Anamnesis: Handlungen, Orte und Zeiten des Erinnerns 3791731947, 9783791731940

"Erinnerung" steht im Zentrum christlicher Liturgien – ob beim Herrenmahl, bei Beerdigungen, beim täglichen Ge

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Anamnesis: Handlungen, Orte und Zeiten des Erinnerns
 3791731947, 9783791731940

Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Die Societas Liturgica
Vorwort
Der 27. Kongress der Societas Liturgica – ein Überblick
Anamnesis: Erinnern in Handlung, Ort und Zeit
Programm des Kongresses
Eindringung – Durchdringung – Fermentierung: Überlegungen zum Wesen der Liturgie und zu ihren Erinnerungsweisen
Heilige beherbergen und ehren: Die englische Architektur des Mittelalters und der Reliquienkult
Gedenken als Handlung: Liturgie und Heilung verletzter Erinnerungen
Erinnerung zwischen Verortung und Mobilität: Diaspora, Holocaust und Exil im Spiegelbild gegenwärtiger deutsch-jüdischer Literatur
Modelle liturgischen Gedenkens: Mystisch-politische Dimensionen, mythisch-historische Spannungen
Die Begräbnisfeier – Ostergedächtnis und Eingliederung in den auferstandenen Leib Christi
Zwischen Anamnese und Lobpreis: Der Ursprung der Darbringung in den syro-byzantinischen Anaphoren
Vorträge und Panels zu den Themenfeldern des Kongresses
Predigt der Kongress-Eucharistiefeier: 9. August, Gedenktag der heiligen Teresa Benedicta vom Kreuz
Danksagung
Autorinnen und Autoren

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THEOLOGIE DER LITURGIE Band 17

THEOLOGIE DER LITURGIE Herausgegeben von Martin Stuflesser Band 17 Anamnesis Handlungen, Orte und Zeiten des Erinnerns

Verlag Friedrich Pustet Regensburg

Joris Geldhof, Dorothea Haspelmath-Finatti, Bridget Nichols, Frédérique Poulet (Hg.)

Anamnesis Handlungen, Orte und Zeiten des Erinnerns

Verlag Friedrich Pustet Regensburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Verlag Friedrich Pustet, Regensburg Gutenbergstraße 8 | 93051 Regensburg Tel. 0941/920220 | [email protected] ISBN 978-3-7917-3194-0 Reihen-/Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany 2020 eISBN 978-3-7917-7306-3 (pdf) Unser gesamtes Programm finden Sie im Webshop unter www.verlag-pustet.de



Inhaltsverzeichnis5

Inhaltsverzeichnis Die Societas Liturgica  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Joris Geldhof – Dorothea Haspelmath-Finatti – Bridget Nichols – Frédérique Poulet  Vorwort  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Bridget Nichols  Der 27. Kongress der Societas Liturgica – ein Überblick  . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Congress Statement Anamnesis: Erinnern in Handlung, Ort und Zeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Programm des Kongresses  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Joris Geldhof  Eindringung – Durchdringung – Fermentierung  Überlegungen zum Wesen der Liturgie und zu ihren Erinnerungsweisen  . . . . 25 John Maddison  Heilige beherbergen und ehren  Die englische Architektur des Mittelalters und der Reliquienkult  . . . . . . . . . 45 Felix Mabvuto Phiri  Gedenken als Handlung  Liturgie und Heilung verletzter Erinnerungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Jessica Ortner  Erinnerung zwischen Verortung und Mobilität  Diaspora, Holocaust und Exil im Spiegelbild gegenwärtiger deutschjüdischer Literatur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Bruce T. Morrill  Modelle liturgischen Gedenkens  Mystisch-politische Dimensionen, mythisch-historische Spannungen  . . . . . . 93 Bénédicte Mariolle  Die Begräbnisfeier – Ostergedächtnis und Eingliederung in den auferstandenen Leib Christi  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

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Inhaltsverzeichnis

Stefano Parenti  Zwischen Anamnese und Lobpreis  Der Ursprung der Darbringung in den syro-byzantinischen Anaphoren  . . . . 129 Vorträge und Panels zu den Themenfeldern des Kongresses  . . . . . . . . . . . . . . 145 Joris Geldhof  Predigt der Kongress-Eucharistiefeier  9. August, Gedenktag der heiligen Teresa Benedicta vom Kreuz  . . . . . . . . . . . 151 Danksagung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Autorinnen und Autoren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157



Die Societas Liturgica7

Die Societas Liturgica

Die Societas Liturgica ist eine ökumenische Vereinigung von Liturgiewissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern. Ihre Mitglieder entstammen unterschiedlichen christlichen Traditionen, sie sind katholisch, evangelisch, anglikanisch oder orthodox, sie stammen aus Asien, Afrika, Europa, Amerika oder Australien. Sie vertreten sowohl verschiedene akademische Disziplinen, theologische Denkmodelle als auch pastorale Engagements. Die Entstehung der Societas Liturgica geht zurück auf die Initiative des niederländischen Pastors Wiebe Vos. Er gründete Anfang der 1960er Jahre Studia Liturgica, eine ökumenische Zeitschrift für die Erforschung und Erneuerung der Liturgie. Im Jahr 1967 trafen sich dann Theologen und Kirchenvertreter erstmals zu einem internationalen Kongress in Driebergen in den Niederlanden. Ein halbes Jahrhundert und mehr als 25 Kongresse später ist die Societas Liturgica lebendiger und internationaler als je zuvor (www.societas-liturgica.org). Auch heute fühlen sich ihre Mitglieder der Ökumene und der Erneuerung der Liturgie verpflichtet.

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Die Societas Liturgica



Vorwort9

Vorwort Joris Geldhof – Dorothea Haspelmath-Finatti – Bridget Nichols – Frédérique Poulet

Erinnern ist das zentrale Thema dieses Bandes; es war auch das Hauptthema des im zweijährigen Turnus veranstalteten Kongresses der Societas Liturgica, der vom 5. bis zum 10. August 2019 in der atemberaubenden Stadt Durham stattfand. Unser Congress Statement, das im vorliegenden Buch abgedruckt ist, trug den Titel „Anamnesis: Erinnern in Handlung, Ort und Zeit“. Dieses Thema wurde aus vielen verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Wir freuen uns sehr, dass wir dank des Engagements von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Pfarrerinnen und Pfarrern aus einer Vielzahl von Ländern, Sprachen, Disziplinen, Kulturen und Konfessionen ein anspruchsvolles Programm zusammenstellen konnten. Unser Schwerpunkt, die Liturgie, hat jedoch das Potenzial, dem Chor der interdisziplinären Untersuchungen darüber, wie das Gedächtnis funktioniert, was es leistet und wie es in Beziehung zu anderen menschlichen Aktivitäten steht, eine einzigartige Stimme zu verleihen. Aus einer spezifisch christlichen Sicht besteht kein Zweifel an der herausragenden Bedeutung des Erinnerns. Es ist das, was uns dem nahe bringt, was vor zweitausend Jahren mit Jesus Christus geschah, und gleichzeitig das, was wir für die Zukunft des Planeten zu bieten haben. Darüber hinaus ist es das, was uns miteinander verbindet, auch wenn wir an verschiedenen Orten leben und unterschiedliche kulturelle Umgebungen teilen. Es gibt überzeugende Argumente dafür, dass wir unser Beten, Feiern, Verkündigen und Dienen grundsätzlich in einem Modus des Gedenkens tun. Deshalb müssen wir unser Gedächtnis mit größter Sorgfalt pflegen. Es darf nicht verdorben werden und muss offen, frei, inklusiv, integrativ und einladend sein. Was wir durch unser Erinnern erlangen, muss immer für die Befreiung, Rettung und Emanzipation der Menschen einstehen. Es erscheint sehr passend, dass wir an einem Ort wie Durham, wo sich die Geschichten der Zeitalter in einer wirklich bemerkenswerten Weise angesammelt ­haben, so umfassend an der Anamnese gearbeitet haben. Das hat natürlich in erster Linie mit der Kathedrale und der Rolle zu tun, die sie in den vergangenen Jahrhunderten gespielt hat. Sie ist zweifelsohne eines der faszinierendsten Gebäude des Christentums im gesamten Vereinigten Königreich. Heute steht sie dort wie früher, stolz, massiv, stabil, warmherzig, wachsam, prächtig. Sie beherbergt erzählende Heilige und bietet zahlreichen Menschen Erfahrungen von Faszination, Meditation, Initia-

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Geldhof – Haspelmath-Finatti – Nichols – Poulet

tion und schierer Schönheit. Sie spiegelt so viel von dem wider, was wir als Christen, Liturgiewissenschaftler und Theologen tun könnten. Der vorliegende Band bietet die Hauptreferate, die auf dem Kongress gehalten wurden, sowie alle notwendigen Informationen darüber, die wir brauchen, um das Geschehene nicht nur zu rekonstruieren, sondern uns auch wirklich daran zu erinnern und es uns zu eigen zu machen. Zusammen bieten diese Vorträge einen aktuellen Überblick über die Wissenschaft rund um Erinnerung und Erinnern. Am Beginn steht die Rede des Präsidenten, die am Eröffnungsabend des Kongresses gehalten wurde. Joris Geldhof reflektiert über das Wesen der Liturgie und stellt die These auf, dass sie im Grunde eine durchlässige und gärende Wirklichkeit ist. Er argumentiert, dass dies eine notwendige Voraussetzung dafür ist, dass sie zugänglich ist und geteilt werden kann, was als solches wiederum Voraussetzung dafür ist, dass sie erinnert und fortgesetzt werden kann. Der zweite Aufsatz von John Maddison befasst sich mit der Erinnerung in der wunderbaren Architektur von Kirchen und Kathedralen mit einem besonderen Schwerpunkt auf England. Anschließend erörtert Felix Mabvuto Phiri das heilende Potenzial der rituellen Erinnerung, indem er auf das Leiden der Menschen in Ruanda als Folge des Völkermords von 1994 verweist. Das vierte und das fünfte Referat stellen ein schönes Diptychon dar. Auf der Grundlage einer Interpretation passender Literatur reflektiert Jessica Ortner über die Bedeutung des Gedächtnisses und zeigt damit auf, was das entstehende Feld der Gedächtnisforschung sowohl für die Wissenschaft als auch für die Gesellschaft zu bieten hat. Dieser Ansatz deckt sich interessanterweise mit der Unterscheidung verschiedener Modelle des Erinnerns in der Arbeit des Theologen Bruce T. Morrill. Bénédicte Mariolle konzentriert sich in ihrem Beitrag auf einen besonderen, aber sehr wichtigen Aspekt des Gedenkens, nämlich das Gedenken an die Toten. Ihr Ansatz zeichnet sich durch eine gründliche liturgische und theologische Untersuchung der Bestattungsriten des römischen Ritus aus. Das siebte und letzte Referat enthält Stefano Parentis tiefgründige Erörterung der Epiklese in einer Auswahl antiker eucharistischer Gebete. Es ist der Heilige Geist, der als Motor des Gedenkens fungiert. Mit der Entscheidung, das letztgenannte Hauptreferat aufzunehmen, folgte man dem ausdrücklichen Wunsch des Council der Societas Liturgica, dass mehr Anstrengungen unternommen werden sollen, die Gesellschaft wieder mit Gelehrten und Geistlichen östlicher Riten und orthodoxer Kirchen in Verbindung zu bringen. Wir hoffen aufrichtig, dass der vorliegende Band sowohl für diejenigen von Interesse ist, die die Societas Liturgica kennen und/oder am Kongress in Durham teilgenommen haben, als auch für alle, die mehr über die Handlungen, Zeiten und O ­ rte des Gedenkens in Liturgie und Theologie erfahren wollen. Gent – Wien – Dublin – Paris 29. Juni 2020 Am Hochfest der heiligen Apostel Petrus und Paulus



Der 27. Kongress der Societas Liturgica – ein Überblick11

Der 27. Kongress der Societas Liturgica – ein Überblick Bridget Nichols

Nach einem sehr erfolgreichen Kongress in Löwen im Jahr 2017 mit dem Thema „‚Ein Symbol dessen, was wir sind‘. Liturgische Perspektiven zur Frage der Sakramentalität“ wählte das Council der Societas Liturgica bei seinem Treffen im Winter 2018 „Anamnese“ als Thema für den nächsten Kongress. Die Kontinuität mit einer fundamentalen Reflexion über das, was man „sakramental“ nennen kann, ist offenkundig, aber „Anamnese“ in einem weiteren Sinne ist multivalent. Lizette LarsonMiller, die ehemalige Präsidentin der Societas Liturgica, hat in ihrem Bericht den Umfang des Themas, das von unseren Hauptrednern angesprochen und in kürzeren Präsentationen im Verlauf des Kongresses wiedergegeben wurde, sehr gekonnt zusammengefasst: „Die sechs Plenarsitzungen und eine große Zahl jurierter Kurzvorträge befassten sich mit zeitgenössischen und historischen Fragen in diesen drei Bereichen der Erinnerung: liturgische Texte und Handlungen, Architektur und Orte der Erinnerung sowie theologische Fragen der Eschatologie und des liturgischen Jah­ res.“1 Der derzeitige Präsident, Professor Joris Geldhof, stellte den Kontext in einer sowohl wissenschaftlichen als auch phantasievollen Ansprache dar. „Wie ist die Liturgie in der Welt?“, fragte er. Anhand von Motiven der Eindringung, Durchdringung und Gärung erforschte er die Eruption Gottes in die Welt durch die Menschwerdung, die kontinuierliche Verwandlung der Kirche und ihren Aufruf zu einer immer menschenfreundlicheren Interaktion mit der Welt sowie den stetigen Entwicklungsprozess, wenn das Leben Gottes, der Heiligen Dreifaltigkeit, wie Sauerteig in der Gemein­schaft des Glaubens aufsteigt. Seine Einführung in das Werk von Dom ­Maurice Festugière rückte eine weniger bekannte Persönlichkeit der Liturgischen Bewegung in den Vordergrund. In den nächsten Tagen folgten Hauptreferate zum Heiligenkult, zu den Toten­ riten, zu Modellen des liturgischen Gedächtnisses, zur Heilung des Gedächtnisses, zur Bewahrung des Gedächtnisses, wenn die letzten lebenden Zeugen gestorben sind, und zur eucharistischen Anamnese selbst. John Maddison brachte sein Fach1 Societas Liturgica Newsletter Nr. 45, Mai 2020, 24 f.

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Bridget Nichols

wissen als Architekturhistoriker in die Thematik des Heiligenkultes ein. Anhand einer Reihe von Heiligtümern in großen Kirchengebäuden in England zeigte er, wie das kirchliche Umfeld der Verehrung bedeutender Persönlichkeiten gestaltet sein könnte. Schwester Bénédicte Mariolle analysierte als Expertin den Verlust eines gemeinsamen rituellen Gedächtnisses bei der Durchführung von Begräbnisliturgien. Die daraus resultierende Privatisierung und sogar Anpassung der Totenrituale bedrohe die Verkündigung der Auferstehungshoffnung selbst. Felix Mabvuto Phiri SMM reflektierte über die Heilung der Erinnerungen durch die Linse des ruandischen Völkermords von 1994. Sein Standpunkt war ein eindringlicher: dass es ohne den bewussten Akt des Erinnerns keine Heilung geben kann, so schmerzhaft die Erinnerungen selbst auch sein mögen. Jessica Ortner betrachtete einen Punkt in den Nachwirkungen des Holocausts, an dem die letzte Generation von Zeugen und Überlebenden verschwindet. Ihre Recherchen zur deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur eröffneten dem Kongress einen neuen Ort für die Bewahrung und phantasievolle Rekonstruktion von Erinnerungen, deren Verlust die Welt sich nicht leisten kann. Bruce T. Morrill befasste sich mit dem Gedächtnis selbst und insbesondere mit dem liturgischen Gedächtnis, wobei er eine Reihe von Modellen des liturgischen Gedächtnisses vorstellte und auf die Überschneidung zwischen mystischen und politischen Dimensionen hinwies. In einer abschließenden Plenarsitzung führte Stefano Parenti (in Abwesenheit) eine faszinierende Untersuchung über die Ursprünge der Formel für die Darbringung der eucharistischen Gaben in den byzantinischen Anaphoren von Basilius und Johannes Chrysostomos durch. Wie diese Formel entstand, die in den antiochenischen Anaphoren, aus denen sich die beiden Gebete ableiten, nicht vorkam, wird in einem Argument erläutert, das die präzise Kunst der liturgischen Textgelehrsamkeit demonstriert. Durham bot einen prächtigen und angemessenen Rahmen für diese Vorträge. Die dortige Kathedrale beherbergt den Schrein des heiligen Cuthbert und das Grab des Beda Venerabilis und war im Laufe der Jahrhunderte ein Wallfahrtsort. Das Vermächtnis der Fürstbischöfe von Durham verbleibt in Durham Castle, heute ein ­College der Universität. Tägliche Gottesdienste in St. Oswald ermöglichten es den Teilnehmern, das Ambiente einer mittelalterlichen Pfarrkirche zu genießen, die nach wie vor regelmäßig genutzt wird, und gaben verschiedenen nationalen Vertretern Gelegenheit, die Liturgie zu leiten. In ihrer Freizeit konnten die Kongressdelegierten die Stadt und die Kathedrale erkunden und andere Orte besuchen, die für die Geschichte und Entwicklung des Nordostens Englands von Bedeutung sind. Von diesen ist Lindisfarne (die „Heilige Insel“) von besonderer Bedeutung als eine der Früchte der großen Blüte des Mönchtums im 6. und 7. Jahrhundert, die auf die Gründung des heiligen Colum­ban von Iona zurückgeht.



Der 27. Kongress der Societas Liturgica – ein Überblick13

Der Kongress schloss mit einer Eucharistiefeier in der Kapelle des Ushaw College, einem Ort, der eine spätere Phase der christlichen Geschichte in der Region markiert, da er 1808 von Douai aus als katholisches Seminar gegründet wurde. Die Predigt von Joris Geldhof anlässlich des Gedenktags der heiligen Teresa Benedicta vom Kreuz bildet den letzten Beitrag dieses Bandes. Ein Kongress-Dinner im Civic Centre in der Nachbarstadt Newcastle führte die Teilnehmer wieder in das 21. Jahrhundert zurück.

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Bridget Nichols



Anamnesis: Erinnern in Handlung, Ort und Zeit15

Anamnesis: Erinnern in Handlung, Ort und Zeit Congress Statement

Präambel Es sind oft schlicht pragmatische Gründe, die zur Auswahl eines Kongress-Ortes führen. Im Zusammenhang mit unserem nächsten Kongress ergeben sich aber eine ganze Reihe von vielversprechenden Verbindungslinien zwischen dem Tagungsort und dem Tagungsthema. Unser Kongress 2019 stellt das Thema des „Erinnerns“ in den Mittelpunkt, und schon der Eröffnungsgottesdienst findet in einem architektonischen Kunstwerk statt, das selbst ein Zeugnis für die Komplexität dieses Themas ist: die Kathedrale von Durham in Nordengland. Der Legende nach wurden Mönche auf der Suche nach einer würdigen letzten Ruhestätte für Cuthbert von Lindisfarne nach längerer Reise an den Ort geführt, an dem heute die Kathedrale von Durham steht. Hier bauten sie eine erste Kirche, die die sterblichen Überreste ihres Bischofs beherbergen sollte. Bald wuchs die Verehrung des heiligen Cuthbert, und immer mehr Pilger strömten zu seiner Grabstätte. Die normannische Kirche, deren Bau im späten 11. Jahrhundert begonnen wurde, birgt das reich dekorierte Heiligengrab. Und der Körper des Heiligen darin, so die feste Überzeugung der Zeitgenossen, sei intakt geblieben. In der „Galiläa-Kapelle“ am westlichen Ende der Kathedrale befindet sich ein weiterer bedeutender Ort des Erinnerns: das Grab des Geschichtsschreibers Beda Venerabilis. Beda wirkte im 7. Jahrhundert als Mönch und Gelehrter im Kloster Jarrow. Er wird auch als der Vater der englischen Geschichtsschreibung bezeichnet. Über diese beiden Gedenkstätten der Heiligkeit und der Gelehrsamkeit hinaus beherbergt die Kathedrale von Durham weitere Orte des Erinnerns. Ein relativ neues Kunstwerk sei hier erwähnt. Es ist das Fenster der Verklärung, das im Jahre 2010 Michael Ramsey gewidmet wurde, dem Bischof von Durham und späteren Erzbischof von Canterbury. Dieses Buntglasfenster stellt das Thema „Ehre und Auferstehung“ dar, doch im Hintergrund steht ein doppeltes Gedenken, nämlich das Zusammenfallen des Festes der Verklärung mit dem Tag, an dem die Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurde … Erinnern ist mehrdeutig und paradox.

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Congress Statement

Statement Christliche Liturgien stehen in enger Beziehung zu Erinnerungsfeiern und zu den Zeiten und Orten solcher Handlungen. Wenn Christen sich zum Gottesdienst versammeln, tun sie dies im Namen des dreieinigen Gottes, der in der Geschichte der Menschheit Spuren seiner Gegenwart und Nähe hinterlassen hat, vor allem durch das Christusgeschehen und das Pascha-Mysterium. Im Zentrum jeder liturgischen Handlung steht die Danksagung für die vielfältigen heilbringenden göttlichen Taten. Dies geschieht in erster Linie dadurch, dass wir Gottes Taten ins Gedächtnis rufen, sei es auf implizite, explizite, indirekte oder offenkundige Weise. Zudem nehmen Orte besonderer liturgischer Handlungen oft eine Vielzahl von Bedeutungen an, die weit über das zu Erwartende hinausgehen. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, welche Rolle die menschliche Fähigkeit des Erinnerns für christliche Liturgien spielt. Sich erinnern zu können ist eine typisch menschliche Eigenschaft – es ließe sich sagen, das Erinnern ist Teil des Menschseins. Darüber hinaus ist die Erinnerung von besonderer Bedeutung für die christliche Religion, in der die Beziehungen zwischen der universalen und partikularen Ebene nicht so klar sind. Erinnerungen berühren Fragen von Leben und Tod. Sie sind eng mit der Frage verbunden, was es bedeutet, ganz Mensch und ganz Christ zu sein. Die Konstruktion der eigenen individuellen Identität, ebenso wie die Konstruktion kollektiver Identitäten, ist weitgehend abhängig von den Erinnerungen Einzelner bzw. den kollektiven Erinnerungen von Gemeinschaften und auch von der Weise, in der diese Erinnerungen befördert oder unterdrückt werden. Es überrascht dann nicht, dass Christen immer besonderes Gewicht auf das Totengedenken und die bleibende Gemeinschaft der Heiligen gelegt haben. Dies gilt ebenso für gottesdienstliche Feiern wie auch für das theologische und spirituelle Selbstverständnis. Gleichzeitig ist zu sagen, dass weder der Akt des Erinnerns oder Gedenkens noch die Gedächtnisfeier mit der direkten Kenntnis dessen gleichzusetzen ist, was in der Vergangenheit geschah. Exakte Einsicht in Vergangenes ist schlicht unmöglich. Und selbst wenn solch vollständige Kenntnis möglich wäre, so ist dies weder notwendig noch wünschenswert. Denn der Akt des Erinnerns an sich unterliegt selbst der Zeit und ist daher immer im Fluss und niemals abgeschlossen. Notwendigerweise herrscht daher in Bezug auf das Erinnern immer eine gewisse Selektivität. Eine solche Auswahl wiederum ist ebenso riskant wie heikel. Dies wirft komplexe Fragen auf, was Vergessen, Schuld, Leid, Verantwortung und Autorität betrifft. Wer entscheidet, was, wann, wo und zu welchem Zweck in Erinnerung gerufen und nicht vergessen werden soll? Welchen Zielen oder Interessen dient das Erinnern? Die Manipulation von Erinnerungen ist eine schwerwiegende, aber notwendige Frage. Gleichzeitig erfordert die Heilung verwundeter Erinnerungen Geduld, Mut und Sensibilität. Es gibt also viele gute Gründe, alte und neu gefundene, sich dem Thema und der vielfältigen Wirklichkeit der Anamnesis zuzuwenden und neu zu erforschen, wo und



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in welcher Weise das Erinnern zentrales Thema ist: bei Beerdigungen ebenso wie bei der Feier des Herrenmahles, beim täglichen Gebet und bei der Feier der Sakramente, bei Wallfahrten und Andachten und eben an den vielen herausgehobenen Orten, an denen Christen gelebt haben und leben und ihre Gottesdienste feiern. In diesem Sinne laden wir alle Mitglieder der Societas Liturgica und alle, die an unserem Kongress in Durham 2019 teilnehmen möchten, ein, Vorschläge für Kurzvorträge, Workshops und Posterpräsentationen zu den folgenden sechs Themenbereichen einzureichen. [1]  Kathedralen – Monumente – Pilgerfahrten – Orte von Heiligenverehrung Kathedralen und ihre Liturgien sprechen eine Sprache „primärer Theologie“. Sie bezeugen selbst das Empfangen, Weiterreichen und Erinnern von Traditionen. Menschen aller Zeiten und Orte fühlen sich zu solchen Orten des Erinnerns hingezogen. Hier erfahren sie vom Leben heiliger Menschen, von der Überwindung des Todes. Bei Pilgerfahrten zu heiligen Stätten und der hier angesiedelten Kunst und Architektur sowie durch das Miterleben der Rituale, die sich an diesen Pilgerorten entwickelt haben, können Menschen Transformationen erfahren. Mögliche Leitfragen: Wie lässt sich die besondere Anziehungskraft von Kathedralen und anderen vergleichbaren Monumenten erklären? Wie kann die Kathedrale als ein lebendes Denkmal des kulturellen Erbes der Menschheit und als ein Ort dienen, der zwischenmenschliche Solidarität und interreligiösen Dialog erweckt und befördert? Wie kann die liturgische Theologie Worte und Konzepte finden, die bezeugen, dass wir auf Gottes Erinnern angewiesen sind – nämlich darauf, dass Gott zuerst seiner Menschheit gedenken muss, bevor wir Menschen selbst Anamnesis betreiben können? Wie kann die Vision der Pilgerreise zum Berg Zion integraler Bestandteil unserer liturgischen Studien sein? Wie können wir Gottes heilendes Handeln, durch das er „unser gedenkt“, in Werken der Kunst und Architektur als gegenwärtig und wirksam erfahren? Und zwar auch und sogar in solchen Kunstwerken, die in ihrer Geschichte nicht nur mit der Schönheit der künstlerischen Tätigkeit verbunden sind, sondern auch mit den dunklen Seiten menschlichen Verhaltens? [2]  Beerdigungen – Totengedenken Rituelle Praktiken um Tod und Leichenbestattung sind markante Merkmale menschlicher Gesellschaften. Orte der Bestattung, Gedenkstätten für die Toten und Grabbeigaben sind hier wichtige Belege. Dazu kommen Bestattungsriten, Trauerrituale, Beerdigungspredigten und Feiern zu Gedenktagen. In den westlichen Gesellschaften mehren sich die Anzeichen, dass der Einfluss der Kirchen auf die wichtigen pastoralen und liturgischen Dienste im Zusammenhang mit Beerdigungen stark zurückgeht. Immer mehr Trauerfeiern finden an neutralen Orten und unter der Leitung weltlicher Redner und Ritualexperten statt. In diesem Zusammenhang lässt sich ­eine  übermäßige Individualisierung und Personalisierung von Bestattungsriten

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Congress Statement

­ e­obachten, die mit einer steigenden Emotionalisierung einhergeht. Aber in afrikab nischen und asiatischen Kulturen, in den Kulturen der einheimischen Bevölkerung Nordamerikas und Ozeaniens und anderswo ist die Situation möglicherweise anders als im Westen. Es gilt, hier Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu untersuchen und jeweils die Rolle und Funktion der Rituale und Liturgien, die mit Tod und Trauer verbunden sind, sowie ihre Auswirkungen auf das Leben der Menschen genauer in den Blick zu nehmen. Mögliche Leitfragen: Welchen Wert haben säkulare oder semisäkulare Rituale als Formen liturgischer Improvisation? Was offenbaren diese im Blick auf die Einstellung zur Leiblichkeit des Menschen? Welches sind die Konsequenzen für die Verkündigung der Auferstehungshoffnung? Wie beeinflusst die Übertragung von Beerdigungen bekannter Persönlichkeiten durch die öffentlichen Medien die Beerdigungspraxis? Welche Bedeutung hat das Verstreuen von Asche an verschiedenen Orten bzw. das Aufbewahren der Asche Verstorbener in privaten Wohnungen? Was kann die Forschung über die Auswirkungen dessen sagen, wenn durch das Ritual der Tod ­eigentlich geleugnet wird, und zwar entweder durch eine Überbetonung der Danksagung für das Leben oder durch Aussagen über verschiedene Arten bleibender Anwesenheit der Verstorbenen? Wie werden Beerdigungen in nichtwestlichen Kulturen gefeiert und erfahren? Was ist der Einfluss von Säkularisierung, Globalisierung, Individualisierung und Pluralisierung auf Liturgien und Rituale in Afrika, Asien und Ozeanien? [3] Erinnern und Leiblichkeit – individuelle Identität und Identitätskonstruktion – kollektive und kulturelle Erinnerungen Neuere anthropologische Forschungen lassen es als notwendig erscheinen, die Beziehung zwischen dem menschlichen Körper und dem menschlichen Geist neu zu überdenken. Es ist in der Forschung nun deutlich, dass alle menschliche Geistes­ tätigkeit sich nur als völlig abhängig von physischen (materiellen) Voraussetzungen verstehen lässt. Nur durch unseren Körper können wir unser Gehirn benutzen. Emotionen sind leiblich zu verorten, und keine Aktivität des Gehirns ist ohne sie denkbar. Außerdem sind sowohl individuelle als auch gemeinschaftliche Identitäten körpergebundene Phänomene. Das Gleiche gilt für die menschliche Fähigkeit, sich zu erinnern. Das Gedächtnis ist ein integraler Bestandteil der Identitätskonstruk­ tion; dies gilt für Einzelpersonen ebenso wie für Gemeinschaften. Erinnerungen sind zudem konstitutiv für Kulturen. Jede Kultur muss sich mit Kriegen, Naturkatastrophen, Terroranschlägen usw. auseinandersetzen. Es ließe sich argumentieren, dass die Veranstaltungen und Gedenkfeiern, die dem Bewältigen dienen, liturgischen Feiern sehr ähnlich sind. Mögliche Leitfragen: Welche Rolle spielt die leibliche Bedingtheit von Erinnerung? Auf welche Weise ist das Materielle mit dem Immateriellen verbunden und wie kann Liturgie dazu helfen, diese Verbindung besser zu verstehen? Wie kann die Verbindung zwischen dem Materiellen und dem Immateriellen weiter erforscht wer-



Anamnesis: Erinnern in Handlung, Ort und Zeit19

den, insbesondere durch interdisziplinäre Studien in den Bereichen, in denen die Litur­gie mit Kunst, Musik, Literatur, Architektur, den Sozialwissenschaften, der Neurobiologie und der Evolutionstheorie verbunden ist? Auf welche Weise lässt sich der Begriff des kulturellen Gedächtnisses für das Verständnis von Liturgien fruchtbar machen? Und was lehrt uns die Liturgie in Bezug auf unser Selbstverständnis als religiös glaubende Menschen? [4] Manipulation von Zeit und Erinnerung – Erinnern als Kritik – historische Angemessenheit – politische Dimensionen Für Christen ist der Sonntag der Gedenktag der Auferstehung. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind hier gleichermaßen beteiligt. Die richtige Balance zwischen den drei Dimensionen der Zeit wird jedoch nicht immer ausreichend bedacht. Es existiert eine Haltung, die die Vergangenheit überbetont und in der Vergangenheit verharren will (Fundamentalismus), aber die Geschichte kennt auch Zeiten, in denen nur die Gegenwart oder die Zukunft zählten. Anders gesagt: Es scheint eine komplexe und notwendige Aufgabe zu sein, das rechte Verhältnis zwischen Erinnerung und historischer Wahrheit immer wieder neu herzustellen und die Liturgie in geeigneter Weise in dieses Beziehungsgefüge einzuordnen. Mögliche Leitfragen: Wie kann der Akt des liturgischen Erinnerns innerhalb der drei Dimensionen der Zeit verstanden oder definiert werden? Was ist der Wert (oder die Bedeutung) von historischer Wahrheit? Wie kann die Manipulation von Erinnerungen verhindert werden? Inwieweit und auf welche Weise kann Liturgie dazu beitragen? Wie kann man mit der Wahrheit des Erinnerten zurechtkommen, wenn die betreffenden politischen Fragen schwer lösbar zu sein scheinen und wenn politisch Verantwortliche die Vergangenheit gezielt verschleiern? Unter welchen Bedingungen kann sich christliches Erinnern als eine machtvolle und transformierende Kraft erweisen? Wie kann dies wiederum unseren Umgang mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beeinflussen? Auf welche Weise können liturgische Feiern problematische Entwicklungen in Kultur und Gesellschaft kritisieren? Wie beeinflussen die neuen Technologien und digitale Umgebungen Handlungen des Erinnerns und Rituale? [5] Verletzte Erinnerungen – Heilung von Erinnerungen – Rituale und Emotionen Sowohl die Erinnerungen Einzelner als auch die Erinnerungen von Gemeinschaften können in vielfältiger Weise verletzt worden sein. Werden aber einschneidende Erfahrungen ignoriert oder verdrängt, die grundlegend zur Identität gehören, so kann dies dazu führen, dass das individuelle oder kollektive Selbst verleugnet wird. Was hier helfen kann, ist: In gemeinschaftlichen Ritualen können Gruppen und Individuen Formen von Heilung erfahren. So ist etwa bekannt, dass Aktivitäten wie das Singen Heilung fördert und Resilienz stärkt. Angst und Trauma können gemindert oder überwunden werden. Aktivitäten wie das Singen können sogar solche Erinne-

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Congress Statement

rungen, die durch die Einwirkung von Demenzerkrankungen verloren scheinen, ins Bewusstsein zurückbringen. Mögliche Leitfragen: Wie können Orte und Liturgien des Erinnerns und Gedenkens zur Heilung von verletzten Erinnerungen beitragen? Wie können die liturgischen Studien von benachbarten Disziplinen, wie etwa der Pastoralpsychologie, der Sozialanthropologie oder der Ritualforschung, lernen? Und umgekehrt, wie können Liturgiewissenschaftler ihrerseits diese benachbarten Forschungsbereiche befruchten? Wie können Orte und Handlungen des Erinnerns Opfern helfen, die solche Wunden tragen, die ihnen von Menschen im kirchlichen Dienst zugefügt wurden? Auf welche Weise können Liturgien die Täter dazu bewegen, Umkehr und Vergebung zu suchen? Wie können Liturgien des Erinnerns auf „mäeutische“ Art und Weise (d. h. „als Hebammen“) wirken und neue Formen der Heilung zur Welt bringen? [6]  Liturgische Texte – Archivierung – schriftliche Diskurse Dank wachsender wissenschaftlicher Expertise in Bereichen wie denen der alten Sprachen, der Phonologie, der Konservierung und Entzifferung von Handschriften und Inschriften sowie der Archäologie ist es nun möglich, liturgische Praxis aus niedergeschriebenen und anderen Quellen zu rekonstruieren. Dadurch können Liturgiewissenschaftler jetzt in wissenschaftlichen Austausch mit einer immer größer werdenden Zahl von verwandten Disziplinen treten. Diese Entwicklung bringt neue Möglichkeiten, hat aber die Notwendigkeit einer fortdauernden Auseinandersetzung mit den „Klassikern“ unseres liturgischen Erbes nicht vermindert. Die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung sind paradox: Alte Gewissheiten über Quellen und Autorschaft verlieren ihre Geltung, wenn neue Beweise ans Licht kommen, und bekannte Tatsachen müssen Neuinterpretationen ausgesetzt werden. Es erscheint darum als unverantwortlich, grundlegende Fragen der Archivierung zu ignorieren, geht es doch um nichts weniger als um die Systematisierung und Ordnung der Erinnerungen, die wir in Form von Texten und anderen Dokumenten von vergangenen Generationen empfangen haben. Mögliche Leitfragen: Wie geht die Forschung, die sich gegenwärtig und so engagiert mit dem antiken und mittelalterlichen christlichen Gottesdienst beschäftigt, mit neuartigen Entwicklungen um? Drängt sie ihre Wissenschaftler dazu, die eigene Disziplin auch zunehmend kritisch zu reflektieren, über die Präsentation der Forschungsergebnisse mit wissenschaftlicher Objektivität hinaus? Welche Strategien setzt dieser Forschungsbereich ein, um in den liturgischen Quellen die Stimmen derer ans Licht zu bringen, die bislang nicht zu Wort kamen (z. B. die der Laien und der Frauen)? Wie werden mögliche Idealisierungen und falsche Sicherheiten beim Rekonstruieren der Vergangenheit angesprochen? Wie werden Perspektiven zurechtgerückt, die über lange Zeit als historische Wahrheit galten, sich inzwischen aber als falsch erwiesen haben? Und sind wir schon an dem Punkt angekommen, an dem es möglich ist, die Früchte der interdisziplinären Zusammenarbeit mit den Human-,



Anamnesis: Erinnern in Handlung, Ort und Zeit21

Sozial- und Naturwissenschaften zu sichten? Wie kann verlorene liturgische Erinnerung wiederentdeckt werden und warum ist dies wichtig? Welches sind angemessene Kriterien für die Archivierung liturgischer Quellen und wie übermitteln wir zukünftigen Generationen die Bedeutung und Methodik solcher Archivierung? Übersetzung aus dem Englischen: Dorothea Haspelmath-Finatti

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Congress Statement



Programm des Kongresses23

Programm des Kongresses

Montag, 5. August 2019 14.00–17.00 Uhr Anmeldung 15.00–16.30 Uhr Chorprobe für Gottesdienstleiter, Vorleser und Fürbitter 18.15–18.55 Uhr Eröffnungsgottesdienst in Durham Cathedral 19.00–20.15 Uhr Presidential Address 20.15–20.25 Uhr Prozession Eröffnungsempfang in Durham Castle 20.30–22.00 Uhr Dienstag, 6. August 2019   8.30–  9.00 Uhr Morgengebet, Kirche St. Oswald   9.30–10.30 Uhr Hauptreferat 1: John Maddison 10.30–11.15 Uhr Kaffeepause Papers Session 1 11.15–12.00 Uhr 12.00–13.30 Uhr Mittagessen Hauptreferat 2: Felix Mabvuto Phiri 13.30–14.30 Uhr Papers Session 2 14.50–15.35 Uhr 15.35–16.10 Uhr Kaffeepause 16.10–16.55 Uhr Papers Session 3 17.15–17.45 Uhr Empfang für neue Mitglieder 18.15–18.45 Uhr Orthodoxer Vespergottesdienst, Kirche St. Oswald 19.15–20.45 Uhr Abendessen in Collingwood College Mittwoch, 7. August 2019   8.30–  9.00 Uhr Morgengebet, Kirche St. Oswald   9.30–10.30 Uhr Hauptreferat 3: Bruce T. Morrill 10.30–11.15 Uhr Kaffeepause 11.15–12.00 Uhr Papers Session 4 12.00–13.30 Uhr Mittagessen Hauptreferat 4: Jessica Ortner 13.30–14.30 Uhr Papers Session 5 14.50–15.35 Uhr 15.35–16.10 Uhr Kaffeepause Papers Session 6 16.10–16.55 Uhr Empfang für neue Mitglieder 17.15–17.45 Uhr 18.15–18.45 Uhr Charismatisches Abendgebet, Kirche St. Nicholas 19.30–21.15 Uhr Konzert: Monteverdis Vespers, Kirche St. Oswald

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Programm des Kongresses

Donnerstag, 8. August 2019 Ausflüge zum „Holy Island“ Lindisfarne und nach Beamish Cuddy’s Corse Walk Freitag, 9. August 2019   8.30–  9.00 Uhr Morgengebet, Kirche St. Oswald   9.30–10.30 Uhr Hauptreferat 5: Bénédicte Mariolle 10.30–11.00 Uhr Kaffeepause 11.00–12.00 Uhr Business Meeting – erster Teil 12.00–13.00 Uhr Mittagessen 13.00–14.00 Uhr Business Meeting – zweiter Teil 15.30 Uhr Busse nach Ushaw College 15.35–16.10 Uhr Kaffeepause Kongress-Eucharistie in Ushaw College Chapel 17.00–18.00 Uhr Busse nach Newcastle 18.00 Uhr Bankett in Newcastle Civic Centre 19.00–23.00 Uhr Busse zurück nach Durham 23.00 Uhr Samstag, 10. August 2019   8.30–  9.00 Uhr Morgengebet, Kirche St. Oswald   9.30–10.30 Uhr Hauptreferat 6: Stefano Parenti Papers Session 7 10.50–11.35 Uhr 11.35–12.00 Uhr Kaffeepause 12.00–12.45 Uhr Forum Junior-Forscher 12.45–13.00 Uhr Schlussbemerkungen 13.15–14.25 Uhr Mittagessen – Abfahrt 14.30–16.00 Uhr Treffen des neuen Council



Eindringung – Durchdringung – Fermentierung25

Eindringung – Durchdringung – Fermentierung Überlegungen zum Wesen der Liturgie und zu ihren Erinnerungsweisen

Joris Geldhof

1. Einleitung Wie ist die Liturgie in der Welt? Welches ist die fundamentale Seinsweise der Phänomene, Ereignisse, Handlungen und Erfahrungen, die wir gemeinhin als christliche Liturgie bezeichnen? Wie müssen wir die bloße Tatsache der Liturgie verstehen? Was macht sie zu einem Ereignis, an dem offenbar Menschen jeglicher Art – Alte und Junge, Frauen und Männer, behinderte und nichtbehinderte Menschen, Alteingesessene und Migranten, Laien und ordinierte Geistliche, politisch Linke und Rechte, Menschen aller Rassen und Nationen etc. – in gleicher Weise beteiligt sein können? Wie können diese Menschen in der Liturgie und die Liturgie in ihnen sein? Oder ist Liturgie nur etwas, was aufgeführt wird, und nicht etwas, was Menschen selbst werden können bzw. wovon sie selbst ein Teil werden können? Wie ist die offensichtliche ontologische Inklusionsfähigkeit der Liturgie zu verstehen? Wie können Liturgien uns einbeziehen und wie können wir umgekehrt die Liturgie verkörpern, verbreiten und ausstrahlen? Es ist nicht so einfach, eine rasche und zufriedenstellende Antwort auf diese Ansammlung komplexer Fragen zu finden. Trotzdem lohnt es sich, dies zu versuchen, da wir uns hier der res tantum der christlichen Liturgie annähern können, dann nämlich, wenn unsere Versuche, auf diese Fragen zu antworten, sich als sinnvoll erweisen. Da die Liturgie in erster Linie von innen heraus zu verstehen ist, ist die Perspektive, von der ich ausgehe, nicht die der Religionswissenschaft oder der Ritualstudien, sondern bewusst eine theologische, obwohl ich in meiner Position als bekennender liturgischer Insider ohne Zweifel viel vom Fachwissen derjenigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler lerne, die den Standpunkt von Außenstehenden vertreten. Mit anderen Worten: Ich ordne meine Gedanken in das Gebiet der liturgischen

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Joris Geldhof

Theologie ein, deren Hauptaufgabe es ist, die Bedeutung des christlichen Gottesdienstes zu interpretieren und zu erklären.1 Genauer gesagt, was hier vorgeschlagen wird, ist die Annäherung an diese Fragen anhand von drei Kategorien. Diese sind Eindringung, Durchdringung und Fermentierung (engl. „penetration“, „permeation“ und „fermentation“), und die Idee, die dieser Sequenz zugrunde liegt, ist, dass es eine (bedeutungs-)schwangere Entsprechung gibt zwischen dem, was diese Begriffe bedeuten, und dem, was Liturgie ist und erreicht. Die Liturgie tritt durch eine Eindringung in das Sein ein, sie beginnt, Ebene für Ebene zu durchdringen, und wirkt wie ein Fermentationsprozess, der letztendlich auf eine Transformation des Wesens abzielt, in das sie eingetreten ist. Ebenso ist unser eigener Zugang zur Liturgie nicht unähnlich einer Eindringung, gefolgt von einem langen Prozess der Durchdringung, der Eingewöhnung und Fermentierung, deren Ziel nichts anderes ist als eine tiefgreifende Transformation nicht nur unserer Gedanken und unseres Verhaltens, Handelns, Verlangens, unserer Entscheidungen und Einstellungen, sondern unseres ganzen Seins. Es sieht also danach aus, dass das, was ich in diesem Vortrag unternehme, nämlich die eigentümliche „Wurfstrecke“ der Liturgie im (bzw. in unserem) Sein zu beleuchten, ein ziemlich ehrgeiziges Projekt ist. Darüber hinaus kann sich die Frage eröffnen, warum es heute denn wichtig ist, über dieses Thema nachzudenken und sich dazu zu äußern. Gibt es denn keine drängenderen Fragen? Ist es nicht viel wichtiger, über die Beziehung der Liturgie zu zeitgenössischen Kulturereignissen, gesellschaftlichen Entwicklungen und zu den Belangen der Menschen im wirklichen Leben zu sprechen? Oder zu fragen, wie Liturgien die Kirche trotz vieler Kommunikationshürden formen können? Obwohl ich die Bedeutung dieser Themen sicher nicht leugne, bin ich überzeugt, dass liturgische Studien in hohem Maße von einer erneuten Aufmerksamkeit für die Metaphysik profitieren können, vorausgesetzt, diese Aufmerksamkeit kann sich frei und über veraltete Polemiken hinausbewegen. In der Liturgiewissenschaft müssen wir umdenken: Die Metaphysik ist nicht die Vergangenheit, die wir hinter uns lassen müssen. Im Gegenteil, Metaphysik ist genau dort, wo die Zukunft ist, die Ewigkeit, der Himmel, das Paradies. Folglich darf die Metaphysik nicht verborgen bleiben und verachtet werden, sondern muss wiederentdeckt und als Aufgabe angenommen werden. Mehr noch, sie muss ersehnt werden. Als eine Konsequenz möchte ich mich für die immer noch allzu häufig vernachlässigte Vorstellung starkmachen, dass die liturgische Theologie eine innere Verbindung zu genuin philosophischen Überlegungen in Bezug auf das Sein hat. Ich halte diese Verbindung für ebenso stark oder vielleicht noch stärker als die zu den Kulturwissenschaften, zur Symboltheorie oder zu pastoralen Strategien. Lassen Sie mich

1 Joris Geldhof, Liturgical Theology, in: Oxford Research Encyclopedia of Religion, 2015 (online zugänglich). Vgl. ders., Liturgical Theology as a Research Program. Brill Research Perspectives in Theology, Leiden – Boston 2020.



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daher die gewagte Hypothese vertreten, dass die Liturgische Bewegung, in deren Gefolge ich meine Arbeit dankbar und zuversichtlich positioniere, eine metaphysische Bewegung sein sollte und dass die Liturgische Bewegung, je mehr man die metaphysische Dimension ignoriert, willentlich oder unfreiwillig, vehement oder stillschweigend, auf schmerzliche Weise an Bedeutung verliert. Wie ist es also, wo sind wir heute, wenn die einen verzweifelt darauf hoffen, der Liturgischen Bewegung neues Leben einzuhauchen, und die anderen in ihr höchstens, etwas bedauernd, ein interessantes Relikt der Vergangenheit erkennen? Die Aussichten für die Zukunft der Liturgischen Bewegung sind nicht rosig, und ich nehme an, dass dies mit einem dramatischen Schrumpfen ihrer metaphysischen Weite, Tiefe und Höhe zu tun hat. Natürlich braucht man keine Metaphysik aus metaphysischen Gründen, man braucht sie aber, um die Auswirkungen der durch die Liturgie vermittelten Heilsökonomie zu klären. Und natürlich braucht man keinen bestimmten metaphysischen Stil und keine eingleisige metaphysische Theorie, wie etwa die Scholastik, sondern eine Vielzahl von Zugängen zum Thema. Es ist daher nicht verwunderlich, dass ich mich angesichts der Fragen, auf die ich eingehen möchte, und angesichts des Umfangs des Themas einschränken muss, und zwar sowohl in Bezug auf die Quellen, aus denen ich schöpfe, als auch in Bezug auf die Methode, mit der ich sie interpretiere. Aus Gründen der Klarheit und Fokussierung habe ich mich daher für eine Kombination von zwei Hauptquellen entschieden, einer liturgischen und einer nichtliturgischen, dies natürlich zusätzlich zu einigen Verweisen auf die Schrift, die ja eine unergründliche Quelle des „Speicherns von Bildern“ ist (so Gordon Lathrop in seinem jüngsten Buch2) und daher unverzichtbarer Partner für jede liturgische Hermeneutik. Einerseits habe ich mir eine liturgische Quelle vorgenommen, die mir sehr am Herzen liegt, nämlich das Missale Romanum von 20083, und hier insbesondere den Ordo Missae4. In Übereinstimmung mit Dom Lambert Beauduin, der über die Messformen im Missale sagte, dass sie sich wie eine Goldader direkt unter der Oberfläche

2 Gordon W. Lathrop, Saving Images. The Presence of the Bible in Christian Liturgy, Minneapolis 2017. 3 Missale Romanum. Editio typica tertia, reimpressio emendata, Città del Vaticano 2008. Immer unter Berufung auf den lateinischen Quellentext werde ich die offizielle englische Übersetzung des Römischen Messbuchs in der Fassung verwenden, die von der Bischofskonferenz der Vereinigten Staaten für die Verwendung in den USA ab 2010 genehmigt wurde. Die Diskussionen über die Qualität dieser Übersetzung gehen weit über den Umfang des vorliegenden Beitrags hinaus, aber mir ist bewusst, dass diese Übersetzung weder unproblematisch noch unbegründet ist. 4 Der Ordo Missae (abgedruckt im Missale Romanum, 501–605) regelt in 146 Nummern den Ablauf der heiligen Messe. Das Dokument wird künftig mit OM und der entsprechenden Nummer zitiert.

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Joris Geldhof

befinden,5 meine ich, dass das derzeit in der katholischen Kirche verwendete Messbuch viel theologische und spirituelle Weisheit enthält für Eucharistiefeiern nach römischem Ritus, und zwar insbesondere die Eucharistiegebete einschließlich der fünfzig Präfationen mit ihren überraschend reichen Euchologien. Ich werde auf diese Gebete näher eingehen und sie aus einer semantischen und synchronen Perspektive lesen. Das bedeutet, dass ich die Bedeutung der Texte, wie sie uns übermittelt wurden, untersuche und sie kreativ mit den oben genannten Fragen rund um das erstaunliche Wesen der Liturgie interagieren lasse. Andererseits schlage ich hier vor, wieder auf die Arbeit eines herausragenden Philosophen und Liturgikers einzugehen, dessen Arbeit leider so gut wie in Vergessenheit geraten ist. Wie Dom Lambert Beauduin war er Benediktinermönch, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lebte und den enormen und weitreichenden Einfluss des Priors oder Abtes Dom Columba Marmion genoss. Sein Name ist Dom Maurice Festugière, aus der Abtei von Maredsous, in der die Liturgie seit jeher hoch geschätzt wurde. Bald nach seinem Essai de Synthèse zur katholischen Liturgie von 19136 verfasste Festugière ein kleineres Buch mit dem Titel Quest-ce que la liturgie?7 Besonders auf diese Broschüre werde ich mich bei den folgenden Überlegungen zur Liturgie stützen und zu der Frage, wie sie auf faszinierende Weise in das Sein eindringt und dieses durchdringt und hier in der Art eines Sauerteigs wirkt. Auch wenn die vorherrschende Weltsicht und der intellektuelle Rahmen, in dem die Theologen zu Beginn des 20. Jahrhunderts arbeiteten, zutiefst von der Art von Scholastik geprägt war, die die nachfolgende Nouvelle Théologie gerade zu überwinden suchte, sind hier doch schon die Wurzeln ganz innovativer Überlegungen zur Liturgie zu finden. Das Werk von Festugière kann bis heute neue zeitgenössische Beiträge zur litur­ gischen Theologie inspirieren,8 gerade wegen seiner historischen Einbettung und seines herausragenden philosophischen Charakters. Der Aufbau meines Vortrags ist einfach. Er ist auf klassische Weise dreigegliedert. Ich werde also nacheinander auf die liturgische Eindringung („penetration“), die litur­gische Durchdringung („permeation“) und die liturgische Befruchtung („fermentation“) eingehen. Und ich werde nicht nur mit mehreren vorläufigen Antworten auf die gestellten Fragen schließen, sondern auch mit einigen eher herausfordernden Vorschlägen, von denen ich hoffe, dass sie die Gespräche auf diesem Kongress an­ regen.

5 Lambert Beauduin, Liturgy in the Life of the Church, übers. von Virgil Michel, Farnborough 32002, 77. 6 Maurice Festugière, La liturgie catholique. Essai de synthèse suivi de quelques développements, Maredsous 1913. 7 Maurice Festugière, Qu’est-ce que la liturgie? Sa définition – Ses fins – Sa mission. Un chapi­tre de théologie et de sociologie surnaturelle, Paris 1914. 8 Andrea Grillo, Introduzione alla teologia liturgica. Approccio teorico alla liturgia e ai sacramenti cristiani, Padova 22011, 271–273.



2.

Eindringung – Durchdringung – Fermentierung29

Liturgische Eindringung

Ein Schlüsselvers aus dem Neuen Testament für unsere Zwecke ist 1 Kor 1,30: „Er [Gott] ist die Quelle ihres Lebens in Christus Jesus, der für uns Weisheit von Gott und Gerechtigkeit und Heiligung und Erlösung geworden ist.“ Die überarbeitete Standardversion der Bibel übersetzt nicht wörtlich, was das griechische Original sagt. Es lautet: „ἐξ αὐτοῦ δὲ ὑμεῖς ἐστε ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ“, was ausdrückt, dass durch Gott „ihr in Christus Jesus seid“, oder, wie die Vulgata es in ihrer typisch einfachen Art ausgedrückt hat: „vos estis in Christo Iesu“. In Übereinstimmung mit der paulinischen Mysterientheologie, die im Laufe des 20. Jahrhunderts maßgeblich zur Erneuerung der sakramentalen Theologie und der liturgischen Forschung beigetragen hat, unter anderem – aber in besonderer Weise – durch die Pionierarbeit von Odo Casel, hat sich die Vorstellung durchgesetzt, dass dieses In-Christus-Sein als eine tiefe sakramentale Realität verstanden werden muss. Und wenn dies zutrifft, ist es schwierig, hier nicht zu folgern, dass diese Realität das Ergebnis liturgischen Geschehens und liturgischer Vermittlung sein muss. Wie ­Sacrosanctum Concilium bekanntermaßen festhält, versinnbildlicht und verkörpert die Liturgie „das Werk unserer Erlösung“9, was unser Vers aus dem ersten Korintherbrief unmissverständlich bestätigt, insofern er ausdrückt, dass Christus für uns Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung geworden ist. Dieses Werden Christi beleuchtet das Sein der Liturgie. Der Sohn Gottes nahm zu einem bestimmten Zeitpunkt menschliches Fleisch an und befand sich in einem bestimmten kulturellen Umfeld. Ebenso nimmt die Liturgie die Form von Ritualen, Gebeten, Versammlungen und Bräuchen von Menschen an, die sich immer in einem konkreten Raum und einer konkreten Zeit befinden. Anders ausgedrückt, die Inkarnation ist die Wurzel der sakramentalen und kirchlichen Realität des Leibes Christi. Aber die Inkarnation markiert unbestreitbar eine Grenze: Es gibt ein Vorher und ein Nachher. Es ist ein Bruch in einer Kontinuitätslinie, was nicht heißt, dass dies traditionelle Verbindungen zerstört oder die Vergangenheit radikal annulliert. Inkarnation dringt ein und fügt Bedeutung hinzu. Dies wird durch das Vokabular, das in der ersten und dritten Präfation am Hochfest der Geburt des Herrn im Römischen Messbuch verwendet wird, auf brillante Weise veranschaulicht. Die erste Präfation betont diese Wirklichkeit: „denn Fleisch geworden ist das Wort, und in diesem Geheimnis erstrahlt dem Auge unseres Geistes das neue Licht deiner Herrlichkeit“10, während die dritte Präfation ausdrückt: „Durch ihn [unseren Herrn Jesus Christus] schaffst du den Menschen neu und

9 SC 2. 10 Missale Romanum, 520: „quia per incarnati Verbi mysterium nova mentis nostrae oculis lux tuae claritatis infulsit“.

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schenkst ihm ewige Ehre. Denn einen wunderbaren Tausch hast du vollzogen.“11 Das Leuchten, das in diesen beiden Sätzen erwähnt wird – auch wenn hinzugefügt wird, dass es ein herrliches Geschehen ist –, birgt die Gefahr, die Tatsache zu verdrängen, dass wir es hier mit einem plötzlichen Eindringen, einem machtvollen Eindringen von Licht, zu tun haben. Die lateinischen Verben in den ursprünglichen Gebetstexten lauten infulsit und effulsit und haben dieselbe Wurzel wie fulgor (Blitz). Diese Wörter rufen nicht in erster Linie zärtliche Emotionen hervor, wie sonst etwa das Bild des Jesuskindes in der Krippe – was sie bewirken, ist wie ein elektrischer Schlag. Das Eindringen der Inkarnation ist jedoch nicht dazu da, Menschen zu verwirren, zu verblüffen oder zu überwältigen. Es geschieht zu ihrem eigenen Wohl. Es dringt in ihre Lebenswelt ein, um sie zu wecken und eine ganz und gar heilsame Dyna­mik auszulösen, an der sie Teilhabende und Mitwirkende werden können. Die Liturgie weiß das gut und orientiert uns an immer höheren Zielen und Horizonten. Die erste, oben erwähnte Präfation lautet weiter: „In der sichtbaren Gestalt des Erlösers lässt du uns den unsichtbaren Gott erkennen, um in uns die Liebe zu entflammen zu dem, was kein Auge geschaut hat.“ Und die an zweiter Stelle erwähnte sagt: „Dein göttliches Wort wurde ein sterblicher Mensch, und wir sterbliche Menschen empfangen in Christus dein göttliches Leben.“ Mit anderen Worten: Die Inkarna­ tion geschieht propter nos homines et propter nostram salutem, wie es das Glaubens­ bekenntnis ausdrückt. Sie schafft menschliches Miteinander und geistliche Gemeinschaft, nicht nur im Kontext der gegenwärtigen Wirklichkeit, sondern auch in Verbindung mit den Dimensionen des Seins, die unsichtbar und ewig sind. Das Hauptziel der Eindringung der Liturgie in Bezug auf das Sein ist es, an der ursprünglichen Eindringung der Inkarnation Anteil zu geben. Die Eindringung ist außerdem ein Garant für ihre Transzendenz. Am Anfang der Liturgie stehen natürlich kontingente historische Entwicklungen in bestimmten soziokulturellen Umgebungen, wie es bei jeder Tradition der Fall ist, aber ihre Entstehung gehört nicht zum Bereich der Immanenz. Es ist eine von Transzendenz durchdrungene Immanenz, denn die Rettung der Menschheit kann nicht von der Menschheit selbst ausgehen, und die Natur vervollkommnet nicht die Gnade, sondern die Gnade die Natur. Zugegebenermaßen ist es immer schwieriger geworden, in der Theologie darauf zu bestehen, einen göttlichen oder übernatürlichen Ursprung menschlicher Dinge nicht zu übersehen, und die Schwierigkeiten werden fortbestehen, insbesondere wenn ein echtes Gespür für Metaphysik nicht wiederhergestellt wird. Ein solches Beharren auf einer radikalen Unterbrechung, ontologischen Veränderung und inkarnativen Durchdringung ist jedoch die bestmögliche Garantie gegen eine fortschreitende Vermarktung der menschlichen Lebenswelt. Nicht alles ist selbstverständlich und muss nur (besser) gemanagt werden. Was wir verbessern, übernehmen und umsetzen kön11 Missale Romanum, 522: „per quem hodie commercium nostrae reparationis effulsit“.



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nen, ist begrenzt. Menschliche Organisation braucht wohl doch göttliche Ordnung. Das Sein der Liturgie ist durch die Eindringung der Inkarnation in dieser Ordnung eingewurzelt. In diesem Zusammenhang lohnt es sich nun, auf Festugières Werk zu verweisen. Denn er beginnt seine Überlegungen zu den Zielen der Liturgie mit einer Reflexion über Gottes Güte. Gleichzeitig unterstreicht er die Verbindung zwischen der Inkarnation des Wortes und der Kirche. „Die Ziele der Menschwerdung und der Kirche sind zum einen dieser wunderbare Überfluss göttlicher Güte, der als Rettung der Menschheit und Wiederherstellung der Freundschaft zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer bezeichnet wird. Weiterhin ist es die großartige Manifestation göttlicher Eigenschaften und die vollkommene Verherrlichung der Heiligen Drei­fal­tig­ keit.“12 Dementsprechend sieht Festugière das Wirken der Kirche als Fortsetzung des Lebens, des Todes, der Auferstehung und der Himmelfahrt Christi. Die Inkarnation enthält eine sichtbare und eine unsichtbare Dimension, die im Leben der ­Kirche zum Ausdruck kommt. Und genau an diesem Punkt setzt der Begriff des Eindringens an: „In der Person des inkarnierten Wortes gibt es ein ständiges Durchdringen der Menschheit durch die Göttlichkeit. […] Ebenso in der Kirche: Das Werk Christi, das in seinen Elementen menschlich ist, wird ständig von der göttlichen Tugend Christi durchdrungen, die es belebt.“13

3.

Liturgische Durchdringung

Mit der Idee einer andauernden Durchdringung sind wir nun eigentlich schon in den nächsten Abschnitt meines Vortrags eingetreten. Denn ich würde eine konstante Eindringung (engl. „penetration“) mit dem Begriff „Durchdringung“ („permea­ tion“) bezeichnen. Betrachten wir an dieser Stelle, was das Ausloten dieses Begriffs für ein Verständnis des Wesens der Liturgie erbringen könnte. Der Begriff der Durchdringung bezeichnet das physikalische Verhalten einer Substanz, die in eine andere hineinsickert oder durch eine andere hindurchsickert. Öl kann Marmor durchdringen, Elemente einer Erdschicht können in eine andere Schicht eindringen, und der Duft von Weihrauch kann die Luft durchdringen. Normalerweise ist die Durchdringung/Permeation ein Prozess, der mit einer gewissen Stabilität und Festigkeit verbunden ist, und solange er andauert, ist es fast unmög-

12 Festugière, Qu’est-ce que la liturgie (Anm. 7), 38: „[L]es fins de l’Incarnation et de l’Église sont d’abord cette merveilleuse effusion de bonté divine qui s’appelle le salut du genre humain et la restauration de l’amitié entre l’homme et son créateur; ensuite la manifestation splendide des attributs divins et la glorification parfaite de la Sainte Trinité“ (Übersetzung J. Geldhof ). 13 Ebd.

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lich, ihn rückgängig zu machen. Man kann nicht viel gegen den Geruch von Weihrauch tun, wenn er erst einmal da ist und solange er da ist, genauso wie eine Flüssigkeit, die in einen Stein eingedrungen ist, nur schwer wieder entfernt werden kann, und wenn Sie versuchen würden, sie zu entfernen, wird dies nie ganz gelingen: Es werden immer Spuren zurückbleiben. Permeation soll bleiben und Langzeitwirkungen entfalten. Theologie und Geologie haben insofern etwas gemeinsam, als sie beide Entwicklungen untersuchen, die über bloße Momente bis ins Unendliche hinausreichen. Liturgische Durchdringung ist als eine stabile und solide Seinsweise christlicher liturgischer Handlungen zu verstehen. Liturgie prägt langsam, aber sicher und fortschreitend die Fähigkeit, Gottes Gnade und Erlösung zu empfangen, und zwar in einzelnen Menschen ebenso wie in den Gemeinschaften, die sie bilden. Dies geschieht immer durch eine interne und durch eine externe Dynamik. Festugière bedient sich dabei der klassischen Terminologie von cultus interior und cultus exterior. Er definiert Liturgie als „den Kultus, mit dem die Kirche Gott dient, oder, genauer gesagt, den äußerlichen Kult der Kirche“14. Es ist an dieser Stelle wichtig zu bedenken, dass Festugière, als er diese Definition formulierte, sich gerade in einer heftigen Kontroverse über das Verhältnis zwischen persönlichem Gebet und liturgischen Handlungen befand und dass die der Diskussion zugrunde liegenden Fragen uns etwas von dem nahebringen können, was in Bezug auf die Bedeutung der liturgischen Durchdringung relevant ist. Als prominenter Vertreter der Liturgischen Bewegung war Festugière von einem Jesuitenpater namens Jean-Joseph Navatel angegriffen worden, der die überragende Bedeutung der persönlichen Beziehung zu Gott im Vergleich zu der kollektiven Begeisterung und dem feierlichen Prunk der Liturgie mit Nachdruck verteidigte. Mit anderen Worten: Für Navatel hat der cultus interior Vorrang vor dem cultus exterior, und persönliches Wachstum, das durch geistliche Führung gefördert wird, ist für ihn das wirklich geeignete Mittel, das eigene religiöse Leben zu vervollkommnen. Festugière hielt dem entgegen, dass der Position Navatels falsche und offenkundig irreführende Vorurteile in Bezug auf die Äußerlichkeit des kirchlichen Gottesdienstes zugrunde lägen. Navatel zufolge entspricht der äußere Kultus dem liturgischen Ritual nicht in der gleichen und angemessenen Weise, wie der innere Kult die eigene Beziehung zu Gott bewirkt – ganz, als ob der Leib und die Seele eines Menschen nicht miteinander verbunden wären. Festugière hielt dagegen fest, dass der cultus exterior der Kirche den Menschen als Ganzes, und zwar gleichermaßen mit Körper und Seele, mit materiellen und immateriellen, sichtbaren und unsichtbaren Dimensionen, betrifft: „Der äußere Kult beinhaltet notwendigerweise alle psychologischen Aktivi-

14 Ebd., 28: „Nous proposons celle-ci [cette définition de liturgie]: ‚La liturgie est le culte extérieur que l’Église rend à Dieu‘, ou, plus brièvement, ‚le culte extérieur de l’Église‘.“



Eindringung – Durchdringung – Fermentierung33

täten des inneren Kultus.“15 Anders ausgedrückt, der äußere Kult durchdringt den inneren Kult. Und umgekehrt, wie wir sehen werden, ist der innere Kult aufgerufen, sich gründlich und dauerhaft vom äußeren Kult durchdringen zu lassen. Festugière fügte seiner Definition der Liturgie auf geschickte Weise hinzu, dass sie aus der Perspektive übernatürlicher Soziologie (sociologie surnaturelle) verstanden werden müsse. Ohne Zweifel ist dies ein faszinierender Ansatz, der sowohl Communio-Theologien als auch Konzepte liturgischer Ekklesiologie neu beleben könnte. Die Dimension des Übernatürlichen ergibt sich eindeutig aus Festugières Überlegungen zur Inkarnation und dazu, wie sich ihre Funktionsweise und ihre Auswirkungen im irdischen Bereich fortsetzen, d. h., wie die Inkarnation die historische Reali­tät durchdringt. Der Begriff „Soziologie“ bezieht sich auf Festugières Überzeugung, dass die Kirche eine wahre societas ist, nicht nur eine Vereinigung von Menschen (untereinander), sondern eine tiefe Partnerschaft (in Christus) und dass der Gottesdienst deshalb eine zutiefst soziale Aktivität ist.16 Die Kirche muss sich daher unaufhörlich zu einer „société de charité“ entwickeln, was bedeutet, dass sie die Ideale verfolgt, die von den theologischen Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Nächstenliebe inspiriert sind, und auf diese Weise die Dynamik der Heiligung fortsetzt, die im Christusgeschehen verwurzelt ist. Gleichzeitig, so Festugière, muss die Kirche ihrem Wesen als „société de liturgie“ gerecht werden und damit das Werk der Anbetung, des Segens, des Flehens, des Lobpreises und des Dankes fortsetzen, das seine Vollendung in dem gefunden hat, was mit Jesus Christus geschehen ist, der Gottes Sohn ist und unser Herr, der mediator Dei et hominum. Der springende Punkt ist jedoch, dass die beiden Wesenszüge – Kirche als Gesellschaft der Nächstenliebe und Kirche als Gesellschaft der Liturgie – eng und harmonisch miteinander verbunden sind.17 Anders ausgedrückt, es gibt eine Durchdringung der beiden und es muss sie geben, und ebenso eine Durchdringung der beiden gemeinsam mit der Wirklichkeit. Zusätzlich zu Festugières theoretischem und spekulativem Konzept liturgischer Durchdringung gilt es nun zu untersuchen, wie die Liturgie selbst diese Realität verkörpert. Unser Fokus ist hier der Ordo Missae des Römischen Messbuchs. Wir beginnen mit der Frage: Wie können die Riten und Texte, die dieser eigentümliche, vielschichtige und zusammengesetzte Text enthält,18 das Sein der Liturgie als einen

15 Ebd., 29 f.: „[L]e culte extérieur […] inclut nécessairement tout ce qu’il y a d’activité psychique dans le culte intérieur.“ 16 Ebd., 57: „[…] le culte est une œuvre sociale“ (kursiv im Original). 17 Ebd., 62: „L’existence simultanée dans une seule et même Église de la formalité de société théologale et de la formalité de société de liturgie permet d’entrevoir combien les différentes fins de cette Église sont intimement et harmonieusement liées entre elles.“ 18 Relevante Kommentare finden sich bei: Edward Foley – John F. Baldovin – Mary Collins – ­Joanne M. Pierce (Hg.), A Commentary on the Order of Mass of The Roman Missal, Collegeville 2011.

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Prozess beschreiben, präsentieren und vorstellen, durch welchen in einer Gottesdienstgemeinde die Durchlässigkeit für Gottes Erlösung wachsen kann? Das erste Element, das offensichtlich unsere Aufmerksamkeit verdient, ist das Zeichen des Kreuzes, das der leitende Liturg und die Gemeinde gemeinsam ausführen sollen.19 Der Sinn dieser Geste besteht darin, sich in die Gegenwart der Trinität zu stellen; sie wurzelt in dem Wunsch, die heilsamen Wirkungen der Nähe des Herrn in und durch die Feier zu genießen und in die gelebte Liebe der immanenten Dreifaltigkeit aufgenommen zu werden. Eine ähnliche Verdichtung der barmherzigen und bereichernden Gegenwart Gottes zeigt sich in der Formulierung Dominus vobiscum, die an entscheidenden Stellen während der gesamten Liturgie und mindestens viermal wiederholt wird: beim Gruß zu Beginn der Messe, vor der Evangeliumslesung, als Eröffnung des Präfationsdialogs und bei der Entlassung vor dem Schlusssegen.20 Nicht zufällig sind es vier Momente, bei denen man aufrecht steht, in der Haltung der anastasis. Das Mit-Sein dieser berühmten Formel ist nicht nur als Einladung oder als Aufruf zur Aufmerksamkeit zu verstehen, sondern auch, tiefergehend, als eine rezeptive Durchdringung mit dem Übernatürlichen. Eine andere Art der liturgischen Durchdringung zeigt sich in dem schlichten Ritus, ein wenig Wasser in den Wein zu gießen, der Teil der Gabenbereitung und seit mehr als einem Jahrtausend nachweisbar ist.21 Das stille Gebet des Priesters, das den Ritus begleitet, lautet: „Wie das Wasser sich mit dem Wein verbindet zum heiligen Zeichen, so lasse uns dieser Kelch teilhaben an der Gottheit Christi, der unsere Menschennatur angenommen hat.“22 Die doppelte Verwendung des Wortes „teilhaben“ in der [englischen] Übersetzung verbirgt aber eine Unterscheidung im lateinischen Original. Das Konzept für die Menschheit Christi ist particeps, während die menschliche Beteiligung an der Göttlichkeit Christi mit dem Wort consortes ausgedrückt wird. Möglicherweise steht hier die für Weihnachten typische Dynamik von Inkarnation und theosis im Hintergrund. Jungmann vermutet an dieser Stelle sogar „ein Konzept, das in gewisser Hinsicht die ostkirchliche Interpretation des Beimischungsritus als das Miteinander der menschlichen und göttlichen Natur Christi und die westliche Interpretation, die hier unsere eigene Vereinigung mit Christus erblickt, miteinander verbindet“23. In jedem Fall lässt sich hier ein schönes Beispiel für eine gegenseitige Durchdringung von innerem und äußerem Kultus erblicken. Und auf

19 OM 1. Die begleitende Rubrik besagt eindeutig, dass „sich der Priester und die Gläubigen stehend mit dem Zeichen des Kreuzes bezeichnen“. Die Tatsache, dass diese Geste überall üblich wird, ist ein Kontrast zur Situation vor der Reform der Liturgie nach dem Zweiten Vatikanum. 20 Vgl. Paul De Clerck, L’intelligence de la liturgie, Paris 22005, 95–99. 21 Vgl. Paul Turner, Let Us Pray. A Guide to the Rubrics of Sunday Mass, Collegeville 2012, 98– 100. 22 OM 24. 23 Josef Andreas Jungmann, The Mass of the Roman Rite, Bd. II, Notre Dame 2012, 63.



Eindringung – Durchdringung – Fermentierung35

ebendieser Grundlage ließe sich auch ein tieferes Verständnis dafür entwickeln, was die Teilnahme an der Eucharistie psychologisch und ontologisch bedeutet. Zum Schluss werfen wir noch einen Blick auf den römischen Kanon, in dem die Wirklichkeit der liturgischen Durchdringung überraschend und auf wirklich wunderbare Weise zum Ausdruck kommt. Ich glaube sogar, dass das Nachdenken über das Sein der Liturgie neue Perspektiven eröffnet, sich dem „Eucharistiegebet I“ jenseits der üblichen verhärteten Interpretationen zu nähern. Wenn der „gütige Vater“ gebeten wird: „Schenke deiner Kirche Frieden und Einheit, behüte und leite sie auf der ganzen Erde“,24 so ist dies als Bitte um eine umfassende Durchdringung zu verstehen, die durch die Liturgie vermittelt wird. Diese Idee entspricht im Übrigen einem Element aus dem hanc igitur-Teil des Gebets, in dem Gott gebeten wird, unsere Zeit mit seinen Gnadengaben zu erfüllen: „Erfülle uns mit aller Gnade und allem Segen des Himmels.“25 Die Communicantes propria von Epiphanias und Christi Himmelfahrt (gemeint sind hier die Einfügungen und Ergänzungen zu diesem Teil des Gebets an diesen beiden Festtagen) werfen ein weiteres Licht auf das Konzept der Durchdringung. Während erstere den einfachen Wunsch enthält, mit der Herrlichkeit Christi „gleich ewig“ zu werden (coaeternus), drückt letztere dieselbe Wirklichkeit aus, die wir schon beim Ritus des Mischens von Wasser mit Wein gesehen haben. Im Gebet zum Fest Christi Himmelfahrt heißt es: „Gott hat an die rechte Hand seiner Herrlichkeit unsere schwache menschliche Natur gesetzt, die er mit sich selbst vereint hat.“26 Von Gottes Herrlichkeit durchdrungen zu werden, ist letztlich das Ziel, um das es der Kirche mit der Liturgie geht und wofür sie existiert – und dies wird im Supplices te rogamus bekräftigt: „[…] wenn wir durch unsere Teilnahme am Altar den heiligen Leib und das Blut deines Sohnes empfangen, erfülle uns mit aller Gnade und allem Segen des Himmels.“27 Während ich die Argumentation mit weiteren Verweisen auf die Einsetzungsworte und die darauf folgende Akklamation fortsetzen könnte – insbesondere auf die zweite der drei vorgesehenen Alternativen –, ist doch die Sache, um die es hier geht, durch den Hinweis auf den vorletzten Teil des römischen Kanons hinreichend klar und treffend begründet. Liturgische Durchdringung bedeutet, das Lob Christi zu singen, „denn durch ihn erschaffst du [Gott] immerfort all diese gute Gaben, gibst ihnen Leben und Weihe und spendest sie uns“28. Ich beschließe diesen Abschnitt mit dem Versuch, die doppelte Natur der liturgischen Durchdringung zu erfassen und zu definieren. Einerseits ist die liturgische 24 OM 83. 25 OM 87. Im englischen Text des Vortrags heißt es hier: „God is implored to replete our time with his graces, that ‚our days are ordered in his peace‘“ (Hervorhebung J. Geldhof ). 26 OM 86. 27 OM 94. 28 OM 97.

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Durchdringung der hervorragende kirchliche, rituelle, durch Gesten und Gebete geprägte Prozess, durch den das Sein mit Gnade durchdrungen wird, durch das fortlaufende Wirken der göttlichen Heilsökonomie. Andererseits ist es die Dynamik, durch die sich Mitglieder der Kirche und Menschen guten Willens öffnen und dadurch von diesem allumfassenden Mysterium durchdrungen werden. Oder, mit den Worten von Festugière gesagt: Die Liturgie birgt in sich „die Zeichen, Formen und sinnlichen Erscheinungen, die sich in den Dienst des Übernatürlichen stellen, so dass sich das Übernatürliche wiederum in die Reichweite der Menschheit stellt“29. Liturgische Durchdringung hat eine katabatische und eine anabatische Dimension, sie hat einen Aspekt ontologischer Rezeptivität ebenso wie einen ethischen Aufruf zur Verantwortung. „Liturgie“, so fragt Festugière rhetorisch, „legt sie nicht ständig in die Herzen und auf die Lippen der Menschen – mit unerschöpflichen poetischen und rhetorischen Mitteln – Taten des Glaubens, der Hoffnung und der Nächsten­ lie­be?“30

4.

Liturgische Fermentierung

Nach diesen Versuchen einer Umschreibung, was liturgische Eindringung und liturgische Durchdringung bedeuten könnte, ist es Zeit für den nächsten Schritt: Hier geht darum, ein neues Licht auf die liturgische Fermentierung zu werfen. Kurz gesagt: Fermentierung ist eine spezifische Art von Durchdringung. Es ist eine lang­same Infusion einer Substanz in eine andere, die eine über das Eindringen hinausgehende Wirkung hat. Fermentierung ist transformierende Durchdringung. Für unsere Überlegungen dazu, wie liturgische Gärung sich vorstellen lässt, ist es gut, sich zunächst den Einsichten der Bibel und der Tradition zu stellen. Die hebräi­ sche Sprache kennt die Wörter matsah und se’or, was ungesäuertes Brot und Hefe bzw. Sauerteig bedeutet. Matsot ist das, was die Israeliten in der Nacht ihrer Flucht aus Ägypten zusammen mit dem makellosen Lamm und den bitteren Kräutern essen sollten (Ex 12,8). Es ist auch das, was sie am nächsten Morgen aus dem Teig buken, den sie aus Ägypten mitgenommen hatten – dieser Teig hatte ja nicht die Zeit zum Aufgehen gehabt (Ex 12,34.39). Es ist außerdem das, was die Israeliten sieben Tage lang essen sollten, wenn sie an die Ereignisse des Exodus zurückdenken (Ex 13,6–7; vgl. auch Ex 23,15; 34,18; Lev 23,6; Dtn 16,3–4), und was dem Fest

29 Festugière, Qu’est-ce que la liturgie (Anm. 7), 57: „[…] les signes, les formes et les apparences sensibles se mettant au service du surnaturel, afin que le surnaturel lui-même se mît à la portée de l’humanité.“ 30 Ebd., 64: „La liturgie ne met-elle pas dans le cœur et sur les lèvres de l’homme – et cela, avec d’inépuisables ressources de poésie et d’éloquence – des actes de foi, d’espérance et de charité?“



Eindringung – Durchdringung – Fermentierung37

der ungesäuerten Brote den Namen gab (Dtn 16,16; 2 Chr 8,13; 30,13.21; 35,17; Esra 6,22). Es ist auch das, was Gideon zubereitet hat, als er vom Engel des Herrn berufen wurde, und was ihn erkennen ließ, dass im Hinblick auf die Befreiung seines unterdrückten Volkes etwas Neues geschehen würde (Ri 6,19–21).31 Se’or hingegen, auf Griechisch ζύμη, hat nicht unbedingt einen guten Ruf. Dies wird im Neuen Testament besonders deutlich. In den Evangelien von Lukas und Matthäus wird es mit der Heuchelei der Sadduzäer und Pharisäer (Lk 12,1) in Verbindung gebracht, die sich in das Gefüge von Gesellschaft, Kultur und Volksethos einschleicht. Jesus warnt seine Jünger nachdrücklich vor dieser zunehmenden negativen Realität; er kontrastiert diese mit der Vermehrung der Brote (Mt 16,5–12). Auch Paulus erinnert die Korinther und Galater mahnend daran, dass ein wenig ­ζύμη schon dafür ausreicht, den ganzen Teig zu durchdringen, und genauso könne der Hochmut das Leben einer Gemeinschaft infizieren (1 Kor 5,6; Gal 5,9). Dies ist aber nicht die einzige Art und Weise, wie die Bibel das Wirken von Sauerteig darstellt. Im Buch Levitikus findet sich hier etwa die Verbindung mit Anweisungen für die Feier des Pfingstfestes: „Zählt fünfzig Tage bis zum Tag nach dem siebten Sabbat und dann bringt dem HERRN ein neues Speiseopfer dar! Bringt als Erhebungsopfer aus euren Wohnsitzen zwei Brote dar, gebacken aus zwei Zehntel Efa Weizenfeinmehl mit Sauerteig als Erstlingsgabe für den HERRN!“ (Lev 23,16– 17). Und im Matthäusevangelium wird dies als eine der Metaphern für die Gottesherrschaft verwendet, in gleicher Weise wie das berühmte Senfkorn unmittelbar vor dem folgenden Vers: „Er sagte ihnen ein weiteres Gleichnis: Mit dem Himmelreich ist es wie mit dem Sauerteig, den eine Frau nahm und unter drei Sea Mehl verbarg, bis das Ganze durchsäuert war“ (Mt 13,33). Welche Bedeutung diese Texte genau haben, ist Gegenstand verschiedener, manchmal sogar widersprüchlicher Interpretationen. Ich denke, dass keine von ihnen richtig sein kann, wenn man sie nicht mit der natürlichen Wirkung von Sauerteig in Verbindung bringt – weshalb die Übersetzung von ζύμη mit Hefe anstelle Sauerteig oder Backmittel (engl. „leaven“; das ist ein Überbegriff für alle Backtriebmittel) irreführend ist.

31 Es ist nicht das, was Melchisedek Abram nach seiner Rückkehr aus der Schlacht gegen KedorLaomer zusammen mit dem Wein anbot. Gen 14,18 benutzt das Wort lechem für Brot. Es ist auch nicht das, was Abraham Sara befahl zu backen, als die drei Besucher kamen. Gen 18,6 hat das Wort se’or für den Teig, aus dem das Brot gemacht wurde. Es ist auch nicht das, was Elija fand, als er erschöpft war und von dem Engel besucht wurde, der ihn drängte, etwas zu essen und zu trinken, um wieder Kraft zu schöpfen und seine Mission zu verfolgen. In 1 Kön 19,6 wird das Wort tsepachat verwendet, ein Wort, das gewöhnlich mit „Kuchen“ wiedergegeben wird. – Es ist bemerkenswert, dass all diese Passagen einen enormen Einfluss auf die Geschichte der Spiritualität, der Frömmigkeit, der Theologie und der Kunst ausgeübt haben, insbesondere als Präfigurationen oder „Typen“ der Eucharistie. Hier genügt vielleicht ein Hinweis auf das Triptychon des Abendmahls von Dieric Bouts in der Kollegialkirche St. Peter in Leuven.

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Während Hefe und Sauerteig die gleiche Funktion und Wirkung haben, nämlich das Brot zum Aufgehen zu bringen und eine leichtere Textur zu entwickeln, haben sie doch eine unterschiedliche Herkunft. Sauerteig ist das natürliche Ergebnis des Verfalls, der einsetzt, wenn Getreide mit Wasser vermischt und mehrere Tage bei konstanter Temperatur in einer ruhigen Umgebung gelagert wird. Enzyme setzen Fäulnis in Gang und machen die Mischung bitter und sauer. Man braucht nur eine kleine Portion davon in einem neuen Teig mit frischem Getreide, um ihn zum Aufgehen zu bringen. Hefe hat dagegen einen anderen Ursprung; sie stammt von Mikro­ organismen, die bei der Herstellung von Buttermilch oder Bier oder Wein aktiv sind, aber nicht von Brot selbst. Sauerteig wird schon seit Jahrhunderten zur Herstellung von Brot verwendet. Hefe verbreitete sich erst in der Neuzeit und wurde bald unverzichtbar, weil man bei der industriellen Herstellung von Brot nicht länger die Unsicherheiten der Wirkweise von Sauerteig in Kauf nehmen wollte. Warum diese Information für unser Thema nicht irrelevant ist, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass ein natürlicher Fermentationsprozess von Sauerteig etwa sechs bis sieben Tage dauert. Erst dann kann ein neuer Teig aufgehen, und anschließend kann das Brot gebacken werden. Nach mehrmaliger Wiederholung ist es jedoch notwendig, den Backprozess mit einem neuen Sauerteig zu starten, da Sauerteig nach einiger Zeit an Durchdringungskraft verliert. Diese Symbolik des Neu-Seins ist ganz und gar entscheidend, und es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass die biblische Tradition dies auch mit der Idee des Pascha in Verbindung gebracht hat: mit Bekehrung, radikaler Wendung, Befreiung, Neuanfang, Erlösung, metanoia, der Geburt des Lebens und letztendlich mit der Auferstehung Jesu, dem Pascha-Mysterium, der Eucharistie, der Communio. Wenn man mit dem Backen neu beginnt, kann man den alten Sauerteig nicht mehr verwenden. Entweder bäckt man dann ungesäuerte Brote oder man wartet geduldig auf den neuen Fermentierungsprozess. Es ist nicht genau bekannt, welche Brotsorten im ersten Jahrtausend für die Eucharistiefeier verwendet wurden und wie sie schmeckten. Wahrscheinlich gab es je nach örtlichen Gepflogenheiten, praktischen Erfordernissen und verfügbaren Getreidearten eine gewisse Vielfalt. Zu einem bestimmten Zeitpunkt, jedenfalls gegen Ende des ersten Jahrtausends, kam es aber zur sogenannten Azymiten-Kontroverse. Heute ist es vielleicht schwer zu begreifen, dass dies neben dem Filioque und der Rolle des Petrusamtes des Bischofs von Rom die dritte zentrale Frage war, die 1054 das Schisma zwischen Ost und West verursachte. Ob das Brot, das man für die Eucharistie verwendet, aus ungesäuertem Teig (wie im Westen) oder aus Sauerteig (wie im Osten) war, wurde auf beiden Seiten des Konflikts zu einem der maßgeblichen Faktoren, die der jeweiligen Entscheidung über Rechtgläubigkeit zugrunde lagen. Leider war das eigentliche Anliegen hier nicht so sehr die Symbolkraft der Gärung, sondern die Korrektheit der Lehre; es ging um kirchliche Disziplin, Gehorsam und bloße Machtansprüche. Was im Westen sicherlich auch eine Rolle spielte – warum also hier die azymitische Position kontinuierlich geschärft wurde –, waren die



Eindringung – Durchdringung – Fermentierung39

historischen Komplexitäten und Komplikationen im Zusammenhang mit der Entstehung der Privatmesse, der Verehrung der Hostie und einer zunehmenden Engführung der Interpretation des Altaropfers. Dazu kam die wachsende Fokussierung auf die Konsekration zum Nachteil anderer wichtiger Aspekte der Messe – dies alles sind Themen, mit denen sich die Liturgische Bewegung erst Jahrhunderte später ernsthaft zu befassen begann. In der Zwischenzeit war jedoch schon viel Schaden angerichtet, was einen direkten Zugang zu vielen Bedeutungs- und Traditionsschichten sehr erschwerte. Anfangs war der Ton der westlichen Theologen, die über die Verwendung von gesäuertem oder ungesäuertem Brot nachdachten, noch relativ mild. Zur Veranschaulichung einer solchen Position sei auf Anselm von Canterburys Schrift De ­azymo et fermentato verwiesen, verfasst als Antwort auf Fragen, die er zwischen 1091 und 1111 von Walram, dem Bischof von Naumburg, erhalten hatte, dem die Beziehungen zum östlichen Christentum ein besonderes Anliegen waren. Im ersten Abschnitt dieser Schrift argumentiert Anselm, es gebe keinen wesentlichen Unterschied zwischen ungesäuertem und gesäuertem Brot.32 Daher sei das, was „die Griechen“ tun, um Brot aus fermentiertem Teig zu segnen, nicht gegen den christlichen Glauben. Beide Arten von Brot könnten konsekriert werden.33 Trotzdem erklärt Anselm, es gebe kaum Zweifel, dass es angemessener ist, ungesäuertes Brot zu weihen, denn das sei es, was der Herr getan habe.34 Daran anschließend widerlegt er alle Argumente der östlichen Theologen gegen die Azymiten im Westen, insbesondere die Belege aus der Heiligen Schrift. Weniger als ein Jahrhundert später gab es nicht mehr so viel Platz für Nuancen. Lothar von Segni, auch bekannt als Innozenz III., der von 1198 bis 1216 Papst war und daher intensiv am vierten Laterankonzil von 1215 beteiligt war, verfasste vor seiner Wahl zum Papst sechs Bücher über die Eucharistie (De sacro altaris mysterio ­libri sex). Im vierten Band findet sich ebenfalls ein Abschnitt mit dem Titel De azymo et fermentato. Beim Opfer der Messe, so Innozenz III., solle man ungesäuertes, nicht gesäuertes Brot verwenden,35 wie Ex 12 eindeutig bestätigt. Da Sauerteig, wie Paulus lehrt, Verderbnis bedeutet, sei es darüber hinaus unvorstellbar, dass man bei der Eucharistie Sauerteigbrot verwendet. Offensichtlich sieht Innozenz III. einen gravierenden Unterschied zwischen beiden Arten von Brot oder sogar einen klaren Gegensatz.36 Die Verwendung von Sauerteig würde dazu führen, die Reinheit der Kirche

32 Anselmus Cantuariensis, De azymo et fermentato, cap. I, PL 158, 541 f.: „Non enim differunt azymus et fermentatus substantialiter (ut quidem putant).“ 33 Ebd., 541: „Nam et azymum et fermentatum sacrificans panem, sacrificat.“ 34 Ebd., 542: „Apertissimum tamen est quia melius sacrificatur de azymo quam de fermentato […] quia Dominus hoc fecit.“ 35 Innocentius III, De sacro altaris mysterio, lib. IV, PL 217, 854: „Panis autem non fermentatus, sed azymus offerri in sacrificium, tum ratione facti, tum ratione mysterii.“ 36 Ebd., 857: „At azymum et fermentum penitus sunt opposita, sicut immediata contraria.“

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mit Sünde zu verderben, was aufgrund der Verbindung mit Christus, der von der unbefleckten Jungfrau geboren wurde, nicht geschehen dürfe.37 Mit anderen Worten: Da sich „die Kirche von Konstantinopel“ die Konsekrierung von Sauerteigbrot allem zum Trotz zu eigen gemacht habe, verseuche sie sich nun selbst mit Häresie, ja mit „Erzhäresie“. Ohne weiter ins Detail zu gehen, ist doch bei dieser Kontroverse durch das immer hartnäckigere Beharren auf Standpunkten, die sich gegenseitig ausschlossen, etwas furchtbar schiefgegangen. Die Rhetorik verlor aus den Augen, dass eine klare Beziehung besteht zwischen einem neu zubereiteten Teig – ob man ihn fermentieren lässt oder nicht – und dem Osterereignis. Aufgrund dieser Situation, die Jahrhunderte andauerte und bis heute noch nicht gelöst ist, wurde eine wirkliche liturgische Hermeneutik der Fermentierung unmöglich gemacht. Aber inzwischen sind wir in der glücklichen Situation, die Geschichte der Liturgie, ihre Struktur und die grundlegende Tatsache, dass es Liturgie überhaupt gibt, mit neuen Augen betrachten zu können. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, das Missale Romanum ganz neu zu untersuchen. Eine solche Übung eröffnet neue Perspektiven für einen kreativen und zukunftsorientierten Umgang mit dem Thema fermentum. Wenn man nach dem semantischen Feld um fermentum herum sucht, lässt sich zunächst sagen, dass es ziemlich begrenzt, wenn nicht sogar marginal zu sein scheint. Aber diese Beobachtung sollte uns nicht daran hindern, von den Rändern her zu denken, denn was dort geschieht, ist immer interessant und sollte nicht unterschätzt werden. Die Versionen des Missale Romanum, die 1570 und 1962 promulgiert wurden, enthielten eine Reihe von Votivmessen, die den Messen für das Kirchenjahr und für den Heiligenkalender folgten. Die überarbeiteten Messbücher aus den Jahren 1970 und 2008 ordneten diese Messreihe neu. Sie unterscheiden zwischen Ritualmessen, Messen für verschiedene Anlässe und Votivmessen im engeren Sinne. Unter der mittleren Kategorie, den Messen für verschiedene Anlässe, gibt es die Messen pro sancta ecclesia und die Messen pro circumstantiis publicis, etwa für das eigene Land, für die menschliche Arbeit oder zu Erntedank. In zwei von den Messen für die heilige Kirche tritt das fermentum auf: in den Messen für die Kirche im Allgemeinen (pro ecclesia) und der für die Laien (pro laicis). Die klare ekklesiologische Einbettung ist ein erstes aussagekräftiges Detail. Zweitens fällt beim ersten Lesen der Texte sofort auf, dass es im Zusammenhang mit dem fermentum keinerlei negative Konnotationen gibt. Im Gegenteil, alle Erwähnungen schreiben positive Bedeutungen zu, wie etwa: lebenserhaltend, wachsend, steigend und anregend. In der Postcommunio des Messformulars A „für die

37 Ebd.: „Aqua sine fermento, mista frumento, designat populum sine peccato, Christo conjunc­ tum. Quanquam et illud valeat designare, quia sicut azymus panis de pura massa sine fermento conficitur, ita corpus Christi de illibata Virgine sine peccato conceptum est.“



Eindringung – Durchdringung – Fermentierung41

Kirche“ fordert der Priester die Gemeinde dazu auf, „durch Befolgung ihrer Liebeslehren […] ein lebensspendender Sauerteig [fermentum vivificans] für die Menschheitsfamilie und ein Mittel der Errettung [salutis instrumentum] zu werden“38. Dieses Nebeneinander (engl. „juxtaposition“) von Sauerteig und Heilsinstrument ist repräsentativ für die gesamte Euchologie des Missales und kann als Beispiel dafür dienen, wie sich liturgische Fermentierung vorstellen lässt. Das Tagesgebet des Messformulars B „für die Kirche“ bestätigt dies, indem es das fermentum mit der Seele in Verbindung bringt, die die menschliche Gesellschaft in Christus erneuern und in die Familie Gottes verwandeln kann.39 Die nachdrücklichste Verwendung des fermentum lässt sich aber im Messformular „für die Laien“ finden. Die Eingangsantiphon ist ein wörtliches Zitat aus der Vulgata-Version von Mt 13,33, wo die Herrschaft Gottes mit einem Sauerteig verglichen wird, der mit einer beeindruckenden Menge Mehl, „donec fermentatum est totum“, gemischt wird, bis alles durchsäuert ist. Entsprechend nutzt das Gebet über den Opfergaben die faszinierende Wortverbindung sanctificationis fermentum. Die Zusammenschau (engl. „juxtaposition“) mit anderen Bildern, die in diesem Gebet gebraucht werden, ist ebenfalls aufschlussreich. Gott wird darum angerufen, dass seine Dienerinnen und Diener, die Laien, die Welt mit dem Geist Christi durchdringen und für sie der Sauerteig der Heiligung sein mögen.40 Was man aus dieser kurzen Übersicht schließen kann, ist nicht gering zu schätzen, auch wenn die konkreten liturgischen Quellen, die sich hier konsultieren lassen, recht knapp sind. Die Quellen erlauben es uns aber doch, das Konzept der Fermentierung mit einigen Hinweisen zu Mission und Dienst zu verbinden. Das In-der-Welt-Sein der Liturgie will und soll bei näherer Betrachtung auch wie ein neuer Sauerteig sein, der die ganze Wirklichkeit durchdringen soll, wobei seine Neuheit auf nichts anderem als dem österlichen Mysterium und dem Christusereignis beruht. Sauerteig wird genau wie die Gnade in das Sein der Wirklichkeit hineingegossen, er durchdringt sie vollständig – wenn auch langsam, so doch sicher, und das mit einer klaren Wirkung und einem klaren Ziel: das Sein zu erneuern, die Wirklichkeit zu verwandeln, Leben zu geben, wo immer der Tod regiert. Mit anderen Worten: Die Frage der liturgischen Fermentierung geht unendlich weit über die zufälligen kirchlichen Vorschriften für die Verwendung des Brotes hinaus, das beim Fest der Eucharistie gesegnet, verteilt und gegessen wird. Diese Frage legt die grundlegende Seinsweise der Liturgie sowie aller Liturgien offen, insofern sie an den universellen heiligenden Dynamiken teilhaben – und zu ihnen beitragen –, deren Ursprung und Ziel sich in der Trinität findet. 38 Missale Romanum, 1076. 39 Ebd. 40 Missale Romanum, 1096: „Deus, […] concede, ut famuli tui, quos etiam in statu laicali ad apostolatum vocare non desinis, et mundum spiritu imbuant Christi, et eius sint sanctificationis fermentum.“

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5. Schlussbemerkungen Es ließe sich sagen, dass die liturgische Durchdringung die Verlängerung der Eindringung darstellt und dass die Fermentierung eine Eigenschaft oder Spezifizierung dieser Durchdringung ist. Die drei zentralen Kategorien, um die sich dieser Vortrag bemüht hat, sind eng miteinander verbunden. Darüber hinaus aber ermöglichen sie es uns, das Wesen der Liturgie eingehend zu erforschen. Ich betrachte Liturgie hier nicht als eine Ansammlung traditioneller Riten, Gebete und Gewohnheiten, nicht als eine Reihe von Erkennungsmarkern, die es gewissen religiösen Gruppen erleichtert, sich in bedrängenden Zeiten an ihrer Identität festzuklammern. Ich betrachte sie hier auch nicht als eine narrative Ressource, die zu moralischem Verhalten inspiriert und den Kampf gegen das Unrecht in der Welt anfeuert, und auch nicht als einen besonderen Faktor, der die existenziellen Entscheidungen von Individuen oder das Wachstum und den Niedergang von Kulturen, Ethnien und Zivilisationen beleuchtet. Liturgie ist all das, aber nur zum Teil, und gleichzeitig ist sie immer und notwendigerweise mehr als das und anders als das. Sie ist ohne Zweifel eine fließende und sich ständig ändernde Kombination dieser Faktoren, sie kann aber nicht auf eine von diesen reduziert werden. Liturgie ist eine Dimension des Seins, sie ist „jenseits, durch, innerhalb, hinter und für“ in Bezug auf all diese Dinge. Liturgie hängt nicht nur davon ab, was der menschliche Geist konstruieren, dekonstruieren und rekonstruieren kann. Sie hat etwas unzerstörbar Metaphysisches. Sie dringt in das Sein ein, sie durchdringt es und setzt Fermentierung in Gang. Darum bringt das Nachdenken über die Ontologie der Liturgie eine ganze Reihe weiterer Gedanken mit sich, die ich hier in drei Cluster aufteile: Erstens denke ich, dass jede weitere Vertagung (engl. „procrastination“, also ­etwa „Vertrödelung“) der Metaphysik im Bereich der liturgischen Theologie jetzt wirklich aufhören muss. Zugegeben, ein neuer Stil und neue Modelle des metaphysischen Denkens sind wünschenswert, auch dringend notwendig, aber die Metaphysik an sich kann nicht länger kunstvoll aus dem Radius, dem Interesse und der täglichen Arbeit der liturgischen Theologen herausgehalten werden. Die Wirklichkeit der Liturgie, ihre Essenz und Existenz sowie die vielen Weisen ihres Seins müssen bedacht werden, damit den unzähligen Risiken und Bedrohungen durch verschiedene Arten von Reduktionismus Widerstand geleistet werden kann. Die Komplexität der Liturgie und ihre absolute Zentralität in der Soteriologie erfordern Metaphysik. Zweitens denke ich, dass ein metaphysischer Ansatz aus erkenntnistheoretischen und methodologischen Gründen fruchtbar sein kann. Obwohl relativ unbekannt und auf jeden Fall ohne irgendeine ernsthafte Rezeption in der Theologie, hat es Versuche gegeben, die Kognition selbst im Sinne von Fermentierungsprozessen zu verstehen, und zwar zur Zeit der Romantik.41 Wenn man bedenkt, dass die Liturgische 41 Franz X. von Baader, Fermenta Cognitionis, in: Gesammelte Schriften, Bd. II, Aalen 1963, 137–442.



Eindringung – Durchdringung – Fermentierung43

Bewegung in erheblichem Maße von romantischen Theorien antizipiert wurde,42 kann es heute gut und lehrreich sein, diese Tradition wiederzuentdecken. Ein Teil dieses Unternehmens könnte in der Kunst bestehen, unerwartete Zusammenhänge zu entdecken, darin, beim Vorgang des Denkens die Sinne und die Vorstellungskraft auf intelligentere Weise und wirklich intensiv einzusetzen, und darin, unermüdlich zwischen Symbolen, Konzepten, Eindrücken, Erfahrungen, Kategorisierungen und Argumentationen hin und her zu gehen, ebenso wie zwischen Tradition und Zukunft. Dieser Vortrag hat versucht, etwas wie ein Modell für eine solche zukünftige programmatische Reflexion vorabzubilden. Die methodologische Umsetzung wurde hier durch die Verbindung einer Analyse liturgischer Quellentexte mit spekulativen synthetischen Reflexionen über das Wesen der Liturgie abgesichert. Dabei fühlte ich mich sehr von den frühen Vertretern der Liturgischen Bewegung unterstützt, die betonten, dass eine sogenannte litur­gische Theologie schwer vorstellbar ist, ohne auf das zurückzugreifen, was in den liturgischen Büchern der Kirche zu finden ist.43 Zu guter Letzt möchte ich noch etwas zu den „Erinnerungsweisen“ aus dem Untertitel meines Vortrags sagen. Obwohl ich mich nicht direkt mit der Anamnesis befasst habe, dem Thema unseres Kongresses hier in Durham, denke ich, dass das, was ich hier entwickelt habe, als Präambel dienen kann für Reflexionen zu Themen wie Erinnern, Liturgie, Sakramente und Sakramentalität. Es ist jedenfalls so gedacht. Vielleicht funktionieren Erinnerungen auf eine Art und Weise, die mit Durchdringung und Fermentierung vergleichbar ist. Auf jeden Fall stimmen Erinnerungen nicht mit dem überein, woran ich mich erinnern kann oder woran ich mich erinnern möchte. Sie greifen zu kurz, sie wachsen zusammen, sie durchkreuzen das Bewusstsein, sind aber unabhängig von seiner Kontrolle. Sie sprudeln, sie kommen und gehen, sind launisch, und sie reichen tiefer, als wir oft wagen zuzugeben, weder vor uns selbst noch vor anderen. Sie dringen ein, durchdringen und fermentieren. Und besonders die liturgische Erinnerung geht massiv über das Psychologische hin­ aus. Sie geht über die Grenzen einzelner Generationen und Kulturen hinaus, gleitend. Es ist ein psychosozialer Mechanismus, der natürlich mit Phänomenen wie 42 Vgl. Joris Geldhof, German Romanticism and Liturgical Theology. Exploring the Potential of Organic Thinking, in: Horizons 43 (2016), 282–307. 43 Vgl. etwa Festugière, Qu’est-ce que la liturgie (Anm. 7), 69 f.: „L’occasion s’offre à nous de faire ici, incidemment, une demande aux auteurs théologiques, voire même de leur adresser respectueusement un appel. Se servent-ils suffisamment de ce lieu théologique très riche, formé par les prières que l’Église a insérées dans le missel, le rituel et le pontifical? […] Tout le monde répète l’axiome: lex orandi, lex credendi. Mais on se persuade trop facilement que les textes liturgiques ne représentent qu’une théologie de vulgarisation, plutôt pragmatique.“ Und er fügt eine Bemerkung hinzu, die aus ökumenischer Perspektive höchst wichtig ist: „Nous sommes persuadé, en particulier, que si, depuis le XVIe siècle, on avait moins traité les livres liturgiques comme littérature négligeable, les destinées et les dissensions intestines de la théologie n’auraient pas été tout à fait les mêmes.“

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Joris Geldhof

­ itual und Routine verflochten ist, aber auf faszinierende Weise metaphysische TieR fen und Höhen berührt – die Metaphysik des Mysteriums, das Mysterium unseres „Herrn, heiligen Vaters, allmächtigen und ewigen Gottes“, wie es eine Präfation für die Sonntage in der nicht geprägten Zeit im Römischen Messbuch brillant formuliert: „in quo vivimus, movemur et sumus“.44

44 OM 57; Apg 17,28.



Heilige beherbergen und ehren45

Heilige beherbergen und ehren Die englische Architektur des Mittelalters und der Reliquienkult

John Maddison

Vor der Reformation war England ein Land der Schreine und Reliquien. Die Rekonstruktion des verlorenen Schreins des heiligen William von York aus dem Spätmittelalter zeigt genau die Art des Spektakels, das einen mittelalterlichen Pilger erwartete, wenn er sein Ziel erreicht hatte. Das Reliquiar befindet sich hoch auf einem reich verzierten steinernen Korpus, ist gesäumt durch verzierte Nischen und ermöglicht dem frommen Pilger, dem heiligen Leichnam so nah wie möglich zu kommen.1 Das Reliquiar selbst ist vergoldet und mit Edelsteinen geschmückt und befindet sich so außerhalb der Reichweite. Es wird durch eine hängende Abdeckung oder Cooperculum geschützt, welches an Seilen bzw. Ketten an dem darüberliegenden Gewölbe hängt. Obwohl das Gebäude sehr groß ist, ist der dem Schrein zugeteilte Raum doch zusätzlich durch Vorhänge abgetrennt. Dies schafft ein Gefühl des intimsten Allerheiligsten, zu dem der Zutritt privilegiert und gleichzeitig ein Mysterium ist. Diese Raumaufteilung ist ein frühes und durchgängiges Merkmal des unmittelbaren Umfeldes von Schreinen, wie Peter Brown sehr elegant erläutert hat.2 Darüber hinaus ist dies auch typisch für den Zugang zu liturgischen Räumen im Mittelalter. Auch wenn Kirchen damals bereits in beträchtlichen Maßstäben gebaut werden konnten, so waren sie in ihrer Fläche doch immer untergliedert in eine Abfolge verschiedener Teile. Erst durch deren Gesamtheit konnte sich die uneingeschränkte Erhabenheit des architektonischen Designs entfalten und einen Eindruck des himmlischen Jerusalems erwecken. In diesem Vortrag soll die Frage beantwortet werden, inwieweit die Präsenz von Heiligenreliquien den architektonischen Charakter des ungleich größeren Gebäudes beeinflusste, in dem diese untergebracht waren. Der Reliquienkult war natürlich ein hervorragender Angriffspunkt für die protestantischen Reformer, und so wurden die Leichname der Heiligen, und ebenso die wertvollen Reliquiare, im frühen 16. Jahrhundert systematisch zerlegt und zerstreut. Bis 1996, als es, siebenhundert Jahre nach seiner Entfernung aus Schottland, nach 1

Christopher Wilson, The Shrines of St William of York, [York] 1977, 18. Für die Besprechung weiterer Podeste von Heiligenschreinen vgl. Nicola Coldstream, English Decorated Shrine ­Bases, in: Journal of the British Archaeological Association. Third Series 39 (1976), 15–34. 2 Peter Brown, The Cult of the Saints, Chicago 1981, 87.

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Edinburgh zurückgebracht wurde, blieb nur ein wichtiges „englisches“ Relikt in seinem mittelalterlichen Reliquiar erhalten. Dies war der Stein, der in den hölzernen Thron der Westminster Abbey eingearbeitet ist, auf dem unsere Monarchen gekrönt werden. Dieser Thron wurde zwischen 1297 und 1300 vom königlichen Maler, dem Meister Walter von Durham, geschaffen und dekoriert. Der „Stein des Schicksals“ war 1296 von Edward I. im Krieg gegen die Schotten beschlagnahmt worden und war nicht nur als Thronsitz der schottischen Könige von Bedeutung, sondern wurde darüber hinaus als der Stein angesehen, den Jakob in Bethel als Kissen verwendete und wo er eine Leiter sah, die zum Himmel führte und auf der die Engel hinaufund hinabstiegen (vgl. Gen 28,10–22), als Gott Jakob und seinen Nachkommen ihr verheißenes Land gab. So wie die Jakobsleiter wurden die Reliquien als eine Verbindung zum Himmel gesehen. Laut dem normannischen Chronisten Wilhelm von Malmesbury gaben die Leichname der angelsächsischen Heiligen nur den Anschein zu schlafen, und man glaubte, dass die Heiligen in ihren Schreinen gleichzeitig auf Erden und im Himmel gegenwärtig seien.3 Das normannische Anrecht auf die Krone Englands wird im Teppich von Bayeux graphisch dargestellt, in dem Harold, der an der Küste der Bretagne Schiffbruch erlitten hat, sich für die Gastfreundschaft von Herzog William of Normandy mit seinem Eid bedankte, den er auf zwei großen Reliquiaren schwor und der beinhaltete, dass er Williams Anspruch auf den Thron aufrechterhalten werde. Die Reliquien verliehen Menschen, Orten und Gebäuden im Mittelalter Autorität, Macht und Status, sie heiligten Eide und die Krönung von Königen, und durch sie bestätigte man die Vorrangstellung wichtiger Klöster als Wallfahrtsorte und als religiöse Gemeinschaften mit dem Recht auf Wohlstand und Fortbestand dessen, was ihnen ihr verheißenes Land unter dem Schutz ihrer Heiligen zu sein schien. Noch wichtiger ist, dass die verehrten Reliquien für sie ein Schlüssel zur Erlösung waren, der einen direkten Zugang zu dem Heiligen ermöglichte, dessen Fürsprache am Tag des Gerichts den Unterschied zwischen himmlischer Glückseligkeit und ewiger Verdammnis ausmachen konnte. So gesehen ist es klar, dass es für Bauherren immer wichtiger wurde, diesen heiligen Leibern eine ihrer Würde angemessene architektonische Behausung zu geben. Rom als Sitz päpstlicher Autorität und als Verkörperung des kaiserlichen Erbes der Kirche übte einen starken Einfluss auf frühmittelalterliche Baumeister in ganz Europa aus. Dies galt für das frühmittelalterliche Northumbria ebenso wie für Orte, die näher am Mittelmeer lagen. Im Jahr 664 legte die von Bischof Wilfred angeführte Fraktion auf der Synode von Whitby die römische Methode zur Berechnung des Datums der Osterfeierlichkeiten fest, die nun an die Stelle des indigenen keltischen Systems trat. Zehn Jahre nach diesem Sieg für die Orthodoxie beauftragte Abt Benedict Biscop römische Handwerker mit dem Bau und der Ausgestaltung seines 3 John Crook, English Medieval Shrines, Woodbridge 2011, 15.



