenngleich nicht ohne Verlockung. Novalis aber fährt dann fort: »Mancherley Gedanken über Sie und über mich. Phil[osophie] ziemlich heiter, und leicht. Der Zielgedanke« — also der bald darauf so benannte »Entschluß« — »stand ziemlich fest — Gefühl von Schwäche — aber Extension und Progression« (IV,29). Ein paar Sätze weiter wird von einem Kirchenlied und Goethes > Wilhelm Meister< gesprochen. Wie in einer Ouvertüre also sind in diesen ersten Zeilen die Hauptmorive des ganzen 'Tagebuchs — Trauer, Liebe, Sinnlichkeit, Philosophie, Literatur,

Selbstexperimentation, Autosuggestion und Messianismus — bereits beieinander, und man

wird nicht umhinkönnen,

in diesem

scheinbar ganz

Zuletzt von Bronfen, Elizabech: Over Her Dead Body. Manchester 1992, 5. 367.

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Novalis’ Erotik

217

dem persönlich-biographischen Diskurs angehörenden Dokument etwas vom komponierenden Künstler wirksam zu sehen. Denn welchen Publizitärsstatus besaß eigentlich das »Journal«? Niemand

wird insinuieren wollen, daß Novalis es von vornherein mit dem

Blick auf eine Veröffentlichung begann und zu stilisieren versuchte. Ebensowenig aber waren es nur Notate zur Bewältigung seiner Trauer und zur

späteren Erinnerung. Der deutlich ausgedrückte selbstgesetzte messianische Auftrag legt nahe, daß hier ein junger, über verschiedene kreative Diskurse verfügende Intellektueller und Künstler nach dem ihm Eigensten, nach Stoff und Ausdruck für sein Denken und Schreiben drängt und dies zunächst in der Überhöhung philosophischer, auf Welterklärung und ein Absolutes zielender Erkenntnis findet. Novalis’ »Journal« ist letztlich mit solcher Intention angelegt; seine Briefe zwischen dem Tod Sophie von Kühns und dem Beginn des Tagebuchs, vor allem der lange, bewegende an Caroline Just aus den Tagen vom 24. bis 28. März 1797, zeigen das deutlich.

Das

Ziel,

über

das

Philosophieren

hinauszugehen,

nicht

mehr

nur »Ideenwebstuhl zu seyn« (IV,211}, sondern angesichts der Realität des Todes

den

»Beruf zur apostolischen

Würde«

(ebd.)

wahrzunehmen

zum Glauben an die »Samenideen der innersten Menschheit«

und

(IV,212) mit

der Liebe als ihrem Kern vorzustoßen, sind darin klar ausgesprochen. Ebenso klar ist es freilich, daß in Briefen und Tagebuch nicht nur ein von der Trauer überwältigter junger Mann schreibt, sondern zugleich ein Intellektueller und Sprachkünstler von hohen

Graden,

nur daß sich über

die Proportion zwischen Spontaneität und bewußter Kunstanstrengung nichts sagen läßt. Jedenfalls wird sein »Journal: für Novalis durchaus zu einem Instrument induktiven, auf die Hervorrufung psychischer und womöglich sogar physischer Reaktionen gerichteten Schreibens. Aus der pietistischen Tradition des Vaterhauses war Novalis zweifelsohne das von Zinzendorf angeregte Führen von selbstbeobachtenden Er-

weckungs-Diarien geläufig. Womöglich war ihm auch die Existenz, wenn nicht gar der Text von Lavarers »Geheimem Tagebuch« (1771) und dem ‚Tagebuch eines Beobachters seiner Selbst« (1773) bekannt, taucht doch

Lavaters Name mehrfach in seinen Schriften auf. Bei Lavater allerdings dominiert ein ständiges Sündenbewußtsein aus der Überzeugung: »Ich muß, wenn ich Christo angehören will, mein Fleisch samt den Lüsten und

Begierden gekreuzigt haben«.’ In Novalis’ »Journal« jedoch, das mic der ?Lavater, Johann Kaspar: Tagebuch eines Beobachters seiner Selbst [1773]. Geheimes Tage-

buch [1771]. Nachdruck Bern/Stuctgart 1978, S. 226.

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218

.

Gerhard Schulz

Konstatierung sexueller »Regungen« anhebt und sie dann an nicht weniger als zehn weiteren Stellen mit aller Genauigkeit notiert, ist es ganz offensichtlich, daß dergleichen Sündenbewußtsein durchaus nicht vorhanden ist. Wie immer tief ihn der Tod der Braut bewegt, wie immer stark er den »Enctschluß« zum messianischen Tod in sich zu fördern sucht — die

heftig in ihm wirkende Sexualität berrachter er nicht als Teil eines möglichst rasch und gründlich abzutötrenden Fleisches, sondern erlaubt sie sich durchaus: »äberließ mich gänzlich der Lüsternheit« (IV,40) oder allenfalls einschränkend: »Früh etwas aus Fichte extrahirt — ein wenig weit die Lüsternheit getrieben. Nachmittags fuhr die Mutter zur Kindtaufe mit Carolinchen nach Weißensee« (IV,38f.).

Solche Mischung aus bürgerlichem Alltagsderail, neugieriger, unnachsichtiger, ja exhibitionistischer Selbstbeobachtung und intellektueller Übung kennzeichnet dieses »Journal« insgesamt. Moderne Leser läßt es an die geradezu masochistische Selbstenthüllung Thomas Manns in seinen Tagebüchern denken. Tatsächlich ist Novalis von der Tagebuchschriftstellerei seines Zeitgenossen Lavater weiter entfernt als von der eines Autors, von dem ihn anderthalb Jahrhunderte trennen. Ebenso deutlich wird, daß

das Motiv solcher Selbstbeobachtung nicht die Kategorisierung des Beobachteten nach Wertbegriffen von Gurt und Böse ist mit dem Ziel, letzteres zu überwinden. Eher ist es der Versuch, etwas von dem zu erfassen, was

menschliche Existenz in ihrer Toralität ausmacht. Zu ihr gehörte dann eben auch die »Lüsternheit« genauso wie der Alltag, der Schmerz, die Trauer, der Enthusiasmus, der Genuß nicht nur des Lebens, sondern auch des Todes, das Streben nach der »höhern, permanenten Reflexion und ihrer Stimmung« (IV,33), die versuchte Herrschaft über Gedanken und Gefühle,

Geist und Körper. Deshalb ist jene Vision am Grabe von Sophie, von der so gern als Keimzelle der »Hyınnen an die Nacht« geschrieben wird, im Grunde nur ein Teil dieses lerztlich philosophisch induzierten Bedürfnisses

nach Totalität, denn selbst mit ihr verbinden sich ja im Tagebucheintrag vom 13. Mai 1797 Lüsternheit, Alltag und Literatur, nämlich Shakespeares Tragödie des Liebestodes von »Romeo und Julia«. Novalis’ »Journal« stellt ein wesentliches Dokument für die Geschichte der Gefühle dar, was die Unio myseica zwischen Sophie und Philosophie der biographischen Zufälligkeit enthebt. Es ist bekannt, daß das 18. Jahrhundert

eine

bisherigen

Sprache

der

Emotionen

Ausdrucksmöglichkeiten

entwickelt

hat,

die weit

über

hinausging.

Die

Philosophie

die

hatte

daran keinen geringen Anteil, denn die Anthropozentrik aufklärerischen Denkens führte zur wachsenden Aufmerksamkeit auch auf das, was jenseits

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Novalis’ Erotik

219

des rational Erfaßbaren lag, und machte das begriffliche Reden darüber erst möglich. In der europäischen Literatur waren es dann Namen wie Richardson,

Rousseau,

Sterne, Klopstock

und

der Goethe des » Werther«,

die maßgebliche Signale für eine solche neue Dimension des Sprechens und Verstehens setzten. Zu bedenken ist freilich, daß die Geschichte des

Fühlens sich nicht einfach analog zu der des Denkens vollzieht, sondern ihr eigenes Tempo und ihre eigenen Geserze entwickelt, für die es bis heute noch wenig Anhaltspunkte gibt. Inspiriert von einem universalen Begriff des Ich, wie er in der Philosophie des deutschen Idealismus am Ausgang des 18. Jahrhunderts entstand, unternahm Novalis nun einen bedeutenden Schritt über die neue Gefühlssprache seiner Zeit hinaus, indem er auch den Trieben, dem Eros als Sexua-

lität, Ausdruck zu verschaffen und sie als persönlichkeitsprägende, wenn nicht gar kreative Faktoren zu verstehen versuchte. Innere Voraussetzung

dafür bildete die allmähliche Verschiebung der zu einem beträchtlichen Teil von gesellschaftlichen Faktoren bedingten Schamgrenze, worüber denn auch Novalis reflektiert: Mir scheint ein Trieb in unsern Tagen allgemein verbreitet zu seyn — die äußre Welt hinter künstliche Hüllen zu verstecken — vor der offnen Natur sich zu schämen und durch Verheimlichung und Verborgenheit der Sinnenwesen eine

dunkle, Geisterkraft ihnen beyzulegen. Romantisch ist der Trieb gewiß - allein der kindlichen Unschuld und Klarheit nicht vortheilhaft — besonders bey Geschlechtsverbältnissen ist dies bemercklich. (III,560:33) Bei der Becrachtung von Novalis' Theorien zu Liebe und Sexualität wird

noch zu beobachten sein, daß sie nicht in die bürgerlichen Moralvorstellungen des 19. Jahrhunderts hineinführen, sondern sie im Grunde überspringen. Das zeigt sich hier bereits in seiner Einstellung zu Scham und Schamhaftigkeit. Novalis’ Notizen über »sinnliche Regungen« oder »Lüsternheit« sind nicht nur ohne Verklemmtheit, Scham und Selbsteadel niedergeschrieben,

sondern drücken darüber hinaus sogar eine gewisse Neugier aus. Er ist jedenfalls weit davon entfernt, masturbatorische

sterne (IV,45) nenden haben

Betätigung



»Die lü-

Fantasie des Morgens veranlaßte Nachmittags eine Explosion« — vorwurfsvoll als »Se/dstbefleckung«® zu verstehen, wie sie im warSprachgebrauch der Zeit genannt und verurteilt wurde. Bis heute ja das Wort »Masturbation« und seine Synonyme, zumindest im

®Novalis fragt sich über den Sinn des Ausdrucks im Zusammenhang mit anderen Komposıra ım »Allgemeinen Brouillon« (II,263:122).

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Gerhard Schulz

übertragenen Gebrauch, einen negativen Beiklang im Sinne des Schwächlichen, Gremeinschaftsunfähigen, ja Autistischen behalten. In Wirklichkeit jedoch ist Masturbation nicht nur Triebentladung, sondern ein beträchtliches Stimulans der Phantasie, was man bei Novalis’ Protokollen seiner

Selbstexperimentation wohl berücksichtigen sollte. Ich hebe dies ausdrücklich hervor, weil Novalis’ offene, schonungslose

Äußerungen über seine Sexualität die Vorstellungen von seiner Persönlichkeit und das Urteil über sein Werk gerade dort ungünstig beeinflußt haben, wo man sich viel auf die eigene Aufgeklärtheit zugute hält. Novalis’ Verhältnis zur lebenden wie zur toten Sophie von Kühn hat ja letztlich bei der Nachwelt einen durchaus zwiespältigen Eindruck hinterlassen. Neben unkritischer Schwärmerei finden sich Abwehr, Spott, wenn nicht gar Verachtung. Ich lasse so denunziatorische Begriffe wie »Pädophilie< und »Ne-

krophilie< beiseite, denn sie sind mit strafrechtlichen oder moralischen Bedeutungen belastet und zur sachlichen Betrachtung komplexer Gegebenheiten im Grenzbereich des Biographischen und Ästhetischen nicht brauchbar. Der Vorwurf, die junge Braut schon zu deren Lebzeiten und erst recht in den Wochen der »Trauerarbeit< zur Muse umgestaltet und damit im Grunde

ihre Persönlichkeit mißachtet

zu haben,

ist sehr viel

ernster zu nehmen, schon allein weil der Vorgang sich historisch in jenem Jenaer Freundeskreis ereignete, in dem man gern Anfänge der Frauenemanzipation bei den Deutschen sieht. Artestieren also das »Journal« und die Losung »Xstus und $ophie« eher die Preisgabe der Geliebten als die absolute Hingabe an sie im intendierten Liebestod? Stirbt sie den Opfertod für den Mann?

