Legitimität: Vergangenheit, Gegenwart und digitale Zukunft des Staates und seiner Herrschaftsgewalt in einem Begriff [1 ed.] 9783428559008, 9783428159000

Die Legitimität der Herrschaftsgewalt wird von zahlreichen Krisen und Umfeldveränderungen in Frage gestellt. Am intensiv

158 68 1MB

German Pages 164 [165] Year 2020

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Legitimität: Vergangenheit, Gegenwart und digitale Zukunft des Staates und seiner Herrschaftsgewalt in einem Begriff [1 ed.]
 9783428559008, 9783428159000

Citation preview

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 100

UTZ SCHLIESKY

Legitimität Vergangenheit, Gegenwart und digitale Zukunft des Staates und seiner Herrschaftsgewalt in einem Begriff

Duncker & Humblot · Berlin

UTZ SCHLIESKY

Legitimität

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 100

Legitimität Vergangenheit, Gegenwart und digitale Zukunft des Staates und seiner Herrschaftsgewalt in einem Begriff

Von

Utz Schliesky

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-15900-0 (Print) ISBN 978-3-428-55900-8 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Dank Das Schreiben eines Buches bedeutet Gewinn und Verzicht. Der Gewinn liegt in dem durchaus beglückenden Gefühl des Wissenschaftlers, einen aus seiner Sicht bedeutsamen Text fertiggestellt und der Öffentlichkeit übergeben zu haben – ganz zu schweigen von dem erhofften Gewinn, seine Wissenschaft auf der Suche nach der Wahrheit ein kleines Stück vorangebracht zu haben. Damit einher geht Verzicht – etwa auf gemeinsame Zeit mit wichtigen Menschen. Diesen will ich daher allen voran danken – meiner Frau Heike Schliesky und unseren Söhnen Max Bero und Bent Julian. Diesen dreien ist (auch) dieses Buch gewidmet. Wenn man sich seit über zwanzig Jahren mit Fragen der Staatstheorie und insbesondere der Legitimität beschäftigt, dann kommt man an göttlicher Legitimität nicht vorbei. Die Beurteilung derselben ist naturgemäß höchst unterschiedlich, aber als gläubiger Christ ist es mir ein Anliegen, auch meinem Schöpfer als Ursprung der zwei Schwerter zu danken. Dank schulde ich auch zahlreichen Kolleginnen und Kollegen aus Wissenschaft und Praxis, denen vielleicht nicht immer bewusst war, dass sie als gedankliche „Sparringpartner“ für einzelne Überlegungen dieses Textes hergehalten haben. Namentlich hervorheben möchte ich meinen akademischen Lehrer Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Prof. Dr. Peter M. Huber, Prof. Dr. Peter Unruh, Prof. Dr. Andreas Voßkuhle, Privatdozent Dr. Sönke E. Schulz und Dr. Kurt Bröckers. Dänischenhagen, im September 2020

Utz Schliesky

Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

I.

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

II.

Der Begriff der Legitimität oder: Legitimität als Antwort auf die Frage nach der Rechtfertigung von Staatsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

III.

Entwicklungsgeschichte des Legitimitätsbegriffes . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1. Römischer Ursprung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2. Legitimität weltlicher Herrschaft im europäischen Mittelalter . . . . . 22 3. Herausbildung des modernen Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 4. Legitimität ab 1815 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 5. Legitimität im Kaiserreich und staatsrechtlicher Positivismus . . . . . 42 6. Legitimität 1918 – 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 7. Historisches Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

IV.

Demokratische Legitimation als Maßstab der Legitimität im Verfassungsstaat des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

V.

Vertrauensbeziehung als Inhalt der Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 1. Normative Verankerung des Vertrauens in der Verfassung . . . . . . . . 53 2. Rechtliche Bedeutung politischen Vertrauens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 3. Informationen als Bezugsobjekt des Vertrauens . . . . . . . . . . . . . . . . 59

VI.

Herausforderungen durch die Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 1. Fehlende Raumbeherrschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2. Unterbrechung von Legitimationsketten für die Input-Legitimation 64 a) Fragwürdigkeit des Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 b) Algorithmenbasierte Herrschaftsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 c) Fehlende Nutzung von Kompensationsmöglichkeiten . . . . . . . . . 67 3. Fehlende Output-Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

8

Inhaltsverzeichnis 4. Fehlen der Legitimitätsidee für den digitalen Staat . . . . . . . . . . . . . 70 5. Vertrauensverluste in den Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 6. Schwinden der demokratischen Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 7. Auflösung des Volkes als Legitimationssubjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

VII. Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 1. Neue Legitimitätsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 2. Vergewisserung über das Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3. Digitalisierung rechtlich gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4. Vertrauen zurückgewinnen: Staat als Orientierungspunkt in einer unübersichtlichen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 5. Neuformierung der Öffentlichkeit als Grundlage legitimer Staatswillensbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 6. Rekonstruktion der Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 a) Nachdenken über Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 b) Demokratische Legitimation und sonstige Legitimation . . . . . . . 131 c) Input- und Output-Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 d) Optimierung anstatt formalistischer Verfahrensorientierung . . . . 136 e) Aufgabenerfüllung am Maßstab von Herrschaftszwecken und Herrschaftszielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 f ) Legitimationssubjekt: rechtlich verfasstes Volk . . . . . . . . . . . . . . . 140 g) Ausgangspunkt der Legitimation: Individuum . . . . . . . . . . . . . . 141 h) Plurale Legitimation: Baustein- und Netzzwerkdenken . . . . . . . . 148 i) Normative Abbildung maßgeblicher Legitimationsbausteine . . . 149 j) Legitimationsobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 k) Zusammenführung im Legitimitätsniveau . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 VIII. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

Vorbemerkung „Legitimität ist (…) das Kriterium, mit dem die Vertreter einer Herrschaftsform auf normativer Grundlage ihre Prinzipien der Machtausübung rechtfertigen können.“1 Diese philosophische Begriffsbestimmung trifft schon recht gut, was auch Vertreter von Staatstheorie sowie Staats- und Verfassungsrecht zur Grundlage ihrer normativen Konzepte von Legitimität machen. Legitimität macht den Unterschied zwischen Macht und Herrschaftsgewalt (im Staat: Staatsgewalt) aus. Sie ist Kehrseite der Souveränität, sie ist unverzichtbares Lebenselixier auch des demokratischen Verfassungsstaates. Auf den heutigen Begriff gebracht wurde die Legitimität erst im 19. Jahrhundert im Kampf zwischen Fürsten- und Volkssouveränität. Der Sache nach ist sie aber so alt wie jegliche Herrschaftsgewalt2 – und mit ihr reiften die jeweils zugrundeliegenden Theorien, die meist nicht nur wissenschaftliche Betätigung blieben, sondern als politische Programme Verwendung fanden. Souveränität und Legitimität kennzeichnen die „DNA“ eines Staates, einer Herrschaftsorganisation, sie lassen wie in einem Brennglas einen Einblick in die Struktur, Stabilität und Dauerhaftigkeit eines Staates zu. Legitimität ist dabei Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Herrschaftsgewalt. Der Zusammenhang zum Recht ist für die Legitimität essentiell. Sie ist Maßstab für das Werden von Herrschaftsgewalt, aber ebenso für die Rechtmäßigkeit der Betätigung dieser Herrschaftsgewalt. Verletzt die Herrschaftsgewalt dauerhaft das Recht der Herrschaftsorganisation, so schwindet die Legitimität. Schon dies zeigt, dass Legitimität ständig ihren 1 Regenbogen/Meyer (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 2013, Art. Legitimation, S. 376. 2 Held, in: von Rotteck/Welcker (Hrsg.), Das Staats-Lexikon, 9. Band, 3. Aufl. 1864, Art. Legitimität, S. 456 (464): Legitimität nichts anderes „als die ununterbrochene Continuität des Rechts, und zwar für das gesammte Rechtsgebiet, so erklärt es sich auch, daß die Legitimität in diesem Wortsinne so alt und so verbreitet war, ist und ewig sein wird, wie die Menschheit selbst, mit der sie sammt der rechtlich geordneten Gesellschaft nothwendig gleichzeitig gegeben ist“.

10

Vorbemerkung

Praxistest bestehen muss. Bei aller theoretischen Befassung durch alle (relevanten) Staatsdenker muss sich Legitimität im täglichen Leben bewähren. Fehlt die Legitimität, wird der Staat – jedenfalls in dieser Form – nicht mehr lange existieren. Der Staat lebt dabei auch von Voraussetzungen, die er selbst nicht gewährleisten kann. Andererseits kann die Staats- und Herrschaftsgewalt eine Menge für die Erhaltung ihrer Legitimität tun – sie muss zunächst einmal für die im Gemeinwesen zusammengeschlossenen Bürger das Beste am Maßstab der Herrschaftszwecke und -ziele wollen und bewirken. Sie kann und muss zudem das Umfeld ihrer Herrschaftsbetätigung beobachten – auf relevante Umfeldveränderungen in technischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht muss geachtet werden, da sie Wegscheiden für die Herrschaftsorganisation und ihre Herrschaftsgewalt markieren können. Derartige Umfeldveränderungen häufen sich in letzter Zeit: Verwerfungen der Finanz- und Wirtschaftssysteme, schwindendes Institutionenvertrauen, globale Flüchtlings- und Migrationsbewegungen, Klima(schutz)herausforderungen oder aktuell die Bekämpfung der CoronaPandemie sind Schlaglichter, die auch zu Herausforderungen für die Legitimität der Herrschaftsgewalt werden. Gerade der Umgang mit der Corona-Pandemie zeigt zeitgleich für beinahe alle Staaten der Welt, wie bedeutsam und zugleich prekär die Legitimität der Herrschaftsgewalt werden kann, wie belastbar die Legitimität sein muss, wenn harte, massiv in die Grundrechte der Bürger eingreifende Maßnahmen vom Staat ergriffen werden (müssen). In einer solchen Situation scheinen dann auch die grundlegenden Herrschaftszwecke und -ziele auf, die sonst im verfahrensmäßig durchorganisierten politischen und staatlichen Alltag verdeckt zu werden drohen. Die von notstandsähnlichen Situationen aufgeworfenen Legitimitätsaspekte werden geradezu lehrbuchartig deutlich. Aber schon vorher schwelten Legitimitätsfragen, da eine ganz andere Entwicklung tradierte Legitimationsmuster in Frage gestellt hat: die Digitalisierung. Diese Umfeldveränderung, die nicht ohne Grund als Epochenschwelle angesehen wird, bleibt auch nach kurzfristigen Krisen erhalten und wirkt tief in die überkommenen nationalstaatlichen Strukturen, aber vor allem auch in die Vorstellungsbilder demokratischer Legitimität hinein. Vor allem diesen Veränderungen will sich der vorliegende Essay widmen.

Vorbemerkung

11

Nach einführenden Bemerkungen und Begriffsbestimmungen folgt ein kurzer Abriss der Entwicklungsgeschichte des Legitimitätsbegriffes, der interessante Einblicke in die aktuelle Engführung der deutschen Staatsrechtslehre zulässt. Dieser status quo der herrschenden deutschen Legitimitätskonstruktion wird danach kurz vorgestellt, um dann auf einen verfassungsrechtlichen Aspekt hinzuweisen, der bislang fast völlig übersehen wurde: die Vertrauensbeziehung als Inhalt demokratischer Legitimität. Im sechsten Kapitel werde ich einen Überblick über die aktuellen Herausforderungen der Digitalisierung für die Legitimitätskategorie geben, um dann im siebenten Kapitel Lösungsansätze für Legitimität in einem gewandelten Umfeld vorzustellen.

I. Einführung Plötzlich ist alles anders. Die Corona-Pandemie stellt den Staat und seine Herrschaftsgewalt, aber auch die Bürgerinnen und Bürger mit ihren Grundrechten vor Herausforderungen, die es zuletzt in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gab. Bewährte Legitimationsverfahren werden in ungekannter Weise verändert, beschleunigt oder ausgesetzt – so werden etwa Regelungen über die Beschlussfähigkeit von Parlamenten zahlenmäßig abgesenkt1 oder Notparlamente konstruiert.2 Gesetzgebungsverfahren werden unter Verzicht auf Ausschussberatungen, Expertenanhörungen oder weitere Lesungen radikal beschleunigt, elektronische Kommunikationsmittel für Abstimmungen erlaubt3, und die Öffentlichkeit von Ausschussberatungen und Anhörungssitzungen wird ausschließlich durch elektronische Übertragungswege hergestellt.4 Vor gut zehn Jahren mit großem Aufwand und breiter Mehrheit in den Verfassungen von Bund und Ländern verankerte haushaltsrechtliche Staatszielbestimmungen eines ausgeglichenen, ohne Schulden finanzierten Haushaltes („Schuldenbremse“) werden nun z. T. ohne Aussprache ausgesetzt, während manche schon deren komplette Streichung wünschen. Zugleich finden massive Interventionen in die Wirtschaft, die Gesellschaft, das Privatleben und die Religionsausübung statt, als ob es keine Grundrechte, sondern nur ein Ziel staatlichen Handelns gäbe: die „Volksgesundheit“. Die erhofften, von einer Mehrzahl der Virologen erwarteten Effekte für die Volksgesundheit und vor allem die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems legitimieren massive Grundrechtseingriffe. Umgekehrt verlieren Regierungen, die die Bedrohung durch das Corona-Virus geleugnet und gebotene Maßnahmen (zunächst) unterlassen haben, dramatisch an Zustimmung und damit an 1 Z. B. § 126a Abs. 1 GeschO BT; § 59 Abs. 2a GeschO LT SH. Beide Regelungen sind allerdings befristet. 2 Ebenfalls § 59 Abs. 2a GeschO LT SH. 3 § 126a Abs. 3 GeschO BT. – Zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Demokratie allgemein Decker, ZfP 67 (2020), 123 ff. 4 § 126a Abs. 4 GeschO BT. Dazu Lenz/Schulte, NVwZ 2020, 744 ff.

I. Einführung

13

Legitimität (z. B. Brasilien, Türkei, auch USA, Großbritannien). All dies stellt der staunende Beobachter – zunächst einmal – ohne Wertungen fest. Die Frage nach der Legitimität von Herrschaftsgewalt haben in der Geschichte oft diejenigen aufgeworfen, die sie der aktuellen Herrschaftsgewalt absprechen wollten.5 Benötigt wird Legitimität von Herrschaftsgewalt zwar immer, wenn sie nicht in bloße Machtausübung und Tyrannei umschlagen soll, aber zu einem viel beachteten Thema wird Legitimität in Krisen- und Umbruchzeiten. Die Legitimitätsfrage ist also symptomatisch für Umbruchzeiten, und deshalb muss es mit Sorge erfüllen, dass sie auch derzeit aktuell ist: In jüngster Zeit werden etwa die supranationale Herrschaftsgewalt der Europäischen Union, aber auch die Staatsgewalten zahlreicher europäischer Staaten hinsichtlich ihrer Legitimität von einzelnen politischen Akteuren, längst allerdings auch von zahlreichen Bürgerinnen und Bürgern der Staaten, in Zweifel gezogen. Es lässt sich das Ende der Fraglosigkeit des Staates und seiner Staatsgewalt wie auch der Europäischen Union und ihrer Herrschaftsgewalt konstatieren6. Dafür gibt es zahlreiche Ursachen und Gründe, die allesamt nachzuzeichnen hier nicht der Raum ist. Der Umgang von Regierungen mit den Migrationsbewegungen seit 2015 hat ebenfalls Legitimitätsfragen aufgeworfen, und ganz aktuell stellt der Umgang mit der Corona-Pandemie weltweit Herrschaftsgewalten auf den legitimatorischen Prüfstand. Und dabei war schon vorher alles anders – und wird daher auch nach einer Eindämmung des Corona-Virus anders bleiben. Eine Ursache für Legitimitätszweifel ist neuerdings die meist ungeklärte und oftmals hilflose Rolle des Staates in digitalen Räumen. Die Staatsgewalt, von der wir seit der Neuzeit die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols erwarten und ihr deshalb Souveränität zusprechen, ist in digitalen Räumen kaum zu finden. Ein Beispiel eines ersten, aber eher hilflosen Vorantastens in digitale Räume bietet das Netzwerkdurchsetzungsgesetz.7 Meinungs5 So etwa im Kampf um die Legitimität im 19. Jahrhundert, dazu Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 217 ff.; Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 111 ff.; s. auch Schlögl, Anwesende und Abwesende, 2014, S. 291: „Jeder Legitimitätsdiskurs trägt in sich das Potential der eigenen Delegitimierung.“ 6 Dazu Schliesky, Der Staat zwischen Vergangenheit und Zukunft, 2017, S. 2 ff.; s. auch Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1999, S. 5. 7 Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG) vom 01. 09. 2017, BGBl. I S. 3352. –

14

I. Einführung

äußerungen mit rechtwidrigen Inhalten, Schmäh- und Hassreden sowie Beleidigungen werden in der „analogen Welt“ unmittelbar von der Staatsgewalt unterbunden – im Netz muss der Staat große Digitalkonzerne um entsprechendes Tätigwerden bitten (s. § 3 NetzDG), um die Ziele der Staatsgewalt zu erreichen.8 Digitale Souveränität scheint somit nicht mehr bei dem Staat zu liegen, sondern bei großen Konzernen. Zum Teil verlagert die Souveränität sich im Wege technisch möglicher und ideologisch gewollter Anarchie auf die Vielzahl der Internet-Nutzer, wenn man an die „Blockchain-Technologie“ denkt.9 Die „Blockchain-Technologie“ ist Grundlage für digitale Währungen wie z. B. Bitcoin. Bedenkt man, dass die Währungshoheit ein klassisches Souveränitätsattribut ist10, so wird das Fehlen der digitalen Souveränität des Staates in digitalen Räumen an diesem Beispiel sehr deutlich. Ein staatlicher Gestaltungsanspruch im Bereich der Währungshoheit, der im Rahmen der Europäischen Währungsunion ohnehin schon von den Nationalstaaten auf die Europäische Zentralbank übertragen worden ist, ist derzeit nicht mehr sichtbar und auch nicht realisierbar, da es selbst an grundlegenden rechtlichen Rahmenbedingungen für diese „Währungen“ fehlt. Fehlt es an der Souveränität der Herrschaftsgewalt, wird aber auch ihre Legitimität nicht mehr vorhanden sein.

Aktuell sind gesetzgeberische Nachbesserungen geplant, die an dem nachfolgend genannten Grundproblem aber nichts ändern. 8 Eingehende Kritik am Netzwerkdurchsetzungsgesetz bei Fechner, in: Uhle (Hrsg.), Information und Einflussnahme, 2018, S. 157 ff. 9 Zur Blockchain-Technologie aus rechtlicher Perspektive Johannisbauer, DVBl. 2020, 318 ff.; Kaulartz, in: Seckelmann (Hrsg.), Digitalisierte Verwaltung – Vernetztes E-Government, 2. Aufl. 2019, S. 689 ff. 10 Deutlich formuliert von Bodin, Über den Staat, ausgewählt und übersetzt von Gottfried Niedhart, 1976, I 8; dazu Kirchhof, in: Schliesky (Hrsg.), Funktionsverluste von Staatlichkeit, 2018, S. 137 ff.

II. Der Begriff der Legitimität oder: Legitimität als Antwort auf die Frage nach der Rechtfertigung von Staatsgewalt Bei allem Facettenreichtum des Legitimitätsbegriffes1 besteht Einigkeit, dass Legitimität Rechtfertigung von Herrschaftsgewalt bedeutet.2 Legitimität setzt also die Existenz von Herrschaft voraus3. Herrschaft lässt sich dabei verstehen als Ausübung von Macht durch eine Person oder eine bestimmte Gruppe von Personen über andere Subjekte, wobei Befehl und Gehorsam integrale Bestandteile des Herrschaftsverhältnisses darstellen.4 Legitimität ist dann – als Kehrseite der Souveränität – eine Eigenschaft dieser Herrschaftsgewalt, mit der die Rechtfertigung und Befolgungswürdigkeit der Herrschaftsgewalt beschrieben wird.5 Der Begriff der „Legitimation“ bezeichnet hingegen den prozesshaften Vorgang, ein Verfahren, an dessen Ende Legitimität bewirkt wird.6 Die Legitimität und das ihr jeweils zugrundeliegende Legitimationskonzept antworten auf die Frage, warum Herrschaft gerechtfertigt ist. Eine befriedigende Antwort auf diese Frage gehört zu den elementaren Grundlagen, auf denen Herrschaftsgewalt allgemein, aber auch jede staatliche Ordnung und

1 Ausführlich dazu Würtenberger, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band 3, 1982, Art. Legitimität, Legalität, S. 677 (678); Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 151 ff. 2 Statt vieler Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, A 9; Schliesky, in: ders. (Hrsg.), Gespräche über den Staat, 2017, S. 11 (28). Stärker auf die Anerkennung von Macht abstellend Di Fabio, Herrschaft und Gesellschaft, 2018, S. 34 ff., 39. 3 Glaser, Über legitime Herrschaft, 2013, S. 15. 4 Grundlegend Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1. und 2. Halbband, 5. Aufl. 1976, S. 122 ff.; eingehend auch Maurer, Herrschaftssoziologie, 2004. 5 S. Habermas, PVS-Sonderheft 7 (1976), S. 39: „Anerkennungswürdigkeit einer politischen Ordnung“. 6 Czybulka, Die Legitimation der öffentlichen Verwaltung, 1989, S. 57; Hennis, PVS, Sonderheft 7/1976, S. 9 (12); Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, 1993, S. 205; Graf Kielmansegg, Volkssouveränität, 1977, S. 255 ff.

16

II. Der Begriff der Legitimität

staatliche Verfassung ruhen muss.7 Somit geht es um den inhaltlich geführten Nachweis des berechtigten Bestehens der Herrschaftsgewalt mithilfe von ethischen Kategorien.8 Die Frage nach der Legitimität von Herrschaftsgewalt ist so alt wie die Herrschaftsgewalt selbst. Ist die Fragestellung also zeitlos, so sind doch die inhaltlichen Legitimitätsanforderungen als auch die konkreten Antworten auf die Legitimitätsfrage zeitabhängig und – wie die Geschichte zeigt – wandelbar. Die Legitimitätsfrage ist aber essentiell, denn nur legitime Herrschaftsgewalt wird dauerhaft befolgt. Fehlt es an der Legitimität, so ist der Zusammenbruch der Herrschaftsgewalt bzw. der konkreten staatlichen Ordnung absehbar. Angesichts der Abhängigkeit von einem ethischen Maßstab ist ein Staat an sich weder illegitim noch legitim.9 Um einen konkreten Staat und dessen Machtanspruch in Gestalt seiner Staatsgewalt zu rechtfertigen, ist eine Legitimitätsidee erforderlich. Diese Legitimitätsideen sind zeitabhängig und historisch wandelbar, wie die Entwicklung von göttlicher zu rational begründeter Legitimität zeigt. Gemeinsam ist allen Legitimitätsideen aber regelmäßig der Gedanke der bestmöglichen Herrschaft, die es anzustreben gilt.10 Das Volk hat bei der Beurteilung der Einhaltung des Legitimitätsmaßstabes dabei in der Regel ein recht feines Gespür: Nehmen Herrscher bzw. Regierende die Grundlagen und die Idee ihrer Legitimität bei ihrem konkreten Tun nicht mehr ernst, dann fehlt es an der Legitimität, damit an der Überzeugungskraft des Legitimationskonzeptes und am Ende auch an der Überzeugungs- und Durchsetzungskraft der von ihnen ausgeübten Staatsgewalt. Dies haben Staatsdenker bereits im 19. Jahrhundert erkannt, das durch die Erschöpfung alter Legitimitätsideen und den Wettstreit verschiedener Legitimationskonzepte gekennzeichnet war: „Es ist klar, daß das Europäische Staatensystem mitnichten nur in der Lehre vom Gleichgewicht der Mächte gegründet ist, sondern zugleich und in höherem Maaße in der Legitimität, das ist der Anerkennung und unverbrüchlichen Aufrechterhaltung derjenigen Rechte, kraft deren nicht bloß 7

Würtenberger sen., DRZ 1947, 241 (242); Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 159. 8 Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 161, 171; Röhl, Rechtssoziologie, 3. Aufl. 1987, S. 176; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 17. Aufl. 2018, S. 100. 9 Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, 4. Aufl. 1932, S. 75. 10 Schliesky, Demokratie im digitalen Zeitalter, 2016, S. 50 f.

II. Der Begriff der Legitimität

17

die derzeitigen Fürsten ihre Kronen tragen, sondern alle Künftigen sie tragen werden, so lange das Recht Recht bleiben wird.“11 Daraus folgt durchaus eine konkrete ethische Handlungsanleitung für politisch Verantwortliche: Vermeintlich pragmatische Lösungen in kurzfristiger Perspektive unter Vernachlässigung der Legitimationsidee und -verfahren können mittel- und langfristig nicht tragen, wie etwa das Gleichgewicht der Mächte im 19. Jahrhundert, das „Durchwursteln“ der Europäischen Union in der Flüchtlingskrise oder der jahrelange Umgang mit dem Klimawandel beispielhaft zeigen.12 Den Gradmesser für die Beurteilung des Bestehens einer legitimen Herrschaft liegt im Legitimitätsglauben bzw. -vertrauen der Legitimationssubjekte, d. h. in der demokratischen Staatsform im Legitimitätsglauben und -vertrauen des Staatsvolkes. Wenn eine Bevölkerung den Glauben daran verliert, dass sie von ihren Repräsentanten tatsächlich repräsentiert wird, dann wird über kurz oder lang auch der Glaube an die Legitimität des politischen Systems verloren gehen.13 Dann ist der Weg frei für eine neue Herrschaftsordnung mit einer neuen Legalität und mit einer neuen Legitimitätsidee, auch wenn sie aus Sicht der alten oder einer späteren Ordnung als diktatorisch eingeordnet werden mag. So hat der Bundesgerichtshof auch für den Fall der NSHerrschaft entschieden, dass selbst im Falle der nationalsozialistischen Revolution die Rechtstatsache der Neukonstituierung des staatlichen Gemeinwohls die Legitimität einer solchen Regierung begründen könne.14 Verlangt man allerdings – wie hier vertreten – für die Legitimität auch eine inhaltliche Orientierung an ethischen Prinzipien, so entfällt für eine 11 Falck u. a., Staats- und Erbrecht des Herzogthums Schleswig, 1846, S. 107; s. auch Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 220. 12 Eine Parallele zwischen dem jeweils aktuellen politischen und wirtschaftlichen System kann hier nicht vertieft werden, ist aber bemerkenswert: Politik wie Wirtschaft beugen sich der Beschleunigung des Umfeldes, indem sie Momentaufnahmen in Gestalt von Meinungsumfragen bzw. Quartalszahlen zur Grundlage durchaus langfristig wirkender Entscheidungen machen. 13 Zutreffend Anter, in: Stekler-Weithofer/Zabel (Hrsg.), Philosophie der Republik, 2018, S. 67 (78). Dazu jüngst auch Merkel/Kneip/Weßels, in: Kneip/Merkel/ Weßels (Hrsg.), Legitimitätsprobleme, 2020, S. 389 (405). 14 BGH, NJW 1952, 622 (623). – S. bereits Held, in: von Rotteck/Welcker (Hrsg.), Das Staats-Lexikon, 9. Band, 3. Aufl. 1864, Art. Legitimität, S. 456 (464): „daß ferner jede Revolution sich nicht nur durch irgendeine Legitimitätstheorie zu rechtfertigen, sondern auch, sobald sie gelungen, sich auf den Standpunkt der Legitimität zu stellen versuchte“.

18

II. Der Begriff der Legitimität

derartige Herrschaftsordnung schnell die Legitimität.15 Soll ein Ende der demokratischen Verfassungsordnung verhindert werden, so müssen die Idee und das Legitimationskonzept der demokratischen Staatsgewalt gerade mit Blick auf die gravierenden Umfeldveränderungen und das Auftreten noch nicht demokratisch domestizierter digitaler Räume weiter entwickelt werden. Denn aktuell ist schon allein am Beispiel der Europäischen Union ein Wandel der Beurteilung der Legitimitätsidee zu beobachten, die in vielen Bewertungen weniger als Garant einer vorbildlichen Friedensordnung denn als Souveränität bedrohender technokratischer Störenfried beurteilt wird. Bei aller Wandelbarkeit der Legitimitätsideen bleibt der Kern einer rationalen Staatsrechtfertigung allerdings immer gleich: Der Staat soll die Staatszwecke, -ziele und -aufgaben gut erfüllen. Auch der Demokratie wohnt insoweit der Gedanke der bestmöglichen Herrschaft inne.16 An diesem Punkt wird auch die untrennbare Verbindung des Legitimitätsbegriffes zum Souveränitätsbegriff deutlich: Legitimität ist die Kehrseite von (staatlicher) Souveränität. Fehlt die Souveränität in digitalen Räumen, so fehlt es auch an der Legitimität der Herrschaft. Und die Souveränität auf der Grundlage überkommener Theoriegebäude in digitalen Netzwerken festmachen zu wollen, erscheint angesichts realer wie normativer Fragmentierungen unmöglich.17 Im Falle der digitalen Umfeldentwicklungen kommt noch erschwerend hinzu, dass – selbst wenn die digitale Souveränität des Staates gewahrt wäre – es an einer entsprechenden Legitimitätsidee für digitale Räume fehlt. Karl Jaspers hat zutreffend daran erinnert, dass Demokratie eine Idee ist. „Das bedeutet, dass sie nirgends 15 Und mit ihr Anerkennungswürdigkeit und Befolgungsanspruch der Herrschaftsgewalt. Nichts anderes bringt letztlich die berühmte „Radbruch’sche Formel“ zum Ausdruck, s. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (1946), in: ders., Rechtsphilosophie, hrsgg. von Erik Wolf, 1956, S. 347 (353): „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als „unrichtiges Recht“ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“ – Zur Anwendung der Formel bei der Bewältigung von SED-Unrecht (Mauerschützenprozesse) BGH, NJW 1993, 141 (144); NJW 1993, 1932; Adomeit/Mohr, Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 4. Aufl. 2017, Teil 8 Rn. 82 ff. 16 Schliesky, Demokratie im digitalen Zeitalter, 2016, S. 50 f. 17 Instruktiv Steinbach, Souveränitätsfragmente, 2019, insbes. S. 187 ff.

II. Der Begriff der Legitimität

19

vollendet sein kann und dass sie sogar als Ideal sich einer anschaulichen Vorstellung entzieht. […] Der demokratischen Idee entspricht das Bewusstsein der Unvollendbarkeit des Menschen.“18 Da es Souveränität und Legitimität einschließlich der erforderlichen Legitimitätsidee für den demokratischen Verfassungsstaat des Grundgesetzes im analogen Raum gibt, sollen zunächst die geschichtliche Entwicklung und dann die aktuelle Gestalt dieses Legitimitätsmaßstabs kurz in Erinnerung gerufen werden.

18 Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, 6. Aufl. 1982, S. 425; dazu Gantschow, in: Breier/Gantschow (Hrsg.), Vom Ethos der Freiheit zur Ordnung der Freiheit – Staatlichkeit bei Karl Jaspers, 2017, S. 61 (80), der auf die – an sich seit der Antike bekannten – Gefahren einer Volksherrschaft mit tyrannischem Charakter hinweist, wenn der Volkswille zum pluralitätsfeindlichen Kollektivsingular erklärt wird. S. bereits Aristoteles, Politik, übers. u. hrsgg. von Olof Gigon, 1971, IV 1292 a.

III. Entwicklungsgeschichte des Legitimitätsbegriffes Eine stringente, einheitliche Entwicklungsgeschichte der Legitimität von (politischer) Herrschaft oder auch nur der demokratischen Legitimität gibt es bislang nicht. Dies liegt daran, dass die Legitimität als Rechtfertigung von Herrschaftsgewalt untrennbar mit der jeweils aktuell ausgeübten Herrschaft und Herrschaftsform verbunden ist, die historisch alles andere als einheitlich war. Nachfolgend soll eine kurze Skizze der Entwicklungsgeschichte des Legitimitätsbegriffes versucht werden.

1. Römischer Ursprung Die Begriffe „legitim“ und „Legitimität“ haben ihren Ursprung im Römischen Recht: „legitimus“ ist etymologisch abgeleitet von dem Begriff „lex“1, weist aber schon in römischer Zeit verschiedene Bedeutungen auf. Im Mittelpunkt steht zunächst der zivilrechtliche Gebrauch von „legitimus“, der vor allem in familien- und erbrechtlichen Zusammenhängen Anwendung findet2, aber auch allgemein zur Kennzeichnung einer 1

Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 32. – „Lex“ hat eine vielschichtige Bedeutung, die von „Vertrag“ über „Vorschrift“, „Antrag“ bis hin zu „Gesetz“ – im Plural – oder „Verfassung“ reicht, s. Der kleine Stowasser, S. 295; Bretone, Geschichte des römischen Rechts, 2. Aufl. 1998, S. 19, 34 ff. 2 Familienrechtlich etwa als „coniunx legitimus/legitima“, S. Der kleine Stowasser, S. 294; Kaser, Römisches Privatrecht, 14. Aufl. 1986, S. 285: „legitimatio“ als Aufstieg der Konkubinenkinder in die Stellung der ehelichen Kinder („legitimi“); Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 34. – Die familienrechtliche Bedeutung der Legitimation nichtehelicher Kinder hat sich im Zivilrecht bis vor einiger Zeit auch begrifflich erhalten, s. 4. Buch, 2. Abschnitt, 8. Titel des BGB („Legitimation nichtehelicher Kinder“) und insbes. §§ 1719, 1723 BGB a.F. (aufgehoben durch Art. 1 Nr. 48 Kindschaftsreformgesetz vom 16. 12. 1997, BGBl. I S. 2942). – Zu der Rezeption familien- und erbrechtlicher, aber auch anderer Bedeutungen in der älteren deutschen Rechtssprache s. Deutsches Rechtswörterbuch, Sp. 875 ff. – S. auch cap. VII der Goldenen Bulle 1356, in dem

1. Römischer Ursprung

21

Übereinstimmung mit dem Römischen Recht dient.3 Das Römische Recht kennt bereits die Legitimation der Herrschaftsgewalt durch die Einhaltung vorab festgelegter Verfahren;4 auch die festgelegte Ämterlaufbahn zeigt, dass in Rom das Bewusstsein von der legitimierenden Wirkung der Besetzungsverfahren für inhaltlich definierte Ämter existiert.5 Die Relevanz der Ergebnisse einer Herrschaftsgewalt für die Bewertung der Herrschaftsordnung führt Cicero mit seiner Schrift „Über das Gemeinwesen“ in das römische Staatsdenken ein.6 Zugleich weiß man um die Bedeutung eines legitimitätsstiftenden Narrativs: Der erfundene Gründungsmythos Roms mit dem Helden des Trojanischen Kriegs, Aeneas,7 mustergültig von Vergil in der Aeneis dargelegt, beschert dem Römischen Reich einen weihevolleren Start in die Geschichte und dient noch den Kaisern des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation als Ursprungslegitimation. Bedeutsam ist ferner der erbrechtliche Kontext der Zwölf-Tafel-Gesetze, die römisches Urrecht mit einem besonderen Geltungs- und Rechtfertigungsrang darstellen.8 Zugleich findet sich bereits ein spezifisch öffentlich-rechtlicher Gebrauch, etwa in Zusammensetzung wie „imperium legitimum“9 oder „potestas legitima“.10 In diesen beiden für die Thronfolge der Fürsten auch nur der „filius legitimus“ vorgesehen wird. Dazu Zeumer, Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV., Erster Teil, 1908, S. 42 ff. 3 Held, in: von Rotteck/Welcker (Hrsg.), Das Staats-Lexikon, 9. Band, 3. Aufl. 1864, Art. Legitimität, S. 456. 4 Rexroth, Fröhliche Scholastik, 2018, S. 292; zu älteren Wurzeln auch Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1983, S. 11 ff. 5 Zum „cursus honorum“ Burchardi, Staats- und Rechtsgeschichte der Römer, 1841, S. 88 ff.; Dulckeit, Römische Rechtsgeschichte, 2. Aufl. 1957, S. 82 König, Der römische Staat, 2007, S. 174 ff.; Mommsen, Römisches Staatsrecht, Erster Band, 4. Aufl. 1897 (Nachdruck 1960), S. 536 ff. 6 Cicero, De re publica / Über den Staat, übersetzt von Walther Sontheimer, 1956/1983; dazu Merklin, in: Brocker (Hrsg.), Geschichte des politischen Denkens, 5. Aufl. 2018, S. 47 ff. 7 Eingehend Wertheimer, Europa – Eine Geschichte seiner Kulturen, 2020, S. 89 ff.; s. auch Meier, Geschichte der Völkerwanderung, 2. Aufl. 2020, S. 325 f., der zudem auf die Troja-Legitimation der Franken hinweist. 8 S. Bretone, Geschichte des Römischen Rechts, 2. Aufl. 1998, S. 74 ff.; Burchardi, Staats- und Rechtsgeschichte der Römer, 1841, S. 77 ff.; Falck, Juristische Encyklopädie, auch zum Gebrauche bei akademischen Vorlesungen, 4. Aufl. 1839, S. 106 ff.; Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 34 f. 9 S. Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 38 f. m.w.N.

22

III. Entwicklungsgeschichte des Legitimitätsbegriffes

Ausprägungen des römischen Ursprungs liegt bereits der Ansatz, mit dem vor allem im Mittelalter, aber auch noch in der Neuzeit, eine öffentlichrechtliche Herrschaftslegitimität kraft Abstammung des Herrschers begründet wird. Damit ist – nicht zuletzt wegen der Ableitung aus den mit besonderer Weihe ausgestatteten Zwölf-Tafel-Gesetzen – der Weg frei für die Begründung der göttlichen Legitimität weltlicher Herrschaft einschließlich der Thronfolge des Erstgeborenen.11 Und schon ab den römischen Kinderkaisern (Gratian, 367 als Achtjähriger zum Mitkaiser erhoben) erfolgt die Sakralisierung der Herrschaft und damit Zuführung neuer religiöser Legitimität für ihre weltliche Herrschaft,12 die in Ermangelung von Taten noch nicht durch Ergebnisse überzeugen kann.

2. Legitimität weltlicher Herrschaft im europäischen Mittelalter Der Begriff „legitimus“ wird im Mittelalter dann gerade auch für politische und staatsrechtliche Betrachtungen und Auseinandersetzungen zwischen Herrschaftsgewalten verwandt. In mittelalterlichen Urkunden findet er sich meist in der Grundbedeutung „in Übereinstimmung mit der Rechtsordnung“13. Den Schwerpunkt bilden aber Überlegungen zur Rechtfertigung weltlicher Herrschaft im staatsrechtlichen und staatsphilosophischen Schrifttum des Mittelalters, in der Rechtfertigungsüberlegungen für die Herrschaftspraxis eine große Rolle spielen.14 Und auch in grundlegenden Verfassungsurkunden findet sich eine Orientierung an Herrschaftszwecken zur Rechtfertigung der übertragenen Herrschaftsgewalt: Ein Beispiel bietet die Goldene Bulle 135615, in der als Ziele der 10

Verwendung bei Ovid, s. Der kleine Stowasser, S. 294. Dazu Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 38 f. m.w.N. 12 Meier, Geschichte der Völkerwanderung, 2. Aufl. 2020, S. 44 ff.; ausführlich Erkens, Herrschersakralität im Mittelalter, 2006, S. 53 ff. 13 Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 37 f. 14 Althoff, in: ders./Götz/Schubert, Menschen im Schatten der Kathedrale, 1998, S. 59 ff.; Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 39 ff. 15 Abgedruckt bei Koch, Sammlung der Reichs-Abschiede, Erster Theil, 1747, S. 45 ff.; Zeumer, Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung, Erster Teil, 2. Aufl. 1913, S. 192 ff. – Zur Goldenen Bulle Willoweit/Schlinker, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl. 2019, § 11 Rn. 10 f. 11

2. Legitimität weltlicher Herrschaft im europäischen Mittelalter

23

Herrschaft von Karl IV. die Förderung der Wohlfahrt des Reiches sowie die Sicherung von Ordnung und Frieden im Reich ausdrücklich genannt werden.16 Trotz der christlich-theokratischen Herrschaftsausrichtung und der übereinstimmenden Auffassung, dass die weltliche Herrschaft als von Gott eingesetzt zu verstehen ist17, findet keineswegs eine monokausale, allein auf den göttlichen Ursprung zurückgehende Herrschaftsrechtfertigung statt. Vielmehr muss der Herrscher, der Legitimität beanspruchen will, seine Herrschaftsgewalt an den Postulaten christlicher Herrschaftsethik ausrichten, sich an der Erfüllung von Herrschaftszielen messen lassen und gerade diesbezüglich um die Akzeptanz seiner maßgebenden Herrschaftsunterworfenen werben.18 Mit dem Wormser Konkordat 112219 wird der Souveränitätskonflikt zwischen Kaiser und Papst in Gestalt des Investiturstreits beigelegt; zugleich trennen sich die Herrschaftssphären von Papst und Kaiser20 und mit ihnen die Legitimitätsideen. Mit der „translatio imperii“ gelingt dem Kaiser (und seinen Beratern) eine eigenständige, zeitlich noch vor dem Papsttum begründete Legitimation des 16

Zeumer, Die Goldene Bulle, 1908, S. 185. Althoff, in: ders./Götz/Schubert, Menschen im Schatten der Kathedrale, 1998, S. 60, der zugleich auf die daraus resultierenden Vorstellungen von Rechten und Pflichten weltlicher Herrschaft hinweist; Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 46. – Dies entspricht auch der souveränitätstheoretischen „Zwei-Schwerter-Lehre“, die Petrus Damiani schon vor Ausbruch des Investiturstreits konzipiert hat und die sich letztlich bereits auf Papst Gelasius I. im Jahre 496 zurückführen lässt. Dazu Hoffmann, DA 20 (1964), 78 (79); Levison, DA 9 (1952), 14 (16; 28 f.); H. K. Schulze, Grundstrukturen der Verfassung, Band III, 1998, S. 273 ff.; Unruh, Reformation – Staat – Religion, 2017, S. 11 ff. Die maßgebliche Bibelstelle ist Lukas 22, 38: „Sie sprachen aber: Herr, siehe, hier sind zwei Schwerter. Er aber sprach zu ihnen: Es ist genug.“ 18 Althoff, in: ders./Götz/Schubert, Menschen im Schatten der Kathedrale, 1998, S. 60 f. – Prägend insoweit Johannes von Salisbury, Policraticus, ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Stefan Seit, 2008, IV Kap. I (A) 1 f. (S. 59 ff.), der den göttlichen Ursprung jeglicher Herrschaftsgewalt betont, zugleich aber den Fürsten und damit die legitime Herrschaftsgewalt dadurch vom Tyrannen (und damit der illegitimen Macht) abgrenzt, dass der Fürst dem Gesetz gehorcht und dem Gesetz entsprechend das Volk regiert. 19 Abgedruckt bei Koch, Sammlung der Reichs-Abschiede, 1747, Erster Theil, S. 4 f.; Zeumer, Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, Erster Teil, 2. Aufl. 1913, S. 4. 20 Erkens, Herrschersakralität im Mittelalter, 2006, S. 200 ff.; Willoweit/ Schlinker, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl. 2019, § 8 Rn. 8 ff. 17

24

III. Entwicklungsgeschichte des Legitimitätsbegriffes

„Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“.21 Zugleich macht die souveränitätstheoretische Zwei-Schwerter-Lehre22 den Weg frei für eine eigenständige, von der göttlichen Legitimität abgelöste Herrschaftsableitung, die einer eigenen, neuen Legitimität bedarf (gladius spiritualis versus gladius materialis). Schon hier zeigt sich die untrennbare Verbindung von Souveränität und Legitimität. Es entsteht ein reiches und innovatives staatsrechtliches und staatsphilosophisches Schrifttum, das oftmals mit dem Souveränitätskonflikt zwischen Kaiser und Papst in Verbindung steht, der angesichts des ursprünglich gleichen Ableitungsgrundes der Herrschaftsgewalt – von Gott23 – beide Seiten zu neuen, den jeweiligen Vorrang oder zumindest die Unabhängigkeit voneinander begründenden Rechtfertigungsversuchen nötigt. Hervorzuhebende Beispiele derartiger staatsphilosophischer Denker sind Thomas von Aquin (1224/25 – 1274) 24, Wilhelm von Ockham (ca. 1290 – 1349) 25 und Marsilius von Padua (ca. 1275 – 1342).26 Schon

21 Näher Goez, Translatio imperii, 1958; Hoffmann, DA 20 (1964), 78 (109); Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 191 ff.; Willoweit/Schlinker, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl. 2018, § 9 Rn. 1 ff. 22 Zurückgehend auf Lukas 22, 38: „Sie sprachen aber: Herr, siehe, hier sind zwei Schwerter. Er aber sprach zu ihnen: Es ist genug.“ – Der Gebrauch dieses Bildes, das zunächst keinen Bezug zu Reich und Kirche aufweist, lässt sich schon bei Papst Gelasius I. im Jahre 496 nachweisen und ist später maßgeblich von Petrus Damiani zu politischen Zwecken umgewidmet worden. S. dazu insgesamt Levison, DA 9 (1952), 14 (26 ff.); Quaritsch, Staat und Souveränität, Band 1, 1970, S. 64 f.; Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Band 3: Kaiser und Reich, 1998, S. 273 ff. 23 Der grundsätzliche Vorrang göttlicher Herrschaftsrechtfertigung steht im Mittelalter zunächst außer Frage und findet in der Bibel zahlreiche Belege, s. nur Apostelgeschichte des Lukas 5, 29: „Man muss Gott mehr gehorchen denn den Menschen.“ – Ein weiterer biblischer Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist Matthäus, 22, 21: „So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“ 24 Zu Leben und Werk Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 2002, S. 214 ff.; eingehend Leppin (Hrsg.), Thomas Handbuch, 2016, insbes. S. 29 ff., 159 ff.; Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Band 2/2, 2004, S. 203. 25 Zu Leben und Werk Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 2002, S. 287 ff.; Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Band 2/2, 2004, S. 277 ff.; R. Scholz, Wilhelm von Ockham als politischer Denker, 1944, S. 3 ff.

2. Legitimität weltlicher Herrschaft im europäischen Mittelalter

25

bei Thomas von Aquin findet sich die Differenzierung zwischen – von Gott abgeleiteter – Input-Legitimation und einer „Output-Legitimation“, die nur eine gerechte Regierung erreichen könne, welche die Gesellschaft auf das Gemeinwohl hinlenke und nicht am Eigennutz orientiert sei.27 Als Gemeinwohl konkretisiert er die Erhaltung der Gesellschaft und den Frieden; diese überpositiven Ziele dürften von einer gerechten Herrschaft nicht in Frage gestellt werden, sondern nur die Mittel zu ihrer Verwirklichung.28 Auch Wilhelm von Ockham kennt beide Legitimationsstränge, die er miteinander verbindet.29 So muss sich schon bei Ockham die Herrschaft an der Erfüllung ihrer Aufgaben mit Blick auf das Gemeinwohl messen lassen; und diese Bindung folgt aus dem Naturrecht.30 Nach Ockham kann das Reich im Fall der Not seinen König absetzen, ihm also das Vertrauen entziehen angesichts unzureichender Aufgabenerfüllung.31 Damit wird die Akzeptanz der Herrschaftsgewalt durch die Herrschaftsunterworfenen zu einem wesentlichen Kriterium der Legitimität von

26 Zu diesem Löffelberger, Marsilius von Padua – Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat im „defensor pacis“, 1992, S 15.ff.; Miethke, Politiktheorie im Mittelalter, 2008, S. 204 ff.; Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Band 2/2, 2004, S. 260 ff. 27 Thomas von Aquin, De regimine principum, I 1, 4; zitiert nach Matz (Hrsg.), Thomas von Aquin -Über die Herrschaft der Fürsten, 1971. Dazu Miethke, Politiktheorie im Mittelalter, 2008, S. 29 ff. 28 Thomas von Aquin, De regimine principum, I 2; hierzu näher Matz, in: Maier/Rausch/Denzer (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens I, 5. Aufl. 1979, S. 114 (140 ff.); Mensching, in: Brocker (Hrsg.), Geschichte des politischen Denkens, 5. Aufl. 2018, S. 78 ff. 29 Dazu Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 186 f. – Zu Ockham s. Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, 2. Aufl. 2000, S. 498 ff., insbes. S. 513 ff.; Miethke, Politiktheorie im Mittelalter, 2008, S. 248 ff.; dens., in: Voigt/Weiß (Hrsg.), Handbuch Staatsdenker, 2010, S. 446 ff. 30 Wilhelm von Ockham, Octo questiones, II 8, zitiert nach Miethke, Nachwort, in: Wilhelm von Ockham: Dialogus, 1992, S. 209 (222): „Im Regelfall steht der König über seinem Reich. Und dennoch ist er in besonderen Fällen seinem Reich unterworfen: Denn das Reich kann im Fall der Not seinen König absetzen, ja ins Gefängnis werfen, und zwar kraft Naturrechts.“ 31 Wilhelm von Ockham, Dialogus, 1494/1992, II ii cap. 20, S. 163. Ebenso Marsilius von Padua, Defensor Pacis, I 18, § 3; dazu Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt, 2. Neudruck der Ausgabe Breslau 1916, 1968, S. 12 f.

26

III. Entwicklungsgeschichte des Legitimitätsbegriffes

Herrschaftsgewalt.32 Maßgeblicher Gesichtspunkt für die Legitimität der Herrschaftsgewalt wird damit schon im Mittelalter der Wille der Herrschaftsunterworfenen.33 Auch in dieser Konzeption kommt es somit bereits auf das Vertrauen der Herrschaftsunterworfenen an, das sich verändern und dem Herrscher auch entzogen werden kann.34 Und auch Marsilius von Padua leistet eine intensive Ausdifferenzierung der Legitimitätsidee für die weltliche Herrschaft,35 die sowohl Input- als auch Output-Seite umfasst. Auch in seiner Konzeption steht die untrennbare Verbindung von Input- und Output-Legitimation im Vordergrund. Wenn Zweck der Herrschaftsordnung die Erreichung eines vorteilhaften und befriedigenden Daseins aller Menschen sei, dann müssten grundsätzlich alle mit dem befasst sein, was Vorteil und Nachteil aller berühren kann.36 Daraus ist nach Marsilius von Padua nicht nur zu schließen, dass das

32 Wilhelm von Ockham, Breviloquium de principatu tyrannico, Liber IV, cap. 11, abgedruckt in: R. Scholz (Hrsg.), Wilhelm von Ockham als politischer Denker und sein Breviloquium de principatu tyrannico, 1944, S. 39 ff.: „… non acceperunt verum imperium …“, s. auch Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Band 2/2, S. 290 f.; Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 44: „Idee von der legitimierenden Wirkung des Konsenses des Volkes.“ 33 Dazu Reibstein, Volkssouveränität und Freiheitsrechte, 1972, S. 57 f.; Vossenkuhl, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 7. Aufl. 1987/1995, Art. Wilhelm von Ockham, Sp. 997 (999); Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, S. 43 ff. – Diesen Gedanken hat später insbesondere Nikolaus von Kues ausgebreitet, s. Graf Kielmansegg, Volkssouveränität, 1977, S. 73. 34 Wilhelm von Ockham, Breviloquium de principatu tyrannico, Liber IV, cap. 11: „Sed voluntas subditorum potest transmutare huiusmodi principatum, …“ – Zu diesem Gedanken bei Manegold von Lautenbach u. a. s. Ubl, in: Melville/ Staub (Hrsg.), Enzyklopädie des Mittelalters, Band I, 3, Aufl. 2017, S. 36 ff. 35 Bei Marsilius findet sich eine radikale Abkehr von der göttlichen bzw. geistlichen Legitimation der weltlichen Herrschaft, die nun auf eine eigene Legitimationsquelle gestützt werden muss. Dazu Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band I, 2019, S. 852 ff., insbes. 862 ff.; Löffelberger, Marsilius von Padua – Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat im „defensor pacis“, 1992, S. 26 ff. 36 Marsilius von Padua, Defensor Pacis, in: Der Verteidiger des Friedens, aufgrund der Übersetzung von Walter Kunstmann bearbeitet von Horst Kusch, Auswahl und Nachwort von Heinz Rausch, 1971, I 12, § 7. – Zu Marsilius s. Lüddecke, in: Brocker (Hrsg.), Geschichte des politischen Denkens, 5. Aufl. 2018, S. 93 ff.; Miethke, in: Voigt/Weiß (Hrsg.), Handbuch Staatsdenker, 2010, S. 273 ff.; dens., Politiktheorie im Mittelalter, 2008, S. 204 ff.

2. Legitimität weltlicher Herrschaft im europäischen Mittelalter

27

Herrschafts- und Gesetzgebungsrecht der Gesamtheit zustehe37 und von einem repräsentativen, gewichtigeren oder wertvolleren38 Teil nach dem Mehrheitsprinzip ausgeübt werde39, sondern auch eine Herrschaftslegitimation durch die Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen oder zumindest deren Mehrheit stattfindet.40 Damit lassen sich schon im Mittelalter zwei Gesichtspunkte der Legitimität nachweisen, die man heute mit „Input“- und „Output“-Legitimität kennzeichnet: Maßgebend ist zum einen eine begründbare, lückenlose Ableitung der Herrschaftsgewalt von Gott. Zum anderen kommt es auch maßgeblich auf die Ergebnisse der Herrschaftsgewalt und damit auf ein Anstreben sowie möglichst gutes Erreichen von Herrschaftszwecken wie Frieden, Gerechtigkeit, Wohlbefinden und Fortschritt des Gemeinwesens an, die dementsprechend auch bei konkreten Herrschaftsund insbesondere Rechtsetzungsmaßnahmen in Bezug genommen werden. Das Mittelalter leistet darüber hinaus auch bereits die Ausdifferen37 Marsilius von Padua, Defensor Pacis, I 12, § 8; I 13, § 8; zum Aspekt der Volkssouveränität Hofmann, Repräsentation – Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, 1974, S. 191 ff.; Graf Kielmansegg, Volkssouveränität, 1977, S. 61 ff.; Reibstein, Volkssouveränität und Freiheitsrechte I, 1972, S. 34 ff. 38 Marsilius von Padua, Defensor Pacis, I 12, § 3; I 14, § 8 a. E. – Zu diesem „valencior pars“ Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Band 2/2, S. 270 ff; Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 188 f.; ders., in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Band 2, 7. Aufl. 2018, Art. 42 Rn. 4; Sternberger, Die Stadt und das Reich in der Verfassungslehre des Marsilius von Padua, 1981, Nr. 30 (S. 48 ff.). 39 Marsilius von Padua, Defensor Pacis, I 12, § 5; I 13, §§ 2, 8; zum Aspekt der Repräsentation Hofmann, Repräsentation, 1974, S. 191 ff.; Reibstein, Volkssouveränität und Freiheitsrechte I, 1972, S. 36 f. 40 Neben den in den vorigen Fußnoten genannten Stellen s. auch Marsilius von Padua, Defensor Pacis, I 12, § 6, und I 13, § 6. – Dahinter steht die in korporationsrechtlicher Tradition stehende und zu damaliger Zeit Allgemeingut darstellende Vorstellung der Erforderlichkeit des Konsenses für Ausübung von Herrschaftsgewalt und insbesondere Rechtsetzung, die in der „Quod omnes tangit debet ab omnibus approbari“ Formel ihren Ausdruck findet. Dazu Congar, in: Rausch (Hrsg.), Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung, Band 1, 1980, S. 115 ff.; Marongiu, ebd., S. 183 ff.; Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Band 2/2, 2004, S. 290 f., im Hinblick auf Ockham; Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 189 mit Fn. 263. S. auch Ubl, in: Melville/Staub (Hrsg.), Enzyklopädie des Mittelalters, Band I, 3. Aufl. 2017, S. 37 ff.

