Der König und das Korn: Die Getreidehandelspolitik als Fundament des brandenburgisch-preußischen Aufstiegs zur europäischen Großmacht [1 ed.] 9783428496525, 9783428096527

124 28 36MB

German Pages 440 Year 1999

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Der König und das Korn: Die Getreidehandelspolitik als Fundament des brandenburgisch-preußischen Aufstiegs zur europäischen Großmacht [1 ed.]
 9783428496525, 9783428096527

Citation preview

LARS ATORF

Der König und das Korn

Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Herausgegeben im Auftrag der Preußischen Historischen Kommission, Berlin von Prof. Dr. Johannes Kunisch

Band 17

Der König und das Korn Die Getreidehandelspolitik als Fundament des brandenburg-preußischen Aufstiegs zur europäischen Großmacht

Von

Lars Atorf

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Atorf, Lars: Der König und das Korn : die Getreidehandelspolitik als Fundament des brandenburg-preußischen Aufstiegs zur europäischen Großmacht / von Lars Atorf. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Quellen und Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte ; Bd. 17) Zugl.: Köln, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-428-09652-5

Alle Rechte vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0943-8629 ISBN 3-428-09652-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Für Sonja

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1998 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen. Erster Referent war Prof. Dr. Johannes Kunisch, das Korreferat hat Prof. Dr. Wolfgang Schieder übernommen. Der Tag des Rigorosums war der 26. Juni 1998. Dem eigenen Interesse, mich mit der Bedeutung der Getreidehandelspolitik für den machtpolitischen Aufstieg Brandenburg-Preußens im Zeitalter des Absolutismus wissenschaftlich auseinanderzusetzen, stand mein verehrter akademischer Lehrer Prof. Dr. Johannes Kunisch von Anfang an mit großer Offenheit gegenüber. Ihm gilt mein herzlicher Dank nicht nur für die hilfreiche Unterstützung bei zahlreichen wissenschaftlichen und organisatorischen Problemen, sondern er hat mir insbesondere alle erdenklichen Freiheiten gelassen und meinen Studien durch sein Vertrauen in ein gutes Gelingen den notwendigen Rückhalt gegeben. Auch den Herren Prof. Dr. Hartmut Harnisch sowie Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Neugebauer habe ich für wertvolle inhaltliche Anregungen und Ratschläge zu danken. Der Graduiertenforderung des Landes Nordrhein-Westfalen danke ich für die großzügige Gewährung eines Promotionsstipendiums. Mein Dank gilt ebenso dem Verlag Duncker & Humblot, Berlin, für die Aufnahme meiner Arbeit in die von ihm publizierte Reihe der „Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte". Des weiteren danke ich den Mitarbeitern der zahlreichen Archive und Bibliotheken, die diese Arbeit mit oft unerwartetem Engagement in Rat und Tat begleitet haben. Für ganz unterschiedliche Hinweise, Einwände und Korrekturvorschläge gilt mein Dank Dr. Michael Kaiser, Dr. Lothar Schilling, Dr. Holger Fleischer sowie Jürgen Mittag M.A. und Bernd Paffrath M.A. Neben meinen Eltern - und im speziellen meinem geliebten Vater - danke ich schließlich ganz besonders herzlich meiner Verlobten Dr. Sonja M. Fleischer, die mich trotz hoher eigener Arbeitsbelastung intensiv unterstützt und mir stets das Gefühl gegeben hat, auf demrichtigenWeg zu sein.

Köln, im Oktober 1998

Lars Atorf

Inhaltsverzeichnis Einleitung

13

Α. Die Wirtschaft im Zeitalter des Absolutismus

28

I. Merkantilismus und Kameralismus

28

II. Kameralismus und Getreidehandelspolitik

31

1. Johann Joachim Becher

31

2. Wilhelm Freiherr von Schröder

36

3. Joseph von Sonnenfels

39

4. Johann Heinrich Gottlob von Justi

42

III. Physiokratismus, Liberalismus und Getreidehandelspolitik

47

1. Der Physiokratismus von Francois Quesnay und Anne Robert Jacques de Turgot

47

2. Der Wirtschaftsliberalismus von Adam Smith

51

B. Die Ansätze der Anfangsperiode (1640-1713)

54

I. Die Zeit des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm 1

54

II. Der Große Kurfürst und die Getreidehandelspolitik

59

1. Programmatische Zielsetzungen des Kurfürsten

59

2. Die Bedeutung der Exportregulierung

60

3. Die Heeresverpflegung zur Zeit des Großen Kurfürsten

63

III. Die Zeit des Kurfürsten Friedrich III. (König Friedrich I.)

74

IV. Kurfürst Friedrich III. und die Getreidehandelspolitik

76

1. Die Getreideexportregulierung als Streitobjekt der wirtschaftspolitischen Zentralbehörden

76

10

Inhaltsverzeichnis 2. Gescheiterte Projekte privatfinanzierter Magazine

79

3. Die Heeresverpflegung in den Kriegen Kurfürst Friedrichs III

82

C. Die Periode der Systematisierung (1713-1740) I. Die Zeit König Friedrich Wilhelms 1

86 86

1. Die Umstrukturierung der Verwaltungsinstitutionen

86

2. Die allgemeine Wirtschaftspolitik König Friedrich Wilhelms 1

92

II. König Friedrich Wilhelm I. und die Getreidehandelspolitik 1. Programmatische Zielsetzungen des Königs

97 97

2. Der Schutz der Getreideproduzenten - Domänenpolitik und agrarische Schutzzollpolitik zugunsten der Landwirtschaft 102 3. Der Schutz der Getreidekonsumenten - Exportregulierung zugunsten der städtischen Getreideversorgung 114 4. Die Ausformung des staatlichen Getreidemagazinsystems zum Instrument der Getreidepreisregulierung und -Stabilisierung

120

5. Die Heeresverpflegung zur Zeit König Friedrich Wilhelms 1

133

D. Die ökonomischen Aspekte der Getreidehandelspolitik in der Periode der Ausdifferenzierung (1740-1786) I. Die Zeit König Friedrichs II

140 140

1. Vorbemerkung

140

2. Die Modifikation der Verwaltungsinstitutionen

141

3. Die allgemeine Wirtschaftspolitik König Friedrichs II

148

II. König Friedrich II. und die Getreidehandelspolitik

165

1. Programmatische Zielsetzungen des Königs

165

2. Kontinuität und Wandel in der Getreidehandelspolitik

168

3. Sonderaspekte der friderizianischen Getreidehandelspolitik

194

a) Gesamtstaatskonzeption und Provinzialität

194

b) Sozialpolitische Ziele und Erfolge

208

c) Die Getreidehandelspolitik und die erste Teilung Polens

222

Inhaltsverzeichnis E. Die militärischen Aspekte der Getreidehandelspolitik in der Periode der Ausdifferenzierung (1740-1786) I. Getreidehandelspolitik und Heeresverpflegung

232 232

1. Vorbemerkung

232

2. Die Heeresverpflegung zur Zeit König Friedrichs II

234

a) Heeresverwaltung und Verpflegungslogistik

234

b) Die Heeresverpflegung in Brandenburg-Preußen

243

c) Die HeeresVerpflegung in anderen europäischen Staaten

256

3. Programmatische Zielsetzungen König Friedrichs II II. Die HeeresVerpflegung in den Kriegen König Friedrichs II 1. Vorbemerkung

266 276 276

2. „Die Schule"-Der erste und ζ weite Schlesische Krieg (1740-1742/ 1744-1745) 277 a) Der gescheiterte Feldzug in Mähren im Jahr 1742

277

b) Der gescheiterte Feldzug in Böhmen im Jahr 1744

281

3. „Das Meisterstück" - Der Siebenjährige Krieg (1756-1763)

290

a) Die Nebenschauplätze

291

b) Der Festungs-und Lagerkrieg

306

c) Der „Kleine Krieg"

317

d) Die strategische Bedeutung der Heeresverpflegung

332

4. „Der Kartoffelkrieg" - Der Bayerische Erbfolgekrieg (1778/79) F. Die Periode des Niedergangs (1786-1806)

346 354

I. Die Zeit König Friedrich Wilhelms II. (1786-1797) und König Friedrich Wilhelms III. (1797-1806) II. König Friedrich Wilhelm II. und die Getreidehandelspolitik

354 359

1. Das Scheitern liberaler Reformen

359

2. Die zweite und dritte Teilung Polens

363

12

Inhaltsverzeichnis 3. Die Heeresverpflegung in den Kriegen König Friedrich Wilhelms II III. König Friedrich Wilhelm III. und die Getreidehandelspolitik

367 371

1. Die Phase verstärkter Exportregulierung

371

2. Die Heeresverpflegung zur Zeit König Friedrich Wilhelms III

376

Fazit

383

Anhang

392

Archivquellen

398

Quellen

400

Literatur

406

Hilfsmittel

427

Karten

428

Personen-, Orts- und Sachregister

429

Einleitung Der dynamische Aufstieg Brandenburg-Preußens zur europäischen Großmacht im Zeitalter des Absolutismus hat seit jeher die wissenschaftliche Forschung sowie zeitweise auch die öffentliche Diskussion in seinen Bann gezogen. Das weitreichende Interesse an diesem historischen Phänomen bringt Marion Gräfin Dönhoff in ihrem jüngst veröffentlichten Vortrag zur europäischen Dimension Preußens exakt auf den Punkt: Wie war es möglich, „daß Brandenburg-Preußen, das ärmste deutsche Kurfürstentum, das keinerlei Reichtümer besaß und dessen Bevölkerung zu achtzig Prozent Analphabeten waren, zur fünften Großmacht Europas aufstieg; und zwar in der verhältnismäßig kurzen Zeitspanne vom Regierungsantritt des Großen Kurfürsten, damit konsequenten Reformen und durch brutale Entmachtung der Stände das Fundament gelegt hatte, bis zum Tod Friedrichs des Großen im Jahr 1786."1 Aber auch die Frage nach den Auswirkungen der brandenburg-preußischen Großmachtwerdung auf die deutsche und europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts - hier sei exemplarisch auf die Entwicklung des deutschen Dualismus sowie die deutsche Polenpolitik verwiesen - verstärkte das wissenschaftliche Interesse an einem Staat, der auch nach seiner Auflösung durch den alliierten Kontrollrat am 25. Februar 19472 im Bewußtsein der gesamtdeutschen Bevölkerung präsent blieb. Neben den tradierten - beispielsweise militär- oder beamtenstaatlichen Paradigmen zeichnen vornehmlich die herausragenden Herrscherpersönlichkeiten der Hohenzollerndynastie dafür verantwortlich, daß sich das absolutistische Brandenburg-Preußen auch noch zum Ende des 20. Jahrhunderts einer weit über akademische Kreise hinausgehenden Aufmerksamkeit erfreut. Nicht zuletzt das enorme öffentliche Interesse im Zuge der Umbettung des Sarkophags König Friedrichs II. von der Burg Hohenzollern bei Hechingen in die Gruft des Potsdamer Schlosses Sanssouci3, machte im Jahr 1991 deutlich, welche Faszination dieser Monarch noch bis in die unmittelbare Gegenwart ausstrahlt.

1

2

Dönhoff;

S. 44.

Vgl. hierzu stellvertretend für andere Erdmann, S. 80-96 und vor allem S. 94. Vgl. hierzu Bentzien, S. 9-24. Die Gruft am östlichen Ende der obersten Terrasse des Schlosses Sanssouci hatte Friedrich noch zu seinen Lebzeiten anlegen lassen und als seine letzte Ruhestätte vorgesehen. 3

14

Einleitung

So kann es kaum verwundern, daß sich die deutsche Geschichtswissenschaft seit Beginn des 19. Jahrhunderts besonders intensiv mit den bedeutendsten Regentendes 17. und 18. Jahrhunderts auseinandersetzt, um deren individuelle Leistungen an der Spitze des brandenburg-preußischen Staates kritisch zu würdigen. Muß man konstatieren, daß „die Mehrung von Macht und Ansehen als letztes Ziel staatlichen Handelns"4 die Staatsräson sowohl BrandenburgPreußens als auch aller anderen absolutistisch regierten Fürstenstaaten der frühen Neuzeit darstellte, so ist zumindest Kurfürst Friedrich Wilhelm I., König Friedrich Wilhelm I. und König Friedrich II. zu attestieren, daß sie die Konsolidierung und Erweiterung der Staatsmacht und somit die staatliche Großmachtwerdung weitaus stringenter und erfolgreicher betrieben als die dynastischen Spitzen aller anderen europäischen Staaten.5 Insbesondere König Friedrich II. hatte bereits in seiner Kronprinzenzeit überaus deutlich weiden lassen, wie wichtig ihm „eine Vergrößerung des Staates", „die Ehre des Hauses und des Landes" und die Möglichkeit, „unter den Großen der Welt eine gute Figur" 6 abzugeben, war. Diese Zielsetzung mußte jedoch um so ehrgeiziger erscheinen, wenn man sich die katastrophale Ausgangslage des am Ende des Dreißigjährigen Krieges demographisch, politisch, militärisch und wirtschaftlich darniederliegenden Staates sowie die widrigen Rahmenbedingungen des ressourcenarmen, zersplitterten und aufgrund seiner geostrategischen Mittellage in höchstem Maße gefährdeten Territoriums vor Augen hält.7 Daß die Großmachtwerdung Brandenburg-Preußens im Zeitalter des Absolutismus dennoch vollzogen werden konnte, ist somit vor allem den drei exponierten Herrschern dieses Staates zuzuschreiben: Ungeachtet der Differenzen im Regierungsverständnis eines früh-, hoch- oder aufgeklärtabsolutistischen Herrschaftsanspruches verliehen sie dem brandenburgpreußischen Absolutismus insofern seine spezifische Charakteristik, als daß sie

4

Kunisch: Absolutismus, S. 30. Vgl. Howard, S. 262. Zur Dynastie der Hohenzollern vgl. auch Ritthaler, insbesondere S. 60-135. 6 Volz/Oppeln-Bronikowski (Hg.), Bd. 7, Schreiben des Kronprinzen Friedrich an den Kammerjunker von Natzmer vom Februar 1731, S. 197 und S. 199. 7 Vgl. diesbezüglich unter anderem die Äußerungen König Friedrichs II. von 1768 und 1776 bei Dietrich (Hg.), S. 596, S. 616-620 und S. 706-708, sowie in der „Histoire d' mon temps" von 1775 bei Volz/Oppeln-Bronikowski (Hg.), Bd. 2, S. 53. 5

Einleitung ihre Innen- und Außenpolitik konsequent in den Dienst ihrer Machtpolitik stellten, oder wie Müller-Weil prägnant formuliert: „Selbstbehauptung, territoriale Erwerbung, Arrondierung und Expansion nach außen sowie Stabilisierung, Konsolidierung und außenpolitische Funktionalisierung im Innern kennzeichnen die enge Verbindung von äußerer und innerer Politik in der Geschichte des preußischen Absolutismus. In dieser strukturellen Interdependenz liegt der Aufstieg Brandenburg-Preußens begründet."8 Da die Arrondierung staatlicher Macht sowie die territoriale Expansion untrennbar mit einem schlagkräftigen militärischen Instrumentarium, dem stehenden Söldnerheer des Absolutismus, verknüpft war, mußte dessen Aufund Ausbau zur vordringlichsten politischen Aufgabe der brandenburgpreußischen Monarchen werden.9 Diese Erkenntnis, das kann bereits hier bemerkt werden, sollte sich schließlich wie ein roter Faden durch die brandenburg-preußische Politik ziehen, somit die eigentliche Wurzel des preußischen Militarismus bilden und letztlich auch in den Politischen Testamenten der Monarchen als Existenzfrage des Staates ganz im Sinne des folgenden Leitgedanken durch die Generationen tradiert werden: „Vous devez Consevoir par La Situation de nos provinces, Combien un Militaire Nombreux nous est Indispensable."10 Um jedoch auf Dauer eine schlagkräftige, sukzessiv wachsende Armee in die machtpolitische Waagschale Kontinentaleuropas werfen zu können, konnte es nicht ausreichen, mittels kurzfristiger Rüstungsmaßnahmen eine sprunghafte Kapazitätsausweitung im militärischen Sektor zu erzielen. Vielmehr war es unumgänglich, den Ausbau des brandenburg-preußischen Heeres permanent und kontinuierlich voranzutreiben, um - wie Kroener es für den wirtschaftlichen Bereich zur Zeit König Friedrichs II. eindrucksvoll nachweist11 - die begrenzten Ressourcen des Staates möglichst gezielt einzusetzen. Eine derartige Militär-

8

9

Müller-Weil,

S. 352.

Vgl. unter anderem Kunisch: Absolutismus, S. 84-86, und Ritter, S. 28-33, sowie Fetter, S. 55-59, und insbesondere Papke, S. 22-24, S. 154-161, S. 200-207 und S. 218-222. 10 Dietrich (Hg.), S. 620 (aus dem Politischen Testament Friedrichs II. von 1768); vgl. zu den Politischen Testamenten der einzelnen Monarchen auch S. 193195 (1667), S. 219 (1705), S. 238 (1722), S. 376-378 (1752), S. 445 (1752), S. 620 (1768), S. 708 (1776) und S. 752-753 (1797). 11 Vgl. Kroener: Wirtschaft und Rüstung der europäischen Großmächte im Siebenjährigen Krieg, S. 145, S. 153 und S. 169-170.

Einleitung

16

bzw. Rüstungspolitik mußte deshalb zwangsläufig eine Ausrichtung aller anderen Politikbereiche nach sich ziehen, indem neben einer effizienten Ausgestaltung der Heeres- und Zivilverwaltung sowohl die Finanz- und Steuerais auch die Wirtschaftspolitik konsequent in den Dienst einer leistungsfähigen Macht- und Militärpolitik gestellt wurde. Aus diesem Konglomerat von ineinandergreifenden und interdependenten Politikfeldern ragt schließlich ein Bereich heraus, der für den Aufstieg Brandenburg-Preußens von fundamentaler Bedeutung sein konnte und aus diesem Grund zum Gegenstand der vorliegenden Arbeit avanciert: die Getreidehandelspolitik. Wie kein zweiter Politikbereich tangierte die Getreidehandelspolitik sowohl in ihrem ökonomischen als auch militärischen Sektor die staatliche Machtbzw. Militärpolitik und bot damit die Möglichkeit, in mehrfacher Hinsicht funktionalisiert zu werden und somit einen gewichtigen Beitrag zur Großmachtwerdung zu leisten: So konnten die Zoll- und Steuereinnahmen aus dem Getreidehandel über eine zielgerichtete Finanzpolitik ebenso indirekt der Rüstung zugute kommen wie die getreidehandelspolitischen Maßnahmen zur Absicherung der Kontribution und Domänenpacht, die die Getreideproduzenten vor dem Ruin und somit den Staat vor verminderten Einnahmen schützten. Des weiteren bot eine erfolgreiche preis- und sozialpolitische Ausrichtung der Getreidehandelspolitik die Chance, im Zuge einer aktiven Bevölkerungspolitik das Steuer- und Rekrutenpotential der Bevölkerung nachhaltig zu stärken sowie durch moderate Getreidepreise die im 18. Jahrhundert einsetzende Protoindustrialisierung zu fördern, um somit ebenfalls über Zoll- und Steuereinnahmen indirekt - und im Bereich der Rüstungswirtschaft sogar direkt - die staatliche Rüstung intensivieren zu können. Neben dem preis- bzw. sozialpolitisch und damit primär ökonomisch motivierten Interesse der Arbeiter an einer preiswerten Versorgung mit „Getreide, dem mit Abstand wichtigsten Nahrungsmittel der frühen Neuzeit"12, steigerten unmittelbar militärische Aspekte zusätzlich das ohnehin bereits weitgefächerte Wirkungspotential der Getreidehandelspolitik. Da die Heeresverpflegung in den Kabinettskriegen des Absolutismus wie auch im Frieden maßgeblich auf der Brotversorgung basierte, waren getreidehandelspolitische Maßnahmen, wie zum Beispiel die präventive Thesaurierung oder verpflegungslogistische Rüstungen, unverzichtbar und somit von erheblicher Relevanz für die staatliche Macht- und Militärpolitik. Schließlich wurden diese getreidehandelspolitischen Möglichkeiten im militärischen Sektor dadurch

12

Schmidt,

Georg, S. 259.

Einleitung abgerundet, daß eine erfolgreiche und damit überlegene Heeresverpflegung sowie die taktische und strategische Nutzung dieses Vorteils zur erfolgreichen Kriegführung und damit wiederum zur effizienten Macht- und Militärpolitik entscheidend beitragen konnten.13 Daß diese vielfältigen zentralen Anforderungen an den ökonomischen und militärischen Sektor der Getreidehandelspolitik zumindest von den drei herausragenden brandenburg-preußischen Monarchen umfassend erkannt wurden, belegt nicht nur deren relativ umfangreiche theoretische Auseinandersetzung mit diesem Politikbereich. Auch die getreidehandelspolitische Praxis erfuhr eine deutliche Hervorhebung, indem - das sei bereits an dieser Stelle festgehalten - die drei Herrscher die Getreidehandelspolitik im Gegensatz zu vielen anderen Politikfeldern unmittelbar selbst leiteten. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es deshalb, die staatliche und damit in der Regel monarchische Getreidehandelspolitik Brandenburg-Preußens in ihrer Entwicklung detailliert nachzuzeichnen sowie kritisch zu analysieren, um zuerst zu überprüfen, inwieweit sie den kameralistischen Anforderungen im allgemeinen und den konkreten monarchischen Zielsetzungen im speziellen gerecht wurde. Daran anknüpfend ist dann zu bewerten, in welchem Maße die ökonomischen und militärischen Aspekte der Getreidehandelspolitik das Fundament des brandenburg-preußischen Aufstiegs zur europäischen Großmacht im Zeitalter des Absolutismus darstellten. Der zeitliche Rahmen der Untersuchung ergibt sich dabei aus zwei ereignisgeschichtlichen Zäsuren, die mit dem Anfang und Ende des brandenburg-preußischen Absolutismus gleichzusetzen sind und damit zugleich auch die Grenzdaten der absolutistischen Getreidehandelspolitik BrandenburgPreußens markieren: So stellt das Jahr 1640, in das der Regierungsantritt Kurfürst Friedrich Wilhelm I. fällt, die Geburtsstunde der brandenburgpreußischen Getreidehandelspolitik dar, so daß diesem Herrscher nicht zuletzt aufgrund seiner Aufbauleistung in diesem zentralen Politikbereich zurecht der Beiname „Großer Kurfürst" zugedacht wurde. Ganz im Gegensatz zu dieser dynastischen Zäsur, die in ihrer zeitlichen Nähe zum Westfälischen Frieden auch einen unmittelbaren Bezug zum gesamteuropäischen Epochenwechsel

13

Ein Beispiel für die zentrale Bedeutung der Heersverpflegung sowohl in absolutistischer als auch napoleonischer Zeit bildet das von Venturini zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelte Kriegsbrettspiel, bei dem Fragen der Heeresverpflegung im Mittelpunkt stehen. Vgl. diesbezüglich Goltz, S. 366-367. 2 Atorf

Einleitung

18

vom Zeitalter der Konfessionskriege zum Zeitalter des Absolutismus herstellt, bildet das Jahr 1806 mit der militärischen Katastrophe und dem daran anschließenden staatlichen Zusammenbruch den militärisch und politisch bedingten Endpunkt brandenburg-preußischer Getreidehandelspolitik. Ist deren Niedergang ebenfalls im zeitlichen Kontext der gesamteuropäischen Wendepunkte 1789 bzw. 1815 zu sehen und ist diese Periode zudem stark von dynastischen Gegebenheiten geprägt, so unterscheidet sich die Zäsur von 1806 dennoch fundamental von der des Jahrs 1640, indem die Getreidehandelspolitik Brandenburg-Preußens ihr Ende keineswegs zeitgleich mit einem dynastischen Wechsel fand. 14 Um die verschiedenen Entwicklungsstufen und damit die sich sukzessiv ausweitende Bedeutung eines überaus komplexen Politikbereiches über einen derart langen Zeitraum erfassen zu können, erscheint es unumgänglich, die brandenburg-preußische Getreidehandelspolitik in chronologischer Abfolge zu analysieren. Da jedoch ebenfalls eine angemessene Würdigung der beiden zentralen Sektoren dieses Politikfeldes notwendig ist, muß innerhalb der periodischen auch eine systematische Einteilung in die ökonomischen und militärischen Aspekte vorgenommen werden. Nur mit dieser konsequent zu verfolgenden methodischen Vorgehensweise wird es schließlich möglich sein, erstmals die ökonomischen - unter Einbeziehung der fiskalischen, demographischen und sozialen Facetten - sowie militärischen Aspekte der brandenburgpreußischen Getreidehandelspolitik in ihrer strukturellen Relevanz hervorzuheben und ihre Interdependenzen sowie ihren Grad an machtpolitischer Funktionalisierung herauszuarbeiten. Als Voraussetzung für diese Analyse ist in einem ersten Schritt die merkantilistische Programmatik der bedeutendsten Kameralisten in Bezug auf themenrelevante Äußerungen zu untersuchen, um so einen grundlegenden Einblick in die theoretischen Hintergründe der zeitgenössischen Wirtschaftspolitik im allgemeinen sowie der Getreidehandelspolitik im speziellen zu gewinnen. Auch wenn die Vermutung naheliegt, daß die brandenburgpreußischen Monarchen zwar eine besonders intensive, aber der Theorie der Kameralisten nahestehende sowie der Praxis anderer Staaten15 durchaus

14

Siehe zu diesen dynastischen Aspekten auch den Auszug aus der Stammtafel der Hohenzollern im Anhang der vorliegenden Arbeit. 15 Zur europäischen Perspektive der Getreidehandelspolitik siehe unter anderem Naudé : Die Getreidehandelspolitik der Europäischen Staaten vom 13. bis zum 18. Jahrhundert als Einleitung in die Preußische Getreidehandelspolitik, passim, sowie

Einleitung vergleichbare Getreidehandelspolitik betrieben haben, wird im Verlauf der Arbeit dennoch für jeden einzelnen Herrscher zu klären sein, in welchem Maße er sich in Theorie und Praxis von den Vorstellungen der Kameralisten abhob oder diesen nahekam. Ein anschließender kurzer Blick auf die physiokratische Theorie und Praxis sowie das wirtschaftsliberale Gedankenmodell des Schotten Adam Smith soll dabei nicht nur den Hintergrund für die Analyse des getreidehandelspolitischen Niedergangs in der Spätphase des brandenburgpreußischen Absolutismus bilden, sondern zugleich auch die Optionen verdeutlichen, die sich in der Gestaltung dieses komplexen Politikbereiches zumindest seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts boten. Der zweite Großabschnitt führt mit der Analyse der getreidehandelspolitischen Frühphase unmittelbar in médias res, indem die Ansätze in der Zeit der Kurfürsten Friedrich Wilhelm I. und Friedrich III. - dem späteren König Friedrich I . 1 6 - näher beleuchtet werden. Dabei ist insbesondere der Frage nachzugehen, inwieweit die Getreidehandelspolitik des Kurfürsten Friedrich Wilhelm I. bereits alle Facetten dieses Politikbereiches aufwies und in welchem Maße die einzelnen Sektoren schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in ihrer Bedeutung für die staatliche Macht- und Militärpolitik erkannt worden sind. Die Aufbauleistung des Großen Kurfürsten ist in diesem Zusammenhang einerseits in Bezug zu der katastrophalen Ausgangslage nach dem Dreißigjährigen Krieg und den widrigen territorialen Rahmenbedingungen des brandenburg-preußischen Staates sowie andererseits auch in Relation zu den Erfolgen und Mißerfolgen sowohl seines direkten Nachfolgers Kurfürst Friedrich III. als auch der beiden herausragenden Herrscherpersönlichkeiten des 18. Jahrhunderts, den Königen Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II., zu setzen. In einem weiteren Schritt gilt es anschließend, die innenpolitische Reformtätigkeit sowie die an seinen Großvater anknüpfende getreidehandelspolitische

auch Reinhardt, passim. Eine notwendige, längst überfällige tiefergreifende Aufarbeitung der Getreidehandelspolitik anderer europäischer Staaten würde zukünftig die Möglichkeit bieten, im Rahmen vergleichender Studien hier zu weiterführenden Ergebnissen zu gelangen und somit auch diesem Teil der Hypothese eine substanzielle Grundlage zu verschaffen. 16 Gegen die Verpflichtung zur Unterstützung der habsburgisehen Erbfolge in Spanien erreichte Kurfürst Friedrich III. die lang ersehnte Rangerhöhung: Am 18. Januar 1701 krönte er sich selbst in Königsberg zum König Friedrich I. in Preußen. Vgl. hierzu Karch, S. 140.