I Es gibt von Novalis noch ein weiteres Dokument, das sich als Beleg einer Art Liebesverrats lesen ließe, freilich auf ganz andere Weise. Novalis verlobte sich Ende 1798 in Freiberg mit Julie von Charpentier. »Das Verhält-

niß, von dem ich Dir sagte, ist inniger und fesselnder geworden. Ich sehe mich auf eine Art geliebt, wie ich noch

Schicksal

eines

sehr

liebenswerthen

nicht geliebt worden

Mädchens

hängt

an

bin. Das

meinem

Ent-

schlusse — und meine Freunde, meine Eltern, meine Geschwister bedürfen meiner meht, als je«, schreibt er am 20. Januar 1799 an Friedrich Schlegel,

um dann mit dem ungeheuren Satz zu schließen: »Ein sehr interressantes Leben scheint auf mich zu warten — indeß aufrichtig wär ich doch lieber

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Novalis’ Erotik

todt«

(IV,273).

221

Die Frage, was Julie von Charpentier empfunden

hätte,

wäre dieser Brief in ihre Hände gekommen, läßt sich nicht unterdrücken. Erklärendes ist jedoch zur Hand. Anfang Dezember hatte Novalis an Schlegel davon berichtet, daß er »seit 2 Jahren [...] nicht mehr für die Zukunft gesorgt«, sich also auf den baldigen Tod vorbereitet habe und weiterhin glaube: »Der frühe Tod ist jezt mein großes Los« (IV,267f.). Aber die veränderten Umstände in Freiberg hätten ihn immerhin, wie er schreibt, das »Fortieben« als »zweyten Gewinn« (IV,268) erwägen und Pläne für diesen Fall machen lassen. Novalis behandelt, mit anderen Worcen, Tod und Leben als Optionen in einer Weise, wie man heure vielleicht

mit Urlaubszielen umgeht. Daß hinter solchen Überlegungen bewußte oder halbbewußte Frivolität und mithin das Spiel romantischer Symphilosophie stecke, dürfte der großen Ernschaftigkeit seines Charakters widersprechen. Wir wissen, daß der Tod als Teil des Lebens damals allgemein, aber insbesondere in der Familie Hardenberg eine sehr viel unmirtelbarere und selbstverständlichere Rolle spielte, als uns das heute vorstellbar ist. Die üppige Feier des Todes ın der piecistischen Literatur und vor allem dem Kirchenlied trug gerade innerhalb einer auf solche Vorstellungen orientierten Familie viel zu dieser Selbstverständlichkeit bei. Novalis war über-

dies seit Jahren kränkelnd und depressiven Stimmungen verschiedentlich ausgesetzt. Schon der »Entschluß« des »JournalsTeplitzer Fragmenten« die Fortführung jener von Friedrich Schlegel angeregten Analogien zwischen körperlicher und geistiger Tätigkeit und damir die Suche nach einer Verbindung zwischen Sexualität — »Wollust« — und Liebe als geistigem Phänomen. »Alles Geistige Genießen« könne »durch Essen ausgedrückt werden«, heißt es an einer Stelle, und ergänzend dazu: »Die körperliche Aneignung ist geheimnißvoll genug, um ein schönes Bild der Geistigen Meinung zu seyn« (I1,620:439). Der Schritt von hier zu einer religiösen Erotik ist nicht weit,

denn das Abendmahl erscheint Novalis gleichfalls als eine Analogie zwischen körperlicher Aufnahme und geistig-geistlicher Empfängnis. In der vermutlich aus der gleichen Zeit stammenden »Hymne< nehmen diese Gedanken eine erste dichterische Gestalt an, und eine provokative dazu: Einst ist alles Leib, Ein Leib, In himmlischen Blure Schwimmt das selige Paar. — O! daß das Weltmeer Schon erröthete,

Und in duftiges Fleisch Aufquölle der Fels! (1,167)'°

Die geistliche Sinnlichkeit und sinnliche Geistlichkeit des Gedichts kulminiert schließlich in der Vorstellung einer regelrechten Seelen-Wollust (»Heißere Wollust/Durchbebt

die Seele«; 1,168). Aber provokativer für

seine eigene Zeit war es wohl, als Novalis in der Fragmentsammlung Glauben und Liebe< sogar eine politische Erotik entwarf und sie noch dazu in den gewiß weder provokativen noch erotischen »Jahrbüchern der Preußischen Monarchie: veröffentlichte, eingeleitet von einem Schlüssel-

satz zu seiner Erotik: "° Das Gedicht wird oft als :Abendmahls-Hymne« bezeichnet, um es von den »Hymnen an die Nacht« zu unterscheiden, mit denen es nicht im unmiccelbaren Zusammenhang stehr. Um

den Kontrast zu modernen

Liebesauffassungen deutlicher zu machen, sei wenigscens

eine davon zitiert: »Die gegenwärtige Tendenz geht dahin, das Paar nicht mehr als transzendente Einheit zu sehen, sondern als Verbindung zweier Menschen, die sich weniger als

Hälften einer größeren Einheit denn als eigenständige Wesenheiten begreifen. Man ist kaum noch bereit, um der Gemeinsamkeit willen etwas von sich aufzugeben« (Badinter, Elisaberh: Ich bin Du. Auf dem Wege in die androgyne Gesellschaft. München 1994, 8.237). Das französische Original erschien 1986. So sehr das mit Novalis kontrastiert, so sehr ist sein Denken doch ein Stück Weg zu solchen Auffassungen.

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Novalıs’ Erotik

225

Was man liebt, findet man überall, und sieht überall Ähnlichkeiten.Je größer die

Liebe, desto weiter und mannichfaltiger diese ähnliche Welt. Meine Geliebte ist die Abbreviatur des Universums, das Universum die Elongatur meiner Geliebten.

(II,485) Die Verbindung zur Liebe als »Unum« des Universums sticht ins Auge, und die analoge Anwendung auf den Staat, auf das symbolische Liebespaar von König und Königin wird denkbar, denkbar freilich auch, daß ein preußischer König damit seine Schwierigkeiten harte. Vielfäleig hat Novalis erotische Thematik in den Aufzeichnungen des Allgemeinen Brouillons< variiert. »Befruchten« und »Essen« werden zueinander in Beziehung gesetzt, »Verzehren« und »Empfangen« als männlich oder weiblich verstanden, und den Eigenarten der Geschlechter wird nachgefragt, zunächst ganz im Sinne jener idealistischen Dialektik, wie sie damals mit Fichte und Schelling zur regelrechten Modephilosophie der Zeit unter jungen deutschen Intellektuellen wurde, einer Dialektik, die das Eine, das Unum im Entgegensetzen suchte und feststellen zu können glaubte. Aber Novalis geht gerade in seiner erotischen Philosophie darüber hinaus. Nicht von einer Dominanz des Geistigen über das Körperliche kann bei ihm gesprochen werden, sondern von einer Wechselbeziehung, die dem Körperlich-Sinnlichen ein eigenes Recht verleiht, wie das schon aus den Notizen im »Journal< erkennbar war. »Seele und Klörper] berährer sich im Act«, lautet ein Satz des »Brouillons«, und er wird eingeleitet durch die Notierung der »Staffeln« einer »Leiter« — »Blick«, »Händeberührung«,

»Kuß«, »Busenberührung«, »Grif an die Geschlechtstheile«, »Act der Umarmung«

— auf der die Seele zum Körper heruntersteigt, während der Kör-

per wiederum eine Art eigener Leiter entwickele, um sich mit der Seele zu treffen (HI,264:126).

Die Lust an solchen Analogien führe zu Sätzen

wie: »Die Denkorgane sind die Weltzeugungs — die Naturgeschlechtstheile« (III,476:1144). Oder gar: »D[as] Gehirn gleiche den Hoden« (III,444:918), was freilich für manche modernen Betrachterinnen und Betrachter eine höchst bedenkliche männliche Anthropologie verrät, fernab von aller politischen Korrektheit. Daß Novalis’ Sexualphilosophieren schließlich auch Sätze hervorbringt wie »Gefühl der Weltseele erc. in d[er]

Wollust« (IH,424:788), erscheint nur konsequent auf dem Weg zu seinem universalen Verständnis der Liebe. Versucht man, diese Gedanken in den größeren Zusammenhang einer Geschichte der Gefühle zu bringen, so wird sehr deutlich, daß Novalis mit ih-

nen tatsächlich weit über seine Zeit hinausdenkt. Das zentrale Ergebnis der »sexuellen Revolution« des 20. Jahrhunderts, insbesondere seit der Einfüh-

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226

Gerhard Schulz

rung von sicher wirksamen Kontrazeptiva, ist die » Auflösung des Junktims Sexualität — Fortpflanzung« geworden.'" Eben dieses Junktim jedoch gilt auch schon für Novalis nicht mehr, ist doch für ihn der sexuelle Akt nicht

nur Analogie, sondern auch Medium zu einem geistigen. Der Zeugungsakt als Prokreation eines neuen Lebewesens wird damit ebenso übersprungen, wie Novalis’ Theorien historisch das 19. Jahrhundert einer bürgerlich-viktorianischen Prüderie überspringen, was schon in seinen Gedanken über die Schamhaftigkeit und ihrer Anwendung im eigenen Schreiben zu sehen war. Es ist hier nicht der Ort, jene feinen Fäden zu verfolgen, die von Novalis

zu Friedrich Schlegel oder der Liebesphilosophie eines Friedrich Schleiermacher laufen. Wohl aber ist noch ein weiterer Aspekt von Novalis’ erotischem Philosophieren zu bedenken. In den Studien des Jahres 1799 steht die Frage,

ob »Geschlechtslust«, die »Sehnsucht nach fezschlicher Berührung « wohl gar »ein versteckter Apperit nach Menschenfleisch« (IIl,575:144) sein könnte. Im Kontext der Transsubstantiarion, also erwa der religiösen Leib- und BlutErotik einer »Abendmahls-Hymne«, hieße das letztlich nichts anderes, als

daß wohl gar eine Verwandtschaft zwischen Eucharistie und Kannibalismus bestünde. Novalis interessiert, mit anderen Worten, neben der Konvertie-

rung geistiger Kraft in körperliche Erotik und körperlicher Kraft in geistige Erorik durchaus auch die animalische Seite der Erotik an und für sich als der unter der Vorherrschaft eines christlichen Sündenbewußtseins bisher am wenigsten bekannte und erforschte Bereich. Im »Allgemeinen Brouillon« steht im Kontext einer Analogie zwischen dem Verbrennungsprozeß einerseits und dem Verhältnis von Widerstand und raubtierhaftem Genuß andererseits der erstaunliche Satz: »Nothzucht ist der stärkste Genuß« (IIT,262:117). Und in den späten Fragmenten gibt es Bemerkungen über den Zusammenhang

von

»Wollust,

Religion und Grausamkeit«

(III,568:90;

vgl. auch II,655:581) ebenso wie Gedanken über die Verbindung zwischen Lust, Krieg und Schmerz: »Wollust ist ein gefälliger und veredelter Schmerz. Aller Krieg ist wollüstig« (III,45 1:958). Nun ist es leicht, dergleichen als Männerphantasien zu etikettieren und zu verachten, aber es wird damit wenig gesagt über die Bedeutung solcher Fragen innerhalb der Geschichte menschlicher Selbsterkenntnis, zu der die Geschichte der Gefühle

als wesentlicher Teil gehört. Krieg und Grausamkeit waren Erfahrungen, die das späte 18. Jahrhundert exemplarisch und in beträchtlichen Ausmaßen an den Auswirkungen der Französischen Revolution machen konnte. Die Ver"' Beutin, Wolfgang: Sexualitär/Liebe. Neuzeit. In: Europäische Mentalirätsgeschichte. Hrsg. von Percer Dinzelbacher. Stuttgart 1993, 8. 92.

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Novalis’ Erotik

227

bindung zur »Wollust« boten die allbekannten sexuellen Exzesse, die sich bei den zahlreichen Hinrichtungen ereigneten. Schmerz und Tod kamen damir zugleich ins Spiel, aber sie waren natürlich auch eine ganz persönliche Lebenstatsache für Novalis selbst. Der Verweis auf die französischen Verhältnisse läßt jedoch zugleich die kontroverse Figur des Marquis de Sade vor uns erstehen, der in Gefängnis und Irrenhaus Phantasien über die Wertlosigkeit gängiger Werte entwarf und aus der Verbindung von Gewalt, Grausamkeit, Tod und Wollust eine eigene Philosophie über den Triumph natürlicher Triebhaftigkeit entwickelte. Für die Liebe als »Unum des Universums« wie für die Liebe als geistige Kraft überhaupt hätte er nur Hohn bereit gehabt. Aber wenn nicht er Novalis, so hätte Novalis sehr wohl ihn verstanden, denn die Suche nach jener »Leiter«, die vom Körperlichen zum Geistigen und umgekehrt führte, harte — bildlich gesprochen — Novalis durchaus auch in die

Kellergewölbe der menschlichen Natur gebracht, vielen seiner deutschen Zeitgenossen weit voraus. Novalıs war ein Deutscher, genährt von der Philosophie des deutschen Idealismus und dessen visionärer Humanität wie spekulativer Suche nach einem

unerreichbaren

Absoluten,

das

»aus

der

Welt

hinaus

ostraciren«

(U,395:55) mußte. Zu seinen letzten Aufzeichnungen gehört ein Blatt aus

dem Juli oder August 1800, als er an der Fortsetzung des »Heinrich von Ofterdingen« arbeitete. Es beginnt mit dem Satz »Po&sie ist wahrhafter Idealismus«, enthält Notizen und Pläne zum Roman und dazu, was Novalis »Fantasieen der Liebe« (II,640fl.:513ff.) nennt. Es ist eine Liste von insgesamt 34 Begriffen als Variationen der Liebe, so zum Beispiel »Un-

schuld [und/der Liebe]«, »Haß fund/der Liebe]«, »Grausamkeit [und/der Liebe]«, »Glauben [und/der Liebe]«, »Po&sie [und/der Liebe]«, »Geschichte [und/der Liebe]«, »Religiositaet [und/der Liebe]«, »Mystizism [und/der Liebe]« oder »Philosophie [und/der Liebej«. Sie illustriert die Universalität eines Liebesbegriffes ebenso wie dessen Zerfall in eine nicht mehr faßbare Vielfalt. Die Philosophie kann nicht fassen, was über die Begriffe des Menschen geht. Vollendung des deutschen Idealismus und skeptische Kricik an ihm müssen Hand in Hand gehen. Das leırzte Wort hat der Poet zu sprechen.

V Für Novalis’ poetische Erorik kommen üblicherweise zuerst die »Hymnen an die Nacht
Liedes der Toren« zu verstehen. Der

Wechsel zwischen Geliebter und Geliebtem führt auf den Weg zu einer transsexuellen Anthropologie. »Sexus«, »Eros< und »Caritas< sind nicht mehr zu trennen. »Lieb’« und »hohe Wollust« sind dementsprechend die

Begriffe, mit denen Novalis in der folgenden Strophe jene Erotik zu fassen versucht, die für ihn Sinn und Ziel menschlicher Existenz, »Endzweck der

Weltgeschichte« und »Unum des Universums« darstellt. Ihre Legitimation erfährt sie aus dem

Glauben, aus Gott, in den

man

im Bilde der

Ejaculatio eingeht: Und in dieser Flut ergießen Wir uns auf geheime Weise

In den Ozean des Lebens Tief in Gott hinein.

Aber der christlich definierte Glaube der »Hymnen« macht einem sehr viel weiträumigeren Platz, wenn die selige Gemeinschaft, ihr zeitlos liebendes Dasein preisend, den noch nicht Auferstandenen empfiehlt: Aus den Gräbern und Ruinen,

Himmelsrosen auf den Wangen Schwebt

in’s bunte Fabelreich.

Das Reich der Toten ein »buntes Fabelreich«? In der Tat: die kleine Fabel als Regisseurin des Welterlösungswerks in Klingsohrs Märchen identifiziert das neue »Reich der Ewigkeit« (I,3 15) ganz eindeutig als ein romantisch-poerisches.

Das »Lied der Tocen« ist Rollenlyrik aus dem nicht rekonstruierbaren Kontext eines urvollendeten Romans. Man kann es nicht als Novalis’ Wi-

derspruch gegen seine eigene Christlichkeit in den »Hymnen« lesen, sondern eher als den Versuch, christliche Todesmystik seiner Wollust-Philosophie wie überhaupt seiner Erotik anzupassen. Gleichwohl aber enthüllt es das Wesen seiner Erotik wie kein anderes seiner Werke und mit ihr den historischen Übergang aus einem mythischen in ein psychologisches Weltverständnis, dort aber bereits, wenn man an die von ihm tastend erfragten Zusammenhänge

zwischen Gewalt, Blut, Verzehren und Sexualität denkt,

ın jenes Territorium, das hundert Jahre später zum Tummelplatz der soge-

nanoten Psychoanalyse wurde. Ich habe eben gesagt, daß diese Erotik ihre

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Nowalis’ Erocik

233

Legitimation aus dem Glauben an Gott erhalte. Das ist richtig, insofern

wir von Novalis’ bewußter Absicht sprechen. In Wirklichkeit beruht die letzte, eigentliche Legitimation dieser weltumarmenden, zeitaufhebenden Erotik allein in der Gewalt der Sprache des Kunstwerks und damit im individuellen Künstlertum. Der deutsche Idealismus har sich auf die Suche nach dem

Absoluten gemacht,

jenem

schwer faßbaren Abstraktum,

das

Subjekt und Objekt, Nacur und Geist in sich vereinigen sollte. Novalıs nahm als junger Philosoph an dieser Suche rege teil und hat zusammen mit seinen Freunden Schelling und Schlegel manche bisher verschlossenen Türen des Denkens und Verstehens aufgetan. Dingfest oder, vorsichtiger ausgedrückt, vorstellbar gemacht hat dieses Absoluce aber wohl nur er, da

er in der Lage war, aus dem philosophischen Diskurs in den dichterischen überzugehen. Ein Gedicht wie das »Lied der Toten« trägt uns so nahe an dieses Absolute heran, wie das nur möglich ist. Die Identifikation des absoluten Daseins als »buntes Fabelreich« bedeurter aber doch wohl auch so etwas wie eine Mahnung zur Vorsicht bei aller Suche nach ihm und eine Warnung vor aller voreiligen Aktualisierung und Umsetzung in selbstgefertigte Lebensanschauungen. Dieses absolute Dasein liegt außerhalb der wirklichen

Welt, auf die wir immer angewiesen

sind. Und

es

behält sein Geheimnis, wie jedes bedeutende Kunstwerk es behalten wird. Darin liegt gerade die innigste Verwandtschaft zwischen beiden wie auch der fortdauernde Reiz alier Kunst.

Aus der Diskussion Neve: Wie verstehen Sie Novalis’ Äußerung »Nothzucht ist der stärkste Genuß« (III,262:117)? Was ist hier mit »Stärke< gemeint?

Schulz: Gemeint verknüpft.

ist der intensivste Genuß; damit isc keine Billigung

Mähl: Diese Stelle darf man nicht aus dem Kontext herauslösen und als

Diktum zitieren, was sehr häufig geschieht. Sie sceht im Zusammenhang mit Überlegungen, die aus der Beschäftigung mit Fichte stammen,

Überlegungen,

stand

begegnet,

nach denen

das Ich gerade dort, wo

etwa in der Konfrontation

mit dem

ihm

Wider-

Nicht-Ich,

sich

selbst am stärksten erfährt aufgrund dieses Widerstandes, seiner Selbst am stärksten bewußt wird, und dann kommt ein kühner und erstaunli-

cher Analogieschluß: »Nochzucht ist der stärkste Genuß«.

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234

Gerhard Schulz

Schulz: Es ist natürlich hinzuzusetzen, daß wölbe« hinabsteigt und Wolluse und Aber das sind Gedankenexperimente, an reich ist. Feicke: Heine hat in seiner »Romantischen

Novalis eben in die »KellergeGrausamkeit zusammendenkt. denen sein Werk so ungeheuer Schule« Novalis mit seinem un-

vollendeten Roman, seiner kranken Braur usw. so schlecht gemacht, daß

Heine zum Kronzeugen dafür werden konnte, daß Novalis in der DDR nur eine Nebenrolle spielen durfce. Ich frage mich im Anschluß an Ihren Vortrag, ob Heine mit seinen wenigen scharfen Sätzen nicht eigentlich

sogar Novalis innerlich anerkannt hat und sei es im Interesse eines Konkurrenzverhältnisses, was ihm, dem Spätromantiker, zugute kommt.

Stadler: Man muß bedenken, daß Heine nicht nur Negatives über Novalis gesagt hat. Heine nimmt in der entsprechenden Passage in der »Romantischen Schule« die Krankheit ja auch in sich hinein. Mähl: Entsprechendes gilt für die Kunst im Bild des Austerntiers, das die Perle unter Schmerzen hervorbringt. Schanze: Heine muß den »Ofterdingen« gur gekannt haben, denn es gibt Indizien dafür, daß er ıhn frei zitiert hat. Darauf deuten charakteristi-

sche Abweichungen hin. Außerdem gehen wir davon aus, daß dieses rote, in Maroquin

eingebundene

Buch



das wertvolle

Exemplar



Heines eigenes Exemplar gewesen ist. Ein weiterer Punkt ist, daß er seine Frau Mathilde genannt hat und sich selbst Heinrich.

Engel: men. lich Bild.

Ich würde gerne auf die Geschichtlichkeie der Gefühle zurückkomEs ist in der Tat sehr auffällig, welche Beobachtungen hier mögwerden. Im Blick auf Schlegels »Lucinde< entsteht ein ähnliches Mir scheint doch, daß das ein Verdienst der viel geschmähten

Naturphilosophie ist. Denn

zu den Bedingungen

der Möglichkeit der

Freisetzung von Sinnlichkeit zählt, das ist mir aus Ihren Zitaten sehr deutlich geworden, ihre immer auch mögliche Vergeistigung. Wenn man die Regeln von Foucault über Diskurse nimmt, die immer solche der Verknappung von Rede sind, bestimmte Formen von Reden ermöglichen und andere verbieten, dann wäre es eine Stärke der Naturphiloso-

phie, daß unter ihrem Schutz so etwas möglich wird, wie Sie es beschrieben haben. Schulz: Das Erstaunliche ist ja, daß im weiteren Verlauf so vieles ineinan-

dergreift, das hat mich im Verlaufe meiner Arbeit zu einer großen Skepsis gegenüber den Epochenbegriffen geführt. Gerade im Blick auf eine Geschichte der Gefühle wären die Linien im Ausgang von der Aufklärung eigentlich erst noch zu zeichnen.

