Agrarreformen und ethnodemographische Veränderungen: Südosteuropa vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart 3515092633, 9783515092630

Agrarreformen prägen die Geschichte des ländlichen Kulturraumes in Europa seit der Frühen Neuzeit. Aber welche Folgen ha

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Agrarreformen und ethnodemographische Veränderungen: Südosteuropa vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart
 3515092633, 9783515092630

Table of contents :
Inhalt
Einführung
Von der Befreiung zur Marginalisierung der Bauern. Zwei Jahrhunderte Agrarreformen in Südosteuropa
I. Reformen des frühmodernen Staates bis zur Grundentlastung
Ethnokonfessionelle Aspekte der Reformen des aufgeklärten Absolutismus in der Habsburgermonarchie
„Quo ita cicures ac industriosi evaderent“.Agrarmodernisierungen und ethnische Veränderungen als komplementäre Entwicklungsprozesse in Südtransdanubien
Agrarische Modernisierungsprozesse und ethnodemographische Veränderungen in der Südbatschka bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
II. Agrarreformen und Bildung der Nation und des Nationalstaats
Agrarverfassung und demographische Entwicklung in den deutschen Siedlungen im Schwarzmeergebiet nach 1861
Der wirtschaftliche Wettbewerb zwischen Deutschen und Serben in den Werken von Radoslav Markoviç(1865–1948)
„Kolonisationsgesetz“ und „Kolonats“-Reform: Defensiver Konservatismus und agrarische Strukturpolitik in Zentraleuropa um 1900
Tiefgreifende agrarische Umwälzungen und Umstrukturierungen in den neu gegründeten baltischenStaaten Estland, Lettland und Litauen 1919/1920/1922: Motivationen und Ergebnisse bis 1940
Landreformen, Property rights und ethnische Minderheiten. Ideen- und Institutionengeschichte nachholender Modernisierung und Staatsbildung in Rumänien undJugoslawien 1918–1948
III. Bodenreform, staatliche Raumordnung undethnische Homogenisierung vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die Gegenwart
Die Rolle der Bodenreform und der Nationalitätenfragebei der Vertreibung der Ungarndeutschen
Einige Zusammenhänge zwischen der Bodenreform und dem Wandel der Sozialstruktur im südlichen Transdanubien (1945–1949)
Die Agrarreform in Jugoslawien nach 1945 und ihre Nachwirkungen
Zur Problematik des ländlichen Raumes in Südosteuropa nach 1989
Kulturlandschaftsprozesse in Südosteuropa vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Gegenwart
Anhang
Personenregister
Ortsregister
Autorenverzeichnis

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Agrarreformen und ethnodemographische Veränderungen

Schriftenreihe des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde

Band 15

Sammelbände – Bd. 1

Karl-Peter Krauss (Hg.)

Agrarreformen und ethnodemographische Veränderungen Südosteuropa vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2009

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09263-0

Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. © 2009 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Printed in Germany

Inhalt

Karl-Peter Krauss Einführung .........................................................................................................

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Holm Sundhaussen Von der Befreiung zur Marginalisierung der Bauern. Zwei Jahrhunderte Agrarreformen in Südosteuropa .........................................................................

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I. Reformen des frühmodernen Staates bis zur Grundentlastung ..............

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Gerhard Seewann Ethnokonfessionelle Aspekte der Reformen des aufgeklärten Absolutismus in der Habsburgermonarchie ..............................................................................

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Norbert Spannenberger „Quo ita cicures ac industriosi evaderent“. Agrarmodernisierungen und ethnische Veränderungen als komplementäre Entwicklungsprozesse in Südtransdanubien ...........................................................................................

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Karl-Peter Krauss Agrarische Modernisierungsprozesse und ethnodemographische Veränderungen in der Südbatschka bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts .............

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II. Agrarreformen und Bildung der Nation und des Nationalstaats ........... 121 Dietmar Neutatz, Freiburg Agrarverfassung und demographische Entwicklung in den deutschen Siedlungen im Schwarzmeergebiet nach 1861 .................................................. 123 Zoran Janjetoviç Der wirtschaftliche Wettbewerb zwischen Deutschen und Serben in den Werken von Radoslav Markoviç (1865–1948)........................................ 135 Günter Schödl „Kolonisationsgesetz“ und „Kolonats“-Reform: Defensiver Konservatismus und agrarische Strukturpolitik in Zentraleuropa um 1900 ................................. 149 Gert von Pistohlkors Tiefgreifende agrarische Umwälzungen und Umstrukturierungen in den neu gegründeten baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen 1919/1920/1922: Motivationen und Ergebnisse bis 1940 .................................. 175

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Inhalt

Dietmar Müller Landreformen, Property rights und ethnische Minderheiten. Ideen- und Institutionengeschichte nachholender Modernisierung und Staatsbildung in Rumänien und Jugoslawien 1918–1948 ....................................................... 207 III. Bodenreform, staatliche Raumordnung und ethnische Homogenisierung vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die Gegenwart .................................................................................. 235 József Vonyó Die Rolle der Bodenreform und der Nationalitätenfrage bei der Vertreibung der Ungarndeutschen ......................................................................................... 237 Ágnes Tóth Einige Zusammenhänge zwischen der Bodenreform und dem Wandel der Sozialstruktur im südlichen Transdanubien (1945–1949) .......................... 255 Ranka Gašiç Die Agrarreform in Jugoslawien nach 1945 und ihre Nachwirkungen.............. 281 Peter Jordan Zur Problematik des ländlichen Raumes in Südosteuropa nach 1989 ............... 295 Horst Förster Kulturlandschaftsprozesse in Südosteuropa vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Gegenwart ............................................................................ 311 Anhang ............................................................................................................... Personenregister ................................................................................................. Ortsregister ......................................................................................................... Autorenverzeichnis ............................................................................................

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Einführung Karl-Peter Krauss Wer sich an die Thematik „Agrarreformen und ethnodemographische Veränderungen“ in Südosteuropa annähert, findet eine Fülle v on Literatur über Agrarreformen auf der einen und über ethnische Veränderungen unter verschiedenen Stichworten (Abwanderungen, Aussiedlungen, Ausw anderungen, Binnenmigrationen, Deportationen, ethnische Säuberungen, Grenzv erschiebungen, Vertreibungen, Zuwanderungen) auf der anderen Seite. Doch der Zusammenhang zwischen Ethnizität und Agrarreformen wurde selten beleuchtet, auch wenn insbesondere die deutschsprachigen Publikationen die Interdependenzen zwischen den Agrarreformen nach dem Ersten Weltkrieg und der Minderheitenfrage herv orhoben.1 Dabei führte gerade die Instrumentalisierung der Agrarreformen in den neu k onstituierten Nationalstaaten des Untersuchungsraumes zu ethnischen Ausdifferenzierungen und Verdrängungsprozessen.2 Auch die Zusammenhänge zwischen der deutschen Südosteuropapolitik v or dem Zweiten Weltkrieg und besonders im Weltkrieg mit ihren agrarreformerischen Maßnahmen im Dienst der deutschen Kriegswirtschaft und ihren Auswirkungen auf die deutschen Minderheiten fanden keine angemessene Würdigung in der F orschung.3 Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand wiederum eine 1

So etw a bei B RUNS, Carl Geor g: Gesammelte Schriften zur Minderheitenfrage. Berlin 1933. Ebenso: H AUSHOFER, Heinz: Die Agrarreformen der österreichisch-ungarischen Nachfolgestaaten. München 1929. Der Südosten Europas wurde hinge gen oft nicht thematisiert, wie bei: S ERING, Max/DIETZE, Friedrich Carl: Agrarverfassung der deutschen Auslandssiedlungen in Osteuropa, Bd. 1. Berlin 1939. Angesichts der von Holm Sundhaussen ausgewiesenen Auswahlliteratur kann hier auf eine Übersicht der einschlägigen Literatur verzichtet werden. Die Verknüpfung zwischen Agrarreformen und Ethnizität wurde vorgenommen bei: S TERBLING, Anton: Probleme ländlicher Räume in Südosteuropa. Agrarreformen und ihre nichtintendierten Auswirkungen. In: Land-Berichte. Halbjahresschrift für ländliche Regionen, Nr. 11, 2003, S. 48–60. 2 Die in der Zwischenkriegszeit entstandenen Publikationen sind dabei nicht frei von tendenziösen, „national motivierten“ Einschätzungen, die auch dem Streben nach Re vision galten; siehe im weiteren Kontext: TROEBST, Stefan: Der bessere Balkan. Der bessere Balkan. Projektionsflächen deutschen Re visionsstrebens in der Zwischenkrie gszeit. In: THUM, Gre gor (Hg.): Traumland Osten. Deutsche Bilder vom östlichen Europa im 20. Jahrhundert. Göttingen 2006, S. 88–109. 3 Neuerdings: THÖRNER, Klaus: „Der ganze Südosten ist unser Hinterland.“ Deutsche Südosteuropapläne von 1840 bis 1945. Freiburg 2008, S. 476–565; SCHLARP, Karl-Heinz: Wirtschaft und Besatzung in Serbien 1941–1944. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik in Südosteuropa. (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, Bd. 25). Stuttgart 1986, S. 343–355. Die deutsche Wirtschafts- und Landwirtschaftspolitik in Serbien während der deutschen Besatzung (1941–1944) eher rechtfertigend: WUESCHT, Johann: Jugoslawien und das Dritte Reich. Eine dokumentierte Geschichte der deutsch-jugosla wischen Beziehungen von 1933 bis 1945. Stuttgart 1969, hier 208–210; 264–267. Gleichw ohl gibt es schon, aller dings wenig v ertiefende Hinweise zwischen den Bodenreformen und der ethnischen Säuberung in: Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Hg. v om Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Krie gsgeschädigte. Bonn 1953–1962. Bd. II: Das Schicksal der Deutschen in Ungarn. Bonn 1956, S. 79E–82E; Bd. V: Das Schicksal der Deutschen in Jugoslawien. Bonn 1961, S. 102E–107E.

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umfangreiche Literatur zu den gewaltigen, das ganze östliche Europa umfassenden ethnischen Veränderungen; die Verknüpfungen zwischen Aussiedlungen, Vertreibungen und Bodenreformen blieben indes weitgehend unbeachtet. 4 Die jüngste Entwicklung spiegelt sich in der umf angreichen wissenschaftlichen Literatur über die Transformationsprozesse.5 Doch auch der Systemwechsel in Südosteuropa bietet einen aktuellen Anlass, die Frage nach den Entwicklungslinien und Zäsuren des ländlichen Raumes zu stellen, denn Repri vatisierung und Bodenrestitution können erneute soziale und wirtschaftliche, aber auch interethnische Verwerfungen hervorrufen.6 Insgesamt traten die Zusammenhänge zwischen „Agrarreformen“ und „Ethnizität“ zugunsten einer politischen Ereignisgeschichte in den Hintergrund. Indes zeigen jüngere Veröffentlichungen insbesondere in Bezug auf die deutschen Minder heiten eine stärkere Verankerung dieser Thematik.7 So ist es das K ernanliegen der in diesem Tagungsband publizierten Beiträge, die Interdependenz zwischen Agrarreformen und ethnodemographischen Veränderungen herzustellen, sie an konkreten Fallstudien zu rekonstruieren und die Schnittmengen zwischen beiden Phänomenen

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Hinsichtlich des aktuellen F orschungsstandes sei beispielhaft v erweisen auf: B EER, Mathias (Hg.): Auf dem Weg zum ethnisch reinen Nationalstaat? Europa in Geschichte und Gegenwart. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Tübingen 2007; B ORODZIEJ, Włodzimierz/L EMBERG, Hans: „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden…“. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945–1950. Dokumente aus polnischenArchiven. 4 Bde. Marburg an der Lahn 2000, 2003, 2004; N AIMARK, Norman M.: Flammender Hass. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert. München 2004; THER, Philipp/S ILJAK, Ana: (Hgg.): Redra wing Nations. Ethnic Cleansing in East-Central Europe, 1944–1948. Lanham 2001;TÓTH, Ágnes: Migrationen in Ungarn 1945–1948. Vertreibung der Ungarndeutschen, Binnenw anderungen und slo wakischungarischer Bevölkerungsaustausch. München 2001. Hinweise auf den benannten Zusammenhang, eingebunden in den umfassenden Prozess der Deagrarisierung finden sich etwa auch bei: MAI, Gunther: Die Agrarische Transition. Agrarische Gesellschaften in Europa und die Herausforderungen der industriellen Moderne im 19. und 20. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft, 33. Jg., 2007, H. 4; S. 471–514. 5 Beispielhaft: GOETZ, Stephan J. (Hg.): Agricultural Transformation and Land Use in Central and Eastern Europe. Ashgate. Aldershot, Burlington USA, Singapore, Sydne y 2001; G RIMM, Frank-Dieter/KNAPPE, Elk e (Hgg.): Landwirtschaft und ländliche Räume – Außenseiter des Transformationsprozesses in den Ländern Südosteuropas? (Südosteuropa-Studien, Bd. 69). München 2001; KNAPPE, Elke/RATâINA, Marina u. a.: Transformation der Landwirtschaft in Mittel- und Südosteuropa. In: Atlas Ost- und Südosteuropa, hg. v. Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Institut, Berlin, Stuttgart 2004, Nr . 3.5–G8. Weitere Literaturangaben im Beitrag von Peter Jordan in diesem Band: Zur Problematik des ländlichen Raumes in Südosteuropa. 6 S TERBLING (wie Anm. 1), S. 58. 7 In Bezug auf Ungarn sei v erwiesen auf: TÓTH, Ágnes: Vertreibung der Ungarndeutschen, Binnenwanderungen und slowakisch-ungarischer Bevölkerungsaustausch. (Schriften des Bundesinstituts für Ostdeutsche Kultur und Geschichte, Bd. 12). München 2001, insbesondere S. 21 und S. 70–108. Hier werden e xplizit die Zusammenhänge zwischen Bodenreform und der Vertreibung der Ungarndeutschen dar gelegt. Diesbezügliche Verweise in Bezug auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete finden sich etwa auch bei: B ORODZIEJ, Włodzimierz/LEMBERG, Hans: „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden…“. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945–1950. Dokumente aus polnischen Archiven. Bd. 2. Marburg an der Lahn 2003, S. 50–52.

Einführung

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auszuloten.8 Doch darüber hinaus stellt sich die Frage, ob und inwiefern die an utilitaristischen Motiven ausgerichtete Politik des frühmodernen Staates, bei der es primär um eine Verbesserung und Modernisierung der Wirtschaft und damit um eine Erhöhung des Ertrages ging, das ethnische Gesicht Ostmittel- und Südosteuropas schon vor dem Nationsbildungsprozess verändert hat.9 Dabei wurden auch diese Modernisierungsprozesse in der ungarischen Nationalhistoriographie mit einem ethnisch-demographischem, national akzentuierten Geschichtsbild interpretiert.10 Südosteuropa ist seit Jahrhunderten geprägt v on einem Mosaik v erschiedener Ethnien und Ethnokonfessionen, was eine Folge oft sehr komplexer Migrationsvorgänge und Binnenk olonisationen ist. Auslöser der Be völkerungsverschiebungen waren die großen Bruchlinien der v ergangenen Jahrhunderte und die kameralistischen Bestrebungen der Habsburgermonarchie, in deren Verlauf auch viele Siedler besonders aus dem deutschen Südwesten in das Königreich Ungarn kamen. Im Zuge der Migrationsprozesse und wechselnder staatlicher Zugehörigkeiten entstand ein vielfältiges Bild der Agrarverfassung, in der sich neben dem Agrardualismus – Grundherrschaft und Gutsherrschaft – nach mitteleuropäischem Muster auch osmanische und italienische bzw . v enezianische Traditionen und auf personalisierten Sozialsystemen beruhende südosteuropäische Sozial- und Agrarsysteme, mithin vielfältige Interdependenzen spie geln und v ermischen. Dieser Tatbestand macht deutlich, wie sehr sich die F orschung in einem k omparativen Rahmen be wegen soll.11 Welche Bedeutung Agrarreformen für die Gesellschaften Europas im 19. und 20. Jahrhundert hatten, lässt sich schon daran ermessen, dass um 1800 noch etw a drei Viertel der europäischen Bevölkerung und um 1900 noch rund die Hälfte in der Landwirtschaft tätig waren. Der Anteil am Bruttoinlandsprodukt der Landwirtschaft fiel von etwa 80–90 Prozent um 1800 auf 3–4 Prozent in der Europäischen Gemeinschaft im Jahr 1990. Dabei v erlief der Prozess der agrarischen Transition hin zur zunehmenden Deagrarisierung in Südosteuropa stark verzögert, denn noch am Anfang des 20. Jahrhunderts bestanden 50–60 Prozent der ungarischen und 80–85 8 Die Tagung fand vom 2. bis 4. No vember 2006 unter dem Titel „Agrarreformen, ethnodemographische Veränderungen und K ulturlandschaftsprozesse in Südosteuropa v om ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart“ an der Eberhard Karls Universität Tübingen statt. 9 Fallbeispiele für die Verdrängung von „Raitzen“ in Südtransdanubien bei: S EEWANN, Gerhard: Migration in Südosteuropa als Voraussetzung für die neuzeitliche West-Ostwanderung. In: BEER, Mathias/D AHLMANN, Dittmar: Migration nach Ost- und Südosteuropa v om 18. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Ursachen – Formen – Verlauf – Ergebnis. Tübingen 1999, S. 89– 108. 10 B ARTA, János.: A Habsburg jobbágypolitika és a magyarországi nemzetiségek [Die Bauernpolitik der Habsburger und die Nationalitäten Ungarns]. In: DERS. (Hg.): Habsburgok és Magyarország a XVI.-XVIII. században. Tanulmányok [Die Habsburger und Ungarn im 16. bis 18. Jahrhundert. Studien]. Debrecen 1997, S. 99–110, dazu vgl. den Beitrag in diesem Band v on SEEWANN, Gerhard: Ethnokonfessionelle Aspekte der Reformen des aufgeklärten Absolutismus. 11 S UNDHAUSSEN, Holm: Zur Wechselbeziehung zwischen frühneuzeitlichem Außenhandel und ökonomischer Rückständigk eit in Osteuropa. Eine Auseinandersetzung mit der „K olonialthese“. In: Geschichte und Gesellschaft, Nr . 9, 1983, S. 544–563; D ERS.: Europa Balcanica. Der Balkan als historischer Raum Europas. In: Geschichte und Gesellschaft, Nr . 25, 1999, S. 626–653; DERS.: Der Balkan: Ein Plädo yer für Differenz. In: Geschichte und Gesellschaft, Nr. 29, 2003, S. 642–658.

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Prozent der rumänischen, serbischen und b ulgarischen Bevölkerung aus Bauern. 12 Die Bedeutung der agrarischen Gesellschaften sah Eric Robert Wolf auch darin, dass moderne Gesellschaften darauf aufbauen.13 Der vorliegende Band bef asst sich mit den intendierten und nichtintendierten Wechselwirkungen zwischen Agrarreformen und ethnodemographischen Veränderungen.14 Der Be griff „Agrarreform“ umf asst mehrere terminologische Bedeutungsebenen. Sehr weit gef asst werden darunter Reformen zur Überwindung v on Problemen in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Agrarstruktur verstanden, was allerdings zu einer unscharfen Abgrenzung zur Agrarpolitik führt.15 In der Historiographie wird der Be griff häufig für die agrarischen Modernisierungsmaßnahmen sowie die rechtlichen Reformen der Agrarverfassung bis zur Grundentlastung verwendet, deren Ziel es war, feudale Herrschaftsformen zu kodifizieren und zu beseitigen. 16 Eine solche of fene Definition bietet sich für diesen Tagungsband an, um Entwicklungsk ontinuitäten und -disk ontinuitäten von den Reformen der Aufklärung bis in die Gegenwart zu verfolgen. Enger gefasst ist der Begriff der „Bodenreform“ (englisch: „land reform“); hier geht es um umfassende Änderungen der Nutzungs- und Eigentumsrechte und damit um eine Umv erteilung von Land, die im neuzeitlichen Europa nach der Französischen Re volution begannen.17 Bodenreformen zur Aufhebung bzw. Auflösung des Großgrundbesitzes erfolgten in Südosteuropa mit Ausnahme Albaniens in allen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg.18 Solche Reformen wurden aus sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Gründen angestrebt. Besonders betrof fen waren die Regionen, in denen sich auch nach der Bauernbefreiung noch postfeudale Strukturen mit umf angreichem Großgrundbesitz erhalten k onnten. Das w ar im Königreich Ungarn, in Dalmatien, im rumänischen Altreich und in einzelnen früher osmanischen Re gionen der F all, in denen sich Elemente der osmanischen Agrarverfassung erhalten hatten (Bosnien12 In den Industriestaaten Europas betrug der Anteil der Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt 15–20 Prozent, in den Agrarstaaten Südost- und Osteuropas bis 80–90 Prozent; M AI (wie Anm. 4), S. 475. 13 W OLF, Eric Robert: Peasants. Prentice-Hall 1966. 14 S TERBLING (wie Anm. 1), hier S. 58. 15 Vgl. Kuhnen, Frithjof: Agrarreform und Siedlungswesen. In: Blanck enburg, Peter von: (Hg.): Handwörterbuch der Landwirtschaft und Ernährung in den Entwicklungsländern. Stuttgart 1982, S. 330–347. 16 Beispiele sind: B ERTHOLD, Rudolf: Studien zu den Agrarreformen des 19. Jahrhunderts in Preussen und Russland. Berlin 1978; FLECK, Peter: Agrarreformen in Hessen-Darmstadt: Agrarverfassung, Reformdiskussion und Grundlastenablösung (1770–1860). (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, 43). Darmstadt 1982; S CHNEIDER, Karl Heinz: Die landwirtschaftlichen Verhältnisse und die Agrarreformen in Schaumb urg-Lippe im 18. und 19. Jahrhundert. (Schaumburger Studien, 44). Rinteln 1983. 17 Die terminologischen Abgrenzungen spiegeln sich wider im Beitrag von Holm Sundhaussen in diesem Band. Die terminologischen Abgrenzungen spiegeln sich im Beitrag von SUNDHAUSSEN, Holm: Von der Befreiung zur Marginalisierung der Bauern. Zwei Jahrhunderte Agrarreformen in Südosteuropa im vorliegenden Band. 18 Dazu: SERING, Max: Agrarrevolution und Agrarreform in Ost- und Mitteleuropa. Berlin 1929; SERING, Max/D IETZE, Friedrich Carl (wie Anm. 1); S CHIFF, Walter: Die großen Agrarreformen seit dem Kriege. (Agrarsozialistische Bücherei, Nr. 5). Wien 1926.

Einführung

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Herzegowina, Makedonien, Kosovo).19 Ein starkes auslösendes Moment für diese Reformen waren die von der russischen Oktoberrevolution von 1917 ausgehenden Impulse, denen sich die neu formierten Nationalstaaten Südosteuropas ausgesetzt sahen und die durch die Ankunft von Flüchtlingen oder durch die angestrebte Versorgung von Kriegsveteranen mit Land noch forciert wurden. Daneben sahen die aus den Trümmern der besiegten Vielvölkerstaaten Österreich-Ungarn und Osmanisches Reich entstandenen Nationalstaaten die Möglichkeit, mithilfe von Agrarreformen Maßnahmen zur Schwächung der Minderheiten und zur Stärkung der Angehörigen der Titularnation durchzuführen. Um Entwicklungsprozesse über die Reformen des frühmodernen Staates bis zur Gegenwart verfolgen zu können, setzt der Band bei den Reformen der Habsburgermonarchie im ausgehenden 18. Jahrhundert an. Hier zeigt sich insbesondere im Königreich Ungarn der Gestaltungswillen des frühmodernen Staates mit seinen Strukturveränderungen in Wirtschaft, im Kirchen- und Bildungswesen. 20 In diese Phase fällt die Einwanderung von Deutschen in den Donauraum, was ebenfalls mit Impulsen zur Modernisierung der Agrarverfassung im Königreich Ungarn verbunden war. Dieser Vorgang war ein zusätzlicher Transmissionsriemen für eine stärkere Verankerung von Elementen westlicher Agrarverfassung. Mit einem Überblick über rund 200 Jahre sollen Strukturen einer „longue durée“ nicht aus dem Blickfeld verloren werden, denn die agrarischen Modernisierungsmaßnahmen des ausgehenden 18. Jahrhunderts waren von nachhaltiger Bedeutung und prägen den davon erfassten Kulturraum siedlungsmorphologisch und kulturell bis heute. Die durch die Grundablösung Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgten Reformen bildeten die Ausgangsposition für die großen Agrarreformen des 20. Jahrhunderts. Das Ende der Untersuchung wird v on den Umwälzungen des ländlichen Raumes in Südosteuropa nach 1989 und den bis heute wirk enden Kulturlandschaftsprozessen markiert, denn die Reprivatisierung der Landwirtschaft nach 1990 stellt de f acto eine neue Bodenreform dar. Sie ist zugleich Teil eines Adaptionsprozesses, der die Agrarstruktur der kürzlich der Europäischen Union beigetretenen Staaten an die Union heranführt. Im räumlichen Mittelpunkt der einzelnen Beiträge steht der transleithanische Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie. Damit werden auch Re gionen umfasst, die gemäß den Pariser Vorortverträgen nach dem Ersten Weltkrieg an die neu gegründeten Königreiche Jugosla wien und Rumänien fielen. Es handelt sich um den Nordwesten des weiter gef assten Begriffs von Südosteuropa. 21 Dieser Raum zeichnet sich seit der Osmanenzeit durch große räumliche Disparitäten so wie erhebliche politische und gesellschaftliche Zäsuren aus, aber auch durch eine retar dierte Nationalstaatsbildung nach dem Ersten Weltkrieg, der Etablierung des kommunistischen Herrschaftssystems und schließlich nach dem Systemwechsel durch 19 Vgl. SUNDHAUSSEN, Holm: Bodenreform. In: H ÖSCH, Edgar/NEHRING, Karl/SUNDHAUSSEN, Holm (Hgg.): Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Wien, Köln, Weimar 2004, S. 118–120. 20 Hier wird angesichts der neueren Diskussion vom frühmodernen anstelle vom absolutistischen Staat gesprochen, vgl.: D UCHHARDT, Heinz: Barock und Aufklärung. 4. neu bearb . und erw . Aufl. München 2007, hier bes. S. 169–176. 21 Vgl. dazu: S UNDHAUSSEN, Holm: Südosteuropa. In: H ÖSCH, Edgar/NEHRING, Karl/SUNDHAUSSEN, Holm (wie Anm. 8), S. 663–666.

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die Transformationsprozesse. Hinsichtlich der Agrar- und Wirtschaftsstruktur ist dieser Raum gegenüber West- und Mitteleuropa durch eine verzögerte Deagrarisierung gek ennzeichnet. Daneben entsprach es dem k omparatistischen Ansatz, Studien aus anderen Re gionen heranzuziehen und den Untersuchungsraum innerhalb des Koordinatensystems von Ostmittel- und Osteuropa zu v erorten. Dies dient der Absicht, k ongruente Entwicklungsmodelle oder abweichende Muster zu identifizieren und nach den Ursachen von Übereinstimmung oder Abweichung zu fragen. Bei der Thematik und Problematik der Verflechtungsmechanismen zwischen Agrarreformen und ethnodemographischen Veränderungen in Südosteuropa geht es um transnationale, multipolare Prozesse. Daher sollte es ein Ziel sein, die Einengung der Perspektive auf den Nationalstaat zu überwinden. Denn nur so kann dieser Raum mit seiner vielfältigen Gemengelage v on Ethnien, Nationalitäten und K ulturen angemessen erforscht werden. So wird der Versuch unternommen, dem multiperspektivischen Anliegen der Histoire croisée durch unterschiedliche Beobachtungsstandorte, Beobachtungsinstrumentarien, Perspekti ven und Brennweiten auf die Prozesse und das Verfolgen von Langzeitstrukturen (longue durée) gerecht zu werden.22 Aus diesem Grunde sind Autoren aus mehreren Ländern am Tagungsband beteiligt; es wurden Beiträge aus dem makro- wie mikrohistorischen Blickwinkel herangezogen, der Beobachtungszeitraum wurde v ariiert. Gleichwohl versteht sich dieser Band als ein erster Schritt und möchte Impulse für weitere F orschungen geben. Bei der Herausbildung moderner Staatlichk eit spielten Transformationsprozesse im Agrarbereich eine dominante Rolle. Zunächst einmal mündeten die Reformmaßnahmen des 18. Jahrhunderts in die Agrarreformen des 19. Jahrhunderts bis zur Grundentlastung, die heute vereinfachend und zusammenfassend als „Bauernbefreiung“ ihre plastische und illustrative Begrifflichkeit gefunden haben.23 Hier ging es primär um eine Inwertsetzung des Raumes, um Modernisierungsprozesse, um merkantilistische und populationistische Intentionen. Dabei be wegte sich das Wiener Herrscherhaus mit seinen Maßnahmen zur Besiedlung v on wenig ertragreichen, extensiv bewirtschafteten Passivräumen innerhalb des europäischen K ontextes, dessen Tempo vor allem v on Preußen bestimmt wurde. Eine F olge dieser vielseitigen Migrationsströme und binnenkolonisatorischer Prozesse war, dass sich das ethnokonfessionelle Bild Südosteuropas hinsichtlich seiner komplexen Vielfältigkeit noch verstärkte, was besonders einzelnen Regionen wie dem Banat oder der Wojwodina ihre charakteristische Ausprägung gab. Siedlungsmorphologisch war in den von gelenkten Migrationsbewegungen erfassten Regionen ein Kulturraum entstanden, der sich hinsichtlich seines Planungscharakters v on dem des westlichen 22 W ERNER, Michael/Z IMMERMANN, Bénédicte: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire cr oisee und die Herausforderung des Transnationalen. In: Geschichte und Gesellschaft, 28. Jg., 2002, H. 4, S. 607–636, hier S. 609; 621. 23 Der Begriff „Bauernbefreiung“ geht zurück auf: K NAPP, Georg Friedrich: Die Bauern-Befreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Theilen Preußens. Leipzig 1887. In Bezug auf Ungarn bietet für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eine gute Übersicht: H ELD, Joseph: The modernization of Agriculture; Rural transformation in Hungary, 1848–1975. (East European Monographs, 63). New York 1980.

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Mitteleuropas abhebt. Ein wesentlicher Motor für diese Entwicklung w ar auch die boomende Agrarkonjunktur. Bis zu diesem Zeitpunkt waren es „vertikale Konfliktlinien“, die innerhalb der K onstellation Grundherrschaft und Untertanen das K onfliktpotential im Ancien Régime bestimmten. Dabei wurde der an wirtschaftlicher Prosperität interessierte Herrscher zum natürlichen Verbündeten der Untertanen, was im Habsburgerreich einen ersten entscheidenden Niederschlag in den Urbarialregulierungen von Maria Theresia ab 1767 f and. Ethnische Veränderungen fanden indes auch nach dieser rechtlichen Kodifizierung aus sozioökonomischen Gründen statt.24 Eine wichtige Zäsur stellt die Zeit der Grundentlastung Mitte des 19. Jahrhunderts dar, denn die Entfeudalisierung des Bodenrechts sowie die beginnende agrarkapitalistische Kommerzialisierung schufen die Voraussetzungen für eine Dynamisierung und Modernisierung der Landwirtschaft mit einem Anstieg von Produktivität und Produktion, mit verbesserten Anbaumethoden und neuen Agrartechniken – auch wenn diese gerade in Südosteuropa nur sehr schleppend verlief und große regionale, auch von überlebten Agrarverfassungen abhängige Disparitäten erk ennen lassen.25 Von Interesse ist die Fragestellung, welche F olgen ein von den „Fesseln“ und der Re gulation des Urbarialsystems befreiter Grundstücksmarkt auf das ethnische Verteilungsmuster hatte. Waren bestimmte ethnische oder ethnok onfessionelle Gruppen besser vorbereitet auf das eigenverantwortliche Bewirtschaften eines Hofes, der verstärkt den konjunkturellen Zyklen des Agrarmarktes ausgesetzt war, etwa im Sinne der Weberschen protestantischen Ethik? Spielten im 18. und frühen 19. Jahrhundert neben dem Staat noch die Stände eine wesentliche Rolle bei der Konstituierung von Reformen, so wurde der Staat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum zentralen Akteur. Zugleich erwuchs mit der Nationalisierung eine neue Konfliktkonstellation, die mit imaginären Feindbildkonstruktionen ergänzt, auch den Agrarbereich als wichtiges Aktionsfeld mit einbezog. Die „Bodenfrage“ erhielt in der weiteren Entwicklung bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bisweilen eine ideologisch-mystische Konnotation, wie es zum Beispiel die Szekler-Aktion in Siebenbürgen zeigte.26 24 Die Forschung hat diese Prozesse in Südosteuropa bislang wenig beachtet. Zu F ormen eines ethnodemographischen Verdrängungsprozesses vor der Grundentlastung vgl. die Mikrostudie in diesem Band v on: K RAUSS, Karl-Peter: Agrarische Modernisierungsprozesse und ethnodemographische Veränderungen in der Südbatschka bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. 25 Dazu: MAI (wie Anm. 4), S. 476. 26 B ALATON, Petra: A Szék ely Akció története [Geschichte der Szekleraktion]. Bd. 1, F orrások (Quellen). Budapest 2004. Weitere Hinweise und Literatur finden sich in: LIESS, Otto R.: Agrarideologie in Südosteuropa. Zur Umw andlung der Agrarwirtschaften Südosteuropas im Zeichen parteipolitischer und agrarsozialer Strömungen (1918–1950). In: R ONNEBERGER, Franz (Hg.): Südosteuropa auf dem Weg zur Industriegesellschaft. Darmstadt 1970, S. V/1–V/17. Im nationalsozialistischen Deutschland f and die Bodenfrage schließlich in der Blut-und-BodenMythologie ihre radikale Überhöhung. Als einer ihrer Wegbereiter gilt Richard Walther Darré. Siehe D ARRÉ, Walther R.: Das Bauerntum als Lebensquell der Nordischen Rasse. München 1929. Ideologisch-mystische Darle gungen finden sich auch in anderen Ländern. Vgl. auch: HAUSHOFER (wie Anm. 11), hier S. 11–13. Walther R. Darré (1895–1953) wurde am 28. Mai 1933 „Reichsbauernführer“, am 29. Juni 1933 trat er die Nachfolge des demissionierten Huge-

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Nach dem Ersten Weltkrieg wurden in 14 Staaten Mittel-, Südosteuropas und Osteuropas tief greifende Agrarreformen durchgeführt. Diese entsprangen nur zum Teil volkswirtschaftlichen Motiven, wobei sie immerhin die sozialen Spannungen wenigstens für kurze Zeit und teil weise dämpften. Daneben wurden die Reformen auch zum Instrument und Ventil nationalstaatlichen Denkens und Handelns. Sieht man vom besiegten Deutschland ab, so handelt es sich ausschließlich um Länder , die dem Gürtel des östlichen Europas angehörten, der zugleich von einer ethnischen Gemengelage geprägt war. Es waren Länder, deren Agrarstruktur stark von der ehemaligen Gutswirtschaft geprägt w ar und die in der Zwischenkrie gszeit nicht ohne autoritäre Regierungen auskamen. 27 Und es handelte sich um überwie gend agrarisch geprägte Länder mit wenig entwickelter Industrie und umfangreichem – sieht man von Bulgarien ab – Großgrundbesitz. Für Brisanz sor gte auch die Tatsache, dass sich der Großgrundbesitz zu einem nicht unerheblichenTeil in den Händen der alten, nicht zur Titularnation gehörigen Eliten befand. Symptomatisch für die Zielsetzungen der Agrarreform im Zeichen der „Nostrifizierung“ ist die Aussage eines Gutachtens der landwirtschaftlichen F akultät der Uni versität Zagreb über „Die Agrarreform im Königreiche der Serben, Kroaten und Slo wenen“ aus dem Jahr 1923: „Nach dem Umsturz war bei unseren politischen Machthabern vor allem die Absicht maßgebend, die Überreste der Fremdherrschaft zu beseitigen, die fremden Großgrundbesitzer zu schwächen, das sla wisch-nationale Element zu stärk en und die Grenzen zu befestigen, während die volkswirtschaftliche Seite der Agrarreform, das ist die Rücksicht auf die Produktion, die bei der Lösung der Agrarfrage am wichtigsten sein sollte, von ihnen ganz außer acht gelassen wurde.“28 Nicht zuletzt waren diese politischen Moti ve eine Reaktion auf die v erschleppte Lösung der Agrarfrage in Bosnien und der Herze gowina, was wiederum die k omplexen Verschränkungen aufzeigt, aber auch auf die postfeudalen Strukturen in der ehemals ungarischen Wojwodina.29 Die neu k onstituierten Staaten w aren aus der Erbmasse der multiethnischen Großreiche Österreich-Ungarn, dem russischen Zarenreich und dem Osmanenreich hervorgegangenen und definierten sich als Nationalstaaten. Jetzt gewann neben der nberg als Reichminister für Ernährung und Landwirtschaft an und hatte damit die Leitung der gesamten deutschen Agrarpolitik inne. Auch er verfolgte das in einer längeren Kontinuitätslinie liegende Ziel, Südosteuropa als agrarischen Versorgungsraum des Deutschen Reiches zu hegemonisieren, vgl. THÖRNER (wie Anm. 3), S. 443; E IDENBENZ; Mathias: „Blut und Boden“. Zu Funktion und Genese der Metaphern desAgrarismus und Biologismus in der nationalsozialistischen Bauernpropaganda R. W. Darrés. Frankfurt am Main 1993; S TUMPP, Karl (Bearb.): Ostwanderung. Akten über die Auswanderung der Württemberger nach Rußland 1816–1822 (Sammlung Georg Leibbrandt, Bd. 2). Leipzig 1941, S. XVI. 27 Entsprechende Reformmaßnahmen erfolgten im westlichen Europa nach dem ErstenWeltkrieg nicht, da solche schon vor 1914 in Angriff genommen worden waren, so bei der Verbesserung der Lage der Pächter in Großbritannien und Irland. Vgl. SCHIFF (wie Anm. 18), S. 9–12. 28 Zit. nach H RIBOVSCHEK, Ferdinand: Die Agrarreform in Jugosla wien. In: Berichte über Landwirtschaft, N. F., Band 25, 1940, S. 279–294, hier S. 279. 29 Vgl. dazu den Beitrag in diesem Band in Bezug auf das Kolonat von SCHÖDL, Günter: „Kolonisationsgesetz“ und „Kolonats“-Reform: defensiver Konservatismus und agrarische Strukturpolitik in Zentraleuropa um 1900.

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Auseinandersetzung um die Grundbesitzverteilung eine „horizontale Konfliktlinie“ an Dominanz, indem die „Agrarfrage“ auf staatlich-nationaler Ebene mit der „Minderheitenfrage“ verknüpft wurde. Agrarreformen wurden instrumentalisiert und Interethnizität als Konfliktpotential definiert. Dies ging einher mit stärk eren Eingriffen des Staates hin zu einem Agrardirigismus.30 Dabei gab es Handlungsmuster schon aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wie die Minderheitenproblematik mit der Agrarfrage verwoben wurde.31 Die Staaten Südosteuropas gingen k eineswegs einen einheitlichen Weg. Die Aufteilung des Großgrundbesitzes wurde in den v erschiedenen Ländern unter schiedlich stark umgesetzt. Das w ar angesichts der Heterogenität der einzelnen Staaten auch kaum anders zu erw arten. Besonders Jugosla wien wies hier große regionale Disparitäten auf: In den nördlichen, bis 1918 zu Ungarn gehörigen Landesteilen hatte eine Agrarverfassung nach ungarischem Muster bestanden, die im Wesentlichen ostmitteleuropäische Züge aufwies. Sie wurde v on Milan Ivši ç gleichwohl als „Fremdkörper“ aufgef asst: „Le régime féodal, d`implantation étrangère, est contraire aux traditions sociales et juridiques de la race sla ve.“32 Andere Regionen des neu erstandenen Königreiches standen bis 1878 unter osmanischer Hoheit, dazwischen schob sich ein Gürtel mit der spezifischen Agrarverfassung der ehemaligen Militärgrenze. In Dalmatien schließlich galt bis 1919 eine so genannte Kolonatsverfassung mit großer Variationsbreite aufgrund unterschiedlicher Einflüsse. Ein Ziel der Agrarreformen war es im Allgemeinen, Bauerngüter zu erschaffen, die überlebensfähig waren. Doch angesichts des großen Bedarfes entstanden doch wieder zahlreiche nicht k onkurrenz- und überlebensfähige Kleinstgüter , die das Problem nicht lösten, sondern v erschärften (Polen, Rumänien, Jugosla wien) und damit den Prozess der Deagrarisierung entgegen der Entwicklung in West- und Mitteleuropa stoppten. Insgesamt wurden nach dem Ersten Weltkrieg rund 20 Millionen Hektar durch die Agrarreformen erfasst. Das enteignete oder aufgekaufte und parzellierte Land wurde dann an ehemalige Landarbeiter und Kleinbauern, aber auch an Personen verteilt, die wenig Bezug zur Landwirtschaft hatten. 33 Dabei boten die Reformmaßnahmen die Möglichk eit zur Schwächung auch der deutschen 30 Aus der Vielzahl der nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Literatur sei beispielhaft er wähnt: SERING, Max (Hg.): Die agrarischen Umwälzungen im außerrussischen Osteuropa. Ein Sammelwerk. Berlin, Leipzig 1930. Vgl. auch den Literaturanhang in diesem Band bei: S UNDHAUSSEN, Holm: Von der Befreiung zur Marginalisierung der Bauern. Zwei Jahrhunderte Agrarreformen in Südosteuropa. 31 Als Beispiel steht die preußische Innenk olonisation in Posen und Westpreußen, die of fen als Zielvorgabe hatte, den „deutschen“ bäuerlichen Besitz ge genüber dem „polnischen“ zu stär ken. Gleichwohl bewegte sich die hinsichtlich ihres Ziels trotz hoher eingesetzter Geldsummen gescheiterte Innenk olonisation innerhalb des rechtlichen Rahmens der Un verletzlichkeit des Privateigentums. Diese rechtlichen Fesseln fielen jedoch als Hindernis für agrarische Reformmaßnahmen nach dem Ersten Weltkrieg. Pri vateigentum k onnte nun auch aus „nationalen“ Gründen enteignet werden. 32 I VŠIç, Milan: Les Problèmes agraires en Yougoslavie. Paris 1926, S. 30. 33 A BEL, Wilhelm: Agrarpolitik (Grundriss der Sozial wissenschaft, Bd. 2). Göttingen 1968, S. 196.

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Minderheiten in Jugoslawien und Rumänien, die in der zeitgenössischen Wahrnehmung der politischen Elite die bäuerliche Oberschicht darstellten. In Ungarn indes blieb die e xtreme Grundbesitzv erteilung bestehen; über 60 Prozent des Landes v erblieben bei Großgrundbesitzungen mit einem Besitz v on über 500 Hektar; eine Folge des gemäßigten Agrargesetzes von 1920.34 Nur etwa 10 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche waren an Landarme oder Landarbeiter verteilt worden. Dies hat dem Land in der Zwischenkriegszeit den Ruf eingetragen, das „Land der drei Millionen Bettler“35 zu sein. Während des Zweiten Weltkrieges war es der deutschen Besatzungsmacht in Serbien daran gele gen, möglichst hohe Überschüsse an Agrarprodukten zu erzeugen. Um eine Erhöhung der Erträge zu erwirk en, wurde die K ommissarische Serbische Regierung dazu veranlasst, mit einer Gesetzesverordnung vom 16. September 1941 die Bestimmungen der Agrarreform zu ändern. Einerseits bekamen die sesshaft gewordenen Freiwilligen (Dobro voljci) die Eintragung ihres Besitzes in das Grundbuch, andererseits konnten die Minderheiten Besitz, der v on den Eigentümern nicht genutzt wurde, erwerben. Bei den dadurch einsetzenden Landkäufen waren die Donauschwaben in der Wojwodina zu 85 Prozent beteiligt, weshalb die deutsche Minderheit sich in den Augen der serbischen Bevölkerung der Kollaboration verdächtig machte, was wiederum Auswirkungen auf deren Schicksal am Ende des Zweiten Weltkriegs hatte.36 Das Ende des Zweiten Weltkrieges brachte rund ein Vierteljahrhundert nach diesen Bodenreformen eine Zäsur, die noch nie zuvor gekannte Enteignungsdimensionen erreichte. Wieder waren die Länder Ostmittel- und Südosteuropas betroffen. Schon vor und während des Zweiten Weltkrieges war es insbesondere unter sowjetischer und deutscher Regie zu umfangreichen, millionenfachen ethnischen Zwangsumsiedlungen und Landenteignungen gek ommen. Welche zwanghafte Logik sich aus den Umsiedlungen der deutschen Minderheiten („Heim ins Reich“) in diesem Raum ergab, zeigt sich an der Geschichte ihrerAnsiedlung insbesondere im Warthegebiet im westpolnischen Raum, die nur möglich w ar, indem die dortige Bevölkerung vertrieben und ihr Landbesitz an die oftmals ahnungslosen Neusiedler verteilt wurde.37 Aber auch das südöstliche Mitteleuropa und Südosteuropa waren von diesen Vorgängen betroffen, nachdem Jugoslawien 1941 zerschlagen worden war, Mazedonien und die Dobrudscha zu Bulgarien gekommen waren. Eine neue Dimension erhielten die Umsiedlungspläne durch die Absicht einer ethnischen „Entmischung“ der Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa, aber auch durch die Westverschiebung der Grenzen der So wjetunion und Polens. Das 34 S CHIFF (wie Anm. 18), S. 28–29. 35 Nach dem Buch v on: O LÁH, György: Három millió k oldus [Drei Millionen Bettler]. Misk olc 1928. 36 S CHLARP (wie Anm. 3), S. 344–355. 37 Beispielhaft hierzu so wie zum F orschungsstand: ALY, Götz: Endlösung. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden. Frankfurt am Main 1995; BEER (WIE ANM. 4). In Bezug auf den Balkanraum siehe: S UNDHAUSSEN, Holm: Die Ethnisierung v on Staat, Nation und Gerechtigkeit. Zu den Anfängen nationaler „Homogenisierung“ im Balkanraum. In: Beer (s. o.), S. 69–90.

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Ziel einer Nachkriegsordnung mit Nationalstaaten ohne Minderheiten brachte den Heimatverlust von etwa 20 Millionen Menschen, w ovon etwa 14 Millionen Deutsche betroffen waren. Eine dauerhafte Umsetzung der quantitati v gigantischen Umsiedlungspläne schien nur dadurch möglich, dass der Landbesitz der unerwünschten ethnischen Minderheiten in Bodenreformen enteignet und Angehörigen der Mehrheitsnation zugewiesen wurde. Dabei standen die Agrarreformen nicht mehr an der Spitze der politischen Agenda; vielmehr wurden sie in noch stärk erem und radikalerem Maß wie nach dem ErstenWeltkrieg zum Instrument: Jetzt ging es primär darum, ethnisch „reine“ Nationalstaaten zu schaf fen. Wirtschaftliche Aspekte traten zugunsten v on ethnopolitischen und populistischen Überlegungen in den Hintergrund.38 Argumente landwirtschaftlicher Effizienz spielten kaum mehr eine Rolle. Dabei schoben sich die ethnischen Motive in Jugoslawien, aber auch in Ungarn wesentlich stärker in den Vordergrund wie in Rumänien. In Ungarn trat – ähnlich wie in Polen – eine zusätzliche Dynamisierung durch dieTatsache hinzu, dass ungarische Flüchtlinge aus Oberungarn (Slowakei), aus Rumänien und Jugoslawien in das Land strömten und an der Bodenreform partizipieren w ollten. Auch rechtlich er geben sich deutliche Unter schiede zwischen Jugoslawien und Ungarn. Schon am 21. November 1944 hatte der „Antifaschistische Rat der Volksbefreiung Jugosla wiens“ (Anti fašistiãko v eçe narodnog oslobodenja Jugosla vije; AVNOJ) entschieden, „sämtliches Vermögen von Personen deutscher Volkszugehörigkeit außer dem derjenigen Deutschen, die in den Reihen der Nationalen Befreiungsarmee und der P artisaneneinheiten gekämpft haben […]“ zu enteignen und in das Eigentum des Staates zu übergeben. Eine weitere Phase bildeten die sich anschließenden Kollektivierungs- und Sozialisierungsmaßnahmen in den kommunistischen Ländern, die in den späten Fünfziger Jahren bis Mitte der Sechziger Jahre kulminierten.Auch in Jugoslawien wurde mit der Kollektivierung begonnen. Doch nach dem Bruch zwischen Tito und Stalin im Jahre 1948 beschritt das Land mit dem „Selbstv erwaltungskommunismus“ einen Sonderweg. Kollektiviertes Land wurde in Großunternehmen überführt. Diese erreichten in der Wojwodina etwa ein Drittel der Landwirtschaftlichen Nutzfläche, denn hier w ar durch die Vertreibung der deutschen Minderheit eine Überführung von Privatland in Kollektivland relativ einfach möglich gewesen. Der v orliegende Band endet mit einem Ausblick der Entwicklungen nach 1989/90, die für einen Teil der hier beschriebenen Staaten in die EU-Mitgliedschaft mündeten; andere Länder haben Kandidatenstatus oder gelten als Be werberländer.39 Damit leiten langjährige, die agrarische und ethnische Strukturen formende Prozesse in die Transformation über, die noch nicht abgeschlossen ist. Deutlich zeich38 Dazu insbesondere die Beiträge in diesem Band v on TÓTH, Ágnes: Einige Zusammenhänge zwischen der Bodenreform und dem Wandel der Sozialstruktur im südlichen Transdanubien (1945–1949) und VONYÓ, József: Die Rolle der Bodenreform und der Nationalitätenfrage bei der Vertreibung der Ungarndeutschen. 39 Mit der EU-Erweiterung v om 1. Mai 2004 wurde Ungarn Mitglied der Europäischen Union, am 1. Januar 2007 folgten Rumänien und Bulgarien. Die ehemaligen jugoslawischen Republiken Kroatien und Mak edonien haben offiziellen Bewerberstatus, als potenzielle Kandidatenländer gelten Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro und Serbien.

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net sich jedoch ab, dass ländliche Räume in der Regel Verlierer dieser Prozesse sind und sich die Disparitäten zwischen städtischen Zentren und dem ländlichen Raum verstärken. Es bleibt die Frage, ob sich hinsichtlich der Ursachen undWirkungen zwischen Agrarreformen und ethnodemographischen Veränderungen über diesen langen Zeitraum anhand der ausge wählten Beiträge modellhafte Strukturen erk ennen lassen? Legt man nach Anton Sterbling als Messlatte die intendierten und nichtintendierten Ziele der Akteure an, so zeichnet sich bei aller Vielfältigkeit folgendes Bild ab: 40 Die agrarischen Reformmaßnahmen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierungszielen v erpflichtet. Gleichwohl konnten sie in ethnokonfessionellen Gemengelagen zu Veränderungen führen, weil einzelne ethnische Gruppen aufgrund ihrer sozioök onomischen und kulturellen Erf ahrungsmuster of fensichtlich besser gerüstet w aren für die v eränderten Anforderungen oder aber – wie in Russland die Schw arzmeerdeutschen – noch dazu durch eine andere Agrarverfassung privilegiert waren. In der Zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs die Furcht v or Überfremdung und dem ök onomischen Erfolg von Minderheiten (Ungarn, Russland, Preußen). Diese Diskussion diente auch der nationalen Selbstpositionierung. Erst die Katastrophe des Ersten Weltkrieges schuf die Möglichk eit, dringend notwendig ge wordene und v erschleppte, umfangreiche Bodenreformen in die Wege zu leiten, die aber nun zugleich ethnische Veränderungen gezielt intendierte und die Bodenreformen als Mittel instrumentalisierte. Im und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die radikalen Bodenreformen eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Aussiedlung und Vertreibung oder – wie in Rumänien – der ök onomischen Schwächung v on ethnischen Minderheiten. Erst in den kommunistischen Bodenreformen nach 1950 und in den Transformationsprozessen nach der Systemwende zeigen sich wieder wirtschaftliche Motive als zentral handlungsleitend. Die hier skizzierten Problemk onstellationen werden im v orliegenden Band in besonderer Weise auf die deutschen Minderheiten Südosteuropas (Donauschw aben)41 innerhalb ihres multiethnischem Umfeld fokussiert. Dies erscheint legitim, denn in Bezug auf diese Minderheiten ergeben sich viele Verflechtungsmerkmale zwischen Agrarreformen und ethnodemographischen Veränderungen. Zunächst einmal lassen die Ansiedlung v on Deutschen im Donauraum und die agrarischen Modernisierungsprozesse des frühmodernen Staates enge Bezüge erkennen. Die etablierte ungarische Forschung betonte die Rele vanz der steuerlichen und rechtlichen Pri vilegierung der Migranten und sieht darin einen wichtigen initialen Grund für den weiteren ökonomischen Erfolg der Deutschen. 42 Dabei trafen die Ansiedler aus deut40 Vgl. STERBLING (wie Anm. 1). 41 Der Begriff „Donauschwaben“ wurde von den Geographen Robert Sieger (Graz) und Hermann Rüdiger (Stuttgart) 1922 eingeführt. Es handelt sich um eine Sammelbezeichnung für die bis 1918 im Königreich Ungarn lebenden, im Wesentlichen seit dem 18. Jahrhundert eingewanderten Deutschen. 42 Zum Beispiel: ACSÁDY, Ignácz: Magyarország belállapota 1680 [Die inneren Zustände Ungarns 1680]. In: Századok 19 (1885), S. 549–562; M ARCZALI, Henrik: A magyar nemzet története [Geschichte der ungarischen Nation], Bd. 8, Magyarország története III. Károlytól a bécsi con-

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schen Territorien auf eine Be völkerung wie etw a in der heutigen Wojwodina, die sich an überlieferte subsistente Überlebensstrate gien und an hergebrachte Lebensgewohnheiten klammerte.43 Hierin liegt wohl ein Schlüssel für entstehende Disparitäten, denn nach der rechtlichen K odifizierung durch die Urbarialre gulierungen kann von einer Privilegierung, von denen die Ansiedler nicht durch ihre Ethnizität, sondern durch ihren Status als K olonisten profitiert hatten, nicht mehr gesprochen werden. Hier zeigt sich ein entscheidender Unterschied zu den deutschen Ansiedlern im russischen Schwarzmeergebiet, die sich im Hinblick auf eine größereSelbstverwaltung der Gemein den, im Steuersystem und in der Agrarverfassung von der Lage russischer Bauern unterschieden und so teilweise bis ins frühe 20. Jahrhundert einen Wettbewerbsvorteil hatten. Dabei muss man sich v on der Vorstellung lösen, dass die deutschen Minderheiten ausschließlich Ge winner der Modernisierungsmaßnahmen waren. Hier lässt sich noch ein größeres F orschungsdefizit konstatieren. Ein Blick nach Mitteleuropa zeigt zum Beispiel, dass die deutsche bäuerliche Bevölkerung in Westpreußen-Posen „T errainverluste“ zugunsten der polnischen Minderheit hinnehmen musste.44 Die Agrarreformen in den nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Nationalstaaten vermochten den umf angreichen, mittelbäuerlichen Besitz der bäuerlichen deutschen Bevölkerung nicht entscheidend zu begrenzen. Erst der radikale Nationalismus, der sich im ZweitenWeltkrieg ungehemmt entfaltete und die Besatzungspolitik Deutschlands insbesondere in Serbien, ließ dieAgrarreformen zu einem Instrument werden, das sie ihrer eigentlichen Aufgabe, sozioök onomische und soziale Reformen in Angriff zu nehmen, völlig entfremdete und sich in den Dienst populistischer und nationaler Intentionen stellte. Im F olgenden wird ein Gesamtblick auf die, unterschiedlichen Themen und Methoden verpflichteten Beiträge geworfen. Ausgangspunkt und inhaltliche Klammer des Tagungsbandes stellt der Beitrag Von der Befreiung zur Marginalisierung der Bauern. Zwei Jahrhunderte Agrarreformen in Südosteur opa von Holm Sundhaussen dar. Hier erfolgen eine Übersicht über die „wichtigsten Wendepunkte der gressusig 1711–1815 [Geschichte Ungarns von Karl III. bis zumWiener Kongress 1711–1815]. Budapest 1898. Diese Darstellungen sind im K ontext des Entstehens einer nationalen Geschichtskultur und der Ethnisierung der Zugangskate gorien zur Nation nach 1767 zu sehen. Vgl.: K LIMÓ, Árpád v on: Nation, K onfession, Geschichte. (Südosteuropäische Arbeiten, Bd. 117). München 2003, insbesondere S. 25–28; 137–152. 43 Vgl. dazu: M ELâIå, Dunja: Serbische Gesellschaft im Lichte der v erpaßten Modernisierung. http://www.oeko-net.de/Kommune/kommune11–99/zzdunja.htm, 23.06.2008. 44 So sahen viele zeitgenössische Beobachter in der polnischen Minderheit eine Gefahr, die es zu bekämpfen galt. Besonders der nationalistische Deutsche Ostmarkenverein exponierte sich hier und strebte eine Germanisierung der polnischen Minderheit an. Vgl. etw a: WIDDERN, Georg Cardinal von: Das „schlafende Heer“ der Polen. Die Bekämpfung Preußens und des Deutschtums durch die Polen in Posen und Westpreußen seit 1815. Deutsche Abwehrforderungen. Berlin 1912. Für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg: R AUSCHNING, Hermann: Die Abwanderung der Deutschen aus Westpreußen und Posen nach dem ersten Weltkrieg. Ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-polnische Beziehungen 1919–1929. Die Entdeutschung Westpreußens und Posens. Berlin 1930, Nachdruck unter dem Titel: K ESSLER, Wolfgang (Hg.): Die Entdeutschung Westpreußens und Posens – Zehn Jahre polnische Politik. Essen 1988.

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Umgestaltungsprozesse“ und ein Problemaufriss, ausgehend vom Ende der postosmanischen Herrschaft bis zu den Umbrüchen nach 1989 in den Ländern des Untersuchungsraumes. Holm Sundhaussen dif ferenziert explizit zwischen den agrarreformerischen Intentionen des Staates in der Epoche der Aufklärung und der sozialistischen Kollektivierungspolitik und stellt in der Zeit der Aufklärung und nach 1950 insofern eine Parallele dar, dass „genuin wirtschaftliche Motive handlungsleitend wurden.“ Wie in der Zeit der Aufklärung sah man auch in der Zeit der sozialistischen Modernisierung in den Bauern eine „modernisierungsresistente Klasse“, die in Folge gewaltsamer Eingriffe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu oft flächendeckender Zerstörung bäuerlicher Lebenswelten führte. Danach befasst sich eine erste Gruppe von Beiträgen mit dem Themenkomplex der Reformen des frühmodernen Staates und der Entwicklung bis zur Grundentlastung im Königreich Ungarn. Hier handelt es sich um agrarische Modernisierungsprozesse, deren evolutionäres Tempo in der josephinischen Zeit stark forciert wurde, die aber in F olge der Französischen Re volution retardierten und im Vormärz zu einem Reformstau führten. Gerhard See wann erörtert in Ethnokonfessionelle Aspekte der Reformen des aufgeklärten Absolutismus in der Habsb urgermonarchie zunächst die Gestalt des Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem des aufgeklärten Absolutismus. Dahinter stand die Theorie des Kameralismus, der besonderen Ausprägung des Merkantilismus, mit seiner auf Vermehrung der Be völkerung und der Förderung der Landwirtschaft ausgerichteten Politik. Hierzu kamen weitere Postulate des frühneuzeitlichen Staates wie v erstärkte Re gulation, Intensi vierung und Modernisierung der Landwirtschaft, Bildungsreform, aber auch Disziplinierung, die zu einer grundlegenden Änderung v on Staat und Gesellschaft führten. Vor diesem Hinter grund erfolgte die Migration von Westen nach Osten, hinterließ allerdings eine stark veränderte ethnokonfessionelle Struktur des Königreiches. Zwei Fallstudien aus der Mikroperspektive vermögen diese Argumentation zu untermauern. Norbert Spannenberger erläutert in seinem Beitrag Agrarmodernisierungen und ethnische Veränderungen als komplementäre Entwicklungsprozesse in Südtransdanubien die Modernisierungsprozesse und das Streben nach Gewinnoptimierung in den Herrschaften der Esterházys in Südtransdanubien als den ethnischen Verdrängungsprozessen zugrunde lie gende F aktoren. So werden die inneren Zusammenhänge zwischen der ökonomischen Wertschöpfung und der verstärkten Ansiedlung von deutschen Ansiedlern, insbesondere im Rahmen der Binnenkolonisation, gezeigt. Ein weiteres Fallbeispiel von Karl-Peter Krauss, gewissermaßen als chronologische Fortführung des vorangehenden Beitrags, untersucht in Agrarische Modernisierungsprozesse und ethnodemo graphische Veränderungen in der Südbatsc hka bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Grundlage der ethnodemographischen Entwicklung in einigen beispielhaften Dörfern das Ursachengeflecht der Verdrängung von Serben durch Deutsche. Er geht der Frage nach, ob die Zuwanderer etwa „besser“ als die serbische Bevölkerung für die agrarische Modernisierung gerüstet waren und so einen Wettbewerbsvorteil hatten. Ebenso wird untersucht, ob die

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Grundentlastung Mitte des 19. Jahrhunderts eine katalysatorische Wirkung für die angeführte Entwicklung hatte. Im zweiten Teil des Bandes werden die Agrarreformen im Rahmen der Bildung der Nation und des Nationalstaats untersucht und die daraus resultierenden Wirkungen für das ethnische Gefüge erfasst. Der Beitrag von Dietmar Neutatz über dieAgrarverfassung und demographische Entwicklung in den deutsc hen Siedlungen im Sc hwarzmeergebiet nach 1861 bietet sich für einen Vergleich mit Südosteuropa geradezu an. Auch hier erfolgte im ausgehenden 18. so wie im 19. Jahrhundert eine Einw anderung von deutschen Siedlern. Nach der anfänglichen Konsolidierungsphase entstanden indes – im Gegensatz zum Donauraum – als Folge der die Kolonisten privilegierenden Agrarverfassung ausgeprägte Disparitäten. Auch der Zusammenhang zwischen dem Erbrecht der Siedler und ihrem „Landhunger“ lädt zu einer k omparatistischen Analyse im Hinblick auf die Donauschw aben ein, deren Anerbenrecht sich in der Re gel vom Erbrecht der anderen Ethnien unterschied. Wie sehr ethnozentrische Argumente bei der Erklärung der unterschiedlichen Entwicklung zu kurz greifen, er gibt sich aus einem Vergleich der wolga- mit den schwarzmeerdeutschen Siedlungsgebieten; erstere erfreuten sich aufgrund einer anderen Agrarverfassung keiner vergleichbaren Prosperität. Zoran Janjetoviç zeigt anhand einer Mikrostudie Der wirtschaftliche Wettbewerb zwischen Deutschen und Serben in den Werken von Radoslav Markoviç (1865 – 1948) das interethnische Zusammenleben im deutsch-serbischen Dorfes India [Ind ija] @ in Syrmien um die Jahrhundertwende. Der serbisch-orthodox e Priester Markoviç k onstatierte in seinen Aufzeichnungen – zwischen zunehmendem Magyarisierungsdruck und nationaler Selbstpositionierung der Serben – ein „wachsendes wirtschaftliches Über gewicht der Deutschen“. Im Geiste Herders sah er im „Landhunger“ und der damit zusammen hängenden ök onomischen Expansion der deutschen Siedler eine technologische und disziplinatorische Überlegenheit, die es zu überwinden galt. Günter Schödl wendet in seinem Beitrag „Kolonisationsgesetz“ und „Kolonats“Reform: Zur Nationalisierung agrarischer Strukturpolitik in Preußen-Deutschland und in der Habsburgermonarchie um 1900 einen komparatistischen Ansatz an. Die österreichisch-ungarische Monarchie hatte mit dem K olonat das Erbe einer nichtzeitgemäßen Agrarverfassung übernommen, das in Dalmatien, besonders in Bosnien-Herzegowina als „Kmetstvo“ noch um 1900 eine bedeutende Rele vanz hatte. Verhängnisvoll wirkte sich die Leitlinie der österreichischen agrarreformerischen Bemühungen aus, der weniger eine sozial- und wirtschaftspolitische als vielmehr eine nationalitäten- und innenpolitische Motivation zu Grunde lag und so die fällige Bodenreform am Vorabend des Ersten Weltkrieges zum Scheitern v erurteilt w ar. Obwohl sich in einem Vergleich mit der preußisch-deutschen Agrarpolitik zeigt, dass eine ethnodemographische Moti vation nur im deutsch-polnischen Beispiel („Polenfrage“) ausschlaggebend war, ergeben sich doch Kongruenzen. In den Ausführungen von Gert v on Pistohlkors über Tiefgreifende agrarische Umwälzungen und Umstrukturierungen in den neu gegründeten baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen 1919/1920/1922: Motivationen und Er gebnisse bis 1940 zeigen sich zunächst die insgesamt grundlegend veränderten politischen Rah-

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menbedingungen nach dem Ersten Weltkrieg, hier am Beispiel des nordostmitteleuropäischen Raumes anhand der in die Unabhängigkeit entlassenen baltischen Nationalstaaten. Im kulturellen Interferenzraum von Estland und Lettland – in Litauen lagen die Verhältnisse anders – war die Führungsrolle der deutsch-baltischen Oberschicht schon durch die Auflösung der ständischen Selbstv erwaltung in Frage gestellt w orden. Diese als Russifizierung erf ahrene Zeit mündete nach dem Ersten Weltkrieg in die unter anderen nationalen Vorzeichen durchgeführten Agrarreformen mit dem Verlust der wirtschaftlichen Vorrangstellung der Deutschen. Dietmar Müller geht in Landreformen, Property rigths und ethnisc he Minderheiten. Ideen- und Institutioneng eschichte nac hholender Modernisierung und Staatsbildung in Rumänien und Jugoslawien 1918 – 1948 der zentralen Frage nach, inwiefern die ethnischen Minderheiten in den untersuchten Ländern Rumänien und Jugoslawien „bevorzugte Objekte einer diskriminatorischen Politik“ waren. Angelpunkt der Überlegungen sind die „Property rights“ 45, deren „ethnopolitische Überformung“ er schon für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg konstatiert. Er stellt die These v on wesentlichen Übereinstimmungen der Agrarreformen v on 1918 und 1945 auf und betont zugleich einen gra vierenden Unterschied hinsichtlich der Dynamik, des Umfangs und der Radikalität der Maßnahmen. Der dritte Teil umfasst die Zeit der Bodenreformen nach dem Zweiten Weltkrieges, die verknüpft waren mit der ethnischen Homogenisierung sowie die staatliche Raumordnungspolitik bis zu den Transformationsprozessen der Gegenwart. József Vonyó behandelt in seinerAbhandlung Die Rolle der Bodenreform und der Nationalitätenfrage bei der Vertreibung der Ungarndeutschen. Mithilfe der forcierten Propaganda einer pauschalen Unterstellung gegenüber der ungarndeutschen Minderheit, „fünfte Kolonne Hitlers“ gewesen zu sein, wurde auf der Basis dieser Kollektivschuldthese der Weg zur Enteignung weiterer Landflächen geöffnet. Bemerkenswert ist der Nachweis der „Elitenkontinuität“: Die Wortführer einer radikalen Vertreibung nach 1945 spielten bereits v or dem und während des Zweiten Weltkriegs eine nicht unerhebliche Rolle in der ungarischen Öf fentlichkeit und brachten die Lösung der Landfrage in Verbindung mit der „nationalen Schicksalsfrage“. Einige Zusammenhänge zwischen der Bodenreform und dem Wandel der Sozialstruktur im südlichen Transdanubien (1945–1949) beleuchtet Ágnes Tóth in ihrem Beitrag und kommt zum Ergebnis, dass um die 30 Prozent der Gesamtbe völkerung der Komitate Baranya, Somogy und Tolna von den Enteignungen nach der Vertreibung der Deutschen profitierten. Die Autorin legt dabei die Eskalationsstufen innerhalb des Zusammenhangs zwischen dem im Bedarfsf all interpretationsfähigen Begriff der „nationalen Treue“ der Personen deutscher Nationalität und den v ermögensrechtlichen Sanktionen dar . Die Autorin sieht deutliche K ontinuitätslinien des nach dem Ersten Weltkrieg be gonnenen Prozesses der „nationalen Homogenisierung“, der nach dem Zweiten Weltkrieg seinen weitgehenden Abschluss fand. An Radikalität im Sinne einer nationalen Homogenisierung in F olge von Vertreibungen und Enteignungen übertraf dieWojwodina Südtransdanubien, wie Ranka 45 Die deutsche Übersetzung lautet: Eigentumsrechte. Im englischen Begriff geht es um die Handlungs- und Verfügungsrechte an Gütern.

Einführung

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Gašiç in ihrem Beitrag Die Agrarreform in Jugoslawien nach 1945 und ihre Nachwirkungen zeigt. Der Anteil des deutschen Besitzes in der Wojwodina lag bis zur Bodenreform bei über der Hälfte des Gesamtbesitzes. Während in der Wojwodina eine „Serbisierung“ erfolgte, kam es durch die Binnenmigration gleichzeitig zur Vergrößerung des muslimischen Bevölkerungsanteils in Bosnien und der Herzegowina, was Auswirkungen auf das ethnische Gefüge bis in die Gegenwart hat. Die beiden letzten Beiträge des dritten Teils erörtern aus sozialgeographischer Sicht die Beziehung zwischen Gesellschaft und Raum v om Zweiten Weltkrieg bis in die Transformationsprozesse nach 1989. Die Untersuchung von Peter Jordan Zur Problematik des ländlic hen Raumes in Südosteur opa nac h 1989 zeigt, wie stark Entwicklungsunterschiede in den postk ommunistischen Staaten Südosteuropas Folgen di vergierender Entwicklungen in v erschiedenen strukturprägenden Zeitschnitten sind, aber auch auf divergente Transformationspolitik nach der politischen Wende zurückzuführen sind. Damit greift dieser Beitrag noch einmal die auf v erschiedenen kulturlandschaftsprägenden Epochen basierenden Strukturprobleme auf. Insgesamt v erschärften sich noch die sozioök onomischen Disparitäten zwischen Stadt und Land – auch wegen der zurückgehenden Transferleistungen für den ländlichen Raum. Horst Förster zeigt im abschließenden Beitrag Kulturlandschaftsprozesse in Südosteuropa vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die Ge genwart die Vielschichtigkeit der K ulturlandschaftsentwicklung, die Er gebnis eines v on historischen, ökonomischen und gesellschaftlichen F aktoren gesteuerten Prozesses ist. Als nachhaltig raumwirksam bezeichnet der Autor – wie Holm Sundhaussen und Peter Jordan – dabei die „sozialistische Industrialisierung“, in der das re gionale Prinzip der Raumplanung dem sektoralen (Schwerindustrie) stets unter geordnet war. Dabei zeigt sich, dass die Staaten dieses Raumes seit der Systemwende nicht nur den Transformationsprozess zu be wältigen hatten, sondern sich zugleich auf veränderte Rahmenbedingungen in Europa und in der globalisierten Welt einstellen mussten. Für wertv olle inhaltliche Hinweise und die Unterstützung zur Herausgabe dieses Bandes dank e ich den Herren Professoren Dietrich Be yrau, Horst Förster und Reinhard Johler, alle Tübingen sowie Herrn Dr. Norbert Spannenberger, Leipzig, und meinen K olleginnen und K ollegen, nicht zuletzt aber der Wissenschaftlichen Hilfskraft Herrn Rado van Furtula für die Vorbereitungen zur Druckle gung am Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde. Zu dank en bleibt abschließend allen Autorinnen und Autoren für ihre Bereitschaft zur Mitarbeit an diesem Band.

Von der Befreiung zur Marginalisierung der Bauern. Zwei Jahrhunderte Agrarreformen in Südosteuropa Holm Sundhaussen Die Bauern Südosteuropas1 durchlebten während des 19. und 20. Jahrhunderts einschneidende Veränderungen, in deren Verlauf die Vielfalt ererbter feudaler oder feudalähnlicher Agrarverfassungen schrittweise zugunsten einer proto- oder frühkapitalistischen Wirtschaftsordnung beseitigt wurde. 2 In den meisten Ländern der Region musste der agrarische Frühkapitalismus nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einer sozialistischen Agrarverfassung weichen, die mit dem Systemk ollaps 1989 unterging. Zu den wichtigsten Wendepunkten der Umgestaltungsprozesse gehören: 1. das Ende der osmanischen Herrschaft und dieAufhebung der bisherigen Agrarverfassung in den Balkanre gionen zu unterschiedlichen Zeitpunkten während des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts; 2. die Bauernbefreiung in den Ländern der Habsb urger Monarchie während der Revolution von 1848/49, einschließlich der Sonderentwicklung in den rumänischen Fürstentümern nach der Agrarreform von 1864; 3. die Bodenreformen nach dem Ersten Weltkrieg; 4. die Bodenreformen nach dem Zweiten Weltkrieg; 5. die K ollektivierung in den sozialistischen Ländern während der 1950er und -60er Jahre bis zum Umbruch Ende 1989 sowie 6. die Reprivatisierung des Bodens in der postsozialistischen Transformation.

1. Postosmanische Bodenreformen und Bauernbefreiung Die Entwicklung während des 19. und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zielte auf die Beseitigung feudaler oder feudalähnlicher Barrieren. Aus v ormals erbuntertänigen oder sonst wie abhängigen Bauern –Teilpächtern, Kmeten, Tschiftlikarbeitern und K olonen – sollten eigen verantwortlich wirtschaftende Landwirte (ggf. auch Landarbeiter oder billige Arbeitskräfte für die Industrie) werden. Die Beseitigung der osmanischen Agrarverfassung, die in der Literatur mitunter auch als „Agrarrevolution“ bezeichnet wurde und wird, w ar in der Regel nichts anderes als eine Neuordnung der Eigentumsrechte. Von einer Agrarrevolution im Sinne 1 2

„Südosteuropa“ bezeichnet im Folgenden den Balkanraum (südlich von Save und Donau), zuzüglich der Fürstentümer Moldau und Walachei/Rumäniens so wie des historischen Königreichs Ungarn. Angesichts des synthesehaften Charakters dieses Beitrags wird auf Einzelbelege zu den Agrarreformen und zur Landwirtschaft in der Re gel v erzichtet, da sie den Umf ang des Beitrags sprengen würden. Ersatzweise sei auf die Auswahlbibliographie am Ende des Textes verwiesen.

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eines Durchbruchs zur Moderne, wie sie in Teilen des westlichen Europa zeitnah zur industriellen Revolution stattgefunden hatte, 3 konnte im postosmanischen Balkanraum keine Rede sein.4 An die Stelle der vormaligen Pfründen-Inhaber (spahis) oder der muslimischen Gutsherren (auf den Tschitftlikgütern)5 traten serbische, griechische, bulgarische etc. Bauern. Ökonomische Reformen waren mit der Neuordnung nicht v erbunden, so dass es sich im Grunde genommen um eine frühe Form der „Nationalisierung“ oder „Nostrifizierung“ des Bodeneigentums handelte. Selbst wenn einige Akteure auf nachgelagerte ökonomische Effekte gehofft hatten, blieben diese aus. Im Unterschied zur staatlichen oder privaten Kolonisationspolitik in den v on den Osmanen eroberten Gebieten der Habsb urger Monarchie und des Russischen Reiches während des aufgeklärtenAbsolutismus, die von ökonomischen Zweckmäßigkeitsdenken geleitet und mehr oder minder planmäßig ins Werk gesetzt wurden, rückten bei der postosmanischen Bodenreform in den Balkanländern ethnische oder/und religiöse Kriterien in den Vordergrund.6 Während für die aufgeklärten Monarchen in Wien und St. Petersburg die Ethnizität der K olonisten keine oder allenfalls eine untergeordnete Rolle gespielt hatte, erlangte sie in den postosmanischen „Nationalstaaten“ zunehmende Bedeutung. Wie andere Bereiche v on Staat, Wirtschaft und Gesellschaft wurde auch die Agrarpolitik ethnisiert/nationalisiert. Die früheren osmanischen Großgrundbesitzer (Muslime unterschiedlicher ethnischer Zuordnung) zogen sich entweder selbst zurück oder wurden v ertrieben. Nur in dem seit 1878 v on Österreich-Ungarn v erwalteten und 1908 annektierten Bosnien-Herzegowina wurde der muslimische Großgrundbesitz nicht angetastet. Die über die unmittelbare Neuordnung der Eigentumsverhältnisse hinausreichenden Absichten in den postosmanischen Staaten zielten nicht auf eine Effizienzsteigerung der Landwirtschaft, sondern auf die K onservierung bzw. Wiederherstellung der altbalkanischen Ordnung auf dem Lande (mit der Einschränkung, dass die frühere Selbstverwaltung der Dorfgemeinden der Allzuständigkeit der neuen, zentralistisch organisierten Staaten geopfert wurde).

3 Vgl. KOPSIDIS, Michael: Agrarentwicklung. Historische Agrarrevolutionen und Entwicklungsökonomie. Stuttgart 2006. Der Autor untersucht die Entwicklungen in England und Westfalen von 1600–1850 resp. 1770–1880 und führt den Erfolg der Agrarrevolutionen auf die ausgeprägte Anpassungsfähigkeit der Bauern an sich ständig wandelnde Märkte zurück. 4 Vgl. stellvertretend CALIC, Marie-Janine: Sozialgeschichte Serbiens 1815–1951. Der aufhaltsame Fortschritt während der Industrialisierung. München 1994, S. 47 ff. 5 Die Tschiftlikgüter waren in der Verfallszeit des Osmanischen Reiches durch zunächst illegale Privatisierung v on öf fentlichem und die Aneignung v on Bauernland entstanden und wiesen Ähnlichkeiten mit den ostelbischen Gutswirtschaften in der Frühen Neuzeit auf. 6 Rechtliche Grundlage für die Umv erteilung des Bodens bildeten entweder bilaterale Verträge mit dem Osmanischen Reich (in denen auch die Ablösezahlungen festgelegt wurden) oder das jeweilige Staatsbürgerschaftsrecht. Letzteres wurde in der Praxis mehr und mehr entsprechend den Grundsätzen der Abstammungsgemeinschaft (ius sanguinis) ausgestaltet und führte zur Diskriminierung religiöser und nationaler Minderheiten. Obwohl die Großmächte in der Berliner Kongressakte von 1878 die Balkanstaaten dazu v erpflichteten, niemand aufgrund seines Glaubens zu diskriminieren und namentlich den Immobilienbesitz v on „Muselmännern“ zu respektieren, wurden diese Bestimmungen nur halbherzig oder gar nicht umgesetzt.

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Von den postosmanischen Bodenreformen zu unterscheiden ist die Bauernbefreiung. Unter „Bauernbefreiung“ v ersteht man die Summe aller Maßnahmen zur Aufhebung der bäuerlichen Untertänigkeitsverhältnisse in den spätfeudalen europäischen Gesellschaften, insbesondere die Beseitigung der persönlichen Unfreiheit der Bauern (die es in dieser Form im Osmanischer Reich legal nicht gegeben hatte) und die Ablösung der damit verbundenen persönlichen und dinglichen Lasten. Dieser sich oft über mehrere Jahrzehnte erstreck ende Prozess kam in Westeuropa mit der Französischen Revolution, in Mittel- und Osteuropa dagegen erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum Abschluss. Die v on physiokratischen, naturrechtlichen und aufklärerischen Ideen angestoßene Bauernbefreiung diente dem Ziel, die feudalen Barrieren auf dem Lande niederzureißen und den Agrarsektor in das System freier Konkurrenzwirtschaft einzugliedern. Die aufgehobenen Bindungen der abhängigen Landbevölkerung bezogen sich 1. auf die Person des Bauern (Aufheb ung der Erbuntertänigkeit und der daraus abgeleiteten Verpflichtungen, wie Schollenbindung, unentgeltliche Arbeitsleistung für den Herrn, Gesindezwangsdienst u. ä.), 2. auf die Verfügungsgewalt über den Boden (Umw andlung der v erschiedenen Besitz- oder Nutzrechte in Eigentum) so wie 3. auf hoheitliche Rechte (Abschaf fung der gutsherrlichen Gerichtsbarkeit und Polizeige walt). Für diesen k omplexen Prozess des rechtlichen, ökonomischen und sozialen Umbaus der Agrarverfassung hat sich in der F orschung seit den Untersuchungen v on Geor g Friedrich Knapp (1887) der Begriff „Bauernbefreiung“ eingebürgert, während die Zeitgenossen v on „Regulierung“, „Grundentlastung“ oder „Ablösung“ sprachen. In den meisten Ländern oder Provinzen der Habsburger Monarchie begann die eigentliche Reform der überlebten Agrarverfassung erst in der Epoche des aufgeklärten Absolutismus – nach der Thronbesteigung Maria Theresias. Die Einziehung bäuerlichen Landes wurde in den habsb urgischen Erbländern endgültig v erboten, adlige Ländereien in den österreichisch-böhmischen Ländern der Steuerpflicht unterworfen. In den Robotpatenten (ab 1772) wurden die Abgaben und sonstigen Verpflichtungen der Bauern gegenüber den Herren (v. a. die Arbeitsverpflichtung: Robot, Fron) genau fixiert. In den Ländern der ungarischen Krone wurde ab 1767 ein Urbar eingeführt. Weitergehende Vorschläge zur Reformierung derAgrarverfassung scheiterten am Widerstand des Adels und konnten nur auf den Krongütern zur Anwendung gebracht werden. Alles in allem hatte die Agrargesetzgebung Maria Theresias mehr re gulierenden als re volutionierenden Charakter . Dies änderte sich grundlegend unter Joseph II. In den zehn Jahren seiner Alleinherrschaft (1780–90) nahm er einen radikalen Umbau der ländlichen Verfassung in Angriff. Durch das Strafpatent von 1781 wurden die gerichtlichen Befugnisse der Grundherren über die Bauern eingeschränkt. Das Leibeigenschafts-Aufhebungspatent vom 1. November 1781 beseitigte die persönliche Unfreiheit der Bauern (die Einschränkung des Eheschließungsrechts, die Bindung an die Scholle, die Einschränkung der Berufsfreiheit, den Gesindezw angsdienst etc.). Die Bestimmungen dieses Gesetzes wur den 1783 auf Siebenbürgen und 1785 auf Ungarn und Kroatien ausgedehnt. Gleichzeitig erfolgte eine Verbesserung der bäuerlichen Grundbesitzrechte. Die Urbarialregulierung vom 10. Februar 1789 sah schließlich die Zw angsumwandlung aller herrschaftlichen Ansprüche an die Bauern in eine einheitliche Geldleistung (zu

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einem herabgesetzten Wert) vor. Das Gesetz stieß überall auf den erbittertenWiderstand der Herrschaften und f and auch bei den un vorbereiteten Bauern wenig Verständnis. Kurz vor seinem Tod musste Joseph II. alle seine Reformen im Königreich Ungarn (mit Ausnahme des Leibeigenschafts-Aufheb ungspatents und der Pri vilegien für „Kolonisten“) zurücknehmen. Die Französische Revolution und die napoleonischen Kriege blockierten anschließend weitere Modernisierungsmaßnahmen (auch in den österreichischen Erbländern) und machten nach demWiener Kongress einem erzkonservativen Beharrungswillen Platz. Die Bauernbefreiung wurde daher zu einem der wichtigsten Programmpunkte der Revolution von 1848/49. Die Bauern stellten nachAusbruch der Revolution ihre untertänigen Leistungen überall sofort ein und v erlangten eine gesetzliche Re gelung ohne Entschädigung für die Grundherren. Am 26. Juli1848 forderte der junge Abgeordnete Hans Kudlich im Wiener Reichstag die sofortige Beendigung der Erbuntertänigkeit. Der Antrag wurde einstimmig angenommen. In der Entschädigungsfrage konnten sich die Bauern vertreter dagegen nicht durchsetzen. Die Durchführung der Entschädigung („Grundentlastung“) fiel bereits dem sie greichen Absolutismus zu, der das Problem mit großer Energie in ziemlich kurzer Zeit sowie in einer für die Bauern verhältnismäßig günstigen Weise löste. Der schnelle Sieg der Gegenrevolution war nicht zuletzt durch das Desinteresse der Bauern möglich geworden, denn nachdem der Reichstag die Aufhebung der Erbuntertänigkeit verkündet hatte, verloren die Bauern jedes weitere Interesse an der Re volution und fielen in ihren traditionellen Konservativismus zurück. Dass es dennoch bei der Aufhebung der Erbuntertänigkeit blieb, war maßgeblich der veränderten Interessenlage des Grundadels zuzuschreiben, der bereits in den Jahrzehnten v or der 48er Re volution aus ökonomischen Überlegungen für diese Maßnahme plädiert hatte, ohne dass die damaligen Regierungen darauf eingegangen wären. Die erhofften ökonomischen Wirkungen der Reform stellten sich allerdings in der Regel erst eine Generation später ein.7 Eine Sonderstellung nahmen die rumänischen Fürstentümer Moldau und Walachei ein. Die Abhängigkeit der Bauern von den Bojaren und Klöstern hatte sich in einem langwährenden Prozess ständig v erschlechtert und spitzte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts mit w achsender Bedeutung der rumänischen Agrarexporte weiter zu. Obwohl die Schollenbindung der Bauern in derWalachei 1746 und in der Moldau 1749 aufgehoben worden war, hatte dies an den bedrück enden Verhältnissen kaum etw as geändert. Die zu Fronarbeit v erpflichteten Bauern besaßen zw ar das Recht auf Freizügigkeit, doch blieb dieses Recht an Vorbedingungen geknüpft, die häufig uneinlösbar waren. Im Unterschied zu den habsburgischen Ländern, wo schon lange vor der Bauernbefreiung eine Trennung von Herren- und Bauernland erfolgt war, gab es in den Donaufürstentümern k ein staatlich geschütztes Land der Dorfgemeinschaften. Die in staatsstreichähnlicher F orm durchgeführte Agrarreform des Fürsten Alexander Cuza v on 1864 kam daher einer Bauernbefreiung 7

Vgl. die Beiträge bei H ELD, Joseph (Hg.): The Modernization of Agriculture. Rural Transformation in Hungary, 1848–1875. New York 1980; darin insbesondere VOROS, Antal: The Age of Preparation: Hungarian Agrarian Conditions between 1848–1914, S. 21–129.

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gleich. Doch musste das den Dorfgemeinschaften zugeteilte Land in der F olgezeit unter ungünstigsten Bedingungen abgearbeitet werden. Das 1866 erlassene „Gesetz über die landwirtschaftlichen Arbeitsverträge“ zwang der ländlichen Be völkerung erdrückende Pacht- und Arbeitsvereinbarungen auf, die f aktisch auf eine Wiedereinführung der bäuerlichen Abhängigkeit (Neoioba *gia) hinausliefen. Dies löste 1888 und 1907 jene großen Bauernaufstände aus, die v om Militär blutig niedergeschlagen wurden. Ziehen wir an dieser Stelle eine kurze Zwischenbilanz. Einer v erhältnismäßig kleinen Gruppe von erfolgreichen Großgrundbesitzern (vor allem in Ungarn, schon weniger in Rumänien und in den Balkanländern f ast gar nicht) stand eine ge gen Ende des 19. Jahrhunderts rasch wachsende Zahl pauperisierter Parzellenbauern (in den Balkanländern) oder Tagelöhner (v. a. in Ungarn) gegenüber. Wirtschaftlich erfolgreiche Mittelbauern f anden sich v ornehmlich in den ehemals habsb urgischen Kolonisationsgebieten, vor allem unter den „Donauschwaben“, und unter den Siedlern in „Neu-Russland“.

2. Der Wandel der bäuerlichen Lebenswelt und der Beginn der Pauperisierung Der dem Wandel der Agrarverfassungen folgende wirtschaftliche und soziale Wandel wurde weniger durch die Bodenreformen selbst als durch die Transformation des Rechtssystems, die Ausbreitung der Geldwirtschaft sowie die „demographische Revolution“ vorangetrieben. Die mit der Rezeption des Römischen Rechts in den Balkanländern verbundene juristische Entdeckung des Ichs und die Monetarisierung wirtschaftlicher Aktivitäten setzten das traditionelle Familien- und Erbmodell massiv unter Druck. 8 Die rasche Auflösung der Großf amilien und ihres Gemeinschaftsbesitzes führte zu einer stärk eren sozialen Dif ferenzierung innerhalb der Landbevölkerung und beschleunigte (etw a im zentralen Balkanraum) den Über gang von einer extensiven Viehwirtschaft zu einem extensiven Ackerbau (mit zum Teil weit reichenden ök ologischen F olgen). Doch die Expropriation der Bauern bzw. die „primäre Kapitalakkumulation“ auf dem Lande blieb in den postosmanischen Staaten – entge gen den Behauptungen der marxistischen Historiographie – im Ansatz stecken. Dies lag einerseits an den Gesetzen zum Schutz der bäuer lichen „Heimstätte“ (wie in Serbien und Bulgarien), 9 zum anderen Teil an der 8

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So schützte das serbische Bür gerliche Gesetzbuch von 1844, das eine gekürzte und stellenweise (im F amilienrecht) modifizierte Übersetzung des österreichischen BGG v on 1811 dar stellte, zwar einerseits den kollektiven Immobilienbesitz der Großfamilien, enthielt aber andererseits eine Fülle neuer Indi vidualrechte, die in einem Spannungsv erhältnis bzw. im Widerspruch zu den Kollektivrechten standen. Zur umstrittenen Entwicklung des Heimstättenschutzes vgl. J OWANOWITSCH, Kosta: Die Heimstätte oder die Unangreifbark eit des ländlichen Grundbesitzes. Tübingen 1908; M ILENOVITCH, A. : L’évolution historique de la propriété foncière en Serbie. P aris 1929 ; P ETROVIå, Jelenko: Okuçje ili zaštita zemljoradniãkog minimuma [Die Heimstätte oder der Schutz des bäuerlichen Existenzminimums]. Beograd 1930.

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Schwäche des landwirtschaftlichen Unternehmertums. Die zahlreichen Wucherer in den Balkanländern (ähnlich den Pächtern in Rumänien) saugten die Bauern zwar aus, trugen jedoch nichts zur Modernisierung der Landwirtschaft bei. Mit anderen Worten: Die postosmanischen Bodenreformen brachten freie Eigentümer herv or und leiteten eine erste Welle ethnischer Homogenisierung ein, aber die Steigerung der ländlichen Produkti vität, die K ommerzialisierung der Landwirtschaft und die Entwicklung eines Binnenmarkts brachten sie kaum voran. Das von der Landbevölkerung hoch gehaltene Ideal der Subsistenzwirtschaft wurde lediglich durch steuerlichen Druck ausgehöhlt, der die Bauern zwang, zumindest einen Teil ihrer Produktion zu vermarkten.10 Doch anders als in einer ge winnorientierten Marktwirtschaft schränkten sie ihre Marktakti vitäten bei hohen Preisen wieder ein (bzw . erhöhten ihren Konsum), während f allende Preise sie zur Ausweitung ihres Marktangebots zwangen. Das war nach den Gesetzen einer kapitalistischen Marktwirtschaft regelwidrig und wurde oft mit der „F aulheit“ der Bauern erklärt, die eben nur unter ökonomischem oder außerökonomischem Zwang bereit seien, ihren Arbeitseinsatz zu steigern.11 Aber ihr Verhalten war keineswegs „irrational“, da sich die wirtschaftliche Aktivität der Bauern nicht am Gewinnstreben, sondern an der Bedarfsdeckung orientierte.12 War der Bedarf befriedigt, machte der weitere Einsatz von Arbeit auch dann k einen Sinn, wenn die Ge winnaussichten gut w aren. Im Bedarfsdeckungsprinzip wirkte die in traditionellen bäuerlichen Gesellschaften v erbreitete Vorstellung vom „limited good“ nach: Irdische Güter sind durch Menschenhand nicht vermehrbar. Was einer gewinnt, muss folglich ein anderer verlieren.13 Wenn es sich bei den Verlierern um Mitglieder der eigenen Gemeinschaft handelt, wird der soziale Frieden gefährdet. Handelt es sich um Angehörige einer anderen Gemeinschaft (noch dazu einer Gemeinschaft, die als Bedrohung der eigenen w ahrgenommen wird), ist die Umv erteilung dagegen erwünscht. Eine win-win-Situation ist diesen Vorstellungen fremd. Die daraus resultierenden Beschränkungen zu überwinden, erforderte eine v eränderte Einstellung zur Arbeit und zu materiellen Gütern, die sich entweder aus religiösen Überzeugungen oder aus Lern- bzw. Adaptionsprozessen speisen konnte. Anders als bei jenen Bauern nördlich von Save und Donau, die nicht unter den Nachwirkungen der „ewigen Erbuntertänigkeit“ (der perpetua rusti10 Vgl. PALAIRET, Michael R.: Fiscal Pressure and Peasant Impoverishment in Serbia before World War I. In: Journal of Economic History 39 (1979), S. 719–740. Der Autor betont allerdings, dass die Landbevölkerung weniger vom Steuerdruck betroffen war als die städtische Bevölkerung. 11 Vgl. dazu P ALAIRET, Michael R.: The Balkan Economies c. 1800–1914. Evolution without development. Cambridge 1997, S. 111 f. 12 Zur Bedarfsdeckungswirtschaft vgl. TSCHAYANOFF, Alexander: Zur Frage einer Theorie der nichtkapitalistischen Wirtschaftssysteme. In: Archiv für Sozial wissenschaft und Sozialpolitik 51 (1924), S. 577–613; DERS.: Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft. Versuch einer Theorie der Familienwirtschaft im Landbau. Berlin 1923; M EDICK, Hans: Zur strukturellen Funktion von Haushalt und Familie im Übergang von der traditionellen Agrargesellschaft zum industriellen Kapitalismus. In: Werner CONZE (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart 1976, S. 262 f. 13 Vgl. FOSTER, George M.: Peasant Society and the Image of Limited Good. In: American Anthropologist 67 (1965), S. 293–315.

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citas) zu leiden hatten (z. B. bei den K olonisten), blieb die Bedarfsdeckungswirtschaft im Balkanraum noch in der Zwischenkriegszeit weit verbreitet.14 Die traditionellen f amiliären Or ganisationsformen (so z. B. die südsla wische Zadruga) und die Dorfgemeinschaften verloren im Zuge der modernen und zentralisierenden Staatsbildung ihre v ormalige Bedeutung, so dass sich die bäuerliche Lebenswelt grundlegend veränderte. Die rasche Transformation des institutionellen Umfelds eilte dem mentalen Wandel allerdings weit voraus (mit deutlichen Unterschieden zwischen dem Königreich Ungarn auf der einen, Rumänien und den Balkanländern auf der anderen Seite). Nur schwer konnten sich die Kleinbauern auf die neuen Herausforderungen – Be völkerungswachstum, Marktwirtschaft, Funktionsverlust der traditionellen bäuerlichen Institutionen und Aufwertung des Individuums – einstellen. Die unzureichende Versorgung der vormals abhängigen Bauern mit Land, das stark e natürliche Be völkerungswachstum und die weit v erbreitete Praxis der Realteilung nach Auflösung der Großfamilienverbände führten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu einer rasch fortschreitenden Parzellierung des Bodens und damit zur Pauperisierung großer Teile der Landbevölkerung. Dort, wo die postfeudale Ungleichverteilung des Bodens fortbestand, setzte eine weit verbreitete Unzufriedenheit ein, die sich v or dem Ersten Weltkrieg in v erschiedenen Bauernaufständen und 1918 in weit v erbreiteter sozialer Unrast artikulierte, be gleitet von fortschreitender Orientierungslosigkeit und wachsenden Existenzängsten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen kümmerten sich die politischen Eliten kaum um die konkreten Belange der Landbe völkerung, auch wenn sie diese parteipolitisch und ideologisch umwarben.15 Die Selbsthilfeorganisationen der Bauern (in Gestalt der Genossenschaften vom Raiffeisen-Typ) nahmen zw ar seit Ende des 19. Jahrhunderts rasch zu, konnten jedoch die bereits angestauten Probleme (Kapitalarmut,Absatzschwierigkeiten, veraltete Produktionsmethoden etc.) nicht mehr oder nur par tiell meistern, zumal sich auch die Genossenschaften häufig eher als nationale denn 14 Vgl. stellvertretend die Beobachtungen über das Leben in einem bulgarischen Dorf in der Nähe von Sofia aus den 1930er Jahren bei S ANDERS, Irwin T.: Balkan Village. Le xington 1949, S. 142 ff. 15 In den weltanschaulichen Richtungskämpfen zwischen „W estlern“ und „Antiwestlern“, zwischen Protagonisten der „Europäisierung“ und „Populisten“ spielten die Bauern als Referenzgröße eine wichtige Rolle. Obw ohl es eine Reihe v on Untersuchungen zum „Populismus“ in einzelnen Ländern gibt, stehen länderüber greifende Synthesen und Vergleiche noch aus. Zu den populistischen Bewegungen in einzelnen Ländern vgl. u.a. PESELJ, Branko M.: Peasantism. Its ideology and achievements. In: BLACK, Cyrill E. (Hg.): Challenge in Eastern Europe. Brunswick. Ne w Jerse y 1954, S. 109–131; I ONESCU, Ghita/G ELLNER, Ernest (Hgg.): Populism: Its meaning and national characteristics. London 1969; O REN, Nissan: Revolution Administered: Agrarianism and Communism in Bulgaria. Baltimore, London 1973; B ORBÁNDI, Gyula: Der ungarische Populismus. Mainz 1976; H ELD, Joseph (Hg.): Populism in Eastern Europe. Racism, Fascism and Society . New York 1996; M UDDE, Cas: In the Name of the Peasantry , the Proletariat, and the People: Populism in Eastern Europe. In: East European Politics and Societies 15 (2000) 2, S. 33–53; M ÜLLER, Dietmar: Agrarpopulismus in Rumänien. Programmatik und Regierungspraxis der Bauernpartei und der Nationalbäuerlichen P artei Rumäniens in der Zwischenkriegszeit. St. Augustin 2001; HITCHINS, Keith: A Rural Utopia: Virgil Madgearu and Peasantism. In: The Identity of Romania. Bucharest 2003.

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als soziale und wirtschaftliche Selbsthilfeor ganisationen verstanden (oder in diesem Sinne instrumentalisiert wurden).16 Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestanden 50–60 Prozent der ungarischen und 80–85 Prozent der rumänischen, serbischen und bulgarischen Bevölkerung aus Bauern. In Albanien war ihr Anteil höher, in Griechenland etw as niedriger (ca. 75 Prozent der Bevölkerung). Der durchschnittliche balkanische Bauer zur Jahrhundwende war ein Kleinlandwirt, der seine Parzellen mit den extensiven Methoden der Dreifelderwirtschaft (meist eingebunden in den Flurzwang der Dorfgemeinde) zum Zweck der f amiliären Bedarfsdeckung be wirtschaftete. Von einer betriebswirtschaftlichen Rationalisierung und Kapitalisierung konnte zumeist keine Rede sein. Die Geräteausstattung w ar e xtrem mangelhaft, die Marktbeziehungen blieben schwach. Und die Richtschnur des Arbeitseinsatzes war nach wie vor die Befriedigung der durch Herkommen und Brauch definierten und in der Regel sehr bescheidenen Bedürfnisse. 17 Viele Beobachter aus West- und Mitteleuropa verfolgten den Verfall der Großfamilien mit der ihnen eigenen Selbstgenügsamkeit, Solidarität und (patriarchalen) Egalität mit Unbehagen und Bedauern.18 In seiner Abhandlung über primitive F ormen des Eigentums schrieb der Belgier Émile de La veleye bereits 1874: I believe I have not exaggerated the merits of these family- communities, or drawn a flattering picture of the patriarchal life passed in them. A visit to the Slav districts lying to the south of the Danube will suffice to disclose the social or ganization e xactly as I have described it. The flourshing appearance of Bulgaria, the best cultivated of all Eastern countries, she ws decisively that the system is not anta gonistic to good cultivation of the soil. And yet this organization, in spite of its many advanta ges, is falling to ruin, and disappearing e verywhere that it comes into contact with modern ideas. The reason is, that these institutions ar e suited to the stationary condition of a primitive age; but cannot easily withstand the conditions of a society, in which men are striving to improve their own lot as well as the political and social organization under which they live. This craving to rise and to continually increase one’s means of enjoyment, by which the present age is excited, is incompatible with the existence of family associations, in whic h the destiny of eac h is fixed, and can vary b ut little from that of other men. Once the desire of self-aggrandisement awakened, man can no long er support the yoke of the zadruga, light though it be; he craves for movement, for action, for enterprise, at his own risk and his own peril. So long as disinter estedness, brotherly affection, submission to the family chief, and mutual toleration for the faults of others, preserve their empire, community of life is possible and agreeable even for the women; but, when these sentiments disappear, living together becomes a pur gatory, and each couple seeks to possess an independent home , to escape the community. The advantages of the zadruga, whate ver they may be , henceforth ar e out of consideration. To live according to his own will, to work for himself alone , to drink fr om his own cup, is now the end preeminently sought by every one. 16 Vgl. dazu (mit dem re gionalen Schwerpunkt auf Ostmitteleuropa) L ORENZ, Torsten (Hg.): Cooperatives in Ethnic Conflicts: Eastern Europe in the 19th and early 20th Century. Berlin 2006, ferner die entsprechenden Beiträge in: OBERLÄNDER, Erwin/LEMBERG, Hans/SUNDHAUSSEN, Holm (Hgg.): Genossenschaften in Osteuropa. Alternative zur Planwirtschaft? Wiesbaden 1993. 17 Der belgische Ökonom Émile de Laveleye hat in seiner Beschreibung der Balkanländer immer wieder Ver- und be wundernd auf die Bedürfnislosigk eit der Bauern hinge wiesen. L AVELEYE, Emil v.: Die Balkanländer. 2 Bde. Leipzig 1888. 18 Vgl. stellvertretend K ANITZ, Felix : Serbien. Historisch-ethnographische Reisestudien aus den Jahren 1859–1868. Leipzig 1868, S. 83 f.

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Without faith, religious communities could not survive . So, too, if family feeling is weak ened, the zadruga must disappear. I know not whether the nations, who have lived tr anquilly under the shelter of these patriarchal institutions, will ever arrive at a happier or mor e brilliant destiny; but this muc h appears inevitable, that the y will desir e, with Adam in Paradise Lost, to enter on a new career, and to taste the charm of independent life, despite its perils and responsibilities. In my opinion, the economist will not see these institutions disappear without r egret.19

Angesichts unzureichender Betriebsgrößen, mangelndem Kno w-how und Kapital endete der „Charme“ eines indi viduell gestalteten Lebens für viele in Armut. Im Falle von Missernten reichte die eigene Produktion häufig nicht mehr zur Subsistenzsicherung aus. Und die Rückzahlung von Schulden war unter diesen Umständen kaum möglich. Das v on dem englischen Reisenden Herbert Vivian Ende des 19. Jahrhunderts noch als „The Poor Man’s Paradise“ idealisierte Serbien wies bereits alle Merkmale eines „Lost Paradise“ auf.20

3. Agrarreformen nach dem Ersten Weltkrieg Nach dem Ersten Weltkrieg kam es in allen südosteuropäischen Staaten (mit Ausnahme Albaniens) zu Bodenreformen. Ihr Ziel war die Abschaffung oder Beschränkung des Großgrundbesitzes zur Versorgung der landarmen oder landlosen Agrarbevölkerung mit eigenem Boden so wie die „Sicherung gefährdeten Volkstumsbodens“. Auslöser waren endogene soziale Unruhen, die durch die Entbehrungen des Weltkriegs verschärft worden waren, sowie die Ausstrahlung der Oktoberrevolution in Russland. Unter dem Eindruck der russischen Ereignisse von 1917 sahen sich die südosteuropäischen Regierungen gezwungen, die gärende soziale Unruhe auf dem Lande durch eine Umverteilung des Bodens und dieAuflösung überkommener Teilbau- und Pachtverhältnisse einzudämmen. Der Druck zur Umgestaltung der ländlichen Besitzverhältnisse wurde durch die Unterbringung von Flüchtlingen, Vertriebenen und Optanten (z.B. in Griechenland, Bulgarien und Ungarn) oder dieVersorgung von Kriegsveteranen mit Grund und Boden (v or allem in Jugosla wien) verschärft.21 Wo sich der Großgrundbesitz in den Händen von Personen oder Institutionen befand, die nicht der je weiligen Titularnation angehörten, wurde die Umv erteilung des Bodens auch zur Stärkung der letzteren (mittels nationaler „K olonisation“) bzw. zur wirtschaftlichen Schwächung der ethnischen Minderheiten (z. B. 19 L

AVELEYE, Émile de: De la proprieté et de ses formes primiti ves. Paris 1874, hier zit. nach der englischen Übersetzung: Primiti ve Property. London 1878, Kap. XIV : F amily Communities among the Southern Sla ves. In: http://socserv .mcmaster.ca/econ/ugcm/3ll3/laveleye/contents. html, chapter 14. 20 V IVIAN, Herbert: Servia, The Poor Man’s Paradise. London 1897. 21 Im Jahrzehnt zwischen den Balkankriegen 1912/13 und dem griechisch-türkischen Vertrag von Lausanne 1923 kam es zu einem ersten Höhepunkt in der Politik ethnisch moti vierter Vertreibungen. Insgesamt davon betroffen waren schätzungsweise drei Millionen Menschen (v or allem Griechen, „Türken“/Muslime, Bulgaren und Mak edonier). Vgl. S UNDHAUSSEN, Holm: Bevölkerungsverschiebungen in Südosteuropa seit der Nationalstaatswerdung (19./20. Jahrhundert). In: Comparativ 6 (1996) 1, S. 25–40.

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der Russen in Bessarabien, der Polen in der Bukowina, der Ungarn und Deutschen in Siebenbürgen, Kroatien-Slawonien oder der Wojwodina, der Albaner in Kosovo etc.) genutzt. Die Ansiedlung der griechischen Kleinasienflüchtlinge in ÄgäischMakedonien und die Zwangsaussiedlung der dort lebenden Muslime in die Türkei aufgrund des Vertrags von Lausanne stellte einen e xtremen Sonderfall der Bodenumverteilung dar.22 Die Reformen wurden in allen Ländern unmittelbar bei oder nach Kriegsende eingeleitet, danach wiederholt modifiziert und zogen sich mit ihren F olgewirkungen (vor allem den Entschädigungszahlungen) über die gesamte Zwischenkriegszeit hin. Bis Ende der Zwanzigerjahre wurden in Rumänien rund 6 Millionen ha, in Jugosla wien 2 Millionen, in Griechenland 1,3 Millionen (unter Einbeziehung der folgenden Jahre 1,7 Millionen), in Ungarn 0,7 und in Bulgarien 0,2 Millionen ha von den Bodenreformen erfasst. Begünstigt waren rund 2 Millionen Kleinbauern, Teilpächter, Tagelöhner, Flüchtlinge und Kriegsveteranen mit ihren Familien. Von der Umv erteilung besonders betrof fen waren jene Gebiete, in denen sich latifundistische (postfeudale) Besitzstrukturen über die Bauernbefreiung im 19. Jahrhundert hinaus erhalten hatten (insbesondere in Ungarn, in Kroatien-Slawonien, in der Wojwodina, in Dalmatien, in Siebenbür gen, im rumänischen Altreich/Regat und in Bessarabien) so wie jene Re gionen, die noch Reste der osmanischen Agrarverfassung aufwiesen (wie Bosnien-Herzegowina, Makedonien oder Kosovo). In den balkanslawischen Ländern und in Griechenland spielte der Großgrundbesitz (über 100 ha) fortan k eine prägende Rolle mehr , sofern er nicht schon v or dem Ersten Weltkrieg bedeutungslos gewesen war, wie in Serbien und Bulgarien. Auch in Rumänien schrumpfte der Umfang des früheren adligen Großgrundbesitzes drastisch (auf 10,4 Prozent der Ackerfläche) zusammen. In Ungarn dage gen er streckten sich die großen Besitzungen Anfang der 30er Jahre noch immer über 41 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche. (Die in Albanien 1930 beschlossene Agrarreform, die eine teil weise Enteignung des Großgrundbesitzes v orgesehen hatte, blieb weitgehend auf dem P apier.) Der Gini-K oeffizient zur Messung der Konzentration des Bodenbesitzes betrug in den 30er Jahren für Ungarn 0.76, für Rumänien 0.59, für Jugoslawien 0.47 und für Bulgarien 0.39. Das heißt: in Ungarn war die Konzentration bzw. Ungleichverteilung des Bodenbesitzes (mit einem Koeffizienten v on 0.76) v erhältnismäßig stark, in Bulgarien (mit 0.39) dage gen schwach ausgeprägt. Die Bodenreformen nach dem Ersten Weltkrieg stellten einen tiefen Einschnitt in der Agrargeschichte der Balkanländer dar . Ök onomische und utilitaristische Überlegungen spielten dabei praktisch k einerlei Rolle (ähnlich wie bei den ersten postosmanischen Reformen). Im Vordergrund standen soziale und ethnonationale Kriterien. Die sozialrevolutionären Spannungen auf dem Lande wurden vorübergehend entschärft, überlebte Agrarstrukturen (wie das K olonat in Dalmatien, das 22 Vgl. u. a. LEHMANN, Herbert: Zur Flüchtlingsansiedlung in Griechenland. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde 1929, S. 113–122; DEIMEZIS, A.: Situation sociale crée en Gréce à la suite de l’échange de population. Paris 1927; KONTOGIORGI, Elisabeth: Population Exchange in Greek Macedonia: The Rural Settlement of Refugees 1922–1930. Clarendon Press 2006.

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Kmetenverhältnis in Bosnien-Herzegowina, die Teilpachtverhältnisse in Griechenland und Rumänien oder die Reste des Tschiftlik-Systems in den letzten europäischen Provinzen des Osmanischen Reiches) v erschwanden. Aber diese Maßnahmen gingen nicht mit ökonomischen Reformen Hand in Hand, und der v erfügbare Boden reichte bei weitem nicht aus, um die ständig w achsende Landbevölkerung mit entwicklungsfähigen Besitzgrößen auszustatten. Zeitgenössische Beobachter hielten eine Hofgröße v on 5–15 ha für notwendig, um unter den ge gebenen (d. h. vorwiegend extensiven) Produktionsmethoden die Versorgung einer Familie sicherzustellen. Demgegenüber verfügten in Rumänien und Jugosla wien drei Viertel, in Bulgarien etwa zwei Drittel aller ländlichen F amilien über Besitzungen mit weniger als 5 ha (die sich häufig auf eine Vielzahl weit gestreuter Parzellen verteilten). In Ungarn blieben die krassen Besitzunterschiede auch nach der Bodenreform er halten: den Latifundienbesitzern standen die oft zitierten „drei Millionen Bettler“ gegenüber, die über kein eigenes Land oder allenfalls über Zwergbetriebe verfügten. Keine der südosteuropäischen Regierungen sah sich in der Lage, die Umstrukturierung der Besitzverhältnisse, die vor allem sozialen und nationalpolitischen Zielen diente, mit einer grundlegenden Agrarmodernisierung (Flurbereinigung, Verbesserung des ländlichen Kredits, Förderung der Genossenschaften, Heb ung des bäuerlichen Kompetenzniveaus etc.) breitenwirksam zu v erbinden. Im Unterschied zu den sozialen wurden die ök onomischen Konsequenzen der Bodenreformen bereits von zeitgenössischen Beobachtern daher zumeist skeptisch bis negativ beurteilt, vor allem dort, w o (wie z. B. in den ehemals habsb urgischen Gebieten) k ommerzialisierte Großbetriebe von der Aufteilung betroffen waren (was zu einer Abnahme des landwirtschaftlichen Gesamtertrags, zu einem partiellen Rückgang der Produktivität und zur Steigerung des bäuerlichen Eigenk onsums führte). Auch die national motivierte „Kolonisation“ (im Sinne einer Blut-und-Boden-Ideologie) wurde häufig dilettantisch ausgeführt und erwies sich als ök onomisches Desaster. Geradezu exemplarischen Charakter hatte die „Kolonisation“ in Kosovo. Zwar wurden dort in den 20er und 30er Jahren rund 11.000 serbische F amilien als Kolonisten angesiedelt.23 Doch trotz der euphorischen Schilderungen des für das K olonisationsprogramm zuständigen Djordje Krstiç gelang es nicht, den „gefährdeten Volkstumsboden“ für die serbische Nation zu sichern. 24 Und v on „blühenden Landschaften“ konnte ohnehin keine Rede sein. Von einer Lösung der „Agrarfrage“ war man weiter entfernt als je zuvor. Da der sekundäre Sektor nicht schnell genug wuchs, um den Arbeitskräfteüberschuss auf dem Lande zu absorbieren und die Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion weit hinter den Erfordernissen zurückblieb, nahm die „Übervölk erung“ auf dem Lande ge gen Ende der Zwischenkrie gszeit dramatische Ausmaße an. Nach unterschiedlichen Berechnungen w aren in der südosteuropäischen Landwirtschaft Anfang der 30er Jahre v on insgesamt rund 36 Millionen Menschen, die v on der Agrarwirtschaft lebten, zwischen 10 und 18 Millionen „überflüssig“. Gemäß der 23 V

ICKERS, Miranda: Between Serb and Albanian. A History of Kosovo. London 1998, S. 105 ff.; ausführlich O BRADOVIå, Milo van: Agrarna reforma i k olonizacija na K osovu (1918–1941) [Agrarreform und Kolonisation im Kosovo (1918–1941)]. Priština 1981. 24 Vgl. KRISTIå, Djordje: The Colonisation of Southern Serbia. Sarajevo 1928.

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ungünstigsten Berechnungsmethode belief sich der Arbeitskräfteüberschuss in Albanien auf fast 78 Prozent, in Jugoslawien auf 62 Prozent, in Bulgarien und Rumänien auf 51–53 Prozent so wie in Ungarn auf über 22 Prozent der Landbe völkerung.25 Das heißt: die tatsächlich erzielte Menge anAgrarprodukten hätte mit 10–18 Millionen weniger Arbeitskräften erwirtschaftet werden können. Die im 19. Jahrhundert eingeleitete Umstrukturierung der bäuerlichen Lebenswelt und der Landwirtschaft endete damit vollends in einer Sackgasse.

4. Ursachen der Entwicklungsblockade im Agrarsektor Trotz – oder we gen? – wiederholter Reformen seit Ende des 18. Jahrhunderts war es also nicht gelungen, das Entwicklungsgefälle in der agrarischen Produkti vität von West- nach Ost- bzw. von Nordwest- nach Südosteuropa zu beseitigen.26 Dieser Umstand wog umso schwerer, als bis weit ins 20. Jahrhundert hinein stellenweise bis zu 80 Prozent der Be völkerung Südosteuropas v on der Landwirtschaft lebten und der Großteil der Exporte aus dem agrarischen Sektor stammte. Im Balkanraum ist eine „primäre Kapitalakkumulation“ auf dem Lande weitgehend oder gänzlich ausgeblieben, obwohl sie theoretisch möglich gewesen wäre, vor allem in der Zeit zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Ersten Weltkrieg, d. h. bevor die überseeischen Agrarexporteure mit Macht auf den europäischen Markt drängten und bevor die Weltwirtschaftskrise Anfang der Dreißigerjahre Jahre die südosteuropäischen Agrarländer und die Masse der dortigen Bauern an den Rand des Ruins bzw. in den Ruin stürzte. Auch von Kapitalismus oder Agrarkapitalismus vor dem Zweiten Weltkrieg kann – wenn überhaupt – nur in einem eingeschränkten Sinn gesprochen werden. In den Balkanländern und Rumänien haben wir es bis zum Ende der Zwischenkriegszeit mit einer Mischung aus Vorkapitalismus und Frühkapitalismus zu tun. Zw ar drangen seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kapitalistische Elemente auch in den Agrarsektor ein, aber – um mit Werner Sombart zu sprechen – eine Schw albe macht noch k einen Sommer, gilt auch hier. Mit anderen Worten: Es gab weder eine Kapitalakkumulation auf dem Lande noch eine breitenwirksame Implementierung der kapitalistischen Marktwirtschaft im Agrarsektor. Ländliche Lohnarbeit blieb südlich der Donau eine Ausnahmeerscheinung. Und die Produktivität stieg entweder gar nicht oder nur allzu langsam. 25 Zu den v erschiedenen Berechnungsmethoden vgl. u. a. M OORE, Wilbert E.: Economic Demography of Eastern and Southern Europe. Gene va 1945, S. 56 ff. und S. 197 ff. (Appendix II, Tabelle 1). Ferner: International Institute of Agriculture: Population and Agriculture, with Special Reference to Agricultural Overpopulation. Geneva 1939 (= Technical Documentation for League of Nations, European Conference on Rural Life, 1939, Publications. 3); WAGEMANN, Ernst: Menschenzahl und Völkerschicksal. Eine Lehre von den optimalen Dimensionen gesellschaftlicher Gebilde. Hamb urg 1948, S. 44 ff.; N IEHAUS, Heinrich.: Über das Verhältnis v on Mensch und Boden in entwick elten und unterentwick elten Ländern. In: Agrarwirtschaft und Agrarpolitik. Hg. Eberhard GERHARDT/Paul KUHLMANN. Köln, Berlin 1969, S. 326 ff. 26 Vgl. dazu auch SENGHAAS, Dieter: Von Europa lernen. Entwicklungsgeschichtliche Betrachtungen. Frankfurt am Main 1982.

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Ungeachtet aller Daten- und methodischen Probleme lassen sich einige Langzeitindikatoren rekonstruieren. Die im Auftrag des Völkerbunds angefertigte Untersuchung von Wilbert Moore „Economic Demography of Eastern and Southern Europe“ enthält u. a. die wichtigsten Kennziffern zur Bestimmung des landwirtschaftlichen Entwicklungsniveaus in Südosteuropa am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Diese mit viel Quellenmaterial belegten Ziffern sollen hier nicht im Detail wiederholt werden. Stattdessen möchte ich am Beispiel Jugoslawiens und Serbiens in aller Kürze einige längerfristige Trends verdeutlichen, die in ähnlicher Form auch für die anderen Balkanländer und Rumänien gelten. So nahm z. B. in den dreißig Jahren zwischen 1926 und 1956 das in der jugoslawischen Landwirtschaft erwirtschaftete Volkseinkommen durchschnittlich um weniger als 1 Prozent im Jahr zu (genau um 0,89 Prozent). Dabei blieben die Kriegsjahre unberücksichtigt, da sie das Ergebnis weiter nach unter gedrückt hätten. Der Preisv erfall während der Weltwirtschaftskrise wurde durch die Verwendung konstanter Preise aus dem Jahr 1938 eliminiert. Um darüber hinaus auch witterungsbedingte und saisonale Einflüsse ausschalten zu können, erfolgte die Berechnung der Zuw achsraten unter Zugrundele gung des Trendverlaufs. Ein Wachstum also von weniger als 1 Prozent – bei einem ohnehin sehr niedrigen Ausgangsniveau! Stellt man die Bevölkerungsvermehrung während dieser dreißig Jahre in Rechnung, so wird aus dem bescheidenen Wachstum ein Schrumpfungsprozess (und zw ar v on durchschnittlich -0,5 Prozent im Jahr)! Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt man, wenn man statt derVolkseinkommensrechnung die Bruttoproduktion in der Landwirtschaft (abzüglich der Reproduktionsmittel) für die Jahre 1929–1939 und 1946–1955 untersucht. Auch in diesem Fall errechnet sich eine langfristige Schrumpfungsrate von -0,4 Prozent (wobei das Bevölkerungswachstum noch nicht berücksichtigt ist).27 Mitte der 1950er Jahre lag die Agrarproduktion im früheren Jugoslawien – gemessen an den Hektarerträgen der wichtigsten K ulturen – nicht nur unter dem Durchschnitt der 1930er Jahre, sondern auch noch weit unter den für 1897 in Serbien registrierten Werten. Allerdings sind die Angaben für 1897 aller Wahrscheinlichkeit nach überhöht, selbst wenn es sich um ein e xzeptionell günstiges Jahr gehandelt haben sollte. Zieht man die Daten aus anderen Jahren heran, die im F alle Serbiens vereinzelt bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichen, so ergibt sich – bei aller Unzuverlässigkeit der Landwirtschaftsstatistik – eine durchschnittliche jährliche Produktivitätssteigerung v on mit Sicherheit unter 1 Prozent während eines vollen Jahrhunderts, – ein säkulares Nullwac hstum, das signifikant hinter den Wachstumsraten der Be völkerung zurückblieb .28 Ähnlich lauten die Er gebnisse, 27 Zu Details und Quellen vgl. S UNDHAUSSEN, Holm: Die v erpasste Agrarrevolution. Aspekte der Entwicklungsblockade in den Balkanländern vor 1945. In: SCHÖNFELD, Roland (Hg.): Industrialisierung und gesellschaftlicher Wandel in Südosteuropa. München 1989, S. 45–60, insbes. S. 46–48. 28 Im Unterschied zu anderen Balkanländern v erfügen wir für die Landwirtschaft Serbiens seit den 1860er Jahren über große Datenmengen, die ungeachtet aller Methodenprobleme im Einzelnen eine näherungsweise Langzeitberechnung ermöglichen. Zum statistischen Material und seiner Qualität vgl. S UNDHAUSSEN, Holm: Historische Statistik Serbiens 1834–1914. Mit europäischen Vergleichsdaten. München 1989, S. 193 ff.

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wenn man die Agrarproduktivität pro K opf der Landbe völkerung berechnet. Die deutlich unter 1 Prozent liegende Steigerung der Arbeitsproduktivität im jugoslawischen Raum steht im krassen Ge gensatz zu den Veränderungsraten in den höher entwickelten Ländern. So stieg z. B. die Arbeitsproduktivität in der amerikanischen Landwirtschaft zwischen 1869 und 1937 um über 2 Prozent jährlich, ähnlich wie in Dänemark oder Schweden. Freilich sind die Werte für Jugoslawien Durchschnittswerte, hinter denen sich stark e regionale Disparitäten v erbergen. In den ehemals habsburgischen Kolonisationsgebieten (z. B. in der Wojwodina) lag die Produktivität der „schwäbischen“ Bauernwirtschaften (mit moderneren Bewirtschaftungsmethoden, Anerbenrecht und Ge winnorientierung) weit über dem jugosla wischen Durchschnitt (ebenso in Slowenien), während die Ergebnisse für Kosovo, Makedonien und Bosnien deutlich darunter blieben. In den meisten Balkanländern, für die entsprechende Daten vorliegen, sank der Wert der landwirtschaftlichen Pro-K opf-Produktion (in k onstanten Preisen v on 1910) zwischen dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und dem Be ginn des Ersten Weltkrieges zum Teil dramatisch: In Bulgarien v on 223,4 (1865) auf 135,0 Francs (1914), in Serbien v on 170,3 (1865) auf 120,3 (1912) und in Montene gro von 167,6 (1868) auf 130,4 (1912). Nur in Bosnien war ein Anstieg zu verzeichnen von 93,4 (1882) auf 106,3 Francs (1914). Zw ar schwankten die Werte von Jahr zu Jahr erheblich, aber der längerfristige Abwärtstrend für Bulgarien, Serbien und Montenegro ist unverkennbar.29 Wie ist das Scheitern der Agrarmodernisierung in den Balkanländern und Rumänien (für das historische Ungarn und Slowenien ergibt sich ein sehr viel differenzierteres Bild) zu erklären? Wenn v on den agrarischen Binnenstrukturen in den Balkanländern vor und nach 1918 die Rede ist, wird (neben Kapitalmangel) zumeist auf die Bodenzersplitterung bzw . auf ländliche Übervölk erung als Ursache für die Entwicklungsblockade im agrarischen Sektor hinge wiesen. Dieser Ansatz beruht auf einem gedanklichen Zirk elschluss. Ländliche Übervölk erung v ermag Rückständigkeit nicht zu erklären, sondern ist eine F olge bzw. Erscheinungsform von Rückständigkeit.30 Sie ist keine unabwendbare Konsequenz einer wachsenden Bevölkerung, wie Malthus befürchtet hatte, sondern Ausdruck eines Missv erhältnisses zwischen dem Wachstum der Bevölkerung auf der einen und dem Wachstum an wirtschaftlicher Produktivität und gesellschaftlicher Kompetenz auf der anderen Seite. Das heißt: die sich öffnende Schere zwischen beiden Wachstumskurven stellt 29 P ALAIRET, Michael R.: The Balkan economies c. 1800–1914. Cambridge 1997, S. 366 f. 30 Für postmoderne Historik erinnen und Historik er ist das Wort „Rückständigkeit“ ein Unw ort. Deshalb sei daran erinnern, dass Rückständigk eit ein relationaler Be griff ist. Eine selbstreferenzielle Rückständigkeit gibt es nicht. Rückständigkeit bezeichnet die Kluft zwischen Ist- und Sollzustand. Wo beide deckungsgleich sind bzw. wo der Istzustand dem Sollzustand entspricht, kann es logischerweise keine Rückständigkeit geben. Eine Gesellschaft, die sich am ökonomischen Subsistenz- bzw . Bedarfsdeckungsprinzip orientiert, ist nicht rückständig, solange der Bedarf gedeckt werden kann. Von Rückständigkeit kann in diesem F all erst dann gesprochen werden, wenn 1. der Bedarf nicht mehr gedeckt werden kann, 2. wenn aus der Gesellschaft heraus ein neuer Sollzustand definiert wird, der eine deutliche Diskrepanz zum Istzustand markiert, oder wenn 3. ein Sollzustand normati v (häufig von Außenstehenden) gesetzt wird. Über die „Zulässigkeit“ der dritten Variante kann man zu Recht geteilter Meinung sein.

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das explanandum dar. Ist das Stadium der Übervölkerung allerdings einmal erreicht, so wirkt sich die relative Bodenknappheit (oft verbunden mit starker Parzellierung der Höfe) kumulativ erschwerend auf die Überwindung der Entwicklungsblockade aus. Ich möchte das noch einmal am Beispiel Serbiens v erdeutlichen. Als Serbien 1830 innere Autonomie erhielt, war das Land mit durchschnittlich 17,9 Einwohnern pro qkm (1834) – gemessen an den natürlichen Produktionsbedingungen – eher dünn besiedelt. Einer der namhaftesten serbischen Nationalökonomen des 19. Jahrhunderts, Vladimir Jovanoviç, machte noch in einer 1858 erschienenen Schrift die Defizite beim Produktionsfaktor Arbeit für das Zurückbleiben der serbischen Landwirtschaft verantwortlich. „Wenn die Prosperität der serbischen Landwirtschaft allein von der natürlichen Fruchtbark eit des Bodens abhinge, könnte sie [die Landwirtschaft] als unerschöpfliche Quelle des Wohlstands und der Stärk e unseres Vaterlands dienen, auch wenn dieses nicht nur eine, sondern sechs Millionen Einwohner zählen würde.“ 31 Die Defizite führte Jovanoviç auf die zu geringe Menschenzahl, eine niedrige Arbeitsmotivation und die Ungeschicklichk eit bzw. Unwissenheit der Bauern zurück. Die Bedürfnisse seien niedrig, die Lebensweise einseitig und der Ansporn zur Arbeit gering: „Denn – natürlich – wer wenig nachdenkt, wünscht wenig; und wer wenig wünscht, arbeitet wenig.“ 32 Und sofern der ser bische Landwirt etwas spare, lege er das Ersparte nicht als Kapital an, sondern horte es. Eine Last besonderer Art seien die Unkenntnisse der Bauern: „Bei uns herrscht die Meinung v or, dass die Landwirtschaft eine simple Arbeit sei, die nur mechanisch erlernt und von Generation zu Generation weitergegeben werde.“33 Dank der Einw anderungswelle nach Serbien und einer für das ganze östliche Europa charakteristischen hohen Heirats- und Geb urtenhäufigkeit wurde in den nachfolgenden Jahrzehnten (besonders dynamisch im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts) – ungeachtet anhaltend hoher Sterblichk eit – ein bedeutender Be völkerungszuwachs erzielt, so dass sich die „land/labor ratio“ grundle gend veränderte. 1910 kamen in Serbien auf einen Quadratkilometer bereits im Durchschnitt 60,3 Einwohner (in Altrumänien waren es 55,0, in Griechenland und Bulgarien zwischen 41,6 und 45,0; dage gen in den Niederlanden 171,4 so wie in England und Wales 238,7 Einwohner). Ob Serbien und die balkanischen Nachbarstaaten bei Beginn des Ersten Weltkriegs übervölkert waren oder nicht, lässt sich nicht eindeutig entscheiden.34 Der Bevölkerungsdruck hatte jedenfalls deutlich zugenommen, und (theoretisch) konnte er entweder als Stimulanz (Herausforderung) oder als Hindernis für die weitere wirtschaftliche Entwicklung fungieren. Dass er zum Hindernis wurde,

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OVANOVIå, Vladimir: Uzroci nazadka i uslovi napredka poljske privrede u Srbii [Die Ursachen des Zurückbleibens und die Bedingungen für den F ortschritt der Landwirtschaft in Serbien]. Beograd 1858, S. 6. 32 Ebda., S. 8. 33 Ebda., S. 19. 34 Setzt man die Betriebsgrößen in Relation zu den praktizierten (e xtensiven) Bewirtschaftungsmethoden, so w ar die Bodenknappheit of fensichtlich. Wenn dage gen intensive Bewirtschaftungsmethoden angewandt worden wären, wäre der Befund weniger eindeutig.

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ist unbestritten, aber warum er zum Hindernis wurde, ist wenig untersucht w orden. Generell gehört die Geschichte der Landbevölkerung und der Landwirtschaft in Südosteuropa zu den Defiziten in der Geschichtsschreibung. Zwar existiert zu einzelnen Teilbereichen dieses Themenfelds eine Fülle v on Literatur , etw a zu den Agrarreformen, zum Genossenschaftswesen oder zu den Bauernparteien, aber eine synthetische Geschichte der Bauern und der Landwirtschaft im 19./20.Jahrhundert, in der Wirtschafts-, Gesellschafts-, Kultur- und Politikgeschichte miteinander v erknüpft sind, steht bislang aus. Obwohl „die“ Bauern sowohl von rechten wie linken Populisten gern als der „ursprünglichste“ und „authentischste“ Teil ihres „Volkes“ verherrlicht wurden, blieb sowohl die Geschichte des Agrarismus35 wie der Landwirtschaft ein Torso, der noch dazu oft ideologisch überfrachtet w ar. Die Versuche marxistischer Historiker, die Entwicklung der balkanischen Landwirtschaft in das Prokrustesbett von Marx’ Abfolgeschema zu pressen und lediglich eine zeitliche Verzögerung gegenüber den Entwicklungen in Westeuropa zu konzedieren, nahmen mitunter skurrile F ormen an. 36 Aber auch nicht-marxistische Historik er, die das Wirtschaftsverhalten v orkapitalistischer Bauern nach den Maßstäben des „homo oeconomicus“ beurteilten und sich über das „irrationale“ Verhalten der Bauern verwunderten, trugen wenig zur Klärung der Lage bei. Bauern und Landwirtschaft waren stets in hohem Maße ideologisiert. Die einen w ollten das überk ommende Landleben bewahren, die anderen überwinden, aber nur wenige w ollten es entwickeln. Den einen diente das Land als Refugium und Bastion ge gen die als Bedrohung und Entfremdung empfundene „Modernisierung“ und „Europäisierung“, den anderen als Sprungbrett in die Industrialisierung und den „Fortschritt“. Versucht man die Gründe für die Agrarblockade auf eine möglichst einf ache Formel zu bringen, so könnte man sagen: Gescheitert ist der Übergang von der extensiven zur intensiven Wirtschaftsweise37 (ein Befund, der sich in den Jahrzehnten des Realsozialismus noch einmal wiederholen sollte). Aber warum ist er geschei35 Ein an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder verankertes Forschungsprojekt über „Agrarismus in Ostmitteleuropa 1890–1960“, das 2007 seine Tätigkeit aufgenommen hat, soll dazu beitragen, diese Forschungslücke zu schließen. Agrarismus wird in der Projektskizze als Ideologie definiert, „die die Landwirtschaft als die entscheidende Produktionssphäre und die Dorfgemeinschaft als die Zelle der gesellschaftlichen und staatlichen Struktur ansieht. Sie konnte sich in den Agrargesellschaften des östlichen Europa dauerhaft und nachhaltig entfalten und prägte sowohl die Wirtschaftskultur als auch die Ideologien und die politischen Strömungen der Region in besonderem Maße.“ 36 Zwar hat es Expropriationen gegeben, aber sie führten nicht zur Entstehung eines nennenswerten Großgrundbesitzes. Die Rolle der Großgrundbesitzer fiel in diesen Erklärungsmodellen den Wucherern zu, obw ohl diese k einen Prozess „primärer Kapitalakkumulation“ einleiteten. Zu dieser widersinnigen Argumentation vgl. VUâO, Nikola: Položaj seljaštva. 1. Ekspropriacija od zemlje u 19 veku. [Die Lage der Bauern. 1. Die Expropriation des Bodens im 19. Jahrhundert] Beograd 1955. 37 Vgl. LAMPE, John R.; JACKSON, Marvin R.: Balkan Economic History, 1550–1950. From Imperial Borderlands to Developing Nations. Bloomington 1982, S. 183: „The intensive crop cultivation and stockraising that might have added value to agricultural exports and freed labor for industrial employment, as occurred in Dualist Hungary, failed to materialize in any of the prewar Balkan states.“

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tert? Anders als beim zweiten, spielte beim ersten Scheitern der Mangel an Kompetenz (das Defizit an Humankapital) eine ausschlaggebende Rolle. Im Rechenschaftsbericht der Landwirtschaftsabteilung des serbischen Volkswirtschaftsministeriums für das Jahr 1907 lesen wir: „V on der Landwirtschaft haben unsere Bauern (v on wenigen Ausnahmen abgesehen) nicht die geringste Ahnung.“38 Das war keine vereinzelte (oder gar abwegige) Behauptung. Ähnliche Klagen (oft verbunden mit Beschwerden über mangelnde Arbeitswilligkeit) finden sich in zahlreichen Berichten vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Zwischenkriegszeit. Die verfügbaren statistischen Daten über den Schulbesuch und den Alphabetisierungsprozess der Landbevölkerung in den Balkanländern verstärken diesen Befund. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte die Masse der Landbe völkerung in den Balkanländern weder lesen noch schreiben. In Albanien, Bosnien-Herzegowina, Makedonien, Kosovo, Montenegro, in Serbien und Altrumänien war ihr Anteil besonders hoch. In Bulgarien und Griechenland etw as niedriger, aber immer noch zu hoch. 39 Zwar ist Alphabetisierung nicht automatisch mit einem Zuw achs an praktischer (landwirtschaftlicher) Kompetenz verbunden (schon gar nicht dort, wo in den Schulen vornehmlich praxisfernes Wissen vermittelt wird), aber zum einen besteht eine enge Korrelation zwischen Alphabetisierungsgrad und steigender landwirtschaftlicher Produktivität (wie sich an Beispielen aus dem historischen Ungarn, aus Slowenien oder vereinzelten Subregionen im Balkanraum zeigen lässt).40 Zum anderen ist die Verbreitung v on Elementarwissen in Zeiten raschen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels eine mittelfristig unverzichtbare Voraussetzung, um die Menschen fit zu machen für den Wandel.41 Die Bauern in Westeuropa hatten Jahrhunderte Zeit gehabt, sich auf die K ommerzialisierung der Landwirtschaft einzustellen – auch wenn sie dabei Analphabeten geblieben w aren. Die Bauern in den Balkanländern hatten dazu nur wenige Jahrzehnte Zeit, bevor die überseeische Konkurrenz und die Weltwirtschaftskrise über sie hereinbrachen. Doch auf der Agenda der politischen Eliten in den Balkanländern und Rumänien rangierte die Anhebung des bäuerlichen Bildungsniveaus auf einem der hintersten Plätze. Das rächte sich, – spätestens in der Zwischenkriegszeit.

38 Izvještaji podneseni Ministru narodne pri vrede o dosadašnjem radu na unapredjenju doma e privrede i merama za dalji rad u tome pra vcu [Berichte an den Minister für Volkswirtschaft über die bisherige Arbeit zur Beförderung der heimischen Wirtschaft und weitere Maßnahmen]. Beograd 1907/1908, S. 75. 39 Vgl. SUNDHAUSSEN, Holm: Alphabetisierung und Wirtschaftswachstum in den Balkanländern in historisch-komparativer Perspekti ve. In: Norbert R EITER/Holm S UNDHAUSSEN (Hgg.): Allgemeinbildung als Modernisierungsfaktor. Berlin 1994, S. 21–36. 40 Interessant ist der F all der nordwestb ulgarischen Re gion von T™rnovo mit einem intensi ven Gartenbau und vergleichsweise hoher Alphabetisierung der Bauern bzw. Gärtner. Vgl. P ALAIRET 1997 (wie Anm. 22), S. 315. 41 Zum Zusammenhang v on Alphabetisierung und Wirtschaftswachstum vgl. die nach wie v or anregende Arbeit von CIPOLLA, Carlo: Literacy and Development in the West. Baltimore 1969.

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5. Bodenreformen und Kollektivierungsmaßnahmen nach dem Zweiten Weltkrieg In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich die Lage der Landbevölkerung noch einmal dramatisch. Nach Abschluss des Krie ges kam es in allen südosteuropäischen Ländern zu einer neuen Welle von Bodenreformen. Betroffen waren die v erbliebenen Großgrundbesitzungen, das Eigentum v on tatsächlichen oder vermeintlichen Kriegsverbrechern und K ollaborateuren, der Landbesitz v on ausgesiedelten, geflohenen oder vertriebenen Deutschen (vor allem in Jugoslawien und Ungarn sowie in geringerem Umfang in Rumänien) sowie (zum Teil) der Besitz von Kirchen und anderen Institutionen. Die Landv erteilung fiel am radikalsten im postfeudalen Ungarn aus, wo mehr als ein Drittel der ländlichen Nutzfläche enteignet und verteilt wurde. In Jugoslawien wurden ca. 15 Prozent, in Rumänien 8 Prozent und in Bulgarien 2 Prozent der Agrarfläche in die Reform einbezogen. Die albanische Regierung löste in mehreren Schritten ab August 1945, die griechische Regierung durch eine Reform von 1952 den verbliebenen Großgrundbesitz auf. Wie bei den Bodenreformen nach dem Ersten Weltkrieg, standen auch diesmal soziale und nationale Motive im Vordergrund. Das änderte sich erst, als es im Verlauf der 1950er und -60er Jahre in den sozialistischen Ländern zur Aufhebung oder Einschränkung indi vidueller Eigentumsrechte zugunsten gesellschaftlicher und staatlicher Agrarkomplexe bzw. zur Sozialisierung oderVerstaatlichung des Bodens kam. Deren Ziel w ar die Bildung ländlicher Großbetriebe in F orm v on sozialistischen Produktionsgenossenschaften oder Staatsgütern, v on denen eine deutliche Steigerung der Produkti vität und Produktion erw artet wurde. An die Stelle der früheren ländlichen Subsistenzwirtschaft und der ihr folgenden defekten Marktwirtschaft trat nun die staatliche Distrib utionswirtschaft. In Jugosla wien, w o die Kollektivierungskampagne bereits Anfang 1949 begonnen hatte, wurde das Experiment 1953 zugunsten einer limitierten Repri vatisierung (mit einem Maximum von 10 ha) abgebrochen. In den übrigen sozialistischen Ländern erreichte die K ollektivierung der Landwirtschaft zwischen 1957 und 1965 ihren K ulminationspunkt. 1960 wurden in Albanien 85 Prozent des Ackerlands von Kollektivwirtschaften und Staatsbetrieben bewirtschaftet, in Bulgarien (w o die Zurückdrängung der Pri vatwirtschaft in großem Stil bereits früher eingesetzt hatte) w aren es 91 Prozent, in Rumänien 84 Prozent und in Ungarn 77 Prozent (dagegen in Jugoslawien nur 10,4 Prozent). Die Politik der sozialistischen Regierungen gegenüber den privaten Hofparzellen war in der Regel restriktiv (besonders in Albanien und Rumänien). Nur in Ungarn wurde die pri vate Produktion schließlich als wichtiger Wirtschaftsfaktor anerkannt und gefördert. Anders als bei den Bodenreformen imAnschluss an die beiden Weltkriege ging es diesmal tatsächlich um ökonomische Ziele, d. h. um die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität durch spezialisierte Großbetriebe sowie durch Verbesserung des betriebswirtschaftlichen und humanen Kapitals. Es war das erste Mal seit der Aufklärung, dass genuin wirtschaftliche Motive handlungsleitend wurden. Doch die Erwirtschaftung agrarischer Überschüsse sollte in erster Linie der Industriefinanzierung zugute kommen. Ziel war es, die Landwirtschaft zu entwickeln, um sie

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möglichst schnell zu überwinden und die Bauern als besonders „rückständige“ und modernisierungsresistente „Klasse“ abzuschaf fen. Zumindest dieses zweite Ziel wurde weitgehend erreicht. Infolge der forcierten Industrialisierung in den sozialistischen Ländern w anderten große Teile der v ormaligen bäuerlichen Be völkerung in die Industrie (und Städte) ab, w omit die Schicht der Arbeiter-Bauern zu einer gesellschaftlichen bedeutsamen Größe anwuchs. Zwischen 1950 und 1970 v erließen in Bulgarien 1,4 Millionen, in Ungarn 822.000 und in Rumänien 1,3 Millionen Menschen die Landwirtschaft und beförderten die „Ruralisierung“ der Städte. In Ungarn sank der Anteil der Agrar- an der Gesamtbevölkerung bis Anfang der 80er Jahre auf 21 Prozent, in Rumänien auf 29 Prozent und in Bulgarien auf 37 Prozent. In Jugosla wien verringerte sich der Anteil der von der Landwirtschaft abhängigen Bevölkerung von 61 Prozent (1953) auf 20 Prozent (1981). Nur in Albanien nahm die ländliche Bevölkerung deutlich langsamer ab. Mit der K ollektivierungskampagne in den sozialistischen Ländern (mit Ausnahme Jugoslawiens) während der 50er und 60er Jahre wurde die wirtschaftliche und soziale Schicht der verbliebenen Bauern aufgelöst und durch spezialisierte Arbeiter in Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften ersetzt. Der Versuch, diese Agrararbeiter im Sinne der „sozialistischen Lebensweise“ umzuerziehen, zeitigte nur bescheidene Erfolge. Doch in weiten Teilen Südosteuropas konnte seither von Bauern nur noch in einem stark eingeschränkten Sinn gesprochen werden. Die auf den Sozialismus gesetzten ök onomischen Erwartungen erfüllten sich bekanntlich nur bis zu jenem Zeitpunkt, da der e xtensive Input v on Ressourcen an seine natürlichen Grenzen stieß (in der Regel: spätestens Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre). Der Über gang v on einer e xtensiven zu einer intensi ven Wirtschaftsweise scheiterte ein zweites Mal, – diesmal weniger an mangelnder K ompetenz als an mangelnder Motivation und an der Schwerfälligkeit der zentralen Wirtschaftssteuerung. Nach dem Umbruch Ende 1989 sahen sich dann die postsozialistischen Gesellschaften mit dem rechtlich und ökonomisch schwierigen Problem der Reprivatisierung des Bodens konfrontiert. Infolge der raschen Urbanisierung in den Nachkriegsjahrzehnten und der Tatsache, dass die in den ländlichen Genossenschaften tätige Bevölkerung die zur Führung einer eigenständigen Bauernwirtschaft erforderlichen Kenntnisse verloren hatte, gehörte die Reprivatisierung der Landwirtschaft (oft zusätzlich erschwert durch unklare Rechtstitel und das Fehlen eines Katasters) zu den kompliziertesten Bereichen der ök onomischen und rechtlichen Transformation.42 Ein Großteil der Dörfer war ruiniert oder zerstört, die Bewohner überaltert, und für viele der alten/neuen Bodenbesitzer – deren Zahl noch immer viel zu groß w ar – 42 Vgl. u. a. G AVRILESCU, D./S IMA, E. (Hgg.): Restructurarea agriculturii ≥i tranziΣia rural™ în Romania. Bucure ≥ti 1996; G IORDANO, Christian/K OSTOVA, Dobrinka: „Arendator“ und „akula“. Zur Reprivatisierung ohne Bauern in der b ulgarischen Landwirtschaft nach der „W ende“. In: EGGELING, Tatjana/MEUTS, Wim van/SUNDHAUSSEN, Holm (Hgg.): Umbruch zur „Moderne“? Studien zur Politik und K ultur in der osteuropäischen Transformation. Frankfurt/M. [u. a.] 1997, S. 115–132; HANN, Christopher (Hg.): The Postsocialist Agrarian Question: property relations and the rural condition. Münster, London 2003.

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I. Reformen des frühmodernen Staates bis zur Grundentlastung

Ethnokonfessionelle Aspekte der Reformen des aufgeklärten Absolutismus in der Habsb urgermonarchie Gerhard Seewann

1. Aufgeklärter Absolutismus „Der innerliche Umlauf der Waren und Güter ist das eigentliche Leben des Staates“, schrieb der wohl einflussreichste Kameralist Johann Heinrich Gottlob Justi in seinem 1756 in Leipzig erschienenen Buch über die „Grundsätze der Polize ywissenschaft“. Hiermit erhalten wir einen ersten, vorläufigen Hinweis auf die Frage: Was ist aufgeklärter Absolutismus und was kennzeichnet sein Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem? Nach Gustav Schmoller kommt dem Merkantilismus der Frühen Neuzeit für den Übergang zu einem kumulativen Wirtschaftswachstum und der Auflösung der feudalen Gesellschaftsordnung eine entscheidende Bedeutung zu. Es besteht ein untrennbarer Zusammenhang v on Merkantilismus und neuzeitlicher Staatsbildung. Dieser Zusammenhang ist nach Schmoller vor allem darauf zurückzuführen, dass Merkantilismus in seinem innersten K ern bereits Staatsbildung w ar, indem er nämlich die staatliche Gemeinschaft zu einer volkwirtschaftlichen gemacht hat. 1 Das macht das an den Anfang gestellte Zitat von Justi deutlich. Gerhard Oestreich sieht in den Polizeiordnungen und der Polizeiwissenschaft des 18. Jahrhunderts (die eigentlich eine Verwaltungslehre war) einen „strukturbildenden Vorgang der Fundamentaldisziplinierung in Staat und Kirche, in Wissenschaft und Kultur, die eine Voraussetzung für die spätere Fundamentaldisziplinierung des bür gerlich-demokratischen Gemeinwesens des 19. Jahrhunderts darstellt“.2 Diese Sozialdisziplinierung war wiederum das Instrument, mit dem der Landesherr sein zentrales Politikmonopol nach innen wie nach außen durchzusetzen suchte, um alle konkurrierenden Kräfte, insbesondere die Stände auszuschalten. Doch die dadurch in Gang gesetzten Prozesse waren nicht auf den Bereich der politischen Institutionen beschränkt, sondern bewirkten eine grundlegende Veränderung von Staat und Gesellschaft; sie zielten auf eine „Bändigung und Zügelung aller Betätigungen auf den Gebieten des öf fentlichen, aber auch des privaten Lebens“ ab.3 Konkret ging es hier um eine „zunehmende Re gulierung des Wirtschaftslebens und die Erziehung des Menschen zurArbeit“,4 um durch Rationa1S

CHMOLLER, Gustav: Das Merkantilsystem in seiner historischen Bedeutung. In: D ERS.: Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte, besonders des preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert. Leipzig 1898, S. 37. 2 O ESTREICH, Gerhard: Strukturprobleme des europäischen Absolutismus. In: Vierteljahreshefte für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 55 (1968), S. 329–347, hier S. 345. 3 O ESTREICH, Gerhard: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Berlin 1969, S. 187. 4 R EINHARD, Wolfgang: Sozialdisziplinierung – K onfessionalisierung – Modernisierung. Ein historiographischer Diskurs. In: B OŠKOVSKA LEIMGRUBER, Nada: Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft. Forschungstendenzen und Forschungserträge. Paderborn 1997, S. 39–55, Zitat auf S. 41.

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lisierung von Lebensgestaltung und Lebenshaltung die mentalen Grundlagen für einen modernen Staatsverband zu legen. Dieser Prozess der Staatsbildung erfolgte in der Regel über den monarchischen Absolutismus, denn nur dem absolutistisch regierenden Monarchen gelang es, durch seine paternalistische Herrschaft in seinen Untertanen das Be wusstsein staatlicher Einheit zu wecken.5 Für die Habsb urgermonarchie mit seiner ethnisch, sprachlich und kulturell heterogenen Bevölkerung, mit seinen nur durch das Band der Dynastie v erknüpften Territorien und deren ständischen P artikularismen wurde die Schöpfung eines Zusammengehörigkeitsbewusstsein der „Monarchia Austriaca“ zu einer Existenzfrage, an der sich die Frage ihres Überlebens, das heißt ihrer erfolgreichen Überführung in das neue Zeitalter des modernen, zentralistisch und einheitlich organisierten Staates entschied. Diese Herausforderung der Zeit hat MariaTheresia durch den Verlust Schlesiens an das Preußen Friedrichs II., das in seiner Organisationsstruktur dem habsb urgischen weit überle gen war, schnell be griffen. Deshalb setzte sie ab Mitte der 1740er Jahre ein weit gespanntes, praktisch alle Lebensbereiche ergreifendes und deshalb sehr umfassendes Reformwerk in Gang, das als die eigentliche Staatsbildung der Donaumonarchie bezeichnet werden kann. 6 Mit dem Einströmen der Gedanken der Aufklärung, der Staats- und Naturrechtsphilosophie und des Rationalismus, v erbunden mit einer immer weitere Be völkerungskreise erfassenden Alphabetisierung brach sich auch die Idee der Gleichheit und Gleichwertigkeit aller Menschen Bahn, wie sie von Joseph II. in seiner Denkschrift an seine Mutter bereits Ende 1765 zumAusdruck gebracht wurde. Der Wandel vom Landesvater zum „ersten Diener des Staates“, als der sich Joseph II. stets betrachtete, sein Leitspruch „alles für das Volk, nichts durch das Volk“, machen deutlich, dass ein solcher aufgeklärter Absolutismus auch als „aufgeklärte Despotie“ bezeichnet werden kann. Historisch gesehen ist der aufgeklärteAbsolutismus Josephs II. als ein Über gangsregime v om traditionellen Absolutismus Ludwigs XIV . in Richtung konstitutioneller Monarchie anzusehen.7 Im Folgenden soll versucht werden, vermittels einer Analyse von drei Bereichen dieses Reformwerkes Auswirkungen auf die ethno-k onfessionellen Strukturen vor allem im Königreich Ungarn deutlich zu machen. 8 Es sind dies die Bereiche Reli5

Vgl. dazu M ATIS, Heribert: Staatswerdungsprozeß und Ausbildung der Volkswirtschaft. In: DERS. (Hg.): Von der Glückseligk eit des Staates. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Öster reich im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus. Berlin 1981, S. 15–27. 6 Aus der Reihe der neueren F achliteratur ist herv orzuheben: M ACARTNEY, Carlile Aylmer: The Habsburg Empire 1790–1918. London 1969; SCOTT, Hamish M.: Reform in the Habsburg Monarchy, 1740–90. In: D ERS. (Hg.): Enlightened Absolutism. Reform and reformers in later eighteenth century Europe. Basingstok e, London 1990, S. 145–187; VOCELKA, Karl: Österreichische Geschichte 1699–1815. Glanz und Untergang der höfischen Welt. Repräsentation, Reform und Reaktion im habsb urgischen Vielvölkerstaat. Wien 2001; B EALES, Derek: Joseph II. und der Josephinismus. In: R EINALTER, Helmut/K LUETING, Harm (Hg.): Der aufgeklärte Absolutismus im europäischen Vergleich. Wien, Köln, Weimar 2002, S. 35–54; S ZABÓ, Franz A. (Hg.): Politics and culture in the age of Joseph II. Budapest 2005. 7 K ARNIEL, Joseph: Die Toleranzpolitik Kaiser Josephs II. Gerlingen 1985, S. 37. 8 Vgl. dazu BALÁZS, Éva H: Hungary and the Habsburgs 1765–1800. An experiment in enligthened absolutism. Budapest 1997 (ungar . Originalausgabe unter dem etw as irreführenden Titel:

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gionspolitik, Schulpolitik und Agrarpolitik, hier insbesondere die Beziehung Bauer – Grundherr.

2. Bauer und Grundherr und die Agrarreform nach 1765 Die Kriege des 18. Jahrhunderts und die Zunahme der Be völkerung, die dadurch gesteigerte Nachfrage nach Getreide und die damit einher gehende Getreidek onjunktur, befördert durch den intensi vierten Ausbau der Infrastruktur , hatten eine Ausdehnung und v erstärkte ackerbauliche Nutzung des Dominikallandes und der Gutsherrschaft zur Folge. Dadurch nahm der Frondienst, die Robotleistung zu und es setzte eine Rechtsverschlechterung der Bauern ein bis hin zum Bauernlegen, die Überführung von Rustikalland in Dominikalland in die eigenbe wirtschaftete Domäne des Grundherrn. Da in Ungarn der Grundherr und sein Dominikalland v on allen Steuern befreit war, waren alle diese Vorgänge für den Staat mit einer Verminderung, ja grundsätzlichen Gefährdung der Steuerkraft der Bauern v erbunden. Der Staat wiederum musste mit diesen Steuern ein immer größer gewordenes stehendes Heer mit entsprechenden Rüstungsausgaben finanzieren, um seine territoriale Integrität zu schützen und zu bewahren. Die Bedeutung der Bauern als Hauptsteuerträger wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von den Kameralisten und der Regierung klar erkannt, da die Steuerpri vilegien des Adels in den Erbländern nur zum Teil, in Ungarn jedoch überhaupt nicht beseitigt werden k onnten. Die Bauern wiederum widersetzten sich durch v ermehrte Aufstände der steigenden Abgabenlast und Dienstv erpflichtung. In diese kritische und klärungsbedürftige Situation griff Mitte der 1760er Jahre Maria Theresia ein. Ihr 1767 für Ungarn erlassenes Urbarialpatent w ar die erste und umf assendste Maßnahme der Staatsge walt, die zum Schutz des Bauernlandes, der Klärung der Besitzverhältnisse, der Begrenzung und Festlegung der bäuerlichen Verpflichtungen gegenüber dem Grundherrn und damit schließlich der Sicherung einer der wichtigsten Steuerquellen vorgenommen wurde. Ab diesem Zeitpunkt w ar das Abstiften von Bauern und je gliche Veränderung oder gar Verkleinerung des Bauernlandes, des Urbariallandes zugunsten des Grundherrn und seines Dominikallandes nicht mehr möglich. Das mit dem Begriff der Urbarialregulierung bezeichnete Verfahren bildete rund 80 Jahre später, für die Zeit nach 1848, die Grundlage für die damalige Bauernbefreiung und den Vorgang der Grundentlastung; so gesehen wurden im letzten Drittel des 18.Jahrhunderts die Besitzverhältnisse festgelegt, die bis zum Jahr 1945 im allgemeinen ihre Gültigkeit behalten haben.9 Bécs és Pest-Buda a régi szazádvégen. Budapest 1987); EVANS, R. W.: Maria Theresa and Hungary. In: S COTT, Hamish M. (Hg.): Enligthened Absolutism. Reform and reformers in later eighteenth century Europe. Basingstoke, London 1990, S. 189–207; DERS.: Joseph II and nationality in the Habsburg lands. In: Ebd., S. 209–219. In der ungarischen Fachliteratur wird vielfach bis heute sehr häufig und völlig missverständlich der Absolutismus als „Willkürherrschaft“ interpretiert, was eine nüchterne Beurteilung dieses Zeitalters erschwert oder gar verhindert. 9 G UNST, Peter: Europa – Ost-Elbien – Ungarn. In: D ERS.: Agrarian de velopment and social change in Eastern Europe, 14 th-19th centuries. Aldershot 1996, VII, S. 17; vgl. dazu auch

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Die mit dem Urbarialpatent für die Bauern gewonnene Rechtssicherheit verringerte die Binnenmigration (so weit diese mit der Suche nach besseren Rahmenbedingungen für die Bauernwirtschaft verbunden gewesen war), förderte das Streben nach Besitzv ergrößerung und Bodenerwerb, erleichterte die Binnenk olonisation und Neuansiedlung von Kolonisten, und bildete schließlich den Ausgangspunkt für eine dynamische wirtschaftliche Entwicklung 10 nicht zuletzt auch der bäuerlichen Unterschichten, insbesondere der landlosen oder nur über wenig Land verfügenden Häusler, ungarisch „zsellér“ genannt. Zu dieser Entwicklung trugen auch die späteren Bauernpatente insbesondere Josephs II. bei. Hier sind herv orzuheben: Die Robotablösung durch die Geldrente, 11 die Freiheit der Eheschließung und der Berufswahl, das Recht auf Verkauf der selbst produzierten Produkte so wie auf den Erwerb gepachteter Felder und Bauernwirtschaften. Durch die Liberalisierung des Handels mit landwirtschaftlichen Produkten suchte die Re gierung einerseits den Mangel an Lebensmitteln (als Auslöser von Hungersnöten) zu beheben, anderer seits Anreize für eine für den Bauern ge winnbringende Mehrproduktion zu schaffen.12 Die wichtigste Maßnahme in diesem Zusammenhang war die Aufhebung des Vorkaufsrechts des Grundherrn, der dieses Recht zur Deckung des Eigenbedarfs zu billigen Preisen, aber auch zur Einschaltung in den Fernhandel mit hohem Gewinn genutzt hatte. Mit dieser bereits unter Maria Theresia gesetzten Maßnahme, die Joseph II. 1783 noch einmal für alle Länder der Monarchie forcierte, wurde dasTor für die Erwerbswirtschaft weit geöffnet und viele Bauern zögerten nicht, die ihnen damit gebotenen wirtschaftlichen Chancen zu nutzen. Gesteigert wurden diese auch durch das josephinische Dekret v on 1785, das die persönliche Abhängigkeit des BALÁZS, Év a H.: Die Lage der Bauernschaft und die Bauernbe wegungen (1780–1787). Zur Bauernpolitik des aufgeklärten Absolutismus. In: Acta historica Academiae Scientiarum Hungariae. 3 (1956), S. 293–327; in ihrem 30 Jahre später erschienenen Buch ist Balázs auf die Lage der Bauern und deren Beziehung zu ihren Grundherrn nicht näher einge gangen, sondern verweist ausdrücklich auf ihren 1956 erschienenen Aufsatz, dies übrigens auch in der 1997, in Fußnote 8 zitierten englischen Ausgabe! 10 Der amerikanische Wirtschaftshistoriker ungarischer Abstammung, John Komlos, hat in dieser durch das Reformwerk der Habsb urger ausgelösten wirtschaftlichen Dynamik, das heißt im Zusammenwirken von demographischen und wirtschaftlichen Komponenten mit der entscheidenden Veränderung der institutionellen Rahmenbedingungen, die eine Markterweiterung zur Folge hatten und damit die drohende Ernährungskrise durch Überbe völkerung ein für allemal beseitigten, das „österreichische Modell“ der industriellen Revolution ausgemacht, das durchaus zeitgleich mit dem englischen die Geschichte Europas prägte. – K OMLOS, John: Ernährung und wirtschaftliche Entwicklung unter Maria Theresia und Joseph II. Eine anthropometrische Geschichte der Industriellen Re volution in der Habsb urgermonarchie. St. Katharinen 1994, hier insbes. S. 18–19, S. 140–160. Engl. Originalausgabe: Nutrition and Economic-De velopment in the Eighteenths Century Habsb urg Monarchy: An Anthropometric History. Princeton 1989. 11 Detailliert dazu SZÁNTAY, Antal: The „Robot-Abolition“ in Hungary under Joseph II. In: SZABÓ, Franz A. J. (Hg.): Politics and culture in the age of Joseph II. Budapest 2005, S. 85–108. 12 F EIGL, Helmuth: Die Auswirkungen der theresianisch-josephinischen Reformgesetzgebung auf die ländliche Sozialstruktur Österreichs. In: P LASCHKA, Richard Geor g/KLINGENSTEIN, Grete (Hgg.): Österreich im Europa der Aufklärung. Kontinuität und Zäsur in Europa zur Zeit Maria Theresias und Josephs II. Band 1, Wien 1985, S. 45–66, hier S. 55.

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Bauern v om Grundherrn entscheidend v erminderte und seine persönlichen Freiheitsrechte stärkte einschließlich des Rechts, über sein Eigentum, seine selbst er worbenen Äcker, Wiesen, Weingärten und Mühlen frei zu verfügen, diese zu vererben, zu verpfänden oder zu verkaufen. „In der festen Überzeugung, dass der Hörige zur Mehrproduktion am ehesten durch freien Absatz seiner Erzeugnisse angespornt würde, ordnete der Herrscher zu Lasten des grundherrlichen Weinausschanks an, dass der Bauer seinen Wein das ganz Jahr hindurch ausschenken könne.“13 Das ist nur ein Beispiel aus einer reichen Produktpalette, die sich mit der Zeit beispielsweise durch Einbeziehung des arbeitsintensi ven Tabakanbaus erheblich erweitert hat. Die v erstärkte Aufteilung der Hut- und Gemeinde weiden und ihre P arzellierung für die Anlage von Bauernhöfe hatte v or allem dort größere Bedeutung, w o noch unter Maria Theresia große Weideflächen für die e xtensive Viehwirtschaft freigehalten worden waren, wie das beispielsweise im Banat und in der Batschka der Fall war. Auch diese Weideflächen wurden nunmehr unter Joseph II. v erstärkt unter den Pflug genommen, womit die fast ein Jahrhundert währende Auseinandersetzung zwischen Körndlbauern (Ack erbau) und Hörndlbauern (in Gestalt einer extensiven Viehwirtschaft) zugunsten der Ackerbauwirtschaft endgültig entschieden war. Diese Auseinandersetzung hatte auch eine ethnische K omponente, denn die Viehwirtschaft wurde von den „Nationalisten“ genannten Einheimischen betrieben, den serbischen und rumänischen Hirten, die damit immer weiter zurückgedrängt wurden.14 Der österreichische Historik er Michael Mitterauer hebt für das ausgehende 18. Jahrhundert bezüglich der bäuerlichen Unterschichten herv or, dass die Kleinhäusler in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vielfach sesshaft gemacht wer den k onnten, w as sich auf dem Land in einem v erstärkten Neubau v on Häusern bemerkbar machte. 15 Die Zahl der Insassen, die weder über Haus oder Land v erfügten nahm daher ab, die Zahl der selbständig wirtschaftenden Häusler hinge gen vergrößerte sich, wozu in Ungarn insbesondere eine breite Schicht von Weinbauern beitrug, deren Zahl für die josephinische Zeit bereits mit 200.000 angegeben wurde. Damit hat diese relativ gut situierte Gruppe der Winzer gut ein Fünftel aller zsellér im Königreich Ungarn ausgemacht. Für die verstärkte Sesshaftmachung breiter Unterschichten sind vier Faktoren hervorzuheben: • erstens grundsätzlich verbesserte Erwerbsbedingungen (durch Ausbau des Mischerwerbs: Handwerker plus saisonal bedingteAushilfe in der Landwirtschaft) und durch Ausbau der Infrastruktur auch der Absatzmöglichkeiten; 13 W ELLMANN, Imre: Kontinuität und Zäsur in Ungarns Bauernleben zur Zeit Maria Theresias und Josephs II. In: PLASCHKA, Richard Georg/KLINGENSTEIN, Grete (Hgg.): Österreich im Europa der Aufklärung. Kontinuität und Zäsur in Europa zur Zeit Maria Theresias und Josephs II. Band 1, Wien 1985, S. 87–119, hier S. 117. 14 Vgl. hierzu den Beitrag in diesem Tagungsband von KRAUSS, Karl-Peter: Agrarische Modernisierungsprozesse und ethnodemographische Veränderungen in der Südbatschka bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. 15 M ITTERAUER, Michael: Lebensformen und Lebensv erhältnisse ländlicher Unterschichten. In: MATIS, Herbert (Hg.):V on der Glückseligk eit des Staates, Berlin 1981, S. 315–338, hier S. 323ff.

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zweitens die Geldablösung der Robot, durch diese w ar der Grundherr durch den Verlust kostenloser Arbeitskräfte gezwungen, sich durch Ansiedlung landarmer Leute ortsansässige Landarbeiter für seine Domänenwirtschaft zu sichern. Im Umkreis v on Klöstern und Herrschaftssitzen k onnte es dadurch zur Entstehung größerer Kleinhäuslersiedlungen kommen. Der dritte Faktor ist die unter Joseph II. veränderte Militärverfassung, nach der von der Rekrutierung alle hausansässige Untertanen einschließlich ihrer Erben (dem jeweils ältesten Sohn) befreit waren, was den Hausbau wesentlich befördert hat. Der vierte und w ahrscheinlich wichtigste F aktor, der nicht nur für die Unter schichten sondern auch für die Sessionisten, die Bauern mit eigener Hofwirtschaft, seine volle Wirksamkeit entfaltete und die stärkste Triebfeder der wirtschaftlichen Dynamik der F olgezeit bildete, war der Übergang von der Subsistenzwirtschaft zur Erwerbswirtschaft, der natürlich auch einen grundlegenden Wandel in der Mentalität zur Folge hatte. Für die Subsistenzwirtschaft war die Haltung der Selbstgenügsamkeit, der Beschränkung auf den Überlebenskampf kennzeichnend, für die Erwerbswirtschaft jedoch das Streben nach Mehrproduktion, um durch Fleiß und Mehrarbeit den eigenen Wohlstand zu steigern und den bäuerlichen Besitz zu vermehren. Ein sehr gutes Beispiel dafür bildete die Verbäuerlichung des Weinbaus, ein Prozess, der in Österreich bereits im 17. Jahrhundert begann und im Verlauf des 18. Jahrhunderts seinen ersten Höhepunkt erreichte, in Ungarn etw as später , sicherlich jedoch im Verlauf des 18. Jahrhunderts einsetzte. Die K onjunktur des kleinbäuerlichen Weinbaubetriebs hängt ganz unmittelbar mit der Verbreitung und Intensi vierung der Er werbswirtschaft zusammen, da der Weinbau als Zuerwerb sich zur Existenzgrundlage der landarmen bäuerlichen Unterschicht herausbildete. 16 Die wenigen für Ungarn zur Verfügung stehenden statistischen Zahlen verweisen ebenfalls darauf, dass sich der Anteil der kleinbäuerlichen Weinbauern an der landarmen Unterschicht stark vergrößert und sich auch territorial ausgebreitet hat. Die systematische Anlage von Weinkellern in Form der Kellergassen in vielen, auch ungarndeutschen Siedlungen ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts spricht hier eine ganz deutliche und bis heute sichtbare Sprache.

3. Ansiedlung und Kolonisation Unter Joseph II. wurden die Rahmenbedingungen für die Neuansiedlung von Kolonisten ganz wesentlich verbessert. Die theresianische Ansiedlung beruhte noch auf dem Antizipationssystem, das heißt Hausbau, Verpflegung bis zur ersten Ernte und Beschaffung des Wirtschaftsinventars wurden vom Ärar übernommen, die K osten als Hypothek auf die jeweilige Hofstelle verbucht. Diese Hypothek sollte im Laufe 16 S

ANDGRUBER, Roman: Österreichische Geschichte. Ök onomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Ge genwart. Wien 1995, S. 111; zum Übergang von der Subsistenz- zur Erwerbswirtschaft ebd., S. 143 ff.

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der Jahre abgetragen werden, was im allgemeinen nicht glückte. Deshalb wurde den Kolonisten im Jahre 1774 alle ihre Schulden erlassen. Die josephinische Ansiedlungswelle auf den Kameralgütern der Batschka – hier als Beispiel herv orgehoben – war eine sehr massive, im Zeitraum von 1784 bis 1787 mit insgesamt 3300 Familien aus dem Reich (w obei im gleichen Zeitraum circa 1200 inländische F amilien angesiedelt wurden).17 Diese Ansiedlung oblag ausdrücklich keiner konfessionellen Einschränkung und hat erstmals v erstärkt auch auf Inländer zurückge griffen. Bevorzugt wurden evangelische und reformierte Deutsche, Ungarn und Slowaken angesiedelt, weil der Kaiser ihnen eine größere wirtschaftliche Tüchtigkeit zutraute als den Katholiken. Den Nichtkatholiken wurde von vornherein freie Religionsausübung gewährleistet und der Staat übernahm für die Anfangsjahre auch die Finanzierung ihrer Seelsor ger. Die Zahl der steuerlichen Freijahre wurden auf 10 Jahre erhöht, wenn es um urbar zu machendes Land ging. Im Unterschied zur theresianischen Ansiedlung wurde das Antizipationssystem aufgegeben, denn mit Ausnahme des Saatgutes wurde auf die Wiedereintreibung der staatlichen Ausgaben von den Kolonisten verzichtet, ähnlich dem Beispiel der friderizianischen Kolonisation. Pro F amilie investierte der Staat ca. 400 bis 500 Gulden für Hausbau, Haus- und Wirtschaftsgeräte und Viehbestand. Handwerker erhielten außer dem Hausgrundstück 50 Gulden zur Beschaffung ihrer Werkzeuge. Die Höhe der staatlichen Finanzleistung für die Ansiedlung allein in der Batschka im Zeitraum v on 1784 bis 1787 belief sich damit auf knapp zwei Millionen Gulden. Methodisch gesehen wurden die Kolonisten selten zur Auffüllung oder Vergrößerung bereits bestehender Dörfer v erwendet, man bevorzugte hingegen diejenige Methode, der zufolge das bei den serbischen Dörfern mit Rücksicht auf die e xtensive Weidewirtschaft überreich zugemessene Gemeindeland entscheidend v erkleinert und zur Ausstattung der deutschen und übrigen Kolonisten und zur Anlage separater deutscher Dörfer verwendet wurde, wodurch das josephinische Hauptziel, die Intensivierung der ackerbautreibenden Landwirtschaft, am besten erreicht werden konnte.

4. Schule und Bildungsr eform In der bis 1765 reichenden Periode des spätbarocken Feudalismus war Schule eine ausschließliche Angelegenheit der Religionsgemeinschaften. Für das historische Ungarn schätzt man die Zahl der Schulen auf circa 4.000 im Jahre 1770. Statistisch gesehen v erfügte nur jedes zweite Dorf über eine Schule mit einem Lehrer und durchschnittlich 20 Schülern. Der Unterricht w ar in der Regel auf die drei bis vier 17 Detailliert dazu FELDTÄNZER, Oskar: Joseph II. und die donauschwäbische Ansiedlung. Dokumentation der der Kolonisation im Batscherland 1784–1787. Linz 1990; sehr informativ ist der zeitgenössische Bericht eines Akteurs der Ansiedlung in der Batschka, der 1822 in Pest erstmals erschienen ist: E IMANN, Johann: Der deutsche Kolonist oder die deutsche Ansiedlung unter Kaiser Joseph II. in den Jahren 1783 bis 1878 absonderlich im Königreich Ungarn in dem Batscher Komitat. Hg. von Friedrich LOTZ. München 1965.

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Wintermonate beschränkt und wurde v on rund einem Drittel bis höchstens der Hälfte der Kinder besucht. Inhaltlich w ar er ganz auf die Vermittlung religiösen Wissens (Katechismus, biblische Geschichten, Kirchenlieder und Gebete) konzentriert. Die Kinder lernten ein wenig lesen, jedoch nur in Ausnahmen auch schreiben.18 Die Reformen des aufgeklärten Absolutismus, die nach dem Siebenjährigen Krieg ab 1765 v orbereitet und umgesetzt wurden, insbesondere die Schulreform mit dem Erlass der Ratio Educationis 1777 im Königreich Ungarn, v erfolgten im Prinzip drei Zielsetzungen: Sie besaßen nämlich eine standardisierende, eine qualifizierende und eine disziplinierende Funktion, 19 zu der – wie wir noch sehen wer den – eine vierte, eine gruppenbildende Funktion zunächst noch auf ständisch-konfessioneller, allmählich auch auf ethnischer Grundlage hinzukam. Im Unterschied zu den ersten drei Funktionen war die vierte nicht intendiert, sollte sich jedoch ähnlich den übrigen drei langfristig als sehr folgenreich erweisen. Zur Standardisierung: Das gesamte Bildungswesen wurde zu einem „politicum“, wie es die Monarchin Maria Theresia bezeichnete, d. h. seines bisherigen religiösen Charakters enthoben, der Staat bestimmte nunmehr die Bildungsziele, sorgte für eine einheitliche Or ganisation des Bildungswesens und beanspruchte eine umf assende, hierarchisch or ganisierte K ontrolle, ohne – mit Ausnahme der Anlage von Musterschulen, den „Normalschulen“ – die bisherigen Besitzv erhältnisse (und damit die Vorherrschaft der K onfessionen als Schulträger) zu v erändern. Bildung bekam zweitens eine qualifizierende Funktion. 1785 erklärte Kaiser Joseph II., er betrachte die Volksschulen als die Hauptinstrumente für die Aufklärung seiner Untertanen, die er ausnahmslos alphabetisiert wissen w ollte. Jeder Stand sollte über die Schule die Wissensqualifikation bekommen, die er in der Praxis für die Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit benötigte, d. h. jedem Untertan sollte „der seinem Stand angemessene Unterricht“ erteilt werden. Auf dieser Linie er folgte der Aufbau eines differenzierten, ständisch-hierarchisch gegliederten Schulsystems: Trivialschule, Hauptschule, Normalschule, Höhere Schule bzw . Gymnasium, Universität. Die dritte, die disziplinierende Funktion bestand darin, die heranw achsende Generation zu treuen Untertanen zu erziehen, die die Standesgrenzen respektieren und der Obrigk eit, d. h. auch ihrem Grundherrn, den nötigen Gehorsam erweisen sollten. Mit dieser disziplinierenden Funktion wurde auch die Ausgangsbasis für die Entwicklung von Staatspatriotismus und Regionalbewusstsein geschaffen. Merkantilistischen Zielsetzungen folgend forcierte man von staatlicher Seite die Erziehung arbeitsamer Untertanen, um über genügend qualifizierte Arbeitskräfte mit einer standardisierten Ausbildung verfügen zu können. 18 K

OMLÓSI, Sándor: Schule und Erziehung in Ungarn (1750–1825). Zwischen Systemerhalt und Modernisierung. In: S CHMALE, Wolfgang/DODDE, Nan L. (Hgg.): Revolution des Wissens. Europa und seine Schulen im Zeitalter der Aufklärung (1750–1825). Bochum 1991, S. 255–293. 19 Vgl. dazu G RIMM, Gerald: Expansion, Uniformierung, Disziplinierung. Zur Sozialgeschichte der Schulerziehung in Österreich im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus. In: S CHMALE/ DODDE (wie Anm. 18), S. 225–254.

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5. Reform von oben und Wirkung von unten in Richtung Nationsbildung Obwohl die Reformen des aufgeklärten Absolutismus den Interessen so wohl des Regimes wie auch breiter Bevölkerungsschichten dienten, stießen sie als von oben kommend auf großen gesellschaftlichen Widerstand, nicht zuletzt auch der Kir chen, die sich ihres Bildungsmonopols beraubt sahen. Da die Reformen ohne Mitwirkung der in den Landtagen v ertretenen Stände zustande kamen (das w ar v or allem für Ungarn von eminenter Bedeutung), opponierten auch diese, auch wenn es innerhalb der politischen Elite be geisterte Anhänger und Befürw orter und damit auch Träger der Reformen ge geben hat. Den Letzteren gingen die Reformen im Allgemeinen nicht weit genug, während für die Mehrheit ihrer Standesgenossen die Reformen zu weit ausgrif fen und die Fundamente v on Staat und Gesellschaft in Frage zu stellen schienen. Denn beinahe alle Reformen wurden gesellschaftlich nicht so v ermittelt, dass sie den Kirchen und den politisch einflussreichen gesellschaftlichen Gruppen akzeptabel erschienen. Dieser Widerstand steht historisch gesehen in scharfem Kontrast zu den langfristigen Wirkungen des gesamten Reformwerk es, in dem die Bildungsreform eine zentrale Stellung eingenommen hat. Denn auch alle ursprünglich opponierenden Kräfte, mit Ausnahme des Adels, zogen aus den Reformen großen Profit. Das ist vor allem auf das Zusammenwirken der Einzelreformen zurückzuführen. Denn die Ratio Educationis machte den Unterricht in der Muttersprache zur Pflicht und das Toleranzpatent sicherte endgültig die Chancengleichheit in der Schulbildung für alle religiösen, die Schulreform auch für alle ethnisch unterschiedlichen Gruppen. Das bedeutet: Alle ethnisch, religiös oder national unterschiedlichen Gruppen innerhalb der Habsb urgermonarchie gingen langfristig als große Ge winner aus den Reformen hervor, da diese ihnen nicht nur eine Identitätsbildung und aufgrund normierter Schulbildung ein Identitätsmanagement ermöglichten, sondern auch mit den v on ihnen eingeleiteten und zunächst staatlich v orgegebenen Prozessen der Sprachnormierung, Sprachstandardisierung und der Verschriftlichung von Sprache vermittels Schulbüchern und Grammatiken die Grundlage dafür legte. Damit wurden die bildungsmäßigen Voraussetzungen für den sich anbahnenden nationalen Diskurs und für die Prozesse der die gesamte Gesellschaft erfassenden Identitätsbildung auch ihrer unterschiedlichsten Gruppierungen geschaffen. Historisch gesehen war nach der Reformation die Schulreform des 18. Jahrhunderts der stärkste Impuls, sich mit der Sprache, und in Folge damit auch mit Geschichte und Identität der jeweils eigenen Gruppe zu bef assen, d. h. eine Gruppe in Abgrenzung zu anderen als eigene zu erkennen, zu definieren und damit zu imaginieren.20

20 Wie sehr die mariatheresianische Schulreform zur Standardisierung v on Sprache und der Er ziehung zur Sprachkultur beigetragen hat, erläuterte am Beispiel der deutschen Sprache ROESSLER, Paul: Sprache zur Erziehung – Erziehung zur Sprache. Felbigers Grammatik en und die schriftsprachliche Reform in Österreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Das achtzehnte Jahrhundert und Österreich. 10 (1995), S. 55–72.

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Die Philosophie der Aufklärung verlangte nach einer Universalbildung. Die Variante des aufgeklärten Absolutismus, mit der wir es hier zu tun haben, erkannte den Bildungsanspruch der Gesellschaft mit seinen Reformmaßnahmen zw ar an, v erwirklichte jedoch nur eine gruppen- bzw. schichtenspezifische Bildung. Die Gruppen wurden jetzt noch nach der feudal-ständischen Rechts- und Gesellschaftsordnung bzw. – und das ist eine wichtige Zugabe – religiös definiert, denn den v erschiedenen K onfessionen, allen v oran den Protestanten, wurde auch eine unter schiedliche Bildung sowohl in ihrer organisatorischen Form als auch in ihrem Inhalt zugebilligt. Von da an w ar es nur mehr ein relati v kleiner Schritt, solche Gruppen neu, z. B. ethnisch oder national zu definieren, und ihnen aufgrund ihrer sprachlichen Zuordnung eine spezifische Bildung zuzugestehen. Die nach dem Tod Kaiser Josephs in Ungarn ausbrechende Diskussion um eine „Nationalerziehung“ wies bereits in eine solche Richtung, auch wenn sich eine solche noch nicht durchsetzen k onnte. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass man zu diesem Zeitpunkt „national“ noch ganz unterschiedlich interpretiert hat. Der Landtag von 1790 machte zwar die Nationalerziehung zu seinem Wahlspruch, doch verstanden nicht alle darunter dasselbe. Für die einen w ar damit ein national einheitliches staatliches Erziehungswesen gemeint, für die anderen bestand die Hauptsache in der Verwendung der ungarischen Sprache und für manche Adelige hieß dies, zu den Traditionen zurückzuk ehren, statt sich ir gendwelchen „ausländischen“ Neuerungen hinzugeben.21 Was blieb und sich bis und nach 1848 als sehr wirkungsmächtig erweisen sollte, war die Anerkennung autonom v erfasster schulischer Institutionen spezifischer Gruppen, insbesondere der jüdischen Be völkerung und der christlichen „Minder heitsreligionen“, d. h. der Protestanten, der Orthodox en und der Unierten Kirchen. So kristallisierte sich als eine Hauptfunktion von Schule die Förderung und Bewahrung von Gruppenidentitäten heraus, und damit eine vierte, nämlich die gruppenbildende Funktion, auch wenn diese zunächst noch überwie gend ständisch oder religiös definiert und ausgerichtet war, eine Funktion, die für das heraufziehende Zeitalter des Nationalismus eine neue Qualität, ein neues Entwicklungspotential bereit hielt. Es wurde mit den neuen Schulen gerade innerhalb der orthodox en Bevölkerung eine weltliche Intelligenzschicht gebildet, die binnen ein bis zwei Generationen die Initiatoren und Träger der Nationalbewegungen der Serben und Rumänen stellte. Das stimmte auch mit dem politischen Ziel Josephs II. überein, die bis dahin ausschließlich klerikale Führung der orthodoxen Bevölkerung durch eine weltliche und entsprechend gebildete politische Elite abzulösen.22

21 Siehe dazu KOMLÓSI (wie Anm. 18), S. 280. 22 Joseph II. hat diese Grundlinien seiner Politik gegenüber der orthodoxen Bevölkerung im Osten seines Reiches bereits in seiner Denkschrift aus dem Jahre 1768 aufgrund seiner auf der Reise durch das Banat gewonnenen Erfahrungen skizziert. Siehe dazu: K ARNIEL: Die Toleranzpolitik (wie Anm. 7), S. 135–139. Durch die Anhebung des Bildungsniveaus und die Schaffung einer weltlichen Elite wollte der Kaiser die orthodoxe Bevölkerung dem starken Einfluß des Zarenreiches entziehen, der in der Rußland-Orientierung des serbischen orthodox en Klerus seine Basis hatte.

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Um zahlenmäßig nur einige Beispiele herauszugreifen. Im Banat w ar binnen einem Jahrzehnt, nämlich von 1768 bis 1778 die Zahl der orthodoxen Schulen von 77 auf 218 ange wachsen und 1781 wurde an Kaiser Joseph v on der Tätigkeit von 293 neu ausgebildeten orthodox en Lehrern in 452 Orten berichtet, die bereits vier Fünftel aller Kinder unterrichteten, dies mit Schulbüchern, Sprach- und Handbüchern, die ab 1778 je weils in der Muttersprache in großer Zahl gedruckt wurden. Beeindruckt von diesem F ortschritt wandte sich die Zarin Katharina 1782 an den Wiener Hof mit der Bitte nach einem orthodox en Schulfachmann. Kaiser Joseph schickte daraufhin den Leiter seines 1776 eingerichteten Raizischen Schul-Direktorats von Temesvar, Teodor Janković Mirijevski (1741–1814), nach Moskau, wo dieser bis 1786 das Statut für die russischen Volksschulen ausgearbeitet hat. 23 In den 1780er Jahren setzte sodann die Publikation der Schulbücher in serbischer und rumänischer Sprache (von Sprachfibeln, Wörterbüchern, Grammatiken neben den eigentlichen Schulbüchern) ein, parallel zum Aufbau eines serbischen und rumänischen Schulwesens sowohl der orthodoxen wie auch der unierten Kirche in Siebenbürgen und in Innerungarn.24 Im Toleranzpatent Josephs II. v on 1781 ordnete der Kaiser auch die Einrichtung von jüdischen Normalschulen neben den Hauptsynagogen an, erlaubte jedoch ausdrücklich die Aufnahme jüdischer Kinder auch in öf fentlichen Schulen. Aufgrund der 1783 erlassenen Schulordnung für das jüdische Unterrichtswesen, der „Systematica gentis Judaicae re gulatio“ entstanden in Ungarn noch in der Re gierungszeit Josephs II. 30 Schulen mit deutscher Unterrichtssprache, die v on rund 2.000 Schülern besucht wurden.25 Eine besondere Wirkung kam der Reform zu, mit der Kaiser Joseph II. 1784 Deutsch für die ganze Monarchie als Amtssprache v erbindlich einführte, das in Ungarn das Lateinische in dieser Funktion für kurze Zeit, nämlich bis zum Tod des Kaisers abgelöst hat. Diese Reform hatte insbesondere für die Magyaren eine gruppenbildende Funktion und rückwirk end gesehen bereitete der in der ungarischen Öffentlichkeit ab diesem Datum geführte Diskurs um diese Reform die ungarische Nationalbewegung vor, die auch aus diesem Grund v on Anfang an stark auf die Sprache konzentriert war. In der späteren Nationalhistoriographie der politischen Romantik wurde diese Reform als germanisierend fehlinterpretiert und v erteufelt. Hingegen stellt der ungarische Historiker Domokos Kosáry ganz trocken fest, dass diese Reform nicht gegen das Ungarische gerichtet war, sondern nur die tote Sprache Latein durch das in allen Teilen der Monarchie gesprochene Deutsch ablösen 23 K

OSÁRY, Domok os: M ŠvelŒdés a XVIII. századi Magyarországon [Bildung im Ungarn des 18. Jahrhunderts]. Budapest 1980, S. 477. 24 Zum Aufbau des serbischen Schul wesens siehe K OSTIå, Strahinja K.: K ulturorientierung und Volksschule der Serben in der Donaumonarchie zur Zeit MariaTheresias. In: PLASCHKA, Richard Georg/KLINGENSTEIN, Grete (Hgg.): Österreich im Europa derAufklärung. Kontinuität und Zäsur in Europa zur Zeit Maria Theresias und Josephs II. Band 2, Wien 1985, S. 847–866. 25 K ARNIEL, Joseph: Zur Auswirkung der Toleranzpatente für die Juden in der Habsburgermonarchie im josephinischen Jahrzehnt. In: B ARTON, Peter F. (Hg.): Im Zeichen der Toleranz. Aufsätze zur Toleranzgesetzgebung in den Reichen Joseph II., ihren Voraussetzungen und ihren Folgen. Wien 1981, S. 203–220, hier S. 216.

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wollte.26 Joseph II. setzte nur eine bereits be gonnene Entwicklung fort, mit der in Ungarn das Deutsche als Sprache der Intelligenz, der Stadtbe völkerung, der Verwaltung der in Ungarn tätigen Zentralbehörden (wie der ungarischen Hofkammer , des Statthaltereirates etc.) sowie einer Mehrheit der Lehrer im Schulbereich bereits heimisch ge worden w ar. Einer v om Statthaltereirat 1784 v orgenommenen Erhebung zufolge beherrschten von 338 in Mittelschulen und Hochschulen tätigen Lehrern der fünf Schulbezirke Ungarns 304 und damit knapp 90 Prozent die deutsche Sprache. Bis heute wird vielf ach übersehen, dass in den Volksschulen der Unter richt in der Muttersprache der Kinder und damit in Ungarisch für ungarische Kinder von dieser Amtssprachenreform völlig unberührt geblieben ist, da nur die höheren Schulen von ihr betrof fen waren, sich jedoch im Laufe der 1780er Jahre bald herausstellte, dass die von Joseph II. angestrebte obligatorische Einführung des Deutschen als Unterrichtssprache in den Gymnasien und Hochschulen auf Hindernisse stieß, die re gional sehr unterschiedlich groß w aren, doch die Reform im Bereich dieser Schulen mehr oder weniger ausgebremst haben.27 Andererseits haben die ungarischen Anhänger des Josephinismus in dieser Sprachreform große Vorteile für die nötige Modernisierung des Landes durch die in deutscher Sprache intensivierte Verbreitung des aufklärerischen Gedankengutes gesehen und sie deshalb entschieden unterstützt. Miklós Révai, Lehrer an der Raaber Normal- und Musterschule, setzte in seinem in der ungarischen Zeitschrift „Magyar Hírmondó“ erschienenen Artikel die Einführung des Deutschen in einen ursächlichen Zusammenhang mit der „Rückständigkeit“ der ungarischen Sprache. Dieser Zusammenhang hat wiederum die Protagonisten der ungarischen Sprachreform auf den Plan gerufen und dafür gesorgt, dass die Erneuerung und Standardisierung der Muttersprache als Motor der Nationalbewegung ab dem Ende des 18. Jahrhunderts rasch an Wirkung gewonnen hat. Rév ai sah in der Förderung der ungarisch-deutschen Zweisprachigkeit das wirksamste Instrument für die Verbreitung der Aufklärung. Er schlug deshalb 1788 in einer Eingabe an die Schulbehörde v or, in seiner Raaber Schule am Vormittag deutsch, am Nachmittag ungarisch zu unterrichten, so dass die Deutschen Ungarisch und die Magyaren Deutsch lernen könnten. 28 Am enthusiastischen äußerte sich jedoch als P arteigänger der josephinischen Reform Ferenc Kazinczy, der spätere Anführer der ungarischen Sprachreform, der als Schulinspektor des Bezirks Kaschau 1789 das Deutsche als „Vehikulum der Gelehrsamkeit“ und als den „leichtesten Weg der Aufklärung“ rühmte, den deutschsprachigen Unterricht daher als nützlich und notwendig ansah und ausdrücklich herv orhob, dass sich ein solcher nicht gegen das Ungarische richtete.29 Im Konkurrenzpotential des Deutschen als führende Umgangssprache innerhalb des ungarischen Königreiches erkannte die um die „ungarische Nation“ sich allmählich sammelnde ungarische Elite die größte Gefahr für die angestrebte nationale Geltung der ungarischen Sprache, die sie in der Folgezeit aus diesem Grund möglichst rasch zu reformieren 26 K OSÁRY: MŠvelŒdés a XVIII. századi Magyarországon (wie Anm. 23), S. 434. 27 Ebd., S. 437. 28 Ebd., S. 438. 29 Ebd., S. 439. Kazinczy hat übrigens sein Plädo yer für den deutschsprachigen Unterricht sowohl in Deutsch als auch in Ungarisch publiziert.

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und damit zu modernisieren suchte. Somit ist der nachfolgenden Schlussfolgerung zuzustimmen: „Der Versuch Joseph II., die deutsche Sprache in Ungarn alsVerwaltungssprache anstelle des Lateinischen einzuführen, trug mittelbar zur Erheb ung des Magyarischen zur Nationalsprache bei.“30 5.1. Religionspolitik Der Erlass des Toleranzpatent Josephs II. ist – wie Joseph Karniel gezeigt hat – weniger auf die aufgeklärte Überzeugung des Monarchen und seiner Ratgeber als auf den militärischen, wirtschaftlichen und be völkerungspolitischen Konkurrenzdruck Preußens zurückzuführen. Ein v om Wiener Hof w ahrgenommenes Beispiel dafür war die Aufnahme der aus Salzb urg vertriebenen Protestanten in Preußen, w ovon dieses Land erheblich profitierte, während Salzburg selbst großen wirtschaftlichen Schaden erlitt. Von seinem Kontrahenten Friedrich II. übernahm Joseph II. die Anschauung, dass die Förderung der Toleranz, auch der interkonfessionellen Toleranz, ein wohlverstandener Vorteil sowohl des Staates als auch des Herrschers sei, ohne jedoch dessen Fürsorge für die jeweilige Staatskirche zu v ernachlässigen.31 In der vom Staatskanzler Kaunitz v erfolgten Außenpolitik mit ihrem obersten Ziel der Rückeroberung Schlesiens war das Konzept der religiösen Toleranz zur Wiedergewinnung der Protestanten so wohl in den Erbländern und in Ungarn als auch im Alten Reich v or allem ein politisches Instrument, um die Stellung Preußens im Reich und insbesondere im Reichstag zu schwächen und eine Reihe kleinerer protestantischer deutscher Staaten auf die Seite der Habsburger zu ziehen.32 Doch erst unter der Alleinherrschaft Josephs II. konnte sich der Toleranzgedanke auch innenpolitisch durchsetzen, und das K onzept der religiösen Toleranz wurde zur Grundlage der von Joseph II. verfolgten Politik gegenüber den religiösen Minderheiten in seinem Reich, das er dadurch nach innen festigen und nach außen k onkurrenzfähiger machen w ollte. Ihm ging es nicht zuletzt auch darum, eine Abwanderung größerer Gruppen v on religiösen Minderheiten besonders in Richtung Preußen (Protestanten) und Russland (Orthodoxe) zu verhindern. Deshalb gestattete er auch allen, die aus Religionsgründen noch unter der Herrschaft seiner Mutter MariaTheresia vertrieben worden waren oder freiwillig ins ausländische Exil ge gangen waren, zurückzukehren und die meisten dieser Rückk ehrer erhielten auch ihr Eigentum zurück.33 Das Toleranzpatent hat die soziale Mobilität aller nichtkatholischen Be völkerungsgruppen sowohl horizontal im Sinne ihrer territorialen Ausdehnung und Ver30 A

DRIAENSSEN, Christine: Der Kampf zweier aufrührerischer Völker zur Erhaltung ihrer Verfassung im Spiegel der zeitgenössischen politischen Literatur. Erste Ansätze zu einer vergleichenden Darstellung der belgischen Pro vinzen und Ungarns in den Jahren 1789/92. In: Das achtzehnte Jahrhundert und Österreich. 6 (1990/91), S. 119–131, hier S. 124. 31 Ausschlaggebend hierfür w ar die Be gegnung Josephs II. mit Friedrich II. 1769 in Neiße. – KARNIEL: Die Toleranzpolitik (wie Anm. 7), S. 130 f. 32 Ebd., S. 81. 33 Ebd., S. 321.

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dichtung durch Migration und Gemeindebildung als auch v ertikal im Sinne ihres sozialen Aufstiegs ganz wesentlich gefördert, zum Teil überhaupt erst ermöglicht. Über die Auswirkungen dieses Patents äußerte sich der lutherische Pastor Gottlieb Gamauf von Ödenburg/Sopron in seiner zeitgenössischen Pf arrchronik wie folgt: „Früher konnte der Rechtsgelehrte, der Arzt und der Krieger auf keine Beförderung hoffen, wenn er nicht Verräter seines Herrn werden wollte. [Das ist als Anspielung auf den Zwang zum Konfessionswechsel zu verstehen. – Anm. von G. S.] Mit dem Toleranzpatent änderte sich das alles. Da wurden hunderte Kirchen und Schulen geöffnet, welche Lehrer bedurften. Da frug man nicht mehr den, der einAmt haben wollte: Wes Glaubens bist du? sondern nur: Welche Fähigkeiten besitzt du dafür? Und wie mußte da nicht allenthalben der Sinn für Wissenschaft und Geistesbildung mächtig angeregt werden! Selbst auf Seiten der Katholiken …“34 Aus der Chronik Gamaufs geht auch hervor, dass die protestantische Bevölkerung zum ersten Mal seit 200 Jahren, seit den k onfessionellen Auseinandersetzungen der Reformationszeit wieder Vertrauen gefasst hat in die habsburgische Obrigkeit, den Kaiser, weil dieser mit seinem P atent ein friedliches Zusammenleben aller Konfessionen begründete. Und was längerfristig gesehen noch viel wichtiger war: Das P atent ermöglichte die Institutionalisierung k onfessionell definierter Gruppen im öffentlichen Leben, auch in den Bereichen Wirtschaft und Kultur. Bei den orthodoxen Serben und den unierten wie orthodox en Rumänen, deren religiös definierte Abgrenzung mit ihrer ethnischen zusammenfiel, hat es die Gruppenbildung ganz wesentlich befördert und deren beständiges Identitätsmanagement gesichert. Das gilt auch für Diasporagemeinden deutscher oder slowakischer Zunge mit lutherischer Konfession, die sich in Abgrenzung von ihrer konfessionell bzw. ethnisch unterschiedlichen Umgeb ung ein neues Selbstbe wusstsein erw arben, das nicht in jedem Fall an Traditionen anzuknüpfen vermochte, sondern im Falle ihrer Neuansiedlung erst solche aufzubauen hatte. Das gilt jedoch auch in besonderem Maße für die Juden, die sich nunmehr erstmals wirtschaftlich differenzierten, Grund und Boden für landwirtschaftliche Zwecke pachten und damit auch Ackerbau betreiben durften, was vor allem in Galizien und in der Bukowina, in geringerem Maße auch in Ungarn von Bedeutung war.

6. Statistik und Sozialstruktur Mit den neuen Ideen über den Staat und seiner merkantilistischen Wirtschaftspolitik wurde das „Humankapital“, also die Frage, wie viel Menschen diesen Staat ausmachten, die als Arbeitskräfte, Steuerzahler und Rekruten ihm dienten, immer wichtiger. Das Bedürfnis, darüber genaue Daten zu erheben, wuchs und die Stati-

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PIEGEL-SCHMIDT, Friedrich: Die e vangelische Gemeinde Ödenb urg in der Toleranzzeit. In: BARTON, Peter F . (Hg.): Im Lichte der Toleranz. Aufsätze zur Toleranzgesetzgebung des 18. Jahrhunderts in den Reichen Joseph II., ihren Voraussetzungen und ihren F olgen. Wien 1981, S. 131–169, hier S. 135.

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stik wurde zum inte grierenden Bestandteil der Herrschaftsstrate gien.35 Die erste genauere, die josephinische Statistik des Jahres 1785 gibt uns die Möglichk eit, für das Königreich Ungarn strukturelle Veränderungen zahlenmäßig zu verdeutlichen, und zwar im Vergleich der Neoacquistica, also der nach der Türkenzeit neu besiedelten Gebiete mit Rest-Ungarn. Die Überle gung, dass in den Neoacquistica das Reformwerk Maria Theresias und Josephs II. sich am wirksamsten entfalten konnte, findet in den markanten soziostrukturellen Unterschieden, die diese Gebiete imVergleich zu den übrigen Regionen auszeichnen, ihre statistische Bestätigung. Gemäß der Verwaltungseinteilung Josephs II. Ungarns in 10 Bezirke sind zwei Bezirke, die zu den Neoacquistica gehören, deutlich von den übrigen zu unterscheiden, nämlich der Bezirk Pécs (mit den Komitaten Tolna, Baranya, Szerém, VerŒcze und Somogy) und der Bezirk Temesvár, worunter in der Statistik Banat und Batschka zusammengefasst wurden. Die von der Volkszählung zur Verfügung gestellten Parameter sind der jeweilige Anteil des Adels, der Bauern und der bäuerlichen Unterschichten an der Gesamtbevölkerung. Der Anteil des Adels im Landesdurchschnitt war im europäischen Vergleich sehr hoch, er belief sich nämlich auf 5 Prozent (hierin w ar Ungarn mit Spanien vergleichbar), mit komitatsweisen Spitzen bis zu 16 Prozent. Dieser Anteil lag in den beiden Bezirk en Pécs und Temesvar wesentlich niedriger bei 1,3 bzw. 0,5 Prozent. Der Anteil der Bauern mit eigener Hofstelle betrug im Landesdurchschnitt 14,1 Prozent, lag in den beiden Bezirk en jedoch deutlich darüber, nämlich bei 22,6 Prozent. Der Anteil der bäuerlichen Unterschichten (zsellér) betrug im Landesdurchschnitt 22,2 Prozent, lag in den beiden Bezirk en jedoch deutlich darunter bei 18 Prozent. Es sind dies die einzigen beiden Bezirk e des Königreiches, in denen der Anteil der Bauern größer w ar als der Anteil der landarmen bzw. landlosen Agrarbevölkerung.36 Die Sozialstruktur der beiden Bezirk e, d. h. eines großen Teils der Neoacquistica, fiel damit wesentlich ausgeglichener und fortschrittlicher aus als im übrigen Ungarn. Das lässt sich hypothetisch dahingehend zusammenfassen, dass hier die Tendenzen und die strukturellen Auswirkungen des mariatheresianischen und josephinischen Reformwerks früher und deutlicher wirksam geworden sind als in den übrigen Regionen Ungarns. Es ist wohl auf die bis heute andauernde Dominanz der nationalromantischen Geschichtsschreibung zurückzuführen, dass diese auffälligen Strukturunterschiede von der ungarischen Geschichtsschreibung bislang nicht thematisiert und näher untersucht wurden. Das Geschichtsbild dieser Epoche des 18. Jahrhunderts ist Kosáry zufolge von Chiffren wie „nationaler Nieder gang“ und „Entnationalisierung“ (der Aristokratie als der politischen Elite) geprägt und die Epoche selbst wurde bereits 35 Zu den Anfängen der Statistiken im Habsburgerreich siehe DURDIK, Christel: Bevölkerungs- und Sozialstatistik in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert. In: H ELCZMANOVSZKI, Heimold (Hg.): Beiträge zur Bevölkerungs- und Sozialgeschichte Österreichs. München 1973, S. 225–266. 36 Die Zahlen wurden v eröffentlicht von THIRRING, Gusztáv: Magyarország népessége II. József korában [Die Bevölkerung Ungarns zur Zeit Josephs II.]. Budapest 1938, S. 132–137. Die Parameter für die übrigen, in der josephinischen Volkszählung berücksichtigten Erwerbs- und Gesellschaftsgruppen betrugen im Landesdurchschnitt für den Klerus 0,4 %, für die Beamten und Honoratioren 0,1 Prozent, für die Stadtbe völkerung 2,2 Prozent, für die Erben der Stadtund Landbevölkerung zusammen 14,5 Prozent und für die Armen 5,6 Prozent.

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von der ungarischen Nationalhistoriographie des 19. Jahrhunderts und noch mehr von den Historikern nach Trianon weniger als „Neuaufbau“,37 sondern vielmehr als Anfang vom Ende interpretiert; nämlich als das Zeitalter , in dem durch Migration und Neubesiedlung die ethnische Struktur des Landes zu Ungunsten der Magyaren, die dadurch in eine Minderheitenposition geraten w aren, sich entscheidend veränderte und damit die ethnisch-demographischen Voraussetzungen für den späteren Zusammenbruch des Königreichs am Ende des Ersten Weltkriegs geschaffen worden wären. Diese primär ethnisch-demographisch akzentuierte Geschichtsinterpretation verstellt bis heute die Sicht auf die wesentlichen Struktur- und Entwicklungsmerkmale des 18. Jahrhunderts, in dem nicht nur die Verwüstungen der Türkenkriege beseitigt, sondern auch der Grundstein zu einem modernen, sich allmählich verbürgerlichenden Ungarn gelegt wurde. Wie schwer es noch immer ungarischen Historikern bis in die Gegenwart fällt, sich vom Ballast dieser Nationalhistoriographie zu befreien, geht aus dem Beitrag von János Barta über das Thema „Die Bauernpolitik Habsburgs und die Nationalitäten Ungarns“ herv or, der hier stellv ertretend für viele andere abschließend unter dem Aspekt untersucht wird, wie die Reformpolitik des Wiener Hofes und derenAuswirkungen auf Ungarn derzeit bewertet wird.38 Auch Bartas Beitrag ist ethnisch-demographisch akzentuiert und schon deshalb ist seine Hauptfragestellung, welche Vor- oder Nachteile die Wiener Reformpolitik für die einzelnen Volksgruppen, die Magyaren und die Nationalitäten nach sich zog, ziemlich ungeeignet, um den K ern dieser Reformpolitik und damit auch ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft und deren v erschiedenen Gruppen und Schichten zu erfassen. Denn die Reformpolitik und deren Protagonisten haben zwar die ethnische Vielfalt gerade im Königreich Ungarn zur Kenntnis genommen, doch sich in k einer Weise an dieser orientiert oder sie in ir gendeiner Weise in ihre Reformpolitik einbezogen, wie Barta mehrmals erstaunt feststellt.39 Der Grund für die Abwesenheit je glicher di vide-et-impera-Politik in Bezug auf einzelne Nationalitäten (wie sie im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer mehr in Mode gekommen ist, aber häufig noch auf das 18. Jahrhundert – bei Barta allerdings schon deutlich eingeschränkt – rückprojeziert wird) ist v or allem darin zu sehen, dass Staatskanzler Kaunitz und Kaiser Joseph II. niemals eine Nationalitätenpolitik, sondern aus37 K

OSÁRY, Domok os: Újjáépítés és polgárosodás 1711–1867 [W iederaufbau und Verbürgerlichung 1711–1867]. (Magyarok Európában 3.) Budapest 1990, S. 30f; Kosáry verweist hier auf den „Dogmatismus“ der nationalromantischen Geschichtsschreib ung, der vielf ach bis heute den Blick auf die tatsächliche Bedeutung des 18. Jahrhunderts als „Zeitalter des stufenweisen Aufstiegs, der Regenerierung“ Ungarns und des Neuanfangs – so Kosáry – verstellt hat. 38 B ARTA, János: A Habsburg jobbágypolitika és a magyarországi nemzetiségek [Die Bauernpolitik der Habsb urger und die Nationalitäten Ungarns]. In: B ARTA, Janos (Hg.): Habsb urgok és Magyarország a XVI.–XVIII. században. Tanulmányok [Die Habsb urger und Ungarn im 16. bis 18. Jahrhundert. Studien]. Debrecen 1997, S. 99–110. 39 Beispielsweise weist Barta auf S. 105 darauf hin, dass für das Ausfüllen der Fragebögen zur Urbarialregulierung Maria Theresias bei der Befragung der Bauern ausdrücklich der Gebrauch ihrer Muttersprache verlangt wurde. Im Übrigen ist hier auch darauf hinzuweisen, dass es eine gewohnheitsrechtliche Regel war, die Ansiedlungsverträge für die Kolonisten jeweils in deren Muttersprache abzuf assen, bei serbischen oder ruthenischen K olonisten auch in k yrillischer Schrift.

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schließlich eine k onfessionelle Minderheiten politik betrieben haben, die sich um die Einbindung und Integration vor allem der protestantischen, orthodoxen und jüdischen Bevölkerung in Staat und Gesellschaft bemüht hat. Deshalb waren alle „die Lage der Bauern unmittelbar betreffenden Verordnungen gleichen Inhalts, ungeachtet dessen, dass sie unterschiedliche Auswirkungen auf die Nationalitäten hatten.“ Etwas unsicher stellt Barta daher fest, dass „wir den Anteil der Habsburger Politik zum Vorteil der Nationalitäten nicht überschätzen sollten.“ 40 Diese Beurteilung trifft nach Barta auch ausdrücklich auf die Deutschen zu, „die dem Hof am nächsten standen“, eine hypothetische Feststellung, die auf ihre Richtigkeit auch näher überprüft werden sollte. Um sodann die Magyaren wiederum in den Mittelpunkt zu rücken, stellt Barta zutreffend fest, „dass die Wiener Politik absichtlich die Nationalitäten überhaupt nicht bevorzugten, wie wir gewöhnt waren, das anzunehmen.“ Doch beeilt er sich gleich, diese kühne Beurteilung sofort wieder abzuschwächen, wenn er im nächsten Satz darauf hinweist: „Das bedeutet zugleich jedoch nicht, dass die Folgen dieser Politik für das Ungartum neutral geblieben wären.“41 Deshalb kommt Barta zu der wenig überzeugenden, weil v on ihm nicht näher bele gten, aber den historiographischen Traditionen verhafteten Schlussfolgerung, „dass die Vergünstigungen, die den Ansiedlern gewährt wurden, mehr die von der Nationalitätenbevölkerung bewohnten Gebiete betrafen als die ungarischen. Neben anderen Maßnahmen hat auch die Bauernpolitik der Habsburger im 18. Jahrhundert für die Nationalitäten Vergünstigungen gebracht, an denen das Ungartum k einen Anteil hatte.“ 42 So ist auch die Studie v on Barta ein Beispiel dafür, wie sehr ethnisch akzentuierte Nullsummenspiele an den ethnisch übergreifenden und für diese Epoche entscheidenden Zusammenhängen im Reformwerk der Habsb urger in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vorbeigehen und solche dadurch nur höchst unzureichend er fasst und gewürdigt werden können.

40 Ebd., S. 106. 41 Ebd., S. 107. 42 Ebd., S. 108.

„Quo ita cicures ac industriosi e vaderent“. Agrarmodernisierungen und ethnische Veränderungen als komplementäre Entwicklungsprozesse in Südtransdanubien Norbert Spannenberger Das „große 18. Jahrhundert“ der Habsburgermonarchie, wie Hanns Leo Mikoletzky diese Zeit nannte, w ar eine Zeit der permanenten Reformen und der Suche nach Verbesserung der Funktionstüchtigk eit des Staates. 1 Der „rationale Staat“, den es nach Max Weber „nur im Okzident ge geben hatte“ 2, beanspruchte für sich, die Imperativen makroökonomischer Entwicklungsprozesse mitzugestalten, zumindest wollte er ihnen nicht machtlos ausgeliefert sein. Von entscheidender Relevanz war die Etablierung einer staatlichen Wirtschaftspolitik, die sich laut Max Weber durch „Kontinuierlichkeit“ und „K onsequenz“ auszeichnete 3, und die im Habsb urgerreich der Gesamtökonomie des neuen Imperiums inno vative Impulse verlieh.4 Die Wiederherstellung der politischen Einheit des Königreiches Ungarn nach der Vertreibung der Osmanen, Frieden im Inneren, doch Krie ge in Europa so wie die allmähliche Schaffung eines stehenden Heeres im Habsburgerreich schufen u. a. günstige Voraussetzungen für den Aufschwung auch der ungarischen Landwirtschaft im 18. Jahrhundert.5 Die Modernisierungsintention des „rationalen Staates“ musste aber durch diverse Kanäle vermittelt werden. Die vermittelnden Instanzen waren entweder offizielle, wie etwa die Komitatsbehörden, oder inoffizielle, wie etwa der Verwaltungsapparat der Grundherrschaften, die jedoch nicht zwingend die staatlichen Impulse umgesetzt hatten. Zu dieser Ebene gehört allerdings eine spezielle Gruppe als Träger von Reformprozessen, nämlich die Aufklärer, die in der ungarischen Fachlitera1M

IKOLETZKY, Hanns L.: Österreich. Das große 18. Jahrhundert. Von Leopold I. bis Leopold II. Wien 1967. 2 W EBER, Max: Wirtschaftsgeschichte. München und Leipzig 1924, S. 289. 3 Ebd., S. 293. 4 Einen strukturellen Überblick anhand der aktuellen F orschungslage bietet WINKELBAUER, Thomas: Nervus rerum Austriacarum. Zur Finanzgeschichte der Habsb urgermonrachie um 1700. In: Die Habsburgermonarchie 1620 bis 1740. Leistungen und Grenzen des Absolutismusparadigmas. Hg. von: D ERS. und Petr M AT`A. Stuttgart 2006, S. 179–217.; L ÜTGE, Friedrich: Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Ein Überblick. Berlin, Heidelber g, New York 1979, S. 321–349. 5 Für Ungarn speziell siehe pars pro toto WELLMANN, Imre: MezŒgazdaság [Landwirtschaft]. In: Magyarország története 1686–1790 [Geschichte Ungarns 1686–1790]. Hg. v on GyŒzŒ EMBER und Gusztáv H ECKENAST. Bd. 1. Budapest 1989, S. 507–534.; ECKHART, Ferenc: A bécsi Udvar gazdasági politikája Magyarországon Mária Terézia korában [Die Wirtschaftspolitik des Wiener Hofes in Ungarn unter Maria Theresia]. Budapest 1922.; EMBER, GyŒzŒ: Mária Terézia úrbérrendezése és az államtanács [Die Urbarialre gulierung von Maria Theresia und der Staatsrat]. Budapest 1936.

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tur nur peripher thematisiert und daher letztlich marginalisiert werden.6 Ob jedoch all diese Reformimpulse tatsächlich und in welchem Umfang verwirklicht wurden, hing v on der Rezeptionsbereitschaft einer Gemeinschaft auf der Mikroebene ab . Die zeitgenössischen Aufklärer strukturierten diese Konstellation unter dem Oberbegriff des ordo: Um den Idealzustand einer „geordneten“ Gemeinschaft auf der Mikro- und auf der Makroebene zu erreichen, bedarf es eines Tugendkatalogs, an dem sich alle orientieren und der eingehalten wird. Dies sei nur mit dem Gegenteil einer ökonomisch planlosen und ungezügelten Lebensführung zu erreichen, und so sollen die Menschen gezähmt („ cicur“) werden und einer rationellen, effizienten, also geordneten Arbeit ( industriosa) nachgehen. 7 Es ging dabei aber nicht um Frömmigkeitsbestrebungen. „Selig, die aus dem Schaden der anderen lernen“ w ar die Losung dieser Gelehrten, und so nahmen sie sich v or, zu analysieren, den einzelnen Menschen zu v erbessern, damit sich zum Wohle der Gesamtheit die ganze Gesellschaft v erbessert.8 „Jubet amor patriae, natura juv at, necessitas ur get, sub rege, Lumine et Numine crescat opus!“ – empf ahl Sámuel Tessedik, der vielleicht bekannteste ungarische Vertreter dieser Gattung, in seinem wichtigsten Werk Der Landmann in Ungarn.9 Aus den zuv or angestellten Überle gungen heraus erscheint es le gitim, die Grundherrschaften, v ertreten durch den Führungsapparat und die Hierarchie der Gutsverwalter bzw. Herrschaftsbeamten, als dominante Akteure eines k omplexen Entwicklungsprozesses einzuordnen, hierbei am Beispiel der Esterházys in Süd-

6 Vgl. u. a. BARTA, János jun.: A felvilágosult abszolutizmus agrárpolitikája a Habsb urg- és a Hohenzollern-Monarchiában [Die Agrarpolitik des aufgeklärten Absolutismus in der Habsburger- und der Hohenzollernmonarchie]. Budapest, 1982.; WELLMANN, Imre: A mezŒgazdaság a felvilágosult abszolutizmus k orában [Landwirtschaft im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus. In: Magyarország története 1686–1790 [Geschichte Ungarns 1686–1790]. Hg. v . GyŒzŒ EMBER und Gusztáv H ECKENAST. Bd. 2. Budapest 1989, S. 976–985.; TÓTH, István György: Az úrbérrendezés [Die Urbarialregulierung]. In: DERS. (Hg.): Milleniumi Magyar történet. Magyarország története a honfoglalástól napjainkig [Ungarische Milleniumsgeschichte. Geschichte Ungarns von der Landnahme bis heute]. Budapest 2001, S. 307–309. 7 M AYER, Johann Friedrich: Lehrb uch für die Land- und Haußwirthe in der pragmatischen Geschichte der gesamten Land- und Hauswirthschafft des Hohenlohe Schillingsfürstischen Amtes Kupferzell. Faksimiledruck der 1773 in Nürnberg erschienenen Ausgabe mit einem Nachwort von Dr. h. c. Karl Schumm. Schwäbisch Hall 1980. „Sie [die Bauern] wissen es und glauben es aber, daß ein guter Christ ein guter Haushalter sei und ein böser Haushalter ohnmöglich ein guter Christ sein könne“. D ERS.: Kupferzell durch die Landwirtschaft im besten Wohlstande. Das lehrreichste und reizendste Beispiel für alle Landwirte, sich durch und in ihrem Berufe sicher, froh und bestens zu beglücken. Leipzig 1973, S. 27. 8 Zur ungarischen Rezeption sieheWELLMANN, Imre: A mezŒgazdaság (wie Anm. 6), hier S. 976– 985. 9 Vgl. ZSIGMOND, Gábor (Hg.): Tessedik Sámuel és Berzeviczy Gergely. A parasztok állapotáról Magyarországon [Sámuel Tessedik und Gergely Berzeviczy. Über die Lage der Bauern in Ungarn]. Budapest 1979, S. 100. Das Werk erschien unter dem Titel Der Landmann in Ungarn, was er ist und was er se yn könnte, im Selbstv erlag 1786. Zur Biographie v on Tessedik siehe u. a. NÁDOR, JenŒ/KEMÉNY, Gábor: Tessedik Sámuel élete és munkája [Leben und Wirken von Sámuel Tessedik]. Szarvas 1936.; TÓTH, Lajos: Tessedik Sámuel (1742–1820). Szarvas 1976.

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gungen Transdanubien.10 Einschränkend muss aber betont werden, dass diese Überle wegen der systemimmanenten Struktur ausschließlich für die großen Herrschaften Gültigkeit haben, denn die Analyse der Zwergherrschaften von Kleinadeligen, deren Besitz sich auf lediglich einige wenige Dörfer erstreckt hatte, würde zu anderen Ergebnissen führen. Doch in unserem Falle gibt es gar keine andere Wahl, denn in Südtransdanubien befanden sich 90 Prozent der Urbarialfelder in der Hand der Magnaten und der hohen kirchlichen Würdenträger. In einem weiteren Schritt soll dieses Anliegen aus der Perspektive eines Aufklärers vom Lande, nämlich des evangelischen Pfarrers aus Mekényes, thematisiert werden. Er verfasste seine Pfarrchronik explizit im Geiste von Sámuel Tessedik, womit es sich um eine wertvolle und in der Forschung bisher unberücksichtigte narrati ve Quelle von Seltenheitswert handelt.11

1. Grundherrschaften und Gewinnoptimierung Mit der Vertreibung der Osmanen setzte im letzten Quartal des 17. Jahrhunderts eine retardierte landwirtschaftliche Produktion im Königreich Ungarn ein, die bis in die 30er/40er Jahre des 18. Jahrhunderts währte.12 Die primitivste Form der freien Ackerfeldbenutzung w ar dafür ebenso ein Zeichen wie die Bodengemeinschaft eines Dorfes.13 Nach den Befreiungskriegen konnte sich – wegen Menschenmangel – diese Tendenz sogar noch v orübergehend verstärken. Der großzügige Umgang mit den Bodenreserven machte die Zwei- oder Dreifelderwirtschaft vielerorts überflüssig: Das Ackerfeld wurde bis zur Erschöpfung ausgebeutet, und dann wieder liegen gelassen.14 Regionale Unterschiede widerspiegelten sich auch in der landwirtschaftlichen Kultur: Dreifelderwirtschaft wurde nämlich nur im Nordwesten Transdanubiens 10 Zu den Dominien der Esterházys siehe u. a. G ATES-COON, Rebecca: The Landed Estates of the Esterházy princes. Hungary during the reforms of Maria Theresia and Joseph II. Baltimore, London 1994. 11 Evangélikus Országos Le véltár [Evangelisches Landesarchiv]. N OVÁK, János Jakab: Historia Ecclesiae Ev angel[icae] Oppidi Rátz-K ozár Inclito Co[mi]t[a]tui Baran yensi ingremiati ab Anno 1698. ceu primordio possessionis usque Annum 1801. 12 Ausführlich dazu siehe TÓTH, István Györ gy: P arasztság és mez Œgazdaság [Bauerntum und Landwirtschaft]. In: D ERS. (Hg.): Milleniumi Magyar történet. Magyarország története a honfoglalástól napjainkig [Ungarische Milleniumsgeschichte. Geschichte Ungarns v on der Landnahme bis heute]. Budapest 2001, S. 255–260.; WELLMANN, Imre: Népesség és mez Œgazdaság a XVII. és XVIII. század fordulóján [Be völkerung und Landwirtschaft um die Wende des XVII. und XVIII. Jahrhunderts]. In: Történelmi Szemle 4 (1975), S. 701–730. 13 Siehe dazu ausführlich VARGA, János: A földközösség megerŒsödése és bomlása a 18. században [Verstärkung und Zerf all der Bodengemeinschaft im 18. Jahrhundert]. In: S PIRA, György (Hg.): Tanulmányok a parasztság történetéhez Magyarországon 1711–1790 [Studien zur Geschichte des Bauerntums in Ungarn 1711–1790]. Budapest 1952, S. 7–49. 14 In Großkumanien auf der Großen Ungarischen Tiefebene sowie im Haiduckenland jenseits der Theiß w ar noch 1770 die nomadisierende Ackerfeldgemeinschaft üblich. S ZEKFÙ, Gyula: A tizennyolcadik század [Das 18. Jahrhundert]. In: H ÓMAN, Bálint; D ERS.: Magyar történet [Ungarische Geschichte]. Bd. VI. Budapest o. J., S. 227.

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und in Oberungarn, also im ehemals „königlichen Ungarn“ betrieben, das v on der Osmanenherrschaft verschont blieb und v on einer hohen Be völkerungsdichte gekennzeichnet war.15 Zugleich bestanden die Felder der Bauern oft nur aus kleinen Parzellen, die weit auseinander lagen und sich nur wenig effizient bearbeiten ließen – Dünger w ar nur in Westungarn bekannt und v erbreitet.16 Diese primiti ve Form war auch in den v on den Osmanen zurück eroberten, sog. neoaquistica-Gebieten Südtransdanubiens der F all. Deshalb musste der Gutsv erwalter der Esterházys in der Herrschaft Dombóvár noch 1729 ermahnt werden, er möge darauf hinwirk en, dass die Bauern nicht nach eigenem Belieben w ahllos das Ackerland besäen, sondern wie im ehemaligen – v on den Osmanen nicht beherrschten – „königlichen Ungarn“ auf einem Stück, nach Morgen ausgemessen und nebeneinander dasAckerfeld bearbeiten sollten.17 Doch die Bauern zeigten kein Interesse daran, nach den stürmischen politischen Ereignissen dieser Zeit auch ihre Wirtschaftsmethoden einer Revision zu unterziehen. Höchstens langsame Veränderungen betrachteten sie als wünschenswert, doch diese Einstellung kollidierte zuerst einmal nicht mit den Interessen der Herrschaft. Die meisten Grundherren Südtransdanubiens gingen zunächst da von aus, dass genügend Ressourcen an Arbeitskräften zur Verfügung stehen würden. Oft besiedelten tatsächlich umherziehende Menschen, geflohene Hörige, Abenteurer oder freie Fronbauern verlassene Pußten und Siedlungen, ohne sich angemeldet zu haben und benutzten die Ackerfelder und die Wiesen ohne Entgelt. Die Landflucht blieb bis in die 20er Jahre des 18. Jahrhunderts ein relevantes Problem.18 Deshalb versuchte der Adel mit allen Mitteln diese Art von Migration zu unterbinden. Im Gesetzartik el 101/1715 ließ der ungarische Reichstag v erabschieden, dass die ohne P ass vagabundierenden Untertanen nicht v on einem K omitat ins andere gelassen werden durften. Um die Be völkerungsbewegung innerhalb des sich auf mehrere K omitate erstreckenden Güterkonglomerats eines Grundherren zu unterbinden, was den Interessen des Fiskus entsprach, bestimmte das Gesetz 62/1723, dass Bauern nur dann in ein anderes Komitat legal umgesiedelt werden konnten, wenn auf dem alten Ort genügend Steuerzahler verblieben.19 15 C

SAPODY, Csaba: Az Esterházyak alsólendvai uradalmának gazdálkodása a 18. század elsŒ felében [Be wirtschaftung der Herrschaft Alsólendva der Esterházys in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts]. Budapest 1933, S. 10. 16 L UKÁCS, Zsófia: A szerzŒdéses jobbágyok helyzete hazánkban a XVIII. század folyamán a Mári Terézia-féle úrbérrendezésig [Die Lage der k ontraktualen Untertanen in unserem Heimatland im 18. Jahrhundert bis zur Maria Theresianischen Urbarialregulierung]. Budapest 1937, S. 13. 17 M ERÉNYI, Lajos: A dombóvári uradalom rendtartása 1729–ben [Instruktionen für das Dominium Dombóvár von 1729]. In: Magyar Gazdaságtörténeti Szemle 9/2–3 (1902), S.77–91, hier S. 88. 18 Vgl. dazu u. a. M AKKAI, László: Robot – summa – taxa. Az örökös jobbágyság rendszerének fejlŒdési tendenciái a XVII. század második felében [Frondienst – Summa – Taxe. Entwicklungstendenzen des schollengeb undenen Bauerntums in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts]. In: Történelmi Szemle 2 (1964), S. 330–338, hier S. 336 f. 19 Das Gesetz CI/1715 siehe http://www.1000ev.hu/index.php?a=3¶m=4490 (abgerufen am 16.07.2007). Dieses nahm direkten Bezug auf das Gesetz LXX/1659 über die Zurückerstattung der geflohenen Untertanen. Vgl.: http://www.1000ev.hu/index.php?a=3¶m=4152.

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Im „Flugbrief“ (Ansiedlungspatent) der Fürstenfamilie Esterházy vom 24. April 1701 wurde der Bedarf an Neusiedlern hervorgehoben. Im Bericht der Gutsverwalter wurde aber ausdrücklich betont, dass der Distrikt Ozora „per Dei gratiam aus der ungarischen Nation“ besiedelt werden k onnte.20 Diese Aussage war kein Versprechen, sondern wohl überlegt. Nicht allein wegen der blutigenAuseinandersetzungen während des Rákóczi-Aufstandes galten nämlich in den Augen der Herrschaftsbeamten die in großer Anzahl zurückkehrenden Raitzen als Gefahren- und Risikopotential. Das war ein Paradigmenwechsel, denn noch 1650 wurde der Verwalter vom Dominium Ozora ausdrücklich ermahnt, die „ungarischen und raitzischen Untertanen eifrig zu betreuen, und diese v or den Haiduck en und den Soldaten zu beschützen“.21 Doch schon nach den Befreiungskrie gen erwiesen sich die Raitzen in den Augen der Behörden und der Verwalter der Grundherrschaften oft als unzuverlässige Steuerzahler und ungehorsame Untertanen, obwohl etliche Grundherren mit ihrer dauerhaften Ansiedlung gerechnet hatten. Doch die Rechnung ging nicht auf. Vor dem Rákóczi-Aufstand griff man noch zu Gewaltmaßnahmen, um eine ethnische Flurbereinigung durchzusetzen. Der bekannteste F all war der in Döbrököz am 31. Mai 1699. Nach Augenzeugenberichten glich die Aktion den Haiduckengängen der Osmanenzeit: Die serbische Kirche wurde – während die Be völkerung der orthodoxen Liturgie beiwohnte – umzingelt, die herausströmenden, unbe waffneten Männer nieder gemetzelt und die Häuser geplündert. 22 Nach dem RákócziAufstand ging die Suche nach K olonisten v erstärkt fort. Zunächst galt nicht die ethnische Zugehörigkeit als relevant, sondern die Quantität der Siedler. Zurückkehrende Raitzen wurden zw ar wieder aufgenommen, diese aber „k onzentriert“ und möglichst von anderen ethnischen Gruppen isoliert gehalten. Der Abt von Szekszárd ließ deshalb die Raitzen in Szálka und Alsónána – neben Cikó, Apar und Grabovac [Grábóc] – zusammenlegen, um so die Kontrolle über sie zu sichern.23 Der Bedarf an Menschen ließ es also nicht zu, die Raitzen nicht wieder aufzunehmen. Sie galten aber oft als Risikopotential für die allgemeine Ruhe und Sicherheit. Im Dominium Dombóvár siedelten die Herrschaftsbeamten deutsche K olonisten an, um die Serben in die Schranken zu weisen, die die gültigen Hottergrenzen missachtet hatten. Das w ar natürlich k eine exklusive Verhaltensstrategie der Raitzen, sondern eine allgemein übliche Praxis. Die willkürliche Expansion der Bauern gegenüber den Nachbar gemeinden w ar nicht nur dem Grundherrn ein Är gernis, denn konnten die Eindringlinge mit Erfolg ein-, zwei Jahre Teile aus den Hottern der Nachbargemeinde an sich reißen, so hatten sie danach Anspruch darauf. 24 In 20 Magyar Országos Levéltár [Ungarisches Staatsarchiv; fortan MOL] P 150, fasc. 226. Fol. 114– 115. 21 MOL P 108. Rep. 35. fasc. Z, 24. 14473. 22 K AMMERER, ErnŒ: A döbröközi eset 1699 [Der Fall in Döbrököz 1699]. In: Tolnavármegye vom 25. Dezember 1908 und 3. Januar 1909. Hier zitiert nach S ZILÁGYI, Mihály: A grábóci szerb ortodox kolostor története [Geschichte des serbisch-orthodox en Klosters Grabotz]. In: Tolna megyei levéltári füzetek 7 (1999), S. 5–115, hier S. 109 f. 23 Ebda., S. 51. 24 W ELLMANN: MezŒgazdaság (wie Anm. 5), S. 539.

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einem Bericht an das Fürstenhaus wurde betont, dass in den Herrschaften infra lacum Balaton wegen der Domänengrenzen „große Unordnungen, Streitigk eiten, ja fast Totschläge“ vorherrschen. So wurde dafür plädiert, den Beamten v or Ort seitens der Zentralv erwaltung in Eisenstadt das Recht zuzubilligen, gemeinsam mit den Komitatsbeamten die verbindlichen Gemarkungsgrenzen festzulegen. Um solchen „überflüssigen Violenten“ entgegenzuwirken wurde zudem nahe gelegt, einen ständigen Procurator zu engagieren.25 Die Besiedlung der deutschen Dörfer TófŒ (um 1723) und Mekén yes (um 1735) ging nicht auf v orwiegend ök onomieorientierte Überle gungen der Herr schaftsverwaltung zurück, sondern erfolgte wegen der permanenten Übergriffe der raitzischen Bewohner von Maróc und der ebenfalls teils raitzischen Bewohner der Nachbargemeinden Apar, Vejke, Berény, Mucsi und Lengyel, die das Weideland von Mekényes als Weide- oder Ackerland benutzt hatten. 26 Doch selbst nach der Besiedlung von Mekényes nutzten die benachbarten Raitzen von Kozár die Felder von Mekényes, was Anlass zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Kolonisten und Altsiedlern gab. Die Herrschaft w ollte den gordischen Knoten – wie der Chronist schreibt – mit einem Schlag lösen, und ermahnte die Raitzen, die aber mit „ihren Untaten“ nicht aufhörten. 27 Daraufhin beschloss die Verwaltung, Deutsche auch in K ozár anzusiedeln, w omit man in Kauf nahm, dass die Serben deswegen den Ort verließen. Doch mit dieser letztlich für die Herrschaft doch ungünstigen Wende rechneten die Verwalter nicht, sondern man ging davon aus, dass die Raitzen mit der Zusiedlung der Deutschen „gezähmt“ würden. Der Pfarrer von Mekényes benutzte in seiner Chronik hierbei das lateinische Wort cicuro vo n 28 cicur, also „zahm“. Die Herstellung und Wahrung der öffentlichen Sicherheit und die K onsolidierung der Gemeindestrukturen bei gleichzeitiger Förderung der Subsistenzwirtschaft standen also in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts für die Ansiedlung von deutschen Kolonisten in den südtransdanubischen Dominien im Vordergrund, und noch nicht die Steigerung der Produkti vität und die Optimierung der herrschaftlichen Einkünfte. Zunächst einmal galt es als Grundvoraussetzung, Sicherheit und Konsolidierung anzustreben, um danach in einem zweiten Schritt gezielt die Produktivität 25 MOL, P 150. Fasc. 226. Repraesentationes Oeconomicae in Bonis infra Lacum Balaton situat, fol. 31–36. 26 Vgl. KÉRI, Heinrich: Frank en und Schw aben in Ungarn. Aufsätze zur Geschichte und Siedlungsgeschichte der Tolnau und der Oberen Baranya. Budapest 2002, S. 150. 27 Noch 1737 berichtete der e vangelische Geistliche aus Kismán yok über seinen Alltag: „Wir haben aber unsern feind schon in der nachbarschafft herum, das sind die gottlosen rätzen. Diese haben mir vor kurtzer zeit 2 pferdt gestohlen“. Hier zitiert nach C SEPREGI, Zoltán: Magyar pietizmus 1700–1756. Tanulmány és forrásgyŠjtemény a dunántúli pietizmus történetéhez [Ungarischer Pietismus 1700–1756. Studie und Quellensammlung zur Geschichte des Pietismus in Transdanubien]. Budapest 2000, S. 213. So wurden die Raitzen noch im 19. Jahrhundert in der Erinnerungskultur als die „von den Türken zurückgelassene Strafe“ betrachtet. Vgl. HÖLBLING, Miksa: Baranya vármegyének orvosi helyirata [Medizinische Ortsschrift des K omitates Baranya]. Pécs 1845, S. 83. 28 Evangélikus Országos Le véltár [Ev angelisches Landesarchi v]. N OVÁK: Ráck ozár (wie Anm. 11), S. 50.

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herrschaftlicher Einkünfte zu erhöhen. Das Gebot der Stunde hieß damit Regeneration, Aufbau, solide Zuverlässigkeit in der Wirtschaft und Steuerleistung, Sicherung der allgemeinen Ruhe als Voraussetzung ökonomischer Kontinuität, bei gleichzeitiger Wahrung etablierter landwirtschaftlicher Technologien. Quantität hatte Vorrang vor Qualität, d. h. das Sesshaftwerden möglichst vieler neuer Siedler wurde als Schlüssel des künftigen Erfolgs bewertet. Daran zeigten dieWirtschaftsbeamten ein genuines Interesse, denn als hauptberufliche Verwalter hingen auch ihr Einkommen und ihre Karriere von diesem Erfolg ab. Zugleich wurden Prinzipien berücksichtigt, die im Interesse der Siedler lagen: So weit möglich sollte ethnische und k onfessionelle Homogenität angestrebt werden, ein Idealzustand, der sich nicht immer v erwirklichen ließ.29

2. Steuerleistung und ethnische K omponenten bis 1770 Mit Stolz zählte der ungarische P atriot Windisch in seiner Geographie des Königreichs Ungarn auf: „Von Landesprodukten wird ausgeführt: Wein, allerhand Metalle, Mineralien, Pferde, Hornvieh, Schweine, Leder, rohe und gearbeitete Häute, Hasenbälge, Knoppern30, Pottasche, Unschlitt, Wolle, Tabak, Kalk, Wachs, Honig, Butter, frische und geräucherte Fische, hauptsächlich aber alle Arten von Getraide: Waizen, Gersten, Roggen, und Haber. – Sonst pflegte man Ungarn die Brodkammer von Oesterreich zu nennen, allein, auch noch weiter entle gene deutsche Provinzen holen bei entstehendem Mangel Brod aus Ungarn; und es sind schon oft, insbesonderheit aber be y dem 1770, und 1771 entstandenen allgemeinen Brodmangel in Deutschland in einem Jahre bis vier Millionen Metzen Getraide in die nothleidenden benachbarten Länder ausgeführt w orden“.31 Dies erfolgte – grob gezeichnet – in zwei Etappen. Etwa zwei Drittel des ungarischen Exportes richtete sich gen Wien, der Rest richtete sich gegen Mähren, die Steiermark, die österreichische Meeresküste und Schlesien. Der Export bestand v ornehmlich aus Lebensmitteln (v or allem aus Getreide, Wein und Tabak) und industriellen Rohstoffen, der Import von hier in erster Linie aus Luxusgütern, die den Bedarf des Adels deckten. Da der Export den Import stets mit 30–80 Prozent übertrof fen hatte, war stets eine Aktiva auf der ungarischen Seite zu v erzeichnen.32 Nach der Bilanz der Jahre 1764–66 k onnte Un-

29 Vgl. dazu ausführlich S PANNENBERGER, Norbert: K onfession und Gruppenbildungsprozeß bei den deutschen Migranten im Ungarn des 18. Jahrhunderts. In: K onfessionelle Pluralität als Herausforderung. K oexistenz und K onflikt in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Winfried Eberhard zum 65. Geburtstag. Hg. v. Joachim BAHLCKE, Karen LAMBRECHT und Hans-Christian MANER. Leipzig 2006, S. 603–619. 30 Verholzende Missbildungen am Fruchtbecher , hervorgerufen durch die Gall wespe, besonders bei Eichen. Früher wurde daraus Gerbstof f gewonnen bzw. das Pigment der Knoppern zum Färben von Stoffen. 31 W INDISCH, Karl Gottlieb von: Geographie des Königreichs Ungarn. Preßburg 1780, S. 61. 32 E CKHART: A bécsi Udvar (wie Anm. 5), S. 147.

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garn ein Plus v on zwei Millionen Gulden v erbuchen, 1771 wuchsen diese Aktiva dank der gesteigerten Getreideausfuhr noch weiter an.33 Von dieser Entwicklung profitierten in erster Linie die über große Maioratswirtschaften verfügenden Herrschaften, wie etwa die Esterházys, da sie im großen Umfang die notwendigen Getreidemengen zu produzieren v ermochten. Doch es gab auch eine weitere K omponente, die mit der inneren Entwicklung der Esterházyschen Güter zusammenhing. Die Übernahme des Fideik ommiss durch Fürst Nikolaus dem Prächtigen (1762–1790) führte zu einer fundamentalen Modernisierung im Distrikt Ozora: Meliorationen je glicher Art in der Wirtschaft sollten die enorm steigenden Ausgaben des ehrgeizigen Fürsten decken.34 Gesteigerte Einnahmen für die Deckung der Kosten fürstlicher Repräsentation und Machtfestigung w aren das Gebot der Stunde. Nik olaus II. trat mit 48 Jahren das Erbe seines Bruders P aul II. Anton an. Aus seinem Blickwinkel ließ dieser Schritt lange auf sich warten, deshalb ging er mit besonderem Elan daran, seinenVorgänger als Majoratsherrn zu übertreffen. Schon ein Jahr später begann er das kleine Schloss Süttör in einen großzügigen Palast umzubauen, der „im ungarischen Königreich nicht seinesgleichen finden soll“. Noch vor seiner Fertigstellung wurde er „ungarischesVersailles“ genannt, der Fürst selbst ließ ihn Eszterháza nennen.35 Die Zeitgenossen würdigten auch in diesem Sinne seine Anstrengung: „Nicht nur in den meisten Städten sieht man ganz schöne Kirchen, und Paläste, besonders aber, seit den geendigten innerlichen Unruhen auch die herrlichsten Luftschlößer, Landhäuser, und Gärten; unter welchen die gräflichen Luftschlößer zu Gödöli in der Pesther - zu Landsitz in der Preßb urgerhauptsächlich aber das überaus prächtige, weitläuftige, und sehr kostbar eingerichtete Fürstlich Esterházische Luftschloß, Esterház, be y dem Dorfe Schüttir in der Oedenburgergespanschaft, sehenswürdig sind, und selbst v on den v erständigsten Ausländern bewundert werden“.36 Dieser Beginn des Aufbaus des „Esterházyschen Feenreiches“ war für die Außenwelt beeindruckend, trieb aber das Imperium der Familie an den Rand seiner Leistungsmöglichkeiten.37

33 Wegen der Konjunktur aus dem Westhandel gingen die Handelsbeziehungen mit dem Osmanischen Reich sowie mit Polen deutlich zurück. Mit den Osmanen w ar sogar stets eine passi ve Handelsbilanz zu verzeichnen, da dorthin lediglich K upfer und Tuch ausgeführt wurde, während jährlich etwa 0,5–1,5 Millionen Schweine eingeführt und Richtung Österreich weiter geliefert wurden. Dasselbe galt auch für das Hornvieh. Eine positive Bilanz konnte stets aus dem Handel mit Polen verzeichnet werden, das als traditioneller Absatzmarkt von Wein und zunehmend von Tabak galt. 34 MOL P 150. Fasc. 233. 1778, fol. 18–19. Brief von Franz Vlassits an den Regenten Nagy vom 15. März 1778. 35 P ERSCHY, Jak ob Michael: Die Fürsten Esterházy – Zwölf kurzgef aßte Lebensbilder. In: Die Fürsten Esterházy. Magnaten, Diplomaten und Mäzene. Ausstellungskatalog. Hg. v . Johann SEEDOCH. Eisenstadt 1995, S. 47–60, hier S. 53. 36 W INDISCH (wie Anm. 31), S. 59. 37 Dieser Terminus entstand, nachdem Goethe Esterházy als Kapitän der ungarischen Leibgarde und Krönungsbotschafter in der Begleitung Josephs II. in Frankfurt am Main erlebte, und dieses Erlebnis in Dichtung und Wahrheit verewigt hatte. Ebd.

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Der Bedarf an zunehmenden Einnahmen seitens der Herrschaft und das Interesse der Gutsv erwalter an der Steigerung der Effizienz führte zu einer genauen Analyse der Extrakte der Rechnungsbücher . Exemplarisch möchte ich hierbei das Dominium Dombóvár der Fürstenf amilie Esterházy heranziehen, und die Er gebnisse der 1755 und 1765 erstellten Conscriptio Domestica Localis et P ersonalis vorstellen.38 Daraus geht hervor, dass die deutschen Gemeinden weit über ihre prozentuale Stärke im Spiegel der Einwohnerzahlen produktiv waren. Wenn man alle Leistungen summiert, so betrug die pro Kopf Steuerleistung 1755 im Durchschnitt 3,88 fl., w as v on leistungsstark en Gemeinden, wie etw a Szakcs, mit 4,9 fl. weit übertroffen wurde, und von traditionellen Zentren wie Döbrököz mit 3,6 fl. gehalten werden konnte. Von den 12 Kontraktualistengemeinden waren die zwei deutschen Dörfer TófŒ und Mekényes mit 15 und 40 Steuerzahlern – mit Ausnahme von Német Pulya (13) und Sásd (14) – die kleinsten Gemeinden. Dennoch konnte TófŒ mit 3,2 fl. pro Kopf Steuerleistung etwa dem Durchschnitt entsprechen, Mekényes weniger mit 2,82 fl. Doch wenn man berücksichtigt, daß TófŒ 1723 und Mekén yes 1735 besiedelt w orden waren, so lässt sich feststellen, dass schon nach 20 Jahren eine Durchschnittsleistung – z. B. wie im Falle von Mekényes – geleistet, und nach 30 Jahren – k onkret in TófŒ – bessere Leistungen als der Durchschnitt erbracht werden konnten. Die erfolgreichen ungarischen Gemeinden w aren wiederum solche, die auch die Osmanenzeit als Großgemeinden überlebt und eine solide K ontinuität aufzuweisen hatten. Deutlich wird aus diesen Rechnungsextrakten jedoch auch, dass sich die prozentualen Anteile an der Steuerleistung zugunsten der größeren Gemeinden bzw . der Marktstädten v erändert haben. Die Gemeinde Gyula nämlich brachte noch 1755 8,71 Prozent aller Steuern ein, zehn Jahre später schon 21,44 Prozent. Die kleinen Gemeinden jedoch, die auch bisher mit existenziellen Problemen zu kämpfen hatten, blieben insgesamt auf der Strecke. Zwerggemeinden mit unter 40 Steuerzahlern hatten künftig nur noch eine Chance, wenn eine intensi ve Einwanderung die ök onomische Entwicklung belebte, und sie halbwe gs an der Gesamtentwicklung in der Herrschaft mithalten k onnten. K ein Wunder, dass ausgerechnet in diesen ök onomisch unterentwickelten Gemeinden wie Jágónak, Gerén yes, Ágh, Töttös etc. eine forcierte Ansiedlung von Deutschen in den kommenden Jahren erfolgen sollte. Was waren die Gründe für diese Erfolge der deutschen Gemeinden? Natürlich nicht „ethnische Gründe“, denn die erfolgreichsten Gemeinden Dombóvár oder Gyula waren ungarisch, die in diesen 10 Jahren ihre Steuerleistung um das 1,5f ache bzw. 5,2fache gesteigert hatten. Ein Grund dafür w ar jedoch die Umw andlung der Robotverpflichtung in eine Geldabgabe. TófŒ löste die Robotleistungen bis 1765 mit einer Pauschalsumme von 120 fl. ab, was die erbrachten Abgaben um 150 Prozent der vor 10 Jahren geleisteten übertraf. Rein rechnerisch brachte also TófŒ 1765 pro Kopf schon 8 fl. ein. Welche Steigerungspotentiale in der Liberalisierung der Abgabenleistung der Untertanen bestand, zeigen die deutschen Gemeinden TófŒ und Mekényes. TófŒ brachte 1755 noch 1,55 Prozent und Mekén yes 2,73 Prozent aller 38 Esterházysches Privatarchiv Forchtenstein. Acta Varia. Conscriptio Domestica Localis & Per sonalis Inclyti Dominii Dombóvár pro Anno 1755.

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Steuern im Dominium Dombóvár auf. Dieser Beitrag erhöhte sich enorm, dennTófŒ steigerte seine Leistungen in diesen 10 Jahren um das 3,7f ache, und Mekényes gar um das 6,5fache. Von den insgesamt 26 Ortschaften stand diesmal TófŒ auf Platz 7, 39 und Mekén yes auf Platz 9 auf der Rangliste der steuerkräftigsten Gemeinden. Beide Dörfer arbeiteten mit einer überdurchschnittlichen Effizienz, indem eine disziplinierte ökonomische Steuerung der Dorfgemeinschaft bewerkstelligt wurde. Ein anderes Modell zeigte die ethnisch heterogene, raitzisch und deutsch bewohnte Gemeinde Ráck ozár. Sie bestätigt nämlich die se gensreiche Auswirkung forcierter Migration. In dieser ursprünglich raitzischen Gemeinde w anderten ab 1756 im großen Umfang deutsche Siedler ein. 1755 wurden noch insgesamt 55 Steuerzahler konskribiert, die 167,75 Gulden Steuer erbrachten, w as 3,25 Prozent aller Steuern aus der Herrschaft Dombóvár ausmachte. Kozárs Beitrag wuchs zehn Jahre später um das 7,3f ache auf 1.229 fl, was 11,21 Prozent der Gesamtsteuerleistung des Dominiums entsprach. K ozárs Aufstieg w ar eindeutig, denn 1755 w ar diese Gemeinde noch die 8. auf der Rangliste mit höchster Steuersumme, 1765 w ar sie schon auf Platz drei, und überholte die Stadt Döbrököz oder das ökonomisch florierende Dorf Szakcs, das zehn Jahre v orher noch diese Liste angeführt hatte! Die Einwanderung in K ozár w ar planmäßig und durchdacht. 40 Innerhalb v on dreißig Jahren stieg die Anzahl der deutschen Kolonisten auf 843 Personen in 112 Häusern, und dieser Zuwachs widerspiegelte sich auch in der Steuerleistung. Dieses positive Beispiel hinterließ seine Spuren auch in der Herrschaftsverwaltung. Mit besonderem Eifer machten nämlich nach der Regierungsübernahme durch Fürst Nikolaus dem Prächtigen die Inspektoren umf assende Vorschläge, wie „die Einkünfte vermehret werden könnten“.41 Die mit Abstand größten Summen machte die geplante Ansiedlung von Kleinhäuslern aus, die nach dem Vorschlag der Verwalter ausdrücklich deutsche Kleinhäusler sein sollten. Aufgrund des Anerbenrechts, das unter den Deutschen konsequent durchgesetzt wurde, gab es unter ihnen ein großes Potential an Siedlern, die an der Übernahme einer Kleinhäuslerstelle interessiert waren, weil es für sie in ihrer Heimatgemeinde nur sehr be grenzte Expansions- oder gar Selbstbehauptungsmöglichkeiten gegeben hatte. Diese Tatsache forcierte die Binnenkolonisation. Zugleich wurden mit der Theresianischen Urbarialregelung 1767 die Leistungen der Untertanen standardisiert. Dadurch w ar die Zahl der Robottage nur durch die Vermehrung von Robotpflichtigen zu erhöhen. 39 Esterházysches Privatarchiv Forchtenstein. Acta Varia. Conscriptio Localis & Personalis I. Dominii Dombóvár pro Anno 1765. Diese Position von TófŒ erklärt sich allerdings damit, da der Ort die Robot mit einer Pauschalsumme ablöste, woraufhin die bisherigen 80 fl. mit 120 fl. auf insgesamt 200 fl erhöht wurden. 40 Zur Einwanderung nach K ozár siehe ausführlich P FEIFFER, János: Egyházask ozár története a szerb falu keletkezésétŒl a németek kitelepítéséig [Geschichte von Egyházaskozár von der Entstehung des serbischen Dorfes bis zur Aussiedlung der Deutschen]. Egyházask ozár 1997, S. 67–142. 41 MOL P 150. Fasc. 232. 1775, fol. 127–130. Bericht v on Márton Tomkó vom 7. Januar 1772.; Ebda., fol. 131–134. Observationes quoad Dominium Ozora… Ebda., fol. 160–164. Specificatio Oppidorum Possesionum et Praediorum Inclyto Huicce Dominio Ozora incorporatum pro Anno 1775; MOL P 150. F asc. 232. 1773, fol. 24. Observ ationes von Stephan Somogyi aus Ozora vom 14. September 1773.

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Beim Ausbau der Maioratswirtschaft konnte die Herrschaft auf die obligatorischen Robotleistungen der Kleinhäusler flexibel zurückgreifen. Wurden diese Leistungen nicht in Anspruch genommen, so konnte doch ein Tag Handrobot in 20 Denar Geldabgabe umge wandelt werden. Die Größenordnung dieser Vorgänge wird erst im Spiegel der Abrechnungen der Herrschaft deutlich. Das ethnische Gesicht des Dominiums Dombóvár veränderte sich fundamental: In den insgesamt 23 Gemeinden des Dominiums lebten bis 1799 nunmehr in 13 Gemeinden Deutsche, während dies vor 1770 nur in 4 Orten der Fall war. Das war ein prozentualer Anstieg von 17,3 Prozent auf 56,6 Prozent. Vor 1750 machten nur in zwei Dörfern, nämlich in Mekén yes und TófŒ die Deutschen die Mehrheit aus, beide Dörfer waren ethnisch homogen, doch in den anderen zwei, in K ocsola und Kozár waren sie in der Minderheit. Nun änderten sich auch diese Verhältnisse: In insgesamt fünf Gemeinden, nämlich K ozár, Nagyág, Vaszar, Mekényes und TófŒ stellten Deutsche die Mehrheit, in Hörn yék, MezŒd und Jágónak e xakt die Hälfte der Bevölkerung, und in weiteren fünf Dörfern eine Minderheit von mindestens ein Drittel der Einw ohner, nämlich in Csikóstöttös, Gerén yes, Tékes, K ocsola und Tarrós.42 Doch nicht nur die ethnische, sondern auch die soziale Zusammensetzung sowie die ök onomische Leistungsfähigkeit der einzelnen Dörfer änderten sich radikal. Die hier ausgewählten Fallbeispiele belegen diesen Wandel: Vor der Theresianischen Urbarialregulierung war in den ungarischen Dörfern Tarrós, Nagyág und Csikóstöttös die soziale Zusammensetzung wie folgt: InTöttös lebten neben 31 Bauern nur zwei Kleinhäusler. Im Durchschnitt kamen 0,84 Session auf einen Steuer zahler, was statistisch weit über dem ungarischen Durchschnitt v on etwa 0,5 war! Zudem teilte sich die Bauernschicht geradezu ideal auf, denn je ein Viertel von den 31 Bauern konnten eine ganze, eine dreiviertel eine halbe und eine viertel Session ihr Eigen nennen. In Tékes lebten 1767 insgesamt 19 Bauern, kein einziger Inquillinus oder Subinquillinus. 8 v on den 19 hatten mehr als eine halbe Session bei einem Durchschnittsbesitz v on 0,75 Sessionen. Damit hatten auch die Be wohner dieses Dorfes weit mehr Besitz als der ungarische Durchschnitt. In Nagyág schließlich waren 1767 14 Bauern wohnhaft, von denen zwei Drittel über eine halbe Session innehatten, und ohne Inquillini oder Subinquillini ein ideal-egalitäres Alltagsleben führten. Hier war der numerische Durchschnitt der Sessionsgrößen 0,68, also noch immer deutlich über dem Landesdurchschnitt.43 Zwischen 1770 und 1799 sah jedoch diese K onstellation schon folgendermaßen aus: In Csikóstöttös lebten neben 54 Bauern nunmehr 38 Kleinhäusler , w as einem Anteil von 41,3 Prozent entsprach, ge genüber dem Stand v on vor 1767 mit 6 Prozent. Die Kleinhäusler w aren Deutsche und Lutheraner , während die autochthone Dorfbe völkerung magyarisch und römisch-katholisch w ar. Die größte Steuerleistung für die Herrschaft basierte auf dem Getreideanbau mit 614,25 fl., die 42 Esterházysches Privatarchiv Forchtenstein. Acta Varia. Descriptio Inclytii Dominii Dombóvár 1799. Prot. 1794. 43 Die Angaben siehe in FELHÃ, Ibolya (Hg.): Az úrbéres birtokviszonyok Magyarországon Mária Terézia korában [Die urbarialen Besitzverhältnisse in Ungarn zur Zeit Maria Theresias]. Budapest 1970, S. 78, S. 86 und S. 92.

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nur von der Robot übertrof fen wurde mit 662,40 fl. Das bedeutete, dass 19,7 Prozent aller Abgaben – also inklusive „Benefizleistungen“ – aus abgelösten Robotverpflichtungen stammten. Eine ähnliche Relation wird auch in Tarrós deutlich: Hier lebten neben den 17 Bauern nunmehr 19 Kleinhäusler , w as einen Anteil v on 52,77 Prozent bedeutete. Auch hier kam die numerisch höchste Einnahme der Herrschaft aus den Einnahmen für die Robot mit 233,80 fl., was etwa 25,46 Prozent aller erbrachten Steuern entsprach. Und schließlich das Beispiel Nagyág veranschaulicht ebenfalls, wie effizient aus der Sicht der Herrschaft einem bisher „problematischen Dorf“ Impulse gegeben werden konnten: Hier lebten 1799 neben 21 Bauern schon 43 Kleinhäusler, was einem Anteil von 67,18 Prozent entsprach. Selbst hier zahlten diese für die Robot 361,9 fl., was 19,21 Prozent aller Abgaben bedeutete.44 Welche F olgen die Einw anderung hatte, bele gt auch der Vergleich der Leistungsstärke der einzelnen Gemeinden auf der K onskriptionsliste der Herrschaft. Die hier willkürlich ausge wählten drei Gemeinden gehörten noch 1755 alle zur unteren Hälfte auf der Rangliste hinsichtlich ihrer Steuerleistungen, denn Csikóstöttös rangierte mit 66 fl. auf Platz 14, Nagyág mit 42 fl. auf Platz 19 und Tarrós mit nur 36 fl. auf Platz 22 von insgesamt 26 Gemeinden des Dominiums Dombóvár. Zehn Jahre später, also noch vor dem Theresianischem Urbarium und den radikalen Reformen der Herrschaft v erbesserte sich zw ar die Leistung v on Csikóstöttös auf 118 fl. und rückte damit auf Platz 15 vor, doch Nagyág konnte seine Steuern nur auf 50 fl. erhöhen und teilte damit den Platz 20/21 gemeinsam mit Vaszar, und auch Tarrós steigerte zw ar seine abgeführten Steuern auf 48 fl., fiel zugleich aber auf Platz 23 zurück. Insgesamt blieben also diese leistungsschw achen Gemeinden unverändert in der unteren Hälfte in der „Rangliste“ des Dominiums. Nach der Deskription der Herrschaftsv erwaltung v on 1799 erbrachte Csikóstöttös insgesamt 3.347 fl., Nagyág 1.883 und Tarrós 915 fl. Steuern. Insgesamt zwei wichtige Tendenzen lassen also die v on der Herrschaft for cierten Modernisierungsmaßnahmen nach der Theresianischen Urbarialregulierung konstatieren: Erstens wurde die soziale „Homogenität“ vieler Dörfer mittels einer Migration, die für die Region einer kleinen Völkerwanderung gleichkam, aufgebrochen. Be wusst brach die Herrschaftsv erwaltung mit bisher gültigen Tabus, und schuf letztlich k onfessionell wie ethnisch heterogene Gemeinden ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der autochthonen Bevölkerung. Eine ethnische Veränderung in der prozentualen Zusammensetzung der Untertanen w ar nicht die Intention der Herrschaft, hierbei spielten ausschließlich ök onomische Erwägungen eine Rolle, doch sie wurde zugleich bewusst in Kauf genommen. Migrationswillige Kleinhäusler in größerer Anzahl gab es in erster Linie unter den Deutschen. Ihre ök onomiezentrierte Lebensführung entsprach den Idealv orstellungen der Herrschaft, die auf deutliche Optimierung der Erträge erpicht war. Neben der ethnischen Komponente, so spielte auch die konfessionelle eine zunächst untergeordnete Rolle: Nach dem Ankauf der Merc yschen Güter durch die Apponyis z. B. v ermehrten sich die K onflikte zwischen dem streng katholischen 44 Esterházysches Privatarchiv Forchtenstein. Acta Varia. Descriptio Inclytii Dominii Dombóvár 1799. Prot. 1794.

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Grundherren und den protestantischen deutschen Untertanen, die bis 1773 dieToleranz der Grafen Merc y genossen hatten. 45 Diese Konstellation nutzte be wusst ein Agent der Esterházys, Johann Birkenstock, der die Herrschaftsbeamten davon überzeugen k onnte, zielbe wusst (deutsche) protestantische Migranten anzuwerben. 46 Bis auf die Gemeinde Szakcs, wo die Slowaken noch eine Minderheit stellten, gab es nur noch in der Gemeinde Ráckozár eine serbisch-orthodoxe Bevölkerung – bereits in der kleinen Minderheit von nur noch einem Viertel der Gesamtbevölkerung! Ansonsten w ar die Be völkerung in der Mehrheit weiterhin ungarisch, doch die Deutschen stellten nunmehr die größte Minderheit. Die großenVerlierer dieses Prozesses waren also die slawischen Minderheiten. Zugleich wurde das – bisher auch nicht k onsequent eingehaltene – Prinzip des ethnisch-k onfessionell homogenen Dorfes weitgehend aufgegeben.

3. Aufklärung des Landvolkes und das ordo-Prinzip Am 8. Mai 1780 errichtete der evangelische Pfarrer und Aufklärer Sámuel Tessedik eine landwirtschaftliche Schule in Szarvas (Komitat Békés). Bei seiner Ankunft in dieser von Slowaken bewohnten Gemeinde der ungarischen Tiefebene schrieb er: „Ich suchte nach der v on Dichtern so be geistert beschriebenen Simplizität des Dorflebens, und statt dessen fand ich Dummheit, Naivität, Misstrauen selbst gegenüber den v ernünftigsten Vorschlägen, und F alschheit, Boshaftigk eit, Borniertheit und Defizite selbst in den wichtigsten Fragen. Ich suchte nach schöpferischer Christenheit, und f and unter dem Schleier der Religiosität ein erschreck endes Chaos, falsche Volksfrömmigkeit, Aberglaube, falsche Glaubensansichten, die in der Seele des bäuerlichen Volkes Finsternis, in dessen Herzen Sor ge und in dessen Leben bittere Armut verursachen.“47 In seiner Schule w ollte der Volkserzieher „vernünftige Menschen, gute Christen, arbeitsame Bürger und geschickte Landwirte“ erziehen. Als Instrumente wandte er dabei die Vertiefung der Bildung im Allgemeinen, damit sie ihren Verstand auch anwandten, die Erziehung zur Unterordnung unter die weltlichen Autorität, deren Verordnungen – laut Tessedik – stets zum Wohle der Untertanen verfasst worden seien, und die Etablierung progressiver landwirtschaftlicher Technologien, wie die Anwendung v on Düngermittel und Sand auf dem Ackerfeld, Mischung der diversen Bodensorten usw.48 Er mahnte zur Toleranz, indem auch Katholiken seine Schule besuchen durften und machteVerbesserungsvorschläge hinsichtlich der Hygiene und der ärztlichen Versorgung der Bevölkerung.49 45 Siehe dazu u. a. WEIDLEIN, Johann: Die Schwäbische Türkei I. Beiträge zu ihrer Geschichte und Siedlungsgeographie. München 1967, S. 68–70.; S CHMIDT, János: Német telepesek be vándorlása HesszenbŒl Tolna-Baranya-Somogyba a XVIII. század els Œ felében [Einwanderung deutscher Siedler aus Hessen in die K omitate Tolna-Baranya-Somogy in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts]. GyŒr 1939, S. 45–49. 46 Vgl. PFEIFFER (wie Anm. 40), S. 123–127. 47 Z SIGMOND (wie Anm. 9, S. 39 f. 48 Ebda., S. 40 f. 49 Ebda., S. 57 und S. 63.

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Der Aufklärer Tessedik verfolgte dabei jedoch k eine abstrakten Ziele, sondern die handfeste Verbesserung des Alltagslebens. Er war überzeugt, dass Ungarn ein v on der Natur überaus reiches Land sei, dessen Schätze aber von der Bevölkerung nicht gebührend verwertet werden.50 Ein ausgewiesener geistiger Schüler von Tessedik, János Jakab Novák, wirkte als evangelischer Pfarrer 1783–1832 in Mekén yes im Esterházyschen Dominium Dombóvár.51 Er machte sich intensive Gedanken über die Einwohner seines Dorfes wie der Nachbargemeinde Ráckozár, und legte seine Beobachtungen in der Pf arrchronik nieder. Seine Überlegungen könnten behilflich sein zu rekonstruieren, was die Gründe für die forcierte Ansiedlung von Deutschen seitens der Herrschaft bei der „Industrialisierung der Landwirtschaft“ ab 1770 gewesen sein konnten. Das am häufigsten verwendete Argument benutzte auch No vák: Er bezeichnete die deutschen K olonisten grundsätzlich als „sehr fleißig“ – „nimium diligentes sunt isti Alemanni“. Sobald sie nämlich die Möglichk eit hatten, bewirtschafteten sie „klug und in Ordnung“ die Wiesen, die Krautfelder, die Weinberge und die Gärten. „Der Fleiß der Mekényescher muß ausdrücklich gelobt werden“ – betonte Novák. In der Viehzucht w aren sie geschickt, ihre Erfindungsgabe in der landwirtschaftlichen Produktion sei zu bewundern („sollertia admiranda“).52 Diese überschwänglichen Lobworte werden aber erst imVergleich deutlich, am Beispiel von Ráckozár: Die Deutschen hier waren – die in ihrer Mentalität übrigens je nach Herkunftsgebiet sehr unterschiedlich gewesen seien – „grundsätzlich nicht faul“, denn alle bewirtschaften ihre Felder und Weinberge, betreiben Obst und Gemüseanbau, die „Illyren“ aber waren „ihrem Charakter verhaftet“: Während in der deutschen Gemeinde Mekén yes im Viehbestand dank gründlicher Vorbeugungsmaßnahmen keine Seuche auftrat, kam sie in Kozár doch immer wieder vor, beteuerte No vák.53 Für Tessedik w ar es ein Maßstab des Wohlstandes, ob es in einer Dorfgemeinschaft Bettler gab und in welchem Umf ang. In Mekén yes gab es laut Novák überhaupt k einen, in K ozár unter den Deutschen sehr wenige, während es unter den Serben viele Bettler gab . „Denn – schreibt der Geistliche – solange die Deutschen ihre Beine und Hände be wegen können, hören sie mit der Arbeit nicht auf. Sie helfen sich gegenseitig, und damit hören sie auch nicht auf.“54 Damit sprach Novák aber einen weiteren Punkt an, den er nicht explizit thematisiert hatte, doch über die individuelle Komponente hinaus einen weiteren Bestandteil des Prozesses bildet: Der Grad der Gruppenbildung, und die Anpassung an die Gegebenheiten als Kollektive, nicht nur als Individuum. Negative Beispiele, wo die 50 Ebda., S. 132 51 Die evangelische Gemeinde Mekényes wurde schon 1737 eine Mutterkirche, und hatte in Franz Tonsor auch einen fest angestellten Geistlichen. Diese entwickelte sich zum geistigen Zentrum der evangelischen Protestanten in der Region. Siehe dazu ausführlich SCHMIDT-TOMKA, Gustav: Beiträge zur Geschichte des e vangelischen Seniorats in der Schwäbischen Türkei. München 1976, S. 24 f. 52 Evangélikus Országos Le véltár [Evangelisches Landesarchiv]. N OVÁK, János Jakab: Historia Ecclesiae Evangel[icae] Mekenyesiensi Inclito Co[mi]t[a]tui Baran yensi ingremiati ab Anno 1698. Ceu primordio possessionis usque Annum 1801, § 7. 53 Ebd., § 8. 54 Ebd., § 9.

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Deutschen es nicht geschaf ft haben Fuß zu f assen, wie etwa in Német-Pulya oder Szt. Borbás [Brbaš] untermauern diese These: Ein Schlüssel des Erfolges w ar der erfolgreiche Gruppenbildungsprozess. 55 Das Bedürfnis nach ethnischer und k onfessioneller Homogenität unter den K olonisten brachte e xkludierende Mechanismen hervor, die sich am Beispiel von Kozár gut belegen lassen. (Mekényes war von vornherein deutsch und evangelisch, dort mussten solche Prozesse nicht vollzogen werden). Die zuwandernden katholischen Deutschen wurden von der evangelischen Gemeinschaft nicht aufgenommen, und zum Schluss restlos v erdrängt.56 Ein ähnlicher Verlauf ist auch bei den Raitzen festzustellen, denn hier traten katholische Slawen zur Orthodoxie über und wünschten so ihre Integration zu erreichen.57 Die Raitzen bauten schon aus einer ange wöhnten defensiven Haltung heraus von Anfang an ihre kulturell-religiöse Infrastruktur aus: Die ersten Siedler schufen gleich eine Holzkirche, und kamen ihren religiösen Ritualen nach, was sich identitätsstiftend und integrierend für die ganze Gruppe ausge wirkt hatte. Ebenfalls aus der Defensive heraus strebten auch die protestantischen Deutschen nach einer ähnlichen Infrastruktur. Die Gemeinde Mekényes gab rund ein Zehntel der Bargeldausgaben dafür aus: Nämlich für die Kirche, das Pfarrhaus, den Schulmeister und religiöse Zeremonien. 58 Doch im Ge gensatz zu den Raitzen übten die Deutschen zusätzlich einen sozialdisziplinarischen Druck unter sich aus, der sich auf beinahe alle Bereiche des Lebens, insbesondere der Ök onomie, erstreckte. Die ge genseitige Hilfe in der Wirtschaft hatte nämlich auch eine K ontrollfunktion, denn niemand sollte vom Standard abweichen. Die Zuchttiere wurden in k ontrolliert schattigen Flecken gehalten, womit der Bestand vermehrt und intakt gehalten werden konnte. Dies beobachtete Novák mit scharfem Auge und wertete dies als Reformakt. Mekényes ging noch weiter: Gänse wurden – im Ge gensatz zu Ráck ozár – aus hygienischen Gründen im gesamten Dorf v erboten, denn in ihnen sahen die Bauern die Multiplikatoren von diversen Krankheiten und sie machten auch die Weideflächen kaputt.59 Von den besten Gewässern wurden darüber hinaus Leitungen zu denTrinkanlagen der Zuchttiere geführt, und damit ein primiti ves Wasserleitungsnetz geschaffen. Ein Mentalitäts- und Verhaltenskodex durchtränkte also den Alltag der deutschen Kolonisten in Mekén yes und K ozár, der für alle als v erbindlich galt. Reste davon retteten sich bis ins 20. Jahrhundert hinüber: So wurde die Krankheit der Menschen bagatellisiert, obw ohl die Deutschen des „unermüdlichen Fleißes wegen“ oft krank wurden und nur wenige v on ihnen das 60. Lebensjahr erreichten, konstatierte Novák. Die Gesundheit des Viehbestandes jedoch hatte oberste Priori55 Zu der Entwicklung in Szentborbás siehe B OROS GYEVI, László/LOVÁSZ, György/MÁRFI, Attila/ MÉREY, Klára T./PAPP, Tivadar/KISS, Géza Z.: Podra vski Hrvati [Kroaten jenseits des Drau]. (Studije 1.) Budimpešta 1988, S. 298. 56 P FEIFFER (wie Anm. 40), S. 111–121. 57 MOL C 19 (Akten der Statthalterei), fasc. 12., Schreiben vom 4. März 1751. 58 N OVÁK: Mekényes (wie Anm. 52), § 23. 59 Nach den landwirtschaftlichen K onskriptionen gab es noch 1869 k eine Gänse in Mekén yes. Für diese Mitteilung danke ich Herrn Zoltán GŒzsy von der Universität Fünfkirchen, Lehrstuhl für Geschichte der Neuzeit.

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tät, und die traditionell Vieh züchtenden Raitzen konnten allmählich auch in diesem Bereich mit den Deutschen nicht mehr Schritt halten. Maßhaltung in der Ernährung und Trinkgewohnheiten sollten v or sozialem Abstieg schützen. Gefräßigk eit und Trinksucht wären für die sozial niedere Schicht charakteristisch, und hätten zur Folge, dass man diese nicht mehr als gleichwertige Mitglieder der Gruppe betrachtete. Als Sündenkatalog wurde vom Pfarrer eher Diebstahl registriert, vornehmlich bei Ernteprodukten. Und schließlich ist noch eine v erblüffende Praxis festzuhalten: Die Gemeinde Mekényes, die dank einer forcierten Tabakproduktion wohlhabend geworden war (92 Prozent der Gesamteinnahmen kamen aus derTabakproduktion), bezahlte nicht nur die P auschalsumme für Arenda, Brennholz etc., sondern deckte auch aus den Gesamteinnahmen die Ausgaben für die angestellten Diener , die angepachteten Felder in den Nachbar gemarkungen, und praktizierte eine primiti ve „Dividendenverteilung“, indem pro Haus eine bestimmte Summe für Kleider und Schuhwerk e zugewiesen wurden. Selbst danach verblieben noch 44 Prozent der Bargeldeinnahmen, 6.476 Gulden in der Kasse. „Discipulus Teschedikianus huc pro e xperientia mitti deberet“ – Die Lehren von Tessedik setzten sie in die Praxis um, lobte Novák seine Gläubigen mit Genugtuung. Dank ihres Organisationseifers durchschritten sie jenen Rubikon, den Tessedik in der Dichotomie der ignavia (aus Dummheit, Trägheit und Ignoranz hervorgehende F aulheit) und industria (rationelle und ef fektive Wirtschaft dank fleißiger Arbeit) strukturierte. 60 Laut No vák wurde in Mekén yes letztlich der Idealzustand des ordo annähernd v erwirklicht: Ein arbeits- und tugendhaftes Leben im christlichen Geist, der die Obrigkeiten achtet und gegenüber den Reformen des Erziehers hellhörig ist. Das ök onomische Er gebnis widerspie gelte sich in den Wirtschaftsrechnungen der Herrschaft. Im Sinne der aufgeklärten Agrarreformen sollte es aber aus der Sicht der Herrschaftsbeamten nicht nur um einen Wettkampf der Indi viduen, der einzelnen Gemeinden oder ethnischen Gruppen als Selbstzweck gehen, sondern viel mehr sollte das totum, also die gesamte Herrschaft verbessert werden. Deshalb argumentierte Johann Birk enstock in den 1770er Jahren damit, dass die kleinen und nunmehr ineffizienten, ungarischen Gemeinden der Herrschaft Dombóvár mit deutschen Tagelöhnern besiedelt werden sollten. Der ungarische Geistliche glaubte auch in dieser Siedlungsaktion eine pädagogische Maßnahme entdeckt zu haben: Damit die ungarische Bevölkerung zahmer (cicuro, wie im Falle der Serben) und daraufhin fleißiger werde, eigentlich sich dazu entwickelte, sollten Deutsche in der ganzen Herrschaft angesiedelt werden. „Hung. Possessionum … incolae germanici adjungerentur, quo ita cicures ac industriosi evaderent“.61

60 Vgl. ZSIGMOND (wie Anm. 9), S. 59. 61 N OVÁK: Ráckozár (wie Anm. 11), S. 11.

Agrarische Modernisierungsprozesse und ethnodemographische Veränderungen in der Südbatschka bis zur Mitte des 19. J ahrhunderts Karl-Peter Krauss 1935 schrieb Toša Iskruljev, Gemeindenotar von Ridjica [ung. RegŒcze], über den Ort Stanischitsch [serb . Stanišiç, ung. Ãrszállás] in der jugosla wischen Batschka: „Wer den serbischen Unter gang und das Elend sehen will, der soll nach Stanischitsch kommen und dieses ‚Jammertal‘ anschauen… Wenn man den ‚Kakosch‘1 mit der ‚Großgasse‘ v ergleicht, wo ehemals Serben w ohnten und heute die Deutschen leben, sind im ersteren armselige Hütten und bei den anderen große P aläste, aber leider gehören sie den Deutschen.“ 2 Dies fasst er so zusammen: „Auf der einen Seite bei den Serben Armut und Leid, auf der anderen Seite großer Reichtum und Zufriedenheit bei den Deutschen.“3 Für Iskruljev stellt die Zeit nach der Grundentlastung eine zentrale Zäsur dar , w obei er aber auch schon frühere Verdrängungsprozesse anführt. Iskruljev geht deskriptiv vor, aber ohne tiefere Darlegung der kausalen Zusammenhänge. Sein Erklärungsmodell gipfelt in dieser Deutung: „Nachdem sie [die Serben] 1848 frei w aren, haben sie nur so viel gearbeitet, w as sie unbedingt zum Leben benötigten, egal was morgen passiert.“ Und er fährt fort: „Auch bei der Landwirtschaft versuchten sie nichts Neues“. 4 Anhand einzelner Beispiele beklagte er den Rückzug serbischer Dorfbe wohner durch den Verkauf ihrer Güter .5 Er w arf ihnen v or, große und teure Feste so wie viele kirchliche Feiertage zu feiern und leichtfertig Schulden einzugehen.6 Unschwer zeigt sich, wie sehr Iskrulje v hier mit klischeehaft anmutenden Bildern arbeitet. Ihm geht es um die Erheb ung seiner mahnenden Stimme ge genüber den Landsleuten. Sie sollen wachsam sein, ihr Verhalten ändern und damit den von ihm beobachteten ethnodemographischen Veränderungen Einhalt gebieten. Auch die serbische und kroatische Öf fentlichkeit begann das Phänomen in der nachrevolutionären Zeit nach und nach zu k onstatieren. Die in Pest erscheinende Srpske Narodne Novine stellte schon 1846 und 1847 die Frage, was der Grund dafür sei, dass die Serben zurückgedrängt würden, w o immer sie einem anderen „V olk“ begegneten. Ab etwa 1860, im Zeichen einer beginnenden Diskussion um den „nati1 Umgangssprachlicher Begriff für die Gasse, in der die armen Serben lebten. 2 Nach: HUTFLUSS, Michael: Ortssippenbuch Stanischitsch Batschka Teil II, 1896–1938. (Schriftenreihe zur donauschwäbischen Herkunftsforschung, Band 20, Teil 2). Karlsruhe o. J., S. 25– 93, hier S. 36. 3 Ebd. S. 53. 4 Ebd. S. 32. 5 Ebd. S. 35: „Von der ehemals rein serbischen Gasse ‚In đija‘ sind nur 4 serbische Häuser geblieben. In der Königin Maria (Kleingasse) Gasse sind von ursprünglich 70 Häusern noch 14 in serbischer Hand. Dies alles ging den Serben verloren und ging in deutsche Hand.“ 6 Ebd. S. 33.

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onalen Besitz“, wurde der Ton schärfer. 1907 bezeichnete die kroatische Narodne Novine die deutsche Ansiedlung als einen „Überf all der Gefräßigen aus dem Norden“.7 Auch hier wurde in der v erstärkten nationalen Positionierung weniger nach den Ursachen gefragt. Offensichtlich sah man sich ohnmächtig derWirtschaftskraft der deutschen Minderheit ausgeliefert, die als bedrohlich empfunden wurde. Ziel der Untersuchung ist es, das Phänomen ethnodemographischer Veränderungen vor dem Hintergrund agrarischer Modernisierungsmaßnahmen zu erf assen und die zu Grunde lie genden Ursachenmuster auszuleuchten. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der Bedeutung der Grundentlastung für diese Entwicklung. Handelt es sich um eine zentrale Zäsur oder hat sie ovrher schon bestehende Entwicklungen verstärkt? Aufgrund der Quellenlage erfolgt der Zugang über die Mikroebene.

1. Modernisierungsprozesse und ethnodemographische Veränderungen am Beispiel v on Stanischitsch Das theresianische Urbarium von 1772 wies für den Ort Stanischitsch 124 Bauernansässigkeiten und vier Kleinhäuslerstellen auf. 8 Stelleninhaber w aren serbischorthodoxe Bauern. Die Besitzstruktur war relativ uneinheitlich; in ihr spiegelt sich wohl auch die Größe der Familienverbände. So besaßen einzelne Familien fast vier Sessionen. Im Jahr lagen darauf etw as mehr als 190 Tage Zugfron oder 381 Tage Handfron. Die kleineren Ansässigkeiten bestanden aus einer Viertelsession. Die Abgaben entsprachen den im Theresianischen Urbarium üblichen Normen. Wenige Jahre zuv or wurde die Gemarkung des Ortes noch als Weide für die herrschaftlichen Viehherden benutzt. 1763 w ar die Gemarkung v on serbischen Siedlern, sog. Raitzen, besiedelt w orden. Den Stand v on um 1764 spie gelt eine Karte wider, wobei es sich auch um ein noch nicht v ollständig umgesetztes Planungsszenario handeln kann.9 Jedenfalls zeigt sich hier eine geplante Siedlungsanlage in Form eines zweizeiligen Straßendorfes mit regulierter Gewannflur. Obwohl Weide und Wiesenland gegenüber dem Ackerbau dominierten, w ar das Dorf gewappnet für die angestrebte Inwertsetzung nach den Vorgaben kameraler Steuerpolitik. Der Grund für die Besiedlung er gibt sich aus dem Be gleittext zur Karte. Da heißt es, dass der Ort we gen seiner Lage am Weg nach Sombor und Peterw ardein [serb. Petrovaradin, ung. Pétervárad] für eine Besiedlung geeignet sei. Doch wenige Jahre danach schien der Ort modernen, utilitaristischen Maßstäben gerecht werdenden Anforderungen nicht mehr zu genügen. Aus einer 1783 verfassten „Repraesentatio geometrica regulationis et subdivisionis de terreno Ca[mer] 7 8 9

Zit. nach O BERKERSCH, Valentin: Die Deutschen in Syrmien, Sla wonien und Kroatien bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Ein Beitrag zur Geschichte der Donauschwaben. Stuttgart 1972, S. 35 f. Istorijski Arhiv Sombor [Historisches Archiv Sombor; fortan IAS], Zbirka urbarijalnih spisa za mesta u Ba ãko-Bodroškoj Županiji [Alte Urbarialakten des K omitats Batsch-Bodrog] (1752– 1849), Urbarium von Stanischitsch, Fond 8, Nr. 750. Hofkammerarchiv Wien (fortan HKA), L 14/12.

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alis Possessionis Stanisity“ geht die Planungsfortschreib ung hervor. Hier heißt es expressis verbis, dass das Ackerland durch die moderne geometrische Vermessung in drei verschiedene Kalkaturen eingeteilt worden ist. 10 Damit war die Dreifelderwirtschaft eingeführt worden. Doch mit dieser Maßnahme war die Grundherrschaft keineswegs zufrieden. Es wurde angestrebt, weitere Wiesen mit Früchten einsäen zu lassen, weil dies mehr Ge winn brächte. Es ging um die Umw andlung von Wiesen- in Getreideland, was in Zeiten der Agrarkonjunktur zu einer Gewinnsteigerung führte. Im Zuge der Re gulierungsmaßnahmen wurde das herrschaftlich-allodiale Prädium „Sar“ der Gemarkung von Stanischitsch zugeschlagen und in Urbarialland transferiert, weil das der populationistisch-merkantilen Auffassung dieser Zeit entsprach. Insgesamt wurden so 170 Sessionen hinzugefügt. Wer aber sollte diese Sessionen bewirtschaften? Die Planung gibt darauf selbst eine Antwort: Obwohl die orthodoxen Bauern fleißige Menschen seien, 11 könnten sie die hinzugefügten 170 Sessionen wegen der darauf ruhenden Urbariallasten nicht annehmen.12 So lag es nahe, auch in Stanischitsch Deutsche anzusiedeln. Der ganze Raum bef and sich aufgrund der josephinischen Ansiedlungspolitik mit ihren Pri vilegien für Neuk olonisten aus dem Reich im Umbruch. Dazu kam eine verstärkte Binnenkolonisation; so erfolgte die Zusiedlung in den Ort vornehmlich durch deutsche Ansiedler aus schon bestehenden Dörfern der Umgeb ung; sie kamen 1787 nach Stanischitsch.13 Doch das Zusammenleben der Neuankömmlinge mit den serbischen Be wohnern begann mit einem Eklat. Schon 1788 wandten sich die deutschen Bauern von Stanischitsch und von Batschalmasch [ung. Bácsalmás, serb . Baãaljmaš] mit einer Bittschrift an den Kaiser.14 Eines ihrer zentralen Anliegen neben zahlreichen Klagen war die Separierung von den Serben. Diese sollten nach Batschalmasch umgesiedelt werden und die dort ebenf alls zugesiedelten Deutschen dafür nach Stani10 IAS, F ond 8, Nr . 752: Joseph Hury , Vermessungsingenieur bei der Kameralv erwaltung: Repraesentatio geometrica regulationis et subdivisionis de terreno Ca[mer]alis Possessionis Stanisity. 11 IAS, F ond 8, Nr . 752. Der v ollständige Satz heißt: „Coloni hujus Possessionis Schismatici Graeci-ritus non uniti, homines industriosi, quare etiam unice e x aratura, et pecorib us vitam sustentare, et praestationes suas deputare nituntur.“ [„Die Bauern dieser Besitzung sind Schismatiker des nicht unierten griechischen Ritus; fleißige Menschen, deshalb auch bemühen sie sich, einzig aus dem Ackerbau und dem Vieh ihr Leben zu erhalten und ihre Leistungen abzuliefern.“]. 12 Doch schon in einem Besiedlungsentwurf der Kameraladministration Sombor v on 1786 heißt es dann, dass der Ort lediglich noch „3/4 oede Ansässigkeiten“ aufweisen würde. Magyar Országos Levéltár [Ungarisches Landesarchi v, fortan MOL], E 125, F ond 202, Pos. 6, zit. nach FELDTÄNZER, Oskar: Joseph II. und die donauschwäbische Ansiedlung. Dokumentation der Kolonisation im Batscherland 1784–1787. München 1990, S. 347. 13 F ELDTÄNZER (wie Anm. 12), S. 220. 14 Die Klagen der deutschen K olonisten vom 26. Februar 1788 finden sich so wohl im Ungarischen Landesarchiv: MOL, E 125, Fond 31, Mikrofilm 22262 als auch in den Akten des Komitats Bács-Bodrog (undatiert): Arhiv Vojvodine [Archi v der Wojwodina; fortan AVN], F 2, Baãko Bodroška Županija [Komitat Batsch-Bodrog; fortan BBŽ] I, Schachtel 180, 1788, Nr. 7. Weitere Komitatsakten (auszugsweise) zu dem Fall in: AVN, F 2, BBŽ I, Schachtel 176, Nr. 7; Schachtel 197, Nr. 40 und Schachtel 204, Nr. 69.

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Karl-Peter Krauss

Abb. 1: Stanischitsch [serb. Stanišiç, ung. Ãrszállás] im Jahre 1764. HKA, L 14/12

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schitsch gebracht werden: „Dieses alles kann Euer Mayestat gar leicht abhelfen, wan wir Almaser Colonisten mit den Stanisicher vereiniget werden und die Rätzen aus Alt Stanisicz nach Allmas Versetzt werden…“.15 Kern des Konflikts waren die sich aus unterschiedlichen Landnutzungsmethoden er gebenden Streitigk eiten; es ging um Viehdiebstähle sowie Klagen der Deutschen, die zunächst der dörflichen serbischen Jurisdiktion unterw orfen w aren und sich über „Bedrückungen“ beschwerten. In der Tat setzte eine funktionierende und optimierte Dreifelderwirtschaft nach dem Rotationsprinzip klare Absprachen und eine abgestimmte einheitliche Bewirtschaftung innerhalb der Ge wanne v oraus. Wollten deutsche Ansiedler auf den Brachfeldern Hackfrüchte anbauen, so k ollidierte dies mit der Landnutzung der serbischen Nachbarn, die das Brachland als Viehweide nutzten. Offensichtlich gab es genau hier Probleme, die auch v om Administrator der Kameralv erwaltung in Sombor, Michael Ürményi, in einem Schreiben an die Statthalterei eingeräumt wurden: „Da der durch die Raitzen denen K olonisten zugefügte Schaden in Früchten bereits gerüchtlich abgeschätzet und denen K olonisten Schadloshaltung zuerkannt worden ist […].“16 Doch das Gesuch der deutschen Kolonisten hatte keine Chance, „weil diese Kolonien bereits vollkommen angeleget sind […] und scheinet ersprießlich zu se yn, wenn die Verschiedenheit der Nation unter einer Gemeinde zusammengewöhnt wird.“ 17 Auch scheint das gegenseitige Einverständnis gewachsen zu sein, „weil die Raitzen […] bei Gelegenheit ihrer Gastmaalen, Hochzeiten und anderen derlei Vorfällen die Kolonisten zu Tische zu rufen pflegen […]“.18 Trotz solcher angestrebter Berührungspunkte le gte die Herrschaft auf eine Separierung im Ort selbst Wert. Eine solche wurde vorgenommen. Eine Beschwerde der in Rac-Milititsch [serb . Srpski-Miletiç, ung. Rácz-Militics] hinzu gesiedelten Deutschen und die anschließende Untersuchung der Klagen führte nach einem Bericht des Administrators Ürményi vom 13. Februar 1787 zu dem Ergebnis, dass viele serbische Insassen „durch üble Wirtschaft“ Steuerrückstände hätten und ihnen ein Zahlungstermin gesetzt wurde. Wurde dieser nicht eingehalten, mussten sie ihre Häuser v erkaufen, verloren dadurch ihr Anrecht an der Session, wobei sich deutsche Familien einfanden, welche sowohl die Schulden als auch die Häuser und damit die Ansässigkeiten übernahmen.19 Liegt in dieser Aussage der Schlüssel für einen komplexen Prozess, der in den folgenden Jahrzehnten zu einer Zunahme der deutschen Bevölkerung bei gleichzeitiger Stagnation und sogarAbnahme der serbischen Bevölkerung führte? Liegen für dieses Phänomen sozioökonomisch nachhaltige und nachweisbare Gründe vor, die auf unterschiedlichen Überlebensstrate gien basierten und die eine dif ferierende Konditionierung so wie Sozialisierung annehmen lassen? Oder ist dies Ausdruck 15 AVN, F 2, BBŽ I, Schachtel 180, 1788, Nr. 7. 16 MOL, E 125, F ond 31, Mikrofilm 22262; Ürménys Schreiben vom 18. Oktober 1788. Immer ohne fol. 17 Ebd. Schreiben der Somborer Kameraladministration an die Statthalterei, 13.12.1788. 18 Ebd. Diese Feststellung ist einem Schreiben von Michael Ürményi schon vom 05. Juli 1788 zu entnehmen. 19 MOL, E 125, Fond 243, zit. nach: FELDTÄNZER (wie Anm. 12), S. 215.

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Karl-Peter Krauss

Tretplatz

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69 80

Do rf]

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de m Se "P e [Po od S d s zel elo low ba Ba ra; rra Su " mp fu nte r

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8

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54

95

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53

96

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97

152 151

51

98

150

50

99

53

Zur griechisch-orthodoxen Pfarrei gehörige Häuser Zur römisch-katholischen Pfarrei gehörige Häuser

158 157 156

48

101

47

102

46 45

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44

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30 16 17

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36 35 34 33 32 30 29 28 27

18

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Alter Friedhof

144

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10 11 12 13 14 30 15

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208 207 206 205 204 203 202 201 200 199 198 197

159

58

59

9

N

162 161

89 90 91

5

246 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257

219 218 217 141 216 215 214 213 212 211 210 209

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233 234 235 236 237 238 239 240 241 242 243 244 245

232 231 230 229 228 227 226 225 224 223 222 221 220

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195 194 193 192 134 191 3 13 190 132 189 131 188 130 187 186 129 185 128 184 127 183 126 182 181 125

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109 110 111 112 113 114 31 115 116 117 118 22

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Neuer Friedhof

313 349 312 348 311 347 310 6 34 309 345 308 4 34 307 343 306 342 305 341 304 340 339 303 338 302 301 337 300 271 299 272 298 273 297 274 296 275 295 276 294 277 293 278 292 279 291 0 28 281 290 289 2 28 288 283 287 284 286 5 28

21 20

124 123 122 121 120

Abb. 2: Separierung innerhalb des Ortes Stanischitsch [serb . Stanišiç, ung. Ãrszállás]. Römisch-katholische (überwiegend deutsche) und griechisch-orthodoxe (serbische) Hausbesitzer. Quelle: IAS, 3, Zbirka karata, planova i projekata [Karten-, Plan- und Entwurfsammlung], 1709–1972: Cartha einer Hochlöblichen königlichen Kameral Herrschaft von der Dorfschaft Stanischich […], 1788.

Agrarische Modernisierungsprozesse und ethnodemographische Veränderungen

91

von Konzentrationsprozessen der serbischen Be völkerung, die einzelne gemischt ethnische Siedlungen v erließen, ihren Besitz v eräußerten und sich in serbischen Orten der Umgebung niederließen? Jedenfalls setzte in Stanischitsch, das 1797 in den Besitz des Barons v on Redl gelangte, eine erstaunliche Entwicklung ein: Insbesondere diejenige Siedlergruppe, die, kaum angek ommen, eine gänzliche Separierung v on den Serben und deren Umsiedlung forderte, stellte diese innerhalb des Dorfes wieder in Frage. Das er folgte dadurch, dass sich neben dem Wachstum des Dorfes deutsche F amilien innerhalb des serbischen Dorfteils ansiedelten. Dies geschah in einem schleichenden Prozess bis in das 20. Jahrhundert. Dabei nahm die serbische Bevölkerungsgruppe von 1803 bis 1855 langsam ab, danach beschleunigte sich diese Entwicklung. Die Deutschen hingegen hatten über den ganzen Zeitraum hinwe g bis 1915 eine deutliche Bevölkerungszunahme zu v erzeichnen, w obei dies nicht nur auf der natür lichen Bevölkerungszunahme, sondern auch auf Zuwanderung beruhte.

Röm./Gr.-Kath.

7000 6000 5000

Gr.-Orth.

4000 3000 2000 1000 637

0 1803

1825

1885

1855

1915 756

6347

1250 1401 1060

1046 3169

5662

4185

Abb. 3: Die Entwicklung der römisch-katholischen und griechisch-orthodoxen Bevölkerung in Stanischitsch [serb. Stanišiç, ung. Ãrszállás] zwischen 1803 und 1915. Quelle: L AKATOS, Andor (Hg.): A Kalocsa-Bácsi FŒegyházmegye történeti sematizmusa 1777–1923. Schematismus historicus cleri Archidiocesis Colocensis et Bacsiensis 1777–1923. Kalocsa 2002, S. 261–162; HEGEDIŠ, Antal/âOBANOVIå, Katarina: Demografska i agrarna statistika Vojvodine 1767–1867 [Demographische und agrarische Statistik der Wojwodina]. Novi Sad 1991, S. 113.

Dabei befanden sich die deutschen Bauern zunächst in einer nicht bevorteilten wirtschaftlichen Lage. Sie v erfügten 1797 in der Re gel über eine halbe Session, etw a ein Drittel der Sessionisten hatte sogar nur eine viertel Session.Währenddessen gab es rund 70 serbische Bauern mit einer ganzen Session oder mehr. Der größte Bauer,

92

Karl-Peter Krauss

Thodor Fratics, hatte ein sechs (!) Sessionen umf assendes Lehen, für das er 312Tage Zugfron oder 624 Handrobot leisten musste – w obei dieser Besitz wohl einem Familienverband gehörte. 20 Damit bestand bei den serbischen Untertanen eine deutlich differenziertere Sozialstruktur mit extremen Polen.21 Schließlich beschleunigte sich die Abnahme der serbischen Bevölkerung nach 1855. Ist diese Zäsur eine Folge der Grundentlastung, die katalysatorische und ethnodemographisch-selektive Wirkungen auf die bisherige Entwicklung hatte? Oder handelte es sich um eine v erstärkte Sogwirkung v on serbischen F amilien in ser bische Nachbarorte (Konzentrationsprozesse), in städtische Zentren bzw. in die Militärgrenze? Diesen Fragekomplexen nach Ursachen, die nicht isoliert wirken mussten, soll weiter unten nachgegangen werden.

2. Ethnodemographische Entwicklung in weiter en „Zusiedlungsorten“ Die josephinische Kolonisation begann in der Batschka mit der Gründung von Torscha [serb. Torža, ung. Torzsa] im Jahre 1784. Weitere neu angele gte Ortschaften auf Prädien folgten. Ein nächster Schritt im Kolonisationsszenario war die Ansiedlung von Kolonisten in bereits bestehenden Ortschaften. Diesem Muster entsprach eine Reihe weiterer Siedlungen. Gerade sie bieten sich für einen Vergleich an, da hier ethnodemographische Veränderungen ein Gradmesser zunächst für mikrogeschichtlich-lokale Prozesse sein können. Für diese Untersuchung sind aus statistischen Gründen die Orte v on Relevanz, die von katholischen deutschen und ser bisch-orthodoxen Untertanen besiedelt waren.22 20 Dies entspricht den üblichen Fron- oder Robotschuldigkeiten nach dem Theresianischen Urbarium. Eine ganze Session (Bauernansässigkeit) schuldete dem Grundherrn nach den standardisierten Abgabenormen pro Jahr 52 Tage Zugfron oder 104 Handfron. Abgeleistet werden musste diese von hierfür geeigneten Personen. Im arbeitsintensiven Sommerhalbjahr waren jedoch mehr Frontage als im Winterhalbjahr üblich, was wiederum häufig zu Klagen der Bauern Anlass gab. 21 Allerdings stellt sich die Frage, ob solche Zahlenvergleiche angesichts wahrscheinlicher unterschiedlicher f amiliärer Strukturen überhaupt sachdienlich sind. Hier wäre ein Vergleich der familiären Strukturen angebracht. Doch darin zeigen sich erhebliche F orschungsdefizite. Sie basieren auch auf methodischen Hindernissen. Das v on Michael H UTFLUSS herausge gebene Ortssippenbuch v on Stanischitsch gibt einen Zugang zu den katholischen Einw ohnern des Ortes; die orthodoxen Serben sind hier natürlich nicht verzeichnet. Gleichwohl müssen Unterschiede in der Familiengröße und -struktur nicht immer als zwingend vorausgesetzt werden. Im vorliegenden Fall sind sie jedoch w ahrscheinlich. Selbst für Serbien, allerdings basierend auf dem statistischen Zahlenmaterial des Zensus für Serbien v on 1862/63, wurde gezeigt, dass etwa zwei Drittel der ländlichen F amilien Kernfamilien waren. Vgl. VULETIå, Aleksandra: Porodica u Srbiji sredinom 19. v eka [Familie in Serbien in der Mitte des 19. Jahrhunderts]. Belgrad 2002, S. 34 ff. 22 Die Schematismen dieser Orte sind veröffentlich bei: L AKATOS, Andor (Hg.): A Kalocsa-Bácsi FŒegyházmegye történeti sematizmusa 1777–1923. Schematismus historicus cleri Archidiocesis Colocensis et Bacsiensis 1777–1923. Kalocsa 2002.Anhand des von: Hegediš, Antal/âOBANOVIå, Katarina: Demografska i agrarna statistikaVojvodine 1767–1867 [Demographische und

Agrarische Modernisierungsprozesse und ethnodemographische Veränderungen

Abb. 4: Die Lage der näher untersuchten Orte in der Südbatschka. Südoststaaten. Ausgabe Wien 1941.

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Vorlage: Verwaltungskarte der

Folgende Orte werden für einen Vergleich herangezogen: Brestowatz [serb. Baãki Brestovac, ung. Szilberek], Obro watz [serb . Obro vac, ung. Borócz], P arabutsch [serb. Parabuç, ung. P aripás] und Rac-Milititsch [serb . Srpski-Miletiç, ung. RáczMilitics]. In allen diesen Dörfern wurden katholische Deutsche in serbisch-orthodoxen Dörfern angesiedelt. Dies erfolgte v or allem in der josephinischen Zeit, im Falle von Rac-Milititsch kamen die ersten deutschen Siedler schon in den sechziger agrarische Statistik der Wojwodina]. Novi Sad 1991, S. 123 ff. veröffentlichten Datenmaterials von 1857 wurde zunächst einmal festgestellt, inwie weit die Katholik en Deutsche sind und nicht etwa Ungarn oder katholische Bunjewatzen und Schokatzen bzw. ob es auch tatsächlich orthodoxe Serben sind.

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Karl-Peter Krauss

4000

Parabutsch

3500 3000 2500 2000 1500 1000 500

386

0 1803

1825

1915

1885

1855

3750

502

747 1114

823

905

3655

2248 3163 2500

Röm./Gr.-Kath.

Obrowatz

2000 1500

Gr.-Orth.

1000 500 0 1803

1825

1915

1885

1855

970 2190

19 208

1021

1142 1140

4500 4000 3500 3000 2500 2000 1500 1000 500 0

1648

1225 1025

Rac-Milititsch

103 1803

1825

1915

1885

1855

110 508

4235

132 1373

578 2800 1971 2440

Abb. 5: Die Entwicklung der römisch-katholischen und griechisch-orthodox en Bevölkerung in Parabutsch [serb. Parabuç, ung. P aripás], Obrowatz [serb. Obrovac, ung. Borócz] und Rac-Milititsch [serb. Srpski-Miletiç, ung. Rácz-Militics] zwischen 1803 und 1915. Die katholische Be völkerung war in allen Orten weitgehend deckungsgleich mit der deutschen Be völkerung. Quelle: L AKATOS, Andor (Hg.): A Kalocsa-Bácsi F Œegyházmegye történeti sematizmusa 1777–1923. Schematismus historicus cleri Archidiocesis Colocensis et Bacsiensis 1777–1923. Kalocsa 2002, S. 164–165, 242– 243, 266–268.; H EGEDIŠ, Antal/âOBANOVIå, Katarina: Demografska i agrarna statistika Vojvodine 1767–1867 [Demographische und agrarische Statistik der Wojwodina]. Novi Sad 1991, S. 113.

Agrarische Modernisierungsprozesse und ethnodemographische Veränderungen

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Jahren des 18. Jahrhunderts. Nur in Obro watz erfolgte eine Zusiedlung v on Relevanz erst mit Be ginn des 19. Jahrhunderts. Diese w ar nicht obrigk eitlich gelenkt. Dort hatten sich deutsche Bauern langsam in dem serbischen Dorf eingekauft. Die gerade von deutschen Siedlern zunächst angestrebte Separierung wurde durch das Verhalten landarmer, aber kauffähiger deutscher Siedler wieder aufgelöst, die sich bald in serbischen Orten einkauften. Alle vier Dörfer befanden sich in der Nachbarschaft von weiteren deutsch besiedelten Dörfern. Quantitativ zeigen sich in allen vier Siedlungen weitgehend k ongruente Entwicklungen hinsichtlich der ethnodemographischen Veränderungen: Zwischen 1803 und 1915 nahm die deutsche Be völkerung zu, allerdings flachte sich diese Kurve in Abhängigkeit zu der jeweiligen Siedlung ab oder dynamisierte sich. Hinsichtlich der Entwicklung der serbischen Be völkerung bestand bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine gewisse Konstanz, wobei diese in Brestowatz leicht abnahm, in Parabutsch und Obrowatz leicht zunahm. Rac-Milititsch fällt hier etwas aus dem Rahmen, weil die Abnahme der Serben hier schon v or 1855 einsetzte und sich danach verlangsamte. Diese Verlangsamung verwundert indes kaum, da sich nach dieser Zeit kaum noch Serben im Dorf befanden. Sieht man von diesem Sonderfall ab, dann scheint in allen Siedlungen die Jahrhundertmitte eine gewisse Zäsur darzustellen. Denn da-

4997

5000 4500

4235

4000 3655

3500

3750

3240 3163

3000

2800 2449

2500

2248

2190

2440 1971

2000 1373 1142

1236

1000

1114 747

1140 823 578

500

1648

1513

1500

706 508 19

208

1225 1182 1025 905

1021

970

885

696

502

386

132

110

103

1855

1885

1915

0 1803

1825

Griechisch-Ortohodox Katholisch Brestowatz

Obrowatz

Parabutsch

Rac-Milititsch

Abb. 6: Die Entwicklung der römisch-katholischen (deutschen) und griechisch-orthodox bischen) Bevölkerung in einzelnen Orten. Quelle (wie Abb. 4).

en (ser -

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Karl-Peter Krauss

nach nahm die serbische Bevölkerung deutlich ab. Insofern liegt es nahe, auch nach den Auswirkungen der Grundentlastung auf das ethnographische Gefüge zu fragen.

3. Ethnodemographische Veränderungen in der Herrschaft Bóly im Komitat Baranya Bislang wurde das Phänomen ethnodemographischer Veränderungen in einzelnen Orten im Wesentlichen deskriptiv dargelegt. Das ist mithin eine F olge der eingeschränkten Überlieferung von Akten des Raumes der Batschka.23 Insofern bietet es sich an, eine Herrschaft im benachbarten K omitat Baranya näher in den F okus zu nehmen. In der Grundherrschaft Bóly der Grafen und Fürsten v on Batthyány sind zwar einige Ansiedlungsparameter grundsätzlich anders k onfiguriert, doch auch hier zeigen sich v ergleichbare Phänomene. 24 Unterschiede er geben sich dadurch, dass den deutschen Ansiedlern hier nicht die staatlichen Unterstützungen zugute kamen wie den aus dem Reich kommenden Kolonisten in den Kameralgebieten der Batschka oder auch in wenigen Privatherrschaften.25 So lag es in der Natur der Sache, dass nur jene Ansiedler in der Privatherrschaft Bauern- oder Kleinhäuslerstellen erhielten, die über die erforderlichen Mittel zur Etablierung und zum Hausbau verfügten. Zwingende Folge unterschiedlicher finanzieller Mittel der Ansiedler war auch die seit der Ansiedlung zu beobachtende soziale Dif ferenzierung zwischen Bauern, Kleinhäuslern (inquilini) und unbehausten Einwohnern (subinquilini).

23 Die umfangreichen Aktenbestände des Komitats Bács-Bodrog befinden sich im Arhiv Vojvodine in Novi Sad: Fond F 2, BBŽ 1688–1918. Dieser Bestand ist bislang bis zum Jahre 1805 in Findbüchern gut erschlossen, wenngleich nicht alle einzelnen Akten verzeichnet sind. Im Istorijski Arhiv Sombor [Historisches Archiv Sombor] kann insbesondere auf die Urbarialakten im Komitat Bács-Bodrog (Zbirka urbarijalnih spisa za mesta u Ba ãkobodroškoj Županiji (1752– 1849)) zurückgegriffen werden. Leider handelt es sich nur um klägliche Reste herrschaftlicher Akten, vor allem um Steuerkonskriptionen. Wie groß die Anfang des 19. Jahrhunderts und seit Mitte des 19. Jahrhunderts zerstörten Aktenbestände der Kameralverwaltung der Batschka gewesen sein mussten, ergibt sich schon aus dem Schriftverkehr dieser Behörde vor allem mit der Statthalterei, die ihren Niederschlag in den stattlichen Aktenbeständen im Ungarischen Landesarchiv [Magyar Országos Le véltár], vor allem in den Archiven in den ungarischen Kammern (Sektion E) gefunden hat. Weitere Bestände sind in den viel zitierten Aktenbeständen des Hofkammerarchivs in Wien und des österreichischen Haus-, Hof- und Staatsarchivs zu finden. Gerade der Mangel an Akten der Kameralverwaltung ist insbesondere für eine mikrogeschichtliche F orschung sowohl des Ansiedlungsvorgangs sowie der weiteren Entwicklung außeror dentlich bedauerlich. Hier bef anden sich zahlreiche Eingaben und Klagen, aber auch Akten über Erbschaftsvorgänge und Dokumente der Verwaltung vor Ort, die auch tiefe Einblick e in alltagsgeschichtliche Vorgänge hätten geben können. 24 Zu dieser Herrschaft: KRAUSS, Karl-Peter: Deutsche Auswanderer in Ungarn. Ansiedlung in der Herrschaft Bóly im 18. Jahrhundert. (= Schriftenreihe des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Band 11). Stuttgart 2003. 25 Hierauf v erwies schon S CHÜNEMANN, Österreichs Be völkerungspolitik unter Maria Theresia, Band 1. Berlin 1935, S. 262–265.

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In dieser Herrschaft wurden Deutsche nach 1720 zuerst in Wüstungen angesiedelt. In einer zweiten Phase erfolgte deckungsgleich zu den späteren josephinischen Ansiedlungsstrategien der Kameralv erwaltung in der Batschka eine Zusiedlung in bereits von Serben, Ungarn oder Kroaten besiedelte Orte. Diese K oexistenz bewährte sich nicht; kein Ort dieses Typus prosperierte. Ab 1744, in Zeiten boomender Getreidekonjunktur wegen der schlesischen Krie ge, griff der Grundherr Karl Joseph Fürst v on Batthyán y (1697–1772) daher zu einem drastischen Mittel: Er zog die Sessionen serbischer Untertanen in mehreren Dörfern komplett ein und siedelte Deutsche an. Die Serben mussten nach eingebrachter Ernte ihre Sessionen verlassen und an ihre Stelle rückten im Frühjahr angeworbene Deutsche nach. Diese Maßnahme w ar mit einer Re gulierung der Dorf- und Fluranlage v erbunden. Ziel dieser harten Aktion war die Absicht des Grundherrn, an den steigenden Ge winnen durch den Getreide verkauf zu partizipieren. Dies sah er nur durch die Ansiedlung deutscher Untertanen ge währleistet. Die Entwicklung der Einnahmen durch den Verkauf von Getreide gab dem Fürsten Recht. Die Einkünfte explodierten geradezu und entwickelten sich zum wichtigsten Ertragsposten.Während 1736 Getreide im Wert von 2.155 fl. und 1746 schon im Wert von 6.979 fl. verkauft wurde, w ar es 1758 während des Siebenjährigen Krie ges die immense Summe von 16.634 fl.26 Wie später in der Batschka hatten auch die Grundherren dieser Herrschaft aus Gründen der Gewinnoptimierung Allodialgut in Urbarialland überführt, weil sie sich damit eine schnellere Inwertsetzung ihrer Ländereien v ersprachen. Als mit dem Theresianischen Urbarium das „Bauernlegen“ erheblich erschwert wurde und damit auch serbische Untertanen nicht mehr grundlos v on Urbarialland entfernt werden konnten, markierte diese rechtliche K odifizierung und Hürde k eineswegs ein Ende der ethnodemographischen Veränderungen. Jetzt setzten in einer weiteren Phase schleichende wirtschaftliche Verdrängungsprozesse ein. Innerhalb dieses Prozesses kam es zu weiteren Verschiebungen des ethnodemographischen Gefüges, dessen „Verlierer“ vor allem orthodoxe Serben waren. So wurden mehrere ehemals noch während des Theresianischen Urbariums serbische Dörfer im Laufe der folgenden Jahrzehnte überwie gend deutsch. Auch hier ist zu beobachten, dass die in der Anfangszeit gerade v on deutschen K olonisten geforderte Separierung dadurch wieder aufgelöst wurde, weil sich viele Deutsche in serbischen oder anderen nichtdeutschen Dörfern einkauften. Während die Gründe für die ge waltsame Aussiedlung von serbisch-orthodoxen Siedlern durch die Herrschaft vor allem darin zu suchen sind, dass diese den an sie gestellten wirtschaftlichen Erwartungen nicht entsprachen und nicht konsequent genug von der von ihnen favorisierten Vieh- auf die in dieser Region gewinnbringendere Getreidewirtschaft umgestellt hatten, sind die Ursachen für die „schleichenden“, nicht obrigkeitlich initiierten Verdrängungsprozesse wesentlich komplexer. Aber auch sie hängen mit den Modernisierungsprozessen in der Landwirtschaft dieser Zeit zusammen. Einige Charakteristika der eth-

26 K

RAUSS

(wie Anm. 24), S. 121.

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nodemographischen Veränderungen erklären sich auch aus der ungarischen Agrarverfassung.27

Steuerpflichtige

80 70 60 50 40 1801

1791

1811

1814

1823

30 1828

1767

0

20 1833

1

2

3

4

5 km

10

Steuerpflichtige mit deutschem Namen

BK

Steuerpflichtige mit südslawischem Namen

B = Bauern K = Kleinhäusler

0

Abfolge in dieser Reihenfolge von links nach rechts

Abb. 7: Rácztöttös [heute Töttös]. Das serbische Dorf wurde im Rahmen wirtschaftlicher Verdrängungsprozesse Ende des 19. Jahrhunderts schließlich mehrheitlich deutsch. Diese Darstellung zeigt die Veränderungen v or der Grundentlastung. Grundlage ist die ethnische Zuweisung anhand der Namen in den Steuerkonskriptionen. Dieses für Fehlinterpretationen anfällige Verfahren entspricht zwar keineswegs modernen statistischen Methoden, spiegelt aber doch ein hinlänglich zuverlässiges Bild wider. Quelle: BML VI, A Batthyány-Montenuovo család bólyi le véltára [Das Bólyer Archiv der Familie Batthyány-Montenuovo], Bü 199–205, Urbarialkonskriptionen.

Als Beispiel kann das Dorf Rácztöttös [heute Töttös] von 1767 bis 1833 heran gezogen werden.28 Das Theresianische Urbarium von 1767 wies die Steuerpflichtigen dieses Ortes nicht als Deutsche aus. 29 Doch die herrschaftlichen Urbarialkonskrip27 Dazu: VARGA, JenŒ: Typen und Probleme des bäuerlichen Grundbesitzes in Ungarn 1767–1849. Budapest 1965. Umf assend dazu: Das Urbarialgesetz des letzten Ungrischen Reichtags historisch und politisch erläutert oder Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des ungrischen Bauern in seinem Verhältnisse zur Grundherrschaft. Leipzig 1838; hier kann nicht umf assend auf die komplexe Situation eingegangen werden; HELD, Joseph: The modernization of Agriculture; Rural transformation in Hungary, 1848–1975. (East European Monographs, 63). New York 1980. 28 Für diese Zeit stehen zahlreiche Steuerkonskriptionen im herrschaftlichen Archiv zur Verfügung: Baranya Megyei Levéltár [Archiv des K omitats Baranya; fortan BML], VI, A Batthyány-Montenuovo család bólyi le véltára [Das Bólyer Archiv der F amilie Batthyány-Montenuovo; fortan BMCsL], Bü 199 – 205, Urbarialkonskriptionen, 1791, 1801, 1811, 1814, 1823, 1828, 1833. 29 MOL, Helytartónatácsi levéltár, Úrbéri tabellák, Baranya Megye [Statthaltereiratarchiv, Urbarialtabellen, Komitat Baranya], Theresianisches Urbarium 1767. Mikrofilme 4132 – 4134.

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tionen30 der folgenden Jahre zeigen einen zunächst kleinen, aber sich zunehmend steigernden Anteil von Deutschen in dem Dorf. Typologisch zeigt die deutsche Zuwanderung dieses Muster: Zunächst übernahmen deutsche Ansiedler vor allem die Kleinhäuslerstellen. So hatten sie bis 1833 die absolute Mehrzahl dieser Stellen inne. Gleichzeitig besaßen die Deutschen nur einen kleinen Anteil der Bauernstellen.

Abb. 8: Schuldschein des Rehso Radoicsits aus Borjád, einem Nachbarort von Töttös. Gläubiger ist Heinrich Rull aus Deutschbohl [Bóly]: „Obligation. Endes unterschriebener Borjader Inwohner bekenne hie mit das ich von dem Bollyer Heinrich Rull zwey Hundert Gulden als ich in höchster Noth gewesen zu leihen genommen hab, w o ich auch demselben für diese Summe einen Wießen auf 4. Jahre nemlich von [1]813 bis [1]816 zu benutzen überlassen, nach verflossener Zeit fällt die Wießen wieder mir zurück zu wessen mehrerer Sicherheit wird ihm ge genwärtiges mit eigener Hand gemachten Kreutzes, nebst Beidruckung des Gemeind Insie gels hie mit mit getheillet. Sign[atum] Bolly am 19te[n] Aprill [1]812. x Jehso Radoicsits als Schuldner Jo vo Borovats, Groß Richter als Zeug.“31

Was sind die Ursachen für diese erstaunliche Schieflage und die Unterschiede bei der Übernahme v on Kleinhäusler- und Bauernstellen? Geht man da von aus, dass deutsche Siedler sich Land aneignen w ollten, v erwundert dieses Bild zunächst. 30 BML, VI, BMCsL, Bü 199–205. Anhand der Namenslisten der Steuerk onskriptionen erfolgte – mangels zuverlässigen anderweitigen statistischen Materials – eine Zuweisung nach der ethnischen Gruppe in diesem serbisch-orthodox en und deutschen Dorf. Aufgrund der Tatsache, dass nicht alle sla wischen und deutschen Namen die Zugehörigk eit zur einen oder anderen ethnischen Gruppe ausweisen müssen, ist mit einem Unsicherheitsf aktor von einigen Prozent durchaus zu rechnen. In einzelnen Fällen ist dies auch eine F olge wenig normierter und unterschiedlicher Schreibung bei den Namen. 31 BML, VI, BMCsL, Bü. 224.

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Denn dann wäre das Sessionalland erstrebenswert gewesen. Einen näheren Einblick in die zu Grunde liegenden Prozesse können die Akten des Herrengerichtsstuhls der Herrschaft Bóly geben. 32 Hier finden sich immer wieder Unterlagen v on gerichtlichen Auseinandersetzungen we gen nicht bezahlter Schulden. Die beilie genden Dokumente zeigen in einigen Fällen, dass sich serbische Untertanen bei Deutschen Geld liehen, selten kam der umgekehrte Fall vor. Prekär wurde die Situation für die Schuldner, wenn sie Grundstücke als Sicherheit geben mussten. Konnten die Schulden nicht mehr zurückgezahlt werden, dann fiel das Grundstück in die Hand des Gläubigers. Sachdienlich sind auch die Unterlagen einer Versteigerung des Besitzes einer kranken Witwe namens Radanoviç aus diesem Ort.33 Versteigert wurden das Haus, ein Weingarten mit Presshaus, ein weiterer Weingarten sowie der mobile Besitz der Witwe. Als die Versteigerung am 3. März 1816 stattf and, hatten sich so wohl serbische als auch deutsche Interessenten eingefunden. Doch den Zuschlag des auf 500 fl. v eranschlagten Ausgangspreises erhielt schließlich Lorenz Bach aus dem benachbarten Deutschbohl [Bóly]. Of fensichtlich k onnte k einer der anwesenden serbischen Interessenten die von ihm gebotene Summe in Höhe von 1.475 fl. überbieten. Diese Indizien deuten auf eine stärk ere Kaufkraft der deutschen Untertanen. Die schleichenden Verdrängungsprozesse erklären jedoch nicht die Diskrepanz bei der Übernahme von Bauern- und Kleinhäuslerstellen. Hier sind die Ursachen in der Konfiguration der Agrarverfassung des Landes zu suchen. Als Sicherheit für eine aufgenommene Schuld kam das Haus eines Sessionsbauern nur bedingt in Frage. Denn auch wenn der Gläubiger ein solches Haus übernommen hätte, so er hielt er die dazugehörige Session keineswegs automatisch. Die Übernahme der Session bedurfte der Zustimmung des Grundherrn. Wurde diese verweigert, nützte das Haus wenig. Andererseits k onnte dieses System dazu führen, dass ein Sessionsbauer wegen weniger hundert Gulden Schulden sein Haus als Pf and verlor, da er seine Session, die ja dem Grundherrn gehörte, nicht v erpfänden konnte. Hier er folgte eine, wenn auch nicht umf assende Korrektur erst im Jahre 1836 durch das neue ungarische Urbarialgesetz.34 Da der Bauer keinen Anteil der Ansässigkeit verpfänden, vertauschen oder verkaufen konnte, war eine Verpfändung solcher Grundstücke ausgeschlossen; eine solche wäre nur möglich ge wesen, indem er auf die Nutznießung seiner Session Kredit hätte erheben können. Dieser Umstand machte die anderen Grundstücke, die im Besitz der Untertanen waren, interessant. Damit rückten die in den Quellen als „Industrialfelder“ bezeichneten Grundstücke in den Fokus eines besonderen Interesses. Es handelte sich um das Rodungsland, die Weinberge und Industrialfelder im engeren Sinne desWortes, die durch Urbarmachung von den Untertanen zusätzlich zum Urbarialland ge won32 BML, VI, A, BMCsL, Bü 224 ff. Patrimonialgerichts- bzw. Herrenstuhlakten [úriszéki iratok] der Herrschaft Bóly, Zivilgericht [processus civilis]. 33 BML, VI, BMCsL, Bü. 225. 34 Vgl. dazu: Das Urbarialgesetz (wie Anm. 27), S. 10, 11; VARGA, JenŒ: Typen und Probleme des bäuerlichen Grundbesitzes in Ungarn 1767–1849. (Studia Historica Academiae Scientiarum Hungaricae, 56). Budapest 1965, S. 38 ff.

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nen wurden und die in Anerkennung des Fleißes geringer besteuert wurden. Industrialland konnte der Grundherr zwar zu einem festgelegten, niedrigen Preis zurücklösen, aber in den Augen der Bauern wurden diese Grundstück e als Eigenbesitz betrachtet.35 Dies entsprach zw ar nicht dem Urbarialrecht, aber in der Praxis gewann solches Land besonders in den dicht besiedelten K omitaten wie der Baranya oder im benachbarten K omitat Tolna einen hohen Verkehrspreis. Diese außerhalb der Sessionen liegenden Gründe taugten damit als Pf and bei Kreditbedarf, den offensichtlich vor allem Serben für den v on ihnen f avorisierten Viehhandel hatten. Gingen Geschäfte schief, wechselte der Besitzer der Grundstück e, die diese als nicht an den Sessionsgütern Beteiligte als Kleinhäusler be wirtschaften k onnten. Das mag den Umstand erklären, warum zunächst einmal Deutsche als Kleinhäusler in serbische Dörfer der Herrschaft Bóly kamen. Die Hürden zur Übernahme einer bäuerlichen Session w aren wohl aus den geschilderten Gründen einf ach zu groß. Dieses rechtliche System unterlag schließlich nach der Grundentlastung Mitte des 19. Jahrhunderts einem grundlegenden Wandel. Lassen sich die dargelegten Erkenntnisse nun auf die Batschka übertragen? Obwohl eine stärk ere soziale Dif ferenzierung in den Kameralgebieten der Batschka erst später einsetzte, so zeigt sich auch hier schon wenige Jahrzehnte nach der Primäransiedlung eine v erstärkte Binnenkolonisation deutscher Siedler , die Land in serbischen Dörfern erwarben und damit die in vielen Dörfern durchgeführte Separierung auflösten. Der Mangel an Kleinhäuslerstellen führte hier jedoch eher dazu, dass von deutschen Siedlern bestehende Sessionen übernommen wurden.

4. Das „unsichtbare Gepäck“ der Untertanen 36 Hier soll ein kleiner Exkurs unternommen werden, der gleichwohl nach Hinweisen für das of fensichtlich dif ferierende wirtschaftliche Verhalten deutscher und ser bischer Untertanen sucht. Verlockend für viele ältere Darstellungen hinsichtlich der deutschen Ansiedlung in Ungarn w ar dabei das K onstrukt der „K ontinuitätstheorie“, nämlich die Vorstellung, dass die K olonisten ihre in der früheren Heimat er worbenen Kenntnisse, Fertigkeiten und Wertvorstellungen und damit auch die Bewirtschaftungsmethoden nahtlos wieder in der neuen Heimat anw andten. Dieser Idee historischer und kultureller K ontinuität lagen in Zeiten nationaler Selbstfindungsprozesse auch Vorstellungen der Legitimierung zugrunde.37 Doch die Migration war mit erheblichen Brüchen verbunden. Was die für diese Darstellung interessante Bewirtschaftung des neu erhaltenen Landes anbelangt, so zeigen Klagen der 35 Das Urbarialgesetz (wie Anm. 27), S. 30. 36 Die Begrifflichkeit wurde diesem Aufsatz entnommen: B EER, Mathias: Das „unsichtbare Gepäck“. Drei Thesen zur kulturellen und sozialen Inte gration der Aussiedler aus Rumänien in der Bundesrepublik. In: Aktuelle Ostinformationen 23, 1991, H. 1/2, S. 49–60. 37 Zur Frage der Identitätsproblematik der „Donauschw aben“ vgl.: S EEWANN, Gerhard: Siebenbürger Sachse, Ungarndeutscher, Donauschwabe. Überlegungen zur Identitätsproblematik des Deutschtums in Südosteuropa. In: DERS. (Hg.): Minderheitenfragen in Südosteuropa. (Untersuchungen zur Gegenwartskunde Südosteuropas, Bd. 27). München 1992, S. 139 – 155.

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Grundherrschaften immer wieder, dass sich die Ansiedler zunächst sehr schwer taten. Schon die ungewohnten klimatischen Bedingungen, andere Kulturpflanzen und Anbaumethoden erforderten einen Adaptionsprozess. Dazu kam, dass zahlreiche Ansiedler sich erst als erfolgreiche Bauern zu etablieren hatten, denn ein beträchtlicher Anteil der Siedler hatte bestenfalls Erfahrungen mit der Bewirtschaftung von Kleinstbetrieben. Doch jenseits der Überlegungen über einen Technologietransfer und ungeachtet des Ausmaßes eines Kontinuitätsbruchs brachten die Ansiedler ein „unsichtbares Gepäck“ mit sich. Dazu gehörten auch die in den Herkunftsre gionen erlernten Überlebensstrategien und Erfahrungsmuster. Werden die Auswandererregesten von Werner Hacker38 unter dem Aspekt ausgewertet, wer ausgewandert ist, so zeigt es sich schnell, dass v or allem, wenn auch nicht ausschließlich, Angehörige der landarmen, sozialen Unterschichten ihr Glück in der Fremde suchten, auch wenn sich abhängig von den Fördermaßnahmen auf den Staatsgütern und hinsichtlich der Zeit kein einheitliches Muster zeigt.39 Natürlich können einzelne Ereignisse wie Kriege, Hungersnöte, Missernten, Überschwemmungen, Bedrückungen einen Impuls zur Auswanderung gegeben haben, aber es w aren doch v or allem lediglich Katalysatoren für den latent v orhandenen Wunsch nach einem besseren wirtschaftlichen Fortkommen, das stark mit dem sozialen Ansehen gekoppelt war. Fast immer entschlossen sich Landarme dazu, der Heimat den Rück en zu k ehren. Sie trugen die kollektive Erfahrung mit sich, wie stark Landarmut die Ursache für allgemeine Armut in der v orindustriellen Zeit w ar. Denn gerade in Subsistenzkrisen gingen die Löhne für das ländliche Handwerk noch zusätzlich zurück. Da waren Aussagen wie die in einem Brief v on 1804 über die Situation in Ungarn geeignet, weitere Auswanderer anzulocken: „[…] wans also dem Johan Mägerli und Elisabetha Megerlin gefelig ist so könen sie nach Tolnau kommen zu uns dan wir hofen, daß v or sie Beyte beser zuleben werr als drausen dann die Maurer sehr villArbeit haben hir und bekommen täglich 36 Kreutzer Bezahlung auch kan jeder Mensch so wohl Sommer als Winter Etwas Vertinen40 aber dem ungeacht Stellen wir Es doch in Eueren freien Willen.“41 Doch Landbesitz war auch verknüpft mit dem sozialen Status. Dabei setzte im 18. Jahrhundert ein Prozess steigender Grundstückspreise ein. DieAgrarkonjunktur

38 Hier seien nur die zwei umf angreichsten Werke genannt: H ACKER, Werner: Auswanderungen aus Oberschw aben im 17. und 18. Jahrhundert archi valisch dokumentiert. Stuttgart, Aalen 1977; D ERS.: Auswanderungen aus Baden und dem Breisgau. Obere und mittlere Oberrheinlande im 18. Jahrhundert archivalisch dokumentiert. Stuttgart, Aalen 1980. 39 Anhand der zw angsdeportierten „Salpeterer“ und der „freiwillig“ Ausgewanderten aus der Grafschaft Hauenstein kann beispielhaft nachge wiesen werden, dass die Zw angsdeportierten zu den bäuerlichen Mittel- und Oberschichten und die sonstigen Auswanderern zu den landarmen Unterschichten gehörten. Dazu mit weiteren Literatur - und Quellenhinweisen: K RAUSS, Karl-Peter: Deportation und Rückkehr des Hauensteiner Aufständischen Jakob Fridolin Albiez. In: RÖDER, Annemarie (Hg.): Vom deutschen Südwesten in das Banat und nach Siebenbür gen. Stuttgart 2002, S. 195–214. 40 V erdienen. 41 Gemeindearchiv Böttingen, Pflegschaftsrechnungen, R 755, Nr. 3917.

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begann nach dem ersten Drittel des Jahrhunderts zu boomen.42 Dies bedeutete eine forcierte Verarmung landarmer Schichten, die beim Versuch an das be gehrte Land zu kommen, von vornherein benachteiligt waren, da sich die Schere zwischen dem Einkommen landbesitzender Bauern und landarmer Unterschichten weiter öffnete. Hier bot die Auswanderung einen Ausweg, auch hinsichtlich unterschiedlicher Grundstückspreise. Während man in der Auswandererregion Ortenau in Süddeutschland für einen bäuerlichen Kleinstbetrieb, der kaum das Überleben sicherte, 1760 mindestens 600 fl. zahlen musste43 und für eine stattliche Bauernwirtschaft in Mahlspüren in der Herrschaft Nellenb urg mit Haus, Scheuer und Land ohne Vieh und Ausstattung 1758 der Wert von 3.867 fl. angesetzt wurde, 44 kostete in Südungarn ein Haus auf einer Bauernansässigkeit zur gleichen Zeit wenige hundert Gulden oder sogar nur etwas über 100 Gulden.45 Besonders viel Anziehungskraft mussten hier die Räume mit niedrigen Haus- bzw. Grundstückspreisen haben.46 Wurde ein an die Session gebundenes Haus gekauft, bekam man nach der Zustimmung des Grundherrn das dazugehörige Urbarialland ja unentgeltlich als Lehen. Jedenfalls spielte die Aussicht auf Landerwerb eine maßgebliche Rolle bei einem großen Teil der Auswanderer, ungeachtet ob sie schon Bauern w aren oder

42 A

BEL, Wilhelm: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter. 2. neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Hamburg, Berlin 1966, S. 182 ff. In Oberschw aben stiegen die Preise für Getreide zwischen 1740 und 1780 etwa um das Doppelte, vgl.: D IEMER, Kurt: Die Familie Angele. Ein Ausflug in die Vergangenheit. Vortragsmanuskript. Ummendorf-Fischbach 2005. Zur allgemeinen Preisentwicklung in Österreich: P RIBRAM, Alfred Francis (Hg.): Materialien zur Geschichte der Preise und Löhne in Österreich, Band 1, unter Mitarbeit v on Rudolf G EYER und Franz K ORAN. (Veröffentlichungen des internationalen wissenschaftlichen K omitees für die Geschichte der Preise und Löhne, Österreich, Bd. 1). Wien 1938. 43 Generallandesarchiv Karlsruhe (GLA), 229, F asz. 65261: 1760 v erkaufte der „Ehrbare und bescheidene Arbogast Schäffer Bürger zu Marlen“ einen Hausteil, mehrere kleine Acker- und Wiesenstücke für 655 fl., worin auch 40 fl. für „Fahrende Haab“ enthalten sind. 44 S CHUSTER, Hans-Joachim: Agrarverfassung, Wirtschaft und Sozialstruktur der nellenburgischen Kameralherrschaft im 17., 18. und frühen 19. Jahrhundert. Untersuchungen zum Wandel einer ländlichen Gesellschaft in der frühen Neuzeit. (He gau-Bibliothek, Bd. 70). Diss. K onstanz 1988, S. 211–212. 45 1751 zahlte Hans-Geor g Storck in P alkonya in der Herrschaft Bóly für ein v on den „Räzen unterlaßenes“ Haus 110 fl., für eine Hausstelle betrug der Übernahmepreis ganze 40 fl. BML, VI, BMCsL, Bü. 37. 46 Es erstaunt, wie sehr ausw anderungswillige Zeitgenossen sogar über das innerungarische Preisgefälle informiert waren. Hier sei nur das Beispiel eines amtlichen Berichts des Beamten Ludwig Joseph Rigel aus Kirchhausen an die Regierung des Deutschen Ordens in Mergentheim vom 9. Mai 1790 angeführt, indem es heißt: „V iele Inwohner von St. Anna, Fünfkirchen und dortiger Gegend des Königreichs Ungarn sollen entschlossen seyn, in Serbien sich niederzulassen, und die Lie genschaften in sehr w ohlfeilen Preiß stehen.“ Ferner berichtet er , dass die Supplikanten meinten, „[…] daß sie ihre Umstände v erbesseren – und in kurzer Zeit große Reichthümer erwerben würden.“ Er bezweifelte dies zwar, aber sah es als erwünschenswert an, „[…] wenn die durch den v orhabenden Zug in ein so gese gnetes Land solcher Verlegenheit auszuweichen das Glück haben werden.“ Staatsarchiv Ludwigsburg (StAL), B 284, Bü. 75.

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nicht.47 Insofern ist es wenig verwunderlich, dass die in der Batschka angesiedelten deutschen Kolonisten offensichtlich von Anfang an Wert darauf le gten, möglichst viel Land zu erhalten. So beklagte sich Johannes Prislinger aus Rac-Milititsch 1787 darüber, dass ihm Unrecht zugefügt worden war, weil der Distriktsprovisor der Kameraladministration ihm die halbe Session entzogen habe.48 Doch derselbe Prislinger hatte nach der eingeleiteten Untersuchung so wohl im Hinblick auf die öf fentlichen als auch die herrschaftlichen Abgaben „Restantien“49 und konnte weder die Länder be wirtschaften noch die dazugehörigen Lasten tragen. Als sich auch ein anderer Kolonist namens Thomas Doriath beklagte, weil er nur eine Viertelsession erhalten habe, da er zum Zeitpunkt des Urbarialk ontrakts nur ein Pferd besessen hatte, sah sich die Kameraladministration genötigt, ihr Verhalten zu rechtfertigen. Man erläuterte, dass in mehreren Orten, nämlich in Apatin, Priglewitz Sankt Ivan [serb. Priglevica Sveti, ung. Bácsszenti ván], Filipowa [serb. Filipovo, ung. SzentFülöp] und Hodschag [serb. Odžaci, ung. Hódság] die Siedler trotz ihrer vier Pferde nur 2/4 Sessionen erhalten hätten und die Besten dennoch Bauern (optimi tamen sunt hospites) seien und mit ihren Familie und ihren Zugtieren leben könnten, denn es würde nicht die Quantität des Landes (terra) sondern die Qualität der Be wirtschaftung zählen und der Fleiß sei die Ursache hierfür .50 Denn inzwischen würde man so verfahren, dass Diejenigen, die nur ein Pferd hätten nur eine Viertelsession erhielten. Auch beklagte sich die Kameraladministration darüber , dass die Siedler (coloni) jedes Mal bei Vertragsabschluss versprochen hätten, den Vertrag zu halten und mit dem zuge wiesenen Land zufrieden zu sein. Doch danach sei ein Teil des Landes für Jahre unbebaut geblieben.51 Dieser Bericht legt unmissverständlich offen, dass die Kolonisten bestrebt waren, so viel Land wie immer möglich zu erhalten, auch dann, wenn sie zu diesem Zeitpunkt weit davon entfernt waren, dieses Land gänzlich zu be wirtschaften. Sie wollten „Bauern“ sein und zeigten damit ihre mentale Prägung, die v om Korrelat eines hohen sozialen Status und großem Landbesitz ausgingen. Auch scheinen sie

47 Die Aussagen von Johann Eimann bestätigen dies nur, indem er anführt, wie schwer sich viele Neuansiedler in der Batschka zunächst damit taten, den Bauernhof zu bewirtschaften. EIMANN, Johann: Der deutsche Kolonist oder die deutsche Ansiedlung unter Kaiser Josef II. in den Jahren 1783 bis 1787 besonders im Königreich Ungarn in dem Batscher K omitat. Hg. von Friedrich LOTZ. (Veröffentlichungen des Südostdeutschen Kulturwerkes, Reihe B, Band 17, zugleich Schriften zur Wanderungsgeschichte der Pfälzer, Folge 23). München 1965, S. 65–66. Die erste Ausgabe erschien unter dem Titel: EIMANN, Johann: der deutsche Kolonist oder die deutsche Ansiedlung unter Kaiser Joseph dem Zweyten in den Jahren 1783–1787, obsonderlich im Königreich Ungarn in dem Bacser Comitat. Pesth 1820. 48 IAS, Fond 8, Nr. 720. In einer sieben Seiten umfassenden Bewertungsschrift sind die einzelnen Klagepunkte sowie die Bewertung der Klagen durch die Kameraladministration aufgelistet. Zu beachten ist, dass in Ungarn die Größe einer Session recht unterschiedlich war und in den einzelnen Urbarialvorschriften geregelt wurde. In der Batschka w ar eine Session mit 32 bis 34 Joch Ackerland sehr großzügig bemessen. 49 Schulden, Außenstände. 50 „Apatin, Szent-Ivan, Philipova, Hodságh, ubi Coloni equos habent 4 et 2/4 Sessionem“. 51 IAS, Fond 8, Nr. 720.

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Abb. 9: Das Schreiben v on Theresia Pfeffer, verheiratete Bertsch, an ihren Bruder v om 23. März 1824, indem sie ihn bat, ihr Erbe zuzusenden. GA Starzach-Bierlingen, VII, Pflegrechnungen, Nr. 134a, S. 1.

immer von der Angst beherrscht ge wesen zu sein, zu wenig Anteil am „K uchen Land“ und damit an Überlebenschancen bekommen zu haben. Auch in Selbstzeugnissen kommen die Denkmuster der „landhungrigen“ Kolonisten zum Ausdruck. So schrieb die nach Ungarn ausge wanderte Agatha Pfeffer aus Weprowatz [serb. Veprovac, ung. VeprŒd] ihrem in der Heimat zurückgebliebenen Sohn, er solle das Erbe seiner ebenf alls ausgewanderten Schwester nach Ungarn auszahlen. Als Begründung gab sie an: „Dahero berichte ich Dich, daß, wenn

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Du von der Theresia ihrem Erbtheil etw as schicken kannst, so schick e wie viel es immer ist. Denn es ist hier in Ungarn itzt öfters sehr Wohlfeihl, und besonders, was Grundstücker anbelangt, die Theresia hat zw ar eine gute P artie gemacht, und ist sehr zufrieden, mit ihrer Ehe, sie bekomen, nämlich, ein schönes Haus, welches gut eingerichtet ist samt zwey virtl Session feld, drey stück Zug Pferd, kurz es ist alles in guten Stand. Weil aber das Feld itzt sehr Wollfeihl ist, so möchten sie sich noch etwelche Grundstücke kaufen.“52 Dieselbe SchwesterTheresia forderte ihn in einem weiteren Schreiben auf, das Geld bald zu schick en und gab folgenden Grund an: „Dahero bitte ich Dich, Arbeite so gut Du kannst, um mehr Geld zu schicken: wenn aber nicht ist so schicke derweilen nur die 300 fl.: aber je eher dies, je besser, denn es lauren 53 mehrere auf das Haus, um es zu kaufen; und wir liesen es nicht gerne einem andren zukomen.“54 Dieses auf die Vermehrung der eigenen Wirtschaft ausgerichtete Denk en der deutschen Ansiedler v erleitete den Gemeindenotar und Verfasser der ethnographisch-topographischen Beschreibung des Ortes Deutsch Palanka [serb. Baãka Palanka, ung. Bácspalánka], Johann Janesik, 1859 zu einer Bemerkung, die zugleich ein Beispiel für die Fremdwahrnehmung der deutschen Bewohner dieses Ortes ist. Hierin heißt es: „Der Charakter, die Denk-, und Handlungsweise dieses Volkes erstreckt sich blos auf seine Wirthschaft, und Haushaltung.“55 Auch die zahlreichen Feiertage der serbisch-orthodoxen Bevölkerung, die man in Verordnungen immer wieder einzudämmen v ersuchte, spielten sicherlich eine weitere Rolle und mussten zu einem wirtschaftlichen Nachteil führen. Auch wenn sich die zeitgenössischen Aussagen über die Siedler oft widersprachen und vielen Kolonisten zunächst ein wenig zielgerichtetes Arbeiten, auch von Seite der Kameraladministration, nachgesagt wurde, so er gibt sich insgesamt ein schlüssiges Bild dahingehend, dass die Ansiedler ein besonderes Augenmerk auf die Vermehrung ihres Besitzes legten und diese „Tugend“ im Wertekanon eine besondere Rolle spielte.56

5. Investitionskapital und Kapitaltransfer: Grundlagen einer effizienteren Agrarökonomie? Am 21. Dezember 1791 schrieb der aus der Ortenau nach Apatin ausgewanderte Joseph Schäfer einen Brief wegen seines in der früheren Heimat zurück gelassenen Erbes. Unter anderem berichtete er in diesem Schreiben v on den Preisen für die 52 Brief der Agatha Pfeffer vom 28. Dezember 1823. Unterstreichung im Original. Gemeindear chiv (GA) Starzach-Bierlingen, VII, Pflegrechnungen, Nr. 134a. 53 Lauern, warten. 54 Brief der Theresia Pfeffer, verheiratete Bertsch vom 23. März 1824. GA Starzach-Bierlingen, VII, Pflegrechnungen, Nr. 134a. 55 Ethnographisch-topographische Beschreibung des Marktes Deutsch Palanka, Abschnitt IV, h. 56 Vgl. dazu auch den Beitrag in diesem Band v on S PANNENBERGER, Norbert: „Quo ita cicures ac industriosi evaderent“. Agrarmodernisierungen und ethnische Veränderungen als komplementäre Entwicklungsprozesse in Südtransdanubien.

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üblichen landwirtschaftlichen Erzeugnisse. Doch danach formulierte er einen aufschlussreichen Satz: „[…] wan Man aber auf die Raatzen orth af hren thut so bekomt Man Noch alles Wohl feiler als in abathin [Apatin].“ 57 Scharfsinnig erkannte der Briefschreiber das damals schon bestehende Kaufkraftgefälle.Wie lassen sich diese Disparitäten erklären? Insbesondere in josephinischer Zeit floss in den Raum der Batschka eine beträchtliche Summe an Geld und Investitionskapital. Allein die von dem Kameraladministrator Michael Ürményi aufgelisteten Ansiedlungskosten bis Mai 1786 er gaben die gewaltige Summe von 1.283.821 Gulden für diesen Raum.58 Dieses Investitionskapital führte zu einer Verbesserung der ländlichen Infrastruktur (Häuser -, Straßenbau, Anlage v on Kanälen, Re gulierungs- und Meliorationsmaßnahmen). Die Finanzspritze kam zunächst einmal den Orten bzw . Siedlungsplätzen zugute, die Kolonisten aufnehmen sollten. Das w aren vor allem die v on Deutschen besiedelten Dörfer. Ihre Ansiedlung war verknüpft mit umfangreichen Regulationsmaßnahmen. Sowohl die Dorfanlage als auch die Einteilung der Fluren wurden so reguliert, dass sie optimal auf die Dreifelderwirtschaft ausgerichtet w aren. Es handelte sich um normierte Dorftypen mit re gelhaften Gewannfluren. Das garantierte eine bessere Arbeitsorganisation und schuf eine weitgehend geplante „k oloniale“ Kulturlandschaft. In dieser Konsequenz erfolgten Umsetzungen in serbischen Dörfern nicht oder nur teilweise, weil hier ja in der Regel eine gewisse Siedlungskontinuität herrschte, die sich erschwerend auf k onsequente Umsetzungsmaßnahmen auswirkte. Zudem gab es Unterschiede in der Intensität der Be wirtschaftung.59 Schließlich wurde in den neu angele gten Kolonistendörfern erheblich in landwirtschaftliche Ausstattung und Vieh investiert. Damit lag gerade in der Disk ontinuität die Chance für einen Inno vationsschub. Hier musste auf v orhandene Strukturen nur wenig oder keine Rücksicht genommen werden. Für eine höhere Kaufkraft in den v on Deutschen besiedelten Orten sprechen jedoch noch weitere F akten. Auch wenn die ank ommenden Kolonisten vor allem aus den sozialen Unterschichten stammten und eher den weniger Bemittelten zuzurechnen waren, so brachten Sie doch etwas Geld mit, was in der Summe ein erheblicher Kapitalzufluss w ar. Eines v on zahlreichen möglichen Beispielen sei angeführt: In Hodschag siedelten sich insbesondere in der späten mariatheresianischen Zeit nicht wenige Auswanderer aus der Ortenau an. Einige der Auswanderer aus Marlen in der Ortenau lassen sich in Hodschag nachweisen. 60 Von den im Jahre 57 GLA, 119, Nr. 196, ohne fol. 58 Einschließlich der noch erforderlichen Beträge v on 487.654 fl. MOL, E 125, F ond 308, Nr. 5, zit. nach FELDTÄNZER (wie Anm. 12), S. 110. 59 Einen hervorragenden Einblick in die Denkmuster der K olonisten und der einheimischen Serben gibt die v on Johann Eimann v erfasste Eingabe des Dorfes Neu-Siw atz [serb. Novi Sivac, ung. Uj-Szivácz] an die Kameralv erwaltung von Kula vom 7. Dezember 1793. Hier wird aus dem Blickwink el des Zeitzeugen dar gelegt, w arum eine Separation als dringend notwendig angesehen wurde, siehe: EIMANN, Johann (wie Anm. 47), S. 126–129. 60 Der Nachweis ist zum Teil möglich durch: TUFFNER, Martin/SCHUY, Jakob: Ortssippenbuch Hodschag 1756–1945. (Schriftenreihe zur donauschwäbischen Herkunftsforschung, Band 35) Moosburg o. J. Weitere Ansiedler lassen sich in der Familienliste von 1771 von Hodschag [serb. Odžaci, ung. Hódság] identifizieren: Kalocsai F Œegyházmegyei Levéltár [Erzdiözesanarchiv

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1769 Ausgewanderten waren es die Familien von Georg Guth, Johannes Guth, Anton Higel, Klaus Klemm, Georg Klemm, Joseph Klemm, Matthias Klemm,Andreas Kopf und Jakob Kraus. Die Vermögensverhältnisse dieser Familien sind exakt aufgelistet, weil die erlösten Ge winne des Verkaufs der Immobilien nach Abzug der Schulden zur Ermittlung derAbzugsgelder errechnet wurden.61 Trotz der Schuldentilgung und der zehn Prozent betragenden Abzugsgebühr verblieben diesen neun Familien insgesamt über 10.800 (!) Gulden. 62 Es ist anzunehmen, dass der größte Teil dieses Geldes in den Ansiedlungsgebieten in vestiert wurde. Diese Beträge stellten angesichts der Kaufkraft in der Batschka eine erhebliche Summe dar.63 Neben mitgeführtem Kapital flossen in die deutschen Siedlungsgebiete immer wieder Erbschaftsgelder aus den Herkunftsgebieten. Es handelte sich meist um kleinere und sporadische Beträge v on wenigen hundert Gulden oder noch viel kleinere Summen. Dennoch stellten diese Gelder we gen des Kaufkraftgefälles ein nicht zu unterschätzendes In vestitionskapital dar. In der Re gel wurde das Geld in den Erwerb v on Haus und Hof so wie Landbesitz gesteckt. So flossen 1794 und 1795 nur in den Ort Rac-Milititsch 2.662 fl. an Erbschaftsgeldern, die über das Universal-Kameral-Zahlamt in Wien und über Ofen abgewickelt wurden.64 Für die gesamte Batschka wurde nur über dieses Zahlamt in den gleichen Jahren eine Summe von rund 15.000 fl. transferiert. Dabei stellte dieser Zahlungstransfer über das Universalzahlamt nur eine von vielen Möglichkeiten dar. Diese Beträge bedeuteten damit ein erhebliches In vestitionspotential, zumal damit zahlreiche Höfe er worben werden konnten.

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von Kalocsa; fortan KFL], I. Érseki Le véltár [Erzbischöfliches Archiv], 2., Kalocsai Érseki FŒszentszék [Erzbischöflicher Heiliger Stuhl Kalocsa], a., Feudális k ori iratok [Schriften aus dem feudalen Zeitalter], Visitationes canonicae, Status Animarum P arochiae Hodsakiensis Anno 1771 conscriptus. Generallandesarchiv Karlsruhe, 229, Fasz. 65261. Die Endsumme des Vermögens ist in diesen Akten nicht immer ausge wiesen. In einzelnen Fällen sind nur der Aktivbestand so wie die Schulden dargelegt. So muss bei einer realistischen Vermögensbewertung auch noch das zehnprozentige Abzugsgeld abgezogen werden. Dies unterließ Friedrich Lotz bei seiner Darlegung der Vermögensverhältnisse, was zu Berechnungsdifferenzen in dieser Höhe gegenüber den Angaben hier führt. Siehe: LOTZ, Friedrich: Hodschag. Geschichte einer deutschen Marktgemeinde in der Batschka. 2., erweiterte Ausgabe. Freilassing, o. J., S. 66–69. Davon waren die Anschaffungen für die Reise und die neue Heimat schon abgezogen. Bei Joseph Klemm waren das neue Kleider für die Familien in Höhe von etwas über 30 Gulden, eine Truhe mit Beschlägen, eine Flinte, Eisengeschirr u. a., aber auch Löhne für Schumacher , Schneider usf. Dabei sind nirgendwo in den Auflistungen dieser und anderer Familien erspartes Handgeld zu finden. Hatten diese Familien wirklich nur das an Vermögen, was sie durch den Verkauf ihres Besitzes erlösten? Das ist angesichts der Findigkeit gegenüber dem Fiskus wenig wahrscheinlich, das heißt, es ist damit zu rechnen, dass die Ungarnausw anderer gespartes Geld und die Erlöse des unter der Hand v erkauften Eigentums zusätzlich mitnahmen. Das w ar unversteuertes und damit nicht registriertes Kapital. Es handelt sich um Erbschaften für Johann Gefesser und Michael Winterhalter (666 fl), Maria Jäger (83 fl), Mathias Kimmer (804 fl), Anton Schmidt (256 fl), Johann Brogli (500 fl), Benedikt Waldmayer (353 fl). HKA, Galizische Domänen, rote Nr. 83, 1793, 1794 sowie rote Nr. 84, 1795, 1796.

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Wie stark die Wirtschaftskraft von einzelnen deutschen Familien bis Mitte des 19. Jahrhunderts angestiegen war, lässt sich an Hand einzelner Über gabekontrakte darlegen. So hatte Magdalena Angebrand (12.10.1794 – 10.12.1856) von Rac-Milititsch mit ihrem Sohn Josef (09.10.1824 – 22.02.1847) noch vor dessen frühem Tod wohl anlässlich seiner Hochzeit am 06.05.1845 einen v om Ortsrichter , den Geschworenen und dem Dorfnotar Michael Halinger unterzeichneten K ontrakt abgeschlossen, indem sie ihrem Sohn Josef Angebrand das Haus und damit die Wirtschaft gegen Zahlung einer Summe von 2.300 (!) Gulden überließ.65

Abb. 10: Die Abschrift des Übergabekontrakts der Magdalena Angebrand mit ihrem Sohn. Da der Sohn nur bis Februar 1847 lebte, dürfte diese Abschrift im März 1847 auf Grund des Todesfalls angefertigt worden sein. Vermutlich war der Kontrakt anlässlich der Hochzeit ihres Sohns 1845 abgeschlossen worden. IAS, Fond 8, Srpski-Miletiã, Nr. 742.

Über welche Geldmittel einzelne deutsche Gemeinden v erfügten, zeigt auch das Beispiel des Ortes Hodschag [serb . Odžaci, ung. Hódság]. Als in den Wirren der Revolutionskriege von 1849 das IV. ungarische Armeekorps die serbischen Truppen im April 1849 geschlagen hatte, wurde der Gemeinde Hodschag [serb. Odžaci, ung. Hódság] auferlegt, innerhalb von drei Tagen 50.000 Gulden Kontribution zu zahlen sowie zusätzlich 90 Pferde zu stellen. Ursache für diese K ontribution war die An65 Abschrift des unterschriebenen Nr. 742.

Vertrages v om März 1817: IAS, F

ond 8, Srpski-Mileti ã,

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Abb. 11: Obligation oder Schuldschein des Szima Lukits aus Rac-Milititsch, der aus der Waisenkasse des Ortes 100 fl. entliehen hatte, um den v on ihm gekauften Weingarten zahlen zu können, 1828. IAS, 8, Nr. 740.

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nahme, dass die Be wohner des Ortes serbische Aufständische bei der Festnahme des ungarischen Stuhlrichters unterstützt hatten. Tatsächlich brachte die Gemeinde Hodschag auch mit Hilfe der Kirchen-, Waisen- und Zunftkassen diese Summe kurzfristig auf. Einige Einw ohner zahlten über 1.000 Gulden; allein Joseph Birli zahlte 6.200 fl.66 Benötigte die Bevölkerung Geld, um in Grund und Boden zu investieren, so bot es sich an, dieses bei der Waisenkasse auszuleihen, wobei jüdische Kreditgeber in den Dörfern erst seit dem frühen 19. Jahrhundert eine gewisse Rolle spielten. Die Waisenkassen verwalteten das Vermögen der Waisen. Das Bargeld kam so zustande, indem mobile und immobile Werte der verstorbenen Eltern, oft in Versteigerungen, verkauft wurden. Die Waisenkassen entwickelten sich so zum wichtigsten Finanzierungsinstrument und Kreditgeber auf dem Land. Denn die Waisenväter wurden dazu angehalten, das Geld zumWohl der Waisenkinder gegen den gesetzlichen Zins (in der Regel 6 Prozent) zu verleihen. Waren die Waisen volljährig, erhielten sie das Geld und den Ertrag abzüglich der angefallenen Kosten zurück. Allerdings erfolgten Finanzgeschäfte nicht immer zum Wohl der Waisen, zumal die Kassen unter der Oberaufsicht der Grundherrn bzw. des Komitats waren und auch hier Eigeninteressen v orhanden w aren. Dabei v erfügten die Waisenkassen auch angesichts zahlreicher Waisen über erhebliche Mittel. So betrug der Kassenstand allein im relati v kleinen Kolut [ung. KüllŒd] im Oktober 1815 23.925 Gulden.67

6. Die Grundentlastung als Katalysator der Pr ozesse? Die Südbatschka w ar nach der Re volution von 1848/49 politisch zunächst losgekoppelt von Ungarn. Denn nach der Kapitulation der ungarischenArmee am 13.August 1849 ordnete Kaiser Franz Joseph die Errichtung eines eigenen Territoriums für die Serben an. Die „W ojwodschaft Serbien und Temescher Banat“ reichte im Westen bis fast nach Osijek, im Osten bis östlich v on Karansebesch [rum. Caransebe≥, ung. Karánsebes, serb . Karanšebeš]. 68 Im Norden umf asste das Territorium Baja, im Süden reichte es bis an die Donau bei Belgrad. Der Raum bestand somit aus der Batschka, dem Banat, Syrmien und dem Südosten des K omitats Baranya und war in ethnischer Hinsicht vielgestaltig. Die Serben hatten in diesem Verwaltungsgebiet nicht einmal die relati ve Mehrheit. Doch die „Wojwodschaft“ war ein kurzlebiges politisches Gebilde und wurde am 27. Dezember 1860 nach den österreichischen Niederlagen in Italien wieder an Ungarn angeschlossen. 66 L OTZ (wie Anm. 61), S. 180. 67 Waisen-Rechnung der Königlichen Kameral Ortschaft Kolluth auf das Jahr 1815 von dem Waisen Vater Thadäum Keszler gelegt. AVN, BBŽ, Schachtel 513. Nach der Instruktion des Justizministeriums vom 14. Juli 1851 wurden die Waisenkassen in der „Wojwodschaft Serbien und Temescher Banat“ in die k. k. Steuerämter überführt. Über die näheren Bestimmungen siehe: IAS, 34 Kraljevski Sreski Sud [Königliches Bezirksgericht] 1850–1918, Schachtel 2. 68 Zur Wojwodina: WERNI, Sebastian: Die Wojwodina 1848–1860 als nationales und staatsrechtliches Problem. Zur Geschichte der Serben und der Deutschen im ehemaligen Südungarn. (Bausteine zur ethnopolitischen Forschung, Bd. 5).

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Durch die Patente vom 2. März 1853 wurden die Grundzüge der Grundentlastung in den Königreichen Ungarn, Kroatien und Sla wonien so wie in der „Ser bischen Wojwodschaft“ geregelt. Die Anlegung eines Grundb uchs wurde v erfügt sowie die Zusammenle gung und Trennung von Herren- und Bauernland angeordnet, dies mit dem Ziel, klare Besitzstrukturen zu erhalten und eine Flurre gulierung zu bewirken. Entscheidend w ar, dass das Grundentlastungspatent das grundherr liche Obereigentum und die sich daraus er gebenden Leistungsverpflichtungen der Bauern ebenso aufhob wie die grundherrliche Gerichtsbark eit und Polizeige walt. Die Einführung eines Stabilen Katasters schuf die Möglichkeit des schnellen Besitzerwechsels von Grundstücken, was zu einer Dynamik auf dem Grundstücksmarkt führte. Nach der Grundentlastung konnten die ehemaligen Urbarialbauern über ihren Grund und Boden v erfügen, dieser konnte verkauft, verteilt und bis zur Größe einer Achtel Session zerstückelt werden.69 Zigeuner 13.467 Sonstige Bulgaren 26.503 22.433

Slowaken 28.048

Ungarn 258.419

Rumänen 404.909

Bunjewatzen 38.341 Schokatzen 5.310

Serben 295.922

Deutsche 354.431

Abb. 12: Die ethnische Verteilung in der Wojwodina nach den Erheb ungen v on 1850. Quelle: HEGEDIŠ, Antal/âOBANOVIå, Katarina: Demografska i agrarna statistika Vojvodine 1767–1867 [Demographische und agrarische Statistik der Wojwodina]. Novi Sad 1991, S. 113.

69 Temeswarer Zeitung vom 24.06.1853. Wie stark sich der Grundstücksmarkt dynamisierte, zeigt sich in den zahlreichen An- und Verkäufen von Grundstücken in einzelnen Orten. Dies f and seinen Niederschlag in zahlreichen Gerichtsakten, so inAkten des Königlichen Bezirksgerichts, IAS, 34, Kraljevski Sreski Sud über die Stadt Sombor und anderen Orten. Dabei handelt es sich um unverzeichnete Akten in teilweise nicht nummerierten Ordnern.

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Doch es war wohl eine Illusion, dass die Ablösung feudaler Lasten unmittelbar danach einen technologischen und wirtschaftlichen Inno vationsschub auslösen wür de.70 Der erw artete Transformationsprozess entsprach nicht den Hof fnungen liberaler Reformer. Freiheit und privates Eigentum waren ungenügende Kräfte zur Einführung fortschrittlicherer Methoden. Die Zeitungen der fünfziger und sechziger Jahre beklagten, dass die Bauern ihre Arbeit so fortsetzten, wie sie es in den Zeiten der Robot und der Neuntelabgaben getan hatten. Der bayrische Ök onom Heinrich Ditz, der Mitte der sechziger Jahre Ungarn bereiste, suchte nach einer Erklärung. Er meinte, weil die Bevölkerung lange nur auf das Kommando der Grundherren gehört habe, wüsste sie mit den neuen Verhältnissen wenig anzuf angen. Dabei betonten einige zeitgenössische Autoren, dass insbesondere deutsche Bauern intensiver wirtschafteten. Als Grund wird, neben wenig erhellenden und brauchbaren Äußerungen wie „die deutschen Siedler haben den Fleiß im Blut“ angegeben, dass sie aus Räumen mit einer fortschrittlicheren Landwirtschaft gekommen seien.71 Dabei boomte die Agrarkonjunktur um die Mitte des 19. Jahrhunderts und ähnelte dem Aufschwung am Ende des 18. Jahrhunderts und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Der Erwerb des im Wert gestie genen Bodens v erleitete zu Überschuldungen, da die Käufer v on sich steigernden Ge winnen ausgingen. Diese Feststellung ist auch für Ungarn gültig: „W ie in den westlichen Culturländern, hat auch hierzulande die Verschuldung des Grundbesitzes in den letzten Decennien progressiv zugenommen“. 72 In der Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgte eine deutliche Zunahme der produktiven Fläche. Land war nach wie vor begehrt, auch und vielleicht gerade wegen steigender Preise. Damit rückten die Räume im Süden Ungarns jenseits von Drau und Donau in das Blickfeld der w achsenden bäuerlichen Bevölkerung. Hier lagen die Preise für Land dauerhaft niedriger als in den schon dichter besiedelten K omitaten Transdanubiens. Doch der zunehmende Landkauf führte auch hier zu dramatisch steigenden Preisen für Pachten und Land. Die gemachten Ausführungen zeigen: Wem immer es gelang, an der Agrarkonjunktur stärker zu partizipieren, v erfügte über die Mittel zu v ermehrter Kapitalakkumulation. Of fensichtlich gelang es vielen deutschen Bauern, mehr Kapital zu akkumulieren. Damit hatten sie ein Instrumentarium in der Hand, weitere Landkäufe zu tätigen und w aren besser ge wappnet ge genüber den Auswirkungen der spätestens in den siebziger Jahren einsetzenden Agrarkrise. Diese führte zu einem Modernisierungs- und Intensivierungsdruck. Wettbewerbsvorteile ergaben sich für innovationsbereite, aber auch über In vestitionskapital verfügende Bauern. Ein bedeutender Schritt zu einer intensi ven Agrarwirtschaft w ar die Einführung der 70 W ERNI (wie Anm. 69), S. 64–66; VOROS, Antal: The Age of Preparation: Hungarian Agrarian Conditions between 1848–1914. Translation by Joseph Held. In: H ELD, Joseph (Hg.): The modernization of agriculture: Rural transformation in Hungary , 1848–1975. (East European Monographs). New York 1980, S. 21–56. Allgemein: SZABAD, György: Hungarian political trends between the re volution and the compromise 1848–1867. (Studia Historica Academiae Scientiarum Hungaricae, 128). Budapest 1977. 71 V OROS (wie Anm. 70), S. 50. 72 B ALÁS SIPÉK VON, Árpád/HENSCH, Árpád: Ackerbau. In: Ungarns Landwirtschaft 1896. Hg. vom königlich-ungarischen Minister für Ackerbau. Budapest 1897, S. 117–164, hier S. 131.

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Fruchtwechselwirtschaft. Gegenüber der herkömmlichen Dreifelderwirtschaft, bei der jedes Jahr ein Drittel des Ackerlandes aus der Produktion heraus genommen wurde, konnte hier durch die Hereinnahme des Brachfeldes in die Produktion mit entsprechenden Pflanzen eine Ertragsoptimierung erfolgen. Interessant ist, dass die „Temeswarer Zeitung“ am 31. Mai 1853 berichtete, dass die deutschen Bauern schon die Hälfte der Brache mit Mais bebauten, also Wechselwirtschaft betrieben. Diese Fruchtwechsel wirtschaft erforderte allerdings eine Düngung. Solange das Brachland als Viehweide benutzt wurde, brachte das zu wenig Dünger. Ein weiterer Innovationsfaktor war die Einführung verbesserter Geräte sowie ein am Markt orientierter Anbau. Doch hier hatte Ungarn noch Nachholbedarf: Noch 1874 w ar ein Großteil der Pflüge in Ungarn aus Holz.73 Die in den Jahren 1859/60 in der „W ojwodschaft Serbien und Temescher Banat“ erstellten „Ethnographisch-T opographischen Ortsbeschreib ungen“ er geben Einblicke in möglicherweise bestehende Disparitäten zwischen den Ethnien. Die These, dass in deutschen Ortschaften zu einem früheren Zeitpunkt eine intensivere Bewirtschaft erfolgte, scheint sich hier zu belegen. Im bulgarischen Dorf Theresiopel [rum. Vinga] im Banat heißt es zur Düngung: „da der Hotter mehr eine langformige Ausdehnung hat, auch auf 1 2/4 Stunde Wegs ausdehnt, k eine Düngung der Felder möglich“. Der Berichterstatter des e vangelischen deutschen Dorfes Bulk es [serb. Buljkes, heute Baãki Magliç, Gemeinde Baãki Petrovac, ung. Bulkeszi] in der Batschka berichtete: „Die Bewohner führen die Dreifachwirtschaft und düngen die Felder, nur ist zu beklagen, daß dem Dünger nicht die gehörige Sor gfalt gewidmet wird“. Über das deutsche Dorf Gottlob [ung. Kis Œsz] im Banat wird geschrieben: „Die Gottlober Landwirte dürften die ersten im Banate sein. Der Dünger wird bei denselben wie Gold in Ehren gehalten, und auf die Äck er verführt. In dieser Gemeinde ist die Wechselwirtschaft eingeführet… Die Brachfelder werden mitunter auch mit Kartofeln, Bohnen, Melonen und ähnlichen Cerealien bebaut, welche durchschnittlich eine gute Ernte abwerfen“. Bei verschiedenen Gemeinden wird der Prozess des P achtens und Einkaufens von Deutschen angesprochen. Über Gier [rum. Giera, ung. Gyér] im Banat steht in der Ethnographischen Ortsbeschreibung: „[…] die ersten Einwohner waren Serben, später im Jahre 1842 sind bei 40 F amilien Deutsche eingewandert; nur sich angekauft; wo die Einw anderung bis jetzt noch immer dauert, und ge genwärtig mehr Deutsche als Serben sind.“ Über die Gemarkung v on Theresiopel steht, dass ein „Theil […] v on den angränzenden deutschen Ortschaften Se genthau [rum. Sagu, ung. Németság], Orzidorf [Orzydorf, rum. Ortÿi≥oara, ung. Orczifalva] und Zaderlak [Saderlach, rum. Za *da*reni, ung. Zádorlak] ge gen billige Erpachtung bearbeitet [werde], weil diese ge wöhnlich besseres Vieh haben als die hiesigen Inw ohner […].“74 Welche Auswirkungen die konzentrierte Ansiedlung von Deutschen innerhalb eines serbisch besiedelten Raumes auf die Bodenpreise hatte, v eranschaulicht ein73 Ebd., S. 152. 74 Országos Széchényi Könyvtár, Budapest [Széchényi Landes Bibliothek, fortan OSzK], Handschriftensammlung, Fol. Hung. 1114, Pesty Frigyes Helységnévtára, Temes vármegye.

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drucksvoll das Beispiel des Ortes India [serb. Inđija, ung. Ingyija] in Syrmien, südlich des Untersuchungsraumes. Hier wurden 1848 für eine Viertelsession (ca. 10 Joch) etwa 200–400 Gulden gezahlt. 1864 w aren es ca. 600–700 Gulden, 1874 1.400 Gulden und 1888 für ein k ommassiertes Viertel (ohne Wiesen- und Hutweidenanteil, ca. 8¾ Joch) 1.700–2.000 Gulden, 1895 4.000 Gulden und 1908 9.000– 12.000 Gulden. Nun war India eine reiche Gemeinde mit bester Bodenqualität und eine Verallgemeinerung nur bedingt möglich, aber es ist evident, dass der Landkauf deutscher Bauern die Bodenpreise steigen ließ und weniger wirtschaftskräftige, aber an Land interessierte deutsche Bauern dazu zwang, in weniger teure Regionen zu gehen, was weitere binnenkolonisatorische Prozesse forcierte.75 Welche dynamischen Auswirkungen die Grundentlastung auf den Grundstücksmarkt hatte, zeigt sich auch daran, dass ehemalige Sessionen nicht nur zum Zweck des Teilverkaufs zerstückelt wurden, sondern auch bei Erbfällen ein Teil von den Erben behalten, ein anderer Teil verkauft wurde. Nicht selten traten dabei deutsche Bauern als Käufer „serbischer“ Grundstücke auf.76

7. Regionale Entwicklungsprozesse und Faktoren Der bislang erfolgte mikrogeschichtliche Zugang bietet angesichts des Forschungsstandes und des Fehlens zuverlässiger statistischer Angaben die Möglichkeit, die zu Grunde liegenden Prozesse an Beispielen zu veranschaulichen. Doch inwiefern lassen sich diese in die größeren regionalen Zusammenhänge einbinden? Die ethnische Struktur des Untersuchungsraumes ist das Resultat v on Migrations- und Binnenmigrationsprozessen, die wiederum inAbhängigkeit zu sozioökonomischen, ethnokonfessionellen, demographischen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen wirkten. Dabei lassen sich die Wirkungsmuster der einzelnen F aktoren nur schwer isolieren. Schon bei dem Erklärungsv ersuch, inwiefern ethnodemographische Veränderungen innerhalb dieser k omplexen Situation eine F olge v on dif ferierenden demographischen Mustern w aren, stößt man auf beträchtliche methodische Probleme. Es fehlen hier zuv erlässige statistische Angaben, mikro- und makrodemographische Studien. Die Angaben von Fényes vorwiegend aus dem Jahr 1840 und basierend auf den kirchlichen Schematismen sind hinsichtlich der ethnischen Zugehörigkeit auch nach seiner eigenen Beurteilung wenig zuverlässig.77 In der Zählung des Jahres 1850/51 wird innerhalb der „Serbischen Wojwodschaft und des Temescher Banats“ nicht nach Bezirken unterschieden, was Vergleiche zu späteren Zählungen erschwert.78 75 O BERKERSCH (wie Anm. 7), S. 166. 76 IAS, F ond 8, Nr . 541: „Anmeldungs-Tabelle über die aus Landsmitteln zu entschädigenden Urbarial-Bauer und Urbarial-Häusler-Ansässigkeiten der Bezugsberechtigten. Besitzung (Dominium) Kula, in der Markt Gemeinde Kula, 1855“. 77 F ÉNYES, Alexius [Elek] von: Statistik des Königreichs Ungarns, Teil 1–3, Band 1–3. Pest 1843, 1844, 1849, hier Teil 1, S. 34–68. 78 C ZOERNIG, Karl Freiherr von: Ethnographie der Oesterreichischen Monarchie. Mit einer ethnographischen Karte in vier Blättern. Band 1–3. Wien 1855–1857.

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Auch die Praxis der Geburtenbeschränkung, die in ihren Anfängen in manchen Regionen Ungarns, wie zum Beispiel in Südtransdanubien, zw ar schon v or 1800 einsetzte, ist für den Untersuchungsraum und die -zeit schon nachge wiesen, aber scheint noch nicht von größerer Relevanz für die ethnodemographischen Prozesse zu sein.79 Trotz zurückgehender Geburtenzahlen war im 19. Jahrhundert ein allgemeines Einkindsystem, noch dazu bezogen auf eine ethnische Gruppe, nicht zu registrieren. Auch machte die Geb urtenbeschränkung, die in einzelnen Re gionen in das Einkindsystem mündete, nicht v or ethnischen bzw . ethnok onfessionellen Schranken Halt.80 Interessant in diesem Zusammenhang scheinen die Verknüpfungen zwischen Landressourcen und derAnzahl von Kindern zu sein. Solange noch käufliches Land, auch in den Nachbar gemeinden zur Verfügung stand, k onnten die materiellen Grundlagen der Nachkommen durch Landkauf verbessert werden. Erst wenn diese Möglichkeit der Landv ermehrung durch Kauf nicht mehr ge geben w ar, mussten andere Strategien entwick elt werden. Dazu gehörten Ehen zwischen Verwandten innerhalb wohlhabender Familien oder eben die Reduktion der Kinderzahl.81 Die am Beispiel der fünf serbisch-orthodox en und deutsch-katholischen Dör fern dargelegten ethnodemographischen Veränderungen waren indes nicht nur für ehemals serbische Orte mit deutscher Zusiedlung charakteristisch. Vielmehr ist das schrittweise Erwerben von Land sowohl durch Deutsche aus katholischen als auch evangelisch-reformierten Dörfern ein Prozess, der auch für einige andere ländliche Ortschaften in der Batschka festzustellen ist und bis in das beginnende 20. Jahrhundert reichte. Dabei er gibt sich k eineswegs ein einheitliches Bild, das die hier gewonnenen Ergebnisse durchweg übertragbar macht. Wenn diesen ethnodemographischen Prozessen k eine demographisch relevanten Disparitäten zu Grunde lagen, musste es zu Abwanderungen derer gekom79 Miksa Hölbling beschrieb die Verhältnisse im K omitat Baranya 1845 so: „…in den meisten ungarischen Dörfern halten es die jungen Frauen für eine Schande, f alls sie in den ersten vier, sogar zehn Jahren gebären […]. Viele junge Frauen v erhindern die Geb urt im geheimen und auf schuldige Art, um ihre Schönheit aufrecht zu erhalten, andere werden durch dieArmut dazu gezwungen, da nämlich auf einem halben Grundstück oft 3–4 F amilien leben müssen.“ HÖLBLING, Miksa: Baranya vármegyének orvosi helyirata. [Medizinische Ortsschrift des Komitates Baran ya]. Pécs 1845, S. 63–64. Übersetzt nach: S OMORJAI, Árpád Ádám: Geb urtenbeschränkung in Bauernf amilien Ungarns (ca. 1750–1945). Ein moraltheologischer Beitrag zur Geschichte der K ontrazeption in einer v orindustriellen Gesellschaft. Dissertation. Hamb urg 1990, S. 20. In der Batschka wird die Geb urtenbeschränkung v or 1840 im serbischen Dorf Óbecse festgestellt und ab etwa 1870 ist sie sowohl bei schwäbischen als auch serbischen Dörfern beschrieben: SOMORJAI, Árpád Ádám: Geburtenbeschränkung, S. 27, 28 mit weiteren Quellenbelegen. 80 Diesen Schluss le gen jedenfalls spätere Studien nahe: TEMESVÁRY, Rudolf: Volksbräuche und Aberglauben in der Geburtshilfe und der Pflege des Neugeborenen in Ungarn. Ethnographische Studien. Leipzig 1900, S. 13, aber auch K OVÁCS, Alajos: Az egyke és a népszaporodás. [Das Einkindsystem und die Be völkerungszunahme]. In: Magyar Statisztikai Szemle, 1, 1923, S. 65–71; KOVÁCS, Alois: Die Wiedergeburt der ungarischen Volkskraft. In: Ungarische Jahrbücher, 1922, 2. Band, S. 188–202. 81 B ARKMANN, Emma: Torscha. Eine v olksdeutsche Siedlung in der jugosla wischen Batschka. Berlin 1942, S. 41–42.

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men sein, die ihr Land verkauft hatten. Hierfür kommen Binnenwanderungen in die im frühen 19. Jahrhundert aufstrebenden Städte in Betracht. Doch die Entwicklung etwa der Stadt Neusatz [serb . No vi Sad, ung. Újvidék] in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schafft hier keine klare Antwort.82 Ein wichtiges Regulat und Aufnahmereservoir für abwandernde Bauern scheint indes die nahe Sla wonische und Banater Militär grenze gewesen zu sein. Die Lebensform in der Militärgrenze als „freier Bauer und Soldat“ kam den Vorstellungen vieler Serben (und anderer ethnischer Gruppen) eher entgegen als das Leben in den engen Fesseln des ungarischen Urbarialsystems. Mit diesen gerieten die auf ihre verbrieften Privilegien pochenden Serben schon im frühen 18. Jahrhundert in Konflikt. Der aus den Pri vilegien heraus interpretierte Anspruch, nur allein und direkt dem Kaiser unterstellt zu sein, musste zwangsläufig in Kollision mit den sich konsolidierenden, auf Optimierung ausgerichteten Modernisierungsprozessen geraten. Diesem Axiom kam das Leben in der Militärgrenze eher entgegen. Immerhin stieg die Bevölkerung der gesamten slawonisch-kroatischen Militärgrenze von 1815 bis 1859 von 580.540 bis 753.515 Einwohnern.83 Dass eine Zuwanderung in die Grenze aus der Batschka erfolgte, lässt sich anhand einzelner Orte nachweisen.84 In einzelnen Städten in der Militärgrenze zeigt sich allerdings auch keine Zunahme von Signifikanz.85 Schließlich bestand für die bäuerlichen Familien, die ihre Grundstücke verkauft hatten, noch die Möglichkeit des Einkaufs in andere Siedlungen, in denen Deutsche kaum oder weniger häufig Land erwarben. So siedelten sich die aus den überwiegend deutsch gewordenen Dörfern abwandernden serbischen Familien besonders in benachbarten serbischen Dörfern an. Im F alle von Rac-Milititsch waren dies nach der Grundentlastung beispielsweise die Orte Stapar [ung. Sztapár], Deronje [ung. Dernye], Tovariševo [ung. Bácstóváros]. 86 Hier konnte das durch den Verkauf des Landes erhaltene Kapital of fensichtlich gut angele gt werden. Dadurch kam es zu ethnodemographischen Konzentrationsprozessen. 82 É

RDUJHELYI, Melchior: Geschichte der Stadt Neusatz. Aus dem Ungarischen ins Deutsche übersetzt von Heinrich GUNDE und Friedrich STEIGER. Neusatz 1895, S. 187–193. Hieraus geht hervor, dass die römisch-katholische Kirchengemeinde zwischen 1806 und 1891 größeren Zuwachs hatte als die griechisch-orthodoxe. Allerdings könnte dies auch Ausdruck von Assimilationsvorgängen durch Magyarisierung bzw. Konversion zur römisch-katholischen Kirche sein, was allerdings eher selten war. 83 K ASER, Karl: Freier Bauer und Soldat. Die Militarisierung der agrarischen Gesellschaft in der kroatisch-slawonischen Militärgrenze (1535–1881). Graz 1986. S. 374. 84 So etwa bei der Ansiedlung von Mramorak, bei der einige deutschsprachige F amilien aus der Batschka 1821 kamen: B OHLAND, Heinrich: Mramorak. Gemeinde an der Banater Sandwüste. Kehl 1978, S. 78–82. 85 Die Bevölkerungszahl stieg von 1857 bis 1870 bei Pantschowa (serb. Panãevo, ung. Pancsova) von 12.470 auf 13.408 und bei Bela Crkv a von 6.578 auf 7.490. B UR, M.: Die österreichische Militärgrenze im 19. Jahrhundert. Neue Angaben zur Geschichte der Wojwodina. In: Études Balkaniques, 2/3. Sofia 1985, S. 213–232, hier S. 223. Dies allerdings in einer Zeit, in der die Attraktivität der Militärgrenze durch die Grundentlastung außerhalb der Grenze stark nachgelassen hatte. 86 W ÜSCHT, Johann: Über Vergangenheit und Ge genwart der Gemeinde Srpski-Miletitsch. Ein Heimatbuch als Festgabe zur 150–Jahrfeier. Odžaci 1936, S. 51.

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So fügen sich die Prozesse ethnodemographischer Veränderung in dieser Region ein in die Modernisierungsprozesse des 18. und 19. Jahrhunderts. Historische Marksteine w aren dabei die Reformbemühungen v on Maria Theresia, Joseph II. und schließlich die Grundentlastung. 87 Eine katalysatorische Wirkung für diese Transformation hatte die Ansiedlung von Deutschen. Das führte zu einem schnelleren Über gang v on der viehzuchtdominierten Wirtschaft insbesondere der ser bischen Be völkerung zu einer Vergrößerung des Ackerlandes, die in Zeiten der Agrarkonjunktur expansive Züge annahm. Die räumliche und wirtschaftliche Einengung der Weidewirtschaft schwächte wiederum die Basis jener , die darin ihren Hauptverdienst hatten. Damit einher ging der in den Steuerverzeichnissen feststellbare forcierte Über gang v on Abgaben in F orm v on Naturalien zu Geldabgaben. Hinzu kam, dass die deutschen Dörfer über eine große Anzahl von Dorfhandwerkern verfügten. Diese Tatsache förderte den Warenhandel und damit den Kapitalfluss und die Kapitalakkumulation, w as wiederum Voraussetzung für Landerwerb innerhalb der Batschka, aber auch in Kroatien, Sla wonien und Syrmien w ar. Als dann in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts f allende Agrarpreise den k onjunkturellen Aufschwung beendeten, zw ang dies zu Rationalisierungs- und Optimierungsmaßnahmen, die zu einer weiteren Stärkung der wirtschaftsstark en Bauerngüter, aber auch zu einer verstärkten sozialen Differenzierung führte. Unter dem Druck von massenhaft eingeführtem billigem Übersee getreide aufgrund erhöhter Transportkapazitäten und we gen der aufk ommenden Dampfschifffahrt sanken die Getreidepreise in Europa. Frankreich erhob Einfuhrzölle auf Getreide, Deutschland folgte 1879. Diese Entwicklung v erschärfte sich in den achtziger und neunziger Jahren. Entscheidend ist, dass der Preisdruck zu einer Intensivierung der Landwirtschaft zwang. Wer nicht innovativ war, erhöhte das Risiko der Verschuldung.

8. Zusammenfassung Mit einem mikrogeschichtlichen Ansatz und der Frage nach der Übertragbarkeit der gewonnenen Ergebnisse auf den gesamten Untersuchungsraum wurde der Zusammenhang zwischen Agrarreformen bzw . agrarischen Modernisierungsprozessen und ethnodemographischen Veränderungen vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts erörtert. Im Zentrum der Untersuchung standen daher mehrere bäuerliche Dörfer mit einer katholisch-deutschen und einer serbischorthodoxen Bevölkerung. In jedem dieser Orte kam es zu gravierenden ethnodemographischen Veränderungen, die durch eine Abnahme der serbisch-orthodoxen und einer Zunahme der katholischen deutschen Be völkerung gek ennzeichnet w aren. Dabei scheint die Grundentlastung eine katalysatorische Wirkung auf die beschriebenen Prozesse ausgeübt zu haben. Die abwandernden serbischen Familien dürften

87 Vgl. dazu den Beitrag in diesem Tagungsband von SEEWANN, Gerhard: Die Reformen des aufgeklärten Absolutismus und ihre Auswirkungen auf die ethno-k onfessionellen Strukturen der Habsburgermonarchie.

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sich vor allem in serbischen Orten der Umgeb ung angesiedelt haben, aber auch in der Militärgrenze. Die Übernahme bzw. der Kauf von Land und bäuerlichen Stellen durch Deutsche erfolgte in der Südbatschka v or allem westlich einer Linie v on Neusatz über Sekitsch [serb. Sekiç, ung. Szeghegy] nach Stanischitsch. Dieser Raum befand sich im Einzugsbereich kaufkräftiger deutscher Orte. Die zu beobachtende höhere Kaufkraft in deutschen Dörfern ist auch eine Folge des in diese Orte geflossenen öffentlichen Investitionskapitals und des Kapitaltransfers aus den Herkunftsgebieten sowie der optimierten Siedlungs- und Flurorganisation und der stärkeren Ausrichtung der Produktion am Agrarmarkt. Auch der hohe Anteil an Dorfhandwerkern in den deutschen Dörfern dürfte bei der Kapitalakkumulation eine Rolle gespielt haben. Weniger kaufkräftige deutsche Siedler, die nicht in der Lage waren, in der Batschka Land zu erwerben, hatten die Möglichkeit, preiswerteres Land in Syrmien und Slawonien zu erhalten. Insofern vermögen die Ergebnisse der Darlegungen auch einen Einblick in die Wirkungsmechanismen der Binnenkolonisation zu geben. Das Phänomen des „Landhungers“ deutscher Siedler geriet in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Sog nationaler Fokussierung, was eine sachliche Auseinandersetzung mit den Ursachenbündeln erschwerte. Es spricht wenig dafür, dass die ethnodemographischen Veränderungen Folgen einer differierenden demographischen Dynamik im Vergleich zu anderen ethnokonfessionellen Gruppen waren. Vielmehr handelt es sich um sozioök onomische Mechanismen, die auch auf anderen Überlebensstrategien der Kolonisten basierten. Das „unsichtbare“ Gepäck der Siedler erfuhr unter den spezifischen Lebensbedingungen vor Ort seine charakteristische wirtschaftszentrierte Mentalität, die auf der k onsequenten Mehrung des (in diesem Fall) auf der Agrarwirtschaft ruhenden Wohlstandes bedacht war. Offensichtlich zeigten sich viele Deutsche damit für die Transformationsprozesse besser gerüstet und profitierten von den Umbrüchen agrarischer Reformen mehr als die alteingesessenen Be wohner, da sie entsprechende, tradierte Erf ahrungshorizonte aus den Herkunftsgebieten hatten. 88 Diese Anpassungsbereitschaft und -fähigk eit beschleunigte ihren Eingliederungsprozess. Hiervon unterschieden sich die Überlebensstrategien der v orher schon in diesem Raum lebenden Be wohner, die an eine extensivere Agrarwirtschaft bis hin zur Subsistenzwirtschaft adaptiert waren. Diese Bewirtschaftungsformen hatten in den Zeiten langjähriger Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich und in einem unbefriedeten Raum durchaus Sinn. Doch in einer Zeit der Intensi vierung und Marktorientierung der Landwirtschaft und schließlich zunehmender Bodenknappheit, wurden sie zu einem Wettbewerbsnachteil. Die Grundentlastung beschleunigte diesen Prozess, weil sie v om Einzelnen mehr Organisationsdisziplin forderte und den Grundstücksmarkt in einem zuvor nicht gekannten Ausmaß bis hin zur Aufteilung von (ehemaligen) Sessionen dynamisierte. 88 Anders wie bei den deutschen Kolonisten in Russland, ist hier nicht die rechtliche und hinsichtlich der Agrarverfassung privilegierte Sonderstellung der Deutschen für ihre Wirtschaftskraft ursächlich. Vgl. dazu den Beitrag in diesem Band v on Dietmar Neutatz: Agrarverfassung und demographische Entwicklung in den deutschen Siedlungen im Schwarzmeergebiet nach 1861.

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Die Kapitalisierung, Intensivierung und Marktorientierung der Landwirtschaft musste schließlich gerade in Einbrüchen derAgrarkonjunktur zu einem noch schärferen Rationalisierungs- und Optimierungsdruck führen, w as auch innerhalb der deutschen Minderheit zu einer stärk eren sozialen Ausdifferenzierung führte. Erst das ausgehende 19. Jahrhundert brachte dann eine verstärkte Industrialisierung und Verstädterung sowie das Anwachsen neuer Ströme v on Binnenw anderungen und schließlich sogar Auswanderungen.

II. Agrarreformen und Bildung der Nation und des Nationalstaats

Agrarverfassung und demographische Entwicklung in den deutschen Siedlungen im Schwarzmeer gebiet nach 1861 Dietmar Neutatz

1. Raum und Gegenstand Das nördliche Schw arzmeergebiet mit seinen K olonistendörfern, die v om ausgehenden 18. und be ginnenden 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg entstanden, bietet sich für einen Vergleich mit den K olonisationsgebieten Südosteuropas an, denn auch hier lassen sich Zusammenhänge zwischen Agrarverfassung, Agrarreformen und der ethnischen Struktur und Entwicklung der K ulturlandschaft aufzeigen. Die ausländische K olonisation nördlich des Schw arzen und des Asowschen Meeres erfolgte in einem ähnlichen Kontext wie die Kolonisation in Ungarn, lediglich etwas zeitversetzt. Die Zielsetzung der Re gierung war die gleiche, die Einw anderer kamen überwiegend aus denselben Re gionen Deutschlands, sie hatten ähnliche anfängliche Adaptierungsprobleme, ihre ökonomische und soziokulturelle Entwicklung weist ge wisse P arallelen auf. Schließlich wurden sie in ähnlicher Weise zu einem Thema nationalistischer Diskussionen.1 Das Schwarzmeergebiet war neben den etwas älteren Kolonien an der Wolga das zweite große Siedlungsgebiet v on Deutschen im Zarenreich. Es entstand im ausgehenden 18. und be ginnenden 19. Jahrhundert im Zuge einer staatlichen Einw anderungs- und Ansiedlungspolitik auf dem Territorium der heutigen Südukraine, auf der Krim und in Bessarabien. Diese Landstriche hatten bis zur Eroberung durch die Russen unter türkischer Herrschaft gestanden und waren nur dünn besiedelt. Die anfängliche Besiedlung mit russischen Bauern so wie Kolonisationsversuche mit serbischen Wehrbauern verliefen unbefriedigend, so dass Katharina II. ab 1784 einen neuerlichen Anlauf zur Anwerbung ausländischer Kolonisten unternahm.2 Die Ansiedler erhielten je F amilie umgerechnet rund 60 bis 65 Desjatinen Land zugeteilt, sowie Privilegien wie Glaubensfreiheit, zehnjährige Abgabenfreiheit, Frei-

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Grundlegend für die Ansiedlungszeit siehe B RANDES, Detlef: Von den Zaren adoptiert. Die deutschen Kolonisten und die Balkansiedler in Neurußland und Bessarabien 1751–1914. München 1993. Zur Adaption in der Anfangszeit: MYESHKOV, Dmytro: Die Schwarzmeerdeutschen und ihre Welten 1781–1871. Essen 2008. Zu den nationalistischen Diskussionen um die Kolonisten: NEUTATZ, Dietmar: Die „deutsche Frage“ im Schwarzmeergebiet und in Wolhynien. Politik, Wirtschaft, Mentalitäten und Alltag im Spannungsfeld v on Nationalismus und Modernisierung (1856–1914). Stuttgart 1993. 2 B RANDES: Von den Zaren adoptiert (wie Anm. 1), S. 11–31. Ausführlich: KABUZAN, V. M.: Zaselenie Novorossii v XVIII – perv om polovine XIX v. [Die Besiedlung Neurusslands im 18. – Anfang des 19. Jahrhunderts]. Moskva 1976.

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heit vom Militärdienst und andere Vergünstigungen.3 Im Jahre 1819 wurde die Ansiedlung seitens der Re gierung grundsätzlich eingestellt, doch kamen auch danach noch Einwanderer ins Land, die allerdings nicht mehr mit einer Zutei lung von Land durch die Regierung rechnen konnten.4

2. Agrarverfassung Die ausländischen Kolonisten zählten rechtlich zu den Staatsbauern, denn der Staat behielt das Eigentum am Land und überließ es den Gemeinden nur zur Nutzung. Von den russischen Staatsbauern unterschieden sich die Kolonisten in der weitergehenden Selbstv erwaltung der Gemein den, im Steuersystem und in der Agrarverfassung.5 Die Agrarverfassung erscheint rückblickend als der wirkungsmächtigste Faktor und soll daher näher erörtert werden: In den russischen Dörfern gehörte das gesamte Land der Gemeinde und wurde in periodischen Abständen nach der Seelenzahl oder der wirtschaftlichen Leistungsfähigk eit der Höfe neu v erteilt – das vieldiskutierte Mirsystem. In der F olge wurden die Dörfer sehr groß, die Landanteile durch den Be völkerungszuwachs immer kleiner und die Höfe immer weniger lebensfähig.6 Die Schw arzmeerdeutschen entwick elten auf der Grundlage der K olonialgesetzgebung das so genannte gemeindlich-hofweise Besitzsystem. 7 Auch hier stand das Land im Besitz der Gemeinde, allerdings mit dem wesentlichen Unterschied, dass jeder Hof das erbliche Nutzungsrecht auf ein festes Landquantum hatte. 8 Das Gesetz v om 19.3.1764 (Ausführungsbestimmungen zum Manifest Katharinas II. vom 22.7.1763 über die Ansiedlung von Einwanderern) hatte die Teilung von Höfen v erboten und das Minoratserbrecht v orgeschrieben.9 Das K olonialstatut ließ aber den Kolonisten die Freiheit, nach ihrem Gewohnheitsrecht zu verfahren. In der Regel ging der Hof ungeteilt an den ältesten Sohn.10 Eine Teilung der Höfe in Halb3

BRANDES, Detlef: Deutsche auf dem Dorf und in der Stadt v on der Ansiedlung bis zur Aufhebung des Kolonialstatuts. In: EISFELD, Alfred: Die Rußlanddeutschen. Mit Beiträgen von Detlef Brandes und Wilhelm Kahle. 2. Aufl. München 1999, S. 26–27. Eine Desjatine entspricht in etwa einem Hektar. 4 FLEISCHHAUER, Ingeborg: Die Deutschen im Zarenreich. Zwei Jahrhunderte deutsch-russische Kulturgemeinschaft. Stuttgart 1986, S. 174. 5 BRANDES: Deutsche auf dem Dorf (wie Anm. 3), S. 29. 6 STUMPP, Karl: Die deutschen K olonien im Schw arzmeergebiet – dem früheren Neu- (Süd-) Rußland. Ein siedlungs- und wirtschaftsgeographischer Versuch. Stuttgart 1922, S. 20–22. Ausführlich dazu: KEUSSLER, Johannes: Zur Geschichte und Kritik des bäuerlichen Gemeindebesitzes in Rußland. 3 Bde. Riga 1876–1887. 7 Vgl. STUMPP (wie Anm. 6), S. 40–42. Vgl. KEUSSLER, Johannes: Das Grundbesitzrecht in den deutschen Kolonien Südrußlands. In: Russische Revue 23 (1883), S. 388–389. 8 KEUSSLER: Grundbesitzrecht (wie Anm. 7), S. 393, 396. 9 Ebd., S. 386–387. 10 E HRT, Adolf: Das Mennonitentum in Rußland v on seiner Einw anderung bis zur Ge genwart. Berlin, Leipzig 1932, S. 34.

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und Viertelwirtschaften wurde von der Gemeinde erst in späterer Zeit und nur ungern genehmigt. Die äußerste Grenze war die Teilung in drei Höfe, eine Halb- und zwei Viertelwirtschaften. Diese k onnten dann nicht mehr geteilt werden. 11 Dieses System schützte den Besitz v or Zersplitterung, w arf aber das Problem auf, dass die ausgesteuerten Söhne anderwärtig ihren Lebensunterhalt suchen mussten. Die Kolonisten durften laut K olonialstatut kein Stück ihres Landes ohne Zustimmung der Obrigkeit an Außenstehende verkaufen, verpfänden oder abtreten. 12 Bei der Ansiedlung bestimmte die Gemeinde ein Drittel des Landes zur gemeinschaftlichen Viehweide. Das Ackerland wurde in Gewanne eingeteilt, so dass jede Familie in jedem Gewann ein gleich großes Landstück erhielt. Im Zusammenhang mit der Umwidmung v on Weide in Ackerland oder der Verlegung der Viehweide fanden auch in den deutschen Dörfern Umv erteilungen statt, aber im Unterschied zu den russischen Dörfern durfte dabei die Größe der Höfe nicht verändert werden. Der Kolonist hatte also nicht das Besitzrecht an einem bestimmten Grundstück, sondern nur das unverkürzbare erbliche und nur innerhalb der Gemeinde veräußerliche Recht der Nutznießung einer bestimmten Ausdehnung Landes v on gewisser Beschaffenheit.13 Diese Rahmenbedingungen, die im Wesentlichen von den Behörden vorgegeben worden waren, erwiesen sich sowohl in ökonomischer als auch in ethnisch-kultureller Hinsicht als folgenreich. In ök onomischer, weil sie den K olonisten einen Wettbewerbsvorteil ge genüber den russischen und ukrainischen Bauern v erschafften,14 in ethnisch-kultureller, weil sie – neben anderen F aktoren – dazu beitrugen, dass die Kolonistendörfer weitgehend geschlossene Gemeinschaften blieben und sich ihre Einwohner nicht mit der umwohnenden Bevölkerung vermischten.15

3. Ökonomische Entwicklung Die ersten Jahrzehnte machten – ähnlich wie auch in den donauschwäbischen K olonisationsgebieten – eine Adaption der ersten Siedler generationen an die neuen klimatischen und natürlichen Verhältnisse und ein Umlernen erforderlich. Danach ist bei den Schw arzmeerkolonisten ein deutlicher wirtschaftlicher Aufschwung zu beobachten. Seit den dreißiger Jahren gingen die K olonisten des Schwarzmeergebietes allmählich zum Getreidebau über . Schneller als alle anderen Bauern er 11 K EUSSLER: Grundbesitzrecht (wie Anm. 7), S. 396–397. 12 Ustav o k olonijach inostrancev v Imperii [Statut über die Ausländerkolonien im Reich]. In: Svod Zakonov Rossijskoj Imperii, izdanie 1857 g. Tom XII, ãast’ II [Gesetzb uch des Russischen Reiches, Ausgabe 1857, Bd. XII, Teil II], Artikel 160. 13 K EUSSLER: Grundbesitzrecht (wie Anm. 7), S. 394–396. Vgl. KLUDT, Samuel: Berichte und Gesuche, welche an die Staatsre gierung in Angelegenheiten der deutschen Landgemeinden in Südrußland gerichtet w orden. In: M EYER, Rudolph: Heimstätten- und andere Wirthschaftsgesetze der Vereinigten Staaten v on Amerika, von Canada, Rußland, China, Indien, Rumänien, Serbien und England. Berlin 1883, S. 112–113. 14 N EUTATZ: Deutsche Frage (wie Anm. 1), S. 248–253. 15 Zur Frage der Abgeschlossenheit ebd., S. 360–367.

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kannten sie die Chancen, die sich aus der durch die Industrialisie rung gestiegenen Nachfrage nach Weizen in Europa und den verbesserten Verkehrsverbindungen ergaben. Sie betrieben nicht unbedingt eine intensi vere Landwirtschaft als die russischen und ukrainischen Bauern, sondern k onnten auf größeren Flächen die v orhandenen Ressourcen wirtschaftlicher einsetzen.16 Seit dieser Zeit ist eine ausgeprägte Überle genheit der deutschen Kolonisten gegenüber ihrer Umwelt zu beobachten. Immer wieder berichteten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Zeitgenossen von dem Gegensatz zwischen den ärmlichen russischen und ukrainischen Dörfern und den von Wohlstand, Ordnung und Sauberkeit zeugenden deutschen Siedlungen. 17 Die Kulturlandschaft rund um die deutschen Dörfer w ar signifikant anders. Die K olonisten hatten eine weitgehend baumlose und stellenweise trockene Steppe vorgefunden, die sie – angeleitet von der speziell zu ihrer Verwaltung eingerichteten Sonderbehörde, dem „Fürsorgekomitee für die ausländischen Ansiedler“ – nach rationalen Gesichtspunkten umgestalteten: Sie bewässerten Ackerflächen, legten Obstgärten an und pflanzten mancherorts regelrechte Wälder, um dem Mangel an Nutz- und Brennholz abzuhelfen und Schattenplätze zu gewinnen.18 Die von der Regierung erhoffte Beeinflussung russischer und ukrainischer Bauern durch die deutschen Kolonisten hielt sich allerdings in engen Grenzen und erfüllte bei weitem nicht die hochgesteckten Erw artungen. Dies lag daran, dass die russischen Bauern bis 1861 durch die Leibeigenschaft gehemmt waren und durch ihre ungünstige Agrarverfassung auch dort unter Landmangel litten, wo sie ursprünglich als Neusiedler mit ähnlich großen Landanteilen wie die K olonisten ausgestattet w orden waren. Der Zusammenhang zwischen Agrarverfassung und ökonomischer Prosperität wurde schon seit den 1860er Jahren in Russland diskutiert. 19 Er zeigt sich nicht nur im Vergleich zwischen den deutschen Kolonisten und den russischen bzw. ukrainischen Bauern, sondern auch imVergleich zwischen den Schwarzmeer- und den Wolgadeutschen. Die Kolonien an der Wolga gingen nämlich frühzeitig zum russischen Umteilungssystem über – mit dem Ergebnis, dass ihre ökonomische Entwicklung im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert weit weniger günstig v erlief als diejenige der K olonien im Schwarzmeergebiet.

16 Vgl. BRANDES: Deutsche auf dem Dorf (wie Anm. 3), S. 30–31. 17 Vgl. zum Beispiel AFANAS’EV-âUŽBINSKIJ, A. S.: Poezdka v Južnuju Rossiju. âast’ 1: O ãerki Dnepra [Reise nach Südrußland. Teil 1: Dnepr-Skizzen]. S.-Peterburg 1861, S. 130–131. 18 Vgl. BRANDES: Von den Zaren adoptiert (wie Anm. 1), S. 169–184. 19 Vgl. KLAUS, Alexandr Avgustoviã: Obš ãina-sobstvennik i ee juridi ãeskaja or ganizacija [Die Gemeinde als Eigentümer und ihre juristische Organisation]. In: Vestnik Evropy 5 (1870), H. 2, S. 577, 599, 603. Vgl. auch K LAUS, Alexandr Avgustoviã: Naši k olonii. Opyty i materialy po istorii i statistike inostrannoj kolonizacii v Rossii [Unsere Kolonien. Versuche und Materialien zur Geschichte und Statistik der ausländischen K olonisation in Rußland]. S.-Peterb urg 1869. Deutsche Ausgabe: Unsere Kolonien. Geschichte und Statistik der deutschen K olonisation in Rußland. Odessa 1887.

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4. Demographische Entwicklung und Ausdehnung des Grundbesitzes Nach der durch Anpassungsschwierigkeiten gekennzeichneten Anfangsperiode, die sich auch demographisch in Epidemien niederschlug, v erzeichneten die neu gegründeten deutschen K olonien im Schw arzmeergebiet ein rasches Be völkerungswachstum. Eine statistische Übersicht für das Jahr 1858 verzeichnet für die Gouvernements Taurien, Ekaterinoslav, Cherson und den Kreis Akkermann des bessarabischen Gouvernements bereits insgesamt 133.430 deutsche Einwohner. Gegenüber der Einwanderungsgeneration hatte sich die Bevölkerung mehr als verdoppelt.20 Bedingt durch die Agrarverfassung lag der Anteil der landlosen Familien 1858 bereits bei vierzig Prozent, in einigen Kreisen sogar deutlich darüber . Die Landlosen arbeiteten zum Großteil als Knechte und Tagelöhner in der Heimatgemeinde. Die Behörden lehnten neuerliche Landzuteilungen ab und verboten die weitere Teilung von Höfen. Man erhoffte von den landlosen Kolonisten einen Aufschwung des Handwerks. In den Dörfern wuchsen allerdings die sozialen Spannungen, da die immer stärker werdende Gruppe der Landlosen von der Mitbestimmung in der Gemeinde ausgeschlossen war. Stimmberechtigt in der Gemeindeversammlung waren nur die Landbesitzer.21 Anfang der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts wurde der Protest der Landlosen eine Massenbewegung. Die Landlosen fanden in ihren Gemeinden bei den die Macht ausübenden Landbesitzern kein Verständnis für ihre Anliegen und wandten sich mit Bittschriften an die Re gierung. Sie forderten mancherorts die Übernahme des russischen Systems der Landumteilungen. Da durch den Konflikt das weitere Gedeihen der Kolonien gefährdet schien, grif f die Re gierung in den Streit ein und v erordnete eine Kompromisslösung. Grundsätzlich w ollte man das Besitz- und Erbsystem der Kolonisten nicht aufgeben. Die Gemeinden wurden aber 1866 v erpflichtet, das noch vorhandene Reserveland an die Landlosen zu v erteilen und die Landlosen mit Hofstelle, die so genannten Anwohner, zur Gemeindeversammlung zuzulassen.22 Die Gemeinden erkannten aber , dass diese Lösung das Problem nur aufschieben würde und dachten sich etwas Nachhaltigeres aus: Die Reserveländereien wurden in den meisten Orten nicht an die Landlosen verteilt, sondern man verpachtete sie und bildete aus den Einnahmen einen Fonds zur Versorgung der Landlosen. Die Regierung ließ sich darauf ein und verpflichtete 1867 die Kolonistengemeinden, aus den Pachteinkünften in Zukunft für die Landlosen auswärts Land zu kaufen.23 20 Statisti ãeskij obzor Gosudarstvennych imušãestv za 1858 god [Statistischer Überblick über die Staatsdomänen für 1858]. S.-Peterburg 1861, S. 660–663. Für eine detaillierte Übersicht über die demographische Entwicklung und die statistischen Angaben zu Be völkerungswachstum und Grundbesitz siehe NEUTATZ: Deutsche Frage (wie Anm. 1), S. 243–281. 21 N EUTATZ: Deutsche Frage (wie Anm. 1), S. 245–248. 22 K LAUS: Unsere Kolonien (wie Anm. 19), S. 268–283. ISAAC, Franz: Die Molotschnaer Mennoniten. Ein Beitrag zur Geschichte derselben. Aus Akten älterer und neuerer Zeit, wie auch auf Grund eigener Erlebnisse und Erfahrungen dargestellt. Halbstadt 1908, S. 27–79. 23 Bericht des K ollegiensekretärs Mojseenko-Velikij über die Lage der deutschen K olonien im Gouvernement Taurien, 5.11.1890. RGIA [Rossijskij Gosudarstvennyj Istoriôeskij Archiv, Rus-

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1871 erhielten auch die Landlosen ohne Hofstelle, die so genannten Einw ohner, ein eingeschränktes Stimmrecht in den Gemeindeversammlungen. Mit der Anerkennung des Rechtsgrundsatzes, dass die Gemeinden v erpflichtet seien, für ihre Landlosen Land zu erwerben, w ar das Landlosenproblem noch lange nicht beseitigt, aber der Weg zu seiner Überwindung vorgezeichnet.24 Der gemeinschaftliche Landerwerb zur Aussiedlung der Landlosen in neu gegründete Tochterkolonien w ar die Hauptursache der ge waltigen Expansion des deutschen Grundbesitzes seit den sechziger Jahren. Die Einkünfte aus den P achtländereien und aus anderen Quellen, z. B. aus freiwilliger Selbstbesteuerung, v ersetzten die deutschen Gemeinden in die Lage, große Güter aufzukaufen. Das Geld wurde den Landlosen als langfristiger Kredit zur Verfügung gestellt.25 Da die Landpreise im Schwarzmeergebiet bald stark anstiegen, mussten die von den Gemeinden ausgesuchten Landsucher immer weiter nach Osten ausweichen. So entstanden Tochterkolonien im Nordkaukasus, an der Wolga und am Ural. Die Tochterkolonien wurden zum Teil ebenf alls mit P achtländereien zur Versorgung ihrer Landlosen ausgestattet und gründeten ihrerseits wieder Tochterkolonien. Parallel zu den von der Gemeinde organisierten Aussiedlungen wurden zahllose Tochterkolonien in Privatinitiative gegründet, vor allem auf der Krim, im Dongebiet und später auch in Sibirien. 26 Durch die Aussiedlungen und Abwanderungen stieg die Einwohnerzahl der ursprünglichen Ansiedlungsbezirke im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nur mehr gering. In der näheren Umgebung war kein Landerwerb möglich, weil rundum bereits andere Bauern siedelten.27 Der individuelle Landerwerb war für die deutschen K olonisten leichter zu realisieren als für russische Bauern, da der Kolonist im Gegensatz zum russischen Bauern das Recht hatte, sein Anteilsland im Dorf zu v erkaufen und mit dem Erlös in einer anderen Gegend, wo das Land billiger war, eine größere Fläche zu erwerben. Darüber hinaus standen den K olonisten die beträchtlichen Kapitalien der Waisenkassen für Kredite zur Verfügung. Die Waisenkassen verwalteten das Vermögen minderjähriger Waisen. In russischen Dörfern k onnten sie nie so viel Geld anle gen, weil die russischen Bauern meist aus ihrer Gemeinde und dem Bauernstand austraten, wenn sie wohlhabend wurden. Außerdem war es unter den Deutschen üblich, sich für jemanden, der Land kaufen w ollte, zu verbürgen. Bei den russischen Bauern w ar das nicht üblich.28 Der umfangreiche Landerwerb der deutschen K olonisten im Schw arzmeergebiet und anderen Gegenden Russlands reichte immer noch nicht aus, um alle Landsisches Staatliches Historisches Archiv] f[ond] 1291, op[is’] 70 (1890), d[elo] 354, Bl. 25–26. 24 Vgl. KLAUS: Unsere K olonien (wie Anm. 19), S. 284, 313–328. Vgl. K EUSSLER: Grundbesitzrecht (wie Anm. 7), S. 402–435. 25 Bericht von Mojseenko-Velikij v. 5.11.1890. RGIA f. 1291, op. 70 (1890), d. 354, Bl. 110–117, 25–32. 26 E HRT (wie Anm. 10), S. 77–80. FRIESEN, Peter M.: Die alt-evangelische mennonitische Gemeinschaft in Rußland (1789–1910). Halbstadt 1911, S. 687–688. 27 N EUTATZ: Deutsche Frage (wie Anm. 1), S. 250–251. 28 Bericht v on Mojseenk o-Velikij, 5.11.1890. RGIA f. 1291, op 70 (1890), d. 354, Bl. 76–77. Postnikov, V. E.: Južno-russk oe krest’janskoe chozjajstvo [Die südrussische bäuerliche Wirtschaft]. Moskva 1891, S. 310–311.

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losen zu versorgen. Ein beträchtlicher Teil der deutschen Kolonisten wanderte aus wirtschaftlichen Gründen nach Amerika aus.29 Das Wachstum der deutschen Be völkerung im Schw arzmeergebiet beschleunigte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, obwohl die Einw anderung weitgehend verebbte und im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sogar die Abwanderung in andere Gebiete Russlands so wie die Auswanderung nach Amerika einsetzten. Am Be ginn des Ersten Weltkrieges lebten im Schw arzmeergebiet etw a 500.000 Deutsche. Das stark e Wachstum der deutschen Be völkerung – trotz der ständigen Abwanderung in andere Gebiete – beruhte auf einer ungewöhnlich hohen Geburtenrate. Acht bis zwölf Kinder je F amilie waren eine ge wöhnliche Erscheinung. Manche Familien zogen mehr als 20 Kinder groß.30 Parallel zur Be völkerungszahl wuchs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Grundbesitz der deutschen Kolonisten. Das statistische Material ist unzuverlässig und lückenhaft. Durch den Abgleich verschiedener Quellen lässt sich eine Untergrenze von etwa 2,9 Millionen Desjatinen errechnen. 1858 hatte der Grundbesitz etw a 840.000 Desjatinen betragen. Die ursprüngliche Zuteilung hatte etw a 600.000 Desjatinen umf asst. Trägt man die statistischen Er gebnisse in eine Verlaufskurve ein, so zeigt sich, dass zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und 1890 ein stark er Anstieg des deutschen Landerwerbs erfolgte und sich nach 1890 die Kurve abflachte, weil der Landerwerb sich nun auf andereTerritorien erstreckte. Innerhalb des Schwarzmeergebietes war es nunmehr schwer möglich, zusätzliches Land zu kaufen.31 Die beeindruckenden Zahlen über die Expansion des Grundbesitzes v erdecken allerdings die Tatsache, dass der Besitz trotz der gemeinschaftlichen Kauf- undAussiedlungsaktionen recht ungleich verteilt war. Im Kreis Ekaterinoslav, wo sich überwiegend K olonien aus der ersten Gründungszeit bef anden, v erfügte mehr als die Hälfte der Hofbesitzer über weniger als eine Desjatine. Die meist als die typischen Kolonisten hingestellten Besitzer einer v ollen Hofstelle mit 65 Desjatinen, die so genannten Vollwirte, machten im Kreis Ekaterinoslav nur 17 Prozent der Hofbesitzer aus. Auf Gouv ernementsebene w aren die Zahlen verhältnisse etw as günstiger: 24 Prozent Landlose und 20 ProzentVollwirte im Gouvernement Ekaterinoslav, 16 Prozent Landlose und 26 Prozent Vollwirte im Gouvernement Taurien.32

5. Ökonomischer Wettbewerb, Diskussion um den deutschen Grundbesitz Gegen Ende des Jahrhunderts gerieten die deutschen K olonisten parallel zur Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und Deutschland nach dem Berliner Kongress von 1878 ins Kreuz feuer der Kritik russischer Nationalisten. Es 29 N EUTATZ: Deutsche Frage (wie Anm. 1), S. 252. 30 Ebd., S. 254–256 mit statistischen Nachweisen. 31 Ebd., S. 260–266. 32 Ebd., S. 272–273.

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begann mit der Angst vor einer Überfremdung der militärisch sensiblen Grenzgebiete im Westen durch deutsche Einwanderer, Juden und Polen. Die Polemiken griffen aber bald auf die Schw arzmeerdeutschen über und gewannen dort eine ökonomische Qualität. Russische Nationalisten, und nicht nur sie, hatten schon länger mit Argwohn die Ausdehnung des deutschen Grund besitzes beobachtet. Man beschuldigte die Deutschen, sie würden alles Land aufkaufen und die russischen Bauern durch das Hinauftreiben der Bodenpreise zugrunde richten. Russische Nationa listen wollten sich auch nicht mit der Tatsache abfinden, dass die Deutschen ihre Sprache, Religion und Kultur bewahrt hatten, und empf anden die K olonistendörfer als unerwünschte Fremdkör per.33 Dass das wirtschaftliche K onkurrenzverhältnis zwischen den deutschen K olonisten und ihrer Umgebung nicht nur ein Hirngespinst der ansonsten recht phantasiebegabten Verfasser einschlägiger Pamphlete gegen die Deutschen war, beweisen die unterschiedlichsten Quellen. Bezeichnend ist die Tatsache, dass im Schwarzmeergebiet die Initiative zu gesetzlichen Maßnahmen ge gen den deutschen Grunderwerb nicht von den Regierungsbehörden, sondern von den örtlichen Selbstv erwaltungsorganen, konkret von der Zemstv oversammlung des Kreises Ekaterinosla v aus ging. Die Versammlung forderte ein Gesetz zur Beschränkung des deutschen Grunderwerbs, um die russischen Bauern v or der deutschen K onkurrenz zu schützen. 34 Die Re gierung entsandte daraufhin einige Beamte in den Süden, um ein Bild von der Lage zu gewinnen, kam jedoch zu dem Schluss, dