Die Inanspruchnahme des Fremdentrichtungsschuldners durch Nachforderungsbescheid: Der Verfahrensdualismus zwischen Haftungs- und Nachforderungsverfahren in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft [1 ed.] 9783428583492, 9783428183494

Wenngleich die Abgabenordnung zwei Verfahren zur Inanspruchnahme von Steuerentrichtungs- und Haftungsschuldner vorsieht,

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Die Inanspruchnahme des Fremdentrichtungsschuldners durch Nachforderungsbescheid: Der Verfahrensdualismus zwischen Haftungs- und Nachforderungsverfahren in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft [1 ed.]
 9783428583492, 9783428183494

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Schriften zum Steuerrecht Band 164

Die Inanspruchnahme des Fremdentrichtungsschuldners durch Nachforderungsbescheid Der Verfahrensdualismus zwischen Haftungsund Nachforderungsverfahren in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Von

Elisabeth Märker

Duncker & Humblot · Berlin

ELISABETH MÄRKER

Die Inanspruchnahme des Fremdentrichtungsschuldners durch Nachforderungsbescheid

S c h r i f t e n z u m St e u e r r e c ht Band 164

Die Inanspruchnahme des Fremdentrichtungsschuldners durch Nachforderungsbescheid Der Verfahrensdualismus zwischen Haftungsund Nachforderungsverfahren in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Von

Elisabeth Märker

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Potsdam hat diese Arbeit im Jahr 2021 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 517 Alle Rechte vorbehalten

© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0235 ISBN 978-3-428-18349-4 (Print) ISBN 978-3-428-58349-2 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Wenngleich die Abgabenordnung zwei voneinander getrennte Verfahren zur Inanspruchnahme von Steuerentrichtungs- und Haftungsschuldner vorsieht, führt die im Rahmen der AO-Reform im Jahr 1990 erfolgte Aufnahme des Haftungsschuldners in § 167 Abs. 1 S. 1 AO zur Vermischung beider Verfahren. Kann das von Rechtsprechung und Finanzverwaltung diesbezüglich praktizierte Wahlrecht zwischen beiden Verfahren und die Vermengung derer Voraussetzungen im Rahmen der Eingriffsverwaltung zulässig sein? Ist es „rechtens“, den Fremdentrichtungsschuldner in bestimmten Fällen final mit der Steuerschuld eines anderen zu belasten? Oder könnte durch Anpassung des § 167 AO eine „gerechtere“ Lösung herbeigeführt werden? Nach Untersuchung des Themas wird die Arbeit mit einem Reformvorschlag abgerundet, auf dessen Grundlage dem Problem des Verfahrensdualismus de lege ferenda begegnet werden könnte. Großer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Andreas Musil, für die Unterstützung und Annahme meiner Arbeit. Ebenso danke ich meinem Zweitgutachter, Herrn Dr. Lammers, der mich bei der Wahl eines verfahrensrechtlichen Themas ermutigt hat. Darüber hinaus möchte ich mich herzlich bei dem Steuerteam um Dr. Hardy Fischer und Sören Reckwardt bedanken, die mir die Erstellung der Dissertation neben meiner Tätigkeit als Rechtsanwalt ermöglicht haben. Besonderer Dank gilt meinem Kollegen Dr. David Hötzel für die fortlaufende Unterstützung, Motivation und Inspiration. Mein herzlichster Dank und die Widmung dieser Arbeit gilt meiner Familie sowie meinem Lebenspartner Martin Creutziger. Sie haben mir ein solches Projekt von der Aufnahme bis hin zur Beendigung ermöglicht und mich in unzähliger Hinsicht unterstützt. Die Arbeit wurde im April 2020 der Juristischen Fakultät der Universität Potsdam vorgelegt. Finsterwalde, März 2021

Elisabeth Märker

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I.

Hinleitung zum Bearbeitungsthema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

II.

Die Problematik des Verfahrensdualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

III. Modus Operandi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 IV. Finis Operandi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 A. Die Geltendmachung der Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens . . . 23 I.

Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1. Gesetzeshistorie des Haftungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2. Sinn und Zweck der Haftung im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3. Entstehung der Haftungsschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

II.

Festsetzung der Haftungsschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1. Anwendbare Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 a) Anwendbarkeit der §§ 163 ff. AO auf Haftungsbescheide . . . . . . . . . . . . 33 b) Anwendbarkeit des § 166 AO auf Haftungsbescheide . . . . . . . . . . . . . . . 33 c) Schätzung der Haftungsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 d) Änderungsvorschriften für Haftungsbescheide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 e) Festsetzungsverjährung der Haftungsschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 f) Anwendbarkeit der § 155 ff. AO auf Haftungsbescheide . . . . . . . . . . . . . 43 aa) Zusammengefasste Haftungsbescheide nach § 155 Abs. 3 AO . . . . . 43 bb) Sonstige Verfahrensvorschriften für Haftungsbescheide . . . . . . . . . 44 2. Formelle Verfahrensvoraussetzungen des Haftungsbescheids . . . . . . . . . . . . 45 a) Zuständigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 aa) Zuständigkeit Lohnsteuerhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 bb) Zuständigkeit Kapitalertragsteuerhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 cc) Zuständigkeit Bauabzugsteuerhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 dd) Zuständigkeit Haftung für den Steuerabzug nach § 50a EStG . . . . . 49 ee) Zuständigkeit Haftung für Versicherungsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 b) Anhörungserfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 aa) Anzuhörender Personenkreis nach § 91 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 bb) Anzuhörender Personenkreis nach VwVfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

8

Inhaltsverzeichnis cc) Anzuhörender Personenkreis nach SGB X . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 dd) Hinzuziehung Dritter im Steuerverwaltungsverfahren . . . . . . . . . . . 53 ee) Analoge Anwendung der Hinzuziehungsvorschriften aus VwVfG / ​ SGB X . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 ff) Schlussfolgerungen für die Anhörungspflicht im Haftungsverfahren 56 c) Form des Haftungsbescheids . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3. Tatbestandliche Anforderungen an den Haftungsbescheid . . . . . . . . . . . . . . 59 a) Haftung kraft Gesetzes für eine Steuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 aa) Der Begriff der Steuer in § 191 Abs. 1 S. 1 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 bb) Aufbau der Haftungstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 (1) Aufbau des Tatbestands der Lohnsteuerhaftung . . . . . . . . . . . . . 63 (2) Aufbau des Tatbestands der Kapitalertragsteuerhaftung . . . . . . 68 (3) Aufbau des Tatbestands der Bauabzugsteuerhaftung . . . . . . . . . 73 (4) Aufbau des Tatbestands der Haftung beim Steuerabzug nach § 50a EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 (5) Aufbau des Tatbestands der Versicherungsteuerhaftung . . . . . . 77 b) Vorliegen einer Haftungsschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 aa) Grundsatz der Akzessorietät der Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 bb) Grenzen der Akzessorietät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 cc) Einfluss der Akzessorietät auf die Gesamtschuldnerschaft . . . . . . . 86 (1) Vergleich zur Bürgschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 (2) Vergleich zum Schuldbeitritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 (3) Vergleich zur Hypothek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 (4) Ergebnis Vergleichbarkeit steuerrechtlicher und zivilrechtlicher Akzessorietät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 dd) Subsidiarität der Haftung auf Tatbestandsebene . . . . . . . . . . . . . . . . 92 4. Der Haftungsbescheid als Ermessensentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 a) Entschließungsermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 aa) Subsidiarität auf Ermessensebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 bb) Primärschuldbezogene Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 cc) Primärschuldnerbezogene Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 dd) Haftungsschuldbezogene Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 ee) Haftungsschuldnerbezogene Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 ff) Finanzbehördenbezogene Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 gg) Tatbestandlicher Ausschluss des Ermessens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 hh) Rechtsfolgenermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 b) Auswahlermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 aa) Keine Rangfolge der Haftungsschuldner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

Inhaltsverzeichnis

9

(1) Abstraktes Verhältnis der Haftungstatbestände . . . . . . . . . . . . . 107 (2) Konkretes Verhältnis der Haftungsschuldner . . . . . . . . . . . . . . . 109 bb) Einfluss der finanzbehördlichen Beitreibungsaussichten . . . . . . . . . 110 (1) Vorgehensweise für den Vergleich der Vollstreckungsaussichten 110 (2) Rechtliche Grundlagen der inländischen Vollstreckung . . . . . . 111 (3) Beitreibungshilfe nach dem EUBeitrG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 (4) Verhältnis des EUBeitrG zum OECD-MA . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 (5) Verhältnis des EUBeitrG zu den europäischen DBA . . . . . . . . . 118 (6) Verhältnis des EUBeitrG zu den Amtshilferegelungen der Konvention des Europarats und der OECD in Steuersachen . . . . . . 120 (7) Fazit: Vergleichbarkeit bei Vollstreckungsschuldnern im EU-Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 (8) Beitreibungshilfe von Drittstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 (9) Vollzugsdefizite aus staatlichen Vollstreckungsregelungen . . . . 123 (10) Vollzugsdefizite im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 cc) Einfluss der zivilrechtlichen Regressaussichten beim Steuerschuldner 124 (1) Zivilrechtliche Regressgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 (2) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 dd) Haftungsschuldnerbezogene Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 c) Begründung der Ermessensentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 III. Erhebung der Haftungsschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 1. Anwendbarkeit des § 219 S. 2 AO auf die Versicherungsteuer . . . . . . . . . . . 130 2. Anwendbarkeit des § 219 S. 2 AO auf die Bauabzugsteuer . . . . . . . . . . . . . . 130 3. Ermessensentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 B. Die Geltendmachung der Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens 133 I.

Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 1. Gesetzeshistorie der Steueranmeldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 a) Historie der Steueranmeldung in der Abgabenordnung . . . . . . . . . . . . . . 134 aa) Regelungen der RAO von 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 bb) Schwesterregelungen in der Abgabenordnung der DDR . . . . . . . . . 140 b) Historie der Steueranmeldung in Spezialsteuergesetzen und Rechts­ verordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 aa) Historie der Lohnsteueranmeldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 bb) Historie der Kapitalertragsteueranmeldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 cc) Historie der Bauabzugsteueranmeldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 dd) Historie der Anmeldung für beschränkt steuerpflichtige Einkünfte . 146 ee) Historie der Versicherungsteueranmeldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

10

Inhaltsverzeichnis c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 2. Sinn und Zweck der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 3. Entstehung des Nachforderungsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 II.

Festsetzung der Haftungsschuld durch Nachforderungsbescheid . . . . . . . . . . . . 155 1. Anwendbare Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 a) Änderung der Nachforderungsbescheide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 b) Schätzung der Besteuerungsgrundlagen im Nachforderungsverfahren . . 156 c) Bindungswirkung des § 166 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 aa) Drittwirkungsgeeignetheit vorbehaltsbehafteter Nachforderungs­ bescheide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 bb) Drittwirkungsadressaten des Nachforderungsbescheids . . . . . . . . . . 161 (1) Steuerschuldner als Drittwirkungsadressat . . . . . . . . . . . . . . . . 162 (2) Haftungsschuldner als Drittwirkungsadressat . . . . . . . . . . . . . . 167 2. Formelle Verfahrensvoraussetzungen des Nachforderungsbescheids . . . . . . 168 a) Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 aa) Zuständigkeit für die Lohnsteuernachforderung . . . . . . . . . . . . . . . . 169 bb) Zuständigkeit für die Kapitalertragsteuernachforderung . . . . . . . . . 169 cc) Zuständigkeit für die Bauabzugsteuernachforderung . . . . . . . . . . . . 169 dd) Zuständigkeit für Nachforderungen beim Steuerabzug nach § 50a EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 ee) Zuständigkeit für die Versicherungsteuernachforderung . . . . . . . . . 170 ff) Anwendbarkeit der Zuständigkeitsregelungen für Haftungsbescheide 170 b) Anhörungserfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 c) Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 aa) Angabe des Steuerschuldners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 bb) Adressat des Nachforderungsbescheids / Bekanntgabeadressaten . . . 173 3. Tatbestandliche Anforderungen an den Nachforderungsbescheid . . . . . . . . . 174 a) Gesetzliche Anmeldepflicht des Haftungsschuldners . . . . . . . . . . . . . . . 174 aa) Anmeldepflichten mit Fremdschuldnerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 bb) Relevanz der Abgabe des Milcherzeugers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 cc) Außer Kraft: § 7 BefStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 dd) Begriff der Steueranmeldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 ee) Gegenstand einer Steueranmeldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 ff) Abgrenzung zwischen Entrichtungs- und Haftungsschuld . . . . . . . 180 b) Abweichende Festsetzung oder Unterlassen der Anmeldung . . . . . . . . . 184 c) Materielle Voraussetzungen der Haftungstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . 184 d) Vorliegen einer akzessorischen Steuerschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 4. Ermessensentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

Inhaltsverzeichnis

11

5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 III. Erhebungsverfahren beim Nachforderungsbescheid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 1. Wortlaut der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 2. Aussagen der Kommentierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 3. Gesetzeshistorische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 4. Gesetzesbegründung zur Abgabenordnung 1977 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 5. Analoge Anwendung des § 219 S. 1 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 C. Vergleich von Haftungs- und Nachforderungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 I.

Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 1. Historische Entwicklung des Verfahrensdualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 a) Reichsabgabenordnung 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 b) Reichsabgabenordnung bis 1976 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 c) Abgabenordnung 1977–1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 d) Abgabenordnung ab 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 e) Jüngere Kritik an dem Verfahrensdualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 f) Kodifizierung des Wahlrechts im Versicherungsteuergesetz 2012 . . . . . . 214 g) Abgabenordnung der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 h) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 2. Sinn und Zweck der Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 3. Entstehung der Ansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

II.

Derzeitiger Meinungsstand zum Verfahrensdualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

III. Vergleich der Festsetzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 1. Anwendbare Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 a) Anwendbarkeit der §§ 164 f. AO und Änderungsvorschriften . . . . . . . . . 220 b) Anwendbarkeit des § 162 AO – Schätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 c) Festsetzungsverjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 d) Einfluss des § 166 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 e) Anwendbarkeit der §§ 155 ff. AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 2. Vergleich der formellen Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 a) Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 b) Anhörungserfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 c) Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 d) Systematik der Abgabenordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 3. Vergleich der materiellen Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228

12

Inhaltsverzeichnis a) Umfang der Geltendmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 b) Entrichtungs- und Haftungsschuldnerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 c) Bestehen einer Primärsteuerschuld / Akzessorietät . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 4. Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 5. Vergleich der Erhebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 IV. Stellungnahme zur Vergleichbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 1. Identische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 2. Vergleichbare Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 3. Nicht vergleichbare Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 V.

Vergleich zur wahldeutigen Inanspruchnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

VI. Verfassungskonformität der Inanspruchnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 1. Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 a) Vorrang des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 b) Vorbehalt des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 c) Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 d) Zulässigkeit eines Wahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 2. Art. 14 GG / Art. 12 GG / Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 3. Art. 3 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 4. Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 5. Keine Verfassungskonformität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 VII. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 D. Verfahrensrechtliche Folgen des Dualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 I.

Exklusivität der Verfahren oder echter Dualismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 1. Gründe einer zweiten Inanspruchnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 a) Änderungen der Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 b) Änderungen von Ermessenserwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 c) Auswirkungen des Einspruchsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 2. Systematik der Abgabenordnung und der Einzelsteuergesetze . . . . . . . . . . . 244 a) Vergleich zu anderen Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 b) Rückschlüsse aus § 86 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 3. Auswirkungen der Bestandskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 4. Zweiterlass nach Vollzug des Erststeuerverwaltungsakts . . . . . . . . . . . . . . . 249 5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

Inhaltsverzeichnis II.

13

Qualifikation nachfolgender Steuerverwaltungsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 1. Qualifikation als Zweitbescheid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 2. Qualifikation als wiederholende Verfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

III. Wechsel der Verfahrensarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 1. Verfahrenswechsel vor / nach Anhörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 2. Verfahrenswechsel durch Umdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 a) Voraussetzungen der Umdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 b) Zulässigkeit der Umdeutung eines Nachforderungs- in einen Haftungs­ bescheid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 aa) Derzeitiger Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 bb) Umdeutung in anderen Rechtsgebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 c) Zulässigkeit der Umdeutung eines Haftungs- in einen Nachforderungs­ bescheid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 E. Überlegungen de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 I.

Konkrete Änderungsvorschläge zum Verfahrensdualismus . . . . . . . . . . . . . . . . 260 1. Variante – Wahlrecht mit vollwertiger Steuerschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 a) Berichtigung des § 167 Abs. 1 S. 1 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 b) Wahlrechte in der AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 c) Klarstellung der Rechtsnatur der Entrichtungsschuld . . . . . . . . . . . . . . . 261 d) Voraussetzungen der Inanspruchnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 e) Gesamtschuldnerregress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 f) Akzessorietät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 g) Einführung eines gebundenen Wahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 aa) Zeitliche Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 bb) Differenzierung nach der Art der Pflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . 266 cc) Differenzierung zwischen Nichtanmeldung und fehlerhafter Anmeldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 dd) Verschuldenserfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 ee) Differenzierung nach der Höhe der Haftungsschuld . . . . . . . . . . . . . 267 ff) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 2. Variante – Verzicht auf Haftungsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 3. Variante – Kein Nachforderungsbescheid bei Fremdentrichtungsschuldnerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 4. Variante – Weitere Annäherung des Haftungs- an das Steuerbescheid­ verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

14

Inhaltsverzeichnis II.

Änderung des § 191 Abs. 1 S. 1 AO – steuerliche Nebenleistungen . . . . . . . . . . 272

III. Reformvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 F. Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

Abkürzungsverzeichnis a. E. am Ende AEAO Anwendungserlass zur Abgabenordnung AO Abgabenordnung AO-DDR Abgabenordnung der DDR BefStG Beförderungsteuergesetz BFH Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch BGB BGBl. Bundesgesetzblatt BGH Bundesgerichtshof BRD Bundesrepublik Deutschland bspw. beispielsweise BStBl. Bundessteuerblatt BVerfG Bundesverfassungsgericht DBA Doppelbesteuerungsabkommen DDR Deutsche Demokratische Republik EStDV Einkommensteuer-Durchführungsverordnung EStG Einkommensteuergesetz EU Europäische Union EUBeitrG EU-Beitreibungsgesetz FGO Finanzgerichtsordnung FVG Gesetz über die Finanzverwaltung GG Grundgesetz ggf. gegebenenfalls i. S. d. im Sinne des i. V. m. in Verbindung mit KapStDV Kapitalertragsteuer-Durchführungsverordnung Konvention Amtshilferegelungen der Konvention des Europarats und der OECD in Steuersachen vom 25. 01. 1988/27. 05. 2010 mit weiteren Nachweisen m. w. N. MGV Verordnung über die Abgaben im Rahmen von Garantiemengen im Bereich der Marktorganisation für Milch und Milcherzeugnisse (MilchGaran­tiemengen-Verordnung) NSOG Niedersächsisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung OECD-MA OECD-Musterabkommen PolG Polizeigesetz RAO Reichsabgabenordnung SGB X Zehntes Buch Sozialgesetzbuch UStG Umsatzsteuergesetz VersStG Versicherungsteuergesetz vgl. vergleiche

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Abkürzungsverzeichnis

VwGO Verwaltungsgerichtsordnung VwVfG Verwaltungsverfahrensgesetz zum Beispiel z. B.

Einleitung I. Hinleitung zum Bearbeitungsthema § 33 AO qualifiziert Steuerschuldner, Haftungsschuldner und Entrichtungsschuldner als Steuerpflichtige. Die Norm liefert die Antwort darauf, welche Arten von Steuerpflichtigen auf Grundlage der Abgabenordnung in Anspruch genommen werden können. Infolge dieser Klassifizierung sind die Personenkreise nach unterschiedlichen Vorschriften der Abgabenordnung und grundsätzlich auf unterschiedlichen Verfahrenswegen in Anspruch zu nehmen. Es ergeben sich hieraus Auswirkungen auf das „Wodurch“ und das „Wie“ der Inanspruchnahme durch die Finanzverwaltung. Teilweise werden diese Personenkreise durch außerhalb der Abgabenordnung liegende Normen mit weitergehenden Funktionen und Pflichten ausgestaltet. Im Lichte der Abgabenordnung als Mantelgesetz muss das personelle Dreiergespann aus Steuerschuldner, Haftungsschuldner und Entrichtungsschuldner auf seine Funktionen und Wechselwirkungen untersucht werden. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass ein Mantelgesetz eine Einheitlichkeit der Begrifflichkeiten herzustellen sucht.1 Daneben muss auch der Einfluss der Spezialsteuergesetze auf die Funktion der verschiedenen Klassen von Steuerpflichtigen betrachtet werden. Die sich aus der Unterscheidung der Abgabenordnung in verschiedene Gruppen von Steuerpflichtigen ergebende Kernfrage lautet hierbei: Welche Gruppe von Steuerpflichtigen darf auf Grundlage welcher normativen Ermächtigung unter Einhaltung welcher formellen und materiellen Anforderungen in Anspruch genommen werden? Für den Steuerschuldner vermag diese Frage für die hiesig betrachtete Konstellationen von Abzugssteuern mit Fremdentrichtungsschuldnerschaft einfacher zu beantworten sein. Der Steuerschuldner als Primärschuldner der Abzugssteuern wird durch Steuerbescheid in Anspruch genommen. Die Inanspruchnahme des Steuerschuldners auf Primärebene durch Steuerbescheid soll in der vorliegenden Arbeit nicht vertieft und nur am Rande betrachtet werden. In Bezug auf Haftungs- und Entrichtungsschuldnerschaft ergeben sich hingegen viele offene Fragestellungen und zu hinterfragende Praxen der Finanzverwaltung, die im Folgenden dargestellt und näher untersucht werden.

1

Drüen, in: DStR 2019, 2657, 2657.

18

Einleitung

II. Die Problematik des Verfahrensdualismus Die Freude der Finanzverwaltung einen Haftungsschuldner vermeintlich im Wege eines Nachforderungsbescheids in Anspruch nehmen zu können,2 führt kehrseitig zum Leid des Haftungsschuldners, außerhalb des eigentlich für diesen vorgesehenen Haftungsverfahrens in Anspruch genommen zu werden. Die Finanzverwaltung nimmt trotz der strickten Klassifizierung der Abgabenordnung Haftungsschuldner, die eine Steuerentrichtungspflicht trifft, nach § 167 Abs. 1 S. 1 AO durch Nachforderungsbescheid in Anspruch, wenn der Entrichtungspflichtige eine Steuerschuld nicht oder nicht ordnungsgemäß anmeldet.3 Große Teile der Literatur und Rechtsprechung segnen diese Praxis als rechtmäßige Inanspruchnahme ab.4 Das Problem dieser Inanspruchnahmepraxis ergibt sich aus dem vermeintlichen Dualismus zwischen Nachforderungs- und Haftungsverfahren, zweier Verfahren zum Erlass eines Steuerverwaltungsakts, die grundsätzlich nebeneinander stehen und der Theorie nach keine Überschneidungen haben sollten, da sie verschiedene Ebenen5 der Inanspruchnahme Steuerpflichtiger betreffen. Dennoch kommt es in der derzeitigen Verwaltungspraxis zu Überschneidungen zwischen beiden Verfahrensarten.6 Infolgedessen besteht ein steuerverfahrensrechtliches Inanspruchnahmesystem, welches nicht mehr selbsterklärend ist. Aus der Systematik der Abgabenordnung allein lässt sich vor dem Hintergrund des Verfahrensdualismus nicht mehr ableiten, welches Verfahren zur Inanspruchnahme des Haftungsschuldners dienen kann. Aus der Lektüre der Abgabenordnung ergibt sich keine Abgrenzung zwischen dem einst für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners ausschließlich geschaffenen § 191 Abs. 1 S. 1 AO und dem ebenfalls auf den Haftungsschuldner bezugnehmenden § 167 Abs. 1 S. 1 Var. 2 AO. Doch wie wird dieser Verfahrensdualismus mit vermeintlich gemeinsamer Schnittmenge hergeleitet, der derzeit keiner gesetzlichen Abgrenzung in voneinander zu trennende Anwendungsbereiche zugänglich ist? Die Antwort findet sich in dem Wortlaut zweier Normen verschiedener Verfahrenswege, die dennoch jeweils auf den Haftungsschuldner Bezug nehmen. Wer kraft Gesetzes auf Grund einer Haftungsnorm für eine Steuer haftet, kann als Haftungsschuldner nach § 191 Abs. 1 S. 1 Var. 1 AO durch Haftungsbescheid für die Entrichtung der Steuerschuld als Sekundärschuldner in Anspruch genommen werden. Die als Ermächtigungsgrundlage fungierende Norm ermöglicht es der Finanzbehörde bei Vorliegen der materiellen Haftungsvoraussetzungen7 und

2

So z. B. in BFH, Urteil vom 28. 01. 2015 – I R 70/13, BStBl. II 2017, 101; m. w. N. So z. B. in BFH, Urteil vom 28. 01. 2015 – I R 70/13, BStBl. II 2017, 101; m. w. N. 4 Vgl. zum Meinungsstand im Einzelnen Kapitel C. II. 5 Seer, in: DStR-Beih 2014, 117, 127: Der Autor verwendet ebenfalls die Bezeichnung „Sekundärebene“ in Abgrenzung zur Inanspruchnahme des Steuerschuldners. 6 Vgl. Kapitel B. 7 Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 18; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 11; m. w. N. 3

II. Die Problematik des Verfahrensdualismus

19

einer korrespondierenden Primärsteuerschuld8 einen Haftungsbescheid gegen den Haftungsschuldner zu erlassen, wenn dies nach Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens zweckmäßig ist.9 Der Finanzverwaltung wird jedoch neben dieser Möglichkeit des Erlass eines Haftungsbescheids zur Inanspruchnahme für anzumeldende und abzuführende Steuerlasten vermeintlich die Möglichkeit eingeräumt, die Haftungsschuld durch Nachforderungsbescheid10 nach § 167  Abs. 1  S. 1  AO gegenüber dem Haftungsschuldner geltend zu machen.11 Ist eine Steuer auf Grund gesetzlicher Verpflichtung nach § 150 Abs. 1 S. 3 AO anzumelden, so muss eine Festsetzung der angemeldeten Steuer durch Steuerbescheid nach § 155 AO nur erfolgen, wenn eine von der Steueranmeldung abweichende Steuer festgesetzt werden soll oder der Steuer- bzw. Haftungsschuldner die notwendige Steueranmeldung nicht abgegeben hat. In allen anderen Fällen steht die eigene Berechnung der Steuer in der Steueranmeldung nach § 168 S. 1 AO einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleich. Der Erlass eines formalen Steuerbescheids ist nicht notwendig. Wenn der Haftungsschuldner eine Steuerschuld eines Primärschuldners in seiner gesetzlich angeordneten Funktion als Entrichtungsschuldner nicht oder nicht ordnungsgemäß angemeldet hat, steht die Anwendbarkeit des § 167 Abs. 1 S. 1 Var. 2 AO in Frage. Dieser ermöglicht der Finanzverwaltung nunmehr vermeintlich, den Erlass eines Steuerbescheids gegenüber dem Haftungsschuldner vorzunehmen, wenn Fehler bei der von diesem abzugebenden Steueranmeldung aufgetreten sind oder keine Abgabe einer solchen erfolgt ist. Diesbezüglich besteht nach derzeitiger Rechtsprechung und wohl überwiegendem Meinungsstand in der Literatur ein Wahlrecht der Finanzverwaltung, welchen Mittels sie sich zur Geltendmachung der Schuld des Entrichtungs- bzw. Haftungsschuldners bedienen möchte.12 Der Haftungsschuldner müsste bei Zugrundelegung eines Wahlrechts nicht – wie von der Abgabenordnung primär vorgesehen – nach § 191 Abs. 1 S. 1 AO durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden. Vielmehr soll unter Anwendung dieser Verwaltungspraxis ein Steuerbescheid in Form eines Nachforderungsbescheids nach § 155 AO i. V. m. § 167 Abs. 1 S. 1 AO gegenüber dem Haftungsschuldner ergehen dürfen. Dabei kommt es augenscheinlich zu einer Vermengung der durch die Abgabenordnung für die jeweiligen Steuerpflichtigen vorgesehenen Verfahrensarten.13 Durch die Wahl eines anderen Verfahrens ändern sich auch die hierbei von der Finanzverwaltung zu beachtenden Verfahrensvoraussetzungen und ggf. 8

Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 19; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 11; m. w. N. Seer, in: Tipke / Lang, § 6, Rn. 84. 10 Zur Herleitung der Bezeichnung des auf § 167 Abs. 1 S. 1 AO fungierenden Bescheids vgl. Kapitel B. I. 11 Vgl. zum Meinungsstand Kapitel C. II. 12 So z. B. BFH, Urteil vom 28. 01. 2015 – I R 70/13, BStBl. II 2017, 101, 102; Cöster, in: König, AO, § 167, Rn. 13 f.; Voß / Meder, in: DStR 2015, 1783, 1784; Nacke, in: DStR 2005, 1297, 1297; AEAO zu § 167, Nr. 5; m. w. N., vgl. zum Meinungsstand Kapitel C. II. 13 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  13. 9

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Einleitung

auch die materiellen Anforderungen an die Inanspruchnahme. Die Nutzung des § 167 Abs. 1 S. 1 AO zur Inanspruchnahme des Haftungsschuldners könnte hierbei zur Umgehung der Voraussetzungen der Haftungsinanspruchnahme führen14. Ein solcher Nachforderungsbescheid in Haftungssachen ergeht derzeit sogar ohne Bindung an eine pflichtgemäße Ermessensausübung.15 Unter Zugrundelegung dieser Praxis ist es für die Inanspruchnahme ohne Belang, ob der Haftungsschuldner seinerseits Regress von dem Primärschuldner verlangen kann. So kann der Primärschuldner zeitweilen zahlungsunfähig, insolvent oder als juristische Person sogar aufgelöst worden sein. In solchen Konstellationen verschiebt sich die Funktion des Entrichtungs- bzw. Haftungsschuldners.16 Er trägt nunmehr durch die Verfahrenswahl seitens der Finanzverwaltung wirtschaftlich die Steuerlast, wenn ein Regress gegen den eigentlichen Primärschuldner nicht effektiv durchgeführt werden kann. Würde die Finanzbehörde den Primärschuldner als den eigentlich vom Gesetzgeber auserwählten Träger der Steuerlast in Anspruch nehmen, so würde sie selbst mit dem Risiko der etwaig langwierigen Vollstreckung und eines etwaigen Ausfalls des Steuerschuldners konfrontiert werden. Der Entrichtungspflichtige bzw. Haftungsschuldner wird dabei durch die Verfahrenswahl seitens der Finanzverwaltung effektiv zum Steuerschuldner gemacht.17 Aus der Heranziehung des § 167 Abs. 1 S. 1 AO für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners ergeben sich weitere teils praktische und teils dogmatische Folgefragen, die bislang in Literatur und Rechtsprechung nicht oder nicht ausreichend Beachtung gefunden haben. Es ergeben sich Verfahrensfragen bei Erlass des Nachforderungsbescheids. Andererseits ergeben sich auch Folgefragen des Verfahrensdualismus, die auf den etwaigen Erlass eines zweiten Steuerverwaltungsakts ausstrahlen und ggf. sogar die Rechtmäßigkeit eines solchen verhindern können. Es stellt sich die Frage, ob in Abhängigkeit von der Wahl des ersteren Steuerverwaltungsverfahren und der Betrachtung des in dem Moment erreichten Stands desselben (noch) ein Wechsel in das jeweils andere Verfahren zulässig sein kann.

14

Cöster, in: König, AO, § 167, Rn. 16: Mit der Notwendigkeit des Vorliegens einer Ermessensentscheidung zur Vermeidung einer Umgehung. 15 Vgl. zum Meinungsstand Kapitel B. II. 4; Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn. 13. 16 Ähnliche Bedenken: Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, §  167, Rn.  12; Drüen, in: DB 2005, 299, 299 ff.; Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 167, Rn. 8; Krumm, in: StuW 2012, 329, 337. 17 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  12; Drüen, in: DB 2005, 299, 299 ff.; Krumm, in: StuW 2012, 329, 337.

III. Modus Operandi

21

III. Modus Operandi Um beurteilen zu können, ob ein Wahlrecht der Finanzverwaltung zwischen den beiden Verfahrenswegen zur Inanspruchnahme der Haftungsschuldner bestehen kann, werden beide zunächst einem Vergleich unterzogen. In dem ersten Kapitel dieser Arbeit werden hierfür die Voraussetzungen für den Erlass eines Haftungs­ bescheids betrachtet. Hierbei wird neben den tatbestandlichen Aspekten ausgewertet, welche Ermessenserwägungen die Finanzverwaltung in ihre Entscheidung einbeziehen darf und muss. Die Arbeit beschränkt sich bezüglich der Betrachtung der materiellen Grundlagen der Haftung auf solche Tatbestände, die im Zusammenhang mit der Verletzung einer Entrichtungspflicht stehen und bei denen Steuer- und Entrichtungsschuldner personenverschiedenen sind. Liegen diese Komponenten nicht kumuliert vor, so stellt sich die vorliegend beschriebene Problematik des Verfahrensdualismus nicht. Die betroffenen Tatbestände sind im Einzelnen die Haftung für Lohnsteuer nach § 42d EStG, für Kapitalertragsteuer nach § 44 Abs. 5 S. 1 EStG, für die Bauabzugsteuer nach § 48a Abs. 3 EStG, für den Steuerabzug bei beschränkt Steuerpflichtigen nach § 50a Abs. 5 S. 4 EStG und für Versicherungsteuer nach § 7 Abs. 7 VersStG. Im zweiten Kapitel der Arbeit wird die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners durch Nachforderungsbescheid nach § 167 Abs. 1 S. 1 AO i. V. m. § 155 AO betrachtet. Hierbei werden die Anforderungen an den Erlass eines solchen für eine dem Grunde nach gegebene Haftungsschuld18 beleuchtet. Es stellen sich insbesondere auf Grund der materiellen Geltendmachung einer Haftungsschuld19 Folgefragen zu Anwendbarkeit von Verfahrensnormen, die grundsätzlich auf das Haftungsverfahren nach § 191 Abs. 1 S. 1 AO zugeschnitten sind, nunmehr jedoch auf Grund der besonderen Inanspruchnahmesituation auch für das Steuerfestsetzungsverfahren angewendet werden könnten. Nachdem beide Verfahrenswege für die Geltendmachung einer Haftungsschuld separat betrachtet wurden, erfolgt im darauffolgenden dritten Kapitel ein Vergleich der beiden Verfahren. Es stellt sich hierbei die Frage, ob man die Verfahren als vergleichbare Wege ansehen kann, um den Haftungsschuldner für eine materielle Haftungsschuld in Anspruch zu nehmen. Im Anschluss wird untersucht, welche verfahrensrechtlichen Folgen sich aus dem Dualismus der Inanspruchnahmeoptionen ergeben. Die Arbeit wird mit der Erörterung von verschiedenen Vorschlägen zur Änderung der betroffenen Normen der Abgabenordnung abgeschlossen.

18 19

Vgl. hierzu Kapitel B. II. 3. c). Vgl. hierzu Kapitel B. II. 3. c).

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Einleitung

IV. Finis Operandi Mit der vorliegenden Arbeit soll – beschränkt auf Entrichtungs- und Haftungsschuldner in den zuvor benannten Dreieckssituationen  – die Frage beantwortet werden, welcher Kreis Steuerpflichtiger auf welcher gesetzlichen Grundlage und unter welchen Voraussetzungen von der Finanzverwaltung in Anspruch genommen werden kann. Als Ergebnis der Auseinandersetzung wird eine abschließende Wertung erfolgen, ob die derzeitige Praxis der Finanzbehörden zur Inanspruchnahme des Haftungsschuldners mittels Nachforderungsbescheids de lege lata rechtmäßig vorgenommen wird. Dies schließt die Frage ein, ob die Änderung des § 167 Abs. 1 S. 1 AO im Rahmen der Steuerreform des Jahres 199020 trotz des Ziels des Gesetzgebers, diesen Fall unter die Vorschrift zu erfassen, zur Schaffung einer dafür ausreichenden Ermächtigungsgrundlage geführt hat. Letztendlich erfolgt eine zusammenfassende Betrachtung, ob die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des Nachforderungsbescheids unter Wertung der vorangegangenen Erkenntnisse und verfassungsrechtlicher sowie rechtsvergleichender Betrachtungen nach aktueller Gesetzeslage zulässig ist. Die hieraus erlangten Erkenntnisse münden in die Untersuchung der Plausibilität und Praktikabilität verschiedener Vorschläge zur Reformierung der vorliegenden Inanspruchnahmesituation. Ziel dieser Überlegungen ist es, eine klare Rechtslage zu schaffen. Dies soll für Rechtssicherheit bei der Inanspruchnahme der an den Steuerabzugsverfahren beteiligten Personenkreisen sorgen. Die zugrunde liegenden Steuerabzugsverfahren stellen durchweg Masseverfahren dar, die wegen der daraus resultierend enormen Auswirkungen besonderer Aufmerksamkeit bedürfen, da täglich eine Vielzahl von Steuerfällen betroffen ist.

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BStBl. I 1988, 224, 258.

A. Die Geltendmachung der Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens I. Vorbemerkungen Nach § 191 Abs. 1 S. 1 AO kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet. Die Person, die kraft Gesetzes für eine Steuer haftet, wird als Haftungsschuldner legal definiert. Durch die Kodifizierung einer Ermächtigungsgrundlage zur Inanspruchnahme eines Nichtsteuerschuldners als Haftungsschuldner für eine fremde Steuerlast wird neben dem auf Primärebene1 bestehenden Steueranspruch nach § 37 Abs. 1 AO eine zweite Ebene geschaffen. Auf dieser Sekundärebene kann ein fremder Dritter für die Primärsteuerlast eines anderen Steuerpflichtigen in Anspruch genommen werden.2 Auch der Haftungsanspruch qualifiziert als Anspruch aus einem Steuerschuldverhältnis nach § 37 Abs. 1 AO.3 Bei Betrachtung der Inanspruchnahme für eine Steuer ist demzufolge zwischen der originären Steuerlast eines Steuerpflichtigen als Steuerschuldner auf Primärebene und der Haftungsschuld eines anderen Steuerpflichtigen als Haftungsschuldner auf der Sekundärebene zu differenzieren. Das erste Kapitel widmet sich der auf Grundlage dieser Ermächtigung durchführbaren Inanspruchnahme des Haftungsschuldners mittels Haftungsbescheids auf Sekundärebene.

1. Gesetzeshistorie des Haftungsverfahrens Für die Auswertung der rechtshistorischen Entwicklung des Haftungsverfahrens ist zu Beginn die ursprüngliche Ausgestaltung der Reichsabgabenordnung vom 13. 12. 19194 zu betrachten. Denn bei der Kodifizierung der AO 1977 blieben viele der ursprünglichen Gedanken des Schöpfungsvaters5 der Abgabenordnung Enno Becker erhalten.6 Vorschriften zur Haftung waren in der Reichsabgabenordnung 1

Primärschuld oder auch Erstschuld genannt; vgl. Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 18; Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 191, Rn. 13. 2 Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 3; Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 1; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  4. 3 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  4. 4 RGBl. 1919, S. 1993 ff.; zur früheren Entwicklung vgl. Vocke, Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 1. Auflage 1988, S. 1 ff. 5 Drüen, in: DStR 2019, 2657, 2657. 6 Eigendorf, Der Steuer-Anwärter, Abgabenordnung, 4. Auflage 1978, S. 16.

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

im Zweiten Teil „Besteuerung“ vorhanden. Im Zweiten Titel „Sachliche Vorschriften“ waren unter „Entstehung und Fälligkeit des Steueranspruchs“ Regelungen enthalten, die sich mit dem allgemeinen Steuerschuldrecht befassten und in der heutigen Abgabenordnung mit den Regelungen im Zweiten Teil „Steuerschuldrecht“ zu vergleichen sind. Als Steuerpflichtiger wurde von § 79 Abs. 1 RAO 19197 derjenige legal definiert, der eine Steuer als Steuerschuldner zu entrichten hatte. Damit war der Primärschuldner gemeint. Nach § 79 Abs. 2 RAO 19198 galten die Vorschriften für Steuerpflichtige jedoch sinngemäß für diejenigen, die nach den Steuergesetzen für eine Steuer neben den Steuerpflichtigen oder an deren Stelle persönlich hafteten.9 Anders als in § 33 Abs. 1 AO wurden die Haftungsschuldner den Steuerpflichtigen nur gleichgestellt, jedoch selbst nicht als solche qualifiziert. Die Gruppe der Haftungsschuldner wurde in die an Stelle des Steuerschuldners und die neben dem Steuerschuldner haftenden Personen unterteilt.10 Gemäß § 81 Abs. 1 S. 1 RAO 191911 entstand eine Steuerschuld, sobald der Tatbestand verwirklicht war, an den das Gesetz die Steuer knüpfte. Über die entsprechende Anwendung des § 81 Abs. 1 S. 1 RAO 191912 für Haftungsbescheide erwirkte die damalige Gesetzesfassung dasselbe Ergebnis wie der heutige § 38 AO. Die Haftungsschuld entstand demnach ebenfalls, sobald der Tatbestand verwirklicht war, an den das Gesetz die Haftung knüpfte. Der heutige § 38 AO bezieht sich jedoch weiter gefasst auf alle Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, wohingegen § 81 Abs. 1 S. 1 RAO 191913 sich ausdrücklich nur auf Steuerschulden bezog und nur über § 79 Abs. 2 RAO 191914 auch für Haftungsschulden entsprechend anwendbar war. Ermächtigungsgrundlage für den Erlass eines Haftungsbescheids gegenüber dem Steuerpflichtigen war § 98 RAO 191915. Nach diesem war die Finanzbehörde befugt, die Haftungsschuldner in Anspruch zu nehmen. Die Vorschrift wurde teilweise nur als eine Zuständigkeitsregelung qualifiziert.16 § 98 RAO 191917 enthielt jedoch eine Regelung, die die Finanzbehörde zur Inanspruchnahme befugte. Damit traf die Norm eine wesentliche Abweichung von den für das Verfahren zum 7

RGBl. 1919, S. 2010. RGBl. 1919, S. 2010. 9 Vgl. zu einem anderem Begriffsverständnis des Begriffs des Steuerpflichtigen: Pendele, Steuerrecht der AO, 2. Ergänzungslieferung Juni 1958, S. 85: Der Autor fasst Steuerschuldner und Haftungsschuldner unter dem Oberbegriff Steuerpflichtiger zusammen. Hierfür findet sich im Gesetz zu diesem Zeitpunkt jedoch noch keine Stütze. Vielmehr scheint diese Auslegung dem Wortlaut des § 79 RAO 1919 bzw. § 97 RAO 1931 zu widersprechen. 10 Nieberl, AO, 1. Auflage 1922, § 79, Rn. 3 f. 11 RGBl. 1919, S. 2011. 12 RGBl. 1919, S. 2011. 13 RGBl. 1919, S. 2011. 14 RGBl. 1919, S. 2010. 15 RGBl. 1919, S. 2015. 16 Becker / Riewald / Koch, RAO, 9. Auflage 1963, § 118, Rn. 1 Abs. 2. 17 RGBl. 1919, S. 2015. 8

I. Vorbemerkungen

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Erlass eines Steuerbescheids geltenden Vorschriften. Sie stellte den Erlass des Haftungsbescheids nämlich in das Ermessen der Finanzverwaltung, wohingegen Steuerfestsetzungen grundsätzlich gebundene Entscheidungen waren.18 Die Vorschrift als reine Zuständigkeitsreglung zu degradieren, wird ihrer Bedeutung vor diesem Hintergrund nicht gerecht. Die Vorschrift war zumindest im Zusammenhang mit denen für die Festsetzung einer Steuerschuld entsprechend anwendbaren Vorschriften als Teil einer zusammengesetzten Ermächtigungsgrundlage für den Erlass von Haftungsbescheiden anzusehen. Zu beachten ist, dass die Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens unter der Reichsabgabenordnung anders ausgeprägt war, als dies in den heutigen Regelungen zum Ermessen in der Abgabenordnung der Fall ist. So bindet § 5 AO die Ausübung des Ermessens einerseits an die Beachtung des Zwecks der Ermächtigungsgrundlage und andererseits an die gesetzlichen Grenzen des Ermessens. Es müssen einerseits die äußeren Ermessensschranken in Form der Tatbestandsvoraussetzungen und der gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten werden. Andererseits dürfen die inneren Ermessensschranken in Form der Einhaltung des Zwecks der Ermächtigungsgrundlage nicht verletzt werden.19 § 6  RAO  191920 beschränkte die Ermessensausübung der Finanzbehörden durch Recht und Billigkeit.21 Damit unterlag schon nach der ursprünglichen Fassung der Reichsabgabenordnung die Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens den heutzutage als äußere Ermessensschranken bezeichneten Einschränkungen. Äußere Ermessensschranken sind die Notwendigkeit des Vorliegens des Tatbestands der Norm und das Fehlen eines Verstoßes gegen die normierten Grenzen des Ermessens. Im Gegensatz zu § 5 AO enthielt § 6 RAO 191922 als zweite Schranke jedoch eine Bindung an Billigkeit, wohingegen § 5 AO die Berücksichtigung des Normzwecks erfordert. Die Billigkeit ist ein weiter Begriff. Er ist offener und damit weiter auszufüllen als eine Zweckbindung. Die Anforderungen an die damalige Ermessensausübung dürften demnach weniger hoch gewesen sein. Die Entscheidung der Finanzverwaltung durfte in Bezug auf die zweite Schranke nur nicht unbillig sein. Darüber hinaus legte § 4 RAO 191923 entgegen den heute anerkannten Auslegungsmethoden eigene Regeln zur Auslegung der Normen der Reichsabgabenordnung fest. So waren bei der Auslegung der Steuergesetze ihr Zweck, ihre wirtschaftliche Bedeutung und die Entwicklung der Verhältnisse zu berücksichtigen. Legt man diese Auslegungsgrundsätze bei der Auslegung des Begriffs der Billigkeit in § 6 RAO 191924 zugrunde, floss hierüber zwar ebenfalls eine zweckbezo 18

Becker / Riewald / Koch, RAO, 9. Auflage 1963, § 2 StAnpG, Rn. 1 Abs. 4. König, in: König, AO, § 5, Rn. 20. 20 RGBl. 1919, S. 1994. 21 Hierzu auch Becker, RAO, 4. Auflage 1925, § 79, Rn. 5: Die Ermessensausübung im Rahmen des Erlasses eines Haftungsbescheids sei nur an Zweckmäßigkeitsgründe gebunden. 22 RGBl. 1919, S. 1994. 23 RGBl. 1919, S. 1994. 24 RGBl. 1919, S. 1994. 19

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

gene Auslegung in die Ermessensentscheidung ein, wobei sich an dem Zweck der Ermächtigungsgrundlage zu orientieren war. Der Zweck wirkte hierbei jedoch nur mittelbar über die Auslegung und nur als einer von mehreren Auslegungsmaximen auf die Betrachtung ein, sodass er weniger Bedeutung erlangte als nach den heutigen Regelungen der Abgabenordnung. So bildete die Berücksichtigung der Verhältnisse ein flexibles Auslegungsvehikel, das neben die Zweckbindung trat und die Auslegung äußerst dynamisch verändern konnte. Insbesondere zu Zeiten eines instabilen Deutschlands und sich anbahnender Kriege standen häufige Änderungen der äußeren Verhältnisse bevor. Die Ermessensausübung konnte auf diesem Wege den staatlichen Bedürfnissen in Folge dieser Ereignisse angepasst werden. Die Ausübung des finanzbehördlichen Ermessens wurde durch das Steueranpassungsgesetz vom 16. 10. 1934 modifiziert. § 2 des Steueranpassungsgesetzes25 sah zwar weiterhin eine Bindung an die gesetzlichen Schranken vor. Auf der zweiten Ebene war das Ermessen nunmehr nicht nur an Billigkeit, sondern auch an die Zweckmäßigkeit gebunden. § 2 Abs. 3 des Steueranpassungsgesetzes26 legte eine Beurteilung der Billigkeit und Zweckmäßigkeit nach nationalsozialistischer Weltanschauung fest. § 2 Abs. 3 des Steueranpassungsgesetzes wurde durch Artikel 1 des Gesetzes Nr. 12 des Kontrollrats vom 29. 10. 1945 aufgehoben.27 Im Ergebnis war § 98 RAO 191928 auch schon eine Ermessensvorschrift29, wobei der Finanzbehörde jedoch ein größerer Handlungsspielraum bei Ausübung dieses Ermessens zukam, als dies nach den heutigen Ermessensmaßstäben möglich wäre. § 98 RAO 191930 enthielt noch keine gesonderten Vorschriften zur Verjährung der Haftungsschulden. Die allgemeinen Vorschriften zur Verjährung in den § 120 ff. RAO 191931 waren durch den Anwendungsverweis in § 79 Abs. 2 RAO 191932 auch für den Haftungsbescheid anwendbar. Im Gegensatz zur heutigen gesetzlichen Regelung sollte vor dem Erlass eines Haftungsbescheids nach § 118 RAO 193133 grundsätzlich zunächst der Erlass eines Steuerbescheids gegenüber dem Steuerschuldner notwendig gewesen sein. Dies soll nur dann nicht nötig gewesen, wenn nach den Umständen eine Beitreibung nicht oder nur mit verhältnismäßig großen Schwierigkeiten bei diesem möglich

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RGBl. 1934, S. 925. RGBl. 1934, S. 925. 27 Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland Nr. 1, S. 24. 28 RGBl. 1919, S. 2015. 29 So auch Kühn / Kütter, AO, 10. Auflage 1970, § 118, Rn. 1: Bindung der Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens beim Erlass eines Haftungsbescheids an Billigkeit und Zweckmäßig­ keit. 30 RGBl. 1919, S. 2015. 31 RGBl. 1919, S. 2021. 32 RGBl. 1919, S. 2010. 33 Nachfolgevorschrift des § 98 RAO 1919; RGBl. 1931, S. 178; vgl. zu den Änderungen der RAO von 1919 Becker, Ergänzung der Reichsabgabenordnung, 7. Auflage 1931. 26

I. Vorbemerkungen

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gewesen wäre.34 Zwar impliziert die Kommentierung in Kühn / Kütter, dass die Subsidiarität auf Tatbestandsebene angesiedelt gewesen wäre. Aus dem in dieser Kommentierung zitierten Urteil wird jedoch ersichtlich, dass der 5. Senat die Subsidiaritätsüberlegungen im Rahmen des Ermessens bei der Prüfung der Billigkeit der Festsetzung der Haftungsschuld geprüft hat.35 Ebenso fehlte § 98 RAO36 eine dem § 191 Abs. 5 AO entsprechende gesetzliche Ausprägung der Akzessorietät der Haftung. Die Auslegung des Wortlauts des § 98 RAO 191937 ergab allerdings, dass der Grundsatz der Akzessorietät in Bezug auf Festsetzungsverjährung, Vollstreckungsverjährung sowie Erlass der Steuer schon damals zu beachten war. So trat der Haftungsschuldner neben den Steuerpflichtigen. Ein Nebeneinander beider ist nicht mehr möglich, sofern die Primärschuld nicht mehr besteht und den Steuerpflichtigen demzufolge keine Zahlungsverpflichtung mehr treffen kann. Auch wenn Haftungsbescheide nach den Regelungen der Reichsabgabenordnung zu den Steuerbescheiden zählten, soll die äußere Form jedoch gewissen Abweichungen unterlegen haben.38 Der Erlass eines förmlichen Haftungsbescheids war nach den Regelungen der Reichsabgabenordnung überwiegend noch nicht notwendig, wenngleich der Erlass eines Haftungsbescheids in der Praxis vermehrt auftrat.39 § 212 RAO 193140 erlaubte eine formlose Festsetzung, sofern gesetzlich kein Erlass eines förmlichen Steuerbescheids vorgeschrieben war. Für die Haftung bei Lohn- und Kapitelertragsteuer sahen die diesbezüglichen Ausführungsbestimmungen eine förmliche Festsetzung der Haftungsschuld vor.41 Die Durchführungsbestimmungen zur Versicherungsteuer ordneten desgleichen nicht an,42 was jedoch dahingehend für die hiesige Betrachtung unerheblich ist, als das Versicherungsteuergesetz 192243 noch keinen Haftungstatbestand für die Versicherungsteuer vorsah. Nach der Gesetzesbegründung des Deutschen Bundestags zum Entwurf der AO 1977 ergeben sich die verfahrensrechtlichen Grundlagen zur Haftung aus dem dritten Abschnitt der Abgabenordnung (§§ 172 f. AO- E 1977; entspricht §§ 191 f. AO 34

Kühn / Kütter, AO, 10. Auflage 1970, § 118, Rn. 2; anders noch Becker, RAO, 4. Auflage 1925, § 79, Rn. 5: Insbesondere folge aus der Haftung nicht, dass sich die Finanzverwaltung zunächst an den Steuerschuldner zu halten habe; ebenso noch anders Becker / Riewald / Koch, RAO, 9. Auflage 1963, § 97, Rn. 3 Abs. 6. 35 BFH, Urteil vom 07. 04. 1960 – V 296/57, DB 1960, 686, BeckRS 1960, 21008700, Tz. 1. 36 RGBl. 1919, S. 2015. 37 RGBl. 1919, S. 2015. 38 Sperling, Schuld und Haftung im Steuerrecht, 1940, S. 47. 39 Sperling, Schuld und Haftung im Steuerrecht, 1940, S. 47. 40 RGBl. 1931, S. 84. 41 Sperling, Schuld und Haftung im Steuerrecht, 1940, S. 47: mit Verweis auf § 46 Abs. 3 LStDBD und § 12 KeStBDB. 42 RGBl. 1937, S. 798 ff. 43 RGBl. 1922, S. 400 ff.

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

1977).44 Der Haftung wurde demnach ein eigener Abschnitt in der heutigen Abgabenordnung zugeordnet, der sich mit der Geltendmachung dieser und den hierauf anwendbaren Normen beschäftigt. Die Regelung erfolgte separiert von denen zur Steuerfestsetzung. Der Haftungsbescheid wurde aus den Regelungen zum Steuerbescheid herausgelöst. Beide Verfahren sollten von nun an nebeneinander bestehen, jedoch eigenen gesetzlichen Grundlagen folgen. Eine interessante – wenngleich auch als Exkurs zu betrachtende – Erkenntnis ergibt sich aus den Haftungsnormen der DDR-Steuergesetze. Zwar entstanden mit der Teilung Deutschlands zwei verschiedene Steuersysteme.45 Jedoch basierte auch die Abgabenordnung der DDR auf der Reichsabgabenordnung der Jahre 1919 bzw. 1931. Wenig überraschend ist vor diesem Hintergrund, dass in § 97 Abs. 2 AO-DDR46 ebenfalls eine sinngemäße Anwendung der Vorschriften für Steuerpflichtige für den Haftungsschuldner angeordnet wurde. Auch hier war der Haftungsschuldner kein Steuerpflichtiger. Ebenso stellte § 118 AO-DDR47 die Ermächtigungsgrundlage für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners mittels Haftungsbescheids dar, die ins Ermessen der Finanzverwaltung gestellt wurde. Interessant ist hierbei, dass es keinen Paragrafen gab, der finanzbehördliches Ermessen definierte und begrenzte. § 12 AO-DDR48 räumte lediglich eine Verordnungsermächtigung ein, die Durchführung der Steuergesetze näher zu regeln. Insbesondere wurde eine Verordnungsermächtigung zur Regelung der Haftung Dritter gegeben. Die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners nach den Regelungen der AODDR war unter geringeren rechtsstaatlichen Voraussetzungen möglich. Es waren keine Regelungen vorhanden, die das der Finanzverwaltung eingeräumte Ermessen begrenzten. Die Regelungen sind demnach aus verfassungsrechtlicher Sicht als rückständig zur Urfassung der Abgabenordnung von 1919 zu qualifizieren. In der früheren Fassung waren die Grenzen des Ermessens noch gesetzlich definiert gewesen. Die Regelungen der AO-DDR hingegen schienen Selbiges einer freien Willkür gleichzusetzen, welche bei gesetzlicher Eröffnung keiner ausdrücklichen gesetzlichen Beschrankung mehr unterlag.

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BT-Drs. VI/1982, S. 110. Hausschild / Schulz im Vorwort zur Gesetzessammlung „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand 16. 03. 1990, S. V. 46 Gesetzessammlung „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand 16. 03. 1990, S. 312. 47 Gesetzessammlung „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand 16. 03. 1990, S. 322. 48 Gesetzessammlung „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand 16. 03. 1990, S. 300. 45

I. Vorbemerkungen

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2. Sinn und Zweck der Haftung im Steuerrecht Neben dem originären Steueranspruch auf Primärebene49 besteht auf der Sekundärebene die Möglichkeit einen Dritten für eine fremde Steuerlast in Anspruch zu nehmen.50 Es gibt verschiedene Gründe, aus denen eine solche Haftung Dritter für eine fremde Steuer aus fiskalischer Sicht begrüßenswert bzw. notwendig ist. Zum einen dient die Haftung eines Dritten der Sicherung des Steueranspruches des Fiskus.51 Neben den ursprünglichen Steuerpflichtigen tritt bei Vorliegen der Haftungsvoraussetzungen ein weiterer Steuerpflichtiger, der als Haftungsschuldner in Anspruch genommen werden kann. Steuerschuldner und Haftungsschuldner sind hierbei Gesamtschuldner nach § 44 AO.52 Der Haftungsschuldner tritt nicht an die Stelle des Steuerpflichtigen. Er ersetzt diesen nicht, sondern tritt neben ihn. Hierdurch wird dem Fiskus der Zugriff auf einen weiteren Steuerpflichtigen ermöglicht, um seinen Steueranspruch gegen den Primärschuldner durchzusetzen. Zum anderen steht die Haftung in einigen Haftungstatbeständen mit einer korrespondierenden Entrichtungsschuld des Haftungsschuldners im Einklang.53 Hierbei sichert die Haftungsnorm die Entrichtungspflicht ab. Durch die bei nicht ordnungsgemäßer Durchführung der Entrichtungspflicht erwachsende Haftung wird der Entrichtungsschuldner angehalten, die Steuer ordnungsgemäß einzubehalten und abzuführen. Hierbei wird durch die Verknüpfung von Entrichtungspflicht und Haftungsschuldnerschaft ein Druckmittel gegenüber dem Entrichtungspflichtigen geschaffen. Da der Entrichtungsschuldner größeren Einfluss auf die ordnungsgemäße Abführung der Steuer an das Finanzamt hat als der Steuerschuldner der Primärschuld, ist es auch folgerichtig, eine Möglichkeit geschaffen zu haben, der Finanzverwaltung den Zugriff auf das Vermögen des Entrichtungsschuldners zu eröffnen, wenn dieser die Steuer nicht ordnungsgemäß einbehält und abführt. Die Haftung des Entrichtungsschuldners ist demnach ein Sicherungsmittel der Steuerlast auf Grund der bestehenden Dreieckssituation zwischen Steuerpflichtigen, Entrichtungspflichtigem und Finanzamt. Allerdings bestehen auch Fälle, in denen 49 Zur Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärebene auch Gehm, in: Schwarz /  Pahlke, AO, § 191, Rn. 2; ebenso BFH, Urteil vom 12. 10. 1999 – VII R 98/98, BStBl. II 2000, 486, 489. 50 Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 3; Mittelbach, Lehrbuch der Abgabenordnung, 3. Auflage 1975, S. 61. 51 Halaczinsky, Die Haftung im Steuerrecht, 4. Auflage 2013, S. 26. 52 BFH, Urteil vom 9. 8. 2002 – VI R 41/96, BStBl. II 2003, 160, 161; BFH, Beschluss vom 11. 7. 2001 – VII R 28/99, BStBl. II 2002, 267, 268; Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 7a; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 3; Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 219, Rn. 15. 53 So beispielsweise bei der Haftung des Arbeitgebers für einzubehaltende und abzuführende Lohnsteuer nach § 42d EStG; bei der Haftung des Schuldners von Kapitalerträgen für die Kapitalertragsteuer nach § 44 Abs. 5 EStG; bei der Haftung des Empfängers von Bauleistungen für die Bauabzugsteuer nach § 48a Abs. 3 EStG und der Haftung des Vergütungsschuldners für den Steuerabzug zur Erhebung der Einkommensteuer beschränkt Steuerpflichtiger für in § 50a Abs. 1 EStG aufgelistete Einkünfte nach § 50a Abs. 5 S. 4 EStG.

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

die Steuerentrichtungspflicht und die Haftungsschuldnerschaft auseinanderfallen. Hierbei besteht ein besonderes Sicherungsbedürfnis wegen des zugrunde liegenden Besteuerungstatbestands.54 Teilweise erleichtert der Haftungsanspruch die Durchsetzung der Steuerlast durch den Fiskus nicht nur, sondern ermöglicht diese erst.55 Bei den vorliegend betrachteten Haftungstatbeständen befindet sich die Haftungssubstanz in der haftenden Hand und nicht in der Hand des Steuerschuldners.56 Da das Steuerschuldverhältnis zwischen dem Steuerpflichtigen und dem Fiskus entsteht, sobald die dafür notwenigen Voraussetzungen vorliegen, kann die Finanzverwaltung sich ihr Gegenüber nicht aussuchen.57 Anders als im zivilrechtlichen Grundfall der Begründung eines Schuldverhältnisses durch die Abgabe zweier korrespondierender Willenserklärungen nach §§ 145 ff. BGB, ist im Steuerverwaltungsverfahren keine Mitwirkung der Finanzverwaltung zur Begründung des Steuerschuldverhältnisses notwendig. Eine Verhinderung der Entstehung des Steuerschuldverhältnisses durch die Finanzverwaltung ist demzufolge nicht möglich. Hieraus erwächst ein besonderes Sicherungsbedürfnis für den Fiskus. Hat sich ein Steuerpflichtiger vertraglich der Haftung für Steuerschulden unterworfen, so hatte der Fiskus die Möglichkeit, sich das Gegenüber des Steuerschuldverhältnisses auszusuchen. Demzufolge besteht für den Fall der vertraglich übernommenen Haftung nach § 192 AO kein so großes Schutzbedürfnis des Fiskus. Dieser erhält hierbei eine eigene Dispositionsbefugnis über die Entstehung des Steuerschuldverhältnisses, sodass ein solch weitreichender Schutz durch die Haftung als Sicherungsmittel wie bei gesetzlichen Haftungsansprüchen zu weit gehen würde. Somit ist es folgerichtig, dass für vertragliche übernommene Haftungspflichten gegenüber dem Fiskus für Steuern eines anderen eine Inanspruchnahme nur nach den zivilrechtlichen Vorschriften möglich ist. Dem Fiskus wird hierbei die Handlungsform des Verwaltungsaktes aberkannt, da er sich in einem bilateralen Vertrag mit der Haftungsübernahme des Haftungsschuldners bereit erklärt hat. Dies ist darüber hinaus aus dem Grunde gerechtfertigt, dass dem Fiskus durch die vertragliche Haftungsübernahme nach § 192 AO ein weiterer Steuerschuldner bereitgestellt wird, der nach den gesetzlichen Haftungstatbeständen nicht in Anspruch genommen werden dürfte. Die Verbesserung der Situation der Finanzverwaltung führt im Gegenzug dazu, dass diese sich für die Erhebung der Haftungsschuld nicht mehr dem für sie günstigeren Instrument des Haftungsbescheids bedienen kann. Die Inanspruchnahme mittels Haftungsbescheids führt zu einer Selbsttitulierung des Haftungsanspruchs durch die Finanzverwaltung. Im Erhebungs- und Vollstreckungsverfahren ist die Finanzverwaltung darüber hinaus zur Selbstvollstreckung des Haftungsanspruchs befugt, § 249 Abs. 1 S. 1 AO. Die 54

Vgl. § 7 VersStG. Halaczinsky, Die Haftung im Steuerrecht, 4. Auflage 2013, S. 26. 56 Tipke, AO, 16. Auflage 1992, Einführung, IX. 57 Halaczinsky, Die Haftung im Steuerrecht, 4. Auflage 2013, S. 26. 55

I. Vorbemerkungen

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Befugnis zur Selbsttitulierung und Selbstvollstreckung erscheint im Einklang mit der Regelung in § 192 AO nur gerechtfertigt, wenn Finanzverwaltung und Steuerpflichtiger sich in einem Über- und Unterordnungsverhältnis gegenüberstehen. Hat sich die Finanzverwaltung nunmehr durch einen Vertragsschluss auf die Ebene der Gleichstufigkeit58 begeben, muss sie für die weitere Durchsetzung ihrer Ansprüche zivilrechtlich vorgehen. Im Umkehrschluss hieraus ist auch die vereinfachte Geltendmachung der Haftung nach den Regelungen der Abgabenordnung und nicht im Rahmen einer etwaigen zivilrechtlichen Gleichordnung zwischen Fiskus und Haftungsschuldner als Telos der in der Abgabenordnung enthaltenen Haftungsvorschriften anzusehen.

3. Entstehung der Haftungsschuld Der Haftungsanspruch ist gemäß § 37 Abs. 1 Var. 3 AO ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis. Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis entstehen, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft, § 38 AO. Bei Haftungsbescheiden wird die Leistungspflicht zum einen an das Vorliegen der Voraussetzungen der materiellen Haftungsnormen geknüpft.59 Zum anderen muss eine Steuerschuld bestehen, für die auf Grundlage der Haftungsnorm in Anspruch genommen werden soll.60 Auf den Erlass des Haftungsbescheids kommt es hingegen für die Entstehung der Haftungsschuld nicht an.61 Der Haftungsbescheid hat wie der Steuerbescheid keine konstitutive, sondern lediglich eine rein deklaratorische Bedeutung.62 Der Erlass des Haftungsbescheids ist seinerseits Grundlage für das sich dem Festsetzungs- und Feststellungsverfahren anschließende Erhebungsverfahren.63 Gemäß § 218 Abs. 1 S. 1 AO bedarf es zur Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis des Erlasses eines Haftungsbescheids, der die Haftungsschuld festsetzt. Hieran wird gemäß § 220 Abs. 2 S. 2 AO auch die Fälligkeit des Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis geknüpft. Die Fälligkeit des

58 „Gleichstufigkeit“ ist in diesem Kontext im Sinne der beiderseitigen Abgabe von Willenserklärungen gemeint und soll nicht an die üblichen Begrifflichkeiten im Zusammenhang mit dem öffentlich-rechtlichen Vertrag anknüpfen. 59 Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 9; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 16; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 18; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 11, m. w. N. 60 Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 10; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 19; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 19; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 11, m. w. N. 61 Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 8; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 19; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 18; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 2. 62 Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 2. 63 Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 8.

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

Haftungsanspruchs tritt mit der Bekanntgabe des Haftungsbescheids ein, vgl. § 220 Abs. 2 S. 2 AO. Es gilt zu beachten, dass das Gesetz den Beginn der grundsätzlich vierjährigen Festsetzungsverjährungsfrist für Haftungsbescheide bei Festsetzung der Primärsteuerlast vor Erlass des Haftungsbescheids nach § 191 Abs. 3 S. 2 f. AO ebenfalls an die Entstehung der Haftungsschuld knüpft. Die Entstehung der Haftungsschuld kann lange vor dem Erlass des Haftungsbescheids stattfinden, sodass die Festsetzungsverjährung schon vor dem Erlass des Haftungsbescheids zu laufen beginnen kann. Dies entspricht dem grundsätzlichen Beginn der Festsetzungsverjährung bei Primärsteuerschulden nach § 170  Abs. 1 AO. Für Primärsteuerschulden beginnt die Verjährung im Grundfall ebenfalls mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist. Anknüpfungspunkt ist für beide Fälle die Entstehung der Schuld.

II. Festsetzung der Haftungsschuld 1. Anwendbare Vorschriften Haftungsbescheide sind Steuerverwaltungsakte im Sinne des § 118  S. 1  AO. Demzufolge sind die allgemein für Steuerverwaltungsakte geltenden Vorschriften auch auf Haftungsbescheide anwendbar (§§ 118 ff. AO). Haftungsbescheide sind jedoch keine Steuerbescheide im Sinne des § 155 Abs. 1 S. 1 AO.64 Sie sind den Steuerbescheiden abweichend von den Altregelungen in § 79 Abs. 2 RAO 191965 bzw. § 97 Abs. 2 RAO 193166 auch nicht mehr gleichgestellt.67 Demzufolge sind die besonderen Vorschriften der AO für Steuerbescheide nicht für Haftungsbescheide anzuwenden. Anzuwendende Regelungen enthalten ex lege zunächst nur die §§ 118 bis 133 AO.68 Es verbleibt zu untersuchen, welche Verfahrensvorschriften für Steuerbescheide entgegen ihrer systematischen Stellung dennoch (analog) auf Haftungsbescheide Anwendung finden können.

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Halaczinsky, Die Haftung im Steuerrecht, 4. Auflage 2013, S. 266; Boeker, in: ­Hübschmann / ​ Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  54; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 16; m. w. N. 65 RGBl. 1919, S. 2010. 66 RGBl. 1931, S. 43. 67 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  54; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 16; m. w. N. 68 Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 14a.

II. Festsetzung der Haftungsschuld

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a) Anwendbarkeit der §§ 163 ff. AO auf Haftungsbescheide Ein Billigkeitserlass nach § 163 AO ist für Haftungsbescheide nicht möglich.69 Billigkeitserwägungen können bei Erlass des Haftungsbescheids jedoch im Rahmen der Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens einfließen.70 Darüber hinaus kann ein Erlass der Haftungsschuld auf Erhebungsebene nach § 227 AO stattfinden.71 Aus der systematischen Einordnung der Haftungsbescheide als allgemeine Steuerverwaltungsakte, die keine Steuerbescheide sind, ergibt sich, dass ein Haftungsbescheid weder unter dem Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 AO noch vorläufig im Sinne des § 165 AO ergehen kann.72 b) Anwendbarkeit des § 166 AO auf Haftungsbescheide Nach § 166 AO hat eine unanfechtbare Steuerfestsetzung gegen einen Steuerpflichtigen gegen sich gelten zu lassen, wer in der Lage gewesen wäre, den gegen den Steuerpflichtigen erlassenen Bescheid als Vertreter, Bevollmächtigter oder kraft eigenen Rechts anzufechten. § 166 AO kann im Haftungsverfahren relevant sein: Zum einen kann ein zuvor ergangener Steuerbescheid gegenüber dem Steuerschuldner Drittwirkung für den Haftungsschuldner im Haftungsverfahren entfalten.73 Darüber hinaus besteht ggf. auch Anwendungsbedarf, wenn gegenüber dem Entrichtungsschuldner ein Nachforderungsbescheid ergeht und später ein Haftungsbescheid gegenüber dem ggf. auch personenverschiedenen Haftungsschuldner erlassen wird.74 Zum anderen könnte auch der Haftungsbescheid selbst, sofern dieser zeitlich vor dem Erlass des Primärsteuerbescheids ergeht, Drittwirkung gegenüber dem Steuerschuldner entfalten.75 Letzteres ist Gegenstand dieses Kapitels. Es ist für die Drittwirkungsgeeignetheit des Haftungsbescheids gegenüber dem Steuerschuldner fraglich, ob der Tenor eines Haftungsbescheids unter eine Steuerfestsetzung im Sinne des § 166 AO subsumiert werden kann. Ggf. könnte man in diesem Fall entgegen der systematischen Stellung der Norm im Abschnitt der auf den Steuerbescheid zugeschnittenen Vorschriften eine Anwendbarkeit auf Haftungsbescheide annehmen. Die Festsetzung der Haftungsschuld wird in der Literatur überwiegend nicht als die „Festsetzung einer Steuer“ verstanden und § 166 AO für den Haftungsbescheid 69

Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 163, Rn. 13. Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 163, Rn. 13. 71 Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 163, Rn. 13. 72 Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 17; Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 14a; Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 167, Rn. 23. 73 Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 116; vgl. hierzu Kapitel B. II. 1. c). 74 Vgl. hierzu Kapitel B. II. 1. c). 75 Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 117: jedoch nur zur Drittwirkung des Lohnsteuerhaftungsbescheids. 70

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als unanwendbar qualifiziert.76 Zur Begründung wird zutreffend angeführt, dass kein Verweis zur entsprechenden Anwendbarkeit dieser Vorschrift auf Haftungsbescheide in der Abgabenordnung vorhanden sei.77 Krumm hingegen hält § 166 AO auch für Haftungsbescheide anwendbar.78 Zur Begründung führt er an, dass der Wortlaut der Norm seiner Anwendbarkeit nicht entgegenstehe.79 Dies erscheint zunächst fragwürdig, da der Wortlaut ausdrücklich eine Steuerfestsetzung gegenüber dem Steuerpflichtigen fordert.80 Krumm führt jedoch weiter aus, dass die Steuerfestsetzung in § 166 AO auch allgemein als Festsetzung eines Anspruchs aus einem Steuerschuldverhältnis verstanden werden könnte, worunter nach § 37 Abs. 1 Var. 3 AO auch der Haftungsanspruch zu fassen sei.81 Dies vermag sich zutreffend noch mit Rahmen der möglichen Wortlautauslegung bewegen. Es gibt jedoch Anhaltspunkte im Gesetz, die gegen ein solches Wortlautverständnis der Norm sprechen. So verwendet die AO die Bezeichnung „Steuerfestsetzung“ nur im Rahmen der Festsetzung einer Primärsteuerschuld. Dies ergibt sich schon aus der Überschrift des 1. Unterabschnitts des Dritten Abschnitts der Abgabenordnung, welche „Steuerfestsetzung“ lautet. Dieser als „Steuerfestsetzung“ bezeichnete Abschnitt regelt die Spezialvorschriften für Steuerbescheide. Dies spricht dafür, dass Regelungen in Bescheiden außerhalb dieses Abschnitts eben keine Steuerfestsetzung in diesem Sinne darstellen. Die Verwendung der Begrifflichkeit setzt sich in den § 155 ff. AO in gleicher Bedeutung fort. Setzt man nunmehr die ggf. noch offen zu betrachtende Wortlautauslegung der Norm des § 166 AO in diesen systematischen Kontext, so erscheint es fragwürdig, dass derselbe Begriff im selben Unterabschnitt an verschiedenen Stellen mit unterschiedlicher Bedeutung ausgestattet sein soll. Historisch entstammt § 166 AO dem § 119 Abs. 2 RAO 193182. Interessant ist, dass der historische Gesetzgeber die Regelung in unmittelbarem Zusammenhang mit der Haftung gesehen zu haben scheint,83 da die vorangegangene Norm die Ermächtigungsgrundlage für den Erlass eines Haftungsbescheids darstellte und 76

BFH, Urteil vom 16. 11. 1995 – VI R 82/95, BFH / NV 1996, 285, BeckRS 1995, 11703, Rn. 18; Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 166, Rn.  4 f.; Frotscher, in: Schwarz / ​ Pahlke, AO, § 166, Rn. 4; Rüsken, in: Klein, AO, § 166, Rn. 16; Baum, in: Koch / Scholtz, AO, § 166, Rn. 2; von Wedelstädt, in: Kühn / von Wedelstädt, AO, § 166, Rn. 2; Cöster, in: König, AO, § 166, Rn. 6; Oellerich, in: Gosch, AO, § 166, Rn. 9. 77 BFH, Urteil vom 16. 11. 1995 – VI R 82/95, BFH / NV 1996, 285, BeckRS 1995, 11703, Rn. 18. 78 Krumm, in: Tipke / Kruse, AO, § 166, Rn. 11. 79 Krumm, in: Tipke / Kruse, AO, § 166, Rn. 11. 80 Krumm, in: StuW 2012, 329, 335: Der Autor gesteht ein, dass der Wortlaut der Norm für eine Differenzierung zwischen Steuerbescheiden und Haftungsbescheiden spreche und die Bezugnahme auf die Festsetzung einer Steuer durch Bescheid auf § 155 AO zugeschnitten sei. 81 Krumm, in: StuW 2012, 329, 335. 82 RGBl. 1931, S. 50. 83 Krumm, in: StuW 2012, 329, 336.

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§ 119 Abs. 1 RAO 193184 die Rechtmittelbefugnis des Haftungsschuldners regelte. Die Vorgängernorm des § 166 AO stand damit in völlig anderem Regelungs­kontext als die heutige Norm, die sich im Abschnitt zur Steuerfestsetzung befindet.85 Zutreffend waren über § 97 Abs. 2 RAO 193186 die für Steuerbescheide geltenden Normen für Haftungsbescheide sinngemäß anzuwenden, sodass grundsätzlich auch eine Anwendbarkeit des § 119 Abs. 2 RAO 193187 auf Haftungsbescheide und damit deren Drittwirkung vom Wortlaut der Norm erfasst gewesen sein könnten.88 § 119 Abs. 2 RAO 193189 regelte das Verhältnis zwischen Steuer- und Haftungsbescheid in Bezug auf die den Bescheidadressaten zustehenden Einwendungen gegen die ihnen gegenüber ergehenden Festsetzungen. Die Norm nahm dabei auf beide Bescheidarten Bezug und setzt diese in ein rechtliches Verhältnis. Sie war daher keine Norm, die nur auf Steuerbescheide Bezug nahm und diesbezügliche Regelungen traf. Eine Norm, die vorrangig das Verhältnis zwischen Steuer- und Haftungsbescheid in Anbetracht der Ansiedelung beider Bescheide auf verschiedenen Ebenen der Inanspruchnahme verschiedener Personen regelt, kann nicht sinngemäß auf Haftungsbescheide angewendet werden. Es gibt kein Inanspruchnahmeverfahren, dass der Inanspruchnahme auf der Sekundärebene nachgeordnet ist. Eine dem Verhältnis zwischen Steuer- und Haftungsbescheid vergleichbare Inanspruchnahmesituation auf verschiedenen Ebenen gibt es für den Haftungsbescheid nicht. Eine Tertiärebene ist der heutigen sowie der vergangenen Abgabenordnung fremd. Eine solche dritte Ebene der Inanspruchnahme könnte kodifiziert werden. Vergleichbare Institute wären die zivilrechtliche Rückbürgschaft oder Nachbürgschaft. Jedoch sind solche Institute derzeit in der Abgabenordnung nicht vorgesehen, sodass die Existenz einer Tertiärebene zu negieren ist. Eine sinngemäße Anwendung des § 119 Abs. 2 RAO 193190 so vorzunehmen, dass dadurch eine Drittwirkung auf die vorherige Ebene der Primärinanspruchnahme konstruiert würde, würde zu weit gehen. Der Verweis in § 97 Abs. 2 RAO 193191 dürfte demnach für § 119 Abs. 2 RAO 193192 nicht anwendbar gewesen sein oder zumindest eine sinngemäße Anwendung nicht zu sinnvollen Ergebnissen und insbesondere nicht zur Erlangung der hier gewollten Drittwirkung geführt haben. Eine sinngemäße Anwendung dieser für Steuerbescheide zugeschnittenen Norm auf Haftungsbescheide dürfte demnach ausgeschlossen gewesen sein.93 84

RGBl. 1931, S. 50. Krumm, in: StuW 2012, 329, 336. 86 RGBl. 1931, S. 47. 87 RGBl. 1931, S. 50. 88 So Krumm, in: StuW 2012, 329, 336. 89 RGBl. 1931, S. 50. 90 RGBl. 1931, S. 50. 91 RGBl. 1931, S. 47. 92 RGBl. 1931, S. 50. 93 Zur Anwendung des § 119 Abs. 2 RAO 1931 auf Haftungsbescheide finden sich auch keine Anhaltspunkte in zeitgenössischen Kommentierungen, wie beispielsweise Kühn / Kutter, AO, 10. Auflage 1970, § 119. 85

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Die Anwendbarkeit des § 166 AO auf Haftungsbescheide wird ebenfalls vom FG Düsseldorf 94 in Abwendung von der BFH-Rechtsprechung95 bejaht. § 166 AO bringe einen allgemeinen Rechtsgedanken zum Ausdruck.96 In dem zitierten Urteil des 5. Senats war der Einwendungsausschluss eines Steuerbescheids für das Haftungsverfahren gegenständlich.97 Ausführungen zum umgekehrten Fall der Anwendbarkeit des § 166 AO auf den Haftungsbescheid für einen Einwendungsausschluss im Rahmen der Primärsteuerfestsetzung liegen nicht vor. Ferner verweist das FG-Düsseldorf darauf, dass sich aus dem Beschluss des BVerfG vom 29. 11. 199698 ergebe, dass sowohl I. und VIII. Senat des BFH als auch das BVerfG wie selbstverständlich von einer Anwendbarkeit des § 166 AO auf Haftungsbescheide ausgehen würden.99 Dies vermag sich bei Lektüre des Beschlusses des BVerfG nicht erschließen. Der Beschluss befasst sich mit der Bindungswirkung des Primärsteuerbescheids gegenüber dem Haftungsbescheid. Der im gegebenen Fall der Verfassungsbeschwerde zugrunde liegende Rechtsweg stellte eine Anfechtungsklage gegen den Haftungsbescheid und nicht gegen den Primärsteuerbescheid dar. Auf die Frage, ob § 166 AO auf Haftungsbescheide anwendbar sein könnte, kommt es in dem Beschlussfall nicht an. Aus den Urteilsgründen des Beschlusses wird ersichtlich, dass Zweifel an der Verletzung der Garantie effektiven Rechtsschutzes bestanden, weil der Haftungsschuldner sich weder unmittelbar gegen die primäre Steuerfestsetzung noch mittelbar im Rahmen des Haftungsverfahren gegen dieselbe zur Wehr setzten konnte, da insofern § 166 AO von der Finanzgerichtbarkeit für anwendbar gehalten wurde. Es handelt sich hierbei um die etwaig fehlerhafte Annahme der Voraussetzungen des § 166 AO durch die Instanzgerichte. Um die Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 166 AO auf Haftungsbescheide geht es in dem Beschluss hingegen nicht. Nicht zielführend dürfte auch eine teleologische Auslegung des § 166 AO dergestalt sein, dass sich bei Unanwendbarkeit des § 166 AO auf Haftungsbescheide auf Grund des Verfahrensdualismus unbillige Ergebnisse ergeben würden.100 Hierbei sind zwei Konstellationen zu unterscheiden. Zum einen ist der Fall zu nennen, in dem eine GmbH eine Lohnsteueranmeldung abgibt und infolgedessen ein drittwirkender Steuerbescheid fingiert wird.101 Hierzu wird der Vergleichsfall angeführt, dass der Geschäftsführer einer GmbH es unterlässt, die Lohnsteueranmeldung abzugeben, sodass infolgedessen das Finanzamt die Wahl hat, einen Steuerbescheid mit Drittwirkung gegenüber der GmbH zu erlassen oder den Geschäftsführer mit 94

FG Düsseldorf, Urteil vom 21. 11. 1997 – 3 K 8003/93 H (U), EFG 1998, 616. BFH, Urteil vom 28. 07. 1966 – V 64/64, BStBl. III 1966, 610. 96 FG Düsseldorf, Urteil vom 21. 11. 1997 – 3 K 8003/93 H (U), EFG 1998, 616, 616; ebenso Krumm, in: Tipke / Kruse, AO, § 166, Rn. 11; Krumm, in: StuW 2012, 329, 336. 97 BFH, Urteil vom 28. 07. 1966 – V 64/64, BStBl. III 1966, 610, 610. 98 BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), Beschluss vom 29. 11. 1996 – 2 BvR 1157/93, BStBl. II 1997, 415, 418. 99 FG Düsseldorf, Urteil vom 21. 11. 1997 – 3 K 8003/93 H (U), EFG 1998, 616, 616. 100 Krumm, in: StuW 2012, 329, 336 f. 101 Krumm, in: Tipke / Kruse, AO, § 166, Rn. 11. 95

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tels Haftungsbescheides in Anspruch zu nehmen,102 der nach zutreffender Ansicht keine Drittwirkung gegenüber der GmbH hat. Es gehe in beiden Fällen der Sache nach um die Verwirklichung des Lohnsteueranspruchs, der nur verfahrensrechtlich verschieden eingekleidet sei.103 Eine unterschiedliche Behandlung beider Festsetzungen sei nicht erklärbar.104 Hierzu ist hinzuzufügen, dass die unterschiedliche Behandlung gleichwohl durch die verschiedenen Ebenen der Inanspruchnahme erklärbar ist. In der Abgabenordnung 1977 ist in Abkehr zu den früheren Regelungen der Reichsabgabenordnung eine strikte Unterscheidung von Steuer- und Haftungsverfahren eingeführt worden. Das Haftungsverfahren wurde aus dem Steuerfestsetzungsverfahren herausgelöst. Aus dieser Unterscheidung ergeben sich unterschiedliche Behandlungen von im Kern deckungsgleichen Steuerschuldansprüchen. Es kommt hierbei darauf an, dass es sich zwar um dieselbe Steuerschuld handelt, die Inanspruchnahme jedoch nicht die Verwirklichung von kongruenten Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis darstellt, da in § 37 Abs. 1 AO ausdrücklich zwischen der Steuer- und der Haftungsschuld unterschieden wird. Diese Unterscheidung rechtfertigt sehr wohl eine ex lege unterschiedlich ausgestaltete Wirkung der Festsetzung dieser unterschiedlichen Ansprüche, die darüber hinaus auch noch gegenüber unterschiedlichen Gruppen von Steuerpflichtigen nach § 33 Abs. 1 AO festgesetzt werden. Bei dieser teleologischen Auslegung ist jedoch noch ein anderer Fall anzuführen, der ebenfalls nicht für die Anwendung des § 166 AO auf den Haftungsbescheid sprechen kann: Gibt der Arbeitgeber eine Lohnsteueranmeldung nicht ab, so hat das Finanzamt nach derzeitiger (unzulässiger) Verwaltungspraxis ebenfalls mehrere Möglichkeiten diesen in Anspruch zu nehmen, selbst wenn kein Fall der Geschäftsführerhaftung bei einer GmbH vorliegt. So kann sie den Arbeitgeber als Haftungsschuldner in Bezug auf die Lohnsteuer mittels Haftungsbescheids in Anspruch nehmen. Auf der anderen Seite könnte die Finanzverwaltung jedoch auf den Arbeitgeber als Entrichtungsschuldner zurückgreifen und diesen über § 167 Abs. 1 S. 1 AO mittels Nachforderungsbescheids in Anspruch nehmen. Im letzteren Fall entfaltet die Steuerfestsetzung unstreitig Drittwirkung gegenüber einer etwaig erfolgenden Inanspruchnahme des Arbeitnehmers mittels Steuerbescheids. Im ersteren Fall wäre die Drittwirkung nach der hier vertreten Ansicht hingegen abzulehnen. Auch hier führt die Wahl des Verfahrenswegs zu unterschiedlichen Ergebnissen, obwohl im Kern nicht nur dieselbe Steuerschuld, sondern sogar eine Schuld auf Grundlage derselben Pflichtverletzung des Entrichtungsschuldners gegenüber derselben Person geltend gemacht wird. Zu dieser verfahrensrechtlichen Situation ist jedoch anzumerken, dass zum einen nicht von dem etwaig nach aktueller gesetzlicher Regelung zulässigen Wahlrecht der Finanzverwaltung auf eine Überdehnung des Anwendungsbereichs einer Verfahrensnorm geschlossen werden darf. Zum anderen wird zwar dieselbe Person in Anspruch 102

Krumm, in: Tipke / Kruse, AO, § 166, Rn. 11. Krumm, in: Tipke / Kruse, AO, § 166, Rn. 11. 104 Krumm, in: Tipke / Kruse, AO, § 166, Rn. 11. 103

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genommen, jedoch nimmt diese bei beiden Inanspruchnahmewegen verschiedene steuerrechtliche Stellungen ein, die gleichwohl eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können. Auch wenn Haftungs- und Entrichtungsschuldner nach aktueller gesetzlicher Regelung für die hier betrachteten Fälle des EStG personenidentisch sind, könnten außerhalb des Versicherungsteuergesetzes weitere Tatbestände geschaffen werden, in denen sowohl Steuer- und Entrichtungsschuldnerschaft als auch Haftungsschuldnerschaft verschiedenen Personenkreisen zugeordnet werden. Eine solche Divergenz der Personengruppen ist im Versicherungsteuergesetz für die Versicherungsteuer kodifiziert worden. In solchen gesetzlichen Fällen würden sich die beiden Bescheide an verschiedene Personen richten. Schon ist es nachvollziehbarer, dass diese Bescheide nicht gleichbehandelt werden. Daraus kann keine allgemein für diese Haftungssituationen geltende Aussage getroffen werden. Die gesetzliche Einkleidung des Verfahrenswegs rechtfertigt demnach eine unterschiedliche Drittwirkungsgeeignetheit der beiden Bescheidarten. Heuermann bejaht zwar mit der wohl vorherrschenden Meinung, dass § 166 AO nicht unmittelbar auf Haftungsbescheide anwendbar sei.105 Er nimmt jedoch eine analoge Anwendung der Norm für den Fall an, dass gegen einen Steuerentrichtungspflichtigen als Haftungsschuldner ein Haftungsbescheid ergeht und der Primärsteuerschuldner diesen Haftungsbescheid nicht anficht.106 Da auch der Steuerschuldner diesen Haftungsbescheid anfechten könne, sei er nach Eintritt der Unanfechtbarkeit auch an die dem Haftungsbescheid zugrunde liegende Steuerfestsetzung gebunden.107 Hier wird als Argument angeführt, dass die Wirkung des § 166 AO nicht davon abhängen könne, auf welchem Verfahrenswege die Finanzverwaltung die Haftungsschuld gegenüber dem Entrichtungsschuldner geltend macht.108 Dies ist wie zuvor dargelegt auf Grund des herrschenden Verfahrensdualismus nicht zutreffend. Darüber hinaus muss nicht jedes Drittanfechtungsrecht nach § 350 AO zu einer Drittwirkung nach § 166 AO führen. Die Normen haben unterschiedliche Regelungsbereiche. § 350 AO regelt die Anfechtungsbefugnis. § 166 AO regelt einen Anwendungsausschluss in bestimmten Fällen. § 166 AO führt hierbei zu einer erheblichen Einschränkung der Garantie effektiven Rechtsschutzes. Wird dem Personenkreis des § 350 AO ein Anfechtungsrecht zugestanden, darf dies auch nur in Ausnahmefällen durch den Einwendungsausschluss des § 166 AO beschnitten werden. Hierfür ist zunächst erst einmal notwendig, dass die Norm überhaupt anwendbar ist. Erst auf zweiter Stufe der Prüfung ist zu fragen, gegenüber welchen Personen eine Drittwirkung in Betracht kommt, weil diese die Voraussetzungen 105

Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 166, Rn.  4 f. Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 166, Rn. 4; ablehnend: Oellerich, in: Gosch, AO, § 166, Rn. 9. 107 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 166, Rn.  4. 108 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 166, Rn.  4. 106

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des § 166 AO erfüllen. Erst hierbei ist auf die Anfechtungsberechtigung aus § 350 AO Bezug zu nehmen, um das eigene Anfechtungsrecht Dritter in Bezug auf den drittwirkungsgeeigneten Bescheid zu ermitteln. § 350 AO steht in der Prüfungskette hinter dem § 166 AO. Er kann dessen Anwendungsbereich in Bezug auf die Drittwirkungsgeeignetheit von Steuerfestsetzungen nicht modifizieren. Sein Einfluss auf § 166 AO beschränkt sich auf die als Drittwirkungsadressaten in Frage kommenden Personen. Auch ist im § 166 AO für das Anfechtungsrecht aus eigenem Recht nicht auf § 350 AO verwiesen. Gesetzlich wird nicht einmal eine Verbindung beider Normen hergestellt. Ein bestehendes Anfechtungsrecht Dritter nach § 350  AO vermag eine analoge Anwendung des § 166  AO auf von dessen Anwendungsbereich grundsätzliche nicht erfasste Bescheidarten demnach nicht rechtfertigen. § 166 AO ist nicht auf Haftungsbescheide anwendbar, sodass solche keine Drittwirkung gegenüber dem Steuerschuldner entfalten können. c) Schätzung der Haftungsgrundlagen Grundsätzlich findet auch § 162 AO auf Grund der systematischen Stellung in der Abgabenordnung auf Haftungsbescheide keine Anwendung.109 Das bedeutet, dass die Haftungsschuld grundsätzlich nicht auf Grundlage einer Schätzung festgesetzt werden darf, weil für das Haftungsverfahren keine dem § 162 AO entsprechende Vorschrift existiert. § 162 AO gestattet nur die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen.110 So kann eine Schätzung im Haftungsverfahren nur mittelbar zur Geltung kommen, indem die Besteuerungsgrundlagen der Primärschuld geschätzt werden.111 Der BFH hat teilweise auch eine Schätzung der Höhe der Haftungsschuld zugelassen.112 Der erkennende 7. Senat hat hierbei jedoch nicht weiter begründet, warum auch im Haftungsverfahren auf eine Schätzung zurückgegriffen werden kann. Eine wenn auch mittelbare Schätzung der Haftungsschuld im Haftungsverfahren sollte nur zugelassen werden, insofern vor dem Bescheiderlass auf Sekundärebene als Ergebnis der Schätzung ein Steuerbescheid auf Primärebene auf Grundlage der geschätzten Besteuerungsgrundlagen gegenüber dem Primärschuldner ergan 109

Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 162, Rn. 4; Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 162, Rn.  14. Cöster, in: König, AO, § 162, Rn. 12; so auch Rüsken, in: Klein, AO, § 162, Rn. 17d: in Bezug auf die Passagen, in denen der Autor Aussagen zur reinen Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des Haftungsbescheids und in Bezug auf die Haftungsschuld trifft; Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 162, Rn. 14. 111 BFH, Urteil vom 26. 10. 2011 – VII R 22/10, BFH / NV 2012, 777, BeckRS 2012, 94569, Rn. 12: hier wird teilweise direkt auf die Schätzung der Haftungsschuld verwiesen; BFH, Urteil vom 17. 03. 1994 – VI R 120/92, BStBl. II 1994, 536, 538; Von Wedelstädt, in: Kühn / von Wedelstädt, AO, § 162, Rn. 6; Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 162, Rn. 4; Trzaskalik, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 162, Rn.  4; Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 162, Rn. 14. 112 BFH, Beschluss vom 31. 03. 2000 – VII B 187/99, BFH / NV 2000, 1322, BeckRS 2000, 25004804, Tz. II. 3b). 110

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gen ist. Die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen ist Teil des Ermittlungs- und Festsetzungsverfahren, das grundsätzlich mit dem Erlass eines Steuerbescheids endet.113 Nunmehr können im Haftungsverfahren solche Besteuerungsgrundlagen nicht festgesetzt werden. Eine Schätzung kann verfahrensrechtlich nur mit dem Ergebnis eines Steuerbescheids enden. Andersfalls verbleibt das Ergebnis der Schätzung in einem anderen Steuerverwaltungsverfahren ohne Ergebnis und kann nicht für das hiervon zu unterscheidende Haftungsverfahren genutzt werden. In diesem Fall ist von § 191 Abs. 3 S. 4 AO, der verdeutlicht, dass ein Haftungsbescheid vor Erlass des primären Steuerbescheids ergehen kann, eine Ausnahme zu machen. Es kommt im Schätzungsfall zur Subsidiarität der Haftung auf Festsetzungsebene. Zur Weiterverwertung der Ergebnisse der Schätzung, müssen hieraus ermittelte Besteuerungsgrundlagen zunächst rechtlich verbindlich existent sein, um einen Zugriff auf die Schätzung für das Haftungsverfahren zu ermöglichen. Andernfalls käme es zur Umgehung der nach der Gesetzessystematik explizit nur für Steuerbescheide anwendbaren Vorschriften. Abhilfe könnte hier der Gesetzgeber schaffen, indem er § 162 AO auch und ggf. nur unter bestimmten Voraussetzungen für das Haftungsverfahren für anwendbar erklärt. Unbillige Ergebnisse würden sich bei Anwendung des § 162 AO für die Haftungsschuld ebenfalls dann ergeben, wenn es zum Nachteil des Haftungsschuldners wirkt, dass der Primärsteuerschuldner seinen Erklärungs- und Mitwirkungspflichten gegenüber dem Finanzamt nicht nachkommt. Dies kommt nur in den Fällen in Betracht, in denen der Haftungsschuldner nicht zugleich auch Entrichtungsschuldner ist oder die Haftung nicht im Zusammenhang mit einem Steuerentrichtungsverfahren steht. Die Voraussetzung einer Schätzung nach § 162 AO setzen daran an, dass der Steuerpflichtige, zu dessen Lasten geschätzt werden soll, eine Mitwirkungspflicht gegenüber dem Finanzamt verletzt. Als Folge der Obligationsverletzung kann das Finanzamt schätzten. Im Haftungsfall könnte jedoch die Pflichtverletzung des Steuerschuldners zu Lasten des Haftungsschuldners wirken. Selbst wenn auch der Haftungsschuldner zuvor zur Abgabe der notwendigen Erklärungen oder Unterlagen aufgefordert wird, hat er ggf. keinen Zugriff auf diese Unterlagen, da diese aus der Sphäre des Primärschuldners stammen können. Dies ist auch für die Fälle der Haftung relevant in denen Haftungs- und Entrichtungsschuldner nicht personenidentisch sind. Eine Anwendung des § 162 AO im Haftungsverfahren ist demzufolge als kritisch anzusehen und abzulehnen, sofern nicht zuvor die Steuerschuld gegenüber dem Primärschuldner auf Grundlage der Schätzung festgesetzt wird.

113

Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 162, Rn. 92.

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d) Änderungsvorschriften für Haftungsbescheide Die Änderungsvorschriften der §§ 172 ff. AO für Steuerbescheide sind ebenfalls auf Haftungsbescheide nicht anwendbar.114 Vielmehr erfolgt eine etwaige Änderung eines Haftungsbescheids nach den allgemeinen Vorschriften für Steuerverwaltungsakte nach den §§ 129 ff. AO.115 § 129 S. 1 AO ermöglicht die Änderung von offenbaren Unrichtigkeiten, die beim Erlass des Verwaltungsakts unterlaufen sind. Die Korrektur steht im Ermessen der Finanzbehörde. Lediglich bei berechtigtem Interesse des Beteiligten muss die Finanzbehörde den Haftungsbescheid berichtigen, vgl. § 129 S. 2 AO. § 130 AO ist die Ermächtigungsgrundlage für die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts. Hierbei richtet sich die Rücknahme eines rechtswidrigen, belastenden Verwaltungsakts nach § 130 Abs. 1 AO. Eine solche Rücknahme ist für die Vergangenheit und Zukunft ohne das Hinzutreten weiterer Voraussetzungen möglich. Die Rücknahme steht allerdings im Ermessen der Finanzbehörde.116 Die Anforderungen an die Rücknahme eines rechtswidrigen, begünstigenden Verwaltungsakts nach § 130 Abs. 2 AO sind höher. Für die Rücknahme des rechtswidrigen, begünstigenden Verwaltungsakts muss einer der in § 130 Abs. 2 Nr. 1–4 AO genannten Rücknahmegründe vorliegen. Die Rücknahme muss darüber hinaus innerhalb der Jahresfrist des § 130 Abs. 3 AO erfolgen. Die Jahresfrist findet nach § 130 Abs. 3 S. 2 AO keine Anwendung, wenn der Rücknahmegrund der arglistigen Täuschung, Drohung oder Bestechung nach § 130 Abs. 2 Nr. 2 AO gegeben ist. Zur Rücknahme rechtswidriger Steuerverwaltungsakte nach § 130 Abs. 1 oder Abs. 2 AO ist gemäß § 130 Abs. 4 AO die zur Zeit der Rücknahme örtlich zuständige Behörde ermächtigt. Dies gilt ebenfalls, wenn der zurückzunehmende Bescheid ursprünglich von einer anderen Behörde erlassen wurde. § 131 AO ermächtigt die Finanzbehörde zum Widerruf eines rechtmäßigen Verwaltungsaktes. Ein rechtmäßiger, belastender Verwaltungsakt kann nach § 131 Abs. 1 AO mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden. Der Widerruf ist ausgeschlossen, wenn ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts erneut erlassen werden müsste oder der Widerruf aus anderen Gründen unzulässig ist, vgl. § 131 Abs. 1 a. E. AO. Anders als bei der Rücknahme eines rechtswidrigen, belastenden Verwaltungsaktes nach § 130 Abs. 1 AO ist der Widerruf eines rechtmäßigen, belastenden Verwaltungsakts nur für die Zukunft möglich. Ein rechtmäßiger, begünstigender Verwaltungsakt darf nur bei Vorliegen eines Widerrufsgrunds nach § 131 Abs. 2 S. 1 Nr. 1–3 AO widerrufen werden. Hierbei gilt durch Verweis des § 131 S. 2 AO ebenfalls die Jahresfrist aus § 130 Abs. 3 AO. Für den Widerruf ist nach § 131 Abs. 4 AO die örtlich zuständige Behörde zuständig, auch

114

Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 109; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 121. Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 109; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 121. 116 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  81. 115

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wenn der zu widerrufende Steuerverwaltungsakt ursprünglich von einer anderen Finanzbehörde erlassen worden ist. e) Festsetzungsverjährung der Haftungsschuld Gemäß § 191 Abs. 3 S. 1 AO sind die Vorschriften über die Festsetzungsfrist in §§ 169 ff. AO auf Haftungsbescheide entsprechend anwendbar. Für die entsprechende Anwendung der Vorschriften zur Festsetzungsverjährung auf Haftungsbescheide enthalten § 191 Abs. 3 S. 2 ff. AO jedoch einige Modifizierungen, die im Folgenden dargelegt werden. Die Festsetzungsfrist beträgt nach § 191 Abs. 3 S. 2 AO vier Jahre. Die Festsetzungsverjährung wird in Fällen der Steuerhinterziehung auf zehn Jahre und bei leichtfertiger Steuerverkürzung auf fünf Jahre verlängert. Die Festsetzungsfrist beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Tatbestand verwirklicht wird, an den das Gesetz die Haftungsfolge knüpft, § 191 Abs. 3 S. 3 AO. Dies ist der Fall, wenn alle Tatbestandsmerkmale der materiellen Haftungsnorm erfüllt sind.117 Bei Haftungsbescheiden wird die Leistungspflicht zum einen an das Vorliegen der Voraussetzungen der materiellen Haftungsnormen geknüpft; zum anderen muss eine Steuerschuld bestehen, für die auf Grundlage der Haftungsnorm in Anspruch genommen werden soll.118 Beide Voraussetzungen müssen auch für den Beginn der Festsetzungsverjährung erfüllt sein.119 Auf den Erlass des Haftungsbescheids kommt es hingegen für das Bestehen der Haftungsschuld nicht an.120 Eine Besonderheit stellt § 191 Abs. 3 S. 4 AO dar: Ist die Primärschuld, die der Haftung des Haftungsschuldners zugrunde liegt, noch nicht festgesetzt worden, so endet die Festsetzungsfrist für den Haftungsbescheid auf Sekundärebene nicht vor Ablauf der für die Steuerfestsetzung geltenden Festsetzungsfrist nach §§ 169 ff. AO. Andersfalls soll § 171 Abs. 10 AO sinngemäß gelten, § 191 Abs. 3 S. 4 a. E. AO. Ist die Haftung nicht von einer Primärschuld abhängig, dürfte die Vorschrift ins Leere gehen. Der Verweis auf die Ablaufhemmung für Grundlagen- und Folgebescheide führt dazu, dass der Festsetzungsbescheid über die Primärschuld für Zwecke der Ablaufhemmung seiner Wirkung nach wie ein Grundlagenbescheid zu qualifizieren ist.121 Die Festsetzung der Haftungsschuld ist infolgedessen in entsprechender Anwendung des § 171 Abs. 10 AO auch noch zwei Jahre nach Bekanntgabe des Primärsteuerbescheids möglich.

117

Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 100. Vgl. Kapitel A. I. 3. 119 Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 95a; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 151, 19. 120 Vgl. Kapitel A. I. 3. 121 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  157; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 95e. 118

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Für die Inanspruchnahme eines Entrichtungsschuldners als Haftungsschuldner ist für den Beginn der Festsetzungsverjährung des Haftungsbescheids § 170 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AO anwendbar.122 Die Anlaufhemmung der Primärschuld wirkt als Ablaufhemmung der Festsetzungsverjährung der Sekundärschuld.123 Gleiches gilt für eine etwaige Ablaufhemmung der Primärschuld. Auch diese ist für die Sekundärebene anzuwenden und wirkt hier ebenfalls als Ablaufhemmung.124 Die entsprechende Anwendung der Regelung zur Festsetzungsverjährung von Steuerbescheiden mit den in § 191 Abs. 3 AO kodifizierten Modifikationen für Haftungsbescheide verdeutlicht, dass Primär- und Sekundärebene zwar grundsätzlich voneinander zu trennende, selbstständige Verfahren sind, die über getrennte Regelungen zur Festsetzungsverjährung verfügen. Auf der anderen Seite zeigen die vorhandenen Regelungen die akzessorische Verknüpfung zwischen beiden Ebenen, da die Festsetzungsverjährung der Haftungsschuld durch eine Ablaufhemmung an die Festsetzung der Primärlast geknüpft wird. f) Anwendbarkeit der § 155 ff. AO auf Haftungsbescheide Die Vorschriften für den Erlass von Steuerbescheiden in §§ 155 ff. AO sind auf Haftungsbescheide grundsätzlich nicht anwendbar. Eine etwaig ausnahmsweise bestehende Anwendbarkeit einzelner Regelungen der §§ 155 ff. AO auf Haftungsbescheide wird im Folgenden separat erörtert. aa) Zusammengefasste Haftungsbescheide nach § 155 Abs. 3 AO § 155 Abs. 3 AO enthält Regelungen zum Erlass von zusammengefassten Verwaltungsakten gegenüber Gesamtschuldnern. Eine solche Regelung ist für Haftungsbescheide gesetzlich nicht vorgesehen. Teilweise wird eine analoge Anwendung für den Fall diskutiert, dass mehrere Haftungsschuldner in einem Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden sollen.125 Sofern keine Verletzung des Steuergeheimnisses in Betracht kommt, solle die Vorschrift im Umkehrschluss nicht verbieten, dass außerhalb ihres Anwendungsbereichs zusammengefasste Bescheide ergehen.126 Bei der Inanspruchnahme mehrerer Haftungsschuldner in einem Haftungsbescheid als zusammengefassten Bescheid kommt eine Verletzung des Steuergeheimnisses nicht in Betracht. § 30 Abs. 4 Nr. 1 AO erlaubt die Offenbarung und Verwertung geschützter Daten, soweit sie der Durchführung irgendeines steuer­

122

Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 95b. Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 95c. 124 Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 191, Rn. 70. 125 Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 155, Rn. 36; Cöster, in: König, AO, § 155, Rn. 60. 126 Rüsken, in: Klein, AO, § 155, Rn. 46. 123

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lichen Verfahrens desselben oder anderer Steuerpflichtiger dienen.127 So sollte der Erlass eines zusammengefassten Haftungsbescheids analog § 155 Abs. 3 AO zulässig sein. bb) Sonstige Verfahrensvorschriften für Haftungsbescheide128 Die Vorschriften über den automatisierten Erlass eines Steuerbescheids sind ebenfalls nicht auf Haftungsbescheide anwendbar. Zwar ist der automatisierte Erlass für Ermessensentscheidungen nicht völlig ausgeschlossen, wird jedoch kritischer betrachtet als bei einer gebundenen Entscheidung.129 Ein Haftungsbescheid darf jedoch ebenfalls automatisiert erlassen werden. Dies ergibt sich für Haftungsbescheide zwar nicht aus § 155 Abs. 4 AO, jedoch setzt § 119 Abs. 3 S. 2 AO voraus, dass der Erlass allgemeiner Steuerverwaltungsakte auch formularmäßig oder automatisiert möglich ist. Das Absehen von der Steuerfestsetzung nach den Regelungen des § 156 AO ist für Haftungsbescheide nicht möglich. Ein Absehen von der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners kann sich nur auf Ermessensebene ergeben. § 157 Abs. 1 S. 1 AO ist ebenfalls nicht anwendbar, sodass Haftungsbescheide wegen der Regelung in § 191 Abs. 1 S. 3 AO nur schriftlich und nicht auch elek­ tronisch ergehen dürfen. Zwar lässt § 119 Abs. 2 AO zu, dass ein Verwaltungsakt schriftlich, elektronisch, mündlich oder in anderer Weise erlassen werden kann, § 191 Abs. 1 S. 3 AO schränkt diese Regelung als Spezialvorschrift für Haftungsbescheide jedoch wieder ein. Die sich aus § 157 Abs. 1 S. 2 AO ergebenden inhaltlichen Angaben müssen in einem Haftungsbescheid in Bezug auf die Primär- und Sekundärebene ebenfalls vorhanden sein. Dies ergibt sich aus dem für allgemeine Steuerbescheide geltenden Bestimmtheitsprinzip des § 119 Abs. 1 AO. Im Gegensatz zu § 157 Abs. 1 S. 3 AO ist für den Erlass eines Haftungsbescheids keine Rechtsbehelfsbelehrung vorgeschrieben. Die Rechtsbehelfsfrist des § 356 Abs. 1 AO beginnt aber nur zu laufen, wenn eine Rechtsbehelfsbelehrung erfolgt ist.130 Ebenso gibt es für Haftungsbescheide keine Vorschrift, die die Besteuerungsgrundlagen für nicht selbständig anfechtbare Teile des Bescheids erklärt, wie dies in § 157 Abs. 2 AO für Steuerbescheide geregelt ist. § 157 Abs. 2 AO ist jedoch nur deklaratorischer Natur131, sodass ein Fehlen einer solchen Regelung für Haf-

127

Rüsken, in: Klein, AO, § 30, Rn. 73 f. Auf die Anwendbarkeit der Beweislastregelungen in den §§ 158 ff. AO wird mangels Relevanz verzichtet. 129 Rüsken, in: Klein, AO, § 155, Rn. 57a. 130 Intemann, in: König AO, § 191, Rn. 74. 131 Cöster, in: König, AO, § 157, Rn. 21. 128

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tungsbescheide praktisch keine Auswirkungen hat. Die Angabe der Besteuerungsgrundlagen ist Teil der Begründung eines Verwaltungsakts nach § 121 Abs. 1 AO.132 Besteuerungsgrundlagen in diesem Sinne enthält der Haftungsbescheid nicht, da dieser keine Steuerfestsetzung enthält. Haftungsbescheide werden jedoch mit einer Begründung versehen, die als Haftungsgrundlagen den Besteuerungsgrundlagen ähneln. Für die Haftungsgrundlagen gilt ebenfalls, dass diese ein nicht separat anfechtbarer Teil der Begründung des Haftungsbescheids sind.

2. Formelle Verfahrensvoraussetzungen des Haftungsbescheids Zunächst sind die formellen Anforderungen an den Erlass von Haftungsbescheiden zu betrachten. Hierbei wird die Bearbeitung der Verfahrensvoraussetzungen in Zuständigkeit, Verfahren und Form untergliedert. Die Betrachtung der jeweiligen Voraussetzungen des Haftungsbescheids erfolgt durchgängig in Anbetracht der für die Dreieckssituation in Frage kommenden Haftungstatbestände. a) Zuständigkeiten Die sachliche Zuständigkeit für den Erlass der Haftungsbescheide richtet sich nach § 16 AO i. V. m. § 17 FVG. Gemäß § 17 FVG sind die Finanzämter als örtliche Landesbehörden für die Verwaltung der Steuern zuständig. Die Verwaltung der Steuern umfasst auch die Inanspruchnahme der Haftungsschuldner. Für eine solche Auslegung der Zuständigkeitsvorschrift spricht, dass nur an einer Stelle in dem FVG ausdrücklich von der Haftung für eine Steuer gesprochen wird.133 Folgerichtig muss man davon ausgehen, dass das FVG nicht zwischen Steuerfestsetzung und Haftungsverfahren unterscheidet, soweit nicht ausdrücklich nur auf die Haftung Bezug genommen wird und für das Haftungsverfahren eine von der Primärfestsetzungszuständigkeit abweichende Zuständigkeit geregelt wird. Von der sachlichen Zuständigkeitszuteilung des § 17 FVG sind demnach sowohl die Primär- als auch die Sekundärebene der Besteuerung erfasst. Die örtliche Zuständigkeit für den Erlass der Haftungsbescheide soll sich aus §§ 17, 24 AO ergeben.134 Nach § 24 AO ist das Finanzamt örtlich zuständig, in dessen Bezirk der Anlass für die Amtshandlung hervortritt. § 24 AO fungiert als Auffangtatbestand, soweit sich die örtliche Zuständigkeit nicht aus anderen Vorschriften ergibt.135 Hierbei ist darüber hinaus zu beachten, dass die allgemeinen 132

Cöster, in: König, AO, § 157, Rn. 21. Vgl. beispielsweise § 5 Abs. 1 Nr. 12 FVG; Zuständigkeit dem Bundeszentralamt für Steuern zugewiesen. 134 Halaczinsky, Die Haftung im Steuerrecht, 4. Auflage 2013, S. 266; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 120, m. w. N. 135 Wünsch, in: König, AO, § 24, Rn. 1; Rätke, in: Klein, AO, § 24, Rn. 1. 133

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

Vorschriften der §§ 18 ff. AO nur greifen, soweit in den Steuergesetzen nichts anderes bestimmt ist, vgl. § 17 AO. Für die sich aus § 24 AO ergebende örtliche Zuständigkeit ist fraglich, an welchem Ort der Anlass für den Erlass des Haftungsbescheids hervortritt. Der Anlass soll dort hervortreten, „wo eine sachlich und funktionell zuständige Finanzbehörde aufgrund konkreter Anhaltspunkte zuerst erkennt, dass eine Amtshandlung in Betracht kommt“.136 Hierbei soll es nicht darauf ankommen, welche Behörde dies zuerst erkennt.137 Dies soll bei Haftungssachen in der Regel bei dem Finanzamt sein, dass für die Verwaltung der Steuer des Steuerschuldners zuständig ist.138 Als Anlass im Sinne des § 24 AO wird hier der Sachzusammenhang zwischen Sekundär- und Primärschuld gesehen.139 In der Rechtsprechung wird teilweise auf das für den Haftungsschuldner zuständige Finanzamt abgestellt.140 Anlass für ein Tätigwerden ergebe sich dort, wo der Haftungsschuldner die Steuern nicht anmeldet, einbehält und abführt.141 Der gleiche Regelungstypus des Auffangtatbestands „Anlassort“ ist in der Zuständigkeitsregelung in § 3 Abs. 1 Nr. 4 VwVfG vorhanden. Die dortige Regelung weist eine Verbindung zu den in vielen Polizeigesetzen befindlichen anlassbezogenen Maßnahmen auf.142 Doch auch die Regelungen in den Polizeigesetzen der Länder und die Auslegung des Anlassorts in der Literatur sind nicht einheitlich. So wird teilweise auf den Ort abgestellt, an dem die behördliche Maßnahme wirken bzw. wirksam werden soll.143 Andererseits wird auf die verschiedenen Regelungen der Polizeigesetze der Länder verwiesen.144 So sehen einige Polizeigesetze hierfür ein Anknüpfen an den Ort der Rechtsgutsverletzung vor.145 Andere Polizeigesetze knüpfen die örtliche Zuständigkeit an den Ort der Wahrnehmung der polizeilichen Maßnahme an.146 Der Ort der Wahrnehmung muss nicht mit dem Ort des Wirksamwerdens der polizeilichen Maßnahme identisch sein.