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Novalis’ Erotik

Faber: tive lich nen mit Und

235

Noch einmal zu Heine und Novalis. Ich glaube, es gibt eine objekParallele oder gar eine Vorwegnahme von Heine bei Novalis, nämim Blick auf die Bedeucung der Antike. Wenn man an die »Hyman die Nacht< und an den Schluß des Klingsohr-Märchens denkt, dem »Hieros gamos« — das ist ein Stück Wiederkehr der Antike. es gibt die Idee einer Wiederkehr des Goldnen Zeitalters und die

Idee einer Wiederkehr der antiken Götter, das wäre mal zu vergleichen

mit Heines »Götcer im .Exil«. Meine Frage: Glauben Sie nicht, daß diese Hinwendung zur Erotik, zu einer offenen Erotik ohne Schuldgefühle bei Novalis mic dem Bewußtsein einer progressiven Erotik in der erotischen Dichtung der Antike einhergeht? Hat er Ovid gelesen? Ich vermute, er

hat es und nimmt eine doppelte Negation vor. Er negierc die christliche Negation der Antike, der offenen Erotik der Antike, und er läßt einer neuen Erotik die Intensität christlicher Mystik zukommen. Wie sieht es mit den Quellen aus? Und außerdem die soziale Frage: Am Ende des

Klingsohr-Märchens und anderswo werden Ideen einer sozialen Liebesgemeinschaft entworfen. Schulz: Da ist vieles, dem ich zustimmen möchte. Zur Frage der AntikeRezeption: Ja, selbstverständlich, das war das, was alle zunächst in der

Schule lernten. Und denken Sie an den Freund Schlegel, der hat seine Jugendarbeiten zunächst über antike Literatur geschrieben. Novalis selbst har aus antiker Literatur übersetzt. Aber man darf nicht vergessen, daß man sich gerade in diesen Jahren von den antiken Mustern abzulösen versuchte. Daraus entsceht ja eben der Begriff einer romantischen Literatur, und zwar einer romantischen Literatur, die nicht 1794/93/96

beginnt, sondern die mit der christlichen Literatur beginnt, in deren Tradition man sich sieht. Von Dante, Shakespeare, Cervantes und Caldeton bis zu Goethe sieht man diese romantische Literatur und versucht,

Eigenes damit zu verbinden. Man will nicht die Antike als Modell beseitigen, aber man will zu Eigenem kommen. Müller: Wie will man eigentlich einer Geschichte der Gefühle im Sinne einer Mentalitätsgeschichte näher kommen? Doch wohl kaum über die

unmittelbare Lektüre literarischer Texte. Da müßte man doch sicherlich ganz andere Quellen haben, z.B. über die Praxis der Sexualität im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Das erfährt man wahrscheinlich aus den Debatten über die Kindsmörderinnen, soweit die juristisch kodifi-

ziert sind. Herr Schulz, ich habe nun Ihr Plädoyer aufgefaßt weniger als eines für die Geschichte der Gefühle, sondern als Geschichte einer Konstruktion der Sprachgeschichte des Erotischen und der Sexualität in

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2 36

Gerhard Schulz

Deutschland. Und das ist ein interessantes Thema, was man aber doch

wohl auch in jedem Fall vergleichend machen müßte. In der Moment, im dem Novalis in Teplitz sitzt, schreibt nicht sehr weit davon entfernt Casanova seine Memoiren. Darin findet man ja so erwas wie eine Kulturgeschichte der Sexualität in Europa, weil das Buch ja Verhälknisse in unterschiedlichen Ländern betrifft. Hier haben wir Prosa, die gewissermaßen kein Blatt vor den Mund nimmt. Von Casanova aus kann man sicherlich nicht sagen, daß Novalis sich in einer Umwelt bewegt, in der

er als Erster und Einziger nach einer unverstellten Sprache sucht. Schulz:

Wenn

ich recht sehe, ist das, was mit

»Mentalitätsgeschichte«

gemeint ist, noch einigermaßen vage und steht oft auf recht schütteren Grundlagen, und narürlich stimme ich Ihnen zu, daß wir die Frage nach dem

Quellenwert

literarischer Texte und die nach dem

dokumentari-

schen Wert von Tagebüchern, Briefen, philosophischen Aufzeichnungen und anderen Zeitdokumenten auseinander halten müssen. Neubauer: Ich frage mich, ob nicht auch Diderot und de Sade als mögliche Vorläufer in Frage kommen. Behrens: Wir müssen noch ein Weiteres bedenken: Novalis kommt aus einer Adelsfamilie. Der Umgang des Adels mit der Sexualität und mit den Gefühlen ist ein ganz anderer als der des bürgerlichen 19. Jahrhunderts, und dieses Jahrhundert hatte enorme Schwierigkeiten damit, das

am Adel des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu akzeptieren. Ob die Hardenbergs wirklich pietistisch waren, das wage ich zu bezweifeln. Sie waren Herrnhuter. Und von dem Grafen Zinzendorf stammt das herrliche, stolze Wort: »Die Pietisten gehen zu Fuß, wir reiten«. Schulz: Ein Beleg für die erste Bemerkung sind die Briefe aus dem Grüninger-Kreis, die oft recht derb und lustig und wenig zurückhaltend sind. Behrens: Ich frage mich, ob das wirklich so revolutionär ist, was Novalis

da sagt, oder ob es nicht symptomatisch ist für das Lebensgefühl der Gruppe, aus der er kommt. Schulz: Ich habe nicht gesagt, daß das revolurionär wäre. Aber denken Sie etwa an den Inzest zwischen Eros und Ginnistan in Klingsohrs Märchen. Das übersteigt denn doch die Grenzen dessen, was auch im Adel

zu denken und zu formulieren üblich war. Sonoda: Wenn man über die Liebe bei Noyalis spricht, dann sollte man über den Bereich des Geschlechtlichen hinausgehen und die Rolle bedenken, die die Berührung Heinrichs mit dem Flüssigen spielt. Und sein Eindringen in die Erdentiefe und seine Sehnsucht nach dem Mut-

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Novalis' Erotik

237

terschoß in einem weiteren Sinne. Novalis hat die Erotik zur Universal-

wissenschaft erhoben und von da aus seine Anthropologie begründer, und das scheint mir das Zentrale zu sein. Schulz: Da stimme ich Ihnen gerne zu.

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Klaus Peter (Amherst)

Novalis, Fichte, Adam Müller. Zur Staatsphilosophie in Aufklärung und Romantik

Klingsohr umarmt beide und verläßt das Zimmer. Heinrich und Mathilde sind allein, allein mic ihrer Liebe. Was sie einander in ekstatischer Sprache gestehen, führt ins Zentrum von Novalis’ Welt, nicht nur des »Heinrich

von Ofterdingen«. Die Sprache bereits verrät, wie sehr die Liebenden dem Alltag entrückt sind: So reden »normale« Menschen nicht. Die Entrükkung heißt denn auch das Thema, das sie variieren. Heinrich zu Mathilde: [-- .] deine Liebe wird mich in die Heiligchümer des Lebens, ın das Allerheiligste des Gemürhs führen; du wirst mich zu den höchsten Anschauungen begeistern. Wer weiß, ob unsre Liebe nicht dereinst noch zu Flammenfittichen wird, die uns aufheben, und uns in unsre himmlische Heimarh tragen, ehe das Alter und der Tod uns erreichen. (1,280)

Und Marhilde zu Heinrich: Auch mir ist jetzt alles glaublich, und ich fühle ja so deutlich eine srille Flamme in mir lodern; wer weiß, ob sie uns

nicht verklärt, und die irdischen

Banden

allmählich auflöst. (Ebd.)

Wer weiß: Was die Liebenden ahnen, für den Dichter ist es Gewißheit. Auf das Wunder, das den Liebenden widerfährt, sind alle Dichtungen, ist

die ganze Philosophie des Novalis ausgerichtet, auf das Wunder nämlich, das die »irdischen Banden« auflöst und den Menschen in die »himmlische Heimat« trägt. Es ıst das Wunder, auf das die Welt wartet, um von Elend und Leid erlöst zu werden. Es ist das Wunder der Revolution schlechthin.

Tatsächlich impliziert die Liebesszene im 8. Kapitel des ;Heinrich von Ofterdingen< auch Politisches. Das Wunder der Revolution verlangt, um stattzufinden, wenigstens zwei Personen. Die Entrückung ist ein Gemeinschaftserlebnis. Heinrich zu Mathilde: Mein ganzes Wesen soll sich mit dem deinigen vermischen. Nur die grenzenloseste Hingebung kann meiner Liebe genügen. In ihr besteht sie ja. Sie ist ja eın

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240

Klaus Perer

geheimnißvolles Zusammenfließen unsers geheimsten und eigenthümlichsten Daseyns. (Ebd.)

Die für Novalis so charakteristische Dialektik von Tod und Auferstehung meint dieses »geheimnißvolle Zusammenfließen« und offenbart den religiösen Kern dieser Liebe. Mathilde zu Heinrich: »Ich weiß nicht, was Liebe ist, aber das kann ich dir sagen, daß mir ıst, als finge ich erst jetzt zu leben an, und daß ich dir so gur bin, daß ich gleich für dich sterben wollte«

(1,287). Und

Heinrich

zu Marhilde:

»Meine

Marhilde,

erst jetzt

fühle ich, was es heißt unsterblich zu seyn« (1,287f.). Voraussetzung der Unsterblichkeit, die diese Liebe ankündigt, ist der Tod: Indem beide für einander »sterben«, werden sie »ewig«. Heinrich: »Ja Mathilde, wir sind ewig weil wir uns lieben« (1,288). Gerade das aber heißt bei Novalis Religion: » Was ist die Religion, als ein unendliches Einverständniß, eine ewige

Vereinigung liebender Herzen? Wo zwey versammelt sind, ist er ja unter ihnen« (ebd.). Und Heinrich erkennt: »[...] die höhere Welr ist uns näher,

als wir gewöhnlich denken. Schon hier leben wir in ihr, und wir erblicken sie auf das Innigste mit der irdischen Natur verwebt« (I,289).' Die Liebeserfahrung von Heinrich und Mathilde, das Privateste, was

im Leben zweier Menschen möglich Voraussetzung der Staatsphilosophie. der Fragment-Sammlung »Glauben Erfahrung hervor und besitzt allein

ist, bildet bei Novalis zugleich die Die Idee des Staates, die Novalis in und Liebe< entwirft, ging aus dieser darin ihren realen Grund. Die Frag-

mente demonstrieren, auf welche Weise die »höhbere Welt« auf das »Innigste« mit der »irdischen Natur«, d.h. in diesem Fall nicht nur mit der

Liebeserfahrung jedes einzelnen Menschen, sondern auch mit dem Preußen unter Friedrich Wilhelm IH. verwoben ist: durch die Liebe nämlich, die das Königspaar verbindet und den König und die Königin an die Seite Heinrichs und Machildes stellt. Vom Thron ausgehend, soll diese Liebe

alle Staatsbürger ergreifen und so die Gemeinschaft stiften, in der jeder einzelne schließlich als Liebender sich hingibt und im Staat, der Einheit mit den anderen, »unsterblich« wird. Das »geheimnißvolle ZusammenflieBen« Heinrichs und Mathildes im Roman entspricht dem Mit- und Ineinander der Bürger dieses Staates. Das Private der Liebe verzehrt alle Öffentlichkeit, indem es sie transformiert. Jeder einzelne, der für das Allgemeine »stirbt«, träge ducch seinen »Tod« zur Entstehung eines Staates bei, wie "Zur Idee der Liebe bei Novalis

vgl. Kluckhohn,

Paul: Die

Auffassung

der Liebe in der

Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik. 3. Aufl. Tübingen 5. 464-512. (ı. Aufl. 1922).

1966,

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Novalis, Fichte, Adam

Müller

241

es bisher noch keinen gab. Durch ihre Entrückung in der Liebe schaffen die Bürger eine neue Welt. In allen seinen Teilen stellt »Glauben und Liebe< das Preußen Friedrich Wilhelms III. in diesem Sinne als entrücktes dar. Dementsprechend feiert Novalis die Liebe des Königs und der Königin Luise in den bekannten Distichen: »An den König« Mehr, als ein Königreich gab der Himmel Dir in Louisen, Aber Du brachtest Ihr auch mehr, als die Krone, Dein Herz. (II,483)

Die Liebe des Königspaares begründer das »irdische Paradies«, denn wo »die Geliebten sind, da schmückr sich bräutlich die Erdex. Wo Vorzeit und Nachzeit ineinander verschmelzen, hat die Geschichte ihr Ziel er-

reicht, und es beginnt das goldene Zeitalter: Es ist an der Zeit:

Glänzend steht nun die Brücke, der mächtige Schatten erinnert Nur an die Zeit noch, es ruht ewig der Tempel nun hier, Götzen von Stein und Merall mit furchebaren Zeichen der Willkühr Sınd gestürzt und wir sehn dort nur ein liebendes Paar —

An der Umarmung erkennt ein jeder die alten Dynasten, Kennt den Steuermann,

kennt wieder die glückliche Zeit. (Ebd.)