Einleitung

20

Aufbauarbeit des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I. neu zu würdigen, wobei unter anderem die Forschungsdefizite im Bereich vergleichender Analysen - und zwar weniger in bezug auf seinen Sukzessor als vielmehr bezüglich seines direkten Vorgängers - aufzuarbeiten sind. Hier wird die Frage im Vordergrund stehen, inwieweit dem Monarchen die Einführung eines preispolitischen Systems in der Getreidehandelspolitik gelang und mit welcher Intensität dieses System seine Anwendung im politischen Alltag fand. Daß der militärischen Nutzung des durch König Friedrich Wilhelm I. neu errichteten Kriegsmagazinsystems, mit dessen Getreidebeständen bzw. dem daraus herzustellenden Brot das Heer im Felde ausreichend verpflegt werden sollte, nur marginale Bedeutung zukam, kann bereits an dieser Stelle vermutet werden, da sich die Kriegführung dieses brandenburg-preußischen Herrschers auf die Teilnahme an einem einzigen, eher unbedeutenden Feldzug beschränkte.17 Mit der langen Regierungszeit König Friedrichs Π. erreicht die brandenburgpreußische Getreidehandelspolitik schließlich in jeder Beziehung ihren Höhepunkt, so daß auch der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit in der Analyse der Leistungen dieses Monarchen liegen muß. Um dabei die vor allem in der älteren Forschung oftmals viel zu einseitige, ausschließlich positive Beurteilung der friderizianischen Erfolge 18 in diesem Politikbereich zu relativieren, sollen in einem ersten Abschnitt die ökonomischen Aspekte einem kritischen Vergleich zu den Leistungen seines Vaters unterzogen werden, wobei insbesondere die gänzlich differierende Ausgangslage beider Herrscher zu berücksichtigen sein wird. Ist es das Ziel der Arbeit, in diesem Kontext sowohl Kontinuitätsstränge als auch Zeichen des Wandels aufzudecken, so sollen danach weitere wichtige Aspekte der friderizianischen Getreidehandelspolitik erstmals im Rahmen einer umfassenden wissenschaftlichen Analyse Berücksichtigung finden. Neben der Frage nach provinziellen Sonderrollen in der gesamtstaatlichen getreidehandelspolitischen Praxis sowie nach den Formen der ausschließlich sozialpolitischen Funktionalisierung dieses Politikbereiches steht das Phänomen der ersten Teilung Polens hierbei im Mittelpunkt, um im Zuge einer tiefergehenden Untersuchung die Zusammenhänge und Interdependenzen der brandenburg-preußischen Getreidehandelspolitik mit der friderizianischen Polenpolitik offenzulegen.

17

Dies war der Feldzug, den der König im Jahr 1715 gegen Schweden in Pommern führte. Vgl. Braubach: Vom Westfälischen Frieden bis zur Französischen Revolution, S. 109. 18 Siehe hierzu die anschließend folgende Skizze zur Quellen- und Forschungslage.

Einleitung In einem weiteren Großabschnitt muß die vorliegende Arbeit der absolut dominanten Zielrichtung staatlicher Getreidehandelspolitik in BrandenburgPreußen Rechnung tragen, indem die militärischen Aspekte dieses Politikbereiches in den Mittelpunkt der gesamten Untersuchung gerückt werden. Hierbei sind zuerst die umfangreichen theoretischen Schriften König Friedrichs II. zu analysieren, die sich intensiv mit sämtlichen Fragen der Heeresverpflegung sowie den damit zusammenhängenden rüstungspolitischen, logistischen, taktischen und strategischen Konsequenzen auseinandersetzen. Einer vergleichenden Analyse der Standards der brandenburg-preußischen Heeresverpflegung mit denen der in den anderen bedeutenden, europäischen Staaten gängigen Verpflegungspraxis 19 muß die Frage nach den zentralen Erfolgen bzw. Mißerfolgen der brandenburg-preußischen Heeresverpflegung in den friderizianischen Kriegen folgen. Wird dabei die Heeresverpflegung als integraler Bestandteil der staatlichen Getreidehandelspolitik begriffen, so ist bereits hier die für die Brandenburg-Preußen-Forschung überaus bedeutsame These aufzustellen, daß die beeindruckenden militärischen und somit machtpolitischen Erfolge König Friedrichs II. maßgeblich von der überwiegend erfolgreichen Gestaltung der Heeresverpflegung und damit des militärischen Sektors der Getreidehandelspolitik abhingen. Ist mit der detailgenauen Überprüfung dieser These bereits das Kernstück der hier vorliegenden Arbeit erreicht worden, muß in einem abschließenden Großabschnitt der Blick auf den Niedergang der brandenburg-preußischen Getreidehandelspolitik in den zwei Dekaden nach dem Tod König Friedrichs II. gerichtet werden. Erneut gilt es dabei, Kontinuitäten und Brüche festzumachen sowie der Frage nachzugehen, in welchem Zusammenhang die in zunehmendem Maße sowohl in ihrem ökonomischen als auch militärischen Sektor scheiternde Getreidehandelspolitik mit den militärischen Mißerfolgen 20 sowie letztlich dem staatlichen Zusammenbruch steht. Nach einer zusammenfassenden Betrachtung, in der noch einmal die Teilergebnisse der einzelnen Analyseschritte zusammengestellt werden, soll in einem kurzen Resümee die Frage aufgegriffen werden, in welchem Maße die Getreidehandelspolitik das

19

Die Analyse in international vergleichender Perspektive in diesem Teilbereich der Heeresverpflegung und damit des militärischen Sektors der Getreidehandelspolitik ist im Gegensatz zu sämtlichen weiteren ökonomischen und militärischen Aspekten aufgrund der günstigeren Forschungslage zumindest ansatzweise möglich. 20 Hier ist die militärische Katastrophe der Doppel Schlacht bei Jena und Auerstedt am 14.10.1806 angesprochen.

Einleitung

22

Fundament des brandenburg-preußischen Aufstiegs Großmacht im Zeitalter des Absolutismus darstellte.

zur

europäischen

Zur Quellen- und Forschungslage bleibt anzumerken, daß der umfassenden Edition der Acta Borussica21 weiterhin elementare Bedeutung zukommt und insbesondere deren vier Bände zur Getreidehandelspolitik sowohl im darstellenden als auch im editorischen Teil bei der Behandlung des hier relevanten Themenkomplexes unverzichtbar waren.22 Mit großer Detailgenauigkeit haben die Herausgeber Naudé, Schmoller und Skalweit in jahrzehntelanger Archivarbeit umfassendes Quellenmaterial zusammengetragen, das zugleich als Basis der umfangreichen Darstellungen sowie diverser Forschungsbeiträge dieser Autoren diente.23 Auch wenn diese Editionen und die aus ihr hervorgegangenen Studien bis zur hier vorliegenden Arbeit die einzige systematische Auseinandersetzung mit der brandenburg-preußischen Getreidehandelspolitik darstellen und somit zwangsläufig ihre grundlegende Wertigkeit bis in die Gegenwart behaupten konnten, erscheint eine neue systematische Analyse dieses in der jüngeren Forschung zu Unrecht vernachlässigten Politikbereiches in Anwendung eines komparatistischen und integrativen methodischen Ansatzes längst überfallig. So waren zum einen Desiderate in der vergleichenden Bewertung der Leistungen der aufeinanderfolgenden brandenburg-preußischen Monarchen beispielsweise unter den Stichpunkten „Kontinuität" und „Wandel" - nicht zu übersehen und zum anderen fehlte es vollständig an einer Abgleichung der getreidehandelspolitischen Praxis dieser Monarchen sowohl mit deren eigenen theoretischen Konzepten einerseits als auch dem einschlägigen kameralistischen Schrifttum andererseits.24 Das zentrale Forschungsdefizit offenbart

21

Vgl. Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert. Siehe insbesondere die 16 Bände zur Behördenorganisation sowie die 3 Bände zur Handels-, Zoll- und Akzisepolitik. 22 Vgl. Naudé/Schmoller/Skalweit (Hg.): Acta Borussica. Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazinverwaltung Brandenburg-Preußens, 4 Bde. 23 Vgl. beispielsweise Naudé: Die brandenburgisch-preußische Getreidehandelspolitik von 1713-1806, und Skalweit: Höhe und Verfall der fridericianischen Getreidehandelspolitik und Getreidehandelsverfassung. 24 Exemplarisch werden im Verlauf dieser Arbeit die vier bedeutendsten deutschsprachigen Kameralisten Becher, Schröder, Sonnenfels und Justi aufgegriffen, um deren wirtschafts- und getreidehandelspolitische Programmatik zu

Einleitung sich jedoch im 3. Band der Edition zur Getreidehandelspolitik, in dem unter dem Kurztitel „Versorgung der Armee im Kriege mit Magazingetreide" vier Kabinettsordern zusammengestellt wurden, die laut Fußnote nur zur Illustration dienen, da ansonsten auf die Analyse der Heeresverpflegung zugunsten einer exklusiven Konzentration auf die ökonomischen Aspekte der Getreidehandelspolitik verzichtet werde.25 Wie aber bereits die erste Auseinandersetzung mit dieser Thematik deutlich werden ließ, verhindert eine derartige Beschränkung auf die ökonomischen und damit Ausblendung der militärischen Aspekte weiterführende Erkenntnisse über die Dimension der machtpolitischen Funktionalisierung der Getreidehandelspolitik. Gilt es deshalb, im Sinne einer integrativen Sichtweise beide Sektoren zusammenzuführen, so mußte vor allem die Quellenbasis zu den Fragen der Heeresverpflegung erweitert werden. Zu diesem Zweck wurden vornehmlich die einschlägigen Archivbestände des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Berlin gesichtet und analysiert, wobei die kriegsbedingten Verluste und Schäden insbesondere der Heeresgeschichtlichen Sammlung26 (ca. 10% Restbestand) eine noch tiefergreifende Untersuchung beeinträchtigt haben. Obwohl vor allem die „Minüten" 27 , die Abschriften der königlichen Kabinettsordern, somit nicht zuletzt auch für andere Einzelaspekte an Bedeutung gewannen, erschien es auch zugunsten der Einbeziehung einer regionalen bzw. lokalen Perspektive unerläßlich, die Aktenbestände des Hauptstaatsarchivs in Düsseldorf sowie des Stadtarchivs in Wesel heranzuziehen. Erwiesen sich dabei die Provinzialakten der westlichen Territorien Brandenburg-Preußens 28 aufgrund umfangreicher Kriegsverluste nur als bedingt aussagekräftig, so konnte das

untersuchen. Vgl. Becher: Politische Diseurs, und Schröder: Fürstliche Schatz- und Rentkammer, sowie Sonnenfels: Politische Abhandlungen, und Sonnenfels: Grundsätze der Staatspolizey, Handlung und Finanzwissenschaft, sowie Justi: Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten, und Justi: Grundsätze der Policeywissenschaft. 25 Vgl. Naudé/Schmoller (Hg.): Acta Borussica. Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazinverwaltung Brandenburg-Preußens, Bd. 3, Nr. 61, S. 390-393 und insbesondere die Fußnote 1) auf S. 390. 26

Vgl. GSTA Berlin , IV. HA, B.

27

Vgl. GSTA Berlin , I. HA, Rep. 96 B.

28

Vgl. HSTA Düsseldorf\

Kleve, Kammer; Moers, Kammer; Kleve, Landstände.

Einleitung

24

weitestgehend vollständige Stadtarchiv der Festungs- und Magazinstadt Wesel wertvolle Quellenstücke zur Analyse bereitstellen.29 Dennoch standen auch weitere editierte Quellen im Mittelpunkt des Interesses, von denen an dieser Stelle nur auf einige besonders bedeutsame hingewiesen werden soll. An erster Stelle sind hier die von Dietrich herausgegebenen Politischen Testamente der Hohenzollern30 sowie die von Volz/Oppeln-Bronikowski edierten Werke Friedrichs des Großen31 zu nennen, die eindrucksvolle Einblicke in die dynastischen Arkana einerseits und das historiographische bzw. militärtheoretische Schrifttum König Friedrichs Π. andererseits gewähren. Wie auch die von Volz herausgegebene Sammlung der politischen Korrespondenz Friedrichs des Großen 32 bieten diese Editionen besonders authentisches Quellenmaterial, das nicht nur einen hohen Quellenwert besitzt, sondern außerdem im Kontext dieser Arbeit erstmals in Hinsicht auf getreidehandelspolitische Relevanz näher beleuchtet worden ist. Schließlich sind auch die große Edition zur Geschichte des Großen Kurfürsten 33, die Quellen und Darstellungen Stadelmanns zur Landeskulturtätigkeit der preußischen Könige 34 sowie die zeitgenössischen Memoiren eines Prittwitz bzw. Barsewisch35 zu erwähnen, die für wichtige Detailuntersuchungen unverzichtbar waren. Aus der umfangreichen Forschungsliteratur ragt neben den oben angeführten Teilen der Acta Borussica insbesondere das 18-bändige unvollendete Generalstabswerk zu den Kriegen König Friedrichs II. 3 6 heraus, das für die hier vorzunehmende Analyse der Heeresverpflegung grundlegende Bedeutung

29

Vgl. Stadtarchiv Wesel, A 1, Magistrats-Registratur. Vgl. Dietrich (Hg.): Die politischen Testamente der Hohenzollern. Siehe zu dieser Quellengattung auch die Äußerungen von Duchhardt: Das Politische Testament als „Verfassungsäquivalent". 31 (Hg.): Die Werke Friedrichs des Großen, 10 Vgl. Volz/Oppeln-Bronikowski Bde. 32 Vgl. Volz: Politische Correspondenz Friedrich des Grossen, 46 Bde. 30

33

Vgl. Urkunden

Wilhelm

und Actenstiicke

zur Geschichte des Kurfürsten

Friedrich

von Brandenburg, 23 Bde.

34

Vgl. Stadelmann (Hg.): Preussens Könige in ihrer Thätigkeit für die Landescultur, 4 Bde. 35 Vgl. Prittwitz: „Ich bin ein Preuße ...", und Barsewisch: Meine KriegsErlebnisse während des Siebenjährigen Krieges 1757-1763. 36

Vgl. Die Kriege Friedrichs

des Großen, 18 Bde.

Einleitung einnimmt. Ist diesem Hauptwerk militäramtlicher Kriegsgeschichtsforschung des 19. Jahrhunderts - wie im übrigen ebenso der Edition des K. und K. Kriegs-Archivs zum Österreichischen Erbfolgekrieg 37 - zwar eine oft allzu einseitige Bewertungs- und Interpretationstendenz vorzuwerfen 38, so liegt der Nutzen dieses Opus Magnus jedoch in seiner großen Detailfülle, seiner beinahe minutiösen Darstellungsweise und nicht zuletzt seiner bemerkenswerten Ansätze einer international vergleichenden Perspektive. Ebenfalls für dai militärischen Sektor der Getreidehandelspolitik konnte die von Westphalen vorgelegte, ebenso detaillierte Schilderung der Kriegsereignisse auf dem westlichen Schauplatz des Siebenjährigen Krieges39 fruchtbar gemacht werden. Ohne auf weitere wichtige Darstellungen zur Kriegs-40 wie auch zur Verwaltungs-41 und Wirtschaftsgeschichte 42 hier näher einzugehen, muß an dieser Stelle auch noch ein kurzer Blick auf die Entwicklung der einzelnen Forschungsstränge gerichtet werden. Wie bereits oben ausgeführt wurde, hat sich nur die ältere Forschung systematisch entweder mit den ökonomischen und das auch nur im Umfeld der Acta Borussica und mit den oben konzidierten methodischen Defiziten - oder militärischen43 Aspekten der brandenburg-

37

Vgl. Κ und Κ Kriegs-Archiv (Hg.): Oesterreichischer Erbfolge-Krieg 17401748, 8 Bde. 38 Entsprechende Kritikpunkte sind ebenfalls zu finden bei Raschke: Der politisierende Generalstab, sowie neuerdings auch bei Burkhardt: Kriegsgrund Geschichte ? 39 Vgl. Westphalen (Hg.): Geschichte der Feldzüge des Herzogs Ferdinand von Braunschweig-Lüneburg, 6 Bde. 40 Vgl. unter anderem Archenholtz: Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland, 2 Bde., und Großer Generalstab (Hg.): Heeresverpflegung, sowie Retzow: Charakteristik der wichtigsten Ereignisse des siebenjährigen Krieges, in Rücksicht auf Ursachen und Wirkungen, 2 Bde, und Schöning: Der Bayersche Erbfolgekrieg. 41 Vgl. Hintze: Einleitende Darstellung der Behördenorganisation und allgemeinen Verwaltung in Preußen beim Regierungsantritt Friedrichs II. Siehe hierzu auch die entsprechenden Quellenbände der Acta Borussica. 42 Vgl. Rachel: Die Handels-, Zoll- und Akzisepolitik Brandenburg-Preußens bis 1713/1713-1740, in den entsprechenden Quellenbänden der Acta Borussica. 43 Vgl. stellvertretend für andere Baumann: Studien über die Verpflegung der Kriegsheere im Felde, und Anonymus: Ueber das Verpflegungswesen im siebenjährigen Kriege, sowie Jahns: Geschichte der Kriegswissenschaften vornehmlich in Deutschland, Bd. 2/3, und Koser: Die preußische Kriegsführung im Siebenjährigen

26

Einleitung

preußischen Getreidehandelspolitik auseinandergesetzt. Insbesondere die jüngere Forschung hat es bisher völlig versäumt, den überholten Forschungsstand im ökonomischen Sektor44 aufzuarbeiten, und war mangels Beschäftigung mit diesem Politikbereich zudem nicht in der Lage, die gebotene Integration der militärischen Aspekte45 zu leisten, um damit den Stellenwert der Getreidehandelspolitik in der brandenburg-preußischen Machtpolitik und somit deren Bedeutung für die Staatsbildung sowie Großmachtwerdung kritisch zu würdigen. In Anbetracht dieser Desiderate hat sich die vorliegende Arbeit in Anlehnung an die grundlegenden Studien von Kroener, Kunisch oder auch Simsch46 zum Ziel gesetzt, die zuvor skizzierten Forschungsdefizite auszugleichen und somit

Krieg, sowie Linnebach: Zur Geschichte der Feldverpflegung in der Zeit der stehenden Söldnerheere, und Schnackenburg: TruppenVerpflegung in fridericianischer Zeit. 44 In der durchaus ergiebigen Merkantilismus-Forschung nehmen Fragen der Getreidehandelspolitik nur eine marginale Bedeutung ein. Vgl. hierzu Β laich: Die Epoche des Merkantilismus, und Haussherr: Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit vom Ende des 14. bis zur Höhe des 19. Jahrhunderts, sowie Hentschel: Manufaktur- und Handelspolitik des merkantilistischen Wirtschaftssystems, und Hosfeld-Guber: Der Merkantilismusbegriff und die Rolle des absolutistischen Staates im vorinduDie Wirtschaft: Vom Merkantilismus zur striellen Preussen, sowie Kaufliold: Industrialisierung, und Kellenbenz: Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1, sowie Treue: Wirtschafts- und Technikgeschichte Preussens. 45 Zwar hat die jüngere militärgeschichtliche Forschung Fragen der Heeresverpflegung wiederholt aufgegriffen, aber die unmittelbaren Zusammenhänge mit dem ökonomischen Sektor der Getreidehandelspolitik sind bisher völlig verkannt worden. Vgl. unter anderem Creveld: Supplying War, und Duffy: Friedrich der Große und seine Armee, sowie Kroener: Die materiellen Grundlagen österreichischer und preußischer Kriegsanstrengungen 1756-1763, und Niemeyer: Die preußische Heeresversorgung unter Friedrich dem Großen, und Opitz: Die preußische Armee im Kriege, sowie Papke: Von der Miliz zum Stehenden Heer, und Re g ling: Grundzüge der Landkriegsführung zur Zeit des Absolutismus und im 19. Jahrhundert. 46 Vgl. Kroener: Friedrich der Große und die Grundzüge der europäischen Kriegführung seiner Zeit, S. 230, und Kroener: Wirtschaft und Rüstung der europäischen Großmächte im Siebenjährigen Krieg, S. 153 und S. 169-170, sowie Kunisch: Der Ausgang des Siebenjährigen Krieges, S. 214-216, und Kunisch: Friedrich der Große als Feldherr, S. 203, sowie Kunisch: Das Mirakel des Hauses Brandenburg, S. 93-94, und Simsch: Armee, Wirtschaft und Gesellschaft, passim.

Einleitung einen konstruktiven Beitrag zum Verständnis der Staatsbildung und Großmachtwerdung Brandenburg-Preußens im Zeitalter des Absolutismus zu liefern. Obwohl beachtenswerte Forschungsbeiträge zu Einzelaspekten der hier relevanten Thematik, zum Beispiel bezüglich der Zusammenhänge zwischen den Migrationsbewegungen in Folge der europäischen Hungersnot 1770/72 und der friderizianischen Getreidehandelspolitik47, die internationale Dimension48 der letzteren erahnen lassen, ist weiterhin eine notwendige, in der jüngeren Forschung ebenfalls längst überfällige Aufarbeitung der Getreidehandelspolitik anderer europäischer Staaten zu vermissen. So bleibt abschließend festzuhalten, daß international vergleichende Studien im Rahmen dieser Arbeit nur im militärischen Sektor - und dort auch nur äußerst begrenzt - vorgenommen werden können und in entsprechender Breite wohl erst dann weiterfuhrende Ergebnisse ermöglichen werden, wenn zuvor die Getreidehandelspolitik der anderen bedeutenden europäischen Staaten einer kritischen Analyse unterzogen worden sind.

47

Vgl. diesbezüglich Naudé : Die Getreidehandelspolitik Friedrichs des Großen, 2. Teil, S. 246, und Hintze: Die Hohenzollern und die wirtschaftliche Entwicklung ihres Staates, S. 198, sowie Schmidt, Georg: Die frühneuzeitlichen Hungerrevolten, S. 268-269. 48 Vgl. unter anderem Otruba: Die Wirtschaftspolitik Maria Theresias, und Rothermund: Europa und Asien im Zeitalter des Merkantilismus.

Α. Die Wirtschaft im Zeitalter des Absolutismus I. Merkantilismus und Kameralismus Der absolutistische Fürstenstaat des Ancien Régime unterlag dem permanenten Zwang, seine staatliche Macht nach innen ebenso wie nach außen zu konsolidieren und gegebenenfalls auszubauen. Im Innern bedeutete dieser Kernpunkt frühneuzeitlicher Staatsräson zuerst einmal den Abbau ständischer insbesondere finanzieller sowie wirtschaftlicher - Privilegien und Institutionen. Schmoller wertet deshalb zu Recht den Ständekampf und somit den Übergang zum absolutistischen Fürstenstaat auch als konstitutive Phase einer zentralen staatlichen Wirtschaftspolitik. 1 Eine effiziente zentralstaatliche Wirtschaftspolitik war allerdings ebenso notwendig, um auch nach außen das Ziel der Machterweiterung - und zwar mit dem Instrument eines militärischen Potentials, das schlagkräftig und permanent verfügbar war2 - verfolgen zu können. Somit war sie vor allem Mittel zum Zweck: Sie sollte es ermöglichen, sowohl eine defensive, auf den eigenen Machterhalt ausgerichtete als auch offensive, an der eigenen Machtexpansion orientierte Kriegführung durch Rüstungsanstrengungen vorzubereiten sowie finanziell bestreiten zu können.3 Diese zentralstaatliche Wirtschaftspolitik, die die Wirtschaft ganz in den Dienst der Staatsräson stellte und sie damit zumindest in allen wichtigen Bereichen machtpolitisch funktionalisierte, prägte im absolutistischen Fürstenstaat die gesamte Wirtschaftsform, die man bis heute als Merkantilismus bezeichnet.4 Staatliche Wirtschaftsförderung bis hin zum Wirtschafts-

1 Vgl. Schmoller: Das Merkantilsystem in seiner historischen Bedeutung, S. 3637; vgl. hierzu auch Zielenzinger, S. 37, sowie Sommer, S. 97. 2 Vgl. Papke, passim. 3 Vgl. Heckscher: Der Merkantilismus, Bd. 2, S. 5-7. 4 Vgl. Zielenzinger, S. 16 (Fußnote), der darauf aufmerksam macht, daß der Begriff „Merkantilismus" zuerst bei den Physiokraten Verwendung fand und durch Smith {Jenkins (Hg.), S. 367.) populär wurde. Vgl. hierzu auch Gömmel/Klump, passim.

I. Merkantilismus und Kameralismus

29

dirigismus5 richteten zumindest rüstungs- und finanzpolitisch unverzichtbare Wirtschaftszweige auf die Verwirklichung der machtpolitischen Ziele hin aus.6 Diese den Merkantilismus charakterisierende Funktionalisierung der Wirtschaft im Dienste staatlicher Machtpolitik setzte jedoch einen relativ einheitlichen, territorial geschlossenen Staat mit eigenen machtpolitischen Interessen voraus. Somit war für das Deutsche Reich der frühen Neuzeit eine einheitliche merkantilistische Wirtschaftspolitik kaum möglich, denn in diesem Sammelbecken zumindest seit dem Westfälischen Frieden politisch weitgehend autonomer Staaten7, deren Grenzen zudem in vielen Fällen über die Reichsgrenzen hinausreichten, war eine einheitliche macht- und damit wirtschaftspolitische Interessenslage völlig undenkbar. Wenn Bog dennoch für die Jahre von 1675 bis 1715 von einem Reichsmerkantilismus spricht, so muß er selbst einschränken, daß in dieser Periode eine reichseinheitliche Wirtschaftspolitik ausschließlich einer äußeren Machtentfaltung diente.8 Die Bedrohung durch die wirtschaftliche und damit zugleich auch machtpolitische Potenz Frankreichs nötigte die deutschen Reichsfürsten unter der Führung Kaiser Leopolds I. zu einer gemeinsamen merkantilistischen Wirtschaftspolitik, die bis zum Spanischen Erbfolgekrieg durchaus erfolgreich war, bevor reichsinterne Gegensätze selbst diese nur nach außen einheitliche Wirtschaftspolitik unmöglich machte.9 Merkantilismus im Sinne einer dem inneren und äußeren Machtausbau dienenden, zentralisierten Wirtschaftspolitik war demnach im Deutschen Reich nur auf der Ebene der souveränen Territorialstaaten möglich, von denen insbesondere Österreich und Brandenburg-Preußen hervorzuheben sind10. Unter den österreichischen Monarchen, die im Zeitalter des Absolutismus besonders intensiv merkantilistische Wirtschaftspolitik betrieben haben, sind dabei vor allem Leopold I. und Maria Theresia zu nennen, während für Brandenburg-Preußen auf Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. hinzuweisen ist.11

5

Eine eingehende Darstellung merkantilistischer bzw. wirtschaftspolitischer Ziele, Praktiken und Instrumentarien wird im Rahmen der Analysen diverser kameralistischer Programmatiken noch in diesem Abschnitt folgen. 6 Vgl. Kaufhold: Der preußische Merkantilismus und die Berliner Unternehmer, S. 20, und Stolleis, S. 96 und S. 102. 7 Vgl. Sommer, S. 44. 8 Vgl. Bog, S. 149. 9

10

11

Vgl. Bog, S. 74-148. Vgl. Vierhaus, S. 389, und Sommer, S. 46.

Vgl. Sommer, S. 47-49, und Otruba, passim.