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Klosters in Monkwearmouth. Während der Besuche von Bischof Wilfred in Rom in den Jahren 680 und 703 nutzte er die Gelegenheit, eine Reihe bedeutender Reliquien zu erwerben. Er baute zwei große Kirchen in Hexham und Ripon, deren einzige Überreste heute die Krypten sind. Diese Krypten beherbergten wahrscheinlich einige dieser römischen Reliquien. In ihrer bewusst labyrinthischen Planung und unterirdischen Lage lassen sie sich direkt mit römischen Korridor-Krypten einiger großer frühchristlicher Kirchen in Verbindung bringen.4 Dunkle verwinkelte Gänge und enge Räume, in denen die heiligen Reliquien in kostbaren Metallgefäßen bei Kerzenschein glitzerten, waren Teil der ästhetischen Absicht der Baumeister und lassen sich letztlich auf die Katakomben zurückführen. In der alten Peterskirche war das Grab des Schutzheiligen und Märtyrers in der zentralen Apsis, in einer Krypta unter dem Hochaltar, untergebracht. Indem die Baumeister das Begräbnis des Petrus mit dem Altar verbanden, bildeten sie die biblische Autorität von Offb 6,9 ab: „Als das Lamm das fünfte Siegel öffnete, sah ich unter dem Altar die Seelen aller, die hingeschlachtet worden waren wegen des Wortes Gottes und wegen des Zeugnisses, das sie abgelegt hatten.“ Das Konzil von Karthago (401) verlangte, dass alle Altäre, die ohne den Leichnam eines Bischofs oder die Reliquien eines Märtyrers errichtet worden waren, entfernt werden sollten. Rekonstruktionen (ermöglicht aufgrund von Ausgrabungen) der Anordnung von Schrein und Altar, wie sie um 600 n. Chr. üblich war5, zeigen, dass der Zugang zur Grabstätte des Apostels Petrus durch gewundene Korridore zwischen der Altarplattform und der Apsis führte. Diese Anordnung – manchmal auch als Ringgruft bezeichnet – ist heute in einigen angelsächsischen Kirchen noch fragmentarisch zu finden. Brixworth in Northamptonshire (gegründet 675) und Wing in Buckinghamshire (8./9. Jahrhundert) sind Beispiele dafür, und es ist bekannt, dass dies auch der Plan für das östliche Ende der vor der Eroberung errichteten Kathedrale in Canterbury war.6 Diese Art von Krypta, die auch im karolingischen Reich zu finden ist, führte zu der bekannten Anordnung von Apsis mit Umgang, die in vielen großen Kirchen des Mittelalters zu finden ist. Dass es sich hier auch um den einheitlichen Grundriss der größeren Wallfahrtskirchen auf dem Weg nach Compostela handelte, hat zu der Vermutung geführt, dass diese Adaption im großen Format mit dem Managen von Pilgerströmen zu tun hatte. Aber wie alle guten Ideen wurde dieser Aufriss auch für Kirchenbauten ohne bedeutende Reliquien übernommen. Die alte Peterskirche wurde zum Teil aus sogenannten spolia gebaut, also Säulen und anderen „reklamierten“ Elementen aus antiken Gebäuden, darunter eine Grup4

Frühe Krypten dieses Typs gab es in Rom in Sant’Agnese und San Valentino. Vgl. John Crook, The Architectural Setting of the Cult of Saints in the Early Christian West c. 300–c. 1200, Oxford 2000, 89 f. 5 Charles B. McClendon, The Origins of Medieval Architecture, New Haven 2005, 29 f. 6 H. M. Taylor – Joan Taylor, Anglo-Saxon Architecture, Bd. I, Cambridge 1965, 108–114 und 665–672.

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pe von Spiralsäulen, die vor und um den Altar und das Grab des Petrus standen. Man nahm an, dass Kaiser Konstantin, der sie zuerst an dieser Stelle aufgestellt hatte, sie aus dem Tempel Salomos, dem biblischen Archetypen einer Kirche, genommen hatte. Die vielleicht beeindruckendste aller erhaltenen englischen Krypten aus der Zeit vor der Eroberung befindet sich unter dem Chor der Kirche in Repton in Derbyshire, die über dem kleinen freistehenden Mausoleum der Familie des 757 verstorbenen Königs Ethelbald errichtet wurde. Ein weiterer König, Wiglaf, wurde 839 dort beigesetzt, aber das bemerkenswerte Merkmal der heutigen Krypta, die vier Spiralsäulen und das von ihnen getragene Gewölbe, wird von Eric Fernie und anderen Forschern mit der Grablegung von Wiglafs heiligem Enkel Wystan in Verbindung gebracht, der im Jahr 849 ermordet wurde.7 Diese Säulen stützen die Altarplattform der neuen Kirche darüber, und wenn sie, wie es wahrscheinlich erscheint, um die Begräbnisstätte des Märtyrers herum standen, dann haben wir in Repton eine weitere wirkungsvolle architektonische Repräsentation von Offb 6,9. Die Aufnahme bedeutender Formen, die speziell mit dem Märtyrer Petrus in Verbindung gebracht werden, passt zur mittelalterlichen Tendenz, auf Vorbilder zurückzugreifen, sei es in Religion, Politik, Literatur oder im Leben. Der 2019 verstorbene Peter Kidson8 war der Erste, der feststellte, dass die im Mittelalter bekannten salomonischen Säulen des heiligen Petrus oft nachgeahmt wurden, um bedeutende Orte in späteren Kirchen zu kennzeichnen. Dies geschah vielleicht am denkwürdigsten in der normannischen Kathedrale in Durham, deren Erbauung im Jahr 1093 begonnen wurde. Hier ist die selektive Verwendung von Spiralverzierungen auf der Oberfläche einiger ihrer massiven Pfeiler ein Hinweis auf die Bedeutung des Hochaltars sowie der Altäre in den Querschiffen.9 Viele Jahre lang galten diese Spiralen und andere Muster lediglich als Hinweis auf eine wiederauflebende angelsächsische Liebe zum Ornament, die in der neuen normannischen Kathedrale zur Schau gestellt werden sollte.10 Hinter dem Hochaltar in Durham befand sich der Schrein des heiligen Cuthbert, des mächtigsten nordenglischen Heiligen. Es ist daher vorstellbar, dass die Spiralsäulen auch die Anwesenheit der Reliquien des Heiligen kennzeichnen. Dies muss aber offenbleiben, da es andere Fälle gibt, in denen klar ist, dass solche Säulen die Stelle eines Altars ohne wichtigen Schrein markieren, wie im mehr oder weniger zeitgenössischen Kirchenschiff der Kathe­drale

7 Eric Fernie, Architecture and Iconography. Recent developments in the study of English Medieval Architecture, in: Architectural History Journal of the Society of Architectural Historians of Great Britain 32 (1989), 18–29. 8 Peter Kidson – Peter Murray, A History of English Architecture, London 1962, 30–32. 9 Eric Fernie, The Spiral Piers of Durham Cathedral, in: Nicola Coldstream – Peter Draper (Hg.), Medieval Art and Architecture at Durham Cathedral (The British Archaeological Association Conference Transactions for the year 1977), Abingdon 1980, 49–58. 10 Geoffrey Webb, Architecture in Britain. The Middle Ages, London 1956, 38.



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von Norwich, wo vier spiralförmige Trommelpfeiler um den Langhausaltar herum angeordnet sind. Die Planung der meisten frühen großen anglo-normannischen Kirchen bot wahrscheinlich relativ nur bescheidene Vorkehrungen für die Unterbringung von Heiligenreliquien, für gewöhnlich in der Apsis hinter dem Hochaltar.11 Diese Arrangements spiegeln sicher die liturgische Planung der großen Kirchen der Normandie wider, die größtenteils keine nennenswerten Heiligenreliquien hatten. Diese architektonischen Anordnungen gründeten sich jedoch auf der Autorität der alten Peterskirche, und Fortschritte in der Erforschung der mittelalterlichen Geometrie und Vermessung im 20. Jahrhundert haben gezeigt, wie stark die Dimensionen anglonormannischer Gebäude mit denen frühchristlicher römischer Basiliken übereinstimmen.12 Die Planung des östlichen Teils der Kathedrale von Durham aus dem späten 11. Jahrhundert war typisch normannisch mit einer einfachen zentralen Apsis, in der sowohl der Altar als auch der Schrein untergebracht waren. In der normannischen Kathedrale von Ely befanden sich an vergleichbarer Stelle hinter dem Hochaltar sechs wichtige weibliche Heilige. In Durham wird darüber hinaus in frühen Beschreibungen erwähnt, dass der Hauptschrein wie in Ely durch eine Plattform erhöht war, so dass der Heilige in seinem Schrein für die Gläubigen über dem Altar deutlich sichtbar gewesen sein muss. Nachdem die Kombination von heiligem Leichnam, Altar und Apsis am Beispiel des heiligen Petrus etabliert worden war, sollte die Erhebung von Cuthberts Reliquien auf einer hohen Plattform typisch für das 12.  Jahrhundert werden, in dem die Rhetorik der aufgeklärten normannischen Geistlichen laut wurde und forderte, „dass eine so helle Lampe und ein so leuchtendes Licht sich nicht unter einem Scheffel verstecken, sondern sozusagen auf einem Leuchter zu stehen kommen sollten“13. Der sich verstärkende Kult um englische Heilige im 12. Jahrhundert – nachdem die chauvinistische normannische Skepsis einer enthusiastischen Unterstützung gewichen war – bekam durch die Ermordung des Erzbischofs Thomas Becket im Jahr 1170 in der Kathedrale von Canterbury den stärksten Auftrieb. Die päpstliche Reaktion auf diese Schreckenstat – die unbeabsichtigte Folge eines Machtkampfes zwischen Kirche und Staat – war die Heiligsprechung von Becket im Jahr 1173. Im Jahr 1174 zerstörte ein katastrophales Feuer den neu errichteten Ostchor der Kathe­

11 Crook, The Architectural Setting (Anm. 4), 171–176. 12 Siehe etwa Eric Fernie, Observations on the Norman Plan of Ely Cathedral, in: Medieval Art and Architecture at Ely Cathedral (The British Archaeological Association Conference Trans­ actions for the year 1976), Leeds 1979, 1–7. 13 Liber Eliensis, übers. von Janet Fairweather, Woodbridge 2005, 275. Die Passage beschreibt die zweite Überführung des Leichnams von Etheldreda (Aethelthryth) durch Abt Richard von Ely (vgl. Mt 5,15; Mk 4,21; Lk 11,33). Die Erhöhung (engl. „elevation“) von Reliquien wurde wahrscheinlich durch den merowingischen Klerus initiiert.

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drale, Prior Conrads „Glorious Choir“. Diese Katastrophe, die der Chronist Gervase dem „gerechten, aber verborgenen Urteil Gottes“14 zuschrieb, führte zu einem Wiederaufbauplan, der für die Entwicklung der englischen Gotik von zentraler Bedeutung war. Der heilige Thomas sollte nun die meisten bereits mächtigen angelsäch­ sischen Heiligen in den Schatten stellen. Widmungen, Bilder und Reliquien des Heiligen verbreiteten sich rasch in ganz Europa, und die Mönche von Canterbury nutzten die Gelegenheit, den Ostchor ihrer Kathedrale so wiederaufzubauen, dass Thomas’ Ansehen und Ehre zum Ausdruck gebracht und sein Gedenken bewahrt werden konnte. Der Baumeister William von Sens in Nordfrankreich, wo die Kathedrale ein Pio­ nierbau des neuen gotischen Stils war, reparierte die verbrannten Außenwände des „Glorious Choir“ und entwarf einen völlig neuen zentralen Bau mit einer beeindruckenden östlichen Erweiterung. Die inneren Erhebungen übernahmen einige Grundideen von Sens, aber in Canterbury wurde dieses Schema – ziemlich außergewöhnlich – mit der umfangreichen Verwendung von farbigem Marmor kombiniert, um ein Interieur von sensationellem und numinosem Luxus zu schaffen. Dies war eine schillernde Darstellung der Heiligen Stadt. So jedenfalls war der Eindruck, der zwei irischen Mönchen entgegenschlug, die die Kathedrale viel später, im Jahr 1323, besuchten. Diese Symbolik, die in fast jeder größeren mittelalterlichen Kirche mehr oder weniger erfolgreich zum Ausdruck kommt, war ein besonders hervorstechendes Merkmal des Schreins des heiligen Thomas. Es gab vier Orte für Schreine in Canterbury. Hier sind zunächst zu nennen der Altar der Schwertspitze im nördlichen Querschiff, in dem der Mord begangen wurde, sowie Beckets erste Begräbnisstätte in einer neuen und geräumigen Erweiterung von Conrads alter Krypta. Direkt über letzterer, in der Dreifaltigkeitskapelle, erhob sich der Hauptschrein, und weiter östlich in der als Corona bekannten Kapelle befand sich der oberste Teil von Beckets Schädel, der bei seinem Mord abgeschlagen und in der Architektur der Kapelle durch ihren kreisförmigen Aufriss nachgebildet wird. Es wurden gewichtige Argumente dafür gefunden, in der Verwendung des milchig-rosaroten Marmors aus Belgien, kontrastiert mit grünlichem Purbeck-Marmor aus Dorset und hellweißem Kalkstein aus Caen, die gruselig-fromme Martyriumsgeschichte widergespiegelt zu finden. Die Mischung aus Weiß und Rot stellt Beckets Blut und Gehirn dar, die einer der Mörder absichtlich auf dem Pflaster verschüttete und die im mittelalterlichen Glauben das Wasser und Blut darstellten, das aus der durchbohrten Seite Christi floss.15 14 Robert Willis, The Architectural History of Canterbury Cathedral, London 1845, 32. 15 Christopher Wilson, The Gothic Cathedral, London 1990, 90. Diese wichtige Beobachtung von Wilson wurde weiter ausgeführt und in die Diskussion rund um die architektonischen Begleit­erscheinungen des Becket-Kults eingebettet von: Paul Binski, Becket’s Crown, New Haven 2004, 3–27.



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Der Einfluss Canterburys war weithin spürbar und in historischer Hinsicht unmittelbar. Der Wiederaufbau des Ostchors der Kathedrale von Lincoln in den 1190er Jahren nach einer weiteren Katastrophe – in diesem Fall ein Erdbeben, das die romanische Kathedrale, die Bischof Remigius im späten 11. Jahrhundert begonnen hatte, teilweise zerstörte – war eines der ersten großen Bauprojekte, die auf Canterbury folgten. Hier war der Erbauer Hugo von Avalon, Bischof von Lincoln und ein leidenschaftlicher Reliquienverehrer, der angeblich einen Teil der heiligen Maria Magdalena in Fécamp an sich gebracht hatte, indem er seine Zähne mit Nachdruck in einen der Knochen stieß. Hugo versuchte, die Heiligsprechung von Remigius zu bewirken, und dieser Ehrgeiz war zweifellos der Grund für den reichen und luxu­ riösen Charakter des neuen Bauwerks. Dieses spiegelte Canterbury in seinem hoch aufragenden Aufriss und in der Verwendung von kontrastierendem Stein und Marmor wider. Der Versuch, Remigius heiligsprechen zu lassen, schlug fehl, aber der enorme architektonische Aufwand war keineswegs umsonst, denn Hugo selbst wurde im Jahre 1220 heiliggesprochen. Dieses Ereignis sollte, wie wir sehen werden, Anlass für eine noch spektakulärere Ost­ erweiterung in Lincoln werden, auf eine solche Weise vorgenommen, dass ein Durchbruch durch die römische Stadtmauer erforderlich wurde. In den Jahren nach den Arbeiten in Canterbury und Lincoln wurden weitere aufwendige Erweiterungen errichtet, darunter in Rochester, York, Winchester, Worcester, Beverley, Ely und Durham, um den Schreinen der örtlichen Heiligen neue Räumlichkeiten zu bieten. Eine wichtige frühe Verbindung zu Northumbria, wo wir begonnen haben, ist Ely im Flachmoor von East Anglia. Die Hauptheilige hier war Etheldreda oder Aethelthryth, wie sie vor der Eroberung genannt wurde. Diese Tochter von Anna, dem christlichen König der East Angles, wurde in den 660er Jahren verwitwet nach Norden geschickt, um mit Egfrid, dem zwölfjährigen König von Northumbria, verheiratet zu werden. Unter dem Einfluss von Bischof Wilfred, der der Religionspolitik des erwachsenen Königs widersprach, floh Etheldreda vor ihrem Ehemann, um in das Nonnenkloster von Coldingham, das zu der Zeit unter der Leitung der Äbtissin Hilda stand, einzutreten. Dort legte sie dann die irdische Krone der Königin von Northumbria ab und nahm den Schleier in der Hoffnung auf den Himmel. Zu gegebener Zeit kam der König, um seine Königin zu holen, und die Überlieferung beschreibt ihre Flucht Richtung Süden zu ihrem Anwesen in Ely, verfolgt durch Egfrid. Die Geschichte erinnert an die Flucht Israels aus Ägypten mit dem Durchzug durch das Rote Meer, dass nämlich Egfrid durch die Flut im Fluss Humber aufgehalten wird, während Etheldreda und ihre Dienstmädchen fliehen. Mit Wilfreds Hilfe gründete Etheldreda in Ely ein neues Kloster (Teil der Mitgift ­ihrer ersten Ehe), das sowohl vor als auch nach der normannischen Eroberung zu ­einem der mächtigsten monastischen Zentren Englands wurde. Ely ist wie Durham, Canterbury, Norwich und andere eine klösterliche Kathedrale. In dieser einzigartigen englischen Einrichtung tritt der Bischof an die Stelle des Abtes, und es war der ehemalige Abt von St. Edmundsbury, Hugo von North­

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wold, der 1229 Bischof von Ely wurde. Er errichtete zwischen 1235 und 1252 eine sechsjochige östliche Erweiterung der großen anglonormannischen Kirche in Ely, die als „das Presbyterium“ bekannt, wurde und die in Gegenwart Heinrichs III. und seines ältesten Sohnes mit großer Pracht geweiht wurde.16 Der Hochaltar blieb in seiner normannischen Position, so dass das gesamte neue Gebäude für die Unterbringung der Schreine von Elys mehreren heiligen Jungfrauen und einer Reihe neuer Kapellen diente, von denen die Marienkapelle im Südschiff die wichtigste war. Die Jungfrau Maria war besonders bedeutend in Ely, wo sie natürlich der Archetyp von Etheldreda und ihren Schwesterheiligen war. Dieser Eindruck wird von den geschnitzten hölzernen Schlusssteinen des Hochgewölbes unterstützt. Einer davon zeigt Etheldreda auf dem Thron über dem Hauptheiligtum, ein anderer die Krönung der Jungfrau durch Christus. Diese selektive Verwendung von Bildern in einem Gewölbe, das sonst hauptsächlich mit blattverzierten hölzernen Schlusssteinen versehen ist, verdeutlicht die Beziehung zwischen der Jungfrau und Etheldreda. Es gibt nur einen weiteren mutmaßlichen Schlussstein im Gewölbe, der den heiligen Petrus als Mönch zeigt und von dem ich glaube, dass er für Bricstan of Chatteris steht. Bricstan ist eine etwas vergessene Persönlichkeit. Er wurde nie heiliggesprochen, doch im England des 12. Jahrhunderts wurde er als „lebendige Reliquie“ durch London geführt. Nachdem er zu Unrecht inhaftiert worden war, wurde er auf wundersame Weise durch die gemeinsame Intervention von St. Etheldreda und St. Benedikt freigelassen, wonach er klösterliche Gelübde ablegte. Seine geborstenen Fesseln, die Ely im Jahr 1116 überreicht wurden, hingen wie die Ketten des heiligen Petrus an einer der Säulen des neuen Presbyteriums. Pilger widmeten diesen Ketten sogar besondere Spenden.17 Wenn das Presbyterium von Northwold anhand der Details und der Verwendung von Marmor als abhängig von Canterbury angesehen werden kann, ist Ely besonders bemerkenswert wegen der großzügigen Verwendung von geschnitztem Laub. Möglicherweise hatte dieser Überfluss pflanzlichen Wachstums eine besondere Bedeutung für eine Heilige, deren erstes Wunder das Knospen und Sprießen ihres Wanderstabs war, den sie während einer kurzen Pause auf ihrer Flucht südlich von Northumbria in den Boden stieß. Die Symbolik der sprießenden Stäbe ist zu komplex, als dass sie hier thematisiert werden könnte; festzuhalten ist, dass der Stab Laub hervorbrachte, während seine Besitzerin schlief.18

16 Peter Draper, Bishop Northwold and the Cult of St Etheldreda, in: Medieval Art and Architecture at Ely Cathedral (Anm. 12), 8–27. 17 Die wundersamen Ketten waren seit 1116 in der Kathedrale und könnten in Verbindung zu einem Pilgersouvenir, bekannt als St Audrey’s Chains, stehen. Vgl. Fairweather, Liber Eliensis (Anm. 13), 322–325; siehe auch Ben Nilson, Cathedral Shrines of Medieval England, Woodbridge 1998, 155 sowie 236 für Spenden an die Ketten. 18 Aarons Stab „trieb Sprossen, blühte und trug Mandeln“ (Num 17,23). Dies ist der biblische Ursprung für die Assoziation von Stäben mit Heiligkeit, Jungfräulichkeit und Führung.



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An der Fassade der Kathedrale von Ely bilden konische Laubwucherungen die Vorsprünge zwischen den Bögen der Hauptarkade. Diese sind die Basis für die dünnen Säulen, die das Gewölbedach visuell unterstützen. Diese Laubkegel zeigen um den Schrein herum starken Wuchs, während dieser weiter östlich praktisch eingeschlafen zu sein scheint, was darauf hinweist, dass der schlafende Leichnam der Heiligen immer noch die Kraft hat, wundersames Laub hervorzubringen. In der Tat würde ich behaupten, dass das üppige Laub von Northwolds neuem Gebäude symbolisch durch die wundersamen Kräfte der Heiligen hervorgerufen wurde.19 Wenn wir Bedas Hymnus an Etheldreda betrachten, der Teil des frühesten Berichts über das Leben der Heiligen ist, finden wir den ausdrücklichen Zusammenhang mit der seligen Jungfrau Maria und mit späteren heiligen Jungfrauen wie Etheldreda sowie das Konzept ihrer Verbreitung als „Blüten“. Fair maid who gav’st the whole world’s Parent birth God gave thee grace. And by that grace empowered How many virgin blossoms since have flowered!20 Als Northwold gegen Ende seines Lebens bei der feierlichen Einweihung das vollendete Presbyterium betrat, hatte er bereits seinen eigenen Begräbnisplatz mit einem prächtigen Grabmal samt Bildnis am Fuße von Etheldreda vorbereitet. Als er, wie berichtet, die Worte des Nunc dimittis aussprach, hatte er sicherlich unter der Wirkung des vollendeten Presbyteriums die himmlische Belohnung für das keusche und treue Zeugnis der Heiligen vor Augen, deren Schutz er suchte. Simeon hatte Christus gesehen, aber in diesem wunderbaren Gebäude hatten Northwolds Augen ebenfalls „das Licht deiner Erlösung“ gesehen. Wenn dieser Vortrag eine Art Katalog von „Erlösung“ durch Katastrophen ist, die die Architektur betrafen, sei auch die spätere Geschichte von Ely erwähnt. 1322 stürzte der normannische Vierungsturm auf den darunterliegenden Chor. Bei dem großen Wiederaufbau, der bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts andauern sollte, wurden die verbleibenden Joche des normannischen Ostchors so umgebaut, dass sie mit viel Feinheit und Aufwand dem Werk von Northwold entsprachen, jedoch in der Architektursprache von 1320/40. Auf diese Weise haben zwei verschiedene Jahrhunderte ein einheitliches Interieur von neun Jochen geschaffen. Bischof John von Hotham bezahlte die Fertigstellung des Presbyteriums, und das Kloster sammelte die Mittel für den eigenen Chor in der Vierung. Hier mündete das neue Werk in ein kolossales Achteck und eine hölzerne Laterne an der Stelle des gefallenen Turms. Über dem Chorgestühl der Mönche ragten die steinernen Schäfte des Holzgewölbes aus

19 John Maddison, Ely Cathedral. Design and Meaning, o. O. 2000, 43–60. 20 Bede, Ecclesiastical History of the English People etc., übers. von Leo Sherley-Price, London 1990, 239.

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den Vorsprüngen, die noch ambitionierter waren als die von Northwolds Presby­ terium. Sie wurden mit Reliefs aus dem Leben und den Wundern der Etheldreda illus­triert. Im Hinblick auf diese Sequenz ist zu bemerken, dass hier zwei Wunder dargestellt werden. Auf einem Vorsprung zeigen außergewöhnlich große Figuren das Wunder des sprossenden Wanderstabs, auf einem anderen ist die Befreiung Bricstans durch Benedikt und Etheldreda aus dem Gefängnis dargestellt. Der polygonale Grundriss ist eine Form, die Richard Krautheimer in einem wegweisenden Artikel zu prestigeträchtigen Bestattungen, besonders in der Grabeskirche in Jerusalem, thematisierte und die von Konstantin zwischen 325/326 und 366 als Zentralbau entworfen wurde.21 Ich wäre nicht allein mit dem Argument, dass der achteckige Zentralbau in Ely die Begräbnisstätte der Heiligen weiter im Osten verkörpert. Das Achteck selbst hat aber auch regionale Bedeutung, denn es diente vornehmen Bestattungen auf seiner Nordseite, etwa der Bestattung angelsächsischer Wohltäter in einem Gruppengrab hinter und unter dem Chorgestühl der Mönche. Diese im späten 18. Jahrhundert zerstörte Anlage war mit Gemälden der Bestatteten ausgestattet und bildete einen wichtigen Anlaufpunkt für die Pilger auf dem Weg zu den Schreinen im Presbyterium von Northwold.22 Um 1350 gab es in Ely ein weiteres Pilgerziel, nämlich die neue Marienkapelle, die als eigenständiges Bauwerk an der Nordseite des Presbyteriums errichtet worden war und deren Grundstein unmittelbar vor dem Einsturz des zentralen Turms im Jahr 1321 gelegt worden war. Die Reliefs hier stellen eine typologische Beziehung zu den Oktogon-Reliefs von Etheldreda her, aber mit einer eigenen und viel längeren Sequenz, die das Leben und die Wunder Mariens zeigt. In diesem architektonischen Ensemble von Ely gibt es daher eine Reihe monumentaler Räume, deren Bildmaterial und Dekoration das Leben der Heiligen Jungfrau Etheldreda feiert und dieses – mit Hilfe von Kunstwerken aus dem 13. und 14. Jahrhundert – mit reichlichen Gelegenheiten zur Verehrung ihres großen Archetypus, der Jungfrau Maria, verbindet. Für die Pilger zu den Grabmälern von Ely gab es in einem einzigen Gebäudekomplex ein Fest von heiligen Stätten. Wir lenken nun unsere Schritte bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts zurück, um die Grablegungskirche zu besichtigen, die die spätgotische Bewegung in diesem Land anführte. Es handelt sich um den Neubau von Westminster Abbey durch Heinrich III. zwischen 1245 und 1269. Hier waren die beabsichtigten Funktionen des neuen Gebäudes komplex: Sie verbanden das Grabmal von St. Edward dem Bekenner mit der Krönungskirche der englischen Könige und dem dynastischen Mau21 Richard Krautheimer, Introduction zu „An Iconography of Christian Architecture“, in: Journal of the Courtauld and Warburg Institutes 5 (1942), 1–33. Zentralisierte Bestattungsgebäude haben sehr alte Ursprünge, z. B. die Gräber der Kaiser Augustus und Hadrian. 22 Philip Lindley, The Imagery of the Octagon at Ely, in: Journal of the British Archaeological Association 139 (1986), 75; Maddison, Ely Cathedral (Anm. 19), 61–82; Paul Binski, Gothic Wonder, New Haven 2014, 187 ff.



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soleum der Plantagenet-Linie. In Frankreich wurden diese Aufgaben gleich von einer Gruppe neuer Gebäude übernommen, in denen ein neuer architektonischer Stil, „Rayonnant“ – benannt nach den auffälligen durchbrochenen Rosettenfenstern –, eine radikale Abkehr von dem von uns bedachten kunstvollen und reich marmorierten englischen Stil darstellte. Die aufstrebende neue Kathedrale in Reims, nach 1211 begonnen, war die französische Krönungskirche, während die Angehörigen des Hauses Capet in Saint-Denis begraben wurden, dessen Wiederaufbau ab 1231 im Gange war. Wenn aber irgendetwas den Schrein des heiligen Denis übertreffen könnte, dann war es der neue architektonische Schrein, den Louis in Paris gebaut hatte, um eine Dornenkronenreliquie zu beherbergen: Sainte-Chapelle (1238– 1248). Dieses architektonische Kunstwerk wurde von Heinrich III. von England mit Neid betrachtet, und beim Neubau von Westminster Abbey vereinigte er einige ihrer besten Merkmale in einem einzigen Gebäude: den Plan und den Großteil des Maßwerks aus Reims, die Querschiff-Rosettenfenster aus Saint-Denis sowie die Querschiffe von Notre-Dame und die markant geschwungenen dreieckigen Außenfenster des mittleren Stockwerks aus der unteren Kapelle von Sainte-Chapelle. Die architektonische Dekorierung in Westminster mit der kostspieligen Verwendung von Damaszierungen, geschnitzt und in Farbe und mit Blattgold ausgeführt – in Kombination mit den neuen Mitteln der Rayonnant-Architektur –, vermittelte im ursprünglichen Zustand die Wirkung der kostspieligen Metallarbeiten, die sich an den juwelengeschmückten und vergoldeten Reliquiaren bedeutender Heiliger finden. Inmitten dieses großartigen Raumes, hinter dem Hochaltar und umgeben von königlichen Gräbern, befand sich der Schrein des heiligen Edward. Auf einem kostbaren Marmorsockel erbaut und von römischen Handwerkern mit feinen Mosaikornamenten in Cosmati-Technik dekoriert, verfügt der Schrein über die üblichen Nischen, in die die Gläubigen ihre Köpfe und Votivgaben stecken konnten, flankiert von kleinen salomonischen Spiralsäulen. Obwohl das mittelalterliche Reliquiar während der Reformation zerstört wurde, lässt sich ein ungefährer Eindruck von seinem Aussehen anhand der rückwärtigen Tafel des Hochaltars von Westminster Abbey (ca. 1260) gewinnen, wo sich Imitationen von Goldschmiedearbeiten aus Gips, Blattgold, Glas und Zinnfolie finden, die als Rahmen für feine Tafel­bilder dienen. Wenn wir uns die architektonische Umgebung der Figur des heiligen Petrus auf diesem Retabel ansehen, sehen wir, dass sich die vergoldete architektonische Umgebung des Heiligen von einem Feld von Damaszierungen abhebt. Das Mauerwerk der neuen Abteikirche wurde in genau gleicher Weise mit bemalten und vergoldeten Damaszierungen ausgestaltet. Im Fall von Westminster Abbey wird somit die gesamte Kirche zum Reliquiar des Heiligen. So wie Canterbury ein halbes Jahrhundert zuvor den Kurs der englischen Architektur veränderte, brachte die große Schrein-Kirche Heinrichs III., Westminster Abbey, einen radikalen Richtungswechsel in der zeitgenössischen Architektur mit sich. Sie beschleunigte und kanalisierte die englische Vorliebe für reiche Oberflächen­ dekoration und setzte den Erfindungsreichtum englischer Maurer durch das neue

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Medium der Fenstergestaltung frei. Eines der ersten Bauwerke, das die Wirkungen von Westminster widerspiegelte, war der sogenannte Angel Choir (Engelschor) in Lincoln. Dieser erweiterte das Werk von Hugh of Avalon um fünf neue Joche, die 1255 begonnen und 1280 vollendet wurden, als der Leichnam von Hugh of Avalon, der 1220 heiliggesprochen worden war, feierlich überführt wurde. Dies erforderte den Abriss des Ostendes von Hughs eigenem Chor, was jedoch durch das neue Werk mehr als kompensiert wurde. Der Angel Choir folgt in mehreren Details dem Presbyterium von Northwold in Ely, aber die Erbauer von Lincoln mussten im Jahr 1255 auch die schillernde Neuheit von Westminsters geometrischem Fenstermaßwerk berücksichtigen. Was in Ely Gruppen von schlanken Lanzetten gewesen waren, wurde daher in Lincoln zu eleganten Gittern aus folierten Kreisen. Die bemerkenswerten geschnitzten Engel, die die Zwickel des zweiten Stockwerks der Erhebung bewohnen, bilden ein himmlisches Orchester um den Leichnam Hughs herum und sind von ähnlichen Figuren im südlichen Querschiff der Westminster Abbey abgeleitet. Solche Engelsgruppen sind auf Reliquien aus dem 13. und 14. Jahrhundert zu finden, wo sie oft in Emaille ausgeführt sind und sich hier wie in diesen Miniaturschatullen auf die Bewohner der himmlischen Stadt beziehen, die wahre Heimat des Heiligen.23 Abschließend müssen wir nach Durham zurückkehren, um diesen großen Neubau zu betrachten, der den Ruheort für St. Cuthbert so wesentlich verbessert hat: die Kapelle der Neun Altäre. Der früheste dokumentierte Beleg für diese wichtige Transformation des östlichen Bereichs der Kathedrale ist ein Dokument von 1235, das von Hugo von Northwold im Jahr nach Beginn seines Ely-Presbyteriums herausgegeben wurde. Richard Poore, Bischof von Durham, wollte den neuen Anbau am östlichen Ende seiner Kathedrale errichten lassen und bot denjenigen, die dazu beitragen wollten, einen Bußerlass von 30 Tagen. Die hier benannte Notwendigkeit für diese Arbeiten ist für unser Thema besonders wichtig: Die Steingewölbe, die fromme Männer früher über dem Grab von St. Cuthbert errichtet hatten, waren jetzt voller Risse und Spalten und drohten zu zerfallen. Bei den fraglichen Gewölben handelte es sich um die ursprüngliche Decke, etwa um 1100 errichtet.24 Im Rahmen dieses neuen Projekts sollten die Gewölbe vollständig bis zum Vierungsturm hin erneuert werden. Northwold betonte, dass diese Arbeit unternommen wurde, um „den Leichnam des heiligen Bekenners passender und sicherer zu verwahren“. Weitere Spendenaktionen für Durham wurden von einer Reihe englischer und schottischer Bischöfe gefördert, bevor die Arbeiten im Jahr 1242 begannen. Die gute Kommunikation zwischen mittelalterlichen Geistlichen und ihr gemeinsames Interes­se an der Unterstützung ihrer jeweiligen Bauprojekte zeigt, wie wichtig es ist, 23 Sandy Heslop, The Iconography of the Angel Choir at Lincoln Cathedral, in: Paul Crossley – Eric Fernie (Hg.), Medieval Architecture in its Intellectual Context. Studies in Honour of ­Peter Kidson, London – Ronceverte 1990, 155. 24 Die Reliquien des heiligen Cuthbert wurden 1104 in die neue Kirche überführt.



Heilige beherbergen und ehren57

die zeitgenössischen mittelalterlichen Bauten nicht in regionaler Isolation zu betrachten, sondern zu beachten, wie sie in die Kultur ihres Umfelds passen. Die Neun-Altäre-Kapelle wurde erst 1279 fertiggestellt, als der Bischof von Norwich zum letzten Mal einen Ablass ausgerufen hatte.25 Es ist daher nicht verwunderlich, dass der architektonische Einfluss des Maßwerks von Westminster Abbey in der in Durham übernommenen reichen Komplexität des großen Nordfensters in dem ansonsten relativ konservativen Bauwerk besonderen Eindruck macht. Bischof Hugh le Puisset hatte im späten 12. Jahrhundert versucht, das östliche Ende der Kathedrale von Durham zu erweitern, war auf Widerstände gestoßen und hatte schließlich aufgegeben. Er baute stattdessen den westlichen Narthex. Es war wahrscheinlich das abfallende Terrain Richtung Osten, das zum Bau eines großen Querschiffs im Osten führte. Das Vorbild war hier die Kapelle der Neun Altäre in der Fountains Abbey in Yorkshire, die zwischen 1203 und 1211 begonnen wurde.26 Die Arbeiten in Durham sind wesentlich verzierter als in Fountains. Obwohl in beiden Bauwerken Marmorschäfte verwendet wurden, kommt in Durham der einheimische fossilhaltige Frosterley-Marmor viel besser zur Geltung. Durhams Formen sind auch schwerer; sie reagieren so vielleicht auf die Wucht des normannischen Bauwerks. Ein wichtiger Unterschied zwischen den beiden ist, dass das abfallende Gelände in Durham zur Folge hat, dass der Boden des westlichen Querschiffs erheblich unter dem Niveau des normannischen Ostchors liegt. Dies verleiht der Basis des Schreins in der neuen Anordnung eine beachtliche Bedeutung, ähnlich wie beim Rednerpult in einer antiken römischen Basilika. Als zwischen 1376 und 1380 die zahlreichen Tabernakel und Zinnen des Neville-Lettners hinter dem Hochaltar errichtet wurden, wurde in diesem Zusammenhang ein neuer Sockel für das CuthbertGrabmal gebaut. Laut Christopher Wilson verbarg der neue Lettner aber nun den Schrein, der bis dahin hinter dem Hochaltar sichtbar gewesen war. Dies ist ein frühes Beispiel für einen Trend, der sich auch in anderen Kathedralen verfolgen lässt, wie etwa in St. Albans und Winchester, nämlich den Altar optisch von den Heiligenschreinen zu trennen.27 Die Abgeschiedenheit der Hauptreliquie hat jedoch seine eigenen theatralischen und spirituellen Werte, und die kaum weniger reich verzierte Altarrückseite verlieh Cuthberts Schrein eine großartige Kulisse. Dies hat die liturgische Grenze zwischen dem Schrein und dem Rest der Kathedrale verstärkt und damit Raum für die Verehrung des Heiligen reserviert, nämlich diese großartige Visualisierung seiner himmlischen Behausung in der Form der Kapelle der Neun Altäre. 25 M. G. Snape, Documentary Evidence for the Building of Durham Cathedral and its Monastic Buildings, in: Coldstream  – Draper (Hg.), Medieval Art and Architecture at Durham Cathe­dral (Anm. 9), 23–25. 26 Peter Draper, The Nine Altars at Durham and Fountains, in: Coldstream – Draper (Hg.), Medieval Art and Architecture at Durham Cathedral (Anm. 9), 74–86. 27 Christopher Wilson, The Neville Screen, in: Coldstream – Draper (Hg.), Medieval Art and Architecture at Durham Cathedral (Anm. 9), 90–104.

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Gedenken als Handlung59

Gedenken als Handlung Liturgie und Heilung verletzter Erinnerungen

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In den vergangenen zwanzig Jahren gab es ein zunehmendes Interesse am Thema der Vergebung als unerlässlicher Weise der Heilung verletzter Erinnerungen in einer Gesellschaft, die durch Gewalt, Schmerz und den gähnenden Abgrund der Intoleranz gegenüber dem Andersartigen gekennzeichnet ist. Viele Forschungsarbeiten sind zu dem Schluss gekommen, dass nach so großem Schmerz, nach Verletzung und Leiden in solchem Ausmaß Vergebung nicht nur die verwundeten Erinnerungen heilt, sondern auch verändernde Kraft und gesundheitlichen Nutzen hat. Die meisten dieser Studien zeigen verschiedene Wege der Vergebung auf: traditionelle Rechtsprechung wie im Fall von Ruanda und die zunehmende Wendung hin zu säkularen und spirituellen Vergebungsmethoden zur Heilung von Alkoholikern und in familiären Beziehungen.1 In den meisten Fällen wird Vergebung entweder als innere Emotion oder als äußeres, lernbares Verhalten untersucht. Dieser Beitrag setzt voraus, dass Vergebung sowohl emotional als auch verhaltensbezogen ist und somit „als Handwerk im Kontext einer lernenden Tugend [A. T.]“2 erlernt werden kann. Ich schlage das Ritual als ein notwendiges Werkzeug vor, wenn es um das Handwerk der Vergebung und der Heilung geht. Der Grund ist, dass das Ritual imstande ist, bei einem Menschen gleichzeitig die emotionale Dimen­sion und die des Verhaltens zu erreichen. Das Ritual hilft, sich richtig zu erinnern, indem es hier und jetzt vergegenwärtigt, was memoriert ist, und so die Vergangenheit der Gegenwart er-innert (engl. „making the past re-membered to the present“). Durch das Ritual wird die Vergangenheit gleichzeitig mit der Gegenwart. Daher können wir durch rituelle Handlungen auf verlorene Erinnerung zurückgreifen, die durch die auferlegte Amnesie angesichts des Leidens verloren gegangen ist, 1 2

Vgl. die John Templeton Foundation, die seit 1998 Forschungsstipendien für Studien zum Thema „Vergebung“ vergibt. Weitere Wissenschaftler sind Robert Enright und Joanna North, die aus psychologischer Perspektive die positiven Folgen von Vergebung untersuchen. L. Gregory Jones, Embodying Forgiveness. A Theological Analysis, Grand Rapids 1995, 210 f. Von aristotelisch-thomistischen Kategorien ausgehend, postuliert Jones, dass Vergebung in derselben Weise wie Tugenden als ein Handwerk gesehen werden sollte und darum erlernbar ist.

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und sie zum Ausdruck bringen. Konkrete rituelle Handlungen wie Gesten, Trinken, Essen, Salben, Waschen, Tanzen, Singen und das Erzählen des vergangenen Ereignisses können dem Gedächtnis Leiblichkeit (engl. „flesh“) geben und so dazu beitragen, auf eine andere und bessere Zukunft hoffen zu können. Die Erfahrung hat gelehrt, dass, wann immer eine Gesellschaft Identität, Reife, Individualität und sogar akademische Ehren zuspricht, sie dies auf rituelle Weise tut. Ebenso verfügt die christliche Gemeinschaft über formale symbolisch-rituelle Handlungen, die als Instrumente dazu dienen, Vergebung als einen Habitus in ihre Mitglieder einzuschreiben. Und um zu zeigen, dass das Ritual imstande ist, verletzte Erin­nerungen zu heilen, indem es Vergebung bewirkt, wird dieser Vortrag eine Geschich­te von Vergebung und Heilung aufgreifen, die sich am Hekima University ­College in Nairobi zugetragen hat. Der Vortrag wird diese konkrete Erfahrung von Ritual und Vergebung untersuchen und nachzeichnen, wie Rituale sowohl der Erinnerung und der Bedeutung der Zeit als auch dem Verhältnis zwischen Vergebung, Erinnern und Heilen Leiblichkeit verleihen.

1.

Unser größtes Problem ist das Schweigen

Im Jahr 2004, als ich Student war, nahm ich an einem Seminar am Hekima University College in Nairobi teil, das den Titel trug „Zehn Jahre nach dem Ruanda-Genozid: Hoffnung auf Heilung [A. T.]“3. Ich war nicht wirklich daran interessiert, dieses Seminar zu belegen, weil jeder, der über den Genozid in Ruanda4 sprach, das

3 4

Dieses Seminar war vor allem für ruandische Studierende beworben worden. Es war aber auch offen für andere Studierende, die unabhängige Einsichten in die Diskussion mit einbringen konnten. Der Genozid in Ruanda fand 1994 statt, als ein Flugzeug mit dem damaligen Präsidenten Ruandas, Juvénile Habyarimana, beschossen wurde und er zusammen mit Cyprien Ntaryamira, seinem Amtskollegen aus Burundi, ums Leben kam. Sie gehörten beide den Hutu an. Obwohl die Täter, die die Präsidenten ermordet hatten, identifiziert werden konnten, begingen die extremistischen und auch die moderaten Hutu, die eigentlich mit den Tutsi sympathisierten, ein Massaker von kolossalem Ausmaß an den Tutsi. Aus diesem Massaker wurde schnell ein Krieg aller gegen alle. Die Situation versetzte jeden und jede in hysterische Angst, so dass „töten oder getötet werden“ auf der Tagesordnung stand. Das Morden dauerte 100 Tage, 800 000 Menschen kamen dabei ums Leben. Tausende wurden innerhalb des Landes oder in andere Länder vertrieben. Die meisten ruandischen Teilnehmenden beim Seminar in Hekima waren zu diesem Zeitpunkt bereits Teenager und somit Augenzeugen dieses Mordens. Präsident Paul Kagame führte anlässlich des 25. Jahrestags des Massakers eine wiederkehrende Gedenkveranstaltung am Ort des Genozidmahnmals ein. Es ist jedoch darüber hinaus längst üblich, dass die Ruander jedes Jahr 100 Tage lang des Völkermords gedenken, weil das Töten so lange gedauert hat.



Gedenken als Handlung61

Gleiche darüber zu sagen schien, was passiert war und worin die Ursache lag. Als ich den Raum betrat, war ich froh zu sehen, dass viele Ruander am Seminar teilnahmen. Ich erwartete also, wir würden im Anschluss an die Erfahrung dessen, was den Genozid vor Ort ausgemacht hatte, einen regen Austausch haben, weil ja viele der ruandischen Studierenden, die am Seminar teilnahmen, von diesen Ereignissen betroffen waren. Mein Interesse bestand außerdem darin herauszufinden, wer unter den ruandischen Studierenden der Volksgruppe der Hutu und wer der Volksgruppe der Tutsi angehörte. Möglicherweise hatte ich eine völlig falsche Erwartung, da es für mich ein sehr enttäuschender Tag war, weil ich vor einer geschlossenen Wand des Schweigens stand – sogar als ich versuchte herauszufinden, was damals geschehen war und wer zu welcher Volksgruppe gehörte. Da diese Wand des Schweigens uns Studierenden, die wir nicht aus Ruanda stammten, nicht zu verstehen half, stellte jemand die Frage, wer denn den Genozid begonnen habe. Ein ruandischer Student, der in der Ecke saß und während des gesamten Gesprächs ruhig gewesen war, sagte beinahe kreischend: „Es waren die Hutu!“ Die Reaktion, die auf diese Aussage hin folgte, zeigte mir, wer zu den Hutu und wer zu den Tutsi gehörte, weil ich nie zuvor ein Seminar erlebt habe, das derart von Schmerz und Wut erfüllt war wie an diesem Tag. Einer der ruandischen Studierenden sprach kein einziges Wort, aber sein Gesicht war erfüllt von Schmerz und Zorn. Er stand auf und verließ das Seminar. Der Professor begann jedoch, das Seminar von den Fragen, was geschehen war und wer welcher ethnischen Gruppe angehörte, wegzulenken und hin zum Heilen verletzter Erinnerungen durch Vergebung, gestaltet in liturgischen Versöhnungs­ riten. Er argumentierte, dass Vergebung durch rituelle Handlungen als Habitus gelernt werden kann, wenngleich sie niemandem aufgezwungen werden kann. Das Seminar lief nicht weiter so oberflächlich ab, wie ich es mir ausgemalt hatte. Tatsächlich war es von Beginn an selbst ein Ritual der Versöhnung, das in die Theologie der Vergebung und der christlichen Hoffnung eingehüllt war. Die Seminarstunden bestanden jeweils aus einer 30-minütigen Vorlesung, einer 45-minütigen Diskussion und der Vorbereitung einer gemeinsamen Liturgie der Versöhnung sowie einer 45-minütigen Zeremonie, die in der College-Kapelle stattfand und anschließend von den Seminarteilnehmern kommentiert wurde. Der Höhepunkt des Seminars war schließlich eine liturgische Feier des Sakraments der Versöhnung, die mit einer Prozession von draußen in die Kapelle hinein begann, während derer wir Beichtlieder, erfüllt mit Hoffnung auf Zukunft, sangen. Ein ruandischer Student leitete eine gemeinsame liturgische Gewissenserforschung an, für Einzelbeichten waren mehrere Priester eingeladen worden, es schloss sich ein gemeinsames Gebet um Vergebung an – und alle Seminarteilnehmer waren zu einem festlichen Essen eingeladen, bei dem wir unsere Gespräche zu dem fortsetzten, wie dieses Seminar uns bereichert hatte. Was mir in den Wochen des Seminars vor der abschließenden liturgischen Feier auffiel, war die wachsende Durchmischung und Entspannung unter denen, die sich im ersten Viertel des Seminars als Hutu und als Tutsi zu erkennen gegeben hatten. Sie alle begannen, sich nach und nach zu entspannen und miteinander zu reden;

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noch schöner waren die gegenseitigen Umarmungen am letzten Tag des Seminars. Der Austausch untereinander am Tisch während des gemeinsamen Essens, das wir das „Mahl der Vergebung“ nannten, war auch wunderbar mitanzusehen. Ich erinnere mich an zwei ruandische Studierende, die offensichtlich zwei verschiedenen ethnischen Gruppen entstammten. Sie verabredeten, gemeinsam nach Ruanda zu fahren und dort das Genozid-Museum zu besuchen. Später erfuhr ich überrascht, dass alle ruandischen Studierenden, die in den Ferien in Ruanda gewesen waren, das Museum besucht hatten, um die vielen Köpfe und Knochen der Toten des Genozids zum ersten Mal zu sehen.5 Die allgemeine Reaktion auf diese Erfahrung wurde in den abschließenden Worten eines ruandischen Kommilitonen, Juvenile Ndagijimana, an den Dozenten gerichtet, deutlich: „Alle Ruander sind verantwortlich für das, was in Ruanda geschehen ist. Die Erfahrung in diesem Seminar hat gezeigt, dass wir uns zehn Jahre lang geweigert haben, uns zu daran erinnern, was wir während dieser hundert verhängnisvollen Tage gesehen und erlebt haben. Unsere Wunden werden niemals heilen, wenn wir die Erinnerung an das, was geschehen ist, ausblenden und daran, was aus Menschen angesichts einer hasserfüllten Propaganda werden kann; noch wichtiger ist, dass wir begreifen müssen, dass wir keine Zukunft ohne Vergebung haben.“6 Die liturgischen Feiern drangen tiefer in das Schweigen ein als all unsere Fragen danach, was geschehen war, wer den Genozid begonnen hat und welcher ethnischen Gruppe der jeweilige Ruander angehörte. In seiner Arbeit The Journey of Reconciliation legt Emmanuel Katongole dar, dass – ungeachtet des wirtschaftlichen Erfolgs und trotz des Lobes durch die internationale Gemeinschaft für den Erfolg und die Entwicklung Ruandas nach dem Genozid  – das Hauptproblem Ruandas immer noch das Schweigen ist, welches schwieriger zu sehen, zu hören oder wahrzunehmen ist.7 Sein Besuch verschiedener historischer Orte und Schauplätze des Genozids in Ruanda haben ihn mit zwei Formen des Schweigens konfrontiert. Die Menschen waren grundsätzlich leise, reserviert, und sie zeichneten sich durch Distanz und Zurückhaltung aus – ganz anders als man es in den meisten afrikanischen Dörfern erlebt. Katongole beschreibt zweitens: „Wenn die Menschen ihre Überlebensgeschichten (oder ihre Erinnerung an ‚diese Tage‘) erzählten, gab es immer einen Punkt, von dem an die Menschen einfach ins Schweigen verfielen (oft mitten in der Erzählung). Als ich verschiedene Orte besuchte und mit verschiedenen Menschen sprach, hatte

5 Obwohl viele Knochen und Schädel zusammengetragen wurden, sind die Überreste von rund 255 000 Menschen immer noch in einem Massengrab bestattet. Wenn jetzt noch weitere Überreste gefunden werden, werden diese beim Genozid-Museum beigesetzt. 6 Am Ende des Seminars sprach ein Studierender in bewegender Weise dem Dozenten seinen Dank aus, indem er zum Ausdruck brachte, was das Ritual im Zusammenhang dieses Seminars in den nachfolgenden Wochen bei ihm bewirkt hatte. 7 Emmanuel Katongole, The Journey of Reconciliation. Groaning for New Creation in Africa, New York 2017, 38.



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ich außerdem das Gefühl, beobachtet, geprüft und befragt zu werden, aber schwei­ gend.“8 Dies war auch in unserem Seminar in Hekima offensichtlich; es verdeutlichte, dass wirtschaftliche Entwicklung Wunden begraben kann, die noch nicht geheilt sind. Außerdem war Katongole von einer Frau namens Juliet beeindruckt, die zu ihm bei einem seiner Besuche in Ruanda, nachdem er die Erfolgsgeschichte Ruandas thematisiert hatte, sagte: „Es gibt zu viele und viel zu schnelle Veränderungen. Das größte Problem dieses Landes ist aber das Schweigen. Viele spüren, dass ihre Geschichte keinen Platz in Ruanda hat. Sie folgen der Regierungspolitik, versammeln sich bei Kundgebungen und singen die Slogans der Regierung, aber sie halten Distanz zu allem.“9 Juliets Bemerkung war aufschlussreich, und sie fuhr fort: „Der Genozid hat uns zerstört. Man sieht die Menschen, die während des Genozids getötet haben … viele haben nicht aus Hass getötet. Sie haben die Nachbarn, die sie getötet haben, geliebt. Viele haben aus Angst getötet. Vielen machte man glauben, dass ihr eigenes Leben bedroht sei. Die massive Propaganda hatte damit Erfolg, viele Menschen in einen Zustand hysterischer Angst zu versetzen: töten oder getötet werden. Das hatte zur Folge, dass an sich friedliche Menschen ihre Nachbarn töteten. Christen töteten Christen; andere töteten Mitglieder ihrer eigenen Familien. Es war, als ob eine Bestie, von der niemand vermutete, dass sie in diesen normalerweise friedlichen Menschen schlummerte, plötzlich freigelassen worden wäre.“10

Juliet bemerkte, dass durch die Regierungspropaganda das Ereignis des Genozids ­alle Ruander – diejenigen, die getötet haben, und ebenso diejenigen, die nicht getötet haben – in eine Identitätskrise gestürzt hat. Die Krise entstand nicht aufgrund der Tatsache, dass es in Ruanda Hutu und Tutsi gibt. Sie ruft in Erinnerung: „Wir alle in Ruanda gehören den HUTSI an – wir sind beides, Hutu und Tutsi. Es gab immer schon Mischehen. Auf jeden Fall ist es der Stamm, der – viel mehr als die Frage, ob Hutu oder Tutsi – die Grundlage sozialer Identifikation in Ruanda bildete. Die Menschen empfanden mehr Loyalität gegenüber dem Stamm als gegenüber der Tatsache, ob sie Hutu oder Tutsi sind. Die Stämme in Ruanda bestanden sowohl aus Hutu als auch Tutsi.“11

Das größte Problem Ruandas besteht jetzt in der Nivellierung von Unterschieden und der Gleichmachung, die von Seiten der Regierung für alle verordnet wird und die die Menschen jetzt weder Hutu noch Tutsi sein lässt. Dies geschieht durch ­Slogans wie „Ich bin kein Tutsi, ich bin kein Hutu, ich bin Ruander (ndi umunyarwanda)“; solche Slogans heben nicht nur die Unterschiede auf, sondern schlimmer noch, sie unterdrücken die ethnische Identität eines Volkes. Bedauerlicherweise ist die manipulierte nationale Unterdrückung ethnischer Identität gleichzeitig auch die Unterdrückung der Erinnerung eines Volkes und insbesondere die Unterdrückung seiner

8 Ebd., 35. 9 Ebd., 38. 10 Ebd., 39. 11 Ebd.

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verletzten Erinnerungen. Einzelne Personen und Gemeinschaften müssen, um innerhalb einer solchen Gesellschaft in Frieden leben zu können, ihre Identität und i­ hre Individualität verleugnen: „Ich bin kein Tutsi, ich bin kein Hutu, ich bin Ruander (ndi umunyarwanda).“12 Die Folge dieser Propaganda in Bezug auf das, was in der Geschichte Ruandas geschehen ist, ist ein betäubendes Schweigen und ein Ort, an dem verletzte Erinnerungen begraben werden.

2.