Nicht jeder erkennt freilich, was der Dichter sieht. Das reflektiert die Sprache: Indem der Dichter mit den Eingeweihten kommuniziert, sagt er anscheinend

nur Gewöhnliches,

in Wahrheit

jedoch verkünder er das

Ungewöhnliche, entfaltet er die Idee des alternativen Staates. Das Ungewöhnliche, die zentrale Rolle der Liebeserfahrung in diesem Staat, prägt schließlich alle seine Elemente und führt zur durchgehenden Hypostasierung von Unmittelbarkeit; zum Beispiel in der Dominanz des Geistes über den Buchstaben: Meinethalben mag jetzt der Buchstabe an der Zeit seyn. Es ist kein großes Lob für die Zeit, daß ste so weit von der Natur entfernt, so sinnlos für Familienleben,

so abgeneigt der schönsten poetischen Gesellschaftsform isc. Wie würden unsre Kosmopoliten erstaunen, wenn ihnen dıe Zeit des ewigen Friedens erschiene und sie die höchste gebilderste Menschheit in monarchischer Form erblickten? Zerstäubt wird dann der papierne Kitt seyn, der jetzt die Menschen zusammenkleiscert, und der Geist wird die Gespenster, die statt seiner in Buchstaben erschienen und von Federn und Pressen zerstückelt ausgingen, verscheuchen, und alle Menschen wie ein paar Liebende zusammen schmelzen. (II,488:16)? ®Zur Problematik der Sprache bei Novalis in diesem Zusammenhang und d.h. zum Verhälenis von Geist und Buchstaben vgl. Stockinger, Ludwig: »Tropen und Rächselsprache«.

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242

Klaus Perer

Der Liebesstaat, die »schönste poetische Gesellschaftsform«, die der »Natur« entspricht und den »ewigen Frieden« innerhalb und außerhalb des

Staates garantiert, erscheint vorgebildet in der Familie. Seine politische Realisation ist die Monarchie. Wer Novalis allerdings deshalb zum Verteidiger des Ancien regime erklärt, mißversteht die Idee seiner Philosophie. Es ging Novalis nicht um die Vergangenheit, um historisch Bekanntes. Ausdrücklich betont der Dichter: Wer

hier mit

seinen

historischen

Erfahrungen

angezogen

kömmt,

weiß gar

nicht, wovon ich rede, und auf welchem Standpunct ich rede; dem sprech ich arabisch, und er thut am besten, seines Wegs zu gehn und sich nicht unter Zuhörer

zu mischen,

deren

Idiom

und

lLandesart

ihm

durchaus

fremd

ist.

(II 488:15)

Monarchie

und

Familie

bilden

für Novalıs

einen

Zusammenhang,

weil

durch sie und in ihnen allein die Liebesvereinigung der Menschen auf »natürliche« Weise möglich scheint. Nur Menschen können lieben und geliebt werden. Eine Verfassung, die nur aus Buchstaben besteht, nicht. Daher die Feststellung: Ein wahrhaftes Königspaar ist für den ganzen Menschen, was eine Constitution für den bloßen Verstand ist. Man kann sich für eine Constitution nur, wie für einen Buchstaben interessiren. Ist das Zeichen nicht ein schönes Bild, oder ein Gesang, so ist Anhänglichkeit an Zeichen, die verkehrteste aller Neigungen. (I1,487:15)

Und daher die Notwendigkeit des Monarchen: Was ist ein Gesetz, wenn es nicht Ausdruck des Willens einer geliebten, achtungswehrten

Person

ist? Bedarf der mystische Souverain

nicht, wie jede Idee,

eines Symbols, und welches Symbol ist würdiger und passender, als ein liebenswürdiger treflicher Mensch?

(Ebd.)

Der »mystische Souverain«, d.h. der Souverän, mit dem die liebende Ein-

heit möglich ist, die aus der Religion bekannte mystische Erfahrung. Und auch hier wird nicht etwa die Erhebung des Königs zum Gott gepredigt.

Gefordert wird ausschließlich, daß der König ein Liebender ist und seinerseits geliebt werden kann. Und als Liebende sind König und Bürger völlig

gleich. Novalis: »Alle Menschen sollen thronfähig werden. Das Erziehungsmictelt zu diesem fernen Ziel ist ein König. Er assimilirt sich allmähEsoterik und Öffentlichkeit bei Friedrich von Hardenberg (Novalis). In: Geschichtlichkeit

und Aktualirär. Studien zur deutschen Literatur seit der Romantik. Hrsg. von KlausDerief Müller, Gerhard Pasrernack, Wulf Segebrecht und Ludwig Stockinger. Tübingen 1988 (Festschrift für Hans-Joachim Mähl zum 65. Geburtstag), 5. 182-206.

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Novalis, Fichte, Adam Müller

243

lich die Masse seiner Unterchanen« (I1,489:18). Kraft seines Beispiels verwandelt er sie in Liebende. Möglich ist das, weil prinzipiell alle Menschen liebesfähig sind, obwohl bei vielen diese Fähigkeit heute verschüttet ist. Novalis: »Jeder ist entsprossen aus einem uralten Königsstamm. Aber wie wenige tragen noch das Gepräge dieser Abkunft?« (Ebd.) Der Dichter erinnert an diese Herkunft. Ohne die Neubelebung der Liebe ist die neue Welt, ist der neue Staat nicht denkbar. Wie entscheidend die Familie für diesen Staat ist, bestätigen auch die

damals unveröffentlicht gebliebenen »Politischen Aphorismen«, in denen Novalis die zentralen Ideen von »Glauben und Liebe< variierte und fort-

setzte. Novalis: Wären

die Menschen

schon das, was sie sein sollten und werden

können

— so

würden alle Regierungsformen einerlei sein — die Menschheit würde überall einerlei regiert, überall nach den ursprünglichen Gesetzen der Menschheit. Dann aber würde man am Ersten die schönste, poetische, die natürlichste Form wählen — Familienform — Monarchie, — Mehrere Herren — mehrere Familien —

Ein Herr — Eine Familie! (II,503:67) Wären

die Menschen,

was sie sein sollten und

werden

können:

nämlich

Liebende, dann und nur dann wäre die Monarchie gerechtfertigt. Deshalb die Forderung: »Jede Verbesserung unvollkommener Constitutionen läuft daraus hinaus, daß man sie der Liebe fähiger macht« (II,500:55). Und die kategorische Feststellung: »Ein Fürst ohne Familiengeist ist kein Monarch« (I1,501:61). Alle detaillierteren Angaben über den neuen Staa, über

das Königspaar und die Staatsbürger basieren in »Glauben und Liebe und in den »Politischen Aphorismen< auf dieser grundsätzlichen Vorausserzung.

Immer

zielt Novalis auf die engste, die innigste Verbindung

der

Staatsbürger mit dem Staat. Zum Beispiel wenn er vorschlägt, Uniformen und Abzeichen einzuführen, die, indem sie jeden Bürger als Staatsbürger kennzeichnen, den Staat dadurch für jeden sichtbar machen (vgl. II,489:19). Denn »[j]eder Staatsbürger ist Staatsbeamter«, seine Einkünfte hat er nur als solcher (II,489:18). Im Allgemeinen Brouillon« finder sich eine Stelle, die sogar die Steuern auf diese Weise begründet: Je mehr Abgaben, je mehr Staatsbedürfnisse, desto vollkommner der Staat. Keine Abgabe soll seyn, die nicht ein Gewinn für den Einzelnen ist. Wie viel mehr müßte ein Mensch außerm Staate anwenden um sich Sicherheit, Recht, gute Wege etc. zu verschaffen. Nur wer nicht im Staat lebt, ın dem Sinne, wie

man in seiner Geliebten lebr, wird sich über Abgaben beschweren. Abgaben ist der höchste Vorcheil. (III,3 13:394)° > Zur Staatsphilosophie des Novalis vgl. Kuhn, Hans Wolfgang: Der Apokalyptiker und die

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244

Klaus Peter

Die Idee dieses Liebes-Staates steht in krassem Gegensatz zur Staatsphilosophie der Aufklärung. Deren Kern bildete im 18. Jahrhundert die moderne Naturrechtslehre, die, auf Hugo Grotius und Samuel von Pufendorf

zurückgehend, im europäischen Kontext hauptsächlich mit dem Namen John Lockes verbunden ist. Entscheidend für die romantische Kritik der Naturrechtslehre war jedoch ihre Formulierung durch Johann Gottlieb Fichte. Sie erschien 1796/97 unter dem Titel »Grundlage des Narurrechts nach Principien der Wissenschaftsiehre«; 1797 löste Friedrich Wilhelm II. Friedrich Wilhelm IH. auf dem preußischen Thron ab, und 1798 veröffentlichte Novalis »Glauben und Liebe: in den »Jahrbüchern der preußischen Monarchie unter Friedrich Wilhelm IIE.< Die Daten ergänzen einander: Indem Novalis in »Glauben und Liebe< mit Friedrich Wilhelm IH. den Beginn einer neuen Ära in Preußen, ja der Welt, proklamierte, vollzog er zugleich den Bruch mit der alten Staatsphilosophie. Auf diesen Zusammenhang verweist das 36. Fragment: Kein Staat ist mehr als Fabrik verwaltet worden, als Preußen, seit Friedrich Wilhelm des Ersten Tode. Sc nöthig vielleicht eine solche maschinistsche Ad-

ministration zur physischen Gesundheit, Stärkung und Gewandheit des Staats seyn mag, so geht doch der Staat, wenn er bloß auf diese Art behandelt wird, Policik. Studien zur Staatsphilosophie des Novalis. Freiburg :. Br. 1961; Mähl, Hans-Joachim: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zut Wesensbestim-

mung der frühromantischen Utopie und ihren ideengeschichrlichen Voraussetzungen. Heidelberg 1965, $.

330-340; Verf.: Stadien der Aufklärung. Moral und Politik bei Lessing,

Noralis und Friedrich Schlegel. Wiesbaden 1980, S. 85 - 122; Kurzke, Hermann: Romantik

und Konservatismus. Das politische Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis} im Horizont seiner Wirkungsgeschichte. München 1983, 5. 133-202, und Uerlings, Herbert: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung. Stuttgart 1991, 3. 563-613. Die Bedeutung der Familie harce für Novalis freilich auch ganız persönliche Gründe. Dies bezeugt ein Brief, in dem er seiner Murter im Juni 1793 zum 23. Hochzeirstag Glück

wünscht. Novalis: »Wie innig kann ich Dir zu Deinem 23sten Hochzeirrage Glück wünschen. So ein Glück ist das Ziel meiner fernsten, aber liebsten Wünsche. Dieser Sinn für Familienglück, der in mir so kräftig und lebendig ist, wird auf das Schicksal meines Lebens gewiß einen wolthätigen Einfluß haben und am allerersten die wilden Auswüchse meiner Fantasie beschneiden, die mich beständig innerlich unstät und flüchtig machen«. In dem frühen Brief deutete Novalis auch bereits auf die Verbindung von Familie und Staat hin: »Die Familie ist mir noch näher als der Staat. Freylich muß ich thätiger Bürger

seyn um eine Familie an mich knüpfen zu können. Aber mir ist das Leztere näherer Zweck als der Erstere. Man ıst auch am allervallkommensten Bürger des Staats, wenn man zuerst

für seine Familie ganz da ist — Aus dem Wohlseyn der einzelnen Familien bestehr der Wohlstand des Staats. Nur durch meine Familie bin ich unmittelbar an mein Vaterland geknüpft — das mir sonst so gleichgültig seyn könnte, als jeder andere Staat. O! ich fühle Sie ganz, die Süßigkeit des Berufs Stütze einer Familie zu seyn und darum plagr mich

auch oft mein wildes, leidenschaftliches Temperament [...]« (IV,120f.; vgl. hierzu die Einleitung des Herausgebers, 5. 6£.).