136

Wünsch, in: König, AO, § 24, Rn. 5. Wünsch, in: König, AO, § 24, Rn. 5. 138 BFH, Urteil vom 19. 12. 2000 – VII R 86/99, BFH / NV 2001, 744, DStRE 2001, 608, 609; BFH, Urteil vom 23. 07. 1998 – VII R 141/97, BFH / NV 1999, 433, BeckRS 1998, 30020124, Tz. II. 1.; Schmieszek, in: Gosch, AO, § 24, Rn. 13. Rätke, in: Klein, AO, § 24, Rn. 2; Wünsch, in: König, AO, § 24, Rn. 6. 139 Schmieszek, in: Gosch, AO, § 24, Rn. 13. 140 BFH, Urteil vom 08. 09. 2010 – XI R 15/08, BFH / NV 2011, 661, BeckRS 2011, 94502, Rn. 30. 141 BFH, Urteil vom 08. 09. 2010 – XI R 15/08, BFH / NV 2011, 661, BeckRS 2011, 94502, Rn. 30. 142 Schmitz, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 3, Rn.  27; Kastner, in: Fehling / Kastner / Störmer, VwVfG, § 3, Rn. 24. 143 Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, § 3, Rn. 35; Kastner, in: Fehling / Kastner / Störmer, VwVfG, § 3, Rn. 24. 144 Kastner, in: Fehling / Kastner / Störmer, VwVfG, § 3, Rn.  24. 145 So beispielsweise § 100 Abs. 2 S. 2 NSOG Niedersachsen; § 4 Abs. 1 OBG Brandenburg. 146 So beispielsweise § 68 Abs. 1 S. 2 PolG Baden-Württemberg; § 70 Abs. 2 S. 1 PolG ­Sachsen. 137

II. Festsetzung der Haftungsschuld

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Die Auslegung des Begriffs des Anlassorts wird somit zum einen erfolgsbezogen verstanden und hierbei an den Verletzungserfolg geknüpft. Andererseits wird er handlungsbezogen verstanden und knüpft an den Ort der von der Polizei bzw. der Ordnungsbehörde vorzunehmenden Amtshandlung an. Aus diesem Dualismus der Verständnisse des Begriffs „Anlassort“ ergibt sich ein weiterer Unterschied in der Auslegung. Bei Bezug zum Verletzungserfolg findet die Begriffsbestimmung mit Blick auf eine vergangene oder noch fortdauernde Handlung statt. Knüpft man hingegen an den Ort der Wahrnehmung bzw. des Wirksamwerdens an, so erfolgt die Auslegung des Anlasses zukunftsbezogen. Die vorzunehmende Amtshandlung wird erst nach der Zuständigkeitsbestimmung vorgenommen. Für die Auslegung der Vorschrift in § 3 Abs. 1 Nr. 4 VwVfG lassen sich wegen der Bezugnahme der Kommentierungen auf die verschiedenen Polizeigesetze der Länder mit den sich erheblich unterscheidenden Spezialregelungen nur wenig Schlussfolgerungen für die Auslegung des § 24 AO gewinnen. Es kommen verschiedene Finanzämter in Betracht, in denen der Anlass zum Tätigwerden hervortreten kann. Zum einen kann dies das für die Einkommensbesteuerung des Primärschuldners zuständige Finanzamt sein. Zum anderen kommt das für die Besteuerung des Entrichtungsschuldners zuständige Finanzamt in Betracht. Teilweise sehen die Spezialgesetze eine eigene Regelung zur örtlichen Zuständigkeit vor. Hierbei ist teilweise das für die Einkommensbesteuerung des Entrichtungsschuldners zuständige Finanzamt ebenfalls für die Festsetzung der Haftungsschuld zuständig.147 Teilweise ist das für die Einkommensbesteuerung des Primärsteuerschuldners zuständige Finanzamt für den Erlass des Haftungsbescheids zuständig.148 Keine Regelung hierzu ist hingegen bei der Kapitalertragsteuer vorhanden, sodass es hier einer Erörterung der örtlichen Zuständigkeit bedarf.149 Die Festsetzung der Haftungsschuld knüpft an einen in der Vergangenheit liegenden Vorgang an, der im Festsetzungszeitpunkt schon abgeschlossen ist. Demnach bietet sich zur Auslegung des § 24 AO ein Verständnis der Anlassbezogenheit an, bei dem erfolgsbezogenen an die abgeschlossene Verwirklichung eines Haftungstatbestands angeknüpft wird. Die Verwirklichung des Haftungstatbestands tritt hierbei an dem Ort ein, an dem der Entrichtungsschuldner die Steuer nicht oder nicht ordnungsgemäß einbehält und an das Finanzamt abführt. Damit wird die Zuständigkeit des für die Besteuerung des Entrichtungsschuldners zuständige Finanzamt begründet. Für die hiesig betrachteten Dreieckskonstellationen bestehen teilweise Sondervorschriften in den Einzelsteuergesetzen.

147

Bei der Lohnsteuer (§ 42d Abs. 3 S. 2 EStG). Bei der Bauabzugsteuer (§ 48a Abs. 3 S. 4 EStG). 149 Vgl. hierzu Kapitel A. II. 2. a) bb). 148

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

aa) Zuständigkeit Lohnsteuerhaftung Für die Haftung des Arbeitgebers für einzubehaltende und abzuführende Lohnsteuer nach § 42d EStG ist eine solche Sondervorschrift in § 42d Abs. 3 S. 2 EStG zu finden. Demnach ist das Betriebsstättenfinanzamt für die Festsetzung der Haftungsschuld des Arbeitgebers zuständig. Für die Haftung des Arbeitgebers wird eine ausdrückliche Zuständigkeitsregelung für die Sekundärebene getroffen, sodass es keines Rückgriffs auf die Auffangregelung in § 24 AO bedarf. bb) Zuständigkeit Kapitalertragsteuerhaftung Für die Haftung des Schuldners der Kapitalerträge, der den Verkaufsauftrag ausführenden Stelle oder der die Kapitalerträge auszahlenden Stelle für die Kapitalertragsteuer nach § 44 Abs. 5 EStG ergibt sich eine besondere Zuständigkeit nur mittelbar aus § 44 Abs. 1 S. 5 EStG. Die Vorschriften regeln hierbei die Zuständigkeit für die Entrichtungsschuld der nach § 44 Abs. 1 EStG in Betracht kommenden Entrichtungsschuldner der Kapitalerträge. § 44 Abs. 1 S. 5 Nr. 1–3 EStG sollte trotz der offenen Formulierung kein Wahlrecht in Bezug auf die dort genannten Finanzämter darstellen. Vielmehr betreffen die Nr. 1–3 die drei möglichen Entrichtungsschuldner aus § 44 Abs. 1 EStG. Je nachdem, welcher Tatbestand des § 43 Abs. 1 EStG verwirklicht wird, können Entrichtungsschuldner der Kapitalertragsteuer der Schuldner, der Gläubiger, die den Verkaufsauftrag ausführende Stelle oder die Kapitalerträge auszahlende Stelle sein, vgl. § 44 Abs. 1 EStG. Korrespondierend hierzu regelt § 44 Abs. 1 S. 5 Nr. 1–3 EStG drei verschiedene Zuständigkeiten der Finanzämter für Erfüllung der Entrichtungsschuld durch den jeweiligen Entrichtungsschuldner. Jeder Tatbestand ist hierbei einem Entrichtungsschuldnertyp zugeordnet. Die die Haftung auslösende Pflichtverletzung wird durch den Entrichtungsschuldner der Kapitalertragsteuer durchgeführt. Die Pflichtverletzung unterbricht den Sachzusammenhang zur Besteuerung der Primärschuld, sodass der Anlass bei dem Finanzamt der Einkommensbesteuerung des Entrichtungsschuldners zu Tage treten sollte. Wie bereits dargelegt,150 sollte die Zuständigkeit des für die Besteuerung des Entrichtungsschuldners zuständige Finanzamt begründet sein. cc) Zuständigkeit Bauabzugsteuerhaftung Für die Haftung des Bauleistungsempfängers für Bauabzugsteuer enthält das EStG eine Spezialregelung für die örtliche Zuständigkeit im Haftungsverfahren. Nach § 48a Abs. 3 S. 4 EStG ist für den Erlass des Haftungsbescheids das für den Bauleistenden zuständige Finanzamt örtlich zuständig. 150

Vgl. Kapitel A. II. 2. a).

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Bei der Bauabzugsteuer ist demnach, im Unterschied zur Lohn- und Kapitalertragsteuerhaftung, das für den Primärsteuerschuldner für Zwecke der Einkommensteuer zuständige Finanzamt zum Erlass des Haftungsbescheids befugt. Die Abweichung ist dadurch folgerichtig, dass die Bauabzugsteuer keine abgeltende Wirkung hat. Für die sich anschließende Einkommensbesteuerung des Primärsteuerschuldners ist sein Einkommensteuer-Finanzamt zuständig. So ist es sinnvoll, wenn das sowieso mit dieser Sache befasste Finanzamt auch einen dieselbe Steuer betreffenden Haftungsbescheid gegenüber dem Entrichtungsschuldner erlassen kann. dd) Zuständigkeit Haftung für den Steuerabzug nach § 50a EStG Nach § 50a Abs. 5 S. 2 EStG hat der Schuldner der Vergütung den Steuerabzug vorzunehmen und die einbehaltene Steuer an das Bundeszentralamt für Steuern abzuführen. Das EStG enthält keine Spezialregelung zur örtlichen Zuständigkeit für den Erlass eines diesbezüglichen Haftungsbescheids. Nach § 73e Abs. 1 EStDV ist jedoch das Bundeszentralamt für Steuern auch für den Erlass des Haftungs­ bescheids zuständig. Hierbei ist zu beachten, dass die EStDV als Rechtsverordnung kein Gesetz darstellt. Sie stellt eine exekutiv erlassene Norm dar, vgl. Art. 80 GG. Eine Rechtsverordnung ist eine nach Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG delegierte Norm, die auf Grund gesetzlicher Legitimierung der Exekutive zum Erlass der Rechtsverordnung ergeht. Ob § 17 AO die Regelungen der §§ 18 ff. AO auch hinter einer Rechtsverordnung als delegierte Norm zurücktreten lässt, ist jedoch für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit für den Erlass des Haftungsbescheids im Fall des § 50a Abs. 5 S. 4 EStG nicht entscheidend. Relevant ist vielmehr, dass § 5 Abs. 1 Nr. 12 FVG die sachliche und örtliche Erlasskompetenz für den Haftungsbescheid dem Bundeszentralamt für Steuern zuordnet. In diesem Fall wirkt die über § 16 AO i. V. m. dem FVG getroffene Anordnung der sachlichen Zuständigkeit auch für die örtliche Zuständigkeit fort. Das Bundeszentralamt für Steuern ist als Bundesoberbehörde151 für das gesamte Bundesgebiet zuständig. Somit ist eine abweichende örtliche Zuständigkeit faktisch nicht möglich, da diese Bundesoberbehörde im gesamten Bundesgebiet nur einmal vorhanden ist. ee) Zuständigkeit Haftung für Versicherungsteuer Eine Spezialregelung ist ebenfalls in § 7a VersStG enthalten. Das BZSt ist hiernach für die Versicherungsteuer zuständig. Die Vorschrift differenziert nicht zwischen den verschiedenen Ebenen der Inanspruchnahme für die Versicherungsteuer oder den verschiedenen in Betracht kommenden Bescheidadressaten. Die Regelung ist stattdessen inhaltsbezogener Natur. Bei systematischer Betrachtung des VersStG 151

Vgl. § 1 Nr. 2 FVG.

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

muss sich die Zuständigkeitsregelung auf alle Inanspruchnahmewege nach dem VersStG für den in § 1 VersStG geregelten Gegenstand der Steuer beziehen. Für Primär- und Sekundärebene ergibt sich hierbei dieselbe Zuständigkeit. Hierfür spricht insbesondere auch, dass in dem § 7a VersStG vorangehenden Paragrafen sowohl die Steuerschuld, die Steuerentrichtungsschuld als auch die Haftungsschuld in Bezug auf die Versicherungsteuer geregelt sind. Die Zuständigkeitsregelung soll vollumfänglich alle Wege der Inanspruchnahme dieser Personengruppen regeln. b) Anhörungserfordernis Nach § 91 Abs. 1 S. 1 AO soll dem Beteiligten die Gelegenheit gegeben werden, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in seine Rechte eingreift. § 91 AO ist keine nur auf Steuerbescheide anwendbare Vorschrift. Sie steht im Abschnitt zu Besteuerungsgrundsätzen und ist demzufolge ein für die gesamte Abgabenordnung geltendes Institut, sofern die Voraussetzungen für das Anhörungserfordernis erfüllt sind. Die Verfahrensanforderung ist demzufolge für Haftungsbescheide als Steuerverwaltungsakt anwendbar.152 § 91 AO statuiert für alle Steuerverwaltungsakte ein Anhörungserfordernis in Form einer Soll-Vorschrift153 und stellt eine einfachgesetzliche Ausgestaltung des Grundsatzes rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG dar.154 Die Anhörungserfordernis ist eine Ausprägung der Subjekttheorie, nach derer der Bürger nicht zum Objekt staatlichen Handelns herabgewürdigt werden darf.155 Das Vorliegen einer Soll-Vorschrift bedeutet, dass vor Erlass eines Steuerverwaltungsakts im Regelfall eine Anhörung erforderlich ist.156 Die Entscheidung, ob eine Anhörung erfolgt, liegt im pflichtgemäßen Ermessen der Finanzbehörde.157 Bei der Inanspruchnahme durch Haftungsbescheid muss der Haftungsschuldner separat angehört werden.158 Da vor Erlass des Haftungsbescheids eine Ermessensentscheidung zu treffen ist, dient die Anhörung in diesem Fall nicht nur der umfassenden Sachverhaltsermittlung zur Beurteilung der tatbestandlichen Voraussetzungen.159 Sie dient auch der

152

Vgl. zu den anwendbaren Vorschriften für Haftungsbescheide unter Kapitel B. II. 1; Schmitz, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 91, Rn. 4. 153 Rätke, in: Klein, AO, § 91, Rn. 1; Wünsch, in: König, AO, § 91, Rn. 8. 154 Schmitz, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 91, Rn. 1; Wünsch, in: König, AO, § 91, Rn. 2. 155 BVerfG, Beschluss vom 18. 01. 2000 – 1 BvR 321/96, BVerfGE 101, 397, 405; Schmitz, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 91, Rn. 1. 156 Rätke, in: Klein, AO, § 91, Rn. 1; Schmitz, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 91, Rn. 3. 157 Schmitz, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 91, Rn. 5. 158 FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20. 01. 2011 – 9 K 9091/10, EFG 2011, 2096, 2099; Rätke, in: Klein, AO, § 91, Rn. 3. 159 FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20. 01. 2011 – 9 K 9091/10, EFG 2011, 2096, 2099; Rätke, in: Klein, AO, § 91, Rn. 3.

II. Festsetzung der Haftungsschuld

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Ermittlung der Grundlagen für die fehlerfreie Ermessensausübung.160 Diesem Ermittlungserfordernis kann nur durch Anhörung des Haftungsschuldners und nicht durch Anhörung des Steuerpflichtigen Genüge getan werden. Dies ist insbesondere der Fall, weil für die Ermessensentscheidung Tatsachen aus der Sphäre des Haftungsschuldners von Bedeutung sein können. Die Anhörung des Steuerpflichtigen kann für sich genommen dem Anhörungserfordernis für den Erlass des Haftungsbescheids demnach nicht abhelfen. aa) Anzuhörender Personenkreis nach § 91 AO Anzuhören sind die Beteiligten des Steuerverwaltungsverfahrens, vgl. § 91 Abs. 1 S. 1 AO. Der Beteiligtenbegriff ist in § 78 AO legal definiert. Beteiligte sind demnach Antragsteller, Antragsgegner, derjenige, an den die Finanzverwaltung einen Steuerverwaltungsakt richten will oder gerichtet hat sowie Vertragspartner eines öffentlich-rechtlichen Vertrags. So ist in Bezug auf das Haftungsverfahren derjenige Beteiligter, an den die Finanzbehörde den Haftungsbescheid richten will oder an den sie diesen gerichtet hat, § 78 Nr. 2 AO. Demzufolge wird vor Erlass des Haftungsbescheids nur der Adressat des Haftungsbescheids angehört – der Haftungsschuldner. Eine Anhörung des Steuerschuldners im Haftungsverfahren des Haftungsschuldners ist nach dem Gesetzeswortlaut nicht vorgesehen. Fraglich ist, ob der Steuerschuldner trotzdem vor Erlass des Haftungsbescheids als Drittbetroffener angehört werden muss. Ob der Steuerschuldner anzuhören ist, ist grundsätzlich eine Frage des Steuerverfahrens der Primärebene. Die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners für die Steuerlast des Primärschuldners zieht jedoch häufig zivilrechtliche vertragliche oder gesetzliche Regressansprüche des Haftungsschuldners gegenüber dem Primärschuldner mit sich. Die Interessen des Steuerschuldners werden durch die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners erheblich berührt. § 78 AO jedoch sieht einen anderen Steuerpflichtigen, in dessen Rechte durch den Erlass eines Verwaltungsaktes eingegriffen wird bzw. dessen Interessen berührt werden, nicht als Beteiligten an. Da § 91 Abs. 1 S. 1 AO an den Beteiligtenbegriff des § 78 AO anknüpft, ist eine Anhörung des lediglich rechtlich betroffenen Dritten nicht ausdrücklich vorgesehen. Hierbei könnte der Gesetzgeber die besondere Situation bei Erlass eines Haftungsbescheids beim Regelungskomplex der §§ 78 und 91 AO außer Acht gelassen haben. Ein Blick auf die ähnlichen Regelungen zur Beteiligtenstellung und Anhörung im VwVfG und SGB X könnten Hinweise darauf liefern, ob der Steuerschuldner bei Erlass eines Haftungsbescheids gegenüber dem Haftungsschuldner dennoch anzuhören ist.

160

FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20. 01. 2011 – 9 K 9091/10, EFG 2011, 2096, 2099; Rätke, in: Klein, AO, § 91, Rn. 3.

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

bb) Anzuhörender Personenkreis nach VwVfG Ein ähnliches Regelungssystem zur Anhörung und Beteiligtenstellung ist in dem VwVfG des Bundes zu finden. Auch hier wird das Anhörungserfordernis an die Qualifikation als Beteiligter geknüpft und ein Eingriff in die Rechte dieses Beteiligten verlangt, vgl. § 28 Abs. 1 S. 1 VwVfG. Die Anhörung steht allerdings, im Gegensatz zur steuerverwaltungsrechtlichen Anhörung, grundsätzlich nicht im Ermessen der Verwaltungsbehörde. Es besteht eine Anhörungspflicht. Lediglich das Absehen von der Anhörung wird in den in § 28 Abs. 2 VwVfG geregelten Fällen in das Ermessen der Verwaltung gestellt. Der Katalog des § 28 Abs. 2 VwVfG entspricht demjenigen des § 91 Abs. 2 AO. Der Katalog ist nicht abschließend. Effektiv steht das Anhörungserfordernis aus der Zusammenschau von § 28 Abs. 1 und Abs. 2 VwVfG ebenfalls im Ermessen der Verwaltung, wenngleich die Anhörung noch stärker als im Steuerverfahrensrecht den Grundfall darstellt. Beteiligte sind nach § 13 Nr. 2 VwVfG diejenigen, an die die Behörde einen Verwaltungsakt richten will oder gerichtet hat. Die Formulierung ist insoweit deckungsgleich mit der Regelung in der AO. Allerdings weist § 13 Abs. 1 Nr. 4 i. V. m. Abs. 2 VwVfG einen erheblichen Unterschied zu der steuerverfahrensrechtlichen Regelung auf. So kann die Behörde nach den Regelungen des VwVfG von Amts wegen oder antragsgebunden diejenigen, deren rechtliche Interessen durch den Ausgang des Verfahrens berührt werden können, als Beteiligte hinzuziehen. Die Hinzugezogenen sind nach § 13 Abs. 1 Nr. 4 VwVfG ebenfalls Beteiligte des Verwaltungsverfahrens. Es besteht die Möglichkeit eine Person, deren Rechte durch den Erlass des Verwaltungsaktes berührt werden, durch Hinzuziehung in den Kreis der Beteiligten zu erheben. Im Verwaltungsverfahren gibt es demzufolge neben den „geborenen Beteiligten“161 auch Beteiligte kraft Hinzuziehung als „gekorene Beteiligte“162. Die Hinzuziehung erfolgt konstitutiv durch Hinzuziehungsbescheid.163 Ein Hinzugezogener ist als Beteiligter nach § 13  Abs. 2  VwVfG ebenfalls vom anzuhörenden Personenkreis des § 28 Abs. 1 S. 1 VwVfG erfasst.164 Die einfache Hinzuziehung steht im Ermessen der Behörde.165 Eine einfache Hinzuziehung ist in Fallgestaltungen möglich, in denen die rechtlichen Interessen eines Dritten berührt werden.166 Hat das Verwaltungsverfahren rechtsgestaltende Wirkung für einen Dritten und beantragt dieser die Hinzuziehung, so liegt eine notwendige Hinzuziehung vor.167 Der Behörde ist in diesem Fall kein Ermessen eingeräumt.168 161

Gerstner-Heck, in: BeckOK VwVfG Bader / Ronellenfitsch, § 13, Rn. 12. Schmitz, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 13, Rn.  25. 163 Gerstner-Heck, in: BeckOK VwVfG Bader / Ronellenfitsch, § 13, Rn. 12; Schmitz, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 13, Rn.  25. 164 Gerstner-Heck, in: BeckOK VwVfG Bader / Ronellenfitsch, § 13, Rn. 12. 165 Gerstner-Heck, in: BeckOK VwVfG Bader / Ronellenfitsch, § 13, Rn. 13; Schmitz, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 13, Rn.  26. 166 Gerstner-Heck, in: BeckOK VwVfG Bader / Ronellenfitsch, § 13, Rn. 13. 167 Gerstner-Heck, in: BeckOK VwVfG Bader / Ronellenfitsch, § 13, Rn. 13. 168 Gerstner-Heck, in: BeckOK VwVfG Bader / Ronellenfitsch, § 13, Rn. 13; Schmitz, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 13, Rn.  26. 162

II. Festsetzung der Haftungsschuld

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cc) Anzuhörender Personenkreis nach SGB X Im Sozialverwaltungsverfahren sind ebenfalls Regelungen zur Anhörung und Beteiligtenstellung vorgesehen, die bezüglich der hier betrachteten Aspekte beinahe identisch mit den Regelungen des VwVfG sind. Eine Anhörung ist nach § 24 Abs. 1 SGB X vorgesehen. Diese ist allerdings abweichend vom steuerrechtlichen Verwaltungsverfahren nach der AO ebenfalls nicht in das Ermessen der Sozialverwaltung gestellt. Ein Unterschied zur Regelung in § 28 Abs. 2 VwVfG und § 91 Abs. 2 AO besteht jedoch darin, dass ein Absehen von der Anhörung nur in den dort aufgelisteten Fällen möglich ist. So ist die Entscheidung über das Anhörungserfordernis im Sozialverwaltungsverfahren eine gebundene. Ein Absehen im Ermessen der Sozialverwaltung ist nur bei Vorliegen einer der enumerierten Ausnahmen möglich. Anknüpfungspunkt für den anhörungsberechtigten Personenkreis ist ebenfalls der Eingriff in Rechte eines Beteiligten. § 12 Abs. 1 Nr. 4 SGB X i. V. m. Abs. 2 SGB X lässt die Schaffung der Beteiligtenstellung durch Hinzuziehung deckungsgleich zur Regelung im VwVfG zu. Hierfür kann auf das zur Hinzuziehung nach dem VwVfG Ausgeführte verwiesen werden. Auch die sozialverwaltungsrechtliche Hinzuziehung führt dazu, dass die Hinzugezogenen alle Rechte eines Beteiligten haben.169 Insbesondere besteht für gekorene Beteiligte ebenfalls eine Anhörungspflicht.170 dd) Hinzuziehung Dritter im Steuerverwaltungsverfahren Im Steuerverwaltungsverfahren ist eine vergleichbare Regelung zur Hinzuziehung Dritter erst in § 360 Abs. 1 AO für das Einspruchsverfahren vorgesehen. Hierbei wird ebenfalls an die Berührung rechtlicher Interessen Dritter für die Hinzuziehung angeknüpft. Dem Hinzugezogenen kommen im Einspruchsverfahren dieselben Rechte zu wie dem Einspruchsführer, vgl. § 360 Abs. 4 AO. Im Steuerverwaltungsverfahren gibt es demzufolge keine gekorenen Beteiligten, die nach § 91 Abs. 1 S. 1 AO anzuhören sein könnten. Für die Steuerfestsetzung erscheint eine solche Regelung auch nicht notwendig. Im Steuerfestsetzungsverfahren besteht ein Zwei-Personen-Verhältnis. Der Steuerpflichtige steht der Finanzbehörde gegenüber. Die Finanzbehörde erlässt gegenüber dem Steuerpflichtigen einen belastenden Steuerbescheid. Zwar können hierdurch Rechte Dritter tangiert sein, der Grad der Tangierung der Rechte Dritte divergiert jedoch. So kann beispielsweise der Grad der mittelbaren Betroffenheit der Gesellschafter durch eine Steuerfestsetzung gegenüber der Gesellschaft, an der eine Beteiligung besteht, ggf. sogar auf Grund der gewählten Gesellschaftsform unterschiedlich zu beurteilen sein. Hierbei könnten zwischen Kapital- und Personen 169 170

Mutschler, in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, SGB X, § 12, Rn. 21. Roller, in: von Wulffen / Schütze, SGB X, § 12, Rn. 15.

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

gesellschaften Unterschiede in Bezug auf die mittelbare Wirkung von Steuerverwaltungsakten bei den Gesellschaftern bestehen. Eine geringe Intensität mittelbarer Betroffenheit der Gesellschafter ergibt sich, wenn gegenüber einer Kapitalgesellschaft eine Körperschaftsteuerlast festgesetzt wird. Bestimmt z. B. der Gesellschaftsvertrag einer GmbH, dass eine Nachschusspflicht nach § 26 f. GmbH besteht, so kann die Körperschaftsteuerlast dazu führen, dass die Gesellschafter über die entrichteten Einlagen hinaus weitere Einzahlungen in das Gesellschaftsvermögen tätigen müssen. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn die Gesellschaft finanziell nicht in der Lage ist, ihre Steuerlasten zu begleichen. Durch den Erlass des Steuerbescheids werden die Rechte der Gesellschafter der steuerpflichtigen Gesellschaft mittelbar belastet. Die Möglichkeit einer Hinzuziehung der Gesellschafter zum Steuerfestsetzungsverfahren dieser ist trotz mittelbarer Tangierung nicht als notwendig zu erachten. Dies ergibt sich aus der steuerrechtlichen Wertung des § 1 Abs. 1 Nr. 1 KStG. Die Kapitalgesellschaft ist ein von den Gesellschaftern zu trennendes Steuersubjekt der Körperschaftsteuer.171 Für steuerrechtliche Zwecke muss demnach explizit zwischen den Besteuerungsverfahren der Kapitalgesellschaft und derer der Gesellschafter getrennt werden.172 Eine irgendwie geartete, mittelbare Ausstrahlung einer Steuerfestsetzung auf Dritte berührt deren Belange in steuerrechtlich relevanter Weise nicht so stark, dass eine Vorschrift zur Hinzuziehung zu diesem Verfahren geboten wäre. Eine Sicherung der Rechtsstellung der betroffenen Dritten erfolgt durch die Bekanntgabe des Verwaltungsakts gegenüber diesen Drittbetroffenen und die Befugnis dieser als Drittanfechtungsberechtigter nach § 350 AO den Verwaltungsakt anzufechten. Durch den Verzicht auf das Anhörungserfordernis in Bezug auf diese beschwerten Dritten, erfolgt eine Beschleunigung des Besteuerungsverfahrens. Bei einer Personengesellschaft ist dies grundsätzlich nicht anders zu bewerten. Auch hier ergibt sich im Ergebnis nur eine geringe Intensität mittelbarer Betroffenheit der Gesellschafter durch Steuerverwaltungsakte gegenüber der Gesellschaft. Zwar ist diese für Zwecke der Einkommensbesteuerung im Gegensatz zu einer Kapitalgesellschaft kein eigenes Besteuerungssubjekt.173 Die Personengesellschaft ist lediglich Subjekt der Gewinnermittlung.174 Die Einkommensteuerbesteuerung findet nach der gesonderten und einheitlichen Feststellung des erwirtschafteten Gewinns auf Ebene der Personengesellschaft bei den Gesellschaftern statt.175 Eine Steuerfestsetzung gegenüber der Personengesellschaft für Einkommensteuerzwecke hingegen unterbleibt. Eine Hinzuziehung ist demnach schon aus tatsächlichen Gründen nicht notwendig, da nur die Gesellschafter selbst Steuersubjekt 171

Rengers, in: Blümich, KStG, § 1, Rn. 10; Hummel, in: Gosch, KStG, § 1, Rn. 3. Hummel, in: Gosch, KStG, § 1, Rn. 3. 173 BFH, Beschluss vom 25. 06. 1984  – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751, 761; Keller, in: Haase / Jachmann, Beck’sches Handbuch Immobiliensteuerrecht, § 1, Rn. 10; Siesenop, in: JuS 2015, 411, 413. 174 Loschelder, in: Schmidt, EStG, § 4, Rn. 2; § 15, Rn. 164; Pohl, in: Blümich, EStG, § 4i, Rn. 43. 175 Loschelder, in: Schmidt, EStG, § 4, Rn. 2; Bode, in: Blümich, EStG, § 15, Rn. 566. 172

II. Festsetzung der Haftungsschuld

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der Einkommensteuer sind und auf Ebene der Personengesellschaft lediglich die Gewinnermittlung stattfindet. Für Zwecke der Gewerbesteuer hingegen ist die Personengesellschaft selbst und unabhängig von ihren Gesellschaftern Subjekt der Besteuerung.176 Die Gesellschafter einer Personengesellschaft haften nach § 128 HGB177 persönlich unbeschränkt gegenüber Gläubigern der Gesellschaft als Gesamtschuldner. Somit haften diese auch für Steuerfestsetzungen gegenüber der Personengesellschaft persönlich. Die zivilrechtliche Haftungsnorm des § 128 HGB ist eine Haftung kraft Gesetzes für eine Steuer im Sinne des § 191 AO.178 Demnach liegt hier eine stärkere mittelbare Tangierung durch die Steuerfestsetzung vor, als dies bei den Gesellschaftern der Kapitalgesellschaften der Fall ist. Trotzdem ist wie bei der Steuerfestsetzung der Körperschaftsteuer auch hier die Wertung des Einzelsteuergesetzes zu beachten. Die Personengesellschaft stellt ein von den Gesellschaftern zu trennendes Steuersubjekt für Gewerbesteuerzwecke dar, sodass mittelbar erwachsende Auswirkungen der Steuerfestsetzung in Form einer etwaigen zivilrechtlichen Haftung der Gesellschafter nicht dazu führen können, dass diese vor Erlass des Steuerbescheids angehört werden müssen. Eine solche Ausweitung wäre uferlos. So könnten auch die Gläubiger des Steuerschuldners durch die Steuerfestsetzung mittelbar beeinträchtigt werden, weil sich die Liquidität dessen durch die Entrichtung der Steuer negativ verändern kann. Solche mittelbaren Folgen stellen lediglich Reflexe der Steuerfestsetzung und keine echten Eingriffe in ein Recht dar, die vorliegend ausreichend steuerrechtliche Relevanz aufweisen. ee) Analoge Anwendung der Hinzuziehungsvorschriften aus VwVfG / SGB X Für die analoge Anwendung der Hinzuziehungsvorschriften aus dem VwVfG und dem SGB X mit der Rechtsfolge eines Anhörungserfordernisses gegenüber dem Primärsteuerschuldner vor Erlass eines Haftungsbescheids fehlt es schon an der planwidrigen Regelungslücke. So lautete der Entwurf der Abgabenordnung 1977 des Deutschen Bundestags zur Regelung der Beteiligtenstellung anfangs noch wie folgt: „Beteiligte am Besteuerungsverfahren sind die Personen, Vereinigung oder Vermögensmassen, auf die sich das jeweilige Verfahren bezieht, insbesondere die Steuerpflichtigen.“179

In der Begründung des Gesetzesentwurfs heißt es: „Durch das Wort ‚betroffen‘ wird aber darüber hinaus zum Ausdruck gebracht, daß die Finanzbehörde bei der Bestimmung der Beteiligten nicht frei ist, sondern diejenigen als 176

Drüen, in: Blümich, GewStG, § 2, Rn. 43. I. V. m. § 161 Abs. 2 HGB für die Kommanditgesellschaft; § 128 HGB analog für die AußenGbR, vgl. Boesche, in: Oetker, HGB, § 128, Rn. 12; Schmidt, in: Münchener Kommentar HGB, § 128, Rn. 4; Hillmann, in: Ebenroth / Boujong / Joost / Strohn, HGB, § 128, Rn.  5; m. w. N. 178 Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 29 f.; von Sothen, in: Scherer, Unternehmensnachfolge, § 25, Rn. 298. 179 BT-Drs. VI/1982, S. 35: § 99 Beteiligte. 177

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens Beteiligte in das Verfahren zu ziehen hat, die nach den jeweiligen Vorschriften in das Verfahren gehören.“180

Mit der Betroffenheit der Beteiligten scheint der in § 99 AO-E181 erwähnte Verfahrensbezug gemeint zu sein. Es fällt auf, dass der Entwurf zur Abgabenordnung zunächst einen weitergehenden Beteiligtenbegriff enthielt. Dieser wurde allerdings nicht in die kodifizierte Version der Norm übernommen. Es wurde – vermeintlich bewusst – auf einen solch weiten Beteiligtenbegriff verzichtet und statt einer solch unbestimmten Norm eine konkrete Enumeration der in Frage kommenden Personenkreise gewählt. Weiter heißt es in der Begründung des Gesetzesentwurfs: „Nicht erforderlich ist es, allgemein zwischen Beteiligten und Hinzugezogenen zu unterscheiden. Diese Unterscheidung wird erst für das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren insofern für notwendig gehalten, als dort zwischen demjenigen, der den Rechtsbehelf eingelegt hat, und dem Hinzugezogenen zu unterscheiden ist (vgl. § 342).“

Der Entwurf der Abgabenordnung setzte demnach noch voraus, dass eine Hinzuziehung auch im Steuerverwaltungsverfahren vor dem Einspruchsverfahren möglich war. Die Änderung des Entwurfs durch den Finanzausschuss enthielt eine engere Ausgestaltung des Beteiligtenbegriffs, die eine Angleichung an den damaligen Entwurf des VwVfG darstellen sollte.182 Allerdings erfolgte nur eine Anpassung in Bezug auf § 13 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 VwVfG-E.183 § 13 Abs. 1 Nr. 4 VwVfG wurde nicht mit übernommen. Aus den Gesetzesbegründungen zu den Vorentwürfen der AO 1977 wird deutlich, dass der Gesetzgeber die Problematik der Hinzuziehung im Steuerverwaltungsverfahren wohl gesehen, sich jedoch im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens gegen eine Aufnahme in die AO entschieden hat. Da die Gesetzesbegründungen auf das VwVfG Bezug nehmen und keine Übernahme der dort vorhandenen Hinzuziehungsregelung erfolgte, ist eine analoge Anwendung der Regelungen des VwVfG oder den diesbezüglich sehr ähnlichen Regelungen des SGB X nicht geboten, da keine planwidrige Regelungslücke vorliegt. ff) Schlussfolgerungen für die Anhörungspflicht im Haftungsverfahren Im steuerrechtlichen Haftungsverfahren ist eine Drei-Personen-Konstellation gegeben. Hier stehen sich der Steuerschuldner (Primärschuldner), der Haftungsschuldner (Sekundärschuldner) und das Finanzamt gegenüber. Der Haftungsschuldner muss nach einem Haftungstatbestand für die Steuerlast des Primär 180

BT-Drs. VI/1982, S. 130. BT-Drs. VI/1982, S. 35. 182 BT-Drs. 7/4292, S. 23. 183 BT-Drs. 7/4292, S. 23. 181

II. Festsetzung der Haftungsschuld

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schuldners einstehen. Erlässt das Finanzamt gegenüber dem Haftungsschuldner einen Haftungsbescheid zur Inanspruchnahme für die Primärsteuerlast des Steuerschuldners, muss der Haftungsschuldner als Beteiligter nach § 78 Nr. 2 AO vor Erlass des Haftungsbescheids gemäß § 91 Abs. 1 S. 1 AO angehört werden. Eine Anhörung des Steuerschuldners vor Erlass des Haftungsbescheids erfolgt hingegen nicht. Steuerfestsetzungs- und Haftungsverfahren sind voneinander zu trennende Steuerverwaltungsverfahren. Adressat des jeweils erlassenen Bescheids sind verschiedene Personen. Zwar kann der Erlass des Haftungsbescheids den Steuerschuldner insofern auch in seinen Rechten betreffen, als der Haftungsschuldner für die Inanspruchnahme bei diesem zivilrechtlichen Regress verlangen kann. Auch handelt es sich im Kern um eine Steuerlast des Steuerschuldners. Jedoch ist zu beachten, dass ihm durch die etwaig erfolgte Anhörung im Steuerfestsetzungsverfahren schon rechtliches Gehör gewährt wurde bzw. dieses bei Vorliegen der Voraussetzungen vor dem Erlass des Steuerbescheids noch gewährt wird. Es besteht kein Bedürfnis den Steuerschuldner erneut bzw. im Voraus vor dem Erlass des Haftungsbescheids anzuhören. Dementsprechend erscheint es folgerichtig, dass eine Vorschrift, die die Hinzuziehung im Steuerverwaltungsverfahren ermöglicht, diesbezüglich nicht notwendig ist. Die reflexartige Tangierung der Belange anderer Steuerpflichtiger stellt keine so große Berührung ihrer Rechte dar. Es besteht insoweit kein Bedürfnis zur Schaffung gekorener Beteiligtenstellungen im Festsetzungsverfahren, die mit dem Anhörungserfordernis in Bezug auf diesen Personenkreis einhergehen würde. c) Form des Haftungsbescheids Der Haftungsbescheid ergeht nach § 191 Abs. 1 S. 3 AO schriftlich. Er muss darüber hinaus den Anforderungen des § 119 ff. AO entsprechen.184 Der Haftungsbescheid muss nach § 119 Abs. 1 AO hinreichend bestimmt sein. Zu den hierzu erforderlichen Angaben sollen Haftungsschuldner und Haftungsbetrag zählen.185 Andere Stimmen halten auch die Angabe des Haftungsanspruchs für notwendig.186 Darüber hinaus soll die Angabe der betroffenen Steuerart erfolgen.187 Es muss ferner erkennbar sein, ob es sich um einen Haftungs- oder einen Steuerbescheid handelt.188 Dem Adressaten des Haftungsbescheids muss gewährleistet werden, zu erkennen, ob er als Primärschuldner oder auf Sekundärebene in Anspruch genommen wird. Dies sollte sich schon aus der Angabe des Haftungsan 184

Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 55 ff., 19. Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  56; Jatzke, in: Gosch, AO, § 191, Rn. 30. 186 Jatzke, in: Gosch, AO, § 191, Rn. 30. 187 FG Hamburg, Urteil vom 29. 4. 2008 – 5 K 49/07 (rkr.), EFG 2008, 1590, 1590. 188 BFH, Urteil vom 05. 10. 1994 – I R 31/93, BFH / NV 1995, 576, BeckRS 1994, 12198, Tz. II. C. 2. d); Urteil vom 15. 03. 1985 VI R 30/81, BStBl. II 1985, 581, 581. 185

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

spruchs ergeben, da dieser erkennen lässt, dass der Adressat nicht für eine eigene Steuerschuld in Anspruch genommen wird. Nicht notwendig sein soll die Angabe des Steuerschuldners, wenn die Haftungsschuld in anderer Weise tatsächlich und rechtlich hinreichend konkretisiert werden kann.189 Es soll hingegen erforderlich sein, den Besteuerungszeitraums, der der Primärschuld zugrunde liegt, anzugeben.190 Gemäß § 119 Abs. 3 S. 1 AO muss der Haftungsbescheid die erlassende Behörde erkennen lassen. Der Haftungsbescheid muss unterschrieben werden oder die Namenswiedergabe des Behördenleiters oder für der diesen tätig werdenden Personen enthalten, vgl. § 119 Abs. 3 S. 2 AO. Wird der Haftungsbescheid formularmäßig oder mit Hilfe automatischer Einrichtungen erlassen, sind Unterschrift oder Namenswiedergabe entbehrlich, § 119 Abs. 3 S. 3 AO. Darüber hinaus muss der Haftungsbescheid begründet werden, soweit dies zu seinem Verständnis erforderlich ist, vgl. § 121 Abs. 1 AO. Der Haftungsbescheid erhält eine Ermessensentscheidung, vgl. §§ 191 Abs. 1 S. 1, 5 AO. Grundsätzlich sind hierbei die Erwägungen darzustellen, die für die Ausübung des Auswahl- und Entschließungsermessen maßgeblich waren.191 Einer Begründung des Entschließungs- und Auswahlermessens bedarf es nicht, wenn nur ein Haftungsschuldner zur Verfügung steht oder wenn eine anderweitige Realisierung des Haftungsoder des Steueranspruchs nicht möglich ist.192 Auch bezüglich der Auswahl des Haftungsschuldners treffen das Finanzamt Begründungspflichten, wenn mehrere Haftungsschuldner als Gesamtschuldner vorhanden sind.193 Die Begründungspflichten werden teilweise nicht so weit ausgelegt, dass dargelegt werden müsse, warum der eine Haftungsschuldner anstelle eines gleichrangigen anderen Haftungsschuldners in Anspruch genommen wird.194 Teilweise wird eine Begründung des Auswahlermessens nur dann für nicht erforderlich gehalten, wenn alle in Betracht kommenden Haftungsschuldner in Anspruch genommen werden.195 Da sich der Regress des Haftungsschuldners beim Steuerschuldner aus der zwischen diesen Personen bestehenden zivilrechtlichen Regelung bzw. gesetzlichen Anspruchsgrundlage ergibt, ist es für den Haftungsschuldner grundsätzlich 189

BFH, Urteil vom 05. 05. 2010 – I R 104/08, BFH / NV 2010, 1814, BeckRS 2010, 25016408, Rn. 15; BFH, Beschluss vom 03. 12. 1996 – I B 44/96, BStBl. II 1997, 306, 307; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  57. 190 BFH, Urteil vom 22. 11. 198 – VII R 173/85, BStBl. II 1989, 220, 222: Fehlerfolge jedoch nur Rechtswidrigkeit. 191 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 64; m. w. N. 192 BFH, Urteil vom 29. 09. 1987 – VII R 54/84, BStBl. II 1988, 176, 178; BFH, Urteil vom 29. 05. 1990 – VII R 81/89, BFH / NV 1991, 283, BeckRS 1990, 6471, Tz. 2 b). 193 BFH, Urteil vom 23. 10. 1985 – I R 248/81, BStBl. II 1986, 178, 181. 194 Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 71. 195 BFH, Beschl. vom 27. 03. 2002  – VII B 190/01, BFH / NV 2002, 1275, BeckRS 2002, 25000727, Tz. II. 1.; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  68; Jatzke, in: Gosch, AO, § 191, Rn. 37; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 49.

II. Festsetzung der Haftungsschuld

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nicht von Belang, ob und welche anderen Haftungsschuldner für die Steuerlast in Anspruch genommen werden.

3. Tatbestandliche Anforderungen an den Haftungsbescheid Damit die Finanzverwaltung rechtmäßig einen Haftungsbescheid erlassen kann, müssen dessen tatbestandliche Voraussetzungen erfüllt sein. Dies ist der Fall, wenn gegen den potenziellen Adressaten des Haftungsbescheids ein Haftungsanspruch besteht. Ein solcher liegt vor, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft, § 38 AO. Der Erlass eines Haftungsbescheids erfordert auf Tatbestandsebene zum einen das Vorliegen der Voraussetzungen der materiellen Haftungsnormen.196 Zum anderen muss eine Steuerschuld bestehen, für die der Haftungsschuldner auf Grundlage der Haftungsnorm in Anspruch genommen werden soll.197 a) Haftung kraft Gesetzes für eine Steuer § 191 Abs. 1 S. 1 AO erfordert die Haftung kraft Gesetzes für eine Steuer. Der Erlass eines Haftungsbescheids setzt demzufolge voraus, dass es eine einschlägige Haftungsnorm gibt und der Tatbestand dieser einschlägigen Haftungsnorm erfüllt ist. Die Haftungsnorm selbst verkörpert die „Haftung kraft Gesetzes für eine Steuer“. Diese kann sowohl öffentlich-rechtlicher als auch zivilrechtlicher Natur sein.198 aa) Der Begriff der Steuer in § 191 Abs. 1 S. 1 AO Der Steuerbegriff des § 191 Abs. 1 S. 1 AO soll auch steuerliche Nebenleistungen erfassen.199 § 191 AO ist eine Verfahrensnorm.200 Der materielle Umfang der Haftung soll sich hingegen nach den zugrunde liegenden Haftungstatbeständen 196

Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 9; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 16; Jatzke, in: Gosch, AO, § 191, Rn. 8; Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 191, Rn. 11; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 18; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 11. 197 Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 10; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 19; Jatzke, in: Gosch, AO, § 191, Rn. 9; Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 191, Rn. 12; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 19; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 11. 198 Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 29; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 11; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  26. 199 Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 34; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 7; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  16. 200 Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 34; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 16.

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

bestimmen.201 Umfasst die materielle Haftungsnorm neben der Haftung für eine Steuer im Sinne des § 3 Abs. 1 AO auch eine steuerliche Nebenleistung, so soll auch eine solche im Wege des § 191 Abs. 1 S. 1 AO gegenüber dem Haftungsschuldner geltend gemacht werden können.202 Eine solche Auslegung des § 191 Abs. 1 S. 1 AO erscheint auf Grund der ausdrücklichen Differenzierung zwischen Steuer im Sinne des § 3  Abs. 1 AO und steuerlicher Nebenleistung im Sinne des § 3 Abs. 4 AO fragwürdig.203 Die Abgabenordnung sieht in § 3 AO eine Legaldefinition der Begriffe Steuer und steuerliche Nebenleistung vor. Es erschließt sich nicht, warum der Steuerbegriff in § 191 Abs. 1 S. 1 AO nunmehr als Überbegriff beider in § 3 Abs. 1 und 4 AO differenzierten Begriffe angesehen werden soll. § 3 AO liefert hierfür keine Anhaltspunkte. Eine Ausdehnung des Steuerbegriffs über den Wortlaut des § 3 Abs. 1 AO hinaus, überdehnt den Wortlaut des § 191 Abs. 1 S. 1 AO. Wird hierfür auf materielle Haftungstatbestände zurückgegriffen, die ausdrücklich eine Haftung für steuerliche Nebenleistungen anordnen, so steht dies darüber hinaus nicht mit der Systematik des § 191 Abs. 1 S. 1 AO im Einklang. Dieser stellt zwar nur die verfahrensrechtliche Ausgestaltung der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners dar.204 Hierfür setzt er aber einen Rahmen, der von den jeweiligen materiellen Haftungsnormen nicht überschreiten werden kann. Die verfahrensrechtliche und die materiell-rechtliche Norm müssen eine Kongruenz aufweisen. Die verfahrensrechtlich geltend machbare Steuerschuld muss deckungsgleich bzw. umfassender sein als die Steuerschuld, für die die materielle Haftungsnorm die Haftung des Haftungsschuldners anordnet. Eine analoge Anwendung der Vorschrift auf steuerliche Nebenleistungen205 wird dem Charakter der Norm als Ermächtigungsgrundlage im Rahmen der Eingriffsverwaltung nicht gerecht. Eine solche muss aus rechtsstaatlichen Gründen eine ausreichende Bestimmtheit aufweisen.206 Auf Grund des Widerspruchs einer extensiven Anwendung der Norm mit der Legaldefinition der Steuer bleibt kein Raum für eine teleologische Auslegung oder analoge Anwendung der Norm. Eine solche stünde mit dem ausdrücklichen gesetzlichen Wortlaut des § 3 AO im Widerspruch. Der unbestimmte Rechtsbegriff der Steuer wurde vom Gesetzgeber der AO in § 3 AO legal definiert. Diese Definition ist zwingend anzuwenden oder auf Abweichungen von dieser an der jeweiligen Stelle hinzuweisen. Andernfalls wird dem Bürger die Möglichkeit genommen, zu verstehen, für welche Ansprüche er 201

Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 34; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 16. 202 Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 34; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 16. 203 Tendenziell auch Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 34. 204 Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 34; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 16. 205 So Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 191, Rn. 14. 206 Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20, Rn. 58 ff.

II. Festsetzung der Haftungsschuld

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mittels § 191 Abs. 1 S. 1 AO in Anspruch genommen werden kann.207 Widerspricht die Auslegung oder analoge Anwendung einer Norm einer ausdrücklichen Legaldefinition im selben Gesetz, so wird dies nicht mehr gewährleistet. Um eine Haftung für steuerliche Nebenleistungen zu erfassen, sollte eine Wortlautänderung geboten sein. Der Wortlaut sollte von der „Haftung für eine Steuer“ zu „Haftung für Ansprüche aus einem Steuerschuldverhältnis“ geändert werden. Damit wären de lege ferenda grundsätzlich alle in § 37 AO aufgezählten Ansprüche vom Umfang der verfahrensrechtlichen Haftungsvorschrift erfasst. Insbesondere ist in § 37 Abs. 1 AO ausdrücklich der Anspruch auf steuerliche Nebenleistungen erfasst. Würde man in § 191 Abs. 1 S. 1 AO auf das Steuerschuldverhältnis anstelle des Steuerbegriffs Bezug nehmen, so würde für die Legaldefinition der erfassten materiellen Lasten nicht mehr § 3 AO, sondern § 37 Abs. 1 AO einschlägig sein. Die derzeit bestehenden Ungereimtheiten in Bezug auf den Wortlaut des § 191 Abs. 1 S. 1 AO zum Verhältnis der Legaldefinition der Steuer in § 3 Abs. 1 AO könnten somit vermieden werden. Dies entspricht dem Gedanken, dass eine in einem Gesetz befindliche Legaldefinition für alle nachfolgenden Paragrafen desselben gelten soll. Andersfalls würde die Funktion einer Legaldefinition leerlaufen. bb) Aufbau der Haftungstatbestände Da § 191 Abs. 1 S. 1 AO als eine Verfahrensnorm anzusehen ist,208 bestimmt sich der materielle Umfang der Haftung nach dem zugrunde liegenden Haftungstatbestand.209 Die im Folgenden betrachteten Haftungstatbestände haben gemein, dass ihnen eine Dreiecks-Konstellation zugrunde liegt. Jeweils fallen Steuer- und Entrichtungsschuldnerschaft auseinander. Der Entrichtungsschuldner hat die Steuer einzubehalten und an das Finanzamt abzuführen. Der Entrichtungsschuldner ist darüber hinaus – außer bei der Versicherungsteuer – auch Haftungsschuldner für die von ihm einzubehaltende und abzuführende Steuer. Bei der Versicherungsteuer fallen Entrichtungs- und Haftungsschuldnerschaft auf Grund der besonderen gesetzlichen Ausgestaltung im Versicherungsteuergesetz auseinander. Hier sind Entrichtungs- und Haftungsschuldner im Gegensatz zu den Steuerabzugstatbeständen des EStG personenverschiedenen. Ermächtigungsgrundlage für die Inanspruchnahme ist jeweils § 191 Abs. 1 S. 1 AO. Die betrachteten Haftungstatbestände greifen jeweils in Fallkonstellationen ein, in denen die Steuer im Wege des Steuerabzugs als eine abweichende Erhebungsform der Einkommensteuer erhoben wird. Die Versicherungsteuer wird hin 207

Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20, Rn. 58. Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 34; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 16. 209 Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 34; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 16. 208

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

gegen stets im Wege des Steuerabzuges erhoben. Neben den Steuerschuldner tritt beim Steuerabzug nach § 43 S. 2 AO ein Dritter, der die Steuer für Rechnung des Steuerpflichtigen zu entrichten hat. Die Haftungstatbestände des EStG beginnen jeweils mit der Bezeichnung der Person des Haftungsschuldners. Die Bestimmung erfolgt anhand seiner Rolle in Bezug auf das zu Grunde liegende Entrichtungsverfahren. Haftungsschuldner ist beim Steuerabzug nach dem EStG stets der Entrichtungspflichtige im Sinne des § 43 S. 2 AO. Im Anschluss erfolgt die Bestimmung der materiellen Haftungsmasse. Hiervon ist stets die Steuer umfasst, die der Entrichtungsschuldner einzubehalten und abzuführen hatte. Auf die Verpflichtung der Einbehaltung und Abführung wird außer im Versicherungsteuergesetz jeweils ausdrücklich Bezug genommen. Demzufolge wird in den Haftungstatbeständen des EStG eine unmittelbare Verknüpfung zwischen Entrichtungs- und Haftungsschuld vorgenommen. Daraus folgt, dass in diesen Konstellationen der Entrichtungsschuldner stets mit dem Haftungsschuldner personenidentisch ist. Ein Auseinanderfallen beider Personen ist auf Grund der Konzeption dieser Haftungstatbestände nicht vorgesehen. Die Haftung des Haftungsschuldners knüpft an seine Pflichtverletzung in seiner früheren Funktion als Entrichtungsschuldner an. Er selbst erhebt sich durch die Erfüllung des Haftungstatbestands zum Haftungsschuldner. Lediglich bei der Versicherungsteuer sind Haftungs- und Entrichtungsschuldner nie personenidentisch. Dies ergibt sich aus der besonderen Ausgestaltung der Entrichtungsschuld bei der Versicherungsteuer, die von derer des EStG abweicht. Bei der Versicherungsteuer knüpft die Erhebung zum Haftungsschuldner an die Pflichtverletzung des von diesem personenverschiedenen Entrichtungsschuldners an. Hierbei erhebt ein Beteiligter den anderen Beteiligten zum Haftungsschuldner. Darüber hinaus enthalten die Haftungstatbestände des EStG durchgehend verschiedene Ausschlusstatbestände. Es werden Fälle kodifiziert, in denen der Haftungsschuldner nicht in Anspruch genommen werden kann. Bis auf § 48a EStG enthalten die Haftungstatbestände darüber hinaus Fälle, in denen ausnahmsweise nur der Steuerschuldner in Anspruch genommen werden kann. Die Ausnahmefälle sind jeweils mit besonderen Voraussetzungen versehen. § 42d Abs. 3 S. 4 EStG und § 44 Abs. 5 S. 2 EStG stellen klar, dass eine Inanspruchnahme des Steuerschuldners nur in den dort kodifizierten Fällen möglich ist. Die Formulierung in § 50a Abs. 5 S. 5 EStG ist offener und enthält keine ausdrückliche Beschränkung auf den kodifizierten Fall. Der Inhalt der Vorschrift zeigt jedoch, dass diese ebenfalls abschließenden Charakter für die Inanspruchnahmemöglichkeiten des Steuerschuldners haben soll. Eine solche Inanspruchnahme des Steuerschuldners ist jeweils nur dann möglich, wenn der Steuerabzug durch den Entrichtungsschuldner nicht vorgenommen wurde. In diesem Fall wird der als Steuer abzuführende Geldbetrag tatsächlich zum Steuerschuldner verschoben, sodass dieser durch eine etwaige Inanspruchnahme keine wirtschaftliche Belastung erleidet, die er nicht bei ordnungsgemäßer Einbehaltung und Abführung durch den Entrichtungsschuldner sowieso erlitten

II. Festsetzung der Haftungsschuld

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hätte. Die Verschiebung der Haftungsmasse zum Steuerschuldner hin rechtfertigt seine unmittelbare Inanspruchnahme bzw. macht diese notwendig. In solchen Fällen wäre eine Inanspruchnahme des Haftungsschuldners wegen Zweckverfehlung nicht mehr verhältnismäßig, da die Rechtfertigung der Haftung mit dem Wegfall der Dispositionsmöglichkeit über die Haftungsmasse entfiele. § 42d Abs. 3 S. 4 Nr. 2 EStG und § 44 Abs. 5 S. 2 Nr. 2 EStG enthalten darüber eine Inanspruchnahmemöglichkeit, wenn der Steuerschuldner Kenntnis von der nicht vorschriftsmäßigen Anmeldung nach § 42d Abs. 3 S. 4 Nr. 2 EStG bzw. Abführung nach § 44 Abs. 5 S. 2 Nr. 2 EStG hatte. Durch die Kenntnis des Steuerschuldners besteht kein schutzwürdiges Vertrauen desselben, nicht für die Steuerlast in Anspruch genommen zu werden. Er durfte vielmehr nicht damit rechnen, dass der Entrichtungsschuldner die Steuer ordnungsgemäß einbehalten, angemeldet und abgeführt hat. (1) Aufbau des Tatbestands der Lohnsteuerhaftung Gemäß § 38 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer bei Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit gemäß § 18 EStG durch Abzug vom Arbeitslohn erhoben, wenn der Arbeitgeber den Arbeitslohn zahlt. Der Arbeitgeber muss gemäß § 38 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG inländisch sein oder im Inland Arbeitnehmer von einem ausländischen Verleiher beschäftigen, § 38 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG. Der Arbeitnehmer ist gemäß § 38 Abs. 2 S. 1 EStG Schuldner der Lohnsteuer. Die Lohnsteuer entsteht nach § 38 Abs. 2 S. 2 EStG in dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitslohn dem Arbeitnehmer zufließt. Der Arbeitgeber hat die Lohnsteuer für Rechnung des Arbeitnehmers bei jeder Lohnzahlung vom Arbeitslohn einzubehalten, § 38 Abs. 3 S. 1 EStG. Der Lohnsteuerabzug durch den Arbeitgeber richtet sich nach § 39b EStG. Neben der Einbehaltungspflicht treffen den Arbeitgeber weitere Pflichten in Bezug auf die Lohnsteuer der Arbeitnehmer. So muss dieser gemäß § 41a Abs. 1 S. 1 EStG spätestens am zehnten Tag nach Ablauf eines jeden Lohnsteuer-Anmeldezeitraums eine Lohnsteueranmeldung abgeben und die einbehaltene bzw. zu übernehmende Lohnsteuer210 an das Betriebsstättenfinanzamt abführen. Der Arbeitgeber ist demzufolge Entrichtungsschuldner der Lohnsteuer. Der Lohnsteuer-Anmeldezeitraum ist nach § 41a Abs. 2 S. 1 EStG grundsätzlich der Kalendermonat. In Ausnahmefällen ist ein längerer Zeitraum vorgesehen. Die Lohnsteueranmeldung ist eine Steuererklärung, die bei dem Finanzamt abzugeben ist, in dessen Bezirk sich die Betriebsstätte des Arbeitgebers befindet211 und in der die Summe der im jeweiligen Lohnsteuer-Anmeldezeitraum vom Arbeitgeber einzubehaltenden212 Lohnsteuer angegeben wird. Neben Einbehaltung und Abführung 210

Bei pauschalisierter Lohnsteuer. Legaldefinition des Betriebsstättenfinanzamt, vgl. § 41a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG. 212 Und die nach § 40 Abs. 3 S. 1 EStG bei pauschalisierter Lohnsteuer vom Arbeitgeber zu übernehmende Lohnsteuer. 211

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

trifft den Arbeitgeber demnach auch eine Steuererklärungspflicht bezüglich der Steuerlast des Arbeitnehmers.213 § 41c EStG gewährt dem Arbeitgeber das Recht, bei der jeweils nächstfolgenden Lohnzahlung bisher nicht erhobene Lohnsteuer an den Arbeitnehmer zu erstatten oder noch nicht erhobene Lohnsteuer nunmehr von der Lohnsteuer des Folge­ monats214 nachträglich einzubehalten. Erkennt der Arbeitgeber, dass er Lohnsteuer bisher nicht vorschriftsmäßig einbehalten hat, so ist er zum nachträglichen Einbehalt bzw. zur nachträglichen Erstattung verpflichtet, § 41c Abs. 1 S. 2 EStG. Diese Pflicht trifft ihn auch, wenn die Fehlerhaftigkeit auf einer rückwirkenden Gesetzesänderung beruht, vgl. § 41c Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG. Die Erstattung ist aus der einbehaltenen Lohnsteuer zu entnehmen. Reicht diese nicht aus, wird der Fehlbetrag dem Arbeitgeber auf Antrag vom Betriebsstättenfinanzamt ersetzt, § 41c Abs. 2 S. 2 EStG. § 42b EStG berechtigt den Arbeitgeber einen Lohnsteuer-Jahresausgleich gegenüber dem Arbeitnehmer vorzunehmen, soweit die für das Ausgleichsjahr einbehaltene Lohnsteuer die auf den Jahresarbeitslohn entfallende Jahreslohnsteuer übersteigt. Hierbei sind allerdings die Ausschlusstatbestände in § 42b Abs. 1 S. 3 EStG zu beachten. In vielen Fällen ist der Lohnsteuer-Jahresausgleich nicht zugelassen. Wie bei der Erstattung zu viel einbehaltener Lohnsteuer an den Arbeitnehmer nach § 41c Abs. 1 S. 1 EStG ist der Erstattungsbetrag beim Lohnsteuer-Jahresausgleich ebenfalls aus der einbehaltenen Lohnsteuer zu entnehmen. Ist der Betrag hierdurch nicht gedeckt, so ist § 41c Abs. 2 S. 2 EStG durch Verweis in § 42c Abs. 3 S. 3 EStG anzuwenden, sodass auch hier auf Antrag des Arbeitgebers eine Erstattung des Fehlbetrags durch das Betriebsstättenfinanzamt erfolgt. Kommt es bei Einbehaltung und Abführung der Lohnsteuer zu Fehlern, haftet der Arbeitgeber nach § 42d EStG für die Primärsteuerlast des Arbeitnehmers. Die Haftung des Arbeitgebers ist hierbei verschuldensunabhängig.215 § 42d Abs. 1 EStG enthält eine abschließende Enumeration der Fälle, in denen der Arbeit­ geber zum Haftungsschuldner der Lohnsteuer wird. Zunächst haftet dieser nach § 42d Abs. 1 S Nr. 1 EStG für die Lohnsteuer, die er einzubehalten und abzuführen hat. Diese Steuerbeträge sind dem Zugriff des Steuerschuldners durch den Einbehalt des Arbeitgebers entzogen. Sie haben diesem niemals zur Verfügung gestanden, da sie nicht an diesen ausbezahlt wurden. Ebenso haftet der Arbeitgeber nach § 42d Abs. 1 Nr. 2 EStG für eine zu Unrecht an den Arbeitnehmer erfolgte Erstattung von Lohnsteuer im Rahmen des Lohnsteuer-Jahresausgleichs nach § 42b EStG. Hierbei beruht die Haftung auch auf einer Pflichtverletzung des Arbeitgebers. Ebenso führen Fehler des Arbeitgebers in Bezug auf die ihn nach

213

Für die hiesige Betrachtung ohne Bedeutung sind Aufzeichnungspflichten des Arbeitgebers nach § 41 EStG. 214 Bzw. Lohnsteuer-Anmeldezeitraums, sofern dieser nicht dem Kalendermonat entspricht. 215 Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 191, Rn. 54.

II. Festsetzung der Haftungsschuld

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§ 41 EStG treffenden Aufzeichnungspflichten zur Erfüllung eines Haftungstatbestands, vgl. § 42d Abs. 1 Nr. 3 EStG. Darüber hinaus besteht eine Haftung, für Lohnsteuern, die bei Arbeitnehmerüberlassung ein Dritter einzubehalten und zu entrichten hat, § 42d Abs. 1 Nr. 4 EStG i. V. m. § 38 Abs. 3a EStG.216 Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind in Bezug auf die Lohnsteuerschuld Gesamtschuldner gegenüber der Finanzverwaltung, § 42d Abs. 3 S. 1 EStG. Die Auswahl zwischen beiden wird in § 42d Abs. 3 S. 2 EStG in das pflichtgemäße Ermessen des Betriebsstättenfinanzamts gestellt.217 Die Veranlagung des Arbeitnehmers zur Einkommensteuer führt nicht dazu, dass der Arbeitgeber von seiner Haftung frei wird, vgl. § 42d Abs. 3 S. 3 EStG. Dies ist nur folgerichtig, da die einbehaltene Lohnsteuer grundsätzlich auf die zu veranlagende Einkommensteuer nach § 36 Abs. 2 Nr. 2 a) EStG angerechnet wird.218 Obwohl Arbeitgeber und Arbeitnehmer als Gesamtschuldner fungieren, kann der Arbeitnehmer nur ausnahmsweise bei Vorliegen eines Tatbestands in § 42d Abs. 3 S. 4 EStG in Anspruch genommen werden. Eine Inanspruchnahme des Arbeitnehmers ist zum einen möglich, wenn die Lohnsteuer nicht vorschriftsmäßig vom Arbeitslohn einbehalten wurde, § 42d Abs. 3 S. 4 Nr. 1 EStG. In diesem Fall ist der Arbeitnehmer unrechtmäßig in Höhe der Lohnsteuer bereichert, sodass eine Inanspruchnahme des Primärschuldners ausnahmsweise gerechtfertigt ist. Der Arbeitnehmer erhält einen zu hohen NettoLohn ausbezahlt. Ihm ist damit mehr Lohn zugeflossen, als dies bei ordnungsgemäßer Einbehaltung und Abführung durch den Arbeitgeber der Fall gewesen wäre. Eine Kenntnis des Arbeitnehmers vom fehlerhaften Einbehalt des Arbeitgebers ist nicht notwendig. Für den Arbeitnehmer ist bei Betrachtung seiner Gehaltsabrechnung offenkundig, dass keine Lohnsteuer einbehalten wurde. Ob er dies prüft oder nicht, ist unerheblich. Der kundige und aufmerksame Arbeitnehmer würde ansonsten bessergestellt, als der gleichgültige Arbeitnehmer, der seine Gehaltsabrechnungen nicht überprüft. Um eine solche unbillige Bevorzugung zu verhindern, knüpft der Tatbestand allein an das objektive Vorliegen des fehlenden bzw. nicht vorschriftsmäßigen Einbehalts an. Zum anderen ist eine Inanspruchnahme des Primärschuldners ausnahmsweise zulässig, wenn der Arbeitgeber die Lohnsteuer zwar ordnungsgemäß einbehalten hat, der Arbeitnehmer jedoch weiß, dass diese nicht ordnungsgemäß angemeldet wurde, § 42d Abs. 3 S. 4 Nr. 2 EStG. Der Arbeitnehmer kann sich aus der Inanspruchnahme exkulpieren, indem er nach § 42d  Abs. 3  S. 4  Nr. 2  S. 2 EStG den Sachverhalt unverzüglich dem Finanzamt mitteilt. Die Exkulpationsmöglichkeit 216

In § 42d Abs. 2 EStG sind Haftungsausschlussgründe für die Arbeitgeberhaftung im Zusammenhang mit Lohnsteuerabzugsmerkmalen, Freibeträgen und Hinzurechnungsbeträgen und anderen Fällen kodifiziert. Diese haben für die hier zu betrachtenden Aspekte keine Bedeutung und werden infolgedessen nicht erläutert. 217 Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 191, Rn. 43. 218 Ettlich, in: Blümich, EStG, § 36, Rn. 113.

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

entschärft die Regelung. Die Belastung des Arbeitnehmers ist durch diese Inanspruchnahmeregelung höher als bei der objektiv fehlerhaft nicht einbehaltenen Lohnsteuer. Hier bekommt der Arbeitnehmer nicht zu viel Lohn ausgezahlt. § 42d Abs. 3 S. 4 Nr. 2 EStG stellt vielmehr Anforderungen an die subjektive Seite des Arbeitnehmers und die darauf von ihm unternommene bzw. unterlassene Handlung. Seine Kenntnis und anschließende Untätigkeit in Bezug auf eine Anzeige beim Finanzamt führen hierbei zur Auslösung der Inanspruchnahmemöglichkeit. Da der Unrechtsgehalt der Kenntnis der fehlerhaften Anmeldung geringer ist als derjenige des Erhalts der einbehaltenen Lohnsteuer und Nutzung dieser als Gehaltsbestandteil, wird dem Steuerpflichtigen eine Exkulpation ermöglicht. Die nicht ordnungsgemäß angemeldete Lohnsteuer verbleibt in dieser Konstellation beim Arbeitgeber. Einer Inanspruchnahme des Arbeitgebers durch Haftungsbescheid bedarf es nicht, soweit die Lohnsteuer von diesem ordnungsgemäß angemeldet wurde, § 42d Abs. 4 S. 1 Nr. 1 EStG. In diesem Fall steht die Steueranmeldung nach §§ 167 Abs. 1, 168 AO einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleich.219 Infolgedessen liegt ein vollstreckungsfähiger Verwaltungsakt vor. Die Vorschrift ist insoweit rein deklaratorischer Natur. Es darf in diesem Fall auch keiner Inanspruchnahme im Wege des Nachforderungsbescheids. Der Wortlaut der Norm soll auch nicht auf eine Inanspruchnahme auf diesem Wege und damit den nach aktueller Praxis der Finanzverwaltung bestehenden Verfahrensdualismus hinweisen. Ein solches Verständnis würde den Wortlaut der Norm überinterpretieren. Es wird lediglich auf die Wirkung der vom Arbeitgeber abgegebenen Steueranmeldung verwiesen. Fraglich ist, ob § 42d Abs. 4 S. 1 Nr. 1 EStG auch dann erfüllt ist, wenn eine ordnungsgemäße Anmeldung der Lohnsteuer erst durch eine Nachmeldung seitens des Entrichtungsschuldners erfolgt, weil die zuvor abgegebene Steueranmeldung nicht in vollem Umfang zutreffend war. Der Haftungsschuldner soll hierbei durch die Nachmeldung die eigene Haftungsschuld konkludent anerkennen.220 § 42d Abs. 4 S. 1 Nr. 1 EStG soll nicht die Anmeldung der Steuerschuld, sondern die Anmeldung der Haftungsschuld des Haftungsschuldners regeln.221 Dies ist unzutreffend. Für die Anmeldung einer Haftungsschuld des Arbeitgebers besteht keine dem § 41a EStG entsprechende Vorschrift, die eine solche Pflicht zur Anmeldung einer Haftungsschuld des Arbeitgebers beinhaltet.222 Soll der Haftungsschuldner bei einer Nachmeldung von Lohnsteuer ohne Haftungsbescheid und Leistungsgebot in Anspruch genommen werden, soll trotzdem die Erfüllung der Vorausset-

219

Heuermann, in: Blümich, EStG, § 41a, Rn. 17; Nacke, in: Littmann / Bist / Pust, EStG, § 42d, Rn. 61. 220 Martin, in: Lademann, EStG, § 42d, Rn. 150. 221 Hummel, in: Kirchhof / Söhn / Mellinghoff, EStG, § 42d, Rn. E1; vgl. hierzu ausführlicher Kapitel B. II. 3. a) ff). 222 Hummel, in: Kirchhof / Söhn / Mellinghoff, EStG, § 42d, Rn. E1.

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zungen des § 42d Abs. 1 – 3 EStG notwendig sein.223 Zutreffenderweise ist für die Nachmeldung der Steuer erneut § 168 AO anzuwenden, sodass auch insofern § 42d Abs. 4 S. 1 Nr. 1 EStG lediglich deklaratorisch wirkt. Es bedarf keines Haftungsbescheids, weil für diese Inanspruchnahme schon ein Steuerbescheid fingiert wird. Es ist demnach zu beachten, dass der Arbeitgeber bei der Einbehaltung, Anmeldung und Abführung der Lohnsteuer und bei der Inanspruchnahme nach § 42d Abs. 4 S. 1 Nr. 1 EStG verschiedene Rollen bekleidet. Für die Einbehaltung, Anmeldung und Abführung ist der Arbeitgeber Fremdentrichtungsschuldner der Lohnsteuer. Die Haftung nach § 42d Abs. 1 EStG betrifft die Inanspruchnahme auf Sekundärebene. Hierbei fungiert der Arbeitgeber als Haftungsschuldner. Der Unterschied zwischen der Inanspruchnahme nach § 191 Abs. 1 S. 1 AO i. V. m. § 42d Abs. 1 EStG mittels Haftungsbescheids und Leistungsgebot und der Inanspruchnahme nach § 42d Abs. 4 EStG ohne Haftungsbescheid und ohne Leistungsgebot besteht darin, dass bei Nachmeldung der bisher noch nicht angemeldeten Lohnsteuer eine Verfahrensvereinfachung genutzt wird.224 Dies führt dazu, dass hier ausnahmsweise eine Inanspruchnahme eines Steuerpflichtigen ohne vorangegangenen Verwaltungsakt möglich sein soll. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass eine Anerkennung eines Steueranspruchs einer Steueranmeldung und damit über § 168 AO auch einer fingierten Festsetzung der Steuer gleichsteht, vgl. § 167 Abs. 1 S. 3 AO. Die Vorschrift ist ausdrücklich auch für den Haftungsschuldner anwendbar. Allerdings setzt der Wortlaut der Norm ein Anerkenntnis nach Abschluss einer Außenprüfung voraus. Ein konkludentes Anerkenntnis ohne vorherige Außenprüfung ist nicht vom Wortlaut der Norm erfasst. Demnach dürfte ein einfaches Anerkenntnis ohne Außenprüfung nicht einer Steuerfestsetzung gleichstehen.225 Die Verwaltungsaktfiktion des Anerkenntnisses226 tritt hier nicht ein. § 167 Abs. 1 S. 3 AO ist für die Fälle des § 42d Abs. 4 S. 1 Nr. 2 EStG nicht anwendbar. Abhilfe schafft § 168 S. 1 AO. Nach diesem steht die Steueranmeldung der Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleich. Fallen bei Steueranmeldungssachverhalten Steuerschuldner und Entrichtungspflichtiger auseinander, so treffen die Wirkungen des § 168 S. 1 AO den Entrichtungsschuldner.227 Regelungsgehalt des fingierten Steuerbescheids gegenüber dem Entrichtungsschuldner ist, dass dieser den Abzugsbetrag abzuführen hat.228 Im Normalfall der Lohnsteueranmeldung führt die Fiktion des § 168 S. 1 AO dazu, dass eine Ent 223

Gersch, in: Herrmann / Heuer / Raupach, EStG, § 42d, Rn. 13. Wagner, in: Blümich, EStG, § 42d, Rn. 166. 225 So auch Cöster, in: König, AO, § 167, Rn. 23; Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn. 22; m. w. N. 226 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  25. 227 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 168, Rn. 6, 8; Cöster, in: König, AO, § 168, Rn. 10, m. w. N. 228 Cöster, in: König, AO, § 168, Rn. 10; vgl. hierzu auch Kapitel B. II. 3. a) ee). 224

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richtungsschuld als durch Steuerbescheid festgesetzt gilt. Es liegt eine Fremdentrichtungsschuldnerschaft des Entrichtungsschuldners vor, da dieser eine fremde Steuer anmeldet und einbehält. Sowohl bei ordnungsgemäßer Abgabe der Lohnsteueranmeldung als auch bei ordnungsgemäßer Anmeldung in Folge einer Steuernachmeldung ist § 42d Abs. 4 S. 1 Nr. 1 EStG lediglich deklaratorischer Natur, da in beiden Fällen gegenüber dem Arbeitgeber als Fremdentrichtungsschuldner nach § 168 S. 1 AO eine Steuerfestsetzung fingiert wird. Im Fall des § 42d Abs. 4 S. 1 Nr. 1 EStG wird hierbei nicht die Festsetzung einer Haftungsschuld durch Steuerbescheid fingiert. Es wird lediglich klargestellt, dass in Höhe der angemeldeten Steuer der Steuerentrichtungspflichtige in seiner Funktion als solcher auch ohne die Voraussetzungen des Erlasses eines Haftungsbescheids in Anspruch genommen werden kann. Die Nachmeldung der Lohnsteuer durch den Arbeitgeber in seiner Funktion als Fremdentrichtungsschuldner führt ohne Rückgriff auf § 42d Abs. 4 S. 1 Nr. 1 EStG zu der Fiktion einer Steuerfestsetzung gegenüber dem Arbeitgeber nach § 168 S. 1 AO. § 42d Abs. 4 S. 1 Nr. 1 EStG ist insoweit nur klarstellender Natur.

(2) Aufbau des Tatbestands der Kapitalertragsteuerhaftung Nach § 43 Abs. 1 S. 1 EStG unterliegen die in § 43 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis 12 EStG aufgezählten Kapitalerträge des § 20 Abs. 1 – Abs. 3 EStG dem Steuerabzug. Die Einkommensteuer wird hierbei durch den Steuerabzug in Form der Kapitalertragsteuer erhoben. Gemäß § 43 Abs. 5 S. 1 EStG ist die Einkommensteuer mit dem Steuerabzug abgegolten. Die Abgeltungswirkung tritt jedoch nicht ein, wenn der Gläubiger nach § 44 Abs. 1 S. 10 f. und Abs. 5 EStG in Anspruch genommen werden kann. Die Abgeltungswirkung ist demnach beschränkter Natur. Der Steuerschuldner der Kapitalertragsteuerlast ist für die Abzugstatbestände in § 43 Abs. 1 S. 1 Nr. 1–7b, 8–12 sowie S. 2 EStG der Gläubiger der Kapitalerträge, vgl. § 44 Abs. 1 S. 1 EStG. In diesen Fällen des Steuerabzugs entsteht die Kapitalertragsteuer im Zeitpunkt des Zuflusses der Kapitalerträge beim Gläubiger, § 44 Abs. 1 S. 2 EStG. Im Zeitpunkt des Zuflusses des Kapitalertrags muss der je nach dem einschlägigen Tatbestand des § 43 Abs. 1 S. 1 EStG zuständige Entrichtungsschuldner den Steuerabzug vornehmen. Wer als Entrichtungsschuldner zu qualifizieren ist, ist in § 44 Abs. 1 S. 2 EStG geregelt. Der Entrichtungsschuldner ist in den Fällen des § 43 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 2–4, 7a, 7b EStG der Schuldner der Kapitalerträge. Liegt bei diesen Steuerabzugstatbeständen ein Fall des § 43 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 S. 2 EStG vor, ist die für den Verkäufer der Wertpapiere den Verkaufsauftrag ausführende Stelle der für den Steuerabzug zuständige Entrichtungsschuldner. In den übrigen Fällen ist die Kapitalerträge auszahlende Stelle Entrichtungsschuldner der Kapitalertragsteuer. Wer als auszuzahlende Stelle zu qualifizieren ist, ergibt sich aus § 44 Abs. 1 S. 4 EStG. Dies hängt

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wiederum von dem jeweils vorliegenden Abzugstatbestand in § 43 Abs. 1 S. 1 EStG ab. Nach § 44 Abs. 1 S. 5 EStG muss der Entrichtungsschuldner die einbehaltene Kapitalertragsteuer jeweils bis zum zehnten des folgenden Monats an das zuständige Finanzamt abführen. Eine Ausnahme gilt für den Steuerabzug bei Kapitalerträgen nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 und 2 EStG sowie § 20 Abs. 2 S. 1 Nr. 2a) und Nr. 2 S. 2 EStG. Gemäß § 44 Abs. 1 S. 5 EStG ist die Kapitalertragsteuer in:diesen Fällen des § 43 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG schon im Zeitpunkt des Zuflusses beim Gläubiger abzuführen. In § 44 Abs. 2 bis 4 EStG sind Sonderfälle für die Bestimmung des Zuflusszeitpunkts der Kapitalerträge und damit für die Bestimmung der Fälligkeit der Steuerabführung geregelt. Die Zuständigkeit des Finanzamts bestimmt sich nach dem Entrichtungsschuldner. Es ist das Finanzamt für die Abführung der einbehaltenen Kapitalertragsteuer zuständig, das für die Einkommensbesteuerung des Entrichtungsschuldners zuständig ist, § 44 Abs. 1 S. 5 Nr. 1–3 EStG. § 44 Abs. 5 EStG regelt die Haftung des Entrichtungsschuldners für die einzubehaltende und abzuführende Kapitalertragsteuer. Die Vorschrift bestimmt zunächst die nach § 44 Abs. 1 EStG möglichen Entrichtungsschuldner als Haftungsschuldner. Die Haftung wird an die Entrichtungsschuld dieser angeknüpft. Die Entrichtungsschuld beinhaltet sowohl die Einbehaltung als auch die Abführung der Kapitalertragsteuer an das jeweils zuständige Finanzamt. Haftungs- und Steuerschuldner sind in Bezug auf die Kapitalertragsteuer Gesamtschuldner im Sinne des § 44 AO.229 Die Haftung für diese Pflichten des Entrichtungsschuldners tritt nicht ein, wenn dieser höchstens leicht fahrlässig gehandelt hat. Hierfür trifft den Entrichtungsschuldner die Beweislast gegenüber dem Finanzamt.230 Die Kodifizierung einer solchen Exkulpationsmöglichkeit wird damit begründet, dass bei der Kapitalertragsteuer in Bezug auf neue Finanzierungsformen zunächst unsicher sein kann, ob sie zu Kapitalerträgen führen, die dem Steuerabzug unterliegen oder lediglich Vermögensmehrungen nach sich ziehen, die nicht Gegenstand des Steuerabzugs sind.231 Für den Lohnsteuerabzug des Arbeitgebers hingegen ist keine solche Exkulpationsmöglichkeit vorgesehen. Hierbei wird ausreichend berücksichtigt, dass den Arbeitgeber wegen neuen Gratifizierungsformen ggf. auch Unsicherheiten in Bezug auf seine Abführungsverpflichtung treffen können. Die Unsicherheit des Arbeitgebers ist nicht mit derjenigen beim Kapitelertragsteuerabzug zu vergleichen. Ist der Arbeitgeber unsicher, ob ein lohnsteuerpflichtiger Sachverhalt vorliegt, so muss es für ihn nahe liegen, dass jede Gegenleistung für die Tätigkeit seiner Arbeitnehmer der Lohnsteuer unterliegen sollte, unabhängig davon, in welcher Form diese vergütet wird. Eine solch offene Verpflichtung ergibt sich schon aus dem offenen Wortlaut des § 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG sowie aus § 2 Abs. 1 LohnStDV. Die Situation bei der Lohnsteuer ist eindeutiger und einfacher zu bestimmen als die 229

Weber-Grellet, in: Schmidt, EStG, § 44, Rn. 15. Lindberg, in: Blümich, EStG, § 44, Rn. 26; Weber-Grellet, in: Schmidt, EStG, § 44, Rn. 20. 231 Lindberg, in: Blümich, EStG, § 44, Rn. 26. 230

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Qualifikation neuer Finanzierungsformen als kapitalertragsteuerpflichtig bzw. die Einordnung hieraus resultierender Erträge unter die Tatbestände des § 20 EStG.232 Die Exkulpationsmöglichbei des § 44 Abs. 5 S. 1 EStG wird für vorsätzliches und grob fahrlässiges Verhalten des Steuerentrichtungsspflichtigen ausgeschlossen. Vorsätzliches Handeln liegt vor, wenn der Entrichtungspflichtige seine Abzugsverpflichtung kennt und diese bewusst verletzt, wobei ausreichend ist, dass eine Kenntnis der Verpflichtung vorliegt und die Verletzung dieser billigend in Kauf genommen wird.233 Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn dem Schuldner eine Abführungsverpflichtung hätte einleuchten müssen und er diese trotzdem verletzt.234 Die Inanspruchnahme von steuerlicher Beratung wird hierfür nicht für erforderlich gehalten, wenn Unsicherheiten bestehen.235 Holt der Steuerpflichtige sich Rechtsrat ein, so soll er sich das Fehlverhalten des Beraters zurechnen lassen müssen.236 Dies erscheint zunächst fragwürdig. Eine dem § 85 Abs. 2 ZPO entsprechende Vorschrift ist in der Abgabenordnung nicht enthalten. Punktuell ist die Zurechnung von Beraterverschulden auch in der Abgabenordnung kodifiziert. So enthält § 110 Abs. 1 S. 2 AO für die Beurteilung des Verschuldens bei der Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand eine Zurechnungsvorschrift.237 Auf Grund der Kodifizierung im Unterabschnitt zur Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand und nicht bei § 80 AO, der die Bevollmächtigung im Steuerverwaltungsverfahren regelt, wird jedoch indiziert, dass diese spezielle Zurechnungsvorschrift gerade nur für die Wiedereinsetzung Anwendung findet. Andersfalls hätte der Gesetzgeber die Zurechnung auch unabhängig von der Wiedereinsetzung im allgemeinen Teil der Regelungen zum Steuerschuldrecht aufnehmen können. Ebenso erfolgt eine Zurechnung des Beraterverschuldens im finanzgerichtlichen Verfahren. Hierfür enthält § 155 S. 1 FGO einen Generalverweis auf die Vorschriften der ZPO, soweit in der FGO keine eigene Regelung vorhanden ist und die Anwendbarkeit der ZPO-Vorschrift nicht wegen grundsätzlicher Unterschiede beider Verfahrensordnungen ausgeschlossen ist. So soll über den Generalverweis § 85 Abs. 2 ZPO im Finanzgerichtsverfahren anwendbar sein.238 Eine solche Verweisungsnorm auf die Regelungen der ZPO ist in der Abgabenordnung nicht vorhanden. Insbesondere ist § 85 Abs. 2 ZPO auch nicht generell für 232 Vgl. hierzu beispielsweise die vom Autor dargelegten Schwierigkeiten der Qualifikation von Erträgen aus Überlassung virtueller Währungen ergeben: Hötzel, Virtuelle Währungen im System des deutschen Steuerrechts, S. 223 ff. 233 Lindberg, in: Blümich, EStG, § 44, Rn. 27: dolus eventualis. 234 Lindberg, in: Blümich, EStG, § 44, Rn. 28. 235 Lindberg, in: Blümich, EStG, § 44, Rn. 28. 236 Lindberg, in: Blümich, EStG, § 44, Rn. 28; Geurts, in: Bordewin / Brandt / Bode, EStG, § 44, Rn. 65; Hartrott, in: Herrmann / Heuer / Raupach, EStG, § 44, Rn. 40. 237 Jesse, in: Jesse, Einspruch und Klage im Steuerrecht, B. Einsprüche und Nebenanträge, Rn. 277. 238 BFH, Beschluss vom 30. 04. 2013  – IV R 38/11, BFH / NV 2013, 1117, BeckRS 2013, 95171, Rn. 18; Stapperfend, in: Gräber, FGO, § 155, Rn. 8; Stiepel, in: Gosch, Finanzgerichtsordnung, § 155, Rn. 31.

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alle Rechtsordnungen gleichermaßen anwendbar. Im allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht ist ebenfalls bei der Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand das Verschulden des Bürgers zu untersuchen. Hierfür enthält § 32 Abs. 1 S. 2 VwVfG ebenso wie § 110 Abs. 1 S. 2 AO eine spezielle Regelung zur Zurechnung von Beraterverschulden. Im allgemeinen Verwaltungsprozessrecht erfolgt über § 173 VwGO wie in der FGO ein Verweis auf die zivilprozessuale Zurechnungsnorm.239 Im Strafrecht findet eine Zurechnung von Beraterverschulden nicht statt, sodass Beraterverschulden dem Angeklagten im Strafprozess nicht zugerechnet wird.240 Lediglich für den Nebenkläger soll die Zurechnung in Betracht kommen.241 Da der Angeklagte der Strafverfolgung ausgesetzt werden soll, ist dieser besonders schutzwürdig, da hierdurch ein besonders sensibler Bereich seiner Grundrechte tangiert wird. Dies rechtfertigt, im Gegensatz zu anderen Rechtsordnungen, eine Zurechnung unterbleiben zu lassen. In diesem Lichte erscheint das selbstverständliche Abstellen der sich hierzu äußernden Vertreter der Literatur auf eine Zurechnung des Beraterverschuldens im Steuerverfahrensrecht ohne weitere Begründung zweifelhaft. So sollte es doch im Bereich der Eingriffsverwaltung einer gesetzlichen Grundlage für die Zurechnung von Verschulden Dritter bedürfen. Die Verfahrenssituation ähnelt auf Grund der Eingriffsverwaltung eher dem Strafprozess als dem Zivilprozess. Demzufolge sollte lediglich für eigenes Auswahlverschulden des Haftungsschuldners in Bezug auf den steuerlichen Berater die Annahme von schuldhaftem Säumnis gerechtfertigt sein. Ein solches muss in einem Fall des Beraterverschuldens aber nicht immer gegeben sein. Die systematische Auslegung der Haftungsnorm sollte demnach eine Haftung nur bei eigenem mindestens grob fahrlässigem Verschulden anzeigen. Ebenso wie im Strafprozessrecht besteht ein Bedarf, die Sphäre des Steuerpflichtigen von derer eines Bevollmächtigten für die Erfüllung steuerverfahrensrechtlicher Zwecke zu trennen. Es handelt sich grundsätzlich um zwei verschiedene Verschuldenssphären. Da der Steuerpflichtige auch die Vorteile der Bevollmächtigung genießt, ist es im Kern folgerichtig, ihm auch etwaige Fehler bei der Ausübung dieser Bevollmächtigung zuzurechnen. Auch wenn im vorliegenden Fall keine Zurechnung von Verschulden eines Prozessbevollmächtigten in Frage steht, sollte es auf Grund der Eingriffssituation eine Norm geben, die die Zurechnung von Verschulden für diese Konstellationen regelt. Derzeit bedient sich die Rechtsprechung für die Zurechnung von Wissen des § 166 BGB.242 Vorliegend kann jedoch keine entsprechende Zurechnung über § 166 BGB stattfinden, da es 239

BVerwG, Beschluss vom 26. 09. 2016 – 2 B 39.16, ECLI:DE:BVerwG:2016:260916B2B39.​ 16.0, Rn. 10; BVerwG, Beschluss vom 11. 08. 2016 – 9 B 68.15, ECLI:DE:BVERWG:2016:110816​ B9B68.15.0, Rn. 5. 240 BGH, Beschluss vom 11. 07. 2018 – 2 StR 467/17, ECLI:DE:BGH:2018:110718B2STR​ 467.17.1, Rn. 3; Maul, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, § 44, Rn. 30; Michalke, in: Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, Kapitel E. 1. Vorbemerkungen. 241 BGH, Beschluss vom 28. 04. 2016 – 4 StR 474/15, NStZ-RR 2016, 214, 214. 242 So beispielsweise zur Wissenszurechnung: BFH,  Urteil  vom  29. 7. 2003  – VII R 3/01, BFH / NV 2003, 1521, DStRE 2003, 1244, 1245.

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nicht um die Zurechnung von Wissen, sondern um die Verschuldenszurechnung geht. Sofern man sich außerhalb des Bereichs des Auswahl- und Überwachungsverschulden befindet, darf nach der aktuellen Gesetzeslage kein Beraterverschulden für die Haftungstatbestände zugerechnet werden.243 Ebenso wie bei der Lohnsteuerhaftung sieht auch § 44 Abs. 5 S. 2 EStG einen abschließenden Katalog von Fällen vor, in denen der Gläubiger der Kapitalerträge als Primärschuldner der Kapitalertragsteuer in Anspruch genommen werden kann. § 44 Abs. 5 S. 2 Nr. 1 und 2 EStG entsprechen hierbei den Regelungen der Lohnsteuerhaftung. So kann der Gläubiger der Kapitalerträge zum einen in Anspruch genommen werden, wenn er den vollen Kapitalertrag ohne Abzug der Kapitalertragsteuer erhalten hat. Zum anderen kann er in Anspruch genommen werden, wenn er zwar nur den gekürzten Kapitalertrag ausbezahlt bekommen hat, jedoch weiß, dass der Entrichtungsschuldner die einbehaltene Kapitalertragsteuer nicht ordnungsgemäß abgeführt hat und dies dem Finanzamt nicht anzeigt. Auch den Entrichtungsschuldner der Kapitalertragsteuer trifft nach § 45a Abs. 1 EStG eine Anmeldepflicht gegenüber dem Finanzamt. § 44 Abs. 5 S. 2 Nr. 2 EStG knüpft abweichend von der Regelung in § 42d Abs. 3 S. 4 Nr. 2 EStG nicht an die Kenntnis der Verletzung der Anmeldepflicht, sondern an die Verletzung der Abführungsverpflichtung des Entrichtungsschuldners an. Hierbei ist die Regelung zur Lohnsteuer für den Primärschuldner freundlicher als die Regelung für den Gläubiger der Kapitalerträge. Die Anmeldung, Einbehaltung und Entrichtung der Steuerabzugsbeträge liegen jeweils in der Sphäre des Entrichtungsschuldners. Die ordnungsgemäße Erfüllung dieser Pflichten kann von dem Primärschuldner nur begrenzt überwacht oder beeinflusst werden. Das Anknüpfen an die Kenntnis der Verletzung einer Anmeldepflicht ist demnach für den Primärschuldner günstiger, da eine solche Kenntnis häufig nicht vorliegen wird. Die Kenntnis von der fehlerhaften Einbehaltung kann sich dem Primärschuldner jedoch schon bei ordnungsgemäßer Prüfung der Gehaltsabrechnung für Fälle der Lohnsteuer bzw. der Kapitalertragssteuerbescheinigung nach § 45a Abs. 2 EStG für Zwecke der Kapitalertragsteuer aufdrängen. Die Verletzung der Einbehaltungsverpflichtung kann vom Steuerpflichtigen schon aus in der eigenen Sphäre und zur eigenen Verfügung stehenden Unterlagen geprüft werden. Dies ist bei der fehlerhaften Anmeldung der Kapitelertragsteuer nicht der Fall. Eine Exkulpation des Primärsteuerschuldners wird demzufolge bei der Kapitalertragsteuer grundsätzlich schwieriger sein. Dieser Unterschied der beiden Haftungstatbestände trägt dem Gedanken Rechnung, dass das Einkommen aus nichtselbstständiger Arbeit nach § 18 EStG als Grundlage der Lebensführung schützenswerter ist als Einkünfte aus Kapitalvermögen nach § 20 EStG, die im Normalfall angestellter Steuerpflichtiger nicht der Deckung des Grundbedarfs an Finanzmitteln dienen. Deswegen erscheint

243

So auch Intemann, in: König, AO, § 69, Rn. 90; BFH, Beschluss vom 12. 10. 1999 – VII B 54/99, GmbHR 2000, 395, BeckRS 1999, 25004201, Tz. II.

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es gerechtfertigt, in diesen Fällen geringere Anforderungen an den Kenntnisgegenstand für die Inanspruchnahme des Primärschuldners zu stellen. Im Gegensatz zur Lohnsteuerhaftung sieht § 44 Abs. 5 S. 2 Nr. 3 EStG einen weiteren Tatbestand vor. Dieser erlaubt eine Inanspruchnahme des Primärschuldners auch in den Fällen, in denen er den Kapitalertrag ohne Kürzung um die Kapitalertragsteuer erhalten hat, wenn dies nicht auf eine durch den Entrichtungsschuldner unterlassene Kürzung der Kapitalerträge zurückzuführen ist. Die Norm erlaubt eine Inanspruchnahme, wenn die Auszahlung des vollen Kapitalertrags auf das inländische Kreditinstitut oder Finanzdienstleistungsinstitut zurückzuführen ist, welches die Kapitalerträge auszahlt. Auch in diesem Fall ist die Inanspruchnahme des Primärschuldners gerechtfertigt, da dieser noch nicht von der Kapitalertragsteuer belastet wurde und diese zu Unrecht ausbezahlt bekommen hat. Ebenso im Gleichlauf mit der Regelung zur Lohnsteuerhaftung sieht § 44 Abs. 5 S. 3 EStG Fälle vor, in denen der Entrichtungsschuldner als Haftungsschuldner ohne Erlass eines Haftungsbescheids in Anspruch genommen werden kann. Die Fälle entsprechen der Regelung zur Lohnsteuer, sodass auf die Ausführungen in dem diesbezüglichen Kapital verwiesen wird.244 (3) Aufbau des Tatbestands der Bauabzugsteuerhaftung Wenn jemand im Inland eine Bauleistung an einen Unternehmer im Sinne des § 2 UStG oder an eine juristische Person des öffentlichen Rechts erbringt, muss der Leistungsempfänger von der von ihm an den Leistenden zu erbringenden Gegenleistung für die Bauleistung einen Steuerabzug in Höhe von 15 % für Rechnung des Leistenden vornehmen, § 48 Abs. 1 S. 1 EStG. Steuerschuldner ist hierbei der Bauleistende und nicht der Bauleistungsempfänger.245 Der Bauleistungsempfänger ist Entrichtungsschuldner der Bauabzugsteuer, vgl. §§ 48 Abs. 1 S. 1, 48a Abs. 1 S. 2 EStG. Die Verpflichtung zum Steuerabzug trifft Leistungsempfänger, die Unternehmer im Sinne des § 2 UStG sind oder als juristische Person des öffentlichen Rechts qualifizieren. Sofern der Leistungsempfänger nicht mehr als zwei Wohnung vermietet, erlaubt § 48 Abs. 1 S. 2 EStG bezüglich dieser Wohnobjekte eine Ausnahme vom Steuerabzug. Bauleistungen im Sinne des § 48 Abs. 1 S. 1 EStG stellen nach der Legaldefinition des § 48 Abs. 1 S. 3 EStG alle Leistungen dar, die der Herstellung, Instandsetzung, Änderung oder Beseitigung von Bauwerken dienen. Als Leistender einer Bauleistung gilt nach § 48 Abs. 1 S. 4 EStG auch derjenige, der über eine Bauleistung abrechnet, ohne diese selbst erbracht zu haben. Deswegen sind sowohl Ge-

244 245

Vgl. Kapitel A. II. 3. a) bb) (1). Ebling, in: Blümich, EStG, § 48, Rn. 10.

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neralunternehmer246 als auch Generalübernehmer247 Bauleistende in diesem Sinne, sodass der Auftraggeber gegenüber beiden zum Steuerabzug verpflichtet ist.248 Die als Bemessungsgrundlage des Steuerabzugs fungierende Gegenleistung wird in § 48 Abs. 3 EStG legal definiert. So ist die relevante Gegenleistung das Entgelt des Leistungsempfängers zzgl. der darauf entfallenden Umsatzsteuer. Der Leistungsempfänger wird vom Steuerabzug frei, wenn der Bauleistende diesem eine Freistellungsbescheinigung nach § 48b Abs. 1 S. 1 EStG vorlegt, die im Zeitpunkt der Gegenleistung gültig ist oder die Bagatellgrenzen der Gegenleistung je Kalenderjahr nach § 48 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 oder 2 EStG nicht überschritten werden. Für die Bagatellgrenze sind mehrere Bauleistungen an denselben Leistungsempfänger nach § 48 Abs. 2 S. 2 EStG zusammenzurechnen. § 48b EStG regelt die Erteilung der Freistellungsbescheinigung des Leistenden durch das zuständige Finanzamt. Eine nachträgliche Aufhebung der Freistellungsbescheinigung für bestimmte Bauleistungen ist den betroffenen Leistungsempfängern gemäß § 48b Abs. 4 EStG mitzuteilen. Die Vorschrift gibt nicht an, wen die Verpflichtung zur Mitteilung an die betroffenen Leistungsempfänger trifft. In der Literatur wird hierzu teilweise ebenfalls keine Aussage getroffen.249 Andere Stimmen in der Literatur benennen das zuständige Finanzamt als mitteilungspflichtige Stelle.250 Einmalig wird die Mitteilungspflicht in der Literatur ausdrücklich als Obliegenheit des Finanzamts qualifiziert.251 Es dürfte wohl nicht sachgemäß sein, die Mitteilungspflicht bei den Bauleistenden zu sehen. Dies würde eine Unsicherheit in Bezug auf die Erfüllung dieser Verpflichtung mit sich ziehen, die für den Leistungsempfänger nicht tragbar wäre. Der Leistungsempfänger muss bis zum zehnten Tag nach Ablauf des Monats, in dem er die Gegenleistung für die Bauleistung an den Bauleistenden erbracht hat, eine Anmeldung des Steuerabzugs vornehmen, vgl. § 48a Abs. 1 S. 1 EStG. Nach Ablauf weiterer zehn Tage ist der selbst zu berechnende Abzugsbetrag fällig und an das für den Bauleistenden zuständige Finanzamt abzuführen. Die Anmeldung 246 Der Generalunternehmer rechnet über die Bauleistungen der Subunternehmer gegenüber dem Auftraggeber ab. Daneben führt er jedoch auch durch eigene Angestellte Bauleistungen gegenüber dem Auftraggeber aus, vgl. Richter, in: Messerschmidt / Voit, Privates Baurecht, D. Beteiligte des Bau- und Planervertrags, Unternehmereinsatzformen, Rn. 191. 247 Der Generalübernehmer führt selbst keinerlei Bauleistungen im originären Sinne aus. Er rechnet lediglich über Bauleistungen von Subunternehmern gegenüber dem Auftraggeber ab und erfüllt ggf. daneben sonstige Leistungen gegenüber dem Auftraggeber, vgl. Richter, in: Messerschmidt / Voit, Privates Baurecht, D. Beteiligte des Bau- und Planervertrags, Unternehmereinsatzformen, Rn. 192. 248 Ebling, in: Blümich, EStG, § 48, Rn. 106; BMF-Schreiben vom 27. 12. 02, BStBl. I 2002, 1399, 1402. 249 Loschelder, in: Schmidt, EStG § 48b, Rn. 6, Ebling, in: Blümich, EStG, § 48b, Rn. 84, m. w. N. 250 Apitz, in: Herrmann / Heuer / Raupach, EStG, § 48b, Rn. 10; Hettler, in: Bordewin / Brandt / ​ Bode, EStG, § 48b, Rn. 37; Naujok, in: Lademann, EStG, § 48b, Rn. 142. 251 Naujok, in: Lademann, EStG, § 48b, Rn. 142.

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des Steuerabzugsbetrags durch den Entrichtungsschuldner steht nach § 48a Abs. 1 S. 3 EStG einer Steueranmeldung gleich. Der Entrichtungsschuldner muss unter Angabe der in § 48a Abs. 2 EStG aufgeführten Aspekte gegenüber dem Bauleistenden über den Steuerabzug abrechnen. Den Leistungsempfänger trifft demnach die Pflicht zur Einbehaltung, Anmeldung, Abführung und Abrechnung der Bauabzugsteuer. Führt der Leistungsempfänger die Bauabzugsteuer nicht ordnungsgemäß ab, so statuiert § 48a Abs. 3 S. 1 EStG seine Haftung für den fehlerhaft nicht abgeführten Betrag. Der Tatbestand sieht einen Exkulpationstatbestand vor. Wohingegen die Exkulpation bei der Kapitalertragsteuer unmittelbar an das Verschulden des Entrichtungsschuldners bezüglich der fehlerhaften Abführung geknüpft wird, lässt § 48a Abs. 3 S. 2 EStG eine Exkulpation des Entrichtungsschuldners zu, wenn der Bauleistende diesem eine Freistellungsbescheinigung nach § 48b EStG vorgelegt hat und der Entrichtungsschuldner auf deren Rechtmäßigkeit vertrauen durfte. Hierbei erfolgt auch eine Verschuldensprüfung. Der Ansatzpunkt der schuldhaften Pflichtverletzung des Entrichtungspflichtigen ist jedoch ein anderer als bei der Exkulpation für Zwecke der Kapitalertragsteuer. Bei der Kapitalertragsteuer kommt es darauf an, ob die fehlerhafte Abführung des Steuerabzugsbetrags mindestens grob fahrlässig erfolgt ist. Bei der Bauabzugsteuer hat die Exkulpation sowohl eine objektive als auch eine subjektive Komponente. Die Exkulpation bei der Bauabzugsteuer ist zum einen an die objektiv notwendige Vorlage einer Freistellungsbescheinigung geknüpft. Zum anderen muss die Freistellungsbescheinigung rechtmäßig erteilt worden sein oder der Entrichtungsschuldner entgegen der objektiven Wahrheit subjektiv auf die Rechtmäßigkeit vertrauen, wenn diese nicht vorliegt. Der Ansatzpunkt für das Verschulden ist hierbei das pflichtgemäße Vertrauen in die Rechtmäßigkeit einer tatsächlich rechtswidrigen Freistellungsbescheinigung. Wie bei der Haftung für fehlerhaft abgeführte Kapitalertragsteuer haftet der Entrichtungsschuldner für grobe Fahrlässigkeit und Vorsatz.252 Ansatzpunkt ist nicht die Kenntnis des Entrichtungsschuldners als eine subjektive Tatsache. Der Ansatzpunkt für das Verschulden ist vielmehr, ob aus objektiver Sicht, subjektiv auf die Rechtmäßigkeit der Freistellungsbescheinigung vertraut werden konnte. Es handelt sich um verobjektiviertes subjektives Merkmal in Form des „Vertrauendürfens“. § 48a Abs. 3 S. 3 EStG enthält Beispiele für Fälle, in denen kein Vertrauensschutz besteht. Diese sind jedoch nur deskriptiver Natur. Es sind keine weitergehenden Anforderungen oder Konkretisierungen der Anforderungen an den Verschuldensmaßstab enthalten. Es wird lediglich ein Beispiel benannt, um die zuvor getroffene Regelung greifbarer zu machen und einen Vergleichsmaßstab für andere Fallgestaltungen zu setzen.

252

Ebling, in: Blümich, EStG, § 48a, Rn. 108.

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(4) Aufbau des Tatbestands der Haftung beim Steuerabzug nach § 50a EStG Fehlt es einer natürlichen Person an einer durch Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt begründeten unbeschränkten Steuerpflicht nach § 1 Abs. 1 S. 1 EStG, so kann diese trotzdem in Deutschland der beschränkten Steuerpflicht nach § 49 Abs. 1 EStG unterliegen. Für unbeschränkt und beschränkt Steuerpflichtige bestehen teilweise abweichende Regelungen, vgl. §§ 50 ff. EStG. Insbesondere unterscheidet sich die Erhebungsform der Einkommensteuer für beschränkt Steuerpflichtige in Bezug auf bestimmte Einkünfte von derer für unbeschränkt der Besteuerung unterliegende Personen. So ordnet § 50a Abs. 1 EStG für einige der Katalogtatbestände beschränkt steuerpflichtiger Einkünfte die Erhebung in Form des Steuerabzugs an. Der Steuerabzug beträgt 15 % der gesamten Einnahmen aus dieser Einkunftsquelle, vgl. § 50a Abs. 2 S. 1 EStG.253 Ebenso ist ohne Vorliegen von inländischen Katalogeinkünfte beim Vorliegen sonstiger inländischer Einkünfte eine Anordnung des Steuerabzugs nach § 50a Abs. 7 S. 1 EStG möglich. Hierdurch wird dem für den Vergütungsgläubiger zuständigen Finanzamt die Möglichkeit eingeräumt, zur Sicherung des Steueranspruchs den Steuerabzug auch in nicht in § 50a Abs. 1 EStG genannten Fällen anzuordnen. Der Steuerabzug beträgt hierbei 25 % der Bemessungsgrundlage. Ist der Vergütungsgläubiger als „auf Anordnung beschränkt Steuerpflichtiger“ eine juristische Person oder Vermögensmasse, so beträgt der Steuerabzug 15 %. § 50a Abs. 3 EStG ermöglicht unter bestimmten Voraussetzungen einen Betriebsausgaben- bzw. Werbungskostenabzug von den Einnahmen bestimmter Tatbestände des § 50a Abs. 1 EStG. Darüber hinaus ist eine Abstandnahme vom Steuerabzug möglich, wenn eine Struktur mit mehreren hintereinanderstehenden beschränkten Steuerpflichtigen vorliegt, vgl. § 50a Abs. 4 EStG. Die Steuer auf die beschränkt steuerpflichtigen Steuerabzugseinkünfte entsteht nach § 50a Abs. 5 S. 1 EStG in dem Zeitpunkt, in dem dem Gläubiger die Vergütung zufließt. Zeitgleich muss der Schuldner der Vergütung den Steuerabzug vornehmen. Die Abführung dieser einbehaltenen Steuer hat bis zum Zehnten des Folgemonats an das Bundeszentralamt für Steuern zu erfolgen. Der Schuldner der Vergütung ist der Entrichtungsschuldner des Steuerabzugs für beschränkt steuerpflichtige Einkünfte. Steuerschuldner ist der Gläubiger der Einnahmen, vgl. § 50a Abs. 5 S. 2 EStG. Die Einbehaltung und Abführung der Steuer durch den Schuldner der Vergütung erfolgt auf Rechnung des Gläubigers. Innerhalb der Abführungsfrist hat der Entrichtungsschuldner nach näherer Maßgabe des § 73e S. 2–7 EStDV die Steuer beim BZSt anzumelden.254

253

Für nach § 49 Abs. 1 Nr. 4 EStG beschränkt steuerpflichtige Einkünfte aus der Tätigkeit als Überwachungsorgan von Geschäftsleitungen für Steuersubjekte, die unter § 1 KStG fallen, beträgt der Steuerabzug 30 %. 254 Reimer, in: Blümich, EStG, § 50a, Rn. 119.

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Auch für den Schuldner der Vergütung in seiner Funktion als Entrichtungsschuldner wurde in § 50a Abs. 5 S. 4 EStG ein Haftungstatbestand geschaffen. Die Vorschrift enthält keine Exkulpationstatbestände für die Haftung des Entrichtungsschuldners. Eine Inanspruchnahme des Steuerschuldners ist nur möglich, wenn der Steuerabzug nicht vorschriftsmäßig vorgenommen wurde. In diesem Fall hat der Steuerschuldner die Verfügungsgewalt über den Betrag des Steuerabzugs ungerechtfertigt erhalten. Die Regelungen zur Haftung für den Steuerabzug nach § 50a EStG sind weniger ausführlich als die bisher untersuchten Haftungstatbestände. Insbesondere sind keine an die Kenntnis des jeweiligen Beteiligten gekoppelten Ausschlusstatbestände vorhanden. Auf subjektive Komponenten kommt es für die Verwirklichung des Haftungstatbestands nicht an. Dies hat zur Folge, dass die Rechtslage keinen Raum für Exkulpationen schafft und der Steuerschuldner nur im Falle des unterbliebenen Einbehalts des Steuerabzugs in Anspruch genommen werden kann. Dadurch wird der Schwerpunkt der Vorschrift im Gegensatz zu den bisherigen Haftungstatbeständen in Richtung des Entrichtungsschuldners verlagert. Da auch dieser für die Erfüllung der Abzugstatbestände nicht im Steuerinland ansässig sein muss, ist der Schuldner der Vergütung für die Finanzverwaltung nicht grundsätzlich besser greifbar als der Gläubiger der Kapitelerträge. Die Solvenz des Schuldners der Vergütung und somit dessen Vollstreckungssubjektpotenzial ist jedoch im Zeitpunkt der Entstehung der einzubehaltenden Steuer besser einzuschätzen. Die an den Gläubiger zu entrichtende Vergütung ist zu diesem Zeitpunkt noch im Vermögen des Vergütungsschuldners vorhanden. Er ist demzufolge Inhaber der für den Steuerabzug notwendigen wirtschaftlichen Verfügungsmacht, da er andernfalls auch nicht im Stande wäre, die den Steuerabzug auslösende Vergütung an den Gläubiger zu entrichten. Da auf Gläubigerebene nicht einsehbar ist, welchen Forderungen der eingehende Betrag gegenübersteht, ist eine solche Vorschrift vorzugswürdig, die – wie auch de lege lata nach § 50a Abs. 5 S. 4 EStG – eine im Vergleich zu den anderen Haftungstatbeständen erleichterte Inanspruchnahme des Haftungsschuldners ermöglicht.