Das Ritual lockert den Griff des Schweigens

Nach der Erfahrung in Hekima bin ich überzeugt, dass wir solche Menschen, denen Schweigen als Methode, verletzte Erinnerungen zu begraben, aufoktroyiert wurde, nicht zum Reden bringen können und dazu, bedeutsame Dinge zu berichten, um sie durch unsere bohrenden Fragen zu heilen. Vielmehr braucht es dafür symbolisch-rituelles Handeln, weil das Ritual nicht nur über die Fähigkeit verfügt, das vergangene Ereignis hier und jetzt lebendig werden zu lassen, sondern auch die Eigenschaft hat, die Opfer an den Ort zu bringen, an dem die Verletzung stattgefunden hat. Wichtiger noch, es verfügt über die Möglichkeit, die Teilnehmer eines Rituals zu schmerzhaften Erlebnissen vergangener Generationen zu führen, an denen sie selbst gar nicht beteiligt waren. Dies ist eine Herausforderung im Rahmen verschiedener Beratungsmethoden, weil das Heilen verletzter Erinnerungen eine Gemeinschaft und ein tatsächliches Wiedererleben des aus der Vergangenheit Erinnerten durch etwas sehr Konkretes erfordert, das nämlich dem, was in der Vergangenheit geschehen ist, hier und jetzt „Leibsein“ (engl. „gives ‚a body‘“) verleiht. Dieser Prozess, nämlich einem vergangenen Ereignis „Leib und Leben“ zu geben, erfordert narrative, symbolisch-­ rituelle Handlungen sowie die Gegenwart einer Macht, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verleihen kann. Diese Macht muss über die Kraft und Fähigkeit verfügen, jene andere Macht, die die verletzten Erinnerungen verursacht hat, zu überwinden. Darüber hinaus ist das Ritual nicht nur eine gemeinschaftliche Handlung oder eine Antwort auf ein Ereignis im Leben einer Gemeinschaft; ein Ritual verkörpert auch den Glauben einer bestimmten Gemeinschaft, indem es alle Teilnehmer an den Ort führt, wo die Verletzung stattgefunden hat. Daher behaupte ich, dass christliche Liturgie als eine offizielle gemeinschaftlich-rituelle Erinnerungshandlung (Memoria passionis, mortis, et resurrectionis Jesu Christi)13 eine überaus wichtige Handlung in

12 Dieser Slogan wurde in den meisten von der Regierung eingeführten nationalen Kundgebungen verwendet, mit dem Ziel, das gegenseitige Misstrauen unter den Angehörigen der verschiedenen ethnischen Gruppen einzudämmen. 13 Vgl. Johann Baptist Metz, Faith in History and Society. Toward a Practical Fundamental Theology, New York 2007, 88.



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jedem Heilungsprozess verletzter Erinnerungen ist. Denn sie verkörpert (engl. „­gives a body“) nicht nur die Erinnerung an das vergangene Ereignis, sondern gibt auch Hoffnung und Widerstandskraft, weil sie in der Gegenwart des Gekreuzigten und Auferstandenen geschieht, der die Mächte der Unterdrückung besiegt hat. Christliche Liturgie ist Gottes fortdauerndes Erlösungswerk, das im Leiden, im Tod, in der Auferstehung und in der Ausgießung des Heiligen Geistes seinen Höhepunkt erfährt. Wichtiger noch: Wenn Christen sich zum Gottesdienst versammeln, geschieht dies rituell und in der Gegenwart einer höheren Macht oder im Namen des drei­ einigen Gottes. Um es kurz zu sagen: Liturgie ist die Feier unserer Erlösung, die in der Gegenwart durch symbolisch-rituelle Handlungen gefeiert wird und die ihre Vollendung in der Zukunft als Vollendung des göttlichen Heilswirkens finden wird.

3.

Die Vergangenheit in der Gegenwart für die Zukunft erinnern (engl. „re-membering“)

Ich bin erstaunt und sehr froh über die positive wirtschaftliche Entwicklung, die – dank der vielen Anstrengungen der Regierung – in einem Land wie Ruanda nach der lähmenden Genoziderfahrung stattfinden konnte. Diese Entwicklung erfolgte jedoch über die Köpfe vieler Menschen hinweg, sowohl über die einzelner Personen als auch die von Gemeinschaften, die immer noch verletzte Erinnerungen in sich tragen, die aber dazu bewegt wurden, unter der Oberfläche und darum still zu bleiben. Das Versäumnis, verletzte Erinnerungen zu beachten, hat oft schwerwiegende Folgen, wie etwa die Annahme einer falschen Identität und die Leugnung des eigenen Selbst. Daher braucht es konkrete Handlungen, die dazu beitragen, dass sich einzelne Personen und Gemeinschaften in rechter Weise daran erinnern, was geschehen ist und wie die Erfahrung sie für immer verändert hat. Zuerst ist es wichtig herauszufinden, wie ein rechtes Erinnern für einen „gebrochenen“ Menschen und/oder eine ebensolche Gruppe auf bessere Weise lebensfördernd wirken kann als die Amnesie. Ich werde untersuchen, wie das Gedächtnis die jüdisch-christliche Identität und Individualität geprägt hat. Denn gerade im rituellen Erinnern hat man begonnen zu verstehen, dass es nicht nur Gottes Plan, sondern auch seine fortdauernde Heilspädagogik war, Menschen zu einem Volk zu machen. Dieses Gedächtnis wird mit dem hebräischen Wort zikkaron (dem griechischen Wort anamnesis oder dem lateinischen Wort memoria) erfasst. Zikkaron wird richtig als eine gegenseitige Erinnerung zwischen zwei Bundespartnern verstanden: Gott erweist sich dabei als immer treu und Israel als meistens untreu. In der hebräi­ schen Konnotation bedeutet dies: „Israel erinnert sich der großen Taten Gottes in der Perspektive, dass Gott sich selbst an sein Wirken am (an seinem) Volk er­in­

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nert.“14 Diese Dialektik ist besonders wichtig für Menschen, die von verletzten Erinnerungen umgeben sind, schlicht deshalb, weil – wie Israel sich im Exil an Jerusalem erinnert und Christen bei einem rituellen Mahl den gewaltsamen Tod Christi am Kreuz bedenken – ihre gegenwärtigen verletzten Erinnerungen sie dazu führen, dass sie in der Gegenwart in ihre Vergangenheit eintreten und so Gottes Versprechen der Befreiung für die Zukunft aktualisieren können. Walter Kasper schreibt, die Heilstat, die der Vergangenheit angehört, werde durch die Liturgie vergegenwärtigt, damit sie vor Gott gestellt werden könne: Man appelliere hier an das, was Gott in der Vergangenheit gewirkt hat, damit auch er sich erinnert und sein eigenes Wirken zur eschatologischen Vollendung führt.15 Daher blicke die Erinnerungshandlung in die Vergangenheit, um das, was in der Vergangenheit geschehen ist – nämlich im Leben einer komplett anderen Generation, die doch immer noch auf die Zukunft hin ihre Erfüllung ersehnt –, zu aktualisieren.16 Durch das Gedächtnis wird nicht nur das vergangene Ereignis gegenwärtig erfahrbar, sondern die kultische Versammlung und einzelne Personen werden in der Vergangenheit gegenwärtig oder dorthin transportiert.17 Aus der Sicht von Xavier Léon-­ Dufour „hat die Begegnung der Menschen mit Gott in der Liturgie hier und jetzt ein ‚Präsentsein‘ vor Gottes großen Taten zur Folge, so dass das Wort ‚sehen‘ verwendet werden kann, wenn von der kultischen Handlung die Rede ist: Komm, du wirst die Taten Gottes, der Menschen durch seine großen Taten in Schrecken versetzt, sehen.“18 Ebenso argumentiert Laurenti Magesa, ein afrikanischer Theologe, in seiner Paraphrase von Ngugi Wa Thiong’o. Magesa hält hier fest, dass „Erinnern nicht nur eine intellektuelle Übung ist, bei der die Vergangenheit dem Bewusstsein präsentiert wird. Es handelt sich radikaler um ein Er-innern (engl. ‚re-membering‘) […]. Es ist wie eine chirurgische Behandlung, bei der man abgetrennte Teile eines Körpers wieder zusammensetzt, […] bei der man zusammenbringt, was verloren oder zerstreut war, und demütig zulässt, dass das er-innerte (‚re-membered‘) Ganze wieder wie zu Beginn dasteht.“19 In der Liturgie kommt der erlösende Tag Gottes als eine gegenwärtige Begegnung zu uns. Daher „ist die rettende Vergangenheit, de-

14 Felix Mabvuto Phiri, Reconciliation. A Scandal of Divine-Human Self-emptying Love, Nairobi 2014, 147. 15 Vgl. Walter Kardinal Kasper, Sacrament of Unity. The Eucharist and the Church, übers. von Brian McNeil, New York 2004, 92. 16 Phiri, Reconciliation (Anm. 14), 173. 17 Xavier Léon-Dufour, Sharing the Eucharistic Bread. The Witness of the New Testament, übers. von Matthew J. O’Connoll, New York 1987, 107. 18 Ebd. 19 Laurenti Magesa, Re-membering Jesus in Contemporary Africa. Keynote Address to Gaba Conference on Justice, Peace, and Reconciliation – Current Challenges and Opportunities for the Church in Africa (25. September 2018), 11. Vgl. Ngugi Wa Thiong’o, Re-membering Africa, Nairobi 2009.



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rer wir in der Liturgie gedenken, in Wirklichkeit das jetzt wirksam rettende Ereignis der Erlösung, vergegenwärtigt im Symbol“20. In einem Artikel, der im Magazin New People21 erschienen ist, habe ich aufgezeigt, wie jüdisch-christliches Gedächtnis die Versammlung oder eine einzelne Person dazu bringt, an der Vergangenheit zu partizipieren: indem man sie ihnen nämlich in ihr Heute bringt. Bei einem jüdischen Sederabend steht der jüngste Junge des Hauses auf und fragt den Vater: „Vater, warum ist diese Nacht anders als alle anderen Nächte?“ Diese Frage bewegt den Vater, vom Eingreifen Gottes in das Leben ­Israels zu erzählen und so der Heilstaten, die Gott für Israel vollbracht hat, in der Gegenwart zu gedenken. „Du aber sollst vor dem HERRN, deinem Gott, folgendes Bekenntnis ablegen: Mein Vater war ein heimatloser Aramäer. Er zog nach Ägypten, lebte dort als Fremder mit wenigen Leuten und wurde dort zu einem großen, mächtigen und zahlreichen Volk. Die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns rechtlos und legten uns harte Fronarbeit auf. Wir schrien zum HERRN, dem Gott unserer Väter, und der HERR hörte unser Schreien und sah unsere Rechtlosigkeit, unsere Arbeitslast und unsere Bedrängnis“ (Dtn 26,5–7 nach EÜ 2016).

Die Ereignisse der Migration und Unterdrückung liegen in Wirklichkeit in einer fernen Vergangenheit, in der der Vater, der auf die Frage des Jungen antwortet, gar nicht anwesend war. Wenn er sich allerdings erinnert, indem er während eines rituellen Mahles erzählt, ist er in den Ereignissen gegenwärtig, weil er leicht vom Pronomen er innerhalb der Narration der Geschichte zu den Pronomina der ersten Person Plural uns, wir und dem Possessivpronomen unser übergehen kann. Dies ist schlichtweg so, weil dieses Ereignis für ihn keine ferne Vergangenheit mehr ist, und er besitzt es jetzt konkret dadurch, dass er sich rituell an die göttliche Tat der Befreiung erinnert. John H. McKenna legt dar, dass „diese Art der Erinnerung das Leiden, die Unterdrückung, aber auch den Kampf um die Befreiung wieder ins Gedächtnis ruft. Es gibt immer noch die Hoffnung, dass das Morgen besser sein wird. Unterdrückungsregime fürchten diese Art der Erinnerung und versuchen sie mitsamt ihren Wurzeln auszureißen. Es ist eine gefährliche und befreiende Erinnerung. Im Pessach-Gedächtnis nimmt Israel seine Vergangenheit als Gegenwart an, und dieses Geschenk garantiert ein Versprechen für die Zukunft.“22 Wenn es also das Ziel dieser vergangenen Ereignisse, insbesondere der Passion ist, „bis zur Vollendung“ zu lieben (Joh 13,1) und „die Gemeinschaft mit Gott [zu finden], die die Vergebung der Sünden voraussetzt, dann ist die Versammlung in die Gegenwart von eis telos hineingeführt, in das finale Liebes­ ende, in die Gemeinschaft mit Gott und in die Versöhnung durch die Vergebung der 20 Robert Taft, What is a Christian Feast? A Reflection. Vortrag bei der Orientale Lumen XII Conference 2008, „Feast Days of Eastern Churches“, San Diego 2008, 6. 21 Felix Mabvuto Phiri, Eucharist: Memorial of the Son, in: New People, Nairobi 2017. 22 John H. McKenna, Eucharist and Memorial, in: Worship 79 (6/2005), 505.

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Sünden“23. Durch Narrative und Rituale des Gedächtnisses bedenken die Gottesdienstteilnehmer nicht nur das vergangene Ereignis, sondern sie empfangen es als ein vergangenes Ereignis, das heute wirksam ist. Ich behaupte, dass es das Ritual ist, das dies ermöglicht, weil es imstande ist, das gegenwärtig Leblose (engl. „fleshless“) zu beleben (engl. „enflesh“) und auszusprechen, was dem Schweigen ausgeliefert war.

4.

Rituale verkörpern (engl. „give body to“) das Gedächtnis

Malidoma Patrice Somé, ein burkinischer Wissenschaftler und Ritualtheoretiker, argumentiert in seinem Buch Ritual: Power, Healing, and Community überzeugend für die Notwendigkeit von Ritualen für einzelne Personen und Gemeinschaften. Seine Argumentation ist auf beeindruckende Weise in einer einzigen Aussage zusammengefasst: „Wo das Ritual fehlt, sind die Jungen unruhig und gewalttätig, es gibt keine echten Älteren, und die Erwachsenen sind verwirrt. Die Zukunft ist trüb.“24 Dies ist deshalb so, weil, wenn einzelne Personen oder Gemeinschaften erschaffen werden, die Erschaffenden dies auf rituelle Weise tun. Victor Turner definiert das Ritual als „eine wiederkehrende Abfolge von Handlungen, die mit Gesten, Worten und Gegenständen verbunden sind, an einem abgesonderten Ort vollzogen werden und dazu konzipiert sind, übernatürliche Wesen oder Kräfte im Namen der Ziele und Interessen der Handelnden zu beeinflussen“25. Bezogen auf die christliche Liturgie ist das Ritual eine Zusammenstellung von Symbolen, deren Ziel das Gotteslob ist, d. h., die die Gemeinschaft und einzelne Personen dazu zu führen, sich selbst Gott darzubringen. E. Byron Anderson bekräftigt das Ziel und die Notwendigkeit von Ritualen im Gottesdienst als solche Handlungen, die den Glauben auf den Körper schreiben. Das Ritual vermag es, dem Glauben einen Körper zu geben, oder anders gesagt, es ist imstande, das, dessen wir in der Liturgie gedenken, auf unsere Körper zu schreiben. Er legt dar, warum physische Handlungen wichtiger sind als nur Worte; was unseren gesamten Körper erfasst oder was Feuer in unserem Bauch entfacht, beeinflusst unser Leben mehr als das, was nur mit Worten gesagt wird: „Tatsächlich ‚wissen‘ wir nicht nur oft mit unseren Körpern, bevor wir dieses Wissen in Worte fassen können, es gilt vielmehr auch, dass das, was wir mit unseren Körpern wissen und sagen, mächtiger ist als das, was wir mit Worten wissen und sagen. Sich bewegen bedeutet nicht einfach nur, sich zu bewegen, denn alle diese Bewegungen führen ständig Dinge aus und bringen zum Ausdruck, was unsere Worte nicht sagen oder nicht sagen sollten.“26

23 24 25 26

Phiri, Reconciliation (Anm. 14), 173 f. Malidoma Patrice Somé, Ritual: Power, Healing, and Community, New York 1993, 12. Joseph J. Fortuna, Ritual: Straitjacket or Dancing Shoes?, in: Liturgical Ministry 2 (1993), 57. E. Byron Anderson, Liturgy: Writing Faith in the Body, in: Liturgical Ministry 20 (2011), 174.



Gedenken als Handlung69

Um es mit den Worten von Robert Browning und Roy Reed27 zu sagen: Wenn wir uns als Gemeinschaft zu einer formalen rituellen Handlung versammeln, tun wir es nicht, um das Ritual durchzuführen (engl. „perform“), sondern wir versammeln uns, damit Rituale uns formen (engl. „perform“). Das bedeutet, dass „rituelle Handlungen und liturgische Partizipation unterbewusst in uns und an uns wirken und unser Handeln, das Wissen und In-der-Welt-Sein formen“28. Darum können wir in der Liturgie uns selbst in die Vergebung, Gemeinschaft und Versöhnung hinein singen, tanzen und klatschen. Singen und Tanzen wird und wurde in rituellen Kontexten in aller Welt bei Krieg, Begräbnisfeiern, Festen und Initiationen gebraucht, um nur einige Beispiele zu nennen, nicht nur um Menschen zu dem werden zu lassen, was sie hier aufführen (engl. „perform“), sondern auch um Transformation, Heilung, Gemeinschaft und Resilienz zu fördern. Die unterschiedlichen Handlungen, die in einer festgelegten Art und Weise und an einem dafür bestimmten Ort bei einem Gottesdienst ausgeführt (engl. „performed“) werden, haben die Fähigkeit, das Ziel der Handlung und die Identität in und auf die Körper der am Gottesdienst Beteiligten zu schreiben. Anderson schreibt: „Sonntag für Sonntag, Jahr für Jahr schreiben unsere liturgischen Praktiken ein affektives, physisches und bildliches Argument in unsere Körper ein, durch das wir uns selbst, unsere Welt und Gott immer mehr erkennen. Rituelle Wiederholung trainiert unsere Körper in solcher Weise, dass der Habitus liturgischer Gesten und Handlungen und ebenso das ethische Leben uns natürlich wer­ den.“29 So bekommen etwa durch das Ritual der Taufe eine christliche Gemeinschaft oder eine einzelne Person Christus auf sie geschrieben, „so versammeln wir uns physisch durch Wasser, Öl und Gewänder als fortwährende ‚Einfleischung‘ (engl. ‚en­ fleshment‘), als die ‚Ein-wohner‘ (engl. ‚in-habitants‘) des Leibes Christi in der Welt“30. Darüber hinaus ist Wiederholung von Ritualen in der Liturgie eine Weise, das christliche Gedächtnis und die christliche Identität kontinuierlich in unseren Körpern zu konstruieren und zu rekonstruieren und so das Ziel unserer Rituale als Habitus in unseren Körpern zu kreieren. Paul Gruchow schreibt hierzu richtig: „Was auf den Körper geschrieben ist […], ist das, was in das Kontinuum unseres Lebens eingetreten ist. Ein solches Leben kann nicht für uns vorgefertigt werden; es kann nicht ‚von der Stange‘ gekauft werden. Wir machen es zu einem Habitus, indem wir erzählen und weiter­ erzählen, woran wir uns erinnern, wenn wir in dieser christlichen Gemeinschaft waschen, salben, essen und trinken, wir müssen selbst unseren Weg in das Leben hineintragen (engl. ‚wear‘). Um einen Ort, eine Erinnerung oder eine Identität zu bewohnen, reicht es nicht aus,

27 Robert Browning – Roy Reed, The Sacraments in Religious Education and Liturgy, Birmingham 1985, 76. 28 Anderson, Liturgy (Anm. 26), 173. 29 Ebd. 30 Ebd., 175.

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Felix Mabvuto Phiri diese nur zu kopieren oder nur zu besitzen. Vielmehr muss man darin ausharren (engl. ‚dwell‘) und sich selbst damit in einer organischen Weise verbinden: Es muss der Ort sein, wo das Herz wohnt.“31

Was wir hier sagen wollen, ist, dass das Ritual nötig ist, um verletzte Erinnerungen zu heilen, weil Rituale unsere Einstellungen, Gedanken, Emotionen, Gefühle, unsere Identität und Individualität formen. Außerdem lässt die Vorstellung von der Heilung schmerzender Erinnerungen ohne Rituale solche Dinge wie Vergebung, Versöhnung und Frieden als unnatürlich erscheinen, da diese dann nicht auf unsere Körper als natürliche Formen unseres Lebens geschrieben sind. Darum würden Erinnerungen körperlos bleiben, würde die Vergangenheit nicht rituell immer wieder ins Gedächtnis gerufen. Die Liturgie wirkt als Instrument dafür, heute die gefährliche Erinnerung an Verletzung auf unsere Körper zu schreiben, nicht um sie mit dem Durst nach Rache, sondern mit der Hoffnung auf Befreiung wiederzuerleben, weil wir in der Gegenwart des auferstandenen Christus sind, der die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer einzigen Erlösungsgeschichte vereinigt.

5.

Liturgie macht Zeit trans-historisch

Unsere Überlegungen konnten bis hierhin aufzeigen, dass Rituale der Erinnerung im Sinne einer gegenwärtigen Begegnung Fleisch und Blut (engl. „give flesh“) verleihen können sowie einen Ort, an dem uns klar wird, wohin wir von hier aus gehen wollen. Das ist so, weil sich in christlichen Liturgiefeiern die Fülle des göttlichen Heilswirkens von der Vergangenheit über die Gegenwart bis hin zur Zukunft erstreckt. Robert Taft weist darauf hin, dass mit der Auferstehung Christi eine transhistorische Zeit geschaffen wird, die durch den tatsächlichen Tag der Erlösung gekennzeichnet ist. Die Liturgie lässt diesen Tag zur Wirklichkeit werden, da durch das Ritual die Vergangenheit in Gleichzeitigkeit zur Gegenwart tritt und in ein Kontinuum von „presentiness“. „Die Aktualität, die presentiness von allem, ergibt sich nicht, weil wir etwas in der Vergangenheit feiern, sondern eine permanente, gegenwärtige Realität, ein anhaltendes Rufen und Antworten, ein neues Leben, das wir Erlösung nennen, die durch die Heilsereignisse ins Dasein gerufen wurde, die aber nur in ihrer Historizität vergangen sind.“32 Ins Verhältnis gesetzt zur Auferstehung Christi tritt die Zeit in ein Kontinuum von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als ein Tag der Erlösung. Taft bemerkt:

31 Paul Gruchow, Grass Roots. The Universe of the Home, Minneapolis 1995, 6. 32 Taft, What is a Christian Feast? (Anm. 20), 3.



Gedenken als Handlung71 „Aufgrund der Auferstehung ist Christus nun trans-historisch und zu jedem Zeitpunkt verfügbar. Wir dürfen in der geschichtlichen Vergangenheit niemals vom auferstandenen Christus sprechen. Sein Leiden ist historisch, aber der Christus, der auferstanden ist, existiert nicht dort hinten, sondern hier, und wir leben in der Spannung zwischen Gedächtnis und Hoffnung, zwischen dem Gedächtnis seines Leidens und in der Hoffnung auf sein Wiederkommen; wir stehen immer in der Gegenwart Christi, der immer für alle gegenwärtig ist. Hierin liegt die wirkliche Substanz unserer Anamnese.“33

Mit Blick auf das Neue Testament legt Taft dar, dass sich Gottes Zeit in Christus erfüllt hat, weil seitdem die Zeit mit der Fülle des Lebens durchtränkt wird. „Die neutestamentliche Zeit ist nicht irgendeine Zeittheorie, sie ist die Fülle der Zeit. Was sie unterscheidet, ist ihre Vollständigkeit, sie ist Pleroma […] eine neue Lebensqualität. Das eschaton ist weniger ein neues Zeitalter als eine neue Existenz […]. Seit unser Pleroma in Gott ist, sind wir nicht damit konfrontiert, dass die Vergangenheit zur Gegenwart oder gar die Zukunft zur Gegenwart gemacht wird, sondern das Ende wird Gegenwart, nicht im Sinne von einem Schluss, sondern im Sinne von Vollendung: Gott selbst ist uns rettend gegenwärtig.“34

Die Vollendung, das Pleroma, von dem hier die Rede ist, ist die Teilhabe am trinitarischen Leben Gottes. Daher „ist es hier die radikale Auswirkung, dass wir durch die Wieder-Erzählung des historischen Ereignisses in der liturgischen Zeit an exakt dem Ereignis teilnehmen, dessen wir gedenken. Auf diese Weise wird das Gedächtnis von einer noetischen Erinnerung in die Performance des Göttlichen oder die Teilhabe am Göttlichen transformiert.“35 Wir sagen also, dass „liturgische Zeit das Gedächtnis nicht nur an der Vergangenheit, sondern auch an der Gegenwart und der Zukunft ausrichtet, als eine Wiederaufführung“36 des Heilsereignisses, das sich nur in seiner Historizität in der Vergangenheit vollzogen hat. Wenn Menschen sich an großes Leiden, das sie in ihrer Vergangenheit erlebt haben, erinnern, wäre es naheliegend, dass dies ihren Wunsch nach Rache steigert. Aber im Gegenteil: Wie oben ausgeführt, geschieht das Erinnern in der Gegenwart Jesu innerhalb einer liturgischen Feier, formt das vergangene Ereignis Hoffnung und spornt zum Einsatz für Befreiung an.

33 Ebd., 5. 34 Ebd., 8. 35 Peter M. Candler, Jr., Liturgically Trained Memory. A reading of Summa Theologiae III. 83, in: Modern Theology 20 (3/2004), 433. 36 Ebd.

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6.

Felix Mabvuto Phiri

Vergebung und Versöhnung verleiblichen

Wie bereits erwähnt, habe ich im Seminar in Hekima die Erfahrung gemacht, dass angesichts so viel unterdrückten Schmerzes, der die Folge mutwillig zugefügten Leidens ist, bohrende Fragen zu dem, was geschehen ist, wie es geschehen ist und wie man sich jetzt fühlt, möglicherweise sehr wenig bedeuten, denn ein solches Leiden bedeutet das Ende der Worte. Die Opfer sind womöglich nicht in der Lage, auszudrücken, was sie genau fühlen, und zu erklären, was geschehen ist, da dies von persönlichen Gefühlen überschattet ist hinsichtlich der Frage, warum es ihnen widerfahren musste. Das ist der Grund dafür, warum verletzte und unterdrückte Erinnerungen lähmen, Menschen die Identität rauben und Individualität beeinträchtigen können. Wir benötigen etwas, das in der Lage ist, unser Leben neu zu formen und uns in vergebende, versöhnende und versöhnte Menschen zu verwandeln. Ich komme nun dazu, den Begriff der Vergebung mit Fleisch und Blut zu versehen (engl. „enflesh“), im Sinne eines Weges hin zur Heilung, weil das Evangelium ja sehr deutlich macht, dass das, was uns Gott ähnlich macht, die Vergebung ist, die wir jemandem anbieten, der uns verletzt hat, ohne einen Preis für die Vergebung zu bedenken. Im Zusammenhang mit der Rede von Vergebung lässt Matthäus Jesus die Bergpredigt mit einer Einladung abschließen: „Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“ [EÜ 2016]. Obwohl das Evangelium eindeutig Vergebung als einen Weg zur Ganzheit (Heiligkeit) hinstellt, müssen wir immer noch herausfinden, wie diese schwierige Realität zugänglich gemacht werden kann. Wir benötigen etwas, das imstande ist, uns in das zu transformieren, was wir zu werden hoffen. Das ist genau das, was mit dem Erinnern durch Handlungen gemeint ist: dass wir so transformiert werden, dass wir in Zukunft in einer bestimmten Art und Weise handeln, weil es etwas gibt, das jetzt auf uns einwirkt und das in einer konkreten Weise die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet. Ich kann den Stellenwert von symbolisch-rituellen Handlungen nicht genug betonen. Der entscheidende Punkt ist, dass wir Rituale benötigen, um Vergebung zu einem Habitus zu machen. L. Gregory Jones legt in seiner Arbeit Embodying Forgiveness dar, dass Vergebung „sich im Herzen des Lebens Jesu und des Apostels Paulus befindet. Sie wird im Vater­ unser und im Apostolischen Glaubensbekenntnis erwähnt, sie steht im Mittelpunkt der Feier der Kirche von Taufe und Eucharistie, und sie ist das verbindende Element in der Lehre von Gott, Christus, der Kirche, Ethik und Politik.“37 Daher ist der „allumfassende Kontext einer christlichen Darstellung von Vergebung der Gott, der in der trinitarischen Gemeinschaft, einer friedlichen, sich schenkenden Gemeinschaft, lebt und somit bereit ist, alle Kosten, die Vergebung mit sich bringt, zu tragen, um Menschlichkeit wiederherzustellen, für die Gemeinschaft in einem eschatologischen 37 Jones, Embodying Forgiveness (Anm. 2), 36.



Gedenken als Handlung73

Reich Gottes. Das heißt: Angesichts der menschlichen Sünde und des Bösen bewegt die Liebe Gottes zu einer Versöhnung durch kostbare Vergebung.“38 Dies bedeutet, dass „das Ziel christlicher Versöhnung nichts Geringeres ist als die Antwort auf Gottes barmherzige und vergebende Liebe, ein Ausdruck der Hingabe zu einer Lebensgestaltung – einem kreuzförmigen Leben der Heiligkeit, in dem wir danach trachten, Sünde zu verlernen und die Wege Gottes durch Umkehr zu ler­nen“39. Gregory Jones zeigt auf, dass Vergebung ein Handwerk ist, das durch die Kultivierung konkreter Habitus und Praktiken – immer in der Gegenwart Gottes – gelernt werden kann. In dieser Hinsicht ist Vergebung eine Tugend, die unseren Körpern nicht innerhalb vieler Jahre oder innerhalb von ein paar Tagen, sondern an einem einzigen Tag der Erlösung eingeschrieben werden kann, dann, wenn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als ein Tag der Begegnung mit dem rettenden Gott zusammengefügt (engl. „re-membered“) werden. „Das Handwerk der Vergebung umfasst den kontinuierlichen und sich ständig vertiefenden Prozess, in dem man Sünde durch Vergebung verlernt und durch bestimmte Gewohnheiten und Praktiken lernt, in Gemeinschaft zu leben – mit dem dreieinigen Gott, miteinander und mit der ganzen Schöpfung. Diese Priorität der Vergebung ist ein Zeichen für den Frieden der ursprünglichen Schöpfung Gottes […] und auch ein Zeichen für den hohen Preis, durch den eine solche Vergebung ermöglicht wird. In diesem Sinne verweist die Vergebung auf die andauernde primäre Aufgabe der Kirche, das unendlich kreative Geschenk neuen Lebens – im Angesicht von (oft schrecklicher) Sünde und dem Bösem – zu verkündigen.“40

Ich betone: Weil niemand Meister in der Schule der Vergebung ist, weil „niemand Vergebung lernt, bevor er wirklich jemandem vergeben hat, und weil auch ein früherer Akt der Vergebung nicht heißt, dass wir Meister in Bezug auf zukünftige Situa­ tionen sind, in denen es der Vergebung bedarf“41 – darum brauchen wir Rituale, ­damit wir es wieder und wieder auf unsere Körper schreiben, bis es ganz ein Teil von uns wird. Das ist so, weil Rituale imstande sind, Identität zu kultivieren, Selbstverständnis zu transformieren und Gebrochenheit zu heilen. Die übergeordnete Frage ist, wie wir der Vergebung Leiblichkeit geben (engl. „give body“), was wir als Notwendigkeit erkannt haben dafür, schmerzende Erinnerungen zu heilen.

38 Ebd., xii. 39 Célestin Musekura, An Assessment of Contemporary Models of Forgiveness, New York 2010, 80. 40 Ebd., xii–xiii. 41 Phiri, Reconciliation (Anm. 14), 253.

74

7.

Felix Mabvuto Phiri

Erinnern (engl. „re-membering“) als Handlung

Es ist wichtig, die Fülle anthropologischer Studien wahrzunehmen, die zeigt, wie sehr Rituale Transformationen ermöglichen, Identität verleihen und das Selbst stärken. Aus diesem Grund kann Vergebung als Handwerk gelernt werden und sich schließlich als Tugend etablieren. Die formalen symbolisch-rituellen Handlungen, die durch Zeichen Wirkung erzeugen, werden mit der Zeit und im Laufe der Zeit durch Vergebung verletzte Erinnerungen in befreite Erinnerungen verwandeln. Aus diesem Grund ist eine Liturgie, die gut geplant ist, gelegentlich wiederholt wird und nicht die Absicht hat, manipulieren zu wollen, ein wirksames Werkzeug, mit dem die Kirche Vergebung auf die Körper der Menschen schreiben muss und so diejenigen heilt, die in verletzten Erinnerungen versunken sind. Mit Ritualen können wir solchen Menschen Vergebung und Versöhnung zusprechen, die verwundete und verwundende Erinnerungen mit sich und an sich tragen – solche, die mit keinen Worten bewältigt werden können. Ich sage dies, weil es im Seminar in Hekima offensichtlich so war, dass durch Rituale nicht nur die Vergangenheit in die Gegenwart gerufen (engl. „re-membered“), sondern gleichzeitig eine neue Zukunft eröffnet wurde. Die Auswirkung dieses Erinnerns (engl. „re-membering“) durch rituelle Praktiken in der Gegenwart Gottes lag in der Vergebung, die zwischen den ruandischen Studierenden im Seminar stattgefunden hat. Das ganze Seminar erlebte die Erinnerung an die Verletzungen wieder, aber im Zusammenhang mit der Zukunft Gottes, die für immer durch Kreuz, Tod und Auferstehung Christi gekennzeichnet ist. Das Ritual hat die Realität ins Leben gebracht, dass der Sohn Gottes, der den Tod erlitten hat, auch von den Toten auferstanden ist und dass sie mit ihm die Erfahrung neuen Lebens nach so viel Gewalt und Schmerz teilen können. In der christlichen Liturgie, insbesondere in der Eucharistie, die das Opfer des Kreuzes ist, in der Gegenwart desjenigen, der für uns hingegeben und getötet wurde und der auferstanden ist, „entdecken wir, dass wir irgendwie bedacht (engl. ‚re-membered‘) sind, wiederhergestellt und sogar miteinander versöhnt“42. Durch symbolisch-rituelle Handlungen in der Gegenwart des gekreuzigten und auferstandenen Herrn waren wir zusammen als Seminar dazu eingeladen, Vergebung zu lernen und neu zu lernen und neu durch sie zu leben.

42 Katongole, The Journey of Reconciliation (Anm. 7), 43.



Gedenken als Handlung75

8. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Vergebung der Weg ist, verletzte Erinnerungen zu heilen. Deshalb muss sie als eine Tugend, in die wir uns einleben, immer und immer wieder gelernt werden. Die Liturgie der Kirche ist der hervorgehobene Ort, an dem Vergebung auf und in unseren Körper geschrieben werden kann. Daher müssen wir unsere Liturgien gut vorbereiten, so dass sie die Stifte sein können, mit denen Vergebung auf und in unsere Körper geschrieben wird. Darüber hinaus kann im Fall von Vergebung – die ein Handwerk ist, das niemand so leicht meistert – die Liturgie durch ihren wiederholenden Charakter die Teilnehmer in vergebende Menschen und Menschen, denen vergeben wurde, transformieren. Eine einzelne Handlung der Vergebung löscht die Vergangenheit nicht aus und verändert sie nicht, aber doch verändert sie die Zukunft – was wir wiederum jeden Tag neu lernen müssen. Die wiederholte rituelle Feier der Vergebung in Hekima führte dazu, dass „Opfer“ und „Täter“ durch kostbare Selbsthingabe in die Gemeinschaft mit und in Gott hin­ eingezogen wurden. Es hat in diesem Seminar für die meisten der ruandischen Studierenden mehr als dreizehn liturgische Versöhnungsriten gebraucht, bis sie die Wahrheit erkannten, die Ndagijimana, jener Student, der am ersten Tag den Seminarraum verlassen hatte, dann neu laut werden ließ: dass es nämlich keine Heilung ohne Vergebung gibt. Übersetzung: Andy Theuer

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Felix Mabvuto Phiri



Erinnerung zwischen Verortung und Mobilität77

Erinnerung zwischen Verortung und Mobilität Diaspora, Holocaust und Exil im Spiegelbild gegenwärtiger deutsch-jüdischer Literatur

Jessica Ortner

Das Thema Erinnerung ist ein breites Feld, das seit den achtziger Jahren ein stetig wachsendes Interesse erfahren hat. Als einige prägnante Beispiele der jüngeren Er­ innerungsforschung können naturwissenschaftliche, psychologische und informa­ tionstechnische Ansätze genannt werden, die sich mit verdrängter Erinnerung, dem ausgelagerten Gedächtnis des Computers oder neurologischen Netzwerken beschäftigen.1 Ich wurde eingeladen, um über die literaturwissenschaftliche Herangehensweise an das Phänomen der Erinnerung zu referieren. Die Verbindung von Literatur und Erinnerung ist einleuchtend, da Schrift von jeher zur Bewahrung von Erin­ nerungen eingesetzt worden ist. In jüngerer Zeit ist die literaturwissenschaftliche Herangehensweise stark von einer kulturwissenschaftlichen Forschungsrichtung inspiriert worden, die im deutschsprachigen Raum maßgeblich von Jan und Aleida Assmann geprägt wurde. Diesem Ansatz zufolge wird Literatur nicht mehr nur als Repräsentation von individuellen Erlebnissen verstanden, sondern als eines der substanziellen Medien kultureller Erinnerungen. Jan und Aleida Assmanns Begriff des kulturellen Gedächtnisses besagt, dass individuelle Erinnerung grundsätzlich in gemeinsame Erinnerungen eingebettet ist, die diese beeinflussen, formen, aber auch verhelfen, überhaupt zum Ausdruck kommen zu können. Kulturelle Erinnerungen umfassen Ereignisse, Persönlichkeiten und Narrative, die für ein Kollektiv als wertvoll angesehen werden, da sie dazu geeignet sind, die Identität dieses Kollektivs zu definieren. Diese Erinnerungen existieren nicht als solches, sondern werden von sozialen Gemeinschaften wie beispielsweise Staat, Familie, Kirche oder Firmen aktiv konstruiert und gefördert. Jedes Individuum ist naturgemäß Träger und Teilnehmer mehrerer solcher Erinnerungsgemeinschaften. Da sie nicht auf Erfahrung beruhen, müssen kulturelle Erinnerungen dem Kollektiv durch vielfältige Repräsentation und öffentliche Veranstaltungen zugänglich gemacht werden.

1 Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, 16.

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Jessica Ortner

Jan Assmann stellt gegenwärtig eine Konjunktur der Erinnerungsforschung fest, die er damit erklärt, dass die neuen elektronischen Medien eine kulturelle Revolu­ tion darstellten, die an Bedeutung der Erfindung des Buchdrucks gleichkomme.2 Zudem stellt er fest, dass das gegenwärtige historische Zeitalter dazu prädestiniert sei, das Interesse an dem Phänomen der kulturellen Erinnerungen zu verstärken. Zurzeit, so schrieb Assmann im Jahr 1992, erleben wir eine Epochenschwelle, in der die kommunikative Erinnerung der Generation der Zeitzeugen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts – des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts – auszusterben beginnt. So sei die dringende Notwendigkeit entstanden, ihre Erinnerungen in die kulturelle Erinnerung fortbestehender Medien (Schrift, Film, Monumente oder Mu­ seen) zu übertragen, um sie für kommende Generationen zu bewahren. Heute, da auch diejenigen aussterben, die den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust als Kinder und quasi unbewusst erlebten, haben wir diese Epochenschwelle längst hinter uns gelassen. Und noch ebbt die Faszination der katastrophalen Zeitperiode europäischer Geschichte nicht ab, und es erscheinen immer noch neue literarische Werke, Filme und Dokumentationen, die die Ereignisse des 20. Jahrhunderts von verschiedenen Blickwinkeln aus beschreiben. Besonders produktiv sind derzeit Autoren und Regisseure aus dem östlichen Teil Europas, die damit beschäftigt sind, die bis 1989 von der Sowjetunion diktierte Auffassung der Geschichte umzudeuten.3 Literatur ist eines der gewichtigsten Medien der kulturellen Erinnerung. Sowohl Augenzeugen als auch die Generationen, die nach 1945 geboren wurden, haben eine Fülle von literarischen Verarbeitungen des Holocausts und des Zweiten Weltkriegs verfasst. Besonders bedeutend ist momentan die Gattung des Familienromans, die häufig von Nachfahren der Augenzeugen und Überlebenden verwendet wird, um von einem autobiographischen Standpunkt aus ihre Familiengeschichte zu rekonstruieren und damit zugleich den Lesern ihr gemeinsames geschichtliches Erbe zugänglich zu machen. Dieser Vortrag befasst sich mit Beispielen deutsch-jüdischer Literatur, bei denen sich die Erinnerung an Holocaust, Exil und Antisemitismus mit Aspekten der jüdischen Religion verbindet. Auch die Beziehung zwischen Religion und Erinnerung ist evident, da sich diese auf Erinnerungen stützt, die in der Heiligen Schrift überliefert worden sind. In der jüdischen Religion spielt die Thora die zusätzliche Rolle, die Erinnerung an die Gründung des jüdischen Volkes wachzuhalten und damit dessen Fortbestehen zu garantieren. Gegenstand der Analyse sind die Werke der deutschjüdischen Autoren Barbara Honigmann und Vladimir Vertlib. Beide gehören einer weit verzweigten Gruppe von deutsch-jüdischen Autoren an, die nach 1945 geboren wurden und ab den 1980er Jahren begannen, ihre Familiengeschichte aufzuarbei2 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 11. 3 Zuletzt beispielsweise Ida des polnischen Filmemachers Paweł Pawlikowski (2013) und Sauls Sohn (Saul Fia, 2015) des ungarischen Filmemachers László Nemes. 



Erinnerung zwischen Verortung und Mobilität79

ten.4 Vertlib repräsentiert darüber hinaus eine Gruppe jüdischer Autoren, die aus der ehemaligen Sowjetunion eingewandert sind und sich demgemäß sowohl mit den Verbrechen des Nationalsozialismus als auch mit denjenigen des Kommunismus und dem strukturellen Antisemitismus des sozialistischen Regimes auseinandersetzen.5 Zum Einstig in die Analyse werde ich damit beginnen, zwei grundlegende Erinnerungsmodelle zu erörtern, die dazu dienen werden zu zeigen, wie das jüdische Erbe und die spezifische Geschichte des Judentums die Teilhabe an kollektiven Erinnerungen beeinflussen.

1.

Topologie der Erinnerung

In der antiken Mnemotechnik war Erinnerung eng mit dem Konzept des Ortes verknüpft. Cicero stellte fest, dass die Gedächtniskunst dem Prinzip folgt, „bestimmte Orte auszuwählen und von den Dingen, die man im Bewusstsein behalten will, geistige Bilder herzustellen und sie an die bewussten Orte zu heften“6. So werden D ­ inge (res) und Namen (verba) durch prägnante Bilder (imagines) ersetzt und in imaginären Räumen (loci) platziert.7 Durch ein inneres Durchschreiten der Erinnerungs­orte (collactio) kann man jederzeit die Erinnerungen abrufen. Dieser Gedächtnisraum könne eine „imaginierte Architektur mit vielen Räumen (ein Haus, ein Tempel), ein Garten, ein Labyrinth sein“8. Genutzt wurde diese Technik zum einen „für pragmatische Zwecke einer einzuübenden Erinnerungsrezeptur und zum anderen als ein Instrument zur Modellbildung für die Strukturierung und (offene oder verschlüsselte) Darstellung von Wissen“9. Cicero stellte die Mnemotechnik hauptsächlich in den Dienst der praktischen Rhetorik und nutzte sie als Werkzeug, das die „Vollständigkeit des zu erfassenden Wissens“, die „Wiederholbarkeit des Wissens“ und die „Klassifikation des Wissens“ ermöglichen sollte.10 Wie Frances Yates hervorhebt, diente die ars memoriae jedoch im Ursprung dem Totengedenken und – im übertragenen 4 Siehe z. B. Hartmut Steinecke, „Deutsch-jüdische“ Literatur heute. Die Generation nach der Shoah, in: L. Gilman Sander  – Hartmut Steinecke (Hg.), Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. Die Generation nach der Shoah, Berlin 2002, 9–16. 5 Siehe hierzu unter anderem Michaela Bürger-Koftis (Hg.), Eine Sprache – viele Horizonte … Die Osterweiterung der deutschsprachigen Literatur. Porträts einer neuen europäischen Generation, Wien 2009. 6 Cicero, De Oratore II 86, 351–354; zitiert in: Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (Anm. 2), 29. 7 Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, München 1990, 19. 8 Ebd. 9 Ebd., 18. 10 Ebd., 23.

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Sinn  – der Wiederherstellung von Ordnung, die der „Verwüstung des Zeichenraums“ durch Tod und Verderben entgegenwirkt.11 Das Abschreiten der Bilddeponien lässt das Vergangene und unkenntlich Gewordene wiederauferstehen.12 In Anlehnung an die durch die Mnemotechnik hergestellte Verbindung von Ort und Erinnerung kann auch der Raum einer Kirche oder einer Kapelle als konkreter Erinnerungsraum angesehen werden, bei dessen Durchschreiten verschiedene Elemente der christlichen Lehre festgehalten und somit vor dem Vergessen bewahrt werden. Die literaturwissenschaftliche Gedächtnisforschung hat sich eine Zeit lang stark an der Mnemotechnik orientiert und diese für bedeutende Analyseansätze fruchtbar gemacht. Insbesondere sei Renate Lachmanns Ansatz hervorgehoben, der intertextuelle Referenzen als kulturelle Erinnerungselemente deutet, die im „Raum“ des Textes eingelagert sind. Die heutige Erinnerungsforschung hat sich jedoch zunehmend von diesem topologischen Paradigma abgewandt und kulturelle Erinnerungsakte als einen Prozess definiert.13 Im Gegensatz zur ars memoriae ist Erinnern als Prozess kein vorsätzlicher Akt wie das auswendige Hersagen von Wissensgegenständen, und so sei die Übereinstimmung von Input und Output nicht garantiert.14 In seinem monumentalen Werk Les lieux de mémoire erreichte Pierre Nora eine Aktualisierung der verorteten Erinnerung, indem er „Ort“ im weitesten Sinne als geographische Orte, Denkmäler, wichtige Persönlichkeiten, Rituale definierte und somit der Entwicklung von Jan und Aleida Assmanns Begriff der kulturellen Erinnerung zuspielte. Nora beschäftigt sich explizit mit Erinnerungsorten, die die kollektive Erinnerung der französischen Nation repräsentieren. Dabei versteht er die ­lieux de mémoire als „künstliche Platzhalter für das nicht mehr vorhandene, natürliche kollektive Gedächtnis“ der französischen Nation und als „zersprengte Fragmente eines verlorenen oder zerstörten Lebenszusammenhangs“.15 Im Gegensatz dazu vertreten Jan und Aleida Assmann die Ansicht, dass die Manifestation von Erinnerungen in Schrift, Monumenten und Ritualen notwendigerweise die lebende und mündliche Überlieferung ablösen müsse. Wenn das „Erfahrungsgedächtnis“ der Zeitzeugen nicht verloren gehen soll, muss es durch materielle Datenträger und Artefak­te wie Buch, Schrift, Film, Texte, Bilder und Skulpturen in das „kulturelle Gedächtnis der Nachwelt übersetzt werden“.16 Somit seien Erinnerungsorte keine degenerierten Erinnerungen, sondern Medien, die den Zusammenhalt und die Identität der Erinnerungsgemeinschaft garantieren, indem sie Erfahrungen und Wissen

11 12 13 14 15

Ebd., 22. Ebd., 21. Assmann, Erinnerungsräume (Anm. 1), 28. Ebd., 29. Pierre Nora, Entre mémoire et histoire, in: ders., Les lieux de mémoire. Bd. 1: La République, Paris 1984; siehe Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, München 2005, 23 und Assmann, Erinnerungsräume (Anm. 1), 309. 16 Assmann, Erinnerungsräume (Anm. 1), 15.



Erinnerung zwischen Verortung und Mobilität81

über Generationsschwellen hinweg transportieren.17 Dabei verbleibt das überlieferte Wissen allerdings nicht statisch. Denn, so Aleida Assmann, „das Erinnern verfährt grundsätzlich rekonstruktiv; es geht stets von der Gegenwart aus, und damit kommt es unweigerlich zu einer Verschiebung, Verformung, Entstellung, Umwertung, Erneuerung des Erinnerten zum Zeitpunkt seiner Rückrufe“18. Die Erinnerungs­ gemeinschaft, die sich Erinnerungsorte in Form von „symbolischen Figuren“19 schafft, ist beispielsweise „von einer Einsicht, vom Willen oder einer neuen Bedürfnislage gelenkt“, die „zu einer Neubestimmung des Erinnerten veranlasst“.20

2.

Jüdische Erinnerung zwischen Mobilität und Verortung

Nicht nur Monumente und Artefakte, sondern „ganze Landschaften können als Medium des kulturellen Gedächtnisses dienen. Sie werden dann weniger durch Zeichen (‚Denkmäler‘) akzentuiert, als vielmehr als Ganzes in den Rang eines Zeichens erhoben, d. h. semiotisiert“, so Jan Assmann.21 Bereits Maurice Halbwachs, der Urvater der Erinnerungsstudien, verstand Palästina im Ganzen als „kommemorative Landschaft“ der christlichen Erinnerungsgemeinschaft. Durch sinnliche Wahrnehmung vom Ölberg, dem Ort Nazareth oder dem See Genezareth haben Pilger von jeher versucht, „tatsächliche Spuren des Weges Jesu wiederzufinden“ und sich hierdurch zu „versichern, dass es eben diese und jene Stelle war, an der er dieses gesagt, jenes getan [hat]“.22 Halbwachs ging es nicht darum zu untersuchen, ob „die Überlieferungen im Hinblick auf die heiligen Stätten wirklichkeitsgetreu sind“23. Stattdessen verstand er diese Orte als „geformte Erinnerung“, als zentrale Orte des kollektiven Gedächtnisses des Christentums. Das Wissen darum, was tatsächlich war, ist zweitrangig oder sogar überflüssig im Vergleich zu der Bedeutung, die diesen Orten über die Jahrhunderte hinweg zugemessen wurde, sowie der Ausbreitung dieser Bedeutungen, die nicht unabänderlich ist, sondern sich stets „den religiösen Überzeugungen und spirituellen Bedürfnissen der Gegenwart anpasst“.24

17 Aleida Assmann, Vier Formen des Gedächtnisses, in: Erwägen – Wissen – Ethik 13 (2002), 183–190, hier 189; Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (Anm. 2), 50. 18 Assmann, Erinnerungsräume (Anm. 1), 29. 19 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (Anm. 2), 52. 20 Assmann, Erinnerungsräume (Anm. 1), 29. 21 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (Anm. 2), 60. 22 Ebd., 41 und 60; Maurice Halbwachs, Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis, Konstanz 2003 [1941], 13. 23 Halbwachs, Stätten der Verkündigung (Anm. 22), 20. 24 Ebd., 21. Siehe auch Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (Anm. 2), 52, über den Mythos.

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Was die kulturelle Erinnerung des Judentums betrifft, begründet paradoxerweise gerade die Eigenschaft der Landschaft als Erinnerungsort eine Entortung der kulturellen Erinnerung. Aleida Assmann stellt fest, dass die Landschaft im alten Israel die Funktion gehabt habe, das Fehlen eines Tempels auszugleichen. Da es keine Tempel gab, „die eine dauerhafte Präsenz Gottes verbürgten“, wurden bestimmte Stellen in der Landschaft zu Erinnerungsorten, die das Gedächtnis an eine „einmalige und vergangene Gottesbegegnung markierten“.25 Mit der Errichtung des ersten Tempels erhielt das jüdische Volk erstmals einen heiligen Ort numinoser Präsenz, so dass die landschaftlichen Erinnerungsorte an Bedeutung verloren. Die Zerstörung dieses Tempels bedeutete wiederum, dass die Thora die Funktion eines ortsentbundenen, mobilen Tempels bekam. Mit den Worten Heinrich Heines wurde die Thora zu einem „portativen Vaterland“, das das Überleben der jüdischen Gemeinschaft im Exil ermöglichte.26 Die Zerstörung des Tempels begründete also eine entortete Erinnerungspraxis, die ohne Territorium und zentralen Ort der Erinnerung auskommen musste. Noch nachdrücklicher stellt Jan Assmann fest, dass die kulturelle Erinnerung des Judentums bereits seit seinen Anfängen entortet war, da Exodus und Wüstenwanderung der Landnahme und der Erbauung des Tempels vorausgingen. Völlig unabhängig von „der Frage seiner Historizität“ sei der Exodus „der Gründungsmythos Israels: Als solcher wird er im Pessach-Fest begangen und als solcher gehört er ins kulturelle Gedächtnis des Volkes.“27 Damit habe sich das jüdische Volk in einem ganz neuen Sinne von der Kultur der Nachbarvölker unabhängig gemacht. Im Judentum habe nicht der Staat, sondern die Religion die Funktion übernommen, „das ihr anhängende Volk gegen die umgebende, als fremd diagnostizierte Kultur [abzugrenzen]“, was ihr „Überdauern über alle kulturellen Wandlungen, Überfremdungen und Assimilationen hinweg ermöglicht [habe]“.28 Assmann schließt: „Exodus und Sinai-Offenbarung als zentrale Ursprungsbilder Israels beruhen auf dem Prinzip der Extraterritorialität.“ In dem Bundesschluss zwischen „einem überweltlichen, fremden Gott, der auf Erden keinen Tempel und keinen Kultort hat, […] kann man überall verbleiben, wohin auch immer auf der Welt es einen verschlägt“.29 Diese ursprüngliche Mobilität nahm jedoch ab dem 19. Jahrhundert durch Assimilation, Emanzipation und Säkularisierung bedeutend ab. Das Diaspora-Bewusstsein der europäischen Juden wurde durch den Wunsch nach beständiger Sesshaftigkeit abgelöst.30 Diese Verortung der europäischen Juden dauerte allerdings 25 26 27 28 29 30

Assmann, Erinnerungsräume (Anm. 1), 305. Ebd., 306. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (Anm. 2), 52. Ebd., 196. Ebd., 201. Siehe hierzu Jessica Ortner, Diaspora, postmemory and the transcultural turn in contemporary Jewish writing, in: Crossings: Journal of Migration & Culture 1 (1/2016), 27–42.



Erinnerung zwischen Verortung und Mobilität83

nicht lange an. Das einschneidende Ereignis des Holocausts begründete eine erneute Zerstreuung, die Katja Garloff als Rediasporisation bezeichnet. In ihrer Studie einer Reihe bedeutender jüdischer Autoren schreibt sie: „The writers analyzed in this study experienced an extreme form of rediasporization. A distinct diaspora consciousness expressed through ritual reenactment of the bond to the land of Israel in prayer and liturgy, which was a constitutive element of Jewish group identity in premodern Europe, largely disappeared in the German-speaking countries during the nineteenth-century process of emancipation and acculturation. The reversal of Jewish emancipation during the Third Reich and the Holocaust created a new and redoubled diaspora, composed of Jews who had fled from Germany or German speaking Central Europe and after the war did not want to return, yet failed to feel at home anywhere else and remained linked to their country of origin through their language and memories. The diasporic consciousness now involved a rejection of the home that has turned into a site of genocide.“31

In dieser neuen Form der Diaspora tritt eine säkularisierte Sehnsucht nach der für immer verloren gegangenen Heimat Deutschland an die Stelle der spirituellen Sehnsucht nach Jerusalem. Die neue Form der Diaspora unterscheidet sich insofern von der ursprünglichen Deterritorialisierung des Judentums, als das Heimatland nicht auf religiöser Ebene erreichbar ist oder in Form der Thora mitreist, sondern unwiederbringlich verloren ist, da es gänzlich vom Genozid kontaminiert worden ist. Laut Marianne Hirsch lässt sich diese diasporische Erfahrung („diasporic experience“) bis in die zweite und dritte Generation der Nachkommen ausmachen, für die „the place of origin has gone up in ashes. There is no return.“32 Nachkommen von exilierten Holocaust-Überlebenden fühlten sich „always marginal or exiled, always in the diaspora“. Im Folgenden werde ich zeigen, dass gegenwärtige deutsch-jüdische Literatur den Schnittpunkt zwischen ursprünglicher Diaspora-Erinnerung, Rediasporisierung und Sehnsucht nach einer verorteten, nationalen Erinnerungsgemeinschaft auslotet. Honigmann und Vertlib beschreiben Protagonisten, die zwischen Erin­ne­rung an Holocaust, Exil und mythischer Vergangenheit des Judentums navigieren und versuchen, sich in Zugehörigkeiten zu diversen verorteten und entorteten Erinnerungsgemeinschaften zurechtzufinden. Es wird sich zeigen, dass die Protagonisten in ihrem Zustand der Rediasporisierung an keiner nationalen, kulturellen Erinnerung wirklich teilhaben können. Ihnen bleibt die Teilhabe an einer transkulturellen Erinnerung, die sich aus Spuren des Herkunftslandes, des Landes des Exils und des Diaspora-Bewusstseins des jüdischen Volkes zusammensetzt.