30

Α. Die Wirtschaft im Zeitalter des Absolutismus „Am stärksten ist merkantilistisch-kameralistische Politik in BrandenburgPreußen zur Wirkung gekommen, wo die wirtschaftliche Entfaltung in den Dienst der staatlichen Machtsteigerung . . . gestellt worden ist, . . ." 12

Vierhaus, Henning und Zielenzinger bezeichnen diesen Merkantilismus der deutschen Territorialstaaten als Kameralismus und somit den Kameralismus als „deutsche Variante"13 des europäischen Merkantilismus. Er habe im internationalen Vergleich eine besondere fiskalische Ausrichtung14 und benötige zu seiner spezifischen Ausgestaltung eine eigene, zu diesem Zweck entwickelte Verwaltungslehre. 15 Blaich hingegen ordnet den Merkantilismus dem Kameralismus mit der Begründung unter, daß der Kameralismus neben ökonomischen auch politische, juristische, soziale, verwaltungstechnische und vor allem fiskalische Elemente enthalte.16 Unabhängig von diesen gegensätzlichen Bewertungen der Interdependenz von Merkantilismus und Kameralismus bleibt aber festzuhalten, daß der deutsche Kameralismus - wie im folgenden zu zeigen sein wird - dezidiert merkantilistische Wirtschaftspolitik propagierte. Stollberg-Rillinger stellt somit treffend fest: „Die Kameralistik ist vor allem eine „Gebrauchswissenschaft" des territorialen Fürstenstaates. Ursprünglich landesfürstliche Finanzwissenschaft, erweitert sie (Hervorhebung durch den Versich zur merkantilistischen Staatswirtschaftslehre fasser), . . . , und sie erstreckt sich schließlich auf die gesamte zur wirtschaftlichen Wohlfahrt erforderliche innere Gestaltung des Gemeinwesens."17 Das Primärziel des Kameralismus und seiner merkantilistischen Wirtschaftspolitik blieb jedoch die Verbesserung der Staatsfinanzen, um die eigene Machtstellung im freien Spiel der Kräfte zwischen den souveränen europäischen Territorialstaaten zu festigen und wenn möglich auszudehnen. So diente die Wirtschaftspolitik der Finanzpolitik und diese wiederum der Außenund Machtpolitik eines Staates; nur im Bewußtsein dieser funktionalen Hierarchisierung ist es möglich, Kameralismus bzw. Merkantilismus als historisches volkswirtschaftliches Phänomen zu analysieren.

12

13

14

Vierhaus, S. 391. Henning, S. 239.

Der Begriff „Kameralismus" leitet sich von der Kameralistik ab, die ursprünglich als landesfürstliche Finanzwissenschaft für die fürstliche Schatzkammer verantwortlich zeichnete. Vgl. hierzu Stollberg-Rillinger. Der Staat als Maschine, S. 77. 15 Vgl. Vierhaus, S. 389, Henning, S. 239, und Zielenzinger, S. 104-108. 16 Vgl. Blaich, S. 16-17. 17 Stollberg-Rillinger: Der Staat als Maschine, S. 77.

II.

ameralismus und Getreidehandelspolitik

31

I I . Kameralismus und Getreidehandelspolitik 1. Johann Joachim Becher Zunächst sollen nun einige merkantilistische bzw. wirtschaftspolitische Ziele, Praktiken und Instrumentarien vorgestellt werden, wobei neben dem Blick auf zentrale grundlegende Forderungen des Merkantilismus bzw. Kameralismus vornehmlich die spezifisch getreidehandelspolitischen Aspekte näher zu betrachten sind. Da sich die vorliegende Arbeit mit der Getreidehandelspolitik Brandenburg-Preußens und somit eines großen deutschen Territorialstaates auseinandersetzt, wird in der folgenden Untersuchung auf einige der bedeutendsten deutschen Kameralisten zugegriffen. Eine derart exemplarische Analyse bietet sich jedoch nicht nur aus arbeitstechnischen Gründen an, sondern es wird sich rasch zeigen, daß die merkantilistische Programmatik anhand weniger herausragender Beispiele hinreichend deutlich gemacht werden kann. Aus der Gruppe der bedeutenden älteren bzw. klassischen deutschen Kameralisten18 ist zuerst Johann Joachim Becher zu nennen, dessen merkantiltheoretisches Programm in seinem Hauptwerk, der „Politische Diseurs"19, entwickelt wurde. Im Gegensatz zu Seckendorff, der seine wirtschaftstheoretischen Überlegungen noch ganz auf die fürstliche Kammerwirtschaft beschränkte, kommt Becher das Verdienst zu, die Wirtschaft erstmals nach dem Dreißigjährigen Krieg aus dem territorialstaatlichen Blickwinkel zu betrachten. Brückner bemerkt somit zu Recht, daß „Staatliche Wirtschaftspolitik als Förderung der „Commerden" .. . aus der aristotelischen Tradition her für ihn ein Gebiet der Politik und nicht der Ökonomie"20 darstellt. Die Grundlage von Bechers merkantilistischem Programm bildet dabei seine Staatsdefinition, die den Staat als Wirtschaftsgemeinschaft begreift und in der

18

Zu den bedeutenden älteren, deutschen Kameralisten werden in der Forschung übereinstimmend Becher, Hömigk und Schröder gezählt, deren Wirken in die zweite Hälfte des 17. und die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts fällt. Vgl. hierzu Zielenzinger, passim, und Dittrich, S. 58. Otruba verwendet anstelle des Gegensatzes „alt - neu" für die Kategorisierung der deutschen Kameralisten die Begriffe „klassisch - modern", die jedoch als inhaltlich unzutreffend abzulehnen sind. Vgl. hierzu Otruba, S. 29. 19 Der 1668 in 1. Auflage erschienene, jedoch später deutlich erweiterte „Politische Diseurs" wird hier - wie auch in der Forschung im allgemeinen üblich nach der 3. Aufl., Frankfurt, 1688, zitiert. 20

Brückner, S. 43.

32

Α. Die Wirtschaft im Zeitalter des Absolutismus

Zivilgesellschaft „eine volckreiche nahrhaffte Gemein"21 sieht. Becher vertritt damit die für den Merkantilismus wegweisende These, daß die Existenz und somit die Macht eines Staates aus seiner Volksmasse resultiert, eine Vorstellung, die weit über ein Jahrhundert hinaus die Peuplierungspolitik des absolutistischen Fürstenstaates prägen sollte. Da eine progressive demographische Entwicklung jedoch nicht auf eine ausreichende Nahrungsmittelproduktion verzichten kann, läßt Brückner die treffende Aussage machen: „Die Ernährungsfrage konstituiert den Sozialkörper" 22. Indem Becher ausführlich der Frage nachgeht, mittels welcher wirtschaftspolitischer Maßnahmen eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln zu gewährleisten ist, nähert er sich gleichsam wie von selbst den ökonomischen Aspekten der staatlichen Getreidehandelspolitik, da im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts - wie in weiten Teilen der Erde auch noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts - Nahrungsmittel vor allem Brot bedeuteten und Brot wiederum das wichtigste Getreideprodukt darstellte. Bevor sich nun die Untersuchung mit den getreidehandelspolitischen Vorstellungen Bechers beschäftigt, muß darauf hingewiesen werden, daß diese nicht nur auf eine positive demographische Entwicklung innerhalb des Staatswesens abzielten, sondern zugleich dezidiert die Immigration von Ausländern in die Wirtschaftsgemeinschaft beabsichtigten.23 Als Hauptproblem bei der Absicherung einer ausreichenden Nahrungsmittel- und somit vor allem Brotversorgung der Bevölkerung erkennt Becher zu Recht die mangelbedingte Inflation bzw. Teuerung, die er - einmal von Mißernten abgesehen - vor allem auf die schädliche Wirkung des Wuchers bzw. des Vor- und Aufkaufs zurückführt. Um dem Übel der wucherbedingten Inflation effektiv entgegenzusteuern und damit der Armut, dem Ruin und der Zwietracht in weiten Teilen des Untertanenverbandes vorzubeugen, fordert Becher ein allgemeines „Land- und Stadt-Magazin oder Proviant-Hauß"24. Dieses allgemeine Magazin soll in den Augen Bechers vor allem ein zentrales getreidehandelspolitisches Ziel verfolgen: die Stabilität der Getreidepreise.25 Zu diesem Zweck verlangt Becher die Beachtung von sieben Kriterien beim Aufbau und bei der staatlichen Verwaltung der Getreidemagazine: 1. Das staatliche Magazinsystem muß flächendeckend installiert werden, so daß ein 21 22 23 24

25

Becher, S. 1; vgl. auch Sommer, S. 40 (2. Teil), und Zielenzinger, S. 210-211. Brückner, S. 44; vgl. auch Stolleis, S. 96, und Zielenzinger, S. 210-211. Vgl. Becher, S. 236, wo vom „Zulauff von Menschen" die Rede ist. Bechen S. 236.

Vgl. Becher, S. 238, sowie Zielenzinger,

S. 237-238.

II.

ameralismus und Getreidehandelspolitik

33

Bauer maximal zehn Meilen bis zum Magazin zurückzulegen hat. 2. Die Magazineinkaufspreise sind jeweils für ein Jahr für eine Region zu taxieren, um den Getreideproduzenten Mindestpreise zu gewährleisten. 3. Ein Getreideexport über die Grenzen der Region bleibt den Bauern erlaubt, wobei sie dann die Preistaxierung der Nachbarregionen zu beachten haben. 4. Das Magazin übernimmt die Pflicht zur Abnahme bzw. zum Einkauf des in der Region produzierten Getreides zum taxierten Preis. 5. Der Verkauf des Magazingetreides und zwar sowohl in Bezug auf Umfang als auch auf Preis untersteht der Verfügungsgewalt der staatlichen Magazinverwaltung, solange diese dabei keinen Verlust macht. 6. Das Magazin kann durchaus privat mitfinanziert werden, wobei privaten Kapitalgebern kein Mitspracherecht bei der Verwaltung eingeräumt werden darf. 7. Alle Magazine müssen zu einem den Gesamtstaat umfassenden Magazinsystem zusammengefaßt werden, über dessen Vorräte die staatliche Leitung zu wachen habe, wobei der Hauptmagazinstadt koordinative Funktionen zukommen.26 Unter Beachtung dieser Kriterien erwartet Becher eine Fülle von Teilerfolgen, die zur landesweiten Getreidepreisstabilität beitragen sollen und somit die ausreichende Brotversorgung der Gesamtbevölkerung gewährleisten können. So soll durch die umfassende Preistaxierung zum einen der Wucher ausgeschaltet und zum anderen den Getreideproduzenten ein preisstabiler Absatz garantiert werden. Letzteres kommt jedoch nicht nur den Produzenten, sondern auch unmittelbar wiederum dem Staat zugute, indem es die Steuerleistungen der Getreideproduzenten in Form von Kontribution bzw. Domänenpacht entscheidend absichert. Des weiteren können die staatlichen Magazine in Notjahren bzw. bei Mißernten durch Magazingetreide hilfreich sein, so daß auch in Mangelzeiten die Inflation verhindert oder zumindest eingedämmt werden kann.27 Faßt man die getreidehandelspolitischen Vorstellungen Bechers zusammen, so zielt er vor allem auf stabile Getreidepreise, die mit dem Instrument eines staatlichen Getreidemagazinsystems erreicht werden sollen. Dieses hat die Aufgabe den privaten wucherischen Zwischenhandel auszuschalten und einen Ausgleich zwischen Stadt und Land und somit zwischen Produzenten- und Konsumenteninteressen herbeizuführen. 28 Bechers Vorstellungen können somit als in sich schlüssig, kohärent und für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts durchaus modern bezeichnet werden. Auffallend an der getreidehandels-

26 27 28

Vgl. Becher, S. 238-239; vgl. Sommer, S. 58-59 (2. Teil). Vgl. Becher, S. 239-241. Vgl. Becher, S. 242-243.

3 Atorf

34

Α. Die Wirtschaft im Zeitalter des Absolutismus

politischen Programmatik Bechers ist dabei, daß nur innerstaatliche Aspekte aufgegriffen und damit interstaatliche Wirtschaftsbeziehungen ausgeblendet werden, was in Anbetracht des in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Ostmitteleuropa niederliegenden internationalen Getreidehandels29 verständlich erscheint. Ebenfalls muß hier angemerkt werden, daß bei Becher wie bei sämtlichen anderen deutschen Kameralisten die militärischen Aspekte der Getreidehandelspolitik vollständig ignoriert oder zumindest marginalisiert werden, was sich aus der rein zivilen und nicht militär- oder machtpolitischen Orientierung des wirtschaftstheoretischen Schrifttums der Kameralisten erklärt. Bevor im folgenden ein weiterer Vertreter des älteren deutschen Kameralismus zu Wort kommt, soll zunächst noch ein kurzer Blick auf die allgemeinwirtschaftlichen merkantilistischen Vorstellungen Bechers geworfen werden. Neben der bereits oben erwähnten Forderung nach einer aktiven Peuplierungspolitik, die basierend auf der wirtschaftlichen Wohlfahrt der Untertanen die Steigerung der Wehr- und Steuerkraft und somit der staatlichen Machtposition verfolgte 30, stand die Zielsetzung einer positiven Außenhandelsbilanz im Zentrum der merkantilistischen Theorie Bechers. Und auch alle ihm folgenden Kameralisten bzw. Merkantilisten übernahmen dieses erste Ziel merkantilistischer Wirtschaftspolitik, das nur dann verständlich wird, wenn man den absolutistischen Staat als einen nach außen abgeschlossenen, souveränen corpus oeconomicus betrachtet, der sich auch wirtschaftlich in ständigem Wettbewerb und Konkurrenzkampf zu anderen Staaten befand. 31 Die Handelsbilanztheorie, die von dem Engländer Thomas Mun bereits 1621 entwickelt wurde 32, geht davon aus, daß der Reichtum eines Staates neben der Bevölkerungsmasse vor allem auf dem finanziellen Potential basiert, was im übrigen auch zu der äußerst fiskalischen Ausrichtung gerade des deutschen Kameralismus geführt hat.33 Da es sich bei der Verteilung der international vorhandenen Geldmenge aber in Zeiten der Metallgeldwirtschaft um ein zero sum game handelte, mußte die Thesaurierung bzw. Schatzbildung eines Staates in Konkurrenz zu der eines anderen treten. Nur ein Exportüberschuß im Außenhandel, dessen Gewinne über Steuereinnahmen zumindest teilweise in 29

Vgl. Abel: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur, S. 162-165 und vor allem S. 181-183. 30 Vgl. hierzu stellvertretend für andere Otruba, S. 165. 31 Vgl. hierzu stellvertretend für andere Sommer, S. 96-97, und Rothermund, S. 6-10. 32 Vgl. Rothermund, S. 60-62. 33 Diese fiskalische Ausrichtung wird sich besonders in der anschließenden Analyse der merkantilistischen Programmatik Schröders verdeutlichen.

II.

ameralismus und Getreidehandelspolitik

35

den Staatsschatz überführt werden mußten, konnte somit eine Steigerung der innerstaatlichen Geldmenge und nicht zuletzt des Staatsschatzes hervorrufen, so daß die merkantilistische Wirtschaftspolitik bestrebt sein mußte, diesen Exportüberschuß zu erzielen.34 Es erscheint einleuchtend, daß sich dieses Ziel nur verwirklichen ließ, wenn es durch entsprechende wirtschaftspolitische Maßnahmen gelang, Rohstoffe billig zu importieren, im Land zu verarbeiten und anschließend als Fertigwaren zu guten Preisen zu exportieren. Der Import von Fertigwaren sowie der Export von Rohstoffen waren demnach auf ein unumgängliches Minimum zu reduzieren.35 Entscheidend war dabei eine positive Handelsbilanz in der Summe aller Wirtschaftszweige und in Bezug auf alle Handelspartner eines Staates; unbelassen davon blieben singuläre Handelsdefizite in einzelnen Wirtschaftszweigen bzw. gegenüber einzelnen Handelspartnern. Somit war ein außenhandelspolitischer Erfolg immer nur in Relation zur gesamten Staatengemeinschaft und nicht etwa zu den eigenstaatlichen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen zu sehen.36 Auch Becher fordert im Sinne dieser Handelsbilanztheorie eine Palette an import- und exportregulierenden Maßnahmen, wie zum Beispiel generelle Verbote, Protektionismus mit Hilfe von Schutzzöllen oder auch Quantitätskontigentierungen. Neben staatlichen Subventionen bzw. Steuererleichterungen sieht er vor allem in einer staatlichen Handelskompanie das geeignete Instrumentarium, den privaten Außenhandel mittels einer staatlichen Institution zu regulieren. 37 Um diesen umfassenden Katalog an merkantilistischen wirtschaftspolitischen Maßnahmen sinnvoll aufeinander abgestimmt anzuwenden, wünscht sich Becher letztlich eine Zentralinstanz, wie sie Dittrich anschaulich beschreibt: „Über diesem allen sollte ein Kommerz-Kollegium aus Juristen, Kaufleuten und Verwaltungsbeamten stehen, das, übergeordnet über andere staatliche Stellen, die Grundlagen zur Lenkung der Volkswirtschaft (Hervorhebung durch den Verfasser) zu erstellen hatte."38

34

35

36 37 38

Vgl. Blaich, S. 86, und Rothermund, S. 8-10. Vgl. Blaich, S. 87.

Vgl. Heckscher: Der Merkantilismus, Bd. 2, S. 12. Vgl. Becher, S. 417, sowie Sommer, S. 57. Dittrich,

S. 61.

36

Α. Die Wirtschaft im Zeitalter des Absolutismus 2. Wilhelm Freiherr von Schröder

Obwohl die Analyse der merkantilistischen Programmatik Bechers annähernd alle signifikanten Charakteristika aufgezeigt hat, soll im folgenden ein weiterer älterer deutscher Kameralist in den Mittelpunkt der Untersuchung gerückt werden. Im Gegensatz zu Becher entwickelt Wilhelm Freiherr von Schröder in seinem Hauptwerk „Fürstliche Schatz- und Rentkammer" von 1752 ein wirtschaftspolitisches Programm, das explizit die Anfüllung der fürstlichen Schatzkammer zum Ziel hat und somit von einer primär fiskalischen Ausrichtung geprägt wird. 39 Schröder ist jedoch mit Becher - und beispielsweise auch Hörnigk - noch zu den älteren deutschen Kameralisten zu zählen, da sich seine wirtschaftstheoretischen Anschauungen ebenfalls auf rein volkswirtschaftliche Erwägungen beschränken, während sich die Gruppe der jüngeren deutschen Kameralisten in ihrem Schrifttum neben der Volkswirtschafts- auch mit der Finanz-, Verwaltungs- und Polizeistaatslehre beschäftigt. 40 Schröders Fiskalismus dokumentiert sich, wie Dittrich zu Recht feststellt, nicht nur als Selbstzweck bzw. fürstliche Geldgier, sondern steht im engen Kontext zur Wohlfahrt des Landes und seiner Bevölkerung. Das fürstliche Vermögen muß sinnvoll in die Volkswirtschaft eingebracht werden, um zum Beispiel Vollbeschäftigung und wirtschaftliche Prosperität zu fordern. Daß bei diesem an der wirtschaftlichen Wohlfahrt aller orientierten Fiskalismus eine sozial gerechte Steuerverteilung angestrebt wird, versteht sich wohl als logische Konsequenz.41 Wie auch Becher geht Schröder davon aus, den Staatsschatz vor allem über Außenhandelsgewinne füllen zu können: „Fürnehmlich und die gemeineste art geld in das land zu bringen, sind die commercien mit fremden Nationen/442 Die im Anschluß folgende Ausführung der Handelsbilanztheorie gelingt Schröder - in enger Anlehnung an Thomas Mun - sogar noch deutlich prägnanter, als dies Becher vermag.43 Ohne diesen Vergleich der allgemeinen volkswirtschaftlichen Vorstellungen Bechers und Schröders zu vertiefen, stellt sich nun vielmehr die Frage nach dai Unterschieden und Gemeinsamkeiten in ihren getreidehandelspolitischen

39

40

Vgl. Brückner, S. 47, und Stolleis, S. 98.

Vgl. zur Problematik der Abgrenzung des älteren vom jüngeren Kameralismus Dittrich, S. 123-124. 41 42

43

309.

Vgl. Dittrich, S. 64. Schröder, S. 125.

Vgl. Schröder, S. 125-126 und S. 177-178; vgl. auch Zielenzinger,

S. 308-

II.

37

ameralismus und Getreidehandelspolitik

Zielsetzungen. Dabei folgt Schröder Becher in der Grundthese, daß der Getreidehandel einen eher unbedeutenden Bestandteil der Handelsbilanz darstellen sollte und anstelle der Staatsschatzbildung primär der ausreichenden Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung zu dienen habe. Nur bei einer preiswerten und ausreichenden Brotversorgung der Arbeiter sei es dem Gewerbe möglich, preiswerte Produkte zu erzeugen, die ganz im Sinne der Handelsbilanztheorie umfangreiche Exportgewinne erst ermöglichen würden.44 Die Ursachen für eine Fehlentwicklung der Getreidepreise in Form von mangelbedingter Inflation sieht Schröder dabei in Mißernten, einem Mißverhältnis von Getreideproduktion und -konsum sowie schließlich in Kriegswirren bzw. einer Pestseuche.45 Ohne auf die Pestproblematik und die Konsequenzen von Mißernten näher einzugehen, schildert Schröder zuerst einmal anschaulich die den Handel störende und zum Teil zerstörende Wirkung des Krieges, die wohl implizit als Mahnung zum Frieden an die fürstliche Adresse zu werten ist. 46 Bezüglich der rein wirtschaftlichen Ursachen einer Getreidepreisinflation postuliert er dann im Anschluß das allgemeine Ziel einer Getreideüberschußproduktion, die durch landwirtschaftliche Förderungsmaßnahmen erreicht werden soll.47 Neben dieser eher allgemein gehaltenen Zielsetzung schlägt Schröder aber auch einige konkrete Maßnahmen vor, um das Getreidepreisniveau auf Dauer moderat zu gestalten: An erster Stelle steht dabei die Forderung, sämtliche Nahrungsmittel steuerfrei zu belassen, oder wie Schröder exakt formuliert: „Die wohlfeilkeit zu erlangen, so wäre zu wünschen, daß keine impost auf essen und trinken gesetzet, sondern solches dem gemeinen mann und allen unterthanen, als eine gnade, welche der liebe Gott über das ganze land ausschüttet, unangetastet gelassen würde."48 Außerdem sollte der Getreidexport nur bei äußerst niedrigen Preisen erlaubt sein und bei steigender Inflation stark eingeschränkt oder auch gänzlich verboten werden. Einem Schutz der Getreidekonsumenten kam auch die Forderung gleich, den Städten die freie Zufuhr des Getreides vom Land zu gestatten bzw. diese zu fördern. Schließlich folgt Schröder Becher in der Zielsetzung, den Wucher konsequent zu bekämpfen, wobei er nicht nur dessen

44

Vgl. Schröder, S. 187 und S. 194; vgl. auch Zielenzinger,

45

Vgl. Schröder, S. 83. Vgl. Schröder, S. 113 und S. 171.

46

47

S. 324.

Vgl. Schröder, S. 195. Eine konkrete Ausführung dieser landwirtschaftlichen Förderungsmaßnahmen unterbleibt jedoch bei Schröder. 48 Schröder, S. 307; vgl. auch Zielenzinger, S. 324.

38

Α. Die Wirtschaft im Zeitalter des Absolutismus

Forderung nach einem staatlichen Magazinsystem übernimmt, sondern in diesem Bereich auch weitere gezielte Maßnahmen vorschlägt. So soll die Marktordnung mit ihren detaillierten Kauf- und Verkaufsbestimmungen staatlich überwacht werden und zur Verhinderung von preistreibender Einlagerung großer Getreidemengen in Mangelzeiten sind Kontrollen mittels staatlicher Visitationen durchzuführen, um im Anschluß das über den Eigenbedarf des Besitzers hinausgehende Getreide zu taxierten Preisen - in der Regel unter dem hohen Marktpreis - zum Schaden des potentiellen Wucherers verkaufen zu lassen.49 Herausragende Bedeutung im Kampf gegen eine inflationäre Getreidepreisentwicklung nimmt jedoch bei Schröder wie auch bei Becher die Errichtung eines staatlich kontrollierten Getreidemagazinsystems ein. Noch bevor er durchaus detailliert auf diverse Einzelheiten der konkreten Magazinerrichtung und -Verwaltung eingeht, postuliert Schröder eine staatliche getreidepreisstabilisierende Magazinpolitik, wobei sich das Magazinsystem - ebenfalls wie bei Becher - finanziell eigenständig zu tragen hat. So soll es zu einem der Getreideproduktionsentwicklung angepaßten Wechselspiel von preisstützenden Einkäufen in Überschußzeiten und preissenkenden bzw. gegen Wucher gerichteten Verkäufen in Mangelzeiten kommen. Mit den Worten Schröders mußte sich dann der Erfolg einstellen, „daß sowol bey wohlfeilen als theuren zeiten eine Stadt oder eine Provinz ihr brod um gleichen werth essen könte."50 Bemerkenswert erscheint jedoch nicht nur diese klar durchdachte Konzeption der preisstabilisierenden Getreidemagazinpolitik, sondern es fällt auf, daß Schröder - wenn auch gleichsam wie im Vorbeieilen - der Magazin- und somit der Getreidehandelspolitik dezidiert auch eine militärische Funktion zuweist. So fordert er den Fürsten eines ressourcen-, gewerbe- und handelsarmen Landes auf, einen Kriegsschatz anzuhäufen, um die Machtposition und damit die Existenzfähigkeit seines Staates für etwaige Konfliktfälle abzusichern. Diese Rüstungstätigkeit und damit die - in der Praxis im Gegensatz zur hier untersuchten Theorie noch weitaus bedeutsamere - Ergänzung, Verknüpfung und nicht zuletzt Potenzierung der ökonomischen durch die militärischen Aspekte der staatlichen Getreidehandelspolitik deutet Schröder wie folgt an: „Solch ein Fürst muß andere gedanken machen, und einen solchen schätz sammlen, welcher zwar nicht gold noch silber ist, aber doch gold und silber werth ist; nemlich er soll magazinen voll fruchte auflegen (Hervorhebung durch

49 50

Vgl. Schröder, S. 307-311; vgl. auch Zielenzinger, S. 324. Schröder, S. 316; vgl. auch S. 312-316 sowie Zielenzinger, S. 324-325.

II.

ameralismus und Getreidehandelspolitik

39

den Verfasser), salpeter, pulver, schwefel, auch andere zum Krieg benöthigte dinge in groser bereitschaft haben."51

3. Joseph von Sonnenfels Nachdem bereits zwei der bedeutendsten älteren deutschen Kameralisten in ihren wirtschafts- und getreidehandelspolitischen Theorien näher beleuchtet worden sind, sollen nun die beiden wichtigsten jüngeren deutschen Kameralisten ins Blickfeld gerückt werden. Wie schon oben angedeutet muß einleitend daraufhingewiesen werden, daß deren Vorstellungen über merkantilistische Wirtschaftspolitik nur einen Teilbestand ihrer kameralwissenschaftlicher Literatur darstellt und durch Finanz-, Verwaltungs- und Polizeistaatstheorien ergänzt werden. Zunächst sind hier die wirtschaftspolitischen Anschauungen des Österreichers Joseph von Sonnenfels näher zu betrachten, als dessen beide Hauptwerke die in drei Teilen zwischen 1765 und 1776 erschienenen „Grundsätze der Staatspolizey, Handlung und Finanzwissenschaft" 52 sowie die Schrift „Politische Abhandlungen" von 1777 zu nennen und im folgenden zu analysieren sind. Obwohl dem Werk von Sonnenfels durch Teile der jüngeren Forschung eine kreative Eigenleistung abgesprochen und eher eine vornehmlich kompilatorische Charakteristik zugesprochen wird 53, bieten gerade seine getreidehandelspolitischen Vorstellungen einige neuartige Perspektiven, die im Kontext der hier vorliegenden Arbeit Beachtung verdienen. Übereinstimmend mit den älteren deutschen Kameralisten sieht Sonnenfels in einer zu starken Inflation der Getreidepreise ein Hauptübel der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: So führen hohe Brotpreise entweder über einen adäquaten Lohnausgleich zur kostenbedingten Konkurrenzunfähigkeit der eigenen Gewerbeprodukte oder bei ausbleibendem Lohnausgleich zum Ruin bzw. zur Emigration der Arbeiter. 54

51

Schröder, S. 370. Es fällt ins Auge, daß Schröder diese Forderung an die staatliche Getreidehandelspolitik zeitgleich mit dem preußischen König Friedrich II. erhebt, der in seinem ersten Politischen Testament vom Jahr 1752 eben diese Kriegsschatzbildung in Form von Getreide als zentrales Staatsziel proklamiert und - wie unten noch zu zeigen sein wird - bereits seit Jahren in der politischen Praxis intensiv verfolgt. 52 Zur genauen Abfolge der Teileditionen vgl. Reinalter, S. 4; dieses Werk wird im folgenden nach der zweiten verbesserten und vermehrten Auflage der Gesamtausgabe, München, 1801, zitiert. 53 Vgl. Reinalter y S. 1, und Kremers, passim. 54 Vgl. Sonnenfels: Politische Abhandlungen, S. 49-50, und S. 238.

40

Α. Die Wirtschaft im Zeitalter des Absolutismus

Aus diesem Grund postuliert Sonnenfels zuerst einmal in Anlehnung an Schröder das Ziel der Getreideautarkie, wobei eine etwaige Überproduktion nach englischem Vorbild zu exportieren wäre.55 Im Gegensatz zu Becher oder Schröder macht Sonnenfels jedoch darauf aufmerksam, daß eine gesamtstaatliche Exportregulierung - selbstverständlich bei gleichzeitiger uneingeschränkter Freigabe des Getreideimports - der Inflationsproblematik nur unzureichend gerecht würde. Produktion und Konsum, Überschuß und Mangel sowie die damit verknüpfte Preisgestaltung hängen seiner Meinung nach zu sehr von lokalen und regionalen Gegebenheiten ab und ein interprovinzieller Ausgleich sei aus infrastrukturellen bzw. verkehrstechnischen Gründen zu teuer oder gar unmöglich.56 Als Beispiel dieser regionalen Besonderheiten nennt Sonnenfels die Getreideversorgung der großen Hauptstadt eines Landes, die in den umliegenden Regionen zu einer weit überdurchschnittlichen Getreidenachfrage und somit zu landesweiten Höchstpreisen führt. 57 Für Sonnenfels - und da folgt er selbstverständlich wieder den älteren deutschen Kameralisten - ist eine preisstabilisierende Getreidehandelspolitik nur mit Hilfe eines flächendeckenden Magazinsystems zu bewerkstelligen, das jedoch auf die regionalen Umstände unbedingt abzustimmen ist. In Bezug auf sein Beispiel der Sonderrolle einer Hauptstadt schränkt er jedoch sofort ein, daß es nicht möglich sei, „einen gewissen Grad der Wohlfeilheit zu erreichen, als vielmehr nur, vor einem gewissen Grade der Theurung zu bewahren."58 Wie auch Becher und Schröder sieht Sonnenfels aber für das staatliche Gesamtterritorium die Notwendigkeit, den durch Mißernten oder Wucher hervorgerufenen Getreidemangel wirksam zu bekämpfen und damit - einmal von der Hauptstadt abgesehen - eine dauerhafte Preisstabilität zu erzielen.59 Entgegen aller Forderungen der bedeutendsten älteren und jüngeren deutschen Kameralisten plädiert Sonnenfels aber für ein privat finanziertes, in viele kleine

55 Vgl. Sonnenfels: Politische Abhandlungen, S. 14 und S. 77-80; vgl. auch Sommer, S. 371-373. 56 Vgl. Sonnenfels: Politische Abhandlungen, S. 372, S. 377 und S. 430, und Sonnenfels: Grundsätze des Staatspolizey, Handlung und Finanzwissenschaft, S. 244-245. 57 Vgl. Sonnenfels: Politische Abhandlungen, S. 373, S. 377-379 und S. 430. 58 Sonnenfels: Politische Abhandlungen, S. 380; vgl. zudem auch Sonnenfels: Politische Abhandlungen, S. 377-380. 59 Vgl. Sonnenfels: Grundsätze der Staatspolizey, Handlung und Finanzwissenschaft, S. 129-131; vgl. auch Dittrich, S. 114.

II.

ameralismus und Getreidehandelspolitik

41

Magazine zersplittertes System, das somit nicht nur bezüglich der Kosten preiswerter, sondern auch aufgrund kleinerer Lagereinheiten für die Getreidequalität von Vorteil wäre.60 Unbeschadet einem späteren Blick auf die getreidehandelspolitische Praxis in Brandenburg-Preußen, die - so viel sei schon hier vorweggenommen - die These von Sonnenfels widerlegt, erscheint diese Forderung nach privatfinanzierten Getreidemagazinen auch in der Theorie unschlüssig. Zu Recht haben beispielsweise Becher und Schröder erkannt, daß eine gezielte Ein- und Verkaufspolitik der Magazine eine kostendeckende oder sogar gewinnbringende Verwaltung ermöglicht. Schließlich - und das wird ebenfalls der Blick auf die Praxis zeigen - überschätzt Sonnenfels in diesem Punkt die Kooperationsbereitschaft der potenziellen Magazinbesitzer und unterschätzt die administrativen Probleme bei der zentralstaatlichen Leitung und Nutzung eines derart zersplitterten Getreidemagazinsystems. Seine tendenziell liberaleren Vorstellungen bezüglich einer staatlichen Getreidehandelspolitik äußern sich außerdem in der Forderung, die gesellschaftliche Position der Getreideexporteure 61 aufzuwerten, indem man ihre Tätigkeit nicht mehr als schädlich betrachtet bzw. sie nicht mehr öffentlich diffamiert, sondern ihnen das Recht der freien privaten Getreidelagerung zugesteht.62 Schließlich nennt Sonnenfels ganz im modernen Zeitgeist der Aufklärung explizit auch eine sozial bedeutsame Funktion des Magazinsystems: die Verpflegung der staatlichen Armenhäuser. Lediglich implizit wird dieser soziale Aspekt staatlicher Getreidehandelspolitik durch die Forderung ergänzt, daß der Magazinvorrat an unentbehrlichen Getreidearten umfangreich sein sollte, was auf die Möglichkeit umfassender Magazinhilfen in Hungerbzw. Notzeiten hinweist.63 Abschließend bleibt jedoch festzuhalten, daß die getreidehandelspolitische Programmatik von Sonnenfels in den zentralen Fragen durchaus im Rahmen des Merkantilismus und in der Tradition der älteren deutschen Kameralisten verbleibt. Wie letztere begreift auch er das Erreichen eines stabilen Getreidepreisniveaus als notwendige Voraussetzung einer dynamischen demographi60

Vgl. Sonnenfels: Grundsätze der Staatspolizey, Handlung und Finanzwissenschaft, S. 132. 61 Der Begriff Kornhändler, den Sonnenfels hier verwendet, könnte mißverständlich erscheinen, da hier nur Kaufleute angesprochen werden, die über die Landesgrenzen hinaus Getreide exportieren. 62 Vgl. Sonnenfels: Grundsätze der Staatspolizey, Handlung und Finanzwissenschaft, S. 245. 63 Vgl. Sonnenfels: Grundsätze der Staatspolizey, Handlung und Finanzwissenschaft, S. 128 und S. 130.

42

Α. Die Wirtschaft im Zeitalter des Absolutismus

sehen Entwicklung, die für Sonnenfels im Zentrum seiner wirtschaftstheoretischen Anschauungen steht.64 Daß diese Peuplierungspolitik allerdings nicht mehr nur fiskal- und militärpolitisch begründet wird, sondern im Sinne einer Steigerung der gesamtstaatlichen Binnennachfrage vor allem einer prosperierenden Gewerbewirtschaft dienen soll, verdeutlicht doch die Sonderstellung von Sonnenfels unter allen deutschen Kameralisten.65 Diese „endgültige Lösung vom Fiskalismus"66 manifestiert sich dabei vor allem in der Modifikation der traditionellen Handelsbilanztheorie: Entscheidend für die Bewertung der - auf einer wirtschaftspolitisch und nicht mehr fiskalisch orientierten Zollpolitik basierenden67 - Handelsbilanz ist nicht mehr der ins Land fließende Geldumfang, sondern die Frage, in welchem von zwei Staaten mehr Menschen beschäftigt sind.68 Der Gewinn dieser Beschäftigungsbilanz wie auch der allgemeinen Handelsbilanz ist aus der Sicht von Sonnenfels der entscheidende Indikator für die machtpolitische Bedeutung eines Staates: Die von einer erfolgreichen Getreidehandelspolitik getragene Peuplierungspolitik bildet somit die Basis der wirtschaftlichen Prosperität und damit zugleich der machtpolitischen Stellung eines Landes.

4. Johann Heinrich Gottlob von Justi Nachdem das wirtschafts- und getreidehandelspolitische Programm von Sonnenfels näher untersucht worden ist, erscheint es nun als unumgänglich, den zweiten bedeutenden jüngeren deutschen Kameralisten zu Wort kommen zu lassen, der sich wohl am intensivsten und zugleich systematischsten mit den Fragen merkantilistischer Getreidehandelspolitik auseinandergesetzt hat. Die Rede ist von Johann Heinrich Gottlob von Justi, aus dessen umfangreichem Werk hier vor allem „Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten" von 1760 sowie die „Grundsätze der PoliceyWissenschaft" von 1756 von Interesse sind.69

64 65 66

67

Vgl. Dittrich, S. 111-112. Vgl. Sommer, S. 344 (2. Teil). Brückner, S. 253.

Vgl. Sonnenfels: Politische Abhandlungen, S. 175-176. Vgl. Sonnenfels: Grundsätze der Staatspolizey, Handlung und Finanzwissenschaft, S. 385-386, sowie Dittrich, S. 112, und Sommer, S. 362 (2. Teil). 69 Die 1756 in 1. Auflage erschienenen „Grundsätze der Policey Wissenschaft" werden hier nach der 3., verbesserten und mit Anmerkungen versehenen Aufl., Göttingen, 1782, zitiert. 68

II.

ameralismus und Getreidehandelspolitik

43

Justi definiert in seinem Werk erstmals die „Glückseligkeit des Staates"70 als obersten Grundsatz der Kameralwissenschaften und diesem im Sinne der Aufklärung fortschrittlichen Ziel der Wohlfahrt des Fürsten und dessen Untertanen ordnet er konsequent auch die staatliche Wirtschaftspolitik unter.71 Diese müsse der materiellen Seite der Glückseligkeit dienen und somit „die ökonomisch-soziale Prosperität des Staates und seiner Bürger"72 sicherstellen, worunter Justi weit mehr als nur die Versorgung der Bevölkerung mit dem Notwendigsten, wie vor allem mit Brot, sondern beispielsweise auch die umfassende Verbreitung von Bequemlichkeiten" (Luxusgütern) versteht.73 Diese rationale Funktionalisierung und damit zugleich Effizienzsteigerung merkantilistischer Wirtschaftspolitik zielt aber nicht allein auf die materielle Glückseligkeit des Staates, denn Justi sieht in der daraus resultierenden inneren Machtsteigerung des vom Fürsten verkörperten Staates zugleich auch die Überflüssigkeit einer nach außen gerichteten expansiven Machtpolitik.74 Im Sinne dieser vornehmlich auf innere Effizienz und somit innerstaatliche Machtkonsolidierung zielenden Argumentation fordert Justi vom absolutistischen Fürsten wiederholt, Kriege möglichst zu vermeiden, da diese Form expansiver Machtpolitik die innere Machtsteigerung behindere, indem sie den Handel im speziellen und damit die Wirtschaft im allgemeinen schädige.75 Stattdessen postuliert er - wie auch Sonnenfels ganz in der Tradition eines Becher oder Schröder - das wirtschaftspolitische Primärziel der positiven Außenhandelsbilanz, um eine effiziente staatliche Machtausdehnung zu erreichen.76 Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang Justis Vorstellung, der Handel habe im Gegensatz zum Gewerbe bis auf die Regulierung durch die Zoll- bzw. Steuerpolitik prinzipiell frei zu bleiben und 70 Vgl. zum Begriff der „Glückseligkeit" bei Justi den ergiebigen Aufsatz von Engelhardt, passim , und insbesondere S. 47-54. 71 Vgl. Stavenhagen, S. 22-25, und Brückner, S. 238-239, sowie Sommer, S. 214-216 (2. Teil). 72 Engelhardt, S. 59; vgl. auch Klueting: Die Lehre von der Macht der Staaten, S. 107. 73 Vgl. Stollberg-Rillinger: Der Staat als Maschine, S. 109-111, und Engelhardt, S. 59-61. 74 Vgl. Stollberg-Rillinger: Der Staat als Maschine, S. 124-125, und Klueting: Die Lehre von der Macht der Staaten, S. 106. 75 Vgl. Justi: Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten, Bd. 1, S. 774, und Justi: Grundsätze der Policeywissenschaft, S. 224. 76 Vgl. Justi: Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten, Bd. 1, S. 516-521, und Justi: Grundsätze der Policeywissenschaft, S. 174 und S. 178, sowie Sommer, S. 218 (2. Teil), und Blaich, S. 87.

Α. Die Wirtschaft im Zeitalter des Absolutismus

44

staatliche Eingriffe seien im Sinne einer Ausnahmeregelung nur dann zu gestatten, wenn „es der Wohlfarth der Republik und der Vergrösserung ihres Reichthums gemäß"77 war. Dabei ist Justis wirtschaftspolitische Forderung nach Reichtum bzw. materieller Wohlfahrt aller durchaus weniger fiskalpolitisch orientiert als bei Schröder, wenngleich er es noch nicht wie nach ihm Sonnenfels vermag, seine merkantilistische Programmatik vom Fiskalismus gänzlich zu lösen.78 Basis jeglicher wirtschaftlicher Prosperität ist für Justi - und da steht er wiederum dicht neben Sonnenfels - eine dynamische demographische Entwicklung, wobei weniger die absolute Bevölkerungsmenge als vielmehr die relative Bevölkerungsdichte für eine Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität von Bedeutung sein muß. Henning bringt diesen Zusammenhang genau auf den Punkt, wenn er für den frühneuzeitlichen Kameralismus folgendes festhält: „Die enge Verbindung der kameralistisehen Wirtschaftspolitik mit der Peuplierungspolitik zeigt, daß man - ohne dies immer ausdrücklich zu sagen den Menschen als den wichtigsten Produktionsfaktor ansah, als die Grundlage des Reichtums eines Herrschers und damit als Grundlage seiner Macht."79 Schließlich ist sich Justi mit Becher, Schröder und Sonnenfels darin einig, daß eine aktive staatliche Peuplierungspolitik nur Erfolg haben könne, wenn sie von einer erfolgreichen staatlichen Getreidehandelspolitik begleitet und getragen wird. 80 So nennt Justi als Voraussetzung für eine dynamisch ansteigende innerstaatliche Bevölkerungsentwicklung eine ausreichende, preiswerte und preisstabile Versorgung mit dem zentralen Grundnahrungsmittel Brot 81, die zudem auch eine positive Wirkung auf die Immigrationsquote haben dürfte. 82 Aber auch wirtschaftspolitisch ist es von entscheidender Bedeutung, daß das Getreide zu einem stabilen Preis auf dem Markt gehandelt wird, der einerseits eine preiswerte Versorgung der insbesondere im Gewerbe arbeitenden Bevölkerung und andererseits eine Existenzgrundlage für die Getreideproduzenten gewährleistet. Gerade eine Inflation der Getreidepreise würde neben

77

Justi: Grundsätze der PoliceyWissenschaft, S. 176; vgl. auch Dittrich, S. 108, und Dreitzel, S. 169, sowie Blaich, S. 72, und Stavenhagen, S. 26. 78 Vgl. Brückner, S. 239 und S. 252, und Dittrich, S. 106-107. 79 Henning, S. 244. 80 Vgl. Sommer, S. 234-243 (2. Teil) und S. 247 (2. Teil). 81 Vgl. zur Bedeutung des Brotes bzw. Getreides für den staatlichen Handel Gerhard, S. 62. 82

Vgl. Justi\ Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten, Bd. 1, S. 706-707.

II.

ameralismus und Getreidehandelspolitik

45

sozialen vor allem wirtschaftliche Konsequenzen mit sich bringen, da sie die Lohn- und somit Produktionskosten wichtiger Gewerbegüter steigern und diese damit auf dem Exportmarkt konkurrenzunfähig machen würde. Einen zu niedrigen Getreidepreis betrachtet Justi aber ebenso als Mißstand, weil dieser auf Dauer den Niedergang und Ruin der gesamten Landwirtschaft zur Folge hätte.83 Als größtes Übel für eine preisstabilisierende Getreidehandelspolitik sieht Justi den Krieg, weil dieser - wie oben bereits erwähnt - den Handel stört, die Finanzen des Staates erschöpft und letztlich zu Getreidemangel sowie Getreidepreisinflation führt. Deshalb sei es wichtig, Kriege auch aus getreidehandelspolitischen Erwägungen zu vermeiden und zugleich für den unvermeidlichen Konfliktfall Sorge zu tragen, daß die Armeeversorgung mit Getreide bzw. Brot aus dem eigenen Staat sichergestellt ist. 84 Dieses Ziel einer Getreideautarkie, das Justi mit Schröder und Sonnenfels verbindet, setzt jedoch ein Vorrats- bzw. Magazinsystem voraus, welches neben der militärpolitischen vor allem auch noch preispolitische Funktionen wahrnehmen soll. Justi kategorisiert zu diesem Zweck die Magazine in drei Gruppen: 1. die Kriegsmagazine, die die Armeeversorgung sicherzustellen haben; 2. die Landmagazine, die durch eine gezielte Ein- und Verkaufspolitik den Getreidepreis stabilisieren sollen; 3. die kleinen privaten Magazine, die einen fairen Ausgleich zwischen produzierendem Land und konsumierender Stadt zum Ziele haben.85 Die Ein- und Verkaufsstrategie sieht dabei vor, in guten Erntejahren durch Magazineinkäufe eine staatliche Nachfrage zu schaffen, die die niedrigen Preise zum Wohl der Produzenten stützen kann, während in den von Mißernten betroffenen Jahren die Magazinverkäufe das Angebot vergrößern und damit einer zu starken Inflation zum Wohl der Konsumenten begegnen sollen. Welche preispolitische Wirkung eine derartige Ein- und Verkaufsstrategie im allgemeinen und als Instrument gegen den gefürchteten Wucher im speziellen entfalten soll, geht aus der folgenden, prägnanten Formulierung Justis hervor: „Diejenigen, die mit ihrem Getraidevorrath zurückhalten, um eine größere Theurung zu veranlassen, werden dadurch nichts ausrichten, weil man bey dem

83

Vgl. Justi: Grundsätze der Policeywissenschaft, S. 179 und S. 215, und Justi: Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten, Bd. 1, S. 706-707. 84 Vgl. Justi: Grundsätze der Policeywissenschaft, S. 224-225, und Justi: Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten, Bd. 1, S. 278. 85 Vgl. Justi: Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten, Bd. 1, S. 277-287, sowie Billerbeck, S. 24-25.

Α. Die Wirtschaft im Zeitalter des Absolutismus

46

Magazin Getraide haben kann, und der Preiß, den das Magazin setzet, wird zugleich den Getraidepreiß in der ganzen umliegenden Gegend bestimmen/486 Da die Magazineinkäufe bei niedrigem Preisniveau erfolgen und die Getreidevorräte erst bei steigender Inflation verkauft werden sollen, erscheint es Justi wie auch Becher und Schröder möglich, dieses Magazinsystem durchaus wirtschaftlich zu betreiben. Wenn es auch nicht die Staatseinnahmen merklich erhöhe, da von den Gewinnen noch Investirions- und Verwaltungskosten abzuziehen sind, so könne man doch erhoffen, damit die Staatsausgaben wenigstens nicht nennenswert bzw. nur kurzfristig zu belasten.87 Neben dem Magazinsystem, das aufgrund seiner Ein- und Verkaufsstrategie zum Hauptinstrument der preisstabilisierenden Getreidehandelspolitik wird, entwickelt Justi eine im Vergleich zu Schröder oder Sonnenfels weitaus umfangreichere Palette preisregulierender Maßnahmen: Gegen den inflationären Wucher richten sich Visitationen, die eine über den Eigenbedarf hinausgehende Getreidelagerung feststellen und den sofortigen Verkauf anordnen sollen, während in Mangelzeiten außerdem das Brennen von Branntwein aus Getreide untersagt werden kann. Indem sich Justi gegen ein generelles Exportverbot ausspricht, weil es der angestrebten Getreideautarkie entgegenwirkt, erachtet er ein kurz- oder mittelfristiges Exportverbot zur Eindämmung der Inflation als durchaus sinnvoll, da dieses den Getreidemangel auf dem Binnenmarkt verhindert. Eine durch protektionistische Schutzzölle geprägte Importregulierung zur Preisstützung in guten Erntejahren nimmt bei Justi hingegen in Relation zur Wirkung der Magazineinkäufe eine untergeordnete Rolle ein. 88 Mit der Analyse von Justis getreidehandelspolitischer Programmatik ist nunmehr ein umfassendes Bild der wirtschaftstheoretischen Vorstellungen des Kameralismus zu diesem Politikbereich entstanden. Es wird vervollständigt durch einige Facetten, die gerade Sonnenfels in dieser Materie zu bieten hat, sowie den Blick auf die älteren deutschen Kameralisten Becher und Schröder, in deren Tradition Justi und Sonnenfels zu sehen sind.89 Im Kontext der allgemeinwirtschaftlichen merkantilistischen Konzeptionen ist der Platz der Getreidehandelspolitik deutlich geworden und im Hinblick auf diese

86

Justi: Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten, Bd. 1, S. 282; vgl. hierzu auch Sommer, S. 300-301 (2. Teil). 87 Vgl. Justi: Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten, Bd. 1, S. 280-283. 88 Vgl. Justi: Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten, Bd. 1, S. 287-292, und Justi: Grundsätze der Policeywissenschaft, S. 225. 89

Vgl. Dittrich,

S. 68.

III. Physiokratismus, Liberalismus und Getreidehandelspolitik

47

theoretischen Grundlagen ist im Verlauf der Arbeit zu klären, in welcher Nähe oder Distanz sich die brandenburg-preußische Getreidehandelspolitik sowie auch die theoretische Auseinandersetzung der brandenburg-preußischen Fürsten mit diesem Politikbereich zu den kameralistischen Anschauungen befand.

I I I . Physiokratismus, Liberalismus und Getreidehandelspolitik 1. Der Physiokratismus von Francois Quesnay und Anne Robert Jacques de Turgot Bevor nun aber die brandenburg-preußische Getreidehandelspolitik in dai Mittelpunkt der Untersuchung gerät, sollen zuerst zwei weitere Wirtschaftstheorien betrachtet werden, die den Merkantilismus in Frankreich bzw. England in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ablösten und zum Teil auch Auswirkungen auf die Wirtschaftspolitik deutschsprachiger Territorien hatten. Ein vornehmlich französisches Phänomen war der Physiokratismus, der sich in seiner Umsetzung ebenso wie der Merkantilismus auf ein absolutistisches Herrschaftssystem stützt, das anstelle der merkantilistischen nun die physiokratischen wirtschaftspolitischen Forderungen in die Praxis umsetzen soll. 90 Als herausragender physiokratischer Theoretiker gilt Francois Quesnay mit seinem 1758 erschienenen „Tableau économique"91, der in einem Gedankenaustausch mit Mirabeau seine in eine Staatslehre eingebettete Wirtschaftslehre entwickelte, die hier von besonderem Interesse ist. Bahnbrechend für die Geschichte der modernen Wirtschaftstheorie war das berühmte Hauptwerk jedoch nicht nur in seiner Ablehnung und Überwindung des Merkantilismus, sondern er stellt „darüber hinaus die erste ökonomische Kreislauftheorie" 92 dar. Grundvoraussetzung der physiokratischen Wirtschaftslehre ist dabei die Annahme, daß die Erde die einzige Quelle des Reichtums ist und somit die Landwirtschaft - einmal vom eher unbedeutenden Bergbau sowie der untergeordneten Forstwirtschaft abgesehen - die einzige Möglichkeit bietet, einen Überschuß bzw. Reinertrag hervorzubringen und damit den Reichtum des

90

Vgl. Muhlack, S. 15-21, sowie auch Gömmel/Klump, passim. Das 1758 in 1. Ausgabe erschienene, jedoch in der Folge umfangreich überarbeitete Werk „Tableau économique" wird hier nach der 3. Ausgabe, Paris, 1759, zitiert. 92 Hensmann, S. 45; vgl. auch S. 34, und Kuczynski (Hg.): Tableau économique von Francois Quesnay, S. 5 und S. 9, wo explizit der Begriff „la circulation" fällt. 91

48

Α. Die Wirtschaft im Zeitalter des Absolutismus

Staates zu vermehren. 93 Ganz im Gegensatz zum Merkantilismus nimmt somit im Physiokratismus die Landwirtschaft gegenüber dem Gewerbe und Handel eine Vorrangstellung ein, die sich vor allem aus der wirtschaftlich und finanziell angespannten Situation des Agrarstaates Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erklärt, in dem die merkantilistische Wirtschaftspolitik bereits weitgehend gescheitert war. Im Sinne eines Wirtschaftssystems, das nach natürlichen Gesetzen abläuft, fordern die Physiokraten - und allen voran Quesnay - die Freiheit der Wirtschaft in Landwirtschaft, Handel und Gewerbe, die vom Staat nur ausnahmsweise und nur zur Wiederherstellung der natürlichen Ordnung eingeschränkt werden dürfe. So sieht Quesnay im „Défaut de liberté dans le commerce intérieur de denrées du cru, & dans la culture"94 einen der Hauptgründe, die zum Niedergang eines Agrarstaates entscheidend beitragen können, wobei er sich hier wie im gesamten Werk vor allem auf den französischen Staat bezieht.95 Aus diesem gegen den merkantilistischen Dirigismus gerichteten liberalen Wirtschaftsprogramm resultieren selbstverständlich auch Auswirkungen auf die staatliche Getreidehandelspolitik, die auf ein hohes Preisniveau zugunsten der Landwirtschaft und damit der Getreideproduzenten zielt. Das Getreide wird nicht so sehr als Versorgungsgut, sondern vielmehr als hochwertiges Handelsgut begriffen, dessen umfangreiche Überschußproduktion ganz nach dem englischen Vorbild zu exportieren bzw. gegen Gewerbegüter einzutauschen sei. Daß sich deshalb eine staatliche Getreideexportregulierung ausschließt - so warnt Quesnay ausdrücklich vor einem „Défaut de commerce extérieur des productions des biens-fonds" 96 - und stattdessen die Freiheit des Getreidehandels gefordert wird, ist eine logische Konsequenz der physiokratischen Wirtschaftslehre.97 Quesnay sieht somit den Vorteil des freien (Getreide-)Außenhandels „nicht in dem Erwerb von geldlichen Reichtümern, sondern in dem Ausgleich von landwirtschaftlichen und gewerblichen Produkten"98, was eine interstaat93 Vgl. Kellenbenz: Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 299, und Kuczynski (Hg.): Tableau économique von Francois Quesnay, S. 7-9. 94 Kuczynski (Hg.): Tableau économique von Francois Quesnay, S. 18. 95 Vgl. Muhlack, S. 22-23, und Stavenhagen, S. 39, sowie Kuczynski (Hg.): Tableau économique von Francois Quesnay, S. 17-18. 96 Kuczynski (Hg.): Tableau économique von Francois Quesnay, S. 17. 97 Vgl. H ens mann, S. 34 und S. 42-44. 98 Hensmann, S. 44. Es bleibt an dieser Stelle anzumerken, daß sich die zentrale merkantilistische Forderung nach einem preisstabilisierenden Magazinsystem selbstverständlich in der physiokratischen Programmatik erübrigt.