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Nowalis, Fichte, Adam Müller

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im Wesentlichen darüber zu Grunde. Das Prinzip des alten berühmten Systems ist, jeden durch Eigennutz an den Staat zu binden. Die klugen Politiker harten das Ideal eines Staats vor sich, wo das Interesse des Staats, eigennützig, wie das Interesse der Unterthanen, so künstlich jedoch mit demselben verknüpft wäre, daß beide einander wechselseitig beförderten. (11,494:36)

Das »Prinzip des alten berühmten Systems« ist das des Naturrechts. Fichte versuchte es ın den goer Jahren auf der Grundlage der Philosophie Kants und d.h. auch seiner eigenen, der »Wissenschaftslehre«, neu zu begründen. Dagegen reagierte Novalıs. Worum geht es? 1793 hatte Fichte mit zwei Schriften debüciert, die die Französische Revolution rechtfertigren und ihr revolutionäres Programm bereits in den Titeln verkündigen: »Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas, die sie bisher unterdrückten< und »Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution«. 1794 war diesen beiden Schriften Fichtes philosophisches Hauptwerk gefolgt, die »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre«. Mit der These vom »absoluten Ich« zog Fichte hier äußerst radikale Konsequenzen aus seinen revolutionären Überzeugungen. Indem er die »Natur« ausschließlich im »Ich« des Menschen ansiedelt, verleiht er diesem praktisch unbegrenzte Freiheit. Potentiell stetlte Fichte damit die Aucorität des Staates

in Frage: Wo der Staat das »Ich« einschränkt, verstößt er gegen die »Natur«, und der Mensch hat die Pflicht, sich gegen ihn zu erheben. Der revolutionäre setzte Fichte

Impuls dieser Philosophie treibt zur Anarchie. 1796/97 dieser radikalen Ich-Philosophie daher mit seiner Natur-

rechtslehre eine Staatsphilosophie enrgegen, die versucht, auch das Recht des Staates neu zu definieren. Was nach Fichte jedoch nur eine Ergänzung der Ich-Philosophie sein sollte, ist in Wahrheit deren Negation. Die traditionelle Naturrechtslehre sieht den Menschen nämlich als einen Teil der »Natur«, deren Vernunft zwar niche der des »Ich« widerspricht, aber auch nicht dessen Privileg ist. Dem individuellen »Ich« überlegene Instanzen können als Sachwalter der »Natur« bzw. der Vernunft auftreten, und die

Lehre diente ım 18. Jahrhundert deshalb auch zur Legitimation des aufgeklärten Absolutismus. Monarchen wie Friedrich der Große galten als plausible Interpreten der Vernunft, und auch Fichte gehörte zu denen, die die weise Regierung des Königs bewunderten. Aber Friedrich der Große zählte gewiß nicht zu den Helden der Französischen Revolution. Wie waren also die beiden Seiten der Fichteschen Philosophie miteinander zu vereinbaren?

Der Gegensatz, der Fichtes Philosophie in zwei sich widersprechende Teile auseinanderreißt, spiegelt den für das 18. Jahrhundert charakteristi-

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Klaus Peter

schen Gegensatz von Moral und Politik. Es war Reinhart Koselleck, der in seinem Buch »Kritik und Krise: (1959) auf diesen Gegensatz zuerst mit allem Nachdruck hingewiesen har.* Der Gegensatz hatte soziale Wurzeln. Das Bürgertum, in Deutschland auch am Ende des Jahrhunderts noch weitgehend von der Politik, die das Privileg des Adels und fest in der Hand der Fürsten war, ausgeschlossen, erhob sich zum Anwalt der Moral.

Neben die Gesetze der Kirche und des Staaces trat das Sittengeserz. Insofern dieses immer mehr mit den Gesetzen der Kirche und des Staates in Konkurrenz trat, übte es auch eine politische Wirkung aus: Bürgerliche Intellekruelle, als Sprecher der öffentlichen Meinung, entschieden schließ-

lich auch in der Politik über Moral und Unmoral. Fichtes Philosophie vom »absoluten Ich« ist dafür ein Beispiel: Sie impliziert die absolute Überlegenheit der Moral auch in Angelegenheiten des Staates. Wollte Fichte der Moral keine Grenzen setzen, so konnte ihm deshalb die »Rer-

tung« der Politik nur dann gelingen, wenn er sie streng von der Moral trennte. In der Naturrechtslehre wies er beiden denn auch völlig verschiedene Gelrtungsbereiche zu. Aufs schärfste unterscheidet er zwischen Moralität und Legalität: »Der deducirte Begriff des Rechts hat mit dem Sittengesetze nichts zu thun«. Und Fichte erläutert: Der Begriff der Pflicht, der aus dem Gesetze hervorgeht, ist dem des Rechtes in den meisten Merkmalen geradezu entgegengesetzt. Das Sittengesetz gebietet kategorisch die Pflicht: das Rechtsgeserz erlaubt nur, aber gebietet nie, dass man sein Recht ausübe. Ja, das Sittengesetz verbietet sehr oft die Ausübung eines Rechtes, das dann doch, nach dem Geständniss aller Welt, darum nicht

aufhört, ein Recht zu seyn.’

In der Staatsphilosophie, die Fichte einzig und allein vom

Recht, vom

Naturrecht, her verstand, klammerte er also die Moral und ihr Geserz, das

Sittengesetz, vollständig aus. Das hat schwerwiegende Folgen für seine Idee vom Staat. Während die Naturrecheslehre im 18. Jahrhundert bei Locke, bei Rousseau und anderen die Verbindlichkeit des Sittengeserzes auch im Staat immer mitdachte, die Isolierung des Rechtes von der Moral nicht kannte, stellt es Fichte jedem einzelnen anheim, ob er in der Politik

der Vernunft folgen will oder nicht. Mit dem Sittengesetz jedenfalls habe seine Entscheidung nichts zu tun. Fichte: *Koselleck, Reinhart: Kritik und Welc. Freiburg ı. Br. 1959.

Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen

Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Narutrechts nach Principien der Wissenschafeslehre. In: Fichte: Werke. Bd. IL, Hrsg. von Immanuel Hermann Fichte [1845/46]. Foromechanischer Nachdruck Berlin 1971, 5. 54.

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Novalis, Fichte, Adam Müller Das vernünftige Wesen

247

ist nicht absolut durch den Charakter der Vernünftig-

keit gebunden, die Freiheit aller Vernunftwesen ausser ihm zu wollen; dieser Satz ist die Grenzscheidung zwischen Naturrecht, und Moral: und das charakte-

ristische Merkmal einer reinen Behandlung der ersteren Wissenschaft. In der Moral zeigt sich eine Verbindlichkeit dies zu wollen. Man kann im Naturrecht jedem nur sagen, das und das werde aus seiner Handlung folgen. Übernimmt

er dies nun, oder hofft er ihm zu entgehen, so kann man weiter kein Argument gegen ihn brauchen.® Das Naturrechr ohne die Moral, so zeigt sich hier, reduziert die Vernunft

auf die Frage, was opportun sei, d.h. dem eigenen Interesse nützt oder schadet. Tatsächlich betrachtete Fichte den Eigennutz nicht als erwas im Staat zu Überwindendes,

sondern,

im Gegenteil, als Voraussetzung

des

Rechts. Nur ihre egoistischen Interessen können die Menschen im Staat veranlassen, Vernunft zu üben. Fichte: Das Verhältnis freier Wesen zueinander ist daher das Verhältnis einer Wechselwirkung durch Intelligenz und Freiheit. Keines kann das andere anerkennen, wenn nicht beide sich gegenseitig anerkennen: und keines kann das andere behandeln als ein freies Wesen, wenn nicht beide sich gegenseitig so behandeln.”

Davon hängt die Sicherheit der Menschen ab. Nur weil und insofern die verschiedenen Interessen sich wechselseitig ausbalancieren, kann der Staat das »Gleichgewicht« des Rechts herstellen, das die Sicherheit der Bürger

garantiert. Und noch einmal Fichte: Das Objekt des gemeinsamen Willens ist die gegenseitige Sicherheit, aber bei je-

dem Individuum geht, der Voraussetzung nach, indem keine Moralirät, sondern nur Eigenliebe stattfinder, das Wollen der Sicherheit des Anderen von dem Wollen seiner eigenen Sicherheit aus: das erstere ist dem letzteren subordinirt, keinem ist es Angelegenheit, dass der Andere vor ihm sicher sey, als nur, inwiefern seine eigene Sicherheit vor dem Anderen lediglich unter dieser Bedingung möglich ist?

Novalis war nicht der einzige, der diese Begründung des Staates ablehnte; auch Friedrich Schlegel und Hegel z.B. haben die Naturrechtslehre Fichtes aufs schärfste kritisiert. Es war jedoch Novalis vor allem, der diese Kritik mit der Preußens vor 1797 verknüpfte. Nach dem 36. Fragment in »Glau$Ebd., S. 88. "Ebd., $. 44. ®Ebd., 5. 150. — Zu Fichte vgl. in diesem Zusammenhang Willms, Bernard: Die totale Freiheit. Fichtes politische Philosophie. Köln/Opladen 1967, bes. S. 80-98, und Barscha,

Zwi: Gesellschaft und Staat in der politischen Philosophie Fichtes. Frankfurt am Main 1970, 8. 152-173, bes. S. 157.

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Klaus Perer

ben und Liebe« ist es hauptsächlich und gerade die Kritik Preußens unter Friedrich dem Großen. Vergeblich habe man hier im Namen des Narurrechts versucht, das Interesse des Staates und die Interessen der Bürger ins Gleichgewicht zu bringen. Novalis: An diese politische Quadracur des Zurkels ist sehr viel Mühe gewandt worden: aber der rohe Eigennurz scheint durchaus unermeßlich, antisystematisch zu sein. Er har sich durchaus nicht beschränken lassen, was doch die Natur jeder Staarseinrichtung nochwendig erfordert. Indeß ist durch diese förmliche Aufnahme des gemeinen Egoismus, als Prinzip, ein ungeheurer Schade geschehn und der Keim der Revolution unserer Tage liegt nirgends, als hier. (I1,495:36)

Novalis reagierte mit großer Sensibilität auf ein wesentliches Kennzeichen des modernen Staates, das damals in Preußen gerade besonders sichtbar wurde: die Bürokratisierung, was Novalis »maschinistische Administration« nennt. Indem sie jedes unmittelbare Verhältnis der Bürger zum Staat tötet, entwertet sie diesen zu einer Maschine, die nur noch den Zweck hat,

verschiedene Interessen und Bedürfnisse zu befriedigen. Der wachsende Egoismus jedoch, der prinzipiell »unermeBlich« ist und sich nicht bändigen läßt, muß diese Maschine schließlich überfordern, und der Schein der

Ordnung, den sie erzeuge, bricht zusammen. Chaos ist die Folge. Novalıs übernahm die Kulturkritik Rousseaus, wenn er die »wachsende Kultur«, d.h. den steigenden Lebensstandard in der modernen Welt, für

diese Entwicklung verantwortlich machte. Novalis: Mit wachsender Kultur mußten die Bedürfnisse mannichfacher werden, und der

Werth der Mittel ihrer Befriedigung um so mehr steigen, je weiter die moralische Gesinnung hinter allen diesen Erfindungen des Luxus, hinter allen Raffinements des Lebensgenusses und der Bequemlichkeit zurückgeblieben war. Die Sinnlichkeit hatte zu schnell ungeheures Feld gewonnen.

[...] So wurde grober

Eigennutz zur Leidenschaft, und zugleich seine Maxime zum Resultat des höch-

sten Verstandes; und dies machte die Leidenschaft so gefährlich und unüberwindlich. (Ebd.)

Hier dachte Novalis nicht nur an die Regierungszeit Friedrichs des GroBen, sondern

galt neue er in »Wie

auch an den Berliner Hof unter Friedrich Wilhelm

damals als ein Zentrum des allgemeinen König, Friedrich Wilhelm II, sich davon Preußen eine neue Ära zu beginnen. An ihn herrlich wär es, wenn der jetzige König

II.: Der

Sittenverfalls. Indem der vorteilhaft abhob, schien appellierte Novalis daher: sich wahrhaft überzeugte,

daß man auf diesem Wege [d.h. dem Wege des Eigennutzes - K. P.] nur das flüchtige Glück eines Spielers machen könne« (ebd.), das davon abhänge, daß man andere übervorteile, und das deshalb nie von Dauer sei.

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Novalis, Fichte, Adam Müller

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Und Novalis beendet dieses wichtige Fragment mit einer Feststellung und einer Frage, die im Keim seinen ganzen staatsphilosophischen Gegenentwurf enchält: Uneigennützige Liebe ım Herzen und ihre Maxime im Kopf, das isc die alleinige, ewige Basis aller wahrhaften, unzertrennlichen Verbindung, und was ist die Staatsverbindung anders, als eine Ehe? (Ebd.)?