28

III. Entwicklungsgeschichte des Legitimitätsbegriffes

zierung von Person und Amt des Herrschers. Der Amtsbegriff wird als Bezugsobjekt sowie zur Rechtfertigung und Begrenzung von Herrschaftsgewalt herangezogen und liefert damit wichtige Impulse für eine von familiären Ursprüngen losgelöste Legitimation. Unter dem philosophischen Einfluss der Spätscholastik und des Neustoizismus werden ethisch begründete Herrschaftszwecke wie Gerechtigkeit oder Gemeinwohl zum normativen Maßstab der Legitimität entwickelt.41 Und schließlich darf die Legitimationsleistung des Lehnswesens42 für die Herrschaftsgewalt im mittelalterlichen Staat nicht übersehen werden, die Input- und Output-Elemente kombiniert, zugleich aber die individualrechtliche Basis der Legitimität politischer Herrschaft im Mittelalter belegt.43 Nicht ohne Grund widmet sich der zweite Teil des Sachsen-

41 Deutlich etwa Erasmus von Rotterdam, Institutio Principis Christiani/Die Erziehung eines christlichen Fürsten, eingeführt, übersetzt und bearbeitet von Anton J. Gail, 1968, cap. VI (S. 165 f.): „Die besten Gesetze unter dem bestmöglichen Fürsten machen den Staat oder das Reich vor allem glücklich. Sein Zustand ist dann der günstigste, wenn alle dem Fürsten gehorchen, der Fürst selbst den Gesetzen gehorcht, die Gesetze aber dem Leitbild der Gerechtigkeit und Ehrenhaftigkeit entsprechen und auf nichts anderes hin entworfen sind als auf den Fortschritt des Gemeinwesens. (…) Bei der Gesetzgebung ist vor allem darauf zu achten, daß man ihr keine fiskalische Gewinnabsicht oder Privatinteresse der oberen Schichten nachsagen kann, sondern daß sie das Leitbild des Ehrenhaften und das Staatsinteresse erkennen läßt, doch auch dieses Interesse nicht in der landläufigen Auffassung anzeigt, sondern nach dem Gebot der Weisheit fordert, die überall die Fürsten beraten muß.“ 42 Lück, Der Sachsenspiegel, 2017, S. 77 ff.; Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters, 10. Aufl. 1980, S. 4 ff.; Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Band 1, 3. Aufl. 1995, S. 54 ff.; Spieß, Das Lehnswesen in Deutschland im hohen und späten Mittelalter, 3. Aufl. 2011, S. 25 ff. 43 Wesentliche Funktion des Lehnsverhältnisses mit seiner wechselseitigen Treueverpflichtung und Begründung eines Vertrauensverhältnisses ist gerade die Legitimation politischer Herrschaft. Diesen Aspekt betont auch Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Band 1, 3. Aufl. 1995, S. 69 f. Die legitimatorische und herrschaftsstabilisierende Funktion des Lehnsverhältnisses wird deutlich an dem neuen Treueeid, den Karl der Große in einem Kapitular im Jahre 802 (Capitularia Missorum) von Kronvasallen und allen Untertanen verlangte (abgedruckt und erläutert bei Ganshof, Was ist das Lehnswesen?, 1961, S. 30, 35): „Durch diesen Eid verspreche ich, meinem Herrn, dem sehr frommen Kaiser Karl, Sohn des Königs Pippin und der Bertha, treu zu sein, wie von Rechts wegen ein Vasall seinem Herrn zur Erhaltung seines Reiches und zur Wahrung seines Rechtes sein soll. Und ich werde und will diesen von mir geschworenen Eid halten, so wie ich

3. Herausbildung des modernen Staates

29

spiegels dem Lehnsrecht.44 Wesentlicher Inhalt der Lehnsbindung ist die Vertrauen begründende und Herrschaft stabilisierende wechselseitige Treueverpflichtung45, die ein Netz individualrechtlicher Legitimationsakte errichtet und so den Personenverbandsstaat des Mittelalters trägt und legitimiert.46 Gerade der Treueeid und die Gegenseitigkeit des Lehnsverhältnisses47 sorgten dafür, dass der freie Rechtsstand, die Freiheit und die Würde des Vasallen – im Gegensatz zu dem Unfreien – erhalten blieben.48 Es sind dies Elemente einer individualrechtlichen, noch nicht an Territorien gebundenen Legitimationskonstruktion, die – bei allen Unterschieden – auch für digitale Räume interessantes Anschauungsmaterial bereithält.

3. Herausbildung des modernen Staates Zu Beginn der neuzeitlichen Staatsbildung haben die Herrschaftstheoretiker die Legitimität der Sache nach schon als Kategorie mit zwei Komponenten konzipiert – der Input- und Output-Legitimität. Mit der zuvor erfolgten Ausdifferenzierung zwischen Person und Amt des Herrschers ist nun der Weg frei für andere als religiöse Ableitungen – so etwa zu es weiß und verstehe, künftig von diesem Tage an, wenn mir Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde, und diese Reliquien helfen.“ 44 Abgedruckt bei Ebel (Hrsg.), Sachsenspiegel – Landrecht und Lehnrecht, 1993. 45 Eingehend Ganshof, Was ist das Lehnswesen?, 1961, S 27 ff., 35 f., 77 ff., 88 ff.; Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters, 10. Aufl. 1980, S. 58 ff.; Spieß, Das Lehnswesen in Deutschland im hohen und späten Mittelalter, 3. Aufl. 2011, S. 30 f. 46 Das auf einem persönlichen (Vasallität) und einem dinglichen (Benefizium) Strang beruhende Lehnsverhältnis hält die Herrschaft im Mittelalter netzwerkartig zusammen und nimmt so eine wichtige Funktion im Prozess der mittelalterlichen Staatsbildung ein. Deutlich dokumentiert im Sachsenspiegel, Lehnrecht, III., abgedruckt bei Ebel (Hrsg.), Sachsenspiegel – Landrecht und Lehnrecht, 1993, S. 174 f.; s. Krieger, König, Reich und Reichsreform im Spätmittelalter, 1992, S. 74 f.; Mitteis, Lehnrecht und Staatsgewalt, 1933, S. 5 ff., 16 ff., 107 ff. – Längst hat sich jedenfalls in der Geschichtswissenschaft die Auffassung durchgesetzt, dass das Lehnswesen nicht privatrechtlicher Natur, sondern Teil der öffentlich-rechtlichen Ordnung mit herrschaftsstabilisierendem Charakter ist. 47 Dementsprechend war das Vasallenverhältnis ein synallagmatischer Vertrag, Ganshof, Was ist das Lehnswesen?, 1961, S. 86 ff. 48 Ganshof, Was ist das Lehnswesen?, 1961, S. 85; Rösener, in: Melville/Staub (Hrsg.), Enzyklopädie des Mittelalters, Band 1, 2017, S. 54 (55)

30

III. Entwicklungsgeschichte des Legitimitätsbegriffes

frühen Formen der Volkssouveränität.49 Am Übergang zur Moderne, in der Renaissance, finden wir dann eine anthropologische, gar schon anthropozentrische Korrektur des Menschenbildes50 durch Pico della Mirandolas (1463 – 1494) frühe Konzeption der Menschenwürde, die für Kirche und weltliche Herrschaft gefährlich werden muss, aber einen weiteren zentralen Baustein heutiger Legitimitätskonzeptionen in Ansätzen liefert. Pico stellt den Menschen in die Mitte der Welt51 – und langfristig kommt man dann in Europa nicht mehr an dieser Position vorbei, wenn man die Legitimität von Herrschaftsgewalt begründen will. Die Freiheit, über das eigene Schicksal zu entscheiden52, macht die Würde des Menschen aus53 und wird später zum untrennbaren Bestandteil des 49

Marsilius von Padua, Defensor Pacis, I 12, § 3; I 13, § 2; Erasmus von Rotterdam, Institutio Principis Christiani, /Die Erziehung eines christlichen Fürsten, eingeführt, übersetzt und bearbeitet von Anton J. Gail, 1968, S. 30 f. („consensus omnium“). 50 Dazu Roeck, Der Morgen der Welt, 2. Aufl. 2018, S. 794 f.; Schlögel, Anwesende und Abwesende, 2014, S. 375 ff. – Auch insoweit liegen die Wurzeln aber im Mittelalter, s. Derschka, Individuum und Persönlichkeit im Hochmittelalter, 2014, S. 73 ff., 193 ff. 51 Dazu Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 6. Aufl. 2012, S. 609: „Der Mensch ist in die Welt weniger gestellt denn ausgesetzt. Aus einer antiken Vorzugsstellung als Weltbetrachter ist die Ausgangsstellung des Weltbemächtigers und Selbstgestalters geworden, der Betrachtung und Bewunderung erst zu leisten vermag, nachdem er sich selbst realisiert und justiert hat.“ 52 Pico della Mirandola, De hominis dignitate – Über die Würde des Menschen, herausgegeben und übersetzt von Gerd von der Gönna, 2009, S. 9: „Du wirst von allen Einschränkungen frei nach Deinem eigenen freien Willen, dem ich Dich überlassen habe, Dir selbst Deine Natur bestimmen. In die Mitte der Welt habe ich Dich gestellt, damit Du von da aus bequemer alles ringsum betrachten kannst, was es auf der Welt gibt. Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich Dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich Dich gemacht, damit Du wie ein Former und Bildner Deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt Dich ausbilden kannst, die Du bevorzugst. Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche.“ – Ansätze zu dieser radikalen Auffassung finden sich allerdings bereits bei Marsilius von Padua, Defensor Pacis, 1324, II 12, §§ 3, 16, der vom menschlichen freien Willen spricht, der den Menschen unter allen Lebewesen allein zur Herrschaft über seine Handlungen befähige; diese Herrschaft sei dem Menschen von Natur aus eigen. S. dazu auch Löffelberger, Marsilius von Padua – Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat im „defensor pacis“, 1992, S. 55 ff. 53 Lembcke, in: Gröschner/Kapust/Lembcke (Hrsg.), Wörterbuch der Würde, 2014, S. 31.

3. Herausbildung des modernen Staates

31

Staatsdenkens. Bereits im 16. Jahrhundert werden dann erste Ansätze einer Idee des autonomen Individuums, das Ausgangs- und Bezugspunkt von Herrschaftsgewalt und damit auch deren Legitimität wird, ausgearbeitet.54 Eine Alternative in Gestalt einer radikal nüchternen funktionalen Herrschaftsrechtfertigung liefert hingegen Niccolò Machiavelli (1469 – 1528) mit seinem Werk „Il principe / Der Fürst“.55 Dieser von bisherigen ethischen Vorstellungen befreite „Fürstenspiegel“56 ist eine Anleitung für den skrupellosen Herrscher, bietet eine ergebnisorientierte Herrschaftsrechtfertigung57 und begründet letztlich die Staatsräson als Legitimationstitel.58 Zugleich befördert auch die von Martin Luther (1483 – 1546) 59 und anderen im Zuge der Reformation ausgearbeitete Zwei-Reiche-Lehre eine eigenständige Legitimation der weltlichen bzw. fürstlichen Herrschaftsgewalt,60 auch wenn sie (wie so oft) mit theologischer, nicht explizit staatstheoretischer Zielsetzung entwickelt wurde.61 54

Dazu näher Graf Kielmansegg, Volkssouveränität – Eine Untersuchung der Bedingungen demokratischer Legitimität, 1977, S. 74 f., 85. 55 Machiavelli, Der Fürst, übers. von August Wilhelm Rehberg, 5. Aufl. 2018; lesenswerte Biographie von Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht, 2014; s. ferner Münkler, in: Brocker (Hrsg.), Geschichte des politischen Denkens, 5. Aufl. 2018, S. 108 ff.; Saracino, in: Voigt/Weiß (Hrsg.), Handbuch Staatsdenker, 2010, S. 261 ff. 56 Zu den Tabubrüchen Saracino, in: Voigt/Weiß (Hrsg.), Handbuch Staatsdenker, 2010, S. 261 (264). – Ausdrücklich hingewiesen sei aber auch auf Machiavelli, Discorsi, 1531 – diese die Römische Republik zum Vorbild erklärende „Staatslehre“ nähert sich deutlich einem Fürstenspiegel an. 57 Dazu Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band I, 2019, S. 886 ff. 58 Saracino, in: Voigt (Hrsg.), Staatsdenken, 2016, S. 55 (58); herausgearbeitet bereits bei Meinecke, Die Idee der Staatsräson, 1924, S. 31 ff.; kulturgeschichtliche Einordnung bei Reinhardt, Die Macht der Schönheit, 2019, S. 279 ff. – Grundlegend im Anschluss Botero, Della Ragione di Stato, 1589. Zur Rezeption der Staatsräson in Deutschland von Beyme, Geschichte der politischen Theorien in Deutschland 1300 – 2000, 2009, S. 96 ff. 59 Vor allem Luther, Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei, 1523, abgedruckt in: Metzger (Hrsg.), Calwer Luther-Ausgabe, Band 4, 1965, S. 11 ff.; dazu Heckel, Martin Luthers Reformation und das Recht, 2016, S. 562 ff.; Preuß, in: Brocker (Hrsg.), Geschichte des politischen Denkens, 5. Aufl. 2018, S. 137 ff.; Unruh, Reformation – Staat – Religion, 2017, S. 24 ff. 60 Heckel, Martin Luthers Reformation und das Recht, 2016, S. 577 f.; Unruh, Reformation – Staat – Religion, 2017, S. 32 ff. 61 Heckel, Martin Luthers Reformation und das Recht, 2016, S. 559, 561.

32

III. Entwicklungsgeschichte des Legitimitätsbegriffes

Ohnehin ist die beginnende Moderne gekennzeichnet durch eine zunehmende Säkularisierung und damit Ablösung von (rein) theologischen Legitimitätsgründen.62 Mit den Glaubensstreitigkeiten und der damit einhergehenden Verfolgung „Andersgläubiger“ in den Religionskriegen entsteht ein elementares Bedürfnis nach Sicherheit, die nun zu einem besonders legitimierenden Herrschaftszweck aufsteigt.63 Das Nachdenken über legitime, soll heißen: gute und gerechte Herrschaft, über die Begründung bzw. Ableitung und Rechtfertigung von Herrschaftsgewalt sowie über das Widerstandsrecht64 gegenüber tyrannischer, ungerechter Herrschaft wird verständlicherweise dort besonders gefördert, wo religiöse Verfolgung durch die weltliche Herrschaft stattfindet. Die religiösen Auseinandersetzungen und Bürgerkriege in Frankreich und England, aber gerade auch der Dreißigjährige Krieg auf deutschem Territorium bieten genügend Anlass, die Tragfähigkeit (allein) göttlicher Legitimation von Herrschaftsgewalt in Frage zu stellen. Neben der praktischen Politik kümmert sich aber auch die Staatslehre weiter intensiv um die Legitimität. Die Kategorie der Legitimität findet sich etwa bei Johannes Althusius (1557 – 1638) zur Abgrenzung der „guten Herrschaft“ vom Tyrannen.65 „Legitimus“ bedeutet bei ihm recht- und gesetzmäßig und dient zur

62 Eingehend Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 6. Aufl. 2012, insbes. S. 139 ff. 63 Damit soll aber nicht behauptet werden, dass Sicherheit zuvor keine Rolle gespielt hätte. Während des mittelalterlichen (Deutschen) Reiches spielte die Landfriedensbewegung eine große Rolle, bis schließlich der „Ewige Landfriede“ 1495 (abgedruckt bei Koch, Sammlung der Reichs-Abschiede, Zweyter Theil, 1747, S. 3 ff.) als Teil der Reichsreform die Sicherheit besser werden ließ. Dazu Angermeier, Königtum und Landfriede im deutschen Spätmittelalter, 1966, S. 11 ff., 322 ff., 533 ff.; Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, 1970, S. 128 f.; Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren, 2015, S. 153 ff.; Willoweit/Schlinker, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl. 2019, § 7 Rn. 25 f., § 15 Rn. 8 ff.; s. auch Whaley, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, Band I (1493 – 1648), 2018, S. 57 ff. 64 Eingehend Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt, 2. Neudruck der Ausgabe Breslau 1916, 1968; s. auch Graf Kielmansegg, Volkssouveränität, 1977, S. 80 ff. 65 Althusius, Politica, Faksimiledruck der 3. Aufl. Herborn 1614, 1961, XVIII, §§ 32 ff.; Reibstein, Volkssouveränität und Freiheitsrechte I, 1972, S. 169 f.; Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 57, 60.– Zu Althusius Nitschke, in: Voigt/Weiß (Hrsg.), Handbuch Staatsdenker, 2010, S. 18 ff.

3. Herausbildung des modernen Staates

33

Überprüfung anhand der das Gemeinwesen konstituierenden lex fundamentalis.66 Mit der souveränitätstheoretischen Neuausrichtung bedarf die Herrschaft einer neuen Legitimität – aus Sicht vieler Staatsdenker ist es die innere Sicherheit, die als Zweck der Herrschaftsgewalt zugleich ihren wichtigsten legitimierenden Grund abgeben soll.67 Die neue Radikalität dieses Denkens zeigt sich etwa bei Jean Bodin (1529 oder 1530 – 1596) 68, bei dem die an der Sicherheit orientierte selbstzweckhafte Herrschaft an sich keiner Legitimation bedarf. Dennoch knüpft auch Bodin ein schmales rechtliches Legitimationsband durch die Bindung des Herrschers an die „leges fundamentales“: Die Legitimität der Herrschaft hängt von der Beachtung dieser Naturgesetze ab, die von dem Herrscher vor allem die Beachtung der „Prinzipien der natürlichen Gerechtigkeit“ verlangen.69 Noch deutlicher ge- und fast übersteigert findet sich Sicherheit bei Thomas Hobbes (1588 – 1679).70 Sicherheit ist für ihn der alles bestimmende Herrschaftszweck, der legitimierende Ur-Grund der weltlichen Herrschaftsgewalt.71 Zweck der Staatserrichtung und zugleich (legitimierender) Endzweck des Staates ist die Gewährleistung von Frieden und

66 Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, S. 58; Wyduckel, Rechtstheorie 29 (1998), 211 (217); ders., in: Wyduckel (Hrsg.), Johannes Althusius – Politik, 2003, S XXIX ff. 67 Dazu näher Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 73 ff., 199 ff. 68 Zu diesem Campagna, in: Voigt (Hrsg.), Staatsdenken, 2016, S. 60 ff.; Denzer, in: Maier/Rausch/Denzer (Hrsg.), Klassiker politischen Denkens I, 5. Aufl. 1979, S. 321 ff.; Niedhart, in: ders. (Hrsg.), Jean Bodin – Über den Staat, 1976, S. 121 ff.; Opitz-Belakhal, in: Voigt/Weiß (Hrsg.), Handbuch Staatsdenker, 2010, S. 56 ff.; Weber, in: Brocker (Hrsg.), Geschichte des politischen Denkens, 5. Aufl. 2018, S. 151 ff.; Weber-Fas, Über die Staatsgewalt, 2000, S. 91 ff. 69 Bodin, Über den Staat, II 3, S. 279 f.; dazu Tuck, The Sleeping Sovereign, 2016, S. 1 ff.; Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 80. 70 Zu diesem Asbach, in: Voigt (Hrsg.), Staatsdenken, 2016, S. 64 ff.; Höffe, Thomas Hobbes, 2010; Kersting, in: Brocker (Hrsg.), Geschichte des politischen Denkens, 5. Aufl. 2018, S. 212 ff.; Maier, in: ders./Rausch/Denzer (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens I, 5. Aufl. 1979, S. 351 ff.; Weber-Fas, Über die Staatsgewalt, 2000, S. 101 ff.; Weiß, in: Voigt/Weiß (Hrsg.), Handbuch Staatsdenker, 2010, S. 172 ff. 71 Hobbes, Leviathan, XVII; Morgenthaler, Freiheit durch Gesetz, 1999, S. 81.

34

III. Entwicklungsgeschichte des Legitimitätsbegriffes

Sicherheit der Bürger.72 Der Staat legitimiert sich nicht durch Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern schlicht aus seiner starken Existenz und faktischen Macht, die Sicherheit schafft: „Auctoritas non veritas facit legem“.73 Die größtmögliche Sicherheit und die sicherste Verhinderung eines Rückfalls in den bürgerkriegsähnlichen Naturzustand bewirken als „output“ des Staates seine Legitimität, letztlich sogar seine Existenz.74 Neu und bedeutsam an dieser Konzeption ist die rein weltliche Herrschaftslegitimation, die auf „input“ in Form des Gesellschaftsvertrages und vor allem auf „output“ in Form der Sicherheitsgewährleistung abstellt.75 Die Zähmung76 des Hobbes’schen Leviathan gelingt dann John Locke (1631 – 1704) 77, dem es um die Begründung und Rechtfertigung legitimer Herrschaft über im Naturzustand grundsätzlich freie und gleichberechtigte Bürger geht.78 Die Herrschaftsbegründung konstruiert er auch eher natur- und vernunftrechtlich mit Hilfe eines Gesellschaftsvertrages, wobei 72 Hobbes, Leviathan, XVII, (S. 151 f.); XVIII (S. 160); XXI (S. 193); Morgenthaler, Freiheit durch Gesetz, 1999, S. 81; Röttgers, Spuren der Macht, 1990, S. 151; Weber-Fas, Über die Staatsgewalt, 2000, S. 111. 73 Hobbes, Leviathan, XXVI; Höffe, Thomas Hobbes, 2010, S. 159 ff.; Maier, in: ders./Rausch/Denzer (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens I, 5. Aufl. 1979, S. 351 (374); von Unruh, Der Staat, 1985, S. 54. 74 Hobbes, Leviathan, XVII, S. 155 f.; M. G. Schmidt, Demokratietheorien, 3. Aufl. 2000, S. 61, 65. 75 Adam, Despotie der Vernunft?, 1999, S. 27 ff.; Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang des Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 92 (105 f.); Hüning, Freiheit und Herrschaft in der Rechtsphilosophie des Thomas Hobbes, 1998, S. 192; M. G. Schmidt, Demokratietheorien, 3. Aufl. 2000, S. 66. 76 Selbst Hobbes nahm immerhin eine Bindung der Herrschaftsgewalt an natürliche Gesetze an, die göttlichen Ursprungs seien und von keinem Menschen und in keinem Staat aufgehoben werden könnten, s. Leviathan, XXIX (S. 270); hierzu näher Hüning, Freiheit und Herrschaft in der Rechtsphilosophie des Thomas Hobbes, 1998, S. 94 ff.; Ludwig, Die Wiederentdeckung des epikureischen Naturrechts, 1998, S. 271 ff.; zurückhaltender Röttgers, Spuren der Macht, 1990, S. 151. 77 Zu diesem Brocker, in: ders. (Hrsg.), Geschichte des politischen Denkens, 5. Aufl. 2018, S. 258 ff.; Ionescu-Salzborn, in: Voigt (Hrsg.), Staatsdenken, 2016, S. 69 ff.; von Schlieffen/Nolting, Rechtsphilosophie, 2018, S. 191 ff.; Weber-Fas, Über die Staatsgewalt, 2000, S. 115 ff.; Weiß, in: Voigt/Weiß (Hrsg.), Handbuch Staatsdenker, 2010, S. 242 ff. 78 Locke, Über die Regierung, II 4; Bringmann, Das Volk regiert sich selbst, 2019, S. 152 f.; M. G. Schmidt, Demokratietheorien, 3. Aufl. 2000, S. 67.

3. Herausbildung des modernen Staates

35

sein Naturzustand von einem optimistischeren Menschbild als bei Hobbes geprägt ist.79 Radikal ist bei Locke die Neubestimmung der Herrschaftszwecke, die Legitimität begründen können. Maßgeblich sind für ihn Sicherheit, Freiheit und Eigentum der Bürger.80 Zur Erreichung dieser Herrschaftszwecke, vor allem aber zum Zwecke des Schutzes der bürgerlichen Freiheitsbereiche begründen die Menschen das staatliche Gewaltmonopol.81 Mit der Erweiterung der Herrschaftszwecke kann die Rechtfertigung der souveränen Herrschaftsgewalt nicht mehr allein aus sich heraus, auch nicht aus einer erfolgreichen Gewährleistung von Sicherheit allein resultieren. Die Legitimität tritt als eigenständige Kategorie wieder aus dem Schatten der Souveränität heraus und erfährt bei Locke eine neue Verbindung mit dieser. Das inhaltliche, am Ergebnis der Herrschaftsgewalt orientierte Legitimitätsverständnis des Mittelalters bleibt dabei erhalten, indem die „felicitas publica“, also das Gemeinwohl, durch die bestmögliche Erfüllung der Herrschaftsziele erreicht wird.82 Die gesellschaftsvertraglichen Konzeptionen sind neue Souveränitätsund Legitimationskonzepte,83 die im Zeitalter der Aufklärung zur Lehre von der Volkssouveränität werden. Vor allem Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) 84 konzipiert die Volkssouveränität konsequent als Legitimationsprinzip. Der Gesellschaftsvertrag dient aber zur Rechtfertigung einer absoluten Herrschaftsgewalt und einer freiheitsnegierenden absoluten Gleichheit der Bürger. Neu ist insbesondere der Austausch der Souveräne: Das Volk rückt an die Stelle des absoluten Herrschers, der bislang als Monarch auftrat. Damit ist souveränitäts- und legitimations79 Locke, Über die Regierung, VIII, 104; IX, 131. – Zu der Vertragsidee Münkler/Straßburger, Politische Theorie und Ideengeschichte, 2016, S. 188 ff. 80 Locke, Über die Regierung, IX, 131; Mayer-Tasch, in: ders. (Hrsg.), John Locke – Über die Regierung, 1974, S. 189 (214); Weber-Fas, Über die Staatsgewalt, 2000, S. 123. 81 Locke, Über die Regierung, IX, 128, 130. 82 Wirkmächtig etwa Lodovico Antonio Muratori, Von der Glückseeligkeit des gemeinen Wesens, übers. von Johann Theodor Osten, 1758, I. Hauptstück, S. 6 f. 83 Eingehend Rolin, Der Ursprung des Staates, 2005, S. 59 ff. 84 Zu diesem Forschner, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 1985 ff./ 1995, Art. Rousseau, Sp. 946 f.; Herb, in: Brocker (Hrsg.), Geschichte des politischen Denkens, 5. Aufl. 2018, S. 303 ff.; Hidalgo, in: Voigt (Hrsg.), Staatsdenken, 2016, S. 93 ff.; von Schlieffen/Nolting, Rechtsphilosophie, 2018, S. 249 ff.; WeberFas, Über die Staatsgewalt, S. 151 ff.; Weiß, in: Voigt/Weiß (Hrsg.), Handbuch Staatsdenker, 2010, S. 357 ff.

36

III. Entwicklungsgeschichte des Legitimitätsbegriffes

theoretisch ein Gegenentwurf zur Fürstensouveränität entstanden, der seine Wirkmächtigkeit im 19. und 20. Jahrhundert zu entfalten beginnt – im Guten wie im Schlechten. Denn Rousseaus Gesellschaftsvertrag negiert Repräsentation85 und erfordert „die völlige Entäußerung jedes Mitglieds mit allen seinen Rechten an das Gemeinwesen als Ganzes“86, also „totale Hingabe“ aller Rechte, Freiheiten und des gesamten Besitzes an den Volkssouverän, damit die Bedingungen und die bürgerliche Freiheit für alle die gleichen sind.87 Dieser Grundgedanke zieht sich durch die gesamte Schrift88, deshalb ist für Rousseau trotz gegenteiliger Lippenbekenntnisse Zweck und Ziel der Herrschaft nicht die Freiheit, sondern die Gleichheit, und zwar eine absolute, totale Gleichheit. Damit wird die Gleichheit der Bürger zum maßgeblichen Herrschaftszweck, der eine output-Legitimität begründet.89 Die Bedeutung Rousseaus liegt darin, dass er mit der radikalen und vollständigen Ersetzung Gottes durch das Volk den Säkularisierungsprozess bei den Legitimationstheorien abschließt.90 Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt gehen bei ihm eine neuerliche Bindung ein. Mit Hilfe des Gesellschaftsvertrages entsteht ein absoluter Souverän ohne rechtliche Bindungen mit Ausnahme des angeblich gemeinwohlkonkretisierenden Gemeinwillens, ohne weitere Bindungen an Herrschaftszwecke mit Ausnahme absoluter Gleichheit der Bürger, ohne menschen- bzw. grundrechtliche Freiheitsbereiche der Bürger – all dies ist mitzudenken, wenn Rousseau vorschnell als „Theoretiker der modernen europäischen Demokratie“ bezeichnet wird.91 Wohl liegt aber bei Rous85

Deutlich Bringmann, Das Volk regiert sich selbst, 2019, S. 156 ff. Rousseau, Gesellschaftsvertrag (oder Grundsätze des Staatsrechts), in Zusammenarbeit mit Eva Pietzcker neu übersetzt und herausgegeben von Hans Brockard, 1977/1986, I 6 (S. 17). 87 Rousseau, Gesellschaftsvertrag, I 8 f. (S. 22 ff ). S. dazu Adomeit/Mohr, Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 4. Aufl. 2017, Teil 6 Rn. 22 ff., insbes. Rn. 35 f. 88 Vgl. Russell, Philosophie des Abendlandes, 9. Aufl. 2000, S. 704. 89 Hier liegt denn auch der Anknüpfungspunkt, der Rousseau in der Französischen Revolution und insbesondere bei Robbespierre attraktiv gemacht hat, s. Kuhn, Die Französische Revolution, 2012, S. 26 ff., insbes. S. 30. – Zu diesem Einfluss am Beispiel des Widerstandsrechts Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes, 1916 (2. Neudruck 1968), S. 358 ff. 90 Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S. 69; Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 107. 91 Vgl. – allerdings selbst ablehnend oder zurückhaltend – Brandt/Herb, in: dies. (Hrsg.), Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, 2000, S. 3 (10); Fetscher, 86

3. Herausbildung des modernen Staates

37

seau der Ursprung für die Verschmelzung von Volkssouveränität und Demokratie als Staatsform, zu der sich später noch die Gedanken der Staatssouveränität und des Volkes als Nation hinzugesellen. Hieran wird letztlich bis heute festgehalten, wie Art. 20 Abs. 2 S.1 GG und seine Auslegung zeigen. Die Neuorientierungen im Legitimitätsdenken kommen den neu entstehenden Territorialstaaten zugute, die jeweils ihre eigene weltliche Rechtfertigung benötigen.92 Auch wenn die Legitimitätsfrage zunächst sekundär ist, da die staatstheoretischen Überlegungen sich vor allem auf die Erklärung der komplizierten Reichsverfassung und Staatsform des Reiches richten und von der Reichsstaatslehre diskutiert werden93, so bedarf die Inanspruchnahme eigener Souveränität durch Landesfürsten zunehmend einer eigenen originären Rechtfertigung. Die naturrechtlich fundierten Lehren vom Gesellschaftsvertrag gewinnen zunehmend an Bedeutung.94 Mit der Verwirklichung des Gemeinwohls als Herrschaftszweck und unter Rückgriff auf die mittelalterliche und frühneuzeitliche Aristoteles-Rezeption vollzieht das naturrechtliche Denken angesichts der Anforderung, eine rein weltliche Herrschaftsrechtfertigung zu finden, auch in der komplementären Herrschaftsordnung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation einen Entwicklungsschritt in Richtung Moderne. Zugleich treten weitere Staatsziele hinzu bzw. verändern ihre Gewichtung: Die Regulierung der Wirtschaft, intensivere GesundheitsRousseaus politische Philosophie, 2. Aufl. 1968, S. 260; Habermas, in: Horn (Hrsg.), Verlockungen zur Unfreiheit, 2015, S. 315 ff.; M. G. Schmidt, Demokratietheorien, S. 109; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 17. Aufl. 2017, S. 114 f. – Zur unterschiedlichen Rezeption in Abhängigkeit von den jeweils herrschenden Denkauffassungen Hidalgo, in: Voigt (Hrsg.), Staatsdenken, 2016, S. 97. 92 S. dazu Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2009, S. 93 ff. – Zeitgenössisch etwa Hippolithus a Lapide (= Bogislaw von Chemnitz), Dissertatio de ratione status in nostro Imperio Romano-Germanico, 2. Aufl. 1647; zu Chemnitz s. Hoke, in: Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker in der Frühen Neuzeit, 3. Aufl. 1995, S. 118 ff. 93 Dazu Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, S. 47; G. Schmidt, Geschichte des Alten Reiches, 1999, S. 187 f.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 1, 2. Aufl. 2012, S. 171; Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S.168. 94 Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders.: Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 92 (101, 106 f.); Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 217 ff.

38

III. Entwicklungsgeschichte des Legitimitätsbegriffes

und Armenfürsorge oder kulturelle Aktivitäten erhalten mehr Gewicht.95 In der Reichspublizistik und im Kameralismus wird jedenfalls deutlich, dass es sich bei den landesfürstlichen Regierungen um eine rechtlich geprägte Herrschaft handelt,96 deren Legitimität von einer Ergebnisorientierung und Ergebniserreichung abhängt: „In weltlichen regiments-sachen aber erweiset sich die landes-fürstliche hoheit, und daher entspringende regierung, zu dem obigen zweck des gemeinen nutzes und wohlstandes, in nachfolgenden, also um besserer verständniß willen gesetzten vier hauptpuncten: (…) Fürs andere, hat er macht, gute gesetze und ordnungen im lande aufzurichten, dadurch gerechtigkeit, friede und ruhe, und das vermögen des landes und der leute im schwange gebracht, erhalten, das böse gestrafft, und das gute befördert werde.“97

4. Legitimität ab 1815 Mit der Ausarbeitung der Volkssouveränität als Legitimationstitel seit Rousseau treten nun zwei Legitimationskonzepte gegeneinander an: Die Fürstensouveränität mit ihrer dynastischen Legitimität aus dem Gottesgnadentum als „von oben“ und die Volkssouveränität als im Volk „von unten“ begründete Input-Legitimationskonstruktion.98 Zugleich endet 1806 eine knapp tausendjährige historische Legitimität mit dem Ende des Alten Reiches, womit jedenfalls eine Schwächung der kaiserlichen Legitimität einhergeht. In den europäischen Souveränitätskonflikten zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird der Legitimitätsbegriff aber schnell zu einem wichtigen Instrument in dem modernen Verständnis eines staats95

Raphael, Recht und Ordnung, 2000, S. 23. Von Seckendorff, Teutscher Fürsten-Staat, 1754, Anderer Theil, Cap. I § 2 (S. 33); zu Seckendorff Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2009, S. 189 ff.; Stolleis, in: ders. (Hrsg.), Staatsdenker in der Frühen Neuzeit, 3. Aufl. 1995, S. 148 ff. 97 Von Seckendorff, Teutscher Fürsten-Staat, 1754, Anderer Theil, Cap. I § 8 (S. 40); s. auch Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2009, S. 370. 98 Hofmann, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 5, 1980, Art. Legalität, Legitimität, Sp. 161 (162 f.); Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 107. – Zeitgenössisch Maurenbrecher, Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, 1843, § 45; Weiß, System des deutschen Staatsrechts, 1843, S. 431 Fn. m). 96

4. Legitimität ab 1815

39

rechtlichen Prinzips der Herrschaftsrechtfertigung. Legitimität wird von Fürstenseite und dem diese unterstützenden Schrifttum mit dem monarchischen Prinzip gleichgesetzt und – als unvereinbar – dem Prinzip der Volkssouveränität gegenübergestellt. Die Fürstensouveränität setzt sich mit dem monarchischen Prinzip zunächst auch in Art. 57 Wiener Schlussakte vom 15. Mai 182099 durch. Auch die in Art. XIII Deutsche Bundesakte 1815100 und auch der Wiener Schlussakte anerkannte „Landständische Verfassung“ kann die Fürstensouveränität nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände binden. Die politische Instrumentalisierung vernachlässigt aber die Entwicklung einer überzeugenden Legitimationskonstruktion. Vielmehr wird ein erbmonarchisches Gottesgnadentum propagiert, das zum einen politisch von den Protagonisten selbst nicht beachtet wird101 und zum anderen in einem grundlegend gewandelten gesellschaftlichen Umfeld nicht mehr auf einen Legitimitätsglauben stößt und dadurch keine besondere Überzeugungskraft entfaltet.102 Zahlreiche politische Ereignisse des 19. Jahrhunderts belegen dies, so etwa die Schleswig-Holstein-Problematik: Mit guter wissenschaftlicher Begründung treten im Jahre 1846 neun Professoren der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, unter ihnen die renommierten Staatsrechtler Niels Nicolaus Falck103, Georg Waitz und Lorenz von Stein104, dem „Commissionsbedenken über die Successionsverhältnisse des Herzothums Schleswig“ auch mit dem Legitimitätsbegriff des Wiener Kongresses entgegen. „Es ist klar, daß das Europäische Staatensystem mit Nichten nur in der Lehre vom Gleichgewicht der Mächte gegründet ist, 99 Abgedruckt bei E. R. Huber, Dokumente zur Verfassungsgeschichte, Band 1, 3. Aufl. 1978, Nr. 31. 100 Abgedruckt bei Zeumer, Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, Erster Teil, 2. Aufl. 1913, Nr. 218, S. 540 ff.; Wißmann (Hrsg.), Europäische Verfassungen 1789 – 1990, 2015, Nr. 5, S. 82 ff. 101 Zeitgenössisches Beispiel (Dänemark) schildert Droysen, Minerva 1852, 174 ff. 102 Zu den Zweifeln am Gottesgnadentum Sellin, Gewalt und Legitimität, 2011, S. 84 ff. 103 Zu diesem eingehend Schliesky, in: von Arnauld/Augsberg/Meyer-Pritzl (Hrsg.), 350 Jahre Rechtswissenschaftliche Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, 2018, S. 35 ff. 104 Zu diesem Schliesky, in: Brüning/Schliesky (Hrsg.), Lorenz von Stein und die rechtliche Regelung der Wirklichkeit, 2015, S. 1 ff.; Schliesky/Schlürmann, Lorenz von Stein, 2015.

40

III. Entwicklungsgeschichte des Legitimitätsbegriffes

sondern zugleich und in höherem Maaße in der Legitimität, das ist der Anerkennung und unverbrüchlichen Aufrechterhaltung derjenigen Rechte, kraft deren nicht bloß die derzeitigen Fürsten ihre Krone tragen, sondern alle Künftigen sie tragen werden, so lange das Recht Recht bleiben wird.“105 Wenn auch die deutliche Mehrzahl der Staatsrechtslehrer das monarchische Prinzip als Grundlage von Souveränität und Inhalt der Legitimität anerkennt, so lässt sich das Erstarken der Gegenposition, der Idee der Volkssouveränität106, im liberalen Vormärz und insbesondere in den Revolutionsjahren 1848 – 1850 nicht leugnen. Volkssouveränitätslehre und nationaler Gedanke gehen eine immer engere Verbindung ein107 und entwickeln eine immer größere Überzeugungskraft.108 Ein solcher Gegenentwurf, der die monarchische Legitimität strikt ablehnt und eine Rechtfertigung demokratischer Herrschaftsgewalt mit Hilfe des Modells eines Gesellschaftsvertrages leistet, findet sich bei von Rotteck und Welcker.109 Für die Begriffs- und Wirkungsgeschichte der Legitimität ist interessant, dass wieder einmal – wie schon bei der Begründung der weltlichen Herrschaftsgewalt und ihres Vorranges gegenüber der kirchlichen Herrschaftsgewalt im späten Mittelalter – die alte Legitimitätslehre mit ihren eigenen Waffen geschlagen wird, indem ein Austausch des Souveräns und Legitimationsgrundes unter Beibehaltung der sonstigen Rechtskonstruktion stattfindet. In diese Zeit fällt auch eine weitere grundlegende Ausarbeitung über den freien Willen des Menschen als Legitimationsgrundlage, der bereits von allen Gesellschaftsvertragstheoretikern dargelegt, mindestens aber vorausgesetzt wurde. Der freie Wille steht im Mittelpunkt der Rechts-

105 Falck/Tönsen/Herrmann/Chrisiansen/Maday/Droysen/Waitz/Ravit/Stein, Staatsund Erbrecht des Herzogthums Schleswig, 1846, S. 107; zeitgenössisch auch Droysen, Zur Lehre von der Legitimität, Minerva 1852, 174 ff. 106 Dazu grundlegend Graf von Kielmansegg, Volkssouveränität, 1977, S. 59 ff., 99 ff. 107 Hofmann, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Art. Legalität, Legitimität, Sp. 161 (163); eingehend Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Band 2, 1992/1998, S. 250 ff.; Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, 2. Aufl. 1995, S. 209 ff., insbes. S. 239 f. 108 Raphael, Recht und Ordnung, 2000, S. 23 f. 109 Biedermann, in: von Rotteck/Welcker (Hrsg.), Staats-Lexikon, Vierter Band, 3. Aufl. 1860, Art. Demokratie, Demokratisches Prinzip, S. 344 ff.

4. Legitimität ab 1815

41

philosophie von Georg Wilhelm Friedrich Hegel.110 Der freie Wille wird zur Grundlage des Rechts111, das Recht ist das Dasein des freien Willens.112 Der freie Wille schafft die Wirklichkeit.113 Und auch die Wirklichkeit des Staates, also die konkrete Existenz des Staates entsteht aus der Summe der subjektiven freien Willen.114 Der Weg zur Wirklichkeit des Staates als sittlicher Idee geht also über die subjektiven freien Willen der Bürger – in Hegels aufgrund der Rezeptionsgeschichte oft verkannter Rechtsphilosophie115 steckt nicht nur eine zentrale, moderne Begründung des freien Willens, sondern auch ein (modernes) Legitimationsmodell für den Staat.

110 Näher Hoffmann, Georg Wilhelm Friedrich Hegel – Eine Propädeutik, 3. Aufl. 2015, S. 431 ff.; Honneth, in: Brocker (Hrsg.), Geschichte des politischen Denkens, 5. Aufl. 2018, S. 403 ff.; Jaeschke, Hegel-Handbuch, 2. Aufl. 2010, S. 377 ff., 382 ff. 111 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, herausgegeben von Bernhard Lakebrink, 1970/2002, § 4: „Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht als eine zweite Natur ist.“ (Hervorhebungen im Original). 112 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, herausgegeben von Bernhard Lakebrink, 1970/2002, § 29: „Dies, daß ein Dasein überhaupt, Dasein des freien Willens ist, ist das Recht. – Es ist somit überhaupt die Freiheit als Idee.“ (Hervorhebungen im Original). 113 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, herausgegeben von Bernhard Lakebrink, 1970/2002, § 142: „Die Sittlichkeit ist die Idee der Freiheit, als das lebendige Gute, das in dem Selbstbewußtsein sein Wissen, Wollen und durch dessen Handeln seine Wirklichkeit sowie dieses an dem sittlichen Sein seine an und für sich seiende Grundlage und bewegenden Zweck hat – der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit.“ (Hervorhebungen im Original). S. auch Jaeschke, Hegel-Handbuch, 2. Aufl. 2010, S. 371. 114 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, herausgegeben von Bernhard Lakebrink, 1970/2002, §§ 257, 258, 260. – Eingehend zum neuzeitlichen Wirklichkeitsbegriff Blumenberg, Realität und Realismus, 2020, S. 79 ff., 105 ff.; zur Wirklichkeit der Normen Gabriel, Fiktionen, 2020, S. 455 f. 115 Dazu Doyé, in: Voigt (Hrsg.), Staatsdenken, 2016, S. 87 (91 f.); Honneth, in: Brocker (Hrsg.), Geschichte des politischen Denkens, 5. Aufl. 2018, S. 403 (417 f.); Schönherr-Mann, in: Voigt/Weiß (Hrsg.), Handbuch Staatsdenker, 2010, S. 156 (160).

42

III. Entwicklungsgeschichte des Legitimitätsbegriffes

5. Legitimität im Kaiserreich und staatsrechtlicher Positivismus Die Inhaltsleere, die fehlende Überzeugungskraft und vor allem die häufige Missachtung des monarchischen Prinzips in der politischen Praxis nehmen dem mit der Fürstensouveränität verbundenen Legitimitätsbegriff seine Überzeugungskraft. Die weitsichtige Idee eines „sozialen Königtums“116, bei dem die Monarchie den gesellschaftlichen Fortschritt befördert und sich durch soziale Reformen neue Legitimität zugeführt hätte, wird in der Staatspraxis nur unzureichend rezipiert. Der jähe Zusammenbruch der mitteleuropäischen Monarchien im Jahre 1918 offenbart die Brüchigkeit der Legitimität dann schonungslos.117 Allerdings verstummt mit der Reichsgründung 1870/71 die Legitimitätsdiskussion zunächst einmal abrupt: Zum einen beruhigt sich die innenpolitische Lage118, und zum anderen stellt der Bismarck’sche „Kompromissstaat“ weite Kreise der Bevölkerung zufrieden. Mit der Erhaltung des monarchischen Führungsanspruches und der Erfüllung der NationalstaatsSehnsüchte durch die nationale Einigung erfährt das neugegründete Reich zunächst einen Vorschuss an Legitimitätsglauben von allen Seiten.119 Die

116 Grundlegend Lorenz von Stein, Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte, 1842; ders., Geschichte der socialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, drei Bände, 1850; s. auch prägnant dens., Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts, 1870, neu herausgegeben und eingeleitet von Utz Schliesky, 2010, S. 378 ff. – Ebenso später Friedrich Naumann, Demokratie und Kaisertum, in: ders., Politische Schriften, herausgegeben von Theodor Schieder, Bd. 2: Schriften zur Verfassungspolitik, 1964; s. auch Kästner, in: Schnur (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, 1978, S. 381 ff.; Koslowski, in: Brüning/Schliesky (Hrsg.), Lorenz von Stein und die rechtliche Regelung der Wirklichkeit, 2015, S. 45 (53 ff.); Schliesky, JZ 2015, 1121 (1124 f.); Schliesky/Schlürmann, Lorenz von Stein, 2015, S. 92 ff.; Sellin, Gewalt und Legitimität, 2011, S. 241 f., 254. 117 Brunner, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 3. Aufl. 1980, S. 160 (183 f.). 118 Es zeigt einmal mehr, dass in innenpolitisch friedlichen Zeiten die Legitimitätsfrage in der Regel nicht gestellt wird. Ebenso Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 241. 119 Fehrenbach, Verfassungsstaat und Nationsbildung 1815 – 1871, 2007, S. 69 f.; Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 18. Aufl. 2019, Rn. 370 ff.; Nipperdey, Deutsche Geschichte, 1866 – 1918, Band 2, 1992/1998, S. 75 ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 5, 2000, S. 563 f.; diffe-

6. Legitimität 1918 – 1945

43

Legitimitätsfrage wird damit aber weder im Sinne monarchischer Legitimität noch im Sinne der – zunehmend nationalistisch aufgeladenen – Volkssouveränität eindeutig beantwortet, sondern kompromisshaft „beigelegt“.120 Diese Inhaltsleere des Legitimitätsbegriffes begünstigt den Siegeszug des staatsrechtlichen Positivismus, der für eine überpositiv orientierte Rechtfertigungskategorie keine Verwendung mehr hat. Die materiale Legitimität, die sich an inhaltlichen Staatszwecken zu orientieren hat, wandelt sich in eine formale Legalität, so dass beide Begriffe gleichgesetzt werden können und die Legitimitätsfrage, so sie überhaupt gestellt wird, nur noch die Entstehung der Staatsgewalt betrifft. Der Weg ist nun frei für Max Webers Legitimität der Legalität: Die Legitimität folgt aus der Legalität, die legale Herrschaft beruht bei ihm „auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur Herrschaftsausübung Berufenen“.121

6. Legitimität 1918 – 1945 Mit der Revolution von 1918 und der Weimarer Reichsverfassung von 1919 setzt sich die Volkssouveränität als ursprungsorientierter Inhalt des Legitimitätsbegriffes endgültig in Deutschland durch.122 Die Reduzierung der Legitimität auf die Legalität der Herrschaftsgewalt am Maßstab des aktuellen positiven Rechts durch den staatsrechtlichen Positivismus stützt zunächst die revolutionär geschaffene neue Herrschaftsgewalt. Denn mit dem staatsrechtlichen Verzicht auf den Legitimitätsbegriff oder zumindest renzierend Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, 1958/2002, S. 385 ff. 120 Brunner, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 64 (76); Hennis, PVS-Sonderheft 7/1976, 9 (14); E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, 3. Aufl. 1988, S. 309 ff.; ders., Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, 3. Aufl. 1988, S. 774; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Band 2, 1992, S. 455 ff. 121 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft I, 5. Aufl. 1976, S. 124 ff.; dazu jüngst Hofmann, JZ 2020, 585 ff. 122 Deutlich Präambel und Art. 1 S. 2 WRV; s. Moraw, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 1 Rn. 147; Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 240; s. auch Di Fabio, Die Weimarer Verfassung, 2018, S. 24 ff., 37 ff.; Lübbe-Wolff, in: Dreier/Waldhoff (Hrsg.), Das Wagnis der Demokratie, 2018, S. 111 (114 ff.).

44

III. Entwicklungsgeschichte des Legitimitätsbegriffes

dessen überwiegender Verengung auf bloße Legalität gelingt es der mehrheitlichen Staatsrechtslehre problemlos, die revolutionäre, also nach altem Verfassungsmaßstab rechtswidrig entstandene Herrschaftsgewalt anzuerkennen.123 Der Verzicht auf eine materielle Legitimität ist auch für die Staatspraxis kennzeichnend.124 Das Fehlen einer inhaltlichen Legitimitätskategorie erleichtert der Weimarer Republik somit ihren revolutionären Beginn, erweist sich aber am Ende als verhängnisvoll, da sie dem zunächst auf formale Legalitätswahrung125 bedachten Nationalsozialismus keine Folgebereitschaft begründenden Werte entgegensetzen kann. So wie die Weimarer Republik von der Auflösung der alten Legitimität profitiert hat, so sehr hat sie die Herausbildung und inhaltliche Ausfüllung eines eigenen Legitimitätsbegriffes vernachlässigt.126 Die „normative Kraft des Faktischen“ wird nun von den Nationalsozialisten ge- und missbraucht, um die Macht zu erlangen und als legitim zu begründen. Nachdem man sich erst auf die „Legalität“ der Revolution beruft, bemüht man sich an123

Dazu näher Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 226 ff. 124 Deutlich RGZ 100, 25 (27): „Der durch die Umwälzung geschaffenen neuen Staatsgewalt kann die staatsrechtliche Anerkennung nicht versagt werden. Die Rechtswidrigkeit ihrer Begründung steht dem nicht entgegen, weil die Rechtmäßigkeit der Begründung kein wesentliches Merkmal der Staatsgewalt ist. Der Staat kann ohne Staatsgewalt nicht bestehen. Mit der Beseitigung der alten Gewalt tritt die sich durchsetzende neue Gewalt an deren Stelle. Der geschilderte Verlauf der Revolution zeigt aber, daß die neue Gewalt sich nach Zerstörung der früheren Gewalt in herrschender Weise begründet und in stetiger organischer Fortentwicklung aufrechterhalten hat.“ Ebenso StGH für das Deutsche Reich, RGZ 114, Anhang S. 1 (6); RGSt 53, 39 (52). Dazu Hofmann, Legitimität gegen Legalität, 5. Aufl. 2010, S. 17 ff. – Genau entgegengesetzt für das Grundgesetz H. H. Klein, in: Börner/Jahrreiß/Stern (Hrsg.), Einigkeit und Recht und Freiheit, Festschrift für Karl Carstens, Bd. II, 1984, S. 645 (649). 125 Zur nur scheinbaren Legalität der nationalsozialistischen Machtergreifung BVerfGE 6, 309 (331); Grawert, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, § 6 Rn. 5; Pauly, VVDStRL 60 (2001), 73 (91); Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 5, 2000, S. 781; historische Schilderung bei Di Fabio, Die Weimarer Verfassung, 2018, S. 222 ff., 241 ff. 126 Zutreffende Analyse, wenn auch schon aus nationalsozialistischer Perspektive, bei Scheuner, AöR 63 (1933), 166 (169 f.). – Dies lag auch daran, dass z. B. Historiker sich um die Legitimation eines tradierten, handlungsstarken Staates kümmerten, der Republik aber eher kritisch gegenüberstanden. Metzler, Der Staat der Historiker, 2018, S. 51, spricht zutreffend von der Geschichtswissenschaft als „Legitimationswissenschaft für den Staat“.

6. Legitimität 1918 – 1945

45

schließend um eine eigene, neue Rechtfertigung der neuen Herrschaftsgewalt127, um sich nicht legitimatorisch auf das revolutionär überwundene System berufen zu müssen.128 Beispielhaft sei Ernst Rudolf Huber zitiert, der die Rechtfertigung nun wieder mit Hilfe der Kategorie der Legitimität vornimmt: „Von der bloßen Legalität ist zu unterscheiden die Legitimität, die innere Rechtfertigung eines politischen oder staatsrechtlichen Aktes. Diese Legimität der Gesetze vom 24. März 1933 und 30. Januar 1934 geht nicht aus der Weimarer Verfassung, sondern aus der nationalsozialistischen Revolution hervor.“129 Somit findet nach der Machtergreifung durch die nationalsozialistische Staats(rechts)lehre eine grundlegende Systemveränderung in Gestalt einer völligen Abkehr vom Positivismus statt. Der Begriff der Legitimität wird wieder eingeführt, um ihn mit einem ideologischen, der nationalsozialistischen Bewegung angepassten Inhalt zu versehen und das Dritte Reich deutlich von der Weimarer Verfassung abzusetzen. Der neuen Herrschaftsgewalt und ihrer „Verfassung“ werden bestimmte Wertanschauungen zugrundeliegend gedacht, die auch als ungeschriebenes Recht auftreten können, jedenfalls aber das Gesamtsystem und dessen Einzelakte tragen sollen.130 Inhaltliche Maßstäbe sollen nun andere, ethisch-moralisch kaum begründbare Prinzipien für die Ausfüllung des Legitimitätsbegriffes zur Verfügung stellen, beispielsweise das „völkische Prinzip“131 oder das „Führerprinzip“.132 Auch diese Wirrungen der Entwicklungsgeschichte des Legitimitätsbegriffs gilt es zu erinnern, wenn über zeitgemäße Legitimitätskonzeptionen nachgedacht wird. 127 Zeitgenössisch Scheuner, AöR 63 (1033), 166 (208 ff.); referierend Dreier, VVDStRL 60 (2001), 9 (21 ff.); Pauly, VVDStRL 60 (2001), 73 (90 ff.). 128 Pauly, VVDStRL 60 (2001), 73 (92). – Allgemein zur Legitimitätsfrage bei Revolutionen Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 17. Aufl. 2017, S. 130 f. 129 E. R. Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 2. Aufl. 1939, S. 49 (Hervorhebung im Original). – Zum Urteil der zeitgenössischen Juristen s. auch Stern, Staatsrecht V, S. 779 ff. 130 In neutraler Diktion Scheuner, AöR 63 (1933), 166 (177 f.). – Zu diesen Inhalten und Wertanschauungen des nationalsozialistischen Systems Suchenwirth, Deutsche Geschichte, 1939, S. 603 ff. 131 E. R. Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, S. 150 ff.; darstellend Dreier, VVDStRL 60 (2001), 9 (33 ff.); Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 5, 2000, S. 815 ff., jeweils m.w.N. 132 Ule, VerwArch 40 (1935), 279 ff.; darstellend Dreier, VVDStRL 60 (2001), 9 (46 ff.); Stern, Staatsrecht V, S. 821 ff., jeweils m.w.N.