III. Physiokratismus, Liberalismus und Getreidehandelspolitik liehe Wirtschaftskonkurrenz wettbewerbe obsolet macht.

im

Sinne

merkantilistischer

49

Handelsbilanz-

Nachdem dieser kurze Abriß physiokratischer Wirtschaftstheorie die großen Gegensätze zum Merkantilismus bzw. Kameralismus hinreichend offengelegt hat, soll in einem knappen Exkurs der Frage nachgegangen werden, welche Auswirkungen der Physiokratismus in der politischen Praxis gehabt hat. Dieses bietet sich deshalb an dieser Stelle an, weil der Physiokratismus keinerlei Wirkung auf die brandenburg-preußische Getreidehandelspolitik hatte und somit für deren später folgende Analyse ohne konkrete Bedeutung ist." Im Deutschen Reich hat der Physiokratismus überhaupt nur in einem Territorium ansatzweise Bedeutung gewonnen, indem der Markgraf Karl Friedrich von Baden ab 1769 allerdings mit eher geringem Erfolg den Versuch unternahm, in einigen Städten seines Kleinstaates landwirtschaftliche und fiskalische Reformen im Sinne der physiokratischen Vorstellungen durchzuführen. 100

Wirklich zum Tragen ist der Physiokratismus nur in seinem Mutterland Frankreich gekommen, wo der Physiokrat Anne Robert Jacques de Turgot nach dem Amt eines Provinz-Intendanten 1774 zum Generalkontrolleur der Finanzen avancierte, ein Amt, in dem ihm bis zu seiner Entlassung nur zwei Jahre zur Umsetzung seiner wirtschaftspolitischen Anschauungen verbleiben sollten. Bereits von 1763 bis 1770 war es unter seinem Einfluß zur Freigabe des Getreidehandels durch Terray - seinen Vorgänger im Amt des Generalkontrolleurs der Finanzen - gekommen, aber der Beginn der europäischen Getreide- bzw. Hungerkrise von 1770 bis 1772 zwang die Franzosen, zur traditionellen merkantilistischen Getreideexportregulierung zurückzukehren. Als Turgot dann 1774 selbst das Amt des französischen Finanz- und Wirtschaftsministers - und nichts anderes war der Generalkontrolleur der Finanzen - übertragen wurde, stützte sich diese Berufung neben seinen Verwaltungserfolgen in der Provinz vor allem auf seine große Popularität im

99

Der Verfasser erachtet es dennoch als unverzichtbar, diesen Abriß der physiokratischen Wirtschaftstheorie zu liefern, nicht nur, um ein vollständiges Bild der absolutistischen Wirtschaftslehren zu konstruieren, sondern auch, um der brandenburg-preußischen, dezidiert merkantilistischen Getreidehandelspolitik zumindest theoretische Alternativen gegenüberzustellen. 100 Vgl. Kellenbenz: Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 299, und Hensmann, S. 286-287, sowie Muhlack, S. 40-46. 4 Atorf

50

Α. Die Wirtschaft im Zeitalter des Absolutismus

Volk, ein Umstand, der die Grenzen seiner physiokratischen Wirtschaftspolitik von vornherein offenbarte. 101 Bildete die Sanierung der zerrütteten französischen Finanzen das zentrale Ziel der Ministerschaft Turgots, so war das Mittel zum Zweck eine ganz unter dem Bann der physiokratischen Programmatik stehende Reform der Getreidehandelspolitik. Neben der Vorstellung, nur der freie Getreidehandel entspreche da* natürlichen Wirtschaftsordnung und sei deshalb notwendig und gerecht, beruhte die Freigabe des Getreidehandels im September 1774 auf der Annahme, diese Maßnahme sei zudem nützlich, um die gleichmäßige Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Die Hoffnung, nur die Freigabe des Getreidehandels ermögliche den interregionalen Ausgleich zwischen vom Getreidemangel und Getreideüberschuß betroffenen Provinzen sowie das automatische Einpendeln des Getreidepreises auf ein mittleres Niveau, sollte sich aufgrund schlechter Verkehrsverhältnisse und vor allem im Zuge einer Mißernte im Jahr 1775 als trügerisch erweisen.102 Bevor das Scheitern der getreidehandelspolitischen Reform näher betrachtet wird, muß an dieser Stelle mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß sich die sogenannte Freigabe des Getreidehandels vornehmlich auf den Binnenhandel sowie die Importförderung bei Inflation beschränkte und der Getreideexport vorerst weiterhin nach merkantilistischem Vorbild untersagt blieb. Auch der besonders kritischen Versorgungslage der Hauptstadt Paris wurde Rechnung getragen, indem dort der Getreidehandel wiederum ganz in merkantilistischer Tradition reglementiert und staatlich dirigiert wurde. 103 Als nach der Mißernte 1775 im Herbst in Paris die Brotversorgung zusammenbrach, kam es zu der grotesken Situation, daß Turgots wirtschaftspolitische Gegner einen Aufstand gegen dessen physiokratische Reform da* Getreidehandelspolitik provozierten, obwohl gerade Paris von dieser ausgenommen und noch gänzlich merkantilistischem Dirigismus unterworfen war. Gelang es Turgot mit Waffengewalt, diesen als „Guerre des Farines" in die Annalen eingegangenen Aufstand niederzuschlagen, so war er politisch doch in höchstem Maße angeschlagen und die Anfang 1776 durchgesetzten einschneidenden Wirtschaftsreformen, wie die Freigabe des Getreidehandels auch in Paris und die Einführung einer umfassenden Gewerbefreiheit, konnten Turgot politisch nicht mehr retten. Seine Entlassung im Mai 1776 stellt sich nur noch als logische Konsequenz seiner stetig sinkenden Popularität im Volk 101 102 103

Vgl. Hensmann, S. 228-230. Vgl. Muhlack, S. 35-36, und Hensmann, S. 230-231. Vgl. Hensmann, S. 231-232.

III. Physiokratismus, Liberalismus und Getreidehandelspolitik

51

dar, die von Turgots wirtschaftspolitischen - und zwar merkantilistischen und somit antiphysiokratischen - Gegnern in Hofkreisen sowie der Provinzialverwaltung eifrig geschürt worden war. 104

2. Der Wirtschaftsliberalismus von Adam Smith Wurde der praktische französische Physiokratismus, der sich seiner Staatstheorie entsprechend auf die Machtvollkommenheit einer absolutistischen Herrschaft stützte, von den Ereignissen der Französischen Revolution in den Schatten gestellt und blieb er somit eine eher unbedeutende Episode des ausgehenden Ancien Régime, so brachte der Physiokratismus in seiner wirtschaftspolitischen Theorie jedoch ein gleichsam revolutionäres, für die europäische Wirtschaftspolitik wegweisendes Programm hervor. Nicht nur die Vorstellung eines geschlossenen Wirtschaftskreislaufes, die sich erstmals bei Quesnay entfaltet, sondern vor allem auch das Ideal einer natürlichen, sich selbst regulierenden Wirtschaftsordnung sollte sich bereits zu Ende des 18. Jahrhunderts sowohl in der wirtschaftspolitischen Theorie als auch Praxis - in Europa selbstverständlich zeitlich und räumlich gestaffelt - durchsetzen und bis in die Gegenwart nachwirken. Diese Wirtschaftstheorie, die eine Wirtschaftsform möglichst frei von staatlichen wirtschaftspolitischen Eingriffen postuliert, wird als Wirtschaftsliberalismus bezeichnet und wurde von dem schottischen Nationalökonom Adam Smith105 in seinem Hauptwerk „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations" von 1776 106 entwickelt. Smith, dessen liberalistische Wirtschaftstheorie in unmittelbarer Nähe zum Physiokratismus steht107, unterscheidet sich dabei von den Anschauungen Quesnay s vor allem darin, daß für ihn nicht nur der bestimmte Bereich der landwirtschaftlichen Arbeit, sondern die Arbeit insgesamt den Kristallisationspunkt wirtschaftlicher Tätigkeit darstellt. Insofern fordert Smith im Gegensatz zu den Physiokraten eine gleichgewichtige Bewertung aller Wirtschaftszweige, denn sowohl aus der

104

Vgl. Muhlack, S. 38, und Hensmann, S. 232-236. Zur Person siehe unter anderem Kuczynski: Adam Smith, passim, und Recktenwald: Adam Smith (1723-1790), passim. 106 Das 1776 erschienene Werk „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations" wird hier nach der von Jenkins überarbeiteten Ausgabe, New York, 1948, zitiert. 107 Vgl. Kellenbenz: Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 299. 105

52

Α. Die Wirtschaft im Zeitalter des Absolutismus

landwirtschaftlichen als auch der gewerblichen Produktion lasse sich Reichtum und somit staatlicher Wohlstand erzielen. 108 In diesem Sinn erachtet Smith staatliche Eingriffe in sämtliche Bereiche des Wirtschaftslebens als schädlich, da nur die Abstinenz staatlicher Wirtschaftspolitik ein natürliches und damit für alle gewinnbringendes Zusammenspiel der privaten Wirtschaftsinteressen ermögliche. Als Grundlage dieser Sichtweise dient dabei seine berühmt gewordene Freihandelslehre, die Smith als Gegenprogramm zum merkantilistischen Wirtschafts- und Handelsdirigismus im vierten Buch seines Werkes ausführt. 109 Einer auf der merkantilistischen Handelsbilanztheorie basierenden Thesaurierung des Staates stellt Smith die Forderung gegenüber, mittels steigender Produktion der Güter, die auf dem internationalen Markt gefragt sind, Exportgewinne und damit staatlichen Reichtum zu erzielen. 110 Diese Zielsetzung, die Smith für die private Wirtschaft aller Staaten einfordert, ersetzt in Form einer allgemeinwirtschaftlichen und universellen Wachstumstheorie die statische zero sum game-Formel der merkantilistischen Handelsbilanztheorie.111 Wirtschaftliches Wachstum und gesellschaftlicher Reichtum sind für Smith jedoch nur bei sich selbst regulierenden Marktkräften möglich, wobei sich die Preisbildung frei von staatlicher Beeinflußung nur nach Angebot und Nachfrage gestaltet. Es erscheint nur konsequent, wenn Smith deshalb insbesondere die völlige Freiheit des Handels und damit zugleich auch des Getreidehandels als unabdingbare Forderung in den Raum stellt. Sowohl Import- als auch Exportregulierung lehnt er dabei ebenso kategorisch ab wie staatliche Wirtschaftsförderung durch Prämien bzw. Subventionen und Monopolbildung.112 So argumentiert Smith für den Wirtschaftsliberalismus und gegen den Merkantilismus überaus prägnant:

108

Vgl. Jenkins (Hg.), S. 455-456, sowie Kuczynski: Adam Smith, S. 650-651, und Stavenhagen, S. 51-52. 109 Vgl. Heckscher: Der Merkantilismus, Bd. 2, S. 305, und Mieck, S. 996, sowie Zielenzinger, 110

S. 56.

Smith ist sich hier völlig über die macht- und militärpolitische Funktionalisierung des Fiskalismus in der merkantilistischen Wirtschaftstheorie im klaren. Lehnt er die Thesaurierung zwar ab und nennt seinen liberalisti sehen Alternativvorschlag, so ändert er jedoch nur das Instrumentarium, ohne die machtund militärpolitische Staatsräson zu negieren. 111 Vgl. Jenkins (Hg.), S. 367-375 und S. 394-402, und Rothermund, S. 148. 112 Vgl. Jenkins (Hg.), S. 381-382, S. 404-406, S. 434-435 und S. 451-454; eine stichhaltige Argumentation gegen die merkantilistische Getreidehandelspolitik, deren etwaige Erfolge zugunsten des Staates und zu Lasten der Getreide-

III. Physiokratismus, Liberalismus und Getreidehandelspolitik

53

„The effect of bounties, therefore, like that of all the other expedients of the Mercantile System, can only be to force the trade of a country into a channel much less advantageous than that in which it would naturally run of ist own accord."113 Bezüglich der Forderung von Smith nach einem völlig unbeeinträchtigten Getreidehandel114, die aus der traditionell physiokratischen Einordnung des Getreides vor allem als Handels- und weniger als Versorgungsgut resultiert, bleibt abschließend festzuhalten, daß sie in der politischen Praxis des ausgehenden 18. Jahrhunderts wohl nur im nicht-absolutistischen Handelsstaat England und auch dort nur bedingt Erfolg haben konnte. Wie am Beispiel des preußischen Königs Friedrich Wilhelm Π. zu zeigen sein wird, war es in einem kontinentalen Flächenstaat zu dieser Zeit aufgrund der großen demographisch, landwirtschaftlich 115, verkehrstechnisch und infrastrukturell bedingten Versorgungsprobleme kaum möglich, den freien Getreidehandel zu gestatten und somit auf merkantilistische Eingriffe zu verzichten. Daß es kurzfristig zu Beginn des 19. Jahrhunderts in England zu einer die internationale Nachfrage übersteigenden, den Getreidepreis stürzenden und damit die Landwirtschaft existenziell gefährdenden Überschußproduktion kam 116 , muß als Indiz dafür gelten, daß sich die liberale Getreidehandelstheorie - selbst in dem von den kontinentalen Versorgungshemmnissen nicht betroffenen Mutterland des Wirtschaftsliberalismus - in der Praxis nicht ohne Hindernisse umsetzen ließ.

Produzenten gingen, findet sich auf S. 405-406. Vgl. auch Stavenhagen, S. 52-55, und Kuczynski: Adam Smith, S. 654, sowie Recktenwald: Adam Smith, S. 135-139. 113 Jenkins (Hg.), S. 405. 114 Vgl. hierzu auch ,A study of the grain trade, one of those to which the Mercantile System gave special attention; its importance; and why it, of all trades, should be carefully left to itself; absurdity of the regulations of government; Great Britain flourished not because but in spite of ist laws relating to grain." bei Jenkins (Hg.), S. 411-418. 115 Vgl. Abel: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur, S. 195-210, und Abel: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa, S. 262-263. 116 Vgl. Abel: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur, S. 220-221.

Β. Die Ansätze der Anfangsperiode (1640-1713) I. Die Zeit des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm I. Der Westfälische Frieden von 1648 und somit das Ende des Dreißigjährigen Krieges bildete auch für Brandenburg-Preußen eine Zäsur, in deren Folge eine absolutistische Herrschaft installiert und damit einhergehend der Übergang zu einer merkantilistischen Wirtschaftspolitik vorgenommen wurde. Bevor aber die wirtschafts- und insbesondere getreidehandelspolitische Praxis der Nachkriegsjahrzehnte näher zu betrachten ist, muß zuerst in groben Zügen dargestellt werden, wie sich die Ausgangslage für das brandenburg-preußische Kurfürstentum in der Mitte des 17. Jahrhunderts darstellte. Über die unmittelbaren Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges auf das brandenburgpreußische Territorium gibt es dabei zwar durchaus diffenierende Thesen, tendenziell ist sich die Forschung aber darin einig, daß die zentralen Provinzen gerade durch die schwedische Soldateska in großem Umfang zerstört und verwüstet wurden. Neben demographischen Verlusten von etwa 40 Prozent der ländlichen Bevölkerung1 hatte vor allem die Landwirtschaft unter den fremden Truppenkontingenten gelitten, die sich ihren Unterhalt auf dem Lande mittels Requisitionen oder sogar wilder Plünderungen beschafften und dabei ganze Landstriche aussogen.2 So vermittelt die im Jahr 1630 - dem Jahr der schwedischen Invasion in das brandenburg-preußische Territorium entstandene Liste der den verschiedenen schwedischen Regimentern regulär zur Verfügung zu stellenden Verpflegung einen anschaulichen Eindruck von dai Kriegslasten des Landes: Außer 16 Ochsen, 32 Lämmern und 64 Eimern Bier waren vor allem 3.400 Pfund Brot sowie 64 Sack Hafer als Pferdefourage zu liefern 3, eine Forderung, die multipliziert mit der Anzahl der Regimenter kaum aufzubringen war und somit vermutlich zumindest teilweise durch Zwangsrequisitionen eingetrieben und durch Plünderungen ergänzt weiden mußte, was wiederum zu Exzessen und Verwüstungen im Lande führte.

1

Vgl. Braubach: Vom Westfälischen Frieden bis zur Französischen Revolution, S. 13. 2 Vgl. Barth, S. 44-46. 3

Vgl. GSTA Berlin , IV. HA, B, Nr. 28.

I. Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm I.

55

Zu den demographischen und landwirtschaftlichen Schäden kamen in Brandenburg-Preußen, wie beispielsweise auch in Mecklenburg, Pommern, Hessen und der Pfalz, weitere wirtschaftliche Probleme durch die Münzverschlechterung sowie die Störung und Zerstörung von Handel und Gewerbe.4 Friedrich der Große hat in seinem Politischen Testament von 1752 gut hundert Jahre nach dem Westfälischen Frieden die furchtbaren Auswirkungen des großen Konfessionskonfliktes auf den brandenburg-preußischen Staat prägnant geschildert: „La Guerre de 30 anns, Cette Calamité affreusse, cete Desolation qui ruina toute La Marche, La Pomeranie et Le Magdebourg avoit Si bien Anéanti ces provinces que trois régnés dont deux furent entièrement pasifiques, ne purent Le(s) rétablir. Par Tans de Malheurs Ces provinces, l'anée 1740, se trouvoient encore infiniment elloignées de Ce que doit etre un pais bien policé et florissant; . . ."5 Friedrich hat dabei mit Recht erkannt, daß die Folgen des Dreißigjährigen Krieges auch für seinen Staat von langfristiger Tragweite waren, die vor allem in einer bis ca. 1680/90 dauernden tiefgreifenden Agrarkrise ihren Ausdruck fand. Erst zwischen 1690 und 1740 sollte sich die deutsche und damit brandenburg-preußische Landwirtschaft weitgehend erholen, um sich dann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wieder positiv entwickeln zu können.6 Diese - als für den Agrarstaat Brandenburg-Preußen zentrale wirtschaftliche Problematik zu begreifende - Konsequenz der ereignisgeschichtlichen Vorgänge wurde jedoch zusätzlich durch ein bedeutendes strukturelles Phänomen verschärft: die territoriale

Gliederung des brandenburg-preußischen

Staates.

Bildeten die Kurmark und die Neumark seit dem 15. Jahrhundert den geschlossenen Kern des brandenburg-preußischen Territoriums, so waren durch den Vertrag von Xanten im Jahr 1614 mit dem Herzogtum Kleve, der Grafschaft Mark und der Grafschaft Ravensberg bedeutende Gebiete am Rhein hinzugekommen, die mit dem Gesamtstaat vorerst nur durch die dynastische Verbindung verknüpft waren. Wie auch das 1618 als polnisches Lehen und 1660 als souveräner Besitz an Brandenburg gefallene Herzogtum Preußen waren die rheinischen Provinzen nicht nur von den Zentralprovinzen getrennt und

4

Vgl. ausführlich bei Treue: Wirtschaft, Gesellschaft und Technik vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, S. 111-121. 5 Dietrich (Hg.), S. 282. 6 Vgl. Abel: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur, S. 182-219.

56

Β. Die Ansätze der Anfangsperiode

befanden sich in großer Entfernung zu diesen, sondern sie unterschieden sich vor allem auch wirtschaftlich fundamental von den Zentralprovinzen. 7 Die Erwerbungen des Westfälischen Friedens von 1648 - Hinterpommern, die Bistümer Kammin, Minden und Halberstadt, die Grafschaft Hohenstein (zu Halberstadt gehörend) sowie die 1680 eingelöste Anwartschaft auf das Erzbistum Magdeburg - waren hingegen mit Ausnahme von Minden und Hohenstein mit dem territorialen Kern des Staates zwar geographisch verbunden, führten jedoch zu keiner nennenswerten geostrategischen bzw. machtpolitischen Aufwertung des Staates.8 Erstreckte sich das zersplitterte Territorium Brandenburg-Preußens somit von der holländischen bis zur baltisch-russischen Grenze quer durch Mittel- und Ostmitteleuropa und damit zugleich weit über die Reichsgrenzen hinaus, so muß dies nicht nur als geostrategische, sondern vor allem auch als wirtschaftliche Beeinträchtigung dieses Staates festgehalten werden. Bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts9 kam schließlich außerdem die vornehmlich handelspolitische Problematik zum Tragen, daß sämtliche Provinzen zwar an großen Strömen lagen, sich aber weder die Rhein-, Weser- und Elbe- noch die Oder- und Weichselmündung im brandenburg-preußischen Besitz bzw. unter brandenburg-preußischer Kontrolle befanden.

Unter diesen überaus schwierigen ereignisgeschichtlich bedingten Voraussetzungen sowie vor allem geostrategisch und wirtschaftlich problematischen strukturell bedingten Rahmenbedingungen mußte der 1640 an die Herrschaft Wilhelm / . 1 0 nach 1648 antreten, um einen gelangte Kurfürst Friedrich

7

Vgl. Rachel: Die Handels-, Zoll- und Akzisepolitik Brandenburg-Preußens bis 1713, S. 501-503. Eine eingehendere Analyse der provinziellen Sonderrollen der rheinischen und herzoglich-preußischen Gebiete wird im Zuge der Untersuchung der friderizianischen Getreidehandelspolitik vorgenommen, um in diese Analyse auch Schlesien, Ostfriesland und Königlich-Preußen miteinbeziehen zu können. 8 Vgl. Schütz, S. 33-35. 9 Durch den Friedensvertrag von Stockholm im Jahr 1720 fiel mit dem Erwerb Vorpommerns die Odermündung an Brandenburg-Preußen, während die Weichselmündung - allerdings ohne die Stadt Danzig - erst im Zuge der ersten Teilung Polens im Jahr 1772 der Hohenzollernmonarchie einverleibt wurde; vgl. hierzu Schütz, S. 36. 10

Zur Biographie Kurfürst Friedrich Wilhelms I. siehe Huettl: Friedrich Wilhelm von Brandenburg, und Oestreich: Friedrich Wilhelm der Grosse Kurfürst, sowie

I. Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm I.

57

einheitlichen Gesamtstaat auszubilden, der mit einem stehenden Heer, einer zentralen Steuer- und Finanzverwaltung, einem protestantischen, pietistisch geprägten Staatskirchentum sowie nicht zuletzt einer merkantilistischen Wirtschaftspolitik allen Kriterien des modernen Absolutismus entsprach. Diese Aufbauleistung, die sein Urenkel noch in seinen „Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Hauses Brandenburg" konkret schildert sowie im höchsten Maße lobt 11 und die Rachel vornehmlich in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung erfaßt sowie in ihren strukturellen Erfolgen würdigt12, hat Kurfürst Friedrich Wilhelm I. sicher zu Recht den Beinamen „Der Große Kurfürst" eingetragen. Friedrich Wilhelms besonderes Verdienst in diesen eminent wichtigen Jahrzehnten der brandenburg-preußischen Staatsbildung nach 1648 stellt insbesondere das institutionelle Werk dar, über das Rachel treffend bemerkt: „Es gibt keine einheitliche Institution, die nicht in dieser Zeit wenigstens im Keime geschaffen worden wäre, und man kann wohl sagen, daß bis zu der Reformperiode im Anfang des 19. Jahrhunderts nichts grundsätzlich Neues hinzugekommen, sondern alles nur Ausführung und Weiterbildung von Gedanken und Schöpfungen jener Zeit gewesen ist."13 Da Friedrich Wilhelm unter anderem als Begründer der brandenburg-preußischen merkantilistischen Wirtschafts- und damit vor allem auch Getreidehandelspolitik zu gelten hat, trifft diese Aussage Rachels selbstverständlich auch auf die wirtschafts- und getreidehandelspolitisch relevanten Institutionen zu, die an dieser Stelle näher beleuchtet werden müssen. Im Nordischen Krieg (1655-1660) wurde im Rahmen der sich ausbildenden Heeresverwaltung das Generalkriegskommissariat eingerichtet14, das vor allem durch das integrierte Generalproviantkommissariat für die Truppenverpflegung in Krieg und Frieden sowie das Magazinwesen zuständig war. Unter der Leitung des Generalproviantmeisters, dem die provinziell gegliederten Generalproviantämter untergeordnet waren, gestaltete somit das Generalproviantkommissariat als zentraler Bestandteil des Generalkriegskommissariats sämtliche

Opgenoorth: Friedrich Wilhelm, 2 Bde., und Heinrich: Ein sonderbares Licht in Teutschland. 11 Vgl. Volz/Oppeln-Bronikowski (Hg.), Bd. 1, S. 67. 12 Vgl. Rachel: Die Handels-, Zoll- und Akzisepolitik Brandenburg-Preußens bis 1713, S. 501-503. 13 Rachel: Die Handels-, Zoll- und Akzisepolitik Brandenburg-Preußens bis 1713, S. 501-502. 14 Vgl. Jürges, passim, und Helfritz, S. 112-117.

58

Β. Die Ansätze der Anfangsperiode

militärischen Aspekte der Getreidehandelspolitik.15 Nachdem das Generalkriegskommissariat im Zuge der Unterstellung der Generalfeldkriegskasse im Jahr 1674 auch die Steuer- und Finanzverwaltung des Heeres übernahm, wurde es in dieser Funktion zum Träger der gesamtstaatlichen, umfassend auf Machtexpansion und damit auf den Ausbau der Armee ausgerichteten Wirtschaftspolitik. 16 Dabei trat das Generalproviantkommissariat in getreidehandelspolitische Konkurrenz zu den Domänenkammerbehörden, die weniger für die zentralstaatlich-absolutistischen als vielmehr die provinziell-ständischen Interessen einstanden.17 War die Einrichtung einer alle Interessen integrierenden Behörde, des Kommerzien-Kollegiums, erfolglos geblieben18, so konnte diese hinderliche Konkurrenz erst durch den Enkel des Großen Kurfürsten beseitigt werden. Der wirtschaftspolitisch-institutionelle Dualismus sollte somit bis 1722/23 die gesamte Wirtschafts- und Getreidehandelspolitik prägen und nur das persönliche Regiment Kurfürst Friedrich Wilhelms I. vermochte es, diesen Dualismus im Zaum zu halten. Wie zu zeigen sein wird, mußte der Konflikt unter seinem Nachfolger, der die Getreidehandelspolitik nicht selbst bestimmte, offen ausbrechen. Bevor im folgenden die Getreidehandelspolitik Kurfürst Friedrich Wilhelms I. näher untersucht wird, soll an dieser Stelle ein kurzer Ausblick auf die allgemeinen wirtschaftspolitischen Charakteristika seiner annähernd fünfzigjährigen Regierungszeit gewährt werden. Unabhängig von der historischen Episode seines welthandelspolitischen Engagements lag die Priorität neben dem Wiederaufbau der Landwirtschaft und der damit verknüpften Getreidehandelspolitik in der Entwicklung einer leistungsfähigen Gewerbewirtschaft und eines einheitlichen Binnenhandelsgebietes.19 Schiffs- und Kanalbau standen ebenso im Vordergrund wie der Abbau der Binnenzölle, wobei

15

Vgl. Wolters, Bd. 2, S. 88-90, S. 128-132 und S. 224-225, sowie - zum Einblick in die Personalstruktur des Generalproviantkommissariats dessen Gehaltsliste - Nr. 36, S. 468-469; vgl. auch Jany, Bd. 1, S. 153-154. 16 Vgl. Oestreich: Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des alten Reiches, S. 103, und Meinardus, S. 445 und S. 494, sowie Rachel: Der Merkantilismus in Brandenburg-Preußen, S. 230, und Neugebauer. Zur neueren Deutung der preussischen Verwaltung im 17. und 18. Jahrhundert, S. 89. 17 Vgl. Neugebauer. Zur neueren Deutung der preussischen Verwaltung im 17. und 18. Jahrhundert, S. 91. 18 Vgl. Rachel: Die Handels-, Zoll- und Akzisepolitik Brandenburg-Preußens bis 1713, S. 774-779. 19 Vgl. Meinardus, S. 444-451.

II. Der Große Kurfürst und die Getreidehandelspolitik

59

diese unitaristischen Maßnahmen als maßgeblicher Bestandteil der politischen, bürokratischen und militärischen Vereinheitlichung zu verstehen sind, die letztlich der Staatsbildung und dem Machtausbau des Gesamtstaates diente.20

I I . Der Große Kurfürst und die Getreidehandelspolitik 1. Programmatische Zielsetzungen des Kurfürsten Während sich die beiden bedeutenden brandenburg-preußischen Monarchen des 18. Jahrhunderts in ihren Verwaltungsinstruktionen und Politischen Testamenten intensiv theoretisch mit wirtschafts- und getreidehandelspolitischen Fragestellungen auseinandersetzen, sind für deren Vorgänger - dai Kurfürsten Friedrich Wilhelm I. und dessen Sohn - keine derartigen Überlegungen auffindbar. Das einzige theoretische Schriftstück, das keinen unmittelbaren Bezug zur getreidehandelspolitischen Praxis besitzt und in dem dennoch einige wenige Gedanken zu diesem Politikbereich anzutreffen sind, ist das Politische Testament Kurfürst Friedrich Wilhelms I. vom 19. Mai 1667.21 So betont der Große Kurfürst in den Abschnitten, die sich mit der Bedeutung von Festungen beschäftigen, die Notwendigkeit, in diesen umfangreiche Vorräte an Rüstungsgütern für den Fall einer bewaffneten Auseinandersetzung bereitzuhalten. Das Wichtigste unter diesen Rüstungsgütern seien ausreichende Getreidemagazine, „ . . . auf das in zeitten der Nodt der Armudt im Lande nicht allein damitt geholffen, sondern Ihr zum Krige,.. ., einen reichen vberschus, . . . haben moget."22 Die zivile - und das bedeutet hier nur soziale und nicht wirtschaftliche bzw. preispolitische - Funktion der Magazine wird jedoch der militärischen absolut untergeordnet: Selbst bei größtem Mangel dürfen nur überschüssige, militärisch nicht benötigte Vorräte zum hohen Naturalzins von 25 % entliehen werden.23 Auch die Anlage von mit Getreidemagazinen bestückten Festungen soll ausschließlich nach militärischen geostrategischen Gesichtspunkten erfolgen, so daß ein - beispielsweise im Sinne des

20

Vgl. Rachel: Handels-, Zoll- und Akzisepolitik Brandenburg-Preußens, S. 501503, und Rachel: Der Merkantilismus in Brandenburg-Preußen, S. 223-230. 21 Die im Geheimen Staatsarchiv Berlin vorliegende Originalhandschrift wird hier nach der Ausgabe von Dietrich (Hg.), S. 179-204, zitiert. 22 Dietrich (Hg.), S. 194. 23 Dabei wurde der Zinssatz wie folgt festgelegt: Für vier ausgeliehene Scheffel Getreide mußten nach der folgenden Ernte fünf wieder zurückerstattet werden.

60

Β. Die Ansätze der Anfangsperiode

Kameralisten Becher - zumindest annähernd flächendeckendes Magazinsystem zur zivilen Nutzung unmöglich wird. 24 Schweigt sich Kurfürst Friedrich Wilhelm I. in seinem Politischen Testament über sonstige getreidehandelspolitische Optionen und Konzepte aus, so bleibt doch festzuhalten, daß trotz extrem einseitiger Gewichtung der Prioritäten Ansätze sowohl zur militärischen als auch zivilen Nutzung der Getreidemagazine zu entdecken sind. Auch die Wirtschaftlichkeit der staatlichen Magazine, wie sie die Kameralisten Becher, Schröder und Justi - nicht aber Sonnenfels - einfordern und damit zugleich für möglich erachten, bestimmt schließlich schon das Denken des Großen Kurfürsten: Die Verwaltungs- und Investitionskosten sollen vom hohen Naturalzins sowie von den Gewinnen aus dem Verkauf bei hohem und dem Einkauf bei niedrigem Preisniveau bestritten werden, wobei zusätzliche finanzielle Gewinne sogar noch für die Anschaffung von nicht-agrarischen Rüstungsgütern zu verwenden seien.25

2. Die Bedeutung der Exportregulierung Nach der Analyse der wenigen getreidehandelspolitischen Äußerungen des Kurfürsten Friedrich Wilhelm I. sollen nun in einem ersten Schritt die ökonomischen Aspekte der getreidehandelspolitischen Praxis seiner Regierungszeit untersucht werden, bevor in einem zweiten Schritt die militärischen Aspekte im Vordergrund stehen. Die Anfangszeit der Getreidehandelspolitik nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges war bereits geprägt durch den Gegensatz von Stadt und Land, von Getreidekonsumenten und Getreideproduzenten. Allerdings herrschte aufgrund der hohen demographischen Verluste eine eher geringe Nachfrage, so daß der getreideproduzierende Adel, die Domänenpächter und die freien Bauern, insofern sie nicht von den weitläufigen Kriegsverwüstungen betroffen waren, zumindest unter dem niedrigen Preisniveau zu leiden hatten.26 Dieses niedrige Getreidepreisniveau sollte in den Nachkriegsjahrzehnten eine schwere Belastung für die brandenburg-preußische Landwirtschaft darstellen, was unter anderem auch aus öffentlichen Unmutsäußerungen, wie aus der im folgenden zitierten Flugschrift aus dem Jahr 1658, anschaulich hervorgeht:

24

Vgl. Dietrich (Hg.), S. 194-195. Vgl. Dietrich (Hg.), S. 194. 26 Vgl. Abel: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur, S. 162, und Neugebauer: Brandenburg im absolutistischen Staat, S. 315. 25

II. Der Große Kurfürst und die Getreidehandelspolitik

61

„Ich wundere mich auch darüber und kann mich nicht gnugsam wundern, wie bei wenig Jahren her das Korn, Weizen, Gerste und anderes Getreide in Unwert kommen und herabgefallen, daß man es fast nicht mehr um Geld hinbringen, sondern entweder vertauschen oder halb verschenken muß. . . . Der arme betrübte Landmann weiß nicht mehr seine Rechnung zu machen, also daß . . er gleichwohl solches (das Getreide; Anm. d. Verf.) aus Not oft . . . verschleudern muß, sollte ihm auch, samt den ausgesetzten zurückbleibenden Schulden, das Samengetreide nicht geblieben sein."27 Während die rheinischen Territorien im 17. Jahrhundert ohnehin von zentralstaatlichen Eingriffen in ihren völlig freien Getreidehandel unbehelligt blieben28 und in ihrer Sonderrolle hier nicht weiter von Interesse sind, so machte sich der Getreidepreisverfall vor allem in den Zentralprovinzen und im Herzogtum Preußen bemerkbar. In Preußen wie auch im gesamten Ostseeraum gestaltete sich der traditionell bedeutsame Getreideexport in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts stark rückläufig 29 und in den ersten Nachkriegsjahrzehnten versuchte die brandenburgische Kornkammer Magdeburg, ihr überschüssiges Getreide über die Elbe und Hamburg zu exportieren. 30 Erst als die demographische Entwicklung gegen Ende des 17. Jahrhunderts wieder positiv verlief und die Hauptstadt Berlin deutlich größere Mengen Getreide nachfragte, konnte sich der Magdeburger Export von der Elbe auf die neu erbauten Kanäle verlagern und damit gezielt der Versorgung Berlins dienen.31

27

Franz (Hg.), Nr. 67, S. 150-151. Vgl. Heuser, S. 5-9. Nicht nennenswerte Ausnahmen stellen die äußerst kurzfristigen Getreideexport- und Branntweinbrenn verböte in den Notjahren 1651 und 1661 sowie die Erlaubnis zur Einrichtung einer Kornakzise dar, deren Steuereinkünfte der Kriegsschuldenfinanzierung zugute kamen. Vgl. hierzu Scotti (Hg.), Bd. 1, Nr. 207, S. 307, und Nr. 272, S. 390, sowie Flink (Hg.), Bd. 2, Quellen, passim, und Heinrich: 'Die isolierte Provinz', S. 15-16. 29 Vgl. Abel: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur, S. 181-191, und Kriedte, S. 85. 30 Wenn in dieser Arbeit von Import oder Export die Rede ist, so verstehen sich diese Begriffe - wie auch im Verständnis der Monarchen - aus gesamtstaatlicher Perspektive; es sind somit Handelsabläufe über die Staatsgrenzen hinaus gemeint. Im Gegensatz dazu werden gelegentlich in den Akten die Begriffe Einfuhr oder Ausfuhr von Provinzialinstitutionen auf die Provinzgrenzen bezogen. Dieses Eigenverständnis ist zwar bemerkenswert, kann aber im Rahmen dieser Arbeit keinerlei Berücksichtigung erfahren. 31 Vgl. Naudé : Die Getreidehandelspolitik der Europäischen Staaten vom 13. bis zum 18. Jahrhundert als Einleitung in die Preußische Getreidehandelspolitik, Bd. 1, 28

62

Β. Die Ansätze der Anfangsperiode

Um der landwirtschaftlichen Krise und dem Getreidepreisverfall wirksam zu begegnen, forderten die Produzenten vom Kurfürsten deshalb eine Mindestpreistaxierung für die städtischen Märkte, die ihre Existenzsicherung gewährleisten würde. Sollte dieser Forderung nicht nachgekommen werden, so bliebe die Alternative, den Getreideexport auch in Mangelzeiten dauerhaft freizugeben, damit die überlebensnotwendigen Erträge im Ausland erzielt werden könnten. Die Städte und somit die Getreidekonsumenten lehnten eine Preistaxierung oberhalb des freien Marktpreises aber mit der Begründung ab, daß es in Mangeljahren schließlich auch keine Höchstpreistaxierung zugunsten der Städte gäbe. Schließlich sei auch eine generelle Exportfreigabe zu verwerfen, denn diese würde in Notzeiten zu Versorgungskrisen führen und die gewerbliche Produktion ruinieren. 32 Da die Preise jedoch 1645/46 äußerst tief lagen, die Landwirtschaft somit defizitär produzierte und eine einvernehmliche Taxordnung nicht zustande kam, sah sich Kurfürst Friedrich Wilhelm I. gezwungen, den Getreideexport sukzessiv freizugeben. Nur Mißernten sowie eine steigende Nachfrage in Kriegszeiten führten 1651, 1658, 1660, 1662, 1674/75 und 1684 zu in der Regel mehrmonatigen Exportverboten. Die Warnungen der Getreideproduzenten vor möglichen Kontributions- und Domänenpachteinbußen bei längerfristigen preisdrückenden Maßnahmen brachten den Kurfürsten in steter Sorge um die finanziellen Grundlagen seines Staates und insbesondere des Aufbaus eines stehenden Heeres aber immer schon nach kurzer Zeit dazu, seine Getreideexportreglementierung wieder aufzuheben. 33 Diese Zusammenhänge bringt Wolters exakt auf den Punkt, wenn er die brandenburg-preußische Getreidehandelspolitik der ersten Jahrzehnte nach dem Dreißigjährigen Krieg wie folgt charakterisiert: „Denn der günstige Ausfuhrhandel vor allem für Getreide, der für den Kurfürsten bei den vorwiegend agrarischen Interessen seiner Staaten, besonders in den ersten drei Jahrzehnten seiner Regierung, der Mittelpunkt seiner Handelspolitik war und noch lange bleiben mußte, berührte die finanziellen Vorteile der

S. 380-381, und Schmoller: Studien über die wirtschaftliche Politik Friedrich des Großen und Preußens überhaupt von 1680-1786, S. 690-695, sowie Neugehauer: Brandenburg im absolutistischen Staat, S. 316. 32 Vgl. Naudé: Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazinverwaltung Brandenburg-Preußens bis 1740, S. 57-62. 33 Vgl. Naudé: Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazinverwaltung Brandenburg-Preußens bis 1740, S. 63-87, und Wolters, S. 235-236.

I.

Kurfürst und die Getreidehandelspolitik

63

Steuerverwaltung, da dem platten Lande als dem Hauptträger der Kontribution gute Kornpreise erhalten werden mußten."34 Dies änderte sich sukzessiv erst gegen Ende der Regierungszeit des Großen Kurfürsten, als in den 70er und 80er Jahren des 17. Jahrhunderts die Neugründung von Manufakturen und anderen Gewerbebetrieben verstärkt einsetzte. Die Aufwertung des städtischen Gewerbes in Verbindung mit der Aufnahme von religiös verfolgten Immigranten im Zuge des Toleranzediktes von Potsdam im Jahr 1685 35 zwang den Kurfürsten, nun auch getreidehandelspolitische Maßnahmen zugunsten der Konsumenten vorzunehmen. Anstelle von Exportreglementierungen, die wiederum die Landwirtschaft beeinträchtigen würden, ging er ganz im Sinne der kameralistischen Forderungen vor allem gegen Spekulation und Preiswucher konsequenter vor, wobei bei akutem Getreidemangel erstmals auch die staatlichen Magazine zur Gewährleistung der Grundversorgung bedingt in Anspruch genommen werden durften. 36 Für die weitere Entwicklung der brandenburg-preußischen Getreidehandelspolitik ist es von Interesse, daß im 17. Jahrhundert die Produzenten die Ursache des niedrigen Preisniveaus in der mangelnden städtischen Nachfrage und nicht in Importen, zum Beispiel aus Polen oder Rußland, sahen: Freier Getreideexport stellte ihre Hauptforderung dar und diese Maßnahme sollte vorerst auch ausreichen. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurde es dann aber zunehmend notwendig, mittels einer merkantilistischen Schutzzollpolitik zusätzlich auch die konkurrierenden Importe zu regulieren, damit sich die sukzessiv steigende Nachfrage auch im Preisanstieg auf dem Binnenmarkt zugunsten der eigenen Getreideproduzenten auswirken konnte und nicht durch einen Importanstieg absorbiert wurde. 37

3. Die Heeresverpflegung zur Zeit des Großen Kurfürsten Wie schon bei einem Blick auf das Politische Testament des Kurfürsten Friedrich Wilhelm I. deutlich wird, ist eine zivile - und zwar nicht wirtschaftliche bzw. preispolitische, sondern nur sozialpolitische - Nutzung der staat-

34

Wolters,

S. 235.

35

Vgl. Kunisch: Absolutismus, S. 109-111. 36 Vgl. Naudé : Die Getreidehandelspolitik Brandenburg-Preußens bis 1740, S. 94-99. 37 Vgl. Naudé : Die Getreidehandelspolitik Brandenburg-Preußens bis 1740, S. 108.

und Kriegsmagazinverwaltung und Kriegsmagazinverwaltung

64

Β. Die Ansätze der Anfangsperiode

liehen Getreidemagazine vorgesehen. Bei großen Hungersnöten oder grassierender Inflation gestattete der Kurfürst, daß Magazinbestände verkauft oder verliehen wurden, um die Brotversorgung der Bevölkerung und vor allem der Soldaten zu gewährleisten. Selbstverständlich durften dabei die militärisch unverzichtbaren Vorräte nicht veräußert werden und es wurde streng darauf geachtet, daß die entliehenen Quantitäten sowie der 25-prozentige Naturalzins umgehend zurückerstattet wurden, um die Magazine nicht dauerhaft zu entleeren. Diese sozialpolitische Funktion der Magazine bildete aber für die Regierungszeit des Großen Kurfürsten eine seltene Ausnahme, so daß festzuhalten bleibt, daß die staatlichen Getreidemagazine faktisch der militärischen Nutzung vorbehalten waren. 38 Diese Zielsetzung der militärischen Nutzung hatte dazu geführt, daß die staatlichen Getreidemagazine auch schon vor 1648 ausschließlich in den brandenburg-preußischen Festungen errichtet wurden bzw. worden waren. Für das Jahr 1660, dem Jahr des Friedens von Oliva, der den Nordischen Krieg (1655-1660) beendete und dem brandenburg-preußischen Staat die uneingeschränkte Souveränität über das Herzogtum Preußen zusprach, ergaben sich demnach folgende Magazinorte: in den Marken Spandau39, Küstrin, Peitz und Frankfurt; in Hinterpommern Kolberg; in Ostpreußen40 Königsberg, Pillau und Memel; 41 das Festungsmagazin im rheinischen Wesel ist wohl erst im Zuge des Festungsausbaus nach 1674 errichtet worden. 42 Die jeweils von einem Proviantmeister verwalteten Festungsmagazine waren jedoch nicht für die Brotversorgung der Soldaten gleichermaßen im Frieden wie im Krieg verantwortlich, denn Kurfürst Friedrich Wilhelm I. setzte nach 1660 für den Frieden die sogenannte reine Geldverpflegung durch, die die

38

Vgl. Naudé : Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazinverwaltung Brandenburg-Preußens bis 1740, S. 90-92. 39 Um einen konkreten Eindruck von einem Festungsmagazin zu erhalten, bietet sich die Lektüre von Biller, S. 43, S. 49-50 und S. 62, an. Siehe zudem auch OrgelKöhne/Grothe, S. 124, wo auf einem Bilddokument das letzte noch erhaltene, im Zeitalter des Absolutismus erbaute Magazingebäude abgelichtet ist. 40 Das 1660 unter brandenburg-preußische Souveränität gefallene Herzogtum Preußen wird von nun an als Provinz Ostpreußen bezeichnet, auch um es vom 1772 einverleibten Westpreußen und den 1793 bzw. 1795 okkupierten Provinzen Südpreußen bzw. Südostpreußen unterscheiden zu können. 41 Vgl. Naudé : Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazin Verwaltung Brandenburg-Preußens bis 1740, S. 88-90. 42 Vgl. Heinrich: 'Die isolierte Provinz', S. 17.

I.

Kurfürst und die Getreidehandelspolitik

65

vorher übliche Verpflegung durch den Quartierwirt ersetzte. Der Soldat erhielt eine zusätzliche Soldleistung, von der er seine Nahrungsmittelversorgung selbst bestreiten mußte, indem er beispielsweise sein Brot entweder auf dem Markt einkaufte oder das vom Quartierwirt zur Verfügung gestellte Brot bar bezahlte. Die Modalitäten der Geldverpflegung wurden dabei in immer neuen Verpflegungsreglements und (Interims-)Verpflegungsordonannzen festgelegt, während die Höhe noch bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts bei monatlich zwölf Groschen für den einfachen Soldaten lag. 43 Diese Geldverpflegung wurde jedoch von einer Besonderheit geprägt, die letztlich die Charakteristik der gesamten Heeresverwaltung bestimmte, die so bezeichnete Kompaniewirtschaft, deren Eigenarten Helfritz wie folgt schildert: Während nach heutiger Auffassung alles Heeresgut im Eigentum des Staates steht, war damals (und auch noch bis zu den Heeresreformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts; Anm. d. Verf.) der Chef der Kompanie, . . ., dessen Eigentümer. So konnte eine Kompanie oder Schwadron nur deijenige übernehmen, der über das nötige Betriebskapital verfügte. Andererseits aber kamen die Ersparnisse einer sorgsamen Wirtschaft dem Kompaniechef zugute/*44 Für die Geldverpflegung mußte das bedeuten, daß die zur Verpflegung vom Staat bereitgestellten Mittel nicht direkt an die Soldaten ausgezahlt, sondern an deren Kompaniechef zur weiteren Verteilung überwiesen wurden.45 Aus dem Geldverpflegungssystem ergibt sich damit die Schlußfolgerung, daß die Magazine in Friedenszeiten keine unmittelbar militärischen Funktionen wahrzunehmen hatten, sondern neben den sozial- und preispolitischen Funktionen nur der Vorratshaltung im Sinne einer präventiven Rüstung dienten. Andererseits muß in diesem Kontext angemerkt werden, daß die Geldverpflegung in den Garnisonsstädten eine enorme wirtschaftliche Bedeutung hatte, da sie die privatwirtschaftliche Nachfrage nach Nahrungsmitteln forcierte

43

Vgl. Helfritz, S. 126-133, und Osten-Sacken, S. 44, sowie Schroetter, S. 4-6, und Jähns: Geschichte der Kriegswissenschaften vornehmlich in Deutschland, Bd. 2, S. 1323-1324, sowie Jany, Bd. 1, S. 166-168, und Marwitz: Das innere Gefüge der preußischen Armee, S. 416. 44

Helfritz,

45

S. 124.

Vgl. Jähns: Geschichte der Kriegswissenschaften vornehmlich in Deutschland, Bd. 2, S. 1584, und Jany, Bd. 1, S. 759, sowie Papke, S. 274, und Helfritz, S. 124-125, sowie Büsch, S. 113-115 und S. 121. 5 Atorf

Β. Die Ansätze der Anfangsperiode

66

und damit vor allem auch eine unmittelbare Wirkung auf die Nachfrage und Preisgestaltung im Getreidehandel ausübte.46

Stellt sich nun die Frage nach der Bedeutung der Getreidemagazine im Krieg, so ist zuerst einmal festzuhalten, daß die Armee im Kriege durch das Naturalverpflegungssystem mit Nahrungsmitteln versorgt wurde. So erhielt jeder Soldat unter anderem täglich zwei Pfund Brot, das aus dem Getreide der staatlichen Magazine zu backen war, wobei die zusätzlichen Soldleistungen der Geldverpflegung von staatlicher Seite in der Regel einbehalten wurden.47 In einer Instruktion an die Heeresverwaltung der nach Ungarn kommandierten brandenburg-preußischen Truppen vom 13. April 1686 heißt es beispielsweise: „4. Was an Proviant von denen Officierern und Artillerie-Bedienten wird begehret werden, solches kann ihnen wohl an den Orthen, wo das Magazin sein wird, abgefolget werden, es muß aber solches denenselben . . . von ihrem monatlichen Tractament decourtiret (von ihrem monatlichen Sold abgezogen; Anm. d. Verf.),. . ., werden."48 Die Wurzeln des neuen Magazinverpflegungssystems sind dabei bereits in ersten Ansätzen bei Wallenstein auffindbar, der in seinem Herzogtum Friedland „in kleinem Maßstabe das Magazinsystem vorweggenommen (hat), das, großartig ausgebaut, dann den Heeren Ludwigs XIV. ihren Rückhalt gab49 und, von allen Staaten übernommen, der gesamten Kriegführung der nächsten 150 Jahre seinen Stempel aufprägen sollte."50 Die Einführung der Magazinverpflegung durch die Fürsten fast aller europäischen Staaten und damit die Revolution im Verpflegungswesen, die dem Soldaten seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Brotversorgung aus den staatlichen Getreidemagazinen zumindest für die Dauer eines Krieges garantierte, ist auf das Engste verbunden mit dem absolutistischen Staatsbildungsprozeß, in dessen Verlauf ein dauerhaft

46

Vgl. Jany, Bd. 1, S. 760-761. Vgl. Jahns: Geschichte der Kriegswissenschaften vornehmlich in Deutschland, Bd. 2, S. 1325, und Jany, Bd. 1, S. 167-168, sowie Marwitz'. Das innere Gefüge der preußischen Armee, S. 416. 48 Wolters (Hg.), Nr. 27a, S. 442. 49 Vgl. zur Entwicklung eines französischen Magazinsystems durch Le Tellier und Louvois bei Creveld, S. 17, und Papke, S. 166-169. 50 Papke, S. 147; vgl. zudem auch S. 144-147. 47

I.

Kurfürst und die Getreidehandelspolitik

67

existentes stehendes Heer in den Staat inkorporiert und damit der absoluten Verfügungsgewalt des Fürsten unterstellt wurde. 51 Der Unterhalt eines stehenden Heeres, das nur durch Zwang und disziplinarische Maßnahmen gefügig gemacht werden konnte und deshalb in höchstem Maße durch Desertion gefährdet war, sollte und konnte nicht mehr wie noch zu Zeiten der Söldnerheere des Dreißigjährigen Krieges52 durch Kontribution und Requisition in Feindesland aufgebracht werden. Zum einen verstand es sich von selbst, daß ein völlig dem Staat eingegliedertes Heer auch durch diesen verpflegt werden mußte, zum anderen war es aufgrund der Desertionsproblematik unmöglich, die Truppen nicht geschlossen und somit unter Kontrolle, sondern über das Land verteilt und damit unkontrolliert zu verpflegen. 53 Insbesondere fiskalische Überlegungen, in denen sich der Fürst über den hohen finanziellen - hier sind vor allem die Werbe-, Sold- und Rüstungskosten zu nennen - und qualitativen Wert des stehenden Heeres im klaren war, machten eine staatlich organisierte und finanzierte Heeresverpflegung durch ein im Rücken der Truppen befindliches Getreidemagazinsystem notwendig54, um der Desertionsproblematik und damit hohen finanziellen Einbußen einigermaßen wirksam begegnen zu können. Indem eine vornehmlich aus fiskalischen Motiven resultierende staatlich finanzierte Heeresverpflegung wiederum den Wert des stehenden Heeres essentiell steigerte, schließt sich hier der Kreis und macht deutlich, daß das stehende Heer des Absolutismus untrennbar mit der Magazinverpflegung verknüpft war. 55

51

Vgl. Kunisch: Absolutismus, S. 84-87. Vgl. Papke, S. 138-144. 53 Vgl. Sikora, passim, vor allem aber S. 185 und S. 365-367, sowie auch Kunisch: Absolutismus, S. 90-91. 54 Eine weitaus detailliertere Analyse des absolutistischen Magazinverpflegungssystems sowie dessen Auswirkung auf die absolutistische Kriegführung folgt in den Abschnitten, die sich mit den militärischen Aspekten der Getreidehandelspolitik des 18. Jahrhunderts auseinandersetzen. Erst für diese Zeit verspricht eine systematische Untersuchung der Heeres Verpflegung, sämtliche zentralen Charakteristika zu erfassen, die im 17. Jahrhundert erst in Ansätzen greifbar sind und somit hier nur angedeutet werden. 55 Vgl. Kunisch: Absolutismus, S. 95-96, und Sikora, S. 182-183, sowie Regling, S. 16-21 und S. 85, und Creveld, S. 26-27. 52

68

Β. Die Ansätze der Anfangsperiode

Um einen Eindruck von den hohen laufenden (Verpflegungs-)Kosten auch des brandenburg-preußischen Heeres zu vermitteln, ist hier kurz die Entwicklung vom Nordischen Krieg (1655-1660) bis zum Ende der Regierungszeit des Großen Kurfürsten nachzuzeichnen. Betrugen im Nordischen Krieg die Gesamtkosten des ca. 25.000 Soldaten zählenden Heeres jährlich über zwei Millionen Taler, so waren es für die im Krieg gegen Schweden (16771679) stehenden ca. 45.000 Soldaten bereits mehr als drei Millionen Taler, die sich - das sei in diesem Kontxt besonders hervorgehoben - jeweils zu 60 bis 80 Prozent aus den hohen Verpflegungskosten erklären. Dabei verharrte das Magazinsystem im Nordischen Krieg noch in seinen Ansätzen, so daß keine reguläre Magazinverpflegung der Armee möglich war und auf die eigentlich nur noch für Friedenszeiten vorgesehene Geldverpflegung zurückgegriffen werden mußte. Stellten somit die Magazinverpflegungskosten vorerst nur einen unbedeutenden Anteil der Gesamtverpflegungskosten dar, so nahmen die Magazinverpflegung und damit deren Anteil an den Gesamtverpflegungskosten in den Kriegen der 70er Jahre kontinuierlich zu. 56 Obwohl sich die Magazinverpflegung im brandenburg-preußischen Heer erst in den friderizianischen Kriegen Mitte des 18. Jahrhunderts umfassend durchsetzen sollte, sind die grundlegenden Ansätze bereits bei Kurfürst Friedrich Wilhelm I. deutlich zu erkennen. Nicht zuletzt seinen Bestrebungen kommt deshalb das Verdienst zu, den Grundstein für die großartigen Erfolge des 18. Jahrhunderts auch im militärischen Bereich der brandenburg-preußischen Getreidehandelspolitik gelegt zu haben. Es erscheint außerdem undenkbar, daß das brandenburg-preußische Heer ohne die Aufbauleistung des Großen Kurfürsten in diesem zentralen Politikfeld schon im 17. Jahrhundert derart erfolgreich kämpfte und damit - mit den Worten von Wolters gesprochen „ . . . zu den tapfersten, best verpflegten (Hervorhebung durch den Verfasser) und bekleideten Europas zählte."57 Abschließend sollen nun einige konkrete Vorgänge und Ereignisse in der brandenburg-preußischen Kriegführung des 17. Jahrhunderts näher betrachtet werden, an denen deuüich wird, daß es selbstverständlich auch bei einer in der Regel ausreichend verpflegten Armee zumindest zu Versorgungsproblemen bzw. Verpflegungsengpässen kommen kann. Daß diese letztlich überwunden werden konnten und die militärischen Erfolge davon unbeeinträchtigt blieben, ist wiederum als Erfolg des Großen Kurfürsten und seiner Heeresverwaltung zu

56

Vgl. Wolters, S. 246-249 und S. 332-337 sowie vor allem die Ausgabentabelle der Generalkriegskasse der Jahre 1674-1697 unter Nr. 80b, S. 590-597. 57

Wolters,

S. 367.

I.