Und da sind wir wieder bei Heinrich und Mathilde und den »Flammenfictichen« ihrer Liebe in dem Roman. Woher kam Novalis die Idee dieses Staates, der auf der Liebe gründet, die Familie zum Vorbild hat und eine

Ehe ist? Die Vorstellung vom Fürsten als Landesvater und den Bürgern als Landeskindern war damals nicht neu. Neu dagegen war die Dominanz der patriarchalischen Kleinfamilie im Bürgertum des 18. Jahrhunderts, deren Mitglieder, Eltern und Kinder, durch starke emotionale Bindungen eine besonders enge Gemeinschafe bilden. Als Grund dafür nennen Michael Mitrerauer und Reinhard Sieder in ihrem Buch »Vom Parriarchat zur Partnrerschaft. Zum Strukturwandel der Familie« (1977) die veränderten Ar-

beitsbedingungen. Während in der Vergangenheit Familie und Arbeitsplatz auch im Bürgertum nicht grundsätzlich getrennt waren, oft die ganze Familie am Arbeitsprozeß teilnahm, traten im Verlauf des 18. Jahrhunderts beide Lebensbereiche — zumindest in Teilen der Gesellschaft — immer weiter auseinander. Diese Entwicklung verkleinerte die Familie. Saßen vorher mehrere Generationen um den Tisch, dazu weitläufigere Verwandte und oft auch Gesellen und Lehrlinge, so waren es jetzt nur noch die Eltern

und die Kinder. Erstmals genoß die Familie eine Stabilität, die es vorher nicht gab. Ökonomische Gründe bei der Wahl von Ehepartnern verloren an Dringlichkeit. Die Lebenszeit der Erwachsenen wurde länger, die Kindersterblichkeit, der eine hohe Geburtenrate entsprach, ging zurück, und die Zahl der Kinder nahm ab. All dies bewirkte, daß Eltern und Kinder länger und enger zusammenwuchsen. Intensive Gefühle und Intimität wa-

ren die Folge.'° Wie ernst es Novalis mit seiner Hoffnung auf das preußische Königspaar damals war, bezeugt eine andere Stelle: »Es würde ein sehr gefährliches Symptom des Neupreußischen Staats sein, wenn man zu stumpf für die wohlthätigen Einflüsse des Königs und der

Königin wäre, wenn es in der Thar an Sinn für dieses klassische Menschenpaar gebräche. Das muß sich in Kurzem offenbaren. Wirken diese Genien nichts, so ist die vollkommene

Auflösung der modernen Welt gewiß [...]« (11,492:28). — Zu Norvalis’ Beschäftigung mit Fichtes Naturrechtslehre vgl. Mähl: Einleitung zu den »Fichte-Scudien« des Novalis

{11,783-87). "© Mirterauer, Michael/Sieder,

Reinhard:

wandel der Familie. 4. Aufl. München

Vom

Parriarchat zur Partnerschaft. Zum

ı991, 8. 72-99.

Struktur-

Vgl. auch schon Weber-Keller-

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Klaus Peter

Jürgen Habermas hebt in seinem Buch »Strukturwandel der Öffentlichkeit< (1962) die parriarchalische Kleinfamilie im 18. Jahrhundert von der traditionellen Großfamilie des Adels ab. Die Großfamilie entsprach der »repräsentativen Öffentlichkeit« in der feudalen Welt, in der private Interessen politischen meist

unter- und nachgeordnet

wurden.

Dagegen

eta-

blierte sich die Kleinfamilie als die Institution, in der die Bürger nicht nur vor der »Welt«

Schurz suchten,

sondern

sich auch durch Moralität

überlegen fühlten. Für das Bürgertum wurde die Familie zu einem Ort, an dem sich Humanität quasi rein entfalten konnte. Während in der Politik und in der Öffentlichkeit überhaupt verlangt wurde, Rücksichten zu nehmen und Kompromisse zu schließen, blieb das Subjekt in der Privatsphäre der Familie mit sich und seinesgleichen allein. Nach Habermas waren es deshalb drei Momente, die die Familie den Bürgern empfahlen: die Abwesenheit von Zwang, die Liebe und die Erziehung. Habermas: die Familie »scheint freiwillig und von freien Einzelnen begründet und ohne Zwang aufrechterhalten zu werden; sie scheint auf der dauerhaften Liebesgemeinschaft der beiden Gatten zu beruhen; sie scheint jene zweckfreie Entfaltung aller Fähigkeiten zu gewähren, die die gebildete Persönlichkeit auszeichnet«. Und weiter: Die drei Momente der Freiwilligkeit, der Liebesgemeinschaft und der Bildung

schließen sich zu einem Begriff der Humanität zusammen, die der Menschheit als solcher innewohnen soll und wahrhaft ihre absolute Stellung erst ausmacht: die im Worte des rein und bloß Menschlichen noch anklingende Emanzipation eines nach eigenen Gesetzen sich vollziehenden Inneren von äußerem jeder Art."

Zweck

Diese allgemeine Entwicklung bildete selbstverständlich auch die Voraussetzung für die Staatsphilosophie des Novalis. Die Idee der Familie basierte auf der wachsenden Dominanz der patriarchalischen Kleinfamilie im Bürgertum des 18. Jahrhunderts. Zwar gehörte Novalis selbst dem Adel an; aber die Vermögensumstände seiner Familie zwangen ihn — wie schon seinen Vater —, einen bürgerlichen Beruf auszuüben, und so war es nur konsequent, wenn er auch als Philosoph und Dichter bürgerlich dachte,

bürgerliche Ideen aufgriff und weiterentwickelte. Von spezifischer Bedeumann, Ingeborg: Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichtre. Frankfurt am Main 1974, 8. 98-102. "7 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. 3. Aufl. Neuwied 1968, 5. 59. Vgl. auch Kiesel, Helmuth/

Münch, Paul: Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Markets in Deutschland. München

1977, 8. 42-67.

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Novalis, Fichte, Adam Müller

251

tung war dabei für ihn allerdings auch die Tradition des Pietismus. Gerhard Kaiser zeigt in seinem Buch »Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland: (1973) die auch bei Novalis wesentliche Verbindung von pietistischem Gedankengut und Staatsidee. Die Moral trat im Pietismus als Religion auf, urteilte deshalb aber nicht weniger radikal über Politisches. Die Abkehr von der Welt, die der Pietismus predigte, implizierte Kritik. Bekämpft wurden weltlicher Reichtum und Luxus, Egoismus und Selbstsuche, gefordert wurden Nächstenliebe und, in Zusammenhang damit: soziales Engagement. Kaiser: Dadurch, daß der Pietismus die Forderung der Liebe und der praktischen, dem Nächsten dienenden Frömmigkeit aufs äußerste betont und andererseits aus einem strengen Arbeitsechos den Müßiggang scharf ablehnt, wird in seinem Einflußraum die bis dahin mehr oder weniger ungeregelt carıtative Tätigkeit zu

einer reformerischen Sozialpolitik."* Bei dem Pietisten August Hermann Francke finder sich auch bereits die entsprechende Idee des Staates. Der Staat, so berichter Kaiser, wird bei ihm »aus einer reinen Zweckinstitution, wie ihn die Rationalisten auffassen, zu

einem ideellen Wert — Werkzeug Gottes für die Erziehung und Bildung der Menschen nach seinem Heilsplan«.'? In diesem Kontext gedieh der Patriotismus, der das religiöse Gefühl

auf den Scaat, auf das Vaterland,

übertrug und damit die Moralisierung der Politik zum Ziel eines umfassenden Reformprogramms machte. Enthusiasmus, die Kraft der Entrükkung, die Evokation einer neuen Welt sind wesentliche Elemente dieses Programms; Novalis brauchte sich nur zu bedienen.'* Die Entstehung von Novalis’ Staatsphilosophie läße sich freilich arn besten in seiner Auseinandersetzung mit Fichte verfolgen. Und zwar mit dem Fichte der Revolutionsschriften und der Wissenschaftslehre. Das wichtigste Zeugnis dieser Auseinandersetzung sind die »Fichte-Scudien« von 1795/96. Wenn bei Fichte die revolutionäre Moral-Philosophie unver-

bunden — in der Terminologie der Zeit: abstrakt — neben der späteren Naturrechtslehre steht und Fichte deshalb nicht in der Lage war, eine Lehre für die moralische Verbesserung des Staates zu entwickeln, so kritisierte Novalis die »Abstraktheit«

der Fichceschen Moral, um

sie für die

Reform des Staates benutzbar zu machen. Nicht die generelle Verdam-

"2 Kaiser, Gerhard: Pietismus und Parriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation. Frankfurt am Main 1973, $. 38.

"3Ebd., 5. 39. “47Zu Novalis vgl. ebd., 8. s3ff.

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Klaus Peter

mung des Staates und schließlich seine Abschaffung — Anarchie — sollten Ziel

das

der Moral

sein,

sondern

seine

Transformation.

»absoluce Ich« der » Wissenschaftslehre«.

Kritisiert

wird

Zwar sei das Erkennen,

also

so

argumentierte Novalis, ganz so wie Fichte im Anschluß an Kant lehrte, vom Ich abhängig, aber dieses Ich sei kein isoliertes Ich. Das Ich, so Novalis’ über Fichte hinausgehende Einsicht, ist immer zugleich auch Teil eines übergeordneten Ganzen, der Gattung nämlich, die eine Geschichte hat und in der Natur verankert ist. An einer zentralen Stelle der »FichteStudien« notierte Novalis in diesem Zusammenhang: Die Fähigkeit des Seyn Erkennens können wir im Einzelnen finden — wo ein Erkennen

ist —

ist auch ein Seyn.

Aus den Veränderungen

dieses Einzelnen

können wir nicht auf Aufhören des Seyns und Erkennens schließen. Als Gatrung hören wir nicht auf, aber als Einzelnes. Das Erkennen ist ein allgemeiner Zustand, der nicht an einen einzelnen Fall gebunden ist. (II,248:462)

Auch Kanr und Fichte erkannten in jedem einzelnen Menschen die Gartung, im empirischen Ich das transzendentale. Aber das transzendentale Ich bleibt hier doch immer, in den Worten des Novalis: »an einen einzel-

nen Fall gebunden«.

Geschichte, d.h. qualitative Veränderung,

ist bei

Kant und Fichte im transzendentalen Bereich undenkbar, weil sie auf dem

Einzelfall beharren. Dagegen Novalis: Wenn wir von uns sprechen, so reden wir von der Gattung und dem Einzelnen.

Unser Ich ist Gattung und Einzelnes — allg[emein] und bes[onders]. Die zufällige, oder einzelne Form unsers Ich hört nur für die einzelne Form auf — der

Tod macht nur dem Egoismus ein Ende. (II,248f.:462)

Als Gattung lebt das Ich weiter in der Geschichte, nur als einzelnes stirbt es. Eindeurig läßt sich so der Egoismus definieren: als Festhalten am Ich

als Einzelfall. Da Fichte überhaupt nur den Einzelfall kennt, muß er im Naturrecht mit ihm rechnen. Novalis dagegen, dem die Gattung das Entscheidende ist, erkennt hier, indem er den Einzelfall relativiert, die Mög-

lichkeit, den Egoismus

zu überwinden. Der »Tod«

wird sozialpolitisch

gedeuter als das Ende der Fixierung ans einzelne, ans besondere Ich.

Die Relevanz dieser Überlegungen für die Staatsphilosophie liegt auf der Hand. Novalis spricht an dieser Stelle allerdings nicht vom Staat, seine Überlegungen sind viel allgemeinerer Natur. Trotzdem lassen sie sich ohne weiteres auf den Staar übertragen: Die einzelne Form bleibt nur für das Ganze, insofern sie eine Allgemeine geworden war. Wir sprechen vom Ich — als Einem, und es sind doch Zwey, die

durchaus

verschieden

sind



aber absolute

Correlara.

Das

Zufällige

muß

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Novalis, Fichte, Adam

Müller

253

schwinden, das Gute muß bleiben. Das Zufällige war zufällig, das wesentliche bleibt wesentlich. (Ebd.)

Der Mensch ist aufgefordert, »allgemein« und d.h. »wesentlich« zu wer-

den und damit Teil des »Ganzen«. Und dann der wichtige Satz: » Was du wircklich liebst, das bleibt Dir« (ebd.). Und

dazu die Anmerkung:

»Man

weiß nicht, was man wünscht, wenn man das Zufällige fixieren möchte — über Lzebe« (ebd.). So kam Novalis bereies in den »Fichre-Studien« auf die

Idee der Liebe, die das Festhalten am Zufälligen überwinden

soll und

damit den Egoismus. Am Ende der »Fichte-Studien« ist dann auch erstmals

vom Staat die Rede, und Novalis tastet sich zu den relevanten Fragen vor. Wenn den bisherigen Staaten eine Kraft fehlt, die alle Teile zum Ganzen verbinden kann, sind sie dann überhaupt Staaten? Novalis: Unsre Staaren sind nur Agglomerationen. Staaten im eigentlichen Sinne des Worts, sind nur mittelst einer sehr idealischen Einbildungskraft denkbar? Unsre Staaten sind Staacen — sie sind keine. Wie besteht dies? (II,290f.:651)

Es fehlt die Liebe, und so steht denn auch am Ende dieser Aufzeichnung die für Novalis entscheidende Erkenntnis: »Liebe — als synthetische Krafc« (II,292:65 1). Ein erster Entwurf des alternativen Staates finder sich dann am Schluß

der »Vermischten Bemerkungen«, in dem Teil der »Bemerkungen« allerdings, der 1798 nicht ins »Athenäum« aufgenommen wurde. Novalis experimentiert mit dem Verhältnis von Monarchie und Demokratie, den beiden

Verfassungsformen, die im Anschluß an die Französische Revolution damals zur Diskussion standen. Novalis: Kühnheir

kann

man

den

theoretischen Politikern

noch eingefallen zu versuchen schlechterdings,

als Elernente



nicht vorwerfen.

ob nicht Monarchie

eines wahren



Universal-Staats,

und

Keinem

ist

Demokratie

vereinigt werden

müßten und könnten? (II,468:122)

Novalis lehnte die konstitutionelle Monarchie ä la England ab, die »gemäBigte Regierungsform«, die zwar auch Monarchie und Demokratie zu vereinigen sucht, die jedoch als »halber Staat« und »halber Naturscand« ei-

nen Kompromiß darstelle, der keine Seite befriedigen kann. Die Einheit des Entgegengesetzten führt nach Novalis hier nicht zu wirklicher Durchdringung, sondern ist »eine künstliche, sehr zerbrechliche Maschine«, die

»allen genialischen Köpfen höchst zuwider«, aber leider gegenwärtig sehr populär sei, das »Steckenpferd unsrer Zeit« (ebd.). Und Novalis spekulierte: »Ließe sich diese Maschine in ein lebendiges, autonomes Wesen verwandeln, so wäre das große Problem gelößt« (ebd.). Indem er Demokra-

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Klaus Perer

tie mit Freiheit, Monarchie mit Zwang

und beide auch mit Natur bzw.

Kunst identifiziert, sieht die Lösung des Problems dann so aus: Naturwillkühr und Kunstzwang durchdringen sich, wenn man sie in Geist auflößt. Der Geist macht beydes flüssig. Der Geist ist jederzeit po&tisch. Der po&tische Staat — ist der wahrhafte, vollkommne Staat. (Ebd.}

Der poetische Geist jedoch, der das Wunder des vollkommnen Staates allein vollbringen kann, ist die Liebe. Nur sie verbinder Freiheit und Zwang auf eine Weise, die Anarchie und Diktatur gleichermaßen ausschließt. Novalis: Ein sehr geistvoller Staat wird von selbst po&tisch seyn — Je mehr Geist, und geistiges Verkehr im Scaat ist, desco mehr wird er sich dem po£tischen nähern — desto freudiger wird jeder darinn aus Liebe zu dem Schönen, großen Individuo, seine Ansprüche beschränken und die nöchigen Aufopferungen machen wollen [.. -]. (Ebd.)

Der Geist des Staates verschmilzt mit dem Geist jedes einzelnen seiner Bürger, und das einzige Gesetz, das jeder zu befolgen hat, lautet: »Sey so gut und poätisch, als möglich« (ebd.).

Mehrere Einflüsse wirkten demnach zusammen, die Staatsphilosophie des Novalis in »Gliauben und Liebe< zu begründen. Die wachsende Dominanz der parriarchalischen Kleinfamilie im Bürgertum des 18. Jahrhunderts und die an sie geknüpfte Idee einer humanen Gesellschaft; der vom

Pietismus inspirierte neue Patrriotismus und schließlich die Philosophie Fichtes. Andere Einflüsse ließen sich nennen: die enthusiastische Verehrung des Königs und der Königin in den »Jahrbüchern der preußischen

Monarchie unter Friedrich Wilhelm IlI.Cogito< adaptiert. Die Japanischen Romantiker, insbesondere die beiden Literaturkritiker Yasuda Yojürdö (1910-1981) und Kamei Katsuichirö (1907 — 1966), wollten in einer Krisenzeit der Intellektuellen, in der das sozialistische Denken

durch das faschistische Regime unterdrückt wurde, nach dem Vorbild der deutschen Romantik eine von schöpferischer Phantasie und romantischer Ironie getragene und im Boden der japanischen literarischen Tradition wurzelnde Nationalliteratur heraufbeschwören. Ihr Manifest übte damals eine sensationelle Wirkung aus. Von den linksorientierten Literaten und Kritikern wurden sie als reaktionär bezeichner und geächrer. Sacö Haruo

und Hagiwara Sakutarö standen der Bewegung jedoch zur Seice.

°Fumiko, Imaizumi: Köbursu gensö no sekai — Kenji ro Novalis (Die Welt mineralischer Phantasie



Kenji

und

Novalis).

In: Eureka

(April

1994),

8. 96-104.

Vgl.

außerdem:

Dies.: Aoi hana hengen. Nihon ni okeru Novalis juy& no kiseki (Verwandlungen der Blauen Blume — Spuren der Novalisrezeption in Japan). In: Kagamı no naka no roman-

shugi (Das Romantische im Spiegel). Tokyo 1989, $. 190-214.

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292

Nobuc Ikeda

Eine Reihe der begabtesten Schriftsteller der Nachkriegszeit und der Gegenwart wie Dazai Osamu (1919-1948) und Mishima Yukio (1925 —

1970) hatte hier ihre Anfänge. Heute noch gibt es in Japan Debatten um die Bewertung dieser Bewegung, die sich als Nachfolge von Schiegel und Novalis verstanden hat.

Nicht vergessen werden sollten die Namen zweier Germanisten, die sich seit Anfang der Shöwa-Ära (1926- 1989) wissenschaftlich mit Novalis auseinandergeserzt und seine wichtigsten literarischen Werke übersetzt haben: Komakı Takeo (1882-1960) und Suita Junsuke (1883-1963). Komaki Takeo verfaßte unter anderem eine Monographie über Novalis. 1929 veröffentlichte er die erste vollständige Übersetzung von >Heinrich von Ofterdingen«. Seine Arbeit har dazu beigerragen, daß die Werke von Novalis endlich den Weg zu einem breiteren Lesepublikum in Japan finden konnten. Suita Junsuke, der ein Mitglied der Japanischen Romantiker war, vertrat bedauerlicherweise in den 30er Jahren die Ideologie des dritten Reichs, die z.B. ın »Christenheit oder Europa« ein zu verwirklichendes Ziel sah. Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs gewann eine neue Rezep-

tion der deutschen Frühromantiker unter dem Einfluß von französischen Schriftstellern,

wie

Andr&

Gide,

und

Kritikern

der

Genfer

Schule,

wie

Albert Beguin, Beachtung. Einige von der französischen Literatur her ausgehende Autoren wie Nakamura Shin’ichirö (geb. 1918) oder Katayama Toshihiko (1898-1961) haben ein durch den französischen Symbolismus und Surrealismus tradiertes Bild von Novalis vermittelt. Novalis ersteht hier wieder reingewaschen von der von nazistischen Gedanken durchdrungenen Rezeption der Germanistik der 30er Jahre. Nun ist er die Urquelle der symbolischen und metaphorischen Literatur der Moderne. Sein Name wurde eng in die Nähe von Rilke oder Andre Gide gerückt. Diese neue Rezeption hatte großen Einfluß auf die jungen Intellektuellen, die unter dem faschistischen Regime gelitten hatten. Nach dem zweiten Weltkrieg kam in der japanischen Germanistik die Forschung der Romantik nicht zum Stillstand. Und in den Anthologien der Weltliteraturübersetzungen, die in Japan den weiten Bogen von Ho-

mer bis James Joyce umfassen, hat für die »Blaue Blume« nie der Platz gefehlt. Seit den Goer Jahren beschäftigen sich die japanischen Germanisten verstärkt mit Novalis, und die Forschung wird in sehr breitem Rahmen betrieben. Im Vordergrund steht nicht nur die Interpretation der literari-

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Novalisrezeption ın Japan

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schen Werke, sondern auch die Sprachtheorie, die Auseinandersetzung mit

naturwissenschaftlichen Gedanken und mit politischen Ideen sowie mit der Romantheorie von Novalis. Im Jahr 1978 wurde die erste große Sammelausgabe zu Novalis herausgegeben.'° Allerdings sind die Übersetzungen, die dort aufgenommen sind, nicht neu. Viele alte Übertragungen wurden wieder herangezogen. Die Fragmentteile sind jedoch weitgehend ergänzt. Die Herausgabe dieses Sarnmelwerks steht im Zusammenhang mit einem im Lesepublikum neu erweckten Interesse an phantastischer Literarur. Am Ende möchte ich noch einen aktuellen Roman ansprechen, der im Jahr 1993 von dem jungen Autor Okuizumi Hikaru (geb. 1956) als Debütwerk geschrieben wurde. Der Roman heißt »Novalis no in’yö« (NovalisZitate). Vier ehemalige

Studenten erinnern sich an einen Kommilitonen,

der sich das Leben genommen hat, indem er von einem Dach gesprungen ist. In der Zeit der Studentenrevolte beschäftigte er sich als Außenseiter mit Novalis und schrieb eine Arbeit über die »Fragmente«. Das Gespräch

der Ehemaligen

nimmt

in der Auseinanderserzung mit dem

Toten die

Form eines Detektivromans an. Es geht um eine Art Encrätselungsprozeß

ihrer Vergangenheit, die in ihrer gemeinsamen Studentenzeit stehengeblieben ist. Im Roman finden sich scharfsinnige und manchmal sehr treffende Interpretationen der Novalis-Fragmente. Dies zeigt wiederum

sehr deur-

lich, wie weit Novalis in Japan auch außerhalb des akademischen Kreises rezipiert wird. Das Thema des Romans wird durch ein Novalis-Zitat formuliert: »»Der Tod ist eine Selbstüberwindung«. Mir fielen gerade diese Worte von

Novalis

ein.

Aber

was

ist

der

Gegenstand

dieser

Überwindung.

Wenn es ihn nicht gäbe, dann würde der Tod nur die bloße Auslöschung bedeuten«. Ich denke, auch die heutige Novalis-Forschung in Japan befindet sich auf der Spur einer Selbstenträtselung: Es gilt den Anfängen des modernen Japans nachzuspüren, in der die romantische Bewegung trotz ihrer Kürze von großer Wichtigkeit war. Viele Charakteristika der Gegenwartsliteratur lassen sich aus diesem

Phänomen

heraus erklären, und

deshalb streben

die Forscher danach, diese literarurhistorische Periode heute mit größerem

Problembewußtsein zu erfassen.

° Novalis-Zenshü (Schriften von Novalis). 3 Bde. Hrsg. von Yura Kimiyoshi. Tokyo 1976ff.

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Nobuo Ikeda

Aus der Diskussion

Schulz: Vor einer Reihe von Jahren schrieb ein japanischer Verlag an mich

mit der Bitte um Mitarbeit an einer japanischen »Ofterdingen