(5) Aufbau des Tatbestands der Versicherungsteuerhaftung Gemäß § 1 VersStG unterliegt die Zahlung eines Versicherungsentgelts auf Grund eines Versicherungsverhältnisses der Steuer. Gemäß § 1 Abs. 2 und 3 VersStG sind der Besteuerung verschiedene Versicherungsrisiken unterworfen, je nachdem wer Versicherer und Versicherungsnehmer sind und wo diese ansässig sind. Der Zeitpunkt der Steuerentstehung ist nach § 5 Abs. 2 VersStG davon abhängig, ob eine Ist- oder Sollversteuerung stattfindet. Grundsätzlich findet nach § 5 Abs. 1 S. 2 VersStG eine Istversteuerung statt. Das BZSt kann auf Antrag eine Sollversteuerung nach im Anmeldezeitraum angeforderten Versicherungsentgelten gestatten. Findet eine Istversteuerung statt und ist der Zahlende nach § 7 VersStG selbst entrichtungspflichtig, so entsteht die Steuer mit der Zahlung des Entgelts, § 5 Abs. 2 S. 1 Var. 1 VersStG. Ist eine andere Person Entrichtungsschuldner und

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liegt eine Istversteuerung vor, entsteht die Steuer mit der Entgegennahme des Versicherungsentgelts, § 5 Abs. 2 S. 1 Var. 2 VersStG. Sofern auf Antrag die Sollversteuerung gewährt wurde, entsteht die Steuer mit der Fälligkeit des Versicherungsentgelts, § 5 Abs. 2 S. 2 VersStG. Steuerschuldner der Versicherungsteuer ist der Versicherungsnehmer, § 7 Abs. 1 VersStG. Bemerkenswert ist, dass § 7 Abs. 2 VersStG ausdrücklich von Steuerentrichtungsschuldnerschaft spricht und diesbezüglich den Versicherer im Regelfall zu solchem qualifiziert. In den anderen betrachteten Konstellationen der Entrichtungspflicht eines Nichtsteuerschuldners wird stets von demjenigen gesprochen, der die Steuer einzubehalten und abzuführen hat. Er wird jedoch nicht ausdrücklich als Entrichtungsschuldner tituliert. Die Regelungen des Versicherungsteuergesetzes unterscheiden sich in diesem Punkt erheblich von denen des Einkommensteuergesetzes. § 7  Abs. 3–6  VersStG sehen Ausnahmen von der Steuerentrichtungsschuld des Versicherers vor. Auch in den Vertreter- bzw. Versichermehrheitsfällen des Abs. 3–5 liegt ein Auseinanderfallen von Steuerschuldner und Steuerentrichtungspflicht vor, da eine vom Versicherungsnehmer verschiedene Person die Steuer entrichten muss. Lediglich § 7 Abs. 6 VersStG stellt hiervon eine Ausnahme dar – wenn hiernach die Steuerentrichtungspflicht den Steuerschuldner trifft, liegt keine dem Versicherungsteuergesetz typische Viereckskonstellation zwischen Finanzamt, Steuerschuldner, Steuerentrichtungspflichtigem und Haftungsschuldner vor. Es ist lediglich ein zweipoliges Verhältnis gegeben. § 7 Abs. 7 VersStG statuiert die Haftung für die Steuerentrichtung. Hierbei sind folgende Personengruppen als Haftungsschuldner angesprochen: – der Versicherer; – jede andere Person, die das Versicherungsentgelt entgegennimmt; – eine versicherte Person, die gegen Entgelt aus einer Versicherung für fremde Rechnung Versicherungsschutz erlangt. Die Haftung ist hierbei begrenzt auf die Steuer, die auf das Versicherungsentgelt entfällt, das zur Deckung des Risikos der versicherten Person an den Versicherer zu leisten ist; im Zweifel ist das von der versicherten Person gezahlte Entgelt zugrunde zu legen. Bemerkenswert ist hierbei im Gegensatz zu den bisher betrachteten Haftungstatbeständen, dass § 7 Abs. 7 VersStG die Haftung daran knüpft, dass die zuvor gelisteten Personen nicht selbst Steuerentrichtungsschuldner sind. Damit schließen sich für Zwecke der Versicherungsteuer die Position des Steuerentrichtungsschuldners und die des Haftenden aus. Dies ergibt sich daraus, dass nach den Regelungen des VersStG eine Haftung des Steuerentrichtungsschuldners zur Sicherung des Steueraufkommens nicht nötig ist. Denn nach § 7 Abs. 8 S. 2 VersStG steht die Steuerentrichtungsschuld einer Steuerschuld gleich.255 Es besteht keine Akzes 255 Eine Gleichstellung der Haftungsschuld erfolgt jedoch nicht und wäre auch nicht zielführend, da eine Haftung nur auf Sekundärebene sinnvoll ist; unzutreffend zur Gleichstellung insoweit Bruschke, in: UVR 2017, 85, 89.

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sorietät zwischen der Steuerentrichtungsschuld und der Primärsteuerschuld des Steuerschuldners, § 7 Abs. 8 S. 2 a. E. VersStG. Die in § 7 Abs. 7 Nr. 1–3 VersStG aufgezählten Personenkreise haften nur, wenn sie nicht selbst Steuerentrichtungsschuldner sind. Es sind keine Exkulpationstatbestände für die Haftung vorhanden. Die Haftung wird nicht an weitere Voraussetzungen gebunden. Die Inanspruchnahme des Entrichtungsschuldners stellt nach dieser gesetzlichen Ausprägung keine Inanspruchnahme als Haftungsschuldner dar. Dies ergibt sich auch aus dem Wortlaut des § 7 Abs. 8 S. 1 VersStG. Hiernach sind Steuerschuldner, Steuerentrichtungsschuldner und Haftungsschuldner echte Gesamtschuldner. Insofern gelten auch nicht die in § 191 Abs. 5 AO statuierten Regeln zur Akzessorietät für den Steuerentrichtungsschuldner. Insbesondere ist hierbei auf die in § 7 Abs. 8 S. 4 VersStG vorhandene Regelung zu verweisen, die die Bestimmung der Festsetzungsfrist nur an die jeweilige Person des Steuerpflichtigen knüpft. Der Ablauf der Festsetzungsfrist ist demnach nicht wie bei § 191 Abs. 5 Nr. 1 AO ein Ausschlussgrund für den Erlass eines Haftungsbescheids auf Grund der Akzessorietät zwischen Primärschuld und Haftung auf Sekundärebene. Die in § 7 Abs. 8 S. 4 VersStG gebildeten Beispielspaare für die Unbeachtlichkeit der Festsetzungsverjährung des jeweils anderen deuten auf etwas Weiteres hin. Nach § 7 Abs. 8 S. 4 VersStG ist (insbesondere)  für die Inanspruchnahme des Steuerentrichtungsschuldners der Ablauf der Festsetzungsfrist beim Versicherungsnehmer sowie für die Inanspruchnahme des Haftenden der Ablauf der Festsetzungsfrist beim Steuerentrichtungsschuldner unbeachtlich. Es werden demnach zum einen der Steuerentrichtungsschuldner und der Versicherungsnehmer als Steuerschuldner in Verbindung gesetzt. Als zweites Beispielspaar nimmt die Norm auf das Verhältnis zwischen Haftungs- und Steuerentrichtungsschuldner Bezug. Nach ersterem Beispiel soll für die Inanspruchnahme des Steuerentrichtungsschuldners unbeachtlich sein, wenn die Festsetzungsverjährung beim Versicherungsnehmer als Steuerschuldner abgelaufen ist. Das stimmt damit überein, dass zwischen Steuerschuld und Entrichtungsschuld keine Akzessorietät besteht. Für den Haftungsschuldner hingegen soll unbeachtlich sein, wenn gegenüber dem Steuerentrichtungspflichtigen die Festsetzungsverjährung eingetreten ist. Gerade das in § 191 Abs. 5 Nr. 1 AO erwähnte Paar Steuerschuldner  –  Haftungsschuldner wird nicht ausdrücklich in § 7 Abs. 8 S. 4 VersStG erwähnt. Dies ist sinnvoll, weil dieses Verhältnis bereits durch § 191 AO geregelt wird, da es sich um ein normales Steuerschuldner-Haftungsschuldner-Verhältnis handelt. Im Widerspruch hierzu vermag der Wortlaut des § 7 Abs. 8 S. 4 VersStG zu stehen. Denn hier wird für die Bestimmung der Festsetzungsfrist jeweils auf den in Anspruch zu nehmenden Steuerpflichtigen abgestellt. Der Haftungsschuldner ist zwar nicht Steuerschuldner, jedoch aber Steuerpflichtiger im Sinne des § 33 Abs. 1 AO. Auch wenn das Vergleichspaar Steuerschuldner – Haftungsschuldner in den nachfolgend kodifizierten Beispielen der Unbeachtlichkeit des Ablaufs der Festsetzungsverjährung bei dem jeweils anderen nicht aufgeführt ist, spricht auf Grund der zuvor getroffenen Grundregel vieles dafür, dass § 7 Abs. 8 S. 4 VersStG auch die Fest-

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setzungsverjährungsakzessorietät beim Haftungsschuldner durchbrechen soll.256 Denn andernfalls liefe die Aussage ins Leere, dass für die Bestimmung der Festsetzungsfrist bei einem Steuerpflichtigen jeweils die Umstände maßgeblich sind, die in Bezug auf seine Person vorliegen. Den nach § 7 Abs. 2–5 VersStG bestimmten Entrichtungsschuldner trifft nach § 8 Abs. 1 VersStG neben der Entrichtung der Steuer die Pflicht, für jeden Anmeldezeitraum eine unterschriebene Steuererklärung abzugeben, in der die entstandene Steuern selbst berechnet wird. Hierbei wird ausdrücklich der Begriff der Steueranmeldung genannt. § 8 Abs. 4 VersStG enthält eine Regelung, die im Hinblick auf § 167 Abs. 1 S. 1 AO interessant ist: Gibt der zur Steueranmeldung und Steuerentrichtung Verpflichtete bis zum Ablauf der Anmeldefrist keine Steueranmeldung ab, so ist das BZSt zur Festsetzung der Steuer ermächtigt. Die Vorschrift enthält unter Zugrundelegung der aktuellen Auslegungspraxis in Bezug auf § 167 Abs. 1 S. 1 AO ungeachtet der Zuständigkeitsregelung, die jedoch schon in § 7a VersStG vorhanden ist, keine weitergehende Ermächtigung als sich eine solche aus § 167 Abs. 1 S. 1 AO. Begrüßenswert ist jedoch, dass § 8 Abs. 4 VersStG darauf Bezug nimmt, dass der zur Steueranmeldung und -entrichtung Verpflichtete die Steueranmeldung nicht abgibt. Damit nimmt die Vorschrift zutreffender Weise auf den Steuerentrichtungsschuldner als Adressat des Bescheids auf Grundlage des § 8 Abs. 4 VersStG Bezug. Das löst das Problem, dass der Haftungsschuldner als Adressat des § 167 Abs. 1 S. 1 Var. 2 AO keine Steueranmeldung abzugeben hat. b) Vorliegen einer Haftungsschuld Neben dem Vorliegen der Voraussetzungen der materiellen Haftungsnormen257 erfordert die Entstehung eines Haftungsanspruchs auch, dass gegen einen Primärschuldner eine von der Reichweite der Haftungsnorm erfasste Steuerschuld besteht, für die der Haftungsschuldner auf Grundlage der Haftungsnorm in Anspruch genommen werden soll.258 Die Notwendigkeit des Bestands einer Primärsteuerschuld, auf die sich die Haftung des Haftungsschuldners beziehen kann, wird Akzessorietät der Haftung genannt.259 Die Haftungsschuld des Haftungsschuldners entsteht nur, wenn auf Primärebene gegen den Steuerschuldner eine Steuerschuld besteht. 256 Anders aber mit Hinweis auf die Uneindeutigkeit des Wortlauts Grünwald / Dallmayr, in: Grünwald / Dallmayr, VersStG, § 7, Rn. 52; ebenso aber ohne Vertiefung des Problems Bruschke, in: UVR 2017, 85, 89. 257 Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 9; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 16; Jatzke, in: Gosch, AO, § 191, Rn. 8; Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 191, Rn. 11; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 18; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 11. 258 Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 10; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 19; Jatzke, in: Gosch, AO, § 191, Rn. 9; Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 191, Rn. 12; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 19; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 11. 259 BFH, Beschluss vom 11. 07. 2001  – VII R 29/99, BFH / NV 2002, 305, BeckRS 2001, 25000038, Tz. 2 a); BFH, Urteil vom 15. 10. 1996 – VII R 46/96, BStBl. II 1997, 171, 172; Boeker,

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Auf Sekundärebene ist diese Steuerschuld Grundlage für die Haftung des Haftungsschuldners. Steuerschuld und Haftungsschuld sind jedoch nicht wesensgleich oder gar identisch260. Es handelt sich um zwei verschiedene Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nach § 37 Abs. 1 S. 1 AO. Auf Grund der tatbestandlichen Verknüpfung des Haftungsanspruchs gegen den Haftungsschuldner mit dem Vorhandensein einer Primärschuld des Steuerpflichtigen erfolgt allerdings eine Verbindung beider Steuerebenen. aa) Grundsatz der Akzessorietät der Haftung Die Sekundärebene der Haftung besteht nicht völlig losgelöst von der Steuerschuld auf der Primärebene, sodass die Haftung als zur Steuerschuld „akzessorisch“ qualifiziert wird.261 Die Akzessorietät der Haftung zur Primärschuld ist schon im Wortlaut des § 191 Abs. 1 S. 1 AO angelegt. So erfordert die Ermächtigungsgrundlage die Haftung „kraft Gesetzes für eine Steuer“. Für eine Steuer kann nur gehaftet werden, wenn eine solche Steuerlast überhaupt vorliegt. Die Verbindung zwischen Primär- und Sekundärebene erfolgt durch den Einsatz der Präposition „für“. Präpositionen werden in der grammatischen Lehre der deutschen Sprache auch als Verhältniswörter bezeichnet.262 Das durch die Verwendung dieser Präposition entstehende Verhältnis zwischen der Haftungsschuld und der Primärschuld wird mit der „Akzessorietät der Haftung“ umschrieben. Die Akzessorietät der Haftung wird daraus hergeleitet, dass diese ein Sicherungsmittel für die Primärschuld darstellt. 263 Sicherungsmittel können der Natur der Sache nach nur dann vorliegen, wenn es etwas zu Besicherndes gibt. Sicherungsmittel haben keinen eigenen Selbstzweck. Sie bestehen nicht um ihren eigenen Willen. Sie dienen vielmehr der Absicherung einer anderen Forderung. Im Steuerrecht ist diese andere Forderung die Primärsteuerschuld. Sicherungsmittel sind deshalb als selbstlose Institute anzusehen. Infolgedessen bedarf ihre Existenz einer Rechtfertigung. Wegen der Akzessorietät der Haftungsschuld zur Primärschuld kann ein Haftungsbescheid nur rechtmäßig ergehen, wenn der Steueranspruch gegen den Steuerpflichtigen auf der Primärstufe bereits entstanden ist.264 Ebenso muss der Steuerin: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  19; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 19; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 11, m. w. N. 260 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  24. 261 BFH, Beschluss vom 11. 07. 2001  – VII R 29/99, BFH / NV 2002, 305, BeckRS 2001, 25000038, Tz. 2 a); BFH, Urteil vom 15. 10. 1996 – VII R 46/96, BStBl. II 1997, 171, 172; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  19; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 19; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 11; m. w. N.; so auch schon Sperling, Schuld und Haftung im Steuerrecht, 1940, S. 41; Arens, Zum Begriff der Haftung im geltenden Steuerrecht, 1927, S. 576. 262 Vgl. https://www.duden.de/rechtschreibung/Praeposition, Stand 19. 02. 2019. 263 Arens, Zum Begriff der Haftung im geltenden Steuerrecht, 1927, S. 576. 264 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  19; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 18; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 11, m. w. N.

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anspruch gegen den Steuerpflichtigen im Zeitpunkt der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners noch bestehen.265 Zu beachten ist allerdings, dass es einer Festsetzung der Primärschuld gegenüber dem Steuerpflichtigen für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners nicht bedarf, vgl. § 191 Abs. 3 S. 3 f. AO.266 Etwaige noch offene Rechtsbehelfsverfahren auf Primärebene, eine noch nicht endgültige oder nicht bedingungslose Festsetzung (§§ 164 f. AO) der Primärschuld sowie fehlende Bestandskraft der Steuerfestsetzung sind für die Sekundärebene irrelevant.267 Entscheidend für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners ist lediglich die Existenz des Primäranspruchs.268 Existent ist ein Steueranspruch nach § 38 AO, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Welche Voraussetzungen hierfür materiell zu erfüllen sind, bestimmt sich nach den Einzelsteuergesetzen. Diese enthalten den jeweiligen Besteuerungstatbestand. Die Haftung des Haftungsschuldners besteht nicht ohne Einschränkungen. Einschränkungen sind in § 191 Abs. 4 und 5 S. 1 AO enthalten. Nach § 191 Abs. 4 AO kann ein Haftungsbescheid, dem ein nicht steuergesetzlicher Haftungstatbestand zu Grundlage liegt, nur so lange ergehen, wie der Haftungsanspruch nach dem für diesen maßgeblichen Recht noch nicht verjährt ist. Für steuerrechtliche Haftungsansprüche enthält § 191 Abs. 5 S. 1 AO gesetzliche Ausprägungen der Akzessorietät. Zum einen ist der Erlass eines Haftungsbescheids nicht mehr möglich, wenn die noch nicht gegenüber dem Steuerschuldner festgesetzte Primärschuld festsetzungs- oder zahlungsverjährt ist. Zum anderen ist der Erlass des Haftungsbescheids ausgeschlossen, wenn die Primärschuld gegenüber dem Steuerpflichtigen erlassen wurde. Über die in § 191 Abs. 5 S. 1 AO genannten Fälle hinaus ist die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners ebenfalls ausgeschlossen, wenn die Primärschuld aus anderen Gründen nicht mehr existent ist. So führt auch ein Erlöschen durch Zahlung, Aufrechnung oder Befriedigung im Vollstreckungsverfahren zur Rechtswidrigkeit der Inanspruchnahme.269 Der zeitliche Bezugspunkt ist hierbei die letzte Verwaltungsentscheidung.270 Kommt es nach der letzten Verwaltungsentscheidung zu Änderungen bezüglich des Bestands der Primärschuld, so ist dies für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners auf Tatbestandsebene ohne Bedeutung.271

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Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  19; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 18; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 11, m. w. N. 266 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  20; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 20; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 13, m. w. N. 267 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  20 ff.; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 21 f. 268 Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 20. 269 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  22; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 23; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 11. 270 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  22; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 23; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 11. 271 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  22; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 25; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 18.

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Zu beachten ist hierbei jedoch, dass sich auf Grund der Gesamtschuldnerschaft nach § 44 Abs. 1 S. 1 AO zwischen Haftungs- und Steuerschuldner bei Erfüllung der Steuerschuld auf Primärebene auch Auswirkungen für den Haftungsschuldner ergeben.272 Hierbei kommen zwei Wege in Betracht, um Änderungen auf Primärebene nach dem letzten Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidung auf Sekundärebene durchschlagen zu lassen. Zum einen könnte ein Widerruf des Haftungsbescheids nach § 131 Abs. 2 Nr. 3 AO erfolgen.273 Zum anderen könnte der Haftungsschuldner die Erfüllung der Primärschuld durch Beantragung eines Abrechnungsbescheids nach § 218 Abs. 2 AO geltend machen.274 Der Haftungsschuldner wird demnach auf Sekundärebene nicht schutzlos gestellt, sofern sich nach der letzten Verwaltungsentscheidung noch Änderungen in Bezug auf die Primärschuld ergeben. Es sollte häufig vorkommen, dass sich nach Ablauf der Rechtsbehelfsfristen oder nach unangefochtener Einspruchsentscheidung, noch Änderungen auf der Primärebene ergeben, die die Steuerschuld beeinflussen können. Eine Beeinflussung der Sekundärfeststellung ist demnach sichergestellt. bb) Grenzen der Akzessorietät Die Akzessorietät der Haftungsschuld geht nicht so weit, dass Primär- und Haftungsbescheid in einem Grundlagen- zu Folgebescheid-Verhältnis stehen.275 Ein Grundlagenbescheid entfaltet Bindungswirkung für den Folgebescheid. 276 Die Bindungswirkung muss gesetzlich angeordnet sein.277 Feststellungen des Grundlagenbescheids müssen für den Folgebescheid als gegeben angesehen werden. Sie können nicht mehr im Folgebescheid angefochten werden. Die gesetzliche Formulierung „Haftung für eine Steuer“ statuiert keine solche prozessual-rechtliche Verbindung zwischen Steuer- und Haftungsbescheid. So verweist § 191 Abs. 3 S. 4 AO auf eine entsprechende Anwendung der Vorschriften für Grundlagen- und Folgebescheide in § 171 Abs. 10 AO. Würden Steuer- und Haftungsbescheid schon Grundlagen- und Folgebescheid sein, so müsste ein solcher Verweis für die Vorschriften zur Verjährung nicht stattfinden. Darüber hinaus besteht zwischen Steuer- und Haftungsbescheid ein Ebenenwechsel. Der Steuerbescheid betrifft die primäre Ebene der Inanspruchnahme. Die Haftung des Haftungsschuldners tritt auf Sekundärebene neben die Primärebene und ist von dieser gesondert zu betrachten. Anders ist dies 272

Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 18; Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 12. Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 18; Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 12; Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 191, Rn.  18. 274 Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 18; Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 12; Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 191, Rn.  18. 275 BFH, Urteil vom 5. 10. 2004 – VII R 7/04, BStBl. II 2006, 343, 344; Gehm, in: Schwarz / ​ Pahlke, AO, § 191, Rn. 10; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 13; Cöster, in: König, AO, § 171, Rn. 150. 276 Rüsken, in: Klein, AO, § 171, Rn. 102. 277 Rüsken, in: Klein, AO, § 171, Rn. 102.

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bei Folge- und Grundlagenbescheiden. Die in § 180 Abs. 1 Nr. 1–3 AO aufgezählten gesonderten Feststellungen haben nach § 182 S. 1 AO Bindungswirkung für Folgebescheide. Die dortigen Fälle betreffen jeweils die Primärebene der Besteuerung. Grundlagen- und Folgebescheid sind solche der Primärebene. Uneinheitlich beantwortet die Literatur die Frage, ob die Festsetzungen auf Primär- und Sekundärebene trotz des fehlenden Grundlagen- zu Folgebescheid-Verhältnisses der Höhe nach identisch sein müssen. Einige Autoren sowie der siebte Senat des BFH sind der Ansicht, dass die Steuerfestsetzung auf Primärebene keine Auswirkungen auf die Höhe der auf Sekundärebene geltend zu machenden Haftungsschuld habe.278 Dies solle auch gelten, wenn eine Änderungsmöglichkeit des Primärsteuerbescheids nicht mehr bestünde.279 Die Divergenz zwischen der Steuer auf Primär- und Sekundärebene hätte zur Folge, dass bei zu niedriger Festsetzung der Steuerlast gegenüber dem Steuerschuldner auf Sekundärebene trotzdem ein der Höhe nach zutreffender Haftungsbescheid gegenüber dem Haftungsschuldner ergehen könnte. Zwischen Steuerbescheid und Haftungsbescheid läge infolgedessen der Höhe nach eine Inkongruenz vor. Andere Vertreter der Literatur halten dies für ausgeschlossen.280 Der Haftungsanspruch richte sich der Höhe nach dem Primäranspruch, sodass eine bindende Festsetzung des Primäranspruchs den Sekundäranspruch begrenze.281 Begründet wird diese Begrenzung der Sekundärebene mit der Subsidiarität der Haftung.282 Darüber hinaus widerspräche eine inkongruente Festsetzung der Haftungsschuld über den Primärsteuerbetrag hinaus dem Sicherungszweck der steuerrechtlichen Haftung.283 Hierbei wird auch als Argument angeführt, dass die Finanzbehörde eine nicht mehr änderbare Steuerfestsetzung nicht mittelbar über den Weg der höheren Festsetzung im Haftungsverfahren gegenüber dem Haftungsschuldner ändern dürfe.284 Nimmt der Haftungsschuldner Regress gegenüber dem Steuerschuldner in Höhe der höheren Haftungsschuld, wirkt dies wirtschaftlich für den Steuerschuldner genauso, als hätte die Finanzbehörde den Steuerbescheid abändern dürfen. Die Regelungen zur Festsetzungsverjährung sollen für den Steuerschuldner jedoch mit Rechtssicherheit bezüglich der zugrunde liegenden Steuerschuld dienen. Dies würde mittelbar über einen etwaigen zivilrechtlichen Regress des

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BFH, Urteil vom 5. 10. 2004 – VII R 7/04, BStBl. II 2006, 343, 345; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 13; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 22; Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 191, Rn. 15. 279 Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 13; Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 191, Rn. 15; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 22: mit der Einschränkung, dass dies nur auf Tatbestandsebene gelte. 280 Halaczinsky, Die Haftung im Steuerrecht, 4. Auflage 2013, Rn. 608; Gehm, in: Schwarz / ​ Pahlke, AO, § 191, Rn. 13a; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  103. 281 Halaczinsky, Die Haftung im Steuerrecht, 4. Auflage 2013, Rn. 608; Gehm, in: Schwarz / ​ Pahlke, AO, § 191, Rn. 13a, Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  103. 282 Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 13a. 283 Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 13a. 284 Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 13a.

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Haftungsschuldners beim Steuerschuldner ausgehebelt. Zumindest solle die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners in diesem Fall ermessensfehlerhaft sein.285 Für letztere Auslegung der Akzessorietät der Haftung spricht auch das Vorliegen einer Gesamtschuld zwischen Steuer- und Haftungsschuldner. Wesensimmanent für eine Gesamtschuld ist, dass die Gesamtschuldner dieselbe Leistung schulden. Diese muss auch der Höhe nach identisch sein. Zwar vermag es Fälle geben, in denen sich die zu schuldende Leistung der jeweiligen Gesamtschuldner wegen Einwendungen mit Einzelwirkung für nur einen Gesamtschuldner auseinanderentwickeln. Der Kreis der Einwendungen mit Einzelwirkung wird jedoch durch die Regelung in § 191 Abs. 5 AO weiter verringert. Ohne das Hinzutreten solcher Einwendungen mit Einzelwirkung muss die Gesamtschuld gegenüber beiden Gesamtschuldnern in gleicher Höhe bestehen. Andernfalls bestünde in Höhe des überschießenden Betrags keine Gesamtschuld. Einer Festsetzung der Primärsteuerschuld bedarf es für den rechtmäßigen Erlass des Haftungsbescheids jedoch nicht. So begrenzt nur die tatsächliche Höhe der Primärsteuerschuld die zulässige Festsetzung der Haftungsschuld. Eine Begrenzung erfolgt nicht durch die Manifestation der Primärsteuerschuld in Form ihrer Steuerfestsetzung gegenüber dem Primärsteuerschuldner, da diese lediglich deklaratorisch286 ist. Steuer- und Haftungsanspruch sind separate Ansprüche aus verschiedenen Steuerschuldverhältnisses, vgl. § 37 Abs. 1 AO. Steuerschuld und Haftungsschuld sind weder wesensgleich noch identisch287. Der Gesetzessystematik nach spricht zunächst nichts dafür, dass beide Festsetzungen nicht voneinander abweichen können. Der Wortlaut des § 191 AO äußert sich hierzu nicht ausdrücklich. § 191 Abs. 3 S. 3 f. AO zeigen, dass der Haftungsbescheid vor Festsetzung der Primärschuld ergehen kann. In diesem Fall besteht noch keine Steuerfestsetzung die der Höhe nach als Begrenzung der Haftungsschuldfestsetzung dienen kann. Die Festsetzung des Haftungsbescheids kann in diesem Fall nicht zur Begrenzung der Festsetzung der Steuerschuld genutzt werden. Eine solche umgekehrte Akzessorietät besteht nicht. Der Haftungsbescheid ist akzessorisch zum Steuerbescheid; der Steuerbescheid ist jedoch nicht akzessorisch zum Haftungsbescheid. Eine Begrenzung der Erlassmöglichkeit auf Primärebene kann nicht durch die vorherige Bescheidung auf Sekundärebene erfolgen. Da dies nicht möglich ist, das Gesetz aber ausdrücklich die Möglichkeit des vorherigen Erlasses des Haftungsbescheids vor dem Steuerbescheid vorsieht, kann der Steuerbescheid die Höhe des Haftungsbescheids nicht begrenzen. Zwar ist dem zuzustimmen, dass eine solche Festsetzung auf Sekundärebene dem Sinn und Zweck des § 191 Abs. 1 S. 1 AO widerspräche. Der Telos einer Norm 285

BFH, Urteil vom 09. 10. 1992 – VI R 47/91, BStBl. II 1993, 169, 171; Gehm, in: Schwarz / ​ Pahlke, AO, § 191, Rn. 13a; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  20. 286 Ratschow, in: Klein, AO, § 38, Rn. 18. 287 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  24.

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wirkt jedoch nur bei der Auslegung und ist keine kodifizierte Voraussetzung derselben. Dieser ist heranzuziehen, bindet jedoch nicht. Er ist einer unter mehreren Auslegungsaspekten, die untereinander abgewogen werden müssen. Da der Gesetzgeber die Festsetzungsverjährung des Haftungsbescheids ausdrücklich länger laufen lassen wollte als die des Steuerbescheids und dies in § 191 Abs. 3 S. 4 AO aufgenommen hat, ergibt sich die Situation, dass die Festset­ zungsverjährung des Haftungsbescheids nach derer des Steuerbescheids endet. So besteht regelmäßig die Möglichkeit, im Haftungsverfahren Fehler des Steuerverfahrens trotz Festsetzungsverjährung zu korrigieren. Da dies über den zivilrechtlichen Regress auf den Steuerpflichtigen zurückfällt und damit die Festsetzungsverjährung des Primärverfahrens mittelbar und unter Betrachtung des wirtschaftlichen Effekts unterläuft, sollte dennoch eine Einschränkung auf Ermessensebene erfolgen. Ein Haftungsbescheid kann nicht mehr ergeben, soweit die Primärsteuer festsetzungsverjährt ist, Zahlungsverjährung eingetreten ist oder ein Erlass der Steuer stattgefunden hat, § 191 Abs. 5 S. 1 AO. Eine Ausnahme hiervon besteht jedoch nach § 191 Abs. 5 S. 2 AO, wenn die Haftung darauf beruht, dass der Haftungsschuldner Steuerhinterziehung oder Steuerhehlerei begangen hat. In diesen Fällen kann ein Haftungsbescheid auch noch erlassen werden, wenn die Primärschuld nicht mehr besteht.288 Die Akzessorietät der Haftung kommt dem Haftungsschuldner zu Gute. So verhindert diese, dass in den in § 191 Abs. 5 S. 1 AO genannten Fällen noch ein Haftungsbescheid erlassen werden darf. Da Haftungs- und Steuerverfahren jedoch grundsätzlich selbstständig nebeneinanderstehen, ist es gerechtfertigt, im Falle der Begehung einer Steuerstraftat von dieser Privilegierung des Haftungsschuldners Abstand zu nehmen. Die durch die Akzessorietät bestehende Verbindung zwischen Steuer- und Haftungsverfahren wird in diesen Fällen unterbrochen. cc) Einfluss der Akzessorietät auf die Gesamtschuldnerschaft Steuerschuldner und Haftungsschuldner sind Gesamtschuldner nach § 44 AO.289 Fraglich ist, ob sich die Akzessorietät der Haftung auf die Gesamtschuldnerschaft zwischen Steuer- und Haftungsschuldner auswirken kann. Bei Vorliegen einer Gesamtschuld kann die Finanzbehörde die Leistungen von jedem Schuldner fordern, vgl. § 44 Abs. 1 S. 1 AO.290 Sie darf die Leistung jedoch

288

Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 12. BFH, Urteil vom 9. 8. 2002 – VI R 41/96, BStBl. II 2003, 160, 161; BFH, Beschluss vom 11. 7. 2001 – VII R 28/99, BStBl. II 2002, 267, 268; Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 7a; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 3; Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 219, Rn. 15. 290 König, in: König, AO, § 44, Rn. 1. 289

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insgesamt nur einmal fordern.291 § 44 Abs. 1 S. 1 AO nutzt den Begriff der Gesamtschuldner. Dieser ist in § 421 BGB ausführlicher geregelt als in der steuerverfahrensrechtlichen Regelung. Auf Grund der Einheit der Rechtsordnung kann auf die Regelung in § 421 BGB zurückgegriffen werden.292 Im Rahmen der zivilrechtlichen Gesamtschuldnerschaft ist unerheblich, ob die Schuldner auf Grundlage verschiedener Rechtsnormen haften.293 Dies ist für die steuerrechtliche Betrachtung zu übernehmen. Schon der Wortlaut des § 44 Abs. 1 S. 1 AO statuiert die gesamtschuldnerische Haftung von Personengruppen, die auf unterschiedlicher Grundlage für eine Steuer einzustehen haben. So gebietet § 44 Abs. 1 S. 1 AO die Gesamtschuldnerschaft zwischen Primär- und Sekundärschuldner. Beide sind auf unterschiedlicher gesetzlicher Grundlage in Anspruch zu nehmen. Darüber hinaus sind diese Ansprüche in verschiedenen Steuerverwaltungsverfahren geltend zu machen. Der einheitliche Haftungsgrund ist dementsprechend für die steuerverfahrensrechtliche Gesamtschuldnerschaft ebenfalls irrelevant. Teilweise wurde eine zivilrechtlich Zweckgemeinschaft zwischen den Gesamtschuldners gefordert.294 Eine solche Zweckgemeinschaft wurde als innerer Zusammenhang der Verpflichtungen verstanden.295 Ein innerer Zusammenhang sollte schon in der Identität des Leistungsinteresses liegen.296 Teilweise wird dies als Identität des Gläubigerinteresses verstanden.297 Auf Grund des Wortlauts der steuerverfahrensrechtlichen Gesamtschuldnerregelung in § 44 Abs. 1 S. 1 AO ist das Erfordernis einer Zweckgemeinschaft für steuerliche Auslegungszwecke untauglich. Die Regelung fasst Steuer- und Haftungsschuldner zu Gesamtschuldnern zusammen. Auf ein darüber hinaus gehendes gemeinsames Leistungsinteresse kann es demnach nicht ankommen. Ferne sollte das gemeinsame Gläubigerinteresse in Form der effektiven Steuererhebung jedenfalls vorliegen. Manche Vertreter der zivilrechtlichen Literatur fordern, dass zwischen den Gesamtschuldnern eine Gleichrangigkeit der Haftung besteht.298 Akzessorische Sicherungsmittel würden demzufolge zivilrechtlich nicht zum Vorliegen einer Gesamtschuld führen.299 Eine solche restriktive Betrachtung wird teilweise auch für steuerliche Zwecke gefordert.300 Auf Festsetzungsebene ist die Haftungsschuld des 291

König, in: König, AO, § 44, Rn. 1. König, in: König, AO, § 44, Rn. 1. 293 Stürner, in: Jauernig, BGB, § 421, Rn. 1; so noch die Rspr. des RG und ältere Literatur, vgl. Bydlinski, in: Münchener Kommentar BGB, § 421, Rn. 10. 294 BGH, Urteil vom 12. 06. 1992 – V ZR 106/91, NJW 1992, 2817, 2818; a. A. schon Schmidt, in: Soergel / Siebert, BGB, 9. Auflage 1959, § 421, Rn. 9. 295 BGH, Urteil vom 12. 06. 1992 – V ZR 106/91, NJW 1992, 2817, 2818. 296 Stürner, in: Jauernig, BGB, § 421, Rn. 1. 297 Bydlinski, in: Münchener Kommentar BGB, § 421, Rn. 11. 298 BGH, Urteil vom 26. 01. 1989 – III ZR 192/87, BGHZ 106, 313, NJW 1989, 2127, 2128; Medicus / Lorenz, Schuldrecht I, Rn. 892; m. w. N. 299 Heinemeyer, in: Münchener Kommentar BGB, § 421, Rn. 33: zur Bürgschaft. 300 König, in: König, AO, § 44, Rn. 2; Ratschow, in: Klein, AO, § 44, Rn. 7; a. A. Drüen, in: Tipke / Kruse, AO, § 44, Rn.  5. 292

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Haftungsschuldners nicht grundsätzlich nachrangig zur Steuerschuld des Steuerschuldners.301 Steuer- und Haftungsverfahren bestehen unabhängig voneinander.302 Sie werden lediglich durch die Akzessorietät der Haftung verknüpft.303 Die Akzessorietät könnte ein Stufenverhältnis zwischen beiden Verfahren mit sich führen, das die Entstehung einer Gesamtschuld verhindert.304 So wird teilweise von Haupt- und Nebenforderung gesprochen.305 Die Hauptforderung bestimmt hierbei den Inhalt der Sekundärebene.306 Es soll infolgedessen nur eine unechte Gesamtschuld entstehen.307 Andere lehnen dies für die Fälle des § 219 S. 2 AO ab.308 Im Gegensatz zum Zivilrecht kann im Steuerrecht eine Gesamtschuld auch bei akzessorischer Haftung bestehen, da eine solche gesetzlich in § 44 AO angeordnet wird. Es ist fraglich, ob die zivilrechtliche Akzessorietät trotzdem mit der steuerrechtlichen Akzessorietät deckungsgleich oder zumindest vergleichbar ist. Eine Vergleichbarkeit der Akzessorietät beider Rechtsgebiete würde dafürsprechen, bei steuerrechtlicher Gesamtschuld mit Akzessorietät eine Rangfolge der in Anspruch zu nehmenden Steuerpflichtigen anzunehmen. Eine solche Rangfolge wäre bei der Auswahl zwischen Steuer- und Haftungsschuldner im Entschließungsermessen zu berücksichtigen. Hierzu kommt ein Vergleich der steuerrechtlichen Haftung sowohl mit schuldrechtlichen als auch mit dinglichen Sicherungsmitteln des Zivilrechts in Betracht, bei denen eine Akzessorietät des jeweiligen Sicherungsmittels zur Hauptschuld besteht. (1) Vergleich zur Bürgschaft Ein vergleichbares zivilrechtliches Institut ist die Bürgschaft, § 765 ff.  BGB. Hierbei haftet der Bürge akzessorisch für die Erfüllung der Hauptforderung des Schuldners gegenüber dem Gläubiger dieser Forderung.309 Die §§ 767 ff. BGB stellen die gesetzliche Ausgestaltung der Akzessorietät der Bürgschaft dar.310 Zwischen Hauptschuldner und Bürge soll keine Gesamtschuld, sondern eine gestufte Haftung bestehen.311 Hierin liegt ein gravierender Unterschied zur steuerrechtlichen Haftung. § 191 Abs. 3 S. 4 AO verdeutlicht, dass der Steuerschuldner nicht zuerst in

301

Vgl. Kapitel A. II. 3. b) cc). Vgl. Kapitel A. II. 3. b) bb). 303 Vgl. Kapitel A. II. 3. b) aa). 304 König, in: König, AO, § 44, Rn. 2. 305 König, in: König, AO, § 44, Rn. 2. 306 König, in: König, AO, § 44, Rn. 2. 307 BFH, Urteil vom 27. 03. 2968 – II 98/62, BStBl. II 1968, 376, 377; König, in: König, AO, § 44, Rn. 2. 308 Alber, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 219, Rn.  16. 309 Habersack, in: Münchener Kommentar BGB, Vor. § 765, Rn. 11. 310 Habersack, in: Münchener Kommentar BGB, Vor. § 765, Rn. 11. 311 Habersack, in: Münchener Kommentar BGB, Vor. § 765, Rn. 11. 302

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Anspruch genommen werden muss.312 Der Haftungsbescheid kann vor Erlass des Steuerbescheids ergehen, vgl. § 191 Abs. 3 S. 4 AO. Die vorrangige Inanspruchnahme ist bei einer Bürgschaft auch möglich, wenn sich der Bürge zur Leistung auf erstes Anfordern verpflichtet hat, vgl. § 773 Abs. 1 Nr. 1 BGB. Dabei verzichtet er auf die Einrede der Vorausklage. Diese ist jedoch für den Grundfall der Bürgschaft vorgesehen und verdeutlich die generelle Subsidiarität der Inanspruchnahme des Bürgen.313 Eine Subsidiarität der Haftung ist insbesondere für die hier betrachteten Steuerabzugshaftungstatbestände abzulehnen.314 Dies führt im Ergebnis dazu, dass zwischen Steuer- und Haftungsschuldner ein Auswahlermessen besteht, dass sich im Entschließungsermessen des Haftungsverfahrens widerspiegelt. Grundsätzlich soll der Haftungsschuldner beim Steuerschuldner Regress nehmen können, wenn er in Anspruch genommen wird.315 Ein weiterer Unterschied der steuerrechtlichen Haftung zur Bürgschaft ist, dass der Bürge nur für eine fremde Schuld in Anspruch genommen werden kann. Bei Steuerabzugsfällen trifft den Haftungsschuldner eine eigene Schuld in Form der Haftungsschuld. Erst wenn er bzw. im Fall der Versicherungsteuer der personenverschiedene Steuerentrichtungsschuldner eine Pflichtverletzung begeht, entsteht diese Haftungsschuld. Die Haftungsschuld entsteht durch eine Verletzung der Pflichten im Steuerabzugsverfahren und somit bei Verwirklichung des Haftungstatbestands neben dem Bestehen einer Primärsteuerschuld.316 Eine Bürgschaft hingegen wird im Rahmen der Vertragsfreiheit317 innerhalb des in der Privatautonomie geltenden Konsensprinzips318 abgeschlossen. Der Bürge übernimmt freiwillig die akzessorische Haftung auf Grundlage einer zivilrechtlichen Vereinbarung. Der steuerrechtlich Haftende hingegen qualifiziert ex lege als Dritter, der für die Steuerschuld eines anderen einzustehen hat. Diese Ungleichheit zwischen zivilrechtlichem Bürgen und steuerrechtlichem Haftungsschuldner wird durch den Zweck der steuerrechtlichen Haftung gerechtfertigt: die Sicherung der Steuerlast.319 Darüber hinaus wird dieser Unterschied durch die unterschiedlichen Regelungsgebiete des BGB 312

Vgl. Kapitel A. II. 3. b) cc); vgl. zur Abweichung der steuerrechtlich verwendeten Begriffe von denen des Zivilrechtsgebrauchs historisch Guttentagsche Sammlung deutsche Reichsgesetze, Abgabenordnung 1920, Einleitung, S. 27: Die zivilrechtlichen Grundsätze seien zur Grundlage der Abgabenordnung gemacht worden. Eine Abweichung sei nur dort erfolgt, wo diese nach den besonderen Bedürfnissen des Steuerrechts geboten gewesen seien. 313 Sperling, Schuld und Haftung im Steuerrecht, 1940, S. 42: die Haftung im Steuerrecht sei kein Analogon zu entsprechenden Sicherungsverhältnissen des Privatrechts. Infolge der Einrede der Vorausklage hafte der Bürge nur subsidiär; ebenso Becker, RAO, 4. Auflage 1925, § 79, Rn. 5. 314 Vgl. Kapitel A. II. 3. b) cc). 315 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  15. 316 Vgl. Kapitel A. I. 3. 317 Musielak, in: JuS 2017, 949, 949. 318 Schäfer, in: Münchener Kommentar BGB, § 677, Rn. 95. 319 Halaczinsky, Die Haftung im Steuerrecht, 4. Auflage 2013, S. 26.

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und der Abgabenordnung gerechtfertigt. Das BGB regelt die Privatautonomie der Bürger untereinander. Zwischen ihnen besteht ein Gleichordnungsverhältnis. Die AO hingegen regelt die staatliche Eingriffsverwaltung für Steuerzwecke. Hierbei besteht im Gegensatz zur zivilrechtlichen Situation keine Gleichordnung, sondern ein Subordinationsverhältnis.320 Darüber hinaus wird ein öffentliches Interesse durchgesetzt und ein staatlicher Rechtsträger wird gegenüber dem Bürger hoheitlich tätig.321 Diese Aspekte sind charakteristisch für die Abgrenzung zivilrechtlicher Rechtsnormen von solchen des öffentlichen Rechts.322 Öffentlich-rechtliche Normen verfolgen andere Ziele als privatrechtliche, sodass der Gesetzgeber sich zur Durchsetzung dieser Ziele anderer Regelungen bedienen durfte. Darüber hinaus ist die Akzessorietät der Bürgschaft stärker ausgeprägt als die der steuerrechtlichen Haftung. Zwischen beiden besteht ein gradueller Unterschied. So sind Änderungen bezüglich des Bestands der Primärschuld nach der letzten verwaltungsbehördlichen Entscheidung ohne Bedeutung.323 Lediglich mittelbar auf Grund der Gesamtschuldnerschaft zwischen Haftungs- und Steuerschuldner können sich bei Erfüllung der Steuerschuld auf Primärebene auch Auswirkungen für den Haftungsschuldner ergeben.324 Dies kann durch Widerruf des Haftungsbescheids nach § 131 Abs. 2 Nr. 3 AO325 oder durch Beantragung eines Abrechnungsbescheids nach § 218  Abs. 2  AO326 erfolgen. Der Bürge hingegen braucht nicht einmal nach § 768 Abs. 1 S. 1 BGB die Erfüllung als Einrede geltend machen. Vielmehr führt die Erfüllung der Hauptforderung durch den Bürgen oder den Hauptschuldner nach § 362 BGB zum Erlöschen der Hauptforderung, sodass schon § 767 S. 1 BGB die Inanspruchnahme des Bürgen ex lege ausschließt. Darüber hinaus ist die Bürgenhaftung nach § 767 S. 1 f. BGB auch der Höhe nach auf die bestehende Hauptforderung beschränkt. Dies trifft bei der steuerrechtlichen Haftung zwar auch insoweit zu, dass die Sekundärhaftung ebenfalls von der Existenz der Primärsteuerschuld dem Grunde und deren Höhe abhängig ist.327 Ebenso muss der Steueranspruch gegen den Steuerpflichtigen im Zeitpunkt der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners noch bestehen.328 Der Höhe nach wird die Sekundärebene jedoch nicht durch die Höhe der Steuerfestsetzung gegenüber dem Steuerpflichtigen begrenzt.329 320

Reimer, in: BeckOK VwGO, Posser / Wolff, § 40, Rn. 45.3. Reimer, in: BeckOK VwGO, Posser / Wolff, § 40, Rn. 45.1 ff. 322 Reimer, in: BeckOK VwGO, Posser / Wolff, § 40, Rn. 45.1 ff. 323 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  22; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 25; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 18. 324 Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 18; Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 12. 325 Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 18; Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 12. 326 Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 18; Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 12. 327 Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 10a; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 19; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 18; m. w. N. 328 Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 10a; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 19; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 18; m. w. N. 329 Vgl. hierzu ausführlich Kapitel A. II. 3. b) bb). 321

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Darüber hinaus steht dem Bürgen grundsätzlich die Einrede der Vorausklage nach § 771 S. 1 BGB zu. Das bedeutet, dass der Bürge die Befriedigung des Gläubigers so lange verweigern kann, solange nicht der Gläubiger eine Zwangsvollstreckung gegen den Hauptschuldner ohne Erfolg versucht hat. Die Regelung ähnelt der Rechtsfolge des § 219 S. 1 AO. Jedoch ist die zivilrechtliche Regelung nicht auf die Vollstreckung in das bewegliche Vermögen beschränkt. Sie ist weiter und erfordert zuvor eine umfassende Vollstreckung in das gesamte Vermögen des Hauptschuldners. § 219 S. 1 AO ist jedoch für die Steuerabzugshaftung nach Satz 2 der Vorschrift nicht anwendbar. Demzufolge kann der Haftungsschuldner für Steuerabzugsbeträge vor dem Steuerschuldner zur Befriedigung in Anspruch genommen werden. Diese Aspekte zusammenfassend betrachtet, ist die Akzessorietät der steuerrechtlichen Haftung beschränkter als die akzessorische Bürgenhaftung. Sie hat einen geringeren Wirkungsumfang. Ohne Verzicht auf die Einrede der Vorausklage weist das zivilrechtliche Bürgschaftsinstitut darüber hinaus eine gesetzlich angeordnete Subsidiarität der Inanspruchnahme des Bürgen auf. (2) Vergleich zum Schuldbeitritt Als zivilrechtliches Sicherungsmittel im weiteren Sinne kann ein Schuldbeitritt des Sicherungsgebers erfolgen. Wesensimmanent für den Schuldbeitritt ist, dass die Schuld des ersten Schuldners zu einer eigenen Schuld des beitretenden Schuldners wird.330 Hierbei besteht zwischen den Schuldnern eine Gesamtschuld nach § 421 BGB.331 Beide Schuldner können gleichrangig für eine jeweils deckungsgleiche eigene Schuld in Anspruch genommen werden. Dies ist bei der steuerrechtlichen Haftung anders. Die Primärschuld ist nicht mit der Sekundärschuld identisch.332 Sie bestimmt nur ihren Inhalt. Den Haftungsschuldner trifft eine eigene Haftungsschuld. Seine zunächst bestehende Entrichtungsschuld wird bei Vorliegen einer Pflichtverletzung in eine Haftungsschuld umgewandelt. Eine Vergleichbarkeit der steuerrechtlichen Haftung mit dem zivilrechtlichen Schuldbeitritt ist zu verneinen. (3) Vergleich zur Hypothek Ein weiteres, zur Hauptforderung akzessorisches Sicherungsmittel ist die Hypothek. Diese stellt im Gegensatz zu Bürgschaft und Schuldbeitritt als Sicherungsmittel auf schuldrechtlicher Ebene ein dingliches Sicherungsmittel dar.333 Die Hypothek räumt dem Hypothekar ein dingliches, akzessorisches Verwertungsrecht 330

Habersack, in: Münchener Kommentar BGB, Vor. § 765, Rn. 11. Habersack, in: Münchener Kommentar BGB, Vor. § 765, Rn. 11. 332 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  24. 333 Lieder, in: Münchener Kommentar BGB, § 1113, Rn. 1. 331

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ein.334 Voraussetzung für die Entstehung einer Hypothek ist das Vorliegen einer zu sichernden Hauptforderung.335 Dies ist eine Gemeinsamkeit zur steuerrechtlichen Haftung, da diese ebenfalls für die Entstehung der Haftungsschuld das Bestehen einer Primärsteuerlast voraussetzt336. Eine Gesamtschuld liegt im Fall der Bestellung einer Hypothek nicht vor. Denn bei der Hypothek muss der Grundstückseigentümer nur die Zwangsvollstreckung in das Grundstück nach § 1147 BGB dulden. Eine persönliche Haftung trifft ihn nicht. Der Anspruch auf Zahlung gegenüber dem Hauptschuldner und der Anspruch auf Duldung der Zwangsvollstreckung gegenüber dem Eigentümer eines mit einer Hypothek belasteten Grundstücks stellen nicht die gleiche Schuld dar. Beide sind, wie Steuer- und Haftungsschuld, wesensverschieden und auf unterschiedliche Rechtsfolgen gerichtet. Jedoch entsteht im Steuerrecht eine Gesamtschuld zwischen dem Primär- und dem Sekundärschuldner.337 Schon auf Grund der dinglichen Haftung des Grundstücks für die Einbringung der zu sichernden Forderung besteht keine Vergleichbarkeit zur persönlichen Haftung im Steuerrecht. (4) Ergebnis Vergleichbarkeit steuerrechtlicher und zivilrechtlicher Akzessorietät Demzufolge sind zivil- und steuerrechtliche Akzessorietät auf Basis der Untersuchung ihrer gesetzlichen Ausprägungen nicht vergleichbar. Trotz der bestehenden Akzessorietät der Haftung zur Primärschuld ist die Haftung nicht mit zivilrechtlichen Instituten vergleichbar, bei denen ebenfalls eine akzessorische Haftung vorliegt. Aus dem Vergleich mit den zivilrechtlichen Instituten kann sich demnach keine Rangfolge für die Inanspruchnahme von Steuer- und Haftungsschuldner im Rahmen des Entschließungsermessens ergeben. Eine Stufung der Gesamtschuldner kann auf dieser Grundlage nicht erfolgen. dd) Subsidiarität der Haftung auf Tatbestandsebene Die Haftung ist akzessorisch zur Primärsteuerschuld. Infolgedessen ergibt sich die Frage, ob die Haftung als Sicherungsmittel erst greifen darf, wenn eine Inanspruchnahme des Primärsteuerschuldners nicht erfolgreich war. Das nachrangige Zurückgreifen auf den Haftungsschuldner wird unter dem Begriff der „Subsidiarität der Haftung“ diskutiert. Weder § 191 AO noch die betrachteten Haftungstat­bestände statuieren eine generelle tatbestandliche Subsidiarität der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners. Teilweise ist unter bestimmten Voraussetzungen sogar nur die 334

Lieder, in: Münchener Kommentar BGB, § 1113, Rn. 1. Lieder, in: Münchener Kommentar BGB, § 1113, Rn. 1. 336 Vgl. hierzu Kapitel A. I. 3. 337 Vgl. Kapitel A. II. 3. b) cc). 335

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Inanspruchnahme des Haftungsschuldners zulässig.338 Dies ist zumeist sogar als Regelfall anzusehen, sofern ein Einbehalt der Steuer stattgefunden hat.339 Insbesondere bei der hier betrachteten Dreieckssituation scheint der Haftungsschuldner bei Fehlern im Steuerabführungsverfahren in die primär in Anspruch zu nehmende Position einzutreten, sofern er die Steuer ordnungsgemäß einbehalten und nicht ausbezahlt hat. Einen allgemeinen Subsidiaritätsgrundsatz soll es in der Abgabenordnung nicht geben.340 Wenngleich wurde schon in Bezug auf die Haftungsregelungen der Reichsabgabenordnung vertreten, dass die früher als Nebenhaftung bezeichnete Haftung eines Dritten für eine fremde Steuerlast „immer irgendwie nachgeordnet“ gewesen sei.341 Interessanterweise führte schon Arens im Jahr 1927 Beispiele an, in denen eine solche Subsidiarität gesetzlich angeordnet war.342 Eine Begründung eines allgemeinen Subsidiaritätsgrundsatzes statuierte er nicht.343 Er traf auch keine Aussage, ob die Haftungstatbestände in Bezug auf Entrichtungssteuern solche der subsidiären Nebenhaftung darstellen.344 Da bei der Haftung für Entrichtungssteuern eine Gesamtschuld zwischen Steuerschuldner und Haftungsschuldner entsteht, sollten die diesbezüglichen Haftungstatbestände als Nebenhaftung im Sinne der vorangegangenen Ausführungen zu verstehen gewesen sein. Der Haftungsschuldner trat und tritt aus heutiger Sicht neben den Steuerschuldner und nicht an dessen Stelle. Trotzdem lässt sich schlussfolgern, dass schon nach der Reichsabgabenordnung eine Subsidiarität der Nebenhaftung nur dort vorhanden war, wo eine solche gesetzlich angeordnet wurde. Die Subsidiarität der Haftung schien nicht als über der Reichsabgabenordnung schwebendes Dogma verstanden worden zu sein. Obgleich auf Erhebungsebene § 219 S. 1 AO eine solche statuiert, soll die Subsidiarität nach teilweise vertretener Ansicht schon beim Erlass des Haftungsbescheids auf Festsetzungsebene zu beachten sein.345 Dies soll jedoch nicht auf Tatbestandebene Beachtung finden, sondern erst die Rechtsfolgenseite betreffen.346 Die genaue Verortung der Subsidiarität ist insoweit von Bedeutung, als die Ermessensentscheidung der Finanzbehörde nur einer beschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Gemäß § 102 S. 1 FGO überprüft das Finanzgericht insofern nur, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen

338

So z. B. bei der Lohnsteuer, vgl. § 42d Abs. 3 S. 4 EStG. Vgl. § 42d Abs. 3 S. 4 EStG für Lohnsteuer; § 44 Abs. 5 S. 2 EStG für Kapitelertragsteuer; § 50a Abs. 5 S. 5 EStG für beschränkt steuerpflichtige Einkünfte. 340 Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 191, Rn. 16; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 33. 341 Arens, Zum Begriff der Haftung im geltenden Steuerrecht, 1927, S. 576. 342 Arens, Zum Begriff der Haftung im geltenden Steuerrecht, 1927, S. 576 ff. 343 Arens, Zum Begriff der Haftung im geltenden Steuerrecht, 1927, S. 576 ff. 344 Arens, Zum Begriff der Haftung im geltenden Steuerrecht, 1927, S. 576 ff. 345 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  28; Jatzke, in: Gosch, AO, § 191, Rn. 10; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 35. 346 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  28; Jatzke, in: Gosch, AO, § 191, Rn. 10; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 35. 339

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in einer zweckwidrigen Weise Gebrauch gemacht wurde. Es bestünde demzufolge keine vollständige gerichtliche Überprüfbarkeit der Subsidiarität. Für eine Ansiedlung der Subsidiarität auf Tatbestandsebene besteht keine gesetzliche Grundlage. Sofern man eine Prüfung auf die Tatbestandsebene verlagern wolle, wäre hierzu eine teleologische Reduktion des Tatbestands notwendig, weil im Gesetzeswortlaut des § 191 AO keine Subsidiarität angelegt ist.347 Eine teleologische Reduktion wird vierstufig geprüft.348 Im ersten Schritt wird festgesellt, ob der Sachverhalt unter den Anwendungsbereich der Norm subsumiert werden kann.349 Die Inanspruchnahme nach § 191 Abs. 1 S. 1 AO erfordert nicht, dass zunächst der Steuerschuldner in Anspruch genommen wurde, sodass der Anwendungsbereich der Norm dem Wortlaut nach ebenfalls die Fälle erfasst, in denen dies noch nicht erfolgt ist. Auf der zweiten Stufe ist der Zweck der Norm zu untersuchen.350 Hierfür wird auf die vorangegangenen Ausführungen verwiesen.351 Zusammengefasst ist der Zweck der Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners für eine fremde Steuerlast die Sicherung der Einnahmequelle des Fiskus.352 In einem dritten Schritt muss nunmehr begründet werden, warum die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners ohne vorherige Inanspruchnahme des Steuerschuldners dem Zweck der steuerrechtlichen Haftung widersprechen soll.353 Dies vermag nunmehr der schwerste Arbeitsschritt zur Begründung einer teleologischen Reduktion sein. Hierfür bietet es sich zunächst an, zu betrachten, warum der Normalfall der Norm nicht mit dem gegeben Fall übereinstimmen soll.354 Der Unterschied mag zunächst auf der Hand liegen: in einem Fall wurde der Steuer­ schuldner vor dem Haftungsschuldner in Anspruch genommen, in dem anderen Fall ist dies noch nicht erfolgt. Ausgehend vom Wortlaut des § 191 Abs. 1 S. 1 AO sowie der zugrunde liegenden materiellen Haftungsnormen vermag man jedoch keinen der beiden Fälle als Normalfall titulieren zu können. Die Identifizierung eines Normalfalls würde voraussetzen, dass die Norm Anhaltspunkte dafür liefert, dass einer der beiden Fallgestaltungen als solcher anzusehen wäre. Dies erfolgt jedoch nur durch § 219 S. 1 AO für das Erhebungsverfahren. Im Festsetzungsverfahren ist eine solche Aussage nicht erfolgt. Es gibt keine Unterscheidung zwischen dem „Haftungsschuldner nach Inanspruchnahme des Primärschuldners“ und dem „Haftungsschuldner vor Inanspruchnahme des Primärschuldners“. Da das Gesetz ausdrücklich davon 347

Im Unterschied zur restriktiven Auslegung wird hierbei eine Verkürzung des Anwendungsbereichs außerhalb des Wortlauts der Norm vorgenommen, vgl. Möllers, Juristische Methodenlehre, § 6, Rn. 115. 348 Möllers, Juristische Methodenlehre, § 6, Rn. 118. 349 Möllers, Juristische Methodenlehre, § 6, Rn. 118. 350 Möllers, Juristische Methodenlehre, § 6, Rn. 118. 351 Vgl. Kapitel A. I. 2. 352 Vgl. Kapitel A. I. 2. 353 Möllers, Juristische Methodenlehre, § 6, Rn. 118. 354 Möllers, Juristische Methodenlehre, § 6, Rn. 118.

II. Festsetzung der Haftungsschuld

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ausgeht, dass der Haftungsbescheid vor Erlass des Primärsteuerbescheids erlassen werden kann, erscheint eine solche Gruppierung der Haftungsschuldner vielmehr contra legem zu sein.355 Eine teleologische Reduktion erscheint demnach rechtsmethodisch nicht als geeignetes Mittel, um die Haftung des Haftungsschuldners vor Inanspruchnahme des Steuerschuldners auf Tatbestandsseite aus dem Anwendungsbereich des § 191 Abs. 1 S. 1 AO auszunehmen. Ferner könnte man die Notwendigkeit der Subsidiarität der Haftung rechtstechnisch auch als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal einordnen. Rechtslogisch kann ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal jedoch keinen Bestand haben. Die Regelung in § 191 Abs. 3 S. 4 AO, die ausdrücklich auf den Erlass eines Haftungsbescheids vor dem Erlass eines Steuerbescheids Bezug nimmt, würde ansonsten ins Leere laufen. Vielmehr wird durch diese Regelung ersichtlich, dass der Gesetzgeber den Erlass eines Haftungsbescheids vor Inanspruchnahme des Steuerschuldners nicht ausschließen wollte. Die Haftung stellt zwar grundsätzlich ein gestuftes Verfahren dar. Die zweite Stufe muss sich jedoch nicht zwingend der ersten Stufe anschließen. Besser wäre es aus diesem Grund aus von einem „ZweiKomponenten-Verfahren“ zur Erhebung und Sicherung der Steuerlast in Fällen der Fremdentrichtungsschuldnerschaft mit Haftungstatbestand zu sprechen. So würde die erste Stufe der Primärsteuerlast ohne Wertung auf ihre Stellung im Vergleich zur zweiten Stufe der Haftung auf Sekundärebene abgegrenzt werden. Auf Grund der Einschränkung der Inanspruchnahme auf Erhebungsebene durch § 219 S. 1 AO besteht auch kein Bedarf, weitere Restriktionen zum Schutz des Haftungsschuldners auf Tatbestandsebene des § 191 Abs. 1 S. 1 AO vorzunehmen. Für die hiesig betrachteten Tatbestände ergibt sich darüber hinaus, dass § 219 S. 1 AO für den Entrichtungsschuldner nach § 219 S. 2 AO keine Anwendung finden soll. Es wäre demnach nicht zielführend, auf Tatbestandsebene eine solche Restriktion vorzunehmen, die der Gesetzgeber dem Haftungsschuldner nach dem ausdrück­ lichen Wortlaut des Gesetzes nicht einmal auf der Erhebungsstufe zukommen lassen wollte. Ein allgemeines Subsidiaritätsdogma der Haftung auf Festsetzungsebene besteht demnach nicht.

4. Der Haftungsbescheid als Ermessensentscheidung Wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet, kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, § 191 Abs. 1 S. 1 AO. Die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners steht demzufolge im Entschließungs- und Auswahlermessen der Finanzverwaltung.356 Das Entschließungsermessen ergibt sich eindeutig durch die Formulierung „kann in Anspruch genommen werden“. Das Auswahlermessen hin 355

§ 191 Abs. 3 S. 4 AO. Jatzke, in: Gosch, AO, § 191, Rn. 17, 21; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 32, 37; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 35; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 31. 356

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

gegen ergibt sich erst durch die teleologische Auslegung des § 191 Abs. 1 S. 1 AO. Da die Norm alle in Betracht kommenden Haftungsschuldner – gleich aus welchem materiell-rechtlichen Haftungstatbestand – anspricht, muss der Behörde ein personelles Auswahlermessen eingeräumt werden. Eine Besonderheit des Haftungsverfahrens im Gegensatz zum allgemeinen Steuerverwaltungsverfahren stellt die fehlende strenge Adressatenbezogenheit des Haftungsverfahrens dar. So beginnt das Haftungsverfahren ohne den späteren Adressaten des Bescheids zu kennen, der das Ergebnis dieses Verfahrens darstellt. Dies ist eine Besonderheit gegenüber anderen Steuerverwaltungsverfahren. Beginnt das Steuerverwaltungsverfahren beispielsweise nach § 86 S. 2 Nr. 1 Var. 2 AO auf Antrag, so ist bekannt, wer Beteiligter nach § 78 Nr. 2 AO ist. Diese Person wird in den meisten Fällen mit dem Antragssteller identisch sein. Wird ein Bescheid gegenüber Dritten begehrt, so ist in diesem Fall auch ersichtlich, gegen wen sich der am Ende des Verwaltungsverfahrens zu erlassende Bescheid richten wird. Beim Haftungsverfahren stellt sich dies anders dar. Wer im Rahmen des Haftungsanspruchs Adressat des Haftungsbescheids wird, ergibt sich erst als Ergebnis des Auswahlermessens. Um diese Entscheidung treffen zu können, muss die Finanzbehörde jedoch zuvor zunächst den Sachverhalt ermittelt haben. Dies erfordert die Ermittlung der entscheidungserheblichen Tatsachen in einwandfreier und erschöpfender Form.357 Da zur Entscheidung auch das Auswahlermessen bezüglich des in Anspruch zu nehmenden Haftungsschuldners aus der Gruppe aller relevanter Haftungsschuldner gehört, muss der entscheidungserhebliche Sachverhalt für die Beurteilung des Vorliegens des Tatbestands als auch der ermessensbeeinflussenden Umstände für mehrere Haftungsschuldner und demnach ggf. sogar für verschiedene Haftungstatbestände ermittelt werden. Andersfalls wäre die Ausübung des Auswahlermessens nicht pflichtgemäß möglich. Demnach wird das Haftungsverfahren bis zur Entscheidung über das Auswahlermessen zunächst sozusagen „gegen Unbekannt“ geführt. Dies weist Parallelen zur Einleitung eines Strafverfahrens nach § 152 Abs. 2 StPO auf. Hierbei erhalten die Strafverfolgungsbehörden häufig einen Anfangsverdacht für die Begehung einer Straftat, deren Täter es jedoch noch zu ermitteln gilt. Ähnlich bedarf das Haftungsverfahren in seinem Verlauf noch der Ermittlung des oder der in Anspruch zu nehmenden Haftungsschuldner. Um diese Entscheidung fehlerfrei treffen zu können, muss im ersten Schritt jedoch die Tatbestandsebene für jeden Haftungsschuldner ermittelt werden. Erst wenn feststeht, dass mehrere Personen einen Haftungstatbestand vollständig erfüllen, besteht auf zweiter Ebene neben dem Entschließungsermessen überhaupt ein Auswahlermessen, zwischen mehreren Haftungsschuldnern auszuwählen. Anders als beim allgemeinen Steuerverwaltungsverfahren, bei dem der Beteiligte nach § 78 Nr. 2 AO grundsätzlich schon 357

Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 37.

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zu Beginn des Verfahrens feststeht, findet beim Haftungsverfahren erst in dessen Verlauf die Auswahl des Bescheidadressatens statt. a) Entschließungsermessen Entschließungsermessens ist die Entscheidung, ob der Haftende nach den bei der Ermessensausübung zu berücksichtigenden Umständen in Anspruch genommen werden soll.358 Beim Haftungsverfahren steht der Haftende im Zeitpunkt dieser Ermessensentscheidung gegebenenfalls noch nicht fest. Das Entschließungsermessen umfasst in diesem Fall zutreffenderer Weise nur die Entscheidung der Finanzverwaltung, ob diese im Wege des Haftungsverfahrens tätig werden möchte. Die Entscheidung betrifft die Frage, ob ein Haftungsbescheid betreffend die Haftung für eine bestimmte Steuerschuld erlassen werden soll. Das Entschließungsermessen stellt die erste Stufe der Ermessensbetätigung seitens der Finanzbehörde dar.359 Kommt nur ein Haftungsschuldner in Betracht, so entfällt ein Auswahlermessen hinsichtlich mehrerer Haftungsschuldner. In diesem Fall beinhaltet das Entschließungsermessen auch die Entscheidung, gegen wen der Haftungsbescheid erlassen werden soll. Die Ermessensbetätigung wandelt sich in diesem Fall jedoch nicht in ein einstufiges Verfahren. Da eine Gesamtschuldnerschaft zumindest zwischen Steuer- und Haftungsschuldner besteht, hat die Finanzbehörde regelmäßig auf zweiter Ermessensstufe ein dahingehendes Auswahlermessen auszuüben.360 § 44 Abs. 1 S. 1 AO ordnet ausdrücklich die Gesamtschuldnerschaft an, wenn mehrere Personen dieselbe Leistung aus dem Steuerschuldverhältnis schulden oder für diese haften. Teilweise ordnen die Einzelsteuergesetze zusätzlich ausdrücklich eine Gesamtschuldnerschaft zwischen Steuer- und Haftungsschuldner an.361 Kein Auswahlermessen besteht zwischen Steuer- und Haftungsschuldner, wenn Spezialsteuergesetze vorsehen, dass in bestimmten Fällen nur der eine oder der andere Personenkreis in Anspruch genommen werden darf. aa) Subsidiarität auf Ermessensebene Gemäß § 219 S. 1 AO darf ein Haftungsschuldner nur auf Zahlung in Anspruch genommen werden, soweit die Vollstreckung in das bewegliche Vermögen des Steuerschuldners ohne Erfolgt geblieben ist oder anzunehmen ist, dass die Vollstreckung aussichtslos sein wird. Die Norm erfordert lediglich die vorherige Voll 358

Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 31; Zippelius, Juristische Methodenlehre, § 17, Buchs. a). Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  29. 360 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  30; zurückhaltender: Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 191, Rn. 43: „bei Gesamtschuldnerschaft“. 361 So beispielsweise § 42d Abs. 3 S. 1 EStG. 359

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

streckung in das bewegliche Vermögen des Steuerschuldners. Sie kann demzufolge lediglich eine beschränkte Subsidiarität vermitteln. In Bezug auf das unbewegliche Vermögen statuiert § 219 S. 1 AO keine Subsidiarität. Diesbezüglich muss nicht zuerst beim Steuerschuldner vollstreckt werden. Eine vollumfängliche Subsidiaritätsregelung, wie z. B. in § 771 Abs. 1 S. 1 BGB vorgesehen, ist nicht vorhanden. Die Vorschrift des § 219 S. 1 AO kann aus zwei Gründen für die hiesig betrachteten Haftungstatbestände auf Ermessensebene des Haftungsverfahrens keine Wirkung entfalten. Zunächst betrifft die Norm lediglich das Steuererhebungsverfahren.362 Trotzdem wird vertreten, dass das Subsidiaritätsgebot der Haftung schon bei Erlass des Haftungsbescheids auf Ermessensebene Beachtung finden soll.363 Der Grundsatz der Subsidiarität der Haftung solle ein sich aus der gesetzlichen Gegenüberstellung von Steuer- und Haftungsschuld ergebender Grundsatz sein, der in § 219 S. 1 AO ausdrücklich geregelt wurde.364 Dieser Grundsatz sei auf Ermessensebene sogar dann zu beachten, wenn er auf Erhebungsebene wegen Vorliegen eines Ausschlusstatbestands in § 219 S. 2 AO nicht eingreifen würde.365 Andere Stimmen lehnen es ab, die Haftung des Haftungsschuldners überhaupt als gegenüber der Steuerschuld des Primärschuldners subsidiär anzusehen.366 Für das Festsetzungsverfahren findet sich keine Stütze im Gesetz, die ein Stufenverhältnis zwischen Steuer- und Haftungsschuld erkennen lässt. Vielmehr ordnet § 44 Abs. 1 S. 1 AO eine Gesamtschuldnerschaft zwischen Steuer- und Haftungsschuldner an, die nicht erkennen lässt, dass eine gestufte Gesamtschuld zwischen beiden Steuerpflichtigen vorliegen solle. § 191 AO schweigt zur Hierarchie der beiden Verfahren. Die Einzelsteuergesetze sehen sogar Fälle vor, in denen nur der Haftungsschuldner in Anspruch genommen werden darf und die Inanspruchnahme des Steuerschuldners gesetzlich ausgeschlossen wird.367 Verwaltungsermessen räumt der Finanzbehörde die Möglichkeit ein, eigene Erwägungen über die Inanspruchnahmeentscheidung anzustellen. Ein solches Ermessen soll der Finanz­ behörde eingeräumt werden, wenn bei Erlass des Gesetzes noch nicht alle künftig unter diese Vorschrift fallenden Sachverhalte in allen entscheidungserheblichen Einzelheiten voraussehbar sind.368 Der Gesetzgeber hat durch die Kodifizierung des § 219 AO deutlich gemacht, dass er den Belang der Subsidiarität bedacht hat und nur für das Erhebungsverfahren regeln wollte. Eine solche Regelung ist jedoch auf Festsetzungsebene nicht erfolgt. Es fällt schwer, in Bezug auf die Sub 362

Vgl. Überschrift Fünfter Teil der AO: „Erhebungsverfahren“. BFH, Urteil vom 23. 09. 2009 – VII R 43/08, BStBl. II 2010, 215, 217; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  35; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 35; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 40; wohl auch Jatzke, in: Gosch, AO, § 191, Rn. 10; Ax / Fuchs / Große, AO und FGO, 13. Auflage 1990; Rn. 213. 364 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  35. 365 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  35. 366 Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 191, Rn. 43. 367 Vgl. § 42d Abs. 3 S. 4 EStG; § 44 Abs. 5 S. 1 EStG; § 50a Abs. 5 S. 5 EStG. 368 Zippelius, Juristische Methodenlehre, § 17, Buchs. a). 363

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sidiarität von der durch Zippelius benannten „nicht voraussehbaren Einzelheit“369 zu sprechen. Der Erlass eines Haftungsbescheids kann sinnvoll sein, bevor die Vollstreckung beim Steuerschuldner stattfindet. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn die Festsetzungsverjährung der Haftungsschuld droht und die Steuerschuld gegenüber dem Steuerschuldner zwar schon festgesetzt, jedoch noch nicht vollstreckt worden ist. Andererseits kann die Festsetzung und Vollstreckung der Haftungsschuld gegenüber dem Haftungsschuldner auch aus in seiner Person liegenden Gründen dringend sein. So ist ein schnelles Tätigwerden der Finanzverwaltung erwünscht, sofern sich die finanzielle Lag des Haftungsschuldners zu verschlechtern scheint und eine spätere erfolgreiche Vollstreckung bei diesem nur noch kurzfristig möglich erscheint. Ebenso kann ein geplanter Wegzug des Haftungsschuldners ein solch kurzfristiges Einschreiten notwendig machen. Es erscheint nicht plausibel, diese Inanspruchnahme wegen eines erst auf Erhebungsebene geregelten Grundsatzes als rechtswidrig zu qualifizieren. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Ausschlusstatbestand des § 219 S. 2 AO eingreift. Da der Belang der Subsidiarität geregelt wurde, stellt er keinen im Sinne der Ausführungen von Zippelius „ungewissen“ Belang dar, der der Finanzverwaltung als Ermessensbelang überlassen werden kann. Darüber hinaus handelt es sich bei der Annahme einer allgemeinen Subsidiarität des Haftungsverfahrens auch nicht um eine „entscheidungserhebliche Einzelheit“, sondern um eine systematische Grundlagenentscheidung der Abgabenordnung. Es spricht demnach sehr viel dafür, die Subsidiarität der Haftung nicht als einen im Rahmen des Ermessens relevanten Belang zu qualifizieren. Zweitens darf der für Abzugssteuern in § 219 S. 2 AO kodifizierte Ausnahmetatbestand zur Subsidiarität der Haftung nicht ausgehebelt werden. Würde man eine Subsidiarität auch für Abzugssteuern im Rahmen des Festsetzungsverfahrens berücksichtigen370, obwohl dieser Grundsatz selbst auf Erhebungsebene nicht eingreifen soll, so würde § 219 S. 2 AO stets in Leere gehen, da schon im vorherigen Verfahrensstadium die Inanspruchnahme des Steuerschuldners vorausgesetzt werden würde. § 219 S. 2 AO müsste dann bei dessen Anwendbarkeit schon auf Ebene des Festsetzungsverfahren zur Einschränkung eines etwaigen Subsidiaritätsgrundsatzes führen.371 Außerhalb der Anwendungsfälle des § 219 S. 2 AO kann es sinnvoll sein, schon vor Vorliegen der dortigen Voraussetzungen einen Haftungsbescheid erlassen zu können. Ein Leistungsgebot dürfte dann erst zu einem Zeitpunkt ergehen, in dem die Voraussetzungen des § 219 S. 1 AO erfüllt sind.372 So kann der 369

Zippelius, Juristische Methodenlehre, § 17, Buchs. a). Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  35. 371 BFH, Beschluss vom 12. 09. 2014  – VII B 99/13, BFH / NV 2015, 161, BeckRS  2014, 96361, Rn. 25: Der im steuerlichen Haftungsrecht zu beachtende Subsidiaritätsgrundsatz werde bereits durch § 219 S. 2 AO eingeschränkt. 372 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 36: nur angedeutet. 370

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Haftungsschuldner sich in diesem Fall vor der eigenen Inanspruchnahme schon darauf vorbereiten, den Steuerschuldner auf zivilrechtlicher Ebene für den Regress in Anspruch zu nehmen. Er könnte darüber hinaus auf Freistellung gegenüber dem Finanzamt klagen.373 Der Freistellungsanspruch würde sich dann im Fall der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners durch das Finanzamt in einen Zahlungsanspruch umwandeln.374 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass ein absoluter Grundsatz der Subsidiarität der Haftung außerhalb der Kodifizierung in § 219 AO nicht besteht. Es bleibt der Finanzverwaltung vorbehalten, auf Grund der Umstände des Einzelfalls eine Subsidiarität im konkreten Fall anzunehmen. So kann der Einzelfall im Beispiel liegen, wenn der Steuerschuldner zur Zahlung in der Lage und ohne weiteres erreichbar ist.375 Selbiges kann bei Bestehen einer Aufrechnungslage bzw. bei Voraussehbarkeit einer solchen auf Primärebene gelten.376 Dies muss jedoch nach den allgemeinen Regeln begründet werden.377 Es liegt kein allgemeiner Grundsatz vor, der eine solche Begründung überflüssig erscheinen lassen würde. Auch liegt in diesem Fall kein intendiertes Ermessen378 vor und nach dem Wortlaut des § 191 Abs. 1 S. 1 AO keine Soll-Vorschrift. bb) Primärschuldbezogene Aspekte Ermessensleitende Aspekte können sich auf Grund der Akzessorietät der Haftung aus Umständen ergeben, die die Primärschuld des Steuerschuldners betreffen. Da schon die Höhe des Haftungsanspruchs auf Sekundärebene für das Entschließungsermessen ohne Belang ist,379 sollte die Höhe der Primärschuld ebenso ohne Bedeutung sein. Wenn die Primärschuld zu erlassen wäre, soll die Inanspruchnahme ermessensfehlerhaft sein.380 Hierbei soll das Vorliegen der Erlasssituation ausreichend sein. Dies ist nur folgerichtig, da die Billigkeitserlasse auf Festsetzung- und Erhebungsebene nach §§ 163,  227 AO nicht antragsgebunden sind.381 Liegen die Voraus­ setzungen des Erlasses vor, kann die Finanzbehörde diesen von Amt wegen vorneh 373

Weber, in: NJW 2015, 1841, 1842. Weber, in: NJW 2015, 1841, 1844. 375 Rüsken, in: Klein, AO; § 191, Rn. 35b. 376 FG Köln, Senat, Urteil vom 31. 08. 2000 – 15 K 12/95, EFG 2001, 54, 55; Rüsken, in: Klein, AO; § 191, Rn. 35b. 377 Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 38. 378 Rüsken, in: Klein, AO; § 191, Rn. 43: beispielsweise: besonders schwere Schuld des Haftenden; Unmöglichkeit der anderweitigen Realisierung des Steueranspruchs. 379 Rüsken, in: Klein, AO; § 191, Rn. 37a. 380 BFH, Urteil vom 17. 10. 2001 – II R 67/98, BFH / NV 2002, 610, BeckRS 2001, 25000290, Tz. II. 2. b) bb) (1.); Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  33; Rüsken, in: Klein, AO; § 191, Rn. 48. 381 Cöster, in: König, AO, § 163, Rn. 19. 374

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men.382 Der Erlass steht im Ermessen der Finanzbehörde.383 Demzufolge sollte auf Sekundärebene nur eine Berücksichtigung der Erlasssituation zwingend notwendig sein, wenn das Ermessen der Finanzbehörde auf Null reduziert ist.384 Andersfalls würde das Ermessen der Finanzbehörde über den Weg des Haftungsverfahrens ausgehebelt werden. Der Behörde würde infolgedessen eine Entscheidung aufgedrängt, die sie auf Primärebene nicht hätte vornehmen müssen. Dies muss sowohl für persönliche als auch für sachliche Erlassgründe gelten.385 cc) Primärschuldnerbezogene Aspekte Bei den hier betrachteten Abzugsteuerhaftungstatbeständen ist nicht ersichtlich, welcher Bezugspunkt beim Primärschuldner für ein Verschulden auf Grund aktiven Handelns vorliegen sollte. Auf Grund der verfahrensrechtlichen Situation im Steuerabzugsverfahren kann nur ein Verschulden wegen Kenntnis von Pflichtverletzungen des Entrichtungsschuldners und angeschlossenes Unterlassen der Anzeige dessen beim Finanzamt in Betracht kommen. Die unterlassene Anzeige sollte jedoch für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners kein in das Ermessen der Finanzbehörde einzustellender Aspekt sein. Sie hat keinen Einfluss auf eine etwaige Beurteilung des Verschuldensgrads des Haftungsschuldners. Insbesondere ist wegen des unterschiedlichen Ansatzpunktes des Verschuldens keine Aufteilung dessen auf Primär- und Sekundärschuldner möglich. Somit kann ein Anzeigeunterlassungsverschulden des Primärschuldners nicht zur Minderung des Entrichtungsunterlassungsverschuldens des Haftungsschuldners herangezogen werden. Finanzielle oder andersgeartete Vorteile, die der Primärschuldner durch die Pflichtverletzung des Haftungsschuldners erlangt, können im Rahmen des Ermessens auf Sekundärebene beachtlich sein. Solche Vorteile haben zwar keine Auswirkungen auf die Notwendigkeit eines Regresses des Haftungsschuldners beim Steuerschuldner. Dieser erlangt hieraus keinen unmittelbaren Vorteil. Es erhöht sich jedoch die Liquidität des Primärschuldners durch den rechtswidrigen Vorteil, sodass der Haftungsschuldner im Regressfall reflexartig einen Vorteil durch die bessere Vermögenssituation des Primärschuldners erlangt. Aus diesem reflexartigen Vorteil sollten sich für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners keine Auswirkungen ergeben. Es kann jedoch in Betracht kommen, dass auf Grund des Vermögensvorteils beim Primärschuldner eine Inanspruchnahme des Haftungsschuldners nicht zweckgerecht erscheint. Ist die vollständige Haftungssumme im Vermögen des Steuerpflichtigen vorhanden, sollte das Ermessen der Finanzbehörde auf Null reduziert sein, diesen und nicht den Haftungsschuldner 382

Cöster, in: König, AO, § 163, Rn. 19. Cöster, in: König, AO, § 163, Rn. 16. 384 Rüsken, in: Klein, AO; § 191, Rn. 48: Eine Erlasslage soll beachtlich sein, wenn die Finanzbehörde die Steuer auf Primärebene erlassen müsste. 385 Rüsken, in: Klein, AO; § 191, Rn. 48. 383

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

in Anspruch zu nehmen. Dies sollte jedoch nur in Fällen zutreffen, in denen der Vollstreckungszugriff bei Steuer- und Haftungsschuldner in gleichwertiger Weise möglich ist. Ist hingegen der Steuerschuldner beispielsweise im Ausland ansässig, so vermag das Entschließungsermessen der Finanzverwaltung für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners nicht in Richtung des Steuerschuldners auf Null reduziert werden. Ist die Primärschuld beim Steuerschuldner nicht einbringbar, weil dieser zahlungsunfähig ist und kein vollstreckungsfähiges Vermögen besitzt, ist die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners nur unter außergewöhnlichen Umständen fehlerhaft.386 Dies steht mit dem Telos des Haftungsverfahrens nach § 191 AO im Einklang. Das Haftungsverfahren soll dazu dienen, Steuerausfälle wegen Uneinbringbarkeit des Steueranspruchs beim Primärschuldner zu vermeiden. Kann der Steuerschuldner mangels Vermögensmasse nicht erfolgreich für die Steuerschuld in Anspruch genommen werden, liegt der klassische Fall der Notwendigkeit des Haftungsverfahrens vor. dd) Haftungsschuldbezogene Aspekte Die Höhe des Haftungsanspruchs ist für das Entschließungsermessen ohne Belang.387 Dies ist nur folgerichtig, da andernfalls per se eine Begünstigung bei hoher Haftungsschuld vorliegen würde. Dies ist jedoch auf Grund des Sinn und Zwecks der Haftung, Steuerausfälle für den Fiskus zu meiden, nicht zielführend. Dieser hat gerade bei hohen Haftungssummen ein erhebliches Interesse daran, den Haftungsschuldner in Anspruch zu nehmen. ee) Haftungsschuldnerbezogene Aspekte Die finanzielle Liquidität der potenziellen Haftungsschuldner soll auf Ebene des Entschließungsermessens unbeachtlich sein.388 Der 11. Senat hat die Unbeachtlichkeit der finanziellen Leistungsfähigkeit des Haftungsschuldners in Anbetracht der Größe der Haftungsschuld mit dem Schadensersatzcharakter der dem Urteilssachverhalt zugrunde liegenden Haftungsnorm begründet. Dem BFH lag im Urteilsfall eine Haftung nach § 71 AO wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung vor. Die Haftungstatbestände im Steuerabzugsverfahren haben ebenfalls einen Schadensersatzcharakter. Der Entrichtungsschuldner wird hierbei zum Haftungsschuldner, weil er im Rahmen des Abzugsverfahrens eine Pflichtverletzung begangen hat.

386

Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 41; Rüsken, in: Klein, AO; § 191, Rn. 35. Rüsken, in: Klein, AO; § 191, Rn. 37a. 388 BFH, Urteil vom 21. 01. 2004 – XI R 3/03, BStBl. II 2004, 919, 922; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 41; Rüsken, in: Klein, AO; § 191, Rn. 37a. 387

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Lediglich bei der Versicherungsteuer erwächst die Haftung in Folge einer Pflichtverletzung eines Dritten. Diesbezüglich kann man aber argumentieren, dass dem Haftungsschuldner die Pflichtverletzung des Entrichtungsschuldners zuzurechnen ist bzw. er auch für diese haftet, da eine besondere Gefahrensituation besteht. Schließlich begeben sich die beteiligten Personenkreise bei der Versicherungsteuer freiwillig in eine geschäftliche Beziehung mit den jeweils anderen. Ob die Pflichtverletzung der Haftungstatbestände ein Verschuldenserfordernis für die Haftungsbegründung fordert, ändert nichts an dem Ansatzpunkt der Haftung an der Pflichtverletzung. So ist die Haftung in Steuerabzugsfällen eine Art Ausgleich für den auf Grund der Pflichtverletzung nicht erfolgten Steuerabzug. Die Haftung sichert die Steuerschuld, die auf Grund der Pflichtverletzung des Entrichtungsschuldners im Entrichtungsverfahren noch nicht an das Finanzamt abgeführt wurde. Demnach sollten die im Urteil vom 11. Senat vertretenen Grundsätze zur Unbeachtlichkeit der finanziellen Leistungsfähigkeit des Haftungsschuldners auch für die Steuerabzugshaftungstatbestände Anwendung finden. Die Liquidität potenzieller Haftungsschuldner ist erst im Auswahlermessen von Belang.389 Das Maß des Verschuldens des Haftungsschuldners bei Auslösung des Haftungstatbestands soll ebenfalls nicht im Rahmen der Ermessensausübung auf Ebene des Entschließungsermessens zu berücksichtigen sein.390 Die Haftung des Haftungsschuldners im Steuerabzugsverfahren ist keine verschuldensproportionale Sanktion für die Verletzung seiner Pflichten als Entrichtungsschuldner, sondern beruht darauf, dass ein Steuerausfall verursacht worden und der Allgemeinheit infolgedessen ein Schaden entstanden ist.391 Darüber hinaus knüpfen einige Haftungstatbestände auf Tatbestandsseite an das Verschulden des Entrichtungsschuldners an. So ist die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners nach § 44 Abs. 5 S. 1 EStG bei der Kapitalertragsteuer nur eröffnet, wenn dieser mindestens grob fahrlässig seine Pflichten als Entrichtungsschuldner verletzt hat. Ebenso enthält § 48a Abs. 3 S. 2 EStG für den Steuerabzug bei der Bauabzugsteuer einen Exkulpationstatbestand, wenn der Leistungsempfänger als Entrichtungspflichtiger auf die Rechtmäßigkeit einer vorgelegten Freistellungsbescheinigung nach § 48b EStG vertrauen durfte. Hierbei knüpft das Verschulden allerdings nicht an eine Pflichtverletzung bei der Entrichtungsschuld des Entrichtungspflichtigen an. Vielmehr wird die Redlichkeit seines Vertrauens zum Anknüpfungspunkt des Verschuldens gemacht. Die Haftung nach § 42d Abs. 1 EStG für den Arbeitgeber beim Lohnsteuerabzug und die Haftung für den Steuerabzug bei beschränkt Steuerpflichtigen nach § 50a Abs. 5 S. 1 EStG erfolgt verschuldensunabhängig ohne Exkulpationsmöglichkeit.

389

Vgl. Kapitel A. II. 4. b) bb) (10). Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 41; Rüsken, in: Klein, AO; § 191, Rn. 37b; Jatzke, in: Gosch, AO, § 191, Rn. 18. 391 Rüsken, in: Klein, AO; § 191, Rn. 37b. 390

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

Sofern das Verschulden in Bezug auf die Pflichtverletzung des Entrichtungsschuldners schon Gegenstand der einzelsteuergesetzlichen Haftungsgrundlage ist, darf das Finanzamt dies nicht erneut auf Ebene des Entschließungsermessens berücksichtigen. Der Gesetzgeber hat in diesen Fällen das Verschulden nicht als eine ungewisse Sachverhaltskomponente des Einzelfalls392 angesehen, die in die Einschätzung der Finanzverwaltung gelegt werden sollte. Inwiefern das Verschulden des Entrichtungsschuldners bei Durchführung des Entrichtungsverfahrens beachtet werden soll, ist in diesen Fällen im Tatbestand ausdrücklich geregelt. Diese tatbestandliche Regelung stellt eine Ermessensgrenze dar, über die sich das Finanzamt nicht im Rahmen der Ausübung des pflichtgemäßen Entschließungsermessens hinwegsetzen darf. Etwas anderes kann lediglich gelten, wenn ein entschuldbarer Rechtsirrtum vorliegt,393 der das gegebene Verschulden des Haftungsschuldners neutralisiert. Bei verschuldensunabhängigen Haftungstatbeständen hingegen hat der Gesetzgeber selbst keine Aussage zur Beachtlichkeit des Verschuldens für die Einschlägigkeit des Haftungstatbestands getroffen. So kann bei der Lohnsteuerhaftung394 und bei der Haftung für den Steuerabzug nach § 50a EStG etwaig fehlendes Verschulden des Arbeitgebers berücksichtigt werden. Im Entschließungsermessen kann das Verschulden des Haftungsschuldners auch bei Auswahl zwischen Steuer- und Haftungsschuldner relevant werden. Wie bei der Auswahl zwischen mehreren Haftungsschuldnern im Auswahlermessen,395 könnte hierbei der Grad des Verschuldens des jeweiligen Beteiligten im Rahmen des Ermessens berücksichtigt werden. Bei Abzugssteuern trifft den Steuerschuldner jedoch kein Verschulden an einer nicht ordnungsgemäß erfolgten Einbehaltung und Abführung der Abzugssteuern. Eine Pflichtverletzung in Bezug auf das Abzugsverfahren selbst kann lediglich der Entrichtungsschuldner begehen. Etwas anderes mag bei gemeinschaftlicher Begehung von Steuerstraftaten im Zusammenhang mit dem Steuerabzug gelten, dies stellt jedoch einen atypischen Fall dar. Dem Steuerpflichtigen obliegen in Bezug auf den Steuerabzug im typischen Fall keine Pflichten, sodass der Ansatzpunkt für ein diesbezügliches Verschulden ausgeschlossen ist. Ein Kenntnisverschulden des Steuerschuldners, wie in §§ 42d  Abs. 3  S. 4  Nr. 2;  44  Abs. 5  S. 2  Nr. 2  EStG für die Inanspruchnahme gefordert, sollte im Rahmen der Ermessensausübung unbeachtlich sein. Eine Abwägung oder Gewichtung zwischen dem Verschulden des Steuerschuldners und dem des Haftungsschuldners kann hierbei mangels desselben Ansatzpunktes nicht stattfinden. Beide Personenkreise treffen verschiedene Pflichten, die verletzt werden können. Die Pflichtverletzung des Steuerschuldners betrifft dabei nicht unmittelbar das Entrichtungsverfahren, sondern eine nachgelagerte Nichtanzeige.

392

Zippelius, Juristische Methodenlehre, § 17, Buchs. a). Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  124. 394 Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 191, Rn. 54 ff. 395 Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 60; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 49; Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 191, Rn.  47. 393

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Damit liegt eine nur mittelbar mit dem Entrichtungsverfahren im Zusammenhang stehende Pflichtverletzung vor. Die Regressaussichten des Haftungsschuldners beim Steuerschuldner dürfen ebenfalls nicht ins Entschließungsermessen der Finanzverwaltung einfließen.396 Begründet wird dies damit, dass die Haftung andernfalls ihre Funktion verlieren und ins Leere gehen würde.397 Dabei sollte auf Ebene des Entschließungsermessens keine Unterscheidung stattfinden, ob ein Regress gegebenenfalls zivilrechtlich nicht wirksam vereinbart worden ist oder ob dieser möglich ist, jedoch wegen Zahlungsunfähigkeit des Steuerschuldners faktisch keinen Erfolg zu bringen vermag. Beide Fälle sind für das Entschließungsermessen belanglos. ff) Finanzbehördenbezogene Aspekte Auf Grund des Schadensersatzcharakters der Abzugssteuerhaftungsnormen ist die Anwendung des in § 254 BGB zum Ausdruck kommenden Rechtsgedankens im Rahmen der Ausübung des pflichtgemäßen Entschließungsermessens vorzunehmen.398 Ein Verschulden der Finanzbehörde macht die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners jedoch nur ermessensfehlerhaft, wenn das behördliche Verschulden dasjenige des Haftungsschuldners überlagert.399 § 254 BGB wird demnach nicht vollumfänglich angewendet. Es findet lediglich sein Rechtsgedanke Anwendung. Das Verschulden der Finanzbehörde hindert nicht die Erfüllung des Haftungstatbestands durch den Haftungsschuldner.400 Für die Steuerabzugstat­bestände, die kein Verschuldenserfordernis vorsehen, soll es ohne Bedeutung sein, ob § 254 BGB analog ggf. schon auf Tatbestandsebene zu beachten ist.401 Dies ist ausgeschlossen, sofern im Tatbestand kein Anknüpfungspunkt zum Verschulden gegeben ist, der das Einfallstor für die analoge Anwendung des § 254 BGB eröffnen könnte. Eine analoge Anwendung des § 254 BGB kann lediglich bei Haftungstatbeständen in Betracht kommen, die eine verschuldensgebundene Exkulpationsmöglichkeit des Haftungsschuldners vorsehen. Hierbei kann das Verschulden der Finanzbehörden zur Reduzierung des Verschuldens des Haftungsschuldners bzw. sogar zur Überlagerung dessen führen.

396

Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 40. Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 40. 398 BFH, Urteil vom 30. 08. 2005 – VII R 61/04, BFH / NV 2006, 232, DStRE 2006, 376, 377. 399 BFH, Urteil vom 30. 08. 2005 – VII R 61/04, BFH / NV 2006, 232, DStRE 2006, 376, 377; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 45; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 44a. 400 BFH, Urteil vom 30. 08. 2005 – VII R 61/04, BFH / NV 2006, 232, DStRE 2006, 376, 377. 401 Für den Streitstand wird verwiesen auf BFH, Urteil vom 30. 08. 2005  – VII R 61/04, BFH / NV 2006, 232, DStRE 2006, 376, 377. 397

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gg) Tatbestandlicher Ausschluss des Ermessens Für das Auswahlermessen zwischen Steuer- und Haftungsschuldner als Teil des Entschließungsermessens sehen manche Steuerabzugshaftungstatbestände gesetzliche Beschränkungen vor. So ist in § 44 Abs. 5 EStG gesetzlich geregelt, in welchen Fällen, der Gläubiger der Kapitalerträge als Steuerschuldner in Anspruch genommen werden darf. Hierdurch wird das Auswahlermessen auf Entschließungsebene ausgeschlossen bzw. auf bestimmte Fallgruppen beschränkt. Dasselbe gilt für die Lohnsteuerhaftung nach § 42d Abs. 3 S. 4 EStG. hh) Rechtsfolgenermessen Gegenstand des Entschließungsermessens ist auch, in welcher Höhe der Haftungsanspruch geltend zu machen ist.402 Da die finanzielle Leistungsfähigkeit und das Verschulden des Steuerpflichtigen nicht im Rahmen des Entschließungsermessens zu beachten sind, sind diese Aspekte beim Entschließungsermessen der Höhe nach auch nicht mit in die Entscheidung einzustellen. Beim Steuerpflichtigen vorhandene finanzielle Vorteile infolge der Pflichtverletzung des Haftungsschuldners können dazu führen, dass eine Inanspruchnahme nur in Höhe des überschießenden Teils gerechtfertigt ist. Insofern kann für den restlichen Steuerbetrag ggf. nur eine Inanspruchnahme des Steuerschuldners gerechtfertigt sein, da bei diesem die aus der Pflichtverletzung resultierenden Vorteile verblieben sind. b) Auswahlermessen Das Auswahlermessen betrifft die Auswahl der Inanspruchzunehmenden bei mehreren zur Verfügung stehenden Haftungsschuldnern,403 wenn diese als Gesamt­ schuldner haften.404 Darüber hinaus besteht ein Ermessen zur Wahl zwischen Steuer- und Haftungsschuldner, wenn die Finanzbehörde die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners in Betracht zieht.405 Dieses Auswahlermessen stellt jedoch einen Bestandsteil des Entschließungsermessens dar. Wenn sich die Finanz­behörde für die Durchführung des Haftungsverfahrens entscheidet, liegt darin immanent auch die Ausübung des Auswahlermessens zwischen Steuer- und Haftungsschuld 402 Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 47; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 34; Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 191, Rn. 41; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 35b: unter Auslegung der Ausführungen des Autors zur Aufrechnungsmöglichkeit auf Primärebene. 403 Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 44; Zippelius, Juristische Methodenlehre, § 17, Buchs. a). 404 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  37. 405 Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 191, Rn. 43; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 30.

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ner. Im Rahmen des Auswahlermessens werden demnach nur die Aspekte behandelt, die die Finanzbehörde bei ihrer Entscheidungsfindung in Bezug auf die zwischen mehreren Haftungsschuldnern zu treffende Auswahl zugrunde legen muss. Sofern es um die Auswahl zwischen Haftungs- und Steuerschuldner im Entschließungsermessen geht, muss die Finanzverwaltung dieselben Aspekte auf dieser Ebene beachten. aa) Keine Rangfolge der Haftungsschuldner Eine Rangfolge der Haftungsschuldner könnte sich zum einen aus einer abstrakten Stufung zwischen den Haftungstatbeständen ergeben. Zum anderen kann eine Abstufung aber auch im konkreten Fall zwischen den Haftungsschuldnern vorgenommen werden, die denselben Haftungstatbestand verwirklicht haben. (1) Abstraktes Verhältnis der Haftungstatbestände Auf Tatbestandsebene besteht kein Rangverhältnis zwischen den einzelnen Haftungsnormen.406 Eine solche ist im Gesetz nicht angelegt. Auch eine Abstufung zwischen den allgemeinen Haftungstatbeständen der Abgabenordnung und solcher der Einzelsteuergesetze findet keine Stütze im Gesetz. Dasselbe gilt für eine Unterscheidung nach der Nähe des Haftungsschuldners zum Steuerschuldner oder nach der Nähe zur haftungsbegründenden Pflichtverletzung, bzw. sofern eine solche für den Haftungstatbestand nicht vorgesehen ist, nach der Nähe zur Verwirklichung des Haftungstatbestands. Dennoch wird für andere Haftungsnormen teilweise ein Stufenverhältnis angenommen. Diskutiert wird dies beispielsweise im Rahmen einer Abstufung zwischen einer Haftung nach § 69 AO und § 75 AO.407 Ob bezüglich der Haftungsschuld der Organgesellschaften aus § 73 AO und der etwaigen Sekundärlast des Erwerbers aus § 75 AO i. V. m. § 73 AO bei der Kettenhaftung ein Stufenverhältnis angenommen werden kann, ist ebenfalls mit Unsicherheiten behaftet. Auf Grund der fehlenden Nähe des Betriebserwerbers zum Organkreis des Verkäufers sollte ein solches Stufenverhältnis jedoch im Rahmen des Auswahlermessens angenommen werden, um Unbilligkeiten bei der Inanspruchnahme des Betriebserwerbs zu vermeiden. Im Gegensatz zu den im vorherigen Absatz erwähnten Haftungsnormen sind die Abzugsteuerhaftungsnormen an eine Pflichtverletzung des Entrichtungsschuldners gekoppelt. Haftungsschuldner kann, wie bei der Versicherungsteuer, auch ein hiervon zu unterscheidender Personenkreis sein. Die Verbindung zwischen Pflicht 406

Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  37; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 48. 407 Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 75, Rn. 65: zu einem Stufenverhältnis zwischen §§ 69 und 75 AO.

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verletzung und Haftung müsste bei dem Versuch, ein Stufenverhältnis zwischen den Haftungstatbeständen zu schaffen, dazu führen, dass die Abzugsteuerhaftung als sachnächster Haftungstatbestand auf der niedrigsten ersten Stufe angesiedelt wird. Der Abzugsteuerhaftungsschuldner ist so beispielsweise näher an der Verwirklichung des Haftungstatbestands als der Betriebserwerber, der über § 75 AO ebenfalls für Haftungssteuern408 eines Betriebsveräußerers in Anspruch genommen werden könnte. Erhöhte Schwierigkeiten bestehen bei dem Versuch einer solcher Stufung, sofern sich ein Abzugsteuerhaftungsschuldner und ein nach § 69 AO haftender Geschäftsführer gegenüberstehen. Eine Stufung auf Grund der Nähe zur Verwirklichung des Haftungstatbestands ist hier nicht ohne weiteres möglich, da es sich nicht um einen verketteten Haftungstatbestand handelt. Daneben wird sowohl dem Abzugsteuerhaftungsschuldner als auch dem Geschäftsführerhaftungsschuldner eine Pflichtverletzung vorzuwerfen sein. Beide Haftungstatbestände setzen das Vorliegen einer Pflichtverletzung auf Tatbestandsebene voraus. Ein Stufenverhältnis erscheint demzufolge nur bei solchen Haftungstatbeständen sinnvoll, die eine Kettenhaftung beinhalten, da es hier gerechtfertigt erscheint, den näher an der Verwirklichung stehenden Haftungsschuldner vorrangig in Anspruch zu nehmen. Die Haftungsschuld aus dem verketteten Zweithaftungstatbestand wäre weiter entfernt und deswegen als nachrangig zu titulieren. Daneben vermag die Annahme eines Stufenverhältnisses möglich zu sein, sofern nur einer der in Frage kommenden Haftungstatbestände an das Vorliegen einer Pflichtverletzung des Haftungsschuldners ansetzt. Rechtsinstitute wie die zivilrechtliche Nach- oder Rückbürgschaft sind in der Abgabenordnung nicht angelegt. Es erfolgt nur eine Unterteilung in die Primärebene der Steuerschuld und die Haftung auf Sekundärebene. Innerhalb der Sekundärebene findet ex lege keine Abstufung zwischen den Haftungstatbeständen statt. So können die maximale Absicherung und ein schnellerer Zugriff der Finanzverwaltung erreicht werden. Die etwaige Kodifizierung eines Stufenverhältnisses zwischen den Haftungsnormen würde dazu führen, dass die Finanzverwaltung im Rahmen der Verwirklichung des Steueranspruchs im Wege der Inhaftungsnahme mehrere Stufen abarbeiten müsste, bis sie gegebenenfalls bei einem zahlungsfähigen Haftungsschuldner angelangt. Dies wäre aus Sicht des Fiskus nicht wünschenswert. Jedoch ist bei Verkettung von Haftungstatbeständen mit und ohne Bezug zu einer Pflichtverletzung ex lege ein Stufenverhältnis der Haftungsnormen im Rahmen des Auswahlermessens zu berücksichtigen.

408

Rüsken, in: Klein, AO, § 75, Rn. 34.

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(2) Konkretes Verhältnis der Haftungsschuldner Es kommt in Betracht auch zwischen mehreren Haftungsschuldnern, die den­ selben Haftungstatbestand verwirklicht haben, von vorneherein Abstufungen vorzunehmen, die nicht in der ermessensbezogenen Einzelfallabwägung bestehen, sondern die Finanzverwaltung zwar auf Ermessensebene jedoch schon vor Ausübung des Einzelfallermessens binden. Möglich wäre eine Abstufung nach dem Zeitpunkt der Verwirklichung des Haftungstatbestands. Ein solches Prioritätsprinzip409 ist in der Abgabenordnung nicht vorgesehen. Eine solche Abstufung anzunehmen, würde zu praktischen Problemen führen. Oft wäre gegebenenfalls nicht sicher ermittelbar, welcher der Haftungsschuldner den Haftungstatbestand zuerst verwirklicht hat. Darüber hinaus dürfte ein Fall der gleichartigen Haftung mehrere Haftungsschuldner oft eintreten, wenn diese gemeinsam dieselbe Pflicht verletzt haben. In diesem Fall verwirklichen beide Haftungsschuldner zeitgleich denselben Haftungstatbestand. Ein Prioritätsprinzip wäre hierfür untauglicher Stufungsgegenstand. In Betracht kommt eine Abstufung nach dem Verschulden oder der finanziellen Leistungsfähigkeit der Haftungsschuldner. Dies ist zulässig.410 Hierin ist aber eine Abstufung zwischen den Haftungsschuldnern im Einzelfall anzusehen, die durch die Ermessensausübung der Finanzverwaltung entsteht. Dies stellt kein von vorneherein bestehendes Rangverhältnis dar. Ferner käme es in Betracht eine Abstufung zwischen mehreren gleichartigen Haftungsschuldnern auf Grundlage zivilrechtlicher Vereinbarungen vorzu­nehmen. Hierbei könnten beispielsweise bei mehreren Geschäftsführern interne Geschäftsverteilungen zugrunde gelegt werden. Andernfalls käme eine zivilrechtliche Haftungsvereinbarung zwischen den Haftungsschuldnern in Betracht. Öffentlichrechtliche Pflichten können grundsätzlich nicht auf zivilrechtlicher Grundlage abbedungen werden. Solche zivilrechtlich vereinbarten Abweichungen sind nur zulässig, sofern sie gesetzlich vorgesehen sind, vgl. z. B. § 25 Abs. 2 HGB.411 Generell sind solche Vereinbarungen steuerrechtlich irrelevant, sodass diese keine Wirkung entfalten können. Haften mehrere Personen nach derselben Haftungsnorm besteht demzufolge ebenfalls kein vorab zu beachtendes Rangverhältnis, was vor der Ausübung des Einzelfallauswahlermessens relevant ist.412

409 Begrifflich wird auf das Prioritätsprinzip im Sachenrecht Bezug genommen. Nach diesem geht bei sachenrechtlichen Verfügungen das ältere Recht dem jüngeren vor. Dies gilt auch für die im Grundbuch eingetragenen Sicherungsmittel, vgl. Kessler, in: Gsell / Krüger / Lorenz / Reymann, Großkommentar BGB, § 879, Rn. 28. 410 Vgl. hierzu Kapitel A. II. 4. b) dd). 411 Bisle, in: SteuK 2013, 204, 204. 412 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  37.

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bb) Einfluss der finanzbehördlichen Beitreibungsaussichten Das Finanzamt kann im Rahmen des Auswahlermessens berücksichtigen, bei welchem Haftungsschuldner es auf zuverlässigerem oder leichterem Wege die festgesetzte Haftungsschuld vollstrecken kann.413 Dies hängt verfahrenstechnisch davon ab, in welchem Staat der Vollstreckungsschuldner ansässig und wo seine Vollstreckungsmasse belegen ist. Eine solche Differenzierung auf Grund der Ansässigkeit des Vollstreckungsschuldners im Auswahlermessen sollte jedoch nur zulässig sein, wenn eine Vollstreckung in das Ansässigkeitsland nicht in einer mit der inländischen Vollstreckung vergleichbaren Art und Weise möglich ist. (1) Vorgehensweise für den Vergleich der Vollstreckungsaussichten Die Untersuchung der Vollstreckungsaussichten erfolgt dreistufig. Ein Vollstreckungsdefizit im Sinne einer nicht mit der inländischen Vollstreckung der BRD vergleichbaren, gleich effektiven Möglichkeit einen Steueranspruch durchzusetzen, kann sich zum einen auf erster Stufe aus den zwischen der BRD und dem jeweiligen Vollstreckungszielland abgeschlossenen Übereinkünften zur gegenseitigen Amtshilfe in Steuersachen ergeben.414 Besteht überhaupt ein Anspruch der BRD, Beitreibungshilfe in dem Vollstreckungszielland zu ersuchen, kann sich ein Vollstreckungsdefizit auf zweiter Stufe aus der Art und Weise der Vollstreckung in dem Vollstreckungszielland ergeben. Dies ergibt sich aus den Ausformungen der Vollstreckungsverfahrensgesetze der Zielländer. Hierbei ist nicht zu betrachten, dass sich in Bezug auf die Vollstreckung selbstverständlich Unterschiede auch bei vergleichbarer Vollstreckung oder bei mehreren in Deutschland ansässigen Vollstreckungsschuldnern mit gleicher rechtlicher Vollstreckungsgrundlage wegen unterschiedlicher vorhandener Vollstreckungsmasse ergeben können. Dies stellt die dritte Stufe der Einflussmöglichkeiten der Vollstreckungsaussichten auf die Ermessensausübung im Rahmen des Erlasses eines Haftungsbescheids dar. Hier ist stets eine Einzelfallbetrachtung anzustellen.415 Zunächst ist zu überprüfen, ob die rechtlichen Vollstreckungsgrundlagen bei Ansässigkeit in Deutschland, dem EU-Ausland und Drittländern so gravierende Unterschiede aufweisen, dass eine abweichende Behandlung von Haftungsschuldnern aus verschiedenen Ansässigkeitsstaaten auf Ermessensebene überhaupt gerechtfertigt sein kann. Zunächst wird hierzu untersucht, unter welchen Voraus 413

Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  38. Wenn von einem Vollzugsdefizit bzw. einer mit der inländischen Vollstreckung vergleichbaren Vollstreckung gesprochen wird, so ist im Folgenden gemeint, dass eine vergleichbare Wahrscheinlichkeit der erfolgreichen Vollstreckung und Befriedigung der Steuerforderung aus vollstreckungsverfahrensrechtlichen Gründen besteht. Die Betrachtung findet erfolgsorientiert statt. 415 Vgl. zu den haftungsschuldnerbezogenen Aspekten des Ermessens Kapitel A. II. 4. b) dd). 414

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setzungen die inländische Vollstreckung einer Haftungsschuld möglich ist. Im Anschluss werden die hieraus gewonnenen Erkenntnisse mit der Vollstreckung ins Ausland verglichen. (2) Rechtliche Grundlagen der inländischen Vollstreckung Ist der Haftungsschuldner als Vollstreckungsschuldner in Deutschland ansässig, so richtet sich die Vollstreckung nach den §§ 249 ff. AO. Grundlage der Vollstreckung ist ein Verwaltungsakt, dessen Vollziehung nicht ausgesetzt oder durch Einlegung eines Rechtsmittels gehemmt ist, vgl. § 251 Abs. 1 AO. Rechtsmittel gegen einen Steuerverwaltungsakt haben nach § 361 Abs. 1 AO grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung und hemmen demzufolge nicht die Vollziehbarkeit des Steuerverwaltungsaktes. Der Steuerpflichtige kann jedoch nach § 361 Abs. 2 AO bzw. § 69 Abs. 3 FGO bei der Finanzbehörde oder beim Finanzgericht einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung stellen. Wird dem Antrag stattgegeben, entfaltet der eingelegte Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung, sodass der Steuerverwaltungsakt so lange nicht vollstreckbar ist, wie die aufschiebende Wirkung andauert. Die Voraussetzungen des § 251 Abs. 1 AO sind dann nicht erfüllt, sodass die Vollstreckung des Steuerverwaltungsaktes zeitweilen nicht stattfinden darf. Nach § 254 Abs. 1 S. 1 AO darf die Vollstreckung beginnen, wenn die zu vollstreckende Leistung fällig und der Vollstreckungsschuldner durch ein Leistungsgebot zur Leistung aufgefordert worden ist. Die Haftungsschuld ist fällig, wenn der Haftungsbescheid bekanntgegeben worden ist, vgl. § 220 Abs. 2 S. 2 AO. Es muss ferner eine Wochenfrist ab Bekanntgabe des Leistungsgebots eingehalten werden. Das Leistungsgebot kann mit dem Haftungsbescheid verbunden werden, § 254 Abs. 1 S. 2 AO. Nach § 254 Abs. 1 S. 4 AO ist ein Leistungsgebot entbehrlich, soweit der Vollstreckungsschuldner eine von ihm auf Grund einer Steueranmeldung geschuldete Leistung nicht erbracht hat. Interessant ist, ob diese Regelung auch für den Haftungsschuldner beim Steuerabzugsverfahren anzuwenden ist, wenn dieser mit dem Entrichtungsschuldner personenidentisch ist. Dies würde dazu führen, dass ein Leistungsgebot für diese Haftungsschulden entbehrlich wäre. Der Entrichtungsschuldner hat in den Steuerabzugsfällen eine Steueranmeldung abzugeben und den ausgewiesenen Betrag an das Finanzamt abzuführen.416 Die Vollstreckung des Haftungsbescheids erfolgt auf Sekundärebene. Hier wird nicht der Entrichtungsschuldner infolge seiner Anmeldungs- und Abführungsverpflichtung in Anspruch genommen. Den Haftungsschuldner als solchen trifft eine solche Anmeldungsund Abführungspflicht nicht. Der Haftungsschuldner ist in den hier betrachteten 416 Vgl. § 41a Abs. 1 EStG zur Lohnsteuer; §§ 44 Abs. 1, 45a EStG zur Kapitalertragsteuer; §§ 48, 48a Abs. 1 EStG zur Bauabzugsteuer und § 50a Abs. 5 S. 2 EStG zum Steuerabzug bei beschränkt Steuerpflichtigen.