Kurfürst und die Getreidehandelspolitik

69

werten. Einleitend ist hier darauf hinzuweisen, daß es sich bei der folgenden Untersuchung nur um exemplarische Ereignisse aus den Kriegen gegen das französisch-schwedische Bündnis handelt, die die Probleme der brandenburgpreußischen Heeresverpflegung hinreichend offenlegen. Der erste Konflikt mit der französisch-schwedischen Koalition betraf dabei in den Jahren 1672/73 ausschließlich die rheinischen Provinzen des brandenburg-preußischen Staates, in denen Kurfürst Friedrich Wilhelm I. gegen die französischen Truppen kämpfte und deren linksrheinische Gebiete er von März 1672 bis zum Juni 1673 an die Franzosen abtreten mußte.58 Während große Teile des Herzogtums Kleve von französischen Kontributionsforderungen betroffen waren und diese vor allem in Naturalform als Getreide zur Verpflegung des französischen Heeres maßgeblich beitrugen59, mußte sich das brandenburg-preußische Heer mit Verpflegungsproblemen auseinandersetzen, da schließlich nach einer Aufstellung vom 20. September 1672 der tägliche Bedarf in Höhe von 26.000 Pfund Brot, 12.000 Metzen Hafer, 15.000 Pfund Fleisch und 100 Faß Bier zu decken war. 60 Ein Gutachten des Geheimrats Meinders vom 27. November 1672 stellt den daraus resultierenden monatlichen Verpflegungskosten in Höhe von 134.724 Talern die eigenen Mittel und beträchtlichen holländischen Subsidien gegenüber und kommt zu dem Ergebnis, daß erstere nicht zu bestreiten waren, insbesondere da sich die um die linksrheinischen Gebiete reduzierten rheinischen Provinzen steuerlich überlastet zeigten. Nachdem Meinders seiner Sorge um die mangelnde Pferdefourage und die sich sukzessiv leerenden Getreidemagazine in Minden und Lippstadt Ausdruck verliehen hat, fügt er seinem Gutachten eine Truppen- und Pferdebestandsliste sowie eine detaillierte Verpflegungskosten- und Steuereinnahmenaufstellung bei.61 Die Reaktion Kurfürst Friedrich Wilhelms I. auf die in diesem Gutachten dargestellten Probleme erschließt sich dann aus einem Schreiben des Kölner

58

Vgl. Flink (Hg.), Bd. 3, Nr. 29, S. 69, und Nr. 31, S. 70; vgl. auch Braubach: Vom Westfälischen Frieden bis zur Französischen Revolution, S. 50-51. 59 Vgl. Flink (Hg.), Bd. 3, Nr. 42, S. 82, und Nr. 44, S. 85, sowie Nr. 81, S. 128, und Scotti (Hg.), Bd. 1, Nr. 314, S. 535. 60 Vgl. Wolters (Hg.), Nr. 49, S. 508-510. Zu sämtlichen - auch weiteren im Verlauf der Arbeit folgenden - Währungs-, Volumen- und Gewichtseinheiten siehe die entsprechenden Tabellen im Anhang. 61

Vgl. Urkunden

Wilhelm

und Actenstücke

zur Geschichte des Kurfürsten

von Brandenburg, Bd. 13, S. 362-368.

Friedrich

70

Β. Die Ansätze der Anfangsperiode

Kurfürsten Maximilian Heinrich vom 18. Januar 1673, in dem sich dieser über die hohen Kontributionsforderungen an Geld und Getreide empört, die die brandenburg-preußische Provinzialregierung an die westfälischen, dem Kölner Erzbistum zugehörigen Territorien gestellt hatte. Daß diese »AushilfsMaßnahme" des Großen Kurfürsten der brandenburg-preußischen Heeresverpflegung zugute kam und diese durchaus dreist zu nennende „Improvisation" somit zum Erfolg führte, ergibt sich aus dem Zugeständnis des Kölner Kurfürsten: Dieser stimmte umgehend einer monatlichen Kontribution von 30.000 Talern, 3.000 Scheffeln Roggen und 3.000 Scheffeln Hafer zu. 62 Obwohl diese Kontributionsleistung damit sicherlich hinter der eigentlichen Forderung zurückblieb, so war sie zum einen ohne militärische Auseinandersetzung auf diplomatischem Weg zustandegekommen und belief sich zum anderen auf eine Höhe, die das von Meinders festgestellte Defizit bei den Verpflegungskosten weit übertraf und dessen Sorgen um die Pferdefourage und die sich leerenden Magazine beseitigen mußte. Im zweiten Konflikt stand Kurfürst Friedrich Wilhelm I. dann sowohl im Kampf gegen Frankreich im elsässischen Feldzug 1674 als auch im Feldzug gegen die schwedische Invasion des Jahres 1675, die erstmals nach dem Westfälischen Frieden wieder die zentralen Provinzen des brandenburg-preußischen Staates bedrohte. Auch im Elsaß berichtete der Geheimrat Meinders Ende September 1674 von zu erwartenden Verpflegungsengpässen durch die ansteigenden Kornpreise, die die Anlage von Feldmagazinen erschweren würden, und machte darauf aufmerksam, daß der Bischof von Straßburg jedoch über einen bedeutenden Getreidevorrat verfügte. Allerdings scheint der Vorschlag des Großen Kurfürsten, den bischöflichen Vorrat gegen eine Bezahlung zu niedrigem Preis zu konfiszieren, nicht von dauerhaftem Erfolg gewesen zu sein, denn schon Anfang November 1674 meldete Meinders erneut leichte Probleme bei der Truppenverpflegung, die allerdings durch eine kurzfristige Brotrationierung überwunden werden konnten.63 Von weitaus einschneidender Bedeutung sollte sich dann hingegen die schwedische Invasion in die Kernprovinzen des brandenburg-preußischen Staates in der ersten Jahreshälfte 1675 erweisen: Die schwedischen Truppen

62

Vgl. Urkunden

Wilhelm 63

und Actenstücke

zur Geschichte des Kurfiirsten

Friedrich

von Brandenburg, Bd. 13, S. 473-474.

Vgl. Urkunden

und Actenstücke

zur Geschichte des Kurfiirsten

Friedrich

Wilhelm von Brandenburg, Bd. 13, S. 648-649, S. 650-651 und S. 654-655; vgl. auch Braubach: Vom Westfälischen Frieden bis zur Französischen Revolution, S. 53-54.

I.

Kurfürst und die Getreidehandelspolitik

71

besetzten Hinterpommern, die Ucker- sowie die Neumark und schrieben umgehend umfangreiche Getreidekontributionen aus, die sie bei Nichtleistung gewaltsam eintrieben und durch verheerende Plünderungen ergänzten.64 Neben der allgemeinen Not, die die schwedische Invasion im Land verbreitete, vereinnahmten die Kontributionsforderungen der fremden Armee zugleich die grundlegenden Steuer- und Getreideressourcen der brandenburg-preußischen Truppen und führten somit unmittelbar zu großen Verpflegungsschwierigkeiten. Während somit die Feldmagazine der Schweden stets gut gefüllt waren, leerten sich die brandenburg-preußischen sukzessiv und die mangelbedingte Getreidepreisinflation verhindert einerseits eine preiswerte Wiederauffüllung und andererseits eine ausreichende preiswerte Versorgung der Zivilbevölkerung.65 Inwieweit der Vorschlag des brandenburgischen Statthalters Fürst Johann Georg von Anhalt, im Februar preiswertes Getreide zur Truppenverpflegung aus Schlesien zu importieren, durch den Kurfürsten Beachtung fand, ist nicht zu klären. Sicher ist hingegen, daß die Verpflegungsprobleme der brandenburgpreußischen Armee schon im Laufe des April nach und nach überwunden werden konnten, so daß einem überaus erfolgreichen Sommerfeldzug keine nennenswerten Verpflegungshemmnisse entgegenstanden.66 Die verheerenden Folgen der schwedischen Invasion auf die noch immer nicht vom Dreißigjährigen Krieg gänzlich erholte Landwirtschaft waren auch nach den Siegen gegen die Schweden im Juni 1675 nicht kurzfristig zu beheben, wie die folgende Schilderung der Kösliner Bürgerschaft (Hinterpommern) deutlich macht: „ . . . daher geschehen, dass unsere Bürgerschaft und Stadtunterthanen die Saat nicht bestellen können, sondern theils mit fremden Leuten zur Hälfte säen, theils

64

Vgl. Urkunden

und Actenstücke

zur Geschichte des Kurfürsten

Friedrich

Wilhelm von Brandenburg, Bd. 17, S. 405, S. 410-411, S. 414-415, S. 472-474 und S. 478-479; vgl. Braubach: Vom Westfälischen Frieden bis zur Französischen Revolution, S. 54. 65

Vgl. Urkunden

Wilhelm 66

Vgl. Urkunden

Wilhelm

und Actenstücke

zur Geschichte des Kurfürsten

Friedrich

von Brandenburg, Bd. 17, S. 415-417, S. 419-421 und S. 427. und Actenstücke

zur Geschichte des Kurfürsten

von Brandenburg, Bd. 17, S. 421 und S. 430.

Friedrich

72

Β. Die Ansätze der Anfangsperiode den Acker unbesäet liegen lassen und bis diese Stunde wegen Mangel Brot, Korns Hunger leiden und davon fast sterben müssen."67

Eine derartige Auswirkung auch auf sozial- und preispolitische Aspekte der Getreidehandelspolitik68 sollte der dritte Konflikt zwischen BrandenburgPreußen einerseits und Schweden und Frankreich andererseits nicht haben, denn die Feldzüge der Jahre 1677 und 1678 gegen die Schweden verlagerten das Kriegsgeschehen auf schwedischen und - nur im Winterfeldzug 1678/79 kurzfristig - ostpreußischen Boden.69 Während von größeren Problemen bei der Verpflegung des brandenburg-preußischen Heeres in Pommern bzw. auf schwedischem Territorium nicht gesprochen werden kann, so gab es doch zu Kriegsbeginn im Herbst 1677 leichte Schwierigkeiten, von Fürstenwalde aus das Magazingetreide auf der Oder nach Gartz, dem ca. 25 Kilometer südlich von Stettin gelegenen Aufmarschort, zu schaffen. Aus einem Brief der neumärkischen Amtsräte an Kurfürst Friedrich Wilhelm I. vom 28. Oktober 1677 ist zu entnehmen, daß weder auf der Oder noch auf der Warthe Schiffer zu finden waren, die sich ohne Vorabbezahlung zum Getreidetransport bereitfanden. Ob der Kurfürst der Bitte um Überweisung eines Vorschusses in Höhe von 1.000 Talern an die neumärkische Amtskammer in Küstrin zur Finanzierung des Getreidetransportes nachkam, ist jedoch nicht nachzuweisen und kann hier nur vermutet werden. Die Dringlichkeit dieser Angelegenheit, die sich aus der Berichterstattung zu Beginn des Briefes ergibt, in der die Amtsräte den Vollzug des kurfürstlichen Befehls, „daß die ümbliegende Mühlen fleißig Roghen mahlen möchten, und . . . die Müller mit dem mahlen embsig continuieren sollen, . . . " 7 0 melden, legt diese Vermutung in jedem Fall nahe.71 Auch der Winterfeldzug 1678/79 in Ostpreußen verlief ohne nennenswerte Verpflegungsprobleme und es bleibt diesbezüglich nur anzumerken, daß die Stände dieser relativ geldarmen, aber kornreichen Provinz die von ihnen

67

Urkunden

und Actenstücke

zur Geschichte des Kurfiirsten

Friedrich

von Brandenburg, Bd. 17, S. 480-481, vgl. auch S. 479-483. 68 In diesem Zusammenhang erscheint es durchaus verständlich, daß der Kurfürst wie oben bereits dargestellt - noch bis in die 80er Jahre hinein den Interessen der Getreideproduzenten im Zuge der Exportregulierung Priorität einräumte. 69 Vgl. Braubach: Vom Westfälischen Frieden bis zur Französischen Revolution, S. 54-55 und S. 57. 70

GSTA Berlin , IV. HA, B, Nr. 72.

71

Vgl. GSTA Berlin , IV. HA, B, Nr. 72.

Wilhelm

I.

Kurfürst und die Getreidehandelspolitik

73

aufzubringenden monatlichen Verpflegungskosten in Höhe von 35.789 Talern für 6.500 Soldaten in Naturalform - und zwar direkt in Getreide - bestreiten konnten.72 Gänzlich anders stellte sich die Lage in den rheinischen Provinzen dar, die im Frühjahr 1679 erneut - und diesmal zu großen Teilen auch rechtsrheinisch - von den Franzosen besetzt wurden, so daß die brandenburgpreußischen Truppen extrem unter dem Verlust der finanziellen und vor allem agrarischen Ressourcen zu leiden hatten. Konnte das Weseler Getreidemagazin noch im Mai vor den Franzosen in Sicherheit gebracht werden, so leerte sich das Mindener Magazin bereits Mitte Juni bedenklich.73 Das wahre Ausmaß der Verpflegungskatastrophe spiegelt sich dann im Brief der brandenburg-preußischen Offizierselite an den Kurfürsten vom 20. Juni 1679 aus Minden wieder, der einen schonungslosen Bericht über die verzweifelte militärische Lage beinhaltet. Neben dem schlechten Zustand des Magazins, der zum umfassenden Mangel vor allem wohl an Brot geführt hat, weisen die Offiziere besonders auf den Mißstand hin, daß die eigenen Truppen „ . . .so eng eingesperrt sind, dass gewiss die schöne Reiterei gar bald aus Mangel an Fourage crepieren wird." 74 Unter dem Eindruck dieser Nachrichten sah sich der Große Kurfürst gezwungen, mit Frankreich unter schmerzlicher Preisgabe der Eroberung Schwedisch-Vorpommerns Frieden zu schließen, der zum französischen Rückzug aus den rheinischen Provinzen und damit zur Rettung der dortigen brandenburg-preußischen Truppen und insbesondere der Kavallerie führte. 75 Faßt man nun die Resultate der vorhergehenden Analyse der Heeresverpflegung in der Kriegführung des Großen Kurfürsten zusammen, so kommt man zu dem Ergebnis, daß diese in der Regel keinen größeren Schwierigkeiten unterlag. Fundamentale Probleme traten nur immer dann auf, wenn feindliche Truppen brandenburg-preußische Territorien und hier vor allem die geostrategisch exponierten rheinischen Provinzen besetzten und damit das eigene

72

Vgl. Urkunden und Actenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedri Wilhelm von Brandenburg, Bd. 18, S. 60 und S. 66-67. 73 Vgl. Urkunden und Actenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedr Wilhelm von Brandenburg, Bd. 18, S. 104 und S. 108. 74 Urkunden und Actenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich W von Brandenburg, Bd. 18, S. 111. 75 Vgl. Braubach: Vom Westfälischen Frieden bis zur Französischen Revolution, S. 57, und Urkunden und Actenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Fried Wilhelm von Brandenburg, Bd. 18, S. 112-113, sowie Flink (Hg.), Bd. 3, Nr. 116, S. 169-170, Nr. 117, S. 170-171, und Nr. 118, S. 171.

74

Β. Die Ansätze der Anfangsperiode

Heer seiner Verpflegungsressourcen beraubten. Abschließend muß deshalb festgehalten werden, daß Kurfürst Friedrich Wilhelm I. sowohl im institutionellen und konzeptionellen als auch im ökonomischen und militärischen Bereich der Getreidehandelspolitik Grundlagen geschaffen hat, die nicht nur zu seiner eigenen staatsbildenden Aufbauleistung beitrugen, sondern zudem auch die Basis für die erfolgreiche Großmachtwerdung Brandenburg-Preußens im 18. Jahrhundert bildeten.

I I I . Die Zeit des Kurfürsten Friedrich I I I . (König Friedrich I.) Im Gegensatz zu seinem Vater, dem Großen Kurfürsten, und seinen III., der Nachfolgern im 18. Jahrhundert widmete sich Kurfürst Friedrich spätere König Friedrich 7.76, seit seinem Regierungsantritt im Jahr 1688 bis zu seinem Tod im Jahr 1713 den Staatsgeschäften nur am Rande, da ihn sein Selbstverständnis veranlaßte, vor allem in der Repräsentation seiner monarchischen Stellung die Hauptaufgabe seiner Regierungszeit zu sehen. Die Entfaltung des barocken höfischen Prunks nahm ihn derart in Anspruch, daß er die Geschicke des Staates in die Hände der höchsten Beamten und Offiziere legte, die in der Regel eine selbständige Politik betreiben bzw. eigenständig die Kriegführung gestalten konnten, ohne auf monarchische Zielvorgaben und Anordnungen besondere Rücksicht nehmen zu müssen.77 Leiter der gesamten brandenburg-preußischen Politik und damit auch der Wirtschafts- bzw. Getreidehandelspolitik war in den Jahren von 1688 bis 1697 Eberhard von Danckelmann, während dessen Bruder Daniel Ludolf von Danckelmann zu dieser Zeit das Amt des Generalkriegskommissars bekleidete und die Kammerbehörden durch Hofkammerpräsident Dodo von Knyphausen geleitet wurden. Nach dem Sturz Eberhard von Danckelmanns 1697 wurden die Staatsgeschäfte durch das ,»Dreigrafenministerium" 78 geführt, das aber erst 1702

76

Gegen die Verpflichtung zur Unterstützung der habsburgischen Erbfolge in Spanien erreichte der Kurfürst die lang ersehnte Rangerhöhung: Am 18. Januar 1701 krönte er sich selbst in Königsberg zum König in Preußen. Vgl. hierzu Karch, S. 140; zur Biographie Kurfürst Friedrichs III. siehe Frey/Frey: Friedrich I. Preußens erster König. 77 Vgl. Karch, S. 140, und Neugebauer: Brandenburg im absolutistischen Staat, S. 336. 78 Dem „Dreigrafenministerium" gehörten Johann Kasimir von Kolbe (zugleich Graf von Wartenberg), Alexander Hermann Graf von Wartensleben und Augustus Reichsgraf zu Sayn-Wittgenstein an.

III. Die Zeit des Kurfürsten Friedrich III. (König Friedrich I.)

75

auch die Wirtschafts- und Getreidehandelspolitik in die Hand nahm, während in der Übergangsphase von 1697 bis 1702 dieser Politikbereich maßgeblich von Johann Albrecht von Barfus geprägt wurde, der Daniel Ludolf von Danckelmann als Generalkriegskommissar abgelöst hatte.79 Institutionelle Reformen bzw. Veränderungen hat es in der Regierungszeit Kurfürst Friedrichs III. jedoch nicht gegeben und so sollte - wie oben bereits angedeutet und im folgenden ausgeführt - der Dualismus von Kommissariatsverwaltung und Kammerstaat durch die Abstinenz einer integrativen kurfürstlichen Selbstregierung offen zu Tage treten. Der einzige nennenswerte Erfolg in diesem Zusammenhang ist darin zu erkennen, daß es um 1690 gelang, die vom Großen Kurfürsten initiierten unitaristischen Prozesse in der Heeresverwaltung weitgehend zu vollenden: Als letzte brandenburg-preußische Provinzen wurden in dieser Zeit die rheinischen Territorien auch fiskalpolitisch der zentralen Heeresverwaltungsbehörde, dem Generalkriegskommissariat, unterstellt. Jany bemerkt deshalb zu Recht, daß die „provinziellen Kommissariate . . in ihrer Unterordnung unter das Berliner Generalkriegskommissariat gegenüber der (sie) Provinzialregierungen und den Ständen der einzelnen Lande die alle Teile des Staatsgebiets gleichmäßig umfassende landesfürstliche Gewalt, die Idee der Staatseinheit... " 8 0 darstellten. Das Generalkriegskommissariat als oberste zentralstaatliche Verwaltungsbehörde war somit für die gesamtstaatliche Heeres- und Steuerverwaltung - hier sind vor allem die Kontributions- (Grundsteuer) und Akziseeinnahmen (Handels- und Verbrauchssteuer) zu nennen - sowie Wirtschaftspolitik zuständig. In Anbetracht dieses umfangreichen Aufgabenkatalogs und aufgrund machtpolitischer Erwägungen des Kurfürsten organisierte dieser noch kurz vor seinem Tod im Jahr 1712 diese Behörde um und führte deshalb das Kollegialitätsprinzip ein 81 . Bevor nun im folgenden die praktische Getreidehandelspolitik der Jahre von 1688 bis 1713 untersucht wird, muß an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daß von Kurfürst Friedrich III. keine

79

Vgl. Naudé : Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazinverwaltung Brandenburg-Preußens bis 1740, S. 111 und S. 133, sowie Karch, S. 140. 80

81

Jany, Bd. 1, S. 308.

Vgl. Schmoller/Krauske (Hg.): Acta Borussica. Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert, Bd. 1, Nr. 61, S. 184-190; vgl. auch Neugebauer: Zur neueren Deutung der preussischen Verwaltung im 17. und 18. Jahrhundert, S. 93, und Haussherr: Verwaltungseinheit und Ressorttrennung vom Ende des 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, S. 5.

76

Β. Die Ansätze der Anfangsperiode

konzeptionellen Äußerungen zur Wirtschaftspolitik im allgemeinen und Getreidehandelspolitik im speziellen überliefert sind. Insbesondere in seinen beiden Politischen Testamenten - und nichts anderes stellen seine beiden Ermahnungen an seinen Nachfolger dar - ist keine wirtschaftspolitische Programmatik vorzufinden, sondern vor allem das zweite Dokument vom 9. Mai 1705 wird durch eine fast ausschließlich außen- und machtpolitische Perspektive geprägt, die wohl im Kontext der 1701 erfolgten Rangerhöhung und des daraus resultierenden Regierungsanspruchs gesehen werden muß. 82 Auch die Mahnung zum Frieden, die der König im zweiten Politischen Testament mit der stets gefährdeten geostrategischen Lage der brandenburg-preußischen Provinzen begründet, beruht im Gegensatz zur Sichtweise der Kameralisten keineswegs auf wirtschafts- oder handelspolitischen, sondern vielmehr auf rein außen- und machtpolitischen Überlegungen.83

IV. Kurfürst Friedrich I I I . und die Getreidehandelspolitik 1. Die Getreideexportregulierung als Streitobjekt der wirtschaftspolitischen Zentralbehörden Die tendenziell aufblühende Gewerbewirtschaft und der damit verbundene steigende städtische Getreidebedarf primär in den Marken und im Großraum Berlin gelangte gegen Ende des 17. Jahrhunderts immer mehr in Gegensatz zur ebenfalls tendenziell aufblühenden, zum Teil verstärkt Überschüsse produzierenden Landwirtschaft vor allem in den Provinzen Magdeburg, Pommern84, Ostpreußen und Kleve.85 Für Ostpreußen und Kleve wurde der Getreideexport generell freigegeben, denn Ostpreußen war als reine Agrarprovinz auf die Exportgewinne seiner Produktionsüberschüsse angewiesen und Kleve, für das ähnliches galt, durfte allein aus Rücksicht auf seine außerstaatlichen Nachbarn den Export nicht reglementieren. Einmal abgesehen

82

Vgl. Dietrich (Hg.), S. 211-216 und S. 217-220. Vgl. Dietrich (Hg.), S. 218-219. 84 Magdeburg steht hier für das Gebiet des ehemaligen Herzogtums MagdeburgHalberstadt mit der Grafschaft Hohenstein, während Pommern hier Hinterpommern - ab 1720 zusätzlich Preußisch-Vorpommern - meint. 85 Obwohl die landwirtschaftliche Entwicklung deutlich positiv verlief, waren um die Jahrhundertwende in der Mark Brandenburg und in Ostpreußen immer noch ca. ein Drittel der Ländereien wüst und unbebaut. Vgl. hierzu Abel: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur, S. 183. 83

IV. Kurfürst Friedrich III. und die Getreidehandelspolitik

77

von der außergewöhnlichen europäischen Hungerkrise der Jahre 1709/10 kam es in Kleve gegen den Willen der Provinzialregierung nur 1693 zu einem einzigen kurzfristigen Exportverbot, während im Mangeljahr 1695 Amsterdam der Provinz Kleve zu Hilfe kam, nachdem ein interprovinzieller Ausgleich von Ostpreußen nach Kleve an schlechter Witterung und verkehrstechnischen Grenzen gescheitert war. 86 Da die Marken um die Jahrhundertwende ihre Getreideproduktion in etwa selbst verbrauchten und der Exportfrage daher dort eher sekundäre Bedeutung zukam, mußten die traditionellen Gegensätze in der Frage der Exportregulierung deshalb vor allem in Magdeburg und Pommern kulminieren, weil dort bei normalem Ernteverlauf große Überschüsse produziert und exportiert wurden, während bei den relativ seltenen Mißernten im Falle fehlender Exportbeschränkungen Getreidepreisinflation und Mangel besonders intensiv drohten. Diese konträren Exportinteressen von Gewerbe und Landwirtschaft und damit von Stadt und Land spiegeln sich in den 90er Jahren des 17. Jahrhunderts zunehmend auch in den Auseinandersetzungen der wirtschaftspolitischen Zentralbehörden wieder: Setzte sich der Generalkriegskommissar Daniel Ludolf von Danckelmann für kurz- und mittelfristige Exportverbote in Mangeljahren zugunsten der Städte und damit vor allem zugunsten der Gewerbearbeiter und Soldaten ein, so wollte der Hofkammerpräsident Dodo von Knyphausen beschränkte Exporte zum Wohle der Landwirtschaft auch bei Versorgungsengpässen zulassen. Eberhard von Danckelmann entschied sich schließlich für die Präferenzen seines Bruders und setzte bei Mißernten, wie zum Beispiel im Jahr 1693 in Magdeburg, ein umfassendes Getreideexportverbot durch. Dies geschah aber nicht nur zum Schutz der Städte in der Provinz Magdeburg, sondern sollte auch der Sicherstellung der Getreideversorgung von Städten dienen, die wie vor allem die vom sukzessiv steigenden Bedarf geprägte Haupt- und Residenzstadt Berlin sogar außerhalb der Provinz lagen. Doch obwohl diese Idee des

86

Vgl. Heuser, S. 19-22, und Naudé : Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazinverwaltung Brandenburg-Preußens bis 1740, S. 112-117. Auch an dieser Stelle ist erneut darauf hinzuweisen, daß eine eingehendere Analyse der provinziellen Sonderrollen der rheinischen und ostpreußischen Gebiete im Zuge der Untersuchung der friderizianischen Getreidehandelspolitik vorgenommen wird, um in diese Analyse auch Schlesien, Ostfriesland und Westpreußen miteinbeziehen zu können.