46

III. Entwicklungsgeschichte des Legitimitätsbegriffes

7. Historisches Fazit Die sehr geraffte Darstellung von über 2000 Jahren Geschichte des Legitimitätsbegriffes lässt sich wie folgt zusammenfassen: Bei allen inhaltlichen Wandlungen des Legitimitätsbegriffes sowie der untrennbar mit der Legitimität verbundenen Kategorien der Souveränität, der Herrschaftsgewalt und des Staates sind Linien der Kontinuität feststellbar. Von Anfang an gilt, dass die Souveränität der Herrschaftsgewalt gebilligt und damit grundsätzlich als legitim betrachtet wird, wenn und soweit bestimmte Ableitungszusammenhänge eingehalten worden sind und die Herrschaftsgewalt für Frieden und Sicherheit sorgt. Frieden und Sicherheit können insoweit als erste Herrschaftszwecke isoliert werden, die inhaltlich den Legitimitätsbegriff ausfüllen. Spätestens seit aber Frieden und Sicherheit mit Hilfe des staatlichen Gewaltmonopols (recht kontinuierlich) erreicht werden, hat sich auch der Inhalt des Legitimitätsbegriffes verändert – oder genauer: erweitert. Unter Ergebnis-Gesichtspunkten genügen Frieden und Sicherheit nicht mehr allein, sondern auch die „rechtliche Bändigung“ der dies gewährleistenden Herrschaftsgewalt gehört zum Umfang legitimatorischer Anforderungen. Längst haben Freiheit, Gleichheit und Würde der Menschen als weitere Herrschaftszwecke mehr Gewicht erhalten,133 wofür die Grundrechtskataloge als Mediatisierungen von output-Legitimationsverfahren beredtes Zeugnis ablegen. Zunehmend rückt ein weiterer, an sozialen Ergebnissen und an Daseinsvorsorge orientierter Herrschaftszweck in den Mittelpunkt, so dass sich die Herrschaftsgewalt – in der demokratischen Herrschaftsordnung entsprechend verfassungsrechtlich verpflichtet – nun mehr um soziale Leistungen und zunehmend um bestimmte Infrastrukturen134 kümmern muss, um Legitimität zu erlangen.

133

S. 34.

S. Böhner, Integration und Legitimität in der Europäischen Union, 1998,

134 Der Ausbau des Breitbandnetzes oder die Verbreitung des 5G-Mobilfunkstandards sind aktuelle Beispiele für Infrastrukturen in der digital geprägten Welt.

IV. Demokratische Legitimation als Maßstab der Legitimität im Verfassungsstaat des Grundgesetzes Auch die Staatsgewalt im Verfassungsstaat des Grundgesetzes kommt nicht ohne Legitimität aus. Nach einer Vernachlässigung der Legitimitätsfrage in der ersten Phase der Bundesrepublik1 hat sich unter Führung des Bundesverfassungsgerichts sowie einiger Staatsrechtslehrer, die zum Teil selbst am Gericht tätig waren, eine formale, am staatsrechtlichen Positivismus orientierte Legitimationskonzeption durchgesetzt, die ihre normativen Ausgangspunkte in Art. 20 Abs. 2 GG und dem dort verankert gesehenen Grundsatz der Volkssouveränität hat. Legitimität wird so verengt auf demokratische Legitimation, deren maßgebender Modus die Wahl durch das „Staatsorgan“ Volk ist2 und die bei der ordnungsgemäßen Absolvierung formaler Legitimationsverfahren gegeben sein soll. Maßgeblicher Anknüpfungspunkt für demokratische Legitimation ist das Vorliegen eines Aktes der Staatsgewalt, die als „alles amtliche Handeln mit Entscheidungscharakter“3 verstanden wird. Das Bundesverfassungsgericht hat die in ständiger Rechtsprechung entwickelten Eckpunkte demokratischer Legitimation jüngst noch einmal selbst prägnant zusammengefasst: „Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedarf alles amtliche Handeln mit Entscheidungscharakter der demokratischen Legitimation. Es muss sich auf den Willen des Volkes zu-

1 Auch hier zeigt sich die Verbindung zwischen Souveränität und Legitimität: Es steht zu vermuten, dass die Legitimitätsfrage angesichts der durch die alliierten Vorbehaltsrechte beschränkten Souveränität bewusst nicht aufgeworfen wurde. Die volle Souveränität hat die Bundesrepublik Deutschland erst 1990 mit dem „2+4Vertrag“ wiedererlangt – dies fällt zusammen mit einer verstärkten Beschäftigung mit der Legitimitätskategorie. – Beispiel der vorhandenen Ausnahmen einer frühen Beschäftigung mit Legitimität: Würtenberger sen., DRZ 1947, 241 ff. 2 Deutlich BVerfGE 44, 125 (138). 3 BVerfGE 83, 60 (73); 93, 37 (68); 107, 59 (87); 130, 76 (123).

48

IV. Demokratische Legitimation im Verfassungsstaat des GG

rückführen lassen und ihm gegenüber verantwortet werden.“4 „Demokratische Legitimation kann sowohl organisatorisch-personell, also durch eine ununterbrochene, auf das Volk zurückzuführende Legitimationskette für die mit der Wahrnehmung staatlicher Angelegenheiten betrauten Amtswalter, als auch sachlich-inhaltlich über eine strikte Bindung an die von der Volksvertretung erlassenen Gesetze oder durch eine sanktionierte demokratische Verantwortlichkeit, einschließlich der dazugehörigen Kontrolle, für die Wahrnehmung der zugewiesenen Aufgaben hergestellt werden. Insgesamt muss ein hinreichender Gehalt an demokratischer Legitimation erreicht werden, ein bestimmtes Legitimationsniveau.“5 Auch wenn die Gewichtung der Legitimationsarten sich im Laufe der Rechtsprechung dahingehend verändert hat, dass in jüngerer Zeit offenbar nur noch der personellen sowie der sachlich-inhaltlichen Legitimation Gewicht zugemessen wird6, und insgesamt angesichts der Veränderungen der staatstatsächlichen Umstände das Gericht sich eine gewisse Offenheit bewahrt, so ist es doch zu früh, von einer Neuorientierung des Bundesverfassungsgerichts auszugehen.7 Vielmehr hat das Bundesverfassungsgericht sein Legitimationskonzept in mehreren Entscheidungen für verbindlich erklärt und dabei immer ein hinreichend effektives Legitimationsniveau verlangt, das von dem deutschen Staatsvolk als Legitimationssubjekt gespeist werden müsse und das durch die Formen der personellen sachlich-inhaltlichen, institutionellen und funktionellen demokratischen Legitimation erreicht werden könne. Zu dem von Art. 79 Abs. 3 GG nicht antastbaren Gehalt des Demokratieprinzips rechnet das Gericht die Bausteine eines „notwendigen Zurechnungszusammenhan4 BVerfG, U. v. 7. 11. 2017, DVBl. 2018, 871 (875 Rn. 218); zuvor bereits BVerfGE 77, 1 (40); 83, 60 (72); 93, 37 (66); 107, 59 (87); 130, 76 (123). 5 BVerfG, U. v. 7. 11. 2017, DVBl. 2018, 871 (875 Rn. 222); zuvor eingehend BVerfGE 83, 60 (72); 93, 37 (67); 107, 59 (87); 130. 76 (124); 137, 185 (232 f. Rn. 131); 139, 194 (224 f. Rn. 107). – Eingehende Darstellung der Konzeption bei Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 230 ff.; s. auch dens., Demokratie im digitalen Zeitalter, 2016, S. 15 ff.; Jouanjan, Der Staat 58 (2019), 223 (226 f., 238 f.); Kersten, Schwarmdemokratie, 2017, S. 146 ff. Zum Konzept der Legitimationskette jüngst Honer/Rudloff, DÖV 2020, 461 ff. 6 Deutlich BVerfGE 130, 76 (124): „Personelle und sachlich-inhaltliche Legitimation stehen in einem wechselbezüglichen Verhalten derart, dass eine verminderte Legitimation über den einen Strang durch verstärkte Legitimation über den anderen ausgeglichen werden kann, sofern insgesamt ein bestimmtes Legitimationsniveau erreicht wird (…).“ 7 So aber Kersten, Schwarmdemokratie, 2017, S. 154 ff.

IV. Demokratische Legitimation im Verfassungsstaat des GG

49

ges“ zwischen Volk und Staatsgewalt und eines „bestimmten Legitimationsniveaus“8. „Die demokratische Legitimation der in Deutschland ausgeübten öffentlichen Gewalt durch das Staatsvolk gehört als wesentlicher Inhalt des Grundsatzes der Volkssouveränität zu der durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten und nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG auch integrationsfesten Verfassungsidentität des Grundgesetzes.“9 Schon seit längerer Zeit hat das Bundesverfassungsgericht aber eine großzügigere Haltung bei den Staatsgewaltsbetätigungen durch funktionale Selbstverwaltung an den Tag gelegt und besondere Formen der Beteiligung von Betroffenen bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben erlaubt.10 Eine gewisse Hoffnung auf neue Wege im Legitimationskonzept hat insoweit bereits der Beschluss zu Wasserverbänden und -genossenschaften geweckt, da das Gericht schon seinerzeit zutreffend den Prinzipiencharakter des Demokratieprinzips und die damit verbundene Entwicklungsoffenheit betont hat.11 Diese Hoffnung wurde nun jüngst durch den Beschluss des Gerichts zu den rheinland-pfälzischen Weinabgaben verstärkt. Das Gericht hält nun auch außerhalb der funktionalen Selbstverwaltung „im Interesse sachgerechter, effektiver Aufgabenwahrnehmung begrenzte Abweichungen von der Regelanforderung uneingeschränkter personeller Legitimation“ für zulässig.12 „Ob und inwieweit Lockerungen der Einbindung in den Zusammenhang einer durch Wahlen und Bestellungsakte vermittelten, auf das Gesamtvolk zurückgehenden personellen Legitimation mit dem Demokratieprinzip vereinbar sind, hängt auch davon ab, ob die institutionellen Vorkehrungen eine nicht Einzelinteressen gleichheitswidrig begünstigende, sondern gemeinwohlorientierte und von Gleichachtung der Betroffenen geprägte Aufgabenwahrnehmung ermöglichen und gewährleisten (…).“13 Trotz der grundsätzlichen monistischen Verengung im Bereich der unmittelbaren Staatsverwaltung hat das Bundesverfassungsgericht – 8 BVerfGE 130, 76 (124): „Das Legitimationsniveau muss umso höher sein, je intensiver die in Betracht kommenden Entscheidungen die Grundrechte berühren (vgl. BVerfGE 93, 37 [73]).“ Ebenso BVerfGE 136, 194 (262 Rn. 168). 9 BVerfG, U. v. 5. 5. 2020, 2 BvR 859/15 u. a., Rn. 101 m.w.N. 10 Grundlegend BVerfGE 107, 59 (91 f.). 11 BVerfGE 107, 59 (91). – Zum Prinzipiencharakter eingehend Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 611 ff. 12 BVerfGE 136, 194 (263); s. zuvor bereits BVerfGE 130, 76 (119 ff., 123 ff.). 13 BVerfGE 136, 194 (263).

50

IV. Demokratische Legitimation im Verfassungsstaat des GG

stärker als die herrschende Lehre – durchaus immer den Blick für inhaltliche Anforderungen bewahrt und in dem soeben zitierten Beschluss auch eine Ergebnisorientierung ausdrücklich für maßgeblich erklärt, die beide im Kontext der Digitalisierung neue Bedeutung erlangen (können). So hat das Gericht etwa im Hinblick auf die mögliche Beeinflussung der Willensbildung des Volkes im Kontext von Wahlen hervorgehoben, dass Wahlen demokratische Legitimation i. S. d. Art. 20 Abs. 2 GG nur verleihen können, wenn sie frei sind. Dies erfordere nicht nur, dass der Akt der Stimmabgabe frei von Zwang und unzulässigem Druck bleibe, wie es Art. 38 Abs. 1 GG gebietet, sondern ebenso sehr, dass die Wähler ihr Urteil in einem freien, offenen Prozess der Meinungsbildung gewinnen und fällen können14. Und für elektronische Wahlen hat das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht, dass der Einsatz digitaler Technik nicht von den hohen Anforderungen an den Wahlakt aus Art. 38 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG entbindet, so dass alle wesentlichen Schritte der Wahl grundsätzlich öffentlich überprüfbar sein müssen. Dementsprechend müssen bei dem Einsatz elektronischer Wahlgeräte die wesentlichen Schritte der Wahlhandlung und Ergebnisermittlung vom Bürger zuverlässig und ohne besondere Sachkenntnis überprüft werden können.15 Angesichts der aktuellen politischen Lage bedeutsamer denn je ist das Herausarbeiten eines Grundkonsenses: Das Bundesverfassungsgericht hat zutreffend hervorgehoben, dass ein Grundkonsens bezüglich der vom Grundgesetz geschaffenen Staatsordnung erforderlich sei16. Den Staatsorganen hat das Gericht die Aufgabe zugewiesen, diesen Grundkonsens durch staatliche Öffentlichkeitsarbeit lebendig zu erhalten. Diese Legitimationskategorie des Grundkonsenses weist den Weg zum Legitimitätsglauben der Herrschaftsunterworfenen als unabdingbare Voraussetzung für die Legitimität staatlicher Herrschaft, die schon Max 14 BVerfGE 44, 125 (139 Rn. 46); zuvor bereits BVerfGE 20, 56 (97). – S. auch BVerfG, DVBl. 2018, 871 (875 Rn. 217): parlamentarisches Fragerecht „auch als Instrument und Erfordernis der effektiven Herstellung demokratischer Legitimation“. 15 BVerfGE 123, 39, Ls. 1, 2, Rn. 106 ff., 118 ff.: „Der Wähler darf nicht darauf verwiesen werden, nach der elektronischen Stimmabgabe alleine auf die technische Integrität des Systems zu vertrauen.“ (Rn. 120). Dazu Schiedermair, JZ 2009, 572 ff.; Schulz, in: Schliesky u. a., Demokratie im digitalen Zeitalter, 2016, S. 54 ff.; Will, NVwZ 2009, 700 ff. 16 BVerfGE 44, 125 (141 f. Rn. 63).

IV. Demokratische Legitimation im Verfassungsstaat des GG

51

Weber herausgearbeitet hat17. Der Grundkonsens als willentliche Übereinstimmung der Herrschaftsunterworfenen verlangt, dass möglichst viele der individuellen Legitimationsberechtigten und Herrschaftsunterworfenen von der Anerkennungswürdigkeit der ausgeübten Herrschaft ausgehen. Dies setzt einen Glauben an den zugrunde gelegten Legitimitätsmaßstab voraus, so dass der Grundkonsens sich als (kollektiver) Legitimitätsglaube erweist. In einem Staat mit einer großen Vielzahl von Herrschaftsunterworfenen und erst recht in einer demokratischen Staatsform kann naturgemäß keine Einstimmigkeit bzw. Einheitlichkeit des Legitimitätsglaubens erwartet werden – entscheidend ist die Mehrheit. Der Legitimitätsglaube wird so als „Loyalitätsvorschuss“ gerade bei dem Ausbleiben konkret erwarteter Leistungen unentbehrlich für eine Herrschaftsordnung, die als Entscheidungsträger auch bei künftigen Entscheidungen die Anerkennung der Herrschaftsunterworfenen in Form von Folgebereitschaft benötigt18. Der Legitimitätsglaube zeigt sich im rechtlichen und politischen Alltag als über den Tag hinausreichendes Vertrauen in die Herrschaftsgewalt19, und zwar als Vertrauen in die Richtigkeit der konkreten nächsten Herrschaftsbetätigung.20 17 Im Rahmen der Unterscheidung der drei reinen Typen legitimer Herrschaft ist für Max Weber bei der rationalen bzw. legalen Herrschaft der „Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrecht der durch sie zur Herrschaftsausübung Berufenen essenziell, s. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft I, 5. Aufl. 1976, S. 19 f., 122 ff.; dens., Politik als Beruf, in: Mommsen/Schluchter (Hrsg.), Max Weber – Wissenschaft als Beruf / Politik als Beruf, 1992/2020, S. 159 ff.; zum Legitimitätsglauben Heins, Strategien der Legitimation, 1990, S. 24 ff.; Hofmann, JZ 2020, 585 (591); Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 636 ff.; s. auch Anter, Max Webers Theorie des modernen Staates, 1995, S. 69 ff. 18 Böhner, Integration und Legitimität in der europäischen Union, 1998, S. 17; Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 17 f.; Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 638. 19 BVerfGE 46, 214 (223); 49, 24 (54); 51, 324 (343 f.); Schmidt-Jortzig, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Band II; 2001, S. 505 (506, 507). – S. auch im Hinblick auf das währungsrechtliche Einlösungsvertrauen BVerfGE 97, 350 (372); mit Blick auf die Digitalisierung Ernst, Der Grundsatz digitaler Souveränität, 2020, S. 67, der das Vertrauen allerdings insgesamt – nach hiesiger Auff. unzutreffend – unter dem Aspekt „digitaler Souveränität“ behandelt. 20 Dies wird besonders deutlich in Notstandslagen wie nun etwa der CoronaPandemie. Zu dem vom Legitimitätsglauben genährten Vertrauensvorschuss Zielcke, Demokratie in Not, in: SZ Nr. 67 vom 20. 3. 2020, S. 11.

52

IV. Demokratische Legitimation im Verfassungsstaat des GG

Um demokratische Legitimation aber als verfassungsrechtliche Kategorie zu bewahren, hat das Bundesverfassungsgericht außerrechtlichen Legitimitätsüberlegungen eine deutliche Absage erteilt: „Nach dem Grundgesetz bedeutet verfassungsmäßige Legalität zugleich demokratische Legitimität“21. Schon 1983 hat das Bundesverfassungsgericht diesen apodiktischen Satz formuliert – interessanterweise im Zusammenhang mit der Vertrauensfrage des Bundeskanzlers gem. Art. 68 GG. Diese Verbindung zwischen Legitimität und Vertrauen gilt es näher zu betrachten.

21

BVerfGE 62, 1 (43).

V. Vertrauensbeziehung als Inhalt der Legitimität 1. Normative Verankerung des Vertrauens in der Verfassung Die Vertrauensfrage gem. Art. 68 GG weist den Weg zu einer tieferen Schicht der Legitimität, denn hier wird der untrennbare Zusammenhang zwischen der für den demokratischen Legitimationszusammenhang geforderten Verantwortungsbeziehung und dem Vertrauen sichtbar sowie für verfassungsrechtlich relevant erklärt. Die Vertrauensfrage gem. Art. 68 GG wie auch das konstruktive Misstrauensvotum gem. Art. 67 GG, das von „Misstrauen“ spricht, stellen sich so als Überprüfungsmodi für noch existente Legitimität der Bundesregierung oder auch (nur) einzelner Akte der Staatsgewaltsausübung durch die Bundesregierung im repräsentativen System dar. Zugleich bilden diese beiden verfassungsrechtlichen Instrumente ihrerseits legitime und friedliche Möglichkeiten zur Kappung der Legitimationskette und Absetzung der Regierung, ohne dass eine Revolution erforderlich wäre1. An diesen beiden Normen des geltenden Verfassungsrechts zeigt sich die Kontinuität der staatsrechtlichen Legitimitätskategorie, denn Vertrauen war auch schon wesentlicher Inhalt des Lehnswesens im Personenverbandsstaat des Mittelalters2 und damit das essentielle Mittel zur Legitimierung von Herrschaft. Ohne dieses Vertrauen kann erst recht keine Regierung in einem repräsentativ-demokratischen Gemeinwesen von Dauer sein.3 Verliert der Bundeskanzler die 1 Hier wird der Unterschied zu der römischen Vorstellung der „lex Regia“ deutlich, derzufolge der Legitimationsakt ein (einmaliger) einseitiger Vorgang war. 2 Dazu Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte, Erster Band, 3. Aufl. 1961, S. 302 ff.; Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, 1970, S. 76 ff.; Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Band 1, 3. Aufl. 1995, S. 54 ff. 3 Treffend Evangelische Kirche in Deutschland, Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, 1985, S. 19 f.: „Macht ist unverzichtbar, damit der Staat seinem Auftrag nachkommen kann. (…) Demokratie ist ohne Kontrolle und Balance der Macht undenkbar. Deshalb ist es notwendig, danach zu fragen, wie

54

V. Vertrauensbeziehung als Inhalt der Legitimität

Abstimmung, so wird die Legitimationskette unterbrochen und aufgrund des zum Ausdruck gebrachten Misstrauens die Verantwortungsbeziehung gekappt. Das Vertrauen wird – dem repräsentativen System entsprechend – durch eine entsprechende Mehrheit der ihrerseits demokratisch legitimierten und mit Vertrauen ausgestatteten Abgeordneten zum Ausdruck gebracht. Dementsprechend kann der Vertrauensverlust in Form eines Mehrheitsverlustes an vorangegangenen Abstimmungsniederlagen der Bundesregierung bzw. des Bundeskanzlers im Parlament festgemacht werden.4 Hinter dieser Vertrauenskategorie als Kern der (demokratischen) Legitimität scheint – dem oben dargestellten Kontext entsprechend – immer auch die Verbindung zur Souveränität auf, denn der Verfassung geht es bei dieser Vertrauenskategorie maßgeblich um die Handlungsfähigkeit einer parlamentarisch verankerten Bundesregierung. Das Bundesverfassungsgericht versteht unter „Vertrauen“ i.S.d. Art. 68 GG entsprechend der deutschen verfassungsgeschichtlichen Tradition „die im Akt der Stimmabgabe förmlich bekundete gegenwärtige Zustimmung der Abgeordneten zu Person und Sachprogramm des Bundeskanzlers“5 und betont das Erfordernis einer vertrauensvollen Zusammenarbeit vor allem mit dem oder den Fraktionsvorsitzenden der ihn tragenden Mehrheit im Parlament6. Dementsprechend besitzt eine Misstrauensbekundung delegitimierende Wirkung7.

2. Rechtliche Bedeutung politischen Vertrauens Das alte Thema des politischen Vertrauens ist in der politischen und rechtlichen Theorie unterbelichtet, und zwar gerade auch im Hinblick auf Vertrauenskontexte im Zusammenhang zwischen politisch-demokratischer Repräsentation des Volkes und den zur Ausübung von Staatsgewalt diejenigen, denen staatliche Macht anvertraut ist, mit ihr umgehen. Wenn sie nicht das Vertrauen der Bürger gewinnen, kann die demokratische Staatsform nicht bestehen.“ 4 So etwa Sondervotum Rottmann, BVerfGE 62, 108 (110); Maurer, DÖV 1982, 1001 (1004). 5 BVerfGE 62, 1 (2 Ls. 5; 37). 6 BVerfGE 114, 121 (150 Rn. 134); dazu Herbst, Der Staat 45 (2006), 45 (64 f.). 7 Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 114, 121 (192).

2. Rechtliche Bedeutung politischen Vertrauens

55

geschaffenen Institutionen8. Für die Stabilität der demokratischen Ordnung ist es mehr als beunruhigend, wenn das Vertrauen in Politiker als Repräsentanten dieser Ordnung immer weiter schwindet, wie Umfragen und Wahlergebnisse zeigen. Durch fehlerhaftes oder gar hilfloses Agieren befördern derzeit politische Protagonisten zusätzlich den Vertrauensverlust in staatliche Institutionen, wie der Umgang mit der Flüchtlingskrise oder einzelne Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie beispielhaft zeigen. Die Verantwortungsbeziehung zwischen den Legitimationssubjekten und den Herrschaftsträgern ist im repräsentativ-demokratischen System essentiell als Rückkoppelung der Input-Legitimationskonstruktion. Den Inhalt dieser Verantwortungsbeziehung und damit der Legitimitätskategorie bildet – in historischer Kontinuität – auch im repräsentativen System das Vertrauen. Vertrauen bildet den Kerninhalt der Legitimität, ist im Rechtsstaatsprinzip und in den Grundrechten verfassungsrechtlich fundiert9 und ist im Staats- und Verwaltungsrecht daher bei näherem Hinsehen auch vielfach konkretisiert. Vertrauensfrage (Art. 68 GG) und konstruktives Misstrauensvotum (Art. 67 GG) wurden bereits genannt, aber auch die parlamentarischen Kontrollrechte stellen derartige Konkretisierungen dar. Und im Verwaltungsrecht spielt das Vertrauen eine entscheidende Rolle bei den Vorschriften über Rücknahme und Widerruf von Verwaltungsakten (§§ 48, 49 VwVfG/§§ 116, 117 LVwG SH), die jeweils konkrete Akte der Staatsgewalt darstellen. Die Rechtsordnung erlaubt ausnahmsweise Durchbrechungen des Rechtsstaatsprinzips in Gestalt der strikten Rechtsbindung und Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, wenn das Vertrauen des Bürgers in einen rechtswidrigen Akt der Staatsgewalt tatsächlich vorhanden und auch schutzwürdig ist (§ 48 VwVfG/ § 116 LVwG SH) 10. Dieses Vertrauen überspielt dann ausnahmsweise sogar die Legalität als Legitimitätsquelle. 8

S. Luhmann, Vertrauen, 5. Aufl. 2014, S. 70 ff. Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, D 53; Sommermann, in: von Mangoldt/ Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Abs. 3 Rn. 292 ff. 10 Zu diesem Vertrauen eingehend Peuker, in: Knack/Henneke (Hrsg.), VwVfG, 11. Aufl. 2019, § 48 Rn. 107 ff. – Der gem. § 48 VwVfG das Rücknahmeermessen begrenzende Vertrauensschutz bezieht sich dementsprechend auf und setzt voraus das tatsächliche Vertrauen auf den Bestand der rechtlichen Auswirkungen eines Verwaltungsakts und damit einer konkreten Betätigung der Staatsgewalt. 9

56

V. Vertrauensbeziehung als Inhalt der Legitimität

Aus Sicht des Bürgers als Legitimationssubjekt bedeutet Vertrauen im aktuellen Verfassungsstaat vor allem Vertrauen in verfahrensgemäße, ordnungsgemäße (d. h. verfassungsgemäße) und effektive Aufgabenerledigung11. Dieses Vertrauen wird immer schwerer herstellbar und erhaltbar, wenn der Staat im digitalen Raum nicht die Herrschaftsgewalt ausübt bzw. ausüben kann, weil er die Algorithmen nicht kontrolliert, die IT-Sicherheit nicht mehr gewährleisten kann und vor allem selbst nicht mehr mit den privaten Akteuren mithalten kann, die in diesem Feld zum Teil mittlerweile mächtiger und dem Staat weit voraus sind12. An dieser Stelle wird bereits deutlich, welchen Herausforderungen die Legitimitätskategorie in Zeiten der Digitalisierung ausgesetzt ist: Das Vertrauen ist in der digitalen Welt (noch) komplexer, volatiler und neuen Belastungen ausgesetzt, weil beispielsweise der Missbrauch etablierter Instrumente der Herrschaftsgewalt einfacher wird, Informationsvertrauen enttäuscht wird und zum Teil Legitimität ganz bewusst mithilfe von Lügen hergestellt werden soll13. In diesem Kontext wird die Bedeutung der Öffentlichkeit für das Vertrauen im repräsentativ-demokratischen Verfassungsstaat deutlich: Die Möglichkeit der beobachtenden Teilnahme als Teil der demokratischen Öffentlichkeit begründet und erhält Vertrauen.14 Digitale Diskussionsund Entscheidungsverfahren können diese Vertrauensbildung nicht leisten. Aber noch einmal zurück zum Vertrauensgedanken: Das Vertrauen der Legitimationssubjekte (oder entsprechend ihrer Repräsentanten) macht

11 Es ist dies Max Webers „Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur Herrschaftsausübung Berufenen“, der seine rationale bzw. legale Herrschaft kennzeichnet. S. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft I, S. 124 ff. – Zum Vertrauen der Allgemeinheit in die Neutralität und Uneigennützigkeit des Berufsbeamtentums Herrmann, VerwArch. 111 (2020), 84 (85). 12 S. auch Prell, NVwZ 2018, 1255 (1259). 13 Dazu Schliesky, Legitimität durch Lügen?, Süddeutsche Zeitung vom 16. 1. 2017, S. 2. 14 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1983, S. 123 f. – Deutlich auch BVerfGE 123, 39 Rn. 106: „Die Öffentlichkeit der Wahl ist Grundvoraussetzung für eine demokratische politische Willensbildung. Sie sichert die Ordnungsgemäßheit und Nachvollziehbarkeit der Wahlvorgänge und schafft damit eine wesentliche Voraussetzung für begründetes Vertrauen der Bürger in den korrekten Ablauf der Wahl.“

2. Rechtliche Bedeutung politischen Vertrauens

57

den Inhalt von (demokratischer) Legitimität aus.15 Legitimität bedeutet dann eine bestehende Vertrauensbeziehung für aktuelle und künftige Emanationen der Staatsgewalt. Jedenfalls der „gute“16, weil für seine Bürger und ihr friedliches Zusammenleben arbeitende Staat – und um diesen geht es von der Antike an in der „europäischen“ und deutschen Staatslehre17 – gewinnt sein Vertrauen vor allem auch dadurch, dass er den Bürgern Orientierung in seiner Lebenswirklichkeit gibt18. Eine solche Orientierung, auch und gerade im Sinne ethischer Handlungsanleitungen auf der Grundlage moralischer Wertvorstellungen, bewirkt Vertrauen. Insoweit ist es schon auffällig, dass es die Literaturgattung der „Fürstenspiegel“, die über Jahrhunderte hinweg diese Aufgabe ethischer Handlungsanleitungen wahrnahm, derzeit nicht mehr gibt19 und dass – möglicherweise infolgedessen – auch die Politik diese Orientierung nicht geben

15 Dies setzt allerdings voraus, wie Mühlfried, Misstrauen – Vom Wert eines Unwertes, 2019, S. 36 f., zutreffend hervorhebt, dass in einem solchen Gemeinwesen die Chance der Bürger zum Misstrauen besteht und rechtlich wie politisch garantiert ist, wenn Freiheit zu den obersten Herrschaftszwecken zählt. „Wo kein Misstrauen mehr möglich ist, bleibt nur ein totalitärer Raum politischer Herrschaft übrig.“ (Mühlfried, a.a.O., S. 37, der als negatives Beispiel für eine derartige Distanzvernichtung Facebook anführt.) 16 Deutlich Friedrich Carl von Moser, Der Herr und der Diener geschildert mit patriotischer Freyheit, 2. Aufl. 1761, S. 123. 17 Angefangen bei Aristoteles, Politik, übersetzt und herausgegeben von Olof Gigon, 8. Aufl. 1998, über Cicero, De re publica/Über den Staat, übersetzt von Walter Sontheimer, 1956/1983, dann über die Fürstenspiegel des Mittelalters und der Neuzeit (dazu Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters, 1938; Mühleisen/Stammen/Philipp [Hrsg.], Fürstenspiegel der frühen Neuzeit, 1997) und die grundlegenden Werke der (politischen) Staatsphilosophie von Marsilius von Padua, Thomas Hobbes oder Jean Bodin, immer ging es um ethische Maßstäbe und Orientierung. Gesteigert wurde dies durch Utopien, grundlegend Thomas Morus, Utopia – dazu Saage, Politische Utopien der Neuzeit, 1991, S. 15 ff.; Schölderle, Geschichte der Utopie, 2. Aufl. 2017. Auch die Dystopie als negative Seite dieser Orientierungshilfen verfolgt letztlich dieselbe Orientierungsfunktion. 18 Zeitgenössisch Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, E 111: „Handlungsfähigkeit bedeutet, daß der Bundeskanzler mit politischem Gestaltungswillen die Richtung der Politik bestimmt und hierfür auch eine Mehrheit der Abgeordneten hinter sich weiß“. 19 Wohl aber gibt es eine exponentiell wachsende empirische Krisenliteratur, die den aktuellen „Fieberzustand“ von Staat und Gesellschaft analysiert.

58

V. Vertrauensbeziehung als Inhalt der Legitimität

kann20. In der Neuzeit haben zwar Verfassungen diese Orientierungsfunktion zum Teil übernommen, aber aktuell stoßen auch sie an ihre Grenzen, weil sie in Teilen nicht mehr zeitgemäß und für die Herrschaftsunterworfenen auch immer weniger verständlich sind. Diese Orientierungsverluste, die viele Bereiche von Staat und gesellschaftlichem Leben betreffen und zwangsläufig in engem Zusammenhang mit Funktionsverlusten von Staatlichkeit resp. unzureichender Aufgabenerfüllung stehen21, werden in digitalen Kontexten besonders deutlich. Wenn das Vertrauen aber eben auch die Richtigkeit und den Erfolg der Betätigungen von Staatsgewalt umfasst, dann wird auch deutlich, dass Legitimität neben der – regelmäßig durch Wahlen oder Ernennungsakte realisierten – InputLegitimation auch eine ergebnisorientierte Komponente besitzt, die durch Output-Legitimation bewirkt wird. Für die Output-Legitimation sind die am Maßstab der Herrschaftszwecke und Herrschaftsziele bewerteten Ergebnisse der Herrschaftsgewalt maßgebend. Der legitimationsrelevante Output wird gebildet durch die Effizienz und Effektivität der Herrschaftsgewalt bei der Aufgabenbewältigung und Problemverarbeitung22. Beide Legitimationsstränge – Input- und Output-Legitimation – müssen für die Wahrung der Legitimität der Herrschaftsgewalt von dem Vertrauen durch die Legitimationssubjekte umfasst sein. Dieses Vertrauen wirkt dann in unklaren und schwierigen Zeiten als Vertrauensvorschuss, der der Herrschaftsgewalt in Notlagen für eine gewisse Zeit auch weiterhin Legitimität zuführt.23

20

Aus dem letzteren Befund folgert Baumann, Retrotopia, 2017, S. 17 ff., dass die Suche nach Orientierung derzeit für viele Menschen nicht mehr in Gegenwart oder Zukunft, sondern in die (verklärte) Vergangenheit führt – mit dramatischen Folgen für die Legitimität aktueller Herrschaftsordnungen. 21 Dazu grundlegend Schliesky, in: ders. (Hrsg.), Funktionsverluste von Staatlichkeit, 2018, S. 5 ff.; Hesse, ebd., S. 23 ff. 22 Grundlegend Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 656 ff. 23 Zu Prima-Facie-Richtigkeit und dem Legitimität bewirkenden Vertrauensvorschuss Zielcke, Demokratie in Not, in: SZ Nr. 67 vom 20. 3. 2020, S. 11. – Zur konstruktiv-ergänzenden Kraft des Misstrauens in Vertrauenskontexten Mühlfried, Misstrauen – Vom Wert eines Unwerts, 2019, S. 80 f.

3. Informationen als Bezugsobjekt des Vertrauens

59

3. Informationen als Bezugsobjekt des Vertrauens In der digitalen Informationsgesellschaft spielen – wie der Begriff bereits suggeriert – Informationen eine entscheidende Rolle. Informationen sind seit jeher aber auch ein Metier des Staates, der kraft seines oftmals überlegenen und früher umfassenden, weil aus vielen Quellen gespeisten Wissens ein Informationsgarant war. Gerade im Hinblick auf (staatliche) Informationen als Betätigung der Staatsgewalt spielt Vertrauen eine essentielle Rolle, denn Vertrauen ersetzt bei den Herrschaftsunterworfenen fehlende Informationen. Luhmann hat diesen Gedanken prägnant formuliert: „Vertrauen beruht auf Täuschung. Eigentlich ist nicht so viel Information gegeben, wie man braucht, um erfolgssicher handeln zu können“.24 Angesichts der Komplexität von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft muss der Einzelne sich schon seit langer Zeit auf fremde Informationsverarbeitung stützen und verlassen können, denn hinter allen Aussagen stehen Prozesse menschlicher Informationsverarbeitung.25 Der Staat gewinnt seine amtliche Autorität aus diesem Vertrauen der Herrschaftsunterworfenen auf die Richtigkeit der staatlichen Informationen. Dahinter steht letztlich ein an Wahrheit orientierter Legitimitätsglaube, der – wie gezeigt – neben der Input-Legitimation auch die Problemlösungsfähigkeit der Input-legitimierten Herrschaftsorgane und die Richtigkeit der Ergebnisse, in diesem Fall eben auch der staatlichen Informationen, umfasst.26 In Zeiten der Digitalisierung wird das Vertrauen in den Staat als Informationsgarant prekär. Zum einen fällt den Herrschaftsunterworfenen zunehmend auf, dass der Staat nicht mehr über die erforderlichen Informationen und das nötige Wissen für richtige Entscheidungen verfügt, sondern diese Informationen längst in der Hand einiger großer Digitalkonzerne liegen. Zum anderen wird die Komplexität und Unklarheit der Entscheidungsprozesse auf der Grundlage von IT, Algorithmen, Big Data etc. noch größer, so dass mangels eigener Kenntnisse und Fähigkeiten der Legitimationssubjekte das Vertrauen in staatliche Akteure umso wichtiger wäre. Genau hier setzen aber nun gravierende Veränderungen an: Die 24

Luhmann, Vertrauen, 5. Aufl. 2014, S. 38. Luhmann, Vertrauen, 5. Aufl. 2014, S. 66, 68. 26 Luhmann, Vertrauen, 5. Aufl. 2014, S. 66: „Vertrauen ist überhaupt nur möglich, wo Wahrheit möglich ist“; Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 646 ff. 25

60

V. Vertrauensbeziehung als Inhalt der Legitimität

Informationsverarbeitung erfolgt nun nicht mehr durch den Menschen, sondern durch Algorithmen, Maschinen oder „Cyborgs“. Diese sammeln, speichern oder verarbeiten aber nicht länger nur Informationen, sondern treffen auf der Basis dieser Informationen nun auch eigene Entscheidungen.27 Eine Kontrolle dieser Entscheidungsprozesse ist allenfalls noch wenigen spezialisierten Experten und Programmierern möglich, für die Legitimationssubjekte bleibt nur „blind“ zu vertrauen.28 Dieses Vertrauen muss sich plötzlich auf Maschinen, Technik und Algorithmen beziehen – es entfällt nun das Vertrauen in Personen, das für menschliche Gesellschaften kennzeichnend und für die Vertrauensbeziehung als Inhalt der Legitimität essentiell war. Auch das Bundesverfassungsgericht hat den Zusammenhang zwischen staatlichen Informationen und Vertrauen immer wieder betont, ohne allerdings explizit den Zusammenhang zur Legitimitätsfrage herauszustellen. In seiner Entscheidung über die Informationstätigkeit der Bundeszentrale für politische Bildung hat das Gericht betont: „Vielmehr kann es insoweit nur um die Erhaltung des zur Funktionsfähigkeit der Behörde notwendigen Mindestmaßes an öffentlichem Vertrauen in die eigene Glaubwürdigkeit und Integrität gehen (…). Gerade bei einer Einrichtung wie der Bundeszentrale, die keine Eingriffsverwaltung betreibt und auch nicht über die rechtlichen Mittel hierzu verfügt, sondern deren Aufgabe die Information der Bürger ist, gehört zu den Grundlagen der eigenen Tätigkeit auch das öffentliche Ansehen als zuverlässig und ausgewogen.“29 Dementsprechend verlangt das Gericht von der Bundeszentrale für politische Bildung, die Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips bei ihrer Informationstätigkeit zu beachten. Und auch bei marktbezogenen Informationen hat das Gericht Anforderungen bezüglich inhaltlich zutreffender und sachlicher Informationen gegenüber dem Bürger formuliert.30 Erinnert sei schließlich an ein weiteres Souveränitätsattribut als Gegenstand des Vertrauens, und zwar die staatliche Währungshoheit. Das Bundesverfassungsgericht hat die Währung als den hoheitlichen Garanten 27

Deutlich Ramge, Mensch und Maschine, 2018, S. 13 ff. Zutreffend Prell, NVwZ 2018, 1255 (1259). 29 BVerfG, B. v. 17. 8. 2010, 1 BvR 2585/06, Rn. 24. – Zum Sachlichkeits- und Neutralitätsgebot allen Staatshandelns und insbes. der Informations- und Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung s. BVerfGE 57, 1 (8); 105, 252 (272); BVerfG, U. v. 27. 2. 2018, 2 BvE 1/16, Rn. 58 ff. 30 BVerfGE 105, 252 Rn. 57 ff. 28

3. Informationen als Bezugsobjekt des Vertrauens

61

des Einlösungsvertrauens angesehen und den Austausch dieses Garanten als verfassungsrelevant am Maßstab des Art. 88 Satz 2 GG angesehen.31

31

BVerfGE 97, 350 (372).

VI. Herausforderungen durch die Digitalisierung Die Legitimität des vom Grundgesetz konstituierten demokratischen Verfassungsstaates wird – neben vielen anderen Herausforderungen – aktuell durch die Digitalisierung bedroht. So wie der Staat im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts theoretisch wie praktisch neu konzipiert wurde1, so bewirkt die Digitalisierung zahlreiche Notwendigkeiten theoretischer wie praktischer Neuorientierungen. Die Ansatzpunkte für das digital bedingte Schwinden der Legitimität sollen nachfolgend kurz skizziert werden.

1. Fehlende Raumbeherrschung Zu erinnern ist an die eingangs dargestellte Verbindung von Souveränität und Legitimität: (Demokratische) Legitimität ist die Kehrseite von Souveränität. Fehlt es der Staatsgewalt an Souveränität, dann fehlt es ihr – mindestens über kurz oder lang – auch an Legitimität. Solange demokratische Legitimität auf den Staat bezogen ist, so lange ist sie notwendig auch auf den Raum, das analoge Territorium, bezogen, da das Staatsgebiet nach wie vor ein konstitutives Merkmal des Staatsbegriffes ist.2 Dies bedeutet dann aber auch, dass legitimierte Staatsgewalt an den Grenzen Halt macht.3 Man kann es auch anders formulieren: Legitime Staatsgewalt setzt die Beherrschung des Raumes voraus. Das von den Staatsgrenzen definierte Staatsgebiet spielt damit auch eine zentrale Rolle für die Instrumente der Raumbeherrschung, etwa in Gestalt der Zuständigkeitsordnung für 1 Dazu Wiegand, in: Stekeler/Weithofer/Zabel (Hrsg.), Philosophie der Republik, 2018, S. 11 (13). 2 Grundlegend Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914 (7. Neudruck 1960), S. 183, 394 ff.; Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, A 2; ausführlich Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 8 ff., 25 ff. m.w.N. – Aus kulturwissenschaftlicher Sicht zum Verhältnis von Raum und nationaler Identität Guldin, Politische Landschaften, 2014, insbes. S. 243 ff. 3 Näher Isensee, Grenzen, 2018, S. 79 ff.

1. Fehlende Raumbeherrschung

63

die exekutive Staatsgewalt. Sachliche und örtliche Zuständigkeit eines Verwaltungsträgers sind Voraussetzung für den Legitimationszusammenhang, da die Zuständigkeit den tatsächlichen Gegenstandsbereich bezeichnet, der dem Kompetenzinhaber zur Wahrnehmung zugewiesen ist und sowohl die Ermächtigung zur als auch die Grenze der inhaltlichen Entscheidung darstellt. Mit anderen Worten: Nur für den mit der Zuständigkeit gekennzeichneten Gegenstandsbereich und örtlichen Bezirk besitzt der jeweilige Funktionswalter die erforderliche demokratische Legitimation, um Staatsgewalt auszuüben.4 Das Demokratieprinzip wird dabei vom Bundesverfassungsgericht strikt raumbezogen interpretiert, indem es ein Konzept ortsbezogener Teilvölker für entsprechend örtlich radizierte Teile des Staatsgebiets entwickelt hat.5 Ist ein demokratisches Teilvolk (Landesvolk, Kreis- oder Gemeindevolk) nur auf einen abgegrenzten Teil des Staatsgebiets bezogen, so kann dieses Teilvolk als Legitimationssubjekt auch nur für die in diesem Teil des Staatsgebiets ausgeübte Staatsgewalt legitimierend tätig sein. Die Raumbindung der Verwaltung hat insoweit also eine besonders starke Wurzel im Demokratieprinzip. Diesem Vorstellungsbild können digitale Strukturen nicht gerecht werden: Schon der klassische, am Staatsgebiet orientierte Raumbezug fehlt. Überdies erlaubt die „vernetzte Gesamtzuständigkeit“ keinen klaren Verantwortungs- und Zurechnungszusammenhang zu einem handelnden Amtswalter oder zu einem örtlich begrenzten Teilvolk. Vielmehr ist gerade eine auf Problem- und Lebenslagen bezogene Verwaltungstätigkeit, ggf. in Kooperation verschiedener Verwaltungen, im Netz vorherrschend6, aus der Einzelbeiträge nur schwer zu isolieren sind.7

4

BVerfGE 93, 37 (68). BVerfGE 83, 37 (55), 83, 60 (71); zur Teilvolk-Konstruktion des Bundesverfassungsgerichts Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.). Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 31. 6 Insbesondere im Kontext sog. One-stop Government-Konzepte (dazu aus rechtswissenschaftlicher Perspektive E. Schulz, One-stop Government, 2006), beispielsweise bei der Einrichtung sog. Einheitlicher Ansprechpartner nach der EUDienstleistungsrichtlinie, kommunaler Bürgerbüros oder des „Bürgertelefons 115“, entstehen derartige digitale Vernetzungen. Dazu Schliesky, NVwZ 2003, 1322 ff. 7 S. Schliesky, in: Leible (Hrsg.), Die Umsetzung der EU-Dienstleistungsrichtlinie, 2008, S. 43 ff. 5

64

VI. Herausforderungen durch die Digitalisierung

2. Unterbrechung von Legitimationsketten für die Input-Legitimation a) Fragwürdigkeit des Modells Damit ist in vielen Fällen keine klare Legitimationskette zu dem jeweils legitimierenden Bundes-, Landes-, Kreis- oder Gemeindevolk feststellbar. Die von den Volksvertretern sichergestellte parlamentarische Kontrolle, die im Übrigen gerade auch durch klare Zuständigkeiten gesichert werden soll8, wird zudem erheblich erschwert.9 Bei näherem Hinsehen lassen sich zahlreiche und durchaus verschiedene Gefährdungen für die bzw. schon bereits realisierte Unterbrechungen von Legitimationsketten feststellen.10 Drei kurze Beispiele mögen dies verdeutlichen: Zum einen widerspricht die durch Informations- und Kommunikationstechnik ermöglichte und zunehmend realisierte Arbeitsteilung dem „Kettenmodell“ demokratischer Legitimation.11 Überdies ist die tatsächlich zu beobachtende digitale Vernetzung, die zu neuen Modellen der arbeitsteiligen Erledigung von staatlichen Aufgaben führt (etwa mithilfe von Rechenzentren), nicht mit dem Modell einer vollständig eigenverantwortlichen Aufgabenerledigung durch jeden Aufgabenträger selbst vereinbar, wie es das Bundesverfassungsgericht postuliert:12 „Zugewiesene Zuständigkeiten sind mit eigenem Personal, eigenen Sachmitteln und eigener Organisation wahrzunehmen.“13 Das Gericht leitet diesen Grundsatz der eigenverantwortlichen Aufgabenerledigung aus dem Demokratieprinzip und konkret aus dem Gebot demokratischer Legitimation ab: „Eine hinreichend klare Zuordnung von Verwaltungszuständigkeiten ist vor allem im Hinblick auf 8 Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 65, Rn. 38 ff. 9 Nicht übersehen werden darf, dass auch gegen das legitimationssichernde Hierarchieprinzip ein Frontalangriff erfolgt, da das E-Government technisch und strukturell bedingt in hierarchiefeindlichen kooperativen Netzwerkstrukturen abläuft, s. bereits Schliesky, NVwZ 2003, 1322 (1327 f.). 10 Rosanvallon, Demokratische Legitimität, 2010, S. 26 ff., hat den Bedeutungsverlust der Input-Legitimation in Gestalt des Wahlvorganges herausgearbeitet; er betont mit Recht „die Notwendigkeit einer Neubegründung demokratischer Legitimität“ (S. 92). 11 Dazu näher Schliesky, in: Hill/Schliesky (Hrsg.), Herausforderung e-Government, 2009, S. 11 (21 ff.). 12 BVerfGE 119, 331 (364 ff.). 13 BVerfGE 119, 331 (364; 372 f.).

2. Unterbrechung von Legitimationsketten für die Input-Legitimation

65

das Demokratieprinzip erforderlich, das eine ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern fordert, und auf diese Weise demokratische Verantwortlichkeit ermöglicht.“14 Vor diesem Hintergrund ist es (mindestens noch) viel zu optimistisch, wenn Jens Kersten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Öffnung des Demokratieprinzips hin zu einer „verflochtenen Demokratie“ unter Einfluss der europäischen Integration entdecken will15. Danach müsse Demokratie nicht (mehr) ausschließlich aus der Dichotomie von Individuum und Volk verstanden werden16, sondern es eröffne sich die Möglichkeit, neue Formen demokratischer Legitimation im Verhältnis Eine(r) – Viele – Alle zu entdecken17. Die Schwäche dieses Denkansatzes liegt vor allem darin, dass Legitimation dann noch weniger als schon heute die Funktionen Verantwortung, Vertrauen und Orientierung erfüllen könnte. Zum anderen ist der Einfluss von „Torwächtern“ für den Zugang zu digitalen Räumen so groß, dass demokratisch legitimierte Herrschaftsträger sich bei ihren Entscheidungen nach den Vorstellungen dieser privaten, manchmal auch staatlich gelenkten ausländischen Digitalkonzerne richten müssen bzw. ihre Vorstellungen gegen anderslautende Auffassungen dieser Netzakteure nicht durchsetzen können. Ein jüngstes Beispiel für diesen vielfach anzutreffenden Sachverhalt ist die Entwicklung einer sog. „Tracing App“ im Zuge der Corona-Pandemie, also eines technischen Hilfsmittels zur Nachverfolgung von Infektionsketten. Aufgrund der Entscheidung der beiden marktführenden Anbieter für mobile Betriebssysteme, einen dezentralen Ansatz für die Speicherung und Auswertung der Smartphone-Daten zu bevorzugen und dementsprechend ihre Betriebssysteme nur für derartige staatliche Apps kompatibel zu gestalten, war es der Bundesregierung verwehrt, den zunächst bevorzugten zentralen Ansatz weiter zu verfolgen.18

14 BVerfGE 119, 331 (366), unter Hinweis auf BVerfGE 47, 253 (275); 52, 95 (130); 77, 1 (40); 83, 60 (72 f.); 93, 37 (66 f.). 15 Kersten, Schwarmdemokratie, 2017, S. 153 ff. 16 Kersten, Schwarmdemokratie, 2017, S. 156. 17 Kersten, Schwarmdemokratie, 2017, S. 148. 18 Hurtz, Suche im virtuellen Heuhaufen, Süddeutsche Zeitung vom 27. Mai 2020, S. 2.

66

VI. Herausforderungen durch die Digitalisierung

Und schließlich knüpft demokratische Legitimation an ( jedenfalls) „alles amtliche Handeln mit Entscheidungscharakter“ an.19 Entscheidungen sind dabei zweifelsohne menschliche Entscheidungen, da ja die personelle demokratische Legitimation im herrschenden Legitimationskonzept gerade eine zentrale Rolle spielt. Dies verändert sich nun grundlegend, wenn Entscheidungen durch „Künstliche Intelligenz“, also mithilfe von selbstlernenden Algorithmen auf der Grundlage der unvorstellbar schnellen Verarbeitung bislang menschlich nicht beherrschbarer Datenmengen (sog. „Big Data“) getroffen werden. b) Algorithmenbasierte Herrschaftsgewalt In Wirtschaft und Gesellschaft gibt es längst zahlreiche Anwendungsfälle autonomer algorithmenbasierter Entscheidungen, etwa im Börsenhandel oder bei Versicherungen, aber auch in zentralen Bereichen des Staates und seiner Verwaltung sind derartige technikbasierte Entscheidungen angekommen. Dieser Einsatz von Algorithmen unterbricht die menschliche Legitimationskette, die personelle demokratische Legitimation nach Auffassung der h.M. sicherstellen soll. Denn wenn im Zuge des Einsatzes „Künstlicher Intelligenz“ Algorithmen selbst aus der Masse der Daten früherer Entscheidungen „lernen“ und ohne weiteres menschliches Zutun Entscheidungen treffen, üben sie potentiell Staatsgewalt aus, die nicht mehr lückenlos auf menschliche Entscheidungen zurückführbar ist. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen: In der Wirtschaft werden täglich Milliardenumsätze im algorithmenbasierten Börsenhandel generiert. Der Gesetzgeber hat mit der Einfügung des § 26d BörsenG reagiert, der allerdings noch recht hilflos wirkt. Denn problematisch ist bereits, ob die „Erklärungen“ der Algorithmen einem Menschen bzw. Unternehmen zurechenbare Willenserklärungen sind, die zu einem Vertragsschluss führen.20 Eine weitere Frage ist, ob Algorithmen in der Lage sind, Eigentumspositionen i.S.d. Art. 14 Abs. 1 GG zu erarbeiten, die an sich

19 BVerfGE 47, 253 (273); 83, 60 (73); 93, 37 (68); zuletzt BVerfG, DVBl. 2018, 871 (875); eingehend Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 254 ff. 20 Dazu Wendehorst, Forschung & Lehre 1/20, S. 24 (25).