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Fällen des Steuerabzugs mit dem Entrichtungsschuldner personenidentisch. Eine Ausnahme besteht hingegen bei der Versicherungsteuer. Ein Leistungsgebot soll trotz Steueranmeldungsverpflichtung erforderlich sein, wenn zwar grundsätzlich eine Steueranmeldung abzugeben wäre, dies jedoch unterbleibt oder wenn die angemeldete Steuer zu gering ist und von der zu vollstreckenden Steuer abweicht.417 Demnach decken die Rückausnahmen zur Entbehrlichkeit des Leistungsgebots nach § 254 Abs. 1 S. 1 AO die Fälle ab, in denen der Entrichtungsschuldner überhaupt zum Haftungsschuldner wird. Ein Leistungsgebot an den Haftungsschuldner ist demzufolge stets erforderlich. Die Vollstreckung des die Haftungsschuld betreffenden Leistungsgebots ist eine Vollstreckung wegen einer Geldforderung, sodass der Zweite Abschnitt des Sechsten Teils der AO (§§ 259 ff. AO) anzuwenden ist. Die Vollstreckung wegen Geldforderungen unterliegt einem Mahnungserfordernis nach § 259 S. 1 AO. Der weitere Ablauf der Vollstreckung wird dadurch geprägt, was Gegenstand der Vollstreckung sein soll.418 In das bewegliche Vermögen wird nach den §§ 281 ff. AO durch Pfändung vollstreckt. Für die Vollstreckung in das unbewegliche Vermögen gelten über einen Verweis in § 322 Abs. 1 S. 2 AO die Regelungen der §§ 864 – 871 ZPO und das Gesetz über die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung. Die Verwertung des unbeweglichen Vermögens erfolgt durch Zwangsversteigerung, Zwangsverwaltung oder die Eintragung einer Zwangshypothek. Dem Vollstreckungsschuldner sind nach den §§ 337 ff. AO die Kosten419 des Vollstreckungsverfahrens aufzuerlegen. Vollstreckungsbehörde ist nach § 249 Abs. 1 S. 3 AO das Finanzamt, das den zu vollstreckenden Verwaltungsakt erlassen hat.420 Zur Sicherung der Vollstreckung von Geldforderungen kann die für die Steuerfestsetzung zuständige Finanzbehörde einen Arrest in das bewegliche oder unbewegliche Vermögen des Vollstreckungsschuldners anordnen, wenn zu befürchten ist, dass sonst die Beitreibung vereitelt oder wesentlich erschwert wird, § 324 AO. § 326 Abs. 1 AO lässt hierbei auch einen persönlichen Sicherheitsarrest zu, wenn dieser erforderlich ist, um die gefährdete Vollstreckung in das Vermögen des Steuerpflichtigen zu sichern. Darüber hinaus ist eine Befriedigung des Fiskus durch Verwertung von Sicherheiten nach § 327 AO möglich. (3) Beitreibungshilfe nach dem EUBeitrG Ist der Haftungsschuldner nicht in Deutschland, sondern im Ausland ansässig, kommen mehrere Rechtsgrundlagen für die zwischenstaatliche Vollstreckungshilfe in Frage, um eine deutsche Haftungsschuld zu vollstrecken. Es bestehen hierzu so 417

Fritsch, in: König, AO, § 254, Rn. 10. Sechster Teil der AO, Zweiter Abschnitt, Unterabschnitt 3 und 4. 419 Gebühren und Auslagen. 420 Neumann, in: Gosch, AO, § 249, Rn. 24. 418

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wohl bi- als auch multilaterale Abkommen. Bei der Vollstreckung ins EU-Ausland regelt die EU-Beitreibungsrichtlinie die zwischenstaatliche Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Diese wurde in der BRD durch das EUBeitrG in innerstaatliches Recht umgewandelt. Steuerforderungen der BRD sind vom Anwendungsbereich des EUBeitrG erfasst, vgl. § 1 Abs. 1  Nr. 1  a)  EUBeitrG. Die Finanzämter sind nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 a) EUBeitrG zur Inanspruchnahme von Amtshilfe in Bezug auf die Beitreibung von Einkommensteuer ermächtigt. Nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 c) EUBeitrG i. V. m. § 1 Abs. 1 Nr. 1 EUBeitrG ist auch Amtshilfe auf dem Gebiet der Versicherungsteuer vom Anwendungsbereich erfasst. Spricht das EUBeitrG von einer Steuer, sind hierunter nicht nur die Steuerschuld des Steuerschuldners auf Primärebene, sondern auch die Haftung für eine solche Steuer auf Sekundärebene zu verstehen. Als Steuerforderungen sind alle Ansprüche aus den in § 37 Abs. 1 S. 1 AO genannten Steuerschuldverhältnissen zu qualifizieren. § 8 Abs. 1 EUBeitrG ermöglicht Zustellungsgesuche an einen anderen Mitgliedstaat. Hierbei sind ausdrücklich die mit der Vollstreckung zusammenhängenden Dokumente angesprochen. § 10  EUBeitrG regelt die Beitreibungsersuchen an andere Mitgliedstaaten. Dieser stellt die zentrale Vorschrift für die hiesige Vergleichsbetrachtung dar. Für die Zulässigkeit eines Beitreibungsersuchens müssen nach § 10 Abs. 1 EUBeitrG die Voraussetzungen für die innerstaatliche Vollstreckung gegeben sein und die Forderung weder angefochten noch anfechtbar sein. § 10 Abs. 1 Satz 2 EUBeitrG ermöglicht Ausnahmefälle, in denen auch anfechtbare Forderungen vollstreckt werden können. Grundsätzlich ist das Beitreibungsersuchen subsidiär zur erfolglosen Durchführung aller nach der Abgabenordnung vorgesehen Vollstreckungsmöglichkeiten, vgl. § 10 Abs. 2 EUBeitrG. Eine Ausnahme hierzu gilt, wenn der Erfolg der Vollstreckung aussichtlos ist, weil offensichtlich kein inländisches Vermögen zur Vollstreckung vorliegt oder das vorhandene inländische Vermögen des Vollstreckungsschuldners offensichtlich nicht zur Befriedigung der Forderung ausreicht. Das EUBeitrG sieht demnach eine Subsidiaritätsklausel für Beitreibungsersuche vor. Erfordert ein Ersuchen des Finanzamts bei der Vollstreckung auf Grund seiner Komplexität die Anwesenheit von deutschen Behördenmitarbeitern im anderen Mitgliedstaat, so ist nach §§ 18, 17 Abs. 1 S. 1 EUBeitrG die Anwesenheit deutscher Steuerbeamter in den Amtsräumen des Mitgliedstaats zulässig. Ferner besteht ein Anwesenheitsrecht bei den behördlichen Ermittlungen. Die Regelungen des EUBeitrG zeigen, dass dem deutschen Finanzamt bei der Beitreibung von Steuerforderungen im EU-Ausland einige Handlungsvehikel zur Verfügung stehen. Die grenzüberschreitende Beitreibung von Steuerforderungen wird dadurch erheblich erleichtert. Das EUBeitrG hat die EU-Richtlinie 2010/24/EU vom 16. 03. 2010 in Bezug auf die Beitreibungshilfe umfassend umgesetzt. § 10 EUBeitrG setzt die für ein Beitreibungsersuchen in einen anderen Mitgliedstaat in Art. 10–12 der EU-Richtlinie statuierten Voraussetzungen um. Über die Richtlinienbestimmungen in Art. 11 Abs. 1 der EU-Richtlinie hinaus erlaubt § 10 Abs. 1 S. 2 EUBeitrG auch bei angefochtenen Forderungen ein Beitreibungsersuchen an einen anderen Mitgliedstaat, wenn der

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Einspruch offensichtlich aussichtslos ist, beziehungsweise nicht in angemessener Zeit begründet wird und lediglich der Verzögerung der Vollstreckung dient.421 Die EU-Beitreibungsrichtlinie sieht eine solche Ausnahme von dem Ausschluss des Beitreibungsersuchens bei angefochtenen Forderungen nicht ausdrücklich vor. Vielmehr ist in Art. 14 Abs. 4 UA. 3 der EU-Beitreibungsrichtlinie nur die ebenfalls in § 10 Abs. 1 S. 3 EUBeitrG vorhandene ausdrückliche Ausnahme von der Einschränkung der Ersuchensermächtigung auf unangefochtene Forderungen bei entsprechender Ausnahmevorschrift in Rechts- und Verwaltungsvorschriften des ersuchten Mitgliedstaats vorhanden. § 10 Abs. 1 S. 3 EUBeitrG schränkt die in § 10 Abs. 1 S. 2 EUBeitrG enthaltene Ausnahme von dem Ausschlusstatbestands ein. Das Beitreibungsersuchen in Bezug auf eine angefochtene Forderung muss nach § 10 Abs. 1 S. 3 EUBeitrG sowie Art. 14 Abs. 4 UA. 3 S. 2 der Richtlinie begründet werden. Darüber hinaus geht der Einschränkungstatbestand in § 10 Abs. 1 Nr. 2 EUBeitrG über die Einschränkung in Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie hinaus. Hier ist ein Beitreibungsersuchen nur bei angefochtener Forderung und / oder Vollstreckungstitel unzulässig. § 10 Abs. 1 Nr. 2 EUBeitrG weitet die Unzulässigkeit auf die Anfechtbarkeit der Forderung aus. Nach § 10 Abs. 3 EUBeitrG ist dem Beitreibungsersuchen der für alle Mitgliedstaaten einheitliche Vollstreckungstitel beizufügen, dessen Inhalt im Wesentlichen dem des ursprünglichen Vollstreckungstitels entspricht. Für Steuerbescheide ist die Verordnung (EG) Nr. 805/2004 – Einführung eines Europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen nach dessen Anwendungsbereich422 hingegen nicht anwendbar. Das EUBeitrG regelt nicht, welchen Inhalt der einheitliche Vollstreckungstitel haben muss. Um im Einklang mit der EU-Amtshilfe-Richtlinie zu stehen, muss der einheitliche Vollstreckungstitel den in Art. 12 Abs. 1 UA. 3 Buchst. a)–c) der EU-Amtshilfe-Richtlinie statuierten Voraussetzungen entsprechen. Hierfür ist erforderlich, dass der Vollstreckungstitel folgende Komponenten aufweist: a) Angaben zur Feststellung des ursprünglichen Vollstreckungstitels, eine Beschreibung der Forderung, einschließlich Angaben zur Art der Forderung, des von der Forderung abgedeckten Zeitraums, sämtliche für die Beitreibung wichtigen Termine, den Betrag der Forderung und ihrer Bestandteile, wie Hauptsumme, aufgelaufene Zinsen usw.; b) Name und andere einschlägige Angaben zur Feststellung des Schuldners; c) Name, Anschrift und sonstige Verbindungsdaten bezüglich:

421 Unklar erscheint, ob beide Alternativen der Ausnahmevorschrift die Vollstreckungsverzögerungsabsicht benötigen oder sich dieses Erfordernis lediglich auf die zweite Alternative der verspäteten Begründung bezieht. 422 Art. 2 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 805/2004 – Einführung eines Europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen: anwendbar nur für Zivil- und Handelssachen.

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i) der für die Festsetzung der Forderung zuständigen Stelle sowie, falls hiervon abweichend, ii) der Stelle, bei der weitere Auskünfte zu der Forderung oder zu den Möglichkeiten, die Zahlungsverpflichtung anzufechten, eingeholt werden können. Als Vollstreckungstitel im Sinne des § 10 Abs. 3 EUBeitrG kommen der Haftungsbescheid sowie das Leistungsgebot in Betracht. Der Vollstreckungstitel für Steuerforderungen nach § 254 AO ist das Leistungsgebot.423 Leistungsbescheid für das Haftungsverfahren ist das Haftungsgebot im Sinne des § 191 Abs. 1 S. 1 AO. Dem Finanzamt kommt im Steuerverwaltungsverfahren ein Selbsttitulierungsrecht zu. Es muss nicht erst ein Gericht um den Erlass eines Vollstreckungstitels ersuchen, sondern kann den Vollstreckungstitel eigenständig erlassen. Darüber hinaus hat das Finanzamt ein Selbstvollstreckungsrecht. Ebenfalls in Abweichung zum Zivilrecht kann es den selbst erlassenen Vollstreckungstitel selbstständig ohne Anrufung anderer staatlicher Behörden vollstrecken. Das Leistungsgebot ist ein vom ursprünglichen, zu vollstreckenden Haftungsbescheid als Leistungsbescheid zu unterscheidender Steuerverwaltungsakt.424 Der Haftungsbescheid ist nicht Grundlage der Vollstreckung.425 Der Haftungsbescheid enthält nicht alle der in Art. 12  Abs. 1  UA.  3  Buchst. a)–c) der EU-Amtshilfe-Richtlinie genannten Inhaltskomponenten. Es sind keine Angaben zu den für die Beitreibung wichtigen Terminen vorhanden. Erst eine Zahlungsaufforderung nach § 219 S. 1 AO stellt bei einem Haftungsbescheid das Leistungsgebot im Sinne des § 254 Abs. 1 S. 1 AO dar.426 Das Leistungsgebot enthält die für die Beitreibung wichtigen Termine und die Aufforderung zur Leistung. Die Leistungsaufforderung ist in der Regel mit einer Zahlungsfrist verbunden. Deshalb sollte als einheitlicher Vollstreckungstitel im Sinne des § 10 Abs. 3 ­EUBeitrG i. V. m. Art. 12 Abs. 1 der EU-Amtshilfe-Richtlinie nur die Verbindung aus Haftungsbescheid und Leistungsgebot anzusehen sein, sofern beide nicht sowieso schon miteinander verbunden erlassen werden. § 12 Abs. 1 EUBeitrG sieht die Möglichkeit vor, dass die Finanzbehörde den anderen Mitgliedstaat um Sicherungsmaßnahmen ersuchen kann, sofern diese nach den Regelungen der Abgabenordnung zulässig sind. Ein solches Ersuchen um Sicherungsmaßnahmen ist nach § 12 Abs. 2 EUBeitrG subsidiär zum Bei­ treibungsersuchen. Sofern die Voraussetzungen für ein Beitreibungsersuchen vorliegen ist ein Ersuchen um Sicherungsmaßnahmen unstatthaft. Demnach stellt § 12 EUBeitrG keine mit den in der Abgabenordnung vorhandenen Vollstreckungssicherungsmitteln vergleichbare Vorschrift dar. Sie verfolgt einen anderen Zweck. Eine vergleichbare Sicherung der Zwangsvollstreckung kann nur durch den an 423

Fritsch, in: König, AO, § 254, Rn. 3; Werth, in: Klein, AO, § 254, Rn. 4. Fritsch, in: König, AO, § 254, Rn. 3; Werth, in: Klein, AO, § 254, Rn. 4. 425 Werth, in: Klein, AO, § 254, Rn. 4. 426 Werth, in: Klein, AO, § 254, Rn. 4. 424

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

deren Mitgliedstaat im Anschluss an ein Beitreibungsersuchen auf Grundlage der Verfahrensvorschriften des anderen Mitgliedstaats erfolgen. Ob diesbezüglich vergleichbare Sicherungsmaßnahmen möglich sind, ist eine von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedliche und separat zu treffende Einzelfallentscheidung unter Betrachtung des Vollstreckungsrechts des jeweiligen Mitgliedstaats. (4) Verhältnis des EUBeitrG zum OECD-MA § 22 EUBeitrG regelt das Verhältnis der Amtshilfe nach dem EUBeitrG zur Amtshilfe nach bilateralen oder multilateralen Übereinkünften oder Vereinbarungen. Als solche kommen DBA zwischen den Mitgliedstaaten der EU sowie die Konvention des Europarats und der OECD zur gegenseitigen Amtshilfe in Steuersachen 25. 01. 1988/27. 05. 2010 in Betracht. Gemäß § 22 EUBeitrG kann eine Amtshilfe in größerem Umfang aus bilateralen und multilateralen Übereinkünften und Vereinbarungen neben die auf Grundlage des EUBeitrG zu leistende Amtshilfe treten. Dies entspricht auch der in Art. 24 Abs. 1 EU-Beitreibungsrichtlinie vorhandenen Regelung. Im Ergebnis hat die Amtshilfe auf Grundlage der Amtshilferichtlinie bzw. der Umsetzungsgesetze der Mitgliedstaaten Vorrang, es sei denn, eine andere Amtshilfeübereinkunft ermöglicht weitergehende Amtshilfe.427 Weitergehende Beitreibungsamtshilfe kann sich zunächst aus den von der BRD mit anderen Staaten abgeschlossenen DBA ergeben. Diese stellen eine bilaterale Übereinkunft im Sinne des § 22 EUBeitrG bzw. Art. 24 Abs. 1 der EU-Beitreibungsrichtlinie dar. Hierbei ist zunächst das OECD-MA zu betrachten, bevor die einzelnen DBARegelungen und deren Abweichungen von dem OECD-MA beleuchtet werden. Art. 27 Abs. 1 OECD-MA begründet einen Anspruch auf gegenseitige Amtshilfe bei der Erhebung von Steueransprüchen. Die Ansässigkeit des Vollstreckungsschuldners ist hierbei irrelevant und muss nicht in einem der beiden Vertragsstaaten liegen.428 Der Anspruch beschränkt sich nach Art. 27 Abs. 1 S. 2 OECD-MA nicht auf Abkommenssteuern. Gemäß Art. 27 Abs. 2 OECD-MA werden Steueransprüche im Sinne des Art. 27 Abs. 1 OECD-MA als Beträge legal definiert, die auf Grund von Steuern jeder Art und Bezeichnung für die Rechnung der Vertragsstaaten oder von ihren Gebietskörperschaften erhoben werden. Hiervon sind alle Ansprüche aus Steuerschuldverhältnissen im Sinne des § 37 Abs. 1 S.1 AO erfasst. Auch staatliche Ansprüche gegenüber dem Haftungsschuldner sind als solche Ansprüche zu qualifizieren. Gemäß Art. 27 Abs. 3 OECD-MA erkennt der andere Vertragsstaat auf Ersuchen den Steueranspruch an, wenn dieser nach dem Recht des Ursprungsstaats vollstreckbar ist und die Vollstreckung nicht verhindert werden kann. Die Vollstreckung erfolgt durch den ersuchten Staat. Dieser 427 428

Engelschalk, in: Vogel / Lehner, DBA, Art. 27, Rn. 7. Ismer / Sailer, in: IStR 2003, 622, 624.

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vollstreckt den Steueranspruch wie einen eigenen Anspruch. Er wendet demnach für die Vollstreckung des fremden Steueranspruchs des anderen Staats das eigene Vollstreckungsrecht für Steuerschulden an. Art. 27 Abs. 8 c) OECD-MA enthält eine Subsidiaritätsklausel. Die Amtshilfe wird erst geschuldet, wenn der andere Vertragsstaat alle angemessenen Maßnahmen zur Erhebung oder Sicherung, die nach seinen Gesetzen oder seiner Verwaltungspraxis möglich sind, ausgeschöpft hat. Art. 26 der deutschen DBA-Verhandlungsgrundlage, der die Amtshilfe regelt, enthält keine von den hier aufgezeigten Regelungen des Art. 27 OECD-MA abweichenden Klauseln. Die DBA-Regelungen in Art. 27 OECD-MA erfordern nicht ausdrücklich, dass die beizutreibende Forderung nicht angefochten sein darf. Jedoch ist wie nach dem EUBeitrG notwendig, dass die Voraussetzungen für die Vollstreckung des ersuchenden Staats gegeben sind. Hinzu kommt, dass der Steueranspruch nach dem Recht des Ursprungsstaates vollstreckbar sein muss. Dies bedeutet, dass nach deutschem Recht kein Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung entfalten darf, die die innerstaatliche Vollstreckung verhindern würde. Die Vorschrift ist insoweit weiter als das EUBeitrG. Eine angefochtene Forderung, gegen die Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung entfalten, kann nach Art. 27 OECD-MA Gegenstand eines Beitreibungsersuchens sein.429 § 10 Abs. 1 Nr. 2 EUBeitrG steht einem Betreibungsersuchen bezüglicher einer angefochtenen Forderung auch bei fehlender aufschiebender Wirkung entgegen, da die Vorschrift an die Anfechtung und nicht an deren Wirkung anknüpft. Insofern bleibt auch zwischen EU-Mitgliedstaaten ein Anwendungsbereich für Beitreibungshilfe nach den DBA-Vorschriften. Die in Art. 27 Abs. 8 c) OECD-MA vorhandene Subsidiaritätsklausel ist weiter gefasst als die des § 10 Abs. 2 EUBeitrG. § 10 Abs. 2 EUBeitrG lässt Ausnahmen von der Subsidiarität zu. Hierbei genügt eine Offensichtlichkeit des Fehlens von vollstreckungsfähigen Vermögensgegenständen in der BRD oder nicht ausreichender inländischer Vollstreckungsmasse. Liegt eine solche Offensichtlichkeit vor, wird die Subsidiarität ausgehebelt, ohne dass zuvor die Vollstreckung im Inland durch deutsche Behörden versucht werden muss. Art. 27  Abs. 8 c)  OECD-MA sieht eine solche Ausnahme nicht vor. Der Ursprungsstaat muss zunächst erfolglos vollstreckt haben. Insofern ist die MA-Regelung enger als die Ausgestaltung der Beitreibungshilfe nach dem EUBeitrG, sodass diese diesbezüglich zwischen den EU-Mitgliedstaaten Vorrang genießt. In Bezug auf die Subsidiaritätsklauseln ergibt sich keine weitergehende Amtshilfe auf Grundlage des OECD-MA. § 10 EUBeitrG stellt keine Anforderungen an die Ansässigkeit des Vollstreckungs­ schuldners. Ein Ansässigkeitserfordernis ist ebenfalls nicht in Art. 27 OECD-MA vorgesehen. Die DBA, die insofern auf die Ansässigkeit in einem Vertragsstaat abstellen, sind enger als § 10 EUBeitrG. Dasselbe gilt für DBA, die lediglich Beitrei 429 So auch OECD-Kommentar (MA-Kommentar 2014), Art. 27, Rn. 16; a. A. Ismer / Sailer, in: IStR 2003, 622, 624.

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

bungshilfe für Abkommenssteuern gewähren. § 10 EUBeitrG ist nach § 1 Nr. 1 EUBeitrG für alle Steuerarten anwendbar. Voraussetzung ist lediglich, dass die BRD der Vollstreckungsgläubiger der Forderung ist. Es sind nur wenige Abgaben, wie beispielsweise Sozialabgaben, aus dem Anwendungsbereich der EUBeitrG ausgenommen, vgl. § 1 Abs. 3 EUBeitrG. Eine Ausnahme für steuerliche Ansprüche besteht nicht. Darüber hinaus ermächtigen die DBA-Regelungen des OECD-MA den ersuchenden Staat nicht zu Amtshandlungen auf dem Territorium des anderen Vertragsstaats und als Minus zu den nach §§ 17 ff.  EUBeitrG zulässigen Vorgehen auch nicht zur Mitwirkung oder Anwesenheit von Vollstreckungsbeamten bei der Durchführung der Vollstreckung beim ersuchten Staat.430 (5) Verhältnis des EUBeitrG zu den europäischen DBA Insgesamt sind derzeit 27 Länder Mitgliedstaaten in der EU.431 Deutschland hat mit allen 27 Mitgliedsstaaten DBA auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen abgeschlossen.432 Für 13 dieser Länder enthält das jeweilige DBA keine Regelung zur Amtshilfe.433 Für diese Länder kann sich automatisch aus einem DBA keine weitergehende Amtshilfemöglichkeit über die Regelungen des EUBeitrG hinaus ergeben. Die von Deutschland mit einzelnen EU-Mitgliedsstaaten abgeschlossenen DBA enthalten teilweise eine Regelung, die dem Art. 27 OECDMA vollständig entspricht. Dies trifft auf DBA mit fünf EU-Mitgliedstaaten zu.434 Die weiteren deutschen DBA mit EU-Mitgliedsstaaten enthalten von Art. 27 OECD-MA punktuell oder weitreichender abweichende Regelungen. Einige DBA sind im Folgenden mehrfach erwähnt, da sie in einigen Punkte von dem Wortlaut des Art. 27 OECD-MA abweichen. So enthalten vier DBA eine Regelung, nach derer Amtshilfe nur ersucht werden kann, wenn der Steuerpflichtige in einem der beiden Vertragsstaaten ansässig ist.435 Das EUBeitrG stellt hieran keine Anforderungen, sodass diese Regelungen

430

Engelschalk, in: Vogel / Lehner, DBA, Art. 27, Rn. 15. https://de.wikipedia.org/wiki/Mitgliedstaaten_der_Europ%C3%A4ischen_Union, Stand 20. 02. 2020 nach dem Austritt Großbritanniens. 432 https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_deutschen_Doppelbesteuerungsabkommen#Deut sche_Doppelbesteuerungsabkommen_auf_dem_Gebiet_der_Steuern_vom_Einkommen_und_ vom_Verm%C3%B6gen, Stand 17. 04. 2020. 433 Engelschalk, in: Vogel / Lehner, DBA, Art. 27, Rn. 11. 434 So in 16 der deutschen DBA, hiervon 5 mit EU-Mitgliedstaaten, vgl. Engelschalk, in: Vogel / ​Lehner, DBA, Art. 27, Rn. 11: Bulgarien, Irland, Niederlande (derzeit im Entwurf), Polen, Spanien. 435 Belgien, Dänemark, Frankreich, Schweden, vgl. Engelschalk, in: Vogel / Lehner, DBA, Art. 27, Rn. 11. 431

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nach der Anwendungsvorschrift des § 22 EUBeitrG Vorrang genießen. Es ergibt sich keine weitergehende Amtshilfe aus diesen DBA. Acht DBA fordern für das Beitreibungsersuchen, dass Steuern im Sinne des DBA vorliegen.436 Sie ermöglichen nur Amtshilfe für Abkommenssteuern. Nach Art. 2 Abs. 1 OECD-MA sind Steuern auf das Einkommen und Vermögen von dem bilateralen Vertrag erfasst. Die Versicherungsteuer fällt nicht unter den Anwendungsbereich, sodass sich insofern ein weniger umfassender Anwendungsbereich für die Beitreibungshilfe auf Grundlage dieser DBA ergibt und die Regelungen des EUBeitrG wegen ihres weitergehenden Anwendungsbereichs Vorrang genießen. Sechs DBA mit EU-Mitgliedsstaaten ermöglichen Vollstreckungshilfe nur bei rechtskräftigen Vollstreckungstiteln.437 Hier ergibt sich kein weitergehender Anwendungsbereich der DBA-Amtshilfe für EU-Mitgliedstaaten. Insofern ist die Regelung enger als die Ausgestaltung der Beitreibungshilfe des EUBeitrG. Ferner verzichten drei DBA mit EU-Mitgliedsstaaten auf die in Art. 27 Abs. 8 OECD-MA vorgesehene Subsidiarität der Amtshilfe gegenüber der eigenen Vollstreckung im Inland.438 In diesen Fällen muss nicht vor Ersuchen der Beitreibungshilfe des Vertragsstaats erfolglos im Inland vollstreckt worden sein. Diesbezüglich bietet die Regelung in diesen vier DBA eine weitergehende Amtshilfe, als diese in dem EUBeitrG vorgesehen ist. Dies ist jedoch nur der Fall, wenn die Ausnahmen von der Subsidiarität der Amtshilfe in § 10 Abs. 2 EUBeitrG nicht vorliegen. Insoweit ist ein Anwendungsbereich für die DBA-Vorschrift eröffnet. Insgesamt richtet sich die Beitreibungshilfe zwischen EU-Mitgliedstaaten demnach grundsätzlich nach § 10 EUBeitrG.439 Bei angefochtenen Vollstreckungstiteln, gegen die Rechtsbehelfe nach deutschem Recht keine aufschiebende Wirkung entfalten, besteht Anwendungsraum für Art. 27 OECD-MA bzw. die jeweiligen DBARegelungen mit dem Mitgliedstaat, der um Beitreibungshilfe ersucht wird. Dies gilt nicht für die sechs Mitgliedstaaten, deren DBA sogar einen rechtskräftigen Vollstreckungstitel fordern.440 Darüber hinaus richtet sich die Beitreibungshilfe nach den Regelungen der DBA mit Belgien, Frankreich und Schweden, sofern die Vollstreckung im Inland noch nicht erfolglos stattgefunden hat und keine der Ausnahmetatbestände für die Subsidiarität der Beitreibungshilfe nach dem EUBeitrG gegeben sind. Für Frankreich und Schweden gilt dies nur, sofern schon ein rechtskräftiger Vollstreckungstitel vorliegt. Für Belgien und Schweden findet dies nur 436

Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, vgl. Engelschalk, in: Vogel / Lehner, DBA, Art. 27, Rn. 11. 437 Dänemark, Finnland, Frankreich, Italien, Österreich, Schweden, vgl. Engelschalk, in: Vogel / Lehner, DBA, Art.  27, Rn.  11. 438 Belgien, Frankreich, Schweden, vgl. Engelschalk, in: Vogel / Lehner, DBA, Art. 27, Rn. 11. 439 So auch Engelschalk, in: Vogel / Lehner, DBA, Art. 27, Rn. 7; BMF-Schreiben vom 23. 01. 2014, BStBl. I 2014, 188, Tz. 1. 2. 4. 440 Dänemark, Finnland, Frankreich, Italien, Österreich, Schweden, vgl. Engelschalk, in: Vogel / Lehner, DBA, Art.  27, Rn.  11.

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Anwendung, wenn die Vollstreckung gegen einen in einem der Vertragsstaaten ansässigen Steuerpflichtigen erfolgt und für Belgien und Frankreich ebenfalls nur, sofern es sich nicht um eine Versicherungsteuerlast handelt. (6) Verhältnis des EUBeitrG zu den Amtshilferegelungen der Konvention des Europarats und der OECD in Steuersachen Im Gleichlauf zur Subsidiarität der DBA-Regelungen für die innereuropäische Beitreibungshilfe sind die Regelungen zur Amtshilfe der Konvention des Europarats und der OECD zur gegenseitigen Amtshilfe in Steuersachen vom 25. 01. 1988/27. 05. 2010 subsidiär, sofern sie nicht eine weitergehende Amtshilfe ermöglichen als § 10 EUBeitrG, vgl. § 22 S. 1 EUBeitrG. Neben 22 Mitgliedstaaten der EU sind noch 14 weitere Staaten Mitglied im OECD.441 Das Abkommen ist nach Art. 2 Abs. 1 a (i) für Einkommensteuer anwendbar. Versicherungsteuer ist eine Aufwandsteuer.442 Art. 2 Abs. 1 b (iii) (D) eröffnet den Anwendungsbereich auch für Aufwandsteuern. Art. 11–16 der Konvention regeln die Beitreibungshilfe. Hierfür ist nach § 11 Abs. 1 der Konvention ein Ersuchen des Vollstreckungsgläubigers notwendig. Die Steuerforderung wird bei der Beitreibungshilfe durch den ersuchten Staat wie eine innerstaatliche Steuerforderung desselben behandelt, vgl. § 11 Abs. 1 der Konvention. Die Steuerforderung darf nicht vollstreckt werden, sofern diese angefochten ist. Ob der Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung entfaltet ist hierbei bedeutungslos. Es ist nur seine Einlegung entscheidend. Hiervon sind nach § 11 Abs. 2 der Konvention abweichende Vereinbarungen der Konventionsstaaten möglich. Ist der Vollstreckungsschuldner nicht in dem ersuchten Staat ansässig, muss die Steuerforderung für die Zulässigkeit der Beitreibungshilfe bestandskräftig sein. Nach Art. 27 der Konvention beschränkt diese nicht das Recht aus anderen Rechtsgrundlagen Amtshilfe zu ersuchen und wird von solchen Rechtsgrundlagen nicht beschränkt. Art. 27 Abs. 2 der Konvention stellt klar, dass Mitgliedstaaten der EU die Amtshilfe auf Grundlage der Konvention ersuchen können, wenn diese eine umfassendere Zusammenarbeit gestattet als die europarechtlichen Grundlagen. Die Konvention gewährt jedoch inhaltlich keine weitergehende Möglichkeit, Beitreibungshilfe zu erlangen, sodass für Ersuchen an Mitgliedstaaten der EU die Regelung des EUBeitrG Vorrang hat.

441

Vgl. http://www.oecd.org/berlin/dieoecd/, Stand 14. 01. 2020, 36 Mitgliedstaaten, hiervon 22 europäische Staaten: Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Schweden, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechische Republik, Ungarn; hiervon 14 Nicht-EU-Mitgliedstaaten: Australien, (nach Brexit) Großbritannien, Chile, Island, Israel, Japan, Kanada, Korea, Mexiko, Neuseeland, Norwegen, Schweiz, Türkei, USA. 442 Rüsken, in: Klein, AO, § 169, Rn. 17.

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(7) Fazit: Vergleichbarkeit bei Vollstreckungsschuldnern im EU-Ausland Die Regelungen zur Beitreibungshilfe zwischen den EU-Mitgliedstaaten stellen den deutschen Finanzbehörden für die Vollstreckung von Haftungsschulden im EU-Ausland ein mit der inländischen Vollstreckung vergleichbares Instrumentarium zur Verfügung. Auf Ebene des Auswahlermessens kann sich bezüglich der Vollstreckung in EU-Mitgliedstaaten keine Auswirkung ergeben. Durch § 18 i. V. m. § 17 des EUBeitrG werden deutsche Finanzbeamte zur Mitwirkung an der Vollstreckung im Ausland berechtigt. Entfaltet ein Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung, besteht darüber hinaus die Möglichkeit, Beitreibungshilfe auf Grundlage der DBA mit den Mitgliedstaaten zu erlangen, sofern ein solches mit dem etwaigen Mitgliedstaat abgeschlossen wurde und keine abweichenden Regelungen hierzu enthält. Nach den vom OECD-MA abweichenden Regelungen in den DBA mit Dänemark, Finnland, Frankreich, Italien, Österreich und Schweden ist in diesen Fällen keine Vollstreckungshilfe möglich, da diese DBA einen rechtskräftigen Vollstreckungstitel erfordern. In diesen Fällen ist die Vollstreckung in den Mitgliedstaaten nicht unter den gleichen Voraussetzungen möglich wie in Deutschland. Zu beachten ist hierzu jedoch, dass über § 12 EUBeitrG bei angefochtenen Forderungen der andere Mitgliedstaat um Sicherungsmaßnahmen ersucht werden kann, um die spätere Zwangsvollstreckung sicherzustellen. Bei Vollstreckungsersuchen an die Mitgliedstaaten Dänemark, Finnland, Frankreich, Italien, Österreich und Schweden besteht demzufolge auch kein Vollstreckungsdefizit gegenüber einer im deutschen Inland nach deutschem Recht durchzuführenden Vollstreckung, wenn ein eingelegter Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung entfaltet. Dasselbe gilt für EU-Mitgliedstaaten mit denen Deutschland kein DBA abgeschlossen hat, was eine Regelung zur Vollstreckungshilfe beinhaltet. Hiervon betroffen sind Estland, Griechenland, Kroatien, Lettland, Litauen, Malta, Portugal, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern. Die Möglichkeit, Sicherungsmaßnahmen auf Grundlage des § 12 EUBeitrG zu erwirken, führt dazu, dass die Vollstreckung effektiv in gleicher Weise möglich ist. (8) Beitreibungshilfe von Drittstaaten Für Drittstaaten richtet sich die Beitreibungshilfe nach den Regelungen in den jeweiligen DBA, neben die gleichberechtigt die Regelung der Konvention des Europarats und der OECD zur gegenseitigen Amtshilfe in Steuersachen tritt, wenn das jeweilige Land Mitglied der OECD ist.443

443

Engelschalk, in: Vogel / Lehner, DBA, Art. 27, Rn. 8.

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

Die Drittstaaten können für Zwecke der Identifizierung eines Vollstreckungsdefizits auf erster Stufe in drei Gruppen eingeteilt werden. Die Gruppe mit dem gravierendsten Vollstreckungsdefizit sind Länder, mit denen weder ein DBA mit Amtshilferegelung noch eine Übereinkunft zur Beitreibungshilfe in Steuersachen besteht. In Ländern aus dieser Gruppe ist keine mit der inländischen Vollstreckung vergleichbare Vollstreckung möglich. Insbesondere besteht kein Anspruch auf Beitreibungshilfe bei der Vollstreckung der inländischen Steuerforderung, sodass ggf. mit einer Erfolglosigkeit etwaiger Vollstreckungsersuchen an diese Länder gerechnet werden muss. Die DBA mit Costa Rica und den USA444 beispielsweise sehen eine Amtshilfe bei der Vollstreckung nur zur Verhinderung von Abkommensmissbräuchen vor.445 In diesen Fällen braucht keine Betrachtung des inländischen Vollstreckungsrechts in Steuersachen auf zweiter Stufe mehr erfolgen, da sich das Vollzugsdefizit schon auf erster Stufe ergibt. Die zweite Gruppe besteht aus Ländern, mit denen ein DBA oder eine sonstige Übereinkunft besteht, die eine Klausel zur Beitreibungshilfe in Steuersachen beinhalten. Qualitativ entspricht diese Regelung jedoch nicht der in Art. 27 OECD-MA vorhandenen Regelung. Es bestehen mehr oder weniger gravierende Abweichungen von dieser Musterregelung. Demnach ist die Vollstreckung in das Vollstreckungszielland der Gruppe 2 ggf. nicht in vergleichbarer Weise durchführbar, wie eine inländische Vollstreckung. Für die Länder der Gruppe 2 ist zur Identifizierung von Vollstreckungsdefiziten eine Einzelfallbetrachtung notwendig. Hierbei ist zu untersuchen, inwiefern die vorhandene Beitreibungshilferegelung mit der BRD von Art. 27 OECD-MA abweicht. Nachdem die Abweichung von der Regelung im Musterabkommen qualifiziert wurde, kann in einem zweiten Schritt wertend betrachtet werden, ob die Abweichung so gravierend ist, dass keine mit der inländischen Vollstreckung vergleichbare Vollstreckungshilfe mehr gegeben ist. Nach dem Ergebnis dieser Betrachtung kann das Land der Gruppe 2 entweder der Gruppe 1 oder der Gruppe 3 zugeordnet werden. In die Gruppe 2 ist nur das DBA mit Kanada einzuordnen. Da nach den dortigen Regelungen nur rechtskräftige Vollstreckungstitel für die Beitreibungshilfe zugelassen sind und dies im Gegensatz zur inländischen Vollstreckung zu erheblichen Benachteiligungen führt, wäre Kanada der Gruppe 1 zuzuordnen. Kanada ist jedoch Mitglied im OECD. Die Beitreibungshilfe nach der Konvention des Europarats und der OECD zur gegenseitigen Amtshilfe in Steuersachen vom 25. 01. 1988/27. 05. 2010 ist zumindest bei Ansässigkeit im ersuchten Staat möglich. Lediglich bei fehlender Ansässigkeit ist keine Vollstreckungshilfe möglich, solange die Forderung nicht bestandskräftig ist. In diesen Fällen ist die Vollstreckung in Kanada nicht unter den gleichen Voraussetzungen möglich wie in Deutschland. Bei fehlender Ansässigkeit des Vollstreckungsschuldners in Kanada und fehlender Bestandskraft des Bescheids ist Kanada der Gruppe 1 zuzuordnen. Im Übrigen gehört Kanada zur Gruppe 3. 444 445

Derzeit noch im Entwurf. Engelschalk, in: Vogel / Lehner, DBA, Art. 27, Rn. 11.

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Die dritte Gruppe besteht aus Ländern, mit denen die BRD ein DBA oder eine sonstige Übereinkunft abgeschlossen hat, die eine mit Art. 27 OECD-MA übereinstimmende Regelung enthält. In diese Vollstreckungszielländer ist eine mit der inländischen Vollstreckung vergleichbare Vollstreckung möglich. Folgerichtig darf das Finanzamt in diesen Fällen die Ansässigkeit des Vollstreckungsschuldners nicht bei Ausübung des Auswahlermessens berücksichtigen. Dies betrifft elf DBA mit Albanien, Algerien, Georgien446, (nach Brexit) Großbritannien, Liechtenstein, Mauritius, Mexiko, Norwegen447, Oman448, Türkei und Uruguay. Ein im Rahmen des Auswahlermessens zu berücksichtigendes Vollstreckungsdefizit kann sich in Bezug auf außereuropäische Vollstreckungsschuldner ergeben, wenn das DBA mit dem Ansässigkeitsstaat keine Amtshilferegelung vorsieht (Gruppe 1) oder wenn eine vorhandene Amtshilferegelung soweit vom Art 27 OECD-MA abweicht, dass im Einzelfall keine mit der inländischen vergleichbare Vollstreckung möglich ist (Gruppe 2). (9) Vollzugsdefizite aus staatlichen Vollstreckungsregelungen Zu beachten ist ferner, dass sich die Vollstreckung sowohl nach dem E ­ UBeitrG als auch nach Art. 27 OECD-MA bzw. Art. 11 ff. der Konvention des Europarats und der OECD zur gegenseitigen Amtshilfe in Steuersachen vom 25. 01. 1988/​ 27. 05. 2010 nach dem Recht des ersuchten Staats richtet. Eine Überwachung durch deutsche Finanzbeamte ist lediglich bei der Vollstreckungshilfe nach dem EUBeitrG möglich. Es kann sich demnach auf zweiter Stufe auch eine nicht mit der deutschen Vollstreckung in Steuersachen vergleichbare Vollstreckung aus den jeweiligen staatlichen Regelungen zur Vollstreckung ergeben. Demzufolge muss im Einzelfall das Vollstreckungsrecht des Vollstreckungsziellandes mit dem deutschen Vollstreckungsrecht in Steuersachen verglichen werden. (10) Vollzugsdefizite im Einzelfall Wenn die Vollstreckung auf erster und zweiter Stufe vergleichbar mit der inländischen Vollstreckung ohne erhebliche Vollstreckungsdefizit durchgeführt werden kann, so kann sich ein tatsächliches Vollstreckungsdefizit auf dritter Stufe daraus ergeben, dass der eine Haftungsschuldner weniger Vollstreckungsmasse aufweist als der andere in Frage kommende Haftungsschuldner. Dies geht einher mit der Frage, ob die finanzielle Leistungsfähigkeit der Haftungsschuldner im Rahmen des Auswahlermessens betrachtet werden darf.449 446

Derzeit noch im Entwurf. Derzeit noch im Entwurf. 448 Derzeit noch im Entwurf. 449 Vgl. hierzu Kapitel A. II. 4. a) dd). 447

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

cc) Einfluss der zivilrechtlichen Regressaussichten beim Steuerschuldner Die Möglichkeit des Haftungsschuldners beim Steuerschuldner für die entrichtete Haftungsschuld Regress zu nehmen, kann im Rahmen des Ermessens die Entscheidung des Finanzamts über die Auswahl der Haftungsschuldner beeinflussen. Allein aus der vorliegenden Dreieckssituation sind noch keine Schlussfolgerungen für die Ermessensausübung zu ziehen. Andernfalls würde die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners subsidiär gegenüber der Inanspruchnahme des Steuerpflichtigen sein. Ein im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigendes Stufenverhältnis kann nicht allein aus der Notwendigkeit des Regresses beim Steuerpflichtigen erwachsen. Eine allgemeine Subsidiarität der Haftung existiert nicht.450 Dies hindert nicht daran, dass vom Normalfall abweichende Regresserfolgsaussichten sich im Einzelfall auf der Ebene des Auswahlermessens der Finanzverwaltung auswirken können. (1) Zivilrechtliche Regressgrundlage Zuerst stellt sich die Frage, auf welcher Rechtsgrundlage der Haftungsschuldner Regress beim Steuerschuldner erlangen kann. Für den Regress des Haftungsschuldners ist der Zivilrechtsweg eröffnet.451 Die öffentlich-rechtliche Verpflichtung des Haftungsschuldners ist mit der Leistung der Haftungssumme gegenüber dem Finanzamt erledigt.452 Gemäß § 42d Abs. 3 S. 1 EStG sind Steuer- und Haftungsschuldner Gesamtschuldner der Lohnsteuer. Der Rechtsnatur nach ist der Ausgleichsanspruch in Bezug auf die Lohnsteuerhaftung dementsprechend ein Innenausgleich zwischen Gesamtschuldnern453 nach § 426 Abs. 1 BGB bzw. § 426 Abs. 2 BGB i. V. m. dem Anspruch des Finanzamts gegenüber dem Haftungsschuldner aus § 42d  Abs. 1 EStG. Leistet der Steuerschuldner den Regress nicht freiwillig, so muss der Haftungsschuldner den Zivilrechtsweg beschreiten um einen vollstreckungsfähigen Titel zu erlangen.454 Der Natur der Sache nach ist das zivilrechtliche Regressverfahren aufwändiger als das öffentlich-rechtliche Vollstreckungsverfahren, welches die Finanzverwaltung gegenüber dem Steuerschuldner beschreiten kann. Dieser Unterschied darf keine Beachtung im Ermessen finden, weil er de facto zu einer nicht gesetzlich verankerten Subsidiarität der Haftung führen würde. Rechtsgrundlage für den zivilrechtlichen Regress des Haftungsschuldners beim Steuerschuldner ist die jeweilig zwischen beiden abgeschlossene zivilrechtliche 450

Vgl. hier Kapitel A. II. 3. b) cc). Wagner, in: Blümich, EStG, § 42d, Rn. 122. 452 Wagner, in: Blümich, EStG, § 42d, Rn. 123. 453 Wagner, in: Blümich, EStG, § 42d, Rn. 122. 454 Wagner, in: Blümich, EStG, § 42d, Rn. 122 f. 451

II. Festsetzung der Haftungsschuld

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Vereinbarung. Existiert eine solche nicht oder lässt sich aus einer solchen Vereinbarung kein Anspruch herleiten, so kommen auch gesetzliche Anspruchsgrundlagen in Betracht. Bei der Haftung des Arbeitgebers nach § 42d EStG kommt der mit dem Arbeitnehmer geschlossene Arbeitsvertrag als Grundlage für den Regress in Betracht.455 Ein Regress des Arbeitnehmers für die Haftungssumme ist nur möglich, wenn der Arbeitsvertrag ausdrücklich oder nach ergänzender Vertragsauslegung Hinweise darauf enthält, dass der Arbeitnehmer im Innenverhältnis die Lohnsteuer zu tragen hat. Ein Regress ist ausgeschlossen, wenn der Arbeitsvertrag eine wirksame Nettoabrede enthält.456 Eine „Ohne-Rechnung-Abrede“ steht einer wirksamen Nettoabrede nicht gleich.457 Den Arbeitgeber trifft bei Letzterem keine Pflicht, die Lohnsteuer im Innenverhältnis zum Arbeitnehmer zu tragen. Verzichtet der Arbeitgeber bei bestehendem Anspruch auf den Lohnsteuerregress beim Arbeitnehmer, so wendet er erneut Arbeitslohn zu. Infolgedessen entsteht Lohnsteuer auf Lohnsteuer im Zeitpunkt der tatsächlichen Zahlung des Arbeitgebers an das Finanzamt.458 Dies gilt nicht, wenn der Rückgriff aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unterbleibt bzw. erfolglos ist.459 In der Praxis wird man selten auf eine ausdrückliche Regelung zum Lohnsteuerregress in Arbeitsverträgen stoßen. Wird das Entgelt ohne Hinweis auf die Lohnsteuer vereinbart, so ist nach der Verkehrssitte davon auszugehen, dass von dem vereinbarten Entgelt die Lohnsteuer einbehalten und abgeführt wird. Im Zweifel sollte demnach eine Bruttovereinbarung vorliegen. Nur wenn ausdrücklich geregelt ist, dass die auf das vereinbarte Entgelt anfallende Lohnsteuer vom Arbeitgeber zusätzlich zur vereinbarten Gehaltszahlung abzuführen ist, entspricht das tatsächlich an den Arbeitnehmer zu zahlende Gehalt dem Betrag aus dem Arbeitsvertrag. Die Vereinbarung eines solchen Nettogehalts sollte in der Praxis die Ausnahme sein. Die Ausführungen gelten entsprechend für die Versicherungsteuer. § 7 Abs. 8 S. 1 VersStG ordnet die Gesamtschuldnerschaft zwischen Steuerschuldner, Haftungsschuldner und Entrichtungsschuldner an. Rechtsgrundlage für den Regress ist der Versicherungsvertrag, sofern ein solcher zwischen dem Haftungsschuldner und dem Steuerschuldner besteht. Ist der Haftungsschuldner ein Dritter außerhalb des Versicherungsverhältnisses, so gelten die Ausführungen des folgenden Absatzes zur Kapitalertragsteuer entsprechend. Für die Kapitalertragsteuerhaftung nach § 44 Abs. 5 EStG wird nicht gesetzlich angeordnet, dass Steuer- und Haftungsschuldner Gesamtschuldner sind. Die Gesamtschuld460 ergibt sich aus dem Nebeneinandertreten von Steuer – und Haftungsanspruch nach § 44 Abs. 1 S. 1 AO. Der Haftungsschuldner hat dementsprechend 455

Wagner, in: Blümich, EStG, § 42d, Rn. 122. Wagner, in: Blümich, EStG, § 42d, Rn. 122. 457 Wagner, in: Blümich, EStG, § 42d, Rn. 122, m. w. N. 458 Wagner, in: Blümich, EStG, § 42d, Rn. 130. 459 Wagner, in: Blümich, EStG, § 42d, Rn. 130. 460 Lindberg, in: Blümich, EStG, § 44, Rn. 31. 456

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

vor Entrichtung der Haftungsschuld an das Finanzamt einen Freistellungsanspruch gegen den Steuerschuldner, der sich mit Zahlung der Haftungssumme an das Finanzamt in einen Ersatzanspruch in Form eines Zahlungsanspruchs wandelt. Zivilrechtliche Ermächtigungsgrundlage hierfür ist § 426 Abs. 1 BGB bzw. § 426 Abs. 2 BGB i. V. m. der Steuerforderung des Finanzamts gegenüber dem Steuerpflichtigen, die im Wege der Legalzession auf den Haftungsschuldner übergeht. Selbiges gilt ebenfalls für die Haftung des Bauleistungsempfängers für die Bauabzugsteuer sowie die Haftung nach § 50a Abs. 5 S. 4 EStG. Bei der Bauabzugsteuer ist ebenfalls zu beachten, dass der Bauleistungsvertrag eine Nettoabrede enthalten kann. Dies sollte jedoch nach der Verkehrssitte wie bei der Lohnsteuerregelung im Arbeitsvertrag die Ausnahme darstellen und einer gesonderten, ausdrücklichen Regelung bedürfen. § 44 AO enthält keine Regelung zur Verteilung der Gesamtschuld im Innenverhältnis. Gemäß § 426 Abs. 1 S. 1 BGB sind die Gesamtschuldner bei zivilrechtlicher Grundlage im Innenverhältnis zu gleichen Teilen verpflichtet, soweit nicht ein abweichender Ausgleich im Innenverhältnis vereinbart ist. Diese Grundsatzregelung ist nicht auf den Gesamtschuldnerregress zwischen Steuer- und Haftungsschuldner übertragbar. Auf Grund der Systematik der steuerrechtlichen Haftung, muss die Steuerbelastung effektiv beim Steuerschuldner eintreten.461 Der Haftungsschuldner wird nur sekundär zur Sicherung der Steuerlast in Anspruch genommen,462 wobei die sekundäre Inanspruchnahme nicht als subsidiäre Inanspruchnahme verstanden werden darf.463 Demnach kann der Rechtsgedanke des § 426 Abs. 1 S. 1 BGB nicht auf § 44 AO übertragen werden. Im Innenverhältnis zwischen Steuer- und Haftungsschuldner schuldet der Steuerschuldner 100 % der Steuerlast und hat demzufolge vollen Regress gegenüber dem Haftungsschuldner zu leisten. (2) Zusammenfassung Im Regelfall ist von einem funktionierenden Regress des Haftungsschuldners gegenüber dem Steuerschuldner auszugehen. Hierfür bestehen zivilrechtliche Regelungen, die einen solchen Regress ermöglichen. Das zivilrechtliche Prozess­risiko sollte bei Ausübung des Auswahlermessens keine Berücksichtigung finden. Der Haftungsschuldner ist in allen hier betrachteten Fällen der Abzugsteuer eine vertragliche Vereinbarung mit dem Steuerschuldner eingegangen. Lediglich bei der Versicherungsteuer muss kein Versicherungsvertrag zwischen dem Steuer- und dem Haftungsschuldner vorliegen. Sofern der Haftungsschuldner nicht personenidentisch mit dem Versicherer ist, nimmt der Haftungsschuldner das Versicherungsentgelt entgegen oder erhält ein Entgelt für eine Versicherung für 461

Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  15. Halaczinsky, Die Haftung im Steuerrecht, 4. Auflage 2013, S. 26. 463 Siehe Kapitel A. II. 3. b) cc). 462

II. Festsetzung der Haftungsschuld

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fremde Rechnung. Die Haftungsschuldner haben sich damit auch in dieser Konstel­ lation sehenden Auges in die vermeintlich in Zukunft entstehende Regresssituation mit dem Steuerschuldner begeben und sich dementsprechend ihren Regresspartner selbstständig ausgesucht. Demnach muss auch der Haftungsschuldner das zivilrechtliche Regressrisiko tragen, sofern die Forderung gegenüber dem Steuerschuldner nicht erfolgreich geltend gemacht werden kann. Die Privatautonomie rechtfertigt die öffentlich-rechtliche Unbeachtlichkeit des Prozessrisikos. Ferner sollte für mehrere Haftungsschuldner in Bezug auf dieselbe Primärsteuerschuld stets dasselbe Problem des nicht funktionierenden Regresses beim Steuerschuldner bestehen, sodass das Finanzamt in diesen Fällen keine auf Grund des Prozessrisikos begründete Ermessensentscheidung fällen kann. Lediglich wenn dies in besonders gelagerten Fällen nicht zutrifft, kann im Einzelfall das besondere Prozessrisiko eines Haftungsschuldners im Rahmen des Auswahlermessens Beachtung finden. dd) Haftungsschuldnerbezogene Aspekte Der Grad des Verschuldens der in Betracht kommenden Haftungsschuldner kann in die Auswahlermessensentscheidung des Finanzamts einbezogen werden.464 Die finanzielle Leistungsfähigkeit bzw. das Realisationsrisiko des Haftungsanspruchs können ebenfalls beachtet werden.465 Gesellschaftsrechtliche oder persönliche Umstände können im Einzelfall ein geeignetes Auswahlkriterium zwischen mehreren Haftungsschuldnern sein.466 c) Begründung der Ermessensentscheidung Soweit die Finanzbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln oder zu entscheiden, prüft das Finanzgericht neben dem Vorliegen der Tatbestandsmerkmale der Ermächtigungsgrundlage auch, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde, § 102 S. 1 FGO. Hierbei ersetzt das Finanzgericht das Ermessen der Finanzbehörde nicht.467 Es darf nur prüfen, ob der Finanzverwaltung bei der Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens Ermessensfehler unterlaufen sind.468

464

Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 49; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 60a. Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  38. 466 Vgl. hierzu Beispiele in Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 61; Boeker, in: Hübschmann / ​ Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  38. 467 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  64. 468 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  64. 465

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

Gemäß § 102 S. 2 FGO ist es zulässig, dass das Finanzamt die Ermessenserwägen im finanzgerichtlichen Verfahren ergänzt. Dies setzt jedoch voraus, dass der Haftungsbescheid in seiner Begründung schon mit Ermessenserwägungen versehen war, da andernfalls erstmals im finanzgerichtlichen Verfahren Ermessen ausgeübt werden würde.469 Auch ein Auswechseln der Ermessensgründe ist über § 102 S. 2 FGO nicht möglich.470 Das Nachschieben von Gründen hinsichtlich der Ermessenserwägungen nach § 102 S. 2 FGO ist nur insofern zulässig, als der Haftungsbescheid dadurch nicht in seinem wesentlichen Inhalt geändert wird.471 Der Austausch der zugrunde liegenden Haftungsnorm oder der Steuerschuld auf Primärebene führt zu einer solchen wesentlichen Änderung.472 Der Austausch der Haftungsnorm führt auch zum Austausch des zugrunde liegenden Sachverhalts, der für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners maßgeblich ist. Der Austausch der Primärschuld führt wegen der Akzessorietät der Haftung zu einer vollständigen Wesensänderung des Haftungsbescheids. In beiden Fällen liegt eine wesentliche Änderung der wesensgebenden Komponenten des Haftungsbescheids vor. Eine Änderung dieser Komponenten kann nur bei Vorliegen der Voraussetzungen einer Änderungsvorschrift (§§ 129 ff. AO) oder bei Vorliegen der Voraussetzungen für eine Umdeutung (§ 128 AO) erfolgen. Sie ist nicht von dem Nachschieben einer Begründung nach § 102 S. 2 FGO gedeckt. Es soll nach der Rechtsprechung genügen, wenn für das Auswahlermessen zwischen Steuerschuldner und Haftungsschuldner auf die Ansässigkeit einer der Beteiligten im Ausland verwiesen wird.473 Dies kann jedoch nur in den Fällen zutreffend sein, in denen eine Ansässigkeit eines Beteiligten im Ausland dazu führt, dass die Vollstreckung des Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis gegenüber diesem Beteiligten erheblich schwerer ist, als dies bei der Vollstreckung im Inland der Fall wäre.474

469 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 98: Anders als die auf die Merkmale des Tatbestands anfallende Begründung, kann die Darlegung der Ermessenserwägungen nicht nach § 126 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 AO bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz des finanzgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden. 470 Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  98. 471 BFH, Urteil vom 30. 11. 1978 – V R 29/73, BStBl. II 1979, 352, 354; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  102. 472 BFH, Urteil vom 30. 11. 1978 – V R 29/73, BStBl. II 1979, 352, 354. 473 BFH, Beschluss vom 18. 03. 2009  – I B 210/08, BFH / NV 2009, 1237, BeckRS 2009, 25015092, Tz. II. 2. c) bb) aaa). 474 Vgl. hierzu Kapitel A. II. 4. b) bb).

III. Erhebung der Haftungsschuld

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III. Erhebung der Haftungsschuld Gemäß § 219 S. 1 AO darf der Haftungsschuldner auf Zahlung nur in Anspruch genommen werden, soweit die Vollstreckung in das bewegliche Vermögen des Steuerschuldners ohne Erfolg geblieben ist oder anzunehmen ist, dass die Vollstreckung aussichtslos sein würde. Die Zahlungsaufforderung im Sinne des § 219 AO stellt ein Leistungsgebot nach § 254 AO dar.475 Haftungsbescheid und Zahlungsaufforderung stehen nicht in einem Grundlagen-Folgebescheid-Verhältnis.476 Die Zuständigkeit für den Erlass der Zahlungsaufforderung richtet sich wie die Zuständigkeit für den Erlass des zugrunde liegenden Haftungsbescheids nach § 24 AO.477 Zuständig ist demnach das Finanzamt, in dessen Bezirk der Anlass für den Erlass der Zahlungsaufforderung aufgetreten ist. Dies führt zu einem Gleichlauf der Zuständigkeit für den Erlass von Haftungsbescheid und Zahlungsaufforderung. So kann die den Haftungsbescheid erlassende Finanzbehörde diesen auch gleichzeitig mit der Zahlungsaufforderung versehen.478 Um diese Verbindung zu ermöglichen, ist es notwendig, dass die Finanzbehörde auch örtlich für den Erlass beider Verwaltungsakte zuständig ist. Die Zahlungsaufforderung ist wie der Haftungsbescheid ein Steuerverwaltungsakt aber kein Steuerbescheid.479 Gegen die Zahlungsaufforderung ist ein separater Einspruch nach § 347 Abs. 1 Nr. 1 AO statthaft, in dem keine Einwendungen in Bezug auf den Haftungsbescheid selbst geltend gemacht werden können.480 Diese Subsidiarität der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners findet nach § 219 S. 2 AO keine Geltung, wenn der zugrunde liegende Haftungsbescheid darauf beruht, dass der Haftungsschuldner gesetzlich verpflichtet war, Steuern einzu­ behalten und abzuführen oder zu Lasten eines anderen zu entrichten. Für alle hier betrachteten Steuerabzugshaftungstatbestände des EStG findet der Ausschluss­ tatbestand des § 219 S. 2 AO Anwendung, sodass keine gesetzliche normierte Subsidiarität im Erhebungsverfahren vorliegt.481

475 Dißars, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 219, Rn. 21; Alber, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 219, Rn. 8. 476 Dißars, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 219, Rn. 21; Alber, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 219, Rn. 10. 477 Dißars, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 219, Rn. 22. 478 Vgl. hierzu § 254 S. 2 AO, der die Verbindung beider Verwaltungsakte ausdrücklich gestattet und in das Ermessen der Finanzbehörde stellt. 479 Dißars, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 219, Rn. 23. 480 Dißars, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 219, Rn. 23; Alber, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 219, Rn. 10. 481 Dißars, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 219, Rn. 17; Alber, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 219, Rn. 36, 44.

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

1. Anwendbarkeit des § 219 S. 2 AO auf die Versicherungsteuer Bei der Versicherungsteuerhaftung ist die Anwendbarkeit von § 219  S. 1 AO anders zu bewerten. Für den Haftungsschuldner nach § 7 Abs. 7 VersStG ist zum einen § 219 S. 1 AO anwendbar. Zum anderen greift für diesen der Ausschluss des § 219 S. 2 AO nicht. § 219 S. 2 AO ist nur anwendbar, wenn der Haftungsschuldner gesetzlich verpflichtet war, Steuern einzubehalten und abzuführen oder zu Lasten eines anderen zu entrichten. Dies trifft nach den Regelungen des Versicherungsteuergesetzes auf den Haftungsschuldner nicht zu. Haftungsschuldner und Entrichtungsschuldner sind bei der Versicherungsteuer personenverschieden. Die Pflicht zur Einbehaltung und Entrichtung der Steuer traf demnach nicht den Haftungsschuldner. Der eindeutige Wortlaut des § 219 S. 2 AO fordert, dass der in Anspruch zu nehmende Haftungsschuldner selbst Entrichtungsschuldner war. Die Begehung der haftungsauslösenden Pflichtverletzung auf dieser Entrichtungsebene rechtfertigt die nach § 219 S. 2 AO für die Fälle der Personenidentität zwischen Entrichtungsund Haftungsschuldner bestehende Aushebelung der Subsidiaritätsregelung in § 219 S. 1 AO. Dies ist für die Versicherungsteuerhaftung nicht gerechtfertigt, da der Fehler vom Entrichtungsschuldner verübt wurde, der mit dem in Haftung zu nehmenden Haftungsschuldner nicht personenidentisch ist. § 219 S. 2 AO ist nicht für die Versicherungsteuerinhaftungsnahme anwendbar. Hierdurch besteht auf Erhebungsebene für die Haftung für Versicherungsteuer eine echte Subsidiarität der Haftung. Die Finanzverwaltung muss sich zunächst an Steuer- und Entrichtungsschuldner halten, bevor sie auf Sekundäreben gegen den Haftungsschuldner vorgehen kann.

2. Anwendbarkeit des § 219 S. 2 AO auf die Bauabzugsteuer Alber hält es für umstritten, ob § 219 S. 2 AO auch für die Bauabzugsteuerhaftung des Bauleistungsempfängers Anwendung findet.482 Balmes vertrat in den Jahren 2001/2002, dass die Bauabzugsteuer keine Steuer im Sinne des § 219 S. 2 AO sei.483 Zur Begründung der Unanwendbarkeit führte er an, dass der Leistungsempfänger keine Steuer einbehalte, sondern er einen Betrag von der Gegenleistung für eine Bauleistung zurückhalte.484 Hierbei ist unverständlich, warum der einzubehaltende und abzuführende Betrag nur bei der Bauabzugsteuer keine Steuer sondern ein Teil der Gegenleistung sein soll. So hält auch der Arbeitgeber einen Teil des Arbeitslohns des Arbeitnehmers ein und führt diesen ab. Selbiges Verfahren liegt auch der Kapitalertragsteuer und 482

Alber, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 219, Rn.  23. Balmes, in: AO-StB 2002, 232, 235. 484 Balmes, in: AO-StB 2002, 232, 235. 483

III. Erhebung der Haftungsschuld

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dem Steuerabzug nach § 50a EStG zugrunde. Für diese Abzugssteuern ist die Anwendbarkeit von § 219 S. 2 AO jedoch nicht fraglich. Der Wortlaut des § 219 S. 2 AO ist auf diese Situationen zugeschnitten. Zwar hat die Bauabzugsteuer keine abgeltende Wirkung und es kommt in jedem Fall zu einer Einkommensteuerveranlagung des Bauleistenden. Der Wortlaut der Norm stellt die abzugebende Bauabzugsteueranmeldung ausdrücklich einer Steueranmeldung gleich. Zutreffender Weise halten andere Vertreter der Literatur § 219 S. 2 AO für die Bauabzugsteuer für anwendbar.485 Die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners sehen sie für die Bauabzugsteuer wegen § 219 S. 2 AO für nicht subsidiär zur Inanspruchnahme des Steuerschuldners an. Andere Vertreter berücksichtigen eine gesetzlich nicht statuierte Subsidiarität auf Ebene des Ermessens.486 Zutreffenderweise findet § 219 S. 2 AO für die Bauabzugsteuer Anwendung, weil der Haftungsschuldner gesetzlich verpflichtet war, Steuern einzubehalten und abzuführen.

3. Ermessensentscheidung Der Erlass des Leistungsgebots steht im Ermessen der Finanzverwaltung.487 Das Auswahl- und Entschließungsermessen hat das Finanzamt schon vor Erlass des Leistungsgebots bei Entscheidung über den Haftungsbescheid ausgeübt.488 Bei der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners auf Sekundärebene hat das Finanzamt technisch gesehen zweimal eine Ermessensentscheidung zu treffen. Zunächst hat sie im Festsetzungsverfahren bei Erlass des Haftungsbescheids ein Auswahl- und Entschließungsermessen, ob sie den Haftungsschuldner in Anspruch nimmt. Vor Erlass des Leistungsgebots steht ihr erneut ein Ermessen zu. Sofern sich die Sachlage zwischen Erlass des Haftungsbescheids und dem Erlass des Leistungsgebots nicht geändert hat, sollte keine abweichende Ermessensausübung bei Erlass des Leistungsgebots möglich sein. Zwar könnte man annehmen, dass beide Verwaltungsakte auf Grund eines anderen Inhalts ggf. abweichende Aspekte im Rahmen des Ermessens erfordern. Jedoch muss das Finanzamt schon bei Erlass des Haftungsbescheids die spätere Inanspruchnahme des Haftungsschuldners betrachten. Die finanzielle Leistungsfähigkeit oder die Effektivität 485

Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 219, Rn. 11; Dißars, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 219, Rn. 17; Rüsken, in: Klein, AO, § 219, Rn. 8; Intemann, in: König, AO, § 219, Rn. 32; Gosch, in: Kirchhof, EStG, § 48a, Rn. 4; Lieber, in: DStR 2001, 1470, 1473. 486 Weiland, in: Frotscher / Geurts, EStG, § 48a, Rn. 9; Naujok, in: Lademann, EStG, § 48a, Rn. 63; Wienbergen, in: Littmann / Bitz / Pust, EStG, § 48a, Rn. 70: mit Verweis auf FM NRW vom 17. 07. 2013, StEK AO 1977, § 191 Nr. 17. 487 Dißars, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 219, Rn. 20; Alber, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 219, Rn. 10, 36. 488 Dißars, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 219, Rn. 19.

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A. Haftungsschuld im Wege des Haftungsverfahrens

einer etwaigen Vollstreckung in das Vermögen des Haftungsschuldners leiten schon bei Erlass des Haftungsbescheids die Ermessensausübung der Finanzverwaltung. Da diese dem Kern nach vollstreckungsbezogenen Aspekte schon bei Erlass des Haftungsbescheids betrachtet werden, bleiben keine spezifischen, erst auf Erhebungsebene zu beachtende Aspekte mehr, die das Finanzamt exklusiv vor Erlass des Leistungsgebots lenken können. Ein Abweichen der Ermessensausübung vor Erlass des Leistungsgebots im Verhältnis zum Erlass des Haftungsbescheids muss demzufolge begründet werden. Andernfalls erscheint das Handeln der Finanzverwaltung nicht folgerichtig, da bei unveränderter Sachlage keine andere Entscheidung sachgerecht sein sollte. Auch bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 219 S. 2 AO kann in manchen Fällen nur die subsidiäre Inanspruchnahme ermessensfehlerfrei sein.489 Dasselbe gilt für die Beachtung der Aussichten der Vollstreckung der Haftungssumme bei Erlass des Haftungsbescheids. Die Vollstreckungsaussichten sind nicht erst bei Erlass des Leistungsgebots auf Ebene des Ermessens zu berücksichtigen. Wenn die Vollstreckung aussichtslos erscheint, sollte dies schon bei Erlass des Haftungsbescheids das Auswahlermessen beeinflussen.490 Eine Berücksichtigung auf Ebene des Erhebungsverfahrens erscheint dann gerechtfertigt, wenn sich die Vollstreckungsaussichten zwischen Erlass des Haftungsbescheids und Erlass des Leistungsgebots verändert haben. Weichen die Vollstreckungsaussichten nachteilig von denjenigen im Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheides ab, ist eine Berücksichtigung im Auswahlermessen auf Erhebungsebene angezeigt. Andersfall dürfte die Berücksichtigung der Vollstreckungsaussichten auf Ebene der Erhebung nicht anders ausfallen, als die Beurteilung derselben im Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheids stattgefunden hat. Darüber hinaus sollte eine alleinige Begründung des Auswahlermessens auf Erhebungsebene mit der ausländischen Ansässigkeit des Steuerschuldners oder eines weiteren Haftungsschuldners zu einem Ermessensfehler führen. Vielmehr muss für die Heranziehung der ausländischen Ansässigkeit für die Begründung des Auswahlermessens positiv festgestellt werden, ob die Beibringung der Steuerlast im Ansässigkeitsland des Steuer- bzw. Haftungsschuldners tatsächlich schwieriger ist als die inländische Vollstreckung.491 Hier ist im Einzelfall ein Vergleich anzustellen und dann das Ermessen entsprechend des Ergebnisses dieses Vergleichs auszuüben.

489

BT-Drs. VI/1982, S. 168. Vgl. hierzu Kapitel A. II. 4. b) bb). 491 Vgl. zu den hierbei zu prüfenden Ebenen Kapitel A. II. 4. b) bb). 490

B. Die Geltendmachung der Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens I. Vorbemerkungen Sofern für eine Steuer eine gesetzliche Anmeldepflicht nach § 150 Abs. 1 S. 3 AO besteht, ist nach § 167 Abs. 1 S. 1 AO eine Festsetzung der Steuer nach § 155 AO nur erforderlich, wenn die Festsetzung zu einer abweichenden Steuer führt oder die ex lege bestehende Anmeldepflicht nicht erfüllt wird.1 § 167 AO kommt erst zur Anwendung, wenn das Finanzamt von der angegebenen Steueranmeldung des Anmeldungsverpflichteten abweichen möchte.2 Der auf Grundlage des § 167 Abs. 1  S. 1 AO erlassene Bescheid wird als Nachforderungsbescheid3, Nacherhebungsbescheid4 oder vereinzelt auch Nachentrichtungsbescheid5 bezeichnet. Alle Bezeichnungsvarianten verdeutlichen, dass auf Grundlage des § 167 Abs.1 S. 1 AO eine zeitlich nachgelagerte Festsetzung der Steuerschuld stattfindet. Die Bezeichnung deutet auf einen Fehler bei der Durchführung des Steuerabzugs im vorgesehenen System hin. Eine vom Entrichtungsschuldner vorzunehmende Handlung ist nicht ordnungsgemäß oder nicht ausgeführt worden. Auf diesen Fehler hin ergeht der Nachforderungsbescheid. Der Nachforderungsbescheid stellt somit einen Bescheid nach fehlerhafter oder fehlender Steueranmeldung dar. Er ist eine Reaktion des Finanzamts auf eine Pflichtverletzung des Entrichtungsschuldners. Besteht eine gesetzliche Verpflichtung zur Anmeldung einer Steuer nach § 150 Abs. 1 S. 3 AO und erfolgt diese Steueranmeldung in ordnungsgemäßer Form mit zutreffendem Inhalt, so steht diese nach § 168 AO einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleich. Ein Nachforderungsbescheid ist mangels Fehler in dem vorge­ sehenen Verfahren nicht notwendig, da keine Pflichtverletzung des Entrichtungsschuldners vorliegt. Für die vorliegend zu betrachtenden Haftungstatbestände liegt dem § 167 Abs. 1 S. 1 AO wie bei dem zuvor in Kapitel A. betrachteten Erlass des Haftungsbe 1

Wolf, Abgabenordnung, 1. Auflage 1977, S. 284. Guth / Ling, Abgabenordnung, 1. Auflage 1981, S. 122. 3 BFH, Urteil vom 17. 02. 2010 – I R 85/08, BStBl. II 2011, 758, 759; Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 167, Rn. 6; Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 167, Rn. 25; von Wedelstädt, in: Kühn / ​ von Wedelstädt, AO, § 167, Rn. 5; Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  7. 4 Oellerich, in: Gosch, AO, § 167, Rn. 55; Drüen, in: DStR Beih. 41/12, 85, 87 f.: Bezeichnung zur Abgrenzung vom Steuerschuldverhältnis des Primärschuldners. 5 FG München, Beschluss vom 7. 4. 2010 – 7 V 508/10, EFG 2010, 1375. 2

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B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

scheids ein Dreiecksverhältnis zugrunde.6 Bei den Steueranmeldetatbeständen in §§ 41a Abs. 1, 45a Abs. 1, 48a Abs. 1 EStG sowie § 73e EStDV für die Steuer­ abzugstatbestände in § 50a EStG und § 7 VersStG fallen Steuerschuldnerschaft und Steueranmeldeverpflichtung auseinander. Der Steueranmeldeverpflichtete ist bei diesen Tatbeständen gleichsam Entrichtungspflichtiger. Er muss die Steuerschuld anmelden und an das Finanzamt abführen. Kommt er dieser Verpflichtung nicht nach, so haftet er für die nicht ordnungsgemäß abgeführte Steuer.7 Seine Entrichtungspflicht wandelt sich in diesem Fall in eine Haftungsschuld um. Im folgenden Kapitel wird die vermeintlich zulässige Geltendmachung der Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens beleuchtet.

1. Gesetzeshistorie der Steueranmeldung Die gesetzeshistorische Betrachtung der Steueranmeldung für Zwecke des § 167 Abs. 1 S. 1 AO in Dreieckskonstellationen ist auf Grund der Normentwicklung in Ausführungen zur Abgabenordnung und solche zu Spezialsteuergesetzen aufzuteilen. a) Historie der Steueranmeldung in der Abgabenordnung aa) Regelungen der RAO von 1919 In der Reichsabgabenordnung von 19198 war keine dem § 167 AO entsprechende Vorschrift vorhanden. Obwohl in der Reichsabgabenordnung keine Regelung zur Nachforderung bei der Abgabe von Steueranmeldungen vorgesehen war, war derselben das Instrument der Abgabe von Steueranmeldungen nicht fremd. 6 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  5; Heuermann, Systematik und Struktur der Leistungspflichtigen im Lohnsteuerabzugsverfahren, S. 75 ff.: Heuermann spricht insofern von drei Rechtsverhältnissen. Für die Bezeichnung dieser bedient er sich der zivilrechtlichen Begrifflichkeiten bei Drei-Personen-Verhältnissen im Schuldrecht. Zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber soll das Deckungsverhältnis bestehen, weil durch diese Verbindung der Tatbestand des Lohnsteuerabzugs ausgelöst wird. Das Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Finanzamt bezeichnet Heuermann als Valutaverhältnis, da der Arbeitnehmer Steuerschuldner gegenüber dem Finanzamt ist. Als drittes Rechtsverhältnis benennt Heuermann das Rechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Finanzamt als Leistungsverhältnis, da hier die Abführung der Steuer erfolgt. Die Aufteilung der Rechtsverhältnisse anhand der zivilrechtlichen Begrifflichkeiten für Dreiecks-Leistungsbeziehungen veranschaulicht das bestehende Dreieck; Kirchhof, Die Erfüllungspflichten des Arbeitgebers im Lohnsteuerverfahren, S. 13 ff.: zum Grundsatzproblem der Verpflichtung des Arbeitgebers als unentgeltliche Indienstnahme, S. 208 ff.: zur Überforderung des Arbeitgebers in der Dreieckssituation; Heuermann, in: StuW 2006, 333. 7 Vgl. hierzu A. II. 3. a). 8 RGBl. 1919, S. 1993 ff.

I. Vorbemerkungen

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§ 168  RAO 19199 definierte Steuererklärungen, als Erklärungen, die nach Vorschrift der Gesetze oder Ausführungsbestimmungen als Unterlage für die Festsetzung von Besteuerungsgrundlagen oder für die Festsetzung einer Steuer dienten. Eine Legaldefinition der Steueranmeldung wie im heutigen § 150 Abs. 1 S. 3 AO war nicht vorhanden. Erwähnung fand die Steueranmeldung in § 168 Abs. 3 RAO 191910. Dort war eine Regelung vorhandenen, nach derer der Steuerpflichtige auf Verlangen der Finanzverwaltung auch bei Anmeldungen versichern musste, dass er die dortigen Angaben nach bestem Wissen und Gewissen gemacht hat. Ebenso waren Regelungen zu Steueranmeldungen in Einzelsteuergesetzen kodifiziert.11 Schon Hensel12 nahm 1933 an, dass Steuern ohne Eingreifen der Finanzverwaltung unmittelbar von Dritten beispielsweise bei Abzugssteuern entrichtet werden können. In diesen Fällen sah Hensel13 die Veranlagung als überflüssig an. Der Erlass eines Steuerbescheids sei in diesen Fällen fakultativ gewesen. Den Steuer­ abzugsverpflichteten soll jedoch eine eigene materiell-rechtliche Verpflichtung zur Abgabe der Anmeldung getroffen haben.14 Eine Regelung wie § 168 AO, die die Wirkungen einer Steueranmeldung normiert, war in der Reichsabgabenordnung 191915 ebenfalls noch nicht vorhanden.16 Insbesondere sah § 82 Abs. 1 RAO 191917 nur eine vorläufige Steuerfestsetzung vor, wenn Sachverhaltsungewissheiten vorlagen. Eine Festsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung kannte die Urform der Reichsabgabenordnung nicht. Nach Oellerich und Heuermann soll § 82 Abs. 2 RAO 191918 der historische Vorgänger des § 164 AO sein.19 Gemäß § 82 Abs. 1 RAO 191920 war eine vorläufige Steuerfestsetzung oder eine Aussetzung der Steuerfestsetzung mit oder ohne Sicherheitsleistung möglich, wenn Ungewissheit bezüglich des Eintritts der Voraussetzungen für die Entstehung der Steuerschuld herrschte. Als Beispiele hierfür wurden Ungewissheiten bezüglich der Eigentümerstellung an einem Gegenstand oder der Rechtsverwirklichung angeführt. § 82 Abs. 2 RAO21 erlaubte eine Sicherheitsleistung vom Steuerpflichtigen zu verlangen, wenn das Gesetz bei bedingten oder befristeten Verhältnissen die Steuerfestsetzung hinausschob. Oellerich und 9

RGBl. 1919, S. 2032. RGBl. 1919, S. 2032. 11 Beispielsweise § 7 KraftStDV vom 14. 06. 1961, BGBl. 1961, S. 764. 12 Hensel, Steuerrecht, Reprintauflage 1986 zur 3. Auflage 1933, S. 159. 13 Hensel, Steuerrecht, Reprintauflage 1986 zur 3. Auflage 1933, S. 159. 14 Hensel, Steuerrecht, Reprintauflage 1986 zur 3. Auflage 1933, S. 259. 15 RGBl. 1919, S. 1993 ff. 16 So auch Oellerich, in: Gosch, AO, § 168, Rn. 7. 17 RGBl. 1919, S. 2011. 18 RGBl. 1919, S. 2011. 19 Oellerich, in: Gosch, AO, § 164, Rn. 6; Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 164, Rn. 1; so auch Angabe Vorgängernorm in Klein / Orlopp, AO, 1. Auflage 1977, § 164: Die Autoren beziehen sich nicht auf die ursprüngliche Fassung der Reichsabgabenordnung, sondern auf eine jüngere Fassung, die weitergehende Regelungen enthielt. 20 RGBl. 1919, S. 2011. 21 RGBl. 1919, S. 2011. 10

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B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

Heuermann beziehen sich auf die jüngeren Fassungen des § 82 Abs. 2 RAO 1919. Zutreffend kann § 100 Abs. 2 RAO 1970 als Vorgängernorm des § 164 AO angesehen werden. Nach § 100 Abs. 2 AO 1970 konnte unabhängig von den Voraussetzungen der vorläufigen Steuerfestsetzung nach § 100  Abs. 1  RAO ebenfalls eine vorläufige Steuerfestsetzung ergehen, wenn der Steuerpflichtige der Betriebsprüfung unterlag oder wenn das Finanzamt den Inhalt einer abgegebenen Steuererklärung der vorläufigen Festsetzung zugrunde legte. Unabhängig von der Frage, ob gegenüber dem Entrichtungs- bzw. Haftungsschuldner eine Betriebsprüfungsmöglichkeit bestand, eröffnete die zweite Alternative des § 100 Abs. 2 RAO 1970 dem Finanzamt die Möglichkeit, gegenüber dem Entrichtungs- bzw. Haftungsschuldner auf Grundlage der abgegebenen Steueranmeldung einen nach § 100 Abs. 2 RAO 1970 vorläufigen Steuerbescheid zu erlassen. Die Steueranmeldung war eine Unterform der Steuererklärung nach § 168 RAO 191922. Der Erlass eines vorläufigen Bescheids konnte jedoch nach den Regelungen der Reichsabgabenordnung nicht konkludent durch Entgegennahme der Steueranmeldung nach § 212  RAO 1970 erfolgen. Denn § 100  Abs. 2 S. 2 RAO 1970 erforderte, dass in dem Steuerbescheid angegeben wurde, dass dieser nach § 100 Abs. 2 RAO 1919 vorläufig ergangen ist. Der Erlass eines vorläufigen Bescheids nach Entgegenahme der Steueranmeldung durch die Finanzverwaltung war demnach möglich, musste jedoch ausdrücklich erfolgen. Eine Bescheidfiktion war bei vorläufigen Festsetzungen hingegen nicht zulässig. Demnach war keine mit der heutigen Wirkung des § 168 AO vergleichbare Steuerfestsetzung gegenüber dem Entrichtungsschuldner möglich gewesen. Eine Unterscheidung zwischen vorläufiger Steuerfestsetzung und Vorbehalt der Nachprüfung fand in der Urform der Reichsabgabenordnung nicht statt. § 168 AO sieht vor, dass die Steueranmeldung eine Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung fingiert. Eine Steueranmeldung im Sinne der heutigen Abgabenordnung war in der Reichsabgabenordnung23 somit zumindest nach gesetzlicher Regelung nicht ausdrücklich vorgesehen. Erst mit der Abgabenordnung 1977 wurde eine Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung eingeführt und die verfahrensmäßigen Voraussetzungen für eine Selbstveranlagung geschaffen.24 In der Gesetzesbegründung des Bundestags zum Gesetzesentwurf wird ausgeführt, dass hierdurch eine zügige Durchführung der Veranlagung mit Datenverarbeitungsanlagen ermöglicht werden sollte und die Nachprüfungen der Finanzverwaltung vor Veranlagung reduziert bzw. auf das Außenprüfungsverfahren verschoben werden sollten.25

22

RGBl. 1919, S. 2032. RGBl. 1919, S. 1993 ff. 24 BT-Drs. VI/1982, S. 1. 25 BT-Drs. VI/1982, S. 1. 23

I. Vorbemerkungen

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Wenngleich die Reichsabgabenordnung26 keine ausdrücklichen Regelungen zur Steueranmeldung enthielt und diese nur in Bezug auf eine vom Steuerpflichtigen abzugebende Erklärung in § 168 RAO 191927 erwähnte, wurde die im Selbsterklärungsprinzip abgegebene Steuererklärung des Steuerpflichtigen in einigen Spezialsteuergesetzen vorgesehen.28 Umstritten war, auf welchem Wege im Falle der Abgabe einer Steueranmeldung die Steuerfestsetzung gegenüber dem Steuerpflichtigen erfolgte.29 In Rechtsprechung und Teilen der Literatur wurde hierzu vertreten, dass die Entgegennahme der Steueranmeldung ohne Beanstandung zu einer formlosen Steuerfestsetzung nach § 212 RAO 193130 führen sollte.31 Laut Söhn sei die Kritik an dieser Praxis zweierlei gewesen: Zum einen fehle es diesem formlosen Bescheid an der ausdrücklichen Bekanntgabe gegenüber dem Steuerpflichtigen.32 Zum anderen werde der Finanzverwaltung eine nicht vorhandene Willensäußerung unterstellt.33 § 220 RAO 191934 statuierte, dass jede Willenskundgebung eines Finanzamts, mit der erstmalig ein bestimmter Betrag als Steuer von einer bestimmten Person gefordert und innerhalb einer bestimmten Frist beansprucht wurde, als Steuerbescheid galt. Voraussetzung hierfür war, dass ein förmlicher Steuerbescheid nicht zu erteilen war. Der Reichsabgabenordnung 191935 war demnach die nunmehr in § 168 AO kodifizierte Fiktionswirkung in Bezug auf Steuerbescheide nicht fremd. Zwar führte die Regelung in § 220 RAO 191936 nicht zu einer Fiktion eines Steuerbescheids. Die Vorschrift stellte vielmehr eine Formvorschrift dar, die es erlaubte, konkludente Steuerbescheide außerhalb der förmlichen Festsetzung zu erlassen. Da jedoch als solch konkludenter Akt die Entgegennahme der Steueranmeldung durch die Finanzverwaltung qualifi 26

RGBl. 1919, S. 1993 ff. RGBl. 1919, S. 2032. 28 Vgl. zur Lohn- und Kapitelertragsteuer Söhn, in: StuW 1970, 185; zur verfahrensrecht­ lichen Existenz der Steueranmeldung nach RAO vgl. auch BT-Drs. VI/1982, S. 150: Man könne damit rechnen, dass die Finanzbehörden wie bisher auch Steueranmeldungen mit Erstattungen beschleunigt bearbeiten. Daraus ergibt sich, dass auch ohne verfahrensrechtliche Regelung zuvor schon Steueranmeldungen zur Beschleunigung des Besteuerungsverfahrens genutzt wurden. 29 Vgl. zum Streitstand Stand 1970 ausführlich Söhn, in: StuW 1970, 185, 185 ff. 30 RGBl. 1931, S. 84: vorliegend wird die Neubekanntmachung der RAO 1931 zitiert, weil die im Folgenden zitierten Fundstellen auf diesen Stand der RAO Bezug nehmen. 31 BFH, Urteil vom 20. 12. 1962 – V 72/62, BeckRS 1962, 21007962; zuvor anders BFH, Urteil vom 22. 01. 1954 – III 232/52 U, BStBl. III 1954, 91, 92; m. w. N. des RFH; ebenso bejahend Söhn, in: StuW 1970, 185, 206: tendenziell eher mit Hinweis auf eine Fiktionswirkung; Becker, RAO, 4. Auflage 1925, § 220, Rn.1: insbesondere sei die Entgegennahme der Zahlung als Willensbekundung des Finanzamts zu sehen; Kühn / Kütter, AO, 10. Auflage 1970, § 97, Rn. 1b): ohne weitere Begründung wie selbstverständlich so angegeben; Hoeres / Hopf, Der Steuerzahler, 1952, S. 17: die Festsetzung der Lohnsteuer erfolge ohne formellen Bescheid. 32 Söhn, in: StuW 1970, 185, 189. 33 Söhn, in: StuW 1970, 185, 189. 34 RGBl. 1919, S. 2047. 35 RGBl. 1919, S. 1993 ff. 36 RGBl. 1919, S. 2047. 27

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B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

zierte,37 löste derselbe Lebenssachverhalt die konkludent Steuerfestsetzung aus, der nach der heutigen Regelung in § 168 AO zur Fiktion einer Festsetzung führt. Es fand lediglich eine anders geartete prozessuale Ausgestaltung der Fiktion statt. Anstelle einer Fiktion qualifizierte man einen konkludenten Steuerbescheid als Rechtsfolge der Entgegennahme der Steueranmeldung durch die Finanzverwaltung. § 220 RAO 191938 nahm im Gegensatz zu § 168 AO nicht direkt auf die Situation der Steueranmeldung Bezug, sondern stellte eine allgemeine Regelung dar, deren Anwendungsbereich sich erst in der Praxis abzeichnen konnte. Söhn wies darauf hin, dass nach der Rechtslage in der Reichsabgabenordnung eine Fiktionswirkung für den Bescheiderlass möglich sei, der Gesetzgeber jedoch die Voraussetzungen hierfür detailliert regeln müsse, sodass für den Steuerpflichtigen klar erkennbar sei, dass eine stillschweigende Verbescheidung erfolge.39 An einem Erlasswillen scheitere die Fiktion nicht, da ein genereller Wille der Finanzbehörde zur Steuerfestsetzung vorliege.40 Einen solchen Erlasswillen der Finanzverwaltung könnte man schon aus dem generellen Willen derselben schlussfolgern, das Steuerverwaltungsverfahren so effektiv und ressourcenschonend wie möglich zu gestalten. Aus der gesetzlichen Ausgestaltung des Steuerabzugsverfahrens heraus solle sich nach Söhn ergeben, dass die nicht beanstandete Annahme einer Steueranmeldung für Zwecke der Lohn- oder Kapitalertragsteuer eine erstmalige Beanspruchung des Steuerpflichtigen darstelle.41 Eine Bekanntgabe solle zugleich ebenfalls in der nicht beanstandeten Annahme der Steueranmeldung gelegen haben.42 Der Unterschied zwischen der Fiktion des § 168 AO und der formlosen konkludenten Steuerfestsetzung nach § 220 RAO 191943 spiegelte sich in dem gewählten Ansatzpunkt für die Steuerfestsetzung wider. So nahm man für die Wirkung des § 220 RAO 191944 Bezug auf die Entgegenahme der Steueranmeldung. Bezugspunkt war damit eine aktive Handlung der Finanzverwaltung. Auf der anderen Seite nimmt § 168 AO für den Eintritt der Fiktionswirkung auf die Abgabe der Steueranmeldung durch den Steuerpflichtigen Bezug. Bezugspunkt ist nunmehr eine aktive Handlung des Steuerpflichtigen. Der Unterschied erscheint marginal, 37

BFH, Urteil vom 20. 12. 1962 – V 72/62, BeckRS 1962, 21007962; zuvor anders BFH, Urteil vom 22. 01. 1954 – III 232/52 U, BStBl. III 1954, 91, 92; m. w. N. des RFH; ebenso bejahend Söhn, in: StuW 1970, 185, 206: tendenziell eher mit Hinweis auf eine Fiktionswirkung; Becker, RAO, 4. Auflage 1925, § 220, Rn.1: insbesondere sei die Entgegennahme der Zahlung als Willensbekundung des Finanzamts zu sehen; Kühn / Kütter, AO, 10. Auflage 1970, § 97, Rn. 1b): ohne weitere Begründung wie selbstverständlich so angegeben; Hoeres / Hopf, Der Steuerzahler, 1952, S. 17: die Festsetzung der Lohnsteuer erfolge ohne formellen Bescheid. 38 RGBl. 1919, S. 2047. 39 Söhn, in: StuW 1970, 185, 191. 40 Söhn, in: StuW 1970, 185, 191. 41 Söhn, in: StuW 1970, 185, 191. 42 Söhn, in: StuW 1970, 185, 192. 43 RGBl. 1919, S. 2047. 44 RGBl. 1919, S. 2047.

I. Vorbemerkungen

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da lediglich derselbe Lebenssachverhalt aus einer anderen Perspektive betrachtet wird. Die Abgabe einer Steueranmeldung geht der Natur der Sache nach auch mit der Entgegennahme dieser durch die Finanzverwaltung einher. Die neuerliche Regelung betont den Zweck der Abgabe von Steueranmeldungen. Im Selbstveranlagungsverfahren soll der Steuerpflichtige selbst die fingierte Festsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung auslösen. Der Ansatzpunkt verdeutlicht, dass die fingierte Festsetzung ohne Prüfung und weiteren Zutun der Finanzverwaltung stattfindet. Für den Eintritt der Fiktionswirkung nach § 168 AO und damit auch die Pflicht zur Entrichtung der Steuer durch den Steuerpflichtigen ist der Eingang der Steueranmeldung bei der Finanzverwaltung entscheidend.45 Der Eingang der Steueranmeldung sollte denselben Zeitpunkt beschreiben, wie die Entgegenahme der Steueranmeldung. Eingegangen ist die Steueranmeldung, wenn diese in den Machtbereich der Finanzverwaltung gelangt ist. Dieser Zeitpunkt ist im öffentlichen Recht für den Eingang von Dokumenten bei einer staatlichen Stelle mit dem Zugang gleichzusetzen.46 Hiervon zu unterscheiden ist der zivilrechtliche Zugang von Willenserklärungen, der erst in dem Zeitpunkt erfolgt, in dem mit der Kenntnisnahme der Steueranmeldung durch die Finanzverwaltung zu rechnen ist.47 Der zu erwartende Zeitpunkt der Kenntnisnahme spielte für den Eingang bei der Finanzverwaltung keine Rolle. Die Entgegennahme für den Erlass des konkludenten Bescheids sollte ebenfalls in Eingangszeitpunkt erfolgt sein. Um dem Bürger nicht eine unsichere Rechtslage auf Grund behördeninterner Vorgänge aufzuerlegen,48 konnte die Entgegennahme nur als Eingang des Dokuments und nicht als die tatsächliche Kenntnisnahme oder der hierfür zu erwartende Zeitpunkt zu verstehen gewesen sein. Der konkludente Akt der Finanzverwaltung war demnach antizipiert die Eröffnung eines Zugangs für Steueranmeldungen. Die Willensbeurkundung erfolgte antizipiert und ad incertas personas. Bestimmbar war der Adressatenkreis als solcher aller Steuerpflichtigen, die eine Steueranmeldung im eröffneten Zugangssystem abgegeben haben. Zwischen dem Erlass eines Bescheids nach der Steueranmeldung auf Grundlage der Regelungen der Reichsabgabenordnung und der heutigen Fiktion des § 168 AO bestand ein rechttechnischer Unterschied. Effektiv führten die Regelungen zu einem vergleichbaren Ergebnis auf Rechtsfolgenseite, das sich aus Sicht der Bescheidadressaten als identisch darstellt. Unterschiede ergeben sich aber in der Rechtswirkung des konkludenten bzw. fingierten Bescheids, da der konkludente 45

BFH, Urteil vom 2. 12. 1999 – V R 19/99, BStBl. II 2000, 284, 286. Es erfolgt für die Abgabe von Erklärungen bei staatlichen Stellen keine Unterscheidung zwischen Eingang und Zugang, vgl. zur Klageerhebung Jesse, in: Jesse, Einspruch und Klage im Steuerrecht, Kapitel C., Rn. 270, m. w. N.; für das allgemeine Verwaltungsrecht Dolde / Porsch, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, § 70, Rn. 25; anders für den Zugang von Bescheiden beim Steuerpflichtigen: Ratschow, in: Klein, AO; § 122, Rn. 10. 47 Vgl. zum Zugang von Willenserklärungen im Zivilrecht Noack / Uhlig, in: JA 2012, 740, 741. 48 Dolde / Porsch, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, § 70, Rn.  25. 46

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Bescheid nach den Regelungen der Reichsabgabenordnung nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergehen durfte. Auf das Konstrukt der widerspruchslosen Annahme einer Steueranmeldung als Verwaltungsakt nimmt ebenfalls die Gesetzesbegründung des Entwurfs zu § 149 AO-E 197749 Bezug. So heißt es in der Gesetzesbegründung, dass es auf Grund der Wirkung einer Steueranmeldung als Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung dieses Konstrukts nicht mehr bedürfe.50 Die Aufnahme der verfahrensrechtlichen Rahmenbedingungen für die Durchführung der Besteuerung bei Vorliegen einer Steueranmeldung waren äußerst wünschenswert, da hierdurch die unter der alten Rechtslage bestehenden Rechtsunsicherheiten abgeschafft und etwaige rechtsstaatliche Bedenken ausgeräumt wurden. Der Wortlaut des § 167 AO 1977 entspricht in der Entwurfsform der Bundesregierung51 dem tatsächlich 1977 kodifizierten § 167 AO 197752. Mit der AO 1977 wurden einige Neuerungen vorgesehen, die zur Beschleunigung der Veranlagung führen sollten.53 Hierunter zählten unter anderem die Einführung einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung sowie die Schaffung der verfahrensrechtlichen Voraussetzungen der Selbstveranlagung.54 So wurde durch die §§ 167 f. AO und § 164 AO die Grundlage für die Steueranmeldung geschaffen, bei der der Steuerpflichtige die zu entrichtende Steuer selbst berechnet und anmeldet. Schon zu Zeiten der Reichsabgabenordnung waren das System der Abgabe einer Steueranmeldung und der darauffolgende Erlass eines konkludenten Bescheids durch die Finanzverwaltung vorgesehen. Im Unterschied zu der heutigen Regelung durfte der konkludente Bescheid wegen der Anforderungen der Reichsabgabenordnung an vorläufige Steuerbescheide nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergehen. Im Übrigen stellt die Kodifizierung der §§ 167 f. AO und § 164 AO keine inhaltliche Neuerung gegenüber der Praxis auf Grundlage Reichsabgabenordnung dar. bb) Schwesterregelungen in der Abgabenordnung der DDR Wenngleich die Regelungen der Abgabenordnung der DDR55 nicht als Vorgänger­ norm der heutigen AO verstanden werden können, fundierten sie dennoch auf demselben Gesetz, sodass auch ein Blick auf die dortige Gestaltung der Steueranmel 49

BT-Drs. VI/1982, S. 149. BT-Drs. VI/1982, S. 149. 51 § 148 AO-E 1977, BT-Drs. VI/1982, S. 44. 52 BGBl. 1976, S. 652. 53 BT-Drs. VI/1982, S. 1. 54 BT-Drs. VI/1982, S. 1. 55 Gesetzessammlung „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand 16. 03. 1990, S. 299 ff. 50

I. Vorbemerkungen

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dungen interessant ist. Ausdrückliche Regelungen zu Steueranmeldungen sind auch in der Abgabenordnung der DDR nicht aufzufinden. Eine ausdrückliche Erwähnung fanden Anmeldungen in § 166 Abs. 3 AO-DDR56. Hier ist jedoch weder eine Legaldefinition noch die Ausgestaltung der Rechtswirkung zu finden. § 100 Abs. 1 AO-DDR57 sah eine vorläufige Steuerfestsetzung bei ungewissem Sachverhalt vor. § 100 Abs. 2 AO-DDR58 regelte daneben für Steuerpflichtige, die der Betriebsprüfung unterliegen, ebenfalls eine vorläufige Steuerfestsetzung, hier jedoch ohne die Voraussetzung, dass Sachverhaltsungewissheiten vorliegen müssen. Eine Begründung, warum die Festsetzung vorläufig erfolgt, war nicht notwendig. Es genügte die Angabe des § 100 Abs. 2 AO-DDR59. Fraglich ist, ob die Regelungen der Abgabenordnung der DDR eine Betriebsprüfungsmöglichkeit beim Entrichtungsschuldner eröffneten, sodass für diese überhaupt eine vorläufige Festsetzung nach § 100 Abs. 2 AO-DDR60 zulässig gewesen wäre. Der heutige § 193 Abs. 2 Nr. 1 AO eröffnet der Finanzverwaltung ausdrücklich die Möglichkeit, bei Personen, die für Rechnung eines anderen Steuern entrichten oder einbehalten und abführen müssen, eine Außenprüfung durchzuführen. Die Zulässigkeit der Außenprüfung wird diesbezüglich nicht an die Einkunfts­erzielung des Steuerpflichtigen (wie in § 193 Abs. 1 AO), sondern sachgerecht an dessen Funktion als Entrichtungsschuldner angeknüpft. § 100 Abs. 2 AO-DDR61 verwies für die der Betriebsprüfung unterliegenden Steuerpflichtigen auf § 162 Abs. 9 AODDR62 und § 193 AO-DDR63 Die betrifft zum einen die Buchführungspflichtigen. Zum anderen ist eine Nachschau nach § 193 Abs. 1 S. 1 AO-DDR64 ebenfalls bei Unternehmern oder Unternehmen möglich gewesen, die der Steuer oder Steuerkontrolle unterliegen oder eine Steuerpflicht nach Ermessen der Finanzverwaltung in Betracht kam. Beide Normen dürften keine Grundlage für die Durchführung einer Betriebsprüfung beim Steuerentrichtungspflichtigen begründen, sodass eine Steuerfest 56 Gesetzessammlung 16. 03. 1990, S. 335. 57 Gesetzessammlung 16. 03. 1990, S. 315. 58 Gesetzessammlung 16. 03. 1990, S. 315. 59 Gesetzessammlung 16. 03. 1990, S. 315. 60 Gesetzessammlung 16. 03. 1990, S. 315. 61 Gesetzessammlung 16. 03. 1990, S. 315. 62 Gesetzessammlung 16. 03. 1990, S. 332. 63 Gesetzessammlung 16. 03. 1990, S. 344. 64 Gesetzessammlung 16. 03. 1990, S. 344.

„Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand

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setzung gegenüber diesem unter Vorläufigkeitsvermerk nach § 100 Abs. 2 AODDR65 nicht zulässig gewesen sein dürfte. Die Betriebsprüfung müsste sich auf das Steuerverhältnis beziehen, in dessen Zusammenhang der vorläufige Bescheid erlassen worden ist. Beide Normen beziehen sich nur auf die Durchführung einer Betriebsprüfung auf Grund der eigenen Steuerschuldnerschaft des Steuerpflichtigen. Haftungsschuldner bzw. Entrichtungsschuldner waren nach § 97 Abs. 1 und 2 AO-DDR66 keine Steuerpflichtigen, da sie nicht eine Steuer als Steuerschuldner zu entrichten hatten. § 97 Abs. 2 AO-DDR67 ordnete nur eine sinngemäße Anwendung der Vorschriften für Steuerpflichtige für den Haftungsschuldner an. Eine eigene Steuerpflicht, auf dessen Grundlage eine Betriebsprüfung durchgeführt werden konnte, bestand demnach nicht, sodass § 193 Abs. 1 S. 1 AO-DDR68 nicht einschlägig gewesen sein sollte. Darüber hinaus sah die AO-DDR keine Anordnung einer Betriebsprüfung gegenüber dem Entrichtungsschuldner vor. Anders als in der Schwesternvorschrift des § 100 Abs. 2 RAO 1970 ist auch keine zweite Alternative vorgesehen, die eine vorläufige Festsetzung bei Vorliegen einer Steuererklärung ermöglichte. Für den Erlass eines konkludenten, unförmlichen Bescheids bestand in der Abgabenordnung der DDR die gleiche gesetzliche Grundlage wie in der Schwesternregelung der Reichsabgabenordnung der BRD.69 Somit war zwar ebenfalls nach Eingang der Steueranmeldung der Erlass eines konkludenten Bescheids durch die Finanzverwaltung der DDR möglich. Dieser konnte jedoch auch hier nicht als vorläufiger Bescheid oder Bescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergehen, weil hierfür die Voraussetzungen schon dem Grunde nach nicht vorlagen. Bei den Schwesternregelungen der BRD scheiterte dies lediglich an der Unmöglichkeit des Hinweises auf den Erlass eines vorläufigen Bescheids. Die rechtliche Grundlage hierfür wäre auf Grundlage der Reichsabgabenordnung der BRD im Übrigen vorhanden gewesen. Die Abgabenordnung der DDR enthielt einen Delegationsvermerk für die Regelungskompetenz bei Steuerabzugsverfahren. Ein solcher Delegationsvermerk war auch in der Schwesternregelung des § 12 RAO70 der BRD vorhanden. Allerdings nahm dieser nicht konkret auf das Steuerabzugsverfahren Bezug, wenngleich das Steuerabzugsverfahren ebenfalls unter den Delegationsbereich der Norm fiel. 65 Gesetzessammlung „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand 16. 03. 1990, S. 315. 66 Gesetzessammlung „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand 16. 03. 1990, S. 312. 67 Gesetzessammlung „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand 16. 03. 1990, S. 312. 68 Gesetzessammlung „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand 16. 03. 1990, S. 344. 69 Hier ebenfalls § 212 AO-DDR; Gesetzessammlung „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand 16. 03. 1990, S. 350. 70 RGBl. 1931, S. 8 f.

I. Vorbemerkungen

143

Nach § 12 S. 2 AO-DDR71 war der Minister der Finanzen berechtigt, zum Steuerabzugsverfahren Durchführungsbestimmungen und Anordnungen zu erlassen. Eine Anmeldeverpflichtung konnte sich demzufolge auch aus etwaigen Verordnungen ergeben. Eine solche ergab sich jedoch nicht aus der Selbstberechnungsverordnung72. Zwar ordnete § 1 Abs. 1 der Selbstberechnungsverordnung73 an, dass in der Jahressteuererklärung die Steuer vom Steuerpflichtigen selbst ausgerechnet werden sollte. Die Selbstberechnung war jedoch nicht Bestandteil einer Steueranmeldung im heutigen Sinne, da ihr keine Rechtsfolgen beigemessen wurden. Die Wirkungsweise war nicht mit der einer Steueranmeldung im Sinn der § 167 f. AO vergleichbar. Ob dies auch für Steueranmeldungen auf Grundlage spezialgesetzlicher Normen zutreffend war, wird im Folgenden für die einzelnen Steueranmeldungen separat betrachtet. Somit konnte gegenüber dem Entrichtungsschuldner mangels Vorliegen der Voraussetzungen der vorläufigen Steuerfestsetzung nach § 100 Abs. 2 AO-DDR74 sowie mangels spezieller Regelung einer etwaigen Steueranmeldungswirkung keine Steuerfestsetzung ergehen, die der heutigen Wirkung des § 168 AO entsprechen würde. Der Erlass eines konkludenten Bescheids durch Entgegennahme einer Steueranmeldung war jedoch wie nach den Regelungen der Reichsabgabenordnung der BRD möglich. b) Historie der Steueranmeldung in Spezialsteuergesetzen und Rechtsverordnungen Bemerkenswert ist, dass in der Fassung des EStG von 193475 sowie in dem VersStG 192276 für keine der hier betrachteten Steuerentrichtungspflichten die Abgabe einer Steueranmeldung ausdrücklich vorgesehen war.77 Im Folgenden wird der Einzug der Regelungen zu Steueranmeldungen in die Reichsabgabenordnung im Hinblick auf die hiesig betrachteten Steuerabzugsverfahren untersucht.

71

Gesetzessammlung „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand 16. 03. 1990, S. 300. 72 Gesetzessammlung „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand 16. 03. 1990, S. 363 ff. 73 Gesetzessammlung „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand 16. 03. 1990, S. 363. 74 Gesetzessammlung „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand 16. 03. 1990, S. 315. 75 RGBl. 1934, S. 1015 ff. 76 RGBl. 1922, S. 403. 77 Die Bauabzugsteuer wurde erst 2001 (BGBl. 2001, S. 2267 ff.) durch das Gesetz zur Eindämmung illegaler Betätigung im Baugewerbe eingeführt. Die Ausführungen beziehen sich insofern nur auf die Lohn- und Kapitalertragsteuer sowie den Steuerabzug für beschränkt Steuerpflichtige.

144

B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

aa) Historie der Lohnsteueranmeldung § 38 Abs. 1 EStG 193478 ordnete an, dass die Einkommensteuer bei nichtselbstständiger Arbeit durch Abzug vom Arbeitslohn erhoben wird und der Arbeitgeber die Lohnsteuer für den Arbeitnehmer bei jeder Lohnzahlung einzubehalten und an das Finanzamt abzuführen hat. Erst aus der Lohnsteuerdurchführungsverordnung ergab sich eine ausdrückliche Pflicht des Entrichtungsschuldners der Lohnsteuer zur Abgabe einer Steueranmeldung für die zu entrichtende Lohnsteuer. Die LohnStDV hat als Rechtsverordnung der Exekutive unmittelbare Außenwirkung gegenüber dem Bürger. § 44 Abs. 1 S. 1 LohnStDV von 195379 ordnete an, dass der Arbeitgeber unabhängig davon, ob die einbehaltene Lohnsteuer abgeführt worden ist, eine Lohnsteueranmeldung abzugeben hat. Dies wurde sogar für den Fall angeordnet, dass eine sogenannte Nullmeldung abzugeben war, § 44 Abs. 2 LohnStDV 195380. Die abzugebende Anmeldung wurde ausdrücklich als Lohnsteueranmeldung bezeichnet und war nach § 44 Abs. 1 S. 3 LohnStDV 195381 von dem Arbeitgeber oder dessen Vertretungsberechtigtem zu unterzeichnen. Die Anmeldepflicht wurde durch das Einkommensteuerreformgesetz 197582 in das EStG übernommen83 und war schon im Regierungsentwurf des Gesetzes in § 145 EStG-E vorhanden.84 Ausweislich der Gesetzesbegründung handelt es sich bei § 145 EStG-E um diejenigen Vorschriften, die zuvor in §§ 41–44 LohnStDV 1953 vorhanden waren. Die Vorschriften zur Lohnsteueranmeldung bezogen sich auf die in § 38 Abs. 1 EStG 193485 kodifizierte Einbehaltungs- und Abführungspflicht des Arbeitgebers. Interessant ist, dass in dem EStG der DDR keine Vorschriften zum Lohnsteuerabzug vorhanden waren.86 Eine dem § 38 EStG 193487 der BRD vergleichbare Vorschrift war im EStG der DDR nicht vorhanden.88 Die Lohnsteuer wurde dennoch durch Steuerabzug erhoben.89 Der Lohnsteuerabzug war in den §§ 19 ff. der Verordnung über die Besteuerung von Arbeitseinkommen90 geregelt. Nach § 20 Abs. 1 78 RGBl. 1934, S. 1015; zur älteren Entwicklung vgl. Hannes, Haftung und Gesamtschuld im Steuerrecht, 1974, S. 100 f. 79 BGBl. 1953, S. 1538; in anderem Zusammenhang zur Abgabe einer Lohnsteueranmeldung jedoch schon Hoeres / Hopf, Der Steuerzahler, 1952, S. 43. 80 BGBl. 1953, S. 1538. 81 BGBl. 1953, S. 1538. 82 BGBl. 1975, S. 1769 ff. 83 BGBl. 1975, S. 1788. 84 BT-Drs. 7/1470, S. 86. 85 RGBl. 1934, S. 1015. 86 Gesetzessammlung „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand 16. 03. 1990, S. 32. 87 RGBl. 1934, S. 1015. 88 Vgl. hierzu auch Töben, in: Töben / Hauschild, Steuerrechtsreport Neue Bundesländer, Ausgabe 1992, S. 326. 89 Duda, Das Steuerrecht im Staatshaushaltssystem der DDR, S. 152. 90 Gesetzessammlung „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand 16. 03. 1990, S. 163 ff.; so auch Töben, in: Töben / Hauschild, Steuerrechtsreport Neue Bundes-

I. Vorbemerkungen

145

der Verordnung über die Besteuerung von Arbeitseinkommen91 hatte der Betrieb die Steuer von Lohneinkünften bei jeder Lohnzahlung einzubehalten und an das Finanzamt92 zu überweisen.93 Eine Anmeldeverpflichtung war hier nicht ausdrücklich vorhanden. bb) Historie der Kapitalertragsteueranmeldung Wie beim Lohnsteuerabzug sah das EStG 193494 zwar die Erhebung der Einkommensteuer durch die Kapitalertragsteuer in § 43 f. EStG 193495 vor, jedoch waren auch diesbezüglich keine Vorschriften vorhanden, die sich mit der Steueranmeldung durch den Schuldner der Vergütung beschäftigten. Wie bei der Lohnsteuer war die Anmeldungspflicht des Entrichtungsschuldners der Kapitelertragsteuer zunächst in einer Durchführungsverordnung vorgesehen. So sah § 9 Kapitalertragsteuer-Durchführungsverordnung96 die Anmeldung der Kapitalertragsteuer durch den Entrichtungspflichtigen vor. § 9 der Kapitalertragsteuer-Durchführungsverordnung97 war schon mit der Bezeichnung „Kapitalertragsteueranmeldung“ überschrieben. Regelungen zur Steueranmeldung bei der Kapitalertragsteuer wurden durch das Körperschaftsteuerreformgesetz vom 31. 08. 197698 in das EStG eingeführt. § 45a Abs. 1 EStG 197699 regelte die Anmeldungsverpflichtung des Schuldners der Kapitalerträge. Die Anmeldepflicht war schon in § 162 EStG-E 1974100 des Regierungsentwurfs vorgesehen. Ausweislich der Gesetzesbegründung zum § 162 EStG-E 1974101 sollte durch § 162 EStG-E 1974102 in Absatz 1 sowohl § 45 Abs. 5 EStG als auch §§ 9 f. KapStDV im Wesentlichen übernommen und die Anmeldung der Kapitalertragsteuer geregelt werden. Die zunächst einheitlich als Drittes

länder, Ausgabe 1992, S. 326: § 20 der Verordnung über die Besteuerung von Arbeitseinkommen sei eine dem § 38 EStG vergleichbare Vorschrift. 91 Gesetzessammlung „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand 16. 03. 1990, S. 164. 92 Rat des Kreises Abteilung Finanzen. 93 Der Lohnsteuerabzug hatte Abgeltungswirkung, vgl. § 24 der Verordnung über die Besteuerung von Arbeitseinkommen, Gesetzessammlung „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand 16. 03. 1990, S.166. 94 RGBl. 1934, S. 1016; zur älteren Entwicklung vgl. Hannes, Haftung und Gesamtschuld im Steuerrecht, 1974, S. 107 f. 95 RGBl. 1934, S. 1016. 96 WiGBl. 1949, S. 93; BGBl. 1953, S. 1477; BGBl. 1975, S. 769; Springer Einkommensteuer Gesetzessammlung, Stand 1968, S. 88; Klüger, Die Kapitelertragsteuer, S. 18: die KapStDV sei seit 1949 ohne erhebliche Änderungen in Kraft gewesen. 97 WiGBl. 1949, S. 93; BGBl. 1953, S. 1477; BGBl. 1975, S. 769. 98 BGBl. 1976, S. 2597 ff. 99 BGBl. 1976, S. 2625. 100 BT-Drs. 7/1470, S. 95. 101 BT-Drs. 7/1470, S. 311. 102 BT-Drs. 7/1470, S. 95.

146

B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

Steuerreformgesetz103 vorgesehene Änderung insbesondere der Einkommen- und Körperschaftsteuergesetze wurde letztendlich in separaten Reformen durchgeführt. Im Rahmen des § 159 Abs. 3 S. 1 EStG-E 1974104 wurde die Anmeldung ausdrücklich als Steueranmeldung bezeichnet. Diese Bezeichnung wurde in § 44b Abs. 4 EStG 1976105 übernommen. In § 43 f. EStG-DDR106 war eine Regelung zum Steuerabzug für Kapitalerträge vorhanden. Der Schuldner der Kapitalerträge war verpflichtet, die Steuer einzu­ behalten und abzuführen. Hierfür lag ein Haftungstatbestand vor.107 Eine ausdrückliche Anmeldeverpflichtung war nicht vorhanden. cc) Historie der Bauabzugsteueranmeldung Die Bauabzugsteuer wurde am 30. 08. 2001108 durch das Gesetz zur Eindämmung illegaler Betätigung im Baugewerbe eingeführt. § 48a EStG 2001109 sah unmittelbar bei der Einführung dieser Abzugsteuer schon eine Regelung zur Steueranmeldung des Abzugspflichtigen vor. Nach der dortigen Regelung muss der Leistungsempfänger die Steuer anmelden und hierbei selbst berechnen. Nach § 48a Abs. 1 S. 3 EStG 2001110 stand die Anmeldung der Bauabzugsteuer einer Steueranmeldung gleich. Die Regelung ist diesbezüglich bis heute unverändert im EStG vorhanden. dd) Historie der Anmeldung für beschränkt steuerpflichtige Einkünfte Die Entwicklung des Steuerabzugs für beschränkt steuerpflichtige Einkünfte nach § 50a EStG begann auf Grundlage von Reichsverordnungen in den Jahren 1930–1933.111 Das am 24. 10. 1934 erlassene Einkommensteuergesetz112 sah schon eine Regelung zum Steuerabzug vor. So war es nach § 50 Abs. 6  EStG 1934113 in das Ermessen des Finanzamts gestellt, die Einkommensteuer von beschränkt steuerpflichtigen Einkünften, soweit diese nicht bereits dem Lohn- oder Kapitalertragsteuerabzug unterlagen, durch einen Steuerabzug zu erheben, wenn dies zur

103

BT-Drs. 7/1470, S. 1. BT-Drs. 7/1470, S. 94. 105 BGBl. 1976, S. 2623. 106 Gesetzessammlung „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand 16. 03. 1990, S. 32 f. 107 Duda, Das Steuerrecht im Staatshaushaltssystem der DDR, S. 145. 108 BGBl. 2001, S. 2267 ff. 109 BGBl. 2001, S. 2268. 110 BGBl. 2001, S. 2268. 111 Fetzer, in: BeckOK EStG, Kirchhof / Ratschow, § 50a, Rn. 9. 112 RGBl. 1934, S. 1018. 113 RGBl. 1934, S. 1018. 104

I. Vorbemerkungen

147

Sicherung des Steueranspruchs zweckmäßig war. Die Regelung ist jedoch vielmehr als Vorgängervorschrift des heutigen § 50a Abs. 7 EStG zu qualifizieren.114 Eine dem heutigen § 50a Abs. 1 EStG entsprechende Einführung des Steuerabzugs für beschränkt steuerpflichtige Einkünfte erfolgte mit dem Gesetz zur Änderung steuerlicher Vorschriften auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und Ertrag und des Verfahrensrechts vom 18. 07. 1958.115 Nunmehr musste die Finanzbehörde bei beschränkt steuerpflichtigen Mitgliedern des Aufsichtsrats verschiedener Gesellschaftsformen sowie für Einkünfte aus bestimmten anderen Tätigkeiten die auf die Vergütung entfallene Einkommensteuer mittels Steuerabzug erheben, § 50a Abs. 1 und 4 EStG 1958116. Hierbei musste der Schuldner der Vergütungen den Steuerabzug nach § 50a Abs. 5 S. 1 EStG 1958117 für Rechnung des Gläubigers derselben vornehmen. Der beschränkt Steuerpflichtige war Steuerschuldner für die dem Steuerabzug zugrunde liegende Einkommensteuer, § 50a Abs. 5 S. 3 EStG 1958118. § 50a Abs. 5 S. 4 EStG 1958119 statuierte die Haftung des Schuldners der dem Steuerabzug unterliegenden Vergütungen als Entrichtungsschuldner. Der Steuerschuldner durfte nur in Anspruch genommen werden, sofern der Entrichtungspflichtige die Vergütung nicht vorschriftsmäßig gekürzt hatte oder der Steuerschuldner wusste, dass eine vorschriftsmäßige Abführung durch den Entrichtungspflichtigen nicht erfolgt war und dies nicht beim Finanzamt angezeigte. § 50a Abs. 6 EStG 1958120 eröffnete die Möglichkeit, den Steuerabzug durch Rechtsverordnung insofern zu modifizieren, dass bei Entrichtung der Vergütung an einen Beauftragten und nicht unmittelbar an den Gläubiger, der Beauftrage Entrichtungspflichtiger und Haftungsschuldner sein konnte. Bislang sah der Steuerabzug für Kapitelertragsteuer keine ausdrückliche Anmeldeverpflichtung des Entrichtungspflichtigen vor. Dies ist bis heute unverändert geblieben. Für den Steuerabzug bei beschränkt steuerpflichtigen Einkünften ergibt sich die Verpflichtung des Entrichtungsschuldners zur Abgabe einer Steueranmeldung aus § 73e EStDV. Die Fassung des § 73 EStDV 1958121 sah noch keine ausdrückliche Anmeldungsverpflichtung vor. Diese tauchte erstmalig in § 73e EStDV 1959122 auf. Hiernach musste der Schuldner der Vergütung im Zeitpunkt der Abführung eine Anmeldung über die Höhe der Vergütung und des Steuerabzugs an das zuständige Finanzamt für die Einkommensbesteuerung des Schuldners übersenden und diese unterschreiben. Die Anmeldungsverpflichtung ist bis zur heutigen Regelung in § 73e EStDV 2000 um einige Komponenten erweitert worden. Nunmehr wird 114

Fetzer, in: BeckOK EStG, Kirchhof / Ratschow, § 50a, Rn. 10. BGBl. 1958, S. 473 ff. 116 BGBl. 1958, S. 484. 117 BGBl. 1958, S. 485. 118 BGBl. 1958, S. 485. 119 BGBl. 1958, S. 485. 120 BGBl. 1958, S. 485. 121 BGBl. 1958, S. 79. 122 BGBl. 1959, S. 138. 115

148

B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

der Begriff der Steueranmeldung verwendet. In § 73e EStDV 1975123 wurde noch der Wortlaut der Anmeldung einer Steuer verwendet. Die Neufassung der EStDV 1976124 sah keine Änderung des § 73e EStDV 1975125 vor. Die Steueranmeldung wurde erstmals in § 73e EStDV 1977126 ausdrücklich als solche bezeichnet. Das EStG der DDR sah in § 50 Abs. 6 EStG-DDR127 die Möglichkeit vor, einen Steuerabzug für beschränkt steuerpflichtige aus Zweckmäßigkeitsgründen anzuordnen. Eine Anmeldeverpflichtung war nicht kodifiziert. ee) Historie der Versicherungsteueranmeldung Das heutige Versicherungsteuergesetz basiert auf dem Versicherungsteuer­gesetz der Weimarer Republik vom 20. 04. 1922128. § 12 Abs. 1 S. 1 VersStG 1922129 sah wie der heutige § 7 Abs. 1 VersStG vor, dass der Versicherungsnehmer Steuerschuldner der Versicherungsteuer war. Zwar sah das Versicherungsteuergesetz 1922130 noch keine ausdrückliche Anmeldeverpflichtung für die Versicherungsteuer vor. Jedoch waren in der gesetzlichen Regelung schon Vorgänger der heutigen Anmeldeverpflichtung vorhanden. So sah § 10 Abs. 1 VersStG 1922131 vor, dass der Versicherer über die von ihm übernommenen Versicherungen nach näherer Bestimmung des Reichsministers der Finanzen eine Aufstellung anzufertigen und dem Finanzamt vorzulegen hatte. § 12 Abs. 1 S. 2 VersStG 1922132 sah vor, dass der Versicherer133 die Versicherungsteuer zu Lasten des Versicherungsnehmers spätestens bei Vorlegung der Aufstellung gemäß § 10 Abs. 1 VersStG 1922134 zu entrichten hatte. § 11 Abs. 1 Versicherungsteuer-Durchführungsbestimmungen 1937135 regelte den Inhalt der nach § 10 Abs. 1 VersStG 1922136 beim Finanzamt abzugebenden Aufstellung.137 Die Aufstellung musste unter anderem den Betrag des Versicherungsentgelts, den Steuersatz und den Steuerbetrag ausweisen. Dies entspricht inhaltlich den Komponenten einer heutigen Steueranmeldung. 123

BGBl. 1975, S. 388. BGBl. 1976, S. 3611. 125 BGBl. 1975, S. 388. 126 BGBl. 1977, S. 2462. 127 Gesetzessammlung „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand 16. 03. 1990, S. 37. 128 RGBl. 1922, S. 400 ff. 129 RGBl. 1922, S. 403. 130 RGBl. 1922, S. 400 ff. 131 RGBl. 1922, S. 403. 132 RGBl. 1922, S. 403. 133 Oder dessen Bevollmächtigter nach § 10 Abs. 3 f. VersStG 1922. 134 RGBl. 1922, S. 403. 135 RGBl. 1937, S. 799. 136 RGBl. 1922, S. 403. 137 Im Folgenden wird nur das Ist-Besteuerungsverfahren betrachtet, dass den Regelfall der Besteuerung darstellt, vgl. § 9 Versicherungsteuer-Durchführungsbestimmungen 1937, RGBl. 1937, S. 798. 124

I. Vorbemerkungen

149

Neben der Abgabe der Aufstellung traf den Versicherer nach § 13 Abs. 2 Versicherungsteuer-Durchführungsbestimmungen138 die Pflicht zur Abgabe einer Nachweisung, die ihn zugleich mit der Pflicht zur Abgabe der Aufstellung traf. Diese musste unter anderem ebenfalls die Steuerbeträge ausweisen, die abzuführen waren. Die Nachweisung war von dem Versicherer zu unterzeichnen, § 13 Abs. 4 Versicherungsteuer-Durchführungsbestimmungen.139 Abweichend von der heutigen Fiktionswirkung des § 168 AO wurde die Versicherungsteuer nach § 15 Versicherungsteuer-Durchführungsbestimmungen140 jedoch vom Finanzamt festgesetzt. Inhaltlich bestand demnach eine Vergleichbarkeit der Aufstellung und Nachweisung mit einer heutigen Steueranmeldung im Sinne des § 150 Abs. 1 S. 3 AO. Auf Ebene der Rechtswirkung einer solchen bestand jedoch ein erheblicher Unterschied. Durch die Notwendigkeit der Abgabe der Nachweisung und Aufstellung entstand noch kein Verfahren, welches dem heutigen Selbstveranlagungsprinzip entsprechen würde. Die Versicherungsteuer-Durchführungsbestimmungen vom 20. 04. 1960141 enthielten hingegen in § 8 Abs. 3 schon eine ausdrückliche Verpflichtung zur Anmeldung der Versicherungsteuer. Den Durchführungsbestimmungen war ein Muster zur Abgabe der Versicherungsteuer-Anmeldung als Muster 1 beigefügt.142 Eine ausdrückliche Bezeichnung als Steueranmeldung erfolgte nicht, wenngleich das Muster 1 mit „Versicherungsteuer-Anmeldung“ überschrieben war. Das Versicherungsteuergesetz von 1996143 sieht eine ausdrückliche Verpflichtung zur Abgabe einer Steueranmeldung vor. Steuerschuldnerschaft und Entrichtungspflicht in § 7 Abs. 1 VersStG 1996144 entsprechen im Kern der Vorgängerregelung. § 8 Abs. 1 S. 1 VersStG 1996145 statuiert die Pflichten des Versicherers. So muss dieser zum einen die Steueranmeldung, legal definiert als eigenhändig unterschriebene Steuererklärung, in der er die Steuer selbst zu berechnen hat, abgeben und zum anderen die Steuer entrichten. Durch Reform des Versicherungsteuergesetzes vom 5. 12. 2012146 kam es zu erheblichen Neuerungen auf dem Gebiet der Steuerentrichtungs- und Anmeldungsverpflichtung des Versicherers.147 Bemerkenswert ist, dass im Gegensatz zur anderweitigen Ausgestaltung von Entrichtungspflichten in der Abgabenordnung und dem Einkommensteuergesetz eine Regelung dahingehend erfolgte, dass die Steuerentrichtungsschuld zu einer vollwertigen Schuld des Entrichtungspflichtigen er 138

RGBl. 1937, S. 799. RGBl. 1937, S. 799. 140 RGBl. 1937, S. 799. 141 BGBl. 1960, S. 278 ff. 142 BGBl. 1960, S. 281. 143 BGBl. 1996, S. 22 ff. 144 BGBl. 1996, S. 25. 145 BGBl. 1996, S. 26. 146 BGBl. 2012, S. 2431 ff. 147 Vgl. zu Ausführungen zur aktuellen Rechtslage in Kapitel A. II. 3. a) bb) (5). 139

150

B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

hoben wurde. Die Verpflichtung des Versicherers zur Abführung und Anmeldung der Steuer soll nach der Gesetzesbegründung nicht mehr aus dessen Stellung als für die Steuer Haftender resultieren, sondern ihn aus seiner originären Steuerentrichtungsschuld treffen.148 Diese Neuerung sollte nach der Gesetzesbegründung der Sicherung des Versicherungsteueraufkommens dienen.149 Der zuvor zwar als Steuerpflichtiger Qualifizierende, aber nicht als Schuldner aus einem Steuerschuldverhältnis zu Betrachtende, wurde nunmehr zum Steuerschuldner mit eigener Steuerschuld auf Primärebene erhoben. Dies macht den Entrichtungsschuldner für die Inanspruchnahme greifbarer. So muss nicht auf die Voraussetzungen des § 191 AO verwiesen werden, um diesen in Anspruch zu nehmen. Die Entrichtungsschuld kann gegenüber dem Entrichtungsschuldner für Zwecke der Versicherungsteuer auf Grund der eigenen Primärschuld unmittelbar durch Steuerbescheid festgesetzt werden.150 So kommt es auch für die Anwendung des § 167 Abs. 1 S. 1 AO nicht mehr auf den Streitstand an, ob der Steuerentrichtungspflichtige als Anmeldender auf Sekundärebene über die Norm in Anspruch genommen werden kann. Der Entrichtungsschuldner mit eigener Schuld fällt vielmehr unter die erste Variante der Norm, da er eine eigene Steuerschuld mit dem Inhalt der Entrichtungsschuld anmeldet. Die Festsetzung der Entrichtungsschuld erfolgt auf Primärebene gegenüber dem hierfür gesetzlich vorgegebenen Primärschuldner. Dass die Entrichtungsschuld nunmehr als selbstständige Steuerschuld ausgestaltet wird, sollte die Ausstrahlung des Haftungsrechts auf die Inanspruchnahme des Entrichtungspflichtigen beseitigen.151 Bemerkenswert ist an dieser Gesetzesbegründung, dass der Entrichtungsschuldner zuvor durch die fehlerhafte oder fehlende Anmeldung zum Haftungsschuldner wurde und als dieser originär auf Grundlage des Haftungsrechts in Anspruch genommen wurde. Überraschend erscheint, dass dies nunmehr als Ausstrahlung von Verfahrensnormen bezeichnet wird. Vielmehr wurde die Ausstrahlung von Verfahrensnormen systemwidrig vorgenommen. Sie bestand nicht ex lege. Steuerentrichtungs- und Haftungsschuldner waren schon vor der Änderung des Versicherungsteuergesetzes voneinander zu trennende Personengruppen. Dies galt schon bei Anwendung der allgemeinen Regelungen der Abgabenordnung. Nunmehr ist es begrüßenswert, dass durch die Änderung des Versicherungsteuergesetzes die Überschneidungen zwischen dem Steuerbescheids- und dem Haftungsverfahren zumindest für das Versicherungsteuergesetz beseitigt wurden. Widersprüchlich ist, dass zum einen die Haftungsschuld nunmehr an die Steuerentrichtungsschuld gekoppelt sein soll, was auch dem Wortlaut der Norm ent-

148

BR-Drs. 301/12, S. 12. BR-Drs. 301/12, S. 12. 150 BR-Drs. 301/12, S. 26. 151 BR-Drs. 301/12, S. 26. 149

I. Vorbemerkungen

151

spricht.152 Auf der anderen Seite soll die Akzessorietät der Haftung in Bezug auf die Primärschuld des Versicherungsnehmers als Steuerschuldner bestehen.153 Dass die Haftung das Bestehen einer Primärschuld voraussetzt,154 ist zutreffend. Andernfalls würden Sinn und Zweck der Haftung ausgehöhlt. Eine Anknüpfung könnte jedoch auch an die Entrichtungsschuld des Entrichtungsschuldners erfolgen, da dieser nach den versicherungsteuerrechtlichen Regelungen von dem Haftungsschuldner stets personenverschieden ist. Dies würde mit dem Wortlaut des § 7 Abs. 7 VersStG in Einklang stehen, der eine solche Verbindung zwischen Steuerentrichtungs- und Haftungsschuld herzustellen scheint. Folgerichtig müsste jedoch hier auch bei der Betrachtung der Festsetzungsverjährung eine Akzessorietät zwischen Steuerentrichtungsschuld und Haftungsschuld bejaht, jedoch eine Akzessorietät der Haftungsschuld zur Steuerschuld des Versicherungsnehmers abgelehnt werden. Bisher gab es noch keine Kodifizierung, die eine Entrichtungsschuld als eigene Steuerschuld ansah. Somit gab es bisher auch noch keine Haftungstatbestände, die eine solche Entrichtungsschuld als akzessorische Primärschuld ansehen konnten. Dies ist jedoch nicht ausgeschlossen und hätte im Gesetzgebungsverfahren bedacht werden sollen. Die nunmehr vorhandene Regelung erscheint demnach widersprüchlich, da zum einen die Haftung an die Steuerentrichtung gekoppelt, eine Akzessorietät jedoch nur zwischen Primärsteuerschuld und Haftungsschuld angenommen wird. Zweck der Schaffung der der AO fremden Rechtsfigur der eigenständigen Steuerentrichtungsschuld155, die selbstständig und nicht akzessorisch neben die Steuerschuld tritt, war es, der Rechtsprechung des BFH156 zur Inanspruchnahme des Haftungsschuldners entgegen zu treten.157 In den zugrunde liegenden Urteilen stellte der BFH klar, dass eine Inanspruchnahme des Haftungsschuldners für Versicherungsteuer durch Nachforderungsbescheid möglich sei. In diesem Fall werde aber materiell eine Haftungsschuld geltend gemacht.158 Hierfür sollten die An­ forderungen an die Geltendmachung der Haftung maßgeblich sein, sodass die sich 152

BR-Drs. 301/12, S. 26. Angeklungen in BR-Drs. 301/12, S. 27; so auch Grünwald / Dallmayr, in: Grünwald / Dallmayr, VersStG, § 7, Rn. 50 f.; nicht eindeutig ist die hierzu von der Fraktion der FDP mit Finanzausschuss, BT-Drs. 17/11219, S. 5 getätigte Aussage, dass durch die Änderung des § 171 Abs. 5 AO die Akzessorietät für das VersStG beibehalten werde und § 7 Abs. 8 VersStG n. F. sich faktisch nicht auswirke. Mangels vorheriger steuerlicher Eigenständigkeit der Entrichtungsschuld und der Inanspruchnahme des Entrichtenden als Haftungsschuldner dürfte die fehlende Akzessorietät zwischen Steuerschuld und Entrichtungsschuld sich aus Sicht des Steuerpflichtigen nachteilig auswirken. 154 Grünwald / Dallmayr, in: Grünwald / Dallmayr, VersStG, § 7, Rn. 51, vgl. hierzu auch Kapitel A. II. 3. b). 155 Medert, in: DStR 2013, 496, 501. 156 BFH, Urteil vom 13. 12. 2011  – II R 52/09, BFH / NV 2012, 695; BFH, Urteil vom 13. 12. 2011 – II R 26/10, BStBl. II 2013, 596. 157 Medert, in: DStR 2013, 496, 501. 158 BFH, Urteil vom 13. 12. 2011 – II R 52/09, BFH / NV 2012, 695, BeckRS 2012, 94601, Rn. 12; BFH, Urteil vom 13. 12. 2011 – II R 26/10, BStBl. II 2013, 596. 153

152

B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

aus der Akzessorietät ergebenden Folgen zu beachten seien.159 Demnach durfte ein Haftungsschuldner auch durch Nachforderungsbescheid nur in Anspruch genommen werden, wenn die Steuer gegenüber dem Primärschuldner noch nicht festsetzungsverjährt war.160 Diese akzessorische Verbindung wurde nunmehr durch die Gesetzesänderung für die Versicherungsteuer gelöst. Damit stellen die Regelungen zur Versicherungsteuer gegenüber den anderen Dreieckshaftungstatbeständen eine Ausnahme dar. Auf Grund der Ausgestaltung der Steuerentrichtungsschuld als eine eigenständige Schuld muss mit der Differenzierung zwischen Haftungs- und Steuerentrichtungsschuldner vorsichtiger umgegangen werden. Diese Differenzierung vermag 1990 bei der Änderung des Wortlauts des § 167 Abs. 1 S. 1 AO nicht beachtet worden sein.161 Da die Abgabenordnung eine Steuerentrichtungsschuld ohne akzessorische Bindung an die Haftungsschuld noch nicht kennt, war eine solche begriffliche Unterscheidung zwischen den Personenkreisen noch nicht von solch großer Auswirkung. Steuerentrichtungs- und Haftungsschuldner waren in den zuvor bekannten Dreieckskonstellationen stets personenidentisch. Somit wurde die gleiche Person angesprochen – wenngleich schon ein verfahrensrechtlicher Unterschied bestand und die Vermengung beider Begriffe unzutreffend war. Nunmehr stellen Steuerentrichtungs- und Haftungsschuldner nach den Regelungen des Versicherungsteuergesetzes jedoch stets personenverschiedene Normadressaten da. Eine Vermengung der Begriffe in der AO führt demnach nunmehr zu untragbaren Ergebnissen, da die Regelungen der AO, sofern nicht abweichende Regelungen im Versicherungsteuergesetzes vorhanden sind, auch auf den mit neuer Rechtswirkung ausgestatteten Steuerentrichtungsschuldner Anwendung finden. c) Zusammenfassung Schon zu Zeiten der Reichsabgabenordnung waren das System der Abgabe einer Steueranmeldung und der darauffolgende Erlass eines konkludenten Bescheids durch die Finanzverwaltung bekannt. Anstelle einer Bescheidfiktion wurde auf die Rechtsfigur des konkludenten Steuerbescheids zurückgegriffen. Wegen den Anforderungen der Reichsabgabenordnung an vorläufige Steuerbescheide durfte dieser formlose Bescheid jedoch nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergehen. Die Bescheidfiktion war auch der Abgabenordnung der DDR bekannt. Eine der heutigen Wirkung des § 168 AO vergleichbare Rechtsfigur scheiterte dennoch auch hier an den Voraussetzungen für eine vorläufige Steuerfestsetzung.

159

BFH, Urteil vom 13. 12. 2011 – II R 52/09, BFH / NV 2012, 695, BeckRS 2012, 94601, Rn. 13; BFH, Urteil vom 13. 12. 2011 – II R 26/10, BStBl. II 2013, 596. 160 BFH, Urteil vom 13. 12. 2011 – II R 52/09, BFH / NV 2012, 695, BeckRS 2012, 94601, Rn. 13; BFH, Urteil vom 13. 12. 2011 – II R 26/10, BStBl. II 2013, 596. 161 Vgl. hierzu Kapitel C. I. 1. d).

I. Vorbemerkungen

153

Für die Lohnsteuer und die Kapitelertragsteuer waren schon frühzeitig Regelungen zu einer ausdrücklich als Steueranmeldung bezeichneten Selbstberechnungserklärung des Steuerabzugspflichtigen in Rechtsverordnungen vorhanden. Noch vor Erlass des Abgabenordnung 1977 fanden die Regelungen zur Steueranmeldung Eingang in das Einkommensteuergesetz. Das Einkommensteuergesetz sowie die Rechtsverordnungen der DDR hingegen schwiegen zur Anmeldungsverpflichtung. Für den Steuerabzug bei beschränkt steuerpflichtigen Einkünften ist seit 1976 eine Regelung zur Steueranmeldung in einer Rechtsverordnung vorhanden. Bis heute sind die Regelungen nicht in das Einkommensteuergesetz übernommen worden. Die Normen der DDR sahen keine Regelungen zur Steueranmeldung des Entrichtungsschuldners vor. Schon das Versicherungsteuergesetz von 1922 sah Regelungen zu von dem Entrichtungsschuldner der Versicherungsteuer abzugebenden Anmeldungen vor. Diese Verpflichtungen waren zunächst weder als Anmeldung noch als Steueranmeldung bezeichnet, ähnelten ihrem Inhalt nach jedoch den heutigen Anforderungen an eine solche. Die Anmeldung der Versicherungsteuer war zunächst in Durchführungsbestimmungen vorgesehen und wurde nicht ausdrücklich als Steueranmeldung, sondern nur als „Anmeldung“ tituliert. Seit 1996 befindet sich die Verpflichtung zur Abgabe einer Versicherungsteueranmeldung im Versicherungsteuergesetz. Für die Bauabzugsteuer als jüngste hiesig betrachtete Abzugsteuer waren seit der Einführung 2001 Regelungen zur Abgabe einer ausdrücklich als solche bezeichneten Steueranmeldung vorhanden.

2. Sinn und Zweck der Vorschrift § 167 Abs. 1 S. 1 AO erleichtert die Steuerfestsetzung.162 Sofern eine Steueranmeldung des Steuerpflichtigen mit eigener Berechnung der Steuerschuld nach § 150 Abs. 1 S. 3 AO gesetzlich vorgesehen ist, braucht eine auf die Steueranmeldung als besondere Steuererklärung163 folgende Steuerfestsetzung durch das Finanzamt nicht erfolgen, wenn das Finanzamt die selbst durch den Steuerpflichtigen berechnete Steuerlast für zutreffend hält. Eine Festsetzung durch das Finanzamt erfolgt nur, wenn die Selbstberechnung aus Sicht der Finanzverwaltung unzutreffend ist oder keine Anmeldung abgegeben wird. Andernfalls gilt die Steueranmeldung nach § 168 S. 1 AO als Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. § 167 Abs. 1 S. 1 AO ist für das Steueranmeldeverfahren als besondere Ermächtigungsgrundlage zur Steuerfestsetzung neben § 155 AO gegeben. § 168 S. 1 AO ist eine besondere Regelung nach § 155 Abs. 1 S. 1 AO, sodass dieser nicht mehr 162 163

BT-Drs. VI/1982, S. 149. Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  3.

154

B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

uneingeschränkt angewendet werden kann. Zugleich ist § 167 Abs. 1 S. 1 AO eine Spezialermächtigung, die die Anwendung des § 155 Abs. 1 S. 1 AO für die zugelassenen Fälle wiedereröffnet. § 155 AO ist demnach nicht unmittelbar für den Erlass eines Nachforderungsbescheids anwendbar. Der Anwendungsbereich wird erst über § 167 Abs. 1 S. 1 AO wiedereröffnet.

3. Entstehung des Nachforderungsanspruchs Die Entstehung des Nachforderungsanspruchs, der die Finanzverwaltung zum Erlass eines Nachforderungsbescheids ermächtigt, ist an zwei Komponenten gebunden. Zum einen muss der Primärsteueranspruch nach § 38 AO entstanden sein. Dies dürfte praktisch gesehen regelmäßig schon mit Abgabe der Steueranmeldung der Fall, da der Entrichtungsschuldner die Anmeldung korrespondierend zur Erfüllung des Tatbestands abgeben und die Steuer entrichten wird. Die primäre Steuerschuld muss also entstanden sein. Die Lohnsteuer entsteht nach § 38 Abs. 2 S. 2 EStG in dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitslohn dem Arbeitnehmer zufließt. Die Kapitalertragsteuer entsteht in dem Zeitpunkt, in dem die Kapitalerträge dem Gläubiger zufließen, § 44 Abs. 1 S. 2 EStG. Ebenso wird die Entstehung der Steuer für beschränkt Steuerpflichtige an den Zufluss der Vergütung beim Gläubiger geknüpft, § 50a Abs. 5 S. 1 EStG. §§ 48 Abs. 1 S. 1, 48a Abs. 1 S. 1 EStG knüpfen die Steuerabzugs- und Anmeldungsverpflichtung an die Erbringung der Gegenleistung für eine Bauleistung. Eine Aussage zur Entstehung der Einkommensteuer auf die Gegenleistung für die Erbringung der Bauleistung erfolgt hierbei nicht. Bei der Bauabzugsteuer entsteht keine neue Steuer.164 § 46 EStG, der regelt, wann bei der Kapitalertragsteuer und der Lohnsteuer eine Steuerveranlagung notwendig ist und diese Notwendigkeit der Steuerveranlagung im Grundfall ausschließt, ist auf die Bauabzugsteuer nicht anwendbar. Vielmehr regelt § 48c EStG die Anrechnung der einbehaltenen Bauabzugsteuer auf andere Erhebungsformen von Ertragsteuern. Ob eine Veranlagung stattfinden muss, bestimmt sich hierbei nach den anderen Erhebungsformen der Ertragsteuer und mithin über diese auch nach § 46 EStG. Die Bauabzugsteuer ist jedoch im Gegensatz zur Lohn- oder Kapitalertragsteuer mit weniger Selbstständigkeit ausgestattet. Ihr kann keine Abgeltungswirkung zukommen. Bei der Versicherungsteuer gibt es zwei verschiedene Möglichkeiten, wann es zur Entstehung der derselben kommen kann. Sie entsteht entweder bei Entgegennahme oder bei Fälligkeit des Versicherungsentgelts, je nachdem ob eine Ist- der Sollversteuerung vorliegt.165 Im Regelfall der Istversteuerung entsteht die Steuer analog wie bei den meisten der hier betrachteten Steueranmeldeverfahren mit 164 165

Ebling, in: Blümich, EStG, § 48, Rn. 10. Vgl. hierzu Kapitel A. II. 3. a) bb) (5).

II. Festsetzung der Haftungsschuld durch Nachforderungsbescheid 

155

dem Zufluss des Versicherungsentgelts. Lediglich wenn auf Antrag eine Sollversteuerung stattfindet, entsteht die Steuer schon vorgelagert mit der Fälligkeit des Versicherungsentgelts. Neben der Entstehung der Primärsteuerschuld knüpft die Entstehung des Nachforderungsanspruchs an die fehlende ordnungsgemäße Anmeldung der Steuer durch den Entrichtungsschuldner an. Durch die Erfüllung des Tatbestands des § 167 Abs. 1 S. 1 AO wird das System der Verfahrensvereinfachung im Selbstberechnungsverfahren durchbrochen und der Erlass eines Steuerbescheids notwendig.

II. Festsetzung der Haftungsschuld durch Nachforderungsbescheid 1. Anwendbare Vorschriften Der Nachforderungsbescheid ist ein Steuerbescheid im Sinne des § 155 Abs. 1 AO. Er ist damit besonderer Steuerverwaltungsakt im Sinne des § 118 S. 1 AO. Für den Nachforderungsbescheid sind sowohl die allgemein auf Steuerverwaltungsakte anwendbaren Vorschriften der §§ 118 ff. AO als auch die besonderen Vorschriften für Steuerbescheide des 3. Abschnitts 1. Unterabschnitt der Abgabenordnung anwendbar. Die Festsetzungsverjährung richtet sich nach den §§ 169 ff. AO. a) Änderung der Nachforderungsbescheide Ein Nachforderungsbescheid kann nach den für Steuerbescheide anwendbaren Vorschriften geändert werden, §§ 164 f. AO und 172 ff. AO.166 Die Steueranmeldung gilt nach § 168 S. 1 AO als Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Setzt das Finanzamt nun die Steuer abweichend von der Steueranmeldung nach § 167 Abs. 1 S. 1 AO durch Steuerbescheid fest und lässt es den Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 AO trotzdem bestehen, so kann das Finanzamt die Festsetzung nach § 164 Abs. 2 AO ändern. Hebt das Finanzamt bei der abweichenden Steuerfestsetzung nach § 167 Abs. 1 S. 1 AO den Vorbehalt der Nachprüfung auf, so richtet sich eine etwaige Änderung des Nachforderungsbescheids nach den §§ 172 ff. AO.

166

Zur Festsetzungsverjährung auch OFD Stuttgart vom 14. 11. 2003 S 0339 A – 13 – St 44, BeckVerw 063291.

156

B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

b) Schätzung der Besteuerungsgrundlagen im Nachforderungsverfahren Die Vorschriften zur Schätzung von Besteuerungsgrundlagen finden auf den Nachforderungsbescheid als Steuerbescheid im Sinne des § 155 AO grundsätzlich Anwendung. Wenn nunmehr im Wege des Nachforderungsbescheids materiell eine Haftungsschuld geltend gemacht wird, stellt sich die Frage, ob die Anwendbarkeit des § 162 AO diesbezüglich nicht zu einer unbilligen Umgehung der Unanwendbarkeit der Schätzungsvorschrift auf Haftungsbescheide führt. Gerade im Nachforderungsverfahren hat § 162 AO eine große Bedeutung. Gibt der Entrichtungsschuldner keine oder nur eine fehlerhafte Steueranmeldung in Bezug auf die von ihm abzuführende Steuerschuld ab, besteht ein Bedürfnis in der Praxis der Finanzverwaltung, die Besteuerungsgrundlagen in Bezug auf die zu entrichtende Steuer gegenüber dem Entrichtungsschuldner zu schätzen. Anders als bei der generellen Frage der Anwendbarkeit des § 162 AO auf das Haftungsverfahren kommen für diese Schätzung nur Sachverhalte in Betracht, in denen der Entrichtungsschuldner selbst seinen Erklärungs- und Mitwirkungspflichten nicht ordnungsgemäß nachgekommen ist. Eine Schätzung gegenüber dem Entrichtungsschuldner ist demzufolge im Nachforderungsverfahren an seine eigene Obligationsverletzung geknüpft. Die Anwendung des § 162 AO für Fälle der Nachforderungsfestsetzung gegenüber einem Entrichtungsschuldner auszuschließen, wäre systemwidrig. Sofern man eine Festsetzung der Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens zulässt, müssen auch die für Steuerbescheide anwendbaren Vorschriften gelten. Fällt dieser Sachverhalt der Steuernachforderung gegenüber dem Haftungsschuldner unter den Tatbestand des § 167 Abs. 1 S. 1 AO, so wird man auch die Anwendbarkeit des § 162 AO auf diese Steuerfestsetzung annehmen müssen und kann diese nicht punktuell ausschließen. Gerade in Massenverfahren, wie den hier betrachteten Steuerabzugsverfahren, führt die Anwendbarkeit zu einer Verfahrenserleichterung und Beschleunigung, die notwendig ist, um einen nicht unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand für das Besteuerungsverfahren zu schaffen. Die Frage lautet demnach nicht, ob § 162 AO auf den Erlass von Nachforderungsbescheiden gegenüber dem Haftungsschuldner anwendbar ist, sondern ob § 167 Abs. 1 S. 1 AO überhaupt diese Fälle der Nachforderung erfasst. Wird letzteres bejaht, bestehen keine Bedenken gegenüber der Anwendbarkeit des § 162 AO. c) Bindungswirkung des § 166 AO Ein Nachforderungsbescheid ist als Steuerbescheid grundsätzlich drittwirkungsgeeignet. Ist die Steuer dem Steuerpflichtigen gegenüber unanfechtbar festgesetzt, so hat dies neben einem Gesamtrechtsnachfolger auch gegen sich gelten zu lassen, wer in der Lage gewesen wäre, den gegen den Steuerpflichtigen erlassenen

II. Festsetzung der Haftungsschuld durch Nachforderungsbescheid 

157

Bescheid als dessen Vertreter, Bevollmächtigter oder kraft eigenen Rechts anzufechten, § 166 AO. Für die Bindungswirkung des Nachforderungsbescheids stellt die Frage, ob dieser eine unanfechtbare Festsetzung darstellt, wenn dieser noch unter dem Vorbehalt der Nachprüfung steht. Eine Steueranmeldung gilt zwar als Steuerbescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung, § 168 AO. Ein im Anschluss daran ergehender Nachforderungsbescheid ist jedoch nicht vorbehaltsbehaftet, sofern in diesem nicht ausdrücklich die Anordnung des Vorbehalts erneut festgesetzt wird.167 aa) Drittwirkungsgeeignetheit vorbehaltsbehafteter Nachforderungsbescheide Erfolgt der Erlass des Nachforderungsbescheids unter dem Vorbehalt der Nachprüfung, so steht dies der Drittwirkungseignung nicht entgegen.168 Etwas anderes soll gelten, wenn der Haftungsschuldner, als Adressat einer etwaigen Drittwirkung, einen Änderungsantrag in Bezug auf die drittwirkungsgeeignete Steuerfestsetzung stellen kann169 bzw. bei strengem Verständnis des Leitsatzes des 11. Senats in einem diesbezüglichen Urteil einen solchen Antrag tatsächlich gestellt hat.170 Der noch mögliche bzw. eingelegte Änderungsantrag solle in diesem Fall als Anfechtungsmöglichkeit im Sinne des § 166 AO gelten und die Präklusion der Einwendungen des Drittwirkungsadressaten ausschließen.171 Der Wortlaut des § 166 AO fordert für die Drittwirkung der Steuerfestsetzung, dass diese unanfechtbar festgesetzt wurde. Der Begriff der Anfechtbarkeit wird an einigen Stellen in der Abgabenordnung verwendet. Eine Legaldefinition ist in der Abgabenordnung jedoch nicht vorhanden. Es spricht einiges dafür, als Anfechtbarkeit die Möglichkeit der förmlichen Wehr des Steuerpflichtigen gegen die Festsetzung im Wege des Einspruchsverfahrens als außergerichtliches Vorverfahren der Anfechtungsklage zu verstehen. So meint beispielsweise die Unanfechtbarkeit in § 351 Abs. 1 AO die formelle Unanfechtbarkeit.172 Hierbei wird darauf abgestellt, dass die Einspruchsfrist ab 167

BFH, Urteil vom 2. 12. 1999 – V R 19/99, BStBl. II 2000, 284, 285. Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 166, Rn.  6; Rüsken, in: Klein, AO, § 166, Rn. 15; Krumm, in: Tipke / Kruse, AO, § 166, Rn. 13; Cöster, in: König, AO, § 166, Rn. 9; a. A. Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 166, Rn. 9; wohl auch Oellerich, in: Gosch, AO, § 166, Rn. 21: eine teleologische Reduktion des § 166 AO sei aus Gründen der Verfahrensökonomie begrüßenswert. Der Haftungsschuldner müsse seine Einwendungen im Haftungsverfahren geltend machen können, ohne zuvor einen Antrag auf Änderung der Steuerfestsetzung zu stellen. 169 BFH, Beschluss vom 28. 03. 2001 – VII B 213/00, BFH / NV 2001, 1217, BeckRS 2001, 25005921, Tz. II. 2. b). 170 BFH, Urteil vom 22. 04. 2015 – XI R 43/11, BStBl. II 2015, 755, 755. 171 Krumm, in: Tipke / Kruse, AO, § 166, Rn. 18. 172 Rätke, in: Klein, AO, § 351, Rn. 7. 168

158

B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

gelaufen ist.173 Für eine solche Wortlautauslegung spricht außerdem, dass § 361 Abs. 1 S. 1 AO statuiert, dass durch Einlegung des Einspruchs keine aufschiebende Wirkung eintritt und in § 361 Abs. 1 S. 2 AO entsprechendes auch bei Anfechtung von Grundlagenbescheiden für die darauf beruhenden Folgebescheide gilt. Hierbei wird aus dem Vergleich des Regelungsgehalts der beiden Sätze des § 361 Abs. 1 AO ersichtlich, dass der Einspruch als Anfechtung gilt und die Begriffe an dieser Stelle deckungsgleich verwendet werden. Zunächst mag auf den ersten Blick der Wortlaut des § 40 Abs. 1 FGO dafürsprechen, sowohl den Einspruch als auch Änderungsanträge des Steuerpflichtigen als Anfechtung im Sinne des § 166 AO zu verstehen. Nach § 40 Abs. 1 FGO wird die Anfechtungsklage als Klage gerichtet auf Aufhebung oder Änderung des Verwaltungsakts definiert. Das Argument wird jedoch bei einem genauen Blick schnell wieder entkräftet. So verweist § 40 Abs. 1 FGO für die Variante der Änderung eines Verwaltungsakts auf § 100 Abs. 2 FGO. § 100 Abs. 2 S. 1 FGO regelt die Befugnis des Gerichts durch Urteil eine Steuerfestsetzung betragsmäßig herabzusetzen. Dies ist der Fall, wenn der Steuerpflichtige nicht die vollständige Aufhebung des Steuerbescheids begehrt, sondern lediglich eine betragsmäßig andere Festsetzung erwirken möchte. Dies dürfte bei Steuer- und Festsetzungsbescheiden die Hauptentscheidungsform des Gerichts sein.174 Der Bezug in § 40  Abs. 1  FGO auf die Änderung von Bescheiden nimmt demnach keinen Bezug auf die Art des Rechtsbehelfs, mit dem sich gegen eine Steuerfestsetzung gewehrt hat bzw. mit dem eine Änderung erstrebt wurde. Die Bezugnahme ist rein materiell-inhaltlicher Natur. Sie bezieht sich auf das gerichtliche Rechtsbehelfsverfahrens, dessen Zulässigkeitsvoraussetzung das Einspruchsverfahren als außergerichtliches Rechtsverfahren ist. Anfechtbarkeit im Sinne der Abgabenordnung und FGO dürfte demnach bei Auslegung des Wortlauts des § 166 AO nur die Wehr im Wege des außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens bzw. bei dessen Unzulässigkeit im Wege des gerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens sein. Systematisch spricht die Stellung des § 166 AO im Abschnitt für die Spezialvorschriften der Steuerbescheide dafür, dass Unanfechtbarkeit im Sinne der Vorschrift auf die originäre Anfechtungsmöglichkeit gegen Steuerbescheide Bezug nimmt und damit das Einspruchsverfahren meint. Darüber hinaus besteht ein erheblicher rechtsfolgenseitiger Unterschied zwischen dem Einspruchsverfahren und einem Antrag auf Änderung der Steuerfestsetzung. Zwar ist die aufschiebende Wirkung von Einsprüchen im Steuerrecht anders als im allgemeinen Verwaltungsrecht175 grundsätzlich nach § 361 Abs. 1 AO kraft Gesetzes ausgeschlossen. Der Einspruch als Rechtsmittel ist jedoch grundsätzlich der aufschiebenden Wirkung fähig. Er kann Träger der aufschiebenden Wirkung sein. Die aufschiebende Wirkung kann auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde nach 173

Rätke, in: Klein, AO, § 351, Rn. 7. Stapperfend, in: Gräber, FGO, § 100, Rn. 30. 175 § 80 Abs. 1 VwGO. 174

II. Festsetzung der Haftungsschuld durch Nachforderungsbescheid 

159

§ 361 Abs. 2 AO oder nach § 69 Abs. 3 FGO durch das Finanzgericht angeordnet werden, indem die Vollziehung des Steuerverwaltungsakts ganz oder teilweise ausgesetzt wird. Wird diesem Antrag stattgegeben, so wird der Einspruch mit aufschiebender Wirkung versehen. Ein Änderungsantrag ist der aufschiebenden Wirkung hingegen nicht fähig. Er ist Rechtsbehelf im weiteren Sinne. Ein Änderungsantrag ist jedoch kein Rechtsmittel und dem Suspensiveffekt nicht fähig. Er kann die Vollziehung nicht herauszögern. Aus dieser unterschiedlichen Fähigkeit, die Vollziehung des Verwaltungsaktes zu verzögern, ergibt sich, dass ein Änderungsantrag die zumindest vorrübergehende Wirksamkeit und Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts nicht hemmen kann und soll. Dem Änderungsantrag kommt demzufolge verfahrensrechtlich auf Grund der systematischen Auslegung ein anderes Gewicht zu als dem Einspruchsverfahren. Rechtshistorisch wurde die Anfechtbarkeit der Steuerfestsetzung in § 119 RAO 1931176 ebenfalls mit der Zulässigkeit des Einspruchs gleichgestellt.177 Es wurde kein Bezug zu Änderungsanträgen genommen. Die Vorschrift enthielt in ihrer ursprünglichen Fassung einen ersten Absatz, der die Rechtsmittelbefugnis des Haftungsschuldners regelte. Wegen der Gleichstellung von Haftungs- und Steuerbescheiden nach der Reichsabgabenordnung war diese Vorschrift zwar lediglich klarstellender Natur.178 Interessant ist, dass § 119 Abs. 1 RAO 1931179 von der „Geltendmachung von Rechtsmitteln“ sprach. Rechtsmittel sind als Untergruppe der Rechtsbehelfe nur solche, die aufschiebende Wirkung entfalten können. Liest man § 119 Abs. 1 RAO 1931180 nunmehr im Kontext mit dem damaligen § 119 Abs. 2 RAO 1931181, der die Vorgängernorm des heutigen § 166 AO ist, lässt sich ein weiteres systematischen Argument dafür finden, dass die Unanfechtbarkeit im Sinne des § 166 AO nur den Ablauf der Einspruchsfrist und nicht die Ausgeschlossenheit eines Änderungsantrags meinen kann. Absatz 1 sprach von Rechtsmitteln, das heißt dem Einspruchsverfahren. Absatz 2 hingegen nahm nunmehr Bezug auf die Unanfechtbarkeit der Steuerfeststellung. Unanfechtbarkeit konnte bei systematischer Auslegung im Hinblick auf Absatz 1 nunmehr wohl nur den Ablauf der Rechtsmittelfristen meinen. Zutreffend haben Steuerfestsetzungen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung nicht den Anspruch, als abschließend geprüfte Steuerfestsetzungen qualifiziert zu werden.182 Dies ist insbesondere der Fall, da § 164 Abs. 2 S. 2 AO dem Steuer 176

RGBl. 1931, S. 50. Kühn / Kutter, AO, 11. Auflage 1974, § 119, Rn. 1; auch Cerutti / von Wallis, RAO, 1. Auflage 1949, S. 31. 178 Kühn / Kutter, AO, 11. Auflage 1974, § 119, Rn. 1. 179 RGBl. 1931, S. 50. 180 RGBl. 1931, S. 50. 181 RGBl. 1931, S. 50. 182 Krumm, in: Tipke / Kruse, AO, § 166, Rn. 18. 177

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B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

pflichtigen ein Antragsrecht zugesteht, während des Bestands des Vorbehalts jederzeit die Änderung oder Aufhebung der Steuerfestsetzung zu beantragen. Der Vorbehaltsbescheid eröffnet demnach sowohl dem Steuerpflichtigen als auch der Finanzverwaltung die Möglichkeit außerhalb des formalen Rechtsbehelfsverfahrens die Änderung des Bescheids zu erwirken. Darüber hinaus birgt die Vorbehaltsfestsetzung geringeres Potenzial schutzwürdiges Vertrauen im Rechtsverkehr hervorzurufen. So verdeutlicht der Vorbehaltsvermerk die bisher nur kursorische Prüfung des Steuerfalls seitens der Finanzverwaltung, die sich aus Gründen der Beschleunigung des Verfahrens eine spätere Detailprüfung vorbehalten will. Dass sich aus der nachgelagerten Prüfung gegebenenfalls noch erhebliche Änderungen ergeben können, liegt auf der Hand. Das Rechtsgefühl des Drittwirkungsadressaten mag daher dazu verleiten, zu denken, dass seine Einwendungen noch an späterer Stelle geltend gemacht werden könnten. Ob es Gründen der Verfahrensökonomie entspricht, dass der Haftungsschuldner seine Einwendungen gegen Vorbehaltsfestsetzungen im Haftungsverfahren geltend machen kann,183 erscheint zweifelhaft. Es macht in Anbetracht des Arbeitsaufwands keinen Unterschied, wann sich die Finanzverwaltung mit dem Vorbringen des Haftungsschuldners befassen muss. Für eine ordnungsgemäße Steuerfestsetzung im Sinne der Gleichheit und Gesetzmäßigkeit der Besteuerung macht es sogar mehr Sinn, die Belange unmittelbar im Primärsteuerverfahren zu betrachten und zu berücksichtigen. Die gegen die Steuerfestsetzung bestehenden Belange sollten konzentriert im ersten Verfahren gehört werden. Eine aufgesplittete Geltendmachung der Belange führt ggf. zu nachträglichem Änderungspotenzial für die frühere Steuerfestsetzung, was verfahrenstechnisch und im Sinne des Vertrauens des Bescheidadressatens in die ihm gegenüber unanfechtbar ergangene Steuerfestsetzung nicht begrüßenswert wäre. Hierfür spricht auch, dass solche nachträglichen Änderungen zuweilen nur bei Vorliegen der Voraussetzungen einer Änderungsvorschrift möglich sind. Praktisch gesehen würde die teleologische Reduktion des § 166 AO der Gestalt, dass dieser nicht auf Vorbehaltsfestsetzungen anwendbar ist, dazu führen, dass das Finanzamt ggf. von einer Behaftung des Nachforderungsbescheids mit einem Vorbehaltsvermerk absieht und zunächst den Steuerfall abschließend prüft, sodass ein Vorbehaltsvermerk nicht mehr notwendig erscheint. Nur so könnte das Finanzamt einen Nachforderungsbescheid mit der Wirkung des § 166 AO erlassen. Dies würde den Sinn und Zweck des § 164 AO, der gerade im schnelllebigen Steueranmeldungsverfahren für einen beschleunigten Festsetzungsvorgang sorgen soll, unterlaufen. Darüber hinaus erscheint insbesondere die in der jüngeren Rechtsprechung des 11. Senats angedeutete Bezugnahme auf die tatsächliche Einlegung eines Änderungsantrags für den Anwendungsausschluss des § 166 AO nicht sachgemäß.184 183 184

Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 166, Rn. 9. Oellerich, in: Gosch, AO, § 166, Rn. 20.

II. Festsetzung der Haftungsschuld durch Nachforderungsbescheid 

161

Zutreffend merkt Oellerich hierzu an, dass es bei der unmittelbaren Anwendung des § 166 AO nicht auf die tatsächliche Einlegung des formellen Rechtsbehelfs ankommt, sondern für die Nichtanwendbarkeit des § 166 AO lediglich entscheidend ist, dass die formelle Bestandskraft abstrakt noch nicht eingetreten ist. Der Steuerpflichtige könnte den Antrag nach § 164 Abs. 2 S. 2 AO jederzeit stellen und damit kurzfristig die Drittwirkung der Steuerfestsetzung wieder zerstören. Ob die Zerstörung der Drittwirkung ex tunc eintreten würde oder unter Anwendung des Rechtsgedankens des § 175 AO als rückwirkendes Ereignis die Einwendungspräklusion beenden würde, ist hierbei irrelevant. Aus diesen Gründen ist mit der wohl herrschenden Meinung von der Anwendbarkeit des § 166 AO auch auf vorbehaltsbehaftete Nachforderungsbescheide auszugehen. bb) Drittwirkungsadressaten des Nachforderungsbescheids Adressat der Drittwirkung kann nur sein, wer in der Lage gewesen wäre, den gegen den Steuerpflichtigen erlassenen Bescheid anzufechten. Hierfür kommt der Steuerpflichtige als Drittwirkungsadressat in Betracht. Auf der anderen Seite lässt sich jedoch auch über eine Bindungswirkung des Nachforderungsbescheids im Haftungsverfahren gegenüber dem Haftungsschuldner nachdenken, da der Erlass eines Nachforderungsbescheids gegenüber dem Entrichtungsschuldner den Erlass eines Haftungsbescheids gegenüber demselben in seiner Position als Haftungsschuldner nicht auszuschließen vermag.185 Es kommt eine Anfechtungsbefugnis dieser beiden Personenkreise aus eigenem Recht in Betracht. Ob eine solche Anfechtungsbefugnis besteht, ergibt sich aus § 350 AO.186 § 350 AO regelt, wer berechtigt ist, einen Steuerverwaltungsakt anzufechten. Befugt Einspruch einzulegen, ist nur, wer geltend macht, durch einen Verwaltungsakt oder dessen Unterlassung beschwert zu sein. Die Möglichkeit Einspruch einzulegen und den Steuerverwaltungsakt überprüfen zu lassen, steht nur demjenigen zu, der eine Verletzung seines Rechts auf gesetzmäßige Besteuerung geltend machen kann.187 Dies schließt die Verletzung von verfahrensrechtlichen Normen mit ein.188 Hierfür ist die Geltendmachung der Verletzung eines eigenen Rechts notwendig.189 Eine mittelbare Betroffenheit hingegen soll nicht ausreichend sein.190

185

Vgl. hierzu Kapitel C. V. Oellerich, in: Gosch, AO, § 166, Rn. 65; Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 166, Rn. 22, von Wedelstädt, in: Kühn / von Wedelstädt, AO, § 166, Rn. 8. 187 Cöster, in: König, AO, § 350, Rn. 1. 188 Cöster, in: König, AO, § 350, Rn. 1. 189 Cöster, in: König, AO, § 350, Rn. 2. 190 Cöster, in: König, AO, § 350, Rn. 8. 186

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B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

(1) Steuerschuldner als Drittwirkungsadressat Ergeht ein Nachforderungsbescheid gegenüber dem Entrichtungsschuldner als Bescheidadressaten, so stellt sich die Frage, ob auch der Steuerschuldner beschwert ist, sofern der Nachforderungsbescheid unter formellen oder materiellen Fehlern leidet. Dies wird in der Literatur und Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt. So wird von Rätke die Beschwer des Steuerschuldners der Lohnsteuer und somit auch dessen Drittwirkungsrezeptionsfähigkeit abgelehnt.191 Der Steuerbescheid gegenüber dem Entrichtungsschuldner beträfe nur dessen Pflichten und auch nur dieser sei Vollstreckungsschuldner in Bezug auf diesen Bescheid.192 Auch in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung wurde die Anfechtungs­ befugnis des Steuerschuldners gegenüber einem an den Entrichtungsschuldner gerichteten Steuerbescheid abgelehnt.193 Zu beachten ist allerdings, dass der diesbezüglichen Rechtsprechung des FG Baden-Württemberg ein von der hiesigen Betrachtung erheblich abweichender Fall zugrunde lag. Der 5. Senat des FG Baden-Württemberg hat in dem Beschluss zur Anfechtungsbefugnis des Steuerschuldners in Bezug auf die vom Arbeitgeber abzugebende Steueranmeldung als fingierter Steuerbescheid Stellung genommen. In Bezug auf diesen fingierten Steuerbescheid wurde zum einen die Steuerverwaltungsaktqualität und zum anderen eine Beschwer des Steuerschuldners abgelehnt, da die Steueranmeldung wie ein Anerkenntnis nur gegenüber dem Entrichtungsschuldner wirke, der diese abgegeben hat.194 Vorliegend geht es jedoch um die Beschwer des Steuerschuldners durch den Erlass eines Nachforderungsbescheids. Dieser ergeht erst im Anschluss an die etwaig angegebene Steueranmeldung und erfüllt unstreitig alle Voraussetzungen eines Steuerverwaltungsakts nach § 118 AO. Auch kommt insofern nicht in Betracht eine Beschwer des Steuerschuldners abzulehnen, weil der Nachforderungsbescheid nur gegenüber dem Entrichtungsschuldner Wirkung entfalte. Im Gegensatz zur vom Entrichtungsschuldner abgegebenen Steueranmeldung ist der Nachforderungsbescheid nicht mit einem Anerkenntnis vergleichbar. Eine personelle Begrenzung der Wirkungsadressaten auf die die Steueranmeldung abgebenden Personen ist für den Nachforderungsbescheid aus diesen Gründen nicht anzubringen. Anders beurteilt Rätke die Drittanfechtungsbefugnis für die Kapitelertragsteuer.195 Hier sei der Gläubiger der Kapitelerträge berechtigt, sogar die Kapital-

191

Rätke, in: Klein, AO, § 350, Rn. 49. Rätke, in: Klein, AO, § 350, Rn. 49. 193 FG Baden-Württemberg, Beschluss vom 14. 10. 1991 – 12 V 6/91, EFG 1992, 110, 111; Verweis in Rätke, in: Klein, AO, § 350, Rn. 49. 194 FG Baden-Württemberg, Beschluss vom 14. 10. 1991 – 12 V 6/91, EFG 1992, 110, 111. 195 Rätke, in: Klein, AO, § 350, Rn. 55. 192

II. Festsetzung der Haftungsschuld durch Nachforderungsbescheid 

163

ertragsteueranmeldung des Schuldners der Kapitalerträge anzufechten.196 Gründe für die unterschiedliche Behandlung der Beschwer des Steuerschuldners in Bezug auf Lohn- und Kapitelertragsteuer liefert der Autor nicht. Auch die zitierte Entscheidung des BFH setzt sich nur in geringer Tiefe mit der Anfechtungsbefugnis auseinander. Zur Beschwer des Steuerschuldners führte der erste Senat nur an, dass der Entrichtungsschuldner den Steuerabzug für Rechnung des Steuerschuldners vornehme und hierdurch seine steuerlichen Interessen berührt würden.197 Schließlich gesteht Rätke dem Vergütungsgläubiger auch gegen eine Anmeldung des Vergütungsschuldners beim Steuerabzug nach § 50a Abs. 4 EStG eine Anfechtungsbefugnis zu.198 Der erste Senat begründet in dem von Rätke zitierten Urteil die Anfechtungsbefugnis damit, dass die Steueranmeldung unmittelbar in die Rechtsbeziehungen zwischen dem Vergütungsgläubiger und dem Vergütungsschuldner eingreife und ersterem damit die Möglichkeit nehme, gegenüber dem Vergütungsschuldner die Zahlung der vollen Vergütung an sich selbst zu verlangen.199 Der Unterschied zur Lohnsteuer erschließt sich diesbezüglich nicht. Laut Cöster und Keß ist die Drittanfechtungsbefugnis ein Ausnahmefall.200 Nachteile auf einem außersteuerrechtlichen Gebiet seien nicht ausreichend, um eine Anfechtungsbefugnis zu begründen.201 Es sei ein steuerrechtliches Interesse an dem anzufechtenden Steuerverwaltungsakt notwendig.202 Eine Anfechtungs­ befugnis solle nach wohl überwiegender Ansicht in Literatur und Rechtsprechung bestehen, wenn ein Steuerentrichtungspflichtiger die von einem anderen geschuldete Steuer einbehält und abführt.203 Die die abzuführende Steuer betreffenden Ver 196

Rätke, in: Klein, AO, § 350, Rn. 55; BFH, Urteil vom 12. 12. 2012 – I R 27/12, BStBl. II 2013, 682, 682. 197 BFH, Urteil vom 12. 12. 2012 – I R 27/12, BStBl. II 2013, 682, 682. 198 Rätke, in: Klein, AO, § 350, Rn. 62 mit Verweis auf BFH, Urteil vom 27. 07. 1988 – I R 28/87, BStBl. II 1989, 449, 450. 199 BFH, Urteil vom 27. 07. 1988 – I R 28/87, BStBl. II 1989, 449, 450. 200 Cöster, in: König, AO, § 350, Rn. 22; Keß, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 350, Rn. 29. 201 Cöster, in: König, AO, § 350, Rn. 8. 202 Cöster, in: König, AO, § 350, Rn. 22; Keß, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 350, Rn. 29: Eingriff in die eigene steuerliche Rechtssphäre. 203 Keß, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 350, Rn. 29; Bartone, in: Gosch, AO, § 350, Rn. 19; Cöster, in: König, AO, § 350, Rn. 22; mit Verweis auf BFH, Beschluss vom 24. 03. 1999 – I B 113/98, IStR 1999, 366, BeckRS 1999, 30052838, Tz. III. 1. b) aa): der 1. Senat nimmt allgemein an, dass eine Drittanfechtungsbefugnis des Steuerschuldners bei Entrichtungsschuldnerschaft eines anderen bestünde und erkennt dies in den Urteilsgründen ausdrücklich für den Steuerabzug nach § 50a EStG an; Siegers, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO § 350, Rn. 68: Der Autor zählt lediglich Fälle aus der Rechtsprechung auf, in denen eine Drittanfechtungsbefugnis bejaht wurde. Interessant ist für die hiesige Betrachtung nur die erwähnte Anfechtungsbefugnis des Steuerschuldners gegen einen an den Entrichtungsschuldner gerichteten Kapitalertragsteuerbescheid sowie die Lohnsteueranmeldung des Arbeitgebers; Oellerich, in: Gosch, AO, § 166, Rn. 66; Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 166, Rn. 23: Der Autor nimmt allerdings nur ausdrücklich auf die Anfechtungsbefugnis des Steuerschuldners für die Steueranmeldung Bezug; Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 166, Rn. 14; Ablehnung der Anwendbarkeit des § 166 AO jedoch Cöster, in: König, AO, § 166, Rn. 16.

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B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

waltungsakte sollen auch von dem Steuerschuldner angefochten werden können.204 Die von Keß geforderte Möglichkeit der Verletzung einer drittschützenden Rechtswirkung sei für Steuerschuldner bei Entrichtungsschuld eines Dritten erfüllt.205 An anderer Stelle nimmt Cöster zur Beschwer durch Besteuerungsgrundlagen oder Begründungen von Steuerbescheiden Stellung.206 Maßgeblich für die Beschwer sei grundsätzlich der Tenor eines Bescheids.207 Die Besteuerungsgrundlagen sollen ausnahmsweise eine Beschwer begründen, sofern sie Bindungswirkung für andere Verfahren haben.208 Es stellt sich die Frage, ob eine solche Bindungswirkung von § 166 AO ausgehen könnte. Eine mittelbare Drittwirkung der Steuerfestsetzung gegenüber dem Entrichtungsschuldner über eine etwaige Bindungswirkung der Besteuerungsgrundlagen zu konstruieren, würde zu einem Zirkelschluss führen. § 166 AO fordert eine Anfechtungsbefugnis, die sich aus § 350 AO ergibt. § 350 AO würde für diesen Fall eine Bindungswirkung erfordern, die sich aus § 166 AO ergeben könnte. Die Aussage kann demnach nicht so verstanden werden, dass eine solche Bindungswirkung des § 166 AO ausreichend sein könnte, um eine Drittanfechtungsbefugnis zu begründen. Es können hiermit vielmehr nur materielle Bindungswirkungen gemeint sein. § 166 AO stellt hingegen verfahrenstechnisch einen Einwendungsausschluss dar. Krumm differenziert hinsichtlich der Anwendbarkeit des § 166 AO für den Steuerschuldner in Fällen des Steuerabzugsverfahrens zwischen Fallgruppen, in denen das Steuerabzugsverfahren abgeltende Wirkung hat und solchen, in denen dem Steuerabzugsverfahren ein eigenständiges Veranlagungs- oder Erstattungsverfahren nachfolgt.209 In letzteren Fällen könne es keine Drittwirkung gegen.210 Bei konsequenter Anwendung dieser Ansicht, bleibt kaum Raum für Drittwirkungen gegenüber dem Steuerschuldner beim Erlass eines Nachforderungsbescheids. Dem Lohnsteuerabzug kann sowohl ein Lohnsteuerjahresausgleich (§ 42b EStG) als auch ein eigenständiges Veranlagungsverfahren zur Einkommensbesteuerung des Steuerschuldners in den Fällen des § 46 EStG nachgelagert sein. Das Lohnsteuerjahresausgleichsverfahren schließt das Lohnsteuerabzugsverfahren als letzten Akt ab211 und ist demzufolge noch ein Bestandteil desselben. Dieses Verfahren dürfte demnach nicht als eigenständiges Erstattungsverfahren im Sinne der zuvor dargelegten Ansicht anzusehen sein. Das Einkommensteuerveranlagungsverfahren erfüllt die Voraussetzung der Eigenständigkeit, sodass § 166 AO auf den Arbeitnehmer als Lohnsteuerschuldner nach der von Krumm vertretenen Ansicht nie Anwendung finden dürfte. Es dürfte hierfür nicht darauf ankommen, ob im 204

Cöster, in: König, AO, § 350, Rn. 22. Keß, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 350, Rn. 29. 206 Cöster, in: König, AO, § 350, Rn. 27. 207 Cöster, in: König, AO, § 350, Rn. 26. 208 Cöster, in: König, AO, § 350, Rn. 27. 209 Krumm, in: Tipke / Kruse, AO, § 350, Rn. 24. 210 Krumm, in: Tipke / Kruse, AO, § 350, Rn. 24. 211 Heuermann, in: Blümich, EStG, § 42b, Rn. 3. 205

II. Festsetzung der Haftungsschuld durch Nachforderungsbescheid 

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konkreten Fall die Voraussetzung der Veranlagung zur Einkommensteuer nach § 46 EStG erfüllt sind. Denn nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG ist eine Veranlagung auf Antrag, insbesondere zur Anrechnung von Lohnsteuer auf die Einkommensteuer, möglich. Es läge andernfalls in der Hand des Steuerschuldners, die Drittwirkungsgeeignetheit durch die Beantragung der Veranlagung zu zerstören. Trotz grundsätzlich bestehender Abgeltungswirkung der Kapitelertragsteuer212 wäre die Drittwirkungsgeeignetheit nach dieser Ansicht ebenfalls aus Gründen des § 46 EStG abzulehnen. Für die Bauabzugsteuer käme wegen zwingender Veranlagung keine Drittwirkungsgeeignetheit des Nachforderungsbescheids in Betracht. Auch für den Steuerabzug nach § 50a Abs. 1 EStG ist nach § 50 Abs. 2 S. 2 Nr. 5 EStG eine Veranlagung auf Antrag möglich, sofern es sich um Einkünfte nach § 50a Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4 EStG handelt. Ebenfalls nicht von der Abgeltungswirkung des Steuerabzugs erfasst sind Einkünfte eines inländischen Betriebs, Einkünfte bei der nachträglichen Feststellung der unbeschränkten Steuerpflicht, bei zeitanteiliger unbeschränkter Steuerpflicht innerhalb eines Kalenderjahrs sowie bei Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit im Sinne des § 49 Abs. 1 Nr. 4 EStG, wenn ein Freibetrag nach § 39a Abs. 4 EStG gebildet worden ist oder wenn die Veranlagung zur Einkommensteuer beantragt wird. In allen diesen Fällen besteht neben dem Steuerabzugsverfahren nach § 50a Abs. 4 EStG ein selbstständiges Veranlagungsverfahren. Raum für eine Drittwirkung ergäbe sich nach der Ansicht Krumms demnach nur außerhalb der genannten Fallgruppen, wodurch der drittwirkungsgeeignete Sektor auch innerhalb des Steuerabzugs nach § 50a Abs. 4 EStG erheblich verringert wird. Beim Steuerabzug nach § 50a Abs. 7 EStG wird die Abgeltungswirkung durch Verweis auf die Nichtanwendbarkeit des § 50 Abs. 2 S. 1 EStG in § 50a Abs. 6 S. 4 EStG vor vorneherein ausgeschlossen, sodass dieser Steuerabzug mit dem Bauabzugsteuerverfahren vergleichbar ist und eine Drittwirkung ebenso ausscheidet. Dem Steuerabzug bei der Versicherungsteuer geht kein selbstständiges Veranlagungsverfahren mehr nach, sodass für diese nach der hier vertretenen Ansicht der Anwendungsbereich des § 166 AO eröffnet wäre. Eine ähnliche Sichtweise vertritt von Wedelstädt. Dieser differenziert zwar nicht ausdrücklich zwischen der Möglichkeit der Durchführung eines selbstständigen Veranlagungsverfahrens, sondern stellt darauf ab, ob das Steuerabzugsverfahren abgeltende Wirkung hat.213 Diese Sichtweise kommt jedoch zum selben Ergebnis wie die von Krumm vertretene Ansicht, da ein Steuerabzugsverfahren stets und nur dann abgeltende Wirkung haben kann, wenn keine nachgelagerte Veranlagung mehr möglich ist. Damit wird der Anwendungsbereich des § 166 AO im Nachforderungsverfahren sehr eingeschränkt, da dieser ebenfalls nur in den Fällen eröffnet sein wird, die außerhalb der im vorangegangenen Abschnitt aufgelisteten Fallgruppen liegen bzw. die Versicherungsteuer betreffen.

212 213

§ 43 Abs. 5 S. 1 EStG. von Wedelstädt, in: Kühn / von Wedelstädt, AO, § 166, Rn. 9.

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B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

Keine der Kommentierungen befasst sich ausdrücklich mit der Anfechtungsbefugnis des Steuerschuldners gegenüber einem Nachforderungsbescheid gegen den Entrichtungsschuldner. Der Wortlaut des § 166 AO und des § 350 AO ist offen und bedarf zur Beantwortung der Frage, ob der Steuerschuldner eine Anfechtungsbefugnis aus eigenem Recht hat, der Auslegung. Systematisch lässt sich gegen eine Anfechtungsbefugnis nicht vorbringen, dass das Steuerverwaltungsverfahren gegenüber dem Steuerschuldner und das solche gegenüber dem Entrichtungsschuldner verfahrensrechtlich zweierlei sind. § 166 AO dient seinerseits dazu, eine Verbindung zwischen diesen zwei zu unterscheidenden Steuerverwaltungsverfahren zu schaffen. Dass diese Verfahren grundsätzlich getrennt voneinander zu betrachten sind, lässt sich für die Auslegung der Anfechtungsbefugnis nicht vorbringen, da eine Drittanfechtung stets einen nicht in dem anderen Steuerschuldnerverhältnis unmittelbar integrierten Steuerpflichtigen betrifft. Die Vorgängernorm des § 166 AO war § 119 Abs. 2 RAO 1931214, der noch in unmittelbarem Regelungszusammenhang mit der Haftung stand.215 § 119 Abs. 1 RAO 1931216 regelte die Rechtmittelbefugnis des Haftungsschuldners. Die Vorgängernorm des § 166 AO stand damit in völlig anderem Regelungskontext als die heutige Norm, die sich im Abschnitt zur Steuerfestsetzung befindet.217 Hieraus kann man im Umkehrschluss folgern, dass die Vorgängernorm primär darauf abzielte, dass die Steuerfestsetzung Bindungswirkung gegenüber dem Haftungsverfahren entfaltet. Der heutigen Norm hingegen könnte mit Blick auf diese Vorgeschichte wegen der neuen Stellung im allgemeinen Teil der Vorschriften zum Erlass eines Steuerbescheids weitergehende Wirkung zugesprochen werden. Die Norm soll nicht nur für das Haftungsverfahren Anwendung finden. Vielmehr soll eine Bindungswirkung auch zwischen zwei Steuerfestsetzungen möglich sein, sofern die weiteren Voraussetzungen vorliegen. Hiervon kann jedoch nicht auf die Auslegung der Anfechtungsbefugnis des Steuerschuldners aus eigenem Recht gefolgert werden. Dies ist eine materielle Fragestellung, die nicht durch die verfahrensrechtliche Stellung der Norm inhaltlich ausgefüllt werden kann. Teleologisch spricht für eine Ablehnung der Anfechtungsbefugnis und mithin der Ablehnung der Bindungswirkung des § 166 AO, dass der Steuerschuldner als Träger der wirtschaftlichen Belastung mit dieser eine „ranghöhere Stellung“ als der Entrichtungsschuldner einnimmt. Dieser wird lediglich als Fremdschuldner tätig. Somit kann man argumentieren, dass dem Primärschuldner als Belastungsadressat einer Steuer nicht zugemutet werden kann, sich inhaltlich mit einer gegenüber einem anderen Steuerpflichtigen erlassenen Steuerbescheid auseinander zu setzen. Da der Eingriff in seine Grundrechte durch die Belastung mit der Steuer im Ergebnis am intensivsten ist, könnte man von ihm eine Wehr hiergegen und einen 214

RGBl. 1931, S. 50. Krumm, in: StuW 2012, 329, 336. 216 RGBl. 1931, S. 50. 217 Krumm, in: StuW 2012, 329, 336. 215

II. Festsetzung der Haftungsschuld durch Nachforderungsbescheid 

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damit verbundenen Einwendungsausschluss im eigenen Besteuerungsverfahren nur fordern, sofern dieser selbst Adressat des Bescheides ist. Da er sich dem größten Eingriff gegenübersieht, träfe ihn ein Präklusionsausschluss am stärksten. Eine solche Restriktion des § 166 AO, die sich an der Wirkungsbelastung eines Verwaltungsaktes orientiert, ist gesetzlich jedoch nicht vorgesehen. Die Frage der Anfechtungsbefugnis und der daraus folgenden Präklusion von Einwendungen kann nur daran gebunden werden, ob steuerrechtliche Interessen des Steuerschuldners berührt werden. Wird in dem Nachforderungsbescheid gegenüber dem Entrichtungsschuldner eine Steuernachforderung geltend gemacht, so kann der Entrichtungsschuldner den Steuerschuldner hierfür zivilrechtlich in Regress nehmen, sofern er diesen Betrag nicht einbehalten, sondern an den Steuerschuldner ausbezahlt hat. Dies betrifft lediglich eine wirtschaftliche Belastung. Inhaltlich betrifft die gegenüber dem Entrichtungsschuldner im Rahmen des Nachforderungsbescheids geltend gemachte Zahllast jedoch die primär vom Steuerschuldner geschuldete Steuer. Inhalt des Nachforderungsbescheids ist eine Fremdschuld des Entrichtungsschuldners. Dieser wird für Rechnung des Steuerschuldners tätig. Wenn der Entrichtungsschuldner nunmehr als eine Art „Vertreter“ für den Steuerschuldner gegenüber der Finanzverwaltung in einem steuerrechtlichen Rechtsverhältnis auf Rechnung des Steuerschuldners tätig wird, vermag man nur schwer eine Betroffenheit des Steuerschuldners in seinen steuerlichen Interessen ablehnen können. Seine steuerlichen Interessen sind hierbei unabhängig von der Frage betroffen, ob das Steuerabzugsverfahren mit einer gewissen Endgültigkeit ausgestattet ist und kein Veranlagungsverfahren mehr stattfindet. Eine solche Differenzierung ist gesetzlich nicht vorgesehen. Sie erscheint dem Gedanken nach sinnvoll. Es muss jedoch bedacht werden, dass es aus Gründen der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung und der Beschleunigung von Steuerverwaltungsverfahren nur geboten sein, dass Einwendungen der betroffenen Steuerpflichtigen so früh wie möglich vorgebracht werden. Die Bindungswirkung des § 166 AO gegenüber dem Steuerpflichtigen bei Erlass eines Nachforderungsbescheids ist demnach zu bejahen. (2) Haftungsschuldner als Drittwirkungsadressat Ein Haftungsschuldner soll erst durch den ihm gegenüber ergehenden Haftungsbescheid beschwert sein.218 Eine Beschwer in Bezug auf den gegenüber dem Steuerschuldner ergehenden Steuerbescheid soll nicht vorliegen.219 Fraglich ist jedoch, ob die Festsetzung der Entrichtungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens Drittwirkung gegenüber einem Haftungsbescheid ent 218 219

Cöster, in: König, AO, § 350, Rn. 8. Cöster, in: König, AO, § 350, Rn. 8.

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B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

falten kann. Nachforderungs- und Haftungsverfahren müssen sich grundsätzlich nicht ausschließen.220 Ergeht nach Erlass eines Nachforderungsbescheids ein Haftungsbescheid, stellt sich die Frage, ob der Einwendungsausschluss des § 166 AO im Haftungsverfahren greifen kann. Hierzu schweigen die einschlägigen Kommentierungen.221 Die Frage ist eindeutig zu bejahen, sofern Entrichtungs- und Haftungsschuldner personenidentisch sind. Hierbei kommt es nicht einmal auf die Diskussion an, ob der Haftungsschuldner eine Anfechtungsbefugnis aus eigenen Recht hat. Da der Haftungsschuldner personenidentisch mit dem Entrichtungsschuldner ist, hätte er wegen Konfusion der verfahrensrechtlichen Stellungen ein Anfechtungsrecht gehabt. Es wäre in der Lage gewesen als eine Art fiktiver Vertreter den Bescheid anzufechten. Auf eine Beschwer in seiner Position als Haftungsschuldner nach § 350 AO kommt es demzufolge nicht an. Fallen Steuerentrichtungs- und Haftungsschuldnerschaft auseinander, stellt sich die Frage, ob der Haftungsschuldner durch den Nachforderungsbescheid beschwert ist und infolgedessen ein Anfechtungsrecht gehabt hätte. Von der Gesamtschuldnerschaft zwischen Steuerentrichtungs- und Haftungsschuldner222 kann nicht unmittelbar auf die Anwendbarkeit des § 166 AO geschlossen werden.223 Jedoch sollte auch für den Haftungsschuldner vom Nachforderungsbescheid gegenüber dem Steuerentrichtungsschuldner eine Beschwer ausgehen, da dieser Bescheid inhaltlich identisch mit der Haftungsschuld des Haftungsschuldners ist. Demnach dürfte auch gegenüber dem Haftungsschuldner eine Drittwirkung nach § 166 AO eingreifen.

2. Formelle Verfahrensvoraussetzungen des Nachforderungsbescheids a) Zuständigkeit Die sachliche Zuständigkeit für den Erlass des Nachforderungsbescheids richtet sich nach § 16 AO i. V. m. § 17 FVG. Gemäß § 17 FVG sind die Finanzämter sind als örtliche Landesbehörden für die Verwaltung der Steuern zuständig. Dies umfasst den Erlass von Steuerbescheiden nach § 155 AO, sodass der Erlass von Nachforderungsbescheiden bei unterbliebener oder fehlerhafter Steueranmeldung den Finanzämtern obliegt. Den hiesig betrachteten Haftungstatbeständen liegen Steueranmeldeverpflichtungen zugrunde, die allesamt die Besteuerung von Einkommen betreffen. Grundsätzlich ist für den Erlass der diesbezüglichen Steuerbescheide nach §§ 17, 19 f. AO 220

Vgl. im Ergebnis zur wahlrechtsgebundenen Exklusivität der Verfahren Kapitel D. I. Vgl. hierzu Kapitel D. I. 222 So zumindest für die Versicherungsteuer, vgl. § 7 Abs. 8 S. 1 VersStG. 223 BFH, Urteil vom 12. 01. 2011 – XI R 11/08, BStBl. II 2011, 477, 479. 221

II. Festsetzung der Haftungsschuld durch Nachforderungsbescheid 

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das Wohnsitz- bzw. Geschäftsleitungssitzfinanzamt örtlich zuständig. Etwas anderes kann sich jedoch gemäß § 17 AO aus anderen Vorschriften ergeben. aa) Zuständigkeit für die Lohnsteuernachforderung Gemäß § 41a Abs. 1 S. 1 EStG muss der Arbeitgeber die Lohnsteueranmeldung beim Betriebsstättenfinanzamt einreichen und die einbehaltene Lohnsteuer an dieses abführen. Diese besondere Zuständigkeit für das Anmeldeverfahren führt dazu, dass die Kompetenz zur Festsetzung von Lohnsteuer im Nachforderungsverfahren ebenfalls beim Betriebsstättenfinanzamt liegt. Die Festsetzung betrifft die Primärebene der Erhebung der Lohnsteuer, sodass es zu keiner Verschiebung der Zuständigkeit kommt. bb) Zuständigkeit für die Kapitalertragsteuernachforderung Die besondere Zuständigkeit für die Nachforderung von Kapitalertragsteuer ergibt sich aus § 44 Abs. 1 S. 5 EStG. Zuständig ist jeweils das für den Entrichtungsschuldner zur Einkommensbesteuerung zuständige Finanzamt. Je nachdem, wer Entrichtungsschuldner in Bezug auf den vorliegenden Kapitalertrag ist, ist dies das für die Einkommensbesteuerung des Schuldners der Kapitalerträge, der den Verkaufsauftrag ausführenden Stelle oder der die Kapitalerträge auszahlenden Stelle zuständige Finanzamt. cc) Zuständigkeit für die Bauabzugsteuernachforderung Die Steueranmeldung zur Bauabzugsteuer erfolgt bei dem für die Einkommensbesteuerung des Bauleistenden zuständigen Finanzamt, vgl. § 48a Abs. 1 S. 2 EStG. Dieses hat auch die Kompetenz einen Nachforderungsbescheid zu erlassen. dd) Zuständigkeit für Nachforderungen beim Steuerabzug nach § 50a EStG Die Zuständigkeit für die Steueranmeldung ergibt sich aus § 73e S. 2 EStDV. Der Schuldner muss die Steueranmeldung beim BZSt einreichen. Dieses hat auch die Kompetenz einen Nachforderungsbescheid zu erlassen.

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B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

ee) Zuständigkeit für die Versicherungsteuernachforderung Nach § 7a VersStG ist das BZSt für die Versicherungsteuer zuständig. Da hierbei nicht zwischen dem Weg der Inanspruchnahme sowie der in Anspruch zu nehmenden Personen unterscheidet, ist die Zuständigkeit ex lege einheitlich geregelt. ff) Anwendbarkeit der Zuständigkeitsregelungen für Haftungsbescheide Fraglich ist, ob bei der Geltendmachung der Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsbescheids auf die Zuständigkeitsregelungen für das Haftungsverfahren zurückgegriffen werden kann. Für die materiellen Voraussetzungen der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des Nachforderungsbescheids wird gefordert, dass zumindest die tatbestandlichen Voraussetzungen der jeweiligen Haftungsnorm vorliegen müssen.224 So könnte man ebenfalls auf formeller Seite fordern, dass die nach für das Haftungsverfahren zuständige Behörde den Nachforderungsbescheid erlassen muss. Die Frage ist für die hiesig betrachteten Haftungstatbestände rein dogmatischer Natur, da sowohl für den Erlass des Haftungsbescheids als auch für die Primär­ zuständigkeit im Steuerabzugsverfahren die gleichen Finanzämter örtlich zuständig sind. Trotz des Gleichlaufs der Zuständigkeiten liegen jedoch zwei im Kern etwas Verschiedenes regelnde Vorschriften vor. Für einen Rückgriff auf die haftungsrechtliche Zuständigkeit spricht eine inhaltliche Systemtreue bei der Geltendmachung einer Haftungsschuld im Nachforderungsverfahren. Hierbei betrachtet man einen Gleichlauf zwischen den materiellen und formellen Aspekten als notwendig. Auf der anderen Seite wäre es systemwidrig für den Erlass eines Steuerbescheids auf die Zuständigkeitsregelungen für das Haftungsverfahren zurückzugreifen. Beide Verfahren sind im System der Abgabenordnung voneinander getrennt. Anders ist dies lediglich bei der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners bei der Versicherungsteuer zu beurteilen. In § 7 Abs. 8 S. 3 VersStG wird ausdrücklich ein Wahlrecht zur Inanspruchnahme des Haftungsschuldners mittels Steuerbescheids geregelt. In Ergänzung dazu bestimmt § 7a VersStG die Zuständigkeit für die Geltendmachung der Versicherungsteuer unabhängig von der Verfahrensform. Für die Inanspruchnahme ist hierbei stets das BZSt zuständig. Eine solche gemeinsame Regelung für Steuerfestsetzungsund Haftungsverfahren ist in Bezug auf die hier untersuchten Tatbestände des EStG nicht vorhanden. Insofern ist jeweils auf die Vorschriften für das Steuerfest­ setzungs- und für das Haftungsverfahren separat abzustellen.

224

Vgl. hierzu Kapitel B. II. 3. c).

II. Festsetzung der Haftungsschuld durch Nachforderungsbescheid 

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b) Anhörungserfordernis Nach § 91 Abs. 1 S. 1 AO soll dem Beteiligten die Gelegenheit gegeben werden, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in seine Rechte eingreift. § 91 AO ist eine einfachgesetzliche Ausgestaltung des Grundsatzes rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG.225 § 91 AO statuiert hierbei für alle Steuerverwaltungsakte ein Anhörungserfordernis in Form einer Soll-Vorschrift.226 Das Vorliegen einer Soll-Vorschrift bedeutet, dass im Regelfall eine Anhörung erforderlich ist.227 Regelmäßig erfolgt die Anhörung schon durch Abgabe einer Steuererklärung228 und somit auch durch Abgabe einer Steueranmeldung, die eine besondere Form einer Steuer­ erklärung darstellt. Eine Anhörung nach § 91 Abs. 1 S. 2 AO ist insbesondere dann notwendig, wenn von dem in der Steuererklärung erklärten Sachverhalt zuungunsten des Steuerpflichtigen wesentlich abgewichen werden soll. Hierbei ist zu beachten, dass die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des Nachforderungsbescheids erst in Betracht kommt, wenn entweder keine Steueranmeldung abgegeben wurde oder die abgegebene Steueranmeldung nicht vollständig oder fehlerhaft ist. Im ersteren Fall wurde keine Steueranmeldung abgegeben, sodass inhaltlich noch keine Anhörung stattgefunden hat. Die Finanzbehörde muss dem Steuerpflichtigen nur die Möglichkeit zur Anhörung geben.229 Es dürfte demnach ausreichend sein, dass der Steuerpflichtige die Steueranmeldung als Anhörungsmöglichkeit hätte abgeben können. Bei der fehlerhaften Anmeldung hingegen dürfte eine erneute Möglichkeit zur Stellungnahme vor Erlass des Nachforderungsbescheids notwendig sein, da ansonsten eine von einer Steuererklärung zu Lasten des Steuerpflichtigen nachteilige Abweichung vom Sachverhalt stattfindet, für die § 91 Abs. 1 S. 2 AO ausdrücklich ein (zusätzliches) Anhörungserfordernis statuiert, das nicht schon mit der Steuererklärung abgegolten werden kann.230 Würde man nun in dem Erlass eines Nachforderungsbescheids eine Ermessensentscheidung sehen, um einen Gleichlauf mit dem Erlass eines Haftungsbescheids zu schaffen, so würde dies auch Auswirkungen auf das Anhörungserfordernis nach sich ziehen. Selbst wenn der Erlass eines Nachforderungsbescheids wie nach bisheriger Verwaltungspraxis und Rechtsprechung231 ohne Ermessensausübung zulässig

225

Rätke, in: Klein, AO, § 91, Rn. 1. Rätke, in: Klein, AO, § 91, Rn. 1. 227 Rätke, in: Klein, AO, § 91, Rn. 1. 228 Rätke, in: Klein, AO, § 91, Rn. 3. 229 Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 91, Rn. 12; Wünsch, in: König, AO, § 91, Rn. 12; Schmitz, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 91, Rn. 22. 230 Zur Mehrstufigkeit des Anhörungserfordernisses ebenfalls Helsper, in: Koch / Scholtz, AO, § 91, Rn. 4. 231 BFH, Urteil vom 07. 07. 2004 – VI R 171/00, BStBl. II 2004, 1087, 1088; BFH, Urteil vom 13. 09. 2000 – I R 61/99, BStBl. II 2001, 67, 69; BMF-Schreiben vom 27. 12. 2002 IV A 5 – S 2272 – 1/02, Beihefter zu DStR 07, 2003, 1, Tz. 78, 88; Nacke, in: DStR 2005, 1297, 1298. 226

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B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

sein sollte, müsste man überlegen, ob nicht zum Gleichlaut mit dem Haftungsverfahren eine Anhörung notwendig ist. c) Form Der Nachforderungsbescheid ist ein Steuerbescheid. Die einzuhaltenden Formvorschriften ergeben sich aus § 157 AO. Der Steuerbescheid muss schriftlich oder elektronisch ergehen, sofern nicht Abweichendes geregelt ist. Darüber hinaus muss der Bescheid die festgesetzte Steuer nach Art und Betrag bezeichnen und angeben, wer die Steuer schuldet. Ferner ist der Steuerbescheid mit einer Rechtsbehelfs­ belehrung zu versehen. aa) Angabe des Steuerschuldners Der über § 167 Abs. 1 S. 1 AO in Anspruch genommene Entrichtungsschuldner als Haftungsschuldner soll nicht Steuerschuldner im Sinne des § 37 AO sein. Die Entrichtungsschuld sei insbesondere keine Steuerschuld.232 Dies zugrunde gelegt müsste der Nachforderungsbescheid die Angabe des Primärschuldners enthalten.233 Der 2. Senat des BFH und das FG Saarland haben trotz der Anwendbarkeit des § 157 Abs. 1 S. 2 AO die Angabe des Haftungsschuldners für ausreichend erachtet, um dem Bestimmtheitsgebot des § 119 AO Genüge zu tun, da zumindest durch Auslegung ermittelt werden könne, um welche Steuerschuld es sich auf Primärebene handelt.234 Es käme für die Erfüllung des Bestimmtheitsgrundsatzes nicht darauf an, wie ein objektiver Dritter die Erklärung des Finanzamts auffassen würde.235 Es sei vielmehr maßgeblich, wie der konkrete Adressat selbst den materiellen Gehalt der Erklärung nach den ihm bekannten Umständen verstehen konnte.236 Für die Angabe des Steuerpflichtigen wird neben dem Verweis auf die Anwendbarkeit des § 157 Abs. 1 S. 2 AO eingewandt, dass auch ihm gegenüber eine Regelung in Form einer Duldungspflicht zum Steuerabzug ergeht.237 Aus dieser ihm gegenüber ergehenden Regelung des Nachforderungsbescheids ergäbe sich ein Anfechtungsrecht desselben gegen die an den Entrichtungsschuldner adressierte Steuerfestsetzung.238 232

Vgl. hierzu Kapitel B. II. 3. a) ee). Anders bei der Versicherungsteuer. FG München, Beschluss vom 07. 04. 2010 – 7 V 508/10, EFG 2010, 1375, 1376; Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 167, Rn.  8; Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 167, Rn. 26; Oellerich, in: Gosch, AO, § 167, Rn. 59; Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  16. 234 BFH, Urteil vom 17. 12. 2014 – II R 18/12, BStBl. II 2015, 619, 619; FG Saarland, Urteil vom 21. 06. 2012 – 1 K 1041/11, BeckRS 2012, 96455, Tz. II. 1. 235 BFH, Urteil vom 17. 12. 2014 – II R 18/12, BStBl. II 2015, 619, 621. 236 BFH, Urteil vom 17. 12. 2014 – II R 18/12, BStBl. II 2015, 619, 621. 237 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  16. 238 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  16.

233

II. Festsetzung der Haftungsschuld durch Nachforderungsbescheid 

173

Die Notwendigkeit der Angabe des Steuerpflichtigen sollte streng nach den für Steuerbescheide geltenden Regeln zu beurteilen sein. Wenn der Finanzbehörde auf der einen Seite die Verfahrensvereinfachung durch Nachforderungsbescheid eröffnet wird, muss sie auf der Kehrseite auch die daraus resultierenden Formanforderungen eines Steuerbescheids gegen sich gelten lassen. Das Wahlrecht kann nicht dazu führen, dass auf der einen Seite keine Ermessensausübung für den Erlass eines Quasihaftungsbescheids im Kleid des Nachforderungsbescheids notwendig sein soll, auf der anderen Seite jedoch die Verfahrensanforderungen der Steuerbescheide nicht eingehalten werden müssen. Das Wahlrecht darf nicht zu einer Vermischung beider Verfahrensarten dahingehend erfolgen, dass die Finanzverwaltung sich die von jeder Verfahrensart günstigen Aspekte heraussuchen darf und beide Verfahrensarten damit vermischt. Eine „Rosinentheorie“ sollte im Rahmen der Eingriffsverwaltung aus rechtsstaatlichen Gründen nicht geduldet werden. Die Angabe des Primärsteuerschuldners im Nachforderungsbescheid ist demnach unabhängig von der Schaffung einer ausreichenden Bestimmtheit wegen § 157 Abs. 1 S. 2 AO notwendig. bb) Adressat des Nachforderungsbescheids / Bekanntgabeadressaten § 155 Abs. 1 S. 2 AO verweist für die Vorschriften zur Bekanntgabe des Steuer­ bescheids auf § 122 Abs. 1 AO. Nach diesem ist ein Steuerverwaltungsakt gegenüber demjenigen Bekanntzugeben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen ist. Die Steuerfestsetzung des Nachforderungsbescheids richtet sich primär gegen den Entrichtungspflichtigen nach § 43 S. 2 AO, der die Steuer anzumelden und abzuführen hat.239 Ihn trifft die Fiktionswirkung des § 168 S. 1 AO.240 Er ist somit Adressat der von der Anmeldung abweichenden Festsetzung der Steuer.241 § 122 Abs. 1 S. 1 Var. 2 AO nennt jedoch auch denjenigen als Bekanntgabe­ adressat, der von dem Verwaltungsakt betroffen ist. Der Inhalt des Nachforderungsbescheids betrifft im Kern auch den Steuerschuldner.242 Dies ist schon deshalb der Natur der Sache nach zutreffend, weil es inhaltlich im Nachforderungsbescheid um die Primärsteuerschuld des Steuerschuldners geht. Der Steuerschuldner schuldet nicht in eigener Person die Einbehaltung und Abführung der Steuer.243 Ihn trifft jedoch eine Duldungspflicht in Bezug auf die mit dem Entrichtungsschuldner gemeinschaftliche Verpflichtung.244 Da sich der Nachforderungsbescheid primär

239

Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  16. Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  16. 241 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  16. 242 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  16. 243 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  16. 244 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  16. 240

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B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

gegen den Entrichtungsschuldner richtet, ist der Steuerschuldner diesbezüglich als Drittbetroffener anzusehen.245 Der Nachforderungsbescheid ist zwar nur an den Entrichtungsschuldner zu adressieren, aufgrund der Doppelwirkung gegenüber dem Entrichtungsschuldner und dem Steuerschuldner ist jedoch auch eine Bekanntgabe gegenüber dem Steuerschuldner erforderlich. Dies ist nur folgerichtig, weil dem Steuerschuldner auch in Bezug auf den Nachforderungsbescheid ein Anfechtungsrecht zusteht.246 Ohne Bekanntgabe des Nachforderungsbescheids über dem Steuerschuldner wird dessen Rechtsschutzmöglichkeit erheblich erschwert. Zur effektiven Wahrnehmung des Anfechtungsrechts ist eine Bekanntgabe des Nachforderungsbescheids auch gegenüber dem Steuerschuldner notwendig.

3. Tatbestandliche Anforderungen an den Nachforderungsbescheid Der Wortlaut des § 167 Abs. 1 S. 1 AO fordert für den Erlass eines Nachforderungsbescheids, dass eine Steuer aufgrund gesetzlicher Verpflichtung anzumelden ist und die Festsetzung im Rahmen des Nachforderungsbescheids zu einer abweichenden Steuer führt oder der Entrichtungspflichtige die Steueranmeldung nicht abgegeben hat. a) Gesetzliche Anmeldepflicht des Haftungsschuldners Die Rechtsgrundlage für die Verpflichtung, eine Steueranmeldung abzugeben, ergibt sich nicht aus § 167 AO. Die Einzelsteuergesetze bestimmen, wann anstelle einer Steuererklärung eine Steueranmeldung durch den Steuerpflichtigen zulässig ist.247 Für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des Nachforderungsbescheids sind hierbei nur solche Steueranmeldungspflichten von Interesse, die nicht den Steuerschuldner betreffen. Die hiesig betrachtete Situation entsteht nur, sofern ein Dritter als Entrichtungspflichtiger verpflichtet ist, eine Steueranmeldung über die Steuerschuld eines personenverschiedenen Steuerschuldners abzugeben.

245

Fritsch, in: König, AO, § 122, Rn. 33: § 122 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 AO beziehe sich nur auf Drittbetroffene, da derjenige, für den der Steuerverwaltungsakt bestimmt ist, automatisch auch von dem Verwaltungsakt betroffen sei. 246 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn. 16, m. w. N. 247 Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 167, Rn. 7.

II. Festsetzung der Haftungsschuld durch Nachforderungsbescheid 

175

aa) Anmeldepflichten mit Fremdschuldnerschaft Insbesondere folgende Anmeldepflichten müssen durch einen Nicht-Steuerschuldner erfüllt werden:248 – Lohnsteueranmeldung nach § 41a Abs. 1 EStG durch den Arbeitgeber für die Lohnsteuer des Arbeitnehmers; – Kapitalertragsteueranmeldung der in § 45a Abs. 2 EStG bezeichneten Stellen für die Kapitalertragsteuer des Gläubigers der Kapitalerträge; – Bauabzugsteueranmeldung nach § 48a Abs. 1 S. 3 EStG durch den Bauleistungsempfänger für die Einkommensteuer des Bauleistenden; – Anmeldung des Steuerabzugs nach § 50a Abs. 1 EStG i. V. m. § 73e EStDV durch den Schuldner der Vergütung für die Einkommensteuer des Vergütungsemp­ fängers; – Anmeldung der Versicherungsteuer nach § 8 VersStG durch den Versicherer für den Versicherungsnehmer; – Anmeldung der Abgabe des Milcherzeugers nach § 11 Abs. 4 MGV durch den Käufer für den Milcherzeuger. bb) Relevanz der Abgabe des Milcherzeugers Zu beachten ist hierbei, dass letztere Anmeldepflicht nach § 11 Abs. 4  MGV für die weitere Untersuchung wenig Relevanz aufweist, da diesbezüglich zwar die Steuerschuldnerschaft der Abgabe und die Anmelde- und Entrichtungspflicht auseinanderfallen. Steuerschuldner der Abgabe nach § 11 Abs. 4 MGV ist der Milcherzeuger. Die Anmeldung und Entrichtung der Abgabe erfolgen nach § 11 Abs. 4 MGV durch den Käufer. Die MGV sieht jedoch im Gegensatz zu den gleichgelagerten verfahrensrechtlichen Situationen in EStG und VersStG keinen Haftungstatbestand vor, nach dem der Käufer für die von ihm nach § 11 Abs. 4 MGV zu entrichtende Abgabe in Anspruch genommen werden kann. Infolgedessen ist das Auseinanderfallen von Steuerschuldnerschaft und Entrichtungspflicht bzw. Anmeldeverpflichtung vorliegend nicht von Belang, da der Käufer für die vom Milcherzeuger geschuldete Steuer nicht im Haftungswege in Anspruch genommen werden kann. Hierfür fehlt eine materiell-rechtliche Haftungsnorm, die eine solche Inanspruchnahme als Ermächtigungsgrundlage anordnet. Erfolgt die Anmeldung der Abgabe nach § 11 Abs. 4 MGV nicht ordnungs­ gemäß oder unterbleibt diese, so kommt nur § 167 Abs. 1 S. 1 AO für die Inanspruchnahme des Entrichtungsschuldners in Betracht. Die Inanspruchnahme des 248

Es werden vorliegend nur Normen des Bundes untersucht.

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B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

Käufers im Haftungsverfahren über § 191 Abs. 1 S. 1 AO ist mangels materiellrechtlicher Haftungsnorm nicht möglich. § 11 Abs. 4 MGV nimmt demzufolge gegenüber den anderen Dreieckskonstellationen eine Sonderrolle ein. Der Entrichtungsschuldner steht nicht für die Abführung der Steuer dergestalt ein, dass er auf Sekundärebene hierfür als Haftungsschuldner in Anspruch genommen werden kann. § 167 Abs. 1 S. 1 AO nennt den Entrichtungspflichtigen, der nicht Haftungsschuldner ist, nicht als Adressaten eines auf dieser Ermächtigungsgrundlage basierenden Nachforderungsbescheids. Um nicht über § 167 Abs. 1 S. 1 AO eine Quasihaftung für die Abgabe nach § 11 Abs. 4 MGV des Käufers einzuführen, darf keine Steuerfestsetzung gegenüber dem Entrichtungsschuldner erfolgen. Dies führt zu der Situation, dass der Milcherzeuger als Steuerschuldner für die rückständige Angabe in Anspruch genommen werden muss. Dies erscheint sachgerecht, sofern der Käufer die Abgabe fehlerhafter Weise nicht einbehalten hat und demzufolge ein zu hohes Entgelt an den Milcherzeuger entrichtet hat. Sofern der Käufer die Abgabe jedoch einbehalten und nicht abgeführt hat, muss der Milcherzeuger bei Inanspruchnahme zivilrechtlichen Regress in Höhe der von ihm nachgeforderten Abgabe nehmen muss. Die Inanspruchnahme des Milcherzeugers als Steuerschuldner darf nicht über § 167 Abs. 1 S. 1 AO erfolgen. Ein Nachforderungsbescheid kann nur gegenüber demjenigen ergehen, der auch in eigener Person verpflichtet ist, eine Steueranmeldung abzugeben. Dies trifft auf den Milcherzeuger nicht zu, da die Anmeldeverpflichtung nach § 11 Abs. 4 MGV dem Käufer obliegt. Eine Steuerfestsetzung gegenüber dem Milcherzeuger als Primärschuldner der Steuer muss demnach unmittelbar auf Grundlage des § 155 AO erfolgen. Dass eine solche Festsetzung gegenüber dem Steuerschuldner zulässig sein muss, ergibt sich um Umkehrschluss aus den bei den speziellen Haftungstatbeständen geregelten Inanspruchnahmeregelungen für den Primärschuldner. So sieht § 42d Abs. 3 EStG vor, dass der Arbeitnehmer als Steuerschuldner im Rahmen der Gesamtschuldnerschaft nur in Anspruch genommen werden kann, wenn der Arbeitgeber die Lohnsteuer nicht vorschriftsmäßig vom Arbeitslohn einbehalten hat oder wenn der Arbeitnehmer weiß, dass der Arbeitgeber die einbehaltene Lohnsteuer nicht vorschriftsmäßig angemeldet hat und er dies nicht angezeigt hat.249 Ähnliche Regelungen sind für die Kapitalertragsteuer in § 44 Abs. 5 S. 2 EStG enthalten. § 50a Abs. 5 S. 5 EStG sieht ausdrücklich vor, dass eine Inanspruchnahme des Steuerschuldners nur möglich ist, wenn der Steuerabzug nicht vorschriftsmäßig vorgenommen wurde. Bezüglich der Abgabe nach § 11 Abs. 4 MGV ist demnach § 167 Abs. 1 S. 1 AO nicht anwendbar, da andernfalls über denselben nicht nur eine Haftung gegenüber dem Entrichtungsschuldner in einem hierfür originär nicht vorgesehenen Verfahren geltend gemacht werden würde, sondern ein nicht einmal im Wege des Haftungsverfahren geltend machbare Inanspruchnahme sta 249 Zur Zulässigkeit der Steuerfestsetzung gegenüber dem Primärschuldner ebenfalls Nacke, Die Haftung für Steuerschulden, 2. Auflage 2007, Rn. 174.

II. Festsetzung der Haftungsschuld durch Nachforderungsbescheid 

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tuiert werden würde. Hierfür liegt mangels speziellen Haftungstatbestands keine Ermächtigungsgrundlage vor, sodass die Inanspruchnahme durch Nachforderungsbescheid rechtswidrig wäre. Die Festsetzung der Primärsteuerlast gegenüber dem Steuerschuldner erachtet – wie selbstverständlich  – ebenfalls Nacke für zulässig.250 Die Zulässigkeit einer solchen Festsetzung könne man schon aus der Formulierung des § 167 Abs. 1 S. 1 AO entnehmen. § 167 Abs. 1 S. 1 AO regelt als lex speciales die Steuerfestsetzung gegenüber demjenigen, der die Steueranmeldung abzugeben hat. Eine Steuerfestsetzung gegenüber dem Primärschuldner muss unmittelbar auf § 155 AO gestützt werden, wenn dieser nicht selbst verpflichtet ist, eine Steueranmeldung abzugeben. cc) Außer Kraft: § 7 BefStG251 Ein weiterer Fall der hiesig betrachteten Dreieckssituation war in § 7 BefStG252 geregelt. Gemäß § 1 Abs. 1 BefStG253 unterlagen die Beförderung von Personen oder Gütern mit dort gelisteten Beförderungsmitteln der Beförderungssteuer. Nach § 7 Abs. 1 S. 1 BefStG254 war Steuerschuldner der Beförderungssteuer, wer den Beförderungspreis zu zahlen hatte. § 7 Abs. 1 S. 2 BefStG255 ordnete die Haftung des befördernden Unternehmers für die Beförderungssteuer an. Nach § 7 Abs. 2 S. 1 BefStG256 hatte der Unternehmer die Steuer zu Lasten des Steuerpflichtigen zu entrichten. Der Steuerschuldner war nach § 7 Abs. 3 S. 1 BefStG257 nicht in Anspruch zu nehmen, wenn er den Beförderungspreis und die darauf anfallende Steuer an den Unternehmer entrichtet hatte. Ein Ausschluss hiervon bestand nach § 7 Abs. 3 S. 2 BefStG258, sofern der Steuerschuldner Kenntnis davon hatte, dass die Steuer nicht ordnungsgemäß von dem Unternehmer an das Finanzamt abgeführt wurde und er dies dem Finanzamt nicht mitteilte. Der Ausgestaltung der Beförderungssteuer nach lag ebenfalls das in dieser Arbeit betrachtete Dreiecksverhältnis zwischen Finanzbehörde, Steuerschuldner und Entrichtungspflichtigem bzw. Haftungsschuldner zugrunde. Die Ausschlusstatbestände wiesen Ähnlichkeit

250

Nacke, Die Haftung für Steuerschulden, 2. Auflage 2007, Rn. 174. BGBl. 1955, S. 367; BefStG und BefStGDV aufgehoben durch § 31 Abs. 1 Nr. 4 und 5 UStG 1967, BGBl. 1967, S. 560; vgl. zur Aufhebung ebenfalls Klenk, in: Sölch / Ringleb, UStG, § 12, Rn. 802. 252 BGBl. 1955, S. 367; BefStG und BefStGDV aufgehoben durch § 31 Abs. 1 Nr. 4 und 5 UStG 1967, BGBl. 1967, S. 560; vgl. zur Aufhebung ebenfalls Klenk, in: Sölch / Ringleb, UStG, § 12, Rn. 802. 253 BGBl. 1955, S. 366. 254 BGBl. 1955, S. 367. 255 BGBl. 1955, S. 367. 256 BGBl. 1955, S. 367. 257 BGBl. 1955, S. 367. 258 BGBl. 1955, S. 367. 251

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B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

mit denjenigen der Haftungstatbestände des EStG auf.259 Da die Norm durch das Umsatzsteuergesetz vom 29. 05. 1967 außer Kraft gesetzt wurde, wird § 7 BefStG im Folgenden nicht weiter vertieft. dd) Begriff der Steueranmeldung In der Literatur wird zum Teil bestritten, dass die Anmeldung eines Steuerentrichtungspflichtigen eine Steueranmeldung im Sinne des § 167 Abs. 1 S. 1 AO sei.260 Dies vermag zumindest dem Wortlaut der Norm nach nicht mehr überzeugen, seitdem in allen hier betrachteten Steuerabzugstatbeständen ausdrücklich von der Abgabe einer Steueranmeldung die Rede ist, oder die abzugebende Anmeldung einer Steueranmeldung gleichgestellt wird.261 Eine Steueranmeldung ist eine Steuererklärung, in der der Steuerpflichtige die Steuer selbst berechnet, § 150 Abs. 1 S. 3 AO.262 Es ist nicht erforderlich, dass diese Selbstberechnung durch den Steuerschuldner erfolgt. Der gewählte Wortlaut des Steuerpflichtigen schließt auch den Entrichtungspflichtigen mit ein. Die erste Komponente einer Steueranmeldung ist, dass sie alle Merkmale einer Steuererklärung erfüllt und darüber hinaus die Selbstberechnung der Steuer enthalten muss. Daneben tritt die zweite Komponente der Steueranmeldung. Diese ist auf Rechtsfolgenseite angesiedelt und erfordert nicht, dass weitere Merkmale erfüllt werden: Die Steueranmeldung führt grundsätzlich zur Fiktion eines Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Es erfolgt in diesem Regelfall keine Festsetzung der Steuerschuld durch den Erlass eines Steuerbescheids durch das Finanzamt.263 Die Steueranmeldung ist Grundlage für die Selbstveranlagung des Steuerpflichtigen.264 Die hier betrachteten Steueranmeldungsverpflichtungen erfüllen beider dieser Komponenten.265 § 167 Abs. 1 S. 1 AO fordert, dass eine Steueranmeldeverpflichtung nach § 150 Abs. 1 S. 3 AO vorliegt, die auf einer gesetzlichen Grundlage basiert. Auch § 150 Abs. 1 S. 3 AO fordert das Vorliegen einer gesetzlichen Verpflichtung zur eigenen Berechnung der Steuerschuld durch den Steuerpflichtigen. In Bezug auf die Anmeldung des Steuerabzugs nach § 50a Abs. 1 EStG i. V. m. § 73e EStDV ergibt sich die Verpflichtung zur Anmeldung der Steuer aus § 73e S. 2 EStDV. Die EStDV stellt eine Rechtsverordnung dar. Auch eine Rechtsverordnung ist eine gesetzliche Grundlage im Sinne des § 150 Abs. 1 S. 3 AO. Nach § 4 AO qualifiziert jede 259

Vgl. hierzu Kapitel A. II. 3. a). Rüsken, in: Klein, AO, § 167, Rn. 5; Cöster, in: König, AO, § 167, Rn. 6. 261 Vgl. zur historischen Entwicklung Kapitel B. I. 1. b). 262 Sikorski / Wüstenhöfer, Abgabenordnung, 3. Auflage 1994, S. 104. 263 Außer in den Fällen des § 167 Abs. 1 AO. 264 Hampel / Benkendorff, Abgabenordnung, 4. Auflage 2001, S. 181. 265 Vgl. hierzu Kapitel A. II. 3. a) bb). 260

II. Festsetzung der Haftungsschuld durch Nachforderungsbescheid 

179

Rechtsnorm als Gesetz im Sinne des Abgabenordnung. Eine Rechtsverordnung ist als Gesetz im materiellen Sinne ebenfalls als Rechtnorm in diesem Sinne anzusehen.266 § 73e S. 2 EStDV ist demzufolge taugliche gesetzliche Grundlage für die Verpflichtung des Entrichtungsschuldners, eine Steuer anzumelden. ee) Gegenstand einer Steueranmeldung Untersuchungswürdig ist, was der Gegenstand einer Steueranmeldung ist.267 Diese Frage setzt sich dahingehend fort, was der Gegenstand der fiktiven Steuerfestsetzung nach § 168 S. 1 AO ist. Teilweise wird vertreten, dass der Festsetzungsgegenstand des Nachforderungsbescheids davon abhänge, ob der Steuerschuldner oder ein Dritter als Fremdschuldner die Steueranmeldung abgibt.268 Gibt der Steuerschuldner eine solche selbst ab, beinhalte der fiktive Steuerbescheid die Festsetzung einer Steuerschuld.269 Gibt hingegen der Entrichtungsschuldner als Fremdschuldner die Steueranmeldung ab, solle in der Festsetzung des fiktiven Bescheids die Haftungsschuld des Fremdschuldners gegenständlich sein.270 Andere Stimmen versuchen auch außerhalb des Versicherungsteuergesetzes eine selbstständige Entrichtungsschuld des Entrichtungsschuldners zu konstruieren.271 Heuermann sieht die vom Arbeitgeber einzubehaltende Lohnsteuer als Regelungsinhalt und damit Gegenstand der Lohnsteueranmeldung an.272 Korrespondierend zu Heuermanns Ansicht müsste man als Regelungsinhalt der fiktiven Steuerfestsetzung die Festsetzung der einzubehaltenden und abzuführenden Steuer aus der Steueranmeldung ansehen. Diese Festsetzung beinhalte jedoch keine Zahlungspflicht auf Grundlage der Entrichtungsschuld, da diese kein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis im Sinne des § 37 Abs. 1 AO sei.273 Die Zahlungspflicht 266

König, in: König, AO, § 4, Rn. 11; Gersch, in: Klein, AO, § 4, Rn. 7. Vgl. zum Streitstand und zutreffender Stellungnahme hierzu Heuermann, Systematik und Struktur der Leistungspflichten im Lohnsteuerabzugsverfahren, S. 82 ff. 268 Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 64e. 269 Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 64e. 270 Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 64e. 271 Thomas, in: DStR 1992, 837, 838; vorsichtiger Hensel, Steuerrecht, Reprintauflage 1986 zur 3. Auflage von 1933, S. 101: Der Autor bezeichnet die Verpflichtung zum Steuerabzug als selbstständige Leistungspflicht des materiellen Steuerrechts und begründet dies damit, dass der Lohnsteuerabzug in den meisten Fällen zur endgültigen Erledigung des Steuerfalls führe. Ob er hiermit einen selbstständigen Anspruch aus einem Steuerschuldverhältnis meint, ist jedoch vor dem Hintergrund fraglich, dass § 97 Abs. 2 RAO 1931, RGBl. 1931, S. 175 sowohl Steuer- als auch Haftungsschuldner kannte und unterschied. Haftungsschuldner waren nach der damaligen Vorschrift nicht einmal Steuerpflichtige, sondern genossen nur eine sinngemäße Anwendung der für die Steuerpflichtigen vorhandenen Vorschriften. 272 Heuermann, Systematik und Struktur der Leistungspflichten im Lohnsteuerabzugsverfah­ ren, S. 95. 273 Heuermann, Systematik und Struktur der Leistungspflichten im Lohnsteuerabzugsverfah­ ren, S. 99. 267

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B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

ergebe sich aber aus den gesetzlichen Kodifizierungen, die die Pflicht beinhalten, eine Steuer abzuführen.274 Heuermanns Ausführungen ist zu folgen. Die fiktive Festsetzung kann nicht die Haftungsschuld beinhalten, da dies eine andere Ebene der Inanspruchnahme betrifft. Zum Haftungsschuldner wird der Entrichtungsschuldner erst, wenn ein Fehler im Vorgang des Steueranmeldeverfahrens vorliegt. Im Grundfall wird er nicht zum Haftungsschuldner, sodass dieser im Zeitpunkt des fiktiven Bescheiderlasses noch gar nicht existiert. Mangels Bestands der Haftungsschuld kann der fiktive Steuerbescheid eine solche auch nicht beinhalten. Ferner nimmt der Wortlaut des § 168 S. 1 AO auf die Steueranmeldung Bezug, deren Inhalt die abzuführende Steuer ist. Somit kann auch die fiktive Festsetzung nur diese zum Gegenstand haben. Für ein systemwidriges Verlassen der Primärebene der Inanspruchnahme besteht keine Notwendigkeit und eine solche wird vom Gesetzeswortlaut auch nicht angezeigt. Bezüglich des jeweiligen Inhalts der Festsetzungen muss zwischen § 168 S. 1 AO einerseits und der aktuellen gesetzlichen Ausformung des Nachforderungsbescheids nach § 167 Abs. 1 S. 1 AO unterschieden werden. Beinhaltet der fiktive Steuerbescheid nach § 168 S. 1 AO nunmehr nach dem zuvor Gesagten die Festsetzung der Entrichtungsschuld in dem Sinne, dass der Bescheid eine Aussage darüber enthält, in welcher Höhe Steuer vom Entrichtungsschuldner einzubehalten und abzuführen ist, so hat der Nachforderungsbescheid nach § 167 Abs. 1 S. 1 AO nach derzeitiger gesetzlicher Ausformulierung einen hiervon abweichenden Inhalt, da er auf die Haftungsschuldnerschaft Bezug nimmt und damit die Primärebene der Inanspruchnahme verlässt.275 Gegenstand des Nachforderungsbescheids ist demnach nach aktueller gesetzlicher Regelung in § 167 Abs. 1 S. 1 AO die materielle Haftungsschuld des Entrichtungsschuldners. ff) Abgrenzung zwischen Entrichtungs- und Haftungsschuld Erwähnung findet im Wortlaut des § 167 Abs. 1 S. 1 AO nur der Haftungsschuldner. Dieser ist technisch gesehen nicht mit dem Steuerentrichtungsschuldner gleichzusetzen. Beim Steuerabzug bestehen drei Rechtsverhältnisse zwischen verschiedenen Personen, sodass ein Dreiecksverhältnis entsteht.276 Entrichtungs- und Haftungsschuld sind in derselben Ebene dieser drei Rechtsverhältnisse angesiedelt. So bezeichnet Heuermann das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Finanzamt als Leistungsverhältnis.277 Sowohl Entrichtungs- als auch Haftungsschuld seien in 274 Heuermann, Systematik und Struktur der Leistungspflichten im Lohnsteuerabzugsverfah­ ren, S. 99. 275 Vgl. hierzu Kapitel B. II. 3. c). 276 Heuermann, Systematik und Struktur der Leistungspflichten im Lohnsteuerabzugsverfah­ ren, S. 76 ff. 277 Heuermann, Systematik und Struktur der Leistungspflichten im Lohnsteuerabzugsverfah­ ren, S. 77.

II. Festsetzung der Haftungsschuld durch Nachforderungsbescheid 

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diesem Leistungsverhältnis zu verorten. Hiervon kann jedoch nicht auf eine Deckungsgleichheit beider geschlussfolgert werden. Heuermann ordnet beide lediglich derselben Leistungsbeziehung zu. Für die Frage, ob § 167 Abs. 1 S. 1 AO auf die Entrichtungsschuld Anwendung finden kann, ist von Bedeutung, in welchem Verhältnis Haftungs- und Entrichtungsschuld zueinanderstehen. Sind diese deckungsgleich, ist die Norm auch auf die Entrichtungsschuld anwendbar. Besteht keine Kongruenz, so ist im Wortlaut nur die Inanspruchnahme eines anmeldenden Haftungsschuldners angelegt. In der Literatur wird teilweise vertreten, dass die Haftungsschuld mit der zeitlich vorgelagerten Entrichtungsschuld identisch sei.278 Andere Stimmen heben die Haftungsschuld von der Entrichtungsschuld dadurch ab, dass letztere eine Erstschuldnerschaft für eine fremde Steuerlast in Form einer Fremdschuldnerschaft sei.279 Der Haftungsbescheid könne die durch Steueranmeldung fiktiv280 festgesetzte Entrichtungsschuld korrigieren.281 Der BFH sah in einem Haftungsbescheid eine Berichtigung der Lohnsteueranmeldung.282 Der Haftungsbescheid und die Änderung der Lohnsteueranmeldung als Festsetzung der Entrichtungsschuld sind jedoch zweierlei. Sie betreffen verschiedene Ebenen der Inanspruchnahme Steuerpflichtiger und können darüber hinaus auch noch verschiedene in Anspruch zu nehmende Personen betreffen, wenn wie bei der Versicherungsteuer keine Personenidentität zwischen Steuerentrichtungsund Haftungsschuldner besteht. Eine Änderung der Steueranmeldung kann nur in Form eines Änderungsbescheid erfolgen. Ist lediglich ein Haftungsbescheid ergangen, so bedürfte es der partiellen Umdeutung des Haftungsbescheids in einen Änderungs- und Haftungsbescheid. Der Haftungsbescheid enthält nämlich nur den Tenor der Inhaftungsnahme auf Sekundärebene. Zur Änderung der Lohnsteuerentrichtungspflicht bzw. der fiktiven Steuerfestsetzung in Folge der Anmeldung muss ein Bescheid vorhanden sein, dessen Tenor auf Änderung der Lohnsteueranmeldung lautet. Sofern Entrichtungs- und Haftungsschuldner personenidentisch sind, können beide Bescheide zusammen ergehen. Ergebnis der Umdeutung muss demnach ein Bescheid sein, der beide Verfügungen miteinander vereint. 278

Thomas, in: DStR 1992, 837, 838. Becker / Riewald / Koch, RAO, 9. Auflage 1963, § 97, Rn. 4. 280 Helmschrott / Schaeberle, Abgabenordnung, 6. Auflage 1990, S. 107. 281 Thomas, in: DStR 1992, 837, 838; so auch BFH, Urteil vom 15. 05. 1992 – VI R 106/88, BStBl. II 1993, 840, 842. 282 BFH, Urteil vom 15. 05. 1992 – VI R 106/88, BStBl. II 1993, 840, 842: mit fragwürdiger Begründung, warum die fehlende Bezeichnung als Änderungsbescheid als unschädlich anzusehen sei. Andernfalls könne das Finanzamt die Änderungsvorschriften unterlaufen, indem es einen Änderungsbescheid nicht als solchen benenne. Ob die Voraussetzungen für eine Änderung vorliegen, hat nichts mit der Bezeichnung des Bescheids als solche zu tun. Eine Umgehung der Voraussetzungen ist vielmehr auch nicht möglich, wenn man den Bescheid als Änderungsbescheid benennt. Der 6. Senat erweckt hier zumindest in geringem Maße den Eindruck, dass die Bezeichnung des Bescheids als Änderungsbescheid das Vorliegen der Voraussetzungen implizieren könnte. 279

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B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

Für die Zulässigkeit der Umdeutung müssen die Voraussetzungen des § 128 AO erfüllt sein. Zunächst stehen sowohl der Haftungs- als auch der Änderungsbescheid im Ermessen der Finanzverwaltung, sodass diesbezüglich noch kein Ausschluss der Umdeutungsfähigkeit aus § 128 Abs. 3 AO erfolgt. Fraglich ist allerdings, ob eine Umdeutung an der gleichen Zielrichtung von Änderungs- und Haftungsbescheid scheitert. Zweck des Haftungsbescheids ist es, einen Dritten für eine fremde Steuerschuld in Anspruch zu nehmen.283 Zweck des Änderungsbescheids ist es, die Lohnsteueranmeldung als fiktive Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung zu ändern. Inhaltlich sind die Primärsteuerschuld sowie die Entrichtungsschuld betroffen. Ein Änderungsbescheid ist ein Steuerbescheid. Es müsste also die Umdeutung eines Haftungsbescheids in einen Steuerbescheid erfolgen. Dies wurde bisher von der Rechtsprechung als unzulässig erachtet.284 Ob eine solche Umdeutung zulässig ist, wird in Kapitel D. III. 2 untersucht. Die Erwähnung des Haftungsschuldners in § 167 Abs. 1 S. 1 AO soll nach in der Literatur vertretener Ansicht auf den Entrichtungspflichtigen hinweisen, der für die Steuer haftet, wenn er eine Anmeldungspflicht verletzt.285 Ferner käme eine andere Auslegung dieses Begriffs auch nicht in Betracht, da im Gesetz keine Anmeldung für eine Haftungsschuld vorgesehen sei.286 Somit würde die Erwähnung des Haftungsschuldners in § 167 Abs. 1 S. 1 AO ins Leere laufen, wenn man darunter nicht den Steuerentrichtungsschuldner verstehen würde. Zum Teil wird zur Begründung der Subsumtion der Haftungsschuld unter den Tatbestand des § 167 Abs. 1 S. 1 AO nur angeführt, dass der Haftungsschuldner nunmehr ausdrücklich erwähnt werde.287 Da de lege lata eine Anmeldung von Haftungsschulden nicht vorgesehen ist, kann die Erwähnung des Haftungsschuldners begriffsnotwendig nur auf die Anmeldung einer fremden Steuerschuld hinweisen, für deren Nichterfüllung der Haftungsschuldner als Entrichtungsschuldner haftet.288 Der Wortlaut der Norm solle nur den materiellen Anspruch des Fiskus hervorheben.289 Der Anspruch auf Entrichtung der Steuerschuld soll kein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis nach § 37 Abs. 1 AO sein, sodass dem Steuerschuldner als Adressat einer Festsetzung 283

Vgl. hierzu Kapitel A. I. 2. BFH, Beschluss vom 29. 04. 1983 – VI S 10/82, BStBl. II 1983, 517, 518: Im Urteilsfall lagen jedoch auch unterschiedliche Steuerverfahren vor, da Lohnsteuer pauschaliert entrichtet wurde. 285 Rüsken, in: Klein, AO, § 167, Rn. 5. 286 Rüsken, in: Klein, AO, § 167, Rn. 5; Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn. 8. 287 Cöster, in: König, AO, § 167, Rn. 6. 288 König, in: König, AO, § 37, Rn. 6; Schmieszek, in: Gosch, AO, § 37, Rn. 14; Cöster, in: König, AO, § 167, Rn. 6; Niedersächsisches FG, Urteil vom 29. 06. 1999 – VI 177/96, EFG 2000, 468, 470; a. A. wohl Heuermann, in: FR 2013, 354, 355: Der Haftungsschuldner sei verpflichtet, die Steuer anzumelden. 289 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  5; Heuermann, in: FR 2013, 354, 355. 284

II. Festsetzung der Haftungsschuld durch Nachforderungsbescheid 

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nur der Haftungsschuldner entsprechen solle.290 Teilweise wird die Einbindung Dritter in die Steuererhebung als gesetzliche Indienstnahme Privater bezeichnet.291 Andere Stimmen sehen die Erhebung durch Dritte nicht als Indienstnahme Privater an, da die Entrichtungsschuldner durch § 33 Abs. 1 AO als Steuerpflichtige gelten,292 sodass sie keine fremden Dritten in Bezug auf die Steuerschuld darstellen sollen, sondern nach § 43 S. 2 AO als selbst steuerpflichtige Dritte neben den Steuerschuldner treten. Zum Teil wird verkannt, dass neben den Fällen des EStG, in denen Entrichtungsund Haftungsschuldner in der Steuerabzugssituation personenidentisch sind, auch Konstellationen bestehen, in denen Entrichtungs- und Haftungsschuldner voneinander abweichen. So wird der Entrichtungsschuldner durch den Wortlaut des § 167 Abs. 1 S. 1 AO nicht angesprochen, sodass für die Inanspruchnahme desselben de lege lata keine Ermächtigungsgrundlage vorliegt. Eine Haftungsschuld wird nach derzeitiger gesetzlicher Ausprägung nicht angemeldet. Der Anmeldung zugänglich ist nur die der Haftungsschuld zugrunde liegende Primärsteuerschuld. Steuerentrichtungs- und Haftungsschuldnerschaft sind nicht deckungsgleich, sodass ersterer im Wortlaut des § 167 Abs. 1 S. 1 AO nicht erwähnt wird. Wenngleich nach dem zuvor Gesagten eine Inanspruchnahme des Entrichtungsschuldners im Wege des Nachforderungsbescheids unzulässig ist, wird der Entrichtungsschuldner dennoch durch die derzeitige Praxis der Finanzverwaltung zu einem vollwertigen Schuldner anstelle eines „nur Verpflichteten“ erhoben. Eine Pflicht stellt eine reine Obliegenheit dar, die nicht im Sinne eines Anspruchs durchsetzbar ist. Das Bestehen eines Anspruchs eröffnet die Inanspruchnahme eines Schuldners. Anspruch und Schuld stehen sich gegenüber. Da nunmehr bei derzeitiger Verwaltungspraxis der Steuerentrichtungsschuldner mittels Nachforderungsbescheids in Anspruch genommen wird, wenn er die Steueranmeldung nicht oder nicht ordnungsgemäß abgibt, wird ihm gegenüber faktisch ein Steueranspruch geltend gemacht, sodass er als Schuldner zu bezeichnen ist, weil er als solcher fungiert. § 43 S. 2 AO lässt dies offen. Die fehlende Erwähnung der Steuerentrichtungsschuld in § 37 AO kann dieser Wertung nicht entgegenstehen. Die Erhebung zum Schuldner erfolgt auf Grund der derzeitigen Verwaltungspraxis. Aus diesem Grund lautet der Titel dieser Arbeit „Die Inanspruchnahme des Fremdentrichtungsschuldners durch Nachforderungsbescheid“. Wenngleich nach derzeitiger gesetzlicher Ausprägung nur in Bezug auf die Versicherungsteuer eine vollwertige Fremdentrichtungsschuld vorliegt, erhebt die derzeitige Verwaltungspraxis den Fremdentrichtungsschuldner auch in den einschlägigen Steuerabzugs 290

Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  5. Heuermann, in: FR 2013, 354, 354. 292 Heuermann, in: FR 2013, 354, 354; Drüen, Die Indienstnahme Privater für den Vollzug von Steuergesetzen, 2012, S. 120. 291

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B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

fällen des EStG zum vollwertigen Schuldner der Abgabe der Steueranmeldung und der Abführung der angemeldeten Steuer. Deswegen wird der Fremdentrichtungsschuldner im Titel auch nicht lediglich als Fremdentrichtungspflichtiger bezeichnet. b) Abweichende Festsetzung oder Unterlassen der Anmeldung § 167 Abs. 1 S. 1 AO fordert für seine Anwendbarkeit, dass der Haftungsschuldner die Steueranmeldung nicht oder nicht zutreffend abgegeben hat. Andersfalls besteht kein Grund für eine Nachforderung. Sofern keiner der Fälle des § 167 Abs. 1 S. 1 AO eintritt, hat die Finanzverwaltung die ordnungsgemäß und in richtiger Höhe einbehaltene Steuer vom Entrichtungsschuldner erhalten. Eine Inanspruchnahme eines Steuerentrichtungsschuldners ist hingegen nicht im Wege eines Nachforderungsbescheids möglich, wenn dieser nicht zur Abgabe einer Steueranmeldung verpflichtet ist.293 Für die Anwendbarkeit des § 167 Abs. 1 S. 1 AO kommt es zwingend darauf an, dass eine Steueranmeldeverpflichtung des Entrichtungspflichtigen besteht. Das Vorliegen einer Entrichtungsschuldnerschaft reicht nur bei gesetzlicher Gleichstellung mit einer echten Steuerschuld aus, um die Bescheidbefugnis aus § 155 AO zu eröffnen. Dies ist lediglich bei der Versicherungsteuer der Fall.294 c) Materielle Voraussetzungen der Haftungstatbestände Gibt der Steuerpflichtige keine Anmeldung im Sinne des § 167 Abs. 1 S. 1 Var. 2 AO ab und besteht eine Pflicht dazu, so stellt die Inanspruchnahme mittels Nachforderungsbescheids nach Rechtsprechung und wohl herrschender Ansicht in der Literatur materiell die Geltendmachung eines Haftungsanspruchs dar.295 Nach anderer Ansicht soll der Nachforderungsbescheid materiell-rechtlich keine Haftungsschuld zum Gegenstand haben.296 Vielmehr soll dieser die Entrichtungspflicht beinhalten.297 Sieht man in dem Erlass des Nachforderungsbescheids gegenüber dem Entrichtungsschuldner die Geltendmachung seiner Entrichtungsschuld, so dürfte der Erlass des Nachforderungsbescheids nicht erfordern, dass die materiellen Vor 293

Vgl. OVG Münster, Beschluss vom 08. 08. 2018 – 14 B 610/18, NVwZ-RR 2018, 901, 901 f. Vgl. § 7 Abs. 8 S. 2 VersStG, der eine ausdrückliche Gleichstellung vorsieht. 295 BFH, Urteil vom 13. 12. 2011 – II R 52/09, BFH / NV 2012, 695, BeckRS 2012, 94601, Rn. 12; BFH, Urteil vom 13. 09. 2000 – I R 61/99, BStBl. II 2001, 67, 69; FG Saarland, Urteil vom 21. 06. 2012 – 1 K 1041/11, BeckRS 2012, 96455, Tz. I. 2; Rüsken, in: Klein, AO, § 167, Rn. 6; Cöster, in: König, AO, § 167, Rn. 14; Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn. 11; Oellerich, in: Gosch, AO, § 167, Rn. 55; Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 167, Rn. 8; Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 167, Rn. 25; Voß / Meder, in: DStR 2015, 1783, 1784. 296 Nacke, in: DStR 2005, 1297, 1298. 297 Nacke, in: DStR 2005, 1297, 1298. 294

II. Festsetzung der Haftungsschuld durch Nachforderungsbescheid 

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aussetzungen der Haftungsnorm vorliegen bzw. dass überhaupt eine Haftungsnorm besteht.298 Dies ist von Relevanz, da § 33 AO ausdrücklich zwischen Entrichtungsund Haftungsschuldner unterscheidet. Entrichtungs- und Haftungsschuld können an unterschiedliche materielle Voraussetzungen geknüpft werden. Ferner zeigt das Versicherungsteuergesetz, dass Entrichtungsschuldner und Haftungsschuldner personenverschiedenen sein können. In Bezug auf bestimmte Entrichtungssituationen kann der Gesetzgeber auch auf den Erlass einer Haftungsnorm verzichten und nur eine Fremdschuldnerschaft anordnen. Die Fremdschuldnerschaft muss nicht zwingend als potenzielle Haftungsschuldnerschaft ausgestaltet werden.299 Würde man für die Inanspruchnahme des Fremdentrichtungsschuldners über § 167 Abs. 1 S. 1 AO auf das Vorliegen der Voraussetzungen eines Haftungstatbestands verzichten, wäre die Norm auch auf Fremdentrichtungsschuldner anwendbar, für die kein Haftungstatbestand im Gesetz vorgesehen ist.300 Dies würde zur Umgehung des Vorliegens einer Ermächtigungsgrundlage für die Haftungsinanspruchnahme führen. Da im Wortlaut des § 167 Abs. 1 S. 1 Var. 2 AO ausdrücklich vom Haftungsschuldner gesprochen wird, ist es naheliegend für den Erlass des Nachforderungsbescheids die Voraussetzungen der materiellen Haftungsnorm zu verlangen.301 Denn erst durch Vorliegen dieser Voraussetzungen wird der Beteiligte vom Fremdentrichtungsschuldner zum Haftungsschuldner im Sinne dieser Vorschrift. Die Entrichtungspflicht allein schafft keinen Haftungstatbestand für die Primärsteuerlast. In Betracht käme noch, den Nachforderungsbescheid auf Grundlage des § 167 Abs. 1 S. 1 Var. 1 AO zu erlassen, um die Notwendigkeit des Vorliegens der materiellen Voraussetzungen der Haftungsgrundlage abzulehnen. Hierzu müsste der Entrichtungsschuldner jedoch Steuerschuldner sein. § 33 Abs. 1 AO unterscheidet ausdrücklich zwischen den Steuerpflichtigen, die eine Steuer schulden und solchen, die eine Steuer auf Rechnung Dritter einzubehalten und abzuführen haben. Der Entrichtungsschuldner kann auf Grund dieses eindeutigen Wortlauts nicht unter den Kreis der Steuerschuldner subsumiert werden. Darüber hinaus ist die Entrichtungsschuld bei derzeitiger Ausgestaltung insbesondere keine eigenständige Steuerschuld.302 Bei systematischer Auslegung des § 167 Abs. 1 S. 1 AO liegt es nahe, nur die Voraussetzungen der Primärebene für den Erlass des Nachforderungsbescheids zu fordern. Durch die Bezugnahme zum Haftungsschuldner wird die Trennung der 298

Vgl. § 11 MGV, der zwar eine Dreieckskonstellation mit Fremdschuldnerschaft jedoch keinen Haftungstatbestand vorsieht. 299 Vgl. § 11 MGV. 300 § 11 MGV. 301 Ebenso BFH, Urteil vom 20. 08. 2008 – I R 29/07, BStBl. II 2010, 142, 145; Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 167, Rn.  25; Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn. 11; Oellerich, in: Gosch, AO, § 167, Rn. 57; Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 167, Rn. 8. 302 Vgl. hierzu Kapitel B. II. 3. a) ff).

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B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

Festsetzungsverfahrensebenen jedoch durchbrochen. Systematisch ist durch die Nennung des Haftungsschuldners eine Brücke ins Haftungsverfahren statuiert, die das Vorliegen der Voraussetzungen für die Transformation des Entrichtungsschuldners als Fremdschuldner zum Haftungsschuldner für eine fremde Schuld erfordert. Für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners kann die Verletzung der Entrichtungspflicht in Form der Nichtabgabe oder fehlerhaften Abgabe der Steueranmeldung nicht ausreichend sein. Dies würde dazu führen, dass die besonderen Tatbestandsvoraussetzungen der Haftungstatbestände umgangen werden würden.303 Darüber hinaus besteht nur bei Geltendmachung einer Haftungsschuld das für den Regress des Haftungsschuldners notwendige Gesamtschuldverhältnis nach § 44  Abs. 1  AO.304 Denn das Gesamtschuldverhältnis zwischen Steuerschuldner und Haftungsschuldner setzt voraus, dass mehrere Steuerschulden im Sinne des § 37 Abs. 1 AO bestehen.305 Die Entrichtungspflicht soll kein solcher Anspruch sein.306 Dass bei Nichtvorliegen der Haftungsvoraussetzungen kein Gesamtschuldverhältnis zwischen Steuer- und Haftungsschuldner entsteht, was einen Regress des Haftungsschuldners ermöglicht, kann jedoch nur im Rahmen der teleologischen Auslegung als einer von vielen Belangen berücksichtigt werden. Schließlich ist das Vorliegen eines Gesamtschuldverhältnisses nach § 44 Abs. 1 AO nur die sich aus der Haftungssituation ergebende Rechtsfolge. Das Vorliegen einer Gesamtschuld hat für sich genommen weder Einfluss auf die Erfüllung des Haftungstatbestands, noch erfordert § 167 Abs. 1 S. 1 AO, dass zwischen Steuer- und Entrichtungsschuldner ein Gesamtschuldverhältnis besteht. Auf Grund der aktuellen gesetzlichen Ausformung des § 167 Abs. 1 S. 1 AO, der ausdrücklich auf den Haftungsschuldner Bezug nimmt, ist trotz gesetzlicher Unmöglichkeit, dass dieser eine Steueranmeldung für eine Haftungsschuld abgibt, das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen der materiellen Haftungstatbestände für den Erlass eines Nachforderungsbescheids erforderlich. d) Vorliegen einer akzessorischen Steuerschuld Wegen der Akzessorietät des Haftungsanspruchs muss im Rahmen des Erlasses eines Nachforderungsbescheids erforderlich sein, dass die Steuerschuld, für die der Haftungsschuldner in Anspruch genommen werden soll, entstanden ist und noch besteht.307 Die Entrichtungsschuld entsteht erst mit Anmeldung der Steuer.308 Im Rahmen der Akzessorietät geht es nicht um das Bestehen einer eigenen Steuer 303

Vgl. zu den Voraussetzungen der Haftungstatbestände Kapitel A. II. 3. a). Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  15. 305 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  15. 306 Vgl. hierzu Kapitel B. II. 3. a) ff). 307 BFH, Urteil vom 13. 12. 2011 – II R 52/09, BFH / NV 2012, 695, BeckRS 2012, 94601, Rn. 13. 308 FG Münster, Beschluss vom 02. 02. 1998 – 15 V 7148/97 L, EFG 1998, 823, 823. 304

II. Festsetzung der Haftungsschuld durch Nachforderungsbescheid 

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schuld des Haftungsschuldners im Rahmen einer Entrichtungs- oder Steuerschuld. Es geht vielmehr um das Bestehen einer fremden Schuld, für die der Entrichtungsschuldner als Haftungsschuldner haften kann, wenn Fehler im Abführungsverfahren zu Tage treten. Diese Primärschuld muss deswegen schon entstanden sein, um einen Nachforderungsbescheid erlassen zu können. Die Primärschuld entsteht nicht erst mit der Abgabe der Steueranmeldung.309 Dies hat der BFH im Rahmen der Haftung des Arbeitgebers nach § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG für die Lohnsteuer dahingehend begründet, dass die Lohnsteuer in dem Zeitpunkt entsteht, in dem der Arbeitslohn dem Arbeitnehmer zufließe.310 Dem Grunde nach soll in diesem Zeitpunkt die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Abführung der Lohnsteuer an das Finanzamt entstehen.311 Zwar sind die gesetzlichen Ausformungen des Grundsatzes der Akzessorietät der Haftung in § 191 Abs. 5 AO auf den Erlass des Nachforderungsbescheids nicht unmittelbar anwendbar. Weil dem Wesen nach aber ein Haftungsanspruch geltend gemacht wird, für den die Akzessorietät auch über die gesetzlichen Ausprägungen in § 191  AO hinaus als Rechtsgrundsatz gilt,312 muss dieser Grundgedanke ebenfalls auf das Nachforderungsverfahren bezogen werden. Andernfalls würde § 167 Abs. 1 S. 1 AO zur Umgehung313 der in § 191 AO für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners kodifizierten Voraussetzungen führen und mit dem Grundgedanken des Haftungssystems der AO im Widerspruch stehen. Für die sich aus dem Grundsatz der Akzessorietät der Haftung ergebenden Folgen für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners nach § 167 Abs. 1 S. 1 AO wird auf die Ausführungen in Kapitel A. II. 3. b) verwiesen.

4. Ermessensentscheidung Der Erlass eines Haftungsbescheids nach § 191 Abs. 1 S. 1 AO ist in das Ermessen der Finanzverwaltung gestellt. Erfolgt die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners durch Nachforderungsbescheid nach § 167 Abs. 1 S. 1 AO wird dem Wesen nach eine Haftungsschuld durch Steuerbescheid geltend gemacht.314 Der Erlass von Steuerbescheiden stellt nach § 85 AO grundsätzlich eine gebundene Ent 309

BFH, Urteil vom 07. 07. 2004 – VI R 171/00, BStBl. II 2004, 1087, 1088; BFH, Urteil vom 07. 07. 2004 – VI R 168/01, BFH / NV 2005, 357, BeckRS 2004, 25007018, Tz. II. 2. b). 310 BFH, Urteil vom 07. 07. 2004 – VI R 171/00, BStBl. II 2004, 1087, 1088; BFH, Urteil vom 07. 07. 2004 – VI R 168/01, BFH / NV 2005, 357, BeckRS 2004, 25007018, Tz. II. 2. b). 311 BFH, Urteil vom 07. 07. 2004 – VI R 171/00, BStBl. II 2004, 1087, 1088; BFH, Urteil vom 07. 07. 2004 – VI R 168/01, BFH / NV 2005, 357, BeckRS 2004, 25007018, Tz. II. 2. b). 312 Vgl. hierzu Kapitel A. II. 3. b) aa). 313 Das Umgehungsargument ist tauglich, um eine Analogie zu begründen, vgl. Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 222. Es sollte demzufolge erst recht tauglich sein, die Überdehnung des Wortlauts zu beschränken. 314 Vgl. hierzu Kapitel B. II. 3. a).

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B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

scheidung dar, bei der der Finanzverwaltung kein Ermessensspielraum zukommt (Legalitätsprinzip).315 Nach diesem haben die Finanzbehörden die Steuern nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig festzusetzen und zu erheben. Ist der Tatbestand erfüllt, an den die Steuerpflicht geknüpft wird, so sind die Steuern festzusetzen und zu erheben.316 Ein Ermessensspielraum ist grundsätzlich nicht vorgesehen. Hieraus ergibt sich, dass im Rahmen einer Ermessensentscheidung ein Ermessensfehler grundsätzlich nicht vorliegt, wenn sich aus der Ermessensbegründung ergibt, dass der Besteuerungstatbestand erfüllt ist und sich keine besonderen Gründe ergeben, aus denen von der Besteuerung ausnahmsweise abzusehen wäre.317 Es stellt sich nunmehr die Frage, ob die Ausübung eines pflichtgemäßen Ermessens auch im Nachforderungsverfahren notwendig ist. Die Frage der Notwendigkeit einer Ermessensausübung ist eine zweischneidige Betrachtung. Auf der einen Seite ist das Vorliegen einer gebundenen Entscheidung vorteilhaft für den Entrichtungsschuldner, da persönliche Belange anderer Haftungsschuldner nicht im Rahmen des Auswahlermessens in die Entscheidung über seine Inanspruchnahme einfließen. Darüber hinaus ist bei gebundenen Entscheidungen begrüßenswert, dass diese der vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegen und somit im Falle einer Anfechtung vollständig von dem ersuchten Finanzgericht überprüft werden können. Auf der anderen Seite verbürgt das Vorliegen einer Ermessensentscheidung Vorteile. So muss das Finanzamt vor der Inanspruchnahme alle für die zu treffende Entscheidung relevanten Belange ermittelt und diese abwägen. Dies kann für den Entrichtungsschuldner im Einzelfall zu einer für ihn vorteilhaften Entscheidung führen. Nach der bisherigen Rechtsprechung und teilweise in der Literatur vertretener Ansicht ist eine Ermessensausübung im Rahmen der Inanspruchnahme durch Nachforderungsbescheid im Gegensatz zu selbiger im Wege des Haftungsbescheids nicht notwendig.318 In der Literatur werden Bedenken geäußert, dass der Nachforderungsbescheid keinem Ermessen unterliegen soll.319 Die Finanzbehörde müsse im Haftungsverfahren im Rahmen ihrer Ermessensausübung zum Ausdruck bringen, warum sie den Haftungsschuldner in Anspruch nimmt und nicht den Steuer-

315

Wünsch, in: König, AO, § 85, Rn. 11; Rätke, in: Klein, AO, § 85, Rn. 3. Wünsch, in: König, AO, § 85, Rn. 11; Rätke, in: Klein, AO, § 85, Rn. 3. 317 Rätke, in: Klein, AO, § 85, Rn. 3. 318 Rüsken, in: Klein, AO, § 167, Rn. 6; Oellerich, in: Gosch, AO, § 167, Rn. 55; BFH, Urteil vom 19. 12. 2012 – I R 81/11, BFH / NV 2013, 698, BeckRS 2013, 94724, Rn. 20; BFH, Beschluss vom 18. 03. 2009  – I B 210/08, BFH / NV 2009, 1237, BeckRS 2009, 25015092, Tz. II. 2. c) bb) aaa); BFH, Urteil vom 13. 09. 2000 – I R 61/99, BStBl. II 2001, 67, 69; BMFSchreiben vom 27. 12. 2002 IV A 5 – S 2272 – 1/02, Beihefter zu DStR 07 2003, 1, Tz. 78, 88; Nacke, in: DStR 2005, 1297, 1298; Nacke, Haftung für Steuerschulden, S. 217: zur Bauabzug­ steuer; offengelassen: BFH, Urteil vom 30. 10. 2008 – VI R 10/05, BStBl. II 2009, 354, 355. 319 Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 167, Rn. 25; Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 167, Rn. 8; Cöster, in: König, AO, § 167, Rn. 15; Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn. 13; Voß / Meder, in: DStR 2015, 1783, 1786; Drüen, in: DB 2005, 299, 306; Heuermann, in: StuW 2006, 332, 334 ff. 316

II. Festsetzung der Haftungsschuld durch Nachforderungsbescheid 

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schuldner.320 Diese Ermessensausübung sei auch gerichtlich in beschränkter Form überprüfbar.321 Nur so werde dem Gebot effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG Genüge getan. Dies würde für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des Nachforderungsverfahrens entfallen. Ferner soll die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners verfassungsrechtlich unbedenklich sein, weil diese nicht zwingend ist, sondern einer Ermessensentscheidung der Finanzverwaltung unterliegt.322 Der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege einer gebundenen Entscheidung im Nachforderungsverfahren sollen demnach verfassungsrechtliche Bedenken entgegenstehen.323 Von einer Ermessensentscheidung geht auch Heuermann aus.324 Dieser begründet das Ermessenserfordernis damit, dass durch Nachforderungsbescheid zwar nur die Entrichtungspflicht des Steuerpflichtigen als primäre Leistungspflicht geltend gemacht werde.325 Verletzt der Entrichtungsschuldner aber die Anmeldungspflicht, so wandle sich die Primärpflicht aber in die sekundäre Haftungspflicht.326 Das Gesetz verbinde durch § 167 Abs. 1 S. 1 AO den sekundären Haftungsanspruch mit dem Verfahren zur Inanspruchnahme des primär Entrichtungspflichtigen.327 Die Vermengung beider Stufen dürfe nur dazu führen, dass nicht bloß der Haftungstatbestand, sondern auch die Wertungen dessen auf die Inanspruchnahme durch Nachforderungsbescheid übertragen werden müssen, sodass ein Ermessen erforderlich sei.328 De lege lata ließen sich Wertungswidersprüche ansonsten nicht vermeiden.329 Anstelle eines Ermessens fordern manche Stimmen in der Literatur, dass die Ermessenserwägungen zur Wahrung der Verfassungskonformität der Norm im Wege einer systematischen Auslegung in das Gesetz auf Tatbestandsebene hereingelesen werden müssen.330 Hierbei ist jedoch zu beachten, dass dadurch eine verstärkte Kontrolle der Entscheidung der Finanzverwaltung eröffnet werden würde. So sollte die Erweiterung des Wortlauts des § 167 Abs. 1 S. 1 AO zur Vereinfachung führen, wobei eine Einräumung eines Quasi-Ermessens auf Tatbestandsebene zu einer vollen gerichtlichen Kontrolle der Entscheidung führen würde. Damit würden im Rahmen des grundsätzlich ermessenfreien Steuerbescheidverfahrens größere 320

Voß / Meder, in: DStR 2015, 1783, 1786. Voß / Meder, in: DStR 2015, 1783, 1786. 322 Nacke, in: DStR 2005, 1297, 1297; BFH, Urteil vom 05. 07. 1963 – VI 270/62 U, BStBl. III 1963, 468, 470. 323 Vgl. zur Untersuchung Kapitel C. VI. 324 Heuermann, in: FR 2013, 354, 356; Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn. 13. 325 Heuermann, in: FR 2013, 354, 356; Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn. 13. 326 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  13. 327 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  13. 328 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  13. 329 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  14. 330 Oellerich, in: Gosch, AO, § 167, Rn. 55; Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 167, Rn. 8. 321

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B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

Anforderungen an die Ermittlung und Darlegung der sonst im Rahmen eines Ermessens zu beachtenden Erwägungen gestellt werden. Dies stünde im Widerspruch mit dem Vereinfachungsgedanken des Selbstveranlagungsverfahrens. Nach § 167 Abs. 1 S. 1 AO ist eine Festsetzung der Steuer gegenüber dem Haftungsschuldner nur notwendig, wenn er eine diesbezügliche Steueranmeldung nicht oder nicht ordnungsgemäß abgegeben hat. Die Norm muss im Zusammenhang mit der Bescheidfiktion der Steueranmeldung nach § 168 AO gelesen werden. Die Bescheidfiktion tritt ohne Ermessen der Finanzverwaltung ein. Gleich dem Inhalt der abgegebenen Anmeldung fingiert diese eine Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Nunmehr würde im Anschluss an diese Bescheidfiktion ein Nachforderungsbescheid ergehen, der im Ermessen der Finanzverwaltung stünde. Innerhalb desselben Festsetzungsverfahrens würde erst eine gebundene Entscheidung ergehen, an die sich eine Ermessensentscheidung anschließen würde. Der Nachforderungsbescheid ist als Änderungsbescheid zur vorherigen Bescheidfiktion anzusehen. Er wurzelt historisch auf diesem. Der Nachforderungsbescheid tritt als Änderungsbescheid der Bescheidfiktion in die Fußstapfen desselben. Infolgedessen erscheint es systemwidrig innerhalb dieser als einheitliches Ganzes zu betrachtenden Bescheidhistorie zwischen gebundener und Ermessensentscheidung zu wechseln. Dies erscheint insbesondere vor dem Hintergrund systemwidrig, dass eine gebundene Entscheidung gemäß § 128 Abs. 3 AO nicht einmal in einer Ermessensentscheidung umgedeutet werden darf. Der Wechsel der Rechtsfolge innerhalb der Bescheidhistorie käme einer solchen Umdeutung gleich. Ebenso klingt der Wortlaut des § 167 Abs. 1 S. 1 AO nach einer sich daran anschließenden gebundenen Entscheidung zum Erlass eines Nachforderungsbescheids. Liegt eine der dort genannten Voraussetzungen vor, dann ist die Steuerfestsetzung erforderlich. Da nicht von Zulässigkeit oder Möglichkeit der Steuerfestsetzung in den genannten Fällen gesprochen wird, erfordert der Wortlaut der Norm eine gebundene Entscheidung und räumt der Finanzverwaltung kein Ermessen bei Erlass eines Nachforderungsbescheids ein. Die systematische Stellung des § 167 AO im Kapitel zum Erlass eines Steuerbescheids, für den § 85 AO gilt und der grundsätzlich als gebundene Entscheidung ergeht, spricht dafür, dass auch bei Geltendmachung einer Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahren von einer gebundenen Entscheidung auszugehen. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass die Nennung des Haftungsschuldners eine strikte Trennung der Verfahren durchbricht und das systematische Argument weitläufig entkräftet. Die Durchbrechung der Verfahrenstrennung ist als systematisches Einfallstor für die Voraussetzungen des Haftungsverfahrens anzusehen. Hierdurch wird systematisch ein Abweichen von den Voraussetzungen eines Steuerbescheidverfahrens gerechtfertigt und eine weniger strenge systematische Auslegung anzeigt. Die Geltendmachung der Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens wird materiell als Geltendmachung der Haftungsschuld verstanden, wofür

II. Festsetzung der Haftungsschuld durch Nachforderungsbescheid 

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die Voraussetzungen der materiellen Haftungsgrundlage gefordert werden.331 Dies kann jedoch nicht uneingeschränkt für die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen des § 191 AO gelten. Andernfalls würde man sich im Haftungsverfahren befinden und nur einen Haftungsbescheid unter abweichender Bezeichnung, aber mit dem Vorliegen aller Voraussetzungen des Haftungsverfahrens erlassen. Die Nennung des Haftungsschuldners führt zwar dazu, dass die materiellen Voraussetzungen für seine Haftung vorliegen müssen, da er ansonsten noch kein Haftungsschuldner wäre. Die Bezugnahme kann aber nicht dazu führen, dass das Nachforderungsverfahren auf Rechtsfolgenseite modifiziert wird. Darüber hinaus widerspricht eine Ermessensentscheidung im Anschluss an das Steueranmeldungsverfahren dem hierdurch verfolgten Zweck der Verfahrensvereinfachung und Beschleunigung. Das Finanzamt müsste nunmehr zunächst alle in das Ermessen einzustellenden Belange ermitteln und könnte erst dann die Nachforderung geltend machen. Da es sich bei den betroffenen Abzugsteuern um Massenverfahren handelt, wäre diese Anforderung nicht zielführend. Bei streng systemgetreuer und teleologisch sinnvoller Anwendung der Verfahrensnormen der AO dürfte der Erlass eines Nachforderungsbescheids demnach nicht im Ermessen der Finanzverwaltung stehen.

5. Zusammenfassung Sofern die Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens gegenüber dem Haftungsschuldner geltend gemacht wird, wird überwiegend vertreten, dass dies im Kern die Geltendmachung einer Haftungsschuld darstellt und deswegen die materiellen Voraussetzungen des jeweiligen Haftungstatbestands vorliegen müssen. Im Widerspruch hierzu steht, dass überwiegend vertreten wird, dass der Erlass dieses Nachforderungsbescheids nicht im Ermessen der Finanzverwaltung stehen soll. Sofern man es überhaupt für zulässig erachtet, dass Nachforderungsverfahren auf eine Haftungsschuld anzuwenden, dürfen inhaltlich keine anderen Anforderungen an die Inanspruchnahme gestellt werden, als im Haftungsverfahren zugrunde zu legen wären. Die Forderung einer Ermessensentscheidung ist nachvollziehbar und bei teleologischer Betrachtung der Geltendmachung einer Haftungsschuld zutreffend. Hierbei darf jedoch nicht unbeachtet werden, dass sich die Finanzverwaltung innerhalb der ihr von der Abgabenordnung vorgegebenen Ermächtigungsgrundlagen und der hierfür vorgegebenen Tatbestandsmerkmale sowie Rechtsfolgen bewegen muss. Infolge der systemwidrigen Anwendung des § 167 Abs. 1 S. 1 AO ergibt sich somit das Dilemma, dass zur Rettung dieser Praxis eine Ermessensentscheidung gefordert wird. Nur so kann die Geltendmachung durch Angleichung an das Haftungsverfahren gerechtfertigt werden. Lässt man die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des Nachforderungsverfahrens zu, so müsste man 331

Vgl. hierzu Kapitel B. II. 3. c).

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B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

auch eine Ermessensentscheidung des Finanzamts fordern, um das Verfahren als für die Geltendmachung einer Haftungsschuld adäquat auszugestalten.

III. Erhebungsverfahren beim Nachforderungsbescheid § 219 S. 1 AO statuiert die Subsidiarität der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners auf Erhebungsebene, wohingegen § 219 S. 2 AO eine Ausnahme hierfür anordnet, wenn den Haftungsschuldner eine Anmelde- und Entrichtungspflicht trifft.332 Ungeachtet des Anwendungsausschlusses in Satz 2 der Norm kann die Frage der Anwendbarkeit des § 219 S. 1 AO auf die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des Nachforderungsbescheids Relevanz haben, sofern man (ggf. auch zukünftige) Abzugssteuern nicht als anzumeldende Steuern im Sinne der Vorschrift qualifiziert und Satz 2 infolgedessen für unanwendbar erklären würde.333 Von Bedeutung ist die Anwendbarkeit auch für die Fälle, in denen der Haftungsschuldner für eine anzumeldende Steuer im Wege des Nachforderungsbescheids in Anspruch genommen wird, er jedoch selbst nicht Entrichtungsschuldner war.334 Trifft den Haftenden selbst keine Anmelde- und Abführungsverpflichtung greift der Ausschluss des § 219 S. 2 AO nicht ein, sodass der Anwendungsbereich des § 219 S. 1 AO eröffnet sein kann. Somit ist die Frage von Bedeutung, ob § 219 AO auch auf die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des Nachforderungsbescheids Anwendung finden kann.

1. Wortlaut der Norm § 219 S. 1 AO spricht von der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners. § 167 Abs. 1 S. 1 AO erwähnt ebenfalls den Haftungsschuldner, sodass der Wortlaut des § 219 S. 1 AO ausdrücklich für eine Anwendbarkeit der Norm auf jede Art der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners spricht. Die amtliche Überschrift des § 219 AO impliziert allerdings keine unmittelbare Anwendbarkeit auf den Nachforderungsbescheid. § 219 AO ist mit „Zahlungsaufforderung bei Haftungsbescheiden“ überschrieben, sodass insoweit ein direkter Bezug zur Festsetzung der Haftungsschuld nach § 191 AO im Haftungsverfahren hergestellt wird. Dieser prozessuale Bezug wird jedoch im Wortlaut des § 219 S. 1 AO nicht wiederholt. Der Wortlaut der Norm ist weiter gefasst als seine Überschrift. Im Zweifel muss man dem Wortlaut der Norm Vorrang vor dessen Überschrift gewähren. Insbesondere bildet die Überschrift keine feste Grenze für die Auslegung, da bei der richterlichen Rechtsfortbildung sogar ein Überschreiten der Wortlautgrenze zugelassen wird.335 Ein 332

Vgl. ausführlich hierzu Kapitel A. III. So Streit zur Bauabzugsteuer, vgl. Kapitel A. III. 2. 334 So bei der Versicherungsteuer. 335 Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 114. 333

III. Erhebungsverfahren beim Nachforderungsbescheid

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solches Überschreiten des Wortlauts ist im vorliegenden Fall noch nicht nötig. Es ist lediglich die „Überschreitung der Überschrift“ notwendig, woran geringere Anforderungen zu stellen sind. Die Überschrift kann den Wortlaut der Norm nicht unmittelbar einschränken. Sie kann lediglich zu dessen Auslegung als ein Auslegungskriterium herangezogen werden. Die Überschrift ist als Teil der systematischen Auslegung nicht mehr als erster Anhaltspunkt der Auslegung.336 So bietet die gegen die Anwendung des § 219 S. 1 AO auf Nachforderungsbescheide sprechende Überschrift der Norm lediglich eine geringe Hürde für die Anwendbarkeit.

2. Aussagen der Kommentierungen Zwar sprechen die Autoren in den Kommentierungen nur von einer Anwendbarkeit auf die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des Haftungsbescheids.337 Mangels weiterer Erwähnung der Problematik der Anwendbarkeit des § 219 S.1 AO auf die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des Nachforderungsbescheids besteht jedoch die Möglichkeit, dass bei den Kommentierungen nur der originär vorgesehene Weg der Inanspruchnahme bedacht wurde und deswegen keine Erwähnung des Nachforderungsverfahrens stattgefunden hat. Dißars hält § 219 S. 2 AO für die originäre Zahlungspflicht des Haftungsschuldners für anwendbar.338 Im Umkehrschluss hieraus lässt sich schlussfolgern, dass § 219 S.1 AO für alle Wege der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners für seine originäre Zahlungspflicht Anwendung finden soll. Dies spricht für eine Anwendbarkeit des § 219 S. 1 AO auf die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners für seine Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsbescheids. Nach Ansicht des Autors ist § 219 S. 1 AO für den Gesamtbereich der Haftungsschulden anwendbar.339 Wenngleich diese Aussage im Zusammenhang mit der Anwendbarkeit des § 219 S. 1 AO auf die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners für steuerliche Nebenleistungen getroffen wird, lässt sich hieraus jedoch auch für den vorliegend betrachteten Anwendungsfall eine Aussage übertragen: Der Autor beschäftigt sich damit, für welche Haftungsschulden im materiellen Sinne die Norm Anwendung findet. Der „Gesamtbereich“ hat ein inhaltliches Gepräge. Im Umkehrschluss ist es ohne Belang, auf welchem Wege die Inanspruchnahme für diese materiellen Haftungsschulden erfolgt. Der Autor scheint eine Anwendbarkeit des § 219 AO an inhaltliche Aspekte zu knüpfen und nicht an den formalen Weg der Inanspruchnahme. 336 Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 131 zur systematischen Auslegung von Normen im BGB. 337 Rüsken, in: Klein, AO, § 219, Rn. 3; Intemann, in: König, AO, § 219, Rn. 1; Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 219, Rn.  1; Jatzke, in: Gosch, AO, § 219, Rn. 3; Alber, in: Hübschmann / ​ Hepp / Spitaler, AO, § 219, Rn. 5, 7a; Dißars, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 219, Rn. 1. 338 Dißars, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 219, Rn. 17. 339 Dißars, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 219, Rn. 19.

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B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

An anderer Stelle führt der Autor aus, dass § 219 S. 1 AO nicht für die Haftung nach § 192 AO Anwendung finde, da in diesen Fällen für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners kein Steuerbescheid ergehe.340 Hieraus lässt sich nicht schlussfolgern, dass für die Anwendbarkeit des § 219 S. 1 AO stets ein Haftungsbescheid vorliegen muss, durch den der Haftungsschuldner in Anspruch genommen wird. Dißars begrenzt mit dieser Aussage nur die Anwendbarkeit des § 219 S. 1 AO auf die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege eines Finanzverwaltungsverfahrens. Für die vertraglich vereinbarte Haftung nach § 192 AO findet eine Inanspruchnahme nach zivilrechtlichen Regelungen statt. Hierfür soll § 219 S. 1 AO keine Anwendung finden. Diesbezüglich genießen schon nach gesetzlicher Anordnung die zivilrechtlichen Vollstreckungsregelungen Vorrang. Die Differenzierung ist folgerichtig, da die vertragliche Haftungsübernahme nicht in einem mit der gesetzlichen Haftung vergleichbaren Über- und Unterordnungsverhältnis steht. Insofern ist die Anwendbarkeit der zivilrechtlichen Vollstreckungsvorschriften inhaltlich passender, da diese auf dem Gedanken der Gleichordnung der sich gegenüberstehenden Vollstreckungsparteien basieren. Ein solcher Unterschied besteht zwischen der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners durch Haftungs- oder Nachforderungsbescheid nicht. Beide Verfahren stellen eine Inanspruchnahme durch die Finanzverwaltung dar, die lediglich steuerverfahrensrechtlich eine unterschiedliche Ausgestaltung erfahren haben. Inhaltlich sind die Ermächtigungsgrundlagen jedoch insofern identisch, dass beide in der vorliegenden Konstellation die Geltendmachung der materiellen Haftungsschuld des Haftungsschuldners zum Gegenstand haben.341 Alber führt aus, dass die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners auf Zahlung nach § 219 S. 1 AO die Verwirklichung des Haftungsanspruchs meine.342 Dies zugrunde gelegt, dürfte man auch die Verwirklichung des Haftungsanspruchs im Wege des Nachforderungsverfahrens unter den Anwendungsbereich der Norm subsumieren. Darüber hinaus verweist er – wie auch Dißars – auf die Nichtanwendbarkeit der Norm für Zwecke der Haftungsverwirklichung nach § 192 AO.343 Hieraus lassen sich, wie bereits erläutert, keine nachteiligen Schlüsse für die Anwendbarkeit auf das Nachforderungsverfahren ziehen. Alber nimmt auf eine Nachforderungssituation Bezug.344 Er führt aus, dass bei der Nachforderung von pauschalierter Lohnsteuer § 219 S. 1 AO keine Anwendung findet, weil sich diese Nachforderung auf eine Steuerschuld des Arbeitgebers bezieht.345 Die Geltendmachung der Nachforderung von pauschalierter Lohnsteuer soll keine Geltendmachung eines Haftungs- sondern eines Primärsteueranspruchs des Arbeitgebers

340

Dißars, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 219, Rn. 1. Vgl. hierzu Kapitel B. II. 3. a). 342 Alber, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 219, Rn.  9. 343 Alber, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 219, Rn.  7a. 344 Alber, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 219, Rn.  48. 345 Alber, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 219, Rn.  48. 341

III. Erhebungsverfahren beim Nachforderungsbescheid

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darstellen.346 Dies entspricht der gesetzlichen Regelung in § 40 Abs. 3 S. 1 EStG. Der Arbeitgeber wird durch Ausübung des ihm eingeräumten Wahlrechts in § 40 Abs. 1 S. 1 EStG selbst zum Schuldner der Lohnsteuer. Eine solche Umwandlung der Entrichtungspflicht in eine eigene Steuerschuld findet bei den hier betrachteten Nachforderungsfällen jedoch nicht statt. Es bleibt bei der Geltendmachung einer Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens.347 Demnach ist der von Alber darstellte Nachforderungsfall nicht mit dem hier betrachteten Nachforderungsverfahren für Haftungsschulden vergleichbar, sodass seine diesbezüglichen Aussagen nicht übertragen werden können.

3. Gesetzeshistorische Betrachtung Die Reichsabgabenordnung sah keine dem § 219 AO entsprechende Vorschrift vor. Aus der Rechtsprechung zu § 98 RAO 1919348 bzw. § 118 RAO in der Fassung vom 22. 05. 1931349 ergab sich jedoch der Grundsatz, dass der Haftungsschuldner erst nach dem Steuerschuldner in Anspruch genommen werden durfte.350 Der BFH deutete in einem Urteil vom 27. 03. 1968 allerdings an, dass bei dieser Subsidiaritätsannahme zwischen solchen Haftungsschulden, bei denen der Haftungsschuldner die Steuer entrichten muss und diese dabei in vollem Umfang nachprüfen kann einerseits und solchen Haftungsschulden bei denen ohne Entrichtungspflicht eine Haftung besteht andererseits, unterschieden werden müsse.351 So ordne für einige Entrichtungsfälle das Gesetz sogar an, dass eine unmittelbare Inanspruchnahme des Haftungsschuldners möglich sei.352 Beispielhaft führte der zweite Senat hierzu § 38 Abs. 3 EStG 1934353 und § 7 Abs. 2 S. 1 BefStG 1955354 an. Ist der Haftungsschuldner ebenfalls Entrichtungsschuldner der Steuer, so solle er die Gefahr ausschließen können, dass der Steuerschuldner die geleisteten Zahlungen nicht anerkennt.355 Der zweite Senat schloss in dem Urteil die subsidiäre Inanspruchnahme allgemein, das heißt auch für Fälle in denen der Haftungsschuldner ebenfalls zur Entrichtung der Steuer tätig wird, daraus, dass Steuer- und Haftungsschuld nach

346

Alber, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 219, Rn.  48. Vgl. hierzu Kapitel B. II. 3. a) ff). 348 RGBl. 1919, S. 2015. 349 RGBl. 1931, S. 178. 350 BFH, Urteil vom 27. 03. 1968  – II 98/62, BStBl. II 1968, 376, 377; BFH, Urteil vom 10. 01. 1964 – VI 262/62 U, BStBl. III 1964, 213, 214: nur angeklungen, nicht ausdrücklich; BFH, Urteil vom 28. 11. 1961 – I 40/60 S, BStBl. III 1962, 107, 107; BFH, Urteil vom 18. 07. 1958 – VI 134/57 U, BStBl. III 1958, 384, 385; so auch Hensel, Steuerrecht, Reprintauflage 1986 zur 3. Auflage von 1933, S. 72; Kühn / Kütter, AO, 10. Auflage 1970, § 118, Rn. 1. 351 BFH, Urteil vom 27. 03. 1968 – II 98/62, BStBl. II 1968, 376, 377. 352 BFH, Urteil vom 27. 03. 1968 – II 98/62, BStBl. II 1968, 376, 377. 353 RGBl. 1934, S. 1015. 354 BGBl. 1955, S. 367. 355 BFH, Urteil vom 27. 03. 1968 – II 98/62, BStBl. II 1968, 376, 377. 347

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B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

der gesetzlichen Regel voneinander getrennt werden.356 Andernfalls sei die Unterscheidung zwischen beiden Ebenen der Inanspruchnahme gegenstandslos.357 Daneben stützte der zweite Senat eine nur subsidiär zulässige Inanspruchnahme des Haftungsschuldners darauf, dass zumindest auf Ebene des Ermessens eine Einschränkung vorzunehmen sei.358 In einem weiteren Urteil wiederholte der zweite Senat, dass aus der unechten Gesamtschuld zwischen Steuer- und Haftungsschuldner in der Regel folge, dass der Haftungsschuldner nur subsidiär nach dem Steuerschuldner in Anspruch genommen werden dürfe.359 Er führte aus, dass der Haftungsschuldner bei Vorliegen eines besonderen Grundes auch vor dem Steuerschuldner in Anspruch genommen werden könne.360 Wie schon im Urteil vom 17. März 1968361 angedeutet, hielt der zweite Senat an einer differenzierten Betrachtung von Haftungsschulden mit und ohne Entrichtungspflicht fest. Der BFH erkannte, dass bei Vorliegen einer Entrichtungspflicht des Haftungsschuldners kein besonderer Grund notwendig wäre, um diesen vor dem Steuerschuldner in Anspruch zu nehmen.362 Dies entspricht der heutigen Regelung in § 219 S. 2 AO. Die zur Subsidiarität der Haftung ergangene Rechtsprechung bezieht sich nicht auf die Erhebungsebene. Inhaltlich kann diese Rechtsprechung zwar als Ursprung des § 219 AO qualifiziert werden, sofern damit eine Subsidiäre Inanspruchnahme des Haftungsschuldners gegenüber dem Steuerschuldner im untechnischen Sinne gesehen wird. Die Rechtsprechung zu § 98 RAO 1919363 bzw. § 118 RAO 1931364 hat die Subsidiarität auf Festsetzungsebene im Rahmen des Ermessens behandelt.365 Mit einer etwaigen Subsidiarität auf Ebene der Erhebung der Steuer- bzw. Haftungsschuld hat sich der BFH nicht auseinander gesetzt. Der generellen Subsidiarität der Haftung wurde vom 5. Senat eine Absage erteilt.366 Es sei nicht zutreffend, dass grundsätzlich ein Haftungsbescheid ohne vorherige ordnungsgemäße Veranlagung des Erstschuldners nicht ergehen könne.367 Gesetzeshistorisch spielt die Frage der Subsidiarität auf Tatbestands- oder Ermessensebene eine Rolle. Hierbei ist nur Rechtsprechung für Fälle vorhanden, in denen der Haftungsschuldner mittels Haftungsbescheid in Anspruch genommen 356

BFH, Urteil vom 27. 03. 1968 – II 98/62, BStBl. II 1968, 376, 377. BFH, Urteil vom 27. 03. 1968 – II 98/62, BStBl. II 1968, 376, 377. 358 BFH, Urteil vom 27. 03. 1968 – II 98/62, BStBl. II 1968, 376, 377. 359 BFH, Urteil vom 28. 02. 1973 – II R 57/71, BStBl. II 1973, 573, 573. 360 BFH, Urteil vom 28. 02. 1973 – II R 57/71, BStBl. II 1973, 573, 573. 361 BFH, Urteil vom 27. 03. 1968 – II 98/62, BStBl. II 1968, 376, 377. 362 BFH, Urteil vom 28. Februar 1973 – II R 57/71, BStBl. II 1973, 573, 573. 363 RGBl. 1919, S. 2015. 364 RGBl. 1931, S. 178. 365 So auch BFH, Urteil vom 07. 04. 1960 – BFH V 296/57, BeckRS 1960, 21008700, Tz. 1, vgl. Kapitel A. I. 1 für weitere Nachweise. 366 BFH, Urteil vom 07. 04. 1960 – BFH V 296/57, BeckRS 1960, 21008700, Tz. 1. 367 BFH, Urteil vom 07. 04. 1960 – BFH V 296/57, BeckRS 1960, 21008700, Tz. 1. 357

III. Erhebungsverfahren beim Nachforderungsbescheid

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wird. Die Diskussion um die Subsidiarität wurde im Zusammenhang mit einer Norm diskutiert, die speziell auf das Haftungsverfahren zugeschnitten war und im Zusammenhang hiermit entwickelt. Es lassen sich hieraus keine Schlussfolgerungen auf die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des heutige Nachforderungsverfahrens ziehen.

4. Gesetzesbegründung zur Abgabenordnung 1977 In der Gesetzesbegründung des Deutschen Bundestags zum Entwurf der AO 1977 zu § 172 AO- E 1977 wird ausgeführt, dass auf Grund der Subsidiarität der Haftung gegenüber der Steuerschuld ein Haftungsbescheid nicht mehr ergehen könne, soweit die Steuer gegen den Steuerschuldner nicht festgesetzt worden ist und wegen Ablauf der Festsetzungsfrist nicht mehr festgesetzt werden kann.368 Selbige Ausführungen sind zur Verjährung der Steuerschuld vorhanden.369 Der Gesetzgeber hat das Problem der Subsidiarität wie schon zuvor der BFH demzufolge zunächst auf die tatbestandliche Ebene des Festsetzungsverfahrens verlagert. Für die Frage, wann die Zahlungsaufforderung gegenüber dem Haftungsschuldner ergehen darf, wird in der Gesetzesbegründung auf § 200 AO-E 1977 verwiesen,370 der heute in § 219 AO geregelt ist. Aus dem Gesetzesentwurf zur AO 1977 lassen sich unabhängig von den vorherigen Ausführungen zur Gesetzesbegründung des § 191 AO Schlüsse auf die Anwendbarkeit des § 219 AO auf das Nachforderungsverfahren ziehen. So lautete der Gesetzesentwurf zu § 219 AO in § 200 AO-E 1977 noch wie folgt: „Wenn nichts anderes bestimmt ist, darf ein Haftungsschuldner auf Grund eines Haftungsbescheides nur in Anspruch genommen werden, soweit die Vollstreckung in das bewegliche Vermögen des Steuerschuldners ohne Erfolg geblieben oder anzunehmen ist, dass die Vollstreckung aussichtlos sein würde.“371

Im Vergleich zum tatsächlich eingeführten Wortlaut des § 219 S. 1 AO372 fällt auf, dass der Entwurf der Norm sich noch ausdrücklich auf die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners „auf Grund eines Haftungsbescheids“ bezog. Dieser Zusatz wurde in der kodifizierten Fassung gestrichen. Hieraus kann man folgern, dass der Gesetzgeber, der zeitgleich das Steueranmeldeverfahren verfahrensrechtlich kodifizierte,373 ggf. die Möglichkeit in Betracht zog, dass es andere Wege geben könnte, den Haftungsschuldner für seine Haftungsschuld heranzuziehen und in diesem Falle auch der § 219 S. 1 AO auf dieses Verfahren Anwendung finden soll. 368

BT-Drs. VI/1982, S. 160. BT-Drs. VI/1982, S. 160. 370 BT-Drs. VI/1982, S. 160. 371 BT-Drs. VI/1982, S. 55. 372 BGBl. 1976, S. 664. 373 BT-Drs. VI/1982, S. 55. 369

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B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

Hieraus können allerdings keine Rückschlüsse auf die Zulässigkeit der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners mittels Nachforderungsbescheids gezogen werden, da die Streichung in § 200 AO-E 1977374 lediglich darauf hinweist, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit in Betracht gezogen haben könnte, dass es einen anderen Weg geben könnte, den Haftungsschuldner in Anspruch zu nehmen. Hieraus ergibt sich nicht, dass dies konkret aus § 167 Abs. 1 S. 1 AO erfolgen könnte bzw. dass es sich überhaupt um Fälle handeln werde, in denen den Haftungsschuldner eine Fremdentrichtungspflicht trifft. Der Gesetzgeber hat die Möglichkeit einer außerhalb des Haftungsverfahrens liegenden Inanspruchnahme des Haftungsschuldners bei der Ersetzung der Worte „auf Grund eines Haftungsbescheides“ durch die Worte „auf Zahlung“ aus­weislich der Gesetzesbegründung zum geänderten Wortlaut nicht bedacht.375 Der Änderung sollte nur klarstellen, dass § 219 AO nur die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners auf Zahlung und nicht den Erlass des Haftungsbescheids regelt.376 Die Streichung zu diesem Zwecke erscheint missglückt. So war schon aus der Stellung des Wortlauts des vorherigen Entwurfs und der eindeutigen Überschrift eine Zuordnung zum Erhebungsverfahren möglich. Darüber hinaus regelte schon der Entwurf zu § 172 AO-E 1977377 abschließend das Haftungsverfahren, sodass aus der systematischen Stellung hervorging, dass dieser das Festsetzungsverfahren in Bezug auf den Haftungsbescheid regelte. Die in der BT-Drucksache 7/4292 durchgeführte Streichung wäre hierfür nicht notwendig gewesen. Bei rein objektiver Auslegung der Streichung des Bezugs zum Haftungsbescheid ergibt sich, dass keine Restriktion auf diese Verfahrensart für die Anwendbarkeit des § 219 AO stattfinden soll. Indizien für die Anwendbarkeit des § 219 AO auf das Nachforderungsverfahren lassen sich ferner aus anderen Stellen der Gesetzesbegründung zum Entwurf der AO 1977 schlussfolgern. So heißt in der Gesetzesbegründung zu § 35 AO-E 1977, dass sich die verfahrensrechtlichen Vorschriften zur Haftung aus §§ 172, 173 und 200 AO ergeben.378 Man kann dies so verstehen, dass der Gesetzgeber hiermit meinte, dass in diesen Vorschriften das Haftungsverfahren im Sinne des heutigen § 191 AO sowie das zugehörige Erhebungsverfahren geregelt werden. Andererseits heißt es in der Gesetzesbegründung nicht, dass die Vorschriften zum Haftungsverfahren in den zuvor genannten Paragrafen zu finden sind. Die Aussage bezieht sich auf die materielle Geltendmachung der Haftungsschuld. In welchem Verfahren dies erfolgt ist hierbei nicht beschränkt worden. Die Aussage ist inhalts- und nicht verfahrensbezogen. Ggf. hat der Gesetzgeber die Möglichkeit der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners in einem anderen Verfahren nicht gesehen. Andererseits 374

BT-Drs. VI/1982, S. 55. BT-Drs. 7/4292, S. 37. 376 BT-Drs. 7/4292, S. 37. 377 BT-Drs. VI/1982, S. 55. 378 BT-Drs. VI/1982, S. 110. 375

III. Erhebungsverfahren beim Nachforderungsbescheid

199

ist auch in diesem Fall nicht auszuschließen, dass die Formulierung auf Seite 110 der Gesetzesbegründung bewusst offen gewählt wurde. Somit trifft die Gesetzesbegründung an dieser Stelle zumindest eine Aussage, die so offen ist, dass man hierrunter auch die Geltendmachung der Haftungsschuld in einem anderen Verfahren verstehen kann. Ebenso offen formuliert und damit nicht nachteilig für die hiesige Betrachtung ist die Aussage, dass § 200 AO-E 1977379 bestimme, wann der Haftungsschuldner zur Zahlung der Haftungsschuld aufgefordert werden kann.380 Zwar ist diese Aussage im Abschnitt der Gesetzesbegründung zum heutigen § 191 AO getätigt worden. Auf der anderen Seite ergibt sich hieraus nach Auslegung allgemein die Aussage, dass § 219 AO ggf. nicht nur für das Haftungsverfahren geschaffen wurde, sondern sich auf jede Art der Geltendmachung der Haftungsschuld beziehen könnte. Die Gesetzesbegründung zu § 200 AO-E 1977381 spricht gegen eine Anwendbarkeit desselben auf den Nachforderungsbescheid, der eine Haftungsschuld zum Gegenstand hat. Es wird mehrfach ausdrücklich Bezug auf den erlassenen Haftungsbescheid genommen. So heißt es dort beispielsweise, dass die Vorschrift einschränkende Bestimmungen für die Inanspruchnahme von Haftungsschuldner auf Grund eines Haftungsbescheids enthalte.382 § 172 AO-E 1977383 regle den Erlass des Haftungsbescheides und § 200 AO-E 1977384 bestimme unter welchen Voraussetzungen auf Grund eines Haftungsbescheids Zahlung verlangt werden könne. Ferner wird ausgeführt, dass die Zahlungsaufforderung mit dem Haftungsbescheid verbunden werden könne, wenn im Zeitpunkt dessen Erlasses schon die hierfür notwendigen Voraussetzungen vorliegen.385 In den weiteren Ausführungen erfolgt durchgehend die Bezugnahme zum Haftungsverfahren.386 Interessant ist allerdings, dass eben dieser Zusatz des Haftungsbescheids nicht in die kodifizierte Fassung des § 219 AO übernommen wurde, sodass man auch die zur damaligen Fassung, die diesen Zusatz noch enthielt, ergangene Gesetzesbegründung nicht mehr vollumfänglich auf die Auslegung der tatsächlich kodifizierter Norm übertragen kann. Darüber hinaus heißt es in der Gesetzesbegründung zu § 200 AO-E 1977387, dass sich die Einschränkung der Erhebung der Haftungsschuld aus dem Grundsatz ergebe, dass der Haftende grundsätzlich nur nach dem Steuerschuldner für die Steuerschuld einzustehen hat.388 Insoweit erfolgt insbesondere keine von der Recht 379

BT-Drs. VI/1982, S. 55. BT-Drs. VI/1982, S. 160. 381 BT-Drs. VI/1982, S. 55. 382 BT-Drs. VI/1982, S. 168. 383 BT-Drs. VI/1982, S. 50. 384 BT-Drs. VI/1982, S. 55. 385 BT-Drs. VI/1982, S. 168. 386 BT-Drs. VI/1982, S. 168. 387 BT-Drs. VI/1982, S. 55. 388 BT-Drs. VI/1982, S. 168. 380

200

B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

sprechung389 zu § 118 RAO390 angedeutete Differenzierung zwischen Haftungstatbeständen mit und ohne Entrichtungsschuld des Haftungsschuldners. Eine solche Differenzierung wird erst zur Rechtfertigung der Ausschlusstatbestände in § 200 S. 2 AO-E 1977 aufgegriffen.391 Die Ausnahme wird dadurch gerechtfertigt, dass der Haftende allein oder ganz überwiegend zur Entstehung der Haftungsschuld beigetragen hat.392 Unzutreffender Weise spricht die Gesetzesbegründung an dieser Stelle von dem Beitrag des Haftenden zur Entstehung der Steuerschuld. Zutreffend wäre eine Bezugnahme auf seinen Beitrag an der Entstehung der Haftungsschuld gewesen, da man sich in den Ausführungen zur Subsidiarität der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners auf Sekundärebene befindet. Die Steuerschuld entsteht ohne die Pflichtverletzung des Entrichtungs- bzw. Haftungsschuldners.

5. Analoge Anwendung des § 219 S. 1 AO Wenngleich § 219 S. 1 AO für die Geltendmachung der Haftungsschuld im Nachforderungsverfahren direkt anwendbar sein sollte, ist hilfsweise eine analoge Anwendung der Norm möglich. Der Gesetzgeber konnte die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des Nachforderungsbescheids bei Schaffung der AO 1977 noch nicht bedenken, da § 167 AO erst neu kodifiziert wurde und dem Gesetzgeber die Problematik noch nicht bekannt war, dass der Haftungsschuldner mit einem Nachforderungsbescheid in Anspruch genommen werden könnte. Besondere Regelungen zur Erhebung der Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsbescheids bestehen nicht. Dies stellt eine neben dem Haftungsverfahren zumindest bei Erlass der AO 1977 nicht bedachte Inanspruchnahmemöglichkeit des Haftungsschuldners dar. Da eine spezielle Regelung für die Erhebung der Haftungsschuld des Haftungsschuldners geschaffen wurde, ist es naheliegend, dass eine solche Regelung für die Geltendmachung derselben Schuld auf anderem Wege auch geschaffen worden wäre, wenn sie bedacht worden wäre. Auch die Gesetzesbegründung zur AO 1977 enthält keinerlei Hinweise auf ein beredtes Schweigen393 des Gesetzgebers.394 Es ist demnach von einer planwidrigen Regelungslücke auszugehen. Es liegt auch eine vergleichbare Interessenlage vor. Hierfür darf nicht auf die verfahrensrechtlichen Unterschiede der beiden Verfahren abgestellt werden.395

389

BFH, Urteil vom 27. 03. 1968  – II 98/62, BStBl. II 1968, 376, 377; BFH, Urteil vom 28. 02. 1973 – II R 57/71, BStBl. II 1973, 573, 573. 390 RGBl. 1931, S. 178. 391 BT-Drs. VI/1982, S. 168. 392 BT-Drs. VI/1982, S. 168. 393 Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 210. 394 Vgl. hierzu Kapitel B. III. 4. 395 Vgl. hierzu Kapitel C. III. 1.

III. Erhebungsverfahren beim Nachforderungsbescheid

201

Denn er geht bei der hiesigen Betrachtung darum, eine Angleichung auf Verfahrens­ ebene für das Erhebungsverfahren zu erwirken. Vielmehr sind die materiellen Grundlagen beider Verfahren anzuschauen.396 Im Kern wird bei beiden Verfahren dieselbe materielle Haftungsschuld geltend gemacht.397 Diese basiert bei beiden Verfahrensarten für die hiesig betrachteten Haftungstatbestände darauf, dass der Haftungsschuldner, in seiner vorherigen Verfahrensposition als Entrichtungsschuldner, die Steuer nicht ordnungsgemäß einbehalten, abgeführt und angemeldet hat.398 Hierdurch kommt es zur Erfüllung des Haftungstatbestands, der die Inanspruchnahme nach beiden Verfahren eröffnet.399 Es handelt sich also um den gleichen Steuerpflichtigen, der auf Grundlage derselben Haftungsnorm in Anspruch genommen wird. Eine Ungleichbehandlung desselben bei der Inanspruchnahme in verschiedenen Verfahren ist nicht haltbar. Ein materiell-sachlicher Grund kann hierbei nicht vorliegen, da es nicht nur um vergleichbare Personengruppen, sondern um identische Steuerpflichtige geht.

6. Zusammenfassung In Literatur und Rechtsprechung wird sich nicht mit der Anwendbarkeit des § 219 S. 1 AO auf die Geltendmachung der Haftungsschuld im Nachforderungsverfahren beschäftigt. In der Reichsabgabenordnung war eine dem § 219 AO entsprechende Regelung noch nicht vorhanden. Schon die Rechtsprechung des RFH sah auf Festsetzungsebene nur eine subsidiäre Inanspruchnahme des Haftungsschuldners als zulässig an. Aus der Rechtsprechung des BFH zu § 118 RAO 1931400 lässt sich nicht schlussfolgern, dass eine allgemeingültige Subsidiarität für die materielle Geltendmachung der Haftungsschuld auf Erhebungsebene besteht, die man ggf. über § 219 AO hinaus auf das Nachforderungsverfahren übertragen könnte. Die Gesetzesbegründung spricht insgesamt auf Grund der Streichung des Zusatzes der Inanspruchnahme mittels Haftungsbescheids in § 200 AO- E 1977401 eher für eine Anwendbarkeit der letztendlich in § 219 AO kodifizierten Erhebungssubsidiarität auf das Nachforderungsverfahren. Auf Grund des Wortlauts des § 219 S. 1 AO und des § 167 Abs. 1 S. 1 AO, die beide den Haftungsschuldner erwähnen, ist zu folgern, dass die Wahl eines anderen Verfahrensweg für die Geltendmachung einer Haftungsschuld nicht zur Unanwendbarkeit des § 219 S. 1 AO führen kann, wenngleich in der stark überwiegen-

396

Vgl. hierzu Kapitel C. III. 3. Vgl. hierzu Kapitel B. II. 3. c). 398 Etwas anderes gilt nur bei der Versicherungsteuer. 399 Sofern man § 167 Abs. 1 S. 1 AO überhaupt für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners als anwendbar erachtet. Vgl. hierzu Kapitel B. II. 3. a). 400 RGBl. 1931, S. 178. 401 BT-Drs. VI/1982, S. 55. 397

202

B. Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens

den Anzahl der Anwendungsbereiche § 219 S. 2 AO regelmäßig zum Ausschluss der Anwendbarkeit führen wird. Sieht man dies anders, so müsste zumindest eine analoge Anwendung der Norm auf die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des Nachforderungsverfahrens stattfinden.

C. Vergleich von Haftungsund Nachforderungsverfahren  In den vorangegangenen Kapiteln wurden die formellen und materiellen Voraussetzungen des Haftungsverfahrens und der Geltendmachung der Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsverfahrens getrennt voneinander betrachtet. Nunmehr wird in diesem Kapitel untersucht, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Verfahren bestehen, sodass im Ergebnis festgestellt werden kann, ob die Verfahren vergleichbare Mittel zur Inanspruchnahme des Haftungsschuldners darstellen. Infolgedessen ist eine Wertung möglich, ob das überwiegend vertretene Wahlrecht der Finanzverwaltung zur Inanspruchnahme des Haftungsschuldners in einem der beiden Wege als tragbare Praxis qualifiziert werden kann.1 Einige wesentliche Unterschiede der beiden Verfahren zählt Frotscher in der Kommentierung zum § 167 AO im Schwarz / Pahlke auf.2 Er beschäftigt sich allerdings nicht damit, welche Effekte sich hieraus für die Inanspruchnahme ergeben. Im Folgenden werden die dort aufgelisteten sowie die darüber hinaus identifizierten Unterschiede zwischen Haftungs- und Nachforderungsverfahren herausgearbeitet und auf ihre Auswirkungen untersucht.

I. Allgemeines 1. Historische Entwicklung des Verfahrensdualismus a) Reichsabgabenordnung 1919 Die RAO 19193 sah keine verfahrensrechtliche Unterscheidung zwischen Haftungs- und Steuerverfahren vor. Es waren keine Spezialregelungen für Haftungsbescheide vorhanden. Vielmehr wurden für den Haftungsschuldner die Regelungen für die Inanspruchnahme des Primärschuldners sinngemäß angewendet, vgl. § 79 Abs. 2 RAO 19194. Mangels echten verfahrensrechtlichen Dualismus von Steuer- und Haftungsverfahren war eine Trennung beider Verfahren nicht notwendig. So wurde der Haftungsbescheid als Unterform des Steuerbescheids an-

1

Vgl. zum Meinungsstand Kapitel C. II. Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 167, Rn. 23. 3 RGBl. 1919, S. 1993 ff. 4 RGBl. 1919, S. 2010, vgl. hier auch Kapitel A. I. 1. 2

204

C. Vergleich von Haftungs- und Nachforderungsverfahren   

gesehen.5 Infolgedessen soll die Unterscheidung zwischen Steuer- und Haftungsschuldner „mehr formeller Art“ gewesen sein, da beide in den ausschlaggebenden Punkten ex lege gleichbehandelt wurden.6 Solche Punkte der Gleichbehandlung beider Verfahrensarten sollen nach Becher gewesen sein: Qualifikation als Steuerpflichtiger, Haftung als Gesamtschuldner, Zuständigkeit desselben Finanzamts und gleiche Rechtsmittelbefugnis.7 Als Unterschied wies Becher lediglich auf § 126 RAO hin, der eine Befreiung des Haftungsschuldners von der Haftung anordnete, wenn der Anspruch gegen den Steuerschuldner verjährt war.8 Dies ist als gesetzliche Ausprägung der Akzessorietät der Haftung anzusehen. Dieser Punkt führt nicht zu einem Unterschied in der Behandlung beider Verfahren. Die Akzessorietät setzt vielmehr das Besteuerungsverfahren des Primärschuldners ins Verhältnis zum Haftungsverfahren gegenüber dem Haftungsschuldner. Die Akzessorietät ist nicht als Unterschied zwischen Haftungs- und Steuerfestsetzungsverfahren anzusehen. Die Notwendigkeit der Akzessorietät ergibt sich vielmehr als Folge aus dem Bestehen mehreren Inanspruchnahmeebenen, die schon zu Zeiten der Reichsabgabenordnung existierten. In der Rechtsprechung zur RAO finden sich keine Hinweise darauf, dass schon nach alter Rechtslage Haftungsschulden außerhalb des § 98 RAO 19199 bzw. § 118 RAO 193110 geltend gemacht wurden.11 Im Einklang mit der nach den Regelungen der Reichsabgabenordnung weniger strikten Trennung der Verfahrensarten steht auch die in § 12 der Durchführungsverordnung zur Kapitalertragsteuer12 vorhandene Regelung. Der Paragraf war mit „Nachforderung, Haftungsbescheid“ überschrieben. Er sah vor, dass bei nicht ordnungsgemäßer Berechnung oder Abführung der Kapitalertragsteuer der fehlende Betrag beim Schuldner oder Gläubiger durch Haftungsbescheid anzufordern war. Eine Inanspruchnahme mittels Steuerbescheids war nicht vorgesehen und hätte unmittelbar im Widerspruch zum Wortlaut des § 12 der Durchführungsverordnung zur Kapitalertragsteuer13 gestanden. Auf Basis der ursprünglichen Regelungen ist eher davon auszugehen, dass Haftungsschulden zu dieser Zeit nur im Wege des Haftungsverfahrens geltend gemacht 5

Hensel, Steuerrecht, Reprintauflage 1986 zur 3. Auflage 1933, S. 158; ebenso Hofmann, AO, 2. Auflage 1977, Allgemeine Vorbemerkungen, S. 11: Erst mit Einführung der AO 1977 sei die allgemeine Gleichstellung von Haftungs- und Steuerbescheiden entfallen. 6 Becher, RAO, 3. Auflage 1930, § 79, Rn. 3. 7 Becher, RAO, 3. Auflage 1930, § 79, Rn. 3. 8 Becher, RAO, 3. Auflage 1930, § 79, Rn. 3. 9 RGBl. 1919, S. 2015. 10 RGBl. 1931, S. 50. 11 So beispielsweise keine Hinweise in BFH, Urteil vom 06. 09. 1963 – VI 80/62 U, BStBl. III 1963, 574; BFH, Urteil vom 02. 10. 1968 – VI R 56/67, BStBl. II 1969, 71; BFH, Urteil vom 24. 01. 1975 – VI R 121/72, BStBl. II 1975, 420: zur Inanspruchnahme des Haftenden für Lohn­ steuer mittels Haftungsbescheids; ebenso Pendele, Steuerrecht der AO, 2. Ergänzungslieferung Juni 1958, S. 85, 94. 12 WiGl. 1949, S. 93. 13 WiGl. 1949, S. 93.

I. Allgemeines

205

wurden. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des Nachforderungsverfahrens waren jedoch Großteils schon vorhanden und wiesen in ihrer Rechtswirkung nur geringe Unterschiede zu der heutigen Inanspruchnahmemöglichkeit auf.14 b) Reichsabgabenordnung bis 1976 In einer jüngeren Kommentierung zu § 97 AO von Kühn / Kutter findet sich ein Hinweis darauf, dass der Arbeitgeber mittels Nachforderungsbescheids in Anspruch genommen wurde, wenn er die Steuerabführung nicht vorschriftsmäßig vorgenommen hatte.15 Aus der von Kühn / Kutter zitierten Rechtsprechung wird jedoch ersichtlich, dass es vorliegend nicht darum ging, eine Aussage zum Wege der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners zu treffen. Die Kommentierung wollte lediglich verdeutlichen, dass dem Arbeitnehmer ein Recht zur Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen die Nachforderung beim Arbeitgeber zusteht.16 Mit dem Begriff „Nachforderung“ scheint mit Blick auf das zitierte Urteil17 die Inanspruchnahme im Wege des Haftungsbescheids gemeint zu sein. Auf Grundlage dieser Kommentierung auf einen schon damals bestehenden Dualismus der Verfahren für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners für Entrichtungssteuern zu schließen, würde die Fundstelle in der Kommentierung überdehnen, zumal der Wortlaut der „Nachforderung“ wohl untechnisch verwendet wurde, da damals noch kein § 167 AO vorhanden war, der Regelungen zum Nachforderungsbescheid vorsah. In diesem Zusammenhang ist jedoch ggf. auch die Vorschrift des § 223 RAO 1970 von Interesse. Nach diesem waren Nachforderungen von Steuern bis zum Ablauf der Verjährungsfrist zulässig, soweit nicht § 222 RAO 1970 anwendbar oder etwas hiervon Abweichendes vorgeschrieben war. Entgegen der heutigen Unterteilung der Änderungsvorschriften in Vorschriften für Steuerverwaltungsakte und solche für Steuerbescheide fand § 223 RAO 1970 für alle Steuerverwaltungsakte Anwendung. § 223 RAO 1970 fand insbesondere auch für Steuern Anwendung, die im Abzugsverfahren erhoben werden.18 Hierunter wurden auch die Fälle gefasst, in denen eine formlose Steuerfestsetzung nach § 212 RAO 1970 erfolgte.19 Dies entspricht den Fällen, in denen ein Entrichtungsschuldner eine Steueranmeldung für die Steuerschuld eines Steuerschuldners abgegeben hat. Somit lagen schon vor 1977 die gesetzlichen Grundlagen für die Inanspruchnahme des Haftungsschuld 14

Vgl. hierzu Kapitel B. I. 1. a) aa). Kühn / Kutter, AO, 10. Auflage 1970, § 97, Rn. 1b). 16 Kühn / Kutter, AO, 10. Auflage 1970, § 97, Rn. 1b). 17 BFH, Urteil vom 09. 02. 1951 – IV 347/50 S, BStBl. III 1951, 73. 18 Kühn / Kutter, AO, 10. Auflage 1970, § 223, Rn. 1. 19 Kühn / Kutter, AO, 10. Auflage 1970, § 223, Rn. 1; hierzu auch Kühn / Kutter, AO, 10. Auflage 1970, § 222, Rn. 2: Veranlagungssteuern im Abzugsverfahren oder bei Selbstberechnungen fielen nicht unter § 222 RAO 1970. 15

206

C. Vergleich von Haftungs- und Nachforderungsverfahren   

ners mit Steueranmeldungsverpflichtung im Wege des Nachforderungsbescheids vor, indem ein formloser Steuerbescheid gegenüber dem Entrichtungsschuldner in Folge der Annahme der Steueranmeldung nach § 212 RAO 1970 erging und dieser Steuerbescheid nach § 223 RAO 1970 geändert werden konnte.20 Diese Änderung der formlosen Steuerfestsetzung gegenüber dem Entrichtungsschuldner vermag dem heutzutage auf § 167 Abs. 1 S. 1 AO fundierendem Nachforderungsbescheid entsprechen bzw. dessen Wurzeln in der RAO darstellen. Praktisch vermochte das Problem jedoch noch nicht mit denselben Auswirkungen wie unter der AO 1977 zur Geltung kommen. Denn Haftungsbescheide stellten nach damaliger Rechtslage eine Unterform der Steuerbescheide nach § 210b Abs. 1 S. 1 RAO 1970 dar,21 die den gleichen Regelungen zur Änderung unterlagen. Ein Unterschied bestand jedoch damals schon darin, dass der Erlass eines Haftungsbescheids eine Ermessensentscheidung war,22 ein Steuerbescheid jedoch grundsätzlich als gebundene Entscheidung erging.23 Aus der jüngeren Kommentierung zum § 212 RAO ergeben sich Hinweise darauf, dass § 212 RAO als Vorgänger des § 167 Abs. 1 S. 1 AO in Bezug auf die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners mittels Steuerbescheids anzusehen ist. So heißt es im Kühn / Kutter, dass § 212 auch Lohnsteuer- und Kapitalertragsteuernachforderungsbescheide erfasse, die auf Grund von Anmeldungen ergehen.24 Die zitierte Rechtsprechung beschäftigt sich zwar inhaltlich mit der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners durch Steuerbescheid.25 Jedoch liegt dem Urteilsfall ein schriftliches Anerkenntnis des Haftungsschuldners in Bezug auf die zu entrichtende Steuer vor, die eine schriftliche Inanspruchnahme des Haftungsschuldners entbehrlich machte.26 Der 6. Senat nahm in dem Urteil keine klare Trennung zwischen Steuer- und Haftungsbescheid vor, da der Haftungsbescheid nach damaliger rechtlicher Ausgestaltung der RAO noch ein Unterfall des Steuerbescheids war. Aus der weiteren Urteilsbegründung wird ersichtlich, dass der BFH sehr wohl verfahrensrechtlich vom Haftungsbescheid im Haftungsverfahren gesprochen hat.27 Auch aus diesem Urteil und der darauf aufbauenden Kommentierung lassen sich demnach keine eindeutigen Schlüsse auf die Entstehung des Verfahrensdualismus in der heutigen Ausgestaltung ziehen. 20

Erwähnung von Nachforderungsbescheiden auch in Kühn / Kutter, AO, 10. Auflage 1970, § 211, Rn. 1; in Kühn / Kutter, AO, 10. Auflage 1970, § 210, Rn. 2 wird angemerkt, dass eine Steuerfestsetzung in Bezug auf das Abzugsverfahren bei Nachforderungen möglich sei. Unklar bleibt, ob dies Nachforderungen gegenüber dem Steuerschuldner oder gegenüber dem Haftungsschuldner betreffen soll. 21 Kühn / Kutter, AO, 10. Auflage 1970, § 210b, Rn. 1. 22 Kühn / Kutter, AO, 10. Auflage 1970, § 118, Rn. 1. 23 Kühn / Kutter, AO, 10. Auflage 1970, § 210, Rn. 1: Der Steuerbescheid stelle nur deklaratorisch den kraft Gesetzes entstandenen Steueranspruch fest. 24 Kühn / Kutter, AO, 11. Auflage 1974, § 212, Rn. 1. 25 BFH, Urteil vom 13. 05. 1960 – VI 43/60 U, BStBl. III 1960, 297. 26 BFH, Urteil vom 13. 05. 1960 – VI 43/60 U, BStBl. III 1960, 297, 297. 27 BFH, Urteil vom 13. 05. 1960 – VI 43/60 U, BStBl. III 1960, 297, 298.

I. Allgemeines

207

Eindeutigere Angaben finden sich jedoch in anderer zeitgenössischer Kommentierung. So führen Becker / R iewald / Koch in der 9. Auflage ihrer Kommentierung zur Reichsabgabenordnung aus, dass der Entrichtungsschuldner sich vom Haftenden dadurch abhebe, dass er primärer Fremdschuldner sei.28 Diese Fremdschuldnerschaft sei durch Steuerbescheid gegenüber dem Entrichtungsschuldner geltend zu machen.29 Dieser Bescheid sei kein eigentlicher Haftungsbescheid.30 Vielmehr hafte der Arbeitnehmer nach § 38 Abs. 3 Ziff. 2 EStG 1963 für die ordnungsgemäße Entrichtung der Steuer durch den Entrichtungsschuldner.31 Aus der Kommentierung geht hervor, dass schon zu Zeiten der Reichsabgabenordnung ein echter Verfahrensdualismus zwischen Nachforderungs- und Haftungsbescheid bestand und der Entrichtungsschuldner mittels Steuerbescheids in Anspruch genommen werden konnte. c) Abgabenordnung 1977–1990 Durch die Kodifizierung des § 167 AO 197732 wurde die normative Diskussionsgrundlage zur Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des Nachforderungsbescheids geschaffen. Ausführungen zur Anwendbarkeit des neu eingeführten § 167 AO auf Haftungsschulden des Entrichtungsschuldners enthielt die Gesetzesbegründung nicht. Unter Zugrundelegung der Ausführungen der Gesetzes­ begründung zum heutigen § 191 AO33 hat der historische Gesetzgeber bei Erlass des § 167 AO 197734 wohl nur die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des Haftungsverfahrens bedacht und für die Inanspruchnahme alleinig vorgesehen. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass ein Weg für die Finanzverwaltung eröffnet werden sollte, den Haftungsschuldner außerhalb der hierfür speziell geschaffenen Vorschriften in Anspruch zu nehmen. Kühn / Kutter haben in der 12. Auflage von 1977 zur AO 1977 nicht geäußert, dass die Norm ebenfalls auf Haftungsschuldner anwendbar sein soll.35 Im Gegensatz zum heutigen AEAO zu § 167 AO sah der AEAO 1987 zu § 167 AO36 noch keine Passage zum Erlass eines Steuerbescheids gegenüber dem Entrichtungsschuldner vor. Lediglich in einem Erlass des Finanzministeriums NRW von 198137 ergibt sich ein vager Hinweis, auf eine Inanspruchnahme des Haftungsschuldners mittels Steuerbescheids. So habe der zur Einbehaltung und Abführung 28

Becker / Riewald / Koch, RAO, 9. Auflage 1963, § 97, Rn. 4 Abs. 1. Becker / Riewald / Koch, RAO, 9. Auflage 1963, § 97, Rn. 4 Abs. 2. 30 Becker / Riewald / Koch, RAO, 9. Auflage 1963, § 97, Rn. 4 Abs. 2. 31 Becker / Riewald / Koch, RAO, 9. Auflage 1963, § 97, Rn. 4 Abs. 2. 32 BGBl. 1976, S. 652. 33 Vgl. Kapitel A. I. 1. 34 BGBl. 1976, S. 652. 35 Kühn / Kutter, AO, 12. Auflage 1977, § 167. 36 BStBl. I 1987, 697. 37 FM NRW 13. 4. 1981 S 2386 – 1 – VB 3, Tz. 1. 29

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C. Vergleich von Haftungs- und Nachforderungsverfahren   

der Lohnsteuer gesetzlich verpflichtete Arbeitgeber ein berechtigtes Interesse, auf Fehler bei der Einbehaltung der Lohnsteuer in kürzeren Abständen hingewiesen zu werden, zumal er bei Nachforderungen als Steuerschuldner oder als Haftender in Anspruch genommen werden könne.38 Hierbei ist allerdings nicht ersichtlich, ob damit in beiden Alternativen die Inanspruchnahme als Entrichtungsschuldner gemeint ist oder sich der Erlass eines Steuerbescheids auf Fälle der pauschalierten Lohnsteuer bezieht, in denen der Arbeitgeber selbst Steuerschuldner ist und damit selbstverständlich mittels Steuerbescheid in Anspruch genommen werden kann.39 Widersprüchlich erscheint vor dem Hintergrund einer in Rechtsprechung und Literatur proklamierten Verwaltungspraxis40 zur Inanspruchnahme des Haftungsschuldners mittels Nachforderungsbescheids das BMF-Schreiben zur Bekanntgabe von schriftlichen Verwaltungsakten in der Finanzverwaltung von 198241: Der Steuerschuldner und der Haftende seien zwar nach § 44 Abs. 1 AO Gesamtschuldner. Diese Bestimmung führe aber nicht zu einer völligen Gleichstellung. Der Steuerbescheid sei an den Steuerschuldner zu richten. Über die Haftung sei durch selbständigen Haftungsbescheid zu entscheiden (§ 191 AO) und der Haftende durch Zahlungsaufforderung in Anspruch zu nehmen (§ 219 AO). Die Passage ist bis heute im AEAO zu § 122 in Tz. 2.14 enthalten. Es lässt sich hieraus keine Schlussfolgerung auf die Verwaltungspraxis zu § 167 AO 1977 herleiten. An dieser Stelle sollte nur eine Aussage zum Haftungsverfahren als solches getroffen werden. Zwar erscheinen die Aussagen der Verwaltung hierzu widersprüchlich. Jedoch vermag die Aussage zu § 122 AO nicht mit Blick auf § 167 AO getroffen worden zu sein und soll hierzu wohl auch keine Aussage treffen. Die jüngeren Aussagen des AEAO zu § 167 AO vermögen diesbezüglich als Spezialregelung anzusehen sein und keinen Verstoß gegen den AEAO zu § 122 begründen. Bei der Anwendung der ursprünglichen Fassung des § 167 Abs. 1 S. 1 AO 197742 (mit diesem Wortlaut in Kraft von 1977 bis 1990) soll es äußerst zweifelhaft gewesen sein, ob dieser eine Ermächtigungsgrundlage für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des Nachforderungsbescheids darstellen konnte.43 Die alte Fassung des § 167 Abs. 1 S. 1 AO enthielt noch nicht den Zusatz, dass 38

FM NRW 13. 4. 1981 S 2386 – 1 – VB 3, Tz. 1. Vgl. hierzu auch Drenseck, in: Schmidt, EStG, 1. Auflage 1982, § 40, Rn. 1; BFH, Urteil vom 3. 11. 1972 – VI R 270/69, BStBl. II 1973, 128, 128. 40 Niedersächsisches FG, Urteil vom 29. 06. 1999 – VI 177/96, EFG 2000, 468, 469; so auch Helmschrott / Schaeberle, Abgabenordnung, 6. Auflage 1990, S. 200: Es ist wahrscheinlich, dass der Autor sich schon auf die Meinung der Finanzverwaltung vor Änderung des § 167 AO bezieht; ebenso BT-Drs. 11/2157, S. 194: Die Änderung diene nur der Klarstellung. Das deutet darauf hin, dass in der Praxis der Finanzverwaltung schon vorher eine Inanspruchnahme mittels Nachforderungsbescheids gegenüber dem Haftungsschuldner erfolgte. 41 BMF-Schreiben vom 30. 04. 1982 IV A 7 – S 0284 – 10/82, DB 1982, 1132, Tz. 2.14. 42 BGBl. 1976, S. 652. 43 Niedersächsisches FG, Urteil vom 29. 06. 1999 – VI 177/96, EFG 2000, 468, 469; ablehnend auch Heinicke, in: Schmidt, EStG, 7. Auflage 1988, § 167, Rn. 3 i. V. m. der 8. Auflage 1989, § 167, Rn. 3: Seit der Gesetzesänderung sei auch gegenüber dem Haftungsschuldner der 39

I. Allgemeines

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§ 167 Abs. 1 S. 1 AO einschlägig ist, wenn der Steuer- oder Haftungsschuldner die Anmeldung nicht abgibt. Der frühere Wortlaut der Norm adressierte nur an den Steuerschuldner. Es war zweifelhaft, ob eine Inanspruchnahme für die materielle Haftungsschuld nach § 167 Abs. 1 S. 1 AO möglich war.44 Kam es zu einer nachträglichen Abgabe einer zunächst unterlassenen Anmeldung, war die Korrektur der Haftungsbescheide nur in eingeschränktem Maße möglich, da die Korrekturvorschriften der §§ 172 ff. AO für Haftungsbescheide keine Anwendung finden.45 Es musste deswegen für die notwendige Korrektur auf den allgemein für Steuerverwaltungsakte anzuwenden § 130 AO zurückgegriffen werden.46 Dieser stellt höhere Anforderungen an die nachträgliche Änderung als die §§ 172 ff. AO.47 Die ursprüngliche Fassung der Vorschrift war ihrem Wortlaut nach auf die Steuerfestsetzung gegen den Steuerschuldner zugeschnitten.48 Auf den Haftungsschuldner konnte § 167 Abs. 1 S. 1 AO schon auf Grund des Wortlauts keine Anwendung finden, da dieser keine Erwähnung fand.49 Auch in späterer Rechtsprechung erfolgt die Wertung, dass der Haftungsschuldner wegen der Verletzung der Einbehaltungs- und Abführungspflicht nicht mittels Nachforderungsbescheids in Anspruch genommen werden konnte.50 Dies erscheint zutreffend, da der Haftungsschuldner nach § 33 Abs. 1 AO nicht Steuerschuldner im Sinne des § 167 Abs. 1 S. 1 AO war. Der frühere Wortlaut der Norm adressierte nur an den Steuerschuldner, der in eigener Sache einer Steueranmeldung abgab. Die Norm nahm nicht auf Fremdschuldnerschaften von Entrichtungsschuldnern Bezug. Die frühere Kommentierung zu § 167 AO schweigt noch über die Anwendbarkeit auf eine Haftungsschuld des Entrichtungsschuldners.51 Interessant ist vor diesem Hintergrund, dass sich aus den Anwendungserlassen zur Abgabenordnung in Bezug auf die Fassung des § 167 Abs. 1 S. 1 AO vor der Gesetzesänderung 1990 keine Hinweise zur Verwaltungspraxis zu einem Wahlrecht der Finanzverwaltung ergeben. Ebenso gibt es weder zu § 167 AO noch zu den spezialgesetzlichen Haftungsnormen Verwaltungsanweisen des Bundes oder der Länder, die ausdrücklich ein solches Wahlrecht statuieren. Es konnten nur die oben aufgeführten Verwaltungsregeln gefunden werden, die teilweise mehr für und teilweise mehr gegen, jedoch nie ausdrücklich zu der Problematik Stellung

Erlass eines Nachforderungsbescheids möglich. Dies spricht dafür, dass der Autor nach alter Fassung der Norm nicht von einem Wahlrecht der Finanzverwaltung ausgegangen ist. 44 Niedersächsisches FG, Urteil vom 29. 06. 1999 – VI 177/96, EFG 2000, 468, 469. 45 Niedersächsisches FG, Urteil vom 29. 06. 1999 – VI 177/96, EFG 2000, 468, 469. 46 BT-Drs. 11/2157, S. 194. 47 Vgl. hierzu Kapitel C. III. 1. a). 48 Niedersächsisches FG, Urteil vom 29. 06. 1999 – VI 177/96, EFG 2000, 468, 469. 49 Niedersächsisches FG, Urteil vom 29. 06. 1999  – VI 177/96, EFG 2000, 468, 469; FG Hamburg, Beschluss vom 17. 06. 1996 – II 40/96, RiW 1997, 535, BeckRS 1996, 30912575, Tz. II. 9. e). 50 Niedersächsisches FG, Urteil vom 29. 06. 1999 – VI 177/96, EFG 2000, 468, 470. 51 Hofmann, AO, 2. Auflage 1977, § 167, Rn. 1 ff., § 191, Rn. 1 ff.

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nehmen. Es kann sich demnach bei der von Rechtsprechung und Literatur zitierten Praxis der Finanzverwaltung52 nur um eine faktische Verwaltungspraxis handeln, die nicht in administrativen Normen festgehalten wurden. d) Abgabenordnung ab 1990 Durch das Steuerreformgesetz 1990 vom 25. 07. 198853 wurde der Wortlaut des § 167 Abs. 1 S. 1 AO um den Haftungsschuldner erweitert. In der Gesetzesbegründung hieß es ausdrücklich, dass die Änderung der Verfahrensvereinfachung dienen soll.54 Sie sollte dazu bestimmt sein, dass auch der Haftungsschuldner durch Steuerbescheid nach § 167 Abs. 1 S. 1 Var. 2 AO i. V. m. § 155 AO in Anspruch genommen werden kann und der Erlass eines Haftungsbescheids für die Fälle der Entrichtungsschuldnerschaft nicht notwendig ist.55 Dadurch sollte im Rahmen einer nachträglichen Änderung das vorherige Problem der alleinigen Anwendbarkeit des § 130 AO auf den Haftungsbescheid gelöst werden, da bei Erlass eines Steuer­bescheids unproblematisch auf die §§ 172 ff. AO als Änderungsvorschriften zurückgegriffen werden könne.56 Ferner kann eine Steueranmeldung, die nach § 168 AO einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleichsteht, jederzeit nach § 164 AO geändert werden.57 Es muss der Vorbehalt der Nachprüfung im Nachforderungsbescheid allerdings aufrechterhalten werden, damit auch dieser nach § 164 AO jederzeit geändert werden kann. Die Gesetzesänderung sollte ausweislich der Gesetzesbegründung nur klarstellender Natur sein.58 Der Verweis auf die klarstellende Natur der Gesetzesänderung zeigt, dass der Gesetzgeber davon ausging, dass die Norm schon zuvor eine Inanspruchnahme des Haftungsschuldners ermöglichte. Die Aufnahme des Haftungsschuldners in den Wortlaut der Norm eröffnet Folgeprobleme für die Inanspruchnahme desselben. Der eindeutig erscheinende Wortlaut liefert bei genauer Betrachtung keine eindeutige Inanspruchnahmeoption des Haftungsschuldners. Der Haftungsschuldner wird bei Inanspruchnahme durch Nachforderungsbescheid formal nicht in seiner Funktion als Haftungsschuldner in 52

Niedersächsisches FG, Urteil vom 29. 06. 1999 – VI 177/96, EFG 2000, 468, 469; Helmschrott / Schaeberle, Abgabenordnung, 6. Auflage 1990, S. 200; ebenso BT-Drs. 11/2157, S. 194: letztere beide nicht vorbehaltslos, sondern nur unter der oben aufgeführten Auslegung der ­Quellen. 53 BStBl. I 1988, 224, 258. 54 BT-Drs. 11/2157, S. 194. 55 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  8. 56 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  1. 57 BT-Drs. 11/2157, S. 194; Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  1. 58 BFH, Urteil vom 07. 07. 2004 – VI R 171/00, BStBl. II 2004, 1087, 1088; BFH, Urteil vom 07. 07. 2004 – VI R 168/01, BFH / NV 2005, 357, BeckRS 2004, 25007018, Tz. II. 1. c); BT-Drs. 11/2157, S. 194; a. A.: Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  1: Schaffung einer erleichterten Korrekturmöglichkeit.

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Anspruch genommen.59 Vielmehr soll der Nachforderungsbescheid auf Grund der eigenen Entrichtungssteuerschuld des Haftungsschuldners zulässig sein.60 Nur in Bezug auf die Entrichtungsschuld besteht eine Pflicht zur Steueranmeldung. Eine Haftungsschuld hingegen ist nicht anzumelden.61 Erst bei Nichtanmeldung und fehlender Abführung entsteht die Haftungsschuld, da erst in diesem Zeitpunkt der Tatbestand der Haftungsnorm erfüllt wird.62 Entrichtungsschuldnerschaft und Haftungsschuldnerschaft sind zweierlei.63 Nunmehr führt der Wortlaut des § 167 Abs. 1 S. 1 AO jedoch zur Vermengung der Begrifflichkeiten.64 Steuerschuldner und Haftungsschuldner stellen in der Gesetzessystematik der Abgabenordnung verschiedene Klassen von Steuerpflichtigen dar. So ist in § 33 AO definiert, wer als Steuerpflichtiger im Sinne der Abgabenordnung anzusehen ist. Nach § 33 Abs. 1 AO ist Steuerpflichtiger, wer eine Steuer schuldet, für eine Steuer haftet oder eine Steuer für Rechnung eines Dritten einzubehalten und abzuführen hat. Das Gesetz unterscheidet hierbei die Steuerpflichtigen in Steuerschuldner, Haftungsschuldner und Entrichtungsschuldner. § 191 AO bezieht sich ausdrücklich auf die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners und legal definiert diesen. Dass Haftungs- und Steuerschuldner begriffsverschiedenen sind, ist ebenfalls an der nachträglichen Einfügung des Haftungsschuldners in § 167 Abs. 1 S. 1 AO mit der oben benannten Änderung des Gesetzestextes erkennbar. Ohne Klassifizierung zwischen beiden Gruppen von Steuerpflichtigen wäre die Erweiterung des Wortlauts nicht notwendig gewesen, um ihren Anwendungsbereich  – vermeintlich  – auszudehnen. Einer solchen Ausdehnung hätte es ohne Differenzierung zwischen beiden Gruppen nicht bedurft. In Anbetracht der schon zuvor gebildeten Verwaltungspraxis ist die Gesetzesbegründung jedoch mit Vorsicht zu betrachten. Da die Verwaltung zuvor schon Haftungsschuldner auf Grundlage des alten Wortlauts des § 167 Abs. 1 S. 1 AO mittels Nachforderungsbescheids in Anspruch nahm65 und durch den Bundesrat auch die Exekutivspitzen der Länder an der Gesetzgebung beteiligt werden, liegt es nahe, dass in der Gesetzesbegründung versucht wurde, die vorherige Verwaltungspraxis als lege artis zu titulieren.

59 BFH, Urteil vom 13. 09. 2000 – I R 61/99, BStBl. II 2001, 67, 69; a. A. BFH, Urteil vom 13. 12. 2011 – II R 52/09, BFH / NV 2012, 695, BeckRS 2012, 94601, Rn. 12 mit Verweis auf BFH, Beschluss vom 18. 03. 2009 – I B 210/08; BFH / NV 2009, 1237, BeckRS 2009, 25015092, Tz. II. 2. c) bb) aaa). 60 BFH, Urteil vom 13. 09. 2000 – I R 61/99, BStBl. II 2001, 67, 69. 61 A. A. Heuermann, in: FR 2013, 354, 354. 62 Vgl. hierzu Kapitel A. I. 3. 63 Vgl. Heuermann, in: FR 2013, 354, 355: Zur Folgerung aus der Unterscheidung der Personen auf die zu Grunde liegenden Pflichten für Entrichtungsschuldner und Steuerschuldner, 356: keine Identität von Entrichtungsschuld und Haftungsschuld. 64 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  13. 65 Niedersächsisches FG, Urteil vom 29. 06. 1999 – VI 177/96, EFG 2000, 468, 469; so auch Helmschrott / Schaeberle, Abgabenordnung, 6. Auflage 1990, S. 200.

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Fraglich ist allerdings, woraus sich die vom Niedersächsischen FG u. A. bezeichnete Verwaltungspraxis ergeben sollte.66 So sieht der AEAO zu § 167 AO erst seit 200567 einen Hinweis auf das Wahlrecht der Finanzverwaltung vor. Im Gegensatz zum heutigen AEAO zu § 167 AO Abs. 5 sah § 167 AEAO 198768 noch keine Passage zum Erlass eines Steuerbescheids gegenüber dem Entrichtungsschuldner vor. Vielmehr schwieg der Anwendungserlass noch zum Dualismus der Verfahrensarten und dem Rückgriff auf einen Steuerbescheid gegenüber dem Haftungsschuldner. Die Passage wurde erst als Reaktion auf das Urteil des 6. Senats zur Nachforderung von Lohnsteuer beim Arbeitgeber im Wege eines Steuerbescheids69 in den AEAO aufgenommen. Trotzdem ging die Finanzverwaltung schon vor Änderung des Wortlauts des § 167 Abs. 1 S. 1 AO 1990 angeblich von einem Wahlrecht zur Inanspruchnahme mittels Steuer- oder Haftungsbescheid aus.70 So hieß es im AEAO zu § 167 Stand 199471 nur, dass bei Anerkenntnis des Entrichtungsschuldners kein Haftungsbescheid erforderlich sei, um diesen in Anspruch zu nehmen, wenn er der Zahlungsverpflichtung aus dem Anerkenntnis nicht nachkommt. Daraus ist eher zu schlussfolgern, dass in allen anderen Fällen eine Inanspruchnahme des Haftungsschuldners nur im Wege des Haftungsbescheids erfolgen darf. Im AEAO 2000 zu § 12272 hieß es, dass Steuerschuldner und Haftungsschuldner zwar Gesamtschuldner seien. Dies solle aber nicht zu einer völligen Gleichstellung führen. Der Steuerbescheid ergehe gegenüber dem Steuerschuldner. Über die Haftung ergehe ein selbstständiger Haftungsbescheid gegenüber dem Haftungsschuldner nach § 191 AO. Die Zusendung einer Ausfertigung des Steuerbescheids an den Haftungsschuldner sei zur Inanspruchnahme dessen nicht ausreichend. Diese Passage ist bis heute im aktuellen AEAO zu § 122 in Tz. 2.14 enthalten. Auch die Kommentierung der frühen 90er/00er Jahre geht von dem Vorliegen eines Wahlrechts aus.73 Dies wird von Rüsken mit Hinweis auf das Klarstellungsbestreben des Gesetzgebers bei Änderung des Wortlauts 1990 begründet.74 Auf die kritischen Stimmen zur Wortlautänderung wird mit dem Hinweis reagiert, dass mit der Anmeldung des Haftungsschuldners die Anmeldung der Entrichtungsschuld gemeint sei.75 Aus der Begründung lässt sich schlussfolgern, dass das Klarstellungsbestreben des Gesetzgebers wohl nicht erfolgreich verlaufen ist. 66

Vgl. hierzu auch Kapitel C. I. 1. c). BStBl. I 2005, 8. 68 BStBl. I 1987, 697. 69 BFH, Urteil vom 7. 7. 2004 – VI R 171/00, BStBl. II 2004, 1087. 70 Helmschrott / Schaeberle, Abgabenordnung, 6. Auflage 1990, S. 200. 71 BStBl. I 1994, 304. 72 BStBl. I 2000, 228. 73 Baum, in: Koch / Scholtz, AO, 4. Auflage 1993, § 167, Rn. 9/1; Rüsken, in: Klein / Orlopp, AO, 7. Auflage 2000, § 167, Rn. 5; Heinicke, in: Schmidt, EStG, ab der 8. Auflage 1989, § 167, Rn. 3. 74 Rüsken, in: Klein / Orlopp, AO, 7. Auflage 2000, § 167, Rn. 5. 75 Rüsken, in: Klein / Orlopp, AO, 7. Auflage 2000, § 167, Rn. 5. 67

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Dass im Gesetz etwas steht, was eigentlich etwas anderen meinen soll, führt im Umkehrschluss dazu, dass der eigentlich zu erfassen gewesene Fall nicht erfasst wurde. Baum führt zur Begründung lediglich Gründe der Verfahrensvereinfachung bzw. Lockerung der Änderungsvorschriften zur Inanspruchnahme des Haftungsschuldners an.76 Dies vermag zur Begründung des Vorliegens eines Wahlrechts nicht ausreichen, da dies nicht den Grund für die Anwendbarkeit, sondern die sich darauf ex lege ergebenden Folgen darstellt. e) Jüngere Kritik an dem Verfahrensdualismus Durch das Steuerreformgesetz 1990 wurde der Wortlaut des § 167 Abs. 1 S. 1 AO dahingehend ergänzt, dass der Haftungsschuldner ausdrücklich als Adressat eines Nachforderungsbescheids aufgenommen wurde. Trotz der Änderung des Gesetzeswortlauts bestehen nach wie vor Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners durch Steuerbescheid.77 Es wurden ernstliche Zweifel kundgetan, ob das in der Gesetzesbegründung ausdrücklich kundgetane Regelungsziel des Gesetzgebers im neuen Wortlaut der Norm zum Ausdruck gekommen ist.78 Der subjektive Wille des Gesetzgebers kann nur zur Auslegung einer Norm herangezogen werden, wenn deren Wortlaut mehrere Auslegungsmöglichkeiten zulässt. Die Rechtsprechung hielt es jedoch für fraglich, ob der subjektive Wille derart zum Ausdruck gekommen ist, dass er einen objektiven Niederschlag in dem Gesetzeswortlaut erhalten hat.79 Ferner erscheint die Klarstellungsfunktion der Gesetzesänderung80 zweifelhaft, da schon vor der Steuerreform 1990 ernstliche Zweifel bestanden, ob die Inanspruchnahme nach dem alten Wortlaut der Vorschrift rechtmäßig war.81 In der Fassung des AEAO zu § 167 ist seit 200582 ein Absatz vorhanden, nach dem das Finanzamt ermächtigt ist, einen Steuerbescheid im Wege der Schätzung 76

Baum, in: Koch / Scholtz, AO, 4. Auflage 1993, § 167, Rn. 9/1. FG Hamburg, Beschluss vom 17. 06. 1996  – II 40/96, RiW 1997, 535, BeckRS 1996, 30912575, Tz. II. 9.; Niedersächsisches FG, Urteil vom 29. 06. 1999 – VI 177/96, EFG 2000, 468, 470; Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  8 ff.; Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 167, Rn. 27; Schulze-Osterloh, in: Gedächtnisschrift Trzaskalik, S. 153. 78 FG Hamburg, Beschluss vom 17. 06. 1996  – II 40/96, RiW 1997, 535, BeckRS 1996, 30912575, Tz. II. 9. e); Oellerich, in: Gosch, AO, § 167, Rn. 55; Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 167, Rn. 8. 79 FG Hamburg, Beschluss vom 17. 06. 1996  – II 40/96, RiW 1997, 535, BeckRS 1996, 30912575, Tz. II. 9. e). 80 BFH, Urteil vom 07. 07. 2004 – VI R 171/00, BStBl. II 2004, 1087, 1088; BFH, Urteil vom 07. 07. 2004 – VI R 168/01, BFH / NV 2005, 357, BeckRS 2004, 25007018, Tz. II. 1. c); BT-Drs. 11/2157, S. 194. 81 Niedersächsisches FG, Urteil vom 29. 06. 1999  – VI 177/96, EFG 2000, 468, 469; FG Hamburg, Beschluss vom 17. 06. 1996 – II 40/96, RiW 1997, 535, BeckRS 1996, 30912575, Tz. II. 9. e). 82 BStBl. I 2005, 8. 77

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C. Vergleich von Haftungs- und Nachforderungsverfahren   

gegenüber demjenigen zu erlassen, der trotz gesetzlicher Verpflichtung, Steuern für Rechnung eines Dritten einzubehalten, anzumelden und abzuführen, keine solche Steueranmeldung abgibt. Interessant ist hierbei, dass dies nur den Anwendungsfall der Nichtabgabe der Steueranmeldung erfasst. Es wird keine Aussage zur fehlerhaften Abgabe einer Steueranmeldung mit zu geringer angemeldeter Steuerlast getroffen. Die Praxis stützt jedoch für beide Fälle des § 167 Abs. 1 S. 1 AO die Anwendbarkeit auf die Haftungsschuld auf diese Angaben. Dies ist unzutreffend, da zum Fall der fehlerhaften Abgabe keine Aussage vorhanden ist. Eine unterschiedliche Behandlung beider Fälle erscheint jedoch mangels gesetzlicher Grundlage haltlos. Insbesondere werden beide Fälle in § 167 Abs. 1 S. 1 AO gleichberechtigt genannt. Eine unterschiedliche Behandlung wäre demnach contra legem. f) Kodifizierung des Wahlrechts im Versicherungsteuergesetz 2012 Der Gesetzgeber hat spezialgesetzlich ein Wahlrecht in § 7 Abs. 8 S. 3 VersStG für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners für Versicherungsteuer kodifiziert. Nach diesem ist die Inanspruchnahme eines Haftenden mittels Steuerbescheids oder mittels Haftungsbescheids zulässig. In der Gesetzesbegründung wird ausgeführt, dass § 7 Abs. 8 S. 3 VersStG der bisherigen Verwaltungspraxis entspräche und die Wahlmöglichkeit der Verwaltung im Hinblick auf die Form der Inanspruchnahme eines Haftenden sicherstellen solle.83 Es erscheint fragwürdig, warum der Gesetzgeber die Kodifizierung des Wahlrechts nur in einem speziellen Steuergesetz vorgenommen hat, wenngleich dieses doch auch für andere Steuergesetze Geltung haben solle. So wurde vor der Gesetzesänderung das Wahlrecht in Bezug auf die Versicherungsteuer ebenfalls auf § 167 Abs. 1 S. 1 Var. 2 AO gestützt.84 Die Lokalisierung des Problems eines Wahlrechts zur Inanspruchnahme des Haftungsschuldners mittels Steuer- oder Haftungsbescheids wurde in der Abgabenordnung zutreffend verortet. Der Gesetzgeber hätte § 167 Abs. 1 S. 1 AO ändern können. Eine Änderung der Abgabenordnung als allgemeines, für alle Einzelsteuergesetze geltendes Mantelgesetz hätte zur Folge gehabt, dass sich schon aus dem für alle Steuergesetze anwendbaren Steuerverfahrensgesetz ein Wahlrecht ergeben hätte. Dies ist jedoch nicht geschehen. Vielmehr erfolgte diese Einführung nur punktuell in einem Spezialsteuergesetz, sodass man daraus folgern kann, dass der Gesetzgeber das Wahlrecht nicht global kodifizieren wollte. Die Kodifizierung des Wahlrechts im Versicherungsteuergesetz spricht im Ergebnis dafür, dass ein solches allein auf Grundlage des Wortlauts des § 167 Abs. 1 S. 1 Var. 2 AO nicht besteht. Andernfalls wäre eine Regelung desselben in einem Spezialgesetz nicht notwendig gewesen. 83 84

BR-Drs. 301/12, S. 26. Voß / Meder, in: DStR 2015, 1783, 1784; vgl. hierzu Kapitel C. I. 1. c).

I. Allgemeines

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g) Abgabenordnung der DDR Für den Haftungsschuldner sah die Abgabenordnung der DDR-Vorschriften vor, die eine förmliche Inanspruchnahme anordneten.85 Über das Verfahren in Bezug auf Steueranmeldungen und sich daran anschließende Nachforderung liegen nicht viele Informationen vor. Die gesetzlichen Grundlagen sind hierfür wenig aufschlussreich. Jedoch lagen auch in der Abgabenordnung der DDR die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür vor, dass der Erlass eines konkludenten Bescheids durch Entgegennahme einer Steueranmeldung wie nach den Regelungen der Reichsabgabenordnung der BRD möglich war.86 Eine solche konkludente Festsetzung konnte ebenfalls nach der Abgabenordnung der DDR auf Grundlage des § 223 AO-DDR87 geändert werden. Dies dürfte die Grundlage für den Erlass eines Nachforderungsbescheids gegenüber dem Haftungsschuldner dargestellt haben. Somit waren auch in den Steuergesetzen der DDR schon die Voraussetzungen für den Verfahrensdualismus angelegt. h) Zusammenfassung Die vorangegangenen Betrachtungen zeigen, dass rechtshistorisch gesehen nur die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners durch Haftungsbescheid vom Gesetzgeber vorgesehen war. Durch das Bedürfnis nach der Vereinfachung des Verwaltungsverfahrens kam es zur Entwicklung des Konstrukts der Steueranmeldung mit konkludenter Steuerfestsetzung ohne Tätigwerden der Finanzverwaltung. Diese konkludente Steuerfestsetzung konnte auf Grundlage der Änderungsvorschriften sowohl nach der Reichsabgabenordnung der BRD als auch nach der Abgabenordnung der DDR geändert werden. Hierdurch wurde der Verfahrensdualismus zur Inanspruchnahme des Haftungsschuldners geschaffen. Neben der Möglichkeit einen Haftungsbescheid zu erlassen, bot es sich nunmehr an, stattdessen durch konkludente Steuerfestsetzung gegenüber dem Entrichtungsschuldner eine Inanspruchnahme vorzunehmen bzw. diese zu ändern. Erst mit der expliziten Heraustrennung des Haftungsbescheids aus der Gruppe der Steuerbescheide in der AO 1977 trat der Verfahrensdualismus mit größerer Bedeutung zu Tage, wenngleich vorher schon Unterschiede auf Rechtsfolgenseite beider Verfahren bestanden. Die Unterschiede der Verfahren wuchsen.88 Der Verfahrensdualismus erfuhr durch die Änderung des § 167 Abs. 1 S. 1 AO im Rahmen der Steuerreform 1990 ausdrücklichen Eingang in das Gesetz. Der Tatbestand 85

§ 97 Abs. 2 AO-DDR i. V. m. § 11 AO-DDR. Vgl. hierzu Kapitel B. I. 1. a) bb). 87 Gesetzessammlung „Steuergesetze der DDR für den westdeutschen Investor“; Stand 16. 03. 1990, S. 356. 88 So auch Goutier, Die Haftung im Steuerrecht, 1. Auflage 1978, S. 107 f.: zu den anwendbaren Änderungsvorschriften. 86

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C. Vergleich von Haftungs- und Nachforderungsverfahren   

wurde um die Alternative des Haftungsschuldners erweitert. Gesetzeshistorisch ist der Verfahrensdualismus als ein Ergebnis des Bedürfnisses anzusehen, das Verwaltungsverfahren durch Steueranmeldung und Abzugsteuer mit anschließender Änderungsmöglichkeit durch Nachforderungsbescheid zu beschleunigen und den Arbeitsaufwand der Finanzverwaltung zu reduzieren.

2. Sinn und Zweck der Verfahren Sinn und Zweck des Haftungsverfahrens ist die Erleichterung bzw. Ermöglichung der Durchsetzung des Primäranspruchs. Der Erlass eines Nachforderungsbescheids soll im Zusammenhang mit dem Steueranmeldeverfahren als Selbstberechnungsverfahren ohne förmlichen Erlass eines Steuerbescheids zur Verfahrensvereinfachung führen. Beide Verfahrenswege haben gemeinsam, dass sie der Sicherung des Steuerprimäranspruchs dienen sollen. Sie wirken im Normalfall auf verschiedene Ebenen der Steuerinanspruchnahme. Gibt der Haftungsschuldner als Entrichtungsschuldner eine Steueranmeldung ab und ergeht daraufhin ein Nachforderungsbescheid gegen diesen, so treffen beide Zwecke zusammen. Zum einen soll auch für durch Dritte anzumeldende Steuerschulden die Verfahrensvereinfachung des Selbstberechnungsverfahrens Anwendung finden. Andernfalls würde das Besteuerungsverfahren bei Anmeldeverpflichtung eines Dritten erhöhten Verwaltungsaufwand hervorrufen. Die infolge der Anmeldung fingierte Steuerfestsetzung soll auf Primärebene änderbar bleiben. Diese nachträgliche Änderung stellt den Nachforderungsbescheid dar, sofern eine nicht ordnungsgemäße Steueranmeldung abgegeben wurde. Wurde keine Steueranmeldung abgegeben, stellt der Nachforderungsbescheid die erstmalige Inanspruchnahme dar. Auch für Abzugsteuerfälle mit Fremdschuldnerschaft ist die Verfahrensvereinfachung lobenswert, da es sich bei den Steueranmeldeverpflichtungen Dritter um Masseverfahren, wie den Lohnsteuerabzug, handelt. Kommt es nun zu einer Nachforderung gegenüber dem Haftungsschuldner, tritt auch die zweite Funktion zum Tragen – die Sicherung der Primärschuld durch Inanspruchnahme eines Dritten. In dieser Fallkonstellation ergeht der Nachforderungsbescheid nicht mehr allein zur Verfahrensvereinfachung. Er übernimmt vielmehr eine Funktion, die einem anderen Steuerverfahrensweg zugeordnet wird. Es kommt zur Vermischung der Verfahrenswege und damit auch zur Zweckkumulierung. Beide Verfahrensarten verfolgen grundsätzlich jeweils einen Zweck, der nicht vergleichbar mit dem anderen ist. Beim Steueranmeldeverfahren übernimmt der Entrichtungsschuldner administrative Aufgaben für den Staat.89 Er übernimmt die Einbehaltung, Anmeldung und Abführung der Steuer. Im Haftungsverfahren hingegen wird der Haftungsschuldner selbst für eine fremde Steuerschuld in An­

89

Kirchhof, Die Erfüllungspflichten des Arbeitgebers im Lohnsteuerverfahren, S. 17.

I. Allgemeines

217

spruch genommen. Diese Positionen weisen wenige Gemeinsamkeiten auf. Gemein ist ihnen lediglich, dass Entrichtungs- und Haftungsschuldner effektiv dieselbe Zahlungsschuld an das Finanzamt abführen müssen. Sie tun dies jedoch in verschiedenen Beteiligtenstellungen und damit in verschiedenen Funktionen. Der Entrichtungsschuldner wird noch auf fremde Rechnung als eine Art „Zahlungsbote“ tätig. Der Haftungsschuldner hingegen wird endgültig vom Finanzamt belastet.90 Er wird auf eigene Rechnung in Anspruch genommen. Eine Vergleichbarkeit des Telos der Verfahren ist demnach abzulehnen.

3. Entstehung der Ansprüche Der Erlass eines Haftungsbescheids erfordert die Entstehung der Primärschuld und die Erfüllung des Haftungstatbestands. Der Nachforderungsanspruch erfordert neben der Entstehung der Primärschuld die nicht ordnungsgemäße Erfüllung der Steueranmeldepflicht des Steuerentrichtungsschuldners und die Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen des Haftungstatbestands. Die Entstehungsvoraussetzungen sind bei beiden Verfahren weitestgehend identisch. Die Entstehungsvoraussetzung der nicht ordnungsgemäßen Erfüllung der Steueranmeldepflicht des Steuerentrichtungsschuldners ist mit der Nichtabführung der Steuer für die Erfüllung der Haftungstatbestände vergleichbar. Die hier betrachteten Haftungstatbestände knüpfen an eine Pflichtverletzung des Entrichtungsschuldners an. Sie greifen erst ein, wenn eine Abführungsverpflichtung nicht erfüllt wurde. Ebenso knüpft § 167 Abs. 1 S. 1 AO an eine Pflichtverletzung des Entrichtungsschuldners an, indem er die Nichtabgabe oder fehlerhafte Abgabe einer Steueranmeldung fordert. Beachtlich ist hierbei insbesondere, dass die Pflichtverletzung, die den Haftungstatbeständen zugrunde liegt, eine Pflicht des Entrichtungsschuldners darstellt. Denn dieser schuldet ebenfalls die Abführung der einbehaltenen Steuer. So ähnelt § 167 Abs. 1 S. 1 AO diesbezüglich einem Haftungstatbestand. Es liegt ein Fehler im eigentlichen Verlauf des Besteuerungsverfahrens vor, der in einem zweiten Schritt dazu führt, dass ein Bescheid gegenüber den beiden Schuldnerkategorien erlassen werden darf. Die Bescheiderlasse stellen in beiden Verfahren nicht den ordnungsgemäßen Ablauf dar. Erst auf Grund eines Problems, kommt es überhaupt zur Notwendigkeit der Bescheiderlasse. Selbst wenn Entrichtungs- und Haftungsschuldner personenverschieden sind, knüpft das Haftungsverfahren an den Fehler im Entrichtungsverfahren an. § 167 Abs. 1 S. 1 AO und die Haftungstatbestände setzen nach ihrem Wortlaut an unterschiedliche Pflichtverletzungen an. Zwischen der Verletzung der Anmeldungsverpflichtung, die im Regelfall auch einen Fehler bei der Steuerabführung und der Nichtabführung der Steuer nach sich zieht, und der Nichtabführung be-

90

Er kann jedoch beim Steuerschuldner zivilrechtlich Regress ersuchen.

218

C. Vergleich von Haftungs- und Nachforderungsverfahren   

steht jedoch nur ein geringer Unterschied. Rein praktisch dürften beide Pflichtverletzungen sehr häufig zusammenfallen. Es ist weniger wahrscheinlich, dass eine Anmeldung der Steuer unterbleibt, diese jedoch ordnungsgemäß abgeführt wird. So wird der Entrichtungsschuldner in der Regel sowohl die Anmeldung als auch die Abführung mit demselben Fehler bzw. gar nicht vornehmen. Der Fehler der Anmeldung wird sich in der Regel als eine Art Fehleridentität91 auf die Erfüllung der Abführungsverpflichtung durchschlagen. Dieser Doppelmangel92 betrifft Primär- und Sekundärebene der Besteuerung. Die Entstehung der Ansprüche im Haftungs- und Nachforderungsverfahren ist demnach vergleichbar.

II. Derzeitiger Meinungsstand zum Verfahrensdualismus Wenn der Steuerentrichtungspflichtige seine Anmeldepflicht nicht erfüllt, so soll nach wohl überwiegender Meinung in Literatur und Rechtsprechung ein Wahlrecht bestehen, welcher Ermächtigungsgrundlage die Finanzverwaltung sich zur Inanspruchnahme des Haftungsschuldners bedienen möchte.93 Andere Stimmen in der Literatur gehen sogar von einer Pflicht zum Erlass eines Steuerbescheids aus Gründen der Legalität aus94 und räumen damit § 167 Abs. 1 S. 1 AO Vorrang vor der Anwendung des § 191 Abs. 1 S. 1 AO ein.

91

Lieder / Berneith, in: JuS 2016, 673, 676: zum zivilrechtlichen Begriff der Fehleridentität. Lieder / Berneith, in: JuS 2016, 673, 676: zum zivilrechtlichen Begriff des Doppelmangels. 93 BFH, Urteil vom 28. 01. 2015 – I R 70/13, BStBl. II 2017, 101, 102; BFH, Urteil vom 17. 12. 2014 – II R 18/12, BStBl. II 2015, 619, 620; BFH, Urteil vom 08. 04. 2014 – I R 51/12, BStBl. II 2014, 982, 985; BFH, Urteil vom 13. 12. 2011 – II R 52/09, BFH / NV 2012, 695, BeckRS 2012, 94601, Rn. 12; BFH, Urteil vom 19. 12. 2012  – I  R  81/11, BFH / NV 2013, 698, BeckRS 2013, 94724, Rn. 18; BFH, Beschluss vom 18. 03. 2009 – I B 210/08, BFH / NV 2009, 1237, BeckRS 2009, 25015092, Tz. II. 2. c) bb) aaa); BFH, Urteil vom 20. 08. 2008 – I R 29/07, BStBl. II 2010, 142, 145; BFH, Urteil vom 07. 07. 2004 – VI R 171/00, BStBl. II 2004, 1087, 1089; BFH, Urteil vom 07. 07. 2004 – VI R 168/01, BFH / NV 2005, 357, BeckRS 2004, 25007018, Tz. II. 1. c); BFH, Urteil vom 13. 09. 2000 – I R 61/99, BStBl. II 2001, 67, 69; FG München, Beschluss vom 7. 4. 2010 – 7 V 508/10, EFG 2010, 1375, 1375; Rüsken, in: Klein, AO, § 167, Rn. 6a; Cöster, in: König, AO, § 167, Rn. 13 f.; Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn. 9; Oellerich, in: Gosch, AO, § 167, Rn. 55; Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 167, Rn. 8; Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 167, Rn. 22; Voß / Meder, in: DStR 2015, 1783, 1784; Nacke, in: DStR 2005, 1297, 1297; AEAO zu § 167 Nr. 5, Nacke, Die Haftung für Steuerschulden, 2. Auflage 2007, Rn. 174: Der Autor führt ohne weitere Begründung aus, dass der Finanzverwaltung mehrere Möglichkeiten gegeben seien, die Lohnsteuer einzufordern. So sei der Erlass eines Schätzungsbescheids sowohl gegenüber dem Arbeitnehmer als auch gegenüber dem Arbeitgeber auf Grundlage des § 167 Abs. 1 S. 1 AO möglich. Darüber hinaus könne man auch der Formulierung des Gesetzes entnehmen, dass gegenüber beiden Personenkreisen ebenso der Erlass eines Steuerbescheids möglich sei. Daneben sei auch der Erlass eines Haftungsbescheids gegenüber dem Arbeitgeber möglich. 94 Schulze-Osterloh, in: Gedächtnisschrift Trzaskalik, S. 151 ff.; ebenso Helmschrott / Schaeberle, Abgabenordnung, 6. Auflage 1990, S. 200 und 8. Auflage 1995, S. 232. 92

II. Derzeitiger Meinungsstand zum Verfahrensdualismus

219

Helmschrott und Schaeberle differenzieren zwischen dem auslösenden Moment für den Haftungstatbestand.95 So soll eine Inanspruchnahme auf Grund der Nichtanmeldung oder nicht richtigen Anmeldung den Erlass eines Steuerbescheids erfordern. Erfolgt die Haftung wegen Nichtabführung der Steuer, so soll eine Inanspruchnahme nur im Wege des Haftungsbescheids möglich sein. Zum Teil wurde in der Rechtsprechung und Literatur danach differenziert, ob zeitraum- oder sachverhaltsbezogene Nachforderungen gegenüber dem Haftungsschuldner geltend gemacht werden.96 Zeitraumbezogen ist eine Nachforderung, wenn sie sich auf einen bestimmten Anmeldezeitraum bezieht.97 Sachverhaltsbezug liegt hingegen vor, wenn die Nachforderung auf einem bestimmten, vom Finanzamt festgestellten Sachverhalt basiert.98 Durch eine Steuerfestsetzung sollen nur zeitraumbezogene Nachforderungen geltend gemacht werden können.99 Von anderen Stimmen in Literatur und Rechtsprechung wird ein Wahlrecht der Finanzverwaltung mit Verweis auf die Spezialnorm des § 191 Abs. 1 S. 1 AO für den Erlass eines Haftungsbescheids abgelehnt bzw. die Rechtmäßigkeit desselben zumindest als zweifelhaft betrachtet.100 Der Entrichtungsschuldner könne nur mittels Haftungsbescheids in Anspruch genommen werden. Es stellt sich die Frage, warum es, trotz Vorhandenseins einer Spezialermächtigungsgrundlage für das Haftungsverfahren, dazu kommt, dass überwiegend vertreten wird, die Finanzverwaltung habe ein Wahlrecht, ob sie einen Haftungsschuldner auf Grundlage des § 191  Abs. 1 S. 1 AO oder nach § 167  Abs. 1 S. 1 AO mittels Nachforderungs­ bescheids in Anspruch nehmen möchte.

95

Helmschrott / Schaeberle, Abgabenordnung, 6. Auflage 1990, S. 200 und 8. Auflage 1995, S. 232. 96 Niedersächsisches FG, Urteil vom 29. 06. 1999  – VI 177/96, EFG 2000, 468, 470; FG Hamburg, Beschluss vom 17. 06. 1996 – II 40/96, RiW 1997, 535, BeckRS 1996, 30912575, Tz. II. 9. d); Rüsken, in: Klein, AO, § 167 Rn. 6: nur angeklungen; ablehnend: BFH, Urteil vom 13. 09. 2000 – I R 61/99, BFH / NV 2001, 265, NJW 2001, 3071, 3072. 97 Niedersächsisches FG, Urteil vom 29. 06. 1999 – VI 177/96, EFG 2000, 468, 470. 98 Niedersächsisches FG, Urteil vom 29. 06. 1999 – VI 177/96, EFG 2000, 468, 470. 99 Niedersächsisches FG, Urteil vom 29. 06. 1999  – VI 177/96, EFG 2000, 468, 470; FG Hamburg, Beschluss vom 17. 06. 1996 – II 40/96, RiW 1997, 535, BeckRS 1996, 30912575, Tz. II. 9. d). 100 FG Hamburg, Beschluss vom 17. 06. 1996  – II 40/96, RiW 1997, 535, BeckRS 1996, 30912575, Tz. II. 9.; Niedersächsisches FG, Urteil vom 29. 06. 1999 – VI 177/96, EFG 2000, 468, 469; Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  8 ff.; Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 167, Rn. 27; Schulze-Osterloh, in: Gedächtnisschrift Trzaskalik, S. 153; Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 167, Rn. 27: zur Gegenstandslosigkeit des Zusatzes des Haftungsschuldners in § 167 AO wegen Unmöglichkeit der Steuerfestsetzung und Rechtsfolge des § 167 AO gegenüber dem Haftungsschuldner; ebenso Thomas, in: DStR 1992, 837, 838: Die Inanspruchnahme des Arbeitnehmers für nachzufordernde Lohnsteuer erfolge mittels Nachforderungs­ bescheids, gegenüber dem Arbeitgebers mittels Haftungsbescheids.

220

C. Vergleich von Haftungs- und Nachforderungsverfahren   

III. Vergleich der Festsetzungsverfahren Sind Nachforderungs- und Haftungsschuld entstanden, werden diese vom Finanzamt festgesetzt. Die Festsetzung gegenüber dem Steuerpflichtigen ist bei beiden Verfahrenswegen rein deklaratorischer Natur.101 Für die Vollstreckung der jeweiligen Schuld sind jedoch die Festsetzung der Steuer und der Erlass eines korrespondierenden Leistungsgebots zwingend notwendig. Im Folgenden wird untersucht, welche Unterschiede und welche Gemeinsamkeiten für die Festsetzung der Haftungsschuld im Nachforderungs- und im Haftungsverfahren bestehen.

1. Anwendbare Vorschriften Der Nachforderungsbescheid als Steuerbescheid und der Haftungsbescheid als sonstiger Steuerverwaltungsakt unterliegen grundsätzlich unterschiedlichen Verfahrensvorschriften, da sie unterschiedlichen Gruppen von Steuerverwaltungsakten zuzuordnen sind. Fraglich ist jedoch, in wie fern effektive Unterschiede zwischen den anwendbaren Verfahrensvorschriften bestehen. a) Anwendbarkeit der §§ 164 f. AO und Änderungsvorschriften In Bezug auf die Vorschriften der § 164 f. AO besteht ein erheblicher Unterschied zwischen Steuer- und Haftungsbescheid. Der Gesetzgeber scheint kein Bedürfnis dafür gesehen zu haben, diese Verfahrensvereinfachungen auch im Haftungs­ verfahren für anwendbar zu erklären. In Anbetracht der den vorliegend relevanten Haftungstatbestände zugrunde liegenden Masseverfahren erscheint diesbezüglich gleichwohl Bedarf, um auch hier das Verwaltungshandeln erleichtern zu können. Hierzu bedürfte es jedoch einer Gesetzesänderung in Form der Einfügung eines Verweises auf diese Vorschriften, um eine Anwendbarkeit für das Haftungsverfahren statuieren zu können. Eine analoge Anwendung der Vorschriften dürfte schon an einer planwidrigen Regelungslücke scheitern, da dem Gesetzgeber bei der Separierung des Haftungs- vom Steuerbescheid sehr wohl ersichtlich gewesen sein muss, dass diese Normen sich nach der gewählten gesetzlichen Regelung nur auf Steuerbescheide beziehen werden. Aus der Anwendbarkeit der § 164 f. AO auf den Erlass eines Nachforderungsbescheids ergeben sich erhebliche Unterschiede zwischen dem Nachforderungs- und dem Haftungsverfahren. Der Nachforderungsbescheid kann bei Bestehenbleiben des Vorbehalts der Nachprüfung ohne das Hinzutreten weiterer Voraussetzungen jederzeit vom Finanzamt geändert werden. Selbst wenn das Finanzamt den Vor 101 Rüsken, in: Klein, AO, § 155, Rn. 6: zum Nachforderungsbescheid als Steuerbescheid; BFH, Urteil vom 15. 10. 1996 – VII R 46/96, BStBl. II 1997, 171, 172: zum Haftungsbescheid.

III. Vergleich der Festsetzungsverfahren

221

behalt der Nachprüfung aufhebt und den Nachforderungsbescheid ohne einen solchen erlässt, ist die Änderung unter den erleichterten Voraussetzungen des § 172 ff. AO möglich. Bei einem Haftungsbescheid hingegen ist ein Erlass unter Vorbehalt der Nachprüfung oder verbunden mit einem Vorläufigkeitsvermerk nicht zulässig,102 sodass dieser Steuerverwaltungsakt nach § 130 AO geändert werden muss. Für die zu Lasten des Haftungsschuldners erfolgende Änderung eines Haftungsbescheids sind die Vorschriften über die Änderung von begünstigenden Steuerverwaltungsakten in § 130 Abs. 2 AO zu beachten.103 Haftungsbescheide sind Verwaltungsakte mit Doppelwirkung.104 Die Rücknahme des belastenden Haftungsbescheids ist aus Sicht des Steuerpflichtigen begünstigend. Erfolgt jedoch danach ein erneuter Erlass eines Haftungsbescheids mit höherer Haftungsschuld, liegt darin eine Verschlechterung der vorherigen Situation des Haftungsschuldners, sodass insgesamt von der Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts auszugehen ist, sofern eine Verschlechterung und keine ersatzlose Aufhebung oder haftungsmindernde Änderung geplant ist. Die Rücknahmegründe setzen entweder den Erlass durch eine sachlich unzuständige Behörde voraus, was in der Praxis selten vorkommen sollte. Auf der anderen Seite ist eine Rücknahme zulässig, wenn der Steuerpflichtige eine erhebliche Pflichtverletzung begangen hat, um den Erlass des Haftungsbescheids in dieser Form zu erwirken. Eine Änderung eines nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Nachforderungsbescheids hingegen ist unter Anwendung der §§ 172 ff. AO möglich. Die Änderungsvorschrift des § 172 Abs. 1 Nr. 2 AO entspricht im Wesent­ lichen den Rücknahmegründen in § 130 Abs. 2 AO, wenngleich die Tatbestände der falschen Angaben und Kenntnis der Rechtswidrigkeit hier nicht vorhanden sind. Dafür ist die Änderung bei Zustimmung des Steuerpflichtigen möglich. Eine erleichterte Änderung ist auch auf Grundlage der nachfolgenden Paragrafen möglich. So erlaubt § 173 AO die Änderung des Steuerbescheids bei neuen Tatsachen oder Beweismitteln. § 174 AO ermöglicht eine Änderung bei widerstreitenden Steuerfestsetzungen, in denen ein Sachverhalt bei einem oder mehreren Steuerpflichtigen unzutreffend mehrfach berücksichtigt wurde. Neben der Möglichkeit den Nachforderungsbescheid nach § 175  Abs. 1  Nr. 2 AO bei Eintritt eines rückwirkenden Ereignisses zu ändern, ist für die vorliegende Konstellation die Anwendbarkeit des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO auf den Nachforderungsbescheid interessant. Steuer- und Haftungsbescheid stehen nicht in einem Grundlagen- und Folgebescheidverhältnis.105 Ein Steuerbescheid gegen den Primärsteuerschuldner und ein Steuerbescheid gegen den Entrichtungsschuldner be 102

Vgl. Kapitel A. II. 1. a). Rüsken, in: Klein, AO, § 130, Rn. 37. 104 BFH, Urteil vom 22. 01. 1985 – VII R 112/81, BStBl. II 1985, 562, 563; Rüsken, in: Klein, AO, § 130, Rn. 37. 105 Vgl. hierzu Kapitel A. II. 3. b) bb). 103

222

C. Vergleich von Haftungs- und Nachforderungsverfahren   

treffend die Abzugsteuerlast stehen ebenfalls nicht in einem solchen Verhältnis. Keiner der beiden Bescheide beinhaltet eine bindende Grundlage für den anderen. Eine analoge Anwendung des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO dürfte an einer vergleichbaren Interessenlage scheitern. Steuer- und Haftungsbescheid können sich – insbesondere im Einspruchsverfahren – separat entwickeln. Für die Änderung von Haftungsbescheiden enthalten die § 130 f. AO eine eigene Zuständigkeitsregelung. Die im Zeitpunkt der Änderung örtlich zuständige Behörde ist zur Änderung des Haftungsbescheids befugt, wobei die Entscheidung der erstbefassten Behörde unter den Voraussetzungen des § 26 S. 2 AO möglich bleibt. Eine solche Regelung enthalten die §§ 172 ff. AO nicht. Insofern bleibt es bei den allgemeinen Zuständigkeitsregelungen der Abgabenordnung. Bei einem Wechsel der Zuständigkeit ergeben sich hierbei keine Unterschiede. § 26 S. 1 AO ordnet für den Fall des Wechsels der Zuständigkeit an, dass diese im Zeitpunkt der Kenntnis der Umstände für den Wechsel eintritt. Damit ist die Zuständigkeit für den Erlass des geänderten Bescheids auf Grundlage der § 172 ff. AO ebenfalls nicht statisch, sondern kann sich, außerhalb der Anwendung des § 26  S. 2  AO als Spezialvorschrift, an die neuen Umstände anpassen. Bezüglich der örtlichen Zuständigkeit für den Erlass der geänderten Bescheide sind die Regelungen für Nachforderungsund Haftungsverfahren demnach vergleichbar. Der Finanzverwaltung werden mehr Möglichkeiten eingeräumt, einen Nachforderungsbescheid zu ändern. Eine Vergleichbarkeit beider Verfahren liegt in Bezug auf die Änderbarkeit nicht vor. b) Anwendbarkeit des § 162 AO – Schätzung In Bezug auf die Zulässigkeit der Schätzung der Besteuerungsgrundlagen ergeben sich Unterschiede zwischen Nachforderungs- und Haftungsverfahren. Im Haftungsverfahren kann die Schätzung nach hier vertretener Ansicht106 nur dergestalt erfolgen, dass ein Schätzbescheid gegenüber dem Primärschuldner ergeht und infolgedessen ein darauf basierender Haftungsbescheid erlassen wird, der nunmehr mittelbar auf der Schätzung aufbaut. Im Nachforderungsverfahren ist eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen unmittelbar gegenüber dem Entrichtungsschuldner möglich. Die effektiven Auswirkungen sind jedoch gering. In beiden Verfahren ist  – im Haftungsverfahren mit dem Zwischenschritt des Erlasses eines Schätzungs­ bescheids gegenüber dem Primärschuldner – eine Schätzung möglich.

106

Vgl. Kapitel A. II. 1. c).

III. Vergleich der Festsetzungsverfahren

223

c) Festsetzungsverjährung Die für Nachforderungs- und Haftungsbescheid gegenüber dem Entrichtungsschuldner geltenden Vorschriften sind beinahe identisch und führen faktisch zu einem Gleichlauf der Festsetzungsverjährung für beide Verfahrensarten. Die Festsetzungsverjährung beginnt für beide Verfahren mit Ablauf des Jahres, in dem der Entrichtungsschuldner die Steueranmeldung abgegeben hat. Gibt er keine Steueranmeldung ab, beginnt die Festsetzungsverjährung mit Ende des dritten Jahres, das auf das Jahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist. Die in dieser Arbeit betrachteten anzumeldenden Steuern fallen alle unter § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO, sodass die Fest­setzungsverjährung für Steuer- und Haftungsbescheide vier, bzw. fünf oder zehn Jahre beträgt. Die Versicherungsteuer als Aufwandsteuer stellt keine Verbrauchsteuer im Sinne des § 169 Abs. 2 Nr. 1 AO dar,107 sodass ebenso Nummer 2 der Vorschrift Anwendung findet. Bezüglich der Festsetzungsverjährung werden Nachforderungs- und Haftungsverfahren demnach ex lege identisch behandelt. d) Einfluss des § 166 AO § 166 AO ist nicht auf Haftungsbescheide anwendbar, sodass solche keine Drittwirkung gegenüber dem Steuerschuldner entfalten können.108 Der Nachforderungsbescheid hingegen ist fähiger Drittwirkungsträger.109 Grundsätzlich hat § 166 AO nur Einfluss darauf, zu welchem Zeitpunkt ein Dritter seine Einwendungen gegenüber dem Bescheid geltend machen kann. Das bedeutet, dass § 166 AO materiell nur zu einer Einschränkung führt, wenn der Dritte seine Rechte nicht im ersten Festsetzungsverfahren geltend gemacht hat, obwohl er dies hätte machen können. Hatte er keine rechtliche Möglichkeit zur Anfechtung der ersten Festsetzung, würde dies zur Unanwendbarkeit des § 166 AO führen. Es ist insbesondere zu beachten, dass mit der Anfechtungsbefugnis des § 350 AO auch die Notwendigkeit der Bekanntgabe des Steuerverwaltungsakts gegenüber dem beschwerten Dritten einhergeht.110 Die Frage der Anwendbarkeit des § 166 AO hat demnach nur Einfluss darauf, wann von dem Dritten erwartet wird, seine Einwendungen geltend zu machen. Der Betroffene wird in der Rechtsbehelfsbelehrung auf sein Anfechtungsrecht hingewiesen. Erfolgt ein solcher Hinweis nicht, wird der Steuerverwaltungsakt nicht innerhalb der Monatsfrist nach Bekanntgabe unanfechtbar, sodass auch die Wirkung des § 166 AO erst nach Ablauf der Jahresfrist des § 356 Abs. 2 AO eintreten kann. Dem Drittbetroffenen ist somit bewusst, dass ein Bescheid ergangen 107

Rüsken, in: Klein, AO, § 169, Rn. 17. Vgl. Kapitel A. II. 1. b). 109 Vgl. Kapitel B. II. 1. c). 110 Fritsch, in: König, AO, § 122, Rn. 33, vgl. Kapitel B. II. 2. c) bb). 108

224

C. Vergleich von Haftungs- und Nachforderungsverfahren   

ist, der in seine Rechte eingreift, und dass er sich hiergegen zu Wehr setzen kann und muss, da dieser Bescheid andernfalls in Bestandskraft erwächst und materielle Bindungswirkung entfaltet. Die Beeinträchtigung des § 166 AO ist aus Sicht des Drittbetroffenen demnach äußerst gering. Ungeachtet der unterschiedlichen Anwendbarkeit des § 166 AO in Bezug auf Haftungs- und Nachforderungsbescheid besteht in Bezug auf diesen Punkt keine graduelle Unvergleichbarkeit. e) Anwendbarkeit der §§ 155 ff. AO Durch die grundsätzliche Nichtanwendbarkeit der §§ 155 ff. AO ergeben sich einige verfahrensrechtlich Unterschiede zwischen der Geltendmachung der Haftungsschuld im Nachforderungs- und im Haftungsverfahren. Der Erlass des Nachforderungsbescheids bietet der Finanzverwaltung einige verfahrensrechtliche Erleichterungen. Irrelevant ist die Möglichkeit des Erlasses zusammengefasster Bescheide gegenüber mehreren Haftungsschuldnern nach § 155 Abs. 3 AO im Nachforderungsverfahren. Der Erlass eines zusammengefassten Haftungsbescheids ist nach § 155 Abs. 3 AO analog ebenfalls zulässig, sodass sich insofern keine Unterschiede zwischen Nachforderungs- und Haftungsverfahren ergeben. Ein Haftungsbescheid darf wie der Nachforderungsbescheid automatisiert erlassen werden. Dies ergibt sich für Haftungsbescheide zwar nicht aus § 155 Abs. 4 AO, jedoch setzt § 119 Abs. 3 S. 2 AO voraus, dass der Erlass allgemeiner Steuerverwaltungsakte auch formularmäßig oder automatisiert möglich ist. Insofern ergibt sich keine formelle Abweichung zwischen beiden Verfahren. Das Absehen von der Steuerfestsetzung nach den Regelungen des § 156 AO ist im Haftungsverfahren nicht möglich. Dies führt jedoch insofern nicht zu erheblichen Verfahrensunterschieden. Die im Rahmen des § 156 AO anzustellenden Billigkeitserwägungen fließen in das Haftungsverfahren auf Ebene der Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens ein. Ein Unterschied ist jedoch, dass die im Rahmen des § 156 AO relevanten Belange beschränkterer Natur sind und vorrangig der Verfahrensvereinfachung in Bagatellfällen und Fällen, in denen die Vollstreckung erfolglos sein wird, dienen. Die in das Ermessen auf Haftungsebene einzustellenden Belange sind hingegen weitergehender Natur. Die Vorschrift des § 156 AO dient primär Vereinfachungszwecken.111 Die Nichtanwendbarkeit auf das Haftungsverfahren ist demnach von geringer Bedeutung. Wegen Unanwendbarkeit des § 157 Abs. 1 S. 1 AO dürfen Haftungsbescheide nach § 191 Abs. 1 S. 3 AO nur schriftlich und nicht auch elektronisch ergehen. Die 111

Rüsken, in: Klein, AO, § 156, Rn. 1.

III. Vergleich der Festsetzungsverfahren

225

Zulassung der elektronischen Form für Nachforderungsbescheide führt zwar zu einer verfahrensrechtlichen Erleichterung für die Finanzverwaltung. Hierdurch ändert sich jedoch aus Sicht des Bescheidadressaten insbesondere in Bezug auf die Eingriffswirkung wenig.112 Zusammenfassend führt die Unanwendbarkeit der § 155 ff. AO nicht zu wesentlichen Unterschieden zwischen Nachforderungs- und Haftungsverfahren.

2. Vergleich der formellen Voraussetzungen Im Einzelnen können sich auch neben den grundsätzlich anwendbaren Normen Unterschiede auf Ebene der formellen Voraussetzungen des Haftungs- und des Nachforderungsverfahrens ergeben. a) Zuständigkeit Die sachliche Zuständigkeit richtet sich für beide Verfahren nach § 16 AO i. V. m. § 17 FVG, sodass jeweils gemäß § 17 FVG die Finanzämter als örtliche Landes­ behörden zuständig sind. Insofern besteht Identität zwischen den beiden Verfahrens­ arten. Die Zuständigkeit für den Erlass eines Haftungsbescheids gegenüber dem Haftungsschuldner und dem Erlass eines Nachforderungsbescheids gegenüber dem Entrichtungsschuldner ist identisch. Teilweise ergibt sich die Identität schon aus einer einheitlichen Regelung, die die Zuständigkeit ohne Rücksicht auf den Verfahrensweg der Inanspruchnahme regelt.113 Teilweise ergibt sich die einheitliche Zuständigkeit aus der Auslegung der für die Steueranmeldung und für die Haftung geregelten besonderen Zuständigkeiten. In Bezug auf die Zuständigkeit ergeben sich bei aktueller Gesetzeslage keine Unterschiede zwischen Haftung- und Nachforderungsverfahren. Es ist theoretisch nicht ausgeschlossen, dass der Gesetzgeber die Zuständigkeiten unterschiedlichen Finanzämtern zuweist. Dies ist jedoch wenig zielführend und dürfte unzweckmäßig sein, da das Finanzamt, was für das Steuerabführungsverfahren zuständig ist, sachlich schon mit dem Fall befasst ist. Da die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners mittels Nachforderungsbescheids materiell die Geltendmachung der Haftungsschuld beinhaltet, wäre es nicht verfahrensökonomisch die Zuständigkeit abweichend zu regeln, da sich in diesem Fall ein zweites Finanzamt mit derselben Sache beschäftigen müsste.

112 113

Vgl. hierzu ausführlicher Kapitel C. III. 2. c). Wie in § 7a VersStG.

226

C. Vergleich von Haftungs- und Nachforderungsverfahren   

b) Anhörungserfordernis Vor Erlass des Haftungsbescheids ist nur der Haftungsschuldner anzuhören. Dies ist auch der Fall, wenn dieser zuvor als Entrichtungsschuldner eine Steueranmeldung abgegeben hat. Vor Erlass eines Nachforderungsbescheids ist die Anhörung des Entrichtungsschuldners grundsätzlich nur notwendig, wenn dieser eine Steueranmeldung abgegeben hat und nachteilig von der Anmeldung abgewichen werden soll. Zu beachten ist allerdings, dass im Wege des Nachforderungsverfahrens materiell eine Haftungsschuld114 geltend gemacht wird, sodass unter Anwendung der nach hiesig vertretener Ansicht rechtswidrigen Verwaltungspraxis eine Ermessensentscheidung vorliegen muss. Dies erfordert in jedem Fall, dass neben der Entgegennahme einer Steueranmeldung noch eine separate Anhörung notwendig ist, um die für die Ermessensausübung notwendigen Sachverhaltsbelange ermitteln zu können. Der Inhalt einer Steueranmeldung ist hierfür nicht ausreichend. Im Ergebnis liegt ein Gleichlauf des Anhörungserfordernisses beim Haftungsund Nachforderungsverfahren vor, sodass insoweit keine Unterschiede zwischen beiden Verfahren bestehen. c) Form Ein Nachforderungsbescheid darf schriftlich oder elektronisch ergeben, wohingegen ein Haftungsbescheid nur in schriftlicher Form ergehen darf. Ein schriftlicher Verwaltungsakt muss gemäß § 119 Abs. 3 AO die erlassende Behörde erkennen lassen und die Unterschrift oder die Namenswiedergabe des Behördenleiters, seines Vertreters oder seines Beauftragten enthalten.115 Für einen schriftlichen Steuerverwaltungsakt ist es wesensimmanent, dass dieser einen erstmalig von der Behörde geäußerten Willen in Form eines Schriftstücks darstellt.116 Auch ein elektronischer Verwaltungsakt enthält ein Substitut für die Unterschrift oder Namenswiedergabe. Auch hier muss durch qualifiziertes Zertifikat oder ein zugehöriges qualifiziertes Attributzertifikat die erlassende Behörde erkennbar gemacht werden.117 Der Unterschied zum elektronischen Erlass ist lediglich, dass anstelle eines Schriftstücks ein elektronisches Dokument übermittelt wird.118 Die Unterschiede zwischen dem Erlass eines schriftlichen und eines elektronischen Bescheids sind äußerst gering. Das für den Steuerbescheid bestehende Formwahlrecht führt demzufolge nicht zu einer Unvergleichbarkeit der Form­ anforderungen an Haftungs- und Nachforderungsbescheid. 114 So zumindest unter Zugrundelegung der aktuellen Praxis und wohl herrschender Meinung in Literatur und Rechtsprechung, vgl. Kapitel B. II. 3. c). 115 Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 76. 116 BFH, Urteil vom 23. 02. 2005 – VII R 32/04, BFH / NV 2005, 1180, DStRE 2005, 781, 782. 117 Fritsch, in: König, AO, § 119, Rn. 39. 118 Ratschow, in: Klein, AO, § 119, Rn. 53.

III. Vergleich der Festsetzungsverfahren

227

d) Systematik der Abgabenordnung Das System der Abgabenordnung unterscheidet zwischen dem Steuerfestset­ zungsverfahren nach den §§ 155 ff. AO sowie dem Haftungsverfahren nach § 191 Abs. 1 S. 1 AO.119 Es bestehen Zweifel an der Rechtsmäßigkeit der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners mittels Nachforderungsbescheids, da der Gesetzgeber mit der bezweckten Änderung die Gesetzessystematik der Abgabenordnung durchbrochen hat.120 Die Steuerfestsetzung gegen den Steuerschuldner und die Haftungsinanspruchnahme des Haftungsschuldners für eine fremde Steuerschuld werden in der Gesetzessystematik der Abgabenordnung voneinander getrennt.121 Durch die bezweckte Auswirkung der Gesetzesänderung werden beide Verfahren miteinander vermischt. Dies erscheint rechtsstaatlich bedenklich.122 Insbesondere erscheint diese Vorgehensweise fragwürdig, wenn für die Inanspruchnahme nach § 167 Abs. 1 S. 1 AO i. V. m. § 155 AO nicht dieselben Anforderungen gestellt werden, wie für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners durch Haftungsbescheid. In der Literatur wird gefordert, dass eine solche Abweichung vom System der Haftung durch „zureichende Gründe“ gerechtfertigt werden muss.123 Die Gesetzesbegründung hingegen verweist zur Begründung der Inanspruchnahme im Wege des Nachforderungsbescheids nur auf die Verfahrensvereinfachung und Klarstellung.124 Zureichende Gründe dürften nur vorliegen, wenn ausnahmsweise eine Abweichung von dem allgemeinen Haftungssystem notwendig wird. Solche zureichenden Gründe könnten in der bei den hier betrachteten Konstellationen auftretenden Dreiecksbeziehung bei der Steuererhebung gegeben sein. In diesem Fall ist die Erhebung der Steuer für die Finanzverwaltung schwieriger vorzunehmen, da Steuer- und Entrichtungsschuldnerschaft auseinanderfallen. Verneint man die Anwendbarkeit des § 167 Abs. 1 S. 1 AO, so ist eine Inanspruchnahme des Haftungsschuldners auf Sekundärebene notwendig, um die Erhebung der Steuer abzusichern. Folgerichtig führt die Anwendbarkeit des Erlasses eines Nachforderungsbescheids gegen den Haftungsschuldner zu einer Erleichterung der Steuererhebung für das Finanzamt. Bei der gegebenen Dreieckskonstellation vermag jedoch eine Verwaltungsvereinfachung nicht als zureichender Grund herangezogen werden. Die Verwaltungsvereinfachung tritt in diesem Fall schon dadurch ein, dass ein Nicht-Steuerschuldner als Entrichtungspflichtiger zum Steuerpflichtigen qualifiziert wird, um die Erhebung einer Steuer für den Staat zu 119

Cöster, in: König, AO, § 167, Rn. 13. Niedersächsisches FG, Urteil vom 29. 06. 1999 – VI 177/96, EFG 2000, 468, 470; Voß / Meder, in: DStR 2015, 1783, 1787; Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, §  167, Rn.  9. 121 FG Hamburg, Beschluss vom 17. 06. 1996  – II 40/96, RiW 1997, 535, BeckRS  1996, 30912575, Tz. II. 9. f). 122 Niedersächsisches FG, Urteil vom 29. 06. 1999 – VI 177/96, EFG 2000, 468, 469. 123 Voß / Meder, in: DStR 2015, 1783, 1787. 124 BT-Drs. 11/2157, S. 194. 120

228

C. Vergleich von Haftungs- und Nachforderungsverfahren   

vereinfachen. Eine darüberhinausgehende, innerhalb dieses schon vereinfachten Verfahrens stattfindende Vereinfachung kann nicht erneut mit dem eingesparten Verwaltungsaufwand und einer Vereinfachung gerechtfertigt werden. In diesem Falle würde man die Verwaltungsvereinfachung doppelt zur Abweichung vom Normalfall der Steuererhebung durch den Staat heranziehen, was die verfassungsrechtliche Bedeutung dieses Selbstzwecks überschreiten würde. Demnach liegen noch keine zureichenden Gründe in diesem Sinne vor, sodass die derzeitige Verwaltungspraxis und Auslegung des § 167 Abs. 1 S. 1 Var. 2 AO der Finanzgerichte verfassungsrechtlichen Bedenken gegenüber steht. Darüber hinaus bietet das Gesetz keinen Anhaltspunkt für die Abgrenzung der Anwendungsbereiche beider Ermächtigungsgrundlagen.125 Sieht man in § 167 Abs. 1 S. 1 AO eine Ermächtigungsgrundlage für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners, so scheint die daneben bestehende Ermächtigungsgrundlage in § 191 Abs. 1 S. 1 AO doch die speziellere Regelung zur Inanspruchnahme des Haftungsschuldners zu sein, da diese höhere Anforderungen an eine solche stellt. Auch hier drängt sich der Gedanke der Umgehung der tatbestandlichen Voraussetzungen des Haftungsbescheids auf.126

3. Vergleich der materiellen Voraussetzungen Nunmehr ist zu untersuchen, inwiefern sich die materiellen Voraussetzungen des Erlasses eines Nachforderungs- und eines Haftungsbescheids für die Inanspruchnahme des haftenden Entrichtungsschuldners unterscheiden. a) Umfang der Geltendmachung Zunächst können auf beiden Verfahrenswegen nur Steuern im engeren Sinne und nicht auch steuerliche Nebenleistungen geltend gemacht werden. In beiden Verfahren können steuerliche Nebenleistungen den Entrichtungs- bzw. Haftungsschuldner nur treffen, wenn sie gegen diesen selbst festgesetzt werden, weil er eigene Pflichten verletzt hat und infolgedessen steuerliche Nebenleistungen entstanden sind. Diese steuerlichen Nebenleistungen sind weder Bestandsteil der Entrichtungsschuldnerschaft noch der Haftungsschuld. Sie entstehen vielmehr in Folge des Bestands dieser Schuldnerschaften. Nach der aktuellen Fassung des Gesetzes beinhaltet die Geltendmachung der Haftungsschuld im Wege des Nachforderungsbescheids inhaltlich eine Haftungsschuld.127 Aus diesem Grund kann es zu keinen Unterschieden im Umfang der Geltendmachung kommen. 125

Niedersächsisches FG, Urteil vom 29. 06. 1999 – VI 177/96, EFG 2000, 468, 469. Cöster, in: König, AO, § 167, Rn. 16. 127 Vgl. hierzu Kapitel B. II. 3. a) ff). 126

III. Vergleich der Festsetzungsverfahren

229

b) Entrichtungs- und Haftungsschuldnerschaft Beide Verfahrenswege bedürfen nach der aktuellen gesetzlichen Fassung auf materieller Seite, dass eine Steuerschuld besteht, für die eine gesetzliche Fremdschuldnerschaft eines Entrichtungsschuldners vorliegt. Zudem muss ein Haftungstatbestand gegeben sein, der eine Haftung des Entrichtungsschuldners oder eines Dritten bei Verletzung der Abführungspflicht anordnet. Somit sind aktuell Fälle der Fremdschuldnerschaft ohne korrespondierenden Haftungstatbestand nicht von einer Inanspruchnahme mittels Nachforderungsbescheids erfasst.128 Ebenso erfordert das Haftungsverfahren nicht ausdrücklich, dass der Haftungsschuldner selbst zur Abgabe einer Steueranmeldung als Entrichtungsschuldner verpflichtet sein muss. Bei der Versicherungsteuer ist dies auch nicht der Fall. Vielmehr knüpft der Haftungstatbestand an die Nichtabführung der Steuer an. Die Verletzung der Abführungsverpflichtung kann hierbei durch eine andere Person als den Haftungsschuldner erfolgen, sofern Entrichtungs- und Haftungsschuldner nicht identisch sind. Für beide Verfahren müssen nach der aktuellen gesetzlichen Fassung die materiellen Voraussetzungen der jeweils zugrunde liegenden Haftungsnorm gegeben sein. Somit kommt auch der Unterscheid nicht zum Tragen, dass die materiellen Haftungstatbestände Ausschlusstatbestände enthalten und für bestimmte Fälle vorsehen, dass nur der Haftungs- oder nur der Steuerschuldner in Anspruch genommen werden darf. Beide Verfahren setzen automatisch voraus, dass im Entrichtungsvorgang ein Fehler stattgefunden hat. Nach den im Einkommensteuergesetz einschlägigen Vorschriften muss der Fehler immer automatisch ein solcher des Haftungsschuldners selbst sein, da Haftungs- und Entrichtungsschuldner nach aktueller Gesetzeslage im Einkommensteuergesetz stets personenidentisch sind. Im Versicherungsteuergesetz ist eine Haftung des Haftungsschuldners für den Fehler des Entrichtungsschuldners vorgesehen, obwohl beide Personengruppen nicht identisch sein können. Hier besteht im Gegensatz zu den Regelungen im Einkommensteuergesetz eine Haftung für fremde Fehler, die nicht der Sphäre des Haftungsschuldners entstammen. Der Wortlaut der Norm nimmt Bezug auf die Verletzung der Anmeldepflichten, die als solche eigentlich nicht den erwähnten Haftungsschuldner, sondern den Entrichtungsschuldner treffen. Wäre der Entrichtungsschuldner in den Wortlaut der Norm aufgenommen worden, so könnten Nachforderungs- und Haftungsverfahren unterschiedlichen materiellen Anforderungen unterliegen, wenn der Entrichtungsschuldner die Steueranmeldung nicht oder nicht ordnungsgemäß abgibt, die Steuer jedoch ordnungsgemäß einbehält und abführt. § 167 Abs. 1 S. 1 AO nimmt nach seinem aktuellen Wortlaut keinen Bezug auf Fehler im Rahmen der Abführung der Steuer. Der Wortlaut knüpft lediglich an Anmeldungsfehler an.

128

Somit keine Anwendbarkeit des § 167 Abs. 1 S. 1 AO auf § 11 MGV.

230

C. Vergleich von Haftungs- und Nachforderungsverfahren   

c) Bestehen einer Primärsteuerschuld / Akzessorietät Da der aktuelle Wortlaut des § 167 Abs. 1 S. 1 AO auf den Haftungsschuldner Bezug nimmt, muss auch für den Erlass eines Nachforderungsbescheids gegenüber dem Haftungsschuldner eine Haftungsschuld vorliegen. Eine solche liegt nur vor, wenn der Tatbestand der Haftungsnorm erfüllt wird und eine Haftungsschuld in Bezug auf eine schon entstandene Primärsteuerschuld besteht. Andersfalls sind schon die Voraussetzungen des Haftungstatbestands nicht erfüllt.129 Die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des Nachforderungsbescheids ist ebenso akzessorisch zur Primärsteuerlast wie die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des Haftungsbescheids. Insoweit ergeben sich keine Unterschiede zwischen beiden Verfahren.

4. Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung Die Frage der Vergleichbarkeit der beiden Verfahren in Bezug auf das Vorliegen einer Ermessensentscheidung lässt sich nicht eindeutig beantworten. Hierbei muss zwischen verschiedenen Ansatzpunkten unterschieden werden. Hält man die aktuelle Inanspruchnahme des Haftungsschuldners mittels Nachforderungsbescheids de lege lata für zulässig, so muss dies als Ermessensentscheidung erfolgen. Dies würde wieder einen Gleichlauf der beiden Verfahrensarten herbeiführen. Da die Verfahren infolgedessen fast vollständig angeglichen werden, stellt sich die Frage, warum die Finanzbehörde nicht unmittelbar einen Haftungsbescheid erlässt. Das Nachforderungsverfahren soll gerade eine schnellere und einfachere Inanspruchnahme ohne Ermessensausübung ermöglichen. Legt man zutreffend die normative Grundlage für den Erlass eines Nachforderungsbescheids aus und geht von einer gebundenen Entscheidung aus, besteht ein erheblicher Unterschied zwischen beiden Verfahren. Hierfür spricht, dass nicht einmal eine Umdeutung einer gebundenen Entscheidung in eine Ermessensentscheidung zulässig ist, § 128 Abs. 3 AO. Vor diesem Hintergrund kann erst recht keine Umqualifizierung einer Ermächtigungsgrundlage zulässig sein. Der Haftungsschuldner wird mangels Ermessensentscheidung im Rahmen der Steuerfestsetzung nach § 155 AO benachteiligt.130 Gegen dieses Argument wird eingewandt, dass die Benachteiligung nur geringfügiger Natur sei, da an die Artikulation des Ermessens nur wenige Anforderungen gestellt würden.131 Aus der Stärke der Beeinträchtigung kann jedoch nicht auf deren Vorliegen geschlossen 129

Vgl. hierzu auch Kapitel C. III. 3. b). BFH, Beschluss vom 18. 03. 2009  – I B 210/08, BFH / NV 2009, 1237, BeckRS 2009, 25015092, Tz. II. 2. c) bb) aaa). 131 BFH, Beschluss vom 18. 03. 2009  – I B 210/08, BFH / NV 2009, 1237, BeckRS 2009, 25015092, Tz. II. 2. c) bb) aaa). 130

IV. Stellungnahme zur Vergleichbarkeit

231

werden. Vielmehr findet eine zweistufige Prüfung dahingehend statt, dass auf erster Stufe überprüft wird, ob eine Beeinträchtigung vorliegt und erst auf zweiter Stufe deren Intensität festgestellt wird. Ein Rückschluss von Stufe 2 auf Stufe 1 scheidet schon systematisch aus. In dem Vergleichspunkt Ermessen muss ein Zirkelschluss vermieden werden. Die Vergleichbarkeit darf nicht durch systemwidrige Verfahrensdurchbrechungen hergestellt werden, indem man versucht, die Rechtswidrigkeit der Verwaltungspraxis durch das Zulassen einer Ermessensentscheidung im Nachforderungsverfahren zu umgehen. In Bezug auf das Ermessenserfordernis sind beide Verfahren nicht miteinander vergleichbar und bestehen erhebliche Unterschiede.

5. Vergleich der Erhebungsverfahren Sowohl für das Haftungs- als auch in gleicher Weise für das Nachforderungsverfahren findet § 219 AO auf Erhebungsebene Anwendung. Auswirkungen ergeben sich hieraus nur für die Versicherungsteuer. Bei den anderen Abzugshaftungstatbeständen scheidet eine Anwendbarkeit des § 219 S. 1 AO letztendlich wegen dem Vorliegen der Voraussetzungen des Ausschlusstatbestands in § 219 S. 2 AO aus. Bei der Versicherungsteuer hingegen ist dieser nicht anwendbar, sodass § 219 S. 1 AO zu einer Subsidiarität der Inanspruchnahme des Entrichtungs- oder Haftungsschuldners auf Erhebungsebene führt. Es ergeben sich keine Unterschiede zwischen beiden Verfahrensarten, die zur Unvergleichbarkeit derselben führen könnten.

IV. Stellungnahme zur Vergleichbarkeit Die zuvor untersuchten Aspekte sind in drei Gruppen einzuteilen. In vielen Fällen besteht ein Gleichlauf zwischen dem Haftungs- und dem Nachforderungsverfahren. Dies ergibt sich teilweise daraus, dass die derzeitige Praxis Voraussetzungen aus dem Haftungsverfahren auf das Nachforderungsverfahren überträgt. Teilweise sind die Anforderungen nicht identisch, jedoch so gering voneinander abweichend, dass diese noch als ausreichend vergleichbar qualifizieren. Schlussendlich liegen auch Aspekte vor, die in Bezug auf beide Verfahren dergestalt voneinander abweichen, dass diese als nicht vergleichbar zu bewerten sind. Im Folgenden werden die untersuchten Punkte zu den identischen, den vergleichbaren und den nicht vergleichbaren Aspekten zugeordnet.

232

C. Vergleich von Haftungs- und Nachforderungsverfahren   

1. Identische Aspekte Die Untersuchung hat ergeben, dass die Entstehung der Ansprüche, die Zuständigkeit für den Bescheiderlass; das Anhörungserfordernis, die Festsetzungsverjährung, die Notwendigkeit einer Primärsteuerschuld sowie der materiellen Voraussetzungen der Haftungstatbestände, die Akzessorietät beider Verfahren zur Primärsteuerschuld sowie die Durchführung des Erhebungsverfahrens allesamt identische Aspekte darstellen. Darüber hinaus darf auf beiden Verfahrenswegen nicht die Geltendmachung steuerlicher Nebenleistungen des Primärsteuerschuldners erfolgen.

2. Vergleichbare Aspekte In Bezug auf die Zulässigkeit der Schätzung der Besteuerungsgrundlagen, der Anwendbarkeit des § 166 AO, dem Absehen von der Steuerfestsetzung und der Form des zu erlassenden Bescheids sind Nachforderungs- und Haftungsverfahren vergleichbar. Dies gilt auch für die Pflichtverletzungen, an die die Tatbestände anknüpfen.

3. Nicht vergleichbare Aspekte Haftungs- und Nachforderungsverfahren sind in Bezug auf Sinn und Zweck der Verfahren, der Anwendbarkeit der § 164 f. AO, der Änderungsvorschriften sowie der Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung nicht vergleichbar.

4. Zusammenfassung Die zahlreichen identischen und vergleichbaren Aspekte führen nicht dazu, dass man die Verfahren im Rahmen einer wertenden Betrachtung insgesamt als vergleichbar qualifizieren müsste. Vielmehr muss man das inhaltliche Gewicht der nicht vergleichbaren Aspekte untersuchen. Über den gesetzlich nicht verankerten Sinn und Zweck der beiden Verfahren lässt sich noch hinwegblicken. Die Anwendbarkeit der § 164 f. AO sowie die erleichterten Änderungsvorschriften für Nachforderungsbescheide hingegen führen für den Haftungsschuldner schon zu einer deutlich spürbaren Beeinträchtigung. Dieser Aspekt ist jedoch auf der formellen Ebene der Verfahrensvoraussetzungen anzusiedeln und fällt noch weniger ins Gewicht als bestehende materielle Unterschiede zwischen den beiden Verfahren. Zur Unvergleichbarkeit der Verfahren führt letztendlich, dass das Haftungsverfahren im Ermessen der Verwaltung steht, was entgegen der Rechtsprechung und Ansicht in der Literatur nicht auf das Nachforderungsverfahren übertragen

VI. Verfassungskonformität der Inanspruchnahme

233

werden kann132. Insgesamt sind die beiden Verfahrenswege für die Geltendmachung einer Haftungsschuld nicht als vergleichbar anzusehen.

V. Vergleich zur wahldeutigen Inanspruchnahme Im Zoll133- und Verbrauchsteuerrecht soll eine wahldeutige Inanspruchnahme als Steuer- oder Haftungsschuldner zulässig sein, wenn feststeht, dass der Inanspruchzunehmende entweder als Steuerschuldner oder als Haftungsschuldner die Steuer zu entrichten hat.134 Diese Situation ist nicht mit der hiesigen vergleichbar und kann daher nicht als Argument für die Zulassung eines Wahlrechts der Finanzverwaltung herangeführt werden. Zum einen ist ein Wahlrecht etwas wesensanderes als eine wahldeutige Inanspruchnahme. Bei einem Wahlrecht liegen die Voraussetzungen des Tatbestands sicher vor. Das Gesetz knüpft hieran mehrere Rechtsfolgen, von denen die Finanzverwaltung eine auswählen darf. Bei einer wahldeutigen Bescheidung ist auf Tatbestandsebene lediglich sicher, dass der Steuerpflichtige entweder den Tatbestand der Steuer- oder den der Haftungsschuld erfüllt hat. Es ist offen, welcher der beiden Tatbestände dies ist. Zum anderen liegen die betrachteten Entrichtungs- bzw. Haftungsschulden außerhalb des Anwendungsbereichs der Verbrauchsteuern. Von der Möglichkeit einer wahldeutigen Inanspruchnahme auf diesem Gebiet des Steuerrechts kann nicht auf die Zulässigkeit eines Wahlrechts in Bezug auf die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners geschlossen werden.

VI. Verfassungskonformität der Inanspruchnahme Es stellt sich die Frage, ob die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners mittels Nachforderungs- oder Haftungsbescheids auf Grundlage eines Wahlrechts der Finanzverwaltung gegen in der Verfassung verankerte Grundrechte bzw. grundrechtsgleiche Rechte verstößt.

132

Vgl. hierzu Kapitel C. III. 4. So noch Halaczinsky, Die Haftung im Steuerrecht, 2. Auflage 1994, S. 170; ebenso Goutier, Die Haftung im Steuerrecht, 1. Auflage 1978, S. 107. 134 Halaczinsky, Die Haftung im Steuerrecht, schon in der 2. Auflage 1994, S. 170; 4. Auflage 2013, S. 270. 133

234

C. Vergleich von Haftungs- und Nachforderungsverfahren   

1. Rechtsstaatsprinzip Gemäß Art. 20 Abs. 3 GG ist die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden. Die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. Art. 1 Abs. 3 GG statuiert, dass Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung durch die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden sind. Staatliches Handeln darf demzufolge nicht gegen die Grundrechte oder staatliche Normen verstoßen. a) Vorrang des Gesetzes Die Bindung der Verwaltung an Gesetz und Recht führt zum sogenannten „Vorrang des Gesetzes“.135 Infolge des Vorrangs des Gesetzes muss das Verhalten der Exekutive – und somit der Finanzverwaltung136 – an den bestehenden Gesetzen gemessen werden. Die Reichweite und das Ausmaß dieser Bindungen werden durch die Norm selbst bestimmt.137 Hierzu bedarf es der Auslegung der jeweiligen Norm. § 191 Abs. 1 S. 1 AO beinhaltet eine ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners. Da dieser ebenfalls in § 167 Abs. 1 S. 1 AO Erwähnung findet, führt der Vorrang des Gesetzes als solcher noch nicht zur Rechtswidrigkeit der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des Nachforderungsverfahrens. Grundsätzlich können beide Normen unter Beachtung des Vorrangs des Gesetzes als Ermächtigungsgrundlage fungieren. b) Vorbehalt des Gesetzes Im Rahmen der Eingriffsverwaltung bedarf es zum Tätigwerden der Verwaltung einer gesetzlichen Grundlage.138 Grundsätzlich adressiert § 167 Abs. 1 S. 1 Var. 2 AO an den Haftungsschuldner. Problematisch ist jedoch, dass die Adressierung desselben nur in der Situation erfolgt, dass er gesetzlich zur Abgabe einer Steueranmeldung verpflichtet ist. Besteht eine solche Verpflichtung nicht, so erfasst die Norm den Haftungsschuldner nicht. Für den Erlass eines Nachforderungsbescheids gegenüber dem Haftungsschuldner fehlt es dementsprechend an einer gesetzlichen

135

Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20, Rn. 72. Ob sich die Bindung der Exekutive auf Landesebene unmittelbar aus Art. 20 Abs. 3 GG ergibt, oder eine solche erst über die Regelung in Art. 28 GG hergeleitet werden kann, kann dahinstehen. Im Ergebnis führen beide Ansichten dazu, dass die Verfassungsbindung auch auf Länderebene wirkt, vgl. Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20, Rn. 150 ff. 137 Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20, Rn. 73. 138 Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20, Rn. 111. 136

VI. Verfassungskonformität der Inanspruchnahme

235

Grundlage. Auf Grund des Vorbehalts des Gesetzes für die Eingriffsverwaltung139 bedarf es einer solchen jedoch. Ein Rückgriff auf § 191 Abs. 1 S. 1 AO als gesetzliche Grundlage für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners ist hierbei nicht möglich, da dieser nur die Inanspruchnahme durch Haftungsbescheid gesetzlich legitimiert. Wird dieser Verfahrensweg für die Inanspruchnahme verlassen, muss für den anderen Verfahrensweg ebenfalls eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage geschaffen werden, die zum einen den Haftungsschuldner als Adressaten des Bescheides erfasst und zum anderen Tatbestandsvoraussetzen beinhaltet, die der Haftungsschuldner als solcher auch in seiner Funktion erfüllen kann. Diesen Anforderungen hält § 167 Abs. 1 S. 1 Var. 2 AO in der aktuellen Fassung nicht stand. Er kann für die hiesig betrachteten Dreieckskonstellationen nicht als Ermächtigungsgrundlage für den Erlass des Nachforderungsbescheids herangezogen werden, weil der Haftungsschuldner mangels Verpflichtung zur Abgabe einer Steueranmeldung die Tatbestandsvoraussetzungen nicht erfüllen kann. Die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners durch Nachforderungsbescheid verstößt demzufolge gegen den Vorbehalt des Gesetzes für die Eingriffsverwaltung. c) Rechtssicherheit Das Rechtsstaatsprinzip verbürgt Rechtssicherheit. So muss ein Gesetz seines Inhalts klar vermitteln und einen gewissen Grad an Bestimmtheit aufweisen.140 Schon auf Grund der derzeitig nach Ausprägung der Steuergesetze fehlenden Verpflichtung eines Haftungsschuldners eine Steueranmeldung abzugeben, verstößt § 167 Abs. 1 S. 1 AO für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners in der Fremdentrichtungssituation gegen den Bestimmtheitsgrundsatz. Der Wortlaut der Norm geht ins Leere und kann somit aus Sicht des Bürgers keine klare Rechtslage schaffen. Mangelnde Bestimmtheit ergibt sich auch mittelbar aus den verfahrensrechtlichen Unklarheiten des praktizierten Verfahrensdualismus.141 d) Zulässigkeit eines Wahlrechts Neben den verfassungsrechtlichen Mängeln des § 167 Abs. 1  S. 1 AO als Ermächtigungsgrundlage für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des Nachforderungsverfahrens zu fungieren, kann sich eine Verfassungswidrigkeit der derzeitigen Verwaltungspraxis auch aus der Annahme eines Wahlrechts als solchem ergeben.

139

Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20, Rn. 111. Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20, Rn. 51, 58. 141 Vgl. hierzu Kapitel D. 140

236

C. Vergleich von Haftungs- und Nachforderungsverfahren   

Grundsätzlich kann nicht jede staatliche Reaktionsmöglichkeit im Bereich des Vorbehalts des Gesetzes normativ für den Einzelfall geregelt werden. Es bedarf auch in grundrechtssensiblen Bereichen der Einräumung von eigenen Entscheidungsmöglichkeiten der Verwaltung, um dieser eine ausreichende Handlungsfähigkeit zu vermitteln. So sieht das Steuerrecht – ebenso wie andere Rechtsgebiete des öffentlichen Rechts – an manchen Stellen vor, dass der zuständigen Behörde ein Verwaltungsermessen eingeräumt wird. Sprachlich bietet es sich zunächst an, die Begriffe des Ermessens mit dem hiesig betrachteten Wahlrecht gleichzusetzen. So führen sowohl die Einräumung eines Verwaltungsermessens als auch der Bestand eines etwaigen Wahlrechts dazu, dass der Verwaltung eine eigene Einschätzungsprärogative für ihr Handeln zugesprochen wird. Beim Ermessen betrifft dies je nach gesetzlicher Einräumung entweder die Frage, ob die Finanzverwaltung tätig wird oder in welcher Form sie dies macht (Entschließungs- und Auswahlermessen). Dies kann sogar die Frage beinhalten, wen sie in Anspruch nehmen möchte.142 Der Verwaltung einen Entscheidungsspielraum aus verfassungsrechtlichen Gründen per se abzusprechen, dürfte demzufolge nicht zielführend sein. Der Begriff des Wahlrechts143 ist jedoch von einer Ermessensentscheidung als solcher abzugrenzen. Ein verfahrensrechtliches Wahlrecht ist nicht als eine Unterform des Ermessens anzusehen. Bei der Einräumung von Ermessen wird eine Regelung als mögliche Reaktion der Verwaltung angelegt. So wird die Wahrung des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Einzelfall ermöglicht. Darüber hinaus bietet es der Finanzverwaltung eine ausreichende Flexibilität, um im Einzelfall auf vom Gesetzgeber ggf. nicht bedachte Umstände zu reagieren. Das hiesig betrachtete Wahlrecht soll der Finanzverwaltung trotz fehlender Ungewissheit und ohne Auswirkungen auf die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein freies Wahlrecht einräumen, welchem der beiden Verfahrenswege sie sich bedienen möchte. Dies liegt nicht innerhalb des Sinn und Zwecks der Einräumung eines Ermessensspielraums. Bei der Ermessenseinräumung erfolgt ein materieller Bezugspunkt. Hierbei ist im Einzelfall durch die Finanzverwaltung zu prüfen, ob und wie ihr Handeln notwendig ist, um den Zweck der jeweiligen Ermächtigungsgrundlage durchzusetzen. Ein Verfahrenswahlrechts hingegen betrifft als solches rein prozessuale Aspekte. Das Ermessen bzw. seine Grenzen sind in § 5 AO geregelt. Es handelt sich demnach nicht um einen ungreifbaren Begriff. Vielmehr setzt die Abgabenordnung voraus, dass es ein solches gibt und setzt sich hiermit auseinander. Darüber hinaus wird der Finanzverwaltung ein solches Ermessen nur eingeräumt, sofern dies im Wortlaut der Ermächtigungsgrundlage entweder durch die Wortwahl („kann“) 142

Vgl. hierzu Kapitel A. II. 4. b). Die folgenden Ausführungen betreffen nur das etwaige verfahrensrechtliche Wahlrecht in Bezug auf die in dieser Arbeit betrachteten Fallkonstellationen. 143

VI. Verfassungskonformität der Inanspruchnahme

237

oder durch Auslegung ermittelbar vorgesehen ist. In diesem Punkt setzt sich das Ermessen von dem hiesig betrachteten prozessualen Wahlrecht ab. Ein solches ist weder im Wortlaut des § 167 AO noch – mit Ausnahme der Versicherungsteuer – andernorts angelegt. Auch kennt die Abgabenordnung solche Wahlrechte nicht, die sie an geeigneter Stelle aufnimmt und sich hiermit auseinandersetzt. Das Ermessen hingegen wird in § 5 AO thematisiert. Ein solches Wahlrecht ist demnach ein außergesetzliches Konstrukt, das nicht mit dem gesetzlich bekannten, vorausgesetzten und angeordneten Ermessen gleichgestellt oder als Unterfall desselben angesehen werden kann. Darüber hinaus kann kein Wahlrecht zwischen der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners auf Grundlage des § 167 Abs. 1 S. 1 AO und der Inanspruchnahme mittels Haftungsbescheids bestehen, weil letztere eine Ermessensentscheidung ist. Ein Wahlrecht zwischen dem Erlass einer gebundenen Entscheidung und einer Ermessensentscheidung würde dazu führen, dass erstere ebenfalls zu einer Ermessensentscheidung umqualifiziert wird. Dies würde gegen § 85 AO verstoßen. Außerdem ist selbst eine Umdeutung einer gebundenen Entscheidung in eine Ermessensentscheidung nach § 128 Abs. 3 AO unzulässig, sodass erst recht kein voraussetzungsloses Wahlrecht zwischen beiden bestehen kann. Ein prozessuales Wahlrecht kann nur dann verfassungsrechtlich zulässig sein, wenn dieses gesetzlich verankert und an Voraussetzungen gebunden wird. Dementsprechend verstößt das vorliegend betrachtete Wahlrecht schon per se gegen das in der Verfassung verankerte Rechtsstaatsprinzip.

2. Art.  14  GG / Art.  12  GG / Art.  2 Abs.  1  GG Setzt man voraus, dass zum einen die Haftung im Steuerrecht zur Inanspruchnahme für eine fremde Steuerlast als solche und zum anderen auch die konkreten Ausformungen der Haftung der Fremdentrichtungsschuldner in den vorliegend betrachteten Fallkonstellationen die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes nicht verletzten,144 dürfte sich auf Grundlage der Inanspruchnahme über § 167 Abs. 1 S. 1 AO keine weitergehende Möglichkeit einer Verletzung des Art. 14 GG ergeben. Eine solche wäre nur möglich, wenn sich aus der prozessualen Vorgehensweise eine weitergehende Einschränkung des Grundrechtes ergeben könnte. Die materielle Wirkung des Eingriffs ist aus grundrechtlicher Sicht auf beiden Verfahrenswegen identisch. Selbiges gilt für eine etwaige Einschränkung der Berufsfreiheit sowie der allgemeinen Handlungsfreiheit.

144

Beide Thesen werden in dieser Arbeit nicht untersucht und vorliegend als zutreffend unterstellt.

238

C. Vergleich von Haftungs- und Nachforderungsverfahren   

3. Art. 3 Abs. 1 GG Art. 3 Abs. 1 GG verbietet die Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem, wenn eine solche nicht durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt werden kann.145 § 167 Abs. 1  S. 1 AO behandelt Steuer- und Haftungsschuldner dergestalt gleich, dass gegenüber beiden Klassen von Steuerpflichtigen der Erlass eines Steuerbescheids zugelassen wird.146 Steuer- und Haftungsschuldner sind jedoch wesensverschieden.147 Ihre Inanspruchnahme ist auf verschiedenen Ebenen angesiedelt und unterscheidet sich insbesondere darin, dass eine Steuerschuld als eine eigene, eine Haftungsschuld hingegen als eine fremde Steuerschuld gilt, für die der Haftungsschuldner als eigene Haftungsschuld einstehen muss. Als legitimer Zweck für die steuerverfahrensrechtliche Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem fungiert die Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung.148 Da es sich lediglich um eine verfahrensrechtliche Regelung handelt, sind an die Rechtfertigung einer solchen Gleichbehandlung weniger hohe Anforderungen zu stellen, als dies beispielsweise bei der Einführung materiell-steuerrechtlicher Regelungen der Fall ist. Die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners mittels Nachforderungsbescheids sollte demnach nicht gegen Art. 3 Abs.1 GG verstoßen. In Betracht kommt jedoch, dass in dem jeweiligen Nachforderungs- bzw. Haftungsbescheid ein Verstoß der Finanzverwaltung gegen Art. 3 Abs. 1 GG liegt. Das derzeit praktizierte Wahlrecht kann zur Selbstbindung der Verwaltung149 führen, wenn es in einer gewissen Anzahl von Fällen in bestimmter Art und Weise ausgeübt wird. In diesem Fall bindet sich die Finanzverwaltung selbst. Erlässt sie nunmehr einen von der bisherigen Verwaltungspraxis abweichenden Bescheid, führt dies zur Ungleichbehandlung von wesentlichen gleichen Steuerpflichtigen und somit zu einem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG, der über Art. 1 Abs. 2, 20 Abs. 3 GG ebenfalls für die vollziehende Gewalt bei Erlass eines Steuerverwaltungsaktes Anwendung findet.

4. Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG beinhaltet ein Zitiergebot, welches als grundrechtsgleiches Recht beim Erlass eines Gesetzes von der gesetzgebenden Gewalt zu beachten ist. Das jeweilige Gesetz muss das Grundrecht, welches eingeschränkt werden soll, unter Angabe des Artikels nennen. Ob die AO als Verfahrensgesetz eine Angabe der 145

P. Kirchhof, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 3, Rn. 249. Wenngleich der Erlass eines Nachforderungsbescheids gegenüber einem Haftungsschuldner mangels gesetzlicher Verpflichtung zur Abgabe einer Steueranmeldung nach derzeitiger Gesetzeslage unmöglich ist. 147 Vgl. Kapitel A. II. 3. b) aa). 148 Vgl. Kapitel B. I. 2. 149 Kischel, in: BeckOK GG, Art. 3, Rn. 112. 146

VII. Ergebnis

239

einschränkenden Grundrechte enthalten muss oder das Zitiergebot auf selbiges als vorkonstitutionelles, jedoch 1977 neu erlassenes Gesetz Anwendung findet, soll vorliegend nicht betrachtet werden. Da vorliegend ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip vorliegt, welches vom Anwendungsbereich des Zitiergebots nicht erfasst ist,150 ergeben sich aus Art. 19 Abs.1 S. 2 GG keine verfassungsrechtlichen Bedenken an dem von der Verwaltung praktizierten Wahlrecht zur Inanspruchnahme des Haftungsschuldners.

5. Keine Verfassungskonformität Der Annahme eines Wahlrechts zur Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des Nachforderungs- oder Haftungsverfahrens stehen verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber. Die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners auf Grundlage des § 167 Abs. 1 S.1 AO verstößt gegen das Rechtsstaatsprinzip. Der hierdurch verbürgte Vorbehalt des Gesetzes wird verletzt, da der Haftungsschuldner mangels Verpflichtung zur Abgabe einer Steueranmeldung nicht unter den Wortlaut der Norm fällt. Es bedürfte einer Ermächtigungsgrundlage zum Erlass eines Nachforderungsbescheids, die zum einen den Haftungsschuldner als Adressat vorsieht und zum anderen Tatbestandsvoraussetzungen enthält, die durch den Haftungsschuldner als solchen erfüllt werden können. Daneben mangelt es dem § 167 Abs. 1 S.1 AO für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners in der Fremdentrichtungssituation an hinreichender Klarheit und Bestimmtheit. Das vorliegend betrachtete Wahlrecht ist darüber hinaus in Abgrenzung zum verfassungsrechtlich zulässigen Ermessen per se unzulässig, da dieses weder gesetzlich angeordnet noch gesetzlich verankert ist.

VII. Ergebnis Es sprechen gewichtige Argumente gegen die Anwendbarkeit des § 167 Abs. 1 S. 1 AO auf den Erlass eines Nachforderungsbescheids gegenüber dem Haftungsschuldner als Entrichtungspflichtigen. Die bisherigen Versuche, die Anwendungsbereiche zwischen dem Nachforderungs- und dem Haftungsverfahren abzugrenzen, sind nicht zielführend. Abzulehnen ist eine Differenzierung der Verfahrensarten zwischen der Verletzung der Anmeldungs- oder der Entrichtungsverpflichtung des Entrichtungsschuldners.151 Eine Nachforderung tritt nicht ein, weil eine Anmeldung nicht abgegeben wird. Im Kern beinhaltet die Nachforderung die Nichtentrichtung der Steuer. Eine Aufspaltung der verschiedenen Pflichten des Entrichtungsschuldners 150 151

Remmert, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19, Rn. 27 ff. Vgl. hierzu Kapitel C. II.

240

C. Vergleich von Haftungs- und Nachforderungsverfahren   

erscheint künstlich. So erfordert die Erfüllung des Haftungstatbestands stets, dass eine Steuer nicht ordnungsgemäß abgeführt wurden, da andernfalls keine Haftungsschuld bestehen würde, für die der Haftungsschuldner in Anspruch genommen werden kann. Die Verletzung der Anmeldeverpflichtung allein führt für sich genommen nicht zur Auslösung eines Haftungstatbestands. Die Haftung setzt an die Nichtabführung an, da erst eine solche inhaltlich eine materielle Haftungsschuld hervorrufen kann. Ebenso ist eine Differenzierung zwischen den Verfahrensarten durch eine Unterscheidung zwischen zeitraum- und sachverhaltsbezogenen Nachforderungen zur Lösung des Verfahrensdualismus nicht zielführend.152 Betrachtet man beide Arten von Nachforderungen am Beispiel der Lohnsteuer ergeben sich Ungereimtheiten. Eine zeitraumbezogene Nachforderung würde nach der vertretenen Ansicht eine Lohnsteuernachforderung darstellen, die sich lediglich auf einige Zeiträume bezieht. Das betrifft Nachforderungen der Höhe nach. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn für einen konkreten Arbeitnehmer in Bezug auf bestimmte Monate eine Lohnsteuernachforderung festgesetzt wird, weil die bisher für diesen Arbeitnehmer angemeldete Lohnsteuer zu gering ist. Dies kann in der Praxis beispielsweise dann vorkommen, wenn der Arbeitgeber nach einer Gehaltserhöhung die monatlichen Lohnsteueranmeldungen und Abführungen nicht anpasst oder er unzutreffend von einer etwaigen Lohnsteuerfreiheit von Zusatzleistungen an den Arbeitnehmer ausgeht. Eine sachverhaltsbezogene Lohnsteuernachforderung läge hingegen vor, wenn ein neuer Arbeitnehmer beschäftigt wird, für den bisher noch keine Lohnsteueranmeldung abgegeben wurde. Hierbei wird eine Nachforderung nicht für einen Sachverhalt festgesetzt, den das Finanzamt vorher schon aus früheren Anmeldungen kannte. Im Ergebnis ähnelt dieser Abgrenzungsversuch demjenigen, der eine Unterscheidung an eine nicht und eine nicht zutreffend erfolgte Anmeldung zu knüpfen versuchen würde. In Bezug auf den schon bekannten Arbeitnehmer liegt eine nicht zutreffende Anmeldung vor. Betrachtet man den neuen Arbeitnehmer separat von den restlichen Lohnsteuerschuldnern des Arbeitgebers, so wurde für diesen isolierten Steuerfall gar keine Lohnsteueranmeldung abgegeben. Beide Differenzierungsversuche sind im Gesetz nicht angelegt. Wenngleich die Differenzierung zwischen einer fehlerhaft abgegebenen und einer nicht abgegebenen Anmeldung noch der Wortlaut des § 167 Abs. 1 S. 1 AO zu Gute käme, der seinerseits beide Fälle zumindest separat aufführt, vermögen beide Abgrenzungsversuche in Anbetracht der ratio leges des Nachforderungsverfahrens nicht überzeugen. In beiden Fällen wurde jeweils zu wenig Lohnsteuer abgeführt, sodass seitens des Staates in gleicher Höhe ein Bedürfnis besteht, dieselbe nachzufordern. Im Übrigen würde der Entrichtungsschuldner, der keine Lohnsteueranmeldung bzw. bei sachverhaltsbezogener Betrachtungsweise zumindest für einen isolierten 152

Vgl. hierzu Kapitel C. II.

VII. Ergebnis

241

Steuerfall keine Lohnsteueranmeldung abgibt und infolgedessen nur mittels Haftungsbescheids in Anspruch genommen werden könnte, besser stehen, als derjenige Entrichtungsschuldner, der zwar eine Steueranmeldung abgegeben hat, diese jedoch fehlerhaft war.153 § 167 Abs. 1 S. 1 Var. 2 AO ermöglicht nach seinem Wortlaut nur eine Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des Nachforderungsbescheids. Nach derzeitiger Gesetzesfassung kann der Entrichtungsschuldner als solcher nicht Adressat des Nachforderungsbescheids sein. Hierfür würde es an einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage fehlen. Da den Haftungsschuldner in den hiesig betrachteten Dreieckskonstellationen keine gesetzliche Verpflichtung trifft, eine Steueranmeldung abzugeben, kann gegenüber diesem auf Grundlage des § 167 Abs. 1 S. 1 Var. 2 AO ebenfalls kein Nachforderungsbescheid ergehen. Nach derzeitiger Gesetzeslage darf demnach kein Wahlrecht für die Inanspruchnahme angenommen werden, sofern ein solches nicht – wie bei der Versicherungsteuer – spezialgesetzlich angelegt ist. Die Annahme eines Wahlrechts sowie die Inanspruchnahme eines Entrichtungs- oder Haftungsschuldners auf Grundlage des § 167 Abs. 1 S. 1 Var. 2 AO erfolgt derzeit ohne Ermächtigungsgrundlage und demzufolge rechtswidrig. Es ist eine Gesetzesänderung notwendig, die dem dualistischen System der AO in Bezug auf Steuer- und Haftungsverfahren gerecht wird und keine systemwidrigen Überschneidungen zwischen beiden Bereichen mehr hervorruft. Diesbezügliche Änderungsvorschläge werden in Kapitel E. untersucht.

153 Allgemein in Bezug auf die Unzulässigkeit dieser Besserstellung ebenso BFH, Urteil vom 7. 7. 2004 – VI R 171/00, BStBl. II 2004, 1087, DStR 2004, 1745, 1747: Im Lohnsteuer-Anmeldungsverfahren könne die Finanzbehörde auch dann einen Steuerbescheid erlassen, wenn der Arbeitgeber keine Lohnsteuer-Anmeldung abgegeben hat. Wäre eine Steuerfestsetzung nur zulässig, wenn zuvor eine Steueranmeldung eingereicht wurde, ergäbe sich daraus eine Besserstellung desjenigen, der seine gesetzliche Anmeldungs-Verpflichtung in vollem Umfang ignoriert. Ein Steuerpflichtiger könnte durch gesetzwidriges Verhalten eine Steuerfestsetzung verhindern.

D. Verfahrensrechtliche Folgen des Dualismus Wenngleich zwischen Nachforderungs- und Haftungsverfahren nach zutreffender Beurteilung der Rechtslage derzeit kein Wahlrecht besteht und eine Inanspruchnahme sowohl des Entrichtungs- als auch des Haftungsschuldners durch Nachforderungsbescheid nur bei spezialgesetzlicher Ermächtigungsgrundlage zulässig sein kann, wird in der Praxis derzeit ein zweispuriger Verfahrensweg zugelassen. Der derzeit unzutreffend praktizierte Verfahrensdualismus zwischen Nachforderungs- und Haftungsverfahren wirft verfahrensrechtliche Folgeprobleme auf, die im Folgenden erörtert werden und die Notwendigkeit einer Gesetzesänderung unterstreichen.

I. Exklusivität der Verfahren oder echter Dualismus? Ist ein Nachforderungsbescheid gegenüber dem Entrichtungs- bzw. Haftungsschuldner in den in dieser Arbeit betrachteten Konstellationen ergangen, ist fraglich, ob daneben auch noch ein Haftungsbescheid ergehen kann, da dessen Voraussetzungen in diesem Fall auch vorliegen sollten.1 Nach zum Teil in der Literatur vertretener Auffassung soll nach dem Legalitätsprinzip die Festsetzung der Haftungsschuld durch Nachforderungsbescheid zwingend sein.2 Danach soll ein Erlass eines Haftungsbescheids ausgeschlossen sein.3 Verfahrenstechnisch soll zwischen dem Erlass eines Haftungs- oder Nachforderungsbescheids kein nur verfahrenstechnischer Unterschied liegen.4 Vielmehr soll die Regelung zum Nachforderungsbescheid gegenüber der Inanspruchnahme mittels Haftungsbescheids eine Eingriffsverschärfung darstellen.5 Die Finanzbehörde sei ausschließlich zum Erlass des Nachforderungsbescheids ermächtigt.6

1

So wohl BFH, Urteil vom 07. 07. 2004 – VI R 171/00, BStBl. II 2004, 1087, 1089: kein Konkurrenzverhältnis; Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  9. 2 Schulze-Osterloh, in: Gedächtnisschrift Trzaskalik, S. 152; a. A.: Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  15a. 3 Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  15a. 4 Schulze-Osterloh, in: Gedächtnisschrift Trzaskalik, S. 153. 5 Schulze-Osterloh, in: Gedächtnisschrift Trzaskalik, S. 153. 6 Schulze-Osterloh, in: Gedächtnisschrift Trzaskalik, S. 154.

I. Exklusivität der Verfahren oder echter Dualismus? 

243

1. Gründe einer zweiten Inanspruchnahme Zunächst stellt sich die Frage, aus welchen Gründen die Finanzverwaltung nach Erlass eines Haftungs- oder Nachforderungsbescheids gegenüber dem Entrichtungs- bzw. Haftungsschuldner noch zum Erlass eines Bescheids auf dem jeweils anderen Verfahrensweg zurückgreifen sollte. a) Änderungen der Rechtslage Denkbar wäre, dass nach Erlass des ersten Steuerverwaltungsakts und dem Eintritt dessen Bestandskraft eine Rechtsänderung bzw. Rechtsprechungsänderung erfolgt, die nunmehr eine weitergehende Inanspruchnahme gestattet und im Rahmen einer zulässigen Rückwirkung auch noch auf den zuvor beschiedenen Sachverhalt Anwendung findet. Wird zuerst ein Nachforderungsbescheid erlassen, stellt sich die Frage, ob die Änderungsvorschriften der §§ 172 ff. AO für diesen Fall eingreifen. In Betracht kommt das Vorliegen eines rückwirkenden Ereignisses im Sinne des § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO. Rechtsänderungen durch Veränderung der Gesetzeslage oder Rechtsprechung sind keine rückwirkenden Ereignisse in diesem Sinne.7 Eine Änderung des zuerst erlassenen Nachforderungsbescheids in Folge der Änderung der Rechtslage ist hiernach nicht möglich. Stellt der zuerst erlassene Bescheid einen Haftungsbescheid dar, kann dieser in Folge der abweichenden Rechtslage ebenfalls nicht geändert werden. § 131 Abs. 2 Nr. 3 AO setzt voraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse geändert haben, die dem Steuerverwaltungsakt zugrunde liegen.8 Die Vorschrift eröffnet keine Ände­r ungsmöglichkeit in Bezug auf die Änderung der Rechtslage.9 In Fällen der Änderung der Rechtslage nach Erlass des ersten Steuerverwaltungsakts bestünde demnach ein Interesse der Finanzverwaltung zum Erlass eines zweiten Bescheids. b) Änderungen von Ermessenserwägungen Ebenso könnte sich ein Interesse an dem Erlass eines Nachforderungsbescheids nach dem Erlass eines Haftungsbescheids ergeben, wenn man ersteren nicht als Ermessensentscheidung ansieht. In diesem Fall könnte § 167 Abs. 1 S. 1 AO eine weitergehende Inanspruchnahmemöglichkeit als § 191 Abs. 1 S. 1 AO eröffnen. Zutreffend sollte bei Anwendung der nach hiesig vertretener Ansicht rechtswidrigen Verwaltungspraxis auch der Nachforderungsbescheid als Ermessensentscheidung 7

König, in: König, AO, § 175, Rn. 38. Rüsken, in: Klein, AO, § 131, Rn. 11. 9 Rüsken, in: Klein, AO, § 131, Rn. 11. 8

244

D. Verfahrensrechtliche Folgen des Dualismus 

ergehen, sodass bei dessen Erlass dieselben Erwägungen anzustellen sind, die auch bei Erlass eines Haftungsbescheids eingreifen. Ändern sich die dem Ermessen zugrunde liegenden Tatsachen wird eine Änderungsmöglichkeit für den Haftungsbescheid über § 131 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 AO eröffnet. Für den nachfolgenden Erlass eines Nachforderungsbescheids besteht insofern nur Bedarf, wenn die Gefährdung des öffentlichen Interesses nach § 131 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 AO abgelehnt wird. Ergeht zuerst der ermessensgebundene Nachforderungsbescheid, kann dieser bei Änderung der zugrunde liegenden Tatsachen nicht auf Grundlage der §§ 172 ff. AO geändert werden. Die Änderungsvorschriften für Steuerbescheide sehen keinen Änderungstatbestand dafür vor, dass nachträglich neue Tatsachen entstehen, die jedoch keine Rückwirkung entfalten. In diesem Fall besteht Bedarf, nach Bekanntwerden der neuen Tatsachen, die nach Erlass des Nachforderungsbescheids entstanden sind, einen Haftungsbescheid zu erlassen, bei dem diese im Rahmen des Ermessens Berücksichtigung finden können.

c) Auswirkungen des Einspruchsverfahrens Darüber hinaus könnte die Finanzverwaltung ein Interesse am Erlass eines zweiten Steuerverwaltungsaktes haben, sofern im ersten Steuerverwaltungsverfahren in Folge eines erfolgreichen Einspruchsverfahrens nicht die vollständige Haftungsschuld geltend gemacht werden konnte. Wenngleich ein sehr hohes Risiko besteht, dass der Steuerpflichtige in einem erneuten Rechtsbehelfs- oder Klageverfahren gegen den zweiten Steuerverwaltungsakt wiederum obsiegt, bestünde zumindest die Möglichkeit, auf dem Wege der Zweitinanspruchnahme die volle Haftungsschuld geltend machen zu können, beispielsweise wenn der Steuerpflichtige in Bezug auf die Zweitfestsetzung die Rechtsbehelfsfrist verstreichen lässt.

2. Systematik der Abgabenordnung und der Einzelsteuergesetze In der Abgabenordnung finden sich keine ausdrücklichen Hinweise darauf, in welchem Verhältnis die beiden Verfahrenswege zur Inanspruchnahme des Entrichtungs- bzw. Haftungsschuldners stehen. Dennoch lassen sich aus den in den Steuergesetzen vorhandenen Regelungen Rückschlüsse auf die Bewertung des Verfahrensdualismus ziehen.

a) Vergleich zu anderen Systemen Sofern in der Abgabenordnung für die Geltendmachung einer Steuerschuld verschiedene Verfahrenswege vorgesehen sind, beschäftigen sich diese auch mit dem Verhältnis der Verfahren zueinander. So regelt beispielsweise § 167 Abs. 1 S. 1 AO

I. Exklusivität der Verfahren oder echter Dualismus? 

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das Verhältnis der Steueranmeldung zum Steuerbescheid, dessen Wirkung und wann welches Verfahren zulässig ist. Auch in den Einzelsteuergesetzen sind sich teilweise inhaltlich überschneidende Verfahren zur Erhebung der Steuer vorgesehen. So muss der umsatzsteuerpflichtige Unternehmer sowohl Umsatzsteuervoranmeldungen abgeben als auch eine Jahresumsatzsteuererklärung erstellen. Auch hier sieht die Abgabenordnung ein Instrumentarium zur Abgrenzung beider Verfahren vor. Hierbei erledigen sich die Umsatzsteuervoranmeldung nach § 124 Abs. 2 AO auf andere Weise, sobald die Jahressteuerfestsetzung zur Umsatzsteuer wirksam wird.10 Aus der fehlenden Regelung der Verhältnisse von Nachforderungs- und Haftungsbescheid gegenüber dem Entrichtungs- bzw. Haftungsschuldner wird ersicht­lich, dass der Gesetzgeber einen solchen Verfahrensdualismus nicht vorgesehen hatte, da es eines solchen auch nicht bedürfte. Infolgedessen ergeben sich aus der Systematik der Abgabenordnung keine Hinweise zur Lösung des Verfahrensdualismus. Insbesondere kann für eine Erledigung des Erststeuerverwaltungsaktes durch Erlass des Nachfolgenden nach § 124 Abs. 2 AO kein Raum sein, sofern ersterer Bestandskraft entfaltet, die dem Erlass des Letzteren entgegenstehen könnte. Ferner dürfte der vorliegende Verfahrensdualismus in Bezug auf eine Haftungsschuld auch nicht mit dem Verhältnis zwischen Voranmeldungen und Jahressteuerbescheiden vergleichbar sein. In solchen Fällen soll durch den Erlass des Jahressteuerbescheids die Erledigung der Voranmeldungen auf sonstige Weise erfolgen.11 Die Voranmeldungen stellen jedoch der Natur der Sache nach nur eine vorläufige Regelung nach § 168 AO dar. Dies ist bei dem Erlass eines Nachforderungs- und Haftungsbescheids nicht der Fall. b) Rückschlüsse aus § 86 AO Interessant ist im Anbetracht des Verfahrensdualismus, ob das Nachforderungsund das Haftungsverfahren verschiedene Steuerverwaltungsverfahren im Sinne des § 86 AO darstellen. Die Abgabenordnung definiert den Begriff des Steuerverwaltungsverfahrens nicht, setzt das Vorliegen eines solchen jedoch in § 86 AO voraus. Der Begriff des Steuerverwaltungsverfahrens kann rein prozessual, prozessual-ergebnisorientiert oder materiell-rechtlich ausgelegt werden. Zum einen könnte man das Steuerverwaltungsverfahren bei einem rein prozessualen Ansatz als Verfahren ansehen, welches auf eine finale Handlung der Finanzverwaltung hinausläuft. Hierbei wäre zur Bestimmung des Umfangs des Verwaltungsverfahrens nicht ausschlaggebend, auf was für eine finale Handlung das Steuerverwaltungsverfahren konkret abzielt. Es käme lediglich darauf an, dass 10 11

Leonard, in: Bunjes, UStG, § 18, Rn. 10. Fritsch, in: König, AO, § 124, Rn. 11.

246

D. Verfahrensrechtliche Folgen des Dualismus 

die Finanzverwaltung nach § 86 AO ein Steuerverwaltungsverfahren einleitet, ohne zunächst überhaupt bestimmen zu können und müssen, mit was für einem rechtlichen Akt dieses Verfahren abgeschlossen werden soll bzw. was der finale Zweck des Steuerverwaltungsverfahrens sein wird. Bei Zugrundelegung dieses Steuerverwaltungsverfahrensbegriffs dürfte das Gesamtsteuerverwaltungsverfahren zur Inanspruchnahme des Entrichtungs- bzw. Haftungsschuldners kongruent sein. Im Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens müsste noch nicht feststehen, auf Grundlage welcher Ermächtigungsnorm die Finanzverwaltung den Steuerpflichtigen im Ergebnis in Anspruch nehmen möchte. Definiert man das Steuerverwaltungsverfahren prozessual-ergebnisorientiert, würde es darauf ankommen, dass die Finanzverwaltung ein Steuerverwaltungsverfahren mit dem von Beginn an feststehenden Ziel in Form des Erlasses eines der Ermächtigungsgrundlage nach bestimmten rechtlichen Akts einleitet. In diesem Fall würden Steuerverwaltungsverfahren zum Erlass eines Nachforderungs- und eines Haftungsbescheids auf Grund ihrer unterschiedlichen Ermächtigungsgrundlagen zwei voneinander zu trennende sowie separat zu führende Steuerverwaltungsverfahren darstellen. Bei Zugrundelegung eines materiell-rechtlichen Steuerverwaltungsverfahrensbegriffs dürfte man losgelöst von den Ermächtigungsgrundlagen zum Tätigwerden der Verwaltung lediglich zugrunde legen, womit sich das Steuerverwaltungsverfahren materiell-rechtlich befasst. In diesem Fall würde für den Erlass eines Nachforderungs- oder Haftungsbescheids ein einheitliches Steuerverwaltungsverfahren vorliegen, da beide die Geltendmachung derselben Haftungsschuld zum Gegenstand haben. Am Ende des einheitlichen Verwaltungsverfahrens würde entweder ein Nachforderungs- oder ein Haftungsbescheid erlassen. Das Wahlrecht der Finanzverwaltung würde innerhalb desselben Steuerverwaltungsverfahrens ausgeübt werden. Es müsste kein zweites Steuerverwaltungsverfahren eingeleitet werden. Eine Aufspaltung in zwei Steuerverwaltungsverfahren ist dann selbstverständlich zwingend, sofern zwischen Entrichtungs- und Steuerschuldner keine Personenidentität besteht. Sofern jedoch sowohl Nachforderungs- als auch Haftungsverfahren gegenüber demselben Steuerpflichtigen stattfinden sollen, stellt dieses wegen materiell-rechtlicher Kongruenz nach dem materiell-rechtlichen Steuerverwaltungsverfahrensbegriff ein einheitliches Steuerverwaltungsverfahren dar. Legt man einen rein prozessualen Ansatz zu Grunde, läge ein einheitliches Steuerverwaltungsverfahren vor. Eine prozessual-ergebnisorientierte Aufspaltung in zwei Verfahren wäre nicht zweckmäßig und würde in der Praxis nicht stattfinden. Es käme zu einer unnatürlichen Aufspaltung eines nämlichen Sachverhalts. Diese Verfahrensweise wäre nicht praktikabel und würde dazu führen, dass der Amtsermittlungsgrundsatz des § 88 AO zu einer doppelten Ermittlungsplicht führen würde. Infolgedessen müssten Ermittlungen der Finanzverwaltung mehrfach durchgeführt werden. Aus diesem Grund ist zumindest für die vorliegenden Zwecke ein rein prozessualer oder ein materiell-rechtlicher Begriff des Steuerver-

I. Exklusivität der Verfahren oder echter Dualismus? 

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waltungsverfahrens anzuwenden, sodass nur ein einheitliches Steuerverwaltungsverfahren gegen den Entrichtungs- bzw. Haftungsschuldner vorliegt. Diese Wertung impliziert, dass am Ende dieses einheitlichen Steuerverwaltungsverfahrens auch nur ein endgültiger Steuerverwaltungsakt ergehen kann. Im Gegensatz zum Steuerverfahren bei Einleitung eines reinen Haftungsverfahrens12 steht jedoch zu Beginn dieses einheitlichen Ermittlungsverfahrens schon fest, wer Adressat des Steuerverwaltungsaktes sein wird.

3. Auswirkungen der Bestandskraft Ein Steuerbescheid erwächst in Bezug auf die festgesetzte Steuer in Bestandskraft.13 Die Abgabenordnung definiert den Begriff der Bestandskraft nicht, setzt ihr Bestehen jedoch voraus.14 Die materielle Bestandskraft soll ein Abweichungsverbot beinhalten.15 Soweit ein Steuerbescheid in materieller Bestandskraft erwächst, soll die Finanzbehörde von dieser Steuerfestsetzung nur abweichen dürfen, sofern gesetzlich die Voraussetzungen hierfür erfüllt sind.16 Dem Steuerbescheid wird in Folge dieser Wirkung der materiellen Bestandskraft eine Stabilisierungsfunktion nachgesagt.17 So soll der Steuerbescheid einen Sachverhalt dauerhaft und verbindlich regeln und hierbei für Rechtsbestand und Rechtssicherheit sorgen.18 Zwar nehmen die Besteuerungsgrundlagen grundsätzlich nicht an der Bestandskraft teil.19 Um der Stabilisierungsfunktion gerecht zu werden, sollen für die Bestimmung der materiellen Bestandskraft jedoch auch inhaltliche Aspekte neben dem reinen Rechtsfolgenausspruch berücksichtigt werden.20 Die Besteuerungsgrundlagen sollen als „tragende Pfeiler des konkreten Anspruchs“21 für die Qualifizierung des Abweichungsverbots heranzuziehen sein. Ergeht ein Steuerbescheid oder ein Haftungsbescheid gegenüber dem Entrichtungs- bzw. Haftungsschuldner, so kann ein gegenüber dem Steuerschuldner ergangener Bescheid nicht im Wege der Bestandskraft die Rechtswidrigkeit der Inanspruchnahme herbeiführen. Hierbei stellt sich lediglich die Frage der Drittwirkung der früheren Festsetzung nach § 166 AO. Auf den Umfang der materiellen Bestandskraft kommt es hingegen sehr wohl an, wenn gegenüber dem Entrichtungsbzw. Haftungsschuldner schon eine Geltendmachung der Haftungsschuld in dem

12

Vgl. Kapitel A. II. 4. Siesenop, in: JuS 2015, 411, 412. 14 Vgl. Überschrift 3. Abschnitt, 1. Unterabschnitt, III. zu §§ 172 ff. AO. 15 Krumm, in: DStR 2005, 631, 631, m. w. N. 16 Krumm, in: DStR 2005, 631, 631. 17 Krumm, in: DStR 2005, 631, 631. 18 Krumm, in: DStR 2005, 631, 631; Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 155, Rn. 5. 19 Leicht, in: Beck’sches Steuer- und Bilanzrechtslexikon, „Bestandskraft“, Rn. 5. 20 Krumm, in: DStR 2005, 631, 631. 21 Martens, in: StuW 1993, 335, 341. 13

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D. Verfahrensrechtliche Folgen des Dualismus 

einen Verfahrenswege erfolgt ist und nunmehr ein zweiter Steuerverwaltungsakt hierüber auf dem anderen Wege ergehen soll. Was die materielle Bestandskraft im Einzelnen bedeutet, ist in der Literatur umstritten.22 Becker versteht die materielle Bindungswirkung von Verwaltungsakten normativ.23 Die Bindungswirkung ergibt sich seiner Ansicht nach aus dem Rückgriff auf die Vorschriften, die der bindenden und der zu treffenden gebundenen Entscheidung zugrunde liegen.24 Seibert setzt die Bindungswirkung eines Verwaltungsaktes mit dessen Regelung gleich, da insoweit eine verbindliche Entscheidung getroffen werde.25 Die verbindliche Entscheidung ließe sich durch den Entscheidungsgegenstand bestimmen.26 Grundlage des Entscheidungsgegenstands müssen zum einen die materiellen Normen sein, anhand derer überhaupt erst einmal die Möglichkeit eröffnet wird, eine Entscheidung zu treffen. Zum anderen wird der Entscheidungsgegenstand durch eine tatsächliche Komponente bestimmt. Er lässt sich nur begreifen, wenn die materiell-rechtliche Grundlage der Entscheidung im Lichte des hierfür relevanten tatsächlichen Sachverhalts betrachtet wird. Entsprechend den Ausführungen Seiberts kann der subjektive Wille der Finanzverwaltung, sofern er nicht objektiv in der Regelung zum Ausdruck gekommen ist, nicht für die Bestimmung des Regelungsgehalts und mithin der Bestandskraft eines Verwaltungsaktes herangezogen werden.27 Dies widerspräche der Auslegung anhand des objektiven Erklärungswerts des Verwaltungsaktes.28 Nach Krumm beeinflusst der der Steuerfestsetzung zugrunde liegende Lebens­ sachverhalt die Bestandskraft von Steuerbescheiden dergestalt, dass auch für eine andere Steuerart keine Festsetzung mehr in Bezug auf denselben Sachverhalt erfolgen darf, wenn diesbezüglich schon ein Steuerbescheid ergangen ist.29 Seiner Ansicht nach nimmt auch der zugrunde liegende Sachverhalt partiell an der materiellen Bestandskraft teil. Zumindest formt der Lebenssachverhalt die Anknüpfungspunkte für die materielle Bestandskraft des Tenors eines Steuerverwaltungsakts. Auch Frotscher und Söhn sehen zumindest Steuerverwaltungsakte als eine bindende und endgültige Entscheidung an, sofern nicht die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Änderung dieser vorliegen.30 22

Söhn, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 118, Rn.  368. Becker, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten im Schnittpunkt von Handlungsformenlehre und materiellem öffentlichen Recht, S. 185. 24 Becker, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten im Schnittpunkt von Handlungsformenlehre und materiellem öffentlichen Recht, S. 185. 25 Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, S. 303. 26 Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, S. 303. 27 Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, S. 315. 28 Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, S. 315. 29 Krumm, in: DStR 2005, 631, 631 f. 30 Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 155, Rn. 6; für sonstige Steuerverwaltungsakte: Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 118, Rn. 22 mit Verweis auf Vor. § 172 AO, Rn. 5 ff.; auch Söhn, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 118, Rn.  368. 23

I. Exklusivität der Verfahren oder echter Dualismus? 

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Wenngleich Nachforderungs- und Haftungsbescheid unterschiedliche Ebenen der Inanspruchnahme betreffen, beinhalten sie dem Kern nach die Geltend­ machung desselben materiellen Anspruchs des Fiskus.31 Folgerichtig entfaltet jede Festsetzung der materiellen Haftungsschuld ungeachtet ihres Verfahrensweges Bestandskraft gegenüber einer weiteren Festsetzung derselben Haftungsschuld. Zwar stimmen in Bezug auf Nachforderungs- und Haftungsverfahren die prozessualen Voraussetzungen der Inanspruchnahme nicht überein. Die zugrunde liegenden materiellen Normen sind identisch und erfordern desselben Sachverhalt. Aus diesem Grund liegen für beide Verfahren die zwei Komponenten der Bestandskraft bzw. des nämlichen Entscheidungsgegenstands nach Seibert und wohl auch Krumm vor. Zum einen ist die materiell-rechtliche Normengrundlage identisch. Zum anderen ist der relevante Sachverhalt deckungsgleich. Die Voraussetzungen der Bestandskraft liegen demnach vor. Dies kann jedoch nur insoweit gelten, als Entrichtungs- und Haftungsschuldner personenidentisch sind. Die materielle Bestandskraft erstreckt nur auf den im Bescheid bezeichneten Steuerschuldner.32 Fallen wie bei der Versicherungsteuer Entrichtungs- und Haftungsschuldnerschaft auseinander, so kann sowohl gegenüber dem Entrichtungsschuldner ein Nachforderungsbescheid erlassen werden und erneut ein Nachforderungs- oder Haftungsbescheid gegenüber dem Haftungsschuldner. Jedoch darf nach Ausübung des Wahlrechts aus § 7 Abs. 8 S. 3 VersStG eine Inanspruchnahme des Haftungsschuldners nur im Wege des Nachforderungsbescheids oder mittels Haftungsbescheids erfolgen. Zwischen beiden Verfahrensarten besteht hierbei eine echte Wahlschuld. Wird der eine oder der andere Weg gewählt, so ist der jeweils andere ausgeschlossen. Dasselbe muss bei Annahme eines Wahlrechts zur Inanspruchnahme bei anderen Dreieckshaftungstatbeständen gelten.

4. Zweiterlass nach Vollzug des Erststeuerverwaltungsakts Der Erlass eines Zweitsteuerverwaltungsakts zur Inanspruchnahme des Haftungsschuldners wird auch nicht dadurch ermöglicht, dass der Erststeuerverwaltungsakt vollzogen wird. Der Vollzug eines Steuerverwaltungsaktes führt nicht zu dessen Erledigung.33 § 124 Abs. 2 AO ist auf den Vollzug des Steuerverwaltungsaktes demnach nicht anwendbar. Somit bleibt der Erststeuerverwaltungsakt auch nach dessen Vollzug wirksam, sodass seine materielle Bestandskraft dem Erlass eines Zweitsteuerverwaltungsaktes für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners weiterhin entgegensteht.

31

Vgl. Kapitel B. II. 3. c). Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 155, Rn. 19. 33 FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 24. 2. 2003 – 5 K 2441/01 (rkr.), EFG 2003, 823, 824. 32

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D. Verfahrensrechtliche Folgen des Dualismus 

5. Ergebnis Zwischen dem Nachforderungs- und Haftungsverfahren besteht kein echter Verfahrensdualismus. Sofern sich die Finanzverwaltung für den einen oder den anderen Verfahrensweg entscheidet, ist eine Geltendmachung der Haftungsschuld im jeweils anderen Verfahrensweg ausgeschlossen, sofern keine Umdeutung34 oder Änderung35 zulässig ist. Die Verfahrenswahl zur Geltendmachung der Haftungsschuld führt zu einer der Bestandskraft fähigen Entscheidung, die den zweiten Verfahrensweg ausschließt. Sofern man das derzeit praktizierte Wahlrecht der Finanzverwaltung zur Geltendmachung der Haftungsschuld zulässt, besteht demnach eine wahlrechtsgebundene Exklusivität zwischen beiden Verfahren. In Folge der materiellen Bestandskraft ist für eine Erledigung des ersten Steuerverwaltungsaktes nach § 124 Abs. 2 AO durch den Erlass des Letzteren kein Raum.

II. Qualifikation nachfolgender Steuerverwaltungsakte Die Frage ist nunmehr, wie ein etwaig nach Erlass des ersten Steuerverwaltungsakts in dem einen Verfahrensweg ergehender weiterer Steuerverwaltungsakt des anderen Verfahrensweges verfahrensrechtlich zu bewerten ist. Ein selbstständiger Verwaltungsakt, der neben dem ersteren bestehen bleibt, scheidet auf Grund des zuvor Gesagten aus, da eine wahlrechtsgebundene Exklusivität zwischen beiden Verfahren besteht. Denn die Bestandskraft der Erstfestsetzung steht dem Erlass eines zweiten Steuerverwaltungsaktes zum nämlichen Sachverhalt der materiellen Geltendmachung einer Haftungsschuld entgegen.

1. Qualifikation als Zweitbescheid Ein Zweitbescheid liegt steuerverfahrensrechtlich vor, wenn die Behörde eine Sache erneut aufgreift und entscheidet.36 Der Zweitbescheid ist ein Steuerverwaltungs­ akt37 und stellt einen nach den Änderungsvorschriften zu Stande gekommenen, geänderten Bescheid dar. Im allgemeinen Verwaltungsrecht ergeht ein Zweitbescheid nachdem das zulässige Verfahren über die Wiederaufnahme stattgefunden hat.38 In der Abgabenordnung ist keine Wiederaufnahme des Verfahrens wie in § 51 VwVfG vorgesehen. § 51 VwVfG enthält keinen allgemeinen Rechtsgedanken.39 Da § 51 VwVfG 34

Vgl. hierzu Kapitel D. III. 2. Vgl. hierzu Kapitel D. II. 36 Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 118, Rn. 7c. 37 Frotscher, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 118, Rn. 7c. 38 Falkenbach, in: BeckOK VwVfG, § 51, Rn. 26. 39 Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 51, Rn.  2. 35

II. Qualifikation nachfolgender Steuerverwaltungsakte 

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antragsgebunden ist, sodass die Wiederaufnahme einen Antrag des Bescheidadressatens voraussetzt, ist dieser für die hiesigen Zwecke der verfahrensrechtlichen Qualifikation eines Zweitsteuerverwaltungsaktes zur Inanspruchnahme des Haftungsschuldners untauglich. Auf die Frage, ob im Steuerverwaltungsrecht eine analoge Anwendung des § 51 VwVfG zulässig sein kann, kommt es dementsprechend nicht an. Der Zweitsteuerverwaltungsakt kann vor diesem Hintergrund nur ein sowohl einerseits geänderter als auch andererseits umgedeuteter Steuerverwaltungsakt sein. Dies ist nur insofern zulässig, als zum einen die gesetzlichen Änderungsvorschriften in Anbetracht der Frage, ob der Erststeuerverwaltungsakt Nachforderungs- oder Haftungsbescheid ist, erfüllt sein müssen. Zum anderen kommt es hierfür auf die Frage an, ob eine Umdeutung von Nachforderungs- in Haftungsbescheid und umgekehrt überhaupt zulässig ist. Ob der zweite Steuerverwaltungsakt demnach einen geänderten und umgedeuteten Erststeuerverwaltungsakt darstellen kann, lässt sich erst nach den Untersuchungen des Kapitels III. 2 abschließend beurteilen.

2. Qualifikation als wiederholende Verfügung Bei einer wiederholenden Verfügung stellt der zu qualifizierende Akt wegen reiner Wiederholung des Erstakts keinen selbstständigen Verwaltungsakt dar.40 Der Zweitsteuerverwaltungsakt kann wegen des abweichenden Inhalts keine wiederholende Verfügung darstellen. Die Änderung der Verfahrensart führt dazu, dass der Zweitsteuerverwaltungsakt inhaltlich nicht mehr mit der ersten Verfügung übereinstimmt. Die Umdeutung steht mit dem Wesen einer wiederholenden Verfügung nicht im Einklang, sodass der Zweitsteuerverwaltungsakt nicht als solche qualifizieren kann.

3. Ergebnis Für die Qualifikation des Zweitsteuerverwaltungsakts als geänderten und umgedeuteten Zweitbescheid kommt es darauf an, ob eine Umdeutung zwischen den Verfahrensarten zulässig ist. Nur insofern eine solche Umdeutung zulässig ist, kann ein Zweitsteuerverwaltungsakt im anderen Verfahrenswege rechtmäßig ergehen. Die materielle Bestandskraft des Erststeuerverwaltungsakts steht dem selbstständigen Erlass eines neben diesen tretenden Erststeuerverwaltungsakt auf dem anderen Verfahrenswege entgegen. Die später ergehende Verfügung kann in Folge der Bestandskraft der ersteren lediglich dieselbe Verfügung in der Gestalt der Zweitverfügung darstellen. Ob hierbei der Wechsel der Verfahrensarten zulässig 40

Ratschow, in: Klein, AO, § 118, Rn. 42.

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D. Verfahrensrechtliche Folgen des Dualismus 

ist, wird im nachfolgenden Kapitel untersucht und lässt sich erst nach den dortigen Untersuchungen beurteilen. Die Verfahrenswahl ist vorbehaltlich einer zulässigen Umdeutung exklusiv. Es besteht demzufolge kein echter Verfahrensdualismus zwischen Nachforderungs- und Haftungsverfahren.

III. Wechsel der Verfahrensarten Im vorangegangenen Kapitel wurde die Frage betrachtet, ob Nachforderungsund Haftungsbescheid in der vorliegenden Dreiecks-Konstellation mit Fremdentrichtungsschuldnerschaft selbstständig nebeneinander treten können. Auf Grund der materiellen Bestandskraft des ersteren Steuerverwaltungsaktes scheidet ein echter Verfahrensdualismus aus. Daneben stellt sich jedoch die Frage, ob und wenn ja bis zu welchen Zeitpunkten im Steuerverwaltungsverfahren ein Wechsel der Verfahrensarten stattfinden kann. Hierbei ist zwischen einem Verfahrenswechsel vor Anhörung des Steuerpflichtigen, nach der Anhörung und nach dem Erlass des Steuerverwaltungsakts zu differenzieren.

1. Verfahrenswechsel vor / nach Anhörung Für die Bestimmung des Umfangs des Steuerverwaltungsverfahrens ist ein weiter Begriff zugrunde zu legen.41 Infolgedessen stellt ein Verfahrenswechsel vor Anhörung des Steuerpflichtigen keine Schwierigkeit dar. Eine Festlegung des am Ende des Verwaltungsverfahrens zu erlassenden Akts der Finanzverwaltung ist nicht notwendig. Ein Verfahrenswechsel vor Anhörung ist ohne die Beachtung weiterer Voraussetzungen möglich und qualifiziert rechtstechnisch nicht als „echter Verfahrenswechsel“. Selbiges gilt für den Wechsel der Verfahren nach Durchführung einer Anhörung. Die Durchführung einer Haftungsanhörung nach § 91 Abs. 1 AO soll nicht dazu führen, dass nachfolgend eine Inanspruchnahme durch Nachforderungsbescheid rechtswidrig wird.42 Durch die vorbereitende Maßnahme soll keinerlei Bindung an die Wahl des finanzbehördlichen Handlungsmittels erfolgen.43 Dem ist zu folgen. Die Anhörung nach § 91 Abs. 1 AO stellt einen Teilakt der Ermittlungshandlungen nach § 88 Abs. 1 AO dar. Unter den Voraussetzungen des § 91 AO ist dieser Akt zwingender Natur. Dies führt jedoch nicht dazu, dass die Durchführung einer 41

Vgl. Kapitel D. I. 2. b). BFH, Urteil vom 19. 12. 2012 – I R 80/11 (NV), BeckRS 2013, 94731, Rn. 21 ff.; BFH, Beschluss vom 18. 03. 2009  – I B 210/08, BFH / NV 2009, 1237, BeckRS 2009, 25015092, Tz. II. 2. c) bb) bbb). 43 BFH, Urteil vom 19. 12. 2012 – I R 80/11 (NV), BeckRS 2013, 94731, Rn. 21 ff.; BFH, Beschluss vom 18. 03. 2009  – I B 210/08, BFH / NV 2009, 1237, BeckRS 2009, 25015092, Tz. II. 2. c) bb) bbb). 42

III. Wechsel der Verfahrensarten

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solchen Anhörung verfahrensrechtlich die Ausübung des Wahlrechts darstellt. Auch führt die Durchführung der Anhörung nicht dazu, dass die Finanzbehörde nunmehr verpflichtet ist, einen Steuerverwaltungsakt zu erlassen, der in die Rechte des Angehörten eingreift. Vielmehr steht es ihr auch nach der Anhörung noch frei, von dem Erlass eines Steuerverwaltungsaktes abzusehen. Die Durchführung der Anhörung führt insbesondere nicht dazu, dass das Steuerverwaltungsverfahren nunmehr als solches zum Erlass eines bestimmten Steuerverwaltungsaktes umqualifiziert wird.

2. Verfahrenswechsel durch Umdeutung Wenngleich ein Wechsel zwischen den Verfahrensarten auf Grund der sachgerechten Zugrundelegung eines weiten Steuerverwaltungsverfahrensbegriffs vor Erlass des Bescheids unproblematisch möglich ist, ergeben sich nach dem Erlass des Nachforderungs- oder Haftungsbescheid Beschränkungen, wenn von der einen Verfahrensart zur anderen gewechselt werden soll. Nunmehr ist eine Umdeutung von Nachforderungs- in Haftungsbescheid und umgekehrt nur noch möglich, wenn die Voraussetzungen des § 128 AO erfüllt werden. a) Voraussetzungen der Umdeutung Gemäß § 128 Abs. 1 AO kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Finanzbehörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und die Voraussetzungen für den Erlass gegeben sind. Der umzudeutende Verwaltungsakt muss rechtswidrig oder nichtig sein.44 Ein Nichtakt soll hingegen der Umdeutung nicht zugänglich sein.45 Der umgedeutete Verwaltungsakt muss das gleiche Ziel verfolgen, wie der ursprüngliche Verwaltungsakt. Das verfolgte Ziel ist im Hinblick auf die bezweckte Rechtswirkung- und folge zu ermitteln.46 Vermehrt wird lediglich gefordert, dass Rechtswirkung und Rechtsfolge der beiden Verwaltungsakte keine „gravierenden rechtlichen Unterschiede“ aufweisen, ohne einen identischen Regelungsgehalt zu 44

Rozek, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 128, Rn.  15; Ratschow, in: Klein, AO, § 128, Rn. 1; Fritsch, in: König, AO, § 128, Rn. 3; Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 128, Rn. 2; von Wedelstädt, in: Gosch, AO, § 128, Rn. 5; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 47, Rn. 31: zur identischen Regelung im VwVfG. 45 Rozek, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 128, Rn.  14; von Wedelstädt, in: Gosch, AO, § 128, Rn. 5; Fritsch, in: König, AO, § 128, Rn. 3. 46 Fritsch, in: König, AO, § 128, Rn. 4; von Wedelstädt, in: Gosch, AO, § 128, Rn. 6; Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 128, Rn.  3; Ratschow, in: Klein, AO; § 128, Rn. 3: „gleiche materielle Tragweite“.

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D. Verfahrensrechtliche Folgen des Dualismus 

fordern.47 Es soll lediglich ein rechtliches Minus an Rechtswirkung zugelassen sein, damit die erforderliche Nämlichkeit der Ziele der Verwaltungsakte gegeben ist.48 Ausgeschlossen wäre demzufolge die Umdeutung in einen Verwaltungsakt, der ein „Aliud“ an Rechtswirkung auslöst. Die Zielgleichheit erfordert, dass sowohl dem ursprünglichen Verwaltungsakt als auch dem durch Umdeutung entstehenden Verwaltungsakt derselbe Lebenssachverhalt zugrunde liegt.49 Hierbei wird im Gegensatz zu der weiter gefassten Abweichungstoleranz bei der rechtlichen Regelungswirkung eine Identität des Lebenssachverhalts gefordert. Insbesondere Adressat und Kalenderjahr müssen identisch sein.50 Darüber hinaus müssen im Zeitpunkt des Erlasses des Ausgangsbescheids alle Voraussetzungen für den Erlass des umgedeuteten Bescheids in formeller und materieller Hinsicht erfüllt sein.51 Das bedeutet vor allem, dass bezüglich dem Ausgangsverwaltungsakt und dem umgedeuteten Verwaltungsakt ein Gleichlauf zwischen den Verfahrensanforderungen bestehen muss52 oder zumindest die Verfahrensanforderungen für beide Verfahren kumulativ erfüllt werden. Eine Umdeutung ist ausgeschlossen, wenn der umgedeutete Verwaltungsakt der erkennbaren Absicht der erlassenen Finanzbehörde widerspräche, § 128 Abs. 2 S. 1 Var. 1 AO. Eine Umdeutung ist darüber hinaus nach § 128 Abs. 2 S. 1 AO ausgeschlossen, wenn der umgedeutete Verwaltungsakt auf Rechtsfolgenseite ungünstiger für den Betroffenen wäre. Eine Umdeutung ist gemäß § 128 Abs. 2 S. 2 AO unzulässig, wenn der fehlerhafte Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden dürfte. Die Umdeutung einer gebundenen Entscheidung in eine Ermessensentscheidung wird durch § 128 Abs. 3 AO ausgeschlossen. Durch die entsprechende Anwendung des § 91 AO über den Verweis in § 128 Abs. 4 AO ist der Betroffene vor Umdeutung des Ausgangsbescheids anzuhören. Der Verweis in § 128 Abs. 4 AO auf § 91 AO verdeutlicht, dass dem Anhörungserfordernis nicht durch die ggf. im Erlassverfahren des Steuerverwaltungsaktes durchgeführte Anhörung Genüge getan werden kann. Vielmehr ist der Betroffene vor der Umdeutung des Verwaltungsakts erneut und in Bezug auf die anstehende Umdeutung anzuhören. Zwar kann der umgedeutete Verwaltungsakt nach den Vorangegangenen Ausführungen nicht in größerem Ausmaß belastend sein als der ursprüngliche Verwaltungsakt, da ansonsten mangels Zielgleichheit die Umdeutung ausgeschlossen wäre. Jedoch stellt der umgedeutete Verwaltungsakt trotz 47

Rozek, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 128, Rn.  19. von Wedelstädt, in: Gosch, AO, § 128, Rn. 6; Rozek, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 128, Rn. 19; Fritsch, in: König, AO, § 128, Rn. 4. 49 von Wedelstädt, in: Gosch, AO, § 128, Rn. 6; Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 128, Rn. 4; Rozek, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 128, Rn.  20; Fritsch, in: König, AO, § 128, Rn. 4. 50 Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 128, Rn. 4; Rozek, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 128, Rn. 20; Fritsch, in: König, AO, § 128, Rn. 4. 51 Fritsch, in: König, AO, § 128, Rn. 5; Ratschow, in: Klein, AO, § 128, Rn. 3. 52 Rozek, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 128, Rn.  26 ff. 48

III. Wechsel der Verfahrensarten

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rechtlichem Minus zum ursprünglichen Verwaltungsakt einen neuen, belastenden Verwaltungsakt dar.53 Teilweise wird die Umdeutung selbst als Verwaltungsakt angesehen.54 Dies überzeugt nicht. Die Umdeutung ist wie das vor dem Erlass eines Verwaltungsakts stattfindende Steuerverwaltungsverfahren kein Verwaltungsakt.55 So findet beispielsweise vor dem Erlass eines Änderungsbescheids nach den §§ 129 ff. AO auch ein Erkenntnisverfahren statt, welches keinen Verwaltungsakt darstellt, sondern mit dem Erlass eines solchen endet. So stellt auch erst das Ergebnis der Umdeutung einen Verwaltungsakt dar.56 Vereinzelt wird daran festgehalten, dass der umgedeutete Verwaltungsakt noch der ursprüngliche Verwaltungsakt in geänderter Form sei.57 Hierbei werden jedoch die Grenzen zwischen der Änderung eines Verwaltungsaktes nach den §§ 129 ff. AO und der Umdeutung nach § 128 AO vermischt. Bei der Änderung eines Verwaltungsaktes wird der bestehende Verwaltungsakt durch einen Änderungsverwaltungsakt abgeändert und wirkt mit dem sich hieraus ergebenden, geänderten Inhalt fort.58 Teilrücknahme und Teilwiderruf sind der Umdeutung von der inhaltlichen Abänderung des Bescheid­tenors sehr ähnlich, da auch bei der Umdeutung nur ein rechtliches Minus bewirkt werden kann. Bei der Umdeutung wird jedoch der ursprüngliche Verwaltungsakt durch den umgedeuteten Verwaltungsakt ersetzt und tritt rechtlich an seine Stelle. Ist der ursprüngliche Verwaltungsakt nichtig, so stellt das Ergebnis der Umdeutung erstmals einen Verwaltungsakt dar.59 b) Zulässigkeit der Umdeutung eines Nachforderungs- in einen Haftungsbescheid aa) Derzeitiger Meinungsstand Die Umdeutung eines Steuer- in einen Haftungsbescheid wird in der Literatur und der Rechtsprechung als unzulässig erachtet.60 Dies wird unter anderem damit 53

Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 128, Rn. 6; Ratschow, in: Klein, AO, § 128, Rn. 8; von Wedelstädt, in: Gosch, AO, § 128, Rn. 15; Kiefer, in: NVwZ 2013, 1257, 1258. 54 Ratschow, in: Klein, AO, § 128, Rn. 8: mit mehrdeutigen Formulierungen in Rn. 8. 55 So auch Rozek, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 128, Rn. 6: jedoch mit dem Ergebnis, dass an dem alten Verwaltungsakt in geänderter Form festgehalten wird; Ratschow, in: Klein, AO, § 128, Rn. 8: mehrdeutige Aussagen. 56 von Wedelstädt, in: Gosch, AO, § 128, Rn. 15; wohl auch Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 128, Rn. 10: in der Umdeutungsentscheidung liege ein Verwaltungsakt, der bekanntzugeben sei; wohl auch Ratschow, in: Klein, AO, § 128, Rn. 8. 57 Rozek, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 128, Rn.  6; Fritsch, in: König, AO, § 128, Rn. 1; Ratschow, in: Klein, AO, § 128, Rn. 8. 58 Seer, in: Tipke / Kruse, AO, § 129, Rn. 28. 59 Ratschow, in: Klein, AO, § 128, Rn. 8; von Wedelstädt, in: Gosch, AO, § 128, Rn. 16. 60 OVG Münster, Beschluss vom 08. 08. 2018 – 14 B 610/18, NVwZ-RR 2018, 901, 902: ohne Begründung abgelehnt; BFH, Urteil vom 18. 07. 1991 – V R 72/87, BStBl. II 1991, 781, 781;

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D. Verfahrensrechtliche Folgen des Dualismus 

begründet, dass die Umdeutung einer gebundenen Entscheidung in eine Ermessensentscheidung nicht möglich sei.61 Dies entspricht der Regelung in § 128 Abs. 3 AO. Allerdings muss vor dem Hintergrund der aktuellen Rechtsprechung, die es für notwendig erachtet, dass bei Erlass eines Nachforderungsbescheids ebenfalls eine Ermessensentscheidung stattfindet62, detaillierter über die Zulässigkeit der Umdeutung eines Nachforderungs- in einen Haftungsbescheid nachgedacht werden. Sofern man in dem Erlass eines Nachforderungsbescheids eine Ermessensentscheidung sieht, ist die Umdeutung in einen Haftungsbescheid nicht schon per se nach § 128 Abs. 3 AO ausgeschlossen. Andere Autoren lehnen die Zulässigkeit der Umdeutung wegen der fehlenden Zielgleichheit beider Steuerverwaltungsakte ab.63 Wiederum andere Autoren lassen die Zulässigkeit der Umdeutung an der Wesensverschiedenheit von Steuerund Haftungsschuld scheitern.64 Die zur Frage der Umdeutung auf dem Gebiet des Verfahrensdualismus ergangene Rechtsprechung beschäftigt sich zwar mit der Frage der Zulässigkeit der Umdeutung eines Steuerbescheids in einen Haftungsbescheid.65 Die Urteilsfälle betreffen aber nicht die vorliegend betrachteten Situationen. Es handelt sich dort nicht um Fälle, in denen die Haftung mit einer Steuerentrichtungspflicht verbunden ist. Aus diesem Grund können die Urteile für den vorliegenden Fall lediglich indiziell herangezogen werden. bb) Umdeutung in anderen Rechtsgebieten Die Umdeutung von Verwaltungsakten ist auch in anderen Rechtsgebieten vorgesehen. Es ist zu untersuchen, ob sich hieraus Erkenntnisse für die hiesig betrachtete Umdeutung ergeben können. BFH, Urteil vom 11. 05. 1982 – VII R 97/81, BStBl. II 1982, 689, 691; Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 66; Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 60; Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 25a; Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 191, Rn. 110; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 95; Bilsdorfer, in: NJW 2016, 1425, 1428. 61 BFH, Urteil vom 18. 07. 1991 – V R 72/87, BStBl. II 1991, 781, 781; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn.  95. 62 BFH, Urteil vom 19. 12. 2012 – I R 81/11, BFH / NV 2013, 698, BeckRS 2013, 94724, Tz. 20; BFH, Beschluss vom 18. 03. 2009 – I B 210/08, BFH / NV 2009, 1237, BeckRS 2009, 25015092, Tz. II. 2. c) bb) aaa); BMF-Schreiben vom 27. 12. 2002 IV A 5  – S 2272  – 1/02, Beihefter zu DStR 07 2003, 1, Tz. 78, 88; Rüsken, in: Klein, AO, § 167, Rn. 6; Oellerich, in: Gosch, AO, § 167, Rn. 55; Nacke, in: DStR 2005, 1297, 1298; Nacke, Haftung für Steuerschulden, S. 217: zur Bauabzugsteuer; offengelassen: BFH, Urteil vom 30. 10. 2008 – VI R 10/05, BStBl. II 2009, 354, 355; vgl. hierzu Kapitel B. II. 4. 63 Fritsch, in: König, AO, § 128, Rn. 4. 64 Intemann, in: König, AO, § 191, Rn. 60; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 95, m. w. N. 65 OVG Münster, Beschluss vom 08. 08. 2018 – 14 B 610/18, NVwZ-RR 2018, 901, 902; BFH, Urteil vom 18. 07. 1991  – V R 72/87, BStBl. II 1991, 781, 781; BFH, Urteil vom 11. 05. 1982 – VII R 97/81, BStBl. II 1982, 689, 691.

III. Wechsel der Verfahrensarten

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§ 47 VwVfG sieht wortlautidentisch die Zulässigkeit der Umdeutung von Verwaltungsakten vor. Auch im Rahmen der Anwendbarkeit des § 47 VwVfG wird die Umdeutung von Steuer- in Haftungsbescheide abgelehnt.66 Der ebenfalls wortlautidentische § 43 SGB X vermag ebenso keine abweichenden Erkenntnisse zu liefern. Auch hier wird gefordert, dass zwischen dem Ausgangsbescheid und dem umgedeuteten Verwaltungsakt Zielgleichheit in Form eines einheitlichen Regelungsinteresses besteht.67 Nach § 140 BGB kann ein nichtiges Rechtsgeschäft, sofern es den Voraussetzungen eines anderen Rechtsgeschäftes entspricht, in letzteres umgedeutet werden, sofern anzunehmen ist, dass dessen Geltung bei Kenntnis der Nichtigkeit gewollt sein würde. Im Gegensatz zu den Regelungen im öffentlichen Recht bedarf die zivilrechtliche Umdeutung eines nichtigen Rechtsgeschäftes.68 Die Umdeutung im Zivilrecht dient der Durchsetzung des mutmaßlichen Parteiwillens.69 Hierdurch besteht ein erheblicher Unterschied zu § 128 AO. Wenngleich es auch bei der Umdeutung im Steuerverfahrensrecht um die Erreichung eines mutmaßlichen Beteiligtenwillens geht, kann hierbei nur der Wille der Finanzverwaltung zur Geltung kommen. Mangels Konsensprinzip bei dem Erlass eines in die Rechte des Steuerpflichtigen eingreifenden Steuerverwaltungsaktes und wegen des im öffentlichen Recht grundsätzlich vorherrschenden Subordinationsprinzips70 scheidet eine Parallele zu den zivilrechtlichen Umdeutungsnormen aus. Darüber hinaus verhelfen diese auch nicht zu weitergehenden Erkenntnissen für die vorliegende Betrachtung. cc) Ergebnis Eine Umdeutung kommt grundsätzlich nur in Betracht, sofern der Nachforderungsbescheid an einem Fehler leidet. Andernfalls liegt kein für eine Umdeutung nach § 128 AO notwendiger fehlerhafter Steuerverwaltungsakt vor. Eine willkürliche Umdeutung ohne Vorliegen eines Fehlers ist nicht möglich. Insbesondere lässt sich die Fehlerhaftigkeit nicht damit begründen, es sei im Rahmen des Wahlrechts zwischen dem Erlass eines Nachforderungs- oder Haftungsbescheids für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners nicht der richtige Verfahrensweg seitens der Finanzverwaltung ausgewählt worden. Das derzeit vertretene Wahlrecht71 ist nicht an bestimmte Voraussetzungen gebunden. So kann frei zwischen beiden Verfahren gewählt werden. Dieses freie Wahlrecht kann nicht fehlerhaft ausgeübt werden. Denn keinem der beiden Verfahren ist Vorrang zu gewähren. Aus diesem Grund kann schon der Natur der Sache nach kein Fehler bei der Ausübung des Wahlrechts 66

Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 47, Rn.  36. Wolfgang / Siewert, in: Diering / Timme / Stähler, SGB X, § 43, Rn. 8. 68 Mansel, in: Jauernig, BGB, § 140, Rn. 2. 69 Mansel, in: Jauernig, BGB, § 140, Rn. 1. 70 Ehlers / Schneider, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, § 40, Rn.  19. 71 Vgl. Kapitel C. II. 67

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D. Verfahrensrechtliche Folgen des Dualismus 

erfolgen, infolgedessen ein fehlerhafter Verwaltungsakt für die Beurteilung der Zulässigkeit einer Umdeutung vorliegen könnte. Liegt nunmehr ein (anderweitig) fehlerhafter Nachforderungsbescheid vor, ist für die Zulässigkeit der Umdeutung nur noch von Bedeutung, ob zwischen Nachforderungs- und Haftungsbescheid Zielgleichheit herrscht.72 Für die Zielgleichheit muss zum einen ein nämlicher Sachverhalt vorliegen und zum anderen eine ähnliche Rechtswirkung durch Nachforderungs- und Haftungsbescheid gegenüber dem identischen Adressaten herbeigeführt werden.73 Wenngleich der Vergleich beider Verfahren ergeben hat, dass diese für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners nicht als vergleichbar qualifizieren74, kann sich bei der vorliegenden Betrachtung etwas anderes ergeben, weil in Bezug auf die Umdeutungsfähigkeit nur die zwei genannten Faktoren beider Verfahren zu vergleichen sind. Der Vergleich der Verfahren hat ergeben, dass in Bezug auf den Sinn und Zweck der Verfahren, das Ermessenserfordernis75 und konkrete Verfahrensnormen so große Unterschiede zwischen beiden Verfahren bestehen, dass diese in ihrer Gesamtbetrachtung nicht als gleichartige Wege zur Inanspruchnahme des Haftungsschuldners einzustufen sind. Die Untersuchungen in Kapitel C. haben ergeben, dass sowohl für im Nachforderungs- als auch für im Haftungsverfahren materiell die Geltendmachung derselben Haftungsschuld erfolgt. Dieser Aspekt findet sich in der Gruppe der identischen Faktoren wieder. Infolgedessen muss man auch bei der hiesigen Betrachtung annehmen, dass für Nachforderungs- und Haftungsbescheid auf Grund derselben materiell-rechtlichen Grundlage derselbe Lebenssachverhalt von Bedeutung ist. Es handelt sich hierbei nicht nur um einen nämlichen Sachverhalt. Vielmehr ist der zu Grunde liegende Lebenssachverhalt identisch. Dies steht auch damit im Einklang, dass der jüngere Steuerverwaltungsakt des einen Verfahrensweges materielle Bestandskraft entfaltet, sodass der Erlass des zweiten Steuerverwaltungsaktes ausgeschlossen wäre.76 Die erste Komponente der Zielgleichheit liegt dementsprechend vor. Sowohl Nachforderungs- als auch Haftungsbescheid ergehen in der vorliegenden Konstellation auf Grundlage desselben Sachverhalts. Daneben erfordert die Zielgleichheit, dass sowohl Nachforderungs- als auch Haftungsbescheid in ihrer Rechtswirkung ähnlich sind.77 Als Rechtswirkung eines Steuerverwaltungsaktes ist das Ergebnis seiner Regelung zu sehen.78 Die Rechtswirkung wird also anhand der zugrunde liegenden Verfügung bestimmt. Um 72

Vgl. Kapitel D. III. 2. a). Vgl. Kapitel D. III. 2. a). 74 Vgl. Kapitel C. IV. 75 Die Frage des Ermessens kann nicht eindeutig bewertet werden, da die Übertragung dieser Voraussetzung auf das Steuerbescheidverfahren einen Systembruch darstellt, andererseits jedoch eine erhöhte Vergleichbarkeit beider Verfahren herbeiführt. 76 Vgl. Kapitel D. I. 3. 77 Vgl. Kapitel D. III. 2. a). 78 Fritsch, in: König, AO, § 118, Rn. 22. 73

III. Wechsel der Verfahrensarten

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eine ähnliche Rechtswirkung hervorzurufen, müssen die Steuerverwaltungsakte Regelungen enthalten, die ähnliche Ergebnisse in der Außenwelt herbeiführen. In den vorliegenden Konstellationen wird der Entrichtungsschuldner über § 167 Abs. 1 S. 1 AO als Haftungsschuldner für die materielle Haftungsschuld in Anspruch genommen.79 Die in Nachforderungs- und Haftungsbescheid enthaltene Regelung führt effektiv zu dem gleichen Ergebnis. Der Steuerpflichtige muss für eine bestimmte Haftungsschuld einstehen. Die Rechtswirkungen sind hierbei identisch. Ein fehlerhafter Nachforderungsbescheid kann demnach bei Personenidentität zwischen Entrichtungs- und Haftungsschuldnerin einen Haftungsbescheid umgedeutet werden.80 c) Zulässigkeit der Umdeutung eines Haftungs- in einen Nachforderungsbescheid Die Umdeutung eines Haftungs- in einen Nachforderungsbescheid wird in der Literatur als unzulässig erachtet.81 Die von den Autoren zitierte Rechtsprechung bezieht sich lediglich auf Urteile, die zur Umdeutung eines Steuer- in einen Haftungsbescheid Stellung nehmen.82 Dem umgekehrten Weg kann § 128 Abs. 3 AO nicht entgegenstehen, weil keine gebundene Entscheidung in eine Ermessensentscheidung umgedeutet werden soll. Die Zielgleichheit ist mit derselben Begründung wie für die Umdeutung eines Nachforderungs- in einen Haftungsbescheid zu bejahen.83 Eine Umdeutung eines fehlerhaften Haftungs- in einen Nachforderungsbescheid ist demnach unter den Voraussetzungen des § 128 AO möglich.

79

Vgl. Kapitel B. II. 3. c). Die Ausführungen zur Umdeutung beschränken sich nur auf die hiesig betrachteten Haftungstatbestände und stellen keine allgemeingültige Aussage für die Umdeutungsfähigkeit zwischen Steuer- und Haftungsbescheiden dar. Dies gilt insbesondere für Konstellationen, in denen Nachforderungs- und Haftungsbescheid gegenüber verschiedenen Steuerpflichtigen ergehen müssen und demnach eine Umdeutung mit Adressatenänderung erfolgen soll. Solche Fallkonstellationen sind hiesig nicht betrachtet worden. 81 Rüsken, in: Klein, AO, § 191, Rn. 66; Gehm, in: Schwarz / Pahlke, AO, § 191, Rn. 25a; Loose, in: Tipke / Kruse, AO, § 191, Rn. 110; Boeker, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 191, Rn. 95; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 47, Rn. 36: zu § 47 VwVfG. 82 OVG Münster, Beschluss vom 08. 08. 2018 – 14 B 610/18, NVwZ-RR 2018, 901, 902; BFH, Urteil vom 18. 07. 1991 – V R 72/87, BStBl. II 1991, 781, 781; m. w. N. 83 Vgl. Kapitel D. III. 2. b) cc). 80

E. Überlegungen de lege ferenda Um die identifizierten Defizite im steuerrechtlichen Haftungssystem bei Vorliegen einer Fremdentrichtungsschuldnerschaft zu lösen, bedarf es einer Reformierung der dem Verfahrensdualismus zu Grunde liegenden Normen. Hierzu kommen verschiedene Möglichkeiten zur Änderung der einschlägigen Normen in Betracht, die im Folgenden untersucht werden. Es werden hierbei Änderungen der Abgabenordnung betrachtet, da eine umfassende Lösung des Verfahrensdualismus angestrebt wird, die einheitlich für alle Steuerarten gelten soll. Es wäre auch möglich, den Verfahrensdualismus nach dem Vorbild des Versicherungsteuergesetzes im jeweiligen Spezialsteuergesetz zu regeln. Von einer Änderung der Einzelsteuergesetze soll jedoch aus Gründen der umfassenden Problemlösung im Mantelverfahrensgesetz abgesehen werden.

I. Konkrete Änderungsvorschläge zum Verfahrensdualismus Im Folgenden werden vier Reformvorschläge unterbreitet und ihre Vor- und Nachteile aufgezeigt.

1. Variante – Wahlrecht mit vollwertiger Steuerschuld a) Berichtigung des § 167 Abs. 1 S. 1 AO Da eine Anmeldung einer Haftungsschuld nicht existiert, bedarf es einer Korrektur des Wortlauts des § 167 Abs. 1 S. 1 AO. Anstelle des Haftungsschuldners ist der Entrichtungsschuldner in den Wortlaut aufzunehmen. Es wird daher folgende Änderung des § 167 Abs. 1 S. 1 AO vorgeschlagen: „Ist eine Steuer auf Grund gesetzlicher Verpflichtung anzumelden (§ 150 Abs. 1 Satz 3), so ist eine Festsetzung der Steuer nach § 155 nur erforderlich, wenn die Festsetzung zu einer abweichenden Steuer führt oder der Steuerentrichtungsschuldner die Steueranmeldung nicht abgibt.“

Hierbei wird auch die Tatbestandsvariante der Nichtangabe der Steueranmeldung durch den Steuerschuldner eliminiert. Denn der Begriff des Steuerentrichtungsschuldners umfasst zum einen den Steuerschuldner, der als Eigenentrichtungsschuldner selbst verpflichtet ist, eine Steueranmeldung abzugeben und denjenigen, der als Fremdentrichtungsschuldner eine Steueranmeldung für eine fremde Steuerschuld abzugeben hat.

I. Konkrete Änderungsvorschläge zum Verfahrensdualismus

261

Auf diesem Wege wird das Problem gelöst, dass im Tatbestand eine zur Abgabe einer Steueranmeldung verpflichtete Person benannt wird, die eine solche mangels gesetzlicher Verpflichtung nicht abgeben muss. b) Wahlrechte in der AO Eine Möglichkeit wäre, das derzeit schon praktizierte Wahlrecht der Finanzverwaltung zu kodifizieren. Dies könnte zum einen im Rahmen der Einzelsteuergesetze bei den jeweils einschlägigen Haftungsnormen erfolgen. Wünschenswerter wäre jedoch eine Änderung der AO, die bezwecken würde, dass ein solches Wahlrecht auch automatisch für ggf. künftig eingeführte Entrichtungsschuldnerschaften mit Steueranmeldeverpflichtung Anwendung findet, auch wenn diesbezüglich eine ausdrückliche Kodifizierung unterbleiben sollte. Die Kodifizierung eines solchen Wahlrechts würde Probleme in Bezug auf das Vorliegen einer ausreichend bestimmten Ermächtigungsgrundlage für den Erlass eines Nachforderungsbescheids lösen. § 167 AO wäre um folgenden Absatz 3 zu ergänzen: „Haftet ein anmeldungsverpflichteter Entrichtungsschuldner für die ordnungsgemäße Einbehaltung und Abführung der Steuer, so kann er mittels Steuerbescheids nach Absatz 1 Satz 1 oder mittels Haftungsbescheids in Anspruch genommen werden.“

Eine solche Regelung würde die derzeitige Praxis in kodifiziertes Recht umwandeln und für Rechtsklarheit sorgen. Nunmehr bestünde ein ungebundenes Wahlrecht der Finanzverwaltung, den Haftungsschuldner im Wege des Nachforderungs- oder des Haftungsbescheids in Anspruch zu nehmen. Offen blieben jedoch die diesbezüglichen verfahrensrechtlichen Fragen sowie eine Klärung, unter welchen materiellen Voraussetzungen der Erlass des Nachforderungsbescheids zulässig wäre. Die vorgeschlagene Regelung vermag demnach um weitere Regelungen ergänzt werden. c) Klarstellung der Rechtsnatur der Entrichtungsschuld Es käme die Kodifizierung von Regelungen zur Rechtsnatur der Entrichtungsschuld in der AO in Betracht.1 Dies könnte neben der Kodifizierung des in Kapitel E. I. 1 erwähnten Wahlrechts erfolgen. Hierbei drängt sich die Umwandlung der Steuerentrichtungspflicht in eine volle Steuerschuld2 auf. Eine solche Kodifizierung ist bei der Versicherungsteuer3 gewählt worden.

1

Drüen, in: DStR-Beih 2012, 85, 90. Heuermann, in: FR 2013, 354, 357. 3 Heuermann, in: FR 2013, 354, 357. 2

262

E. Überlegungen de lege ferenda 

§ 167 AO müsste hierfür in dem zuvor vorgeschlagenen Absatz 3 zusätzlich folgende Regelung enthalten: „Die Steuerentrichtungsschuld steht einer Steuerschuld gleich. Haftet ein anmeldungsverpflichteter Entrichtungsschuldner für die ordnungsgemäße Einbehaltung und Abführung der Steuer, so kann er mittels Steuerbescheids nach Absatz 1 Satz 1 oder mittels Haftungsbescheids in Anspruch genommen werden.“

§ 37 Abs. 1 AO müsste zusätzlich wie folgt geändert werden: „Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis sind der Steueranspruch, der Steuervergütungsanspruch, der Haftungsanspruch, der Steuerentrichtungsanspruch, der Anspruch auf eine steuerliche Nebenleistung, der Erstattungsanspruch nach Absatz 2 sowie die in Einzelsteuergesetzen geregelten Steuererstattungsansprüche.“

Daneben wäre eine Ergänzung der Überschrift des § 43 AO empfehlenswert, der in Satz 2 die Legaldefinition des Steuerentrichtungsschuldners in der Abgabenordnung enthält: „§ 43 Steuerschuldner, Steuervergütungsgläubiger,  Steuerentrichtungsschuldner“

Die Klarstellung der Rechtsnatur der Steuerentrichtungsschuld würde dazu führen, dass diese nunmehr eine vollwertige Steuerschuld darstellen würde, die selbst ohne die vorgeschlagene Regelung in § 167  Abs. 3 S. 2 AO n. F. mittels Steuer­ bescheids festgesetzt werde könnte. Dies würde zu einem konsistenten und widerspruchsfreien System der Steuerentrichtungsschuld führen. Der Anspruch auf Entrichtung der Steuerschuld soll nach derzeitiger Gesetzeslage in der AO kein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis nach § 37 Abs. 1 AO sein, sodass dem Steuerschuldner als Adressat einer Festsetzung nur der Haftungsschuldner entsprechen soll.4 Nunmehr wäre die Steuerentrichtungsschuld ein vollwertiger Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis. Dies würde dazu führen, dass die derzeitige Unklarheit über die Behandlung und Einordnung der Steuerentrichtungsschuld beseitigt werden würde. Ferner würde auch die Abgrenzung zwischen Steuerentrichtungs- und Haftungsschuld erleichtert werden. Die Steuerentrichtungsschuld wäre ein vollwertiger Primäranspruch gegen den Steuerentrichtungsschuldner. Die Haftungsschuld hingegen würde nur noch auf Sekundärebene gegen die Haftungsschuldner geltend gemacht werden und nicht mehr über Umwege in Form eines Steuerbescheids geltend gemacht werden.

4

Heuermann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO, § 167, Rn.  5.

I. Konkrete Änderungsvorschläge zum Verfahrensdualismus

263

d) Voraussetzungen der Inanspruchnahme In der vorliegend betrachteten Regelungsvariante sollte neben der Klarstellung des Wahlrechts und der Rechtsnatur der Steuerentrichtungsschuld eine Kodifizierung erfolgen, unter welchen Voraussetzungen die Inanspruchnahme des Steuerentrichtungsschuldners im Wege des Steuerbescheids möglich ist. Da vorliegend die Steuerentrichtungsschuld als von der Haftungsschuld ausdrücklich differenzierte und vollwertige Steuerschuld qualifiziert wird, sollten die Voraussetzungen für den Erlass des Nachforderungsbescheids auch losgelöst von den Voraussetzungen der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners geregelt werden. Es sollten folgende Voraussetzungen der Inanspruchnahme in § 167 Abs. 3 AO n. F. ergänzt werden: „Die Steuerentrichtungsschuld steht einer Steuerschuld gleich. Haftet ein anmeldungsverpflichteter Entrichtungsschuldner für die ordnungsgemäße Einbehaltung und Abführung der Steuer, so kann er mittels Steuerbescheids nach Absatz 1 Satz 1 oder mittels Haftungs­ bescheids in Anspruch genommen werden. Bei der Inanspruchnahme mittels Steuerbescheids muss die Festsetzung der Entrichtungsschuld erfolgen, wenn der Entrichtungsschuldner die Steuer nicht oder nicht ordnungsgemäß angemeldet und abgeführt hat.“

Zum einen enthält diese Regelung die Angabe der für die Inanspruchnahme notwendigen materiellen Voraussetzungen. Zum anderen stellt sie klar, dass der Erlass eines Nachforderungsbescheids in Form eines Steuerbescheides eine gebundene Entscheidung darstellt und der Finanzverwaltung hierbei kein Ermessen zukommt. Somit wird wieder zu der klaren Trennung zwischen Steuer- und Haftungsbescheid zurückgekehrt und es findet keine Vermengung der hierfür jeweils einzuhaltenden Verfahrensvorschriften mehr statt. Insbesondere wird nicht mehr gefordert, dass der Nachforderungsbescheid als Steuerbescheid im Wege einer Ermessensentscheidung ergehen soll.

e) Gesamtschuldnerregress Die dargestellte Änderung des § 167 Abs. 1 S. 1 AO würde im Gegensatz zur aktuellen Rechtslage eine erhebliche Verbesserung und insbesondere mehr Rechtssicherheit herbeiführen. Andererseits weist der Änderungsvorschlag auch erhebliche Defizite auf. So stellt sich die grundlegende Frage, ob es wünschenswert und verfassungsrechtlich unbedenklich ist, die Steuerentrichtungsschuld zu einem vollwertigen Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis zu erheben. Hierbei wird effektiv eine auf Sekundärebene unter Bindung an die Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens der Finanzverwaltung stehende Haftungsinanspruchnahme auf die Primärebene des Fremdentrichtungsschuldners verlagert. Nunmehr steht nicht nur der Steuerschuldner, sondern auch der Entrichtungsschuldner auf Primärebene für die Steuerschuld ein.

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E. Überlegungen de lege ferenda 

Andererseits sind die Effekte, die sich hieraus für den Entrichtungsschuldner ergeben, als relativ gering anzusehen, sofern der Regelungsvorschlag um eine Regelung zum Regress oder zum Verhältnis der Entrichtungssteuerschuld zur Primärsteuerschuld ergänzt wird. So könnte § 167 Abs. 1 S. 1 AO wie folgt ergänzt werden: „Die Steuerentrichtungsschuld steht einer Steuerschuld gleich. Haftet ein anmeldungsverpflichteter Entrichtungsschuldner für die ordnungsgemäße Einbehaltung und Abführung der Steuer, so kann er mittels Steuerbescheids nach Absatz 1 Satz 1 oder mittels Haftungsbescheids in Anspruch genommen werden. Bei der Inanspruchnahme mittels Steuerbescheids muss die Festsetzung der Entrichtungsschuld erfolgen, wenn der Entrichtungsschuldner die Steuer nicht oder nicht ordnungsgemäß angemeldet und abgeführt hat. Steuerschuldner und Steuerentrichtungsschuldner sind gleichrangige Gesamtschuldner.“

Die ausdrückliche Anordnung der Gesamtschuldnerschaft führt dazu, dass der Steuerentrichtungsschuldner – wie der Haftungsschuldner – zum zivilrechtlichen Regress beim Steuerschuldner ermächtigt ist. Die Aufnahme einer subsidiären Inanspruchnahme des Steuerentrichtungsschuldners würde die Erleichterungen zur Inanspruchnahme nach § 167 AO in Masseverfahren verringern und zu einer erheblichen Verlangsamung bzw. Erschwerung der Eintreibung des Steuereinkommens führen. Dies ist nicht zweckführend und sollte unterbleiben. f) Akzessorietät So ist aus Sicht der Finanzverwaltung eine uneingeschränkte primäre Inanspruchnahme sowohl des Steuerschuldners als auch des Steuerentrichtungspflichtigen möglich. Letzterer wird jedoch durch den zivilrechtlichen Regress beim Steuerschuldner davor gesichert, effektiv zum Steuerträger erhoben zu werden. Ferner bleibt zu beachten, dass nach dieser Regelungsvariante die Bedeutung des Haftungsverfahrens für Entrichtungsschuldnertatbestände erheblich an Bedeutung verlieren würde. Nunmehr würde die Finanzverwaltung vorrangig den einfacheren Weg wählen und den Entrichtungsschuldner mittels Steuerbescheids in Anspruch nehmen. Hierfür müssten auch nicht die weiteren Voraussetzungen des § 191 AO erfüllt sein. Um etwaig hieraus erwachsende Benachteiligungen zu vermeiden sollte der neue Absatz des § 167 Abs. 3 AO n. F. um eine weitere Regelung ergänzt werden: „Die Steuerentrichtungsschuld steht einer Steuerschuld gleich. Haftet ein anmeldungsverpflichteter Entrichtungsschuldner für die ordnungsgemäße Einbehaltung und Abführung der Steuer, so kann er mittels Steuerbescheids nach Absatz 1 Satz 1 oder mittels Haftungsbescheids in Anspruch genommen werden. Bei der Inanspruchnahme mittels Steuerbescheids muss die Festsetzung der Entrichtungsschuld erfolgen, wenn der Entrichtungsschuldner die Steuer nicht oder nicht ordnungsgemäß angemeldet und abgeführt hat. Steuerschuldner und Steuerentrichtungsschuldner sind gleichrangige Gesamtschuldner. Die Entrichtungssteuerschuld des Entrichtungssteuerschuldners ist akzessorisch zur Steuerschuld des Steuerschuldners.“

I. Konkrete Änderungsvorschläge zum Verfahrensdualismus

265

Hierdurch würde erreicht werden, dass eine Inanspruchnahme des Entrichtungsschuldners im Wege des Nachforderungsbescheids nicht mehr möglich wäre, wenn der Primärsteueranspruch gegen den Steuerschuldner zeitweilen untergegangen wäre. Hierdurch würden unbillige Ergebnisse vermieden werden können. g) Einführung eines gebundenen Wahlrechts Nach dem bisherigen Regelungsvorschlag bestünde ein uneingeschränktes Wahlrecht der Finanzverwaltung auf welchem Wege sie die Haftungsschuld / Entrichtungsschuld geltend machen möchte. Vor dem Hintergrund der Lösung des Verfahrensdualismus wäre es allerdings sinnvoll, das uneingeschränkte Wahlrecht dergestalt abzuschaffen, dass die Anwendungsbereiche für beide Verfahrenswege voneinander abgegrenzt werden. Dies würde dazu führen, dass kein Verfahrensdualismus mehr bestünde. Ergebnis dieser Änderung wäre eine erhöhte Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. aa) Zeitliche Differenzierung Man könnte die beiden Anwendungsbereiche durch eine zeitliche Komponente abgrenzen. Der Natur der Haftung nach wäre diese zeitlich nach der Möglichkeit der Inanspruchnahme mittels Steuerbescheids anzusiedeln. Eine zeitliche Abgrenzung würde auch dem Fakt Rechnung tragen, dass § 167 AO der Beschleunigung des Steuerabzugsverfahrens dienen soll. Daneben liegt diese zeitliche Anordnung auf Grund der Anknüpfungspunkte der Inanspruchnahme auf der Hand. So knüpft § 167 Abs. 1 S. 1 AO an die Verletzung einer Anmeldeverpflichtung und die Haftungstatbestände an die Verletzung einer Abführungsverpflichtung an. Die Anmeldung führt erst zur inhaltlichen Ausfüllung der Abführungsverpflichtung und ist dieser somit inhaltlich vorgelagert. Der zeitliche Differenzierungspunkt könnte der Beginn der Verzinsung nach § 233a AO sein. Ab diesem Zeitpunkt werden typisierend objektive Zins- und Liquiditätsvorteile des Steuerpflichtigen durch die Verzinsung ausgeglichen.5 Ab diesem Zeitpunkt erhält die Nichtentrichtung der fälligen Steuerschuld eine andere Qualität. So ist die Entrichtung von nun an derart verzögert, dass dies nicht mehr ohne Verzinsung hingenommen werden kann. Die gewandelte Qualität der Nichtentrichtung könnte man als Ansatzpunkt für den Beginn der Inanspruchnahme im Wege des Haftungsbescheids wählen. Die erhöhten Inanspruchnahmevoraussetzungen auf der einen Seite wären mit der Verzinsung auf der anderen Seite ausgeglichen. Jedoch erscheint es fragwürdig, warum der bis zur Verzinsung nicht entrichtende Steuerentrichtungsschuldner in Bezug auf die Inanspruchnahme­ 5

Rüsken, in: Klein, AO, § 233a, Rn. 2.

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E. Überlegungen de lege ferenda 

voraussetzungen schlechter als derjenige gestellt werden sollte, der die Steuer über diesen Zeitpunkt hinaus nicht entrichtet. Der Pflichtverstoß ist im letzteren Fall größer, sodass nach diesem Zeitpunkt grundsätzlich eine erleichterte Inanspruchnahme plausibel wäre. Hiergegen lässt sich jedoch damit argumentieren, dass ab dem Verzinsungszeitpunkt kein Interesse des Fiskus zur Verfahrensbeschleunigung nach § 167 Abs. 1 S. 1 AO mehr besteht, da die Entrichtung der Steuer nunmehr erheblich verzögert ist und deswegen ab diesem Zeitpunkt die erleichterte Inanspruchnahme im Wege des Nachforderungsbescheids nicht mehr aus verfahrensökonomischen Gründen gerechtfertigt werden kann. bb) Differenzierung nach der Art der Pflichtverletzung In Betracht kommt eine Abgrenzung der Verfahrensarten nach der Art der Pflichtverletzung. So könnte man § 167 Abs. 1 S. 1 AO für anwendbar erklären, wenn der Steuerentrichtungsschuldner keine bzw. eine fehlerhafte Steueranmeldung abgibt. Das Haftungsverfahren könnte greifen, wenn die Steuer nicht abführt wird. Da beide Pflichtverletzungen in der Regel gemeinsam auftreten, müsste zusätzlich entschieden werden, welche der beiden Pflichtverletzungen in Bezug auf den Anwendungsbereich Vorrang hat. Hierbei könnte man regeln, dass die Nichtabführung der Steuer die Nichtanmeldung konsumiert und dem Haftungsverfahren den Vorrang geben. Dies macht vor dem Hintergrund Sinn, dass die Nichtabführung aus Sicht des Fiskus die schwerere Pflichtverletzung ist, da diese zum Steueraufkommensausfall führt. Hierbei würde für beide Verfahrenswege an die sie betreffende Pflichtverletzung angeknüpft. Im Ergebnis wäre für den Erlass des Nachforderungsbescheids jedoch kein Raum. In den theoretischen Fällen, in denen eine fehlerhafte / unterbliebene Anmeldung der Steuer vorliegt, diese jedoch ordnungsgemäß abgeführt wird, wäre nach dieser Regelung das Nachforderungsverfahren anwendbar. Ein Nachforderungsbescheid dürfte jedoch mangels noch bestehender Primärsteuerlast nicht mehr ergeben, da diese durch die ordnungsgemäße Abführung erloschen wäre. Diese Variante würde demnach nicht dazu führen, den Verfahrensdualismus durch Abgrenzung der Anwendungsbereiche aufzulösen. Es würde vielmehr faktisch dem einen Verfahrenswege eine Absage erteilt. Dies sollte aus Gründen der Rechtsklarheit nur in ausdrücklicher Form und nicht durch faktische Auswirkungen herbeigeführt werden. Die Differenzierung nach der Art der Pflichtverletzung ist demnach nicht als zielführend anzusehen.

I. Konkrete Änderungsvorschläge zum Verfahrensdualismus

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cc) Differenzierung zwischen Nichtanmeldung und fehlerhafter Anmeldung Ein weiterer Aufteilungsansatz wäre, § 167 Abs. 1 S. 1 AO nur für die fehlerhafte Steueranmeldung für anwendbar zu erklären und bei Nichtabgabe das Haftungsverfahren nutzen. Die gesetzliche Verpflichtung zur Abgabe einer Steueranmeldung ist Ansatzpunkt für § 167 AO. Durch diese Abgrenzung würde jedoch derjenige Steuerentrichtungsschuldner bevorzugt, der gar keine Steueranmeldung abgibt. Die Nichtabgabe einer Steueranmeldung wiegt jedoch schwerer als die Abgabe einer fehlerhaften Steueranmeldung. Eine solche Differenzierung wäre untauglich. dd) Verschuldenserfordernis Man könnte die Anwendungsbereiche auch durch die Einführung eines allgemeinen Verschuldenserfordernisses für die Inanspruchnahme im Wege des Haftungsbescheids abgrenzen. Dies würde jedoch zum einen der Wertung widersprechen, dass die Haftungstatbestände selbst nur teilweise Verschuldenserfordernisse vorsehen. Darüber hinaus wäre diese Differenzierung nicht sinnvoll, weil der Entrichtungsschuldner, der unverschuldet die Steuer nicht anmeldet und abführt, schlechter gestellt wäre als derjenige, der mit Verschulden handelt. Denn in letzterem Fall würden die höheren Anforderungen des Haftungsverfahrens eingreifen. Eine spiegelbildlich umgekehrte Regelung wäre wiederum nicht sinnvoll, weil im beschleunigten Steueranmeldungsverfahren nicht vom Finanzamt erwartet werden kann, die Voraussetzungen des Verschuldens zu prüfen. Darüber hinaus erfordern einige Haftungstatbestände Verschulden, sodass weiterhin ein ungelöster Verfahrensdualismus entstünde. Die Differenzierung nach dem Verschulden würde demnach entweder dazu führen, dass bei entsprechender Kodifizierung nur noch das Nachforderungsverfahren Anwendung finden dürfte, weil dies ohne Verschuldenserfordernis möglich wäre. Oder es läge weiterhin ein ungelöster Verfahrensdualismus vor, insofern sowohl der Nachforderungsbescheid als auch bei entsprechender spezialsteuergesetzlicher Regelung der Haftungsbescheid an ein Verschuldenserfordernis geknüpft wären. ee) Differenzierung nach der Höhe der Haftungsschuld Weiterer Ansatzpunkt für die Abgrenzung der Verfahren könnte die Höhe der ausstehenden Entrichtungsschuld sein. Hierbei käme sowohl ein absoluter als auch ein relativer Abgrenzungsbetrag im Verhältnis des jährlichen Gesamtanmeldungsvolumens des Steuerentrichtungsschuldners zur konkret ausstehenden Entrichtungsschuld in Betracht. § 167 Abs. 1 S. 1 AO wäre für kleinere Beträge unterhalb der festgelegten Schwellen anwendbar. Bei kleineren Beträgen, insbesondere bei Statuierung einer relativen Schwelle, ist der Eingriff beim Steuerentrichtungsschuldner durch die Inanspruchnahme geringer als bei höheren Beträgen. Aus die-

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E. Überlegungen de lege ferenda 

sem Grund könnte hierfür eine erleichterte Inanspruchnahme mittels Nachforderungsbescheids erfolgen, wohingegen bei größeren Beträgen mit effektiv höherer Eingriffsbelastung das Haftungsverfahren Anwendung finden würde. Dies würde auch dem Gedanken Rechnung tragen, dass § 167 Abs. 1 S. 1 AO eine Vorschrift zur Beschleunigung von Masseverfahren ist. Diese Differenzierung erscheint selbst bei relativer Ausgestaltung fragwürdig. Von der Höhe der Inanspruchnahme auf den zu bestreitenden Verfahrensweg zu schließen, vermag in Bezug auf dieselbe Ebene der Inanspruchnahme noch unproblematisch zu sein. Dies lässt sich jedoch nicht auf die Abgrenzung zwischen Nachforderungs- und Haftungsverfahren übertragen. Allein die Höhe der Haftungsschuld kann nicht erst dazu führen, dass jemand als Haftungsschuldner qualifiziert. Hierbei würden Ebenen der Quantität und Qualität in untragbarer Weise vermischt. ff) Ergebnis Vorzugswürdig erscheint der zeitliche Differenzierungsansatz. Der Rückgriff auf den Verzinsungsbeginn für die Abgrenzung zwischen Nachforderungs- und Haftungsverfahren würde zu einer klaren Regelung führen, die mit dem Wegfall der verfahrensökonomischen Gründe für den Erlass eines Nachforderungsbescheids gut begründet werden kann. Im Ergebnis führt die zeitliche Aufteilung der Anwendungsbereiche dazu, dass der Finanzverwaltung kein echtes Wahlrecht mehr zukommt. Vielmehr erfolgt eine echte Aufsplittung der Anwendungsbereiche für Nachforderungs- und Haftungsverfahren. Die Verbindung der Anwendungsvarianten in § 167 Abs. 3 S. 2 AO n. F. durch „oder“ verbleibt jedoch notwendig, da so geregelt wird, dass nicht beide Bescheide nebeneinander erlassen werden dürfen. Da nach der Kodifizierung der Rechtsnatur der Steuerentrichtungsschuld die Beurteilung der Bestandskraft von Nachforderungs- und Haftungsbescheid abweichen wird, ist diese Klarstellung wünschenswert. So kann verhindert werden, dass sich die Finanzverwaltung zunächst des Nachforderungsbescheides bedient und nach dem Beginn des Zinslaufs auch noch einen Haftungsbescheid erlässt. Folge der vorgeschlagenen Kodifizierung wäre, dass der Sachverhalt, der der Inanspruchnahme mittels Nachforderungs- und Haftungsbescheids zugrunde liegt, auf Grund des eingefügten zeitlichen Elements nicht mehr identisch wäre. In der Folge könnte auch die Bestandskraft des Nachforderungsbescheids dem Erlass eines späteren Haftungsbescheids nicht mehr entgegenstehen. Darüber hinaus würde die Verselbstständigung der Steuerentrichtungsschuld auch dazu führen, dass diese materiell nicht mehr identisch mit der Haftungsschuld ist. § 167 Abs. 3 AO n. F. wäre demnach wie folgt zu ergänzen: „Die Steuerentrichtungsschuld steht einer Steuerschuld gleich. Haftet ein anmeldungsverpflichteter Entrichtungsschuldner für die ordnungsgemäße Einbehaltung und Abführung der Steuer, so kann er mittels Steuerbescheids nach Absatz 1 Satz 1 bis zum Beginn des

I. Konkrete Änderungsvorschläge zum Verfahrensdualismus

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Zinslaufes nach § 233a Abs. 2 S. 1 AO oder ab diesem Zeitpunkt mittels Haftungsbescheids in Anspruch genommen werden. Bei der Inanspruchnahme mittels Steuerbescheids muss die Festsetzung der Entrichtungsschuld erfolgen, wenn der Entrichtungsschuldner die Steuer nicht oder nicht ordnungsgemäß angemeldet und abgeführt hat. Steuerschuldner und Steuer­ entrichtungsschuldner sind gleichrangige Gesamtschuldner. Die Entrichtungssteuerschuld des Entrichtungssteuerschuldners ist akzessorisch zur Steuerschuld des Steuerschuldners.“

Um die Konsistenz der Änderung des § 167 AO im Gesamtsystem der Abgabenordnung sicherzustellen, muss daneben eine Ergänzung des Wortlauts des § 37 Abs. 1 AO erfolgen: § 37 Abs. 1 AO wird wie folgt geändert: „Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis sind der Steueranspruch, der Steuervergütungsanspruch, der Haftungsanspruch, der Steuerentrichtungsanspruch, der Anspruch auf eine steuerliche Nebenleistung, der Erstattungsanspruch nach Absatz 2 sowie die in Einzelsteuergesetzen geregelten Steuererstattungsansprüche.“

2. Variante – Verzicht auf Haftungsnormen Ein weiteres System zur Auflösung des derzeit bestehenden Verfahrensdualismus wäre der Verzicht auf Haftungsnormen für die Fälle der Fremdentrichtungsschuldnerschaft.6 Dies würde dazu führen, dass die derzeit im Wege des Haftungs­ verfahren geltend gemachte Inanspruchnahme des Entrichtungsschuldners auf das Nachforderungsverfahren verlagert werden würden. Eine solche Änderung würde zu einer erheblichen Umstellung des steuerverfahrensrechtlichen Systems der Abgabenordnung führen. Das Haftungsverfahren würde in seiner Bedeutung eingeschränkt werden, wohingegen die Inanspruchnahme des Entrichtungsschuldners vollständig auf das Steuerfestsetzungsverfahren verschoben werden würde. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass § 191 AO einige Ausnahmen und Beschränkungen vorsieht, in denen der Haftungsschuldner nicht in Anspruch genommen werden darf. Solche Beschränkungen würden für die Inanspruchnahme des Entrichtungsschuldners keine Anwendung finden. Sofern eine akzessorische Verknüpfung zwischen Primärsteuerschuld des Steuerschuldners und der Steuerentrichtungsschuld des Steuerentrichtungsschuldners stattfinden würde, wäre der Verzicht auf die im Haftungsverfahren zum Schutz des Haftungsschuldners anwendbaren Vorschriften für den Entrichtungsschuldner nur von geringer Bedeutung. Ein erheblicher Unterschied würde jedoch darin bestehen, dass der Erlass eines Steuerbescheids im Gegensatz zum Haftungsbescheid nicht im Ermessen der Finanzverwaltung steht. Sofern auf die Haftungsnormen für die Steuerentrichtungskonstellationen verzichtet werden würden, sollten trotzdem Regelungen zur Steuerentrichtungsschuld 6

Heuermann, in: FR 2013, 354, 357.

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E. Überlegungen de lege ferenda 

in § 167 Abs. 3 AO n. F. aufgenommen werden. Hierbei wäre die Erhebung der Steuerentrichtungsschuld zu einer vollwertigen Steuerschuld nach hier vertretener Ansicht nicht optionaler, sondern fakultativer Natur. § 167 Abs. 3 AO n. F. wäre demnach wie folgt zu ergänzen: „Die Steuerentrichtungsschuld steht einer Steuerschuld gleich. Steuerschuldner und Steuerentrichtungsschuldner sind gleichrangige Gesamtschuldner. Die Entrichtungssteuerschuld des Entrichtungssteuerschuldners ist akzessorisch zur Steuerschuld des Steuerschuldners.“

Um die Konsistenz der Änderung des § 167 AO im Gesamtsystem der Abgabenordnung sicherzustellen, muss auch für diese Variante eine Ergänzung des Wortlauts des § 37 Abs. 1 AO erfolgen: § 37 Abs. 1 AO wird wie folgt geändert: „Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis sind der Steueranspruch, der Steuervergütungsanspruch, der Haftungsanspruch, der Steuerentrichtungsanspruch, der Anspruch auf eine steuerliche Nebenleistung, der Erstattungsanspruch nach Absatz 2 sowie die in Einzelsteuergesetzen geregelten Steuererstattungsansprüche.“

Für diese Fälle der Fremdentrichtungsschuldnerschaft würde ausschließlich das Nachforderungsverfahren Anwendung finden und keine Haftungsschuldnerschaft des Entrichtungsschuldners mehr bestehen. Das Problem des Verfahrensdualismus wäre hierdurch zu Gunsten des Nachforderungsverfahrens gelöst. Bei Auseinanderfallen von Steuerentrichtungs- und Haftungsschuldner, wie dies im Versicherungsteuergesetz der Fall ist, führt dieser Lösungsansatz jedoch dazu, dass der Finanzverwaltung ein Steuerpflichtiger genommen wird, den sie nach derzeitigen Gesetzeslage für die Primärsteuerschuld in Anspruch nehmen kann. Dies erscheint nicht gerechtfertigt und unerwünscht, da die den Steuerentrichtungstatbeständen zugrunde liegenden Sachverhalte besondere und ggf. auch mehrfache Sicherungen der Steuerschuld erforderlich machen. Diese Änderungsvariante ist demnach nicht empfehlenswert.

3. Variante – Kein Nachforderungsbescheid bei Fremdentrichtungsschuldnerschaft Eine weitere Möglichkeit wäre, die Fälle der Fremdentrichtungsschuldnerschaft aus dem Anwendungsbereich des § 167 Abs. 1 S. 1 AO herauszunehmen. Eine Geltendmachung der materiellen Haftungsschuld wäre nur noch im Wege des Haftungsverfahrens möglich. Hierbei wäre § 167 Abs. 1 S. 1 AO – nach hier vertretener Ansicht nur klarstellend – wie folgt zu ändern: „Ist eine Steuer auf Grund gesetzlicher Verpflichtung vom Steuerschuldner anzumelden (§ 150 Abs. 1 Satz 3), so ist eine Festsetzung der Steuer nach § 155 nur erforderlich, wenn

I. Konkrete Änderungsvorschläge zum Verfahrensdualismus

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die Festsetzung zu einer abweichenden Steuer führt oder der Steuerschuldner die Steueranmeldung nicht abgibt.“

Durch die Aufnahme der Angabe, dass der Steuerschuldner selbst gesetzlich verpflichtet sein muss, die Steueranmeldung abzugeben, würden Fremdentrichtungsschuldnerschaften ausdrücklich aus dem Anwendungsbereich der Norm ausgenommen. Dieser Lösungsansatz würde jedoch die Inanspruchnahmemöglichkeiten der Finanzverwaltung erheblich beschränken. § 167 Abs. 1 S. 1 AO soll gerade in Masseverfahren wie den hiesig betrachteten Steuerabzugsverfahren mit Fremdentrichtungsschuldnerschaft zu einer Verfahrensvereinfachung führen. Diese Verfahrensvereinfachung würde der Finanzverwaltung nunmehr genommen. Diese wäre bei Nichtabgabe oder fehlerhafte Abgabe einer Steueranmeldung durch einen Fremdentrichtungsschuldner darauf beschränkt, diesen nach Anhörung im Wege des Haftungsverfahrens in Anspruch zu nehmen. Darüber hinaus würde diese Entschleunigung zu einer Verzögerung der Erhebung der Steuer führen. Dies würde eine Liquiditätseinbuße beim Fiskus hervorrufen. Die Lösungsvariante ist demnach aus verfahrensökonomischer Sicht nicht empfehlenswert.

4. Variante – Weitere Annäherung des Haftungs- an das Steuerbescheidverfahren Zur Beseitigung der durch den Verfahrensdualismus entstehenden Ungleichbehandlungen auf Grundlage der Verfahrenswahl der Finanzverwaltung könnte das Haftungsverfahren in Bezug auf seine Voraussetzungen weiter solchen für den Erlass eines Steuerbescheids angeglichen werden. Hiergegen sprechen zunächst zwei gewichtige Argumente: Zum einen ist die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners auf Sekundärebene nicht dasselbe wie die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners für eine fremde Steuerlast auf Sekundärebene. Aus diesem Grund wurden Steuerbescheidsund Haftungsverfahren in der Abgabenordnung 1977 voneinander getrennt. Es wäre rückschrittig, diese Trennung nunmehr durch die Angleichung der Voraussetzungen ins Leere laufen zu lassen. Zum anderen würden die erleichterten Voraussetzungen zur Haftungsinanspruchnahme nicht nur für die vorliegend betrachteten Fallkonstellationen mit Entrichtungsschuldnerschaft Anwendung finden. Vielmehr wären hiervon auch andere Haftungstatbestände betroffen. Dem stehen verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber. So bedarf die Inanspruchnahme eines Dritten für eine fremde Steuerlast einer besonderen Rechtfertigung. Diese wird durch die derzeitigen strengeren Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners mittels Haftungsbescheids sichergestellt. Bei Angleichung der Voraussetzungen hingegen wäre der Haftungsschuldner wie der Primärschuldner betroffen. Dies dürfte im Lichte des Art. 3 Abs. 1 GG zu einer Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem führen.

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E. Überlegungen de lege ferenda 

Aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung würde auch die spiegelbildliche Annäherung des Nachforderungs- an das Haftungsverfahren nicht zweckdienlich sein. Das Nachforderungsverfahren würde hierbei verlangsamt und die verfahrensökonomischen Vorteile minimiert. Darüber hinaus würde eine Abgrenzung der Anwendungsbereiche durch die Annäherung noch weiter erschwert. Die Annäherung von Haftungs- und Nachforderungsverfahren ist demnach nicht empfehlenswert.

II. Änderung des § 191 Abs. 1 S. 1 AO – steuerliche Nebenleistungen Neben der Lösung des Problems des Verfahrensdualismus wäre auch eine Änderung des § 191 Abs. 1 S. 1 AO in Bezug auf die ausdrückliche Ausdehnung auf steuerliche Nebenleistungen wünschenswert. Um eine Haftung für steuerliche Nebenleistungen von der Verfahrensnorm zu erfassen, sollte eine klarstellende Wortlautänderung erfolgen. Der Wortlaut sollte von der „Haftung für eine Steuer“ zu „Haftung für Ansprüche aus einem Steuerschuldverhältnis“ geändert werden. Eine Wortlautänderung des § 191 Abs. 1 S. 1 AO in der folgenden Form wäre wünschenswert: „Wer kraft Gesetzes für Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis haftet (Haftungsschuldner), kann durch Haftungsbescheid, wer kraft Gesetzes verpflichtet ist, die Vollstreckung zu dulden, kann durch Duldungsbescheid in Anspruch genommen werden.“

Damit wären de lege ferenda alle in § 37 AO aufgezählten Ansprüche von der verfahrensrechtlichen Haftungsvorschrift erfasst. Insbesondere wäre durch Verweis auf § 37 Abs. 1 AO ausdrücklich der Anspruch auf steuerliche Nebenleistungen erfasst. Würde man in § 191 Abs. 1 S. 1 AO auf das Steuerschuldverhältnis anstelle des Steuerbegriffs Bezug nehmen, so würde für die Legaldefinition der erfassten materiellen Lasten nicht mehr § 3 AO, sondern § 37 Abs. 1 AO einschlägig sein. Die derzeit bestehenden Ungereimtheiten in Bezug auf den Wortlaut des § 191 Abs. 1 S. 1 AO zur Legaldefinition der Steuer in § 3 Abs. 1 AO könnten hierdurch vermieden werden. Dies entspricht dem Gedanken, dass eine in einem Gesetz befindliche Legaldefinition für alle Normen desselben gelten soll. Andersfalls würde die Funktion einer Legaldefinition leerlaufen7 oder zumindest erheblich an Bedeutung verlieren.

7

Vgl. Kapitel A. II. 3. a) aa).

III. Reformvorschlag

273

III. Reformvorschlag Es gibt verschiedene Wege, um die Problematik des Verfahrensdualismus zwischen Nachforderungs- und Haftungsverfahren für die Inanspruchnahme auf eine materielle Haftungsschuld bei Fremdentrichtungsschuldnerschaft zu lösen. Bei Untersuchung der vorgeschlagenen Lösungsmodelle hat sich folgende Änderung des § 167 AO als vorzugswürdig herausgestellt: § 167 Abs. 1 S. 1 AO wird wie folgt geändert: „Ist eine Steuer auf Grund gesetzlicher Verpflichtung anzumelden (§ 150 Abs. 1 Satz 3), so ist eine Festsetzung der Steuer nach § 155 nur erforderlich, wenn die Festsetzung zu einer abweichenden Steuer führt oder der Entrichtungsschuldner die Steueranmeldung nicht abgibt.“

§ 167 AO wird um folgenden Absatz 3 ergänzt: „Die Steuerentrichtungsschuld steht einer Steuerschuld gleich. Haftet ein anmeldungsverpflichteter Entrichtungsschuldner für die ordnungsgemäße Einbehaltung und Abführung der Steuer, so kann er mittels Steuerbescheids nach Absatz 1 Satz 1 bis zum Beginn des Zinslaufes nach § 233a Abs. 2 S. 1 AO oder ab diesem Zeitpunkt mittels Haftungsbescheids in Anspruch genommen werden. Bei der Inanspruchnahme mittels Steuerbescheids muss die Festsetzung der Entrichtungsschuld erfolgen, wenn der Entrichtungsschuldner die Steuer nicht oder nicht ordnungsgemäß angemeldet und abgeführt hat. Steuerschuldner und Steuerentrichtungsschuldner sind gleichrangige Gesamtschuldner. Die Entrichtungssteuerschuld des Entrichtungssteuerschuldner ist akzessorisch zur Steuerschuld des Steuerschuldners.“

Um die Konsistenz der Änderungen des § 167 AO im Gesamtsystem der Abgabenordnung sicherzustellen, muss daneben eine Ergänzung des Wortlauts des § 37 Abs. 1 AO erfolgen: § 37 Abs. 1 AO wird wie folgt geändert: „Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis sind der Steueranspruch, der Steuervergütungsanspruch, der Haftungsanspruch, der Steuerentrichtungsanspruch, der Anspruch auf eine steuerliche Nebenleistung, der Erstattungsanspruch nach Absatz 2 sowie die in Einzelsteuergesetzen geregelten Steuererstattungsansprüche.“

Die Überschrift des § 43 AO ist wie folgt zu ändern: „§ 43 Steuerschuldner, Steuervergütungsgläubiger,  Steuerentrichtungsschuldner“

Die vorgeschlagenen Ergänzungen des § 167 AO und die korrespondierende Erweiterung des § 37  Abs. 1  AO führen dazu, dass kein Verfahrensdualismus zwischen Nachforderungs- und Haftungsverfahren in Bezug auf die Inanspruchnahme des Fremdentrichtungs- bzw. Haftungsschuldners mehr besteht. Es erfolgt eine klare Abgrenzung der Anwendungsbereiche beider Verfahren. Diese Abgrenzung erfolgt anhand einer zeitlichen Komponente. Der hiesige Rückgriff auf den

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E. Überlegungen de lege ferenda 

Beginn der Verzinsung nach § 233a Abs. 2 S. 1 AO verdeutlicht, das Verlassen des beschleunigten Steueranmeldungsverfahrens und den Eintritt in das Haftungsverfahren. Zusätzlich wird die Rechtsnatur einer Steuerentrichtungsschuld klargestellt und deren Verhältnis zur Steuerschuld des Primärsteuerschuldners kodifiziert. Um eine Haftung für steuerliche Nebenleistungen von der Verfahrensnorm zu erfassen, sollte neben den Änderungen zum Verfahrensdualismus auch eine Wortlautänderung des § 191 Abs. 1 S. 1 AO erfolgen, um diesbezügliche Rechtsklarheit zu schaffen: § 191 Abs. 1 S. 1 AO wird wie folgt geändert: „Wer kraft Gesetzes für Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis haftet (Haftungsschuldner), kann durch Haftungsbescheid, wer kraft Gesetzes verpflichtet ist, die Vollstreckung zu dulden, kann durch Duldungsbescheid in Anspruch genommen werden.“

F. Thesen Die Abgabenordnung unterscheidet ausdrücklich zwischen Steuer-, Haftungsund Entrichtungsschuldner. Nichtsdestotrotz nimmt die Finanzverwaltung Haftungsschuldner mit Fremdentrichtungsverpflichtung nicht nur durch Haftungsbescheid, sondern auch im Wege des Nachforderungsbescheids in Anspruch. Hierdurch entsteht ein gesetzlich nicht abgrenzbarer Verfahrensdualismus. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass die in § 191 AO vorgesehenen Haftungsvoraussetzungen umgangen werden. Aus der Heranziehung des § 167 Abs. 1 S. 1 AO für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners ergeben sich teils praktische und teils dogmatische Folgefragen, die bislang in Literatur und Rechtsprechung nicht oder nicht ausreichend Beachtung gefunden haben. Der vermeintliche Verfahrensdualismus entsteht, sofern Haftungstatbestände gegebene sind, die im Zusammenhang mit der Verletzung einer Entrichtungspflicht stehen und bei denen Steuer- und Entrichtungsschuldner personenverschiedenen sind. Die betroffenen Tatbestände sind derzeit die Haftung für Lohnsteuer nach § 42d EStG, für Kapitalertragsteuer nach § 44 Abs. 5 S. 1 EStG, für die Bauabzugsteuer nach § 48a Abs. 3 EStG, für den Steuerabzug bei beschränkt Steuerpflichtigen nach § 50a Abs. 5 S. 4 und Abs. 7 EStG und für Versicherungsteuer nach § 7 Abs. 7 VersStG. Die Reichsabgabenordnung sah anders als § 33 AO vor, dass Haftungsschuldner den Steuerpflichtigen gleichgestellt waren, jedoch nicht selbst als solche qualifizierten. Der Erlass eines Haftungsbescheids war nach § 98 RAO 19191 als Ermessensentscheidung ausgestaltet. Jedoch stand der Finanzverwaltung ein größerer Handlungsspielraum bei der Ausübung des Ermessens zu, als dies nach den heutigen Grundsätzen möglich ist. Auch die Abgabenordnung der DDR sah den Haftungsschuldner nicht als Steuerpflichtigen an. Es war ebenfalls eine Anordnung vorhanden, dass die Vorschriften für Steuerpflichtige jedoch sinngemäß für Haftungsschuldner Anwendung fanden. Der Erlass des Haftungsbescheids war als Ermessensvorschrift ausgestaltet. Die Einräumung des Ermessens erfolgte unter geringer rechtsstaatlicher Bindung, da in der Abgabenordnung der DDR keine Regelungen vorhanden waren, die das eingeräumte Ermessen begrenzten. Sinn und Zweck der Haftung in den vorliegend betrachteten Haftungssituationen sind die Sicherung des Steueranspruchs des Fiskus und die Absicherung der Entrichtungspflicht. Der Finanzverwaltung wird ein Selbsttitulierungs- und Selbstvoll-

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RGBl. 1919, S. 2015.

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F. Thesen

streckungsrecht eingeräumt, weil sie sich im Gegensatz zur vertraglichen Haftung nach § 192 AO ihr Gegenüber nicht aussuchen kann. Die Haftungsschuld entsteht, wenn die Voraussetzungen der materiellen Haftungsnorm erfüllt sind und die Primärsteuerschuld entstanden ist. Für Haftungsbescheide sind nur die §§ 118–133 AO anzuwenden. §§ 163–166 AO finden keine Anwendung. Eine Schätzung nach § 162 AO kann nur dann erfolgen, wenn zuvor die Steuerschuld gegenüber dem Primärsteuerschuldner auf Grundlage einer Schätzung festgesetzt wurde. Die entsprechende Anwendung der Regelung zur Festsetzungsverjährung von Steuerbescheiden mit den in § 191 Abs. 3 AO kodifizierten Modifikationen für Haftungsbescheide verdeutlicht, dass Primär- und Sekundärebene zwar grundsätzlich voneinander zu trennende, selbstständige Verfahren sind, die über getrennte Regelungen zur Festsetzungsverjährung verfügen. Auf der anderen Seite zeigen die vorhandenen Regelungen die akzessorische Verknüpfung zwischen beiden Ebenen, da die Festsetzungsverjährung der Haftungsschuld durch eine Ablaufhemmung an die Festsetzung der Primärlast geknüpft wird. § 155 Abs. 3 AO ist analog für Haftungsbescheide anzuwenden, sodass der Erlass zusammengefasster Haftungsbescheide zulässig ist. Wenngleich § 155 Abs. 4 AO keine Anwendung findet, ermöglicht § 119 Abs. 3 S. 2 AO einen formularmäßigen oder automatisierten Erlass der Haftungsbescheide. § 156 AO ist nicht anwendbar. Wegen der Regelung in § 191 Abs. 1 S. 3 AO dürften Haftungsbescheide nur schriftlich und nicht auf elektronisch ergehen. Sie müssen nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen werden, obwohl nur eine solche die Rechtsbehelfsfrist zum Laufen bringt. Die Begründung des Haftungsbescheids ist auch ohne Anwendung des nur deklaratorischen § 157 Abs. 2 AO nicht selbstständig anfechtbar. Die Finanzämter sind nach § 16 AO i. V. m. § 17 FVG für den Erlass der Haftungsbescheide sachlich zuständig. Die örtliche Zuständigkeit ergibt sich aus §§ 17, 24 AO, wobei die allgemeinen Vorschriften der §§ 18 ff. AO nur greifen, wenn die Einzelsteuergesetze keine Spezialregelung vorsehen. Im ersteren Fall wird die Anlassbezogene Zuständigkeit nach § 24 AO erfolgsbezogen mit Anknüpfung an die abgeschlossene Pflichtverletzung des Entrichtungsschuldners ausgelegt. Nach § 42d Abs. 3 S. 2 EStG ist das Betriebsstättenfinanzamt des Haftungsschuldners der Lohnsteuer örtlich zuständig. Für die Kapitalertragsteuerhaftung ergibt sich die Zuständigkeit des für den Haftungsschuldner zuständigen Finanzamts nur mittelbar durch Auslegung des § 44 Abs. 1 S. 5 EStG i. V. m. § 24 AO. § 48 Abs. 3 S. 4 EStG sieht für die Bauabzugsteuer im Unterschied hierzu die Zuständigkeit des Finanzamts des Bauleistenden als Steuerschuldner vor. Das BZSt ist für den Erlass eines Haftungsbescheid für den Steuerabzug nach § 50a EStG gemäß § 73e Abs. 1 EStDV und für die Versicherungsteuer gemäß § 7a VersStG örtlich zuständig. Vor Erlass des Haftungsbescheids muss der Haftungsschuldner nach § 91 Abs. 1 S. 1 AO separat angehört werden. Eine Anhörung des Steuerschuldners ist vor Erlass des Haftungsbescheids gegenüber dem Haftungsschuldner nicht notwendig.

F. Thesen

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Der schriftlich ergehende Haftungsbescheid muss den Anforderungen der §§ 119 ff. AO entsprechen. Hierzu bedarf es insbesondere der Begründung der entscheidungsleitenden Ermessenserwägungen. Nach derzeitigem § 191 Abs. 1 S. 1 AO können mittels Haftungsbescheid keine steuerlichen Nebenleistungen des Primärschuldners geltend gemacht werden. Um eine Haftung für steuerliche Nebenleistungen zu erfassen, ist eine Wortlautänderung notwendig. Die Haftung des Haftungsschuldners in den im EStG betroffenen Fällen knüpft an seine Pflichtverletzung in seiner früheren Funktion als Entrichtungsschuldner an. Er selbst erhebt sich durch die Erfüllung des Haftungstatbestands zum Haftungsschuldner. Bei der Versicherungsteuer sind Haftungs- und Entrichtungsschuldner nicht personenidentisch. Hierbei knüpft die Erhebung zum Haftungsschuldner an die Pflichtverletzung des personenverschiedenen Entrichtungsschuldners an. Gemäß § 38 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer bei Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit gemäß § 18 EStG durch Abzug vom Arbeitslohn erhoben, wenn der Arbeitgeber den Arbeitslohn zahlt. Der Arbeitnehmer ist Schuldner der Lohnsteuer. Der Arbeitgeber hat diese für Rechnung des Arbeitnehmers einzubehalten, beim Betriebsstätten Finanzamt anzumelden und an dieses abzuführen. Kommt es bei der Einbehaltung und Abführung der Lohnsteuer zu Fehlern, haftet der Arbeitgeber nach § 42d EStG verschuldensunabhängig für die Lohnsteuer. Arbeitnehmer- und geber sind in Bezug auf die Lohnsteuer Gesamtschuldner. Die Veranlagung des Arbeitnehmers zur Einkommensteuer führt nicht dazu, dass der Arbeitgeber von seiner Haftung frei wird. Nach § 43 Abs. 1 S. 1 EStG unterliegen die in § 43 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis 12 EStG aufgezählten Kapitalerträge des § 20 Abs. 1 – Abs. 3 EStG mit beschränkter Abgeltungswirkung dem Steuerabzug. Der Gläubiger der Kapitalerträge ist Steuerschuldner. Den Schuldner der Kapitalerträge, die den Verkaufsauftrag ausführende Stelle oder die die Kapitalerträge auszahlende Stelle trifft die Entrichtungsschuldnerschaft. Der Entrichtungsschuldner haftet nach § 44 Abs. 5 EStG für die abzuführende Kapitalertragsteuer, wobei er sich bei leicht fahrlässiger Verletzung seiner Pflichten von der Haftung exkulpieren kann. Steuer- und Haftungsschuldner sind Gesamtschuldner. Eine dem § 85 Abs. 2 ZPO entsprechende Vorschrift ist in der Abgabenordnung nicht enthalten. Infolgedessen darf Beraterverschulden dem Steuerpflichtigen nur dann zugerechnet werden, wenn es sich als Auswahl- oder Überwachungsverschulden manifestiert. Wenn jemand im Inland eine Bauleistung an einen Unternehmer im Sinne des § 2 UStG oder an eine juristische Person des öffentlichen Rechts erbringt, muss der Leistungsempfänger nach § 48  Abs. 1  S. 1  EStG von der zu erbringenden Gegenleistung für die Bauleistung einen Steuerabzug in Höhe von 15 % für Rechnung des Leistenden vornehmen. Steuerschuldner ist der Bauleistende und nicht der Bauleistungsempfänger. Der Bauleistungsempfänger ist Entrichtungsschuld-

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F. Thesen

ner der Bauabzugsteuer. Der Bauleistungsempfänger wird vom Steuerabzug frei, wenn der Bauleistende diesem eine Freistellungsbescheinigung vorlegt. Führt der Leistungsempfänger die Bauabzugsteuer nicht ordnungsgemäß ab, so statuiert § 48a Abs. 3 S. 1 EStG seine Haftung für den fehlerhaft nicht abgeführten Betrag. § 48a Abs. 3 S. 2 EStG lässt eine Exkulpation des Entrichtungsschuldners zu, wenn der Bauleistende diesem eine Freistellungsbescheinigung nach § 48b EStG vorgelegt hat und der Entrichtungsschuldner auf deren Rechtmäßigkeit vertrauen durfte. Bei der Bauabzugsteuer hat die Exkulpation sowohl eine objektive als auch eine subjektive Komponente. Diese ist zum einen an die objektiv notwendige Vorlage einer Freistellungsbescheinigung geknüpft. Zum anderen muss der Entrichtungsschuldner entgegen der objektiven Wahrheit subjektiv auf die Rechtmäßigkeit der Freistellungsbescheinigung vertrauen. § 50a Abs. 1 EStG ordnet für einige der Katalogtatbestände beschränkt steuerpflichtiger Einkünfte den Steuerabzug in Höhe von 15 % der Einnahmen aus dieser Einkunftsquelle an. Bei sonstigen inländischen Einkünften kann eine Anordnung des Steuerabzugs nach § 50a Abs. 7 S. 1 EStG erfolgen. Der Schuldner der Vergütung ist der Entrichtungsschuldner des Steuerabzugs für beschränkt steuerpflichtige Einkünfte. Steuerschuldner ist der Gläubiger der Einnahmen. Die Einbehaltung und Abführung der Steuer durch den Schuldner der Vergütung erfolgt auf Rechnung des Gläubigers. Für den Schuldner der Vergütung in seiner Funktion als Entrichtungsschuldner wurde in § 50a Abs. 5 S. 4 EStG ein Haftungstatbestand ohne Exkulpationsmöglichkeit geschaffen. Steuerschuldner der Versicherungsteuer ist der Versicherungsnehmer, § 7 Abs. 1 VersStG. § 7 Abs. 2 VersStG spricht ausdrücklich von Steuerentrichtungsschuldnerschaft und qualifiziert den Versicherer im Regelfall zu solchem. § 7  Abs. 7 VersStG statuiert die Haftung für die Steuerentrichtung und sieht keine Exkulpationsmöglichkeit vor. § 7  Abs. 7 VersStG knüpft die Haftung daran, dass die zuvor gelisteten Personen nicht selbst Steuerentrichtungsschuldner sind. Damit schließen sich für Zwecke der Versicherungsteuer die Position des Steuerentrichtungsschuldners und die des Haftenden aus. Nach § 7 Abs. 8 S. 2 VersStG steht die Steuerentrichtungsschuld einer Steuerschuld gleich. Auch wenn das Vergleichspaar Steuerschuldner – Haftungsschuldner in den kodifizierten Beispielen der Unbeachtlichkeit des Ablaufs der Festsetzungsverjährung nicht aufgeführt ist, durchbricht § 7 Abs. 8 S. 4 VersStG die Festsetzungsverjährungsakzessorietät beim Haftungsschuldner. Gibt der zur Steueranmeldung und Steuerentrichtung Verpflichtete bis zum Ablauf der Anmeldefrist keine Steueranmeldung ab, so ist das BZSt zur Festsetzung der Steuer ermächtigt. Die Notwendigkeit des Bestands einer Primärsteuerschuld, auf die sich die Haftung des Haftungsschuldners beziehen kann, wird Akzessorietät der Haftung genannt. Steuerschuld und Haftungsschuld sind nicht wesensgleich oder identisch. Änderungen der Primärsteuerschuld können durch Widerruf nach § 131 Abe. 2 Nr. 3 AO oder durch Abrechnungsbescheid nach § 218 Abs. 2 AO berücksichtigt

F. Thesen

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werden. Steuer- und Haftungsbescheid stehen nicht in einem Grundlagen- zu Folgebescheid-Verhältnis. Der Steuerbescheid kann die Höhe des Haftungsbescheids nicht begrenzen. Steuer- und Haftungsschuldner sind trotz Akzessorietät der Haftung Gesamtschuldner nach § 44 AO. Die Akzessorietät der steuerrechtlichen Haftung ist beschränkterer Natur als vergleichbare zivilrechtliche Institute, sodass aus dem Vergleich derselben keine Rangfolge für die Inanspruchnahme von Steuer- und Haftungsschuldner geschlussfolgert werden kann. Ebenso scheidet auf Tatbestandsebene eine Subsidiarität der Haftung durch eine teleologische Reduktion oder die Annahme eines ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals aus. Der Erlass eines Haftungsbescheids steht sowohl im Entschließungs- als auch im Auswahlermessen der Finanzverwaltung. Das Haftungsverfahren ist nicht streng adressatenbezogen, da die Auswahl des in Anspruch zu nehmenden Haftungsschuldners erst im Verlauf des Steuerverwaltungsverfahrens stattfindet. Eine etwaige Subsidiarität der Haftung auf Ermessensebene kann nur auf Grundlage einer Einzelfallentscheidung vorliegen und stellt kein allgemeines Dogma dar. Im Auswahlermessen besteht kein abstraktes Rangverhältnis der Haftungstatbestände untereinander. Etwas anderes kann nur gelten, wenn durch Kettenhaftung Haftungstatbestände mit und ohne Bezug zu einer Pflichtverletzung verbunden werden. Ebenso kann nicht per se eine Abstufung auf Grund eines konkreten Rangverhältnisses anhand des Prioritätsprinzips, der Betrachtung von Verschulden, der finanziellen Leistungsfähigkeit oder auf Grundlage zivilrechtlicher Vereinbarungen erfolgen. Die Ansässigkeit des Vollstreckungsschuldners darf im Auswahlermessen nur berücksichtigt werden, wenn eine Vollstreckung nicht in einer mit der inländischen Vollstreckung vergleichbaren Art und Weise möglich ist. Die Regelungen zur Beitreibungshilfe zwischen den EU-Mitgliedstaaten stellen den deutschen Finanzbehörden für die Vollstreckung von Haftungsschulden im EU-Ausland ein mit der inländischen Vollstreckung vergleichbares Instrumentarium zur Verfügung. Auf Ebene des Auswahlermessens können sich bezüglich der Vollstreckung in EUMitgliedstaaten deswegen keine Auswirkungen ergeben. Ein im Rahmen des Auswahlermessens zu berücksichtigendes Vollstreckungsdefizit kann sich für außereuropäische Vollstreckungsschuldner ergeben, wenn der Ansässigkeitsstaat keine Amtshilferegelung vorsieht oder wenn eine vorhandene Amtshilferegelung soweit von Art 27 OECD-MA abweicht, dass im Einzelfall keine mit der inländischen vergleichbare Vollstreckung möglich ist. Auf zweiter Stufe kann sich eine nicht mit der deutschen Vollstreckung in Steuersachen vergleichbare Vollstreckung aus den jeweiligen staatlichen Regelungen zur Vollstreckung ergeben. Hierfür muss im Einzelfall das Vollstreckungsrecht des Vollstreckungsziellandes mit dem deutschen Vollstreckungsrecht in Steuersachen verglichen werden. Wenn die Vollstreckung auf erster und zweiter Stufe vergleichbar mit der inländischen Vollstreckung ohne erhebliche Vollstreckungsdefizit durchgeführt werden kann, so kann sich ein

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F. Thesen

tatsächliches Vollstreckungsdefizit auf dritter Stufe daraus ergeben, dass der eine Haftungsschuldner weniger Vollstreckungsmasse aufweist als der andere in Frage kommende Haftungsschuldner. Im Regelfall ist von einem funktionierenden Regress des Haftungsschuldners gegenüber dem Steuerschuldner auszugehen. Hierfür bestehen zivilrechtliche Regelungen, die einen solchen Regress ermöglichen. Das zivilrechtliche Prozessrisiko sollte bei Ausübung des Auswahlermessens keine Berücksichtigung finden. Im Innenverhältnis zwischen Steuer- und Haftungsschuldner schuldet der Steuerschuldner die Steuerlast vollständig, da der Rechtsgedanke des § 426 Abs. 1 S. 1 BGB insofern nicht auf § 44 AO übertragbar ist. Für alle hier betrachteten Haftungstatbestände des EStG findet der Ausschlusstatbestand des § 219 S. 2 AO Anwendung, sodass keine gesetzliche normierte Subsidiarität im Erhebungsverfahren vorliegt. § 219 S. 2 AO ist nicht für die Versicherungsteuerinhaftungsnahme anwendbar, sodass auf Erhebungsebene eine echte Subsidiarität der Haftung besteht. § 219 S. 2 AO ist auch für die Bauabzugsteuer anwendbar, weil der Haftungsschuldner gesetzlich verpflichtet war, Steuern einzubehalten und abzuführen. Der Nachforderungsbescheid stellt einen Bescheid nach fehlerhafter oder fehlender Steueranmeldung dar. Er ist eine Reaktion des Finanzamts auf eine Pflichtverletzung des Entrichtungsschuldners. Der Reichsabgabenordnung war das System der Abgabe einer Steueranmeldung und der darauffolgende Erlass eines konkludenten Bescheids durch die Finanzverwaltung bekannt. Anstelle einer Bescheidfiktion nutze die Reichsabgabenordnung die Rechtsfigur des konkludenten Steuerbescheids. Der formlose Bescheid durfte jedoch nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergehen. Die Bescheidfiktion war auch der Abgabenordnung der DDR bekannt. Eine der heutigen Wirkung des § 168 AO vergleichbare Rechtsfigur scheiterte dennoch auch hier an den Voraussetzungen für eine vorläufige Steuerfestsetzung. § 167 Abs. 1 S. 1 AO erleichtert die Steuerfestsetzung. Der Nachforderungsanspruch entsteht, wenn der zu Grunde liegende Primärsteueranspruch nach § 38 AO entstanden und der Entrichtungsschuldner die Steuer nicht oder nicht ordnungsgemäß anmeldet. Der Nachforderungsbescheid ist ein Steuerbescheid, sodass die §§ 118 ff., 164 f. und 169 ff. AO Anwendung findet. Eine Schätzung nach § 162 AO ist möglich. § 166 AO ist auch auf vorbehaltsbehaftete Nachforderungsbescheide anwendbar. Die Drittwirkung des § 166 AO kann sowohl gegenüber dem Steuerals auch gegenüber dem Haftungsschuldner eintreten. Die sachliche und örtliche Zuständigkeit für den Erlass eines Nachforderungsbescheids entspricht nach derzeitiger gesetzlicher Ausprägung dem Haftungsverfahren. Eine Anhörung ist nicht erforderlich, wenn keine Steueranmeldung abgegeben wird. Gibt der Entrichtungsschuldner hingegen eine fehlerhafte Steueranmeldung ab, so ist er anzuhören. Die Angabe des Primärsteuerschuldners im Nachforderungsbescheid ist unabhängig von der Schaffung einer ausreichenden Bestimmtheit notwendig. Der Nachforde-

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rungsbescheid ist nicht nur gegenüber dem Entrichtungsschuldner sondern auch gegenüber dem Steuerschuldner bekanntzugeben. Gegenstand des Nachforderungsbescheids ist nach aktueller gesetzlicher Regelung in § 167 Abs. 1 S. 1 AO die materielle Haftungsschuld des Entrichtungsschuldners., wenngleich Gegenstand der Bescheidfiktion des § 168 S.1 AO die abzuführende Steuer ist. Trotz gesetzlicher Unmöglichkeit, dass der Haftungsschuldner eine Steueranmeldung für eine Haftungsschuld abgibt, ist das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen der materiellen Haftungstatbestände für den Erlass eines Nachforderungsbescheids auf Grundlage der derzeitigen Verwaltungspraxis erforderlich. Infolge der systemwidrigen Anwendung des § 167 Abs. 1 S. 1 AO ergibt sich das Dilemma, dass zur Rettung dieser Praxis eine Ermessensentscheidung auch im Nachforderungsverfahren gefordert wird. Auf Grund des Wortlauts des § 219 S. 1 AO und des § 167 Abs. 1 S. 1 AO, die beide den Haftungsschuldner erwähnen, ist zu folgern, dass die Wahl eines anderen Verfahrenswegs für die Geltendmachung einer Haftungsschuld nicht zur Unanwendbarkeit des § 219 S. 1 AO führen kann, wenngleich in der stark überwiegenden Anzahl der Anwendungsbereiche § 219 S. 2 AO regelmäßig zum Ausschluss der Anwendbarkeit führen wird. Andernfalls müsste zumindest eine analoge Anwendung der Norm auf die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners im Wege des Nachforderungsverfahrens stattfinden. Rechtshistorisch war nur die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners durch Haftungsbescheid vom Gesetzgeber vorgesehen. Durch das Bedürfnis nach der Vereinfachung des Verwaltungsverfahrens kam es zur Entwicklung des Konstrukts der Steueranmeldung mit konkludenter Steuerfestsetzung ohne Tätigwerden der Finanzverwaltung. Diese konkludente Steuerfestsetzung konnte auf Grundlage der Änderungsvorschriften sowohl nach der Reichsabgabenordnung der BRD als auch nach der Abgabenordnung der DDR geändert werden. Hierdurch wurde der Verfahrensdualismus zur Inanspruchnahme des Haftungsschuldners geschaffen. Neben der Möglichkeit einen Haftungsbescheid zu erlassen, bot es sich an, stattdessen durch konkludente Steuerfestsetzung gegenüber dem Entrichtungsschuldner eine Inanspruchnahme vorzunehmen bzw. diese zu ändern. Der Verfahrensdualismus erfuhr durch die Änderung des § 167 Abs. 1 S. 1 AO im Rahmen der Steuerreform 1990 ausdrücklichen Eingang in das Gesetz. Ungeachtet der zahlreichen identischen und vergleichbaren Aspekte sind Haftungs- und Nachforderungsverfahren keine vergleichbaren Wege, um den Haftungsschuldner mit Fremdentrichtungsschuldnerschaft in Anspruch zu nehmen. In Bezug auf den Sinn und Zweck der Verfahren, der Anwendbarkeit der § 164 f. AO, der Änderungsvorschriften sowie der Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung fehlt eine Vergleichbarkeit. Die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners auf Grundlage des § 167 Abs. 1 S.1 AO verstößt gegen das Rechtsstaatsprinzip. Der hierdurch verbürgte Vorbehalt des Gesetzes wird verletzt, da der Haftungsschuldner mangels Verpflichtung zur

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Abgabe einer Steueranmeldung nicht unter den Wortlaut der Norm fällt. Es bedürfte einer Ermächtigungsgrundlage zum Erlass eines Nachforderungsbescheids, die zum einen den Haftungsschuldner als Adressat vorsieht und zum anderen Tatbestandsvoraussetzungen enthält, die durch den Haftungsschuldner als solchen erfüllt werden können. Daneben mangelt es dem § 167 Abs. 1 S.1 AO für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners in der Fremdentrichtungssituation an hinreichender Klarheit und Bestimmtheit. Das vorliegend betrachtete Wahlrecht ist darüber hinaus in Abgrenzung zum verfassungsrechtlich zulässigen Ermessen per se unzulässig, da es weder gesetzlich angeordnet noch gesetzlich verankert ist. Nach derzeitiger Gesetzeslage darf kein Wahlrecht für die Inanspruchnahme angenommen werden, sofern ein solches nicht – wie bei der Versicherungsteuer – spezialgesetzlich angelegt ist. Die Annahme eines Wahlrechts sowie die Inanspruchnahme eines Entrichtungs- oder Haftungsschuldners auf Grundlage des § 167 Abs. 1 S. 1 Var. 2 AO erfolgt derzeit ohne Ermächtigungsgrundlage und demzufolge rechtswidrig. Zwischen dem Nachforderungs- und Haftungsverfahren besteht kein echter Verfahrensdualismus. Sofern sich die Finanzverwaltung für den einen oder den anderen Verfahrensweg entscheidet, ist eine Geltendmachung der Haftungsschuld im jeweils anderen Verfahrensweg ausgeschlossen, wenn keine Umdeutung oder Änderung zulässig ist. Es besteht eine wahlrechtsgebundene Exklusivität beider Verfahren. Die Verfahrenswahl zur Geltendmachung der Haftungsschuld führt zu einer der Bestandskraft fähigen Entscheidung, die den zweiten Verfahrensweg ausschließt. Für die Qualifikation des Zweitsteuerverwaltungsakts als geänderten und umgedeuteten Zweitbescheid kommt es darauf an, ob eine Umdeutung zwischen den Verfahrensarten zulässig ist. Nur insofern eine solche Umdeutung zulässig ist, kann ein Zweitsteuerverwaltungsakt im anderen Verfahrenswege rechtmäßig ergehen. Da für die Bestimmung des Umfangs des Steuerverwaltungsverfahrens ein weiter Begriff zugrunde zu legen ist, stellt ein Verfahrenswechsel vor oder nach Anhörung des Steuerpflichtigen keine Hürde für die Finanzverwaltung dar. Ein Nachforderungsbescheid kann bei Personenidentität zwischen Entrichtungs- und Haftungsschuldner, wenn er unter einem Fehler leidet, in einen Haftungsbescheid umgedeutet werden. Eine Umdeutung eines fehlerhaften Haftungs- in einen Nachforderungsbescheid ist ebenfalls unter den Voraussetzungen des § 128 AO möglich. Sofern wie bei der Versicherungsteuer Entrichtungs- und Haftungsschuldnerschaft auseinanderfallen, ist keine Umdeutung möglich. Es ist eine Reform des Inanspruchnahmesystem bei Fremdentrichtungsschuldnerschaften notwendig. Hierbei ist eine Ergänzung des § 167 AO und die korrespondierende Erweiterung des § 37 Abs. 1 AO nötig. Der ausgewählte Reformvorschlag löst den Verfahrensdualismus zwischen Nachforderungs- und Haftungsverfahren auf und ermöglicht klare Abgrenzung der Anwendungsbereiche beider Verfah-

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ren anhand einer zeitlichen Komponente. Zusätzlich wird die Rechtsnatur einer Steuerentrichtungsschuld klargestellt und deren Verhältnis zur Steuerschuld des Primärsteuerschuldners geregelt. Um eine Haftung für steuerliche Nebenleistungen ausdrücklich von der Verfahrensnorm zu erfassen, sollte neben den Änderungen zum Verfahrensdualismus auch eine Wortlautänderung des § 191 Abs. 1 S. 1 AO erfolgen.

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Sachverzeichnis Abgabenordnung der DDR  28, 140 ff., 152, 215, 275, 280 f. Abgeltungswirkung  68, 145, 154, 165, 277 Akzessorietät  27, 79 ff., 85 f., 88, 90 ff., 128, 151 f., 186 f., 204, 230, 232, 264, 278 f. Änderungsvorschriften  41, 181, 205, 210, 213, 215, 220, 232, 243 f., 250 f., 281 Anhörung  50 ff., 57, 171 f., 226, 252 f., 271, 276, 280, 282 Auswahlermessen  89, 95 ff., 103 ff., 110, 128, 132, 236, 279 Bauabzugsteuer  21, 29, 47 ff., 73, 75, 103, 111, 126, 130 f., 143, 146, 153 f., 165, 169, 175, 188, 192, 256, 275 f., 278, 280 Bauabzugsteueranmeldung  131, 146, 175 Bauabzugsteuerhaftung  48, 73, 130 Bauabzugsteuernachforderung 169 BefStG  177 f. Beitreibung  26, 110, 112 ff., 119 ff., 279 Beitreibungsersuchen  113 ff., 119 Beitreibungshilfe  110, 112 f., 117, 119 ff., 279 Bürgschaft  87 ff. Drittwirkung  33, 35 ff., 156 f., 160 ff., 167 f., 223, 247, 280 Eigenentrichtungsschuldner 260 Entrichtungsschuld  29, 48, 62, 69, 79, 91, 103, 150 f., 164, 167, 172, 179 ff., 184 ff., 200, 211 f., 261, 263 ff., 269, 273 Entschließungsermessen  58, 88 f., 95 ff., 100, 102, 104 ff., 131 Ermessen  25 f., 28, 41, 50, 52 f., 65, 93, 98, 101, 106, 124, 127 ff., 131 f., 141, 146, 182, 187 f., 189 ff., 224, 231 f., 236 f., 239, 244, 263, 269, 275, 282 Ermessensreduzierung auf Null  101 f.

Festsetzungsverjährung  27, 32, 42 f., 79, 84, 86, 99, 151, 155, 223, 232, 276, 278 Fremdentrichtungsschuldner  5, 17, 67 f., 95, 183 ff., 237, 252, 260, 263, 269 ff., 273, 277, 281 f. Fremdentrichtungsschuldnerschaft  17, 68, 95, 252, 260, 269 ff., 273, 281 Gesamtschuldner  29, 55, 58, 65, 69, 79, 85 ff., 92, 106, 124 ff., 204, 208, 212, 264, 269 f., 273, 277, 279 Gesamtschuldnerregress  126, 263 Gesamtschuldnerschaft  83, 86 f., 90, 97 f., 125, 168, 176, 264 Haftung für den Steuerabzug nach § 50a EStG ​49, 77, 104 Haftungsschuldnerschaft  29 f., 38, 61, 168, 180, 183, 185, 211, 229, 249, 270, 282 Hypothek  91 f. Kapitalertragsteuer  68 f., 72 f., 75, 99, 107, 121, 130, 138, 143, 145, 154, 169, 175 f., 204, 275, 277 Kapitalertragsteueranmeldung  145, 169, 175 Kapitalertragsteuerhaftung  48 f., 68, 121, 276 Kapitalertragsteuernachforderung 169 Lohnsteuer  21, 29, 33, 36 ff., 47, 63 ff., 72 f., 93, 103 f., 106, 111, 124 ff., 134, 137 f., 144 f., 153 f., 162 ff., 169, 175 f., 179.ff, 187,194 f., 204, 206, 208, 212, 216, 218 f., 240 f., 275 ff. Lohnsteueranmeldung  36 f., 63, 67 f., 144, 163, 169, 175, 179, 181 f., 240 Lohnsteuerhaftung  48, 63, 72 f., 104, 106, 124 ff. Lohnsteuernachforderung  169, 240

Sachverzeichnis Nachforderungen beim Steuerabzug nach § 50a EStG  169 Nachforderungsbescheid  18, 20 f. 33, 133, 151 f., 155 ff., 159 ff.,165 ff., 179 ff., 183 ff., 187 ff., 197, 199 ff., 205 f., 210 f., 216, 220 ff., 226, 235, 241 ff., 249, 252, 257 ff., 263, 266 f., 270, 280, 282 OECD-MA  116 ff., 122 ff., 279 Regress  20, 57 f., 84, 86, 89, 100, 105, 124ff, 167, 176, 186, 217, 264, 280 Reichsabgabenordnung  23, 25 ff., 37, 93, 134 ff., 142 f., 152, 159, 195, 201, 203 ff., 207, 215, 275, 280 f. Schätzung  39 f., 104, 156, 213, 218, 222, 232, 236, 276, 280 Schuldbeitritt 91

291

Steuerabzug nach § 50a EStG  49, 76 f., 104, 131, 147, 163, 165, 169, 276 Umdeutung  128, 181 f., 190, 230, 237, 251 ff., 259, 282 Verjährung  26 f., 28, 32 42 f., 79, 83 f., 86, 99, 151, 155, 197, 205, 223, 232, 276, 278 Versicherungsteuer  21, 27, 38, 49 f., 61 f., 77 f., 89, 103, 107, 112 f., 119 f., 12 f., 130, 148 ff., 165, 168, 170, 172, 175, 179, 181, 183 f., 192, 201, 214, 223, 229, 231, 237, 241, 249, 260 f., 270, 275 ff., 278, 280, 282, 284 f. Versicherungsteueranmeldung  148, 153 Versicherungsteuerhaftung  77, 130 Wahlrecht, ungebundenes  261