78

Β. Die Ansätze der Anfangsperiode

interprovinziellen Ausgleichs aufgrund der großen Transportprobleme 87 im Gesamtstaat wenig Aussicht auf Erfolg haben mußte und nur bei der Versorgung Berlins durch die Kornkammer Magdeburg auf Dauer funktionierte 88, so läßt sich hier doch der Ansatz erkennen, brandenburgpreußische Getreidehandelspolitik nicht mehr nach provinziell-ständischen, sondern nach gesamtstaatlich-absolutistischen Interessen und Gesichtspunkten zu betreiben.89 Letztlich war Eberhard von Danckelmann aber nicht in der Lage, die Konkurrenz zwischen den wirtschafts- und getreidehandelspolitischen Zentralbehörden zu beenden und auch nach seinem Sturz im Jahr 1697 gelang dies nicht90: Der Nachfolger des Generalkriegskommissars Daniel Ludolf von Danckelmann, Johann Albrecht von Barfus, zeigte sich zwar derart mächtig, daß ihm die Hofkammer keine wirkungsvolle Opposition entgegenzusetzen vermochte und somit das institutionelle Konkurrenzverhalten zumindest mittelfristig marginalisiert wurde, jedoch konnte das Konfliktpotential zwischen beiden Oberbehörden damit keineswegs beseitigt werden. Obwohl Barfus gerade in den Mangeljahren 1698/99 wiederholt zum Instrument des umfassenden Getreideexportverbots griff, das durch Maßnahmen gegen Schmuggel und spekulativen Wucher ganz im Sinne beispielsweise des Kameralisten Justi ergänzt wurde, die die privatwirtschaftliche Ausnutzung der Getreidepreisinflation verhindern sollten, hatte er nur äußerst begrenzten Erfolg. Die von ihm getroffenen Maßnahmen zeigten 1698/99 keine hinreichende Wirkung und, da Brandenburg-Preußen wie auch zahlreiche andere europäische Staaten von einer schweren Versorgungs- und Inflationskrise betroffen war, wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts nach neuen Konzepten gesucht.91

87

Hier sind insbesondere die höheren Kosten sowie die infrastrukturellen und verkehrstechnischen Hemmnisse zu nennen. 88 Vgl. Schmoller. Studien über die wirtschaftliche Politik Friedrich des Großen und Preußens überhaupt von 1680-1786, S. 690-695, und Neugebauer. Brandenburg im absolutistischen Staat, S. 316. 89 Vgl. Naudé : Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazinverwaltung Brandenburg-Preußens bis 1740, S. 117-123. 90 Vgl. Abel: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa, S. 175. 91 Vgl. Naudé: Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazinverwaltung Brandenburg-Preußens bis 1740, S. 133-141. Die Schwere der Versorgungskrise 1698/99 ließ Barfus allerdings eher vergeblich zu sämtlichen getreidehandelspolitischen Instrumenten, wie zum Beispiel auch das Branntweinbrennverbot, greifen; vgl. hierzu Scotti (Hg.), Bd. 1, Nr. 496, S. 713.

IV. Kurfürst Friedrich III. und die Getreidehandelspolitik

79

2. Gescheiterte Projekte privat finanzierter Magazine Neben den relativ erfolglosen Versuchen, die Not der Bevölkerung in den Mangeljahren durch interprovinziellen Ausgleich zu mindern, nicht zuletzt da fast der gesamte Kontinent und damit mehr oder weniger alle brandenburgpreußischen Provinzen betroffen waren, zeigen sich schon bei Barfus erste Ansätze, staatliche Magazine mit ausschließlich sozialpolitischer Zielsetzung zu errichten. Sollten diese sinnvoller Weise der Sicherstellung der Getreideversorgung bei Mißernten dienen, so scheiterten die entsprechenden Planungen aber an der staatlichen Bereitstellung der benötigten finanziellen Mittel durch das zur Macht gekommene Dreigrafenministerium. 92 In den Jahren nach der 1702 erfolgten Verabschiedung des Generalkriegskommissars Barfiis wurden diese konzeptionellen Ansätze in diversen Denkschriften aufgearbeitet, die unter der Leitung Wartenbergs dann zu konkreten Projekten von sogenannten Land- und Ämtermagazinen führten. In diesen Denkschriften findet sich dabei erstmals eine Erweiterung der sozial- um eine preispolitische Zielsetzung, denn es sollten nicht nur Nothilfen gewährt, sondern mittels gezielter Ein- und Verkaufspolitik der Getreidepreis stabilisiert werden. Im Gegensatz zur Exportregulierung, die sich als Streitpunkt zwischen Stadt und Land bzw. Gewerbe- und Landwirtschaft erwiesen hatte, sollten diese Magazine in völliger Übereinstimmung zu sämtlichen kameralistischen Theorien beiden Seiten nutzen: Nothilfen und Höchstpreisen einerseits würden Saatkornhilfen und Mindestpreise andererseits gegenüberstehen.93 Daß auch der Staat seinen Nutzen aus einem Netz zivilen Zwecken dienender Magazine ziehen konnte, liegt dabei auf der Hand: Abgesehen von der Wirtschaftlichkeit der Magazine würden sie zum einen eine - auch im Hinblick auf die Peuplierungspolitik im allgemeinen sowie die Grundversorgung der Soldaten und Arbeiter im speziellen - wertvolle sozial- und preispolitische Wirkung entfalten und zum anderen zur Absicherung der Kontributions- und Domänenpachteinnahmen beitragen. Anstatt aber deshalb die Landmagaziné auch staatlich zufinanzieren, wurde vom Dreigrafenministerium ganz im Sinne der Vorstellungen von Sonnenfels der Fehler begangen, die neu zu errichtenden Magazine auf genossenschaftlicher Basis von den provinziellen Ständen

92

Vgl. Naudé: Brandenburg-Preußens absolutistischen Staat, 93 Vgl. Naudé: Brandenburg-Preußens

Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazinverwaltung bis 1740, S. 146-151, und Neugebauer: Brandenburg im S. 336. Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazinverwaltung bis 1740, S. 157-161.

80

Β. Die Ansätze der Anfangsperiode

finanzieren zu lassen. Diese hingegen waren aber in den Jahren guter Getreideernten zwischen 1700/02 und 1708 nicht bereit, die entsprechenden Mittel aufzubringen, so daß ein sozial- und preispolitisch nutzbares Magazinsystem mit Ausnahme einiger unbedeutender Domänenmagazine bereits in der Planungsphase an der privaten Finanzierung gescheitert war. 94 Der Umstand, daß ein derartiges Landmagazinsystem nicht errichtet weiden konnte, weil sich weder Staat noch Stände zur Finanzierung bereiterklärten, und die staatlichen Kriegsmagazine nicht zum Zwecke einer preis- und sozialpolitischen Nutzung ausgebaut wurden, mußte sich in der großen europäischen Hungerkrise der Jahre 1709/10 rächen. Auch Getreideexportverbote und unter dem Eindruck nahender Not zu spät kommende Versuche, doch noch Landmagazine zu errichten, konnten extremen Mangel, rasante Inflation, Hungersnöte und grassierende Seuchen nicht vom Staat und insbesondere von Ostpreußen und Pommern fernhalten. 95 Obwohl die kornreiche Provinz Magdeburg als einzige im brandenburgpreußischen Staat von der Mißernte und der daraus resultierenden Hungerkrise nicht betroffen war, kam es zu keinem interprovinziellen Ausgleich, sondern Magdeburg konnte auf dem europäischen Markt hohe Exporterträge erzielen, während in Pommern und Ostpreußen zahlreiche Menschen am Getreidemangel verhungerten. Das Scheitern eines interprovinziellen Ausgleichs ist aber sicher nicht nur auf die Transportprobleme 96 zurückzuführen, sondern gründete sich vor allem auch auf fehlendem politischen Willen: Während sich die Provinzen in ihrer Not selbst überlassen wurden97, sorgte sich das Dreigrafenministerium nur um den Hof und die Residenzstadt Berlin und so war es nur dort noch vor der Hungerkrise 1709 möglich gewesen, das einzige sozial- und preispolitisch

94

Vgl. Naudé : Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazinverwaltung Brandenburg-Preußens bis 1740, S. 163-170. 95 Vgl. unter anderem Scotti (Hg.), Bd. 2, Nr. 590, S. 761, und Nr. 604, S. 766, und Abel: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur, S. 187, der offenläßt, ob es sich bei der Seuche tatsächlich um die Pest handelte. 96 Der Winter 1709/10 war besonders streng, so daß sämtliche schiffbaren Flüsse für mehrere Monate zugefroren und somit als Hauptverkehrswege nicht nutzbar waren. 97 Vgl. zu Kleve beispielsweise Heuser, S. 23-25.

IV. Kurfürst Friedrich III. und die Getreidehandelspolitik

81

nutzbare sowie ausreichend große Magazin, das sogenannte Stadtmagazin, zu errichten. 98 Der brandenburg-preußische Staat war durch die Hungerkrise 1709/10 derart schwer getroffen worden, daß sich seine gesamte Wirtschaft - sowohl Gewerbeals auch Landwirtschaft - im Verlauf der restlichen Regierungszeit König Friedrichs I. nicht mehr davon zu erholen vermochte. Wenn auch der Getreidemangel, die Inflation und die Seuchen nicht vom Staatsgebiet ferngehalten werden konnten, so erscheint in Anbetracht der - unten ausführlich zu untersuchenden - Hungerkrise von 1770 bis 1772 die These durchaus vertretbar, daß es durch eine gezielte Getreidehandelspolitik möglich gewesen wäre, die Auswirkungen der Krise von 1709/10 für den Gesamtstaat zumindest erheblich abzumildern, ein Teilerfolg, der dem Dreigrafenministerium jedoch nur für die Hauptstadt Berlin gelang.99 Die Zeit von 1688 bis 1713 läßt sich somit grob in zwei Phasen einteilen: Von 1688 bis 1702 betrieben Eberhard von Danckelmann und Barfus eine eher konservative Getreidehandelspolitik, wobei in Mangeljahren zum immer weniger effizienten Instrument der Exportreglementierung gegriffen wurde. Erst zu Beginn der zweiten Phase, der Herrschaft des Dreigrafenministeriums in diesem zentralen Politikbereich von 1702 bis 1713, wurden innovative Konzepte bezüglich eines sozial- und preispolitisch nutzbaren Magazinsystems entwickelt, deren Verwirklichung jedoch an der vornehmlich monetären Kurzsichtigkeit der Stände und des Dreigrafenministeriums scheiterten. Mangelndes Interesse an einer integrativen gesamtstaatlichen Getreidehandelspolitik und einseitige Ausrichtung auf die Residenzstadt prägten die Herrschaft dieses Triumvirats und ließen zu, daß die Hungerkrise von 1709/10 den brandenburgpreußischen Staat nachhaltig wirtschaftlich schädigte.100

98

Vgl. Naudé : Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazinverwaltung Brandenburg-Preußens bis 1740, S. 172-186, und Abel: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa, S. 170-174. Naudé macht auf S. 179 zu Recht darauf aufmerksam, daß Intrigen am Hof und auf der obersten Verwaltungsebene zu dieser Zeit eine auf die gesamtstaatlichen Interessen abgestimmte Wirtschafts- bzw. Getreidehandelspolitik völlig unmöglich machten. 99 Vgl. Naudé : Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazinverwaltung Brandenburg-Preußens bis 1740, S. 187-189, und Abel: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa, S. 171-174. 100 Vgl. Neugebauer: Brandenburg im absolutistischen Staat, S. 336. 6 Atorf

Β. Die Ansätze der Anfangsperiode

82

Heuser stellt somit zu Recht fest, „daß es in der Getreidehandelspolitik noch an einem einheitlich durchgebildeten System fehlte" 101, eine Aussage, die sich von der Provinz Kleve unbedingt auch auf den gesamten Staat BrandenburgPreußen für die Zeit bis 1713 übertragen läßt. Bevor nun aber der Frage nachgegangen werden kann, wie der Sohn und Nachfolger König Friedrichs I. mit diesem wirtschafts- und getreidehandelspolitischen Erbe umzugehen vermochte und wie er - das kann hier schon vorweggenommen werden - diesen zentralen Politikbereich systematisierte, ist ein kurzer Blick auf die militärischen Aspekte der Getreidehandelspolitik der Jahre 1688 bis 1713 zu werfen.

3. Die Heeresverpflegung in den Kriegen Kurfürst Friedrichs ΠΙ. Während der Regierungszeit Kurfürst Friedrichs III. wurde der brandenburgpreußische Staat in zwei große europäische Konflikte verwickelt und es ist nun zu klären, wie sich die Heeresverpflegung in diesen Kriegen gestaltete, nachdem bereits oben die Modifikationen in der Heeresverwaltung bzw. im institutionellen Bereich dargestellt wurden. Einleitend ist dabei darauf hinzuweisen, daß sich Friedrich sowohl im Pfälzischen Krieg (1688-1697) als auch im Spanischen Erbfolgekrieg (1701-1714) der antifranzösischen Koalition anschloß und damit - abgesehen von einem kleinen Truppenkontingent in Italien während des Spanischen Erbfolgekriegs - ausschließlich die rheinischen Provinzen Brandenburg-Preußens unmittelbar mit dem Kriegsgeschehen konfrontiert wurden. Geriet die Provinz Ostpreußen erstmals in der Mitte des 18. Jahrhunderts wieder in Kriegs wirren, so erfaßte das Geschehen des Großen Nordischen Krieges (1701-1721) zwar schon früher die mittleren Provinzen des Staates, allerdings fiel der Feldzug gegen Schweden bereits in die Regierungszeit von König Friedrichs I. Sohn und Nachfolger. 102

101

102

Heuser, S. 25.

Vgl. Braubach: Vom Westfälischen Frieden bis zur Französischen Revolution, S. 76-82, S. 87-101 und S. 108-111. Die geringe Bedeutung, die der König und das Dreigrafenministerium der - den Habsburgern als Gegenleistung zur 1701 gestatteten Rangerhöhung zugesagten - brandenburg-preußischen Beteiligung am Spanischen Erbfolgekrieg zumaßen und die der Spanische Erbfolgekrieg für den brandenburg-preußischen Gesamtstaat deshalb auch einnehmen sollte, läßt sich auch fiskalpolitisch nachweisen, denn in diesen Jahren übertrafen die

IV. Kurfürst Friedrich III. und die Getreidehandelspolitik

83

Aber auch im Pfälzischen Krieg sowie im Spanischen Erbfolgekrieg sahen sich die rheinischen Provinzen nur insoweit mit dem Kriegsgeschehen konfrontiert, als daß sie als Aufmarschgebiet und Verpflegungsbasis für die brandenburg-preußischen Truppen dienten. Da es der französischen Armee in diesen Konflikten im Gegensatz zu denen der 70er Jahre jedoch nur kurzfristig gelang, brandenburg-preußische Territorien zu besetzen103, erscheint es verständlich, daß eine nennenswerte Störung der ordnungsgemäßen traditionellen Magazinverpflegung durch die Franzosen nicht festzustellen ist. Ohne eine zumindest mittelfristige Beeinträchtigung durch eine etwaige feindliche Besetzung war die Naturalverpflegung aus dem Lande, das das Getreide in das einzige westliche Kriegsmagazin in der Festung Wesel unbehindert abliefern konnte, sowohl im Feld als auch in den Winterquartieren eher unproblematisch, wobei den Flüssen und insbesondere dem Rhein eine zentrale Bedeutung als Nachschubweg vom Weseler Magazin zum Heer zukam.104 Mußte dabei die Verpflegung des brandenburg-preußischen Korps', das der am Mittelrhein und in Holland kämpfenden Koalitionsarmee eingegliedert worden war, im Pfälzischen Krieg wie gewohnt durch das Generalproviantamt autonom geregelt werden, so ging im Spanischen Erbfolgekrieg die Verpflegung des über 5.000 Soldaten umfassenden Korps' in die Obhut da* englischen und holländischen Heeresverwaltung über, da diese in Holland stehenden Truppen zwar über einen eigenen Befehlshaber verfügten, aber im Sinne von auf diese Seemächte vereidigten Hilfstruppen dem englischen Oberbefehl unterstanden. Die Verpflegung der um dieses Korps reduzierten, in den eigenen Provinzen verbliebenen brandenburg-preußischen Armee sowie die weiteren Kriegskosten belasteten den Kriegsetat aber dennoch so stark, daß König Friedrich I. ab dem Jahr 1702 auf Subsidien und Kontributionen aus besetzten feindlichen Territorien zurückgreifen mußte.105

Hofhaltungskosten die Ausgaben für das Heer und dessen Verpflegung deutlich; vgl. hierzu auch Neugebauer: Brandenburg im absolutistischen Staat, S. 336. 103 Dies war beispielsweise in den Jahren 1702/03 der Fall, als die Franzosen die linksrheinischen Territorien der Provinz Kleve für einige wenige Monate besetzen konnten. Vgl. hierzu Hassinger, S. 48-49. 104 Vgl. Braubach: Vom Westfälischen Frieden bis zur Französischen Revolution, S. 77 und S. 89-92, und Jany, Bd. 1, S. 585-588. Bei Jany finden sich auf S. 586 zudem detaillierte Listen der Bataillonsverpflegungssätze aus den Jahren 1691 und 1710. 105 Vgl. Jany, Bd. 1, S. 436-437, und Hassinger, S. 52-54. Zur angespannten Finanzlage vgl. auch Neugebauer: Brandenburg im absolutistischen Staat, S. 336.

84

Β. Die Ansätze der Anfangsperiode

Der dem brandenburg-preußischen Engagement angemessene Territorialgewinn des Spanischen Erbfolgekriegs - Neufchâtel, Moers, Lingen und Geldern106 - läßt dabei erstmals den Blick auf einen Aspekt frühneuzeitlicher Kriegführung zu, der in Brandenburg-Preußen zwar erst für die friderizianischen Kriege von essentieller Bedeutung sein sollte, aber hier bereits angedeutet wird: die völlige Abhängigkeit des Festungskrieges von der Verpflegungslage sowohl der Belagerer als auch der Belagerten. Fiel das Territorium des Oberquartiers Geldern erst im Utrechter Frieden von 1713 endgültig an den brandenburg-preußischen Staat, so war es doch bereits seit Anfang des Konfliktes umkämpft und die das Territorium beherrschende Festung Geldern wurde schon im Jahr 1703 von brandenburg-preußischen Truppen belagert. Ist der Verlauf und Ausgang dieser Belagerung in diesem Zusammenhang von untergeordneter Relevanz, so weist die folgende Anordnung der klevischen Provinzialregierung an die geldrische Bevölkerung vom 7. Mai 1703 eindringlich auf die hier interessierende zentrale Bedeutung der Verpflegungsfrage bei der Belagerung hin: Offensichtlich bestand das taktische Ziel der Belagerer nicht darin, die Festung durch Erstürmung zu erobern, sondern sowohl den regulären als auch den irregulären geschmuggelten Verpflegungsnachschub zur Festung zu unterbinden und somit die belagerten Garnisonstruppen durch Aushungerung zur Übergabe der Festung zu bewegen: „Den Unterthanen wird es bei Leib- und Lebens-Strafe untersagt, mit der in der bloquirten Festung Geldern befindlichen Garnison oder mit den dortigen Einwohnern Correspondenz zu halten, denselben Lebensmittel oder andere Bedürfnisse zuzubringen oder zuführen zu lassen."107 Neben der Bedeutung der Verpflegung im Festungskrieg108, die in bezug auf die brandenburg-preußische Kriegführung im Spanischen Erbfolgekrieg erstmals anklingt, macht Jany auf eine andere Neuerung im Bereich der Heeresverpflegung aufmerksam, die in der Regierungszeit König Friedrichs I. zum ersten Mal hervortritt: Hielten bereits zur Zeit des Großen Kurfürsten

106

Vgl. Schütz, S. 35, und Braubach: Vom Westfälischen Frieden bis zur Französischen Revolution, S. 96. 107 Scotti (Hg.), Bd. 2, Nr. 526, S. 727. 108 Eine eingehendere Analyse der Bedeutung der Verpflegung für den Festungskrieg erfolgt im Rahmen der Untersuchungen zur friderizianischen Kriegführung und muß ergänzt werden duch eine Analyse der Bedeutung des Festungskrieges für die Verpflegung, da sich die Festungsmagazine als strategisch und taktisch wichtige Verpflegungsknotenpunkte erweisen sollten.

IV. Kurfürst Friedrich III. und die Getreidehandelspolitik

85

Proviantfuhrwerke die Verbindung der Armee mit dem Magazin und der Bäckerei aufrecht, so deuteten sich im Verlauf des Pfälzischen Krieges bei der brandenburg-preußischen Armee erste Ansätze an, diese von den Provinzialständen gestellten Fuhrwerke zu Proviantkolonnen zusammenzufassen und sie in regelmäßigen Takten zwischen der Armee und der Bäckerei bzw. dem Magazin pendeln zu lassen.109 Es bleibt jedoch festzuhalten, daß diese frühen Wurzeln des später ausgebildeten „5-Märsche-Systems"110 ebenso wie die einsetzende Aufwertung von Verpflegungsfragen im Festungskrieg nur in Ansätzen erkennbar sind, so daß die Modifikationen bei der Heeresverpflegung im Zuge des Pfälzischen Krieges und des Spanischen Erbfolgekrieges wohl eher als Marginalien zu werten sind. König Friedrich I. und seine führenden Beamten haben es somit weder im ökonomischen noch im militärischen Bereich der Getreidehandelspolitik vermocht, innovative richtungsweisende Neuerungen einzuführen, sondern sind in weiten Teilen in der Tradition des Großen Kurfürsten verharrt. Nicht nur diese fehlende Modernität, sondern vor allem auch das monarchische Desinteresse und die Inkompetenz des Dreigrafenministeriums führten schließlich dazu, daß die Getreidehandelspolitik zur Regierungszeit Kurfürst Friedrichs III. neben anderen zentralen Politikbereichen weit hinter den Erfolgen des Großen Kurfürsten zurückblieb. Erst der Sohn und Nachfolger sollte - im Jahre 1713 auf den Thron gelangt - die gesamte Getreidehandelspolitik zu einem kohärenten System ausbauen, das erst dann in der Lage war, die brandenburg-preußische Großmachtwerdung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts maßgeblich zu unterstützen und damit der Rangerhöhung Kurfürst Friedrichs III. zum König im Jahre 1701 Substanz zu verleihen.

109

110

Vgl. Jany, Bd. 1, S. 588.

Eine Analyse der Entwicklung und der Struktur des „5-Märsche-Systems" wird ebenfalls im Rahmen der unten folgenden detaillierteren Untersuchungen zur friderizianischen Kriegführung vorgenommen.

C. Die Periode der Systematisierung (1713-1740) I. Die Zeit König Friedrich Wilhelms I. 1. Die Umstrukturierung der Verwaltungsinstitutionen Der Regierungsantritt König Friedrich Wilhelms I. 1 im Jahr 1713 stellte nicht nur in Bezug auf die Wirtschafts- und Getreidehandelspolitik, sondern für die gesamte Innenpolitik die größte Zäsur dar, die im Zeitalter des Absolutismus - das heißt im Zeitraum vom Westfälischen Frieden im Jahr 1648 bis zur militärischen Katastrophe gegen das napoleonische Frankreich im Jahr 1806-den brandenburg-preußischen Staat erfaßte. In den 27 Regierungsjahren bis zu seinem Tod im Jahr 1740 vermochte es dieser Monarch, die innere Staatsbildung in einem Maße voranzutreiben, das ihn völlig zu Recht nicht nur als größten inneren König des absolutistischen Brandenburg-Preußen in die Geschichtsbücher eingehen ließ2, sondern insbesondere auch die fundamentalen Grundlagen legte, die für seinen Sohn und Nachfolger wiederum unverzichtbar sein sollten, um den Aufstieg Brandenburg-Preußens von einer europäischen Mittel- zur Großmacht erfolgreich bewerkstelligen zu können.3 Bevor aber die große Leistung König Friedrich Wilhelms I. bei der Systematisierung der Getreidehandelspolitik in den Mittelpunkt der Analyse gestellt wird, muß zuerst einmal eingehend der Frage nachgegangen werden, welche institutionellen Reformen sich für die Wirtschafts- und vor allem Getreidehandelspolitik als relevant erweisen sollten und in welche allgemeine wirtschaftspolitische Konzeption die Getreidehandelspolitik im speziellen eingebettet war. Nachdem bereits 1712 - also noch vor dem Regierungswechsel - das Generalkriegskommissariat als oberste Steuerverwaltungsbehörde nach dem Kollegialitätsprinzip umgestaltet worden war, führte Friedrich Wilhelm unmittelbar nach seinem Regierungsantritt eine erste

1

Zur Biographie König Friedrich Wilhelms I. siehe Käthe: Der „Soldatenkönig", und Oestreich: Friedrich Wilhelm I., sowie Härtung: König Friedrich Wilhelm I. von Preußen. 2 Vgl. zur Herkunft dieses Attributes Schmoller: Die innere Verwaltung des preußischen Staates unter Friedrich Wilhelm I. (2. Teil), S. 16. 3 Vgl. hierzu stellvertretend für andere Härtung: König Friedrich Wilhelm I. von Preußen, S. 148.

I. Die Zeit König Friedrich Wilhelms I.

87

Verwaltungsreform im Bereich des Kammerstaates durch. So ersetzte er per Reglement vom 27. März 1713 die für die Domänen zuständige Hofkammer durch das neu gebildete Generalfinanzdirektorium, das von nun an alle nicht steuerförmigen Einnahmen, wie zum Beispiel die Domänenpacht-, Zoll- und Regalieneinnahmen, zu verwalten hatte und in dieser Funktion insbesondere zum Motor einer effizienten Domänenpolitik werden sollte.4 Indem das Generalfinanzdirektorium somit die eher konservativ-provinziellen Interessen der Stände vertrat, verstand sich das Generalkriegskommissariat als vornehmlich moderne zentralstaatliche Institution, die der Verwaltung des absolutistischen Steuer- und Militärstaates zu dienen hatte. Waren diese Interessengegensätze schon zur Zeit des Großen Kurfürsten latent vorhanden und konnten dort nur durch dessen persönliches Regiment entschärft werden, so verschärften sie sich während der Regierungszeit Kurfürst Friedrichs III. und führten nur deshalb nicht zur offenen Auseinandersetzung, weil - wie oben bereits gezeigt - nach dem Sturz von Eberhard von Danckelmann 1697 die überragende Machtstellung des Generalkriegskommissars eine Opposition der Hofkammer nicht zuließ. Der offene Ausbruch eines dauerhaft existenten Konflikts zwischen beiden Oberbehörden war demnach erst nach einer organisatorischen Straffung und Aufwertung der Kammerbehörde möglich und stellte daher den negativen Begleiteffekt einer Verwaltungsreform - und zwar der von 1713 - dar, die eigentlich ausschließlich einer domänenpolitischen Effizienzsteigerung zustatten kommen sollte.5 Der konkrete Interessensgegensatz der beiden Institutionen manifestierte sich dabei vor allem imfiskalischen Bereich, denn der Streit drehte sich in der Regel um die finanziellen Forderungen an die Domänenpächter: Zog das Generalfinanzdirektorium die Pacht vierteljährig ein, so erhob das Generalkriegskommissariat die fällige Kontribution im unregelmäßigen Turnus und zwar

4

Vgl. Schmoller/Krauske (Hg.): Acta Borussica. Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert, Bd. 1, Nr. 123, S. 363-366, sowie Neugebauer. Zur neueren Deutung der preussischen Verwaltung im 17. und 18. Jahrhundert, S. 93, und Helfritz, S. 144, sowie Haussherr'. Verwaltungseinheit und Ressorttrennung vom Ende des 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, S. 1-2. Die Domänenpolitik König Friedrich Wilhelms I. wird unten im Zuge der Analyse seiner Getreidehandelspolitik ihre Würdigung erfahren. 5 Vgl. unter anderem Härtung: König Friedrich Wilhelm I. von Preußen, S. 134136, und Oestreich: Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des alten Reiches, S. 103.

C. Die Periode der Systematisierung

88

möglichst kurz vor Quartalswechsel, so daß die Pächter über hinreichend Geld verfugten, jedoch für die anschließenden Pachtzahlungen keine ausreichenden Mittel mehr übrig waren. Das Resultat waren aufwendige langatmige Prozesse zwischen den beiden Oberbehörden, die die effiziente Arbeit beider nachhaltig beeinträchtigen mußten, und deren Dimension und Wirkung Haussherr wie folgt beschreibt: „Im allgemeinen war das Generalkommissariat (Generalkriegskommissariat; Anm. d. Verf.) der Angreifer, während das Generalfinanzdirektorium sich verteidigte. Der Behördenkrieg in der Zentrale wirkte in den Provinzen und in den Kreisen weiter, ebenso wie sich die örtlichen Streitigkeiten bis in die Spitze fortsetzten.