31 Katja Garloff, Words from Abroad. Trauma and Displacement in Postwar German Jewish Writers, Detroit 2005, 6. 32 Marianne Hirsch, Family Frames. Photography, narrative and postmemory, Cambridge – London 1997, 243. Sie zitiert Nadine Frescos Studie Remembering the Unknown, in: International Review of Psychoanalysis 11 (1984), 417–427.

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3.

Jessica Ortner

Barbara Honigmann – im Exil zu Hause

Barbara Honigmann wurde 1949 geboren und wuchs im früheren Ostberlin als Kind jüdischer Kommunisten auf, die, nachdem sie dem Holocaust im englischen Exil entkommen waren, in die DDR zogen, um beim Aufbau des sozialistischen Staates mitzumachen. Im Jahr 1984 emigrierte Barbara Honigmann von der DDR nach Strasbourg, wo sie begann, die jüdische Religion aktiv zu praktizieren. In ihren Werken verbindet sie eine Aufarbeitung der Phasen der Exilierung ihrer Familie mit der Erinnerung an den exterritorialen Ursprung des Judentums. So beschreiben ihre halb autobiographisch und halb fiktional angelegten Werke eine Bildungsreise, in der die Protagonistin ihr Gefühl der Entwurzelung, Heimatlosigkeit und Entfremdung gegenüber dem ihr zutiefst unsympathischen, kommunistischen Staat in eine geistliche Heimat im Exil umwandelt. Ihr freiwilliges Exil in Strasbourg ist dabei auf spirituelle Weise mit ihrer „Heimkehr“ zum Judentum verbunden. Indem sie ihre persönliche Existenz mit dem jüdischen Gründungsmythos des Exodus verbindet, entwickelt sie in ihren Werken ein weitgehend positives Modell ihrer Teilhabe an einer transkulturellen Erinnerungsgemeinschaft. Ausgangspunkt ihrer Bildungsreise ist die Einsicht, dass ihre Eltern sich in der DDR im Zustand totaler Heimatlosigkeit befinden. Immer wieder befragt sie ihre Eltern, warum sie sich, nachdem sie der Diktatur Hitler-Deutschlands entkommen waren, freiwillig einer anderen Diktatur unterworfen haben. Ihr Vater erklärt seine Heimkehr damit, dass es ihm eine Genugtuung sei, in das Deutschland zurückgekehrt zu sein, aus dem Hitler ihn weghaben wollte. Jedoch sei es ihm hier „kühl und leer ums Herz“. Honigmann mutmaßt: „Vielleicht kam diese Kühle und Leere nicht nur davon, daß aus dem Sozialismus, den meine Eltern aufbauen wollten, nichts wurde, sondern auch davon, daß sie vollkommen zwischen den Stühlen saßen, nicht mehr zu den Juden gehörten und keine Deutschen geworden sind.“33

Ihre Eltern hatten sich dem Kommunismus im Glauben angeschlossen, dass diese Ideologie „keine Rassen, sondern nur noch Klassen“ kenne und somit „die ‚Judenfrage‘ einfach an sich abschaffen [wolle]“.34 Honigmann beweist den Fehlschlag dieser Illusion, indem sie wiederholt den unterschwelligen Antisemitismus des kommunistischen Regimes nachweist. In dem Briefroman Alles, alles Liebe empört sich beispielsweise die autofiktive Protagonistin Anna über die UNO-Resolution 1975, bei der die DDR und die Sowjetunion Seite an Seite mit den arabischen Staaten dafür stimmten, den Zionismus als Rassismus und Rassendiskriminierung zu verurteilen.35 Als Reaktion schreibt Annas Mutter in einem Brief: 33 Barbara Honigmann, Damals, dann und danach, München 32012, 14. 34 Ebd., 44. 35 Barbara Honigmann, Alles, alles Liebe, Wien 2000, 70.



Erinnerung zwischen Verortung und Mobilität85 „Die Idee des auserwählten Volks scheint allen anderen Völkern unerträglich zu sein und ihren Hass auf ewige Zeiten anzustacheln. Jetzt toben sie ihn an Israel aus. Die westeuropäischen Länder stimmen gegen solche Resolutionen auch nur aus schlechtem Gewissen.“36

Während die DDR ihre Eltern niemals wirklich beheimatet, sondern sie als Fremdkörper aufgefasst hat, bot ihnen auch ihre ursprüngliche Herkunft im Judentum keine Zuflucht mehr, denn sie hatten „ihr Judentum so völlig beiseitegelegt“, dass nur noch die Feststellung übrig blieb, „dass wir ‚die Juden‘ und die anderen ‚die Deutschen‘ waren, kein zivilisiertes Volk“.37 Bereits ihr Großvater Gabriel, berichtet die autofiktive Erzählerin, habe beschlossen, „ganz aus dem Judentum aus- und in die deutsche Kultur einzutreten, er assimilierte sich, bevor noch die vollständige Emanzipation erreicht war“38. Daher musste ihr Vater „das Judentum nicht mehr verlassen […]. Es war ihm sowieso schon ganz entrückt und entfremdet. Er hatte es vielleicht schon fast ‚vergessen‘ und tatsächlich geglaubt, daß Deutschland seine Heimat und er selbst ein Deutscher sei“39 – ein Glaube, der mit Hitlers Machtergreifung zunichtegemacht wurde. Sowohl ihr Großvater als auch ihr Vater träumten davon, „in der deutschen Kultur ‚zu Hause‘ zu sein, sie haben sich nach ihr gesehnt, sich ihr entgegengestreckt und gereckt und unglaublich verrenkt, um sich mit ihr vereinigen zu können“40. Statt sich zu verrenken, entschließt sich Honigmann dazu, sich zu trennen, abzusondern und am Rande zu bleiben. In ihrem freiwilligen Exil in Strasbourg versteht sie sich selbst als Jüdin, die nur noch „kulturell“, aufgrund ihrer literarischen Bildung, zu Deutschland gehöre.41 Sie beschreibt ihre Wiederaufnahme des Judentums, indem sie sich explizit in die ursprüngliche exterritorialisierte Erinnerungsgemeinschaft ihrer Vorfahren einschreibt. In ihrem ersten Buch Roman von einem ­Kinde schildert sie ein Schlüsselerlebnis, in dem sie ihre Lebensgeschichte in die mythische Ursprungserinnerung des Judentums integriert. Nachdem sie ihr erstes Pessach-Fest begangen hatte, schloss sie sich einer Gruppe von Juden an, die ebenso wie sie keine Familie hatten, mit der sie das Sedermahl einnehmen konnten. Diese Gruppe stellt in ihren Augen die „verstreutesten unter den Verstreuten, die Juden unter den Juden“ dar.42 Sie beschreibt, wie sie gemeinsam mit dieser verlorenen Gruppe zu einem nahe gelegenen Gemeindehaus fährt, wo für sie eine Sedertafel gedeckt ist. Als dieses „winzige Häuflein“ in ihren „kleinen wackeligen Autos“ den Alexanderplatz überquert, fühlt sich Honigmann eben durch ihre Verlorenheit an die Stelle des ursprünglichen jüdischen Volkes zurückversetzt: 36 37 38 39 40 41 42

Ebd., 71. Honigmann, Damals (Anm. 33), 23 und 29. Ebd., 42. Ebd., 43. Ebd., 45. Ebd., 17 f. Barbara Honigmann, Roman von einem Kinde, München 2001, 24.

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Jessica Ortner „Aber seltsam, an diesem Tage, als ich mitten in dem versprengten Häuflein hinüberklapperte, da wurde mir dieser Platz so leicht, sogar lächerlich, denn wir mussten gar nicht hindurch durch ihn, er öffnete sich vor uns wie das Rote Meer, und die ewig graue, verdunkelte Wolkensäule schüttete ihren Regen aus, und als wir uns umsahen, da stürmte es und tobte es, und der Alexanderplatz blieb hinter uns und holte uns nicht mehr ein und versank in Nebel und Regen wie Pharaos Heer.“43

Die Rückkehr der autofiktiven Erzählerin zum Judentum beginnt also damit, dass sie sich selbst in den Ursprungsmythos des Exodus und der Flucht über das Rote Meer einschreibt und so in die Erinnerungsgemeinschaft des jüdischen Volkes zurückkehrt, das ihre Vorfahren verlassen hatten. Im Gegensatz zur mythischen Erinnerung des Judentums, in die sie durch ihre Emigration und Rückkehr zum Judentum Einblick bekommt, bleiben der autofiktiven Erzählerin Honigmann die Erinnerungen ihrer Mutter verschlossen, was sie als einen schmerzlichen Verlust erlebt. Sie weiß, dass ihre Mutter auf einem Bauernhof im Südwesten von Ungarn aufgewachsen und später zum Studieren nach Wien gezogen war.44 Die Nazizeit verbrachte sie im Exil in England und folgte anschließend ihrem Mann in die DDR. 1984 zog sie zurück nach Wien, um in der Nähe ihrer Tochter zu wohnen, die inzwischen nach Strasbourg ausgewandert war. Begierig, das vermeintliche Geheimnis ihrer Mutter zu lüften, hatte sie schon früh angefangen, in den Kästen, Schubfächern und der Bibliothek der Mutter herumzuschnüffeln, ohne jedoch Nennenswertes zu finden.45 Jedes Mal, wenn sie ihre Mutter in Wien besuchte, versuchte sie vergeblich, sie dazu zu bewegen, ihr irgendeine Erinnerung „vom Wien vor dem Krieg, vor dem Anschluss, vor 34“ zu zeigen. Sie führt aus: „Nein, meine Mutter war ganz und gar nicht auf der Suche nach Spuren oder Pfaden der Herkunft oder Vergangenheit, und sie war auf diese Haltung stolz und kam sich darin stark vor und war es vielleicht auch. Ich denke nur an den heutigen Tag, hat sie oft gesagt, ich lebe nicht in der Erinnerung.“46

Nach dem Tod ihrer Mutter war sie dann selbst an „die alten Orte“ in Wien gegangen, die ihre Mutter ihr, wie sie meint, verheimlicht hatte.47 Aber dort gab es nichts zu sehen, „außer den [ihr] fremden Namen und der Fassade, die wie alle Fassaden in Wien dasteht, schön oder nicht schön, aber in jedem Fall unbeschadet, als ob hier nie etwas Hässliches oder Böses geschehen sei“48. In der Kurzgeschichte Untergang von Wien wird Honigmann der Grund für das Desinteresse ihrer Mutter klar: Weder das Dorf in Ungarn noch England noch Wien waren jemals die wahre Heimat ihrer Mutter gewesen. Mit ihrem unsentimentalen Verhältnis zu den Stätten ihrer 43 Ebd., 25. 44 Honigmann, Damals (Anm. 33), 21. 45 Ebd., 24. 46 Ebd., 101. 47 Ebd. 48 Ebd., 102.



Erinnerung zwischen Verortung und Mobilität87

Kindheit und Jugend hatte ihre Mutter eine exterritoriale Lebensart ausgelebt, die dem Wesen des Judentums entspricht. Am Anfang der Kurzgeschichte beschreibt Honigmann die exterritoriale Herkunft ihrer Familie wie folgt: „Wie so viele Juden habe ich meine Herkunft aus fast allen Ländern Europas und ich bin darauf manchmal ein bisschen stolz, obwohl es dafür gar keinen Grund gibt, denn die meisten dieser Herkünfte sind ja längst verlöscht. Sie ragen in der Erinnerung auf, wie Inseln im Meer des Exils […]. Fast alle dieser Inseln sind also schon in ferner Vergangenheit untergegangen und existieren nur noch in Legenden und Erzählungen oder Fragmenten von Erzählungen über frühere Generationen in früheren Zeiten.“49

Während sie mit dem Zug zurück nach Strasbourg fährt, wird Honigmann plötzlich klar, dass auch Wien „eine dieser Inseln [ist], die früher oder später im Meer des Exils versinken“50. Wiederum an eine biblische Szene anknüpfend schreibt sie: „Es hört nicht auf zu regnen und zu schütten. Eine richtige Flut […]. Ich sehe zurück, und da ist, hinter mir, Wien versunken und untergegangen.“51 Zusammen mit dem Tod ihrer Mutter war erneut eine dieser „Herkünfte“ erloschen. Egal wie viel ihre Mutter von ihrer Vergangenheit preisgegeben hätte, sie hätte nie Teil der Erinnerungsgemeinschaft Wiens sein können, denn es war nur ein flüchtiger Aufenthaltsort ihrer Familie. Die kulturellen Erinnerungen Wiens, Ostberlins und ihres gegenwärtigen Wohnorts Strasbourg sind somit nur zweitrangig gegenüber ihrer Teilhabe an der mythischen Erinnerung des Judentums, die ihr eine Heimat im fortgesetzten Exil bietet.

4.

Vladimir Vertlib – im Exil verloren

Längst nicht für alle gegenwärtigen jüdischen Autoren stellt das Judentum eine rettende Perspektive dar. Die Werke des aus Russland stammenden Autors Vladimir Vertlib sind Beispiel einer völlig anders gelagerten Mobilitätserinnerung. Ähnlich wie Honigmanns Werke sind seine Romane laut seiner eigenen Aussage „autobiographisch gefärbte Romane“; „eine Mischung aus Erlebtem, Hinzugedachtem und Assoziiertem“,52 in denen er sein eigenes Erlebnis mehrfacher Migration verarbeitet. Aus diesem Grund mache ich keinen Unterschied zwischen seinem autobiographischen Roman Zwischenstationen und seinen fiktiven Werken Schimons Schweigen und Letzter Wunsch, da alle 49 50 51 52

Ebd., 90. Ebd., 119. Ebd., 120. Vladimir Vertlib, Schimons Schweigen, Wien 2012, 238; ders., Spiegel im fremden Wort, Dresden 2007, 26; zitiert in: Anna Rutka, Der subversive Mut zur Naivität. Zu Vladimir ­Vertlibs europäischen Familienromanen, in: Johanna Drynda – Marta Wimmer (Hg.), Neue Stimmen aus Österreich. 11 Einblicke in die Literatur der Jahrtausendwende, Bern u. a. 2013, 92–101, hier 92.

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drei Romane Teile von Vertlibs Lebensgeschichte verarbeiten. Vertlibs Biographie ist durchgehend von Unstetigkeit und Mobilität geprägt. Anstoß der jahrelang andauernden Migration war der Wunsch des Vaters, Vertlib vor der Erfahrung der Diskriminierung, des Antisemitismus und der Unterdrückung durch das sozialistische Regime in Russland zu bewahren.53 Doch es erwies sich als nicht einfach, eine Heimat zu finden, mit der sich der Vater abfinden konnte. Der Klappentext des Werkes Zwischenstationen fasst Vertlibs Lebenslauf folgendermaßen zusammen: „[…] geboren 1966 in Leningrad (St. Petersburg), emigrierte 1971 mit seiner Familie nach Israel. Später übersiedelte er nach Österreich, dann wieder zurück nach Israel, in die USA und schließlich wieder nach Österreich, wo er seit 1981 lebt.“54 Die wiederholten Migrationen zu neuen potenziellen Heimatorten, die Vertlib in Zwischenstationen beschreibt, werden nicht etwa als ein positives Ausleben der jüdischen Mobilität dargestellt oder in einer religiösen Vision verklärt. Vielmehr beschreibt er den wiederholten Schmerz des Abschiednehmens und die Unfähigkeit, jemals irgendwo wirklich anzukommen. Ähnlich wie Honigmann verwendet er hierfür die Metapher einer versunkenen Insel: „Die bessere Welt war immer anderswo gewesen, in einem fremden Land des Glücks. Seit meiner frühen Kindheit hatten die Eltern von diesem Land gesprochen. Dort war ich zu Hause, an einem Ort, wo es keinen Alltag gab. Doch dieses ferne Land war nun, wie einst Atlantis, im Meer versunken.“55

Als seine Eltern ihm nach ihrer langen Odyssee den Entschluss mitteilen, dass sie nun in Österreich bleiben würden, machen sie keinen Hehl daraus, dass er hier nicht willkommen sein wird. „Als Ausländer und Juden seien wir hingegen doppelt fremd. Sogar die einheimischen Juden sähen uns nicht als ihresgleichen an. Es sei schon schlimm genug, einer Minderheit anzugehören, aber einer Minderheit innerhalb einer Minderheit?“56 Dieses Motiv, das an Honigmanns Ausdruck der „Juden unter den Juden“ erinnert, gibt hier keinen Anlass für einen Anschluss an das mythische Diaspora-Erlebnis des jüdischen Volkes.57 Stattdessen stellt Vertlib in Schimons Schweigen den Zustand der Zerstreutheit mit einer abwertenden Metapher dar, die er dem Zyniker Schimon in den Mund legt: „Je nachdem, wie man rechnet, gibt es etwa dreizehn bis fünfzehn Millionen Exemplare des von Gott auserwählten, aber bekanntlich keineswegs bevorzugten Volkes. Eigentlich sind wir kein Volk. Wir sind ein Völkchen, zerstreut wie eine Prise Kokain, die ein Windstoß vom Tische eines unbedachten Koksers geweht hat.“58 53 Vladimir Vertlib, Zwischenstationen, München 1999, 14 f. und 22 f.; ders., Schimons Schweigen (Anm. 52), 269. 54 Vertlib, Zwischenstationen (Anm. 53), Klappentext. 55 Ebd., 264. 56 Ebd., 257. 57 Honigmann, Roman von einem Kinde (Anm. 42), 24. 58 Vertlib, Schimons Schweigen (Anm. 52), 240.



Erinnerung zwischen Verortung und Mobilität89

Dieser Vergleich der Juden mit einer verstreuten Prise Kokain verweltlicht und parodiert die Diaspora, so dass diese keine vielversprechende Erinnerungsgemeinschaft bietet. Im Gegensatz zu Honigmanns reflektierter Haltung zur Migration resultiert Vertlibs Ortsunabhängigkeit aus unüberlegten Entschlüssen und impulsiven Kurswechseln des Vaters. Nach außen hin findet der Vater immer neue Gründe, warum sie ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort wieder verlassen sollten. In Israel waren es die schwierige wirtschaftliche Lage, der Krieg, die schlechte Behandlung von Emigranten, die Korruption, die Dominanz religiöser und orthodoxer Gruppen, die ihm Anlass zur Emigration wurden.59 Im Roman Schimons Schweigen liefert Vertlib jedoch eine weitaus plausiblere Erklärung für das Verhalten seines Vaters: In Russland war der Vater ein Dissident, der in Briefen an „den Obersten Sowjet […] für alle russischen Juden das Recht auf Auswanderung nach Israel, die ‚wahre Heimat‘ ein­for­der­ te“60. Doch als es ihm endlich gelingt, selbst eine Ausreisegenehmigung nach Israel zu erlangen, ist seine Existenz nutzlos geworden. Während er in Russland eine Anlaufstelle für Zionisten, Angehörige von Verhafteten und Verfolgten war, war er in Israel einfach nur ein Jude wie alle anderen.61 Mit der Emigration in ein Land, das ihn nicht brauchte, verlor er seine Existenzberechtigung als unermüdlicher Kritiker des Systems. Sein Freund Schimon dagegen hatte von Anfang an gewusst, dass nicht Israel ihn, sondern „wir, die Immigranten“, Israel brauchten. Während Schimon genießt, sich in Israel nicht mehr zu unterscheiden, keine Scham oder Angst aufgrund seiner jüdischen Herkunft mehr verspüren zu müssen, bedeutete der Verlust der sozialen Rolle des Vaters, dass dieser weder in Israel noch an irgendeinem anderen Ort Fuß fassen kann und seine Familie von einem Ort des Exils zum nächsten zu führt.62 In Letzter Wunsch beschreibt Vertlib ebenfalls den Mangel einer territorialen Zugehörigkeit zu Deutschland oder Israel als Verlust. Der Roman erzählt von der Beziehung zwischen einer Vaterfigur, David Salzinger, und seinem Sohn Gabriel. Am Anfang des Buches steht der Tod des Vaters, der gegenüber seinem Sohn den letzten Wunsch ausspricht, neben seiner Frau auf dem jüdischen Friedhof begraben zu werden. Der Tod des Vaters wird Gabriel zum Anlass, die Geschichte seiner Familie mehrere Generationen zurückzuverfolgen. Hierbei ist die Erinnerungsarbeit mehrfach gebrochen, da Gabriel sich an Erzählungen seines Vaters David erinnert, die wiederum auf Erzählungen basieren, die David über seine Urgroßeltern gehört hat. Davids Vater Benjamin stammte aus einer jüdischen Familie, seine Mutter Her­mine dagegen aus einer streng katholischen Familie. Als kleiner Junge hatte David die Depor­tation und Ermordung seines Vaters, die Arisierung von dessen Geschäft und die Verfolgung seiner Mutter miterlebt. Diese konvertierte aus Trotz gegen die Na-

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Vertlib, Zwischenstationen (Anm. 53), 136. Vertlib, Schimons Schweigen (Anm. 52), 247. Ebd., 265 f. Ebd., 266.

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zis zum Judentum und floh mit David nach Israel.63 Aufgrund eines Ereignisses, das er 1948 während seiner Tätigkeit in der Haganah, der jüdischen Untergrundarmee, erlebte, kehrt David jedoch wieder in „das Land der Mörder“ zurück, was seine Mutter ihm nie verzieh: Während eines Kontrollgangs um den Kibbuz, in dem er mit seiner Mutter untergekommen war, erlebte er ein Gefecht zwischen seiner Patrouille und einigen palästinensischen Angreifern. Nachdem sie siegreich aus dem Kampf hervorgegangen waren, erschoss der Leiter der Gruppe, Schlomo, einen unbewaffneten palästinensischen Gefangenen. Der Ermordete war ein Friseur, den der Vater von der Zeit vor den Auseinandersetzungen kannte. Schlomo, der den Holocaust überlebt hatte, begründet seine Tat mit der Aussage: „Wir müssen so werden wie a­ lle Völker. Sonst bleiben wir für immer das auserwählte Volk, das Opfervolk, und sie werden das von den Nazis begonnene Vernichtungswerk vollenden.“64 In dieser Aussage weist Schlomo örtliche Sesshaftigkeit als einzigen Weg aus, die fortgesetzte Vernichtung des Judentums zu verhindern und dem Bann als ewiges Opfer zu entkommen. Mehr noch als die Tat selbst veranlasst diese Aussage David, Israel zu verlassen und nach Deutschland zurückzukehren.65 Damit entschließt er sich entschieden gegen eine Verortung, die durch sinnloses Blutvergießen erkämpft werden muss, und für eine Existenz in der Diaspora. Mit der Tat und der Aussage Schlomos, dass die Juden so werden müssen wie andere Völker, spricht Vertlib impliziert sowohl eine Kritik an fanatischer Siedlungspolitik als auch am Nationalismus an sich aus. Bereits in Zwischenstationen kommt das Motiv einer kritischen Beschreibung von Israel als „Vaterland“ vor. An seinem endgültigen Ort des Exils, Österreich, fühlt sich der junge Protagonist immer noch als ein „Jored“, als „ein Abtrünniger, ein verachtenswerter Verräter an der Sache, der seinem Heimatland den Rücken gekehrt hatte“. Die Volksschullehrerin, die ihn als einen solchen bezeichnete, steht für ein geradezu fanatisches Verlangen, den Ursprungsmythos der Diaspora durch den Mythos der Landnahme im Sinne Jan Assmanns zu ersetzen. Dagegen ist David Salzingers letzter Wunsch, auf dem jüdischen Friedhof bestattet zu werden, eine logische Schlussfolgerung seiner Rückkehr in die Diaspora, mit der er sich implizit von der verorteten Erinnerungsgemeinschaft Israels abwendet und dem jüdischen Gründungsmythos des Exodus anschließt. Doch die streng orthodoxe Gemeinde seines Heimatorts Giegrich verwehrt David seinen letzten Wunsch, da seine Mutter Hermine von einem reformierten Rabbi konvertiert wurde, so dass David nach dem Recht der Halacha nicht als Jude anerkennt werden könne. Der Rabbi der Gemeinde begründet dies damit, dass der Friedhof ein Hain der Erinnerung sei, der nicht kontaminiert werden dürfe: „Wenn es keine richtigen jüdischen Friedhöfe mehr gibt, wird sogar die Erinnerung an uns

63 Vladimir Vertlib, Letzter Wunsch, München 2006, 143. 64 Ebd., 105. 65 Ebd., 106 f.



Erinnerung zwischen Verortung und Mobilität91

verschwinden“66, so seine Befürchtung. „Ein jüdischer Nachname, ein von den Nazis ermordeter Großvater, ein paar Auseinandersetzungen mit Antisemiten“ reichten ihm zufolge nicht aus, um eine Ausnahme zu machen. Damit wiederholt die jüdische Gemeinde, für die „nichts wichtiger ist als Blut“, die Exklusion, die der Vater ebenfalls von Seiten der Deutschen erfahren hatte.67 David wird in einem abgelegenen „christlich-jüdischen Zwischenland“ begraben, das während des Kriegs für getaufte Juden reserviert war, die für die Nazis als „Rassejuden“ galten und daher nicht auf einem christlichen Friedhof bestattet werden durften.68 Gabriel ist nicht gewillt, dies zu akzeptieren, und beschließt, die Leiche des Vaters zu entführen und in der See zu versenken. Denn, so argumentiert er: „Wie oft hast du mir von der Überfahrt nach Palästina berichtet und davon, wie glücklich du damals warst. Die Erde hat dir kein Glück gebracht. Nicht die deines Geburtslandes, nicht ­jene von Erez Israel oder die geweihte Erde, in der Mutter liegt. Ich hoffe, ich handele in deinem Sinne, wenn ich das Meer zu deinem Friedhof mache, deinem Haus des Lebens.“69

Der Entschluss, seinen Vater in der See zu bestatten, symbolisiert die Heimatlosigkeit des Vaters, die er zu Lebzeiten im Übergang von einem zum anderen vergessen konnte. Im „Meer des Exils“ (Honigmann) versenkt zu werden, bedeutet jedoch nicht eine Ankunft im Exil als Heimat, sondern symbolisiert eine Verbannung aus jeglicher Erinnerungsgemeinschaft. Als Jude schließt ihn der Holocaust aus der deutschen Erinnerungsgemeinschaft aus, er ist nicht bereit, den Preis einer territo­ rialen Erinnerungsgemeinschaft des Staates Israel zu zahlen, und als Sohn einer reformierten Konvertitin wird ihm ebenfalls der Ursprungsmythos des Judentums verwehrt. Sein Begräbnis im Meer symbolisiert somit im völlig anderen Sinn als bei Honigmann das Schicksal, sowohl von einer verorteten als auch von einer mobilen Erinnerungsgemeinschaft ausgeschlossen zu sein und somit immer im Übergang zwischen zwei Welten bleiben zu müssen, die ihn gleichermaßen ab- und verstoßen.

5.

Schlusswort und Ausblick

Mit diesem Vortrag habe ich versucht, sowohl einen Einblick in die literaturwissenschaftliche Herangehensweise an das Thema Erinnerung zu geben als auch die Spannbreite zwischen mobilen und verorteten Erinnerungsmodellen zu erörtern. Die Werke Honigmanns und Vertlibs loten diese Spannbreite aus, wobei sich in bei-

66 67 68 69

Ebd., 299. Ebd., 119. Ebd., 67 und 369. Ebd., 381.

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den Fällen ein mobiles Erinnerungsmodell durchsetzt. Während sich Honigmanns autofiktive Protagonistin bewusst von der Idee einer nationalen Zugehörigkeit verabschiedet, ist es den Protagonisten Vertlibs versagt, in einer verorteten Erinnerungsgemeinschaft Fuß zu fassen. Interessanterweise sind eben mobile und exterritoriale Erinnerungsformen seit dem Jahr 2000 ins Zentrum der Erinnerungsforschung ­gerückt.70 So zeigt sich eine Affinität zwischen der exterritorialen Erinnerung des Juden­tums und Erinnerungsformen, die infolge von Globalisierung, Migrationsströmen und weltweiter Vernetzung durch das Internet und das Fernsehen entstanden sind. Nimmt man an, dass die vormals verpönte Exterritorialität des jüdischen Volkes heute alltäglich geworden ist, lassen sich Vertlibs und Honigmanns Werke nicht nur als Ausdruck einer rein jüdischen Erfahrung verstehen, sondern auch als richtungsweisend in Bezug auf die allgemeine existenzielle Fragestellung über Zugehörigkeiten in einer Welt, die mehr und mehr von Hybridität und Mobilität geprägt ist und damit Lebensweisen hervorbringt, die sich dem nationalistischen Modell ­einer verorteten kulturellen Erinnerung entziehen.

70 Astrid Erll, Traveling Memory, in: Parallax 17 (2011), 4–18.



Modelle liturgischen Gedenkens93

Modelle liturgischen Gedenkens Mystisch-politische Dimensionen, mythisch-historische Spannungen

Bruce T. Morrill

1.

Die theologische Herausforderung: Die praktische Widerständigkeit der Liturgie und des Gedenkens im Verhältnis zur Theorie

Da Anamnese sowohl in der Schrift (das letzte Abendmahl in den synoptischen Evangelien; alttestamentliche rituelle Praktiken und Erzählungen in Ex und Ps) als auch in der Tradition (frühchristliche Anaphoren) ein integraler Bestandteil des rituellen christlichen Gottesdienstes ist, stellen Funktion und Bedeutung des Gedenkens in der Liturgie eine wesentliche Frage für die liturgische Sakramententheologie dar. Die Bedeutung beruht nicht nur auf der ursprünglichen und beständigen anamnetischen Dimension von christlicher Liturgie, sondern auch auf der Autorität und damit der Macht, die die Kirche ihr (von Kirche zu Kirche unterschiedlich) zugeschrieben hat. Liturgisches Gedenken ist darüber hinaus eine schwierige, wenn nicht gar brisante Frage, weil sich sowohl Gedenken als auch Liturgie als schwierig zu beschreiben, geschweige denn zu erklären erwiesen haben. Überlegen wir kurz, weshalb Gedenken und Liturgie jeweils so widerständig gegenüber theoretischen Erklärungen sind, und begeben wir uns dann in die Untersuchung dessen, wie sie wechselseitig funktionieren. Beginnen wir also mit dem Gedenken: Der Begriff des menschlichen Gedenkens bringt eine Reihe von Erfahrungen oder Phänomenen mit sich, die bekanntermaßen nur schwer zu konzeptualisieren sind, ob in Bezug auf individuelle, subjektive Handlungsweisen oder soziale, politische Konstruktionen. Zu den vielfältigen Herausforderungen, vor die die Theoretisierung des Gedenkens stellt (auf einige davon werde ich im weiteren Verlauf des Vortrags zu sprechen kommen), zählt die hochproblematische und dennoch beständige, geläufige Auffassung des Gedenkens als Paradebeispiel dessen, wie eine vergangene Wirklichkeit repräsentiert wird. Wie ich an anderer Stelle in meinen Schriften dargelegt habe,1 hat die verstorbene philosophische 1 Vgl. Bruce T. Morrill, Time, Absence, and Otherness. Divine-Human Paradoxes Bonding ­Liturgy and Ethics, in: Philippe Bordeyne – Bruce T. Morrill (Hg.), Sacraments. Revelation of

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Ethikerin Edith Wyschogrod überzeugend gezeigt, wie diese „gewöhnliche Sicht“ von Gedenken – als ein unabhängiges Wiederabrufen vergangener Wirklichkeiten sowohl im praktischen als auch im philosophischen, wissenschaftlichen westlichen Denken – funktioniert hat, wobei sie die Erinnerungen des Gehirns metaphorisch als auf eine harte Oberfläche geätzte Eingravierungen bezeichnet oder das Gehirn als einen Lagerraum, aus dem Worte oder Erinnerungen aus der Vergangenheit wieder abgerufen werden können.2 Neurowissenschaftler verfolgen, wenig verwunderlich, Hypothesen über das Gehirn als das Zentralorgan des Nervensystems und geben zumindest reichlich Hinweis darauf, wie viel wir über die Physiologie des Erinnerns nicht wissen – mit all dem, was an Implikationen damit einhergeht. Es sind jedoch die Auseinandersetzungen und Kontroversen in Bezug auf Erinnerungen, die in subjektiver Reflexion, zwischenmenschlichen Konversationen oder Meinungsverschiedenheiten, Zeugenaussagen vor Gericht und sozialpolitischen Debatten, Richtlinien und Prioritäten aufkommen, die die Theorie des menschlichen Gedenkens zu einem oft zugespitzten moralisch-ethischen Anliegen machen. Menschen finden ohne großes Nachdenken in anscheinend einfachen, repräsentierenden Gedenkakten die fertige Begründung für ihre Meinung zu dem, was in der Vergangenheit geschah. Menschen sträuben sich dabei sowohl als Einzelpersonen wie auch als soziale Gruppen gegen die theoretische Untersuchung des Inhalts und des spezifischen Prozesses ihres Erinnerns, getrieben von der Sorge, dass eine solche Analyse altehrwürdige Überzeugungen entlarven oder ihren persönlichen Charakter oder die Moralgestalt ihrer sozialen Gruppe (Familie, Nation, Kirche etc.) infrage stellen könnte. Eine genaue Untersuchung mittels Sprachtheorie oder einer Reihe anderer Theorien soziokultureller Konstruktion setzt bestimmte Erinnerungsakte der Frage nach Wahrhaftigkeit, nach Intentionen oder Urteilen (mit ihren Auswirkungen auf die Zukunft) aus. Es nimmt deshalb wenig wunder, dass sich Menschen – sei es bewusst oder unbewusst – gegen eine zu genaue Analyse dessen sträuben, was sie einfach oder offensichtlich oder unhinterfragt als geschehen annehmen und weshalb sie es als solches zu wissen meinen. Liturgie entzieht sich in ähnlicher Weise der Analyse, sei es durch sozialwissenschaftliche, historische oder theologische Ansätze. In den nahezu drei Jahrzehnten, in denen ich gelehrt, studiert, geschrieben und pastoralen Dienst getan habe, bin ich zu der Einsicht gelangt, dass Gläubige (Laien und Kleriker) quer durch alle ideologischen und generationsbezogenen Spektren überwiegend wenig Interesse an wissenthe Humanity of God, Collegeville 2008, 137–152 (frz.: Le temps, l’absence, et l’altérité. Les paradoxes divino-humains du lien entre liturgie et éthique, in: Philippe Bordeyne – Bruce Morrill [Hg.], Les Sacrements, révélation de l’humanité de Dieu, übers. von Jean-Pierre ­Bagot, Paris 2008, 185–203); ders., Anamnetic Action. The Ethics of Remembrancing, in: Doxology 17 (2000), 3–22. 2 Vgl. Edith Wyschogrod, An Ethics of Remembering. History, Heterology, and the Nameless Others, Chicago 1998, 38 und 174 f.



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schaftlicher (akademischer) liturgischer Theologie haben. Um zu zeigen, dass dies kein Einzelfall ist, will ich versichern, dass ich wirklich in meinem römisch-katholischen Kontext ein festes Muster von klarem Widerstand gegen jede theoretische (historische, anthropologische, theologische) Analyse sakramentaler Riten vorgefunden habe – und das umso mehr, wenn der in der Pastoral tätige Wissenschaftler sich für Reform und Erneuerung einsetzt. Mittlerweile denke ich, dass dies in der Natur der Liturgie, in ihrem grundlegenden Wesen als Ritual, begründet liegt. Das Ritual widersetzt sich der Theorie, den Worten, Argumenten, Erklärungen. Wenn man Gründe anführen oder erklären kann, wie oder weshalb etwas der Fall ist, dann argumentiert man entsprechend. Dadurch hat man eine gewisse Herrschaft oder Kontrolle über die Situation und auch ein Gefühl von Ermächtigung. Im Gegensatz dazu ist ein Ritual gerade das, was wir Menschen tun, wenn wir keine solche diskursive Kontrolle haben, wenn Worte als solche – als Erzählung, Argumentation oder Erklärung – nicht die gewünschte Auflösung der Mehrdeutigkeit bieten können.3 Es sind der Vollzug und die Wiederholung, in denen die Kraft des Rituals liegt,4 in dem seine Teilnehmer eine gewisse Autorität bekräftigen, die dem verkörperten Inhalt und dem praktizierten Muster seiner Symbole (die Menschen selbst in ihren je eigenen Rollen eingeschlossen) innewohnt. Es sollte deshalb kaum verwundern, dass Menschen im Allgemeinen nicht dazu bereit sind, ihre Rituale – für Christen heißt das: ihre Liturgien – analytisch zu hinterfragen oder diskursiv zu erklären. Solche Theoretisierung stellt ihre Ritualisierung infrage; es eröffnet die Möglichkeit, die Kraft des Rituals irgendwie zunichtezumachen oder, im Extremfall, seine altehrwürdige Symbolik (und deren Muster) zu brechen, bis zum Punkt der Revolution. Die Autorität eines Rituals gründet in der Tradition; es vollzieht sie und fördert sie. Ich möchte Tradition prägnant als „So, wie es immer war“ definieren, wobei ich anerkenne, dass die Mitglieder einer Ritualgemeinschaft, auch wenn sie offen oder stillschweigend solch einen Anspruch erheben, sich zuweilen darüber bewusst sind, dass die Dinge nicht wirklich immer genauso gewesen sind, wie sie derzeit sind. Die Kontinuität im Wandel des Rituals hängt von der Autorität der gemeinsamen Tradition ab und in den meisten Fällen von der Autorität der Ritualexperten, Führungspersonen und Ältesten des jeweiligen Sozialgebildes. Der größte Teil der „Bedeutung“ eines Rituals ist also nicht in irgendeinem damit zusammenhängenden theoretischen Diskurs zu finden, sondern eher in der unartikulierten Autorität und Zuneigung, die seinen Symbolen und Personen zugestanden wird, sowie auch und 3 Vgl. Bruce T. Morrill, Sacramental-Liturgical Theology Since Vatican  II. The Dialectic of Meaning and Performance, in: Proceedings of the Catholic Theological Society of America 67 (2012), 1–13, hier 8–11; abgerufen von https://ejournals.bc.edu/index.phpctsa/article/view/​ 2173. 4 Zum dynamischen, performativen Konzept von Ritualisierung als dem gegenüber der mehr statischen, rhetorischen Rede von Ritualen vorzuziehenden vgl. Catherine Bell, Ritual Theory, Ritual Practice, New York 1992, 88–93 und 196.

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besonders in den individuellen und gemeinsamen Erinnerungen, die die Teilnehmer an diese Symbole und Menschen haben.5 Rituelle Tradition erwächst aus Erinnerungen – aus Erinnerungen daran, wie Körperhaltungen und Gesten auszuführen sind, wie eine bestimmte Person oder mehrere mir oder uns gezeigt haben, wie man bei einem Ritual zu handeln oder besondere Rollen in ihm auszuführen hat, aus Erinnerungen an Erzählungen von bestimmten Vollzügen des Rituals, an mythische, mit dem Ritual (oder vielleicht einigen seiner Symbole und beteiligten Personen) in Verbindung stehende Erzählungen, an Vorsteher eines Rituals oder Fachleute, die erklären oder bestärken, wie Ritualelemente oder Symbolhandlungen ausgeführt und behandelt bzw. nicht ausgeführt und behandelt werden müssen (dies kann Erzählungen von beteiligten Personen oder Zeitvereinbarungen einschließen). Außerdem gibt es eine große Bandbreite an physischen Erinnerungen, „Muskelerinnerungen“, die sich durch die Wiederholung von rituellen Bewegungen in den Körper eingeschrieben haben6 und die in ihrem Vollzug auch affektive Erinnerungen an Menschen oder vergangene Ereignisse auslösen können. An dem konkreten Vollzug eines Rituals teilzunehmen, kann auch Träume von bzw. Erwartungen an rituelle Handlungen anregen, beispielsweise, wenn Menschen an einer Kindertaufe teilnehmen und dabei zur Überzeugung gelangen, dass sie das Gleiche auch für ihre Kinder, die sie eines Tages erhoffen, haben möchten. Oder es träumt ein Mädchen von der kirchlichen bilderbuchreifen Prinzessin-Braut-Hochzeitsfeier (würde sie das überhaupt Liturgie nennen?), die es eines Tages haben möchte. Diese letztgenannten Beispiele zeigen natürlich, dass rituelles Gedenken nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft weisen kann; darin liegt eine zumindest blasse Analogie zur Natur der Anamnese der biblischen Tradition. In jedem Fall ist dies nur eine unvollständige Liste der Möglichkeiten von Gedenken, das nicht nur im Ritual, sondern auch mit Bezug auf das Ritual und damit (für Christen) in der Liturgie und mit Bezug auf die Liturgie praktiziert wird. In unseren spätmodernen Kontexten fungiert Liturgie als Teil der Kultur einer bestimmten Kirche oder religiösen Gemeinschaft, die wiederum lediglich eine von vielen einander überlappenden oder nebeneinanderstehenden Kulturen umfasst, zu denen ihre Teilnehmer als Mitglieder einer lokalen, nationalen oder gar globalen Gemeinschaft gehören. Auf diesen praktisch komplexen und theoretisch trügerischen Charakter liturgischen Gedenkens bezieht sich die tiefgreifende Einsicht der tschechischen Theologin Ivana Noble in das Verhältnis von Gedenken und Kultur:

5 Vgl. Bruce T. Morrill, Sacramental Liturgy as Negotiation of Power, Human and Divine, in: Brian P. Flanagan – Johanna M. Vento (Hg.), Liturgy + Power (College Theology Society Annual 62), Maryknoll, NY 2017, 3–21, hier 3 f. und 10–13. 6 Vgl. Paul Connerton, How Societies Remember. Themes in the Social Sciences, Cambridge, UK 1989, 22–29, 36 und 84–89.



Modelle liturgischen Gedenkens97 „Das Gedenken ist von Kultur nicht zu trennen, geht aber zugleich nie vollständig in ihr auf. Es gibt Bereiche des Gedenkens, die von manchen Kulturen vernachlässigt werden oder unerwünscht bleiben, andere Bereiche, die noch nicht artikuliert worden sind, und wieder andere, die der Artikulation widerstreben. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb besteht eine symbiotische Beziehung zwischen diesen. Gedenken lebt im Kulturkörper (engl. ‚body of culture‘), wo es weitertradiert, aber auch transformiert und verraten wird. Wir könnten fast sagen, dass das Gedenken die Kultur erinnert, aber dann müssen wir auch achtgeben, das Gedenken nicht zu vergegenständlichen – oder ihm nicht mehr als metaphorische Subjekthaftigkeit zu­zu­spre­ chen.“7

Nobles Warnung vor der Vergegenständlichung von Gedenken kann sicherlich genauso auf die Liturgie angewendet werden, weil Liturgie nur im Vollzug existiert, in versammelten Leibern, die einen vorgegebenen Ritus praktizieren. Noble fährt fort: „Das Gedenken ist weder ein Ding noch eine Person. Wir müssen folglich, wenn wir über personales Gedenken, soziales Gedenken oder auch kulturelles Gedenken sprechen, beachten, dass wir nicht sagen, zu wem der ‚Gegenstand‘ namens ‚Gedenken‘ gehört. Gedenken ist immer das Gedenken eines bestimmten Menschen; es hat keine eigene Subjektivität. […] Es gibt allen Beteiligten die Möglichkeit, die Vergangenheit in das eigene Sein und die eigene mögliche Zukunft zu integrieren. Es gibt uns die Möglichkeit, von anderen Subjekten in Erinnerung gerufen zu werden. Und zugleich transzendiert es – mit Ausnahme Gottes – alle, mit denen es verbunden ist: Individuen, Familien, Gesellschaften, Kulturen, Kirchen, Nationen usw.“8

Vielleicht besteht eine Möglichkeit, Nobles mahnende These zusammenzufassen, darin zu sagen, dass das Gedenken – wie die Liturgie – von genau den Menschen, die es vollziehen, abhängt, auch wenn die Teilnehmer das Ritual so oft als eine transzendente Wirklichkeit erfahren, die „sie tut“ (engl. „doing them“ ).9 Auf vielerlei Weise transzendiert die Liturgie sowohl für Einzelpersonen als auch für bestimmte ­Arten von Teilnehmern die Zeit – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ein weiterer Zusammenhang besteht darin, dass Noble den Ausnahmefall des Gottesgedenkens erwähnt, der ebenfalls eine wichtige Frage in der zeitgenössischen theologischen Diskussion zur liturgischen Anamnese darstellt. Sowohl beim Vollzug der Liturgie als auch beim Gedenkakt innerhalb von realen liturgischen Darbietungen und in ihrem Umfeld haben Menschen sehr unterschiedliche Prämissen und Prioritäten, primäre, sekundäre oder sogar tertiäre sozio-

7 Ivana Noble, Theological Interpretation of Culture in Post-Communist Context. Central and East European Search for Roots, Surrey, UK – Burlington, VT 2010, 77. 8 Ebd. 9 Diese Einsicht übernehme ich von Alexander Schmemann, Symbols and Symbolism in the Byzantine Liturgy, in: Thomas Fisch (Hg.), Liturgy and Tradition. Theological Reflections of Alexander Schmemann, Crestwood, NY 1990, 126 f.; zitiert in: Bruce T. Morrill, Anamnesis as Dangerous Memory. Political and Liturgical Theology in Dialogue, Collegeville, MN 2000, 112 f.

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kulturelle Identitäten und Gottesbilder, die sie in ihr eigenes rituelles Tun einbringen. Angesichts der Komplexität der Schnittstelle zwischen Liturgie und Gedenken eignet sich das Phänomen am besten für eine typologische Analyse. Daher werde ich nun den Versuch unternehmen, einige Modelle des liturgischen Gedenkens vorzustellen. Eine solche Darstellung von Modellen hat bekannterweise den Vorteil, ein kulturelles Phänomen aus einer ganzen Reihe von Perspektiven zu betrachten, Einblicke in eine Reihe von Elementen, die zu dem Phänomen gehören, zu gewähren, kontextuelle und historische Variationen zu unterscheiden, dabei gleichzeitig ein bestimmtes Maß an Abstraktion zu wagen und zugleich zu warnen, weil sich Idealtypen ja in Wirklichkeit in verschiedenem Maße überlappen, und schließlich demütig die Grenzen dessen einzugestehen, was Theoretisierung überhaupt leisten kann.10 Meine theoretische Wette ist, dass die Konstruktion mehrerer Modelle einen theologischen Einblick in das komplexe Phänomen des liturgischen Gedenkens geben kann. Dies beginnt mit einer Warnung: Die zeitliche und räumliche Begrenzung erfordert, dass ich jedes Modell als Extremtyp präsentiere. Ich bitte also die Zuhörenden bzw. die Leserinnen und Leser, sich vor Augen zu halten, dass reale Menschen und Gemeinschaften eine Kombination dieser Modelle anwenden und dabei häufig die Idealtypen, die ich jetzt in der Theorie vorstelle, modifizieren.

2.

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2.1 Das Familienmodell Angesichts der Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der an liturgischen Feiern teilnehmenden Christen Laien sind, deren Teilnahmehäufigkeit von wöchentlich über jährlich oder halbjährlich bis hin zu fast niemals reicht, erscheint es vernünftig, mit dem zu beginnen, was ich als das Familienmodell des liturgischen Gedenkens bezeichne. Für diesen großen Teil der Liturgieteilnehmenden ist der primäre soziale Leib, mit dem sie sich in ihrem liturgischen Handeln identifizieren, die Familie, wo10 Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben christliche Theologen typologisierende Methoden angewandt, um zu analysieren, auf welche Weise sich Individuen und kirchliche Einrichtungen tatsächlich mit Glaubensüberzeugungen und -praktiken beschäftigen. Zu solchen Arbeiten zählen: H. Richard Niebuhr, Christ and Culture, San Francisco, CA 1951/2001; Avery Dulles, Models of the Church, rev. Neuauflage New York, NY 1978/2002; James L. Empereur, Models of Liturgical Theology (Alcuin/GROW Liturgical Study 4 / Grove Liturgical Study 52), Cambridge, UK 1987; Avery Dulles, Models of Revelation, Maryknoll, NY 1983/1992; Kevin W. Irwin, Models of the Eucharist, Mahwah, NJ 2005. Für einen Überblick über die Stärken und Grenzen der Modellentwicklung in der Theo­logie vgl. Dulles, Models of the Church, 7–15.



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mit ich vorwiegend die Kerngruppe von Eltern und Kindern meine, die wiederum zu einem größeren Kreis von Verwandten gehören. (Es ist jedoch wert angemerkt zu werden, dass einige Christen die Familie als Metapher für ihre örtliche kirchliche Gemeinschaft verwenden; sie sprechen von „meiner/unserer Kirchenfamilie“.) Vor allem unter denjenigen, die nur für Feiertage oder Übergangsriten an der Liturgie teilnehmen, ist die grundlegende Zeiterfahrung linear in Bezug auf persönliche Lebensphasen und Krisen (Geburt, Jugend, Ehe, Tod) und zyklisch in Bezug auf jährlich wiederkehrende Feste (z. B. Weihnachten, Ostern). Die Funktion des liturgischen Gedenkens ist konservativ; es baut auf Erinnerungen und Symbolen auf, die mit Familienmitgliedern und -ereignissen aus der Vergangenheit assoziiert werden, und erzeugt sie, sei es explizit in der Gruppe oder bewusst oder unbewusst in Einzelpersonen. Man denke etwa an weiße Taufkleider, die über Generationen weitergereicht werden (so dass der Säugling schon am Beginn des Ritus weiße Kleidung trägt). Der Affekt in einem solchen Gedenken besteht in der Regel aus einem Kontinuum von Trost – bestätigend, tröstend, versichernd, zusichernd. Das Kirchenbild, mit dem dieses Modell arbeitet, ist der geweihte Priester, der den empfangenden Laien die Sakramente spendet, der einen geordneten pastoral-sakramentalen Dienst versieht und sich darüber hinaus um die Familienmitglieder kümmert. Der Vorsteher ist ein Vermittler sakramentaler Gnade von Gott hin zu den Familienmitgliedern. Dadurch erfährt ihr Leben göttliche Bestätigung und soziale Achtung, und es wird eine Arbeitsteilung zwischen Klerus und Laien aufrechterhalten, die die sakralen und säkularen Aufgaben und Angelegenheiten klar voneinander trennt, während häufig auf subtile (unkritische) Weise machtvolle Symbole aus dem weiteren kulturellen und sozialen Umfeld der Familie in die Praxis und das reflektierende rituelle Gedenken eingebracht werden. Das Gedenken funktioniert also innerhalb einer konservativen rituellen Tradition (mit minimaler Flexibilität bei den offiziellen Elementen des Ritus, aber gleichzeitig einer minimalistischen Ausführung derselben), während dies sich als passend für breitere soziale, ethnische und kommerzielle Zwecke erweist (fortlaufende Foto- und Videoaufnahmen, Hinzufügung von Volksbräuchen, die häufig die primären liturgischen Symbole und den biblischen Inhalt übertünchen). Verkündigung und homiletische (biblisch-kritische) Auseinandersetzung mit der Heiligen Schrift sind hier marginal. Biblischer Inhalt erscheint in Gebeten und bestimmten Symbolen auf unterschiedliche Weise, meist so, dass es die Mehrheit der Teilnehmenden nur wenig erkennt oder bemerkt. Dennoch lenken bestimmte liturgische Gebete, wie die Einsetzungsworte des eucharistischen Hochgebets oder der proklamierte „Auftrag des Herrn“ (engl. „dominical warrant“) am Tisch der heiligen Kommunion, die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden auf einen Abschnitt des Evangeliums. Das zuvorderst in der Zeit orientierende Narrativ ist jedoch die Familiengeschichte, denn die Teilnehmer haben ein starkes Gespür dafür, im gegenwärtigen Moment „Erinnerungen zu schaffen“, die die Erinnerung vergangener Familienangehöriger ehren, während sie zugleich durch Gehorsam gegenüber dem von Gott

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mit Wirksamkeit ausgestatteten Ritus zu Gesundheit, Sicherheit und Glück in der unmittelbaren und langfristigen Zukunft für die und inmitten der unmittelbaren Familiengruppe beitragen.

2.2 Krisenmodelle: historisch und apokalyptisch Familien leben jedoch nicht außerhalb einer umfassenden Sozialgeschichte und können es auch nicht, was bedeutet, dass Menschen ihre Beziehungen nicht nur im Verhältnis zum allgemeinen Verlauf der Zeit konstruieren, sondern auch zu herausragenden nationalen, internationalen, regionalen oder lokalen Ereignissen, die das Leben im Sinne eines Vorher und Nachher strukturieren. Jede solche hereinbrechende, punktuelle Zeiterfahrung erfordert ein Urteil oder eine Position, die jeweils aufgrund der Art und der Folgen des jeweiligen Ereignisses eingenommen oder angepasst wird.11 Ein Krisenmodell des Gedenkens charakterisiert also Gottesdienste oder Liturgien, die im Zusammenhang mit solchen Ereignissen oder episodischen Perioden gefeiert werden, indem es eine von zwei Formen annimmt: einen historischen Typ oder einen apokalyptischen Typ. Menschen, die an dem historischen Typ des Krisenmodells liturgischen Gedenkens teilnehmen, verorten sich selbst in einem sozialen Leib, der über ihre eigene ­Kirche hinausgeht, nämlich als Bürger eines Landes, einer Region, einer Gemeinde, ­eines Staates oder einer anderen größeren Einheit, die sich entweder momentan ­aufgrund von Terrorismus, Krieg, extremem Wetter usw. in der akuten Agonie einer Katastrophe befinden – oder solcher vergangener Ereignisse gedenken (ob jährlich oder zu einem Jahresgedenken, etwa eines Jahrzehnts oder Jahrhunderts). Sie vollziehen die jeweilige Liturgie innerhalb einer grundlegenden Zeiterfahrung als Drehund Angelpunkt eines bedeutenden historischen Ereignisses, das eine Rückbesinnung auf die soziale Gemeinschaft (engl. „social body“) erfordert, um mit Zusammenhalt und Engagement Richtung Zukunft zu gehen. In diesem liturgischen Kontext hat das Gedenken zweierlei Funktion: sowohl die Toten zu ehren (ihrer „zu gedenken“) als auch – mit Gott – an die grundlegenden Glaubensüberzeugungen und Verheißungen zu erinnern, die durch die Linie historischer Vorfahren weitergereicht wurden. Der Affekt bei einem solchen Gedenken ist eine Kombination von Emotionspaaren: 1. Trauer über den Verlust, getröstet durch die Verehrung derer, die vorangegangen sind, und mit ihnen des sozialen Leibes selbst (z. B. der Nation, der Stadt usw.); 2. Angst, Trauma oder Trauer, die durch ein Gefühl der Stärke gemildert werden, durch die Solidarität der Versammlung derer, die zusammenkommen, um an der ererbten Symbolik der Verheißung zu partizipieren (einschließlich ebenjener sichtbar versammelten Generationen); 3. Schock (in der gegenwärtigen Krise) oder Erstau11 Vgl. Wyschogrod, An Ethics of Remembering (Anm. 2), 147 f.