2. Unterbrechung von Legitimationsketten für die Input-Legitimation

67

einen Persönlichkeitsrechtsbezug aufweisen müssen.21 Derartige Algorithmen werden aber auch bereits für staatliche Entscheidungen eingesetzt, wenn man allein an die Steuerverwaltung und hier auf der Grundlage von § 20 Abs. FVG, §§ 89 Abs. 5, 155 Abs. 4 AO tätige Algorithmen denkt22. Die personelle demokratische Legitimation des Algorithmus liegt nicht vor, sie wird auch kaum über den zu einer (vielleicht sogar privaten) ITFirma gehörenden Programmierer herstellbar sein.23 Eine Legitimationskette – wenn sie überhaupt darstellbar und nicht unwiderruflich durchbrochen ist – mutiert zu einer bloßen Fiktion. Hier bedarf es mindestens einer besonders intensiven sachlich-inhaltlichen Steuerung des Algorithmeneinsatzes24 und einer Kontrollmöglichkeit und Kontrollrealisierung durch Menschen. c) Fehlende Nutzung von Kompensationsmöglichkeiten Erschwerend kommt hinzu, dass in vielen Fällen bislang keine Kompensation der Unterbrechung der personellen demokratischen Legitimationen durch eine sachlich-inhaltliche Legitimation erfolgt ist. Die Gesetzgeber in Bund und Ländern haben es lange Zeit versäumt, digitale Sachverhalte rechtlich zu regeln, damit für Rechtssicherheit sowie zugleich für sachlich-inhaltliche Legitimation digitalen Staatshandelns zu sorgen25. Nach und nach wird dieser Mangel nun mit E-Government-Gesetzen oder etwa mit dem auf der Grundlage von Art. 91 c Abs. 5 GG erlassenen Online-Zugangsgesetz (OZG) partiell behoben. Weiterhin fehlt es aber an 21

Dazu Schliesky, NVwZ 2019, 693 (700); ders., NJW 2019, 3692 (3696). Dazu Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens vom 18. 07. 2016, BGBl. I S. 1679; s. ferner KONSENS-Gesetz (Gesetz über die Koordinierung der Entwicklung und des Einsatzes neuer Software der Steuerverwaltung) vom 14. 08. 2017, BGBl. I S. 3122, 3129. – S. eingehend Braun Binder, in: Unger/von Ungern-Sternberg (Hrsg.), Demokratie und künstliche Intelligenz, 2019, S. 161 ff. 23 Zu diesem Themenkreis näher Unger, in: ders./von Ungern-Sternberg (Hrsg.), Demokratie und künstliche Intelligenz, 2019, S. 113 ff. S. auch Gemmin, DÖV 2020, 172 (178): Verhalten des selbstlernenden Systems „zeichnet sich gerade durch seine Unvorhersehbarkeit aus“. 24 § 20 Abs. 1 FVG oder § 26d BörsenG genügen diesen Anforderungen nicht. 25 Zu einem solchen Ansatz des E-Government durch Recht bereits früh Schliesky, in: Henneke (Hrsg.), Kommunale Verwaltungsstrukturen der Zukunft, 2006, S. 59 ff.; ders., in: Zechner (Hrsg.), Handbuch E-Government, 2007, S. 49 ff. 22

68

VI. Herausforderungen durch die Digitalisierung

Regelungen, welche die für demokratische Legitimation essentielle Verantwortungszurechnung sowie die Sicherstellung des Legitimationszusammenhanges auch bei komplexen Vernetzungen sicherstellen. Derartige Normen wären etwa in Gestalt von sog. Zuständigkeitsverzahnungen denkbar.26 Schließlich soll nicht unerwähnt bleiben, dass auch die institutionelle Legitimation, also die verfassungsunmittelbare demokratische Legitimation der Institution als solcher27, durch die zunehmende Relevanz digitaler Plattformen und Netzwerke schwindet28 – jedenfalls solange die Verfassung diese neuen Organisationen nicht normiert und ihnen auf diese Weise institutionelle Legitimation zuführt. Die Möglichkeit dazu besteht durchaus, wie etwa die Konstitutionalisierung von „gemeinsamen Einrichtungen“ in Art. 91c Abs. 3 GG und „Verbindungsnetz“ in Art. 91c Abs. 4 GG belegt.29

3. Fehlende Output-Legitimität Ist also schon die demokratische Input-Legitimation prekär, so wird die Lage bei einem Blick auf die Ergebnisseite der Betätigung der Staatsgewalt in digitalen Räumen nicht besser. Inwieweit die Ergebnisse der Staatsgewaltsbetätigung, also der „output“, für das erforderliche Niveau der de-

26 Vorschlag von Schliesky, in: ders. (Hrsg.), E-Government in Deutschland, 2006, S. 1 (12 ff.); dems., Die Europäisierung der Amtshilfe, 2008, S. 44 f.; aufgegriffen und unterstützt von Ziekow, in: Schliesky (Hrsg.), Die Umsetzung der EUDienstleistungsrichtlinie in der deutschen Verwaltung, Teil II: Verfahren, Prozesse, IT-Umsetzung, 2009, S. 141 (158 f.). 27 BVerfGE 49, 89 (125); 68, 1 (88); 97, 350 (372); Brosius-Gersdorf, Deutsche Bundesbank und Demokratieprinzip, 1997, S. 40; Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, 1993, S. 276; Oebbecke, Weisungs- und unterrichtungsfreie Räume in der Verwaltung, 1986, S. 69; Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 299 ff., 708 f. 28 Zur Ersetzung klassischer Institutionen durch Plattformen und Netzwerke Schliesky, Von der organischen Verwaltung Lorenz von Steins zur Netzwerkverwaltung im Europäischen Verwaltungsverbund, 2009, S. 20 ff.; Türcke, Digitale Gefolgschaft, 2019, S. 166 ff. 29 Dazu Schliesky, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 157. Aktualisierung 2012, Art. 91c Rn. 64 ff., 73 ff.

3. Fehlende Output-Legitimität

69

mokratischen Legitimität eine Rolle spielen, ist nach wie vor umstritten.30 Ein Großteil der Staatsrechtslehre ist ablehnend, das Bundesverfassungsgericht hat sich nicht abschließend geäußert, tendiert aber zu einer maßgeblichen Input-Betrachtung und öffnet sich erst in jüngster Zeit für die Relevanz von Output-Gesichtspunkten. Nach hier vertretener Auffassung spielt auch die Output-Legitimation eine entscheidende zusätzliche Rolle, wenn auch zur Sicherstellung der Verantwortlichkeitsbeziehung ein Input-Ableitungszusammenhang von den Legitimationssubjekten bis zur konkreten Ausübung der Herrschaftsgewalt unverzichtbar bleibt.31 Für die Output-Legitimation sind die am Maßstab der Herrschaftszwecke und Herrschaftsziele, die im demokratischen Verfassungsstaat der Verfassung entnommen werden können, bewerteten Ergebnisse der Herrschaftsgewalt maßgebend. Der legitimationsrelevante Output wird gebildet durch die Effizienz und Effektivität der Herrschaftsgewalt bei der Aufgabenbewältigung und Problemverarbeitung.32 Auch wenn es den „digitalen Staat“ erst in rudimentären Ansätzen gibt, so lässt sich – vor allem im europäischen und internationalen Vergleich – doch feststellen, dass die Ergebnisse digitaler Leistungserbringung des deutschen Staates, etwa im Bereich des E-Government, bislang eher unzureichend sind.33 Der deutsche Staat verfehlt damit bislang die Ergebnis- und Legitimitätserwartungen vor allem der jungen Menschen. Damit entsteht eine zunehmend bedrohliche Kluft zwischen Fähigkeiten und Erwartungen der Gesellschaft einerseits und Fähigkeiten und Ergebnissen des Staates andererseits. Besorgniserregend ist insoweit vor allem, dass bei einer Bewertung am Maßstab der Grundrechte als staatlichen Herrschaftszielen die Ergebnisbilanz schlecht ist: Der Staat wird seinen Schutzpflichten für die Menschenwürde und das Persönlichkeitsrecht nur unzureichend gerecht, 30

Darstellung bei Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 82 ff. 31 Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 710. 32 Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 659 ff. 33 Aus der Vielzahl der Bestandsaufnahmen Denkhaus, in: Seckelmann (Hrsg.), Digitalisierte Verwaltung – Vernetztes E-Government, 2. Aufl. 2019, S. 51 ff.; Guckelberger, VVDStRL 78 (2019), 235 ff.; dies., Öffentliche Verwaltung im Zeitalter der Digitalisierung, 2019; Kube, VVDStRL 78 (2019), 289 ff. – Frühe Systematisierungen bei Eifert, E-Government, 2006; Hill/Schliesky (Hrsg.), Herausforderung e-Government, 2009; Schliesky, NVwZ 2003, 1322 ff.; ders. (Hrsg.), eGovernment in Deutschland, 2006.

70

VI. Herausforderungen durch die Digitalisierung

wie beispielsweise das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) zeigt, das einen Teilverzicht staatlicher Souveränität erklärt und stattdessen auf freiwillige Selbstzensur der Anbieter sozialer Netzwerke setzt. Und die digitalen Grundrechte wurden bislang vom Europäischen Gerichtshof und vom Bundesverfassungsgericht „erfunden“, nicht von den eigentlich dafür zuständigen parlamentarischen Verfassunggebern, in denen derartige Diskussionen noch nicht einmal stattfinden.34

4. Fehlen der Legitimitätsidee für den digitalen Staat All diese aufgezeigten Defizite verwundern letztlich nicht, fehlt es doch an einer Legitimitätsidee für den digitalen Staat. Unter „Legitimitätsidee“ ist das der konkreten Herrschaftsordnung zugrundeliegende normative Legitimationskonzept zu verstehen, das für die Anerkennungswürdigkeit der Herrschaft sorgt und von möglichst vielen der individuellen Legitimationsberechtigten und Herrschaftsunterworfenen als Grundkonsens betrachtet wird. Hierfür bedarf es inhaltlicher Wertorientierungen, die eine Herrschaftsgewalt auf Dauer als akzeptabel und befolgungswürdig erscheinen lassen35. Das Problem des aktuellen analogen Staates, das in die digitalen Räume transferiert wird, liegt in der inhaltlichen Entleerung des Legitimitätsbegriffes. In der Fortführung des Weber’schen Legitimitätsansatzes haben Gesetzespositivismus und Systemtheorie das Legitimationskonzept auf formale Legitimationsprozesse in Gestalt von zu durchlaufenden Verfahren reduziert – und den Legitimitätsglauben der Herrschaftsunterworfenen auch nur noch darauf ausgerichtet36. Dies ist aber nur ein Teil der Legitimitätsidee – hinzutreten muss eine inhaltliche Orientierung durch Herrschaftszwecke und -ziele, die eine Ergebnisbeurteilung ermöglichen. Gerade über diese gestaltbaren Herrschaftsziele 34 Eine Ausnahme stellen – in Ansätzen – Art. 14, 15 LV SH dar. – S. auch den Entwurf einer Charta der digitalen Grundrechte der Europäischen Union, abrufbar unter https://digitalcharta.eu. 35 Zur Anerkennungswürdigkeit politischer Herrschaft grundlegend Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1. und 2. Halbband, 5. Aufl. 1976, S. 122 ff. 36 Bonavides, Der Staat 365 (1996), 581 (593); Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 638 f.; s. auch Habermas, Faktizität und Geltung, 4. Aufl. 1994, S. 541.

5. Vertrauensverluste in den Staat

71

bedarf es im demokratischen Verfassungsstaat der gesellschaftlichen und politischen Diskussionen, wenn man eine inhaltlich entleerte bloße „instrumentelle Vernunft“ vermeiden will.37 Ist nun schon die Legitimitätsidee des aktuellen deutschen Verfassungsstaates unzureichend, so wird dieser Mangel in den digitalen Raum transferiert. Hinzu kommt noch, dass auch die Verfahren – wie gezeigt – keine oder nur eine unzureichende Legitimationsleistung erbringen. Dadurch wird aber auch der Blick auf die Notwendigkeit einer inhaltlichen Ausgestaltung der digitalen Räume, auf die anzustrebenden Herrschaftszwecke und -ziele in digitalen Räumen verstellt. Dabei ist in aufgeklärten westlichen Gesellschaften davon auszugehen, dass Legitimität sich heute nicht mehr auf die Suche nach einem „letzten Rechtsgrund“ begeben oder gar darin erschöpfen kann38, sondern sich mit relativen Wahrheiten begnügen und hierfür einen Konsens, jedenfalls aber eine möglichst breite Mehrheit im Hinblick auf einen Herrschaftszweck aufweisen muss.39

5. Vertrauensverluste in den Staat Ist mit der fehlenden Legitimitätsidee schon der Maßstab für InputLegitimation prekär, so wird – wie gezeigt – auf der Output-Seite schon theoriebedingt, aber auch rein tatsächlich zumindest in digitalen Kontexten keine Kompensation bewirkt. Verstärkt werden diese Defizite auf beiden Legitimationssträngen durch zahlreiche Vertrauensverluste in die Funktionsfähigkeit des Staates. Tatsächlich bestehende Funktionsverluste der Staatsgewalt40 bewirken Vertrauensverluste bei den Legitimationssubjekten. Für diese Funktionsverluste gibt es aktuell (leider) viele Beispiele und Ursachen – sie reichen von politisch und rechtlich gewollten Maßnahmen etwa im Bereich der Währungspolitik über partielle Kon37 Grundlegend Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, 1947/ 2007, S. 16 ff.; s. auch Lübbe, Politischer Moralismus, 2019, S. 7 f. 38 Hennis, PVS-Sonderheft 7/1976, S. 9 (21 f.); Höreth, Die Europäische Union im Legitimationstrilemma, 1999, S. 80; s. auch Zippelius, JZ 1999, 1125 (1126). 39 Zum Zusammenhang zwischen (Grund-)Konsens und Wahrheit Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1997, S. 284 f. 40 Dazu näher Schliesky, in: ders. (Hrsg.), Funktionsverluste von Staatlichkeit, 2018, S. 5 ff.; Hesse, ebd., S. 23 ff.

72

VI. Herausforderungen durch die Digitalisierung

trollverluste im Rahmen der Flüchtlingskrise und Vollzugsdefizite bis hin zu den mit den fehlenden Möglichkeiten des Staates in digitalen Räumen einhergehenden Vertrauensverlusten, die oben schon am Beispiel der staatlichen Informationen beschrieben wurden.41 Da Vertrauen – wie gezeigt – den Inhalt demokratischer Legitimität ausmacht, werden die Herausforderungen für die (demokratische) Legitimität der Staats- und Herrschaftsgewalt durch die Digitalisierung besonders deutlich. Das Problem besteht zusätzlich darin, dass eine strikt rechtspositivistische Sichtweise, die sich auf eine monistische, strikt verfahrensrechtlich ausgerichtete Input-Legitimation beschränkt, diesen Vertrauensaspekt nicht in den Blick nehmen will und deshalb auch diesbezügliche Warnzeichen ignorieren muss. Ohne Frage ist Vertrauen ein – allerdings nachweisbares und messbares – Gefühl, das aber hohe politische und über die Legitimität auch verfassungsrechtliche Relevanz besitzt. Derzeit wird diese „politische Geometrie der Gefühle“42 unterschätzt. Vielmehr zeichnet sich schon deutlich ab, dass erfolgreiche Politik die „Dynamik der Affekte“, die sich in Netzwerkrealitäten äußerst genau und in Echtzeit ablesen lässt43, längst für sich nutzt – und damit sind diese Gefühle, ist das Vertrauen, auch rechtlich relevant.44 Dieses von der Politik längst erkannte und genutzte Spielen mit Gefühlen anstelle der – viel schwierigeren – Herstellung von rational begründetem Vertrauen durch

41

S. o. IV. 2. Baecker, 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt, 2018, S. 103, mit Hinweis auf Aristoteles und Spinoza. 43 Baecker, 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt, 2018, S. 103. 44 Die Ereignisse im Umfeld der schwierigen Ministerpräsidenten-Wahl in Thüringen 2020 sind ein Musterbeispiel: Die Moralisierung auf der Basis eines erfolgreichen „Framings“ („Nazis“) überlagert und verdrängt („Es ist unverzeihlich…“, „muss rückgängig gemacht werden“) verfassungsrechtliche Wertungen, die eine Wahl des Ministerpräsidenten und eine Regierungsbildung ermöglichen sollen und dabei nicht zwischen „guten“ und „schlechten“ Stimmen bei einer geheimen (!) Wahl unterscheiden, sondern auf die Mehrheit abstellen. Gleichzeitig wird vertreten, dass die demokratische Legitimation auch bei mehr Nein- als Ja-Stimmen im dritten Wahlgang vorliegen soll (zu diesem Problemkreis Schliesky, in: Morlok/ Schliesky/Wiefelspütz [Hrsg.], Handbuch des Parlamentsrechts, 2016, § 5 Rn. 13). Hier schwächt die Moralisierung dann im Ergebnis auch das klassische Konzept der Input-Legitimation, die aber nur bei einer Anwendung des Mehrheitsprinzips gelingen kann. 42

5. Vertrauensverluste in den Staat

73

tatsächliche Problemlösung45 zeigt sich deutlich an der Moralisierung von Politik.46 Moralisiert wird immer dann, wenn vernünftige Gründe fehlen und die Legitimität rational nicht (mehr) begründet werden kann bzw. nach vorherrschenden Legitimitätsvorstellungen nicht gegeben wäre.47 Der freiheitliche Verfassungsstaat folgt nicht bestimmten Ideen vom „Guten“ einzelner Protagonisten, sondern dem Gebot insbesondere verfahrensmäßiger Rationalität bei der Erreichung demokratisch gesetzter materieller Zielvorgaben.48 In letzter Zeit lässt sich beobachten, dass zunehmend das Beschwören von Gefühlen zum Ersatz rationaler Argumentation, die den demokratischen Rechtsstaat an sich kennzeichnet, gemacht wird. Politische Romantik als ein „subjektivierter Occasionalismus“49 tritt an die Stelle vernunftgesteuerter Politik. An die Stelle der Einhaltung vorgegebener, oftmals mühsamer Entscheidungsverfahren sowie die langwierige Diskussion über konsensfähige Wertegrundlagen tritt in Politik und Medien zunehmend eine Moralisierung des Staatshandelns50. So wurde etwa im Zuge der Flüchtlingskrise ein „Wir schaffen das“51 zum Legiti45 Desillusionierend Willke, Demokratie in Zeiten der Konfusion, 2014, S. 162: „Die Entzauberung der Demokratie als Steuerungsregime hochkomplexer Gesellschaften ist bereits unterwegs, weil – entgegen Lindblom – ihre Intelligenz nicht mehr ausreicht, um die wirklich gravierenden Probleme auch nur einigermaßen adäquat anzugehen.“ 46 Prägnante Analyse bei Lübbe, Politischer Moralismus, 2019. 47 Ein mittelalterliches Beispiel liefert Bergdolt, Der Schwarze Tod in Europa, 4. Aufl. 2017, S 149: „Der Chronist beginnt zu moralisieren. Der Leser sollte von der Legitimität des Schuldspruchs überzeugt werden.“ 48 Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 650 ff. – Zur Rationalität der Verwaltungsentscheidung Luhmann, Politische Soziologie, 2015, S. 205 ff., der eine allgemeine Theorie des rationalen Handelns (derzeit) als nicht begründbar ansieht und daher nur systemspezifische Rationalitäten annimmt (S. 205). 49 Schmitt, Politische Romantik, 6. Aufl. 1998, S. 165. 50 Deutlich Schorkopf, Das Romantische und die Notwendigkeit eines normativen Realismus, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise, 2016, S. 11 (13); s. auch Di Fabio, Herrschaft und Gesellschaft, 2018, S. 64: „Hypermoralisierung“ im politischen System; Lübbe, Politischer Moralismus, 2019, insbes. S. 53 ff., 120 f.: Politischer Moralismus als „Selbstermächtigung zum Verstoß gegen die Regeln des gemeinen Rechts und des unmoralischen Common sense unter Berufung auf das höhere Recht der eigenen, nach ideologischen Maßgaben moralisch besseren Sache.“; Rödder, in: Uhle (Hrsg.), Information und Einflussnahme, 2018, S. 241 ff. 51 Dazu eingehend Patzelt, ZSE 14 (2016), 299 ff.

74

VI. Herausforderungen durch die Digitalisierung

mitätsmaßstab für das Staatshandeln erhoben, der nicht anders als „gefühlt“ beurteilbar ist. Hier droht dann tatsächlich eine Romantisierung anstatt der Anwendung verfahrensmäßiger Rationalität. Diese Moralisierung kann das durch tatsächliche Leistungserbringung bewirkte Systemvertrauen, das den für Legitimität unabdingbaren Legitimitätsglauben mehrt, ( jedenfalls auf Dauer) nicht ersetzen. Im Gegenteil, die Moralisierung im Sinne eines Einforderns einer „Haltung“ anstatt sachlicher Auseinandersetzung und diskursiver Überzeugung und damit das „Hoffähigmachen“ von „Der Zweck heiligt die Mittel“ negiert das Legitimationssystem.52 Umso wichtiger ist es aber, dass auch die rechtswissenschaftliche Legitimitätstheorie sowohl diese Moralisierung als auch erst recht den Vertrauensaspekt mit in den Blick nimmt. Dabei soll nicht übersehen werden, dass zunehmend unterschiedliche Zielvorstellungen und Rationalitätsmaßstäbe in Gesellschaft, Verwaltung, Justiz, Politik, Medien und Kirchen anzutreffen sind, die zu mindestens subjektiven Funktionsverlusten führen und vor allem dazu geeignet sind, das Vertrauen der Herrschaftsunterworfenen in die Funktionsfähigkeit der Staatsgewalt weiter zu schmälern.

6. Schwinden der demokratischen Öffentlichkeit Eine weitere von der Digitalisierung bewirkte Herausforderung für die Legitimität der Staatsgewalt ist das Schwinden der demokratischen Öffentlichkeit.53 Öffentlichkeit meint dabei zunächst einmal verschiedene, in der Regel miteinander verbundene Dimensionen von öffentlicher Kommunikation, die also im Gegensatz zu privater Kommunikation sowie zum geheimen „Arkanstaat“ stehen54. Zugleich bezeichnet Öffentlichkeit den 52

S. Lübbe, Politischer Moralismus, 2019, S. 120. Dazu eingehend Ingold, Der Staat 56 (2017), 491 ff.; Türcke, Digitale Gefolgschaft, 2019, S. 73 ff. 54 Schulze-Fielitz, in: Evangelisches Staatslexikon, 2006, Art. Öffentlichkeit ( J), Sp. 1655; Wegener, Der geheime Staat, 2006, S. 31 ff.; zuletzt eingehend Gerhardt, Öffentlichkeit – Die politische Form des Bewusstseins, 2012, S. 48 ff., 306 ff.; zur historischen Entwicklung Blanning, Das Alte Europa 1660 – 1789, 2006, S. 105 ff.; Schorn-Schütte, Geschichte Europas in der Frühen Neuzeit, 3. Aufl. 2019, S. 290 ff. – S. auch Luhmann, Die Realität der Massenmedien, 4. Aufl. 2009, S. 127: „Öffentlichkeit ist mithin ein allgemeines gesellschaftliches Reflektionsmedium, das die Unüberschreitbarkeit von Grenzen und, dadurch inspiriert, das Beobachten von 53

6. Schwinden der demokratischen Öffentlichkeit

75

Raum, in dem sich politische Herrschaft formiert, wahrnehmbar und wirksam wird.55 Die hier interessierende Funktion von Öffentlichkeit im politischen und staatlichen Kontext ist nicht ohne Blick auf die historische Entwicklung zu verstehen: Im 18. Jahrhundert wurde die – allerdings durchaus schon früher in anderer Gestalt bestehende56 – Öffentlichkeit zur politischen Forderung, und zwar als Mittel zur Durchsetzung von Vernunft57. Sie ist insoweit untrennbar mit Liberalismus und Parlamentarismus verbunden. An parlamentarische Repräsentation ist ohne Öffentlichkeit nicht zu denken, denn über die Parlamentsöffentlichkeit wird die inhaltliche Verbindung zwischen Vertretungsorgan und vertretenem Souverän sichergestellt. Die parlamentarische Öffentlichkeitsfunktion ist bis heute unabdingbare Voraussetzung für das Entstehen einer öffentlichen Meinung. „Öffentliche Meinung wird damit für den Funktionsbereich der Politik zum Wahrheitsäquivalent.“58 An die Stelle einer letzten, nur dem Glauben zugänglichen Wahrheit tritt im modernen demokratischen Staat die auf vernünftigen Erwägungen beruhende, im öffentlichen Diskurs gefundene und möglichst der Richtigkeit verpflichtete Entscheidung.59 Dementsprechend betont das Bundesverfassungsgericht das öffentliche Verhandeln von Argument und Gegenargument, die öffentliche Debatte und die öffentliche Diskussion als wesentliche Elemente des demokratischen Parlamentarismus60. Öffentlichkeit erweist sich damit als notwendige Bedingung und wesentliches Funktionsprinzip für einen demokraBeobachtungen registriert.“ Dazu auch Schlögel, Anwesende und Abwesende, 2014, S. 314 ff. 55 Schlögel, Anwesende und Abwesende, 2014, S. 312 f. – Zur Entwicklung Hohendahl, in: ders. (Hrsg.), Öffentlichkeit – Geschichte eines kritischen Begriffs, 2000, S. 38 ff. 56 Blanning, Das Alte Europa 1660 – 1789, 2006, S. 17 ff.; Schiewe, Öffentlichkeit – Entstehung und Wandel in Deutschland, 2004, S. 28 ff.; Schorn-Schütte, Geschichte Europas in der Frühen Neuzeit, 3. Aufl. 2019, S. 291. 57 Luhmann, Die Realität der Massenmedien, 4. Aufl. 2009, S. 127; s. auch Hohendahl, in: ders. (Hrsg.), Öffentlichkeit – Geschichte eines kritischen Begriffs, 2000, S. 17 ff. 58 Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, 2008, S. 280. 59 Zum (notwendigen) Verhältnis von Demokratie und Wahrheit Graf von Kielmansegg, Die Grammatik der Freiheit, 2013, S. 11 ff. 60 BVerfG, NVwZ 2012, 954 (959 Rn. 113); näher Schliesky, in: Morlok/ Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Handbuch des Parlamentsrechts, 2016, § 5 Rn. 35 ff. m.w.N.; s. auch von Coelln, in: Uhle (Hrsg.), Information und Einflussnahme, 2018, S. 11 (18 f.).

76

VI. Herausforderungen durch die Digitalisierung

tischen Meinungs- und Willensbildungsprozess. Zugleich ist sie wesentlich für das Vertrauen der Herrschaftsunterworfenen im repräsentativen System.61 Dabei darf nicht übersehen werden, dass viele unserer Vorstellungen von einer demokratischen Öffentlichkeit letztlich noch immer mit antiken oder frühneuzeitlichen62 Vorstellungen verbunden sind, die angesichts der heutigen technischen Realitäten überholt sind. Öffentlichkeit und öffentliche Meinung unterliegen einem stetigen Strukturwandel und befinden sich in einem permanentem Entwicklungs- und Veränderungsprozess seit der Antike.63 Besonders augenscheinlich wird eine neue Art des Strukturwandels aber nun angesichts von elektronischen Medien, des Internets und sozialer Netzwerke. Zugleich verändert sich der relevante politische Raum durch Europäisierung und Globalisierung sowie digitale Vernetzung, so dass das Volk als Legitimationssubjekt der demokratischen Herrschaftsordnung „Staat“ nicht mehr mit der relevanten Öffentlichkeit oder öffentlichen Meinung deckungsgleich ist. Es ist längst ein Allgemeinplatz, dass Fernsehformate wie – nun im Grunde täglich stattfindende – politische Talkshows etwa die demokratische Parlamentsöffentlichkeit massiv beeinflusst und verändert haben. Das Internet, digitale Medien und soziale Netzwerke verändern diese Öffentlichkeit und die Möglichkeit des Entstehens einer relevanten öffentlichen Meinung nochmals in existenzieller Weise.64 Zum einen entstehen neue segregierte 61

Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 3. Aufl. 1978/1983, S. 123 f. Zur Herausbildung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit Schäfer, Geschichte des Bürgertums, 2009, S. 33 ff.; ferner Blanning, Das Alte Europa 1660 – 1789, 2006, S. 105 ff.; Burke, Papier und Marktgeschrei – Die Geburt der Wissensgesellschaft, 2000/2014; Gerhardt, Öffentlichkeit, 2012, S. 48 ff.; Hohendahl, Öffentlichkeit – Geschichte eines kritischen Begriffs, 2000, S. 8 ff.; Schiewe, Öffentlichkeit – Entstehung und Wandel in Deutschland, 2004, S. 44 ff.; SchornSchütte, Geschichte Europas in der Frühen Neuzeit, 3. Aufl. 2019, S. 290 ff. – Zu der ebenfalls vorhandenen, aber anders strukturierten Öffentlichkeit im Mittelalter s. die Beiträge in Kintzinger/Schneidmüller (Hrsg.), Politische Öffentlichkeit im Spätmittelalter, 2011. 63 Grundlegend Habermas, Strukturwandel in der Öffentlichkeit, 1962/1990, insbes. S. 122 ff.; instruktiv auch Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, 2008, S. 274 ff.; Schliesky, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Handbuch des Parlamentsrechts, 2016, § 51 Rn. 65 ff. 64 Dazu eingehend Siebter Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“, Demokratie und Staat, BT-Drs. 17/12290 S. 91 ff.; Mitsch, DVBl. 2019, 811 ff. 62

6. Schwinden der demokratischen Öffentlichkeit

77

„Clubzirkel“ in Gestalt geschlossener Benutzergruppen, die durch eine sehr einseitige Interessenorientierung und Meinungsbildung gekennzeichnet sind und vom eigenen Vorstellungsbild abweichende Fakten schlichtweg ignorieren. Zum anderen verlieren „klassische“ Medien wie Zeitungen und Fernsehen dramatisch an Nutzern, da diese sich nur noch mit Hilfe von kostenlosen Inhalten des Internets ihre Meinung bilden. Klassische Medien werden zur Herstellung der Öffentlichkeit zunehmend obsolet. In der aktuellen Übergangsphase kommt erschwerend hinzu, dass wir im rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Raum letztlich immer noch alte Vorstellungsbilder zugrunde legen, etwa in Gestalt einer redaktionellen Qualitätskontrolle von Texten und Bildern. Diese Vorstellungsbilder haben in der virtuellen Welt aber in der Regel keine Berechtigung mehr. Ein Kernproblem der digitalen Welt ist eben, dass wir uns keine zutreffenden Bilder machen können wie in der realen Welt.65 Die virtuelle Welt gaukelt uns Bilder vor, doch die eigentlichen digitalen Rechenoperationen sowie die eigentlichen Urheber bleiben im Dunkeln. Es gibt bislang kaum Qualitätskontrollen für politische Inhalte, Bilder, Videos etc. im Internet. Klassischen Medien konnte aufgrund redaktioneller Qualitätskontrollen und eines zu erwartenden journalistischen Berufsethos ein gewisses Grundvertrauen entgegengebracht werden, das bei vielen digitalen Inhalten nicht angebracht ist. Die Gefahr bewusster Manipulation wird durch die von manchen als Errungenschaft gepriesene Anonymität des Netzes unterstützt.66 Dementsprechend sind die Beeinflussungsmöglichkeiten, ist die Manipulierbarkeit der öffentlichen Meinung (wieder) zu einem großen Problem geworden. Unvermittelt gelangt Hegels ambivalente Beurteilung der öffentlichen Meinung zu neuer Aktualität67. Zum einen ist der erforderliche Aufwand zur Beeinflussung der 65 Instruktiv zu weiteren Facetten der Ikonisierung des digitalen Lebens Han, Transparenzgesellschaft, 2. Aufl. 2012, insbes. S. 18 ff. 66 Dazu kritisch Frank, Meute mit Meinung, 2013, S. 344 f. 67 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, hrsgg. von Bernhard Lakebrink, 1970/2002, § 318: „Die öffentliche Meinung verdient daher ebenso geachtet als verachtet zu werden, dieses nach ihrem konkreten Bewusstsein und Äußerung, jenes nach ihrer wesentlichen Grundlage, die, mehr oder weniger getrübt, in jenes Konkrete nur scheint. Da sie in ihr nicht den Maßstab der Unterscheidung noch die Fähigkeit hat, diese substantielle Seite zum bestimmten Wissen in sich heraufzuheben, so ist die Unabhängigkeit von ihr die erste formelle Bedingung zu etwas Großem und Vernünftigem (in der Wirklichkeit wie in der Wissenschaft).“

78

VI. Herausforderungen durch die Digitalisierung

öffentlichen Meinung dramatisch gesunken, denn im Vergleich zu dem Aufwand für die Herstellung einer Zeitung oder die Produktion einer herkömmlichen Fernsehsendung sind Aufwand und Kosten für die Herstellung von Texten, Bildern, Videos oder sogar eigene InternetPlattformen zu vernachlässigen. Insoweit fällt in rasanter und dramatischer Weise die Intermediärfunktion von Presse- und Medienvertretern weg, da letztlich jedermann sich mit Meinungskundgaben in Meinungsbildungsprozesse einschalten kann. Und zum anderen sind es längst nicht mehr nur Menschen, sondern Maschinen, genauer: Algorithmen, die Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen. Die „Künstliche Intelligenz“ in Gestalt von autonom entscheidenden Computern ist dank heutiger Algorithmen und der „Big Data“ genannten, aus menschlicher Sicht schier unglaublichen Datenverarbeitungskapazität von heutigen Prozessoren und Speichern längst Realität.68 Wenn wir die demokratische Öffentlichkeit auch weiterhin als den Ort des Austausches freier Willen der Bürgerinnen und Bürger benötigen bzw. erhalten wollen, so müssen diese Entwicklungen mit großer Sorge erfüllen. Bislang gehen wir davon aus, dass die menschliche Persönlichkeit sich nach Auffassung des Grundgesetzes in einem individuellen freien Willen ausdrückt, der zwar gemeinschaftsgebunden lebt69, aber autonom entscheiden kann. Die Öffentlichkeit soll der Ort des Austausches dieser Individuen, ihrer Meinungen und ihrer freien Willen sein. Diese letztlich von Habermas herausgearbeiteten Vorstellungen des kommunikativen Handelns als Grundlage eines Öffentlichkeit produzierenden Diskurses70 könnten angesichts der fragmentierenden Wirkungen der Digitalisierung gefährdet oder gar überholt sein.71 Damit kehrt unter digitalen Vorzeichen die jahrhundertealte, schon zwischen Erasmus von Rotterdam und Martin

68 Dazu Vesting, in: Unger/von Ungern-Sternberg (Hrsg.), Demokratie und künstliche Intelligenz, 2019, S. 33 ff. 69 S. BVerfGE 4, 1 (15 f.). 70 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 1981/1995, S. 304. 71 Deutlich Han, Digitale Rationalität und das Ende des kommunikativen Handelns, 2013, S. 16 ff.; Kersten, Schwarmdemokratie, 2017, S. 129 ff. – Auch Habermas selbst sieht durch die digital bewirkte Fragmentierung der Öffentlichkeit die von der öffentlichen Meinung bewirkte demokratische Filterfunktion in Gefahr, s. Habermas, Hat die Demokratie noch eine epistemologische Dimension?, in: ders., Ach, Europa, 2008, S. 138 (144).

6. Schwinden der demokratischen Öffentlichkeit

79

Luther72 ausgetragene Kontroverse zurück, ob der Mensch einen freien oder einen unfreien Willen hat73. Segregierte Clubzirkel, Echokammern, Filterblasen und vor allem subtile Beeinflussungen durch Algorithmen, Social Bots, „Deepfakes“ etc. gefährden diesen freien Willen und damit die Funktionsfähigkeit der Öffentlichkeit. „Mit dem Zerfall des öffentlichen Raumes verschwindet das Fundament für jene Demokratie, die auf der Herausbildung eines gemeinsamen Willens im öffentlichen Raum beruht.“74 Diese Krise der Öffentlichkeit lässt sich als Krise des Allgemeinen deuten: „Die Parzellierung der politischen Öffentlichkeit in diverse Communities, auch das Erstarken der insbesondere ethnischen und religiösen Partikularismen des Kulturessenzialismus sowie der partielle Rückzug des Staates können dann als Ausdruck eines Verschwindens des Allgemeinen aus der Politik interpretiert werden.“75 Der Staat erweist sich insoweit als das sich selbst begründende Dasein des Willens76. Wenn der Staatswille nicht mehr legitim gebildet werden kann, weil es zunehmend an „der“ demokratischen Öffentlichkeit und damit den Mechanismen zur weitgehenden Willensvereinheitlichung unter Wahrung der Freiheit der Willensträger fehlt, dann verlieren Staat und Staatsgewalt ihre Legitimität. Die Digitalisierung bedroht mit ihrer derzeitigen Zerfaserung die Mechanismen der Staatswillensbildung und damit die Legitimität der Staatsgewalt und des Staates. Die technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Realität ist über die normativen Kriterien der Staatswillensbildung hinweggegangen, die aber in Ermangelung einer Weiterentwicklung noch immer, aber zunehmend vergeblich Geltung beanspruchen.77 72 Erasmus von Rotterdam, Vom freien Willen, übersetzt von Otto Schumacher, 1940; Martin Luther, Vom unfreien Willen, nach der Übersetzung von Justus Jonas herausgegeben und mit Nachwort versehen von Friedrich Gogarten, 1924. – Philosophiegeschichtlich eingehend An der Heiden/Schneider (Hrsg.), Hat der Mensch einen freien Willen?, 2007. 73 Den freien Willen anzweifelnd Harari, 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert, 2018, S. 44 ff.; für den freien Willen Gabriel, Ich ist nicht Gehirn, 2017, S. 263 ff. 74 Han, Digitale Rationalität und das Ende des kommunikativen Handelns, 2013, S. 11. 75 Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 2017, S. 436. 76 Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, 4. Aufl. 1932, S. 75. 77 S. auch Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 2017, S. 437, der eine „Art kulturellen Phantomschmerz feststellt: „Die normativen Kriterien der Mo-

80

VI. Herausforderungen durch die Digitalisierung

7. Auflösung des Volkes als Legitimationssubjekt Wenn der Grundsatz der Volkssouveränität der verfassungsrechtliche Ausgangspunkt in Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG für das grundgesetzliche Demokratieprinzip ist, so ist vor allem die Frage entscheidend, wer zu diesem Volk zählt.78 Diese Frage ist zugleich bedeutsam für Konzepte zur Realisierung digitaler Demokratie, da Volk i.S.d. Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG nicht zwingend deckungsgleich mit dem digitalen „Schwarm“ ist.79 Als Ausgangspunkt aller Staatsgewalt und Inhaber der Volkssouveränität bildet das „Volk“ in Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG das maßgebliche Legitimationssubjekt. Das Bundesverfassungsgericht versteht das Volk als Staatsvolk80, und zwar als Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland.81 Gemeint ist damit die Gesamtheit der Bürger als das Volk, von dem alle (Staats-)Gewalt ausgeht.82 Die Personengesamtheit, die Träger und Subjekt der Staatsgewalt ist, bildet das Staatsvolk.83 Zu dieser Personengesamtheit zählen aber nur die Staatsbürger, so dass die Staatsangehörigkeit die Zugehörigkeit zum Volk vermittelt und das Volk als die Gesamtheit der Staatsbürger, nicht aber der Herrschaftsunterworfenen definiert werden kann.84 Die Staatsgewalt müsse das Volk als eine zur Einheit verbundene Gruppe von derne wirken rudimentär weiter, obwohl die gesellschaftliche Realität längst über sie hinweggegangen ist.“ 78 Aus rechts- und staatstheoretischer Perspektive eingehend Müller, Wer ist das Volk?, 1997. 79 Sympathisierend, aber letztlich offen gelassen bei Kersten, JuS 2014, 673 (676 ff.); ausführlich nunmehr ders., Schwarmdemokratie, 2017, S. 159 (ff.): „Schwärme können die Demokratie stärken, aber auch schwächen. Deshalb kommt es darauf an, demokratische Schwarmeffekte für die Legitimation des liberalen Verfassungsstaates aktiv aufzugreifen und undemokratische Schwarmangriffe zu unterbinden oder zu vermeiden.“ 80 BVerfGE 93, 37 (69). 81 BVerfGE 83, 37 (50); für die Länderebene etwa StGH Bremen, NVwZ-RR 2014, 497 (499). 82 BVerfGE 47, 253 (272); in diesem Sinne auch BVerwG, NVwZ 1999, 870 (873): „Grundgesamtheit der (Staats-)Bürger, wie sie in der Aktivgesellschaft zur Erscheinung kommt, von der der einzelne Bürger nur ein Teil ist.“ 83 BVerfGE 83, 37 (50). 84 BVerfGE 93, 37 (67); StGH Bremen, NVwZ-RR 2014, 497 (499); deutlich auch Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 148: „Das Legitimationssubjekt „Volk“ darf nicht mit der in der Bundesrepublik lebenden oder sich aufhaltenden Bevölkerung in eins gesetzt werden.“

7. Auflösung des Volkes als Legitimationssubjekt

81

Menschen zu ihrem Subjekt haben.85 Dieses Volk werde nach dem Grundgesetz von den deutschen Staatsangehörigen und den ihnen nach Art. 116 Abs. 1 GG gleichgestellten Personen gebildet; die Zugehörigkeit zum Staatsvolk der Bundesrepublik werde also grundsätzlich durch die Staatsangehörigkeit vermittelt86: „Die Staatsangehörigkeit ist die rechtliche Voraussetzung für den gleichen staatsbürgerlichen Status, der einerseits gleiche Pflichten, zum anderen und insbesondere aber auch die Rechte begründet, durch deren Ausübung die Staatsgewalt in der Demokratie ihre Legitimation erfährt.“87 Der durch die Staatsangehörigkeit definierte deutsche Staatsbürger kann dann durch seine Stimmabgabe bei Wahlen seinen Beitrag zur Tätigkeit des Legitimationssubjektes „Staatsvolk“ leisten: Mit der Stimmabgabe bei den Wahlen betätige sich der Bürger als Glied des Staatsorgans Volk im status activus.88 Die Staatsangehörigkeit bzw. die Eigenschaft als Deutscher wird so zum Anknüpfungspunkt für die Zugehörigkeit zum Volk i. S. d. Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG als dem Träger der Staatsgewalt und zur entscheidenden Voraussetzung für die Teilnahme am Legitimationsakt, den das Bundesverfassungsgericht in erster Linie in der Ausübung des Wahlrechts sieht.89 Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Entscheidungen zu Online-Wahlen ebenfalls noch einmal herausgestellt, dass die Wahl der Volksvertretung in der repräsentativen Demokratie den grundlegenden Legitimationsakt darstelle, daher bilde die Stimmabgabe bei der Wahl zum Deutschen Bundestag das wesentliche Element des Prozesses der Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen und damit zugleich die Grundlage der politischen Integration.90 Dementsprechend gewährleistet das durch Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG geschützte Wahlrecht zum 85

BVerfGE 83, 37 (51). BVerfGE 83, 37 (51), 83, 60 (71); ebenso Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 90; Grawert, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I, 3. Aufl. 2003, § 14 Rn. 11; Isensee, ebd., HStR I, § 13 Rn. 113; Schmidt-Jortzig, Staatsangehörigkeit im Wandel, 1987, S. 16. 87 BVerfGE 83, 37 (51). 88 BVerfGE 83, 60 (71); kritisch gegenüber dieser Reduzierung der Demokratie auf den Wahlakt der Bürger, der allenfalls eine Maximierung, aber keine Optimierung des Ideals gleicher Mitwirkung darstelle, Bryde, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000, S. 59 (69). 89 BVerfGE 83, 37 (51 f.); 83, 60 (71). 90 BVerfGE 123, 39 Rn. 108. 86

82

VI. Herausforderungen durch die Digitalisierung

Deutschen Bundestag „als grundrechtsgleiches Recht die politische Selbstbestimmung der Bürger und garantiert ihnen die freie und gleiche Teilhabe an der Legitimation der in Deutschland ausgeübten Staatsgewalt (…). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erschöpft sich das Wahlrecht nicht in einer formalen Legitimation der (Bundes-)Staatsgewalt, sondern vermittelt dem Einzelnen einen Anspruch darauf, mit seiner Wahlentscheidung Einfluss auf die politische Willensbildung nehmen und etwas bewirken zu können.“91 Die Legitimationserlaubnis für (zumindest) deutsche Staatsgewalt wird so strikt mit der durch die Staatsangehörigkeit begründeten Zugehörigkeit zum deutschen Staatsvolk verknüpft. Dementsprechend geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass Wahlen, bei denen auch Ausländer wahlberechtigt sind, demokratische Legitimation nicht vermitteln können.92 An dieser Kopplung zwischen Staatsvolk und maßgeblichem Legitimationssubjekt wird deutlich, dass ein nicht näher konturierter und auch nicht nach dem Merkmal der Staatsangehörigkeit eingrenzbarer „digitaler Schwarm“ nach dem Demokratiekonzept des Bundesverfassungsgericht nicht als Legitimationssubjekt für die Ausübung von Staatsgewalt in Betracht kommt. Damit muss aus verfassungsrechtlicher Sicht derzeit schon an dieser Stelle allen politischen Konzepten eine Absage erteilt werden, die staatliche Entscheidungen der Netzgemeinde überantworten wollen. Das Staatsvolk selbst ist aber nicht nur in Gefahr der Überforderung, sondern sogar längst in Gefahr seiner Auflösung. Vor allem die Digitalisierung verwischt hier bislang bedeutsame Grenzen: Adressat der digitalen Staatsgewalt ist nur noch die Bevölkerung, und auch die Mitwirkung an politischer Meinungs- und Willensbildung in digitalen Räumen ist – jedenfalls derzeit – nicht mehr auf Staatsbürger beschränkt. Die beschriebenen Auswirkungen der Digitalisierung auf die demokratische Öffentlichkeit wirken somit noch viel tiefer, da in digitalen Räumen bislang keine wirksame Grenzziehung zwischen verschiedenen Legitimationssubjekten erfolgt. Allerdings eröffnen gerade der Teilvolkgedanke und die Anerkennung funktionaler Selbstverwaltung als Ausfluss des Demokratieprinzips93 Möglichkeiten zur legitimatorischen Absicherung funktionaler 91 BVerfGE 142, 123 Rn. 81. – Dazu eingehend und kritisch Sauer, Der Staat 58 (2019), 7 ff. 92 BVerfGE 83, 60 (81); kritisch Bull, in: Greven/Münkler (Hrsg.), 1998, FS Bermbach, S. 241 (246 Fn. 10). 93 Grundlegend BVerfGE 107, 59 ff.

7. Auflösung des Volkes als Legitimationssubjekt

83

staatlicher digitaler Räume. Das Bundesverfassungsgericht betont in seiner Rechtsprechung immer wieder, dass eine Lockerung des Ableitungszusammenhangs zum Gesamtvolk möglich sei: Die „gelockerte Einbindung in den zentralen, auf das Gesamtvolk zurückgehenden Legitimationszusammenhang [wird] durch ein stärkeres Zurgeltungbringen der gleichfalls im Gedanken der Selbstbestimmung und damit im demokratischen Prinzip wurzelnden Grundsätze der Selbstverwaltung und der Autonomie“ kompensiert.94 Allerdings lässt das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der genauen Gestalt des jeweiligen Staatsvolkes durchaus Differenzierungen nach den einzelnen Gliedkörperschaften zu und unterscheidet im Bereich der allgemeinen Bundes- oder Landesverwaltung das jeweilige Bundes- oder Landesstaatsvolk.95 Darüber hinaus wird auch ein abgesondertes Gemeinde- oder Kreisvolk anerkannt96, und selbst auf der Bezirksebene in den Stadtstaaten kann es einen zur Legitimation fähigen örtlich begrenzten Teil des Staatsvolkes geben.97 Das für die Zurechnung zum Legitimationssubjekt maßgebliche Kriterium der Staatsangehörigkeit bewirkt aber, dass diese „Teilvölker“ immer nur Teile des Gesamtstaatsvolkes sind, die als Teil dieses Gesamtstaatsvolkes legitimieren und dies auch nur aufgrund verfassungsrechtlicher Erlaubnis dürfen, um eine Ausgliederung aus der einheitlichen Staatsgewalt zu verhindern.98 Damit ist der Spielraum für landesgesetzlich abweichende Regelungen angesichts der Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG äußerst gering.99 Allerdings ist der Begriff des Volkes verfassungsrechtlich in unterschiedlicher Weise bestimmbar und angesichts der derzeitigen Verknüpfung der Staatsangehörigkeit mit der Zugehörigkeit zum Staatsvolk100 obliegt es dem Ge94

BVerfGE 135, 155 (222 f.); 136, 194 (262 f.). BVerfGE 83, 60 (74). 96 BVerfGE 83, 37 (55); 83, 60 (75); Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 31 f.; Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 92; Schmidt-Aßmann, AöR 1991, 329 (349 f.). 97 BVerfGE 83, 60 (81); vgl. auch BVerfGE 47, 253 (272, 275). 98 BVerfGE 83, 60 (75). 99 So auch deutlich StGH Bremen, NVwZ-RR 2014, 497 (498 f.). 100 Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass die Fixierung auf die Staatsangehörigkeit sich nur an die demokratische Idee annähere, der zufolge möglichst eine Kongruenz zwischen den Inhabern politischer Rechte und den 95

84

VI. Herausforderungen durch die Digitalisierung

setzgeber, die Kriterien für die Zugehörigkeit zum Staatsvolk zu regeln und zu verändern (s. Art. 73 Nr. 2, Art. 116 GG).101 Für die Gemeinde- und Kreisvölker erlaubt Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG ausdrücklich eine Einbeziehung von Unionsbürgern, so dass die Kongruenz der Legitimationssubjekte bei Kommunalwahlen einerseits und Wahlen zum Bundestag und in Landesparlamenten andererseits nicht mehr zwingend gewährleistet ist. Insoweit deutet sich auch bei der Zugehörigkeit zu einem als Legitimationssubjekt maßgeblichen „Volk“ eine Offenheit der Verfassung für eine Weiterentwicklung des Kreises der maßgeblichen Legitimationssubjekte an, die bislang allerdings noch nicht genutzt worden ist. Die Integration der momentanen Flüchtlingsströme wird aber ebenso wie die Forderung nach der Nutzung der Möglichkeiten digitaler Demokratie die Diskussion befördern, inwieweit der „Volksbegriff“ der neuen Bestimmung, Konkretisierung oder Präzisierung bedarf. Die Digitalisierung bewirkt eine weitere Herausforderung, wenn man die freiheitliche Selbstbestimmung der Staatsbürger in der Demokratie notwendig auf ein bestimmtes Territorium bezieht.102 Diese gebietsbezogenene Vorstellung wäre in digitalen Räumen nicht zu halten, ist allerdings bei näherem Hinsehen auch nicht zwingend. Unabhängig von der Weiterentwicklung des Legitimationskonzeptes im Sinne kompensatorischer Legitimationsmöglichkeiten stimmt bereits die Grundannahme nicht, dass die zum Legitimationssubjekt zählenden Bürger sich ständig zugleich in einem bestimmten Raum bzw. auf einem bestimmten Territorium aufhalten müssen. Schon jetzt belegt die Briefwahl als ortsabwesender Legitimationsakt, dass der grundsätzlich zutreffende Grundgedanke der freiheitlichen Selbstbestimmung der Bürger auf einem bestimmten Terdauerhaft einer bestimmen (staatlichen) Herrschaft Unterworfenen bestehen sollte, s. Göbel-Zimmermann/Masuch, DÖV 2000, 95 (100). Auch BVerfGE 83, 37 (52), teilt diese Einschätzung im Ausgangspunkt, betont jedoch, dies dürfe nicht zu einer Auflösung des Junktims zwischen der Eigenschaft als Deutscher und der Zugehörigkeit zum Staatsvolk als dem Inhaber der Staatsgewalt führen, da ein solcher Weg durch das Grundgesetz versperrt sei. Nach geltendem Verfassungsrecht bleibe nur die Möglichkeit, auf eine derartige Lage mit entsprechenden staatsangehörigkeitsrechtlichen Regelungen zu reagieren, etwa durch eine Erleichterung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit. So auch Schmidt-Jortzig, Staatsangehörigkeit im Wandel, 1998, S. 14. 101 BVerfGE 83, 37 (52). 102 So Schwarz, Die neue Völkerwanderung nach Europa, 2017, S. 48; auch Isensee, Grenzen, 2018, S. 110.

7. Auflösung des Volkes als Legitimationssubjekt

85

ritorium nicht strikt exklusiv räumlich zu verstehen ist. Entscheidend ist vielmehr, dass das Volk als Legitimationssubjekt (bislang) durch die Staatsangehörigkeit personal definiert ist, und zwar unabhängig vom Aufenthalt innerhalb oder außerhalb der Grenzen des eigenen Staates.103 Diese Form des Zusammenhalts ist mithilfe digitaler Identitäten allerdings auch in digitalen Räumen leistbar. Erste Anfänge einer Schaffung derartiger digitaler Identitäten sind die Authentifizierungsfunktion des „neuen“ E-Personalausweises104 oder die Nutzerkonten gem. § 3 Abs. 2 S. 1 OZG.105 Nicht übersehen werden darf schließlich die zeitliche Dimension, die das Bundesverfassungsgericht jüngst hervorgehoben hat: „Denn die Selbstbestimmung in der Zeit ist eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens.“106 Augenscheinlich sind auch die Auswirkungen der Zuwanderung auf das Staatsvolk. Gerade mit Blick auf das „Volk“ als Legitimationssubjekt, und zudem in vielerlei anderer Hinsicht, wird die Antwort auf die Schlüsselfrage des Umgangs mit Zuwanderung für den Staat und die Legitimität seiner Herrschaftsgewalt entscheidend sein.107 Ein Staat ohne ein dazugehöriges Volk ist nach den staatstheoretischen Erkenntnissen der vergangenen Jahrhunderte nicht denkbar. Dementsprechend wäre auch ein „metaphysisches Staatsverständnis, welches den Staat als von einem 103

Zutreffend Isensee, Grenzen, 2018, S. 110 f. S. dazu den elektronischen Identitätsnachweis gem. § 18 PAuswG (Gesetz über Personalausweise und den elektronischen Identitätsnachweis v. 18. 06. 2009, BGBl. I S. 1346, zul. geänd. durch Art. 3 des Gesetzes vom 21. 06. 2019, BGBl. I S. 846). 105 Gesetz zur Verbesserung des Onlinezugangs zu Verwaltungsleistungen (Onlinezugangsgesetz – OZG) vom 14. 08. 2017, BGBl. I S. 3122, 3138. – Zu E-Identitäten mithilfe von Blockchain-Anwendungen s. Kaulartz, in: Seckelmann (Hrsg.), Digitalisierte Verwaltung – Vernetztes E-Government, 2. Aufl. 2019, Kap. 30 Rn. 21. 106 BVerfG, B. v. 6. 11. 2019, 1 BvR 16/13, Rn. 108, s. auch Rn. 113. 107 Deutlich Winkler, Zerbricht der Westen?, 2017, S. 409 f.: „Mehr Realismus in Sachen Migration ist nicht nur ein Gebot der Redlichkeit, sondern auch ein Imperativ der Verteidigung der liberalen Demokratie gegenüber den populistischen Profiteuren eines gesinnungsethischen Altruismus, der sich der Frage nach den Langzeitfolgen des eigenen Tuns verweigert. Die westlichen Demokratien werden verantwortungsethisch durchdachte Antworten auf die Probleme der Migration finden müssen oder sie werden an den Konsequenzen ihrer Problemverdrängung scheitern.“ 104

86

VI. Herausforderungen durch die Digitalisierung

konkreten Volk unabhängig und mit originärer Rechtspersönlichkeit ausgestaltet konstruiert“, nicht mit der deutschen Verfassung vereinbar.108 Denn die Demokratie im Staat ist personal fundiert, indem sie auf dem Verband der Staatsangehörigen und damit dem „Staatsvolk“ aufbaut.109 Dementsprechend ist das Staatsvolk „die Summe der jeweils lebenden einzelnen Deutschen“.110 Daher scheidet es nach dem Grundgesetz auch aus, zugewanderte Menschen auch ohne Einbürgerung an Wahlentscheidungen zu beteiligen.111 Die bereits aufgeworfene Frage, ob die Staatsangehörigkeit angesichts globaler Migrationsbewegungen und grenzüberschreitende Mobilität noch der entscheidende Ausdruck der Loyalität zu einer bestimmten politischen Gemeinschaft sei112, verdeutlicht die Gefahren für eine Auflösung des Volkes als Legitimationssubjekt. Dieses Legitimationssubjekt wäre jedenfalls dann aufgelöst, wenn man bereits die dauerhafte Betroffenheit von Entscheidungen der politischen Gemeinschaft zum entscheidenden Kriterium für die Gleichheit in den demokratischen Mitwirkungsrechten gemacht werden würde.113 Richtigerweise wird man hier angesichts des nicht trivialen staatlichen Meinungs-, Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses differenzieren müssen. Der Konkretisierungsprozess auf dem Weg zu einer legitimationsbedürftigen staatlichen Entscheidung kann in einen Meinungsbildungs-, Willensbildungs- und Entscheidungsprozess untergliedert werden, wodurch wiederum abgestufte legitimatorische Anforderungen in Abhängigkeit von der Nähe der eigentlichen Entscheidung bzw. Maßnahme möglich werden.114 Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die dauerhaft im Land leben, können sehr wohl an demokratischen Ver108 Deutlich Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 144. 109 Isensee, Grenzen, 2018, S. 109. 110 So treffend Carlo Schmid im Parlamentarischen Rat, s. Doemming/Füsslein/ Matz, JöR n.F. 1, 1951, S. 199. 111 Tendenziell befürwortend aber Wapler, in: Thiele (Hrsg.), Legitimität in unsicheren Zeiten, 2019, S. 39 (59). 112 So deutlich Wapler, in: Thiele (Hrsg.), Legitimität in unsicheren Zeiten, 2019, S. 39 (59). 113 So Wapler, in: Thiele (Hrsg.), Legitimität in unsicheren Zeiten, 2019, S. 39 (59); dagegen mit Recht Isensee, Grenzen, 2018, S. 110: „Doch nicht die Gesellschaft ist der Trägerverband der Demokratie, sondern das Volk“. 114 Dazu grundlegend Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 696 f.

7. Auflösung des Volkes als Legitimationssubjekt

87

fahren der Meinungsbildung beteiligt werden; eine solche Beteiligung würde – entsprechende Sprachkenntnisse natürlich vorausgesetzt – auch wesentliche Grundlagen für eine gelingende Integration legen. An der staatlichen Willensbildung und insbesondere an der staatlichen Entscheidungsfindung kann ihnen in Ermangelung einer Zugehörigkeit zum Legitimationssubjekt eine Mitwirkung allerdings nicht ermöglicht werden. Aber dennoch bleibt es richtig, dass wir uns auch mit den Auswirkungen einer massenhaften Zuwanderung beschäftigen,115 wenn wir über die Fortexistenz des Staatsvolkes als Legitimationssubjekt nachdenken. Denn schon rein zahlenmäßig bleibt ein Dilemma, das der bisherigen Entwicklung der Demokratiegeschichte, die durch zunehmende Inklusion von zuvor ausgeschlossenen Bevölkerungsteilen gekennzeichnet war, deutlich widerspricht: Eine starke Zuwanderung ohne Einbürgerung verringert die zahlenmäßige Legitimationsbasis für die deutsche Staatsgewalt. Wenn Millionen von Menschen in die Bundesrepublik einreisen bzw. dort schon leben, ohne die deutsche Staatsbürgerschaft zu besitzen, und damit ohne Bürgerrecht und ohne Wahlrecht in unserem Land leben, dann wird dies auf Dauer für gesellschaftlichen Unfrieden sorgen und in jedem Fall die Legitimationsbasis für eine demokratische Staatsgewalt im Hinblick auf die Gesamtbevölkerung schmälern. Das ohnehin fragliche Nationskonzept, das immerhin einmal Grundlage der deutschen Staatsangehörigkeit nach Art. 116 Abs. 1 GG war, wird dementsprechend weiter unter Druck geraten. Eine andere oder gar bessere Grundlage für die Qualifizierung des Staatsvolkes als die rechtlich definierte Staatsangehörigkeit ist aber bislang nicht in Sicht. Ohne Staatsvolk ist der moderne Nationalstaat schlicht nicht denkbar. Nach allem bedarf – und dies ist auch nicht verwunderlich – das Volk eben gerade in der Demokratie ob seiner Funktion als Souverän und Legitimationssubjekt der besonderen Betrachtung, aber auch stetigen inhaltlich-konzeptionellen und definitorischen Schärfung.

115 Eingehende ethische Betrachtung bei Ott, Zuwanderung und Moral, 2016, S. 18 ff.

VII. Lösungsansätze Die exemplarisch geschilderten, bei weitem nicht abschließenden Herausforderungen für die demokratische Legitimation der Staatsgewalt belegen, dass das herrschende deutsche Legitimationskonzept erheblich unter Druck geraten ist. Die Digitalisierung, aber auch zahlreiche andere Umfeldveränderungen stellen zentrale Grundannahmen dieses Konzepts in Frage bzw. lassen sie entfallen. Im nachfolgenden Abschnitt sollen daher nun Lösungsansätze skizziert werden, die auf der Basis der begriffsgeschichtlichen Erkenntnisse eine zeitgemäße, dem digitalen Umfeld gerecht werdende Legitimitätskonzeption für den demokratischen Verfassungsstaat ermöglichen.

1. Neue Legitimitätsidee Die erforderlichen Neuorientierungen müssen sehr grundlegend bei der Legitimitätsidee ansetzen. Die Legitimitätsidee bezeichnet die theoretische – in der Regel politische oder philosophische, aber staatsrechtlich niedergelegte – Konzeption, die der Herrschaftsordnung in ihrer konkreten Ausprägung zugrunde liegt und die Zwecke zusammenfasst, um deren Erreichung Willen die Herrschaftsorganisation errichtet worden ist.1 Der Staat an sich ist zunächst einmal weder legitim noch illegitim.2 Legitimität als normatives und materielles Konzept der Rechtfertigung von Herrschaftsgewalt kann nur bei einer existierenden und akzeptierten Legitimitätsidee funktionieren. Eine solche Legitimitätsidee ist mithin erforderlich, um den konkreten Staat und seinen Machtanspruch bzw. seine Staatsgewalt zu rechtfertigen. Diese Legitimitätsideen sind zeitabhängig und historisch wandelbar, wie die Entwicklung von göttlicher zu rational 1 Dazu näher Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 46 ff.; Voigt, Den Staat denken – Der Leviathan im Zeichen der Krise, 3. Aufl. 2014, S. 103 ff.; Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 10. Aufl. 2003; s. auch Hegel, Hauptwerke in sechs Bänden, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Bd. 5, 2015, § 258. 2 Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, 4. Aufl. 1932, S. 75.

1. Neue Legitimitätsidee

89

begründeter Legitimität zeigt. So wie der Staat in den letzten Jahrhunderten laufend, für die heutige Gestalt aber maßgebend im 18. und 19. Jahrhundert theoretisch wie praktisch neu konzipiert wurde3, so bewirkt allein die Digitalisierung zahlreiche Notwendigkeiten theoretischer wie praktischer Neuorientierungen in unserer heutigen Zeit. Eine Herrschaftsordnung hat hierfür die Möglichkeiten, unterliegt zur Existenzsicherung aber auch entsprechenden Notwendigkeiten4, woraus aber auch folgt, dass gerade eine demokratische Herrschaftsordnung jenseits aller Mythologien und Ideologien mit juristischen Mitteln gedacht werden muss.5 In einem demokratischen Verfassungsstaat kann die Legitimitätsidee nicht von den Herrschaftsorganen oktroyiert werden und auch nicht mehr in einer behaupteten, nur der Metaphysik zugänglichen Idee liegen. Die Legitimitätsidee entsteht im wissenschaftlichen, politischen und öffentlichen demokratischen Diskurs und wird am Ende verfassungsrechtlich festgeschrieben und einfachgesetzlich ausgestaltet. Für den Inhalt einer solchen Legitimitätsidee genügt eine rein formale Legitimität als Ergebnis des Durchlaufens von Verfahren nicht.6 Das technokratische Durchlaufen formaler Verfahren allein, die aus einer anderen Zeit und aus einer anderen Welt bezüglich der staatlichen Willensbildung und Entscheidungsfindung stammen, bewirken unter massiv veränderten Umfeldbedingungen, veränderten Erwartungshaltungen der Bürger sowie zunehmender Ergebnisverfehlung der Verfahren immer weniger Legitimität. Diese Abweichungen können so weit gehen, dass man zu einem Zustand zwischen „formaler Legitimität“ und „materieller Illegitimität“ gelangen kann.7 Schon daran wird deutlich, dass Staatsgewalt und damit insbesondere auch

3 Dazu Wiegand, in: Stekeler-Weithofer/Zabel (Hrsg.), Philosophie der Republik, 2018, S. 11 (13). 4 S. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 1966, S. 149: Souveränität der Selbstbegründung. 5 Zutreffend Jouanjan, Der Staat 58 (2019), 223 (241). 6 Eindrucksvolle Schilderung und Analyse bei Crouch, Postdemokratie, 2008, S. 30 ff. 7 Hellsichtig insoweit bereits Evangelische Kirche in Deutschland (Hrsg.), Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie – Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, 1985, S. 21.

90

VII. Lösungsansätze

staatliches Recht über die formale Legitimation hinaus auch einer materiellen, ethisch fundierten Legitimation bedürfen.8 Dementsprechend ist die Legitimitätsidee nicht ohne ethische Vorarbeit denkbar: Den Menschen und die Menschenwürde stellt das Grundgesetz an den Anfang und in die Mitte der Verfassungsordnung, damit macht es sie zu dem entscheidenden Maßstab der politischen Herrschaftsbetätigung, der vom Grundgesetz konstituierten Staatsgewalt, sowie der Legitimitätsidee. All dies ist das Ergebnis schmerzhafter praktischer Erfahrungen, aber ohne eine lange ethische Diskussionsarbeit in den Jahrhunderten zuvor undenkbar.9 Mit der Verbindung der Begriffe „Menschenwürde“, „Selbstbestimmung/freier Wille“ und „Demokratie“10 wird vom Grundgesetz eine Legitimationsidee konzipiert, die für Staat wie Bürger ein anspruchsvolles, aber legitimitätsstiftendes Konzept bereitstellt.11 Diese ethisch fundierte Legitimitätsidee wurde seit der Antike über das Mittelalter und die Neuzeit für den „klassischen“ oder „modernen“ Nationalstaat in analogen Räumen entwickelt, die mithilfe von (Staats-) Grenzen recht einfach und einsichtig abgegrenzt werden konnten. Schon diese Orientierung an Raumkriterien verdeutlicht, dass es in Zeiten der Digitalisierung mit den digitalen Räumen weiße Flecken oder „terrae 8

S. Huber, Rechtsethik, in: Huber/Meireis/Reuter (Hrsg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, 2015, S. 125 (188); Rosanvallon, Die gute Regierung, 2015, S. 273 ff. 9 Von Pico della Mirandola (De hominis dignitate/Über die Menschenwürde, herausgegeben und übersetzt von Gerd von der Gönna, 1997/2009) über Nikolaus von Kues (De docta ignorantia, herausgegeben von Hans Gerhard Senger, 4. Aufl. 1994, 2, 12, 169; dazu Flasch, Nikolaus von Kues in seiner Zeit, 2004, S. 37), Erasmus von Rotterdam (Vom freien Willen, übersetzt von Otto Schumacher, 1940) und Melanchthon (Glaube und Bildung – Texte zum christlichen Humanismus, 1989/2010, S. 75 ff.) bis Dürig (Kommentierung des Art. 1 GG in: Maunz/Dürig [Hrsg.], Grundgesetz, 1958) und Gerhardt (Humanität, 2019). 10 S. BVerfGE 44, 125 (141 f.); 123, 267 (343); Böckenförde, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 35. 11 Wiegand, in: Stekeler-Weithofer/Zabel (Hrsg.), Philosophie der Republik, 2018, S. 11 (13), spricht von einem „Legitimitätsversprechen“, „das die etablierte demokratische Staatlichkeit übersteigt und wohl auch überfordert, indem es einen gedanklich entweder unvermittelten oder aber stark aufgeladenen Begriff der Selbstbestimmung verwendet.“ – Mit Recht betont daher Frick, ZfP 66 (2019), 127 (138), die gemeinsame gesellschaftspolitische Verantwortung von Politik- und Staatsrechtswissenschaft, das Verständnis und die Rechtfertigung eines Konstitutionalismus zu befördern, der die Verbindung von demokratischer Selbstbestimmung und konstitutioneller Bindung politischer Herrschaft aufrechterhält.

1. Neue Legitimitätsidee

91

incognitae“ gibt.12 Unter dem inhaltlichen Blickwinkel einer Legitimitätsidee ist aber noch viel gravierender, dass diese „terrae incognitae“ auch für die ethischen Grundüberzeugungen gelten. Versteht man Legitimität zutreffend als inhaltliche Kategorie, so wird gerade mit Blick auf die ethischen Herausforderungen der Digitalisierung deutlich, dass die Legitimitätsidee der Neukonturierung, mindestens neuen Schärfung bedarf. Denn der inhaltliche Maßstab für Legitimität ist ein ethischer, die Ethik liefert zentrale Inhalte der Legitimitätsidee. Im Zentrum der bisherigen Ethik und damit der Legitimitätsidee steht, dass der Staat um des Menschen Willen da ist13 und die Menschenwürde der archimedische Punkt des deutschen Staates und seiner Verfassung ist (Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG).14 Gerade Menschsein und Menschenwürde sind aktuell und zukünftig gravierenden Bedrohungen durch die Digitalisierung und insbesondere Anwendungen Künstlicher Intelligenz ausgesetzt.15 Die Möglichkeiten der Digitalisierung und insbesondere der Künstlichen Intelligenz, erst recht im Verbund mit der Medizintechnik, gefährden massiv die ethischen Grundaussagen einer anthropozentrisch ausgerichteten Herrschaftsordnung. Aber auch die zunehmende Entmündigung des Menschen durch „Assistenzsysteme“, die von Privaten oder ausländischen Staaten beherrscht werden (können), lösen Schutzpflichten des deutschen Staates aus. Für all dies bedarf es zunächst neuer ethischer Vergewisserungen, die dann in dem dafür vorgesehenen, Legitimation stiftenden staatlichen Willensbildungsprozess zu neuen normativen Vorgaben und ggf. auch verfassungsrechtlichen Reformierungen führen müssen, um auch inhaltliche Legitimität für die Herrschaftsordnung und die konkrete Staatsgewalt sicherzustellen.16 Zentrale Werte und Orientierungsmaßstäbe in Gestalt von Menschenwürde und Grundrechten, aber nun auch ganz profan beispielsweise in Form der Inhalte des Art. 91c GG existieren als Legitimitätsidee für digitale Räume. Gerade die aus analogen Zeiten stammenden grundle12

Zur räumlichen Dimension von Herrschaft Jörke, Die Größe der Demokratie, 2019, S. 20 ff. 13 So ausdrücklich Art. 1 Abs. 1 des Herrenchiemsee-Entwurfs für ein „Grundgesetz für einen Bund deutscher Länder“. 14 Prägnante Aufzählung der Attribute bei Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, 2016, S. 11. 15 Hierzu anschaulich Grunwald, Der unterlegene Mensch, 2019, S. 33 ff. 16 Näher Schliesky, NJW 2019, 3692 ff.

92

VII. Lösungsansätze

genden Wertentscheidungen wie Menschenwürde und Grundrechte bedürfen allerdings der Weiterentwicklung für die digitalen Herausforderungen. Grundlage eines solchen Diskurses und der Legitimitätsidee ist eine Ethik des digitalen Staates, die dringend erarbeitet werden muss.17 Akzeptiert man die Verbindung von Ethik und Recht18, dann basiert die Rechtsordnung auf einer Vielzahl kultureller, religiöser, theoretischer, wissenschaftlicher und rechtlicher Grundlagen und Überlieferungen. Es gibt dann ethische Fundierungen des Rechts, die als philosophische Grundannahmen in Rechtsnormen gegossen worden sind bzw. zu gießen sind. Im Zentrum dieser zu Verfassungsrecht geronnenen Grundannahmen steht Art. 1 Abs. 1 GG – die Menschenwürde, die von der Verfassung für unantastbar erklärt wird und die von aller staatlichen Gewalt zu achten und zu schützen ist.19 Und gerade diese ethische und verfassungsrechtliche Fundamentalnorm der Menschenwürde wird durch die Digitalisierung, vor allem durch Künstliche Intelligenz, aber auch durch die Verbindung von Digitalisierung und medizintechnischen Fortschritten, nicht nur tangiert, sondern auch massiv bedroht. Schon an den vielen Bedrohungsszenarien für die Menschenwürde wird deutlich, dass dringend eine Weiterentwicklung der Ethik um digitale Komponenten erforderlich ist, damit die Menschenwürde auch unter veränderten Umfeldbedingungen ihren absoluten Schutz entfalten kann.20 Zu einem die Legitimitätsidee ausfüllenden Recht werden derartige ethische Überlegungen aber erst, wenn abwägende Diskussionen in den rechtstaatlich und demokratisch dafür vorgesehenen Verfahren und Institutionen stattfinden, um ethische

17 Zu ersten Ansätzen s. etwa Nida-Rümelin/Weidenfeld, Digitaler Humanismus, 2018, insbes. S. 164 ff.; Spiekermann, Digitale Ethik, 2019, insbes. S. 223 ff.; Schliesky, NJW 2019, 3692 ff.; s. auch Grimm/Keber/Zöllner (Hrsg.), Digitale Ethik, 2019, S. 23 f., 26. 18 Diese ist nach wie vor nicht unumstritten; dazu statt vieler eingehend Kreß, Ethik der Rechtsordnung, 2012, S. 57 ff.; ferner Huber, in: ders./Meireis/Reuter (Hrsg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, 2015, S. 125 ff. 19 Art. 1 EU-Grundrechtecharta übernimmt diesen Maßstab auch für die supranationale Herrschaftsgewalt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ – Dazu Jarass, EU-Grundrechte, 2. Aufl. 2019, § 8; Schorkopf, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl. 2014, § 15. 20 Zu den ethischen Fragen der Digitalisierung Schliesky, NJW 2019, 3692 ff. m.w.N.

1. Neue Legitimitätsidee

93

Wertentscheidungen in Recht zu gießen.21 Die aktuell wie Pilze aus dem Boden schießenden ethischen Beratungsgremien können hierfür wertvolle Vorarbeiten leisten, die originäre Aufgabe der Verfassungsorgane aber nicht ersetzen. Der klassische Gedanke des Staatsdenkens, dem Menschen Zukunft zu ermöglichen, insbesondere durch die Sicherung des individuellen Lebens gegen Übergriffe von anderen sowie die Sicherstellung des Überlebens durch Gesundheitsschutz und Daseinsvorsorge,22 bekommt in Zeiten der Digitalisierung eine neue und aktuelle Bedeutung. Für diese Herausforderung hilft nur eine Weiterentwicklung einer (politischen) Verantwortungsethik, welche die Folgen des politischen Handelns in den Blick nimmt. Philosophischer Kern einer tragfähigen Legitimitätsidee in einem auch der Nachwelt verpflichteten demokratischen Verfassungsstaat kann nur eine Verantwortungsethik sein. Dies kontrastiert allerdings der politischen Wirklichkeit im Jahr 2020, die zunehmend von einer Gesinnungsethik gekennzeichnet ist.23 Eine an der Verantwortungsethik orientierte Legitimitätsidee öffnet dann auch den Blick für die Relevanz einer (zusätzlichen) Output-Legitimation neben der durch demokratische und rechtsstaatliche Verfahrenswege eröffneten Input-Legitimation. Sowohl der geschichtliche Überblick über den Legitimitätsbegriff als auch die aktuelle politische Wirklichkeit belegen, dass gerade aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger eine Output-Legitimation, die sich durch tatsächliche Problemlösung und Aufgabenerfüllung darstellt, unabdingbar ist. Dieser historische Bestandteil des Legitimitätsbegriffes muss erinnert und Teil der neuen Legitimitätsidee für die Bundesrepublik Deutschland werden.24 Die Legi21 S. BVerfGE 124, 300 (320): „Die Bürger sind dabei rechtlich auch nicht gehalten, die der Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen persönlich zu teilen. Das Grundgesetz baut zwar auf der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen, erzwingt die Werteloyalität aber nicht.“ 22 S. Anselm, Politische Ethik, in: Huber/Meireis/Reuter (Hrsg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, 2015, S. 195 (243 f.). 23 Die Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik geht auf Max Weber, Politik als Beruf, in: Mommsen/Schluchter (Hrsg.), Max Weber – Wissenschaft als Beruf / Politik als Beruf, 1992/2020, S. 237 f., zurück. 24 Auf die Bedeutung der Aufgabenerfüllung hat auch bereits die EKD-Demokratieschrift 1985 hingewiesen, s. Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hrsg.), Evangelische Kirche und Freiheitliche Demokratie – Der Staat des

94

VII. Lösungsansätze

timität der staatlichen Herrschaftsgewalt beruht auf der Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger hinsichtlich der Ergebnisse der staatlichen Aufgabenerfüllung, aber auch der Art und Weise der staatlichen Aufgabenerfüllung. Die derzeit festzustellenden schlechten Zustimmungswerte zur Demokratie und die gleichzeitig mehrheitlich anzutreffende Auffassung der Bürger, dass der Staat mit der Erfüllung seiner Aufgaben überfordert sei, sind auf Dauer legitimitätsgefährdend und können nicht hingenommen werden, wenn der Erhalt des demokratischen Verfassungsstaates angestrebt wird. Dementsprechend ist es wichtig, für die Legitimitätsidee und das verfassungsrechtliche Legitimationsmodell die Output-Legitimation anzuerkennen.25 Denn im modernen Verfassungsstaat fehlen ganz überwiegend die „großen Erzählungen“ als Legitimitätsidee – schon weil es keine für die staatliche Herrschaftsgewalt relevanten religiösen Legitimitätsideen26 mehr gibt. Und auch die gemeinschaftsprägenden Nationserzählungen taugen immer weniger als Legitimitätsidee für den pluralen und netzwerkartig verzahnten Verfassungsstaat des 21. Jahrhunderts. Der Staat wird vielmehr – und will dies ja auch – nüchterner gesehen und aufgrund seiner Leistungen für die Bürger als legitim anerkannt werden. Diese Leistungen spielen dann auch bei der Wahlentscheidung und damit auch für die konkrete Betätigung der Input-Legitimation eine Rolle, werden aber bislang nicht bei der Konstruktion von (demokratischer) Legitimität von der herrschenden Auffassung anerkannt. Diese OutputLegitimation tritt zur verfahrensorientierten Input-Legitimation hinzu, ersetzt sie aber nicht.27 Als „Herrschaft des Volkes, durch das Volk und für das Volk“ müssen dann auch die Ergebnisse der Staatsgewalt eine Rolle spielen.28 All dies hat schon Erasmus von Rotterdam erkannt, daher seien abschließend seine Gedanken zur „guten Gesetzgebung“, die von einer Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, 1985, S. 18; dazu Anselm, in: Huber/ Meireis/Reuter (Hrsg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, 2015, S. 195 (227 f.). 25 Dazu eingehend und grundlegend Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 601 ff. 26 Zu dieser europäischen Wurzel Wertheimer, Europa – Eine Geschichte seiner Kulturen, 2020, S. 69 ff. 27 Eingehend Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 588 ff., insbes. S. 603 ff. 28 In Anlehnung an die „Gettysburg-Address“ von Abraham Lincoln, dazu Jünemann, JZ 2013, 1128 (1129 f.).

2. Vergewisserung über das Volk

95

Legitimitätsidee geprägt sein muss, erinnert:29 „Die besten Gesetze unter dem bestmöglichen Fürsten machen den Staat oder das Reich vor allem glücklich. Sein Zustand ist dann der günstigste, wenn alle dem Fürsten gehorchen, der Fürst selbst den Gesetzen gehorcht, die Gesetze aber dem Leitbild der Gerechtigkeit und Ehrenhaftigkeit entsprechen und auf nichts anderes hin entworfen sind als auf den Fortschritt des Gemeinwesens. Ein guter, weiser und unbestechlicher Fürst ist nichts anderes als eine Art lebendiges Gesetz. Er wird sich also Mühe geben, nicht viele Gesetze zu geben, sondern möglichst gute und dem Staatswohl vor allem zuträgliche.“

2. Vergewisserung über das Volk Gerade demokratische Legitimität in digitalen Kontexten muss sich des Volkes vergewissern, das als Subjekt der demokratischen Legitimation eine entscheidende Rolle spielt. Es ist gerade die Leistung des Volksbegriffes im Rahmen der Legitimitätskonstruktion, mit Hilfe von Verfahren die Entscheidung als verbindlichen Ausdruck der Herrschaftsgewalt anzusehen, auch wenn das einzelne Legitimationssubjekt die von ihm nicht präferierte Entscheidungsalternative als verbindlich akzeptieren muss.30 Nicht irgendwer und auch (schon gar nicht) jeder Herrschaftsunterworfene kann der Staatsgewalt demokratische Legitimation zuführen, sondern nur das relevante Staatsvolk und damit die diesem angehörigen Menschen.31 Der Staat ist und bleibt die Organisation des Volkes.32 Auch das Bundesverfassungsgericht hat jüngst noch einmal hervorgehoben, dass demokratische Legitimation in einem föderal verfassten Staat grundsätzlich nur durch das Bundes- oder Landesvolk für seinen jeweiligen Bereich vermittelt werden könne.33 Das „Volk“ als demokratisches Legitimationssubjekt ist bislang theorie- und denknotwendig ein entscheidungs- und 29 Erasmus von Rotterdam, Fürstenerziehung, eingeführt, übersetzt und bearbeitet von Anton J. Gail, 1968, S. 165. 30 S. Schlögl, Anwesende und Abwesende, 2014, S. 61; vgl. auch Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1983, S. 38 f. 31 Dreier, in: Graf/Meier (Hrsg.), Die Zukunft der Demokratie, 2018, S. 29 (32 f.); Schliesky, in: ders./Schulz/Gottberg/Kuhlmann, Demokratie im digitalen Zeitalter, 2016, S. 15 (22 ff.). 32 So schon Waitz, Grundzüge der Politik, 1862, S. 7. 33 BVerfGE 119, 331 (366).

96

VII. Lösungsansätze

handlungsfähiges Kollektivsubjekt. Trotz dieser zentralen Rolle ist bis heute nicht abschließend geklärt, wer genau dieses Volk ist34 und – vor allem – was dieses Volk zusammenhält.35 Als (verfassungssoziologische) Kriterien werden genannt die Gleichartigkeit (des Volkes) 36, die relative Homogenität37, die nationale Identität38, ein auf Abstammung beruhendes Band, die Nation, die bloße räumliche Anwesenheit der Herrschaftsunterworfenen, eine Kulturgemeinschaft, eine politische Schicksalsgemeinschaft39, eine gemeinsame Geschichte, eine Identität als Kollektiv und/oder eine gemeinsame Legitimitätsidee (bzw. ein gemeinsames Narrativ). Es geht dabei um den Kitt, das Bindemittel, das aus Individuen ein Volk macht. Auch in der deutschen Politik beginnen langsam Diskussionen über Volk und Nation – was auch kein Wunder ist, wenn man mehrere Millionen Zuwanderer ohne deutsche Staatsangehörigkeit nicht dauerhaft von demokratischen Prozessen ausschließen will.40 Allein dadurch nimmt – bezogen auf die Gesamtsumme der Bevölkerung – der prozentuale Anteil demokratischer Exklusion zu.41 Und die delegitimierende Wirkung digitaler Räume sowie die digitale Problematik des Volksbegriffes werden dabei in der Regel noch überhaupt nicht gesehen. So schlägt der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans die „Bekenntnisnation“ als 34

Dazu instruktiv Müller, Wer ist das Volk?, 1997; s. auch jüngst Jouanjan, Der Staat 58 (2019), 223 (239 f.). 35 Guter Überblick über einige diskutierte Kriterien bei Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 17. Aufl. 2017, § 11 (= S. 68 ff.). S. – auch mit Blick auf die digitale Zukunft – Baecker, Studien zur nächsten Gesellschaft, 2007, S. 147 ff. 36 Schmitt, Verfassungslehre, 8. Aufl. 1993, S. 234; daran anknüpfend Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 27. 37 BVerfGE 89, 155 (186); dazu eingehend Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 269 ff. 38 Dazu jüngst eingehend Emmerich-Fritsche, Der Staat 58 (2019), 575 ff. 39 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 17. Aufl. 2017, § 11 II (= S. 68, 70 f.). 40 Dazu Dreier, in: Graf/Meier (Hrsg.), Die Zukunft der Demokratie, 2018, S. 29 (52 f., 75 f.); Gärditz, VVDStRL 72 (2013), 49 (95); Thym, VVDStRL 76 (2017), 169 (189). 41 Nach dem Maßstab von Müller, Wer ist das Volk?, 1997, S. 59, nimmt der Grad an Legitimität des als Form vorhandenen demokratischen Systems zu, je mehr „Volk“ im tatsächlich realisierten Recht einer verfassten Gesellschaft mit der Bevölkerung identisch sei.

2. Vergewisserung über das Volk

97

„modernen, zeitgemäßen Nationenbegriff“ vor.42 Er versteht im Anschluss an Ernest Renan darunter „eine Nation, die alle einschließt, die sich zu ihr bekennen – gleich welcher Herkunft, welcher Hautfarbe und welcher Religion; die alle umfasst, die unsere grundlegenden Werte der Menschenwürde und Menschenrechte, der freiheitlichen Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit teilen“. Dieses Modell des Bekenntnisses ist ein völkerrechtlich gebräuchlicher Anknüpfungspunkt für die Zugehörigkeit und Rechtewahrnehmung von Minderheiten43, aber nicht für einen demokratischen Demos. Der entscheidende „Pferdefuß“ eines solchen Nationen- und Volksbegriffs ist der zwangsläufige Verzicht auf die gemeinsame Geschichte als Anknüpfungspunkt.44 Ob ein erneuerter Nationsund Volksbegriff ohne maßgebliche historische Anknüpfung mehr als ein intellektuelles Gedankenexperiment sein kann und eine tragfähige demokratische Legitimationsbasis abgeben kann, wird erst die Zeit zeigen. Ebenfalls ungeklärt sind die Auswirkungen der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die nun ein letztlich in der Menschenwürdegarantie wurzelndes „Recht auf Demokratie“ annimmt,45 auf das nur den Angehörigen des deutschen Staatsvolkes zustehende grundrechtsgleiche Wahlrecht.46 Das „Volk“ bzw. „Staatsvolk“ benötigt schon definitorisch einen Bezugsraum. Schon nach der für das moderne Staatsverständnis prägenden Drei-Elemente-Lehre von Jellinek besteht diese Verknüpfung, wenn der Staat „die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Körperschaft eines sesshaften Volkes“ ist und durch die drei Elemente Staatsgebiet,

42

Hans, Deutsch – eine Frage des Bekenntnisses, FAZ Nr. 130 vom 06. 06. 2019, S. 6. 43 S. Bonn-Kopenhagener Erklärungen, hier: Bonner Erklärung vom 29. 3. 1955, II. 1), die das Prinzip der Bekenntnisfreiheit für die Zugehörigkeit zu der dänischen und der deutschen Minderheit normiert. 44 Dazu Heller, Staatslehre, 1934, S. 164 f.; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 17. Aufl. 2017, S. 69. 45 BVerfGE 123, 267 (341, 343); 129, 124 (169). – Die Menschenwürdegarantie als Ausgangspunkt demokratischer Legitimation hat bereits Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S.– 679 ff., herausgearbeitet. 46 Diese Diskrepanz beschreibt auch Jouanjan, Der Staat 58 (2019), 223 (240). Kritisch zu dem BVerfG-Ansatz Sauer, Der Staat 58 (2019), 7 (19 ff.).

98

VII. Lösungsansätze

Staatsvolk und Staatsgewalt gekennzeichnet ist.47 Zugleich ist das „Staatsvolk“ ein Abgrenzungsbegriff – die Zugehörigkeit wird vor allem durch die Ausgrenzung Nicht-Zugehöriger definiert.48 Die vom Volksbegriff verlangte Abgrenzung kann die digitale Grenzenlosigkeit aber gerade nicht leisten. Theoretisch denkbar ist zwar ein „Weltvolk“ in einer Weltrepublik49, doch kann man sich die gesamte Bevölkerung der Erde nur schwerlich als demokratisches Legitimationssubjekt von Herrschaftsgewalt vorstellen. Es handelt sich dabei eher um eine philosophische Gedankenoperation50, doch zeigt die aktuelle politische und wirtschaftliche Realität, dass eine digitale und kapitalistische Elite, die um die Welt fliegt und sich kosmopolitisch als Weltbürger versteht, sich von dem Empfinden zahlreicher Menschen immer weiter entfernt, die sich wiederum angesichts digitaler und globalisierter Entgrenzung stärker dem Nationalstaatsgedanken zuwenden.51 Das ein Staatsvolk einende Band droht schon jetzt zu zerreißen und wäre bei einem weltweiten Raummaßstab (derzeit) nicht zu konstruieren. Das demokratische Staatsvolk hat eben auch eine räumliche Dimension – bei zunehmender Größe der Herrschaftsordnung besteht die Gefahr eines demokratischen Qualitätsverlusts.52 Schon für die Europäische Union ist es bisher nicht gelungen, einen einheitlichen „Demos“ zu

47 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914 (7. Neudruck 1960), S. 183, 394 ff., 433. 48 Isensee, Grenzen, 2018, S. 85 ff., 97 f.; Thiele, Der gefräßige Leviathan, 2019, S. 257 f., der mit Recht darauf hinweist, dass das „Recht auf Ausschluss“ auch nicht aus moralischen Gründen negiert werden dürfe. Ein entsprechendes Plädoyer auch bei Dreier, in: Graf/Meier (Hrsg.), Die Zukunft der Demokratie, 2019, S. 29 (78 ff.). 49 Zu einem solchen Konzept Höffe, Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger – Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung, 2004, S. 151 ff.; ders., in: Brugger/Neumann/Kirste (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, S. 380 ff. 50 In Anlehnung an Kant, Zum ewigen Frieden, 1795. Soeben erneuert durch Nida-Rümelin, Die gefährdete Rationalität der Demokratie, 2020, S. 60 ff. 51 Fukuyama, Identität, 2019, S. 151 ff.; Jörke, Die Größe der Demokratie, 2019, S. 111 ff. – Verstärkt wird dieser Trend durch die Corona-Pandemie, die sehr deutlich die Verletzlichkeit globaler Vernetzung gezeigt hat und viele Menschen die Orientierung im Nationalstaat suchen lässt. 52 Darauf hat Jörke, Die Größe der Demokratie, 2019, S. 111 ff., jüngst eindringlich aufmerksam gemacht.

2. Vergewisserung über das Volk

99

schaffen.53 Erst recht kann ein solcher Demos jedenfalls derzeit und bislang nicht in digitalen Räumen anerkannt werden. Und die zu beobachtende digitale Vereinzelung der Menschen54 dürfte die Bildung eines Demos ebenfalls nicht erleichtern. Dabei schwingt aber immer die Vorstellung von einem materiellen Volksbegriff im historischen Sinne mit, wie er sich von der Familie über den Stamm zu frühen Völkern und schließlich Nationen entwickelt hat55 und dabei immer einen Raumbezug aufwies.56 Wenn der Volksbegriff als Anknüpfungs- und Ausgangspunkt demokratischer Legitimation noch einen Sinn haben soll, dann wird in digitalen Kontexten zudem die räumliche Anwesenheit als einendes Kriterium ausscheiden. Im weltumspannenden digitalen Raum gibt es nur Welt- und Netzbürger. Für die Entscheidungen der Staatsgewalt, die zunehmend als Verteilungs- und auch Abgrenzungsentscheidungen auftreten muss, ist dies ein ungeeigneter Anknüpfungspunkt. Ein Weg könnte die Erschließung digitaler Räume dergestalt sein, dass sich hier relevante Völker bilden können – derzeit ist dieser Weg allerdings auch nur eine Hypothese. Von den bisherigen nationalen Aufladungen muss man sich in digitalen Kontexten zunächst einmal verabschieden, zumal diese klassischen Kriterien in digitalen Räumen keine oder nur eine erheblich veränderte Rolle spielen. Derzeit gefährdet „digitaler Tribalismus“57 Idee, Konstruktion und Zusammenhalt des Staatsvolkes. Im Vergleich zu der Vorstellung von einem Volk als „Schicksalsgemeinschaft“ auf der Basis einer gemeinsamen Geschichte erzeugt die digitale Verknüpfung, vor allem in sozialen 53 Jörke, Die Größe der Demokratie, 2019, S. 125; zu darüber hinausgehenden Ansätzen aber Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000; Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 677 ff. 54 Dazu eingehend Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 6. Aufl. 2018, S. 225 ff. 55 Dazu Demandt, Über die Deutschen, 2007, S. 18 ff.; Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, 2. Aufl. 1994, 2. Kap. 56 Auch wenn man Völker nicht als reine Konstrukte ansehen will, wie es zum Teil in den Sozialwissenschaften vertreten wird, so überzeugen die älteren Vorstellungen von Kohärenz, Ursprünglichkeit und Homogenität bei einem historisch einordnenden Blick nicht mehr. Darauf hat Meier, Geschichte der Völkerwanderung, 2. Aufl. 2020, S. 102, zutreffend hingewiesen. 57 Jaster/Lanius, Die Wahrheit schafft sich ab, 2019, S. 74 ff.; Türcke, Digitale Gefolgschaft, 2019, S. 193 ff.

100

VII. Lösungsansätze

Netzwerken, lediglich die Illusion menschlicher Gemeinschaft.58 Neben dem problematischen Raumbezug wird also die Annahme eines Volkes im Sinne der überkommenen Nationsvorstellung in digitalen Kontexten ebenfalls nicht zu finden sein. Dies bedeutet aber nicht, dass in Ermangelung eines Legitimationssubjektes in digitalen Räumen überhaupt keine Demokratie möglich wäre. Vielmehr wäre ein technokratisches „Staatsvolk“ auch in digitalen Kontexten kreierbar, denn das verfassungsrechtlich geschaffene und als Legitimationssubjekt benötigte Staatsvolk ist unter der Geltung des Grundgesetzes nunmehr ein strikt formal-juristisches. Der Volksbegriff des Art. 20 GG knüpft nicht an ein organisches oder gar mythisches Volk an. Schon Waitz wusste, dass Völker „nicht ein für alle mal gegeben, sondern in stetem Werden und Wandeln begriffen“ sind und „unter dem Einfluß staatlicher Verhältnisse“ auch neue Völker gebildet werden.59 Mit Recht ist von Dreier darauf hingewiesen worden, dass Demos und Ethnos unter Geltung des Grundgesetzes strikt entkoppelt sind, so dass der Volksbegriff auch immun gegen völkische Aufladungen und ethnische Engführungen ist.60 Das demokratische Volk ist in verfassungsrechtlicher Perspektive daher „kein Natur-, sondern ein Organisationsergebnis“.61 Und auch innerhalb der Verfassungsordnung ist der Volksbegriff nicht für die Dauer ihrer Gültigkeit unverrückbar festgeschrieben, sondern neben Verfassungsänderungen auch einem Verfassungs- und Bedeutungswandel zugänglich.62 Bereits Kelsen hatte auf der Grundlage seiner „Reinen 58

Spiekermann, Digitale Ethik, 2019, S. 113 m.w.N., die auf die von medizinischen Studien nachgewiesene Erhöhung der Wahrscheinlichkeit von Depressionen hinweist. 59 Waitz, Grundzüge der Politik, 1862, S. 7; eingehend jüngst Meier, Geschichte der Völkerwanderung, 2. Aufl. 2020, S. 110 f. 60 Dreier, in: Graf/Meier (Hrsg.), Die Zukunft der Demokratie, 2018, S. 29 (33); Thiele, Der gefräßige Leviathan, 2019, S. 257; a.A. Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 3. Aufl. 2004, § 13 Rn. 119 ff. – Zu einer abgeschichteten Analyse des Volksbegriffes näher Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 30 ff. 61 Grawert, in: Murswiek/Storost/Wolff (Hrsg.), Staat – Souveränität – Verfassung, Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag, 2000, S. 95 (101); in diesem Sinne auch Dreier, in: Graf/Meier (Hrsg.), Die Zukunft der Demokratie, 2018, S. 29 (33); Thiele, Der gefräßige Leviathan, 2019, S. 250. 62 Zu den Voraussetzungen eines Bedeutungs- und Verfassungswandels bei der Bestimmung des Volkes in Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG näher Schmidt-Jortzig, in: Isensee/

2. Vergewisserung über das Volk

101

Rechtslehre“ die juristische Formbarkeit des Volksbegriffes herausgearbeitet, vielleicht sogar übersteigert.63 „Das Volk“ ist somit keine unveränderliche, präexistente Größe – es ordnet sich der jeweiligen Herrschaftsordnung erst zu64 und verändert laufend seine Gestalt und Zusammensetzung als Legitimationssubjekt. Das „Staatsvolk“ als verfassungsrechtliches Legitimationssubjekt setzt dann eine rechtlich geschaffene Identität voraus, die wiederum für die Zugehörigen integrierende, ansonsten ab- und ausgrenzende Wirkung hat.65 Nur die rechtlich zum Staatsvolk zugeordneten Menschen können staatsbürgerliche Rechte, vor allem das Wahlrecht, ausüben. Dementsprechend kann ein Mensch mehrere Identitäten haben66 – als Gemeinde-, Kreis-, Landes-, Staats- und Unionsbürger67, vielleicht sogar als Weltbürger. In digitalen Zusammenhängen fehlt bislang eine derartige rechtlich geschaffene Identität. Zwar gibt es eine Vielzahl von freiwilligen Zusammenschlüssen, die durchaus identitätsbildend wirken können, etwa in sozialen Netzwerken. Diese Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, 1993, S. 196 (204 ff.). 63 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929/2018, S. 23: Volkseinheit als „die Einheit der das Verhalten der normunterworfenen Menschen regelnden staatlichen Rechtsordnung“. S. auch dens., Allgemeine Staatslehre, Studienausgabe der Originalausgabe 1925, herausgegeben und eingeleitet von Matthias Jestaedt, 2019, S. 360. 64 Zu dieser, dem Gedanken der Selbstbestimmung verpflichteten Zuordnung Lübbe-Wolff, VVDStRL 60 (2001), 246 (265 ff.); aus politikwissenschaftlicher Sicht Fuchs, in: Niedermayer/Westle (Hrsg.), Demokratie und Partizipation, Festschrift für Max Kaase, 2000, S. 250 ff.; s. auch Bung/Kuhli, in: dies. (Hrsg.), Volk als Konzept in Recht und Politik, 2020, S. 1 (5 f.). 65 S. bereits Cicero, De re publica/Über den Staat, übersetzt von Walter Sontheimer, 1956/1983,I 25 (39): „Volk aber ist nicht jede Vereinigung von Menschen, die auf jede nur denkbare Weise sich wie eine Herde zusammengeschart hat, sondern der Zusammenschluß einer größeren Menschenzahl, der auf der Grundlage einer Rechtsvereinbarung und einer Interessengemeinschaft erfolgt ist.“; I 32 (49): „Denn was ist ein Staat anderes als eine Rechtsgemeinschaft seiner Bürger?“ Dazu auch Bringmann, Das Volk regiert sich selbst, 2019, S. 152; Emmerich-Fritsche, Der Staat 58 (2019), 575 (577 f.). 66 Näher Meier, Geschichte der Völkerwanderung, 2. Aufl. 2020, S. 110 f. 67 BVerfGE 83, 37 (55); 83, 60 (75); Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 31 f.; Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 92; Grawert, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I, 3. Aufl. 2003, § 14 Rn. 25.

102

VII. Lösungsansätze

Identitätsbildung ist aber der Vereinszugehörigkeit im realen Leben vergleichbar und für eine einem Legitimationssubjekt genügende Identität unzureichend. Eine der Staatsangehörigkeit vergleichbare elektronische Identität lässt sich rechtlich aber auch in digitalen Räumen schaffen. Der elektronische Identitätsnachweis in Anknüpfung an den „neuen“ Personalausweis68 ist ein erster Schritt in diese Richtung. Diese Identität ist das Fundament für ein „digitales Staatsvolk“ und geeignet, den erforderlichen Zusammenhalt für ein Legitimationssubjekt auch in einem digitalen Netzwerk zu gewährleisten. Wie weit diese Identität dann über den eher organisatorisch-technischen Aspekt hinaus trägt, wird die Entwicklung zeigen, wird aber grundsätzlich vergleichbaren Bedingungen wie „realer“ Staatsangehörigkeit unterliegen. Dies ist mit Blick auf die Geschichte des Volksbegriffes wenig – aber ehrlicherweise gibt es derzeit nicht mehr, was sich zu einem digitalen Legitimationssubjekt entwickeln könnte. Entscheidend wird insoweit sein, ob sich in digitalen Räumen eine verfassunggebende Gewalt herauskristallisiert69 oder ob die bisherigen Verfassunggeber die Geltungskraft ihrer Verfassungen auf digitale Räume erstrecken können – derzeit fehlt es an beidem. Aber auch unterhalb dieser zentralen staatstheoretischen Größe sind demokratische Zugewinne denkbar: Für digitale Räume ließe sich nämlich der Teilvolkgedanke fruchtbar machen, der – angesichts der funktionalen Verbindung der Mitglieder eines Netzwerks – ähnlich der funktionalen Selbstverwaltung ergänzende demokratische Legitimation zuführen könnte. Bestimmte, bestenfalls gesetzlich vorgesehene Netzwerke und Behördennetze70 sind als Erscheinungsformen funktionaler Selbstverwaltung denkbar und können auf anderem Wege als durch eine ununterbrochene personelle Legitimationskette demokratisch legitimiert sein. 68 Dazu eingehend Luch, in: Schliesky (Hrsg.), Gesetz über Personalausweise und den elektronischen Identitätsnachweis, 2009, §§ 18 ff. 69 Insoweit kann – mit Vorsicht ob der Unterschiede zwischen klassischen und digitalen Räumen – auf die Forschung zum „Global Constitutionalism“ angeknüpft werden; dazu Patberg, Usurpation und Autorisierung. Konstituierende Gewalt im globalen Zeitalter, 2018; Frick, in: Anter/Frick (Hrsg.), Politik, Recht und Religion, 2019, S. 94 ff. 70 Näher Schliesky, Die Europäisierung der Amtshilfe, 2008, S. 37 ff.; ders., Von der organischen Verwaltung Lorenz von Steins zur Netzwerkverwaltung im Europäischen Verwaltungsverbund, 2009, S. 5 ff., 11 ff. – Beispiele für gesetzlich normierte Behördennetze sind § 50a GWB und Art. 28 ff. EU-Dienstleistungsrichtlinie.

2. Vergewisserung über das Volk

103

Das Bundesverfassungsgericht betont seit längerem, dass außerhalb der unmittelbaren Staatsverwaltung auch „die organisierte Beteiligung der sachnahen Betroffenen an den sie berührenden Entscheidungen“ dem demokratischen Prinzip genüge.71 Auf diese Weise sind in Selbstverwaltung betriebene funktionale digitale Räume möglich, die über eine hinreichende demokratische Legitimation für die Ausübung von Staatsgewalt verfügen. Im übrigen lässt auch das überkommene Volk- und Demokratiekonzept des Grundgesetzes durchaus digitale Mitwirkung in der Phase der Meinungsbildung auf dem Weg zu staatlichen Entscheidungen zu, unter engen, sachlich-inhaltlich durch Gesetz zu bestimmenden Kautelen auch in der Willensbildungsphase.72 Mit den in § 3 Abs. 2 OZG vorgesehenen Nutzerkonten ließe sich insoweit auch eine Teilnahme (nur) der Staatsangehörigen an demokratischer Willensbildung sicherstellen, wenn sie entsprechend mit einer vorherigen Identifizierung bezüglich der Staatsangehörigkeit ausgestaltet würden – das digitale Staatsvolk wäre konstituiert. Die klassischen materiellen Komponenten des Volksbegriffes, die – noch einmal – für den verfassungsrechtlichen und als Legitimationssubjekt benötigten Volksbegriff allerdings nicht erforderlich sind, fehlen dann zweifelsohne noch, können sich allerdings entwickeln oder neu verstärken. Auch hier kann es dann vielleicht die gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame Kultur sein, die Menschen als Gruppe zusammenbringt, um sich organisatorisch als Einheit zu finden und ein Staatsvolk werden zu lassen.73 Auch im digitalen Kontext wird die Idee der politischen Schicksalsgemeinschaft für den Volksbegriff zentral sein, da letztlich die Verfassung in den letzten 200 Jahren diese politische Schicksalsgemeinschaft durch Konstituierung des politischen Systems konturierte, die grundlegenden Werte normativ vorgab und zugleich das Staatsvolk als Kollektivsubjekt nebst nationalen Identitäten (s. Art. 4 Abs. 2 EUV) schuf. Diese politische Schicksalsgemeinschaft wird in vielen Staaten durch die überbordende Pluralisierung, den Dominanzwillen von Min71

BVerfGE 107, 59 (92); 136, 194 (262 Rn. 169). Zu der Differenzierung von Meinungsbildungs-, Willensbildungs- und Entscheidungsphase auf dem Weg zu einer staatlichen Entscheidung und damit Ausübung von Staatsgewalt näher Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 246, 696 f. m.w.N. 73 Dazu Heller, Staatslehre, 1934, S. 164 f.; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 17. Aufl. 2017, S. 69. 72

104

VII. Lösungsansätze

derheiten und die Spaltung der Gesellschaft bei Werten, religiösen wie politischen Überzeugungen, infrage gestellt74 – und nun wird sie eben auch zusätzlich durch die Digitalisierung herausgefordert. Ob Demokratie in digitalen Räumen überleben kann, wird maßgeblich davon abhängen, ob sich Völker nun ihrer Geschichte und ihrer (politischen) Schicksalsgemeinschaft im Netz vergewissern oder sich ggf. auch neu finden. Dabei ist zu bedenken, dass allerdings nicht alle relevanten Akteure derartige Prozesse unterstützen.

3. Digitalisierung rechtlich gestalten Allein die Digitalisierung bedroht das überkommene Konzept der Legitimität des demokratischen Verfassungsstaates sowie der Legitimation seiner Staats- bzw. Herrschaftsgewalt massiv. Dies ist an sich auch kein Wunder, denn Legitimität wird oft als rechtfertigend-bewahrend gedacht – sie soll ja ein bestehendes politisches System sowie dessen Herrschaftsausübung rechtfertigen. Die Digitalisierung ist hingegen aus Sicht bestehender analoger Strukturen und Verfahren disruptiv, da sie anderen Parametern unterliegt. Aber zugleich ist sie kein unabwendbares Naturereignis, sondern (noch) von Menschen gemacht und gestaltbar. Schon von daher erscheint es angezeigt, Digitalisierung normativ zu gestalten75, um die Herrschaftsräume zu erweitern und die digitalen Herrschaftsinstrumente in den Kanon (rechtlich) legitimer Herrschaftsbetätigung zu integrieren, um Herrschaftsgewalt und insbesondere das ihr zugrundeliegende Legitimitätskonzept zeitgemäß zu erweitern, wenn eine drohende Frontstellung zwischen digitalen Räumen bzw. digitaler Macht auf der einen Seite und analogen Räumen und demokratisch legitimierter Staatsund Herrschaftsgewalt andererseits vermieden werden soll. Ein solche Polarisierung droht bereits jetzt und könnte in absehbarer Zeit zum Einsturz der alten Ordnung führen. Verschiedene Entwicklungsstränge, insbesondere die zunehmende Verbindung von Informations- und Kommunikationstechnik einschließlich künstlicher Intelligenz mit Biotechnologie löst – wie gezeigt – eine Vielzahl von Gefahren aus, die erst in Ansätzen erahnbar sind und fundamentale Grundannahmen der demokratischen Verfassungsordnung des Grundgesetzes infrage stellen – von der 74 75

Dazu Levitsky/Ziblatt, Wie Demokratien sterben, 5. Aufl. 2018, S. 170 ff. Ebenso Gemmin, DÖV 2020, 172 (173).

3. Digitalisierung rechtlich gestalten

105

Menschenwürde bis zum Demokratieprinzip.76 Trotz der der Digitalisierung inhärenten „Revolutionsgefahr“ für die (demokratische) Legitimität der Staatsgewalten halten sich hartnäckig verschiedene Vorurteile über die Digitalisierung:77 – Das Netz ist demokratisch. Dieses Vorurteil stammt aus den Anfangszeiten des Internets, als die egalitäre Gleichheit der im Netz miteinander verknüpften Rechner und deren Nutzer zu der (naiven) Annahme führte, dass daraus auch ein System egalitärer Mitwirkungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten entstehen würde. Die Realität zeigt, dass die digitalen Räume einer „Herrschaft der Wenigen“ unterworfen sind. Wenige große IT-, Internet- und Digitalkonzerne beherrschen die Algorithmen und wirken als „Torwächter“ (Gatekeeper) zur Nutzung der digitalen Räume.78 – Das Netz fördert Demokratie. Auch diese Hoffnung kam vor gut zehn Jahren auf, als soziale Netzwerke im sog. „Arabischen Frühling“ den Revolutionären halfen, sich mit einfachen Mitteln gegenüber der Staatsmacht zu koordinieren.79 Auch diese Betrachtungsweise hat zahlreiche andere Ursachen und Anlässe für die seinerzeitigen demokratischen Hoffnungsschimmer ausgeblendet. Jedenfalls haben auch die angegriffenen Herrschaftsapparate schnell gelernt, soziale Netzwerke zu überwachen oder sogar zu steuern, so dass sich der am Anfang feststellbare Nutzen digitaler Instrumente in der Regel 76 Deutlich Harari, 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert, 4. Aufl. 2018, S. 104: „Die Demokratie in ihrer gegenwärtigen Form kann die Verschmelzung von Biotechnologie und Informationstechnologie nicht überleben. Sie wird sich entweder radikal neu erfinden müssen, oder die Menschen werden künftig in ,digitalen Diktaturen‘ leben.“ 77 Aus der Vielzahl der – zunehmend kritischen – Literatur Beckedahl/Lüke, Die digitale Gesellschaft, 2012, S. 27 ff., 170 ff.; Boehme-Neßler, Das Ende der Demokratie?, 2018, S. 59 ff.; Floridi, Die 4. Revolution, 2015, S. 221 ff.; Gabriel, Fiktionen, 2020, S. 592 ff.; Nassehi, Muster, 2019, S. 28 ff.; Türcke, Digitale Gefolgschaft, 2019, S. 73 ff.; Zuboff, Überwachungskapitalismus, 2018, S. 411 ff.; Zweig, Ein Algorithmus hat kein Taktgefühl, 4. Aufl. 2019, S. 203 ff. 78 Dazu anschaulich Zuboff, Überwachungskapitalismus, 2018, S. 85 ff., 155 ff.; s. auch die Beiträge in Jakobs, Wem gehört die Welt?, 4. Aufl. 2016, S. 406 ff., 544 ff. 79 Zu den (in der Nachschau enttäuschten) Erwartungen des netzwerkbasierten „Arabischen Frühlings“ Ben Mhenni, Vernetzt Euch!, 2011.

106

VII. Lösungsansätze

schnell ins Gegenteil verkehrte. Im Übrigen darf nicht übersehen werden, dass die seinerzeit etwa von der Piratenpartei vertretene Forderung nach unmittelbarer Herrschaftsmitwirkung der Netzbürger (Konzept der Liquid Democracy), die (zumindest weitestgehende) Abschaffung des repräsentativen demokratischen Systems bedeutet hätte.80 – Das Netz ist Garant der Gleichheit. Auch diese Vorstellung reicht in die Anfangszeiten des Internets zurück. Längst sind die technischen Voraussetzungen aber sehr unterschiedlich, und die hart umkämpfte Netzneutralität ist in vielen Fällen nicht mehr gewährleistet.81 Gerade auch im Netz bestimmen die finanziellen Ressourcen und daraus resultierenden technischen Möglichkeiten die dominante Rolle in digitalen Räumen vor. Gerade mit Blick auf demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten fördert das Netz sogar die Ungleichheit, da nur mit Ressourcen und Muße ausgestattete Menschen sich den Luxus leisten können, den ganzen Tag im Netz aktiv zu sein. Angesichts dieser äußerst ungleichen Rahmenbedingungen fördert das Netz sogar viel mehr die Ungleichheit der verschiedenen Benutzer. – Das Netz ist diskriminierungsfrei. Diese weitere Schlussfolgerung aus der vorgeblichen Egalität des Netzes hat sich ebenfalls als unzutreffend erwiesen. Vielmehr vergisst das Netz grundsätzlich keine Einträge, und auch das vom EuGH verdienstvollerweise entwickelte „Recht auf Vergessenwerden“82 (nunmehr auch in Art. 17 DSGVO normiert) hat zwar Auswüchse korrigiert, kann an den technischen Rahmenbedingungen allerdings auch wenig ändern. Hinzu kommt, dass der zunehmende Einsatz von Algorithmen, gerade in Systemen künstlicher Intelligenz, einmal vorhandene Diskriminierungen perpetuiert und ggf. noch vertieft, weil Algorithmen aus dem tatsächlichen 80 Dazu Schliesky, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Handbuch des Parlamentsrechts, 2016, § 51 Rn. 79 ff. 81 Dazu näher Beckedahl/Lüke, Die digitale Gesellschaft, 2012, S. 155 ff.; Hobe, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band XI, 3. Aufl. 2013, § 231 Rn. 18 ff. 82 EuGH, NJW 2014, 2257 ff., dazu Nolte, NJW 2014, 2238 ff.; s. nun jüngst EuGH, NJW 2019, 3499 ff.; EuGH, NJW 2019, 3503 ff.; zur Frage des einschlägigen Grundrechtsschutzes nunmehr BVerfG, NVwZ 2020, 53 ff. („Recht auf Vergessen I“); BVerfG, NVwZ 2020, 63 ff. („Recht auf Vergessen II“); dazu Kämmerer/Kotzur, NVwZ 2020, 177 ff.; Kühling, NJW 2020, 275 ff.

3. Digitalisierung rechtlich gestalten

107

Anschauungsmaterial existenter Fälle und Entscheidungen und damit auch aus früheren Diskriminierungen lernen.83 – Das Netz fördert eine eigene Willens- und Persönlichkeitsbildung. Die fraglos existente Entwicklung digitaler Identitäten als Teil der menschlichen Persönlichkeit ist längst ein grundrechtliches Faktum84, und auch die menschliche Persönlichkeit nebst ihrer grundrechtlichen Grundlegung im allgemeinen Persönlichkeitsrecht erfährt eine digitale Veränderung oder vielleicht sogar Erweiterung.85 Wenn also eine Veränderung von Persönlichkeit und Persönlichkeitsrecht feststellt werden kann, so bedeutet dies noch nicht zwangsläufig eine Förderung der Persönlichkeitsbildung und der vom Persönlichkeitsrecht umfassten Willensfreiheit. Die längst erkannte Beeinflussung durch „Influencer“ bei Instagram oder YouTube belegen eine Minderung der Willensfreiheit und Persönlichkeitsentwicklung wie auch die von wirtschaftlichen oder politischen Interessen bestimmten Beeinflussungen in sozialen Netzwerken, die zu einem großen Teil zudem durch Algorithmen („Social Bots“) vorgenommen werden. Schon ist die vor 500 Jahren zwischen Erasmus von Rotterdam86 und Martin Luther87 diskutierte Frage, ob der Mensch einen freien Willen hat oder nicht, in beängstigender Weise wieder virulent geworden. – Das Netz gibt dem Einzelnen Meinungsfreiheit.

83 Datenethikkommission der Bundesregierung, Gutachten vom 23. 12. 2019, S. 167 ff. (https://datentehikkommission.de/gutachten/); Raue/von Ungern-Sternberg, ZRP 2020, 49 (51); Zweig, Ein Algorithmus hat kein Taktgefühl, 4. Aufl. 2019, S. 205 ff. 84 Di Fabio, Grundrechtsgeltung in digitalen Systemen, 2016, S. 50 ff.; Luch/ Schulz, in: Hill/Schliesky (Hrsg.), Die Neubestimmung der Privatheit, 2014, S. 153 ff.; Schliesky/Hoffmann/Luch/Schulz/Borchers, Schutzpflichten und Drittwirkung im Internet, 2014, S. 80 ff. 85 Dazu Grimm/Keber/Zöllner, Digitale Ethik, 2019, S. 164 ff.; Grunwald, Der unterlegene Mensch, 2019, S. 189 ff.; Luch/Schulz, in: Hill/Schliesky (Hrsg.), Die Neubestimmung der Privatheit, 2014, S. 153 (166 ff.); Schliesky/Hoffmann/Luch/ Schulz/Borchers, Schutzpflichten und Drittwirkung im Internet, 2014, S. 89 ff.; Spiekermann, Digitale Ethik, 2019, S. 223 ff. 86 Erasmus von Rotterdam, Vom freien Willen, verdeutscht von Otto Schumacher, 1940. 87 Martin Luther, Vom unfreien Willen, herausgegeben von Friedrich Gogarten, 1924.

108

VII. Lösungsansätze

Dieses letzte Vorurteil hält sich bislang am erfolgreichsten. Denn es ist auch nicht zu leugnen, dass allein die Existenz digitaler Räume und entsprechender technischer Plattformen die Möglichkeiten zur Meinungsäußerung (quantitativ) erweitert hat. Dementsprechend ist auch nicht zu leugnen, dass die Zugangskosten für öffentliche Meinungsäußerungen als auch die Hemmschwelle für oftmals im Schutze der Anonymität getätigte Meinungsbekundungen es viel weiteren Kreisen der Bevölkerung ermöglicht, eigene Meinungen zu allen möglichen Dingen und insbesondere auch zu politischen Fragen sowie der Ausübung von Staatsgewalt kundzutun. Die derzeit häufig erörterte Frage der Verrohung öffentlicher Diskussionen im Netz sei erwähnt, soll hier aber nicht vertieft werden.88 Die Einordnung auch dieser These als Vorurteil über Digitalisierung liegt vielmehr darin begründet, dass „das Netz“ längst zurückschlägt. Meinungsäußerungen von Nutzern, selbst wenn sie im Schutze der Pseudonymität getätigt werden, werden längst von Scoring-Algorithmen und auch von Staaten wie z. B. China ausgewertet und für Konsequenzen vielerlei Art, offen oder versteckt, gegenüber den Meinungsäußerern genutzt. Dies führt zu ganz anderen und unmittelbaren Nachteilen, als die bislang bestehenden Möglichkeiten in analogen Räumen, und zugleich schüchtert es zunehmend Menschen ein, überhaupt noch ihre Meinung kundzutun. Diesen Vorurteilen, die sich hartnäckig halten, wird man nur dann erfolgreich entgegentreten können, wenn die rechtliche Gestaltung der Wirklichkeit auch in digitalen Räumen angegangen wird. Im hier interessierenden Kontext der Legitimität von Herrschaftsgewalt und dem diese bewirkenden Prozess der Legitimation staatlicher Handlungen und Entscheidungen gibt es – wie oben gezeigt – längst zahlreiche Beispiele, in denen die (demokratische) Legitimation etwa infolge des Einsatzes von Algorithmen prekär wird; diese Beispiele reichen von automatisierten Entscheidungen der Steuerverwaltung89 über die Digitalisierung des Gesundheitswesens bis zum Einsatz von „Legal Tech“ auch für Verwaltungsentscheidungen. In immer mehr staatlichen Bereichen werden Entscheidungen des Menschen durch Algorithmen ersetzt, die Entscheidungen werden ihm von der Technik, die nach der ursprünglichen Pro88

Dazu etwa Bittner, Zur Sache, Deutschland!, 2019, S. 81 ff. Dazu Braun Binder, in: Unger/von Ungern-Sternberg (Hrsg.), Demokratie und künstliche Intelligenz, 2019, S. 161 ff. 89

3. Digitalisierung rechtlich gestalten

109

grammierung im Einzelfall autonom entscheidet, abgenommen.90 Jedenfalls erweist sich die vom menschlichen Willen gesteuerte Entscheidung als Anknüpfungspunkt demokratischer Legitimation dann als Chimäre. Das Konzept demokratischer Legitimation, wie es vom Bundesverfassungsgericht und der herrschenden Lehre vertreten wird, bricht dann schon an dieser Stelle zusammen. Daher ist unbedingt die rechtliche Ausgestaltung der Digitalisierung erforderlich, um die Einordnung in demokratische Herrschaftsstrukturen und die Ausübung (auch) demokratisch legitimierter Herrschaftsgewalt zu ermöglichen. Diese Normierungsdesiderate reichen von den Beeinträchtigungen der Menschenwürde und des Persönlichkeitsrechts durch künstliche Intelligenz über automatisierte Verwaltungsentscheidungen ohne konkrete menschliche Willensbetätigung bis hin zu der Blockchain-Technologie, die gerade im Bereich der Währungen das Ende staatlicher Souveränität sowie staatlicher Kontrollmöglichkeiten und Gewährleistungsverantwortung bedeutet.91 In anderen Ländern ist man weiter als in Deutschland, so hat beispielsweise die Regierung des Fürstentums Liechtenstein im November 2018 den Entwurf eines „Gesetzes über auf vertrauenswürdigen Technologien (VT) beruhende Transaktionssysteme (Blockchain-Gesetz; VT-Gesetz; VTG)“ vorgelegt.92 Der Auftrag zur rechtlichen Gestaltung der Digitalisierung erfasst alle Rechtsgebiete, insbesondere das gesamte Öffentliche Recht unter dem Legitimitätsgesichtspunkt. So bedarf die mit Hilfe der Digitalisierung massiv voranschreitende Erfüllung staatlicher Aufgaben in neuartigen Formen der (digitalen) Arbeitsteilung.93 Nach geltendem Recht – vor 90 Harari, 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert, 4. Aufl. 2018, S. 87, der mit Recht darauf hinweist, dass Menschen dadurch auch die Fähigkeit zu Entscheidungen verlieren; s. auch Grunwald, Der unterlegene Mensch, 2019, S. 175 ff.; Spiekermann, Digitale Ethik, 2019, S. 233 ff. 91 S. Harari, 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert, 4. Aufl. 2018, S. 27. 92 Vernehmlassungsbericht der Regierung betreffend die Schaffung eines Gesetzes über auf vertrauenswürdigen Technologien (VT) beruhende Transaktionssysteme (Blockchain-Gesetz; VT-Gesetz; VTG) und die Abänderung weiterer Gesetze, abzurufen unter www.llv.li (zuletzt aufgerufen am 07. 11. 2019). 93 Dazu Schliesky u. a. Arbeitsteilung 2.0, 2013; Beiträge von Lenk, Krecmar, Schliesky, Schuppan und Schulz, in: Schliesky/Schulz (Hrsg.), Die Erneuerung des arbeitenden Staates, 2012. – In der staatlichen Praxis finden sich längst zahllose Beispiele neuartiger Kooperationen. So lässt sich neuerdings in Schleswig-Holstein eine ehrenamtlich verwaltete Gemeinde von einer 75 km entfernten Stadt, die noch

110

VII. Lösungsansätze

allem im ebenenübergreifenden föderalen Kontext94 – und insbesondere nach dem überkommenen Legitimationskonzept95 sind viele dieser neuen kooperativen Aufgabenerledigungen rechtlich fragwürdig oder gar unzulässig, werden aber längst praktiziert. Auch hier kann erst eine rechtliche Normierung des Gewollten die erforderliche Legitimation bewirken. So können für derartige Kooperationen – gerade auch in digitalen Netzwerken – mit Hilfe einer neuen Rechtsfigur, der Zuständigkeitsverzahnung, die einzelnen Legitimationsbausteine und Verantwortungszurechnungen auch für fluide Kooperationen normiert werden.96 Dabei ist zu bedenken, dass die Netzwerkstruktur ggf. auch die klassische Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft97 auflöst, die der klassischen Abwehrdimension der Grundrechte98, aber auch der Input-Legitimationsvorstellung zugrunde liegt. Dementsprechend ist die Präzisierung der Legitimationssubjekte in digitalen Räumen und bei vernetzter Herrschaftsgewalt erforderlich. Dies beginnt schon bei supranationaler Herrschaftsgewalt, deren plurale Legitimation Anerkennung finden muss, wenn systembedingte Legitimitätsdefizite vermieden werden sollen. Und es setzt sich fort bei digitalen Netzwerken, für die plurale Legitimationsmöglichkeiten anerkannt und normativ abgebildet werden müssen.99 dazu in einem anderen Landkreis liegt, mithilfe von Informations- und Kommunikationstechnik „aus der Ferne“ verwalten. Soziologische Betrachtung der menschlichen Kooperation bei Sennett, Zusammenarbeit – Was unsere Gesellschaft zusammenhält, 2014. 94 Dazu Schliesky, ZSE 6 (2008), 304 ff. 95 Beispielhaft BVerfGE 119, 331 ff. 96 Dazu näher Schliesky, in: Hill/Schliesky (Hrsg.), Herausforderung e-Government, 2009, S. 11 (17 ff.); ders., in: Schliesky (Hrsg.), Die Umsetzung der EUDienstleistungsrichtlinie in der deutschen Verwaltung, Teil II: Verfahren, Prozesse, IT-Umsetzung, 2009, S. 91 (114 f.); ders., NVwZ 2019, 693 (695 f.); zustimmend Ziekow, in: Schliesky (Hrsg.), Die Umsetzung der EU-Dienstleistungsrichtlinie in der deutschen Verwaltung, Teil II, S. 141 (158 f.). 97 Dazu Wolff, in: Hill/Schliesky (Hrsg.), Die Neubestimmung der Privatheit, 2014, S. 25 ff. 98 Dazu Muckel, VVDStRL 79 (2020), 245 ff.; Schliesky, in: Hill/Schliesky (Hrsg.), Die Neubestimmung der Privatheit, 2014, S. 9 (13 ff.); Schönberger, VVDStRL 79 (2020), 291 ff. 99 Zum politischen „Multiakteurssystem“ Floridi, Die 4. Revolution, 2015, S. 237 ff.; zur pluralen Legitimation Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 588 ff.; s. auch Schindler, VVDStRL 78 (2019), 167 (192 ff.).

3. Digitalisierung rechtlich gestalten

111

Aber noch wichtiger als die normative Abbildung neuer Entscheidungsprozesse in digitalen Netzwerken ist die inhaltliche Ausgestaltung der von der Digitalisierung geschaffenen „neuen Welt“, d. h. der digitalen Räume als auch der Reaktion auf die digital bewirkte Umgestaltung „klassischer“ analoger Räume. Der sachlich-inhaltlichen demokratischen Legitimation und damit der Rolle des Gesetzgebers kommt eine wachsende Bedeutung zu, wenn eine personelle demokratische Legitimation aufgrund von selbstlernenden und selbstentscheidenden Algorithmen nicht mehr ununterbrochen darstellbar ist. Den Bedrohungen der Menschenwürde durch Künstliche Intelligenz, der Zerstörung der demokratischen Öffentlichkeit durch soziale Netzwerke, private Torwächter und digitale Medienzersplitterung einschließlich kultureller Dominanz amerikanischer Streaming-Dienste muss rechtlich und mit klar definierten Inhalten entgegengetreten werden. „Fake-News“, Beeinflussungen von Wahlen und demokratischen Entscheidungsprozessen sind von Menschen gemacht – und müssen mit den Mitteln des Rechtsstaats bekämpft werden. Dem Unrecht muss das Recht entgegentreten – der Staat muss sich auf seine innere Souveränität und die von Staatszwecken und Staatszielen geprägte Legitimitätsidee besinnen, um einerseits die Verfolgung des Unrechts nicht Privaten zu überlassen100 und andererseits die Mittel der Digitalisierung nicht zur Negierung der grundrechtlichen Freiheiten (totale Sicherheit) und damit der Legitimitätsidee, die im Staat des Grundgesetzes durch Menschenwürde und grundrechtliche Freiheiten gekennzeichnet ist, zu missbrauchen. „Der Kampf ums Recht“ ist längst wieder ausgebrochen, es lohnt insoweit, an Rudolf von Jhering zu erinnern: „Ohne diesen Kampf, d. h. ohne den Widerstand, den es dem Unrecht entgegensetzt, würde das Recht sich selber verläugnen. So lange noch das Recht auf den Angriff von Seiten des Unrechts gefasst sein muss – und dies wird dauern, so lange die Welt steht – wird der Kampf dem Recht nicht erspart bleiben. Der Kampf ist mithin nicht etwas dem Recht

100 Dies ist der große Fehler in Gestalt des Verzichts auf die innere Souveränität beim Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Die Situation des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes, das letztlich nur eine staatliche Bitte an private Plattformbetreiber zur Löschung rechtswidriger und insbesondere strafwürdiger Inhalte vorsieht, würde in der analogen Welt bedeuten, dass die Polizei den Türsteher in der Diskothek bittet, die Straftaten in der Diskothek zu unterbinden. Die derzeit geplante Novellierung des NetzDG ändert an diesem souveränitäts- und damit legitimitätstheoretischen Konstruktionsfehler nichts. Zur Novelle Niggemann, CR 2020, 326 ff.

112

VII. Lösungsansätze

Fremdes, sondern er ist mit dem Wesen desselben unzertrennlich verbunden, ein Moment seines Begriffs.“101

4. Vertrauen zurückgewinnen: Staat als Orientierungspunkt in einer unübersichtlichen Welt Diesen Kampf können der Staat und seine Herrschaftsgewalt aber nur mit Legitimität führen – und diese besitzt er nur, wenn er das Vertrauen seiner Bürgerinnen und Bürger hat. Der Staat, seine Organe und deren Amtswalter müssen dieses Vertrauen bei den Bürgern erwerben, stetig erneuern und dauerhaft sichern.102 Die Bedeutung des Vertrauens für Legitimität wurde oben eingehend dargelegt103 – dieses Vertrauen schwindet aber derzeit in dramatischer Weise und aus vielerlei Gründen.104 Einer dieser Gründe und damit eines der drängendsten Probleme ist derzeit die Digitalisierung.105 Das Vertrauen benötigt die Legitimitätsidee als Orientierungsgröße: Die Herrschaftsunterworfenen müssen dauerhaft das Vertrauen haben, dass die Herrschaftsgewalt der Legitimitätsidee verpflichtet ist, ihr Handeln daran ausrichtet und diesbezüglich bestmögliche Ergebnisse erzielt. Die fehlende Legitimation für Einzelmaßnahmen kann hingenommen werden und unschädlich sein, weil und sofern sie durch das Vertrauen kompensiert wird, das für die Gesamtlegitimität der Herrschaftsgewalt erforderlich ist.106 Erst bei häufigem Fehlen der Einzellegitimation, 101 Von Jhering, Der Kampf ums Recht, unveränderter Nachdruck der 4. Aufl. 1874, S. 2. 102 Zutreffend Evangelische Kirche in Deutschland (Hrsg.), Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie, 1985, S. 20: „Politiker müssen dabei das Vertrauen bei den Bürgern erwerben. Der demokratische Staat ist darauf angewiesen, daß Politiker sich an ethischen Maßstäben messen und von anderen darauf ansprechen lassen. Hier wird es stets neben Anerkennung überzeugender Beispiele ein großes Maß an Zweifeln und enttäuschten Erwartungen geben. Politiker sind Menschen wie alle anderen auch.“ 103 S. o. V. 104 Näher Schliesky, Der demokratische Verfassungsstaat in Gefahr, 2019, S. 6 ff. 105 S. o. VI. 5. 106 S. Forst, Normativität und Macht, 2015, S. 188.

4. Vertrauen zurückgewinnen

113

strukturellen Mängeln der Legitimationsverfahren und/oder gravierenden illegitimen Einzelmaßnahmen schwinden Vertrauen und dann Legitimität. Das Vertrauen ist Kennzeichen und Bedingung der Reziprozität, die letztlich für alle Legitimitätstheorien, vor allem aber gesellschaftsvertragliche Entwürfe, wesentlich ist.107 Damit muss auch das Vertrauen in die Verantwortung des Staates und seiner Organe wie Erfüllung der grundlegenden Herrschaftszwecke und -ziele stetig vorhanden sein, um Legitimität zu erreichen und zu erhalten. Juristisch ist eine Norm „eine aus Verantwortung legitimierte Zuweisung von Verantwortung“108 – und in diese Beziehung muss Vertrauen des Legitimationssubjektes bestehen. Gerade mit Hilfe der Kategorie des „(öffentlichen) Amtes“ entsteht eine personalisierbare Verantwortung für verfassungsgebundene und an der Legitimitätsidee orientierte Herrschaftsausübung,109 für die ein entsprechendes Vertrauen der Legitimationssubjekte bestehen (Vorschuss an Vertrauen bei Amtsübernahme) und erhalten bleiben oder vermehrt werden muss. Bei Vertrauensverlust entfällt mittelfristig die Legitimität der konkreten Herrschaftsgewalt. Aus anderem Blickwinkel kann man dann Verantwortung auch als folgenbasierte Legitimation von Handlungen betrachten,110 die das legitimitätsrelevante Vertrauen ausfüllt. Mit diesem folgenbasierten Aspekt staatlicher Handlungen wird auch deutlich, dass nicht allein das Durchlaufen eines formalen Legitimations- bzw. Gesetzgebungsverfahrens ausreichend ist,111 da Vertrauen nicht (durch Gesetz) befohlen werden kann, sondern durch staatliches Tun oder Unterlassen erworben werden muss. 107 Di Fabio, Herrschaft und Gesellschaft, 2018, S. 39; ferner Forst, Normativität und Macht, 2015, S. 91; Rawls, Das Recht der Völker, 2002, S. 5. 108 Klement, in: Heidbrink/Langbehn/Loh (Hrsg.), Handbuch Verantwortung, 2017, S. 559 (564). 109 Vgl. Depenheuer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 3. Aufl. 2005, § 36 Rn. 4; Isensee, in: ders./Kirchof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IX, 3. Aufl. 2011, § 190 Rn. 154; Klement, in: Heidbrink/ Langbehn/Loh (Hrsg.), Handbuch Verantwortung, 2017, S. 559 (565); Schliesky, in: ders./Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa – Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig, 2011, S. 311 (322 ff.). 110 Heidbrink, in: ders./Langbehn/Loh (Hrsg.), Handbuch Verantwortung, 2017, S. 3 (15 ff.). 111 Bestätigend aus naturrechtlicher Perspektive Messner, Das Naturrecht – Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, 8. Aufl. 2018, S. 406 f.

114

VII. Lösungsansätze

Vertrauen kann nur entstehen und bestehen, wenn der Staat und seine Herrschaftsgewalt auch tatsächlich über die Fähigkeiten verfügen, in die vertraut werden soll. Diese Fähigkeiten sind traditionell – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – die Gewährleistung von Freiheit, Sicherheit, Frieden, Gerechtigkeit, Menschenwürde und Wohlergehen/Gemeinwohl.112 Wenn die Herrschaftszwecke auch im Prinzip seit frühester Staatsbildung unverändert sind, so verändert sich doch deren Gewichtung: Leben und Gesundheit, die lange Zeit im modernen Industriestaat als selbstverständlich und bis zu den Grenzen der Natur als ausgereizt galten, sind in Zeiten der Corona-Pandemie plötzlich (wieder) zum elementaren Herrschaftszweck geworden. Schon wenige Wochen später ist dann wieder die Freiheit stärker in den Fokus gerückt. Diese Fähigkeiten des Staates werden derzeit – durchaus berechtigt – in Zweifel gezogen, vor allem mit Blick auf die Digitalisierung. So bestehen etwa Zweifel an der Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr mit Blick auf digitale Angriffe („Cyberwar“), die Beherrschung und Bekämpfung von Internet-Kriminalität oder die digitale Überwachung durch private Konzerne und ausländische Staaten. Gerade mit Blick auf die Digitalisierung schwindet das Vertrauen auf den staatlichen Schutz der Menschenwürde, da der Staat bislang wenig zur Regulierung von künstlicher Intelligenz unternommen hat.113 Ebenfalls mit Blick auf die Digitalisierung wird ein im 19. Jahrhundert mit Recht als Kern der Staatswissenschaften angesehener Bereich, die Statistik114, in Gestalt des Vorhaltens möglichst umfassender und sachlicher Informationen sowie der Darbietung möglichst objektiven Wissens immer bedeutsamer: „Die Frage ist, ob eine Staatsorganisation noch funktional ist, bei der private Akteure mehr Wissen über den Staat und seine Bürger haben, als diese über sich selbst. Entsteht hier eine neue geheime „Polizey“, wie das in der frühen Neuzeit hieß? Eine Art privater Staat im Staate? Wird der (legitime) Staat bloß noch 112 Dazu Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 624 ff.; zum Gemeinwohl eingehend Messner, Das Naturrecht – Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, 8. Aufl. 2018. 113 Dazu Grunwald, Der unterlegene Mensch, 2019, S. 149 ff.; Schliesky, NVwZ 2019, 693 (698 f.); ders., NJW 2019, 3692 ff. 114 Etwa Lorenz von Stein, Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts, 1870, neu herausgegeben und eingeleitet von Utz Schliesky, 2010, S. 53: „Die Statistik ist ihrem Begriffe nach die Wissenschaft der Thatsachen überhaupt.“

4. Vertrauen zurückgewinnen

115

zu einem leeren Gehäuse? Was wäre, wenn Google Hinweise auf einen Staatsstreich hätte? Wäre das Unternehmen auskunftspflichtig? Inwieweit ist öffentliche Herrschaft unter dem Datenregime noch möglich? (…) Je mehr Tech-Konzerne mit Big Data-Methoden das Geschäft des Staates, nämlich die Statistik, betreiben, desto staatähnlicher und parasitärer wird ihre Organisationsform, und desto mehr höhlen sie Staatlichkeit von innen aus. (…) Ein Staat, der weniger über seine Bürger weiß als ein Konzern, ist allenfalls noch semi-souverän.“115 Diese Fragen sind mehr als berechtigt und bedürfen nicht nur einer eindeutigen Antwort, sondern auch entsprechender Betätigungen der Staatsgewalt. Es wurde oben gezeigt, dass gerade (staatliche) Informationen Bezugsobjekt des Vertrauens sind.116 Der Staat wurde über viele Jahrhunderte lang als Garant für Informationen und die Richtigkeit des weitergegebenen Wissens angesehen, auch dies begründete den Legitimitätsglauben der Bürger. Nun ist der Staat durch „das Netz“ bzw. die Omnipotenz und jederzeitige Verfügbarkeit des Schwarm-Wissens abgelöst worden. Für die Wiedererlangung des legitimitätsbegründenden Vertrauens in den Staat ist es daher auch erforderlich, dass der Staat wieder zum Informations- und Wissensgaranten wird. Informationen und Wissen sind in der das 21. Jahrhundert kennzeichnenden Informationsgesellschaft, die sich möglicherweise – mit Hilfe des Staates – auch zu einer Wissensgesellschaft weiterentwickelt, zentrale Elemente.117 Informationen und Wissen sind damit auch unabdingbare Voraussetzungen für gelingende politische Prozesse in der Demokratie.118 Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang insbesondere Art. 5 Abs. 1 S. 1, 3. Alt. GG, wonach jeder das Recht hat, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Diese Infor115 Lobe, Das digitale Arkanum, Süddeutsche Zeitung Nr. 269 vom 21. 11. 2019, S. 9. 116 S. o. V. 3. 117 Zur Informationsgesellschaft grundlegend Castells, Die Netzwerkgesellschaft 2001; ferner Steinbicker, Zur Theorie der Informationsgesellschaft, 2. Aufl. 2011. 118 So hat es etwa in Finnland der Staat veranlasst, dass 100.000 Bürger mit Hilfe eines kostenlosen Online-Kurses aus einer öffentlich-privaten Partnerschaft über Künstliche Intelligenz informiert wurden. S. Wieduwilt, Auch in Europa entscheiden längst Maschinen, FAZ Online vom 29. 1. 2019; Sachstand in ausgewählten Staaten: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Einsatz künstlicher Intelligenz in öffentlichen Verwaltungen ausgewählter Länder, WD 10 – 3000 – 037/19.

116

VII. Lösungsansätze

mationsfreiheit ist für die demokratische Staatsform von grundlegender Bedeutung, indem sie verfassungsrechtlich eine demokratische Öffentlichkeit objektiv gewährleistet und so sowohl eine zentrale Legitimationsvoraussetzung119 als auch die Kontrolle der Ausübung von Staatsgewalt gewährleistet.120 Die objektive Schutzpflichtdimension dieser Informationsfreiheit führt zu einer aus der Verfassung folgenden objektiven Verpflichtung des Staates, die Wahrnehmung der Informationsfreiheit (und der anderen Kommunikationsfreiheiten) durch die Bürger zu sichern und zu fördern. Aus Art. 5 Abs. 1 S. 1, 3. Alt. GG folgt daher auch das Gebot zur Gewährleistung eines „unabdingbaren Mindestmaßes an Zugänglichkeit“121 sowie zur Sicherung einer angemessenen Kommunikationsinfrastruktur.122 Damit besteht jedenfalls eine staatliche Garantenstellung für Informationen und Wissen gegenüber der Öffentlichkeit, also gegenüber der Summe der grundrechtlichen „Jedermanns“. In der sich aktuell rasant verändernden Informations-, Kommunikations- und Medienlandschaft trifft den Staat mit all seinen Verfassungsorganen die Aufgabe, derartige Entwicklungen genau zu beobachten, um auch weiterhin eine freiheitliche Informations- und Kommunikationsordnung zu gewährleisten.123 Inwieweit nun angesichts der Bedrohung demokratischer Prozesse durch (gezielt) eingesetzte „Fake-News“ auch eine Garantenstellung des Staates für ein Mindestmaß an richtigen und beeinflussungsfreien Informationen entsteht, ist ein bislang wenig diskutiertes, aber drängendes Problem. Nach hier vertretener Auffassung wird auch eine solche Garantenstellung für die Richtigkeit eines Mindestmaßes demokratisch re119

S. o. IV. BVerfGE 20, 162 (175); 35, 202 (222); Beater, Medienrecht, 2007, Rn. 8 ff.; Hoffmann-Riem, Der Staat 42 (2003), 193 (211 ff.); Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band I, 3. Aufl. 2013, Art. 5 I, II Rn. 40. 121 BVerfGE 103, 44 (60 f., Rn. 59 ff.); Kube, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 91 Rn. 27; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band I, 3. Aufl. 2013, Art. 5 I, II Rn. 221. 122 Hoffmann-Riem, in: AK-GG, Art. 5 I, II (2001) Rn. 112, 182 ff.; Kube, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 91 Rn. 28, 83 f.; eingehend Guckelberger, in: Hill/Schliesky (Hrsg.), Die Vermessung des virtuellen Raumes, 2012, S. 73 ff. 123 Kube, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 3. Aufl. 2006, § 91 Rn. 30; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 5 I, II Rn. 240. 120

4. Vertrauen zurückgewinnen

117

levanter Informationen zu bejahen sein. Denn das Vertrauen in die amtliche Autorität staatlicher Informationen darf nicht nur nicht unterschätzt werden124, sondern die Richtigkeit als Maßstab staatlichen Handelns findet sich bereits als verfassungsrechtliche Bezugsgröße für die Umsetzung von Staats- und Herrschaftszielen sowie ihren einfach- oder untergesetzlichen Konkretisierungen.125 Diese Aufforderung darf nicht missverstanden werden als Aufforderung an den digitalen Staat, seine Bürger lückenlos zu überwachen und über diese umfassende Informationen zu sammeln.126 Eine solche Verhaltensweise wird gerade kein Vertrauen generieren und jedenfalls die demokratische Legitimität entfallen lassen. Vielmehr geht es um Informationen für die Bürger. Hilfreich sind dann eher „Open Data“-Ansätze,127 die in ihren aktuellen Ausprägungen und angesichts der aktuellen digitalen Handlungsfähigkeit des ( jedenfalls deutschen) Staates allerdings die Gefahr der weiteren Staatsüberforderung in sich bergen. Der Schwerpunkt sollte daher eher in der Quellen- und Informationsbewertung liegen, um die soeben dargestellte Schutzpflicht aus Art. 5 Abs. 1 S. 1, 3. Alt. GG zu aktualisieren. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Aufbau von Vertrauen gerade in Netzwerken eine entscheidende Rolle spielt. Denn mit Hilfe dieses Vertrauens entsteht die verbindliche und verbindende Identität des Netzwerks, indem es den Mitgliedern das Recht auf eine partiell autonome Operationsweise zubilligt und sich nicht in den Kern ihrer Selbststeuerung einmischt.128 „Vertrauen als notwendige Voraussetzung für die Stabilität von Netzwerken wird sich zum operativen Steuerungsmedium entwickeln (…).“129 Insoweit gibt es neuere normative Ansatzpunkte, die Hoffnung auf die Umsetzung der dargestellten Notwendigkeiten machen: Anzuführen ist 124 Zutreffend Gramm, Der Staat 30 (1991), 51 (52); Guckelberger, in: Hill/ Schliesky (Hrsg.), Die Vermessung des virtuellen Raumes, 2012, S. 73 (77). 125 Dazu eingehend Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 645 ff. 126 Die Volksrepublik China dient insoweit als abschreckendes Beispiel des digitalen Totalitarismus. 127 Dazu Heinemann, in: Seckelmann (Hrsg.), Digitalisierte Verwaltung – Vernetztes E-Government, 2. Aufl. 2019, Kap. 5 Rn. 71 f.; Schulz, VerwArch. 104 (2013), 327 ff. 128 Willke, Systemtheorie III: Steuerungstheorie, 4. Aufl. 2014, S. 106. 129 Willke, Systemtheorie III: Steuerungstheorie, 4. Aufl. 2014, S. 144.

118

VII. Lösungsansätze

insoweit etwa der auf der Kompetenzgrundlage des Art. 91c Abs. 5 GG verabschiedete § 3 Abs. 1 Online-Zugangsgesetz (OZG), der mit Hilfe des Portalverbundes sicherstellen will, dass Nutzer über alle Verwaltungsportale von Bund und Ländern einen barriere- und medienbruchfreien Zugang zu elektronischen Verwaltungsleistungen und damit auch Informationen dieser Verwaltungsträger erhalten. Darüber hinaus sind die zahlreichen Open Data-Projekte von Bund, Ländern, Kommunen und anderen Verwaltungsträgern Bausteine für die Umsetzung dieser staatlichen Informationsgarantenstellung, auch wenn es sich dabei in der Regel nur um Rohdaten handelt.130 Open Data findet seine Grundlage in § 12a EGovG und ist durch zahlreiche Handreichungen, beispielsweise des Bundesministeriums des Innern, konkretisiert worden. Hier fehlt es allerdings noch an der Koordinierung, da die föderal verteilte Datenmenge wenig geeignet ist, den Informationsbedarf von „normalen“ Bürgern zu befriedigen. Und neben der positiven Informationsseite darf nicht übersehen werden, dass zu radikale Open Data-Konzepte geeignet sind, die Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft zu nivellieren und damit die Legitimationsbasis staatlicher Herrschaft zu zerstören.131 Zu einer Verstärkung bürgerlicher Informiertheit können auch die Informationszugangs- und Informationsfreiheitsgesetze beitragen, die auf Bundesebene und in ca. der Hälfte der Bundesländer existieren; gleiches gilt für das europarechtlich motivierte Umweltinformationsgesetz. So räumt beispielsweise § 1 Abs. 1 IZG SH einen voraussetzungslosen Informationsanspruch ein. Auch wenn die Informationszugangsgesetze für Verwaltungen arbeitsreich sind und unangenehm sein können, so sind sie ein relevanter Baustein zur Wiedererlangung der Stellung des Staates als Informationsgarant. Dazu tragen auch zum Teil vorgesehene Transparenzregister (z. B. § 11 IZG SH) bei, sofern sie sich auf staatliche Informationen konzentrieren.132 Und das Bundesverfassungsgericht hat jüngst 130 Neumann, in: Seckelmann (Hrsg.), Digitalisierte Verwaltung – Vernetztes E-Government, 2. Aufl. 2019, Kap. 24 Rn. 71 ff. 131 Zutreffend von Lewinski, in: Hill/Schliesky (Hrsg.), Die Neubestimmung der Privatheit, 2014, S. 53 ff.; s. ferner Schliesky, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Handbuch des Parlamentsrechts, 2016, § 5 Rn. 42 ff., § 51 Rn. 68. 132 Zur Transparenz Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, 2004; Groß, in: Broemel/Pilniok (Hrsg.), Die digitale Gesellschaft als Herausforderung für das Recht in der Demokratie, 2020, S. 27 ff.; Rossi, Informationszugangsfreiheit und Verfassungsrecht, 2004; Trute, VVStRL 57 (1998), 216 (251 f.).

5. Neuformierung der Öffentlichkeit

119

das „Recht auf Vergessen“133 in der Abwägung zwischen Persönlichkeitsrecht, Pressefreiheit und Öffentlichkeitsinteresse bezüglich Inhalt und Zeitabhängigkeit konkretisiert.134 Dabei geht es nicht darum, einer staatlichen Informations- und Wissenszentralisierung das Wort zu reden – eine solche wäre im Übrigen schon aus grundrechtlichen Erwägungen (Art. 5, 12 GG) unzulässig. Davon ist der deutsche Staat momentan allerdings auch weit entfernt, obwohl die digitalen Möglichkeiten eine Monopolisierung ermöglichen, wie das abschreckende Beispiel Chinas beweist. Es geht aber darum, dass der Staat und seine Herrschaftsgewalt das für die Legitimität erforderliche Vertrauen der Bürger zurückgewinnen können, und zwar in digitalen Räumen vor allem durch das Vorhalten möglichst neutraler und objektiv zutreffender Informations- und Wissensangebote. Der Staat hat aufgrund Art. 5 GG eine Verantwortung für die Erhaltung, ggf. auch Schaffung eines funktionsfähigen Informationssystems als Grundlage der öffentlichen Meinungsbildung135 – und das gilt auch und gerade in einem digitalen Umfeld.

5. Neuformierung der Öffentlichkeit als Grundlage legitimer Staatswillensbildung Das Schwinden der demokratischen Öffentlichkeit wurde oben136 beschrieben. Die Zersplitterung, Parzellierung und Auflösung demokratischer Öffentlichkeit(en) könnte man unter einem weiteren „Strukturwandel der Öffentlichkeit“137 abbuchen, wie er sich mit den Veränderungen der Medien und der technischen Möglichkeiten historisch in unterschiedlicher Intensität, aber doch stets vollzogen hat.138 133

Grundlegend EuGH, NJW 2014, 2257 ff., dazu Nolte, NJW 2014, 2238 ff.; s. nun jüngst EuGH, NJW 2019, 3499 ff.; EuGH, NJW 2019, 3503 ff. 134 BVerfG, B. v. 6. 11. 2019, 1 BvR 16/13, NVwZ 2020, 53 ff. (Recht auf Vergessen I), B. v. 6. 11. 2019, 1 BvR 276/17, NVwZ 2020, 63 ff. (Recht auf Vergessen II). 135 Di Fabio, Grundrechtsgeltung in digitalen Systemen, 2016, S. 91, 94. 136 S. o. VI. 6. 137 Prägend Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1962/1990. – Dazu jüngst Gabriel, Fiktionen, 2020, S. 605 ff. 138 Dazu beispielhaft Blanning, Das alte Europa 1660 – 1789, 2006, S. 105 ff.; Burke, Papier und Marktgeschrei – Die Geburt der Wissensgesellschaft, 2000/2014; Gerhardt, Öffentlichkeit, 2012, S. 48 ff.; Hohendahl, in: ders. (Hrsg.), Öffent-

120

VII. Lösungsansätze

Da „Öffentlichkeit“ aber eine zentrale Voraussetzung und Funktionsbedingung demokratischer Legitimität ist, kann es dem am Erhalt des demokratischen Verfassungsstaates Interessierten nicht gleichgültig sein, wenn sich an dieser Öffentlichkeit etwas verändert. Öffentlichkeit ist nun einmal „die basale Legitimitätsbedingung des Politischen“139, und „mit dem Zerfall des öffentlichen Raumes verschwindet das Fundament für jene Demokratie, die auf der Herausbildung eines gemeinsamen Willens im öffentlichen Raum beruht“.140 Einen maßgeblichen, wenn auch nicht alleinigen Einfluss auf dieses (Ver-)Schwinden der bislang bekannten demokratischen Öffentlichkeit hat die Digitalisierung.141 Zum einen erleben wir eine neue Privatisierung der Öffentlichkeit, der gerade die öffentlich-rechtlichen Medien bislang wenig bis nichts entgegenzusetzen haben, denn anders als zu Beginn des Internets erfolgt der Zugang zu Diskussionsforen und damit zu Teilhabern in Meinungsbildungsprozessen nur noch über „Gatekeeper“ bzw. Torwächter in Gestalt von marktbeherrschenden Internetkonzernen. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz142 ist ein in vielerlei Hinsicht untauglicher Versuch, und auch an der Torwächter-Funktion für den Zugang zur Quasi-Öffentlichkeit ändert es überhaupt nichts. Zum anderen entstehen „persönliche Öffentlichkeiten“, bei denen Informationen nach der von einem Algorithmus kalkulierten individuellen Relevanz sortiert werden,143 sowie die sich selbst verstärkenden Echokammern bzw. Filterblasen in sozialen Netzwerken. Der lichkeit – Geschichte eines kritischen Begriffs, 2000, S. 8 ff.; Schiewe, Öffentlichkeit – Entstehung und Wandel in Deutschland, 2004, S. 19 ff.; Schorn-Schütte, Geschichte Europas in der Frühen Neuzeit, 3. Aufl. 2019, S. 290 ff. 139 Gerhardt, Öffentlichkeit, 2012, S. 349. 140 Han, Digitale Rationalität, 2013, S. 11; zur Bedeutung und Veränderung des Raumes im Kontext moderner Informations- und Kommunikationstechnik Schliesky, in: Hill/Schliesky (Hrsg.), Die Vermessung des virtuellen Raumes, 2012, S. 9 (10 f.). 141 Dazu näher Schliesky, Der Staat zwischen Vergangenheit und Zukunft, 2017, S. 19 (28 ff.); (zu) zurückhaltend hinsichtlich des Erkenntnisstandes Hofmann, in: Fücks/Schmid (Hrsg.), Gegenverkehr – Demokratische Öffentlichkeit neu denken, 2018, S. 123 (125). 142 Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG) vom 01. 09. 2017, BGBl. I 2017 S. 3352, in Kraft getreten am 1. 10. 2017; zur beabsichtigten Novellierung Niggemann, CR 2020, 326 ff. 143 Hofmann, in: Fücks/Schmid (Hrsg.), Gegenverkehr – Demokratische Öffentlichkeit neu denken, 2018, S. 123 (129).

5. Neuformierung der Öffentlichkeit

121

Befund lässt sich auch so beschreiben: „Diskurse zerfasern und disaggregieren.“144 Diese von der Digitalisierung bewirkte neuartige Situation wirkt auch auf die institutionalisierte Öffentlichkeit zurück145. Auch die moderne Demokratie beruht auf Fiktionen und arbeitet mit Fiktionen, zu denen auch die „Öffentlichkeit“ gehört. Man mag insoweit auch von einem „Mythos“ der Öffentlichkeit sprechen146, der als Gegenpol die Privatheit, das Nicht-Öffentliche oder sogar das Geheimnis braucht. Eine „totale Öffentlichkeit“ kann und darf es nicht geben, weil ansonsten die Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft eingeebnet werden würde147 und in einem derartigen Staate totaler Transparenz kein Raum mehr für grundrechtlich geschützte Privatheit wäre. Um der Vernunft willen, die für Demokratie- und Republikprinzip wesenshaft ist und von diesen verlangt wird, müssen Fiktionen und Mythen aber so weit wie möglich zurückgedrängt werden.148 Das Mittel zum Eindämmen von Mythen und Fiktionen ist die Aufklärung in Gestalt zutreffender und richtiger staatlicher Informationen, wie es im vorigen Kapitel149 dargelegt wurde.150 Dementsprechend funktionieren der demokratische Diskurs und die darauf basierende Legitimationsfunktion des demokratischen Wettbewerbs nur bei einer öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzung der verschiedenen Konzepte und Ideen, für die ein Mindestmaß an Rationalität gilt. Zugleich bedarf demokratische Willensbildung einer dauerhaften Kultivierung, vor allem in Gestalt einer Gewährleistung eines Meinungs- und Willensbildungsprozesses auf der Grundlage garantierter freier Meinungsäußerung.151 Das Bundesverfassungsgericht hebt dementsprechend die Bedeutung der grundrechtlichen Meinungsfreiheit 144 Gärditz, Der Staat 54 (2015), 113 (130); s. auch Vesting, Staatstheorie, 2018, Rn. 311. 145 Zutreffend Vesting, Staatstheorie, 2018, Rn. 311. 146 So Schmid, in: Fücks/Schmid (Hrsg.), Gegenverkehr – Demokratische Öffentlichkeit neu denken, 2018, S. 104 (120 f.). 147 Schliesky, in: Hill/Schliesky (Hrsg.), Die Neubestimmung der Privatheit, 2014, S. 9 (13 ff.); Wolff, ebd., S. 25 ff. 148 Zutreffend Messner, Das Naturrecht, Teilband II, 8. Aufl. 2018, S. 830. 149 S. o. VII. 4. 150 Ebenso Messner, Das Naturrecht, Teilband II, 8. Aufl. 2018, S. 830: „Sind die der öffentlichen Meinung zugrundeliegenden Tatsachen unvollständig oder entstellt, dann muss die politische Willensbindung notwendig in die Irre gehen.“ 151 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 17. Aufl. 2017, S. 102.

122

VII. Lösungsansätze

(Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) für die politische Willensbildung hervor und sieht Informations- und Meinungsfreiheit als „für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend“ an.152 Es ist nochmals daran zu erinnern, dass gerade die parlamentarische Öffentlichkeitsfunktion bis heute unabdingbare Voraussetzung für das Entstehen einer öffentlichen Meinung ist, die in historischer Perspektive ein Ergebnis der Aufklärung ist und seinerzeit das Kennzeichen bürgerlicher Forderungen zur Durchsetzung von Vernunft war.153 „Der beständige kritische Dialog zwischen dem Parlament und den gesellschaftlichen Kräften erweist sich insgesamt für die Legitimität demokratischer Ordnung als ebenso wichtig wie der Wahlakt selbst.“154 An die Stelle einer letzten, nur dem Glauben zugänglichen Wahrheit tritt im modernen demokratischen Staat die auf vernünftigen Erwägungen beruhende, im öffentlichen Diskurs gefundene und möglichst der Richtigkeit verpflichtete Entscheidung. „Öffentliche Meinung wird damit für den Funktionsbereich der Politik zum Wahrheitsäquivalent.“155 Das demokratische Modell und damit die Legitimität der Herrschaftsgewalt geraten in Gefahr, „wenn der Diskurs von Emotionen, Ängsten und Hysterie geprägt wird.“156 Zugleich ist dann aber auch eine Entmoralisierung der öffentlichen Diskurse erforderlich: Denn war seit Max Weber die Verantwortungsethik an sich das vorzugswürdige ethische Leitmuster für Politik im modernen Verfassungsstaat157, so scheint in letzter Zeit doch wieder die Gesin152

BVerfGE 7, 198 (208); 12, 113 (125); 20, 56 (97); 35, 202 (221); 69, 315 (344 ff.); 77, 65 (74); 102, 347 (363); s. auch BVerfGE 124, 300 (320 f.), zu den Grenzen der Meinungsfreiheit; aus der Literatur Schmidt-Jortzig, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band VII, 3. Aufl. 2009, § 162 Rn. 9; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 1, 3. Aufl. 2013, Art. 5 I, II Rn. 43. – Zum Verhältnis zwischen Meinungsfreiheit und Wahrheitspostulat Steinbach, JZ 2017, 653 (655 ff.). 153 Dazu Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, D 17; Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1962/1990, S. 56; Heller, Staatslehre, 1934, S. 173 ff.; Honneth, Das Recht der Freiheit, 2011, S. 474 ff.; Schliesky, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Handbuch des Parlamentsrechts, 2016, § 5 Rn. 35 ff. 154 Dreier, in: Stekeler-Weithofer/Zabel (Hrsg.), Philosophie der Republik, 2018, S. 37 (50). 155 Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, 2008, S. 280. 156 Boehme-Neßler, Das Ende der Demokratie?, 2018, S. 53. 157 Weber, Politik als Beruf, in: Mommsen/Schluchter (Hrsg.), Wissenschaft als Beruf / Politik als Beruf, 1992/2020, S. 237 ff.

5. Neuformierung der Öffentlichkeit

123

nungsethik bei handelnden Akteuren zu überwiegen, wie sich an einer zunehmend zu beobachtenden Moralisierung der Politik beobachten lässt. So tragen beispielsweise große Teile der aktuellen Klimadebatte gesinnungsethische Züge. Problematisch ist, dass eine derartige Moralisierung zunehmend anstatt rationaler Kriterien zum Kontroll- und Bewertungsmaßstab bei politischen Bewertungen wird. Auch wenn diese Problemlage vielleicht ein generelles Phänomen von Politik und Gesellschaft in der Gegenwart ist, wirkt sie sich aber wirksamkeitsmindernd in politischen Zusammenhängen und vor allem bei parlamentarischen Beratungen und Beschlussfassungen aus. Denn Grundlage der parlamentarischen Tätigkeit ist der Einklang von Kontrolle, Öffentlichkeit und Vernunft. Öffentlichkeit war und ist seit dem 18. Jahrhundert das Mittel zur Durchsetzung von Vernunft.158 Anstatt rationaler Kriterien wird bei politischen Wertungen nun aber zunehmend auf eine tagesaktuelle Moralisierung gesetzt. Dies ist vor allem für politische Reaktionen in sozialen Netzwerken typisch und vermutlich zugleich Folge der Umsetzung von Erkenntnissen der Hirnforschung in verhaltenspsychologische Beeinflussungsmuster, wie sie in Wahlkampfzentralen zunehmend konzipiert und mit digitalen Mitteln umgesetzt werden.159 Die fundierte Kontrolle, Bewertung und Verabschiedung politischer Entscheidungen benötigt jedenfalls mehr Zeit und Aufwand als ein vom Hörensagen sowie moralischen Bauchgefühlen geprägter Tweet. Diese zunehmende Verschiebung von öffentlichen Diskursen muss daher Sorge bereiten, wenn die Grundpfeiler des die Öffentlichkeit herstellenden Diskurses wegbrechen und nicht mehr konsentiert sind. Für die konkret zu leistende Legitimation von Herrschaftsgewalt wäre viel gewonnen, wenn die im Diskurs beteiligten Akteure sich wieder verdeutlichen könnten, dass sie die Wahrheit nicht gepachtet haben und Moralisierungsdiskurse die Mühe rationaler Diskussionen nicht ersetzen können. Hier sind ganz konkret neben den politischen Akteuren auch Journalisten, Berichterstatter und andere am

158

Luhmann, Die Realität der Massenmedien, 4. Aufl. 2009, S. 127. Zur Bekämpfung der „Stimmungsdemokratie“ Geiger, Demokratie ohne Dogma, 4. Aufl. 1991, S. 368 ff.; Rehbinder, Rechtssoziologie, 8. Aufl. 2014, Rn. 209; s. auch Schorkopf, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise, 2016, S. 11 ff. 159

124

VII. Lösungsansätze

Politikbetrieb Beteiligte gefordert, ihrerseits aufklärerisch zu helfen, anstatt selbst moralisierende „Haltungen“ zu vertreten und zu fordern.160 Die Digitalisierung bewirkt in Bezug auf die Öffentlichkeit ein Paradox: Mit Hilfe des Internets, seinem zeitlich unbegrenztem Gedächtnis161, der stetigen Überwachung durch digital vernetzte Geräte und das Publizitätsbedürfnis vieler Menschen gerät die Privatheit in Gefahr162; derzeit erleben wir insoweit geradezu eine Explosion des Öffentlichen.163 Zum anderen löst sich aber – wie gezeigt – die mit Hilfe von Parlamenten und Massenmedien geschaffene demokratische und politische Öffentlichkeit auf 164 und mit ihnen legitimatorische Erklärungsmodelle.165 Dieses Paradox bedeutet für die Legitimität von Herrschaftsgewalt eine doppelte Bedrohung: Zum einen bricht mit der demokratischen Öffentlichkeit eine zentrale Funktionsbedingung für bisherige Legitimationsprozesse weg, und zum anderen ist der Staat wehr- und hilflos ange160

Zur „Ideologiekritik“ Lübbe, Politischer Moralismus, 2019, S. 74 ff.; Rehbinder, Rechtssoziologie, 8. Aufl. 2014, Rn. 209. 161 Dazu nun grundlegend BVerfG, B. v. 6. 11. 2019, 1 BvR 16/13 (Recht auf Vergessen I), Ls. 2 2.b), NVwZ 2020, 53: „Bei der Entscheidung über einen Schutzanspruch kommt der Zeit unter den Kommunikationsbedingungen des Internets ein spezifisches Gewicht zu. Die Rechtsordnung muss davor schützen, dass sich eine Person frühere Positionen, Äußerungen und Handlungen unbegrenzt vor der Öffentlichkeit vorhalten lassen muss. Erst die Ermöglichung eines Zurücktretens vergangener Sachverhalte eröffnet den Einzelnen die Chance zum Neubeginn in Freiheit. Zur Zeitlichkeit der Freiheit gehört die Möglichkeit des Vergessens.“ S. auch BVerfG, aaO., Rn. 101 ff. 162 Nassehi, Muster – Theorie der digitalen Gesellschaft, 2019, S. 293 ff.; Schliesky, in: Hill/Schliesky (Hrsg.), Die Neubestimmung der Privatheit, 2014, S. 9 ff. – S. auch BVerfG, B. v. 6. 11. 2019, 1BvR 16/13, Rn. 108: „Denn die Selbstbestimmung in der Zeit ist eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens. Eine Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft kann nur erwartet werden, wenn insoweit ein hinreichender Schutz gewährleistet ist.“ 163 S. Han, Die Austreibung des Anderen, 2016, S. 7 ff. 164 Han, Digitale Rationalität, 2013, S. 7; aus journalistischer Perspektive Piper, Wir Untertanen, 2019, S. 47 ff. 165 Zutreffend Han, Digitale Rationalität, 2013, S. 16: „Der heute Digital Turn stellt Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns radikal infrage. Auf Blogs und in den sozialen Medien, die heute den öffentlichen Raum bilden oder ersetzen, findet kein Diskurs statt. Sie bilden keine Öffentlichkeit. Die digitalen Medien sorgen dafür, dass die Gesellschaft immer ärmer an Diskurs wird.“

5. Neuformierung der Öffentlichkeit

125

sichts der explodierenden veröffentlichten Privatheit, so dass er seiner Schutzfunktion oder gar Schutzpflicht für die Würde, Selbstbestimmung, Privatsphäre und Persönlichkeit des Individuums immer weniger genügen kann. Nicht verschwiegen werden soll, dass die – aus hiesiger Sicht nicht legitime – Herrschaftsgewalt in manchen Staaten die Auflösung der Privatheit und Herstellung totaler Transparenz zur totalen Kontrolle ihrer Bürger nutzt.166 Die Sicherstellung oder vermutlich eher Neuformierung einer demokratischen Öffentlichkeit ist somit eine Schlüsselaufgabe im Rahmen der Lösungsansätze.167 Solange keine völlig andere Legitimationstheorie in Sicht ist – und eine Theorie demokratischer Legitimation ohne Öffentlichkeit dürfte auch nicht denkbar sein168 –, muss also vor allem im Tatsächlichen eine Anpassung der Öffentlichkeit an die gewandelten tatsächlichen und technischen Verhältnisse erfolgen. Der „Strukturwandel der Öffentlichkeit“169, den es seit der Existenz von Herrschaftsorganisationen gibt,170 ist mithin nach Erreichen der aktuellen Konzeption der 166 Treffend Han, Transparenzgesellschaft, 2. Aufl. 2012, S. 72: „Schon bei Rousseau lässt sich beobachten, dass die Moral totaler Transparenz notwendig in Tyrannei umschlägt. Zur Gewalt führt das heroische Projekt der Transparenz, alle Schleier zerreißen, alles ans Licht bringen, jedes Dunkel vertreiben zu wollen.“ – S. auch Gabriel, Fiktionen, 2020, S. 613: „Die Krise der Öffentlichkeit liegt in dieser Optik darin, dass die institutionelle Regulierung des Veröffentlichten durch die neuen Plattformen unmittelbarer Publizität derart geschwächt wird, dass sich die Privatsphäre rasant auflöst.“ 167 Treffend Nassehi, Muster – Theorie der digitalen Gesellschaft, 2019, S. 317, bezogen auf die Privatheit. 168 Zu dieser Verbindung Ingold, Der Staat 56 (2017), 491 (528 ff.). 169 Wirkmächtig und aus heutiger Sicht beschreibend Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1962/1990; zur Neuentwicklung Ackermann, Das Schweigen der Mitte, 2020, S. 33 ff.; Nassehi, Muster – Theorie der digitalen Gesellschaft, 2019, S. 300 ff.; Schliesky, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Handbuch des Parlamentsrechts, 2016, § 51 Rn. 65 ff. 170 Von der demokratischen Öffentlichkeit einer Agora in Griechenland (dazu etwa Bringmann, Das Volk regiert sich selbst, 2019, S. 39 ff.; Nippel, Antike oder moderne Freiheit?, 2008, S. 43 ff.; Nolte, Was ist Demokratie?, 2012, S. 26 ff.) über die „res publica“ in Rom (grundlegend Cicero, De re publica/Über den Staat, übersetzt von Walther Sontheimer, 1956/1983; s. auch Nolte, Was ist Demokratie?, 2012, S. 38 ff.) zu den lehns- und standesrechtlich geprägten Repräsentationsformen des Mittelalters (dazu etwa Oschema, in: Kinztinger/Schneidmüller (Hrsg.), Politische Öffentlichkeit im Spätmittelalter, 2011, S. 41 ff.; s. auch Althoff, Kontrolle der Macht, 2016) reicht die Entwicklung vor der Herausbildung der neu-

126

VII. Lösungsansätze

Öffentlichkeit im demokratischen Verfassungsstaat des 20. Jahrhunderts keineswegs beendet, sondern schreitet weiter und derzeit mit großen Schritten voran. Der für Öffentlichkeit erforderliche „herrschaftsfreie Diskurs“171 findet derzeit aber immer weniger statt. An beiden Strängen des Paradoxons ist anzusetzen, wenn demokratische Legitimation herstellbar und z. B. die Öffentlichkeitsfunktion des Parlaments172 erhalten bleiben soll. Für die Weiterentwicklung der demokratischen Öffentlichkeit ist es beispielsweise denkbar, entsprechend dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen auch eine öffentlichrechtliche demokratische Plattform im digitalen Netz bereitzustellen, auf der Parlamente, Regierungen, Politiker, Journalisten und Bürger kommunizieren.173 Die „Privatisierung“ politischer Meinungsäußerungen über von privaten Gatekeepern bzw. Torwächtern beherrschte „soziale“ Netzwerke muss ja nicht hingenommen werden. Schwieriger ist die Neuformierung des anderen Stranges, da es von dem grundrechtlich geschützten Verhalten der Legitimationssubjekte abhängt, ob und wie weit sie ihre Privatheit aufgeben bzw. weiterhin an der demokratischen Öffentlichkeit teilhaben. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinen jüngsten Entscheidungen zum „Recht auf Vergessen“174 die persönlichkeitsrechtliche Abwehrdimension, und zwar im Wege mittelbarer Drittwirkung auch gegenüber privaten Betreibern digitaler Plattformen, gestärkt, doch hilft dies auch nicht bei freiwilliger Verlagerung der Individuen in die digitale Netzöffentlichkeit. Erforderlich wäre eine „Rekonstitution des Allgemeinen“ in einer sich digital vereinzelnden zeitlichen Öffentlichkeit, die mit der Erfindung des Buchdrucks beginnt (dazu etwa Burke, Papier und Marktgeschrei, 2000/2014). 171 Um noch einmal eine Grundbedingung für dieses Modell von Habermas zu zitieren, s. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 8. Aufl. 2011. 172 Dazu Schliesky, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Handbuch des Parlamentsrechts, 2016, § 5 Rn. 35 ff. 173 Vorschlag eines digitalen demokratischen Netzwerks von Schliesky, NVwZ 2019, 693 (701); ähnliche Gedanken bei dem ARD-Vorsitzenden Ulrich Wilhelm, FAZ Nr. 38 v. 14. 02. 2019, S. 8. – S. nun auch Kagermann/Wilhelm (Hrsg.), European Public Sphere – Gestaltung der Digitalen Souveränität Europas, www.aca tech.de/european-public-sphere (zuletzt aufgerufen am 14. 7. 2020). 174 BVerfG B. v. 6. 11. 2019, 1 BvR 16/13, NVwZ 2020, 53 ff. (Recht auf Vergessen I); B. v. 6. 11. 2019, 1 BvR 276/17, NVwZ 2020, 63 ff. (Recht auf Vergessen II); ferner BVerfG, B. v. 25. 02. 2020, 1 BvR 1282/17; B. v. 23. 06. 2020, 1 BvR 1240/14.