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nen (beim Gedenken an vergangene Schlüsselereignisse), rückgebunden an die zuversichtliche Gewissheit, dass der soziale Leib eine lange Geschichte des (göttlich gestützten) gemeinschaftlich-menschlichen Erfolges und der geduldigen Ausdauer hat. Beim Vollzug solcher Gedenkliturgien handelt die Kirche im Dienst des breiteren sozialen Leibes, dessen Bürger ihre eigenen Mitglieder sind, und daher ist das Bild der Kirche das einer Institution, die Vorteile bringt, indem sie die weitere Gemeinschaft stärkt. Die Identitätsgrenze der Kirche ist porös in der offenen Interaktion mit dem – und oft in der Anpassung an den – weiteren sozialen Leib. Um die gewünschten Effekte für die versammelten Individuen und die Gesellschaft zu erzielen, übt der Vorsteher inmitten anderer Autoritätspersonen – staatlicher oder religiö­ ser Führer – einen Dienst geistlicher Führung aus. Wenn einer der Letzteren bei einem bestimmten Gottesdienst anwesend sein sollte, fungiert der den Hirtendienst Versehende als Vorsteher und ermöglicht und autorisiert die Beiträge verschiedener Personen sowie verschiedene Lieder, Symbole, Lesungen, die möglicherweise alle aus der kirchlichen Tradition stammen – oder auch nicht. Es geht hier um eine typisch moderne Verschmelzung von Traditionen – staatsbürgerlich, erzieherisch, ethnisch, religiös –, wobei die Möglichkeit besteht, dass die christliche (liturgische) Tradition einen oder mehrere breitere soziale Kreise in sich aufnimmt, die von einem gegenwärtigen oder erinnerten besonderen Ereignis betroffen sind.12 Die Menge und Auswahl an biblischen Texten und Bildern, die in Gebeten und anderen Symbolen verwendet werden, dienen diesem breiteren Kontext mit möglicher unterschiedlicher Inklusivität, weil sie Gott oft als Vater oder Mutter, als Begleiter, mächtigen Anführer, Gefährten oder Tröster darstellen. Die Schriftlesungen und die Predigt dienen einem grundlegenden in der Zeit orientierenden Narrativ für den breiteren sozialen Leib (breiter als der kirchliche), der sich intensiv auf den jeweiligen gegenwärtigen herausragenden Moment oder den betreffenden Gedenktag konzentriert und dennoch Teil eines Kontinuums von Herausforderungen und Siegesfeiern ist, die Resilienz, innere Kraft und sogar Innovation bestärken, „eins um das andere Mal“. Im Gegensatz zum historisch-krisenhaften liturgischen Gedenken kündigt das apokalyptisch-krisenhafte immer wieder das „Ende der Zeit“ an. Während die grundlegende Zeiterfahrung für diejenigen, die diesen Typ des liturgischen Gedenkens praktizieren, auch punktuell ist, liegt das entscheidende Ereignis hier nicht in der jüngeren Vergangenheit, sondern vielmehr in der Zukunft. Die Funktion des Gedenkens bei diesem Liturgietyp besteht darin, der Gottesdienstversammlung kontinuierlich den kommenden letzten Tag des göttlichen Gerichts zu verkünden, eine endgültige Zerstörung der Geschichte, wie wir sie kennen, die das Errettete und 12 Als Beispiel einer Beschreibung und theologischen Analyse einer römisch-katholischen Liturgiefeier (Messe), die die Symbolsprache und die Narrative einer Ausbildungseinrichtung übernimmt und damit den Übergang (Graduation) der Abschlussklasse feiert, vgl. Bruce T. Morrill, Worship as Public Act on the American Catholic University Campus, in: Worship 75 (2001), 528–543.

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Verdammte für alle Ewigkeit spaltet – eine Ewigkeit, die man sich als eine Art endlose Zeit vorstellt. Mit dem Fokus auf eine hoffnungslos gefallene Welt und einer immanenten, entschiedenen göttlichen Intervention ist der Affekt dieses Typs des Gedenkens mit einer aufgeregten, erwartungsvollen Mischung aus Angst und Freude aufgeladen. Während mögliche Furcht auf den zukünftigen apokalyptischen Moment weltlicher Zerstörung (mit seinen persönlichen, subjektiven Implikationen) blickt, können Freudengefühle nicht nur beim Gedanken entstehen, Jesus im Himmel zu begegnen, sondern auch beim Nachdenken über die Zusicherung der Liebe und Vergebung Christi (oder die Kraft des Geistes) in diesen gegenwärtigen, vergänglichen Tagen. Der primäre soziale Leib, der ein solches liturgisches Gedenken vollzieht, ist der individuelle Gläubige in seiner Funktion als Richter, der beurteilt, wie er (oder sie) derzeit in Bezug auf das endgültige göttliche Urteil steht, aber auch, wie es seiner oder ihrer Familie und den engen Freunden am Ende wahrscheinlich ergehen wird. So neigt das Individuum dazu, anderer Menschen einer bestimmten sozialen Gruppe zu gedenken, und zwar je nachdem, ob die jeweiligen Individuen (die Angehörigen einer Familie oder Nation) nach dem erinnerten zukünftigen Urteil leben oder nicht. Die affektive soziale Bindung von Vertretern eines solchen Modells christlichen Gottesdienstes kann eine stark negative Ausrichtung haben, wenn sie ihre Identität gegen eine Bedrohung konstruieren, also gegen andere böse und außerhalb der selbst gewählten sozialen Kreise lebende Menschen, deren kulturelle oder soziale Merkmale sie zu einer einzigen Masse verschmelzen lassen, die wiederum von unmittelbarer Gefahr und undenkbarer Wiederherstellung von Gemeinschaft gekennzeichnet ist. Dieses Gefühl kann leicht zu einer Reihe von fremdenfeindlichen Einstellungen und politischen Positionen führen, auf die ich weiter unten eingehen werde. Das Kirchenbild, mit dem in diesem apokalyptisch orientierten Gedenken gearbeitet wird, ist also ein in sich geschlossener, sektiererischer Leib von wahren Gläubigen, die bestrebt sind, einzelne ewige Seelen (manchmal den treuen Überrest der von Gott bestimmten „Nation“) zu retten, indem sie der Botschaft von zukünftiger höllischer Verdammnis bzw. von himmlischer Befreiung zustimmen. Vorsteher dieses apokalyptischen liturgischen Gedenkens ist der Prediger, der daran arbeitet, Menschen zu überzeugen, eine Entscheidung über sich selbst in Bezug auf Gott und die Welt zu treffen, die der Prediger ihnen vorstellt. Die wichtigste – tatsächlich fast ausschließliche – Grundlage dieser Darstellung ist eine selektive, fundamentalistische Lektüre der Bibel. In Gottesdiensten des apokalyptischen Typs ist die Heilige Schrift der Rückgriff auf die Vergangenheit, ein Wiederabrufen von Geschichten und Prophezeiungen, die der Prediger auf die gegenwärtigen Irrwege der anderen sozialen Gruppen hin interpretiert, und dies als eine enggeführte Schilderung der kommenden apokalyptischen Krise. Dieser Typ ritueller Tradition konzentriert sich fast ausschließlich auf Worte – etwa durch Bibelstellen in den Predigten des Pastors und die Texte der von den Kirchenmusikerinnen und -musikern aufgeführten Lieder und Musikstücke.



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Die Dynamik ist hier die der Botschaftsübermittlung durch den Vorsteher und des Botschaftsempfangs durch die Gemeinde. Der apokalyptisch geprägte Gottesdienst, der primär im narrativen Gedächtnis des Einzelnen verwurzelt ist, benötigt kaum ein liturgisches Jahr oder einen liturgischen Kalender, und in einigen Kirchen hat sogar der Sonntag seine letzte Symbolik eingebüßt.13 Es ist daher nicht verwunderlich, dass jede Art von Eucharistie oder Abendmahl in solchen Gottesdiensttraditionen selten vorkommt, weil der Tisch von Natur aus die Erlösung in einen gemeinschaftlichen Rahmen umorientieren würde. Im Gegenteil, die rituellen Gesten, die im Einklang mit der punktuellen Krisenorientierung des apokalyptischen Gedenkens stehen, sind die einmalige Taufe und der einmal im Gottesdienst vom Altar ergehende Ruf zu Umkehr und zur Unterwerfung unter Jesus, beides verstanden als individuelle Werke subjektiver Ernsthaftigkeit.14 Als Schlussbemerkung für meine Skizzierung dieser beiden Typen eines Krisenmodells liturgischen Gedenkens möchte ich festhalten, dass beides, die Geschichte und das Ende der Geschichte, je eine soziale Konstruktion der Gegenwart ist. In beiden Krisenmodellen des liturgischen Gedenkens ist das primäre Zeitnarrativ auf das

13 Schmemann kritisierte die zeitgenössischen Missverständnisse der frühchristlichen Eschatologie als einen weltverneinenden, exklusivistischen Blick auf das zweite Kommen Christi, da diese die ursprüngliche christliche Feier des Sonntags verkennen würden: „In einem ‚komplett weltentsagenden‘ Kult hätte es nicht die Notwendigkeit eines festen Tages (statu die) gegeben; er hätte an jedem beliebigen Tag und zu jeder beliebigen Stunde gefeiert werden können“ (Alexander Schmemann, Introduction to Liturgical Theology, ins Englische übers. von Asheleigh E. Moorhouse, Crestwood, NY 1966/1986, 80; zitiert in: Morrill, Anamnesis as Dangerous Memory [Anm. 9], 95). Vgl. auch Kimberly Belcher, Time and Eschatology, the Week and Shabbat. The Differentiated Unity of Schmemann’s Ordo and the Jewish Sabbath, in: Porter C. Taylor (Hg.), We Give Our Thanks Unto Thee, Eugene, OR 2019, 168 f. 14 Die Sozialwissenschaftler Seligman, Weller, Puett und Simon beschreiben die moderne christliche, vorwiegend protestantische Betonung der Aufrichtigkeit – „das Bezeichnende, Einzigartige, Diskursive und Private“ – gegenüber den Merkmalen „des Performativen, Repetitiven, Konjunktivischen, Antidiskursiven und Sozialen“ einer rituell orientierten Religion. Sie ziehen daraus die folgenden sozialpolitischen Konsequenzen: „In der Tat kann die gesamte Welt der liberalen Moderne sinnvollerweise als ein Feld der Aufrichtigkeit verstanden werden. Die Zentralität des Individuums und die Wertschätzung des Privaten sind schließlich zentral für das normative Programm der liberalen, aufgeklärten Moderne. Daraus folgt der diskursive Charakter der Moderne, ihre kulturelle Betonung der Einmaligkeit und Einzigartigkeit und – in den USA jedenfalls – die Privilegierung der individuellen Wahl vor dem Repetitiven. Bestimmte Aspekte dieses Kulturkodex gehen natürlich auf die Grundlagen des europäischen und westlichen zivilisatorischen Strebens zurück. Das Gewicht, das dem individuellen Willen als Erklärung für den sozialen Wandel beigemessen wird, ist beispielsweise seit Jahrhunderten ein wesentliches Thema im westlichen politischen Denken. Die Arbeitsweise des individuellen Willens ist natürlich in höchstem Maße einzigartig, diskursiv und bezeichnend. Es ist das Aufrichtige, das über den Verlauf der Geschichte geschrieben wurde“ (Adam Seligman u. a., Ritual and Its Consequences. An Essay on the Limits of Sincerity, New York 2008, 115 und 118).

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weitere soziale Umfeld ausgerichtet, welches in der westlichen Moderne oft einen nationalen Charakter hat, wohingegen es auf den östlichen und südlichen Kontinenten verschiedene ethnische oder in Stämmen organisierte Gemeinwesen gibt, die entweder im Einklang mit dem Nationalen oder im Spannungsverhältnis dazu stehen. Gleich in welchem Kontext, der Gegensatz zwischen den historisch-krisenhaften und den apokalyptischen Formen liturgischen Gedenkens besteht in ihrer Verurteilung versus Bekräftigung des gegenwärtigen Zustands der soziokulturellen Gegebenheiten und damit der Ritualisierung eines Narrativs göttlich geleiteter historischer Kontinuität durch Krisen hindurch – versus eine durch göttliches Tun bewirkte Beendigung der gescheiterten Menschheitsgeschichte, von der aber die treuen, gleichgesinnten Gläubigen verschont bleiben.

2.3 Das Modell der Reenactment-Repräsentation Während der apokalyptisch-krisenhaft ausgerichtete Gottesdiensttyp in erster Linie von prophetischen und apokalyptischen biblischen Texten abhängt, stützt sich ein anderer Typ christlichen Gottesdienstes aufgrund seines besonderen biblischen Inhalts stark auf Geschichtenerzählungen und praktiziert, was ich als Reenactment-Modell von liturgischem Gedenken bezeichnen würde. Ein alternativer Name für dieses Modell könnte durchaus „repräsentierend“ sein, da die Beteiligten glauben, dass sie verschiedene präzise Objekte, Aktionen und Persönlichkeiten vergegenwärtigen, als wären sie von der Vergangenheit her statisch gespeichert worden. Ein besserer Weg, um zu diesem Modell der Reenactment-Repräsentation zu gelangen, besteht vielleicht darin, es als „darbietend“ zu betrachten, da es sich um dramatische (theaterähnliche) Performances, Kunstwerke (Gemälde, Fenster, Statuen) eines realistischen Genres mit den entsprechenden Texten (etwa Predigten oder Homilien) handelt, die nachzubilden versuchen, „wie es wirklich gewesen sein muss“, vor Jahrtausenden, als die biblische Geschichte ins Leben trat. Der primäre soziale Leib dieses Modells hat westeuropäische mittelalterliche Wurzeln, als die Unverständlichkeit der immer ausgefeilteren lateinischen Riten, die in den erhabenen Kirchengebäuden gefeiert wurden, dazu führte, dass die Menschen auf den Plätzen vor den Kathedralen ihre eigenen Rituale entwickelten. Die frühesten davon waren Ostermorgenspiele, in denen die Geschichte der Frauen, die den Leichnam Jesu am Grab suchen, dramatisiert wurde, während eines der bekanntesten Beispiele das Passionsspiel ist, das die Oberammergauer einmal im Jahrzehnt auf die Bühne bringen. Diese dramatischen Darbietungen können zu Recht als Formen des Volksgottesdienstes bezeichnet werden, auch wenn sie zur Entwicklung des dramatischen Theaters als westlicher Kunstform beigetragen haben. In den folgenden europäischen Jahrhunderten tauchten weitere realistische Gemälde und Skulpturen auf, die die dramatischen Figuren und Handlungen einer bestimmten biblischen Geschichte darstellten, ebenso wie Poesie oder Literatur, die die oft spärlichen De-



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tails einer bestimmten biblischen Geschichte ausmalten. Alle diese künstlerischen Formen der Präsentation biblischer Geschichten, Figuren und Ereignisse können mimetische Qualität haben, was bedeutet, dass sie die Vorstellungen ihres Publikums aktiv mit einbeziehen, so dass sich der Betrachter den „realen“ Persönlichkeiten oder Ereignissen der Vergangenheit „annähern“ kann.15 Die affektive Wirkung einer solchen Aufführung ist in der Regel eine Art Vergewisserung als Grundlage für den Inhalt des Glaubens, ein gestärktes Gefühl der Verbundenheit mit der Religion und mit ihren Ursprüngen, dies alles nicht erzeugt durch Ideen und Argumente, sondern durch Empfindungen und Emotionen, die das Selbst und den sozialen (kirchlichen oder bürgerlichen) Kontext in Bezug auf Gott und die Welt befestigen. Der Reenactment-Typ des Erinnerns funktioniert hauptsächlich innerhalb des Volk-Leibes der Kirche. Während in der früheren westlichen Christenheit dieses beliebte Mittel zur Erinnerung an die Vergangenheit nicht nur an den Innenwänden und Fenstern von Kirchengebäuden, sondern auch an öffentlichen Orten eingesetzt wurde, findet man heute sowohl protestantische als auch römisch-katholische Gemeinden, die „lebensechte“ oder „ganzheitliche“ Aufführungen von biblischen Geschichten in ihren Liturgien kennen, insbesondere während des Gottesdienstes an Heiligabend oder in der Karwoche. Sowohl Geistliche als auch Laien beteiligen sich auf diese volkstümliche Weise an der Aufführung und aktiven Beobachtung von biblischem Theaterspiel, während die besagten Kunstwerke an Wänden und Fenstern ebenfalls ihren Inhalt für den gesamten Leib der Kirche darstellen, so dass sie die Gegenwart – ihre persönlichen, sozialen und kirchlichen Leben – im Lichte dessen interpretieren können, was sie als „realistische“ Bilder von Schlüsselfiguren und biblischen Ereignissen aus der Vergangenheit ansehen. Jeder Interpretationsakt beinhaltet, so lehrt die philosophische Hermeneutik, dass Menschen ihre eigenen Bilder, Werte, Ideen und durchaus auch Ideologien auf einen Text (ein Drama, Kunstwerk usw.) projizieren. Hierin liegt eine Gefahr für den sozialen und den kirchlichen Leib. In dem Maße, in dem die Kunst (in der Form von Geschichten, Dramen, Gemälden, Fenstern, Skulpturen) sowie die Menschen, die sich mit ihnen befassen, den biblischen Inhalt anhand ihrer gegenwärtigen sozialen Vorstellungskraft16 und Machtdynamik (Geschlecht, Rasse, Klasse usw.) darstellen, wird das Reenactment der Vergangenheit zu einer übermäßig konservativen, wenn nicht sogar einschränkenden Verstärkung gegenwärtiger kirchlicher und so­ zialer Übereinkünfte, Vorurteile und Machtverhältnisse. Eines der schlimmsten Beispiele dafür, vom Mittelalter bis zur Gegenwart, sind die unzähligen Arten, in denen christliche Reenactment-Repräsentationsformen den Antijudaismus unterstützt und 15 Für einen knappen historisch-philosophischen Überblick über das Konzept vgl. „mimesis“, The Chicago School of Media Theory, abgerufen am 12. Juni 2019, https://csmt.uchicago. edu/glossary2004/mimesis.htm#_ftn22. 16 Eine gründliche philosophische Darstellung des Konzepts moderner sozialer Vorstellungen bietet Charles Taylor, A Secular Age, Cambridge, MA 2007, 159–211.

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ihn bekräftigt haben. Ein weiteres Beispiel im nordatlantischen (wenn nicht im weiteren kolonialen) Kontext ist die weiße Vormachtstellung. In meiner eigenen römisch-katholischen Kirche bildet das Reenactment-Repräsentations-Modell das Abendmahl mit einem kaukasischen Christus ab, der einen Kelch und eine Hostie in Begleitung männlicher Apostel erhebt, so dass sich die Tradition des Zelebranten als „in persona Christi handelnd“ nicht nur auf das öffentliche Denken von Klerikern und Laien, sondern auch auf die offiziellen Instruktionen des Vatikans auswirkt und damit die Doktrin verstärkt, dass nur Männer als Priester am Altar dienen dürfen.17 Wenn die nachgestellte Vergangenheit die dargebotene Gegenwart widerspiegelt, erstickt die prophetische Herausforderung und der eschatologische Schmerz der christlichen biblischen Tradition.

2.4 Die anamnetischen Modelle: formal und populär Im Gegensatz zu dem, was ich gerade versucht habe als statisches Wiederabrufen von Informationen aus der Vergangenheit darzustellen, wende ich mich meinem letzten Modell von liturgischem Gedenken zu, dem anamnetischen, das seit frühesten christlichen Generationen eine dynamische Beziehung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ermöglicht. Wie auch das Krisenmodell erfordert das anamnetische eine Beschreibung anhand von zwei Typen, die sich in diesem Fall als formal und populär charakterisieren lassen. Ich muss zuerst noch kurz auf den populär-anamnetischen Typ eingehen, da ich vermute, dass meine Charakterisierungen des Re­ enac­tment-Repräsentations-Modells bei einigen Hörenden/Lesenden durchaus Assoziationen zu bestimmten kulturellen Ritualen, wie denen im nordamerikanischen Hispano-/Latino-Katholizismus, aufkommen lassen, wo rituelle Aktivitäten mit Gebrauch von Statuen und Kostümen keine statische, die Vergangenheit beschwörende Qualität haben, sondern vielmehr als Momente dynamischer persönlicher Begegnung mit Jesus und Maria erlebt werden, worin die Erinnerungen der Menschen an die Vergangenheit und die Hoffnungen auf die Zukunft in einer gegenwärtigen narrativ-symbolischen Aktualisierung des biblischen Inhalts verschmelzen.18 Trotzdem will ich die kostbare Zeit und den Raum nutzen, die mir zur Verfügung stehen,

17 Für eine historisch-theologische Besprechung des in persona Christi vgl. Jean-Pierre Torrell, A Priestly People. Baptismal Priesthood and Priestly Ministry, ins Englische übers. von Peter Heinegg, New York 2013, 142–149. 18 Vgl. Roberto S. Goizeueta, Caminemos Con Jesús. Toward a Hispanic/Latino Theology of Accompaniment, Maryknoll, NY 1995, 29–37 sowie die Kapitel von Timothy Matovina, Karen Mary Davalos und Roberto S. Goizeueta in: Timothy Matovina – Gary Riebe-Estrella (Hg.), Horizons of the Sacred. Mexican Traditions in U.S. Catholicism, Ithaca, NY 2002, 17–68 und 119–138.



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um die Merkmale des anamnetischen Modells mit Hilfe des Formaltyps zu bestimmen. Der formal-anamnetische Typ des liturgischen Gedenkens ist eine Schlüsselkomponente der ökumenischen eucharistischen liturgischen Reform, die sich im Laufe des 20.  Jahrhunderts entwickelt hat, denn sie beschäftigt sich mit der theologischen – biblischen, historischen, theoretischen und praktischen – Frage der rituellen Erinnerung, die für das Christentum aus seinen Ursprüngen in der Bibel und den ersten Jahrhunderten charakteristisch ist, als Schlüssel zum Verständnis der traditionellen kirchlichen Überzeugung, dass der auferstandene Christus Jesus zur Rechten Gottes aufgefahren und dennoch durch die Kraft des Geistes gegenwärtig ist, wenn sich die Gemeinschaft der Getauften versammelt, um seines Todes und seiner Auferstehung zu gedenken. Die synoptischen Evangelien zitieren (mit einer Parallele im ersten Korintherbrief ) Jesus, der am Vorabend seiner Folter und Hinrichtung zu Tisch sitzt und seinen Jüngern befiehlt: „Tut dies!“ Der Befehl bezieht sich nicht eng auf die Gegenstände Brot und Wein, sondern auf die gesamte rituelle Handlung; diese Handlung selbst beinhaltet die Erinnerung an „mich“, das heißt an die gesamte Person, das Leben, die Sendung, den Tod und die Verherrlichung Jesu. Die Art und Weise, mit der die Liturgische Bewegung und die ökumenischen Kirchendokumente mit Sacrosanctum Concilium als Charta-Text diese allumfassende liturgische Erfahrung der Gegenwart des Abwesenden versinnbildlichen, ist das Pascha-Mysterium.19 Die Funktion des Gedenkens bei der Feier des Pascha-Mysteriums entspringt der biblischen Überlieferung, wie ich im Folgenden zusammenfasse.20 In den Berichten von Paulus und Lukas über das Abendmahl spricht Jesus seinen Befehl aus, nachdem er das Brot und den Kelch gesegnet und geteilt hat: „Tut dies in Erinnerung [eis anamnesin] an mich“ (1  Kor 11,24; Lk 22,19)  – parallel zu JHWHs Befehl an die flüchtenden hebräischen Sklaven im Buch Exodus: „Dieser Tag soll ein Gedenktag [lezikkarôn] für euch sein. Feiert ihn …“ (Ex 12,14).21 Wissenschaftliche Analysen der Septuaginta, der Mischna und anderer Quellen weisen darauf hin, dass das griechische Wort für Erinnerung (anamnesis) in neutestamentlichen Texten im hebräischen Begriff zikkaron, einem rituellen Akt des Gedenkens, wurzelt.22 In jedem Bericht findet das Mahl am Vorabend des entscheidenden gött19 Vgl. Albert Gerhards – Benedikt Kranemann, Einführung in die Liturgiewissenschaft, Darmstadt 2006, 119 und 125–130. 20 Die folgenden beiden Abschnitte schöpfen stark – größtenteils wörtlich – aus meiner früheren Veröffentlichung: Encountering Christ in the Eucharist. The Paschal Mystery in People, Word, and Sacrament, New York 2012, 87–89. 21 Vgl. Xavier Léon-Dufour, Sharing the Eucharistic Bread. The Witness of the New Testament, ins Englische übers. von Matthew J. O’Connell, New York 1982, 110. 22 Vgl. David Gregg, Anamnesis in the Eucharist (Grove Liturgical Study 5), Brambcote Notts, UK 1976, 22; William R. Crockett, Eucharist: Symbol of Transformation, New York 1989, 21–28; Andrea Bieler  – Luise Schottroff, The Eucharist. Bodies, Bread, and Resurrection, Minneapolis, MN 2007, 158 f.

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lichen Aktes der Befreiung bzw. der Erlösung statt (Exodus, der Tod Jesu), wobei die Symbole, die beim Segen geteilt werden, nicht nur auf dieses Ereignis der unmittelbaren Zukunft hinweisen, sondern aufgrund des Befehls der Wiederholung auch auf eine erweiterte Zukunft. Die gesamte rituelle Handlung ist also nicht nur kultisch, sondern auch prophetisch, zunächst insofern, als die symbolischen Gesten die historischen Ereignisse in Gang setzen, die Gott unmittelbar am nächsten Tag herbeiführt (die Flucht aus der Sklaverei, die Kreuzigung Jesu). Dies bedeutet jedoch, dass nachfolgende Generationen bei der Feier des gemeinschaftlichen Opfers das einzigartige historische Ereignis nicht nachstellen („reenact“) oder wiederholen. Ihr Gedenken erinnert vielmehr an die prophetische Prä-Figuration dieses Ereignisses, dessen Symbole „zukunftsträchtig“23 für die Feierlichkeiten dieser Generationen sind, für ihr Zusammenleben als Volk in Gemeinschaft mit diesem Gott und für die noch zu erwartende Erfüllung der Herrschaft Gottes, die das Mahl vorwegnimmt. Die Kontinuität zwischen den Strukturen der in Exodus und im letzten Abendmahl dargestellten Mahlrituale zeugt von dem grundlegenden christlichen Glauben an den einzigen Gott, dessen Absicht bei der Schöpfung und Erlösung darin besteht, dass die Menschen im Bund mit Gott gedeihen.24 Der radikale Unterschied liegt jedoch in dem Präpositionalobjekt, das dem Ende der christlichen Anamnese hinzugefügt wurde: Die Erinnerung wird „von mir“, das heißt von Jesus, aufbewahrt. „Den Tod des Herrn zu verkünden“, indem man dieses Brot isst und den Kelch trinkt (1 Kor 11,26), heißt, in Christus Jesus selbst hineingezogen zu werden, in das ganze Leben und die Person, die sich in dieser letzten Tat ganz und gar hingegeben hat, das heißt die Teilhabe am Pascha-Mysterium. Wenn es jetzt als Gedenken (Anamnese) an Jesus getan wird, ist das Nehmen, Segnen und Teilen von Brot und Kelch das rituelle Mittel der abwesenden (auferstandenen, aufgestiegenen) Gegenwart Christi als Lebensunterhalt, als Leben selbst, als Leben im Neuen Bund, das die Teilnehmenden zu einer gemeinsamen Liebe als Gottesdienst befähigt, „bis er kommt“ (1 Kor 11,26). Das semitische Erbe des christlich-liturgischen Erinnerns – was dualistischen Philosophien, die Leib und Seele trennen, fremd ist – bindet die Teilnehmer ganzheitlich ein, so dass das Gedenken nicht das Problem aufwirft, wie Menschen sich mit einem vergangenen Ereignis verbinden können, sondern die Herausforderung, wie die Heilsrealität, die das Gedenken in sich trägt, unter ihnen verwirklicht werden kann. Die grundlegende Zeiterfahrung im formal-anamnetischen Modell des liturgischen Gedenkens ist die Zeit der Kirche, die Kirche als Sakrament Gottes, die im Pascha-­Mysterium Christi offenbart ist, die endgültige Offenbarung des Heilswillens 23 Léon-Dufour, Sharing the Eucharistic Bread (Anm. 21), 111. 24 Zur Diskussion darüber, wie dieses dynamische Verhältnis zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vermutlich aus dem frühen rabbinischen Judentum in die Feier der PessachHaggada Eingang fand, vgl. Emma O’Donnell, Remembering the Future. The Experience of Time in Jewish and Christian Liturgy, Collegeville 2015, 105–109.



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Gottes für die Menschheit und auch für die gesamte Schöpfung, die ihren Höhepunkt in „einem neuen Himmel und einer neuen Erde“ erst noch erreichen muss (Offb 21,1; vgl. 2 Petr 3,13). In den liturgischen Riten der Kirche befähigt „der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat“ (Röm 8,11), die Gläubigen durch Wort und Sakrament, das zu erkennen und an das zu glauben, was dieser Geist anonym in ihrem eigenen Leben und dem der ganzen Welt bewirkt.25 Der ­Affekt, den dieser anamnetisch-epikletische Gottesdienst entfaltet, umfasst einerseits die Glaubensgewissheit, die durch die natürlichen, sozialen und persönlichen Prüfungen des Lebens hindurchträgt, weiter die erwartungsvolle Sehnsucht nach der Hoffnung darauf, dass der Gott, der in der Vergangenheit Wunder getan hat, auch jetzt für uns handeln möge, und schließlich die Kraft zu lieben, und zwar nicht nur diejenigen zu lieben, die uns am nächsten sind, sondern besonders die Armen, das heißt diejenigen, die an materieller, sozialer oder geistiger Entbehrung leiden.26 Eine solche biblisch-prophetische und eschatologische Begegnung zwischen Gott und Mensch hängt von den liturgisch geprägten Zeiten und der Leseordnung des Kirchenjahres ab. Nur mit diesen anamnetisch-liturgischen Mitteln kann das Wort Gottes, das in der Mitte der Versammlung verkündet wird, Korrekturen, Verheißungen und Möglichkeiten „zusprechen“, die die Mitglieder in ihren persönlichen, sozialen und kulturellen Vorurteilen sich möglicherweise nie vorgestellt hätten oder welche sie sich nicht hätten vorstellen wollen – was leider auch oft der Fall ist. Die Person und die Funktion des (ordinierten) Vorstehers steht zusammen mit allen anderen liturgischen Diensten im Dienst des versammelten Leibes Christi und führt und befähigt alle dazu, sich voll, bewusst und aktiv am Pascha-Mysterium zu beteiligen. Die Liturgie, dieses Werk (ergon) der Verherrlichung Gottes durch die Heiligung der versammelten Getauften (laos), ist dabei die Praxis einer lebendigen Tradition, der sakramentalen Offenbarung der barmherzigen und gerechten Werke Gottes unter allen und durch alle Menschen auf dieser Welt. Als Schlussbemerkung zu dieser konzentrierten Darstellung des anamnetischen Modells kehre ich noch einmal zu seinen populären Erscheinungsformen zurück, denn letztendlich nur, wenn Christen Wege finden, das Pascha-Mysterium durch andere Gebetsformen und mehr noch durch moralische und sozialethische Praktiken zu inkarnieren, kann die liturgische Verkündigung der Herrlichkeit Gottes und der

25 „Die Eucharistie ist das unveräußerliche Geschenk, das die Gläubigen in der Zeit verankert, sie miteinander und mit ihrem Ursprung verbindet, ihre Zukunft andeutet und ‚die größte imaginäre Kraft und in der Konsequenz den größten symbolischen Wert konzentriert‘“ (M. Shawn Copeland, Enfleshing Freedom. Body, Race, and Being, Minneapolis 2010, 108). Das von Copeland angeführte Zitat stammt von Maurice Godelier. 26 Gustavo Gutiérrez hat eine überzeugende Drei-Punkte-Skizze menschlicher Armut ausgearbeitet; siehe Gustavo Gutiérrez, Essential Writings, hg. von James B. Nickoloff, Maryknoll, NY 1996, 291–302.

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Erlösung der Menschheit sich überhaupt als Wahrheit erweisen.27 Ich hatte zuvor mit einem kurzen Hinweis auf das begonnen, was gemeinhin Volksfrömmigkeit genannt wird, da sich solche Andachten, genau deshalb, weil sie Tages- und Jahrestermine beachten, als Quellen moralischer Kraft und persönlicher Tugend erweisen. Ein anderer, wenn auch nicht unbedingt entgegengesetzter Typ populären anamnetischen Gedenkens findet sich in den Praktiken verschiedener Befreiungstheologien, die in der gesamten Weltkirche zu finden sind, wobei sich Mystik und Politik, Liturgie und Ethik gegenseitig beeinflussen und eine fortdauernde Dialektik des Glaubens prägen.28

3. Fazit Am Ende eines solch ambitionierten Versuchs, das komplexe Verhältnis zwischen Liturgie und Gedenken in der zeitgenössischen christlichen Praxis zu beleuchten, bleibt mir nichts anderes übrig, als mit der hoffnungsfrohen Bemerkung zu schließen, dass meine Typenskizzen die Zuhörenden bzw. Lesenden zu weiteren, vermutlich oft besseren Einsichten anregen werden. Während ich die Modelle – mit allen Grenzen, die ich in meiner Einführung beschrieben habe – dazu genommen habe zu beschreiben, wie der mythische und mystische Inhalt liturgischer Riten mit den sozialgeschichtlichen und politischen Dimensionen des Lebens der Gläubigen, die sie feiern, in Wechselwirkung steht, vertraue ich darauf, dass meine im anamnetischen Modell liturgischen Gedenkens kulminierenden Ausführungen den normativen Status für die Theologie verdeutlichen, den ich ihm hier zugeschrieben habe. Aber auch

27 „Es ist das Sakrament, das der Ethik die Kraft gibt, ein ‚spirituelles Opfer‘ zu werden. Es ist die Ethik, die dem Sakrament die Möglichkeit gibt, seine Fruchtbarkeit zu ‚verifizieren‘“ (Louis-­ Marie Chauvet, The Sacraments. The Word of God at the Mercy of the Body, ins Englische übers. von Madeleine Beaumont, Collegeville, MN 2001, 65). 28 Hier könnte natürlich eine ausführliche Bibliographie eingefügt werden, die sich mit der wachsenden Anzahl von Werken von Theologinnen und Theologen aus dem globalen Süden befasst. Zu einschlägigen Beiträgen von Frauen aus benachteiligten Kontexten siehe verschiedene Aufsätze in: Kwok Pui-lan (Hg.), Hope Abundant. Third World and Indigenous Women’s Theology, Maryknoll, NY 2010. Seit meinen frühesten Arbeiten bin ich besonders davon beeinflusst, wie Johann Baptist Metz, Gustavo Gutiérrez und Edward Schillebeeckx das wechselseitige Verhältnis von Mystik und Politik, Liturgie und Ethik zu einem integralen Bestandteil ihrer politischen Theologien oder Befreiungstheologien gemacht haben. Ein Beispiel dafür in Essay-Länge ist etwa Bruce T. Morrill, Liturgy, Ethics and Politics. Constructive Inquiry into the Traditional Notion of Participation in Mystery, in: Joris Geldhof (Hg.), Mediating Mysteries, Understanding Liturgies. On Bridging the Gap Between Liturgy and Systematic Theology (Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium 278), Leuven 2015, 187– 206.



Modelle liturgischen Gedenkens111

hier gilt, dass die Vielfalt der die Liturgie feiernden Menschen in ihren unterschiedlichen Situationen und Kontexten die Art und Weise und das Ausmaß relativiert, in dem die auf das Pascha-Mysterium fokussierte anamnetisch-epikletische Bedeutung und Form der heutigen reformierten Riten der Kirchen recht sicheren Halt gefunden haben. Die lohnende Herausforderung besteht nach wie vor darin, dem biblischen, prophetischen und eschatologischen Gehalt der Liturgie zu dienen und so das Leben des praktischen Glaubens zu stärken, das sich aus dem Gedenken der kommenden Herrschaft Gottes speist.

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Die Begräbnisfeier – Ostergedächtnis und Eingliederung in den auferstandenen Leib Christi Bénédicte Mariolle

1. Einleitung Noch vor sechzig Jahren fand die Beerdigung eines römisch-katholischen Christen nach einem unveränderlichen Ritus statt, der mit Ausnahme einiger kleinerer Anpassungen an regionale Gewohnheiten den Vorschriften des Rituale Romanum von 1614 unterlag. Die Trauerprozession, die schwarzen Vorhänge, das Dies irae, die Absolution des Verstorbenen, die Prozession zur Beileidsbekundung, die Beerdigung auf dem Friedhof, die Sterbeämter, der Besuch der Gräber an Allerseelen – all dies waren Zeichen eines kollektiven Trauergedächtnisses, egal ob man religiös oder anti­ klerikal eingestellt war. Es muss konstatiert werden, dass sich die Situation in den letzten sechzig Jahren grundlegend verändert hat. In einem Kontext, der von Danièle Hervieu-Léger als „Exkulturation“ des Christentums bezeichnet wird1, funktionieren christliche Bezüge und rituelle Orientierungspunkte nicht mehr so, wie es teilweise noch in den 1960er Jahren der Fall war, als die Riten noch von einer kirchlichen Institution getragen wurden. Des Weiteren hat sich in dieser neuen kulturellen Realität, die von Globalisierung, Vermischung der Kulturen und Fluidität der sozialen Beziehungen geprägt ist, das Langzeitgedächtnis, das die symbolische Wirksamkeit dieses rituellen Gefüges sicherstellte, aufgelöst. Eine Umfrage, die 2016 vom Service National de Pastorale Liturgique et Sacramentelle in den Diözesen Frankreichs durchgeführt wurde, intendierte, die heutige Situa­ tion zu untersuchen, um einige pastorale Orientierungen geben zu können. Die aufgezeigten Veränderungen betreffen sowohl die Einstellung zum Tod (seine Privatisierung, seine Individualisierung und die Verkürzung der ihm zugestandenen Zeit) als auch die Praktiken (Kommerzialisierung des Todes; Diversifizierung der Orte, der Trauerwege und der rituellen Akteure; steigende Selbstverständlichkeit der Thanatopraxie; massive Zunahme der Einäscherungen, begleitet von der Verstreuung der 1 Vgl. Danièle Hervieu-Léger, Catholicisme, la fin d’un monde, Paris 2003.

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Asche; Rückgang der Friedhöfe; Auftauchen neuer Gedächtnisformen durch die sozialen Netzwerke) sowie die neuen rituellen Formen (Vervielfachung der Trauer­ reden; Vorlesen von Texten und Hören von Musik, die von Angehörigen mitgebracht werden; Anwesenheit von mit dem Verstorbenen in Verbindung gebrachten Gegenständen, sogar von Haustieren; Vorschläge für alternative Riten synkretistischer Natur etc.). Eine globalere Betrachtung zeigt eine Tendenz zur „Personalisierung“ der Beerdigung, die sich in einem rituellen Spiegel ausdrückt, der es den Teilnehmenden ermöglicht, den Verstorbenen zu inszenieren und „ihn ein letztes Mal wieder zum Leben zu erwecken […], um sich dann von ihm zu trennen“2. Dafür setzen sich beispielsweise einige engagierte Bestattungsunternehmer ein, die sich bemühen, die Erwartungen der Familien so gut wie möglich zu erfüllen: „Um Sinn zu ergeben, muss eine Zeremonie aus dem Holz eines Rituals geschnitzt sein und personalisiert werden. Das Gerüst des Lebens des Verstorbenen sowie seine Beziehung zu den Anwesenden – folglich die Personalisierung – füllen das Gefäß.“3

Die zeitgenössischen Kennzeichen der rituellen Trauerbegleitung deuten auf einen tiefgreifenden Wandel hinsichtlich des Verhältnisses zum Gedenken in drei Aspekten hin: die Loslösung aus Zeit und Raum, die mit einer Form der „Virtualisierung“ des Gedächtnisses und vor allem seiner Entinstitutionalisierung einhergeht. Die Ritual­norm basiert nicht länger auf institutionellen Vorgaben, die mit dem kollektiven Gedächtnis verbunden sind, sondern auf dem individuellen Subjekt und seiner Einzigartigkeit. Diese Situationsbeschreibung reicht aus, um die christliche Begräbnistradition zu hinterfragen, die eben gerade auf einem rituellen, inkarnierten Langzeitgedächtnis institutioneller Art beruht. Wenn wir mit François Michaud-Nérard festhalten können, dass das „Ritual, das seit Jahrhunderten funktioniert hat“, „heute, da die Abkehr von den Religionen alltäglich geworden ist“4, nicht mehr „funktioniert“, bedeutet dies somit das Ende aller spezifisch christlichen Ritualität? Muss die Kirche, um weiterhin Hoffnung zu verkünden, die von der Tradition geerbten rituellen Formen, die in der heutigen Kultur keine Resonanz finden, relativieren, um sich besser an die Bedürfnisse unserer Zeitgenossen anzupassen und gezielter auf ihre Wünsche einzugehen? Diesem Ansatz folgt zumindest eine Reihe kirchlicher Akteure, die einen wirklichen Dialog mit der Gesellschaft aufgenommen haben. So veröffentlichte Christian Biot im Jahr 2006 das Werk mit dem Titel: La cérémonie des obsèques adaptée aux convictions de chacun5 [Die Trauerfeier angepasst an die Überzeugungen jedes Einzelnen]. Ebenso tragen die Tagungsakten eines im Jahr

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François Michaud-Nérard, La révolution de la mort, Paris 2007, 212. Ebd., 210. Ebd., 212. Christian Biot, La cérémonie des obsèques adaptée aux convictions de chacun, Ivry 2006.



Die Begräbnisfeier115

2008 vom Institut Catholique de Paris organisierten Kolloquiums den folgenden aussagekräftigen Titel: Les funérailles aujourd’hui. Aspirations des familles, propositions de l’Église6 [Das Begräbnis heute. Wünsche der Familien, Vorschläge der Kirche]. Für die Autoren bestand das Ziel darin, „die gegenwärtigen Umbrüche in der Bestattungspraxis“ zu untersuchen und „Wege vorzuschlagen, wie die Botschaft der Kirche über den Tod an die gesellschaftlichen Veränderungen angepasst werden kann“.7 Wenn diese christliche Sichtweise auf den Tod jedoch eine wirkliche Relevanz hat, müsste man sich fragen, ob es in der langen christlichen Bestattungstradition nicht einen widerstandsfähigen „Kern“ gibt, ein „Gedächtnis“, das von weither kommt, aus dem bestimmte Aspekte der Liturgie Bedeutung erlangen und das man nicht ohne Beeinträchtigung für die Verkündigung des Glaubens und der christlichen Hoffnung aufgeben könnte. Um diese Frage zu beantworten, wird sich unsere Reflexion in drei Phasen untergliedern. Ausgehend von der Lektüre des heute in der katholischen Kirche verwendeten Begräbnisrituale werden wir versuchen, die Hauptelemente der Liturgie und des Gedenkens zu umreißen, welches sie zum „Funktionieren“ benötigen. In einem zweiten Schritt scheint es sinnvoll, unser heutiges Ritual mit der langen Tradition zu vergleichen, um die spezifisch christlichen Merkmale einer Ritualisierung des Todes zu erkennen. Augustins Abhandlung De cura pro mortuis gerenda [Die Sorge für die Toten] wird es uns ermöglichen, diese Tradition zu charakterisieren, um das typisch christliche „Gedächtnis“ bei den Begräbnissen sowie die Art und Weise, wie es die Grundlage für eine christliche Identität konstituiert, zu benennen. Schließlich werden wir die Umrisse einer spezifisch christlichen Begräbnisritualität für heute zeichnen und die Herausforderungen für die Glaubensverkündigung darlegen.

2.

Das katholische Begräbnisrituale von 1969 – ein erinnerungswürdiger Weg

Das heute in der katholischen Kirche verwendete römische Begräbnisrituale wurde am 15. August 1969 promulgiert.8 Diese lateinische Editio typica umreißt die großen Linien der Begräbnisfeier mit Berücksichtigung der notwendigen Anpassung an verschiedene sprachliche und kulturelle Hintergründe. Für den französischsprachigen

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Christian Pian – Laurent Villemin (Hg.), Les funérailles aujourd’hui. Aspirations des familles, propositions de l’Église, Ivry 2009. 7 Isabelle de Gaulmyn, Les funérailles aujourd’hui. Aspirations des familles, propositions de l’Église; aufgerufen unter: La Croix, 17. Oktober 2009. 8 Ordo exsequiarum. Editio typica, Città del Vaticano 1969.

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Raum wurde diese Anpassung durchgeführt und im Februar 1972 approbiert.9 Auf diese französischsprachige Adaption und ihre Revision durch den französischen Episkopat im Jahr 2008 mit dem Titel Dans l’espérance chrétienne. Célébrations pour les ­défunts10 [In christlicher Hoffnung. Liturgiefeiern für die Toten] werde ich mich berufen.

2.1 Eine Stationsliturgie Die Editio typica des Rituale geht von einer gewissen Vielfalt an Bestattungsorten und -wegen in den unterschiedlichen Regionen der Welt aus. Bestattungen werden nicht als eine einzige Zeremonie, sondern als ein ritueller Weg präsentiert, der sich vom Ort, an dem der Leichnam ruht, über die Kirche bis hin zum Friedhof erstreckt.11 Als Stationsliturgie verwirklichen die Begräbnisse ein Ritual, das sich auf die erinnerungsbehaftete Aufladung der Orte stützt. Vom Ort, an dem der Leichnam ruht, über den Ort der Liturgiefeier bis hin zum Friedhof, mit Hilfe von Schritten und Ortsveränderungen, weist der Ritus in seiner räumlichen Entfaltung einen Weg, der je nach Ort und Zeitpunkt Sinn ergibt und es gleichzeitig ermöglicht, die Trauerarbeit durch die und mit Hilfe der Dauer des Ritus zu realisieren. Die Pastorale Einführung in das Begräbnisrituale verlangt, dass „die Durchführung, die den speziellen Eigenwert jeder dieser Phasen respektiert, die diversen Aspekte des Glaubens und des christlichen Gebets nach und nach manifestiert“12. So gehört der Ort, an dem der Leichnam ruht, noch zur familiären Intimität: Das Gedenken an den Verstorbenen wird hier gestaltet, und die christliche Gemeinde bekundet ihr Mitleid sowie ihre Hoffnung. Das Schließen des Sarges ist ein schmerzhafter Moment für die Familien, bei dem die Liturgie die Anwesenden dazu einlädt, das Gesicht des Verstorbenen im Gedächtnis zu behalten und ihren Blick auf Gott zu richten, bei dem sie ihn wiederzusehen hoffen.13 Die Kirche, Zeichen der kirchlichen Gemeinschaft, die auf dem Wort und den Sakramenten aufgebaut ist und zu welcher der Verstorbene durch seine Taufe gehört, ist der zentrale Ort auf diesem Weg. Das Gebäude bietet nicht nur einen angemessenen liturgischen Rahmen für die Begräbnisfeier, sondern bewahrt auch das Gedächtnis an die Tauf- und Eucharistiedimension der christlichen Gemeinschaft, in

9 La célébration des obsèques. Nouveau rituel des funérailles I. Accueil – ouverture de la célébration, liturgie de la parole, liturgie de l’Eucharistie (si on célèbre la messe), dernier adieu, ­Paris 21972 [RFF]. 10 Dans l’espérance chrétienne. Célébrations pour les défunts. Publié par l’Association épiscopale liturgique pour les pays francophones, Paris 2008 [DEC]. 11 Vgl. RFF, Nr. 14. 12 DEC, Nr. 12. 13 Vgl. DEC, Nr. 131.



Die Begräbnisfeier117

welche der Verstorbene integriert ist. Von diesem Standpunkt aus gesehen hat die Kirche eine echte Überlegenheit gegenüber einer Leichenhalle, einem Krematorium oder auch einem Friedhof. Der Verstorbene wird hier von seinen Angehörigen dem Gebet der Kirche und damit der Vermittlung Christi übergeben. Während dieser Station in der Kirche, welche die „wichtigste Station“ darstellt, wird der Liturgie des Wortes ein großer Platz eingeräumt, da sie „das Ostergeheimnis verkündet und die Hoffnung nährt“.14 Wie im alten Ritus nimmt die Eucharistie einen zentralen Platz in der Liturgie ein, jedoch liegt in der österlichen Perspektive des Ritus der Schwerpunkt eher auf der Eucharistie als Feier des Pascha-Hinübergangs Christi als auf dem Opfer zur Vergebung der Sünden des Verstorbenen.15 Auch wenn die Eucharistie­ feier nicht immer möglich oder wünschenswert ist, bleibt sie der Mittelpunkt des Ritus und erklärt seine Struktur. Schließlich ersetzte der von der östlichen Liturgie inspirierte Ritus der letzten Anempfehlung und Verabschiedung die Absolution, der nun im Sinne eines letzten Grußes an den Verstorbenen und seiner Übergabe an Gott durch die christliche Gemeinde vollzogen wird.16 Der Friedhof, Ort der Ruhe, markiert das Ende des Weges. In dem Moment, in dem der Leichnam endgültig aus den Augen der Angehörigen entschwindet und das Leben wieder seinen Lauf aufnehmen muss, weckt das Gebet die Hoffnung auf die Auferstehung des Fleisches. Wie das Rituale nahelegt, „wird die Grabstätte ein Ort des Gedenkens, zu dem einige Menschen – in der Erwartung der Auferstehung – kommen, um den Verstorbenen zu ehren und für ihn zu beten“17.

2.2 Eine Begleitung des Leichnams Die Begräbnisfeier setzt den Leichnam des Verstorbenen voraus, ohne den sie sich nicht vollständig entfalten kann.18 In der Tat hält das Rituale dazu an, dem Leichnam des Verstorbenen große Aufmerksamkeit zu schenken, indem es dessen zentrale Rolle betont. In seiner Nähe – von dem Ort, an dem er ruht, bis hin zum Friedhof  – ist die Gemeinde bemüht, sich an „alles zu erinnern, was [sie] mit dem Verstorbenen gelebt […] und was der Herr gesagt hat“19. Er ist es, den der Amts­

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RFF, Nr. 88. Vgl. RFF, Nr. 2. Vgl. RFF, Nr. 99. DEC, Nr. 296. Vgl. RFF, Nr. 99. Ebenso sollten bei einer Feier mit einer Urne alle Riten, die sich unmittelbar auf den Leichnam des Verstorbenen beziehen, gestrichen werden; vgl. Accueillir et accompagner la pratique de la crémation. Publié sous la responsabilité de Mgr Bernard-Nicolas Aubertin (Documents Episcopat 6), Paris 2014, Nr. 3, S. 38 f. 19 RFF, Notes doctrinales et pastorales [Pastorale Einführung in das französische Begräbnis­ rituale], Nr. 13.

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träger an der Kirchentür empfängt20; um ihn herum versammeln sich die Gläubigen21; in seiner Nähe werden die spezifischen Zeichen dieser Liturgie aufgestellt (die Oster­kerze, das Kreuz, die Blumen …), und über ihm werden die liturgischen Gesten (Beweihräucherung, das Besprengen mit Weihwasser) durchgeführt. Das Begräbnis fungiert somit als eine Begleitliturgie für den Verstorbenen durch die Vermittlung seines Leichnams. Durch diese vermittelnde Rolle wird das ganze menschliche Leben, das sich erfüllt hat, zu einem Ort der Begegnung zwischen Gott und den Menschen, zu einer Feier des Bundes, in welcher der Mensch auf die vorausgehende Gabe Gottes antwortet.

2.3 Ein kirchlicher Weg Das Rituale verdeutlicht auch die kirchliche Dimension des Begräbnisses, die „all diejenigen, die zum Volk Gottes gehören“22, Verwandte und Nahestehende des Verstorbenen, Mitglieder der christlichen Gemeinde sowie den Vorsteher der liturgischen Handlung umfassen muss. Die den Verstorbenen umgebende Versammlung ist nicht fakultativ und darf nicht nur ein Zeugnis von Zuneigung und Solidarität geben. Wie aus einer Stelle im Rituale hervorgeht, die an „den Brauch erinnert, den Sarg in diejenige Position zu bringen, die der Verstorbene normalerweise in der liturgischen Versammlung ein­ nahm“23, wird die Versammlung „eins mit dem Verstorbenen“. In der Todesstunde bezeugt die anwesende kirchliche Gemeinschaft daher, dass der Tote nicht alleine stirbt. Indem sie den Leichnam des Verstorbenen von Station zu Station begleitet, nimmt sie in gewisser Weise an seinem Durchgang, an seinem Hinübergang zum Leben durch den Tod, teil.

2.4 Ein Taufgedächtnis Die Begräbnisliturgie erinnert an die Taufe, insbesondere durch die Zeichen von Wasser und Licht. Die Aufstellung der Osterkerze bildet die Verbindung zur Osternacht. Von der Osterkerze aus empfangen die Neugetauften das Licht, ein Ritus, der im Rituel de l’initiation chrétienne des adultes [Die Feier der Eingliederung Erwachsener in die Kirche nach dem neuen Rituale Romanum] von einer Monition begleitet wird, die genau an das Ziel des menschlichen Lebens erinnert: „Sie sind Licht in 20 21 22 23

Vgl. RFF, Nr. 44. Vgl. RFF, Nr. 47. RFF, Notes doctrinales et pastorales, Nr. 5. DEC, Nr. 166, Anm. 41: „[…] das heißt für einen Gläubigen dem Altar zugewandt; für einen Priester oder einen Diakon dem Volk zugewandt“.



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Christus geworden. Sie sollen als Kind des Lichtes leben, sich im Glauben bewähren und dem Herrn und allen Heiligen entgegengehen, wenn er kommt in Herrlichkeit.“24 Im Moment der letzten Verabschiedung wird die Besprengung des Leichnams als „Gedächtnis an die Taufe“ dargestellt, durch die der Verstorbene in den Tod und die Auferstehung Christi eingetaucht wurde25, während die Inzens ein „Zeichen der Achtung“ für denjenigen darstellt, der durch die Taufe „Tempel des Heiligen Geis­ tes“26 wurde.

2.5 Die österliche Bedeutung des Ritus Die Kohärenz dieses rituellen Gefüges wird durch Nr. 1 der Praenotanda des Rituale gegeben: „Die Kirche feiert gläubig das Pascha-Mysterium Christi beim Begräbnis ihrer Kinder, damit jene, die durch die Taufe Christus im Sterben und in der Auferstehung gleich gestaltet worden sind, mit ihm durch den Tod zum Leben hinübergehen. Der Seele nach müssen sie zwar noch gereinigt und mit den Heiligen und Auserwählten in den Himmel aufgenommen werden, dem Leibe nach aber erwarten sie voll Zuversicht das Kommen Christi und die Auferstehung der Toten.“27

In diesem Sinn muss die gesamte Begräbnisliturgie interpretiert werden. So dient der stationäre Charakter der Beerdigung als Matrix für die von ihr unterstützte Oster­ erfahrung. Die sukzessiven Ortsveränderungen, denen die den Leichnam des Verstorbenen begleitende Versammlung folgt, bewirken einen Übergang zum Leben, der „mit“ Christus durch „die Finsternis und den Schatten des Todes“ verwirklicht wird. Durch die Vermittlung der Riten feiert die Kirche den Tod als Pascha-Hinübergang mit Christus. Die Taufzeichen der Begräbnisliturgie, vor allem die Aufstellung der Osterkerze, erinnern an die bereits bestehende Verbundenheit des Verstorbenen mit dem Tod und der Auferstehung Christi und verkünden die Hoffnung auf die endgültige Auferstehung des Fleisches. Durch die Feier der Eucharistie, Gedächtnis des Pascha Christi, „verkündet [die Kirche außerdem] den Tod des Herrn, bis er kommt“.

24 Die Feier der Eingliederung Erwachsener in die Kirche nach dem neuen Rituale Romanum. Herausgegeben von den Liturgischen Instituten Salzburg – Trier – Zürich, Freiburg – Basel – Wien 1994, Nr. 265, S. 166. 25 Vgl. ebd., Nr. 102. 26 RFF, Nr. 102; DEC, Nr. 244. 27 Die kirchliche Begräbnisfeier in den Bistümern des deutschen Sprachgebietes. 2., authentische Ausgabe auf der Grundlage der Editio typica 1969, Freiburg i. Br. u. a. 2009, Praenotanda, Nr. 1.

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3.

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Die christliche Gebetstradition für die Toten als Ort der Unterscheidung

Mit der Forderung, dass der Ritus der Exequien „deutlicher den österlichen Sinn des christlichen Todes ausdrücken“28 sollte, beabsichtigte die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils einen Rückgriff auf frühere Bestattungstraditionen. Seit der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts hatten die Arbeiten anerkannter Wissenschaftler Elemente dieser Tradition offengelegt, während ab den 1950er Jahren auch mehr und mehr wissenschaftliche Ausgaben alter liturgischer Quellen vorgelegt wurden. 1956 gab Michel Andrieu einen alten Ordo für die Totenliturgie heraus, den Ordo XLIX.29 Dieser Ordo sowie der Ordo aus dem Phillipps-Sakramentar, das 1984 veröffentlicht wurde30, stellen Andrieu zufolge „zwei unabhängige Beschreibungen von Begräbnisriten [dar], die im 8. Jahrhundert in Rom für Bestattungen befolgt wurden“31. Die Charakteristika dieser alten Liturgie wurden schon vor dem Konzil von Damien Sicard32 untersucht, der selbst einer der Mitarbeiter bei der Erstellung des neuen Rituale war. Diese liturgische Begleitung des Todes erscheint als ein kontinuierlicher Prozess, ein Weg, der – begleitet vom Gesang der Psalmen – vom Sterbezimmer an den Bestattungsort führte. Dieser Weg, für den der Verstorbene durch die Sterbekommu­ nion die notwendige Nahrung erhalten hatte, umfasste mehrere Etappen: die liturgische Begleitung des Todes mit der commendatio animae, das Waschen des Leichnams, den Abschied vom Haus, die Prozession zur Friedhofskirche, den Gebetsgottesdienst in der Kirche und schließlich die Beisetzung.33 Die Feier eines solchen liturgischen Weges spiegelt die Überzeugung wider, dass die Kirche den Tod als einen Durchgang feiert: Der Ritus organisiert den Weg, gestaltet die Prozession, führt den Toten von der Erde hinauf in die Kirche des Himmels, lebt mit ihm seinen Auszug aus Ägypten, seine Befreiung aus dem Exil und seinen Einzug in das Gelobte Land, was auf die Taufe und die Eucharistie verweist. Dies geschieht in einer Atmosphäre festlichen Jubelns und Vertrauens. Dieser Hin28 Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium, Nr. 81; zitiert nach: Karl Rahner – Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums, Freiburg – Basel – Wien 261994 [SC]. 29 Michel Andrieu, Les Ordines Romani du haut moyen âge, Bd. 4, Louvain 1956, 523–530. 30 Odilo Heiming (Hg.), Liber sacramentorum Augustodunensis (CCSL 159B), Turnhout 1984, 241 f. 31 Antoine Chavasse, Le Sacramentaire gélasien. Vaticanus Reginensis 316. Sacramentaire presbytéral en usage dans les titres romains au VIIe siècle, Paris 1958, 58. 32 Seine vor dem Konzil verteidigte Dissertation wurde später unter folgendem Titel veröffentlicht: Damien Sicard, La liturgie de la mort dans l’Église latine des origines à la réforme carolingienne (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 63), Münster 1978. 33 Vgl. ebd., 30–33.



Die Begräbnisfeier121

übergang des verstorbenen Christen wird nicht allein gelebt: Von seinen Brüdern und Schwestern „mit ausgestreckten Armen“ bis zur Schwelle des ewigen Lebens getragen, wird er von ihnen, wie in den liturgischen Texten evoziert, in die Hände der Engel gelegt und von der Versammlung der Heiligen empfangen. Die christliche Gemeinde sorgt für eine permanente Begleitung des Verstorbenen von der Stunde seines Todeskampfes bis hin zu seinem Begräbnis und hält zudem eine Totenwache, die an die in der Osternacht gefeierte eschatologische Erwartung des Kommens Christi erinnert. Diese kirchliche Präsenz, die sich durch eine Vielzahl von Akteuren ausdrückt, ist Zeichen einer noch größeren Versammlung, nämlich die der himmlischen Kirche, dieser Fülle von Engeln, Märtyrern, Patriarchen, Heiligen, einer Gesellschaft, in die der Verstorbene einzutreten gerufen ist. Der Verstorbene ist zur Auferstehung inmitten von Lebenden berufen. Obwohl man vor dem 7. und 8. Jahrhundert nicht von einem ausgeprägten Ritual von Sterben und Tod sprechen kann, spiegeln die Ordines des Frühmittelalters ältere Aspekte des Totenkults wider. Bezüglich der Antike konnten Spezialisten – gegen die geläufige Vorstellung – zeigen, dass die Bestattung kein Mittel zur Konstruktion einer christlichen Identität bildete34, mit Ausnahme der Sorge um die Beisetzung der Märtyrer und der auf ihren Gräbern stattfindenden Kultpraktiken35. Der Brief an Diognet stellt einen guten Lektüreschlüssel dar36, um zu erfahren, wie Christen ihre Beziehung zu den Bestattungsbräuchen der Antike lebten – eine Erkenntnis, die für uns heute noch von bedeutendem Wert ist: „Denn die Christen unterscheiden sich nicht durch Land, Sprache oder Sitten von den übrigen Menschen […] noch bedienen sich irgendeiner abweichenden Sprache, noch führen sie ein auffallendes Leben. […] [Sie befolgen] landesübliche Sitten in Kleidung und Kost sowie im übrigen Lebensvollzug, doch legen sie eine erstaunliche und anerkanntermaßen eigenartige Beschaffenheit ihrer Lebensführung an den Tag.“37

Zu sagen, dass sich Christen in puncto Bestattungspraxis nicht von ihren Zeitgenossen unterschieden, bedeutet nicht, dass ihre Lebensweise diese Riten nicht kritisierte. Diese Differenz kann in folgenden wesentlichen Punkten gebündelt werden: Erstens richtet sich der Totenkult auf Christus aus und nicht auf die Verstorbenen. Wie die ältesten Zeugnisse belegen, lehnen Christen jeden Aufwand beim Be34 Vgl. Éric Rebillard, Religion et sépulture. L’Église, les vivants et les morts dans l’Antiquité tardive (Civilisations et Sociétés 115), Paris 2003, 160. 35 Vgl. auch Victor Saxer, Morts, martyrs, reliques en Afrique chrétienne aux premiers siècles. Les témoignages de Tertullien, Cyprien et Augustin à la lumière de l’archéologie africaine (Théologie historique 55), Paris 1980. 36 Vgl. hierzu die Relecture der ersten Jahrhunderte des Christentums von Emmanuel Mounier in: ders., Feu la chrétienté, Paris 1950, Neuauflage 2013. 37 Schrift an Diognet, V, 1–4, hg. von Klaus Wengst (Schriften des Urchristentums. Zweiter Teil: Didache [Apostellehre], Barnabasbrief, Zweiter Klemensbrief, Schrift an Diognet), Darmstadt 1984.

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gräbnis ab, der dazu neigt, die Toten zu vergöttlichen, indem er Gefahr läuft, der Götzenverehrung zu verfallen.38 Des Weiteren handelt es sich um einen Kult mit grundlegend österlichem Charakter: Das Halleluja ist ein charakteristisches Element der Prozessionen; an Ostern erinnern Symbole als Teil der Grabverzierung39, während – in einem langen bis weit ins Mittelalter andauernden Kampf – der Gesang von Psalmen die Schreie und das Wehklagen der trauernden Frauen ersetzt40. Aufgrund der Güte der Schöpfung und der Verheißung der Auferstehung ist dieser Kult ebenfalls durch den Respekt vor dem Leichnam gekennzeichnet. Dieses Argument ist ausschlaggebend, um das Erdbegräbnis gegen die damals weit verbreitete Praxis der Einäscherung zu rechtfertigen.41 Die langsame Umformung der Bestattungsriten durch das Christentum löste im Verlauf der Antike einen noch tieferen Wandel aus: Von einer privaten und familiären Einrichtung machte das Christentum den Tod zu einer öffentlichen und kirchlichen Angelegenheit.42 Diese Transformation lässt sich schon in altkirchlicher Zeit feststellen, als die christliche Solidarität angesichts des Todes ein Markenzeichen des Christentums zu sein schien.43 Auf dieser Grundlage erschienen die ersten öffentlichen Zeichen des Totenkultes: einerseits die Nennung des Namens des Verstorbenen während der Eucharistie, für den eine Opfergabe dargebracht wurde44, andererseits durch die Einführung eines Gedenkkalenders für die Verstorbenen45, für welche die Eucharistiefeier nun immer häufiger stattfand. In diesem kulturellen Kontext, genau genommen nach einer Anfrage des Bischofs Paulinus von Nola über den Wert der Bestattung in der Nähe von Märtyrergräbern, schrieb Augustinus um 421 sein Werk De cura pro mortuis gerenda46. Die38 Vgl. z. B. Saxer, Morts, martyrs, reliques (Anm. 35), 50–53. 39 Vgl. Aimé-Georges Martimort, L’iconographie des catacombes et la catéchèse antique, in: ­Rivista di archeologia Cristiana 25 (1949), 105–114; Gérard-Henry Baudry, Les symboles du christianisme ancien, Ier–VIIe siècle, Paris 2009. 40 „[Wir sollen] um unsere Brüder doch nicht trauern, wenn der Herr sie aus dieser Welt abruft und befreit. […] Wir dürfen den Heiden keinen Anlaß geben, uns mit Fug und Recht darob zu tadeln, daß wir sagen, unsere Verstorbenen lebten bei Gott, und sie dabei betrauern, als seien sie verloren und verloschen“ (Sankt Cyprians Trostbüchlein vom Sterben [De mortalitate]. Aus dem Lateinischen von Adolf Hoeltzenbein, Leutesdorf am Rhein 1930, Kap. 20, S. 29 f.). 41 Vgl. Minucius Felix, Octavius, Kap. XXXIV, 9–12, hg. von Jean Beaujeu, Paris 1964, 59. 42 Vgl. Michel Lauwers, La mémoire des ancêtres, le souci des morts. Morts, rites et société au Moyen Âge (diocèse de Liège, XIe–XIIIe siècles) (Théologie historique 103), Paris 1996, 84. 43 Vgl. Rebillard, Religion et sépulture (Anm. 34), 112 f. 44 Vgl. ebd., 178; Saxer, Morts, martyrs, reliques (Anm. 35), 102–104. 45 Die Griechen gedachten der Verstorbenen am dritten, neunten und dreißigsten Tag, die Römer am neunten Tag (vgl. Rebillard, Religion et sépulture [Anm. 34], 157; Saxer, Morts, martyrs, reliques [Anm. 35], 157). 46 Aurelius Augustinus, Die Sorge für die Toten (De cura gerenda pro mortuis). Übertragen von Gabriel Schlachter, eingeleitet und erläutert von Rudolph Arbesmann, Würzburg 1994.



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ses Buch, das im gesamten mittelalterlichen Westen, aber auch über diesen hinaus einen maßgeblichen Einfluss besaß, bietet uns einen Schlüssel zur theologischen Interpretation dieses Ganzen. Die Frage nach dem Gebet für die Verstorbenen und nach seinen Formen stellt sich in diesem Werk lediglich im Gegensatz zur Frage nach dem Nutzen der Grabstätte für das Heil der Verstorbenen, die den Hauptgegenstand der Reflexion Augustins darstellt. In der Zusammenfassung, in der er seine Aussagen resümiert, formuliert er in einem Satz positiv, was er für das Heil der Verstorbenen für nützlich erachtet – eine einfache Aussage, die alle mittelalterlichen Entwicklungen vorwegnimmt: „Aufgrund der aus den vorausgehenden Darlegungen gewonnenen Einsicht laßt uns über folgendes im Klaren sein. Den Verstorbenen, um die wir uns sorgen, nützt nur das, was wir nach heiligem Brauch durch das Opfer am Altar und durch die Opfer unserer Gebete und Almosen für sie erflehen.“47

Hierzu äußert Augustinus jedoch einen Vorbehalt: „Unsere Fürbitten [sind] nicht ­allen, für die wir sie einlegen, von Nutzen […], sondern nur denen, die während ­ihres irdischen Lebens sich den Segen daraus gesichert haben.“48 Aber im Zweifelsfall sei es besser, für alle zu beten. Augustinus möchte hier jegliche Vorstellung einer mechanischen Wirkkraft des Gebets vermeiden. Genauso weigert er sich, jedwede Form der Bestattung ad sanctos als nützlich für das Heil des Verstorbenen anzuerkennen. Unsere Gebete seien nur dann wirksam, wenn wir selbst in sie eingebunden sind und wo sie uns selbst verwandeln. Dies ist die fundamentale Aussage Augustins, die seiner gesamten Abhandlung zugrunde liegt. So schreibt er über eine christliche Mutter, die den Leichnam ihres Sohnes in der Basilika eines Märtyrers bestattet hat: „Wenn sie des Glaubens war, seiner Seele würde durch die Verdienste des Märtyrers Hilfe zuteil, so war dieser ihr Glaube schon eine Art Fürbitte – und diese hat genützt, wenn überhaupt irgendetwas genützt hat. Und daß sie im Geiste immer wieder zum Grabe eilt und den Sohn mehr und mehr in Empfehlung bringt, das hilft der Seele des Verstorbenen: nicht die Ruhestätte seines Leichnams ist es, sondern die durch die Vergegenwärtigung der Stätte geweckte fromme Liebe der Mutter.“49

Für Augustinus ist die Kategorie „Gedächtnis“ von zentraler Bedeutung. Dieses Gedächtnis belebt den Glauben sowie die Frömmigkeit der Gläubigen, und es allein rechtfertigt die Wahl des Ortes einer Grabstätte, der folglich zu einem „Ort“ des Gedächtnisses wird. Für die Verstorbenen zu beten, bedeutet, „ihrer zu gedenken“, und in diesem Sinne ist für Augustinus die Eucharistie als Gedächtnis des Pascha das 47 Ebd., XVIII, 22, S. 38. 48 Ebd. 49 Ebd., V, 7, S. 11.

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­ ebet par excellence. Es ist dieses „Gedächtnis“ im sakramentalen Sinne des Begriffs, G das das Gebet Augustins für seine Mutter Monika beflügelt: „Denn als der Tag ihrer Auflösung herannahte, lag ihr nichts an einer kostbaren Bestattung, oder daß man ihren Leichnam mit Spezereien balsamiere, sie wünschte sich kein auserwähltes Grabmal und sorgte sich auch nicht um ihre Ruhestätte in der Heimat: von all dem trug sie uns nichts auf, sondern sprach nur den einen Wunsch aus, daß ihrer gedacht werde an deinem Altar.“50

Denn dank dieser Memoria werden die Bande geknüpft, die Lebende und Tote mit dem auferstandenen Christus vereinen und das Reich erbauen, das sich am Ende der Zeit offenbaren wird. Mehr noch, ihr Insistieren auf die Wichtigkeit, im eucharistischen Opfer der Verstorbenen zu gedenken, zeugt von einer eschatologischen Gewissheit, durch das Pascha Christi gerettet zu werden: „Erhöre mich durch den Heiland unserer Wunden, der am Holze gehangen hat und nun, zu deiner Rechten sitzend, für uns bei dir eintritt“, fleht Augustinus und bittet für seine Mutter um die Vergebung der Sünden, die sie nach ihrer Taufe begangen haben könnte; aber er fügt sofort hinzu: „Du tatest schon, ich glaube, um was ich dich hier bitte.“ Schließlich sind die drei „Werke“, die Augustinus für die Verstorbenen für nützlich hält – „das Opfer, das am Altar dargebracht wird, und das unserer Gebete und Almosen“ –, nur ein einziges, wie es im lateinischen Text angedeutet wird51: Es ist der Akt des Gedächtnisses, durch den die gesamte Ecclesia – Lebende und Tote – in das Opfer Christi eintritt und dadurch den zur Offenbarung in der Herrlichkeit berufenen kirchlichen Leib auferbaut. Mit anderen Worten: Das Opfer des Altars als herausragende Gestalt des Opfers, in gleicher Weise wie das des Gebets und des Almosens bilden drei eng miteinander verbundene Wege, um in die Gemeinschaft mit dem gestorbenen und auferstandenen Christus einzutreten und schon hier auf der Erde seinen verherrlichten Leib aufzuerbauen, wo Lebende und Tote von derselben Liebe in der heiligen Gemeinschaft Gottes leben. Denn in diesem Sinne muss Augustins Bedeutung des Wortes „Opfer“ verstanden werden, wie er es in seinem Werk Vom Gottesstaat definiert, das zu der Zeit geschrieben wurde, als er auch De cura pro mortuis gerenda erarbeitete: „Ein wahres Opfer ist demnach jedes Werk, das getan wird, damit wir in heiliger Gemeinschaft Gott anhangen, das also auf jenen Endzweck des Guten bezogen ist, wodurch wir wahrhaft selig sein können. […] Das ist das Opfer der Christen: ‚Viele ein Leib in Christus‘. Das begeht denn auch die Kirche in dem allen Gläubigen bekannten Sakrament des Altares, worin ihr immer wieder gezeigt wird, daß sie in dem, was sie darbringt, selbst dargebracht wird.“52 50 Aurelius Augustinus, Dreizehn Bücher Bekenntnisse. Übertragen von Carl Johann Perl, mit Anmerkungen von Adolf Holl, Paderborn 21964, IX, 13, 34–37, S. 234. 51 „[…] nisi quod pro eis sive altaris sive orationum sive eleemosynarum sacrificiis solemniter supplicamus“. 52 Aurelius Augustinus, Der Gottesstaat (De Civitate Dei). Erster Band, Buch I–XVI, in deutscher Sprache von Carl Johann Perl, Paderborn 1979, X, 6, S. 625–627.



Die Begräbnisfeier125

Nach Augustinus kann daher das Gebet für die Verstorbenen nur als „Teilnahme“ der Gläubigen am gestorbenen und auferstandenen Christus sowie an seinem verherrlichten Leib verstanden werden, in dem alle – Lebende und Verstorbene – sowohl in der Vermittlung Christi als auch in Gemeinschaft mit ihm angenommen und verwandelt werden. Dieses Gebet – und insbesondere die Eucharistie – kann daher nicht nur als ein „Mittel“ zur Erlangung der Heilsgnaden für den Verstorbenen betrachtet werden, sondern als eine Offenbarung und Bestätigung der Bande, die Lebende und Verstorbene im österlichen Gedächtnis vereinen und es den einen wie den anderen ermöglichen, in der Gemeinschaft mit Christus und in der Auferbauung des verherrlichten Leibes zu wachsen. Und wenn „[u]nsere Fürbitten nicht allen, für die wir sie einlegen, von Nutzen sind, sondern nur denen, die während ihres irdischen Lebens sich den Segen daraus gesichert haben“53, dann ist es notwendig, zum Leib Christi zu gehören und offen für seine Gnade zu sein, um von dem Leben zu profitieren, das den Leib belebt. Das Gebet für die Toten ist daher bei Augustinus stimmig mit seiner Eucharistietheologie als Gedächtnis an das österliche Opfer, Teilhabe am Geheimnis des Leibes Christi und Zeichen des kommenden Reiches. In dieser eucharistischen Dynamik manifestiert, nährt und verstärkt es die Solidarität all derer, die durch die Taufe mit Christus vereint und offen für seine Gnade sind.

4.

Fazit: Das österliche Gedächtnis als Grundlage für eine christliche Begräbnisritualität

Die christliche Ritualität impliziert folglich eine wahrhafte „Konversion“ des Gedächtnisaktes. Die Besonderheit der christlichen Liturgie und insbesondere der Eucharistiefeier ist gemäß Adolphe Gesché „eine prophetia salutis“, die einen Sieg ankündigt, und zwar den der Auferstehung.54 Dabei handelt es sich nicht um eine zukünftige, sondern um eine bereits verwirklichte Realität. Da die christliche Hoffnung in dem bereits vollzogenen Pascha Christi und seines verherrlichten Leibes begründet ist, kann sie eine Ritualität entfalten, in der sich die christliche Hoffnung und die wahrhafte Identität der Kirche sowie ihre Zukunft ausdrücken. Denn erst dank des Mysteriums des auferstandenen Leibes Christi als neuer eschatologischer Art der Beziehung, die Gott mit allen Dingen erneuert, ergibt die Begräbnisfeier Sinn und wird die Realität des Todes erhellt. In diesem Zusammenhang kommt mehreren Aspekten der Begräbnisliturgie eine besondere Bedeutung zu:

53 Augustinus, Die Sorge für die Toten (Anm. 46), XVIII, 22, S. 38. 54 Adolphe Gesché, Le mal (Dieu pour penser 1), Paris 1996, 148.

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4.1 Das Ritual als Stationsliturgie Dieser Aspekt des Rituals, der zur ältesten Tradition gehört, ist von enormer Wichtigkeit für die österliche Dimension des Rituals und hat an der Erfahrung des Todes als „Hinübergang“ mit und in Christus teil. Die anthropologische und theologische Tragweite dieser Dynamik des Rituals wurde lange Zeit nicht bewusst wahrgenommen, so dass sich die pastoralen Bemühungen seit fünfzig Jahren fast ausschließlich auf die Station in der Kirche konzentrierten. Glücklicherweise hat deren fragile Situation die Verantwortlichen in der Seelsorge heute zum Umdenken bewegt und zu einer stärkeren Berücksichtigung der anderen Momente des Rituals geführt.

4.2 Die Liturgie des Wortes Wie das Rituale festhält55, spielt die Verkündigung des Wortes eine entscheidende Rolle bei der Begräbnisfeier. Sie ist nicht nur Verkündigung des Pascha-Mysteriums56, indem sie das Gedenken des Verstorbenen in eine Geschichte, die ihm vorausgeht und ihn einschließt, übernimmt, sondern sie ist auch eine Form der Gegenwart des Auferstandenen unter den Seinen wie am Abend des Ostertages, denn „gegenwärtig ist er in seinem Wort, da er selbst spricht, wenn die heiligen Schriften in der Kirche gelesen werden“ (SC 7). Wie sich Maria Magdalena am Ostermorgen, als sie das leere Grab eingehend untersucht, im wahrsten Sinn des Wortes „umwandte“ (Joh 20,14), eine Umwandlung (Joh 20,16) hin zum Wort des Auferstandenen, der sie beim Namen ruft, bewirkt die Verkündigung des Wortes für uns eine Umkehr, die vom Gefangensein in den Erinnerungen befreit. Die Darstellung des Heils wird buchstäblich zu einem Akt und einem Geschenk der Erlösung. Der Geist, der im Wort wirkt, löst eine Antwort aus und fordert zum Handeln auf.57 Es bedarf noch großer Anstrengungen, um die Sakramentalität des Wortes in der Bestattungsliturgie deutlicher hervorzuheben, indem beispielsweise das Eindringen profaner Texte begrenzt wird, gerade wenn diese biblische Lesungen ersetzen; indem das Lektionar, oft durch eine Fotokopie ausgetauscht, gewürdigt wird; indem man sich intensiv um die Verkündigung des Wortes bemüht.

55 Vgl. RFF, Nr. 88. 56 Vgl. ebd. 57 Vgl. Benoît XVI, Exhortation apostolique Verbum Domini. Présentation, texte intégral et ­documents complémentaires sous la dir. de Frédéric Louzeau [et al.], Paris 2010, Nr. 52.



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4.3 Die Anwesenheit des Leichnams Dank der Aufmerksamkeit, welche die Begräbnisliturgie dem Leichnam des Gläubigen schenkt, dank der Zeichen, die diesen umgeben, und dank der über ihn vollzogenen Gesten versteht die Begräbnisliturgie den Leichnam des Gläubigen – angenommen in das Geheimnis des gestorbenen und auferstandenen Christus  – als Zeichen der kommenden Auferstehung: „Es ist der Leib der Mutter oder des Vaters, dem Angehörige ihr Leben verdanken; es ist der Leib des Freundes, dessen Nähe Beziehung und Liebe vermittelt hat; es ist der Leib, der die Spuren körperlicher Arbeit aufweist bzw. mit dem geistige Arbeit geleistet wurde; es ist der Leib, der im Leben die Wundmale von Krankheit und Schmerzen, von Behinderung, von Alter und Verfall getragen hat – Wunden, die in der Verklärung des Auferstehungsleibes Ewigkeitswert erhalten.“58

Die Trauerliturgie möchte betonen, dass der Christ zum Zeitpunkt seines Todes nicht vergeht, nicht einmal in seinem Leib. Das Ritual verkündet, mehr als jede Rede es könnte, die Auferstehung des Fleisches. Die Verehrung des Körpers durch die besonders suggestive Beweihräucherung richtet sich gezielt an den Getauften und gründet in der Tatsache, dass er – Christus im Wasser der Taufe gleichgestaltet, mit dem heiligen Chrisam gezeichnet und von der Eucharistie genährt – ein Glied des Leibes Christi ist, der berufen ist, in Herrlichkeit offenbar zu werden.59 Während die zeitgenössische Kultur dazu tendiert, den Leib verschwinden zu lassen oder ihn auf einen nicht identifizierbaren „Überrest“ (Asche) zu reduzieren, tritt die Liturgie ihr mit ihrer Annahme der Irreduzibilität der körperlichen Präsenz gegenüber. Die Anwesenheit des Leichnams des Verstorbenen sowie der des Leibes der Versammlung konstituieren eine Realität, die sich jeder „Virtualisierung“ des Gedächtnisses widersetzt. Hierin besteht ein bedeutender Aspekt, der die Sichtbarmachung des Glaubens in seiner inkarnierten Wahrheit betrifft.

4.4 Die kirchliche Dimension Hierbei handelt es sich um einen wesentlichen Aspekt der christlichen Bestattungstradition. Da das Begräbnis eine Verkündigung der österlichen Vollendung der christlichen Existenz im Leib des auferstandenen Christus ist, ist das Zeichen der Versammlung unerlässlich, um das Mysterium der Auferstehung des Fleisches zu manifestieren. Die liturgische Versammlung, Ort der Gegenwart Christi, konstituiert sich als auf 58 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Unsere Sorge um die Toten und die Hinterbliebenen. Bestattungskultur und Begleitung von Trauernden aus christlicher Sicht, 22. November 1994 (Die deutschen Bischöfe 53), Bonn 42000, 40. 59 Vgl. Kol 3,4.

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das letzte Geheimnis wartender „Ort“.60 Indem sie das Mysterium der Kirche  – „geistige[s] Haus“ (1 Petr 2,5), „Wohnung Gottes“ (Eph 2,22), himmlisches Jeru­ salem (Offb 7,9–12; 19,1–4) – bezeugt, ist sie ein eschatologisches Zeichen der Erfüllung des Erlösungswerkes Christi, der durch sein Kreuz gekommen ist, „um die zerstreuten Kinder Gottes in eins zusammen[zubringen]“ (Joh 11,52).

4.5 Die Eucharistiefeier Aber diese beiden Zeichen, der individuelle und der kirchliche Leib, finden ihre volle Bedeutung erst in der Eucharistie, von der wir wissen, dass sie von Anfang an mit dem christlichen Tod verbunden war. Wie auch immer ihr Platz in der Todesstunde aussieht, wird die Eucharistie in der Tradition als das Siegel der christlichen Beerdigung betitelt. Der Tod ist schließlich die höchste Verbundenheit mit der österlichen Hingabe Christi, deren Feier die Eucharistie ist. Wenn immer möglich, offenbart sie die Teilnahme der ganzen Versammlung am eschatologischen Tisch sowie am einen Leib des auferstandenen Christus, der dem Vater im Geist dargebracht wird, und verkündet auf folgende Weise sein Kommen: „Die Erlösung des Leibes hat bereits in der eschatologischen Gemeinschaft des Geistes als allerletzte Hoffnung begonnen, nicht nur die aller Menschen, sondern auch die der ‚Schöpfung selbst‘.“61 Sie hält an bis zum allerletzten Tag, an dem es nur noch „Christus, alles und in allen“ (Kol 3,11) geben wird. Es gibt keine andere Hoffnung für die Christen. Übersetzung: Miriam Vennemann

60 Vgl. Phil 3,20–21. 61 John A. T. Robinson, Le corps. Étude sur la théologie de saint Paul, Lyon 1966, 130.



Zwischen Anamnese und Lobpreis129

Zwischen Anamnese und Lobpreis Der Ursprung der Darbringung in den syro-byzantinischen Anaphoren

CHR3 Μεμνημένοι … Τὰ σὰ ἐκ τῶν σῶν σοὶ προσφέροντες [I]

APsyr4 Dum igitur memores sumus …

Nos quoque, Domine, gratias agentes confitemur tibi5

1 K. Stevenson, Eucharist and Offering, New York 1986, 64. 2 J. R. K. Fenwick, ‚The Missing Oblation‘: The Contents of the Early Antiochene Anaphora (Grove Liturgical Study 59 / Alcuin/GROW Joint Liturgical Studies 11), Bramcote 1989, 12 f. 3 L’eucologio Barberini gr. 336, hg. von S. Parenti – E. Velkovska (Bibliotheca Ephemerides Litur­gicae, Subsidia 80), 2., überarbeitete Auflage mit italienischer Übersetzung, Roma 2000, 78, §§ 34.2–4 und 35.2. 4 Anaphorae Syriacae quotquot in codicibus adhuc repertae sunt, cura Pontificii Instituti Studiorum Orientalium editae et latine versae. Bd. I/2: Anaphora Duodecim Apostolorum ­Prima, hg. von A. Raes, Roma 1940, 218. 5 Der kursiv gedruckte Text stammt aus der syrischen Anaphora des Jakobus (JASsyr): „Et nos quoque tibi gratias agentes et confitemur tibi“ (Anaphorae Syriacae [Anm. 4]. Bd. II/2: Anaphora Sancti Iabobi, fratris Domini, hg. von O. Heiming, Roma 1953, 148, Z. 9 f.).

Fußnote 3 4 5

Im Jahre 1986 bemerkte Kenneth W. Stevenson, dass in einigen syrischen Anaphoren in der Anamnese ein Ausdruck für die Darbringung „fehlt“, eine Lücke, die in den syrischen Anaphoren der Apostel (APsyr) ihren Archetyp findet.1 Einige Jahre später kam J. R. K. Fenwick in einer Broschüre mit dem beredten Titel The Missing Oblation auf dieses Thema zurück, in der er das Leitmotiv des „Fehlens“ einer Darbringungsformel wiederholte.2 Das „Fehlen“ wird im Vergleich mit anderen antiochenischen Anaphoren (Traditio Apostolica, Apostolische Konstitutionen, byzantinische Anaphoren des Basilius [BAS] und Johannes Chrysostomos [CHR]) vermutet. Der Vergleich zwischen CHR und APsyr illustriert gut, wie komplex die Situation ist, denn im Gegensatz zum „Fehlen“ einer Darbringungsformel in APsyr haben wir in CHR zwei [I/II]: 345

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κατὰ πάντα καὶ διὰ πάντα. Ὁ λαός· Σὲ ὑμνοῦμεν […] Ἔτι προσφέρομέν σοι [II] τὴν λογικὴν ταύτην καὶ ἀναίμακτον λατρείαν, καὶ παρακαλοῦμεν καὶ δεόμεθα καὶ ἱκετεύομεν· κατάπεμψον τὸ πνεῦμά σου τὸ ἅγιον …

1.

pro omnibus et propter omnia. Populus: Te laudamus […]

Deinde, vero, petimus a te, Domine … ut mittas spiritum tuum sanctum …

Die Hypothese von Jean-Paul Montminy

Das Problem der doppelten Gabendarbringung in CHR und der „fehlenden“ Darbringung in APsyr wurde in den 1960er Jahren von Jean-Paul Montminy in einem wenig bekannten Artikel über Ausdrücke für das Darbringen in den Anaphoren in Ost und West behandelt.6 Der Autor vergleicht die Anamnese von BAS und CHR, die heute die gleiche Übergangsformel [I] gemeinsam haben, und fragt sich, welche der beiden Anaphoren sie zuerst übernommen und sie dann der anderen übertragen hat oder ob sie beide gleichzeitig eingeführt wurden.7 Er merkt auch an, dass in der Anamnese von BAS und CHR die Dimension der Darbringung mit dem Partizip προσφέροντες ausgedrückt wird, das zweite nach μεμνημένοι, mit dem der Gebetsteil eröffnet wird, während das Hauptverb σὲ ὑμνοῦμεν im Hymnus steht und sich auf die Kategorie des Lobes und nicht auf die Darbringung bezieht.8 Das Vorhandensein einer Opferformel in den ihm zugänglichen Rezensionen der BAS und demgegenüber das Fehlen einer Opferformel in APsyr, „parallèle syriaque de la Liturgie de S. Jean Chrysostome“, veranlasst Montminy dazu, in der basilianischen Anaphora den ältesten Zeugen für die Einführung eines Gaben- bzw. Opfergedankens in der Tradition des Patriarchats von Antiochien zu identifizieren, von wo aus er dann zu den anderen orientalischen Anaphoren übergegangen wäre.9 Die textliche Analyse von Montminy ist sicherlich richtig. In BAS und CHR wurde der Übergang von der Anamnese zur Epiklese überarbeitet, um Platz zu ma6 J.-P. Montminy, L’offrande sacrificielle dans l’anamnèse des liturgies anciennes, in: Revue des sciences philosophiques et théologiques 50 (1966), 385–406. 7 Ebd., 393. 8 Ebd., 395. 9 Ebd., 393.



Zwischen Anamnese und Lobpreis131

chen für die Formel Τὰ σὰ ἐκ τῶν σῶν προσφέροντες, die das Thema des Lobes verdunkelt, dessen zentrale Bedeutung im APsyr wie in fast allen syrisch-westlichen Anaphoren deutlich wird. Weniger zutreffend ist dagegen der Begriff „Darbringung/ Opfer“, der zwei unterschiedliche Begriffe synonym macht – eine auch bei anderen Autoren immer wiederkehrende Verwirrung, vor der Gabriele Winkler schon lange gewarnt hat.10

2.

Die Rekonstruktion von Robert Taft

Unabhängig von Montminy wurde das Thema von Robert Taft in drei Artikeln behandelt.11 Ohne auf die detaillierte Argumentation einzugehen, genügt es, an die Schlussfolgerungen zu erinnern, welche die von Fenwick vorgeschlagene Theorie der „fehlenden Darbringung“ ablehnen und stattdessen ihr Fehlen als ein Merkmal der antiochenischen Anaphoren betrachten, das in APsyr erhalten ist und auf Ω-AP zurückgeht. Taft schließt seine Untersuchung wie folgt: (1) Die Übergangsformel Τὰ σὰ ἐκ τῶν σῶν σοὶ προσφέροντες (προσφέρομεν) ist ein Zusatz zum Hymnus Te laudamus, (2) war zur Zeit von Justinian I. (527–565) in Konstantinopel in Gebrauch, (3) ist in griechischen Inschriften im antiochenischen Raum und in Palästina (obwohl die Formel nicht in der Anaphora des Jakobus [JAS] enthalten ist), in Ägypten (Markus [MK], koptischer Cyrill, ägyptischer Basilius [BASeg]), in den Provinzen Kleinasiens und in Kappadokien (sahidischer Basilius [BASsah]) bezeugt, (4) ist in den Anaphoren der chalcedonischen und der nichtchalcedonischen Kirchen vorhanden. Der letztgenannte Befund legt das Konzil von Chalcedon von 451 als terminus ante quem für die Einführung der Formel in die griechischen Anaphoren, einschließlich CHR und BAS, nahe. (5) Die Interpolation fand vor der nach 518 erfolgten Verschmelzung der in den nichtchalcedonischen Kirchen gebräuchlichen Anaphoren zwischen antiochenischen und hagiopolitischen Elementen statt. 10 G. Winkler, Zur Erforschung orientalischer Anaphoren in liturgievergleichender Sicht I. Anmerkungen zur Oratio post Sanctus und Anamnese bis Epiklese, in: Orientalia Christiana ­Periodica 63 (1997), 363–420, hier 363–398; vgl. auch B. D. Spinks, Eucharistic Offering in the East Syrian Anaphoras, in: Orientalia Christiana Periodica 50 (1984), 347–371. 11 R. F. Taft, The Oblation and Hymn of the Chrysostom Anaphora. Its Text and Antecedents, in: Bollettino della Badia Greca di Grottaferrata n. s. 46 (1992) [1994], 319–345; ders., Reconstituting the Oblation of the Chrysostom Anaphora. An Exercise in Comparative Liturgy, in: Orientalia Christiana Periodica 59 (1993), 387–402; ders., Some Structural Problems in the Syriac Anaphora of the Twelve Apostles I, in: Aram 5 (1993), 505–520 (= A Festschrift for Dr. Sebastian P. Brock).

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(6) Das Fehlen der Formel in APsyr scheint darauf hinzuweisen, dass sie in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts zur Zeit der Abfassung von Ω-AP kein fester Bestandteil der antiochenischen Anaphoren war. (7) Das Vorhandensein der identischen Formel in BAS und CHR deutet darauf hin, dass CHR sie von BAS übernommen hat oder dass beide Formen gleichzeitig eingeführt wurden.12 Der letzte Punkt lässt die Frage offen, aber dann neigt Taft zu einer Angleichung von CHR und BAS, die in Konstantinopel stattfand.13 Nach einem Vergleich mit ­BASeg14 und den ältesten Zeugen von MK (Manchester Papyrus 465 der John ­Rylands Library aus dem 6. Jahrhundert)15 und BASsah (koptisches Fragment von Löwen aus dem 7. Jahrhundert)16 rekonstruiert Taft das, was der Urtext des Gabenteils von BAS in Kappadokien sein müsste17, immer noch als Ursprungort der basilianischen Anaphoren. Τὰ σὰ ἐκ τῶν σῶν σοὶ προσφέρομεν καὶ δεόμεθά σου καὶ παρακαλοῦμέν σε ἐλθεῖν τὸ πνεῦμά σου τὸ ἅγιον …

Die Dinge, die von dir kommen, bringen wir dir dar und bitten dich und rufen dich an: Dein Heiliger Geist komme …

Nach der Übernahme aus Konstantinopel nach 398 wurde Ω-AP an BAS angeglichen, indem die Gabenformel integriert wurde, aber wir wissen nicht, ob in der Zwischenzeit in Antiochia in Ω-AP bereits der mit Κατὰ πάντα καὶ διὰ πάντα + Σὲ ὑμνοῦμεν komponierte Hymnus verwendet wurde.18 Andernfalls hätte die Übernahme des Hymnus in Konstantinopel stattgefunden.19

12 Taft, Oblation and Hymn (Anm. 11), 328 f. 13 Taft, Some Structural Problems (Anm. 11), 519 mit Verweis auf Fenwick, Missing Oblation (Anm. 2), 12. 14 Prex Eucharistica. Volumen I: Textus e variis liturgiis antiquioribus selecti … Editionem tertiam curaverunt A. Gerhards et H. Brakmann (Spicilegium Friburgense 12), Fribourg 1998, 352. 15 J. Hammerstaedt, Griechische Anaphorenfragmente aus Ägypten und Nubien. Text und Kommentar (Abhandlungen der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Papyro­logica Coloniensia 28), Opladen – Wiesbaden 1999, 79. 16 J. Doresse – E. Lanne – B. Capelle, Un témoin archaïque de la liturgie copte de S. Basile (Biblio­thèque du Muséon 47), Louvain 1960, 5. 17 Taft, Reconstituting the Oblation (Anm. 11), 396. 18 Ebd., 397. 19 Ebd., 398. Taft vermutet, dass der Textblock aus Antiochia stammt (ebd., 399). V. V. Pečat­ nov, Божественная литургия в России и Греции. Сравнительное изучение современного чина, Mosca 2008, 212 f.



Zwischen Anamnese und Lobpreis133

3.

Neue Textbelege

Nach fast einem Vierteljahrhundert müssen einige Punkte der von Robert Taft dargelegten Rekonstruktion im Lichte weiterer Dokumente, die aufgetaucht sind, oder einer neuen Lesart bereits bekannter Quellen neu überdacht werden. Im Übrigen hat der Autor wiederholt auf dem hypothetischen Charakter der erzielten Ergebnisse bestanden20 – eine Vorsichtsmaßnahme, die beim Betreten des wirklich heiklen Terrains des Übergangs von der Anamnese zur Epiklese zu beachten ist.

3.1 Theodoret von Kyros

Εἰ τοίνυν καὶ ἡ κατὰ νόμον ἱερω­ σύνη τὸ τέλος ἐδέξατο, καὶ ὁ κατὰ τάξιν Μελχισεδὲκ ἀρχιερεὺς τὴν θυσίαν προσήνεγκε, καὶ θυσίας ἑτέρας ἀνενδεεῖς καθέστηκε, τί δήποτε τῆς καινῆς διαθήκης οἱ ἱερεῖς τὴν μυστικὴν λειτουργίαν ἐπιτελοῦσιν; Ἀλλὰ δῆλον τοῖς τὰ θεῖα πεπαιδευμένοις, ὡς οὐκ ἄλλην τινὰ θυσίαν προσφέρομεν, ἀλλὰ τῆς μιᾶς ἐκείνης καὶ σωτηρίου τὴν μνήμην ἐπιτελοῦμεν. Τοῦτο γὰρ ἡμῖν αὐτὸς ὁ Δεσπότης προσέταξε· Τοῦτο ποιεῖτε εἰς τὴν ἐμὴν ἀνάμνη­ σιν, ἵνα τῇ θεωρίᾳ τῶν τύπων22, τῶν ὑπὲρ ἡμῶν γεγενημένων ἀναμιμνησκώμεθα παθημάτων, καὶ τὴν περὶ τὸν εὐεργέτην ἀγάπην πυρσεύσωμεν.23

Wenn also auch das Priestertum zu Ende ging und der Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks das Opfer darbrachte und dafür sorgte, dass kein weiteres Opfer nötig war, warum feiern dann die Priester des Neuen Bundes die mystische Liturgie? Aber denen, die in den göttlichen Dingen unterwiesen sind, ist klar, dass wir nicht ein weiteres Opfer bringen, sondern dieses eine und einzige Heilsopfer, an das wir uns erinnern sollten. Dies hat uns der Herr selbst geboten: „Tut dies zu meinem Gedächtnis“, damit wir in der Schau der „Bilder“ der für uns erlittenen Leiden gedenken und in der Liebe zum Wohltäter entflammt werden.

2223

20 Taft, Reconstituting the Oblation (Anm. 11), 398. 21 P. B. Clayton, Jr., The Christology of Theodoret of Cyrus. Antiochene Christology from the Council of Ephesus (431) to the Council of Chalcedon (451), Oxford 2007, 170, mit einem Kommentar zu den Paulusbriefen ebd., 179–206. Siehe auch Theodoret of Cyrus, Commentary on The Letters of St Paul, translated by R. C. Hill, 2 Volumes, Brookline, MA 2001. 22 PG 82, 736, Z. 31 liest τύπoν, hier korrigiert nach: Catenae Graecorum Patrum in Novum Testamentum, hg. von J. A. Cramer, Oxford 1844, 581, Z. 34. 23 PG 82, 736BC.

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Kehren wir also zurück zu der Interpretatio epistulae ad Hebraeos, die Theodoret von Kyros in der Jurisdiktion des Patriarchats von Antiochien wahrscheinlich nach 449 verfasst hat21:

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In seinem Kommentar zu Hebr 8,4–5 spricht Theodoret vom Priester, der der „mystischen Liturgie“, d. h. der Eucharistie, vorsteht, und präzisiert ihre Funktion, die nicht vom Priestertum des Alten Testaments abhängt, das nun erloschen ist, noch von dem von Christus, „den Gott als Hohenpriester nach der Ordnung Melchisedeks verkündet hat“ (Hebr 5,10). Die Aufgabe der „Priester des Neuen Bundes“ besteht – wegen der unwiederholbaren Opfergabe Christi – nicht darin, Opfer zu bringen. Man kann es nur zum Gedächtnis tun, wie er selbst es befohlen hat. Das letzte Abendmahl ist der τύπος, das Bild/Modell, dem die liturgische Feier entsprechen muss. Die Sprache und die exegetische Methode von Theodoret sind die der Schule von Antiochia, gemeinsam mit Theodor von Mopsuestia, zentriert auf θεωρία – ein polysemantischer Begriff, den Richard J. Perhai als „a range of perceptions, prophetic, christological, and contemporary“ definiert24. Die gleiche typologische Wahrnehmung finden wir auch in der Predigt 17 über den Brief an die Hebräer [CPG 4440]25, die Johannes Chrysostomos in Antiochien verkündete und die Frans van de Paverd in seiner Studie über die liturgischen Einflüsse in den Werken des Vaters mit dem „goldenen Mund“ verwendete26. Indem er bekräftigt, dass in der „mystischen Liturgie“ die Geistlichen keine Opfer darbringen, stimmt Theodoret mit der antiochenischen Anaphora überein, die keine Darbringungsformel enthält. Da Theodoret auch BAS kannte, müssen wir feststellen, dass im Patriarchat von Antiochia in der Mitte des 5. Jahrhunderts nicht nur Ω-AP, sondern auch BAS keine solche Formel hatte. Dieser Befund findet Bestätigung in BASarm1, datierbar auf 452, und anschließend in BASsyr.

3.2 Die Katechese in Versen des Mönchs Hyperichios (5. Jahrhundert?) Im Band, in dem Assemani die griechischen Werke sammelte, die Ephräm dem Syrer (306–373) zugeschrieben werden, findet sich eine Paraenesis ad ascetas, die durch ein alphabetisches Akrostichon verknüpft ist [CPG 3963].27 Wie ein Großteil des Ephraem Graecus ist das Werk nach ihm entstanden und entspricht der Adhortatio ad

24 R. J. Perhai, Antiochene Theōria in the Writings of Theodore of Mopsuestia and Theodoret of Cyrus, Minneapolis, MN 2015. 25 In Epist. ad Hebraeos 17,3: PG 63, 129/131. 26 F. van de Paverd, Zur Geschichte der Meß­liturgie in Antiocheia und Konstantinopel gegen Ende des vierten Jahrhunderts (Orientalia Christiana Analecta 187), Roma 1970, 521 f. Nach damaliger Auffassung hielt van de Paverd fest, dass die Predigt konstantinopolitanisch war, wie gezeigt wurde von P. Allen – W. Mayer, The Thirty-Four Homilies on Hebrews. The Last ­Series Delivered by Chrysostom in Constantinople?, in: Byzantion 65 (1995), 309–348. 27 Sancti Patris Nostri Ephraem Syri Opera Omnia quae exstant Graece, Syriace, Latine II, ­Roma 1746, 356–364.



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ascetas [CPG 5618]28 des Mönchs Hyperichios, den Lucien Regnault als „illustre inconnu du Ve siècle“29 bezeichnete, von dem man auch nicht weiß, wo er lebte. Auf jeden Fall berät Hyperichios Mönche in der Ziffer Δ der Paraenesis mit diesen Worten:

30

Der Mönch, der Gott gibt, was von Gott kommt, wird nicht stolz sein; betend wird er Gott sagen: Herr, was dein ist, bringe ich dir dar, ich bitte dich nur um das Heil der Seele.

Der Ausdruck τὰ σὰ ἐκ τῶν σῶν stammt aus 1 Chr 29,14 (LXX)31, nicht aber das Verb προσφέρω, so dass man versucht ist anzunehmen, dass Hyperichios den anaphorischen Text τὰ σὰ ἐκ τῶν σῶν in den Singular verändert hat. Obwohl theoretisch möglich, berücksichtigt die Hypothese nicht, dass die anderen Verwendungen der Formel nicht unbedingt liturgischer Natur sind.

3.3 Firmus von Cäsarea in Kappadokien († 439) Über Bischof Firmus von Cäsarea, dem fünften Nachfolger des heiligen Basilius, ist sehr wenig bekannt, aber es ist eine Reihe von Briefen von ihm erhalten [CPG 6120], die Licht auf die Ereignisse seiner Zeit werfen. In Brief 15 an einen Bischof namens Evandrius, wahrscheinlich ein Suffraganbischof, schreibt Firmus:

28 PG 79, 1473–1489; vgl. D. Hemmerdinger-Iliadou, L’Éphrem grec, in: Dictionnaire de Spiritualité IV, Paris 1960, col. 809 § 8, no 3°. 29 L. Regnault, Les sentences des Pères du désert. Collection alphabétique, Solesmes 31976, 316. Zur Person vgl. P. Tirot – M. Van Parys – L. Regnault (Hg.), Enseignements des Pères du ­désert. Hyperéchios, Étienne de Thèbes, Zosime (Spiritualité orientale 51), Abbaye de Bellefontaine 1991, 1931; zur literarischen Gattung: P. Géhin, Les collections de Kephalaia monastiques. Naissance et succès d’un genre entre création originale, plagiat et florilège, in: Theologica minora. The Minor Genres of Byzantine Theological Literature, hg. von A. Rigo in Zusammenarbeit mit P. Ermilov – M. Trizio (Byzantios 8), Turnhout 2013, 1–50, hier 14 und 16. 30 Sancti Patris Nostri Ephraem Syri Opera Omnia II (Anm. 27), 357BC, col. sinistra. 31 1 Chr 29,14 (LXX): ὅτι σὰ τὰ πάντα, καὶ ἐκ τῶν σῶν δεδώκαμέν σοι; vgl. Eucologio Barberini (Anm. 3), § 34 (biblischer Apparat).

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Διδοὺς μοναχὸς τὰ τοῦ θεοῦ τῷ θεῷ, μὴ ἐπαιρέσθω· δεόμενος δὲ τοῦ θεοῦ λεγέσθω· Δέσποτα, ἐκ τῶν σῶν τὰ σὰ προσφέρω· παρὰ σοῦ λύτρωσιν ψυχῆς μόνον ζητῶ.30

Fußnote 32 manuell nn

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Ἀνάθημα μέν τι προσφέρων Θεῷ τῶν δοκούντων πρὸς εὐσέβειαν βλέπειν, ἐπίγραμμα προσέθηκεν τῷ ἀνατεθέντι εἰπών· „Σοὶ προσφέρω τὰ σά“.32

Ein Mann unter ihnen, welcher zu denen gehört, die die Religion respektieren und Gott etwas opfern, brachte an der Gabe eine Inschrift an, auf der stand: „Ich bringe dir dar, was dir gehört“.

32 Der Bericht ist eindeutig: Eine Person hatte Gott etwas als Geschenk dargebracht, wahrscheinlich einen Gegenstand, vielleicht für eine Kirche, auf dem sie die Widmungsinschrift Σοὶ προσφέρω τὰ σά angebracht hatte. Aus dem Tonfall der Rede wird deutlich, dass die Formel weder Firmus noch Evandrius vertraut klang. Der Brief bietet uns drei sehr wichtige Daten für unsere Untersuchung dessen, was in Kappadokien in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts geschah: (1) Weiheformeln, die von 1 Chr 29,14 (LXX) inspiriert waren, kursierten auf Gegenständen, die den Kirchen als Gaben angeboten wurden. (2) Die dort gebräuchliche Anaphora (BAS?) hatte keine von der Schriftstelle inspirierte Darbringungsformel. (3) Die Widmungsformel ist unabhängig von der liturgischen Verwendung in der Anaphora und geht ihr voraus.

3.4 Ein pseudochrysostomischer Text: De paenitentia sermo I Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts wies Elena Velkovska, damals meine Kommilitonin in Rom, Robert Taft auf ein Pergamentblatt aus dem 9. Jahrhundert hin, das im Zentrum Ivan Dujčev in Sofia aufbewahrt wurde, mit der Signatur gr. 398.33 Das Blatt trug einen nicht identifizierten Text, in dem die Darbringungsformel erwähnt wurde: Οὐδέποτε ἠκούσατε τοῦ ἱερέως ἐπὶ τῆς μυστικῆς τραπέζης βοῶντος πρός με, καὶ εὐχαριστοῦντός μοι καὶ λέγοντος, Τὰ σὰ ἐκ τῶν σῶν σοι προσφέρομεν;

Habt ihr noch nie gehört, wie der Priester vor dem mystischen Tisch zu mir rief und mir dankte und sagte: Das, was dir gehört, bringen wir dir dar?

32 Firmus de Césarée, Lettres, hg. von M.-A. Calvet-Sebasti – P.-L. Gatier (Sources Chrétiennes 350), Paris 1989, [104]. 33 Taft, Oblation and Hymn (Anm. 11), 324. Für dieses Blatt vgl. nun A. Džurova, Répertoire des manuscrits grecs enluminés (IXe–Xe s.). Centre de Recherches slavo-byzantines „Ivan Dujčev“, Université „St. Clément d’Ohrid“, Bd. I, Sofija 2006, 89–91; vgl. aber meine Rezension in Orientalia Christiana Periodica 73/1 (2007), 275–277.



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Robert Taft legte den Text zur Untersuchung Mitarbeitern des Thesaurus Linguae Graecae vor, deren Datenbank – ich erinnere mich gut daran – in einer Art Turm zusammengepfercht war. Die Antwort kam nach einer guten halben Stunde; sie identifizierte den Text im pseudochrysostomischen De paenitentia sermo I [CPG 4615].34 Es besteht kein Zweifel über den liturgischen und anaphorischen Kontext des Textes, aber es existiert kein Datum. Selbst Karl-Heinz Uthemann, der 1994 ein Ad­ dendum zur Predigt veröffentlichte, datiert es nicht35, und nur Péter Tóth schlug als Autor – allerdings ohne Argumente – „a Greek orator of the fifth century“36 vor. Dies ist schade, denn der Text ist sehr interessant. Zwei Elemente verdienen Aufmerksamkeit: das dem Priester zugeordnete Partizip εὐχαριστοῦντος und der Indikativ προσφέρομεν. Auf den ersten Blick könnte das Partizip für eine Synekdoche der Anaphora als Gnadenakt gehalten werden, aber dem ist nicht so. Die Sequenz εὐχαριστοῦντος … τὰ σὰ ἐκ τῶν σῶν σοὶ προσφέρομεν findet sich in JASsyr im Übergang von der Anamnese zur Epiklese: Sacerdos: Et non quoque tibi gratias agentes et confitemur tibi, ex tuo tibi, ­offerimus tibi, in omnia et propter omnia. Populus: Te laudamus, et reliqua.37 JASsyr ist die einzige syro-westliche Anaphora mit der Formel, aber es handelt sich um eine offensichtliche Interpolation, die bei JAS, dem armenischen Jakobus (­JASarm) und dem georgischen Jakobus (JASgeorg)38 fehlt. Wenn die Interpreta­ tion richtig ist, erhalten wir in der Predigt ein Fragment des griechischen Textes, der JASsyr zugrunde liegt. 34 PG 60, 687. 35 Pseudo-John Chrysostom, De paenitentia sermo I, hg. von K.-H. Uthemann – R. G. Regtuit – J. M. Tevel (Homiliae Pseudo-Chrysostomicae. Instrumentum Studiorum I), Turnhout 1994, 10–17. 36 P. Tóth, Speaking Quotations in Interpretative Context. The Prophets’ Discourse in the Netherworld as a Special Type of Biblical Exegesis, in: R. Gounelle – B. Mounier (Hg.), La littérature apocryphe chrétienne et les Écritures juives (Publications de l’Institut romand des sciences bibliques 7), Lausanne 2015, 22. 37 Anaphorae Syriacae II/2 (Anm. 5), 148, Z. 9 f. 38 Armenische Version: G. Winkler, Die Basilius-Anaphora. Kritische Edition der beiden armenischen Rezensionen mit ausführlichem liturgiewissenschaftlichem Kommentar unter Einbezug aller relevanten syrischen und äthiopischen Anaphoren (Anaphorae orientales 2 / Anaphorae armeniacae 2), Roma 2005, 76; georgische Version: Liturgia Ibero-Graeca Sancti Iacobi. Editio – translatio – retroversio – commentarii. The Old Georgian Version of the Liturgy of Saint James published by Lili Khevsuriani – Mzekala Shanidze – Michael Kavtaria – Tinatin Tseradze. La Liturgie de Saint Jacques. Rétroversion grecque et commentaires par S. Verhelst (Jerusalemer Theologisches Forum 17), Münster 2011, 82. Bemerkenswert ist, dass in der Anamnese der armenischen Version eine Formel für die Darbringung fehlt.

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4.

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Archäologische Funde und euchologische Tradition

Die Widmungsformel τὰ σὰ [ἐκ τῶν σῶν] σοὶ προσφέρω / σοὶ προσφέρομεν, von der wir im 5. Jahrhundert durch Firmus von Cäsarea und den Mönch Hyperichios erfahren, möglicherweise kombiniert mit Bibelversen oder anderen Wendungen, ist auf einigen Artefakten und Architekturfunden aus Zentralanatolien, Nordsyrien und Palästina eingraviert.39 Für Konstantinopel berichtet das Historiarum Compendium von Georgios Kedrenos, dass Justinian und Theodora – nach der Restauration des Altars der Hagia Sophia nach dem Erdbeben vom 7. Mai 558 – die Widmungsinschrift τὰ σὰ ἐκ τῶν σῶν σοὶ προσφέρομεν οἱ δοῦλοί σου, Χριστέ, Ἰουστινιανὸς καὶ Θεοδώρα … anbrachten.40 Oft wurde das Zeugnis von Georgios Kedrenos als Grundlage für die Datierung der Funde verwendet, und vielleicht erklärt dieser Umstand, warum sie alle dem 6. Jahrhundert zugeordnet werden. Kurt Weitzmann und Ihor Ševčenko haben ein Inventar zusammengestellt, welches das „Sinai-Kreuz“ aus Syrien oder Palästina41 enthält, den Kelch von Rīh.a, der sich heute im Dumbarton Oaks Museum in Washington befindet, 1908 in Syrien entdeckt wurde und auf etwa 542 datiert ist42, den Architrav einer Kirche in Androna (El-anerin) in Nordsyrien aus der Zeit Justinians (527–565)43 und die Widmungsinschrift auf dem Taufbecken der Basilika auf dem Berg Nebo in Jordanien, die kurz vor 597 erbaut wurde44. Für die Provinzen, die in die Zuständigkeit des Patriarchats von Konstantinopel fielen, identifizierte Ševčenko eine Inschrift in der Kirche St. Johannes in Ephesus sowie die Inschriften auf zwei Marmormedaillons, vielleicht aus dem Taufbecken der Basilika der Hagia Sophia in Nicäa (Iznik).45 Vier Einträge sollten dem Inventar hinzugefügt werden: die Inschrift auf dem Türsturz eines Templons in Manis in Kleinasien von 966/96746, ein Stein aus dem 6. Jahrhundert, der in Karavas (Zypern)47 gefunden wurde, eine Inschrift in Knidos in

39 Taft, Oblation and Hymn (Anm. 11), 325–328. 40 Cedrenus I, 677: PG 121, 737; vgl. Taft, Oblation and Hymn (Anm. 11), 327 f. 41 K. Weitzmann  – I. Ševčenko, The Moses Cross at Sinai, in: Dumbarton Oaks Papers 17 (1963), 385–398. 42 Bibliographie bei Taft, Oblation and Hymn (Anm. 11), 306; die Verweise 20 und 21 sind zu integrieren in die, welche angegeben sind in: museum.doaks.org/Obj27035?sid=2000&x=36 104&port=­2616. Vgl. auch http://inscriptions.packhum.org/text/242773?hs=75-96. 43 http://inscriptions.packhum.org/text/243946?hs=174-182. 44 http://inscriptions.packhum.org/text/319558?hs=165-180. 45 http://inscriptions.packhum.org/text/278055?hs=182-205; http://inscriptions.packhum­.org/ text/246117?hs=182-196. 46 G. Pallis, Inscriptions on Middle Byzantine Marble Templon Screens, in: Byzantinische Zeitschrift 106/2 (2013), 761–810, hier 780 (mit Bibliographie) in der Form Ἐκ τῶν σῶν οἰκέτης ὁ σός … 47 T. B. Mitford, Some New Incriptions from Early Christian Cyprus, in: Byzantion 20 (1950), 105–175, hier 141–143; http://inscriptions.packhum.org/text/323718?hs=279-300.



Zwischen Anamnese und Lobpreis139

­ arien in Kleinasien48 und eine Tafel aus Perge in Pamphylien, ebenfalls aus dem K 6. Jahrhundert49, während die Datierung des Architravs in Afyon Karahisar (Akroenos) in Westanatolien (Phrygia Salutaris) ins 11. Jahrhundert verlegt werden sollte50. Vor der Widmungsformel τὰ σὰ ἐκ τῶν σῶν … scheint die Abhängigkeit von BAS/CHR offensichtlich zu sein, ist es aber vielleicht nicht. Bei Barberini gr. 336 findet sich der Satz in zwei Gebeten, die sicherlich zum Bestand aus Konstantinopel gehören: im Gebet für die Gründung einer Kirche51, das nach Vincenzo Ruggieri aus dem 6. Jahrhundert stammt52, und im Gebet für die Darbringung der Erstlingsfrüchte53. Wenn wir gut über die Gebete nachdenken, erkennen wir, dass sie sich auf die Art der Objekte beziehen, auf denen wir die Widmungsinschrift finden: kirch­ liche Gebäude und Gegenstände, die als Gaben dargeboten werden, und nicht nur das: In anderen Lobreden wird der Ausdruck auch im Gebet für den Bau eines Bootes und für die Weinlese verwendet. Selbst Georgios Pallis, der den Inschriften der mittelbyzantinischen Periode ein jüngeres Werk widmete, ist der Meinung, dass die Widmungsformel nicht immer aus dem liturgischen Text abgeleitet wurde, obwohl sie direkt von den in der Feier verwendeten Gefäßen abhängen könnte, da es sich am Ende um stereotype Ausdrücke handelte.54

48 http://inscriptions.packhum.org/regions/7. 49 S. Şahin, Spätrömisch-frühbyzantinische Inschriften aus Perge in Pamphylien, in: A. Rhoby (Hg.), Inscriptions in Byzantium and Beyond. Methods, Projects, Case Studies (Veröffentlichungen zur Byzanzforschung 38), Wien 2015, 177–185, hier 182. 50 Pallis, Inscriptions (Anm. 46), 784 (mit Bibliographie). Der Standort befindet sich 300 Kilometer östlich von Izmir (Smyrna) in Richtung Ankara. Die Datenbank Searchable Greek Inscriptions gibt als Datierung das 6./7. Jahrhundert an: http://inscriptions.packhum.org/text/​ 269469?hs=98-119. 51 Eucologio Barberini (Anm. 3), § 149. In der Folge wurde das Gebet wieder aufgenommen für die Segnung eines Bootes oder eines Hauses; vgl. Sinai gr. 962 (11./12. Jahrhundert), ed. A. A. Dmitrievskij, Описание литургических руко­писей, хранящихся в библиотеках православнаго Востока II, Kiev 1901 (Hildesheim 1965), 72. 52 V. Ruggieri, Consacrazione e dedicazione di chiesa, secondo il Barberinianus graecus 336, in: Orientalia Christiana Periodica 54 (1988), 79–118, hier 116–118. Am Ende des 7. Jahrhunderts erinnerte Patriarch Kallinikos (693–705) Justinian II. (685–695, 704–711) daran, dass es ein Gebet zum Bau einer Kirche gab. 53 Eucologio Barberini (Anm. 3), § 182. Die Wendung findet sich auch in einem Gebet zur Weinlese in Sinai gr. 962 (11./12. Jahrhundert), ed. Dmitrievskij, Описание II (Anm. 51), 72 f. 54 Pallis, Inscriptions (Anm. 46), 770; vgl. H. R. Hahnloser, Il Tesoro di San Marco, Firenze 1974, 61–62, 62–63, 64–65, 67, 68, 70.

140

Stefano Parenti

5.

Die Widmungsformel in der anaphorischen Tradition

Wir wissen nicht, ob es vor der liturgischen Byzantinisierung selbst in den melkitischen Patriarchaten griechischer Sprache Gebete gab, die eine gewisse Umarbeitung von 1 Chr 29,14 (LXX) verwendeten. Eines ist jedoch sicher: Die melkitischen Kirchen in Syrien, Palästina und Jordanien, aus denen einige Funde mit der Widmungsformel stammen, verwendeten JAS, die nicht die Formel τὰ σὰ ἐκ τῶν σῶν gebraucht. Es gibt nur sehr wenige syrisch-westliche Anaphoren auf Griechisch und Syrisch, und wo sie vorhanden sind, ist der byzantinische Einfluss offensichtlich – leicht erkennbar, weil der Formel der Hymnus Te laudamus wie in BAS/CHR folgt. So ist es in den neueren Codices der armenischen Anaphoren des Athanasius55 und in der maronitischen Anaphora, bezeichnet als die „der römischen Kirche“, vielleicht in Anlehnung an die Wendung „de tuis donis ac datis“ des Canon Missae56. Unter den alexandrinischen Anaphoren findet sich die Formel, begleitet von dem Hymnus, in GREG und BASeg; auch diese sind von einem Prozess der Byzantinisierung geprägt.57

5.1 Der Fall JASsyr Wie wir gesehen haben, ist JASsyr die einzige Übernahme von JAS, welche die Darbringungsformel des Übergangs von der Anamnese zur Epiklese hat: [1]  Memores, igitur, Domine, mortis tuae, et resurrectionis tuae tertia die a mortuis, et ascensionis tuae in caelum, et sessionis tuae ad dexteram Dei et Patris, et adventus tui secundi tremendi et gloriosi, quo iudicaturus es orbem in iustitia, cum retributurus es unicuique secundum opera eius, offerimus t­ ibi hoc sacrificium tremendum et incruentum, ne secundum peccata nostra ­facias nobis, Domine, neque secundum iniquitates nostras retribuas nobis, sed secundum mansuetudinem et philanthopiam tuam dele dele dele peccata nostra obsecrantium te; populus einim tuus et hereditas tua obsecrat te, et per te et tecum Patrem dicens:

55 H.-J. Feulner, Die armenische Athanasius-Anaphora. Kritische Edition, Übersetzung und litur­ gievergleichender Kommentar (Anaphorae orientales 1 / Anaphorae armeniacae 1), Roma 2001, 365. 56 Prex Eucharistica (Anm. 14), 316. 57 A. Gerhards, Die griechische Gregoriosanaphora. Ein Beitrag zur Geschichte des eucharistischen Hochgebets (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 65), Münster 1984, 34; A. Budde, Die ägyptische Basilios-Anaphora. Text – Kommentar – Geschichte (Jerusalemer Theologisches Forum 7), Münster 2004, 150/160, col. sinistra; vgl. Prex Eucharistica (Anm. 14), 352.



Zwischen Anamnese und Lobpreis141

[2]  Populus: Miserere nostri, Pater pantocrator. [2.1]  Sacerdos: Et non quoque tibi gratias agentes et confitemur tibi, ex tuo tibi, offerimus tibi, in omnia et propter omnia: [2.2]  Populus: Te glorificamus, et reliqua. [3]  Sacerdos: Invocatio Spiritus sancti. Miserere nostri, Deus Pater panto­ crator, et mitte super nos et super oblationes has propositas Spiritum tuum sanctum …58 Dass die textliche Einheit [2.1–2] zufällig ist, ist sofort offensichtlich, weil sie die Kontinuität des Textes bricht, d. h. den einzigen und ursprünglichen Übergang von der Anamnese zur Epiklese des JAS, der aus der Einbeziehung der Parusie und des letzten Gerichts [1] formuliert wurde, welche der Bitte der Anwesenden um Vergebung zugrunde liegen [2]. Zwischen den Einheiten [2] und [3] der hagiopolitischen Anaphora sehen wir interpoliert die Formel des Übergangs von der Anamnese zur Epiklese, die dem antiochenischen Ordo communis [2.1] eigen ist, gefolgt vom Hymnus [2.2], einem völlig deplatzierten Duplikat. Die Übergangsformel der antiochenischen Anaphoren ist durch die „missing oblation“ gekennzeichnet, daher erscheint es unwahrscheinlich, dass zum Zeitpunkt der Interpolation in JASsyr die Texteinheit [2.1] bereits die Formel „ex tuo tibi, offerimus tibi“59 enthielt. In der pseudochrysostomischen Predigt De paenitentia 1, die den Gnadenakt und die Darbringungsformel zitiert (εὐχαριστοῦντος … τὰ σὰ ἐκ τῶν σῶν σοὶ προσφέρομεν), erfahren wir, dass die Interpolation aus dem antiochenischen Ordo communis und die anschließende Rezeption der Darbringungsformel in einem griechischsprachigen Kontext stattfand. JASsyr wurde aus dem Griechischen übersetzt, nachdem Justin  I. (518–527) und Justinian (527–565) die Nichtchalcedonenser Syriens im Inland abgewehrt hatten. Das chronologische Datum, das 451 als terminus ante quem weniger absolut macht, wurde von Robert Taft für die Einführung von τὰ σὰ ἐκ τῶν σῶν σοὶ προσφέρομεν in griechischen Anaphoren vorgeschlagen, zumal in Kappado­kien während des Episkopats von Firmus († 439) die Formel unbekannt war.

58 Anaphorae Syriacae II/2 (Anm. 5), 148, Z. 9 f. mit der Übersetzung „Te laudamus“ [2.2], die ich zugunsten von „Te glorificamus“ verwerfe; vorgeschlagen von G. Winkler, Die Jakobus-­ Liturgie in ihren Überlieferungssträngen. Edition des Cod. arm. 17 von Lyon, Übersetzung und Liturgievergleich (Anaphorae orientales 2 / Anaphorae armeniacae 4), Roma 2013, 351, Anm. 31. 59 J. R. K. Fenwick, The anaphoras of St. Basil and St. James. An investigation into their common origin (Orientalia Christiana Analecta 240), Roma 1992, 165 bietet eine andere Erklärung.

142

Stefano Parenti

5.2 In der alexandrinischen und ägyptischen Tradition

Fußnote 60 manuell nn

Das von Jean Doresse entdeckte und veröffentlichte sahidische Fragment von BAS aus dem 7. Jahrhundert berichtet von einer Phraseologie, die von 1 Chr 29,14 (kursiv hervorgehoben) inspiriert ist und die Emmanuel Lanne auf diese Weise ins Griechische zurückverwandelt hat: BASsah Nos autem memores sanctarum ejus passionum … … proposuimus tibi et coram te tua de tuis donis quae sunt hunc panem et hunc calicem et te rogamus, Deus noster, … 60

Umwandlung (E. Lanne) Μεμνημένοι δὲ καὶ ἡμεῖς τῶν ἁγίων αὐτοῦ παθημάτων … … σοὶ τὰ σὰ ἐκ τῶν σῶν δώρων προεθήκαμεν ἐνώπιόν σου τὸν ἄρτον τοῦτον καὶ τὸ ποτήριον τοῦτο καὶ δεόμεθά σου, ὁ θεὸς ἡμῶν …60

Nach der Veröffentlichung von Doresse legte Alphonse Raes in einem Kommentarartikel den Finger auf dieses Segment der sahidischen Anaphora: „L’anamnèse byzantine et égyptienne se termine par une offrande des dons. On peut se demander si cette formule d’offrande n’est pas une intrusion maladroite dans l’anaphore égyptien.“61 Die Beobachtung von Raes über den zufälligen Charakter des Satzes ist gut begründet und stellt die gleiche Inkonsistenz in MK und in der koptischen Version unter dem Namen Cyrills von Alexandrien fest. Nach Raes haben auch Jean-Paul Montminy, J. R. K. Fenwick, Robert Taft, Gabriele Winkler und Hakim Budde, zu verschiedenen Zeiten und jeder auf einem eigenen Weg und mit seiner eigenen Methode, in BAS die Anaphora identifiziert, die sich in der Formel τὰ σὰ ἐκ τῶν σῶν niedergeschlagen hat.62 Aber welche Überlieferung von BAS? Nicht in der ägyptischen, die in diesem Punkt von der lokalen Anaphora beeinflusst wird. Budde warnt zu Recht davor, in die mögliche Falle zu tappen, die durch die starke Übereinstimmung zwischen BASsah und BAS in diesem Punkt gestellt wird – mit der Gefahr, die Ableitung aus einem gemeinsamen Urtext zu hypothetisieren. Das Fehlen des Satzes in den armenischen und syrischen Rezensionen und die Textvarianten in den ägyptischen Versionen selbst bestätigen diese Beobachtung.63 Mit anderen Worten: 60 Doresse – Lanne, Témoin archaïque (Anm. 16), 18–21. 61 A. Raes, Un nouveau document de la Liturgie de S. Basile, in: Orientalia Christiana Periodica 26 (1960), 401–411, hier 403. 62 Montminy, L’offrande sacrificielle (Anm. 6), 395; Fenwick, Missing Oblation (Anm. 2), 12; Taft, Reconstituting the Oblation (Anm. 11), 396; Taft, Some Structural Problems (Anm. 11), 519; Budde, Ägyptische Basilios-Anaphora (Anm.  57), 388 f.; Winkler, Basilius-Anaphora (Anm. 38), 740 f.; Winkler, Jakobus-Liturgie (Anm. 58), 351 f. 63 Budde, Ägyptische Basilios-Anaphora (Anm. 57), 388 f.



Zwischen Anamnese und Lobpreis143

Die jüngsten Studien, die BAS und seine Versionen auf den Grund der antiochenischen Anaphoren zurückführen, die keine Darbringungsformeln kennen, lassen uns die Möglichkeit ausschließen, dass τὰ σὰ ἐκ τῶν σῶν zum Urtext der basilianischen Anaphoren in Kappadokien gehört – ein Umstand, der, wie bereits gesehen, durch die Korrespondenz von Bischof Firmus von Cäsarea († 439) geleugnet wird. Letztlich gibt es nur zwei Traditionen, die alexandrinische (MK) und die konstantinopolitanische (BAS), beide nach der Formel τὰ σὰ ἐκ τῶν σῶν, inspiriert durch 1 Chr 29,14. In Ägypten hingegen findet sich die einzigartige und ursprüngliche Opfergabe im ersten Gnadenzuspruch wie in MK des Straßburger Papyrus gr. inv. 254, materiell aus dem 4./5. Jahrhundert, aber der Text ist zwischen dem zweiten Viertel des 4. Jahrhunderts und dem Jahr 380 einzuordnen. Hier fällt die Opfergabe mit der Darbringung des geistlichen und unblutigen Gottesdienstes, d. h. mit dem eucharistischen Gebet selbst, zusammen.64 Ebenfalls im 4. Jahrhundert stellt die Anaphora von Barcelona die Opfergabe in den Übergang vom Postsanctus zur Epiklese, aber das Objekt ist nicht mehr die Anaphora, sondern „diese Geschöpfe, das Brot und der Kelch“65. Das erhaltene Blatt 465 der John Rylands Library in Manchester, das dem 6. Jahrhundert zugeschrieben wird, enthält MK vom Postsanctus an, und wir finden dort eine [zweite] Opfergabe, diesmal zwischen der Anamnese und der zweiten Epiklese, in der Form ἐκ τῶν σῶν προεθήκαμεν ἐνώπιών σου.66 In der Tafel 54036 der British Library (7./8. Jahrhundert) von MK in koptisch-sahidischer Schrift klingt die Darbringungsformel, die jetzt zwischen der Anamnese und der zweiten Epiklese festgelegt ist, so: „wir opfern dir vor deinem Angesicht diese Gaben von dem, was dein ist, dieses Brot und diesen Kelch“67. Schließlich präsentieren die melkitischen Handschriften von MK beide Darbringungsformeln, die erste, ältere, im Praesanctus bei der Formulierung des Straßburger Papyrus und die zweite zwischen der Anamnese und der zweiten Epiklese.68 Es wäre gut zu fragen, ob der Exkurs in BASsah nicht das Ergebnis der Angleichung von MK/Cyrill im alexandrinischen Patriarchat der nichtchalcedonischen Richtung ist.

64 Hammerstaedt, Griechische Anaphorenfragmente (Anm. 15), 24, Z. 11 f. 65 M. Zheltov, The Anaphora and the Thanksgiving Prayer from the Barcelona Papyrus. An Underestimated Testimony to the Anaphoral History in the Fourth Century, in: Vigiliae Christianae 62 (2008), 467–504, hier 484, Z. 1 f.: δι’ οὗ προσφέρομέν σοι κτίσματά σου ταῦτα, ἄρτον τε καὶ ποτήριον. Vgl. auch den Papyrus Vindob. G 41046v (6. Jahrhundert), ed. Hammerstaedt, Griechische Anaphorenfragmente (Anm. 15), 156, Z. 5 f. 66 Ebd., 79, Z. 24 f. 67 H. Quecke, Ein saïdischer Zeuge der Markusliturgie (Brit. Mus. Nr. 54 036), in: Orientalia Christiana Periodica 37 (1971), 40–54, hier 44 und 46 (deutsche Übersetzung); Umwandlung ins Griechische: G. J. Cuming, The Liturgy of St. Mark edited from the manuscripts with a Commentary (Orientalia Christiana Analecta 234), Roma 1990, 64 f. 68 Cuming, Liturgy of St. Mark (Anm. 67), 21 und 44; W. D. Ray, The Priority of the Strasbourg Papyrus’s Tripartite Structure in Some Early Egyptian Eucharistic Prayers, in: Ecclesia Orans 34 (2017), 47–94, hier 90 f.

144

6.

Stefano Parenti

Ursprung und Zweck der Darbringungsformel

In seiner Studie von 1969 über den MK stellte René-Georges Coquin eine einfache und unmittelbare Frage: Worauf weist das griechische τὰ σά hin? Die Antwort war ebenso einfach: auf die Gaben von Brot und Wein für die Eucharistie, die in ihrer Materialität erfasst und zuvor auf den Altar gelegt worden waren, wie der Aorist προεθήκαμεν der alexandrinischen Tradition angibt.69 Diese einfache Beobachtung führt dazu, opferbezogene Verwendungen der Formel τὰ σὰ ἐκ τῶν σῶν zu verwerfen, wie es z. B. Montminy schien, der in den Anaphoren gerade das Auftauchen eines „Gabenopfers“ suchte. Ich finde Coquins Meinung vollkommen akzeptabel, denn die Formel τὰ σὰ ἐκ τῶν σῶν, die aus 1 Chr 29,14 entnommen ist, trägt den Charakter einer Widmung. Die Formel sagt uns: Wenn man Gott das Brot und den Wein der Eucharistie darbringt, bringt man ihm etwas dar, das ihm bereits gehört, weil das Korn und der Weinstock seine Gabe sind, so dass jede Gabe, die ihm gemacht wird, irgendwie eine Rückgabe ist.70 Aus den gesammelten Daten geht hervor, dass der Ausdruck τὰ σὰ ἐκ τῶν σῶν als eine Widmungsformel entstand, die an Objekte, also an Gebäude, an materielle Realitäten gebunden ist und in der Mitte des 5. Jahrhunderts in Umlauf kam. Anstatt also in den archäologischen Funden nach einem euchologischen Einfluss oder nur nach der Anaphora zu suchen, würde ich mich eher daran orientieren, in der Formel τὰ σὰ ἐκ τῶν σῶν die Erweiterung der eucharistischen Gaben durch eine immer weiter verbreitete und populäre Weiheformel zu sehen. Die Forschungen von Robert Taft haben gezeigt, dass die Formel unabhängig vom Kontext ist, in den sie eingefügt wurde: In BAS/CHR hat sie keinen Bezug zum nachfolgenden Hymnus, in der alexandrinischen Tradition ist sie trotz fehlendem Hymnus vorhanden. Ihre Übernahme hat nicht die bestehenden Strukturen verändert oder, wie das Partizip προσφέροντες von BAS und CHR aufzuzeigen scheint, eine obligate Wahl erzwungen aufgrund des Lobpreises im Indi­ kativ, der in der antiochenischen Tradition den Übergang von der Anamnese zur Epiklese kennzeichnet. Die Aufnahme der Formel in BAS/CHR erfolgte nach meiner Einschätzung in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Formel nicht von BAS auf CHR zurückgeht, sondern dass sie – wie die Feststellung über die Wiederaufnahme des Sanctus im Postsanctus – in beiden Anaphoren festgelegt wurde, als diese Teil des konstantinopolitanischen Ordo communis wurden. Übersetzung: Hansueli Walt

69 R. G. Coquin, L’anaphore alexandrine de saint Marc, in: Le Muséon 82 (1969), 307–356, hier 342. 70 Pečatnov, Сравнительное изучение (Anm. 19), 211.



Vorträge und Panels zu den Themenfeldern des Kongresses145

Vorträge und Panels zu den Themenfeldern des Kongresses

1. Vorträge Julio Cezar Adam

Subversive Anamnesis: Memories, Films and Liturgies in the Case of Brazil

Alexandra Banks

‚A Fractured Vessel‘

Johan Bastubacka

Body and Memory in Orthodox Lay Worship

Carl Bear

Remembering in 360 Degrees: Immersive Technology and the Study of Liturgy

Marco Benini

Liturgical Signs and Actions: Anamnesis and/or Mimesis of Sacred Scripture? Exemplified by the Rite of Footwashing (Holy Thursday) and Ephphetha (Baptismal Liturgy)

Harald Buchinger

Remembering canonical and extracanonical traditions in the stational liturgy of Late Antique Jerusalem

Kent J. Burreson

Remembering the Body: The Presence of the Dead in Ecologically Attentive Funeral and Burial Practices

Nathan Chase

The Ascent into Heaven: An Answer to the Problem of Time in Liturgical Anamnesis

Luiz Coelho

Public liturgies of remembrance and activism at a time of post-truth

Adam Couchman

„Not my will but yours be done“: The use of the mercy seat as memory embodiment and construction

Dan D. Cruickshank

Remembering the English Reformation in the Revision of the Communion Liturgy of the Book of Common Prayer, 1906–1920

Juliette Day

The sensory memory of rituals as a mystagogical tool

Ben De Klerk –  Ferdi Kruger

Healing of painful memories through vivid images of remembrance in liturgy

146

Vorträge und Panels zu den Themenfeldern des Kongresses

Brian Douglas

Anamnesis in the Sacramental Vision of George Herbert

Matthias Drögsler

Those who went through hell: Challenges and limits of healing through liturgy in the context of sexual abuse by ministers of the Church. With a side glance at ways in psychotherapy

Gilles Drouin

Des lieux stables pour une mémoire en recomposition: Notre-­ Dame de Paris

Olav Gading

Anamnesis in prayers and liturgies along the „Coastal Pilgrim Route“ to Nidaros (Trondheim) on the West Coast of Norway

Sam Goyvaerts

„For your faithful Lord, life is changed not ended“: The Funeral Rite and the Paschal Mystery

Jeroen Heiremans

The Anamnetic Character of the Alternative Presidential Prayers for Liturgical Year C in the Flemish Missal for Sundays and Feasts (1975)

Jana Hofmanová

Prayer of Confession as an Important Moment in Healing of Historical Memory

Kimberly Hope  Belcher

„Remember, Lord, Your Church“: Divine and Human ­Memory and the Liturgical Subject

Sini Hulmi

St. Michael Church in Kirkkonummi (Finland) as a bearer of communal and individual memories

Louis Marcelo Illenseer Building affectivity liturgy with young people Peter Jeffery

Who wrote Ordo Romanus Primus?

Bruce Jenneker

St Paul’s Chapel: A place of Healing Memory and Liberating Hope

Sarah Kathleen  Johnson

Remembering Prominent Torontonians: Anglican Funerals at the Cathedral Church of St James and the Roles of Christian Ritual in an Increasingly Nonreligious and Religiously Diverse Canada

Titti Kallio –  Terhi Paananen

Emotions Experienced during Worship Service

Colman Fabian  Kimaryo

„Do this in Memory of Me“: Understanding Eucharistic Anamnesis as Making Present

Benedikt Kranemann Erinnern als sinnliches Ereignis. Liturgische Anamnese und Körper



Vorträge und Panels zu den Themenfeldern des Kongresses147

Julie Land

Remembering as Re-membering

Lizette Larson-Miller

Remembering, renewing, extending, or reconstituting? ­Ritual renewals of baptism

Geert C. Leenknegt

Speaking Silence: Talk less and say more in liturgy

Gerald C. Liu

A Liturgical Need to Confront the American Past

Trevor Lloyd

The Personal and the Political

Cezar Login

Neurophysiological Bases of Memory and Liturgical Anamnesis

Sebastian  Madathummuriyil

The Dialectics of Presence: Reconfiguring Transcendence in Immanence

Maryann Madhavathu Anamnesis, Identity, and Response in the Syro-Malabar ­Liturgy of the Hours Michael-Dominique  Magielse

The Collective Memory of Liturgy in the Digital Realm

William P. Mahrt

The Distinction between Sacred Space and Sacred Place and Their Musics

George Mathew

Anamnesis or Thanksgiving: A search for Authentic Liturgy of Burial

Marcel Birame Mbengue

Guérison de l’arbre généalogique par l’Eucharistie: chance, danger ou simple malaise en Église

Daniel McCarthy

Deep in the Bones lie Memories and Hopes: A Grand Unified Theory

Bridget Nichols

‚Once you were not a people‘: Liturgy and the gift and promise of memory

Thomas O’Loughlin

Remembering and Imagining: Death, Burial, Community and Eucharist in a medieval English Village

Matthew S. C. Olver

Remembering to touch the Divine: The Logic of Consecration that unites early Christian Anaphoras

Timothy P. O’Malley

Remembering the Flesh: The Liturgical Body in Emmanuel Falque

Armand Leon van  Ommen

Communities of Remembering: A Liturgical Anthropology from a Disability Perspective

Frédérique Poulet

Repentir, mémorial et guérison de la mémoire

Carolynn Pritchard

Liturgical Play: Liturgy through the Lens of Play

148

Vorträge und Panels zu den Themenfeldern des Kongresses

Nepolean James Raj

Relationship between Liturgy and Mary: Distrust in the ­Power of the Religious Remembrance through Ritual Liturgical Acts as Cause for the Decline of Marian Devotion

James G. Sabak

The Embertides as a Means for Remembering the Future

Tyler D. Sampson

Is there a Liturgy in this Book? Re-considering the Form and Function of the Collections of the Ordines Romani

Jacob Sebeesh

Creation and Consecration: An Anamnetic Reading of the Missale Romanum Preface for the Dedication of a Church

Innocent Smith

Abbreviation, Memory, and the Celebration of the Liturgy

Bryan Spinks

Remembering and Lamenting lost liturgy: The text and context of Rites of Durham. C. 1593

Shawn Strout

The Offertory as Anamnesis toward Ethical Action: Common Worship as a Case Study

Martin Stuflesser

„Wir rufen an den teuren Mann, Sankt Kilian …“

Andy Theuer

Erinnerung zur Sprache bringen. Anamnese und liturgisches Gebet

Liam Tracey

Who remembers when you cannot? Worship in the Age of Dementia

Paul Turner

Past meets Present: How Catholic Traditional Funerals fulfill or miss the Needs of Contemporary Society

Marco Weis

Anamnese – Bindeglied zwischen liturgischer Aktion und privater Devotion?

Tobias Weyler

Liturgie als korporale Performance. Die Leiblichkeit der rituellen Performance der Liturgie als wirksames erinnerungskonstituierendes Geschehen

Thomas R. Whelan

Memory, Anamnesis, Liminality

Katharina  Wiefel-Jenner

Die Gedächtnismessen in den geistlichen Gemeinschaften der Berneuchner Tradition



Vorträge und Panels zu den Themenfeldern des Kongresses149

2. Panels Lydia van Leersum-Belebrede, Henk Vogel, Nicholas Matthee, Edward Postma Contesting Performative Memory: Anamnesis and Embodiment in Liturgical-Ritual Contexts The papers that make up our panel show that there is not one route from embodiment through remembering to identity construction. Rather, embodiment constitutes and challenges identity construction and performances both construct and change cultural memory. How does children’s embodiment constitute and challenge liturgical-ritual anamnesis? How in- or exclusive is a ritual-musical performance of Psalms when it comes to ideologies and the construction of collective identities? How do we understand embodiment as a traditionally physical concept, in the context of cyber ritual? How does the earth ‚retro-agitate‘ in the liturgical remembrance of ‚earth dwellers‘? Paper 1 Movement Matters: How children’s embodiment constructs and contests liturgical-ritual anamnesis Paper 2 Remembering the Future: The construction of collective identities during music festival ‚150 Psalms‘ Paper 3 Physical death and algorithmic remembrance: Toward an understanding of ritual ­liturgical embodiment in cyberspace Paper 4 Earth Dwellers: Remembrance and embodiment of an acting world Ronelle Sonnenberg, Rima Nasrallah, Mirella Klomp, Cas Wepener, Marcel Barnard Restoring rituals: Healing in contemporary communities in South Africa, Lebanon and the Netherlands Whether hurt and wounds are physical or mental, when it comes to brokenness, rituals can play an important role. Among other things, rituals have mediating, formalizing, condensing, relieving, channeling, therapeutic, and healing potential. Apart from that, rituals also (re-)open and emphasize wounds, and actively present factual situations of brokenness: they activate certain memories. In the context of this ambivalence, various qualities of rituals may help restore the wounded souls of individuals and communities. And they may even open a path to a future: theologically speaking, remembrance cannot be limited to only looking back to the past or cur-

150

Vorträge und Panels zu den Themenfeldern des Kongresses

rent situation and grieving; there is always the promise of life, of a future, of a day when trust prevails over distrust and common humanity over ethnic, financial and social differences. This panel explores the restoring and possible life-giving power of liturgical rituals by means of four case studies from three different post-colonial contexts: South-Africa, Lebanon and the Netherlands. Paper 1 Remembering an Armenian and Syriac ‚mother tongue‘ by young people in the Middle East Paper 2 Remembering the abolition of slavery at the Keti Koti-table in the Netherlands Paper 3 Re-membering an African world-view through an annual sacrifice Paper 4 Remembering the Holy Spirit and alleviating poverty in South Africa



Predigt der Kongress-Eucharistiefeier151

Predigt der Kongress-Eucharistiefeier 9. August, Gedenktag der heiligen Teresa Benedicta vom Kreuz

Joris Geldhof

Sisters and brothers, liebe Schwestern und Brüder, frères et sœurs, zusters en broeders, celebrating today the memory of Edith Stein, who was renamed Teresa Benedicta of the Cross when she definitively engaged herself for the monastic life in the Carmelite monastery of Cologne in 1934, entails the wonderful potential to engraft us more deeply onto the mysteries of the Eucharist. I truly wish that this may happen, as we are both collectively and individually invited to move through the rumination of the Word we just heard to the praying at the altar and to communion. Several aspects of what communion means and how it can transform our lives are exemplified by the life and death of Saint Teresa Benedicta of the Cross. First of all, liturgy played an often overlooked but, on close inspection, undeniable role in Edith Stein’s conversion to Catholicism. The Eucharist in particular and the continuous memory of Christ’s presence in Church and world, are worth mentioning. As an extraordinarily talented phenomenologist, Stein was fascinated by experiences of presence in presumably ‚empty‘ buildings. Churches, she came to realize, are not only halls hosting (religious) events, but places where traces of the Lord’s always benevolent proximity are actualized, shared, remembered, expressed, and passed on. Prayer, and liturgical prayer in particular, are the proper ways to appropriate that presence and to participate in it, to embrace it, to become permeated by it, in short, to live it. In addition, it was abbot Raphael Walzer of the archabbey of Beuron – a place of great renown for anyone familiar with the Liturgical Movement – who became an important guide on her path and, maybe more importantly, a veritable and faithful friend. In other words, there is definitely something Benedictine and liturgical at the very outset of the process which led Edith Stein into the depths of Christian faith. A crucial factor on that path was a passionate search for truth. As a gifted philoso­ pher, Edith Stein realized very sharply that correspondence between insights, images and ideas of the intellect on the one hand and external reality on the other hand is

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crucial for the development of any theory. Developing them, moreover, goes hand in hand with central virtues such as honesty, authenticity, steadfastness, loyalty, and even courage, for it is more than likely that opposition occurs when one holds on to the truth. Nevertheless, the intellectual pursuit of truth is not the only thing which matters. Edith Stein looked for a truth to truly live from. That truth was Jesus Christ, whom she ardently followed, desired to follow, and finally had to follow in a brutal death, as violent as undeserved, as is the case with so many known, less known and even unknown martyrs. It makes a lot of sense to consider Saint Teresa Benedicta of the Cross a sensible bridesmaid, in the light of the parable of Mathew’s gospel. She accepted the invitation for the wedding and thoroughly prepared herself for the feast. She not only wished to see the bridegroom and attend the party, as all the bridesmaids did. She additionally wanted to become herself a lamp and, unlike half of the company, she knew that in order to continue to shine you have to have oil with you. In other words, her love for Christ was not a queer whim. It was a thorough desire, based on a profound sense of fulfilment and communion. The crucial element in the parable is not the falling asleep, the lamps or the torches, but the oil. The oil is accumulated wisdom and life experience, which assures that the torches of the desire to accompany the bridegroom to the feast keep burning. In this respect, Saint Teresa Benedicta of the Cross is not only the figure of a sensible bridesmaid, but through her sainthood even the oil and the light it gives. If, as many commentaries suggest, the wedding feast of the parable is eternal joy or the beatific vision, if the bridegroom is Jesus Christ, and if the Lord is present in the Word of the gospel in our Eucharist, then it is no exaggeration to say that Saint Teresa Benedicta of the Cross is a lamp for us that sheds brilliant light on that Word, and also that a meditation on her life and death can be oil for us to make sure that the lamp continues to shine. She shows a way for us of which she herself is a part. Her memorial shapes communion. Voici donc le noyau de cette homélie. Si les noces dont nous parle la parabole de l’évangile que nous avons entendu, sont la joie éternelle ou la vision béatifique; si l’époux est Jésus-Christ; et si le Seigneur est présent dans la Parole de l’Évangile de notre célébration eucharistique, alors il n’est pas exagéré de dire que Sainte Thérèse Bénédicte de la Croix est pour nous une lampe qui éclaire la Parole avec éclat, et qu’une méditation sur sa vie et sa mort peut nous assurer de l’huile pour que la lampe de la bonne nouvelle continue à rayonner. Ladite sainte nous montre un chemin dont elle fait elle-même partie. Son mémorial forme la communion. Hier ist also der zentrale Gedanke dieser Predigt. Wenn das Hochzeitsfest des Gleichnisses aus dem Evangelium, das wir gerade gehört haben, ewige Freude oder die v­ isio beatifica ist, wenn der Bräutigam in der Tat Jesus Christus ist und wenn der Herr im Wort des Evangeliums in unserer Eucharistiefeier gegenwärtig ist, dann wäre es kei-



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ne Übertreibung zu behaupten, dass die heilige Teresa Benedicta vom Kreuz eine Lampe für uns ist, die das Wort strahlend beleuchtet, und auch, dass eine Besinnung über ihr Leben und ihren Tod Öl sein kann, um sicherzustellen, dass die Lampe weiterleuchtet. Sie zeigt uns einen Weg, von dem sie selbst ein Teil ist. Ihre Gedächtnisfeier gestaltet Gemeinschaft. Also, Kommunion, communion, communion, communión, comunione, communie. A fre­ quently used concept, maybe even overused. Or at least so, maybe, in theological, ecclesial and pastoral circles. It is – and it ought to be, let there be not a single doubt about that – a central concept in scholarly and reflexive work about the Eucharist. But we have to be clear: it is not a reality, neither within our churches, nor between our churches, let alone in society at large. Communion, however, may be the key to connect between Christian faith and contemporary cultures, or to make that connection (again) more solid, intense, and vital. In addition, connecting may be the key to communion. And here does Saint Teresa Benedicta of the Cross arise on the surface again. In the Roman Catholic Church she is venerated as a patron saint of Europe since 1999. She holds that patronage together with other illustrious figures, the famous brothers Saints Cyrillus and Methodius, Saint Bridget of Sweden, Saint Catherine of Siena, and Saint Benedict of Nursia, of course, whose name does not incidentally appear in her own. These saints stem from different centuries and have strongly varying charisms. But precisely in their plurality and diversity, they are not only to some extent representative of Europe but they can also function as a light, more particularly an oilfilled lamp, for Europe. Europe, as so many places in the world, is in dire need of communion, and England seems an appropriate place for Christians to make this point these days. There is so much divisiveness, brokenness, fragmentariness, desperation, disillusion, nihilism, and even extraordinary violence in our world. While so much of it is unnecessary. So much of it could benefit from just a little more ‚communion‘. The obvious connection between Saint Teresa Benedicta of the Cross and Saint Benedict is revealing at this juncture. As I suggested already, her religious name was at least partially chosen to be a reference to Saint Benedict. The simple wink, however, turns out to be a big link, a stable joint, a deep connection of a kind that we need many more of. We need profound connections, which constitute mutual solidarity and which transcend the many boundaries and obstacles that we are so often confronted with, both within ourselves and in our communities. We need ‚communion‘. When Edith Stein was still a young and promising scholar in philosophy, she had that marvelous and thorough insight that something was lacking in traditional phenomenology. What she was aiming at was not the ongoing and intriguing investigations into the faculty of human consciousness and how it interacts with the world,

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but the unique human capacity of compassion, of perceiving someone else’s need, of understanding another soul, another life, another person. Zum Problem der Einfühlung was the title of her dissertation. How to develop fine-grained skills of empathy and compassion in today’s world, in Europe, in other continents, in politics, in our churches, but also in our own lives? Einfühlung is still a crucial problem, even if it frequently goes unnoticed. The problem of Einfühlung, literally of feeling-in, is even at the heart of the lamentable lacks of communion we observe everywhere. The memorial feast of Saint Teresa Benedicta of the Cross, which we celebrate in and through this Eucharist, can help us enter deeper into the mystery of communion and make us ministers of its becoming ever more a reality. We need more passion for compassion, Einfühlung, sensitivity for sensing the needs of others. We need adherence to the truth to live from, wisdom and wit, discernment, perseverance beyond our perplexities, a whole lot of blessing, and character. And, not to forget, we need oil, like the sensible bridesmaids, such as Edith Stein, who chose the beautiful religious name Teresa Benedicta of the Cross, and who lived and died in real communion with the Word she loved and trusted and through which she was truly blessed. Benedictus benedicat. Amen.



Danksagung155

Danksagung

Am Ende dieses Bandes ist es höchst angemessen, aber darüber hinaus eine große Freude, all jenen zu danken, ohne die dieses Buch nicht hätte erscheinen können. An erster Stelle danke ich den Autorinnen und Autoren, die auch während des Kongresses die Hauptvortragenden waren. Ich muss ehrlich sagen, dass die Qualität ihrer Reflexionen zu unserem Thema hervorragend war und dass es sich deshalb lohnt, die Texte noch einmal aufmerksam nachzulesen. Danken muss ich ihnen auch für die sehr angenehme Zusammenarbeit und die herzliche Annahme der Ein­ ladung. Ebenso danke ich aufrichtig allen Übersetzerinnen und Übersetzern der Hauptreferate. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie anstrengend und anspruchsvoll diese Arbeit ist und wie wenig sie in ihrem Wert geschätzt wird. Selbstverständlich sei auch all denjenigen ausdrücklich gedankt, die bei der Vorbereitung und der Gestaltung des Kongresses zu Durham mitgeholfen haben, vor allem den Mitgliedern des Lokalkomitees unter Leitung von Simon Jones und Ben Gordon-Taylor sowie den Kolleginnen und Kollegen des Council und des Execu­tive Committee (d. h. der Vizepräsidentin, den beiden Sekretärinnen und dem Schatzmeister). Dass der Kongress ein Erfolg war, sowohl inhaltlich als auch organisa­ torisch, ist in nicht geringem Maße dem konkreten Einsatz sehr vieler Leute zu verdanken, die ihre Zeit nicht in Minuten einteilten, sondern sehr großzügig Energie geliefert haben. Dank gilt besonders den drei Mitherausgeberinnen dieses Bandes. Zusammen repräsentieren wir etwas von der Diversität der Societas Liturgica hinsichtlich der verschiedenen Sprachen, Kirchen und Länder, aus denen wir herkommen. Wir sind aber alle europäisch, was im Fall der Vorbereitung des Congress Statement ein erheblicher Vorteil war. Wir konnten uns treffen und anderthalb Tage miteinander verbringen. Ich habe die besten Erinnerungen an den Besuch von Bridget, Dorothea und Frédérique in Gent und an die Zeit, die wir zusammen denkend, redend und schreibend verbracht haben. Wir haben uns sehr gut verstanden, und über alle professionelle Dienstbarkeit an der von uns allen sehr geliebten Societas Liturgica hin­ aus wuchs unsere Freundschaft. Vielen Dank für diese unvergesslichen Erfahrungen und für die gewandte Zusammenarbeit. Ein spezielles Wort von Dankbarkeit sei an Dorothea gerichtet, die als einzige „native speaker“ des Deutschen so freundlich war, im Hinblick auf die Herstellung dieses Buches ein paar „extra miles“ zu laufen. Sie übersetzte nicht nur mehrere Texte, sie las auch alles mit einer bewundernswerten Akribie durch. Danken will ich auch meinem Vorgänger als Präsident der Societas Liturgica, Martin Stuflesser. Immer ist er bereit zu helfen, wo es möglich ist, und sein Rat bezeugt eine milde Weisheit und ein großes empathisches Vermögen. Als ich ihn frag-

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te, ob die Beiträge des Kongresses zu Durham auf Deutsch in seiner Reihe „Theologie der Liturgie“ erscheinen könnten, war er sofort begeistert und sagte Ja. Wir haben schnell klare Vereinbarungen treffen können. Dasselbe gilt auch für Herrn Dr. Rudolf Zwank vom Verlag Friedrich Pustet, Regensburg. Sein Interesse und sein Nachdruck waren ein Anreiz, das Manuskript rechtzeitig abzuliefern. Schließlich möchte ich auch Ihnen, liebe Leserinnen und Leser dieses Buches, ganz herzlich danken. Denn ein Buch lebt nur insofern, als es effektiv gelesen wird. Joris Geldhof Mitherausgeber



Autorinnen und Autoren157

Autorinnen und Autoren

Joris Geldhof ist Professor für Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie an der Fakultät für Theologie und Religionswissenschaften der KU Leuven, Belgien. Er leitet das Liturgische Institut und ist in dieser letztgenannten Funktion auch Chef­ redakteur der zweisprachigen Zeitschrift Questions Liturgiques/Studies in Liturgy. Seine Hauptinteressen betreffen die liturgische Theologie, die Eucharistie und Fragen der christlichen Sakramentalität in einer säkularisierten Welt. Neben anderen Werken gab er unter anderem Mediating Mysteries, Understanding Liturgies. On Bridging the Gap Between Liturgy and Systematic Theology (Leuven: Peeters, 2015) und zusammen mit Marianne Moyaert Ritual Participation and Interreligious Dialogue. Boundaries – Transgressions – Innovations (New York: Bloomsbury, 2015) heraus. Er ist Autor von Liturgy and Secularism. Beyond the Divide (Collegeville: Liturgical Press, 2018) und Liturgical Theology as a Research Program (Leiden – Boston: Brill, 2020). Von 2017 bis 2019 war er für eine Amtszeit von zwei Jahren Präsident der Societas Liturgica. Dorothea Haspelmath-Finatti ist eine international und ökumenisch forschende lutherische Liturgiewissenschaftlerin und Lehrbeauftragte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien mit vielen Jahren Erfahrung im Gemeindepfarramt in Deutschland und Österreich. Ihr Forschungsinteresse gilt besonders der liturgischen Theologie und dem Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie zu einer Anthropologie ritueller Handlungen. Zu ihren Publikationen gehören Theologia Prima. Liturgische Theologie für den evangelischen Gottesdienst, ATPLH 80 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014) sowie, als Herausgeberin, Called to Worship – Freed to Respond. Beiträge aus der internationalen Liturgischen Theologie zum Zusammenhang von Gottesdienst und Ethik (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2019). Sie ist Mitglied der Liturgischen Konferenz und Council Member der Societas Liturgica. John Maddison ist Künstler und Kunsthistoriker sowie Fellow der Society of Antiquaries of London. Er lehrte mittelalterliche Kunstgeschichte an der Universität Leeds und stellte seine eigenen Werke in der Sommerausstellung der Royal Academy sowie in einer Reihe von Einzelausstellungen aus. Er war maßgeblich an der Pflege von Kirchen beteiligt, unter anderem als Mitglied des Fabric Committee der Kathe­drale von Norwich und in der Diözese Ely. Im Jahr 2008 wurde er mit dem Entwurf des neuen Altars für die Marienkapelle in der Kathedrale von Ely beauftragt. Für diesen Auftrag war Maddison einer von fünf Künstlern, die für die 2015 Art & Christian Enquiry Awards nominiert wurden.

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Autorinnen und Autoren

Bénédicte Mariolle ist Ordensmitglied von Les Petites Sœurs des Pauvres und Mitglied des Diözesandienstes für Pastorale Liturgie und Sakramente in der Diözese Rennes. Ihre Doktorarbeit am Institut Catholique de Paris trug den Titel Un seul corps et un seul esprit dans le Christ. Le viatique à l’heure de la mort, accomplissement pascal du baptisé et participation au Christ ressuscité. Sie hat Vorträge gehalten und unterrichtet in den Bereichen pastorale Liturgie und Sakramente sowie liturgische ­Musik. Zu ihren Veröffentlichungen gehören Bibliographie des ouvrages théoriques traitant du plain-chant (1582–1789), Plain-chant et liturgie en France au XVIIe siècle (Paris – Versailles: Éditions Klincksieck – Éditions du Centre de Musique Baroque de Versailles, 1997) und eine Reihe von Artikeln in wissenschaftlichen Zeitschriften, darunter La Maison Dieu. Bruce T. Morrill ist römisch-katholischer Priester und Mitglied der Gesellschaft Jesu. Er ist Inhaber des Edward-A.-Malloy-Lehrstuhls für katholische Studien an der Vanderbilt University. Davor war er 15 Jahre an der Fakultät des Boston College tätig und hatte Gastprofessuren und Stipendien an einer Reihe von Institutionen in den USA, Belgien und Irland inne. Er hat zahlreiche Vorträge in Nordamerika, Europa und Australien gehalten. Zu seinen Büchern zählen Divine Worship and Human Healing. Liturgical Theology at the Margins of Life and Death (Collegeville, MN: ­Pueblo – Liturgical Press, 2009); Anamnesis as Dangerous Memory. Political and Liturgical Theology in Dialogue (Collegeville, MN: Pueblo – Liturgical Press, 2000); Encountering Christ in the Eucharist. The Paschal Mystery in People, Word, and Sacrament (New York – Mahwah, NJ: Paulist Press, 2012) und The Essential Writings of Bernard Cooke. A Narrative Theology of Church, Sacrament, and Ministry (New York – Mahwah, NJ: Paulist Press, 2016). Bridget Nichols ist Dozentin für Anglikanische Studien und Liturgiewissenschaft am Theologischen Institut der Church of Ireland in Dublin. Ihr Forschungsinteresse gilt besonders der Entwicklung der anglikanischen Liturgie in Bezug auf die liturgische Sprache. Zu ihren Publikationen zählen Liturgical Hermeneutics (Frankfurt: Peter Lang, 1996) und, als Herausgeberin, The Collect in the Churches of the Reformation (London: SCM, 2010), dazu eine Reihe von Buchbeiträgen und Artikeln in wissenschaftlichen Zeitschriften. Sie ist Redakteurin der Zeitschrift Anaphora und amtierende Präsidentin der Societas Liturgica. Jessica Ortner ist Mitglied der Abteilung für englische, germanische und romanische Studien an der Universität Kopenhagen. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistik und Kulturwissenschaften in Odense, Zürich und Kopenhagen. Im Jahr 2012 schloss sie ihre Doktorarbeit über die Darstellung des Holocausts im Hauptwerk der österreichischen Schriftstellerin Elfriede Jelinek, Die Kinder der ­Toten (1995), ab. Die Dissertation ist unter dem Titel Poetologie „nach Auschwitz“. Narratologie, Semantik und sekundäre Zeugenschaft in Elfriede Jelineks Roman ‚Die Kinder



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der Toten‘ (Berlin: Frank & Timme, 2016) erschienen. Ihr aktueller Forschungsschwerpunkt ist „Transkulturelles Gedächtnis als Schlachtfeld europäischer Identität – Die Entstehung Europas in der deutschsprachigen Migrantenliteratur der Gegenwart“. Stefano Parenti ist Mitglied des Päpstlichen Instituts für Liturgie in Rom und der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Regensburg. Er ist eine internationale Autorität auf dem Gebiet der byzantinischen Liturgiegeschichte und hat zahlreiche Bücher und Artikel zur orthodoxen Theologie und Liturgie veröffentlicht. Er hat sich insbesondere mit dem Werk des verstorbenen Robert Taft befasst und zuletzt in der Zeitschrift Ecclesia Orans 36 (2019) den Beitrag Robert F. Taft SJ (1932– 2018) in memoriam veröffentlicht. Zu seinen jüngsten Büchern gehört A Byzantine Monastic Office, A. D. 1105 (mit Jeffrey C. Anderson; Washington, DC: CUA Press, 2016). In Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Liturgische Studien an der Universi­tät Regensburg arbeitet er an einer Regionalgeschichte des byzantinischen Ritus. Felix Mabvuto Phiri ist ein sambischer Priester, der der Generaldelegation der Montfort-Missionare für das anglophone Afrika angehört. Er besitzt ein Lizenziat in Sacred Theology (STL) und einen Doktortitel in Sacred Theology (STD) des Boston College, School of Theology and Ministry, USA. Seine Dissertation ist unter dem Titel Reconciliation. A Scandal of Divine/Human Self-emptying Love (Nairobi: CUEA, 2014) erschienen. Phiri hat auch diverse Artikel in akademischen Zeitschriften veröffentlicht, darunter Worship. Er lehrte mehrere Jahre Systematische Theologie und Liturgie am Hekima University College, einer Jesuitenschule für Theologie, Frieden und internationale Beziehungen in Nairobi, Kenia, bevor er zum Provinzoberen seines Ordens gewählt wurde. Im Jahr 2018 wurde er erneut zum Assistenten des Generaloberen seines Ordens gewählt. Heute lebt und arbeitet er in Rom in der allgemeinen Verwaltung seines Ordens. Frédérique Poulet ist Professorin für Katholische Theologie an der Faculté Notre-­ Dame (Collège des Bernardins) in Paris. Ihr besonderes Interesse gilt der Erforschung der Liturgie als theologischer Ort und als Basis für eine grundlegende Sakramententheologie, insbesondere der Eucharistie. Zu ihren Veröffentlichungen gehören Célébrer l’Eucharistie après Auschwitz. Penser la théodicée sur un mode sacramentel (Paris: Cerf, 2015) und, als Mitherausgeberin, Le Repentir dans tous ses états (Paris: Karthala, 2019), Langage et religion, vers un nouveau paradigme (Strasbourg: Presses universitaires de Strasbourg, 2017) sowie eine Reihe von Kapiteln in Sammelbänden und Artikel in mehreren Zeitschriften. Sie ist Mitglied der Schriftleitung von Studia Liturgica.