5. Neuformierung der Öffentlichkeit

127

Gesellschaft.175 Denn das Zeitbudget für Information, (echte) Kommunikation und politischen Diskurs ist zwangsläufig begrenzt und wird durch das mit zahlreichen verhaltenspsychologischen Anreizen versehene „Netzleben“ immer geringer. Bei einer pessimistischen Betrachtungsweise könnte man zu dem Fazit gelangen, dass die demokratische Öffentlichkeit aufgrund des sich segregierenden Verhaltens der Legitimationssubjekte nur noch als historisches Anschauungsobjekt eignet: „Die sozialen Asymmetrien und kulturellen Heterogenitäten, welche dieser Strukturwandel der Moderne potenziert, seine nicht planbare Dynamik von Valorisierungen und Entwertungen, seine Freisetzung positiver und negativer Affekte lassen Vorstellungen einer rationalen Ordnung, einer egalitären Gesellschaft, einer homogenen Kultur und einer balancierten Persönlichkeitsstruktur, wie sie manche noch hegen mögen, damit als das erscheinen, was sie sind: pure Nostalgie.“176 So negativ muss es nach hier vertretener Auffassung allerdings nicht kommen. Denn im Idealfall bieten die Möglichkeiten der Digitalisierung jedem Individuum relativ niederschwellig die Möglichkeit zum aktiven Einbringen, zu Meinungsäußerungen und zum politisch motivierten Zusammenschluss,177 wie etwa der Austausch und die Organisation aktueller Umwelt- und Klimaschutzgruppen zeigen, sofern sie im Rahmen der Verfassungsordnung bleiben. In der Tat ist nicht auszuschließen, dass gut informierte – dies ist allerdings die Voraussetzung! – Bürger eine sogar bessere demokratische Öffentlichkeit herstellen, als es die bekannten Medien bislang getan haben, denn auch diese haben neben der Herstellung von Öffentlichkeit für bestimmte Thesen die Öffentlichkeit als Torwächter durchaus verhindert – sie nehmen nun einmal eine Filter- und Kanalisierungsfunktion wahr.178

175

Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 6. Aufl. 2018, S. 440. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 6. Aufl. 2018, S. 442. 177 Dies stellt Gerhardt, Öffentlichkeit, 2012, S. 358 ff. in den Mittelpunkt. 178 Zutreffend Nassehi, Muster – Theorie der digitalen Gesellschaft, 2019, S. 300 f.: „Medien sind stets der Filter, durch den das diffundiert, was als Thema in öffentlichen Räumen verhandelbar wird. Sie sind also zugleich Ermöglicher und Verhinderer, sie sind der Gate-Keeper von Öffentlichkeiten – und mit jeder Medienrevolution ändern sich die Bedingungen dessen, was wir Öffentlichkeit nennen, also die Bedingungen im System der Bedürfnisse und im Staat. Das galt für das Radio ebenso wie für das Fernsehen, und es gilt auch für das Internet. Und stets hat man mit einem neuen Verbreitungsmedium ebenso große Erwartungen wie Befürchtungen verknüpft.“ 176

128

VII. Lösungsansätze

Letztendlich ist dieses tatsächlich und möglicherweise auch irgendwann normativ neu formierte179 bzw. regulierte Verhältnis zwischen Privatheit und Öffentlichkeit nicht vorhersehbar und auch nicht in letzter Konsequenz verbindlich gestaltbar, sondern ein Ergebnis der digitalen Umbrüche – so wie diese Trennlinie immer ein Ergebnis der Möglichkeiten, des staatlichen wie individuellen Wollens war. Da beides – Privatheit wie (demokratische) Öffentlichkeit – aber einer eigenen Sphäre und dafür des staatlichen Schutzes bedürfen, kann diese Frage dem Staat und seinen Organen nicht gleichgültig sein.

6. Rekonstruktion der Legitimität a) Nachdenken über Legitimität Es ist immer ein Krisensymptom für die Herrschaftsordnung, wenn über deren Legitimität bzw. die Legitimität ihrer Herrschaftsgewalt nachgedacht oder diskutiert wird, zumal dann – möglicherweise die Herrschaftsunterworfenen überzeugendere – Gegenentwürfe oftmals nicht weit sind.180 Die Krisensymptome für die Legitimität der vom Grundgesetz verfassten deutschen Herrschaftsgewalt sind herausgearbeitet worden, auch wurden Lösungs- und Entwicklungsvorschläge unterbreitet. Hier ist nun nicht der Raum, ein Legitimationskonzept umfassend zu entwickeln – dies habe ich bereits an anderer Stelle unternommen.181 Nachfolgend soll daher nur in geraffter Form der Vorschlag für die Rekonstruktion und die erforderlichen Neuorientierungen der Legitimitätskategorie unterbreitet werden, damit diese auch unter veränderten Rahmenbedingungen einer Ausübung von Herrschaftsgewalt in Netzwerken, Mehrebenensystemen und unter Einfluss der Digitalisierung leistungsfähig bleibt und zum Erhalt der Herrschaftsordnung beitragen kann.182 Denn wenn die Kluft zwischen Legitimitätsidee und den Er179 Nassehi, Muster – Theorie der digitalen Gesellschaft, 2019, S. 317, spricht vom „Neujustieren dessen, was heute Privatheit heißen kann“. 180 Ebenso Schlögl, Anwesende und Abwesende, 2014, S. 291. 181 Dazu eingehend Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 588 ff. 182 Den politikwissenschaftlichen Vorschlag eines Prozessmodells der demokratischen Legitimität haben jüngst Kneip/Merkel, in: dies./Weßels (Hrsg.), Legitimitätsprobleme, 2020, S. 25 (36 ff.), unterbreitet.

6. Rekonstruktion der Legitimität

129

fordernissen einer alltagstauglichen Legitimationskonstruktion einerseits und der von den Legitimationssubjekten wie auch vor allem den Herrschaftsunterworfenen erlebten Realität andererseits zu groß ist, so ist die betreffende Herrschaftsordnung regelmäßig dem Untergang geweiht. Auch „Legitimität“ bedarf als kategoriale und unverzichtbare Bezugsgröße von Herrschaftsgewalt stets der Anpassung an veränderte Umstände, der Konkretisierung, der Weiterentwicklung und der Optimierung.183 Für eine erfolgreiche Bewährung der Herrschaftsordnung ist jedenfalls eine zeitgemäße und funktionierende Legitimationskonstruktion vonnöten: Diesem Erfordernis kann nur eine Rekonstruktion der Legitimitätskategorie gerecht werden. Zugleich ist in Zeiten verstärkter Supranationalisierung, Internationalisierung und Globalisierung ein weltweiter Wettbewerb der Herrschaftssysteme und Herrschaftsordnungen um (höhere) Legitimität ausgebrochen.184 Das – immer wieder missverstandene185 – „Ende der Geschichte“186 im Sinne einer überlegenen demokratischen Legitimität ist nach dem Zusammenbruch sozialistischer und kommunistischer Systeme ab 1990 nicht eingetreten, und der zwischenzeitliche Siegeszug liberaler Demokratien auf der gesamten Welt ist längst gebremst. Vielmehr sind seit einiger Zeit autoritäre Systeme (z. B. China, Russland, Türkei) und populistische Führer (etwa in den Vereinigten Staaten von Amerika oder in Großbritannien) darum bemüht, ihre eigene Legitimität als der demo183 Zu der vor allem historisch in der Rückschau zu beurteilenden Frage, ob eine Herrschaftsordnung ihre schwindende Legitimität von sich aus wieder stärken kann, Sellin, Gewalt und Legitimität, 2016, S. 5 ff. Die richtige Antwort dürfte differenziert ausfallen, da die jeweilige Herrschaftsgewalt in der Regel durchaus Gestaltungsspielräume zur Zuführung von Legitimation besitzt, die Voraussetzungen für wirksame Legitimation aber bei weitem nicht alleine gestalten kann. – Die ständige Erneuerungsbedürftigkeit der Legitimität betont auch Thiele, Allgemeine Staatslehre, 2020, S. 91. 184 Zum Wettbewerb unter Staaten eingehend Duvigneau, Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Staat, 2012; Mehde, Wettbewerb zwischen Staaten: Die rechtliche Bewältigung zwischenstaatlicher Konkurrenzsituationen im Mehrebenensystem, 2005. – In diesen Kontext passt auch die neue Werteorientierung des EuGH mit Hilfe einer Operationalisierung der Art. 2, 19 EUV, s. zunächst EuGH, EuZW 2018, 469 Rn. 31 ff.; jüngst EuGH, NVwZ 2019, 1109 Rn. 42 ff.; dazu Schorkopf, NJW 2019, 3418 ff.; ders., JZ 2020, 477 ff. 185 Klarstellend: Fukuyama, Identität, 2. Aufl. 2019, S. 9 ff. 186 Prägend Fukuyama, Das Ende der Geschichte, Europäische Rundschau 17 (1989), Nr. 4, S. 3 ff.

130

VII. Lösungsansätze

kratischen Legitimität überlegen herauszustellen.187 So nimmt es nicht Wunder, dass die chinesische Führung den pandemischen Ausbruch des „Coronavirus“ zum Anlass nimmt, durch konsequente, aber auch radikale und rigide Maßnahmen ihre Problemlösungsfähigkeit und ihre Überlegenheit bei der Aufgabenerfüllung gegenüber demokratischen Herrschaftsgewalten unter Beweis zu stellen, um damit zugleich – jedenfalls nach den eigenen Maßstäben, aber offenbar auch den Maßstäben, Vorstellungen und Sehnsüchten medialer Beobachter – mit der höheren Leistungskraft die höhere Legitimität ihrer eigenen Herrschaftsgewalt und Herrschaftsordnung zu belegen.188 Vor allem aber die Digitalisierung zwingt zum Nachdenken über Legitimität. Einige Aspekte konnten in diesem Essay beleuchtet werden – aber das ist bei weitem nicht abschließend, weil Digitalisierung ein alle staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Tätigkeiten durchdringendes und veränderndes Phänomen ist. Diese Veränderungen müssen in jedem einzelnen Fall exakt nachgezeichnet und analysiert werden, um zu legitimitätswahrenden Antworten zu kommen. Dies ist hier beispielhaft an einigen Aspekten vorgenommen worden, bedarf aber weiterer Überlegungen und vor allem gesellschaftlicher, politischer und rechtlicher Reaktionen. Ob es die massive Veränderung der demokratischen Öffentlichkeit, die Unterbrechung von Legitimationsketten menschlicher Verantwortungszurechnung durch autonom agierende Algorithmen oder die schleichende Ersetzung des Staates, seiner Organisation und Funktionen durch privat oder von fremden Staaten beherrschte Plattformen ist189 – all dies zwingt zum Nachdenken über Legitimität. Die Legitimitätstheorie muss dementsprechend in digitalen Zeiten eine unglaubliche Vielfalt abbilden – von der klassischen subordinationsrechtlichen Herrschaftsgewalt bis zur Koordinierung von Netzwerken. Ein erster Versuch zur Rekonstruktion von Legitimität unter veränderten Rahmenbedin-

187 Dies geschieht häufig mit Hilfe von Wahlen, die zu Plebisziten verklärt werden. Zutreffend Fukuyama, Identität, 2. Aufl. 2019, S. 10; „Populistische Führer sind bemüht, ihre Macht durch die Legitimität zu konsolidieren, die sie aus demokratischen Wahlen beziehen.“ 188 Zugleich verspielt sie allerdings durch Vertuschungen und Beschönigungen der tatsächlichen Situation das für Legitimität unabdingbare Vertrauen. – Zum Systemwettbewerb Ther, AluZ 35 – 37/2020, S. 40 ff. 189 Türcke, Digitale Gefolgschaft, 2019, S. 190 ff.

6. Rekonstruktion der Legitimität

131

gungen und vor allem in digitalen Zeiten soll nun abschließend skizziert werden. b) Demokratische Legitimation und sonstige Legitimation Legitimität wird bei der Verwendung von Demokratie als Herrschaftsform weiterhin vor allem auch demokratische Legitimation sein müssen. Eine rein funktionale Legitimation welcher Art auch immer ohne Verantwortungsbeziehung zum Volk als Legitimationssubjekt würde die Legitimität einer demokratischen Herrschaftsordnung entfallen lassen. Allerdings erschöpft sich demokratische Legitimation nicht allein in traditionaler (und zugleich sehr seltener) Input-Legitimation durch einen Wahlakt im Abstand von mehreren Jahren, sondern kann zum einen in Gestalt von unmittelbar-demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten auch außerhalb des Wahlakts und zum anderen durch eine an den Ergebnissen der Herrschaftsgewalt orientierte Output-Legitimation verstärkt werden.190 Vor allem aber darf Legitimität auch nicht auf demokratische Legitimation allein verengt werden, denn Demokratie ist nach der grundgesetzlichen Ordnung kein absoluter Wert an sich, sondern ein auf Konkretisierung und Optimierung angelegtes Staatsstrukturprinzip.191 Aber es ist eben auch nur ein Staatsstrukturprinzip – neben Bundesstaats-, Rechtsstaats-, Republik- und Sozialstaatsprinzip. Auch aus diesen anderen vier Staatsstrukturprinzipien lassen sich durchaus relevante Legitimationsfaktoren herausarbeiten, die über die bislang allein betrachtete demokratische Input-Legitimation hinaus legitimitätsverstärkend sein können.192 Dies zeigt sich auch am Widerstandsrecht des Art. 20 190

Dazu gleich sub. c). Näher Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 616 ff.; Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Band 2, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 88 ff. 192 Hoffmann-Riem, in: Unger/von Ungern-Sternberg (Hrsg.), Demokratie und künstliche Intelligenz, 2019, S. 129 (142); Schmidt-Aßmann, in: Broemel/Pilniok (Hrsg.), Die digitale Gesellschaft als Herausforderung für das Recht in der Demokratie, 2020, S. 11 (22 f.). – Zur sozialstaatlichen Legitimation Lüders/Schröder, in: Kneip/Merkel/Weßels (Hrsg.), Legitimitätsprobleme, 2020, S. 341 ff. – Zur republikanischen Legitimation Buchheim, Der neuzeitliche republikanische Staat, 2013, S. 77 ff.; Horn, in: Gröschner/Lembcke (Hrsg.), Freistaatlichkeit, 2011, S. 109 ff.; Richter, ebd., S. 73 ff.; Wiegand, Demokratie und Republik, 2017, S. 7 ff., 128 ff. 191

132

VII. Lösungsansätze

Abs. 4 GG, das ein Widerstandsrecht zugunsten der Ordnung des Grundgesetzes ist, nicht gegen sie.193 „Diese Ordnung“ in Art. 20 Abs. 4 GG nimmt Bezug auf die gesamten Verfassungsprinzipien der Absätze 1 bis 3, also nicht nur auf das Demokratieprinzip.194 Damit zeigt gerade auch Art. 20 Abs. 4 GG, dass es nicht nur um das Demokratieprinzip und die demokratische Legitimation, sondern um die Legitimität der Staatsgewalt insgesamt geht. In Zeiten der Auflösung überkommener demokratischer Strukturen in digitalen Räumen195 und Legitimitätszweifeln an demokratischen Herrschaftsgewalten196 können es sich am Menschen orientierte Verfassungsordnungen schlicht nicht mehr leisten, auf andere, zusätzliche Legitimationspotentiale zu verzichten. Schon die Erweiterung des Blickwinkels auf das mehrdimensionale europäische Mehrebenensystem, erst recht aber die Teilnahme der Herrschaftsgewalt an digitalen Netzwerken und Plattformen machen eine inhaltliche Weiterentwicklung des Legitimations- und Legitimitätskonstruktes zwangsläufig. Ein solcher Wandel ist aber auch nichts Neues, da – wie gezeigt – der Legitimitätsbegriff immer wieder an veränderte politische Realitäten angepasst und einen entsprechenden inhaltlichen Wandel durchgemacht hat. Konstanter Fixpunkt der Legitimitätskategorie ist dabei geblieben, dass es immer um die Legitimation von Herrschaftsgewalt geht, mithin die Frage nach der Rechtfertigung, nach dem „Warum?“ der Betätigung von Herrschaftsgewalt gestellt wird. Ist Legitimation die 193 Evangelische Kirche in Deutschland (Hrsg.), Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie – Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, 1985, S. 21; zum Widerstandsrecht Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, D 5 m.w.N.; Münkler/Straßenberger, Politische Theorie und Ideengeschichte, 2016, S. 268 ff. 194 Einhellige Auffassung, s. nur Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, 3. Aufl. 2015, Art. 20 IV (Widerstandsrecht) Rn. 18 m.w.N., 27. 195 Dem versucht Boehme-Neßler, Das Ende der Demokratie?, 2018, S. 115 ff., zu begegnen, indem er eine „neue“ Demokratie im digitalen Umfeld ohne Staat entwirft und auch versucht, weitestgehend ohne den Begriff der „Legitimität“ auszukommen. S. aber ebd., S. 120, wenn dort auf die demokratische Legitimität des Mehrheitsprinzips abgestellt wird, für die eine „Wir-Identität“ erforderlich sei. Wo diese in entgrenzten digitalen Räumen herkommen soll, bleibt allerdings offen. Der als Alternative zu ethnischer Homogenität ins Spiel gebrachte „Verfassungspatriotismus“ wird im digitalen Raum mangels Staat, Verfassung und Patriotismus wohl nicht funktionieren. 196 Für die US-amerikanische Perspektive Fukuyama, Identität, 2. Aufl. 2019, S. 9 ff.; Levitsky/Ziblatt, Wie Demokratien sterben, 5. Aufl. 2018, S. 170 ff.

6. Rekonstruktion der Legitimität

133

Frage nach der Rechtfertigung von Herrschaftsgewalt, so verlangt die Antwort in einer säkularen Herrschaftsordnung nach einem Legitimationskonzept, mit dem souveräne Herrschaftsgewalt rational begründbar, verantwortbar, berechenbar und kontrollierbar wird. Ein „ewiger Glaube“ der Herrschaftsunterworfenen an die Legitimität einer Herrschaftsordnung steht zur Rechtfertigung in der Regel nicht (mehr) zur Verfügung, wobei fraglich ist, ob trotz eines behaupteten göttlichen Ursprungs von Herrschaftsgewalt ein derartiger Legitimitätsglaube in der Geschichte jemals ausgereicht hat.197 Bereits die Publikationen der Antike und gerade diejenigen des christlichen Mittelalters legen das Gegenteil nahe und deuten ergebnisorientierte Rechtfertigungsstrukturen an.198 c) Input- und Output-Legitimation Dieser ergebnisorientierte Rechtfertigungsaspekt findet seinen Ausdruck in der sog. Output-Legitimation. Legitimität darf auch als juristisch-normativer Begriff nicht auf eine verfahrensbasierte Input-Legitimation positivistisch verengt werden.199 Die heute anzutreffenden Sou197 Historische Vertiefung bei Sellin, Macht und Legitimität, 2016, S. 79 ff.; aus soziologischer Perspektive Dux, Strukturwandel der Legitimation, 1976, S. 17: „Die Herrschaft des Menschen über die Sozialordnung ist zugleich die Geburtsstunde der Legitimationsproblematik. Fortan muss auch das Recht begründet werden, sowohl in seinen einzelnen Vorschriften wie in mehr oder weniger umfassenden Teilen oder ganzen Rechtsbereichen.“ – Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation war die Kaiserwürde bis zum Reichsende 1806 neben aller göttlichen bzw. päpstlichen Legitimation immer auch von einer Wahl durch die Kurfürsten abhängig. Dieses Legitimationsverfahren war (spätestens) seit 1356 durch die „Goldene Bulle“ auch reichsverfassungsrechtlich vorgeschrieben (abgedruckt bei Koch, Sammlung der Reichs-Abschiede, Erster Theil, 1747, S. 45 ff.; Zeumer, Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung, Erster Teil, 2. Aufl. 1913, S. 192 ff.). Zur Goldenen Bulle Willoweit/Schlinker, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl. 2019, § 11 Rn. 10 f. 198 S. nur Thomas von Aquin, Über die Herrschaft der Fürsten, übers. von Friedrich Schreyvogl, Nachwort von Ulrich Matz, 1971, I 9 (S. 37): „Es gehört aber zur Pflicht eines Königs, das allgemeine Wohl mit Eifer zu besorgen.“ Deutlich auch aaO., I 10 (S. 42): „Und nichts, was gegen die Wünsche der Vielen ist, kann sich auf die Dauer behaupten.“; Ludovico Antonio Muratori, Von der Glückseeligkeit des gemeinen Wesens, als dem Hauptzweck gut regierender Fürsten, übersetzt von einem christliebenden Eiferer um das gemeine Wesen, 1758, II. Hauptstück, S. 9 ff. 199 So aber Wapler, in: Thiele (Hrsg.), Legitimität in unsicheren Zeiten, 2019, S. 39 (42 ff.); Präferenz für Input-Legitimation, deren Legitimationskette dann aber

134

VII. Lösungsansätze

veränitätsverluste durch Internationalisierung, Europäisierung und Digitalisierung bedingen Input-Legitimationsverluste, schon weil es dafür an nationalstaatlich basierten Verfahren, Institutionen und Strukturen fehlt – diese Legitimitätsverluste sind nur durch eine Ergebnisorientierung, den Output, kompensierbar.200 Für die Output-Legitimation sind die am Maßstab der Herrschaftszwecke und Herrschaftsziele bewerteten Ergebnisse der Herrschaftsgewalt maßgebend. Der legitimationsrelevante Output wird gebildet durch die Effizienz und Effektivität der Herrschaftsgewalt bei der Aufgabenbewältigung und Problemverarbeitung, die bei zunehmend funktional betrachteten Herrschaftsorganisationen systembedingt eine besondere Rolle spielen müssen. Damit der Legitimitätsbegriff normativen Charakter bewahrt, muss die Output-Legitimationskomponente die Ergebnisse der Herrschaftsgewalt sowohl ex post, also hinsichtlich ihres tatsächlichen Vorliegens, als auch ex ante einbeziehen. Eine prognostische ex-ante-Bewertung des Outputs gewährleistet eine rationale Überprüfbarkeit sowohl der geplanten Maßnahmen der Herrschaftsgewalt als auch ihres späteren Ergebnisses und führt der aktuellen Herrschaftsgewalt somit einen Legitimitätsglauben in Gestalt einer bestimmten Ergebniserwartung für die zu leistende Aufgabenerfüllung zu. Vergangenheit und Gegenwart belegen, dass die Gewichtung der Herrschaftszwecke und Herrschaftsziele in Abhängigkeit von den Herausforderungen der Lebensrealität variiert.201 So zeigt die gegenwärtige „CoronaPandemie“, dass sehr plötzlich und zumindest kurzfristig Leben und Gesundheit (fast) alle anderen Herrschaftszwecke und Herrschaftsziele verdrängen. Zugleich zeigt das Handeln der Staatsgewalt, dass es nicht mehr auf Verfahren, sondern auf schnelle Erfolge zeitigendes Handeln ankommt, dessen Wirkungen aber nur prognostiziert und erhofft werden können. Normative Anknüpfungspunkte für die legitimatorische ex-ante-Prognose sind insoweit die Herrschaftszwecke und Herrschaftsziele, ggf. auch die Herrschaftsaufgaben. Diese von der herrschenden Meinung bislang normativ vernachlässigte Seite der Legitimationszuführung wird gerade in komplexeren Netzwerkstrukturen, in denen die Input-Legitimationen als „Regel zur Wahrung eines Mindestzusammenhangs von Amtstätigkeit und Volk verstanden werden“ soll, bei Honer/Rudloff, DÖV 2020, 461 (468). 200 Willke, Demokratie in Zeiten der Konfusion, 2014, S. 56 f.; s. auch Steinbach, Souveränitätsfragmente, 2019, S. 187 ff. 201 Ebenso Thiele, Allgemeine Staatslehre, 2020, S. 90 f.

6. Rekonstruktion der Legitimität

135

vielfach, komplex und möglicherweise verworren sind, eine wesentliche Rolle einnehmen können. Dennoch ist ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass eine reine Output-Legitimation nicht für demokratische Legitimität genügt.202 Die Output-Legitimation tritt ergänzend zu der Input-Legitimation hinzu, die als ununterbrochene Verantwortungsbeziehung zwischen Legitimationssubjekt und Herrschaftsgewalt als Legitimationsobjekt zwingend benötigt wird, wenn es demokratische Legitimität bleiben soll. Aber auch auf der Input-Seite der Legitimation wird die Legitimationskonstruktion in digitalen Netzwerken zwangsläufig komplexer und neu zu rekonstruieren sein. Auf der Input-Seite sind die pluralen InputStränge, die von verschiedenen Legitimationssubjekten ausgehen, zusammenzuführen und auf ihre Legitimationsleistung zu untersuchen. Der Schwerpunkt bei der Konturierung des erforderlichen Ableitungszusammenhanges wird aber nicht mehr bei einer eindimensionalen Kettenvorstellung liegen, sondern bei der Sichtbarmachung eines Ermächtigungs-, Zurechnungs-, Kontroll- und Verantwortungszusammenhanges, der die konkrete Betätigung der Herrschaftsgewalt als eine Entscheidung oder Maßnahme der maßgeblichen Legitimationssubjekte erscheinen lässt, auch wenn beispielsweise IT-Systeme, Algorithmen oder Anwendungen künstlicher Intelligenz in den Entscheidungsprozess zwischengeschaltet werden. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem jüngsten Urteil zum EZB-Ankaufprogramm. Danach erschöpft sich das dem Einzelnen in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG garantierte Wahlrecht zum Deutschen Bundestag „nicht in einer formalen Legitimation der (Bundes-)Staatsgewalt“, sondern Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG schützt die Wahlberechtigten „auch davor, dass Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union umgesetzt werden, die eine entsprechende Wirkung entfalten und jedenfalls faktisch einer mit dem Grundgesetz unvereinbaren Kompetenzübertragung gleichkämen“.203 Zumindest im Kontext supranationaler Herrschaftsgewalt öffnet sich das Bundesverfassungsgericht damit auch für eine zusätzliche, die Input-Betrachtung ergänzende 202

Zutreffend Forst, Normativität und Macht, 2015, S. 190, gegen Scharpf, Regieren in Europa – effektiv und demokratisch?, 1999, S. 20 ff. 203 BVerfG, U. v. 5. 5. 2020, 2 BvR 859/15 u. a., Rn. 98 f., 114. S. auch bereits BVerfGE 142, 123 (195 f. Rn. 139); BVerfG, U. v. 30. 7. 2019, 2 BvR 1685/14 u. a., Rn. 154.

136

VII. Lösungsansätze

Ergebnisdimension, für die als Maßstab zudem grundlegende Herrschaftsziele herangezogen werden.204

d) Optimierung anstatt formalistischer Verfahrensorientierung Entscheidend ist ein am Ende hinreichend effektives Legitimitätsniveau, das nur aufgrund einer wertenden Gesamtschau beurteilt werden kann. Dieses Legitimitätsniveau wird dabei maßgeblich durch die Effektivität der Verantwortungszurechnung auf der Input-Seite und die Qualität der Aufgabenerfüllung auf der Output-Seite bestimmt. Das Legitimationsmodell muss daher mehr Komplexität bewältigen und deshalb deutlich flexibler als bislang werden. Es geht um die Optimierung der (demokratischen) Legitimität, nicht um das strikt formalistische Durchlaufen von Verfahren. Auch künftig werden Verfahren legitimationsrelevant sein, wird Legitimation durch Verfahren erzielt.205 Aber nicht weniger entscheidend ist das in diesen Verfahren erzielte inhaltliche Ergebnis. Ohne die Berücksichtigung der Ergebnisse droht das sinnentleerte Durchlaufen von Verfahren um ihrer selbst willen, das in „postdemokratische“ Zustände mündet.206 Daher besteht innerhalb der Verfahren durchaus ein Legitimationspotential, beispielsweise durch die verstärkte Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern oder Sachverständigen im Rahmen von staatlichen Entscheidungsprozessen, um die inhaltliche Qualität sowie die Akzeptanz der Entscheidung zu verbessern.207 Optimierung ist auch die zutreffende rechtstheoretische und dogmatische Kategorie für den Legitimationsvorgang, um möglichst optimale Legitimität zu erzielen. Ebenso wie die anderen, durchaus für die Legitimitätszufuhr geeigneten Staatsstrukturprinzipien ist insbesondere das Demokratieprinzip des Grundgesetzes rechtstheoretisch als Prinzip zu begreifen208, da es eine Abwägungs- und Optimierungsbedürftigkeit 204

BVerfG, U. v. 5. 5. 2020, 2 BvR 859/15 u. a., Rn. 115. Grundlegend Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 3. Aufl. 1993. 206 Anschaulich beschrieben von Crouch, Postdemokratie, 2008, S. 7 ff. 207 Zutreffende Einordnung bei Pautsch/Zimmermann, ZParl 2020, 385 ff. 208 Ebenso Hain, Die Grundsätze des Grundgesetzes, 1999, S. 159 ff.; differenzierend Honer/Rudloff, DÖV 2020, 461 (467 f.): Art. 20 Abs. 1 GG sei ein Prinzip, Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG eine Regel. 205

6. Rekonstruktion der Legitimität

137

aufweist. Demokratie kann nicht im Sinne einer strikten Regel „vollzogen“ werden, sondern ist durch Offenheit und Konkretisierungsbedürftigkeit gekennzeichnet. Zweck des Demokratieprinzips ist nicht ein „demokratischer Absolutismus“, der einer demokratischen Organisationsform, d. h. insbesondere dem Mehrheitsprinzip, im Konfliktfall einen absoluten Vorrang vor kollidierenden Prinzipien einräumt – dies verbietet schon die Unantastbarkeit der Menschenwürde gem. Art. 1 Abs. 1 GG. Vielmehr handelt es sich – im Hinblick auf Art. 20 Abs. 2 GG – um ein „niemals vollständig erfüllbares Staatsziel“.209 In diesem Sinne spricht auch das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf das Demokratieprinzip davon, dass Verfassungsprinzipien sich in der Regel nicht rein verwirklichen ließen, sondern ihnen vielmehr genügt sei, wenn die Ausnahmen auf das unvermeidbare Minimum beschränkt blieben.210 Der Inhalt des Demokratieprinzips ist mithin mit dem Kerngedanken einer Herrschaft des Volkes, durch das Volk und für das Volk211 ein idealer Orientierungspunkt, der nicht in vollständiger Reinheit, aber bestmöglich zu verwirklichen ist. Dies belegt die historische Entwicklung der Demokratie, die z. B. durch ein ständiges Ringen um die Vergrößerung der zum Volk zählenden Gruppe der Legitimationssubjekte gekennzeichnet ist.212 Gerade unter dem Gesichtspunkt demokratischer Legitimation belegt überdies die in unterschiedlichem Maße realisierbare Kategorie des Legitimitätsniveaus, dass das Demokratieprinzip auf Optimierung angelegt ist. Das Demokratieprinzip gebietet der Herrschaftsgewalt insoweit, bestmögliche Herrschaft des Volkes, durch das Volk und für das Volk zu sein. Auf welchem Wege dies bestmöglich erfolgt, ist gerade der geschichtlichen Entwicklung anheimgegeben und von den jeweiligen gesellschaftlichen, technischen und politischen Rahmenbedingungen abhängig. Der vom Demokratie209

Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 60. Ebenso Rosanvallon, Demokratische Legitimität, 2010, S. 280: Demokratie bezeichnet „den Horizont einer Gesellschaftsorganisation im Werden, die vollständig verwirklicht zu haben niemand beanspruchen kann“. 210 BVerfGE 42, 312 (340); BVerfG, NVwZ 2002, 69 (70). 211 In Anlehnung an die berühmte „Gettysburg-Formel“ von Abrahham Lincoln, s. dazu Jünemann, JZ 2013, 1128 (1129 f.); Sydow/Wittreck, Deutsches und Europäisches Verfassungsrecht I, 2019, Kap. 5 Rn. 1 ff. – S. auch Boehme-Neßler, Das Ende der Demokratie?, 2018, S. 107 ff. Interessant in diesem Kontext Art. 2 der Verfassung der Französischen Republik von 1958: „Ihr Grundsatz lautet: Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk.“ 212 Zu dieser Entwicklung Nolte, Was ist Demokratie?, 2012, S. 26 ff., 174 ff.

138

VII. Lösungsansätze

prinzip ebenfalls vorgegebene Erhalt demokratischer Legitimität gebietet insoweit aber das Ausnutzen aller Legitimationsmöglichkeiten, um eine möglichst optimale demokratische Legitimität zu erzielen. e) Aufgabenerfüllung am Maßstab von Herrschaftszwecken und Herrschaftszielen Materielle Orientierungspunkte eines normativen Legitimationskonzeptes sind Herrschaftszwecke und Herrschaftsziele, die von einem Grundkonsens der Legitimationssubjekte umfasst sein müssen.213 Herrschaftszwecke sind überpositive, ethische Begründungen der Herrschaftsgewalt. Über normative Transformationspunkte in der Verfassung der jeweiligen Herrschaftsordnung (z. B. Art. 1 Abs. 2 GG) wird die Verbindung zur positiven Rechtsordnung hergestellt. Konkretisiert werden die Herrschaftszwecke in verfassungsrechtlich positivierten Herrschaftszielen und Herrschaftsaufgaben; die beiden letzteren Kategorien unterscheiden sich in ihrem jeweiligen Grad normativer Verbindlichkeit. Die Herrschaftsziele sind hingegen einer den Herrschaftszwecken nachgelagerten Ebene der Richtigkeit zugeordnet und verfassungsrechtlich normiert. Die Richtigkeit der Entscheidungen und anderen Maßnahmen der Herrschaftsgewalt bei der Umsetzung der Herrschaftsziele ist notwendige Durchgangsstation auf dem Weg zur bestmöglichen Realisierung der Herrschaftszwecke. Diese Richtigkeit ist – angesichts des Fehlens letzter, absoluter Wahrheiten – durch ein Höchstmaß an praktischer Vernunft auf der Grundlage eines rationalen Diskurses gekennzeichnet, wird vor allem durch rechtliche Verfahren operationalisiert und mithilfe des Mehrheitsprinzips zu erreichen versucht. Herrschaftszwecke und Herrschaftsziele müssen – wie ausführlich dargelegt – vom Grundkonsens und dem entsprechenden Legitimitätsglauben umfasst sein. Der Grundkonsens bezeichnet die möglichst umfassende, grundlegende Übereinstimmung der Legitimationssubjekte und Herrschaftsunterworfenen hinsichtlich der Herrschaftszwecke und Herrschaftsziele sowie der Mittel und Verfahren, um diese zu erreichen. Dieser Grundkonsens ist seit dem Konstitutionalismus normativ ermittelbar, und zwar mithilfe der Herrschaftsziele und der verfassungsrecht213 Dazu näher Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 623 ff.

6. Rekonstruktion der Legitimität

139

lichen Transformationspunkte der Herrschaftszwecke. Der Grundkonsens erweist sich als kollektiver, durchaus wandelbarer Legitimitätsglaube und als über den Tag hinausreichendes Vertrauen in die Herrschaftsgewalt bezüglich der Richtigkeit der konkreten nächsten Herrschaftsbetätigung auf dem Weg zur Realisierung der Herrschaftszwecke. „Vertrauen“ ist der Schlüsselbegriff für die inhaltliche Ausfüllung der Legitimitätskategorie214 – und dieses Vertrauen wird bei digitaler, von Algorithmen ausgeübter Staatsgewalt noch wichtiger, aber auch prekärer.215 Neben der InputLegitimation umfasst der Legitimitätsglaube auch die Problemlösungsfähigkeit der input-legitimierten Herrschaftsorgane und somit eine Output-Erwartung, die auch von einer Bewertung der bisherigen Leistungen und Ergebnisse der Herrschaftsgewalt gespeist wird. An dieser Stelle zeigt sich erneut, welche große Bedeutung der Legitimitätsbegriff als Scharnier zwischen Gesellschaft und staatlicher Herrschaftsordnung besitzt. Denn Herrschaftszwecke und Herrschaftsziele sind normativer Ausdruck der gesellschaftlichen Ethik.216 Die bisherige Vernachlässigung einer materiellen Legitimitätsidee durch die h.M. hat zu der aktuellen Kraftlosigkeit des demokratischen Verfassungsstaates geführt, in der einseitige Ideologien mit Umsturzpotential „plötzlich“ attraktiv erscheinen – die Beispiele reichen von bestimmten Klimaschutzaktivisten bis hin zu autoritären „Nation first“Ideen. Dabei muss immer wieder daran erinnert werden, dass auch der demokratische Verfassungsstaat seine Herrschaftsgewalt nicht zweckfrei technokratisch ausübt217 und ausüben darf, sondern – wie jede andere Staats- und Herrschaftsform auch – inhaltlichen Zwecken und Zielen verpflichtet ist, wenn er seine Legitimität erreichen, bewahren und für die 214

Dazu eingehend oben V. Dazu Barneck/Lütge/Wagner/Welsh, Ethik in KI und Politik, 2019, S. 37 ff. 216 Zur Verbindung von Ethik und Recht Schliesky, NJW 2019, 3692 (3693 ff.) m.w.N.; eingehend Huber, in: ders./Meireis/Reuter (Hrsg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, 2015, S. 125 (142 ff,); Hübner, Einführung in die philosophische Ethik, 2. Aufl. 2018, S. 151 ff.; Kreß, Ethik der Rechtsordnung, 2012, S. 210 ff. 217 Diesen Eindruck kann man allerdings bei vielen aktuellen und wechselseitig widersprüchlichen Vorhaben der Gesetzgebung bekommen. Dies ist ein bedeutendes legitimatorisches Problem, das gemeinhin unter dem rechtsstaatlichen Aspekt der „Einheit der Rechtsordnung“ diskutiert wird. Dazu Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, 1995; Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998; Hellwege/Soniewicka (Hrsg.), Die Einheit der Rechtsordnung, 2020. 215

140

VII. Lösungsansätze

Zukunft sichern will. Wichtig ist dabei die Differenzierung218 zwischen Herrschaftszwecken als vor-verfassungsmäßigen Leitbildern, die ggf. auch Mythen wie die Nation, der Frieden in der Welt oder das vereinte Europa darstellen können219, während Herrschaftsziele die vom Verfassunggeber normativ fixierten und vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber zu Staatsaufgaben konkretisierten Vorgaben darstellen. Zahlreiche neue ethische Fragen wirft nun die Digitalisierung auf, für die Politik und Rechtsetzung dringend Antworten finden müssen. Diese neuen ethischen Fragen haben zur Folge, dass zum Teil sogar auf der Ebene der Herrschaftsziele Lücken bestehen und der Grundkonsens in manchen Fragen derzeit nicht besteht. Dementsprechend kann auch kein Legitimitätsglaube entstehen – das Problem prekärer demokratischer Legitimität tritt bei einigen digitalen Kontexten offen zutage und ist durch das formale Durchlaufen von Legitimationsverfahren nicht behebbar. Beispiele bilden die fundamentalen Fragen zur Zukunft von Menschsein und Menschenwürde angesichts der Kombination von medizinischem Fortschritt, Digitalisierung und künstlicher Intelligenz, die Bewahrung von menschlicher Autonomie und freiem Willen, die Sicherstellung von Verantwortung oder auch der verfassungsrechtliche Eigentumsschutz.220 Es bedarf insoweit der Weiterentwicklung der Ethik und des Rechts, wenn unsere demokratische Herrschaftsordnung bei solch zentralen Fragen der Entwicklung der Menschheit und der Staaten nicht einen Legitimitätsausfall verbuchen soll. f ) Legitimationssubjekt: rechtlich verfasstes Volk Die demokratische Legitimation benötigt auch weiterhin ein kollektives Legitimationssubjekt, das Ausgangs- und Endpunkt der Verantwortungszurechnung mit Blick auf die Herrschaftsgewalt und die sie ausübenden Amtswalter ist. Eine plurale Legitimationskonstruktion bedingt dabei zugleich den Verzicht auf ein einziges kollektives Legitimationssubjekt, so dass nicht das Volk im Sinne eines einheitlichen Staatsvolkes 218 Diese Differenzierung verkennt Wapler, in: Thiele (Hrsg.), Legitimität in unsicheren Zeiten, 2019, S. 39 (48 f.). 219 S. Präambel des Grundgesetzes – insbesondere vor und nach der Wiedervereinigung. 220 Näher zu diesen Themen Schliesky, NJW 2019, 3692 (3695 f.).

6. Rekonstruktion der Legitimität

141

oder einer Nation das einzig maßgebliche Legitimationssubjekt ist. Dementsprechend sind die Existenz eines Volkes, einer Nation oder von „Homogenität“ keine vorrechtlichen Voraussetzungen, sondern das Ergebnis einer Integrationsleistungen erbringenden Herrschaftsgewalt und Herrschaftsordnung. „Das Volk“ ist keine unveränderliche, präexistente Größe, sondern ordnet sich der jeweiligen Herrschaftsordnung – vor allem mit Hilfe der Verfassung – erst zu und verändert laufend seine Gestalt und Zusammensetzung als Legitimationssubjekt, wie insbesondere die demokratiegeschichtliche Entwicklung belegt. Dies erfordert dringend eine „Vergewisserung über das Volk“, zu der oben221 schon Hinweise gegeben wurden. Bei genauer Betrachtung verlangen bereits föderale Ausgestaltungen der Herrschaftsgewalt, erst recht aber Mehrebenenkonstruktionen und plurale Netzwerkstrukturen eine plurale Legitimationskonstruktion mit einer rechtlichen Koordinierung der Legitimationssubjekte. Die vom Bundesverfassungsgericht anerkannte Idee von Teilvölkern und an funktionalen Kriterien ausgerichteten Legitimationszusammenschlüssen weist den Weg für rechtlich verfasste Legitimationssubjekte auch in digitalen Räumen. g) Ausgangspunkt der Legitimation: Individuum Ausgangspunkt demokratischer Herrschaftsordnungen ist – wie schon die Klassiker der politischen Theorie mit ihren Naturzustandskonstruktionen erkannt haben – auch nicht eine Nation oder ein Volk, sondern der Mensch, das Individuum. Das Individuum ist präexistent, nicht das Volk. Ursprünglicher Träger demokratischer Herrschaftsgewalt sind die durch die Verfassung und die Rechtsordnung zum Bürger werdenden Menschen als individuelle, mit Menschenwürde ausgestattete Subjekte. Ausgangspunkt der Legitimation ist dementsprechend das Individuum. Die von der Menschenwürde222 geforderte individuelle Selbstbestimmung und der Herrschaftszweck bzw. das Herrschaftsziel der „menschlichen Gemeinschaft“ verlangen, dass das einzelne Legitimationssubjekt auch selbst im Zusammenwirken mit anderen den Zuschnitt der „menschlichen Ge221

VII. 2. Zum Inhalt der Menschenwürde s. – neben den Kommentierungen zu Art. 1 Abs. 1 GG – Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, 2016, S. 11 ff.; Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997; Kreß, Ethik der Rechtsordnung, 2012, S. 117 ff. – Im hier relevanten Kontext s. auch Honer/Rudloff, DÖV 2020, 461 (464 f.). 222

142

VII. Lösungsansätze

meinschaft(en)“ bestimmen kann. Ein Volk erscheint dann als verfassungsrechtliche Zusammenfassung individueller Legitimationssubjekte, als Legitimationszusammenschluss. Die Koexistenz und Koordination verschiedener Demoi wird durch eine Mehrfachidentifikation des individuellen Legitimationssubjektes in und mit verschiedenen Verbands- bzw. Ebenenvölkern möglich. Es muss also wieder der Menschenwürdegehalt der Demokratie stärker in den Fokus der Legitimationskonstruktion rücken: Es geht um die von jedem einzelnen vorzunehmende demokratische Legitimation der Herrschaftsgewalt. In den vergangenen Jahren hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts223 zu Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG diesen individuellen Aspekt noch einmal deutlich herausgearbeitet und alltagstauglich verstärkt sowie wehrhaft gemacht; mithilfe dieser Konstruktion entsteht ein letztlich in der Würde des Menschen wurzelnder Anspruch auf Demokratie, der hinfällig wäre, wenn das Parlament Kernbestandteile politscher Selbstbestimmung aufgäbe und damit dem Bürger dauerhaft seine demokratischen Einflussmöglichkeiten entzöge.224 Die Menschenwürde als verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt wird dementsprechend auch jeweils an prominenter Stelle deutlich, wie Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 EUV oder Art. 1 EU-Grundrechtecharta zeigen. Maßgeblicher Bezugspunkt der Demokratie und der in der demokratischen Herrschaftsform ausgeübten Herrschaftsgewalt ist der Einzelne, der aufgrund seiner Menschenwürde und der dieser innewohnenden Garantie der Selbstbestimmung die Rechtfertigung ihm gegenüber (auch nur potenziell) ausgeübter Herrschaftsgewalt225 und der Herrschaftsordnung insgesamt verlangen

223 Seit BVerfGE 89, 155 (171 f.); dann BVerfGE 97, 350 (368 f.); 113, 273 (325); 123, 267 (330); 129, 124 (167 ff ); BVerfG, NJW 2014, 907 (909 f. Rn. 51 ff.); zuletzt noch einmal deutlich BVerfG, U. v. 5. 5. 2020, 2 BvR 859/15 u. a., Rn. 98 ff. 224 BVerfGE 123, 267 (341; 129, 124, 169); Schliesky, in: Morlok/Schliesky/ Wiefelspütz (Hrsg.), Handbuch des Parlamentsrechts, 2016, § 5 Rn. 17. 225 Die eigene Betroffenheit ist aber – um dies deutlich hervorzuheben – kein Kriterium der Legitimationsberechtigung (so auch BVerfGE 83, 37 [51]), sondern eine rechtstaatliche-prozessuale Kategorie. Maßgeblich ist vielmehr eine Annäherung an das „Kongruenz-Kriterium“ im Sinne einer möglichst weitreichenden, gelungenen Inklusion der Herrschaftsunterworfenen in den Kreis der Legitimationssubjekte. Ausführlich dazu F. Müller, Wer ist das Volk?, 1997, S. 11 f., 56; ders., Demokratie in der Defensive, 2001, S. 73 ff.

6. Rekonstruktion der Legitimität

143

kann.226 Schon der Menschenwürdebezug zwingt also dazu, dem Individuum ein subjektives Recht auf Legitimationsteilhabe und möglichst ergebniseffektive Legitimationsbewirkung zuzuerkennen.227 Wenn aber das Individuum und seine Menschenwürde Kern- und Ausgangspunkt der demokratischen Legitimation von Herrschaftsgewalt sind, dann müssen die digitalen Beeinflussungen der Meinungs- und Willensbildung wie z. B. von Künstlicher Intelligenz bzw. durch algorithmengesteuerte politische Diskurse und Willensbeeinflussungen sehr besorgt machen – vor allem, wenn es um den (bislang) zentralen demokratischen Legitimationsakt, die Wahlentscheidung, geht.228 Im Zuge einer Rekonstruktion der (demokratischen) Legitimität bedarf daher der freie Wille einer näheren juristischen Betrachtung229, denn die Willensfreiheit des Menschen ist wiederum zentrale Voraussetzung für die Übertragung, Zurechnung und Inanspruchnahme von Verantwortung,230 deren Zuschreibung Inhalt der Legitimitätsbeziehung ist. Unabhängig davon, ob man den freien Willen in der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG) 231 oder im allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 226 Abromeit, Wozu braucht man Demokratie?, 2002, S. 165 f.; Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 389; Boehme-Neßler, Das Ende der Demokratie?, 2018, S. 125 f.; P. M. Huber, in: Drexel u. a. (Hrsg.), Europäische Demokratie, 1999, S. 27 (33, 35); F. Müller, Wer ist das Volk?, 1999, S. 9 ff., 27, 59; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 657 ff. 227 P. M. Huber, in: Drexel u. a. (Hrsg.), Europäische Demokratie, 1999, S. 27 (34 f.); Pechstein, DÖV 1998, 569 (570 f.); Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 683 ff. 228 Dazu jüngst näher die Beiträge von von Ungern-Sternberg (S. 3 ff )., Vesting (S. 33 ff.), Volkmann (S. 51 ff.), Krüper (S. 67 ff.), Kaiser/Reiling (S. 85 ff.), Unger (S. 113 ff.) und Hoffmann-Riem (S. 129 ff.), in: Unger/von Ungern-Sternberg (Hrsg.), Demokratie und künstliche Intelligenz, 2019; s. auch Grunwald, Der unterlegene Mensch, 2019, S. 167 ff. – Kritisch zur einseitigen Fokussierung auf Wahlen Van Reybrouck, Gegen Wahlen, 2. Aufl. 2016, insbes. S. 45 ff. 229 Zum Kontext zwischen freiem Willen und Menschenwürde Zippelius, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 u. 2 Rn. 6 ff.; zur historischgeistesgeschichtlichen Fundierung der Menschenwürde im Grundgesetz Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Band 1, Art. 1 Rn. 3 ff.; Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, 2002, S. 342 ff. 230 Misselhorn, Grundfragen der Maschinenethik, 2. Aufl. 2018, S. 121. 231 Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Erstbearbeitung, Art. 1 Abs. 1 Rn. 18; Geminn, DÖV 2020, 172 (177); Isensee, in Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen, Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig zum 70. Ge-

144

VII. Lösungsansätze

Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG) 232 verortet sieht, so stellen subtile Beeinflussungen des freien Willens im politischen bzw. legitimatorischen Kontext eine massive Bedrohung für eine Kernvoraussetzung funktionierender Legitimationszufuhr dar, solange ein anthropozentrisches Legitimationskonzept maßgeblich bleibt.233 Nun hat die neuere Hirnforschung die Möglichkeit des freien Willens beim Menschen in Zweifel gezogen.234 Die nun zusätzlich mit digitalen Mitteln erfolgte Beeinflussung der öffentlichen Meinung wie auch der Willensfreiheit jedes einzelnen Nutzers im Internet, verstärkt durch Erkenntnisse und Instrumente der modernen Verhaltenspsychologie235, lässt den freien Willen in Gefahr geraten, ihn vielmehr als Idealbild längst vergangener Zeiten erscheinen. Damit kehrt der die Philosophiegeschichte durchziehende und als Grundkontroverse zwischen Erasmus von Rotterdam und Martin Luther ausgetragene Streit zurück, ob der Mensch einen freien oder einen unfreien Willen hat.236 Die Willensfreiheit des Individuums, die gleichermaßen demokratietheoretisch Voraussetzung für die Wahrnehmung demokratischer Rechte als auch des freien Mandats der burtstag, 2011, S. 269 ff.; zum Meinungsstand Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, 2016, S. 220 ff. 232 „Integritätsschutz“, s. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band I, 3. Aufl. 2013, Art. 2 I Rn. 22, 69 f. 233 Sogar dieses wird vom sog. Transhumanismus infrage gestellt, s. dazu (ablehnend) Grunwald, Der unterlegene Mensch, 2019, S. 131 ff., insbes. S. 144; Nida-Rümelin/Weidenfeld, Digitaler Humanismus, 2018, S. 188 ff.; Onfray, Niedergang, 2019, S. 633 ff.; Spiekermann, Digitale Ethik, 2019, S. 157 ff. 234 S. insbes. die Beiträge in: Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, 2004; dagegen Bauer, Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens, 2015, S. 25, 194 ff.; vgl. auch die Beiträge in Lampe/Pauen/Roth (Hrsg.), Willensfreiheit und rechtliche Ordnung, 2008. 235 Zu nennen sind etwa „Nudging“ (dazu grundlegend Thaler/Sunstein, Nudge, 6. Aufl. 2016; s. auch Spiekermann, Digitale Ethik, 2019, S. 254 ff.) und „Framing“ (dazu Wehling, Politisches Framing, 2016). 236 Erasmus von Rotterdam, Vom freien Willen, 1524, übersetzt von Otto Schumacher, 1940; Martin Luther, Vom unfreien Willen, 1525, nach der Übersetzung von Justus Jonas, herausgegeben und mit Nachwort versehen von Friedrich Geogarten, 1924; zu Luthers Schrift Amt der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (Hrsg.), Luther lesen – Die zentralen Texte, 2016, S. 124 ff. – Philosophiegeschichtlicher Überblick bei An der Heiden/Schneider (Hrsg.), Hat der Mensch einen freien Willen? Die Antworten der großen Philosophen, 2007.

6. Rekonstruktion der Legitimität

145

Repräsentanten und – wie gezeigt – für die Bewirkung demokratischer Legitimation ist, wird digital massiv beeinflusst. Formal bleibt die Willensentschließungsfreiheit des Individuums selbst bei dem chinesischen Überwachungssystem gewahrt, aber die Informationsselektion und die verhaltenspsychologische Erwartungssteuerung lassen den freien Willen zunehmend als Chimäre erscheinen.237 Der Streit um den freien Willen bekommt also in der heutigen Zeit angesichts neuer Erkenntnisse der Hirnforschung und der digitalen Überlagerung autonomer Willensbildungsprozesse neue Relevanz und im hier behandelten Kontext zusätzliche Brisanz, da ein zentraler Pfeiler demokratischer Legitimation einzustürzen droht. Eine Rekonstruktion der Legitimität muss sich also auch gerade und primär mit dieser Frage beschäftigen und den freien Willen des individuellen Legitimationssubjektes sicherstellen. Nach hier vertretener Auffassung gehören der freie Wille und die diesen umsetzende Willens(entschließungs)freiheit zum Kern der Menschenwürde. Die Voraussetzungen und inhaltlichen Prägungen der verfassungsrechtlichen Menschenwürdegarantie in Art. 1 Abs. 1 GG stammen aus der antiken Philosophie und dem Christentum, wie die zentralen philosophischen Streitfragen des „freien Willens“ und der „Gottesebenbildlichkeit“ des Menschen zeigen, und sind von und in der Renaissance bzw. dem Humanismus transportiert und der Nachwelt erhalten worden.238 Schon bei Giovanni Pico della Mirandola wird am Ende des 15. Jahrhunderts eine moderne, auf den freien Willen des Individuums abstellende Konzeption der Menschenwürde entwickelt.239 Die Men237

Zu den aktuellen Herausforderungen für den freien Willen Gabriel, Ich ist nicht Gehirn, 2017, S. 263 ff.; Geminn, DÖV 2020, 172 (177); Ladeur/Augsberg, Die Funktion der Menschenwürde im Verfassungsstaat, 2008, S. 54 ff.; Pauen/ Welzer, Autonomie, 2015, S. 205 ff. 238 Statt vieler überzeugend Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Band 1, Art. 1 Rn. 5; s. auch Gröschner, Weil Wir frei sein wollen, 2016, S. 115 ff. 239 Pico della Mirandola, De hominis dignitate – Über die Würde des Menschen, 1496, herausgegeben und übersetzt von Gerd von der Gönna, 2009, S. 9: „Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung, auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Willen und Entschluss erhalten und besitzen kannst. (…) Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen. (…) Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich

146

VII. Lösungsansätze

schenwürde erscheint als Eigenschaft, die Gott dem Menschen mitgegeben hat, nämlich Bildner und Gestalter seiner selbst zu sein.240 Schon bei Pico della Mirandola ist somit inhaltlicher Kern der Menschenwürde die radikale Freiheit zur eigenverantwortlichen Selbstbestimmung.241 Das Grundgesetz knüpft dann ganz bewusst an diese geistesgeschichtliche Tradition an, die über Kant, Hegel und viele andere diese Idee der Menschenwürde tradiert hat.242 Die Menschenwürde bedeutet im Staat des Grundgesetzes Selbstbestimmung auf der Grundlage des Eigenwertes jedes einzelnen Menschen, prägnant zusammengefasst lässt sich feststellen: „Zur Würde gehört Selbstbestimmung“.243 Und diese Selbstbestimmung, die sich im politischen und legitimatorischen Kontext als wesentlicher Legitimationsgrund darstellt, ist ohne einen freien Willen nicht denkbar und auch nicht leistbar. Damit besitzt der Mensch im Regelfall – bei allen und trotz aller biologischen, gesellschaftlichen und umfeldbedingten Beeinflussungsfaktoren – die Anlage und die Fähigkeit zum freien Willen.244 Daran ändern auch weder naturwissenschaftliche Versuche, Theorien oder Erkenntnisse noch die skizzierten digitalen Bedrohungen etwas, weil es sich um ein normatives Konzept der Menschenwürde und des in ihr verkör-

noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst. Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche.“ – Zu Pico della Mirandola Lembcke, in: Gröschner/Kapust/Lembcke (Hrsg.), Wörterbuch der Würde, 2013, S. 31 f. 240 Gröschner, Weil Wir frei sein wollen, 2016, S. 115 (121 ff.); Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, 2002, S. 344 f. 241 Zutreffend Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, 2002, S. 345. 242 Eingehend Kreß, Ethik der Rechtsordnung, 2012, S. 117 ff.; s. auch Hoffmann, Georg Wilhelm Friedrich Hegel – Eine Propädeutik, 3. Aufl. 2015, S. 431 ff.; Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Band 1, Art. 1 Rn. 5; Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, 2002, S. 355 ff.; Vieweg, Hegel – Der Philosoph der Freiheit, 2. Aufl. 2020, S. 479 ff. 243 Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Band 1, Art. 1 Rn. 11. 244 Nachdrücklich auch Pauen/Welzer, Autonomie, 2015, S. 168 ff.; Wadele, Willensfreiheit und Hirnforschung, 2006; dies., Art. Neuroautonomie, in: Gröschner/Kapust/Lembcke (Hrsg.), Wörterbuch der Würde, 2013, S. 287 (288).

6. Rekonstruktion der Legitimität

147

perten freien Willens handelt.245 Handelt es sich aber bei der Menschenwürde und dem freien Willen um normative Konzepte, so ist es Aufgabe des Staates und seiner Rechtsordnung, diese normativen Konzeptionen zu schützen.246 Der Staat hat somit gerade den freien Willen des Individuums zu schützen, zu sichern und zu ermöglichen, will er sich nicht der Möglichkeit einer Zuführung demokratischer Legitimation begeben. Da der freie Wille zu den wesentlichen Inhalten der Menschenwürdegarantie zählt, umfasst auch die staatliche Schutzpflicht des Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG den staatlichen Schutz des freien Willens.247 Aus der verfassungs245 Zutreffend Messner, Das Naturrecht, Teilband I, 8. Aufl. 1984/2018, S. 145, der betont, dass die Willensfreiheit keine Erscheinung der Naturkausalität sei, sondern eine solche des Lebens, und zwar des Lebens des Geistes, des Vernunftwillens, und daher auch nur als Willenskausalität, nicht aber als Naturkausalität, zu erklären sei. Die Naturwissenschaft sei nicht für ein endgültiges Urteil über die Willensfreiheit zuständig. 246 Das BVerfG, U. v. 26. 2. 2020, 2 BvR 2347/15 u. a., hat in seiner Entscheidung zur Suizidhilfe jüngst ebenfalls die hier vertretene Sichtweise zugrunde gelegt: „Der vom Grundgesetz geforderte Respekt vor der autonomen Selbstbestimmung des Einzelnen (…) setzt eine frei gebildete und autonome Entscheidung voraus.“ (Rn. 232). Und das Gericht weist mit Recht auf die Umfeldbezogenheit des freien Willens hin: „Zwar kann Willensfreiheit nicht damit gleichgesetzt werden, dass der Einzelne bei seiner Entscheidung in vollkommener Weise frei von äußeren Einflüssen ist. Menschliche Entscheidungen sind regelmäßig von gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren beeinflusst; Selbstbestimmung ist immer relational verfasst.“ (Rn. 235). – Auf einem anderen Blatt steht, ob das BVerfG die dem Grundgesetz voraus- und zugrundeliegende christliche Ethik, die z. B. in der Präambel zum Ausdruck kommt, in dieser Entscheidung hinreichend gewichtet hat. 247 Allgemein ebenso Gemmin, DÖV 2020, 172 (181). – Zu dieser Schutzpflicht Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Band 1, Art. 1 Rn. 40 ff.; s. auch Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Band 1, 3. Aufl. 2013, Art. 1 I Rn. 150: „individuelle Autonomie und Selbstbestimmung über das eigene Leben“ als „eigentliches Fundament“ der Menschenwürde. – Da diese Schutzpflicht auch auf einen Schutz vor Übergriffen fremder Staaten abzielt (a.a.O., Rn. 42), ist ohne Weiteres eine Schutzpflicht vor ausländischer Social Bots-Beeinflussung der politischen Willensfreiheit zu konstatieren, der der deutsche Staat derzeit allerdings nur unzureichend nachkommt. Zu der völkerrechtlichen Seite dieser Einflussnahme Kube, in: Uhle (Hrsg.), Information und Einflussnahme, 2018, S. 123 (149 ff.). – Auch die Informationsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG beinhaltet eine Schutzpflicht, den Kommunikationsprozess, auch soweit er der politischen Willensbildung dient, im Interesse eines freien Informationsflusses und der Informationsmöglichkeiten der Bürger offen zu halten, s. Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 1, 3. Aufl. 2013, Art. 5 I, II Rn. 221 f., und oben VII. 4.

148

VII. Lösungsansätze

rechtlich fundierten Legitimitätskonstruktion folgt somit ein Schutzauftrag für alle Verfassungsorgane, die Selbstbestimmung und den freien Willen des Individuums zu sichern, um auf diesem Wege die eigene Lebensgrundlage, die dauerhafte Zuführung demokratischer Legitimation, sicherzustellen. h) Plurale Legitimation: Baustein- und Netzzwerkdenken Da sowohl die Organisation des Staates als auch das Zustandekommen staatlicher Entscheidungen immer komplexer werden, bedarf das arbeitsteilige Zusammenwirken mehrerer unterschiedlich legitimierter Akteure einer adäquaten Legitimationskonstruktion. Dies gilt für den supranationalen Kontext als auch für digitale Vernetzungen in besonderem Maße. Netzwerke und Plattformen, auch unter staatlicher Mitwirkung, werden dabei zu zentralen Akteuren. Hinsichtlich der Legitimationssubjekte werden „Schwärme“ zu tatsächlichen und rechtlich relevanten Phänomenen, die gewachsene Legitimationsstrukturen bedrohen und zugleich auch neue Legitimationspotentiale aufweisen.248 Auf staatlicher Seite erscheint das „Behördennetz“ als neues normatives Leitbild der europäischen Amtshilfe, grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und digitalen Vernetzung.249 Schon diese beiden Beispiele zeigen, dass es eine Vielzahl von unterschiedlichen offenen Legitimationsfragen gibt, die sich nur mit einer pluralen Bausteinlegitimation lösen lassen. Dafür bedarf es verschiedener Legitimationsbeiträge, die durchaus von unterschiedlichen Legitimationssubjekten bzw. -zusammenschlüssen stammen können und durch Output-Legitimation angereichert werden sollten, um am Ende ein hinreichendes Legitimitätsniveau zu ergeben. Dafür bedürfen Netzwerke und Schwärme allerdings der normativen Formung und Begrenzung, kurzum: Es ist eine normative Abbildung der maßgeblichen Legitimati248

Kersten, Schwarmdemokratie, 2017, S. 125, 127 ff.; skeptisch Türcke, Digitale Gefolgschaft, 2019, S. 198, der vor einem „tribalistischen Volksbegriff“ warnt, der Demagogen „die Formung ihrer eigenen Gefolgschaften“ erlaube. 249 Dazu Schliesky, Die Europäisierung der Amtshilfe, 2008, S. 37 ff.; ders., in: Kahl/Mager (Hrsg.), Verwaltungsrechtswissenschaft und Verwaltungsrechtspraxis, 2019, S. 45 (56 ff.); ders., in: Hill/Schliesky (Hrsg.), Herausforderung e-Government, 2009, S. 11 (26); s. auch Franzius, ebd., S. 39 ff.; Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005; Sydow, Verwaltungskooperation in der Europäischen Union, 2004; Wettner, Die Amtshilfe im Europäischen Verwaltungsrecht, 2005.

6. Rekonstruktion der Legitimität

149

onsbausteine erforderlich. Entscheidend ist, Verantwortung und Vertrauen sichtbar, zuführbar und umgekehrt einforderbar zu machen. i) Normative Abbildung maßgeblicher Legitimationsbausteine Ein normatives Konzept von demokratischer und zusätzlicher sonstiger Legitimation bedarf der normativen Festlegung maßgeblicher Legitimationssubjekte, ihres Zusammenwirkens und der verschiedenen Verfahren und Mechanismen zur Legitimationszusammenführung. Verfassung und Gesetzgeber sind insoweit aufgerufen, diese normativen Festlegungen über den Satz „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ hinaus zu treffen, um unnötige Legitimationsverluste zu vermeiden. Dem Inhalts- und Funktionswandel sowie dem Baustein- und Netzwerkdenken bei pluraler Legitimation ist es auch geschuldet, Inhalt und Zustandekommen der konkreten Maßnahme der Herrschaftsgewalt stärker zu berücksichtigen. Der „Legitimation durch Verfahren“ kommt insoweit künftig eine stärkere Bedeutung zu, als der Gesetzgeber es in der Hand hat, bestimmte Netzwerkstrukturen zu normieren und damit legitimatorisch für maßgeblich zu erklären. Eine wahrhafte Verantwortungszurechnung, welche die InputLegitimation leisten soll, ist nämlich nur bei einer legitimatorischen Berücksichtigung des Weges zu einer Entscheidung bzw. Maßnahme möglich. Dieser Konkretisierungsprozess kann in einen Meinungsbildungs-, Willensbildungs- und Entscheidungsprozess untergliedert werden250, wodurch wiederum abgestufte legitimatorische Anforderungen in Abhängigkeit von der Nähe der eigentlichen Entscheidung bzw. Maßnahme möglich werden. Um demokratische und rechtsstaatliche Verantwortungszurechnungen auch bei komplexen Netzwerken zu ermöglichen, bedarf auch das Zuständigkeitskonzept einer Weiterentwicklung. Ein Lösungsweg zur Sicherung der rechtsstaatlichen und demokratischen Funktionen der Zuständigkeitsordnung bei einer komplementären Aufgabenwahrnehmung verschiedener Verwaltungsträger könnte in der neuen Figur einer Zu-

250 Zu den verschiedenen Phasen des Entscheidungsverfahrens Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 696 f. m.w.N.

150

VII. Lösungsansätze

ständigkeitsverzahnung liegen251. Um dem organisationsrechtlichen Gesetzesvorbehalt zu genügen, wäre eine gesetzliche Regelung denkbar, die es ermöglicht, Verfahrensteile oder Entscheidungsbeiträge der nach der Zuständigkeitsordnung eigentlich zuständigen Behörde zuzurechnen. Auf diese Weise könnte die Grundannahme der deutschen Zuständigkeitsordnung, dass eine einzige örtliche und sachlich zuständige Behörde das Verwaltungsverfahren einschließlich aller zu treffenden Entscheidungen vollständig selbst durchführt, aufrechterhalten werden. Eine derartige Rechtsfigur ermöglicht vernetztes Denken und Organisieren für komplexe Probleme und eine effektive Verwaltungsorganisation in digitalen Netzwerken. j) Legitimationsobjekt Legitimationsobjekt bleibt auch bei komplexeren Wegen des Zustandekommens die Herrschaftsgewalt, unabhängig davon, in welcher funktionalen Erscheinungsform sie auftritt. Allerdings muss gerade bei dem Legitimationsobjekt – wie gezeigt – die größere Komplexität der Herrschaftsgewalt durch die Beteiligung von (regelmäßig) mehreren Trägern der Herrschaftsgewalt, die sich möglicherweise auf verschiedene Legitimationssubjekte bzw. -zusammenschlüsse stützen, berücksichtigt werden. Herrschaftsgewalt ist dabei zeitgemäß als Tätigkeit der Herrschaftsorgane zur Realisierung von Herrschaftszwecken, -zielen und -aufgaben bzw. zur Annäherung an diese zu begreifen. Ausreichend ist dafür, dass die Maßnahmen von den Herrschaftsorganen aufgrund einer Verantwortungszurechnung zu vertreten sind; eine Eigenvornahme ist nicht zwingend erforderlich. Auch weiterhin wird die Entscheidung, die mit der Herrschaftsgewalt sichtbar und verbindlich wird, der typische Anwendungsfall einer Betätigung von Herrschaftsgewalt sein. Als Oberbegriff, der den Inhalts- und Funktionswandel der Herrschaftsgewalt zu erfassen geeignet erscheint, bietet sich der Begriff der „Maßnahme“ an. Das Legitimationsobjekt hat sich dabei im Laufe der Zeit – und erst recht im Zuge der Digitalisierung – verändert. Die Maßnahme der Staatsgewalt ist komplexer und komplementärer geworden, und zugleich gibt es auch weiterhin die mit Befehl und Zwang angeordnete klassische 251 Dazu bereits Schliesky, in: Leible (Hrsg.), Die Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie – Chancen und Risiken für Deutschland, 2008, S. 43 ff.; ders., in: Hill/Schliesky (Hrsg.), Herausforderung e-Government, 2009, S. 11 (34); zustimmend Ohler, ebd., S. 53 (62 f.), Ziekow, ebd., S. 69 (85).

6. Rekonstruktion der Legitimität

151

Entscheidung, etwa als Verwaltungsakt. Aber die psychologische Verhaltensbeeinflussung (z. B. „Nudging“), die Steuerung von Plattformen, das arbeitsteilige Zusammenwirken an Entscheidungen von unterschiedlich legitimierten Kompetenzträgern oder das Ingangsetzen automatisierter Entscheidungsprozesse mithilfe von Künstlicher Intelligenz sind ebenfalls immer Emanationen der Herrschaftsgewalt, die der Legitimation bedürfen. Gerade die Digitalisierung verstärkt also die Vielfalt der Legitimationsobjekte, für die eine adäquate Legitimationskonstruktion zur Verfügung stehen muss. k) Zusammenführung im Legitimitätsniveau Endpunkt aller Legitimationsstränge und Ort der Bewertung derselben ist und bleibt das Legitimitätsniveau, das sich als flexible Kategorie zur Legitimitätsbeurteilung erweist. Erforderlich ist – wie auch immer vom Bundesverfassungsgericht verdeutlicht – ein hinreichend effektives Legitimitätsniveau, das sich aufgrund einer wertenden Gesamtschau ergeben muss. Hinsichtlich der Graduierungen und genauen Bewertungskategorien bezüglich des Legitimitätsniveaus bestehen entsprechend den noch zu entwickelnden normativen Abbildungen neuer Legitimationszusammenschlüsse und neuer Legitimationsverfahren zwangsläufig noch Forschungsdesiderate. Maßgebend für ein effektives Legitimitätsniveau ist dabei, dass sowohl Input- als auch Output-Legitimationsstränge vorhanden sind. Dementsprechend lassen sich zwei Bewertungsmaßstäbe festhalten. Bei dem Input-Strang ist die Verantwortlichkeit gegenüber den Legitimationssubjekten zu bewerten, d. h. die Effektivität des Verantwortungs-, Zurechnungs- und Kontrollzusammenhanges – in politikwissenschaftlicher Terminologie: der Responsivität. Den zweiten Faktor stellt entsprechend dem Output-Strang die – sowohl ex ante als auch ex post vorzunehmende – Bewertung der Ergebnisse der Herrschaftsgewalt dar, die am Maßstab der Herrschaftszwecke, -ziele und -aufgaben vorzunehmen ist. Graduelle Differenzierungen können nach dem Inhalt der Herrschaftsgewalt in ihrer Auswirkungsdimension vorgenommen werden.

VIII. Ausblick Die Legitimität hat sich als grundlegende, aber zeitlich bedingte und inhaltlich – durchaus schnell – wandelbare Kategorie erwiesen. Zentrale Herrschaftszwecke wie Frieden, Sicherheit, Leben und Gesundheit, Wohlfahrt, Gerechtigkeit machen den zentralen inhaltlichen Kernbestand der Legitimität von Herrschaftsgewalt aus. Die konkreten Gewichtungen und die jeweiligen Ausgestaltungen der Legitimitätsideen in den spezifischen Herrschaftsordnungen und Herrschaftsgewalten sind aber zeitabhängig und wandelbar.1 Dieser Wandel kann durchaus schnell erfolgen: Schienen Leben und Gesundheit im europäischen Staat des 21. Jahrhunderts dank stetig steigender Lebenserwartung so gesichert zu sein, dass man sich getrost anderen legitimitätsspendenden Themen zuwenden und das staatliche Gesundheitssystem sogar zum Gegenstand von Einsparungen und Privatisierungen machen konnte, so hat die Corona-Pandemie Leben und Gesundheit in der Gewichtung der Herrschaftszwecke und daraus konkretisierten Herrschaftsziele zu einem aktuell alle anderen Herrschaftszwecke und -ziele überragenden Legitimitätsaspekt aufgewertet.2 Selbst gravierende Freiheitsbeschränkungen (Handlungs- und Bewegungsfreiheit, Freizügigkeit, Berufs-, Wirtschafts-, Eigentums-, Versammlungs- und Religionsfreiheit, ja sogar Menschenwürde) werden angesichts der mög1

Instruktiv Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 2. Aufl. 1991, insbes. S. 191 ff. Ähnlich dem frühen 18. Jahrhundert, als z. B. die städtische Obrigkeit von Lyon die Stadt im Angesicht der Pest für mehrere Jahre abschirmte und die „Gesundheitspolicey“ faktisch die Stadtregierung übernahm. S. Iseli, Gute Policey, 2009, S. 54. – Die Einschätzung von Iseli, a.a.O., S. 55, „Religions-, Armen- oder Medizinalpolizei wären in heutigen westlichen Gesellschaften nicht mehr denkbar“, muss wohl in pandemischen Zeiten neu überdacht werden. Zur Reaktion der Behörden angesichts der Pest im späten Mittelalter Bergdolt, Der Schwarze Tod in Europa, 4. Aufl. 2017, S. 183 ff.; zu den mittelalterlichen Pestzügen auch eingehend Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150 – 1550, 2. Aufl. 2014, S. 73 ff. – Die obrigkeitlichen Bemühungen zur Eindämmung der Pest haben sicherlich einen Beitrag geleistet, die Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols zu erreichen. 2

VIII. Ausblick

153

lichen Ansteckungs- und Ausbreitungswege des Virus, der drohenden Erkrankung vieler Personen, der drohenden Überforderung des Gesundheitssystems und schlimmstenfalls des Todes von Menschen mit der Schutzpflicht des Staates für Leben und Gesundheit der Menschen gerechtfertigt.3 Noch kurz vor der Pandemie hatte das Bundesverfassungsgericht der Freiheit eine bedeutsamere Stellung zugewiesen, als es ein individuelles Recht auf selbstbestimmtes Sterben und ggf. Selbstmord postulierte.4 Diese Gewichtungen haben sich aktuell deutlich verschoben, und es erweist sich einmal mehr, dass die Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung und taugliche Maßnahmen zur Seuchenvorsorge seit jeher zu den Aufgaben der (guten) Regierung gehören.5 Es verwundert daher nicht, dass sich während der Corona-Pandemie Nationalstaats-Nostalgiker bestätigt fühlen, wenn Grenzen geschlossen werden (können), weil dann offenbar auch alte Souveränitäts- und Legitimitätsmuster zu obsiegen scheinen.6 Unabhängig davon, dass die Phänomene der Vernetzung, Digitalisierung, Moralisierung u.v.m. nicht verschwunden, sondern nur aktuell in der Wahrnehmung überlagert sind, ist dies ein Trugschluss. Denn gerade ein kleines Virus zeigt, dass die souveränen Staatsgewalten allein hilflos sind und erst bei Informationsaustausch, Hinzuziehung von Experten, koordinierender Vernetzung und gegenseitiger Hilfeleistung erfolgreich sein können. Die Situation ist dennoch gefährlich, weil demokratische Verfassungsstaaten sich in der ersten Phase der Pandemie-Bekämpfung in ihrer Legitimitätszufuhr nur partiell von Diktaturen unterschieden: Zur potentiellen Rettung einzelner 3 BVerfG, B. der 3. Kammer des Ersten Senats vom 7. 4. 2020, 1 BvR 755/20; BVerfG, B. der 2. Kammer des Ersten Senats vom 10. 4. 2020, 1 BvQ 28/20. – Isolierungen, Kontaktverbote und Quarantäne kannte man schon im Mittelalter – der große Unterschied zu heute besteht darin, dass Religionsausübung und Gottesdienste im Mittelalter nicht verboten waren. S. Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150 – 1550, 2. Aufl. 2014, S. 81. 4 BVerfG, U. v. 26. 2. 2020, 2 BvR 2347/15 u. a., insbes. Ls. 1. 5 Achenwall, Die Staatsklugheit nach ihren ersten Grundsätzen entworfen, 3. Aufl. 1774, II. Theil, XII §§ 19 ff. (S. 152); Jung gen. Stilling, Die Grundlehre der Staatswirtschaft, ein Elementarbuch für Regentensöhne und alle, die sich dem Dienst des Staats und der Gelehrsamkeit widmen wollen, 1792, §§ 615 ff.; von Seckendorff, Teutscher Fürsten-Staat, 1754, S. 216. 6 Etwa Berman, Das Corona-Moment, NZZ vom 3. 4. 2020, S. 16. Allerdings wird auch das genaue Gegenteil behauptet, wonach die Corona-Pandemie das Absterben des Nationalstaates westlicher Prägung beschleunige, s. Ginn, Der Leviathan hat abgedankt, NZZ vom 9. 4. 2020, S. 17.

154

VIII. Ausblick

Menschenleben wurden Freiheiten massiv eingeschränkt. Der große Unterschied eines freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates zu einer Diktatur besteht aber darin, dass die Freiheiten durch Gerichte und den Druck einer demokratischen Öffentlichkeit wiedererlangt werden können – beide bleiben daher zentrale Voraussetzungen demokratischer Legitimität. Gefährlich ist die Situation aber dennoch, weil gleichzeitig ein Wettlauf um Effektivität stattfindet – hier könnten die Demokratien ggf. den Kürzeren ziehen, weil die Radikalität der Freiheitsbeschränkungen hinter einem diktatorischen Regime zurückbleiben muss (und sollte).7 Es ist bereits zu beobachten, dass digitale Überwachung und digitale Herrschaftsausübung z. B. in China während der Pandemie perfektioniert und nun als Legitimitätsnarrativ einer effektiven, dem Wohl der Gemeinschaft (in Form des Überlebens) dienenden Herrschaftsgewalt den Legitimitätsideen freiheitlicher Verfassungsstaaten entgegengesetzt werden.8 Die Herausforderungen für den demokratischen Verfassungsstaat sind im Zeitalter der Digitalisierung groß; die Legitimität der Staatsgewalt und damit des Staates sind durch die Digitalisierung bedroht. Da Legitimität im demokratischen Verfassungsstaat meist nur als demokratische Legitimität verstanden wird, müssen die Zersetzungs- und Zerfaserungserscheinungen der parlamentarischen Demokratie und ihrer Legitimationsverfahren mehr als beunruhigen. Dies liegt zum einen an den Wesensmerkmalen und Mechanismen der Digitalisierung, zum anderen und vor allem aber an der Nicht-Anpassung unserer demokratietheoretischen und verfassungsrechtlichen Grundannahmen an gewandelte gesellschaftliche und technische Realitäten. Was ist also zu tun? Es bedarf zunächst einmal der Rekonstruktion der Legitimitätskategorie, deren zentrale Parameter herausgearbeitet und dargestellt wurden. 7

Dies gebietet die Verfassung und ist grundlegender, nicht verhandelbarer Bestandteil der Legitimitätsidee. – Zum aktuellen Systemwettbewerb s. auch Forst, Das antidemokratische Virus, Süddeutsche Zeitung Nr. 102 vom 4. 5. 2020, S. 9; Ther, AluZ 35 – 37/2020, S. 40 ff. 8 S. Koch, Die Macht der Mikroben, Handelsblatt vom 10., 11., 12. und 13. April 2020, S. 14: „Das kommunistische Regime hat die Pandemie genutzt, um sein KI-basiertes Überwachungssystem zu perfektionieren. Und da sich dieses bei der Seuchenkontrolle bewährt hat, wird es als Modell für andere Länder zunehmend attraktiv. So wie westliche Mikroben den Westen groß gemacht haben, könnte ein Virus, das im Fernen Osten seinen Ursprung hatte, die chinesische Ära einleiten.“

VIII. Ausblick

155

Dabei muss dem gesellschaftlichen und technischen Wandel Rechnung getragen werden, und es müssen viel mehr Legitimationsmöglichkeiten als bisher genutzt werden. Dazu gehört, Legitimität nicht auf Demokratie und damit auf die Herrschafts- bzw. Regierungsform zu verengen, sondern das Legitimationspotential der anderen grundlegenden Staatsstrukturprinzipien wie Republik, Rechts-, Sozial- und Bundesstaat zu erkennen und zu nutzen. Dann bedarf es einer Neuformierung der Öffentlichkeit als Grundlage der legitimen Staatswillensbildung. Dafür ist unter Umständen die staatlich regulierte Schaffung demokratischer digitaler Plattformen erforderlich, die nicht von „Torwächtern“ in Gestalt weniger marktbeherrschender ausländischer Digitalkonzernen beherrscht werden.9 Die Verfahren der Willensbildung und Entscheidungsfindung müssen an die neuen technischen Qualitäten angepasst werden. Denn neben allen Gefährdungen bietet die moderne Informations- und Kommunikationstechnik auch zahlreiche zusätzliche Instrumente zur Öffentlichkeitsarbeit sowie neue Formen der Interaktion mit Bürgerinnen und Bürgern auch zwischen den Wahlterminen, die zur Erhöhung bzw. Verstärkung der Responsivität des parlamentarischen Handelns führen können. Entscheidungs- und Beteiligungsverfahren bei komplexen Rechtsetzungsprozessen oder gar der Verfassunggebung, die Einrichtung von Bürgerforen oder auch die öffentliche Petition über das Internet, die eher Bürgeranregung ist, sind Beispiele eines noch längst nicht ausgeschöpften Spielraumes zur Herstellung von Öffentlichkeit.10 Die aktuell in und von Parlamenten geführten Diskussionen, ob man in Notsituationen elektronische Kommunikationsmittel zur Herstellung der Öffentlichkeit genügen lassen sollte, werden zu weiteren Öffnungen, damit aber auch Veränderungen der Legitimations- und Öffentlichkeitsprozesse führen.11 9 Die Schaffung wäre beispielsweise mit Hilfe eines Staatsvertrages (des Bundes und) der Länder möglich, wobei wegen der demokratischen Öffentlichkeitsfunktion der Parlamente gerade diese eine bedeutsame Rolle spielen müssten. S. Schliesky, NVwZ 2019, 693 (701); nunmehr auch Kagermann/Wilhelm (Hrsg.), European Public Sphere – Gestaltung der Digitalen Souveränität Europas, www.aca tech.de/european-public-sphere (zuletzt aufgerufen am 14. 7. 2020), mit einem europäischen Lösungsvorschlag. 10 S. auch Siebten Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“, Demokratie und Staat, BT-Drs. 17/12290 S. 97 ff. 11 Zu den potentiellen Auswirkungen der Digitalisierung auf die Abgeordneten Ladeur, in: Broemel/Pilniok (Hrsg.), Die digitale Gesellschaft als Herausforderung für das Recht in der Demokratie, 2020, S. 43 ff.; s. auch Ingold, Der Staat 56 (2017), 491 ff.

156

VIII. Ausblick

Dafür ist dann auch die normative Abbildung neuer Entscheidungsprozesse erforderlich, bei denen die Verantwortungsteilung zwischen verschiedenen Trägern der Staatsgewalt und eventuell auch zwischen Staat und Gesellschaft anerkannt und begrenzt werden muss. Bei Portalverbünden gibt es mit Art. 91c Abs. 5 GG und dem darauf basierenden Online-Zugangsgesetz (OZG) 12 nun die ersten Ansätze zu genau dieser rechtlichen Normierung, die für die Zusammenarbeit in Sachfragen, beispielsweise in europäischen Behördennetzen13, oder in Gestalt der Normierung von Zuständigkeitsverzahnungen14 noch ausstehen. Für all dies muss aber auch das rechtsstaatliche Fundament der Demokratie in virtuellen Räumen ertüchtigt werden – dies bedeutet, dass auch die Verfassung angepasst werden muss.15 Die Notwendigkeit des Denkens und Handelns in Netzwerken zeigt sich in notstandsähnlichen Situationen wie der aktuellen Corona-Pandemie besonders deutlich. Die Verfahren der Informationsverarbeitung in der „Informationsgesellschaft“ sollten daher nicht länger als rechtlich untergeordnete Teile des staatlichen Entscheidungsprozesses verstanden werden. Denn wenn Informationen und Wissen tatsächlich die neue „Währung“ der Informationsgesellschaft sind16, dann wird man mittelfristig um einen perspektivisch veränderten verfassungsrechtlichen Blick auf das Tätigwerden sowohl des Staates als auch privater Konzerne bezüglich Informationsverarbeitung und Wissensgenerierung kaum umhinkommen. Es wären dann nämlich sowohl grundrechtliche als auch staatsorganisationsrechtliche Neuerungen im Grundgesetz angezeigt.17 Darüber hinaus muss der Staat als Informations- und Wissensgarant wiederbelebt werden. Denn der Glaube an die Richtigkeit und Integrität staatlichen Wissens sowie der daraus abgeleiteten Entscheidungen muss aufrechterhalten werden können, wenn der Legitimitätsglaube bezüglich der ausgeübten Herrschaftsgewalt nicht verlorengehen soll. Angesichts der 12 BGBl. 2017 I S. 2347. S. dazu Schliesky/Hoffmann, DÖV 2018, 193 ff.; Siegel, DÖV 2018, 185 ff. 13 Dazu grundlegend Schliesky, Die Europäisierung der Amtshilfe, 2008, S. 29 ff. 14 S. o. VII. 3. 15 Dazu bereits Schliesky, in: Hill u. a. (Hrsg.), Brauchen wir eine neue Verfassung? – Zur Zukunftsfähigkeit des Grundgesetzes, 2014, S. 215 ff. 16 Dazu Jöns, Daten als Handelsware, 2019; Wandtke, MMR 2017, 6 ff. 17 Vorschläge bei Schliesky, NVwZ 2019, 693 ff.

VIII. Ausblick

157

im Informationszeitalter bislang erschreckend begrenzten Ressourcen des Staates wird man aber auch um eine Neuabgrenzung zwischen privatem und staatlichem Wissen nicht umhinkommen. Dadurch kann der Staat auch wieder Vertrauen zurückgewinnen, wenn er zum Orientierungspunkt in einer unübersichtlichen digitalen Welt wird. Dies schließt die Wahrnehmung neuer Aufgaben bzw. Funktionen ein. Um die Richtigkeit der Informationen, welche die öffentliche Meinung bilden und beeinflussen, auch mit Blick auf private Akteure garantieren zu können, wird der Staat mittelfristig nicht um eine Kontrolle der Algorithmen umhinkommen. Letztlich muss hier der gleiche Gedanke der Gefahrenabwehr, der zentrale Grundlage der Legitimität der Staatsgewalt ist, gelten wie bei allen anderen Überwachungsaufgaben des Staates auch. Eine solche Algorithmenkontrolle ist derzeit vielleicht kaum vorstellbar, weil dem Staat die nötigen Kenntnisse und Kapazitäten fehlen. Zum Schutz der demokratischen Öffentlichkeit, im Übrigen aber auch zum Schutz des wirtschaftlichen Wettbewerbs muss der Staat hier dringend „aufrüsten“ und entsprechendes Know-how aufbauen, wie er es im Bereich von Atomkraft und Gentechnologie auch getan hat. So wenig wie staatliche Zensur die demokratische Öffentlichkeit beschneiden darf, so wenig darf eine (faktische) private Zensur durch algorithmengesteuerte Informationskontrolle oder die Entscheidungen von einzelnen Konzernverantwortlichen etabliert werden. All dies bewirkt eine andere Vorstellung von Legitimation und verlangt daher nach einer neuen Legitimitätsidee. In Zeiten multipler digitaler Vernetzung benötigen wir neue plurale Legitimationsmuster, wenn die parlamentarische Beratung allein nicht mehr für genügend Responsivität und im Ergebnis dann für zu wenig demokratische Legitimität staatlicher Entscheidungen sorgen kann.18 Hier liegt die positive Kraft der Digitalisierung, die uns zur Reform unseres Staats- und Legitimationsdenkens zwingt. Denn schon längst sind einige unserer Grundannahmen für Demokratie und demokratische Legitimation nicht mehr zeitgemäß: Das Nationsdenken als Grundlage für Zuordnungsentscheidungen zum Legitimationssubjekt, das Hierarchieprinzip als Bauplan für Legitimationsverfahren oder das Denken in monokausalen Legitimationsketten, um nur wenige Beispiele zu nennen, wird auch schon der aktuellen analogen 18 Dazu eingehend Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 588 ff.

158

VIII. Ausblick

Welt nicht immer gerecht – erst recht aber nicht der digitalen Welt. Wenn wir die Voraussetzungen und zugleich Errungenschaften unserer rechtsstaatlichen Demokratie bewahren wollen, zu denen die demokratische Öffentlichkeit und ein öffentlicher Staatswillensbildungsprozess unbedingt gehören, dann müssen wir unsere staatstheoretischen Grundannahmen der digital vernetzten, pluralen und stark arbeitsteiligen Welt anpassen. Die Demokratie in der digitalen Welt benötigt aber eine neue Idee, eine neue Konstruktion und auch eine anders hergestellte Öffentlichkeit. Die Grundlage einer derartigen neuen Legitimitätsidee ist eine Ethik des digitalen Staates, die dringend erarbeitet werden muss.19 Bei alledem können aber die dargestellten historischen Kontinuitätslinien des Legitimitätsbegriffes gewahrt bleiben. Ausgangspunkt der Legitimation ist und bleibt das Individuum mit seiner Menschenwürde, seiner Persönlichkeit und seinem freien Willen. „Legitimität“ ist und bleibt ein zentraler Begriff der Staatstheorie und des geltenden Staatsrechts. Die Kategorie der Legitimität kann auf eine lange und bewegte Geschichte zurückblicken. Dieser Blick in die Vergangenheit zeigt, dass der konkrete Inhalt, das normativ zu beachtende Legitimitätskonzept und die hinter der Herrschaft stehende Legitimitätsidee zeitabhängig sind und der jeweiligen Umfeldanpassung bedürfen. An diesem Punkt sind wir auch in der Gegenwart angekommen: Der Begriff der Legitimität ist unverzichtbar auch für die digitale Zukunft, sein Inhalt aber muss dem digitalen und sonstigen Wandel dringend angepasst werden. Aus der Geschichte des Legitimitätsbegriffes können wir dabei lernen, dass stabile Herrschaftsordnungen Input- und Output-Elemente kombinieren. Für digitale Räume ist dabei bedeutsam, dass erfolgreiche Input-Legitimation eine individualrechtliche Basis hat und eine zusätzliche Output-Legitimation durch erfolgreiche Problemlösung seitens der Herrschaftsgewalt am Maßstab der Herrschaftszwecke und Herrschaftsziele erzielt wird. Beide Stränge sind in digitalen Räumen aktuell prekär. Herrschaft ohne Legitimität degeneriert aber zu bloßer Machtausübung – auch und gerade in digitalen Räumen. Mit der Legitimitätsidee eines freiheitlichen Verfassungsstaates, die sich an der Menschenwürde und am freien Willen des Individuums orientiert, wäre dies nicht vereinbar. 19 Dazu Nida-Rümelin/Weidenfeld, Digitaler Humanismus, 2018, insbes. S. 164 ff.; Schliesky, in: Hill/Schliesky (Hrsg.), Auf dem Weg zum Digitalen Staat – auch ein besserer Staat?, Verwaltungsressourcen und Verwaltungsstrukturen, Bd. 30, 2015, S. 9 (26 f.); ders., NJW 2019, 3692 ff.

Personenverzeichnis Es werden nur die ausdrücklich im Text, nicht aber die in den Fußnoten erwähnten Personen verzeichnet. Aeneas 21 Althusius, Johannes 32 f. Aristoteles 37 von Bismarck, Otto 42 Bodin, Jean 33 Cicero, Marcus Tullius 21 Dreier, Horst 100 Erasmus von Rotterdam 78 f., 94 f., 107, 144 Falck, Niels Nikolaus 16 f., 39 Gratian 22 Großbritannien 129 Habermas, Jürgen 78 Hans, Tobias 96 f., Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 40 f., 77, 146 Hobbs, Thomas 33 f., 35 Huber, Ernst Rudolf 45 Jaspers, Karl 18 f. Jellinek, Georg 97 von Jhering, Rudolf 111 f.

Kant, Immanuel 146 Karl IV. (Deutscher Kaiser) 22 f. Kelsen, Hans 100 f. Kersten, Jens 65 Locke, John 34 f. Luhmann, Niklas 59 Luther, Martin 31, 79, 107, 144 Machiavelli, Nicoló 31 Marsilius von Padua 24, 26 f. Pico della Mirandola 30, 145 f. Renan, Ernest 97 von Rotteck, Karl 40 Rousseau, Jean-Jacques 35 ff. von Stein, Lorenz 39 f., 42 Thomas von Aquin 24 f. Vereinigte Staaten von Amerika 129 Vergil 21 Waitz, Georg 39, 100 Weber, Max 43, 50 f., 70, 122 Welcker, Karl 40 Wilhelm von Ockham 24 f.

Sachverzeichnis Akzeptanz 25 f., 136 Algorithmen 56, 59 f., 66 f., 78, 79, 107, 108, 135, 139 Altes Reich 38 Amt 28, 29, 113 amtliches Handeln 47 f. Amtsbegriff 28 Arabischer Frühling 105 Arbeitsteilung 109 f., 150 Arkanstaat 74 Assistenzsysteme 91 Autonomie 140 Behördennetz 148 Beteiligungsverfahren 155 Big data 59 f., 66, 78, 115 Bitcoin 14 Blockchain 14, 109 Blockchain-Gesetz 109 Börsenhandel 66 Briefwahl 84 f Bundesstaatsprinzip 131 f., 155 Bundesverfassungsgericht 47 ff., 54 f., 60 f., 75, 80, 81 f., 95 f., 118 f., 121 f., 135, 137, 142 Bundeszentrale für politische Bildung 60 Bürgerforen 155 China 108, 129, 154 Corona-Pandemie 10, 12, 13, 65, 114, 129 f., 134, 152 f. Cyber-War 114 Cyborg 60

Daseinsvorsorge 46, 93 Deepfakes 79 Demokratieprinzip 48 f., 63, 64, 64 f., 105, 131 f., 136 f., – Prinzipiencharakter 49 – Raumbezogenheit 63 Demokratische Legitimation 47 ff. Demokratische Öffentlichkeit 74 ff., 111 – Schwinden der ~ 74 ff. Demokratische Verfassungsordnung 18 Digitale Identität 85 Digitale Räume 132, 158 Digitale Souveränität 14, 18 Digitalisierung 10, 59, 62 ff., 82, 84, 88, 92 f., 104 ff., 120, 133, 140, 150, 153, 154 ff. – Herausforderungen 62 ff. – rechtliche Gestaltung 104 ff. Digitalkonzerne 14, 65, 105, 120 Dreißigjähriger Krieg 32 Drittes Reich 45 E-Government-Gesetz 67, 118 Elektronischer Identitätsnachweis 102 Entscheidungsfindung 87 Entscheidungsphase 149 Ethik 16, 16 f., 23, 28, 45, 90 ff., 140 Europäische Union 98 f. Europäische Zentralbank 14 Europäisches Mehrebenensystem 132 Europäisierung 133 Exklusion 96 f.

Sachverzeichnis Fake-News 111, 116 Finanz- und Wirtschaftssystem 10 Flüchtlingskrise 72, 73 Flüchtlings- und Migrationsbewegungen 10, 13 Fortschritt des Gemeinwesens 27 Freier Wille 40 f., 78, 79, 90 ff., 140, 143 ff., 158 Freiheit 36, 114 Frieden 27, 33, 46, 114, 152 Führerprinzip 45 Funktionale Selbstverwaltung 49 Funktionsverluste 71 ff. Fürstensouveränität 9, 36, 38, 39 Fürstenspiegel 31, 57 f. Gemeinwohl 37, 114 Gerechtigkeit 27, 34, 114, 152 Gesellschaftsvertrag 34, 35, 36, 37 Gesetzgebungsverfahren 113 Gesetzmäßigkeit der Verwaltung 55 Gesinnungsethik 122 f. Gesundheit 152 Gewaltmonopol 35, 46 Gleichheit 36 Globalisierung 129 Goldene Bulle 22 f., 133 Gott 23, 23 f., 27 Gottesgnadentum 39 Großbritannien 129 Grundgesetz 47 ff., 81 Grundkonsens 50 f., 138 Grundrechte 92, 110 Grundsatz der eigenverantwortlichen Aufgabenerledigung 64 f. Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 21, 24, 37, 38 Herrschaft 9 Herrschaftsaufgaben 151 Herrschaftsfreier Diskurs 125 Herrschaftsgewalt 9, 15 f., 22 ff.

161

Herrschaftszwecke 10, 22 f., 28, 35, 70 f., 134 f., 138 f., 151, 152 ff. Herrschaftsziele 10, 70 f., 134 f., 138 f., 151 Hierarchieprinzip 157 Hirnforschung 123 Homogenität 96 imperium legitimum 21 f. Individuum 124, 141 ff. Industriestaat 114 Informationen 59 ff. Informationsfreiheit 115 f. Informationsgesellschaft 115, 156 Informationszugang 118 Input-Legitimation 25, 58, 72, 93 f., 133 ff., 139 Input-Legitimität 29 Institutionsvertrauen 10 Internationalisierung 129, 133 Internet 76, 155 IT-Sicherheit 56 Kaiser 23 f. Kaiserreich 42 f. Kameralismus 38 Kampf ums Recht 111 Klimadebatte 123 Klimaherausforderungen 10 Kultur 96, 103 Kulturgemeinschaft 96 Künstliche Intelligenz 66, 78, 91, 111, 135, 140, 150 Leben 152 Legal Tech 108 f. Legalität 43 f., 44, 52, 55 Legitimation 15 f., 47 ff. – demokratische L. 47 ff. – Legitimationsbausteine 149 f. – Optimierung 136 ff. – plurale ~ 148

162

Sachverzeichnis

Legitimationsarten 48 f. Legitimationskette 48, 64 ff. – Fragwürdigkeit des Modells 64 ff. – Kompensationsmöglichkeiten 67 f. – Unterbrechung 64 ff. Legitimationsniveau 48 Legitimationsobjekt 134 f., 150 f. Legitimationsstränge 25 Legitimationssubjekt 58, 80 ff., 83, 95, 134 f, 140 f. – Zurechnung zum ~ 83 f. Legitimationsverfahren 12 Legitimität 9 ff., 13 f., 15 ff., 20 ff., 128 ff. – Begriff 9, 15 – Entwicklungsgeschichte 20 ff. – als inhaltliche Kategorie 91 – und Legalität 43 – materielle ~ 44 – Narrativ 21 – Rekonstruktion 128 ff. – Schwinden der ~ 62 ff. – Vertrauensbeziehung als Inhalt 53 ff. – zivilrechtlicher Gebrauch 20 f. Legitimitätsglaube 51,74, 139, 156 Legitimitätsidee 17, 17 f., 26, 70 f., 88 ff., 111, 128, 139, 157, 157 f. Legitimitätsniveau 151 Lehnswesen 28 f. – Treueverpflichtung 29 – Treueeid 29 Lex 20 f. Liberalismus 75 Liquid Democracy 106 Macht 9 Massenmedien 124 Medien 76 f. – redaktionelle Qualitätskontrolle 77 Medizintechnik 91 Mehrheitsprinzip 27, 136 f. Meinungsbildung 119, 149

Meinungsbildungsprozess 76, 87 Menschsein 91, 140 Menschenwürde 30 f., 90 ff., 114, 124, 137, 141 ff., 142 ff., 158 Misstrauensvotum 53 ff. Monarchisches Prinzip 38 f. Moralisierung 73 f., 123, 153 Nation 87, 94, 96, 97, 141 Nationale Identität 96, 103 Nationalsozialismus 44 f. Nationalstaat 87, 90 Naturgesetz 33 Netzbürger 99 Netzwerk 68, 102, 110, 111, 117, 132, 135, 148 Netzwerkdurchsetzungsgesetz 70, 120 Neustoizismus 28 NS-Herrschaft 17 Nudging 150 Öffentliche Meinung 77 f. – Manipulierbarkeit 77 f. Öffentliche Petition 155 Öffentlichkeit 56, 74 ff., 119 ff., 155 f. – als Mittel zur Durchsetzung von Vernunft 75, 123 – als Mythos 121 – Neuformierung 119 ff. – parlamentarische Öffentlichkeitsfunktion 122 – Privatisierung der ~120 – Strukturwandel der ~76, 125 – totale ~121 Online-Wahlen 81 f. Online-Zugangsgesetz 67, 85, 118, 156 Open Data 117, 118 Output-Legitimation 25, 58, 93 f., 133 ff. Output-Legitimität 29, 36, 68 ff.

Sachverzeichnis Papst 23 f. Parlament 124 Parlamentarismus 75 Persönlichkeit 78, 107, 124 Personenverbandsstaat 29 Piratenpartei 106 Plattformen 132, 148, 150 Plurale Legitimation 110 Politische Romantik 73 Politische Schicksalsgemeinschaft 96 Polizey 114 f. Portalverbund 156 Positivismus 42 f. potestas legitima 21 f. Privatheit 124, 127 Raum 111 Recht 9 Recht auf Demokratie 97 Recht auf Vergessen 119, 126 Recht auf Vergessenwerden 106 Rechtsstaatsprinzip 55, 131 f., 155 Reichspublizistik 38, Reichsstaatslehre 37 Reichsverfassung 37 Religionskriege 32 Renaissance 30 Repräsentation 75 Republikprinzip 131 f., 155 Richtigkeit 59, 117, 122, 156 Römisches Recht 20 ff. Russland 129 Sachsenspiegel 28 f. Säkularisierung 32, 36 Schleswig-Holstein-Problematik 39 f. Schuldenbremse 12 Schutzpflichten 69 f., 116, 147 Schwarm 80, 82, 148 Sicherheit 33, 34, 46, 114, 152 Social Bots 79, 107

163

Souveränität 9, 13, 18, 35, 36, 37, 46, 62 Souveränitätskonflikt 23 f. Soziale Netzwerke 76 f., 101, 111, 120 f. Sozialstaatsprinzip 131 f., 155 Spätscholastik 28 Staat 71 ff. – als Informationsgarant 59 f. – als Informations- u. Wissensgarant 115 f., 156 f. – als Orientierungspunkt 112 ff. – Vertrauensverluste 71 ff. Staatsangehörigkeit 81 Staatsräson 31 Staatsstrukturprinzipien 136 f. Staatstheorie 158 Staatsvolk 48, 80 ff., 97 f. – digitales ~102 Staatswillen 79, 155 f. Staatswissenschaften 114 Statistik 114 Steuerverwaltung 67 Supranationalisierung 129 Systemvertrauen 74 Systemwettbewerb 154 Teilvolkgedanke 82 f., 102 Territorialstaaten 37 Thronfolge 22 translatio imperii 23 f. Transparenz 125 Trojanischer Krieg 21 Türkei 129 Tyrann 32 Umfeldveränderungen 10 Unionsbürger 84, 101 Vasall 29 Verantwortung 113, 140, 143, 148 Verantwortungsethik 122 f.

164

Sachverzeichnis

Verantwortungsteilung 156 Verantwortungszurechnung 149 Verbindungsnetz 68 Vereinigte Staaten von Amerika 129 Verfassunggebung 155 Verfassungsstaat 47, 89, 125, 154, 158 Vernetzte Gesamtzuständigkeit 63 Vernetzung 64, 153 Vertrauen 11, 51, 53 ff., 71 ff., 76, 112 ff., 113 ff., 138 f., 157 – Informationen als Bezugsobjekt 59 ff. Vertrauensbeziehung 53 ff. Vertrauensfrage 53 ff. Vertrauensverluste 71 ff. Verwaltungsakt 55 Verwaltungsportal 118 Volk 47, 80 ff., 95 ff., 137, 140 f. – Auflösung 80 ff. – Europäisches ~98 f. – als Legitimationszusammenschluss 141 f. – Schicksalsgemeinschaft 96, 103 – Vergewisserung über das ~95 ff. – Volksbegriff 99, 103 f. völkisches Prinzip 45 Volksgesundheit 12 Volkssouveränität 9, 30, 35, 38, 40, 47 ff., 49, 80

– als Legitimationsprinzip 35 – als Legitimationstitel 38, 47 f. Wahl 50 Wahlakt 131 Wahrheit 34, 59, 122 Währungshoheit 14, 60 f. Währungspolitik 71 Wassergenossenschaften 49 Wasserverbände 49 Weimarer Reichsverfassung 43 f., 45 Weinabgaben 49 Weltbürger 99, 101 Widerstandsrecht 131 f. Wiener Schlussakte 39 Willensbildung 149 Willensbildungsprozess 76, 87 Willensfreiheit 144 f. Wohlbefinden 27 Wohlfahrt 152 Wormser Konkordat 23 Zuständigkeit 63 Zuständigkeitskonzept 149 f. Zuständigkeitsordnung 62 f. Zuständigkeitsverzahnung 68, 149 f. Zuwanderung 87 Zwei-Schwerter-Lehre 24 Zwölf-Tafel-Gesetze 21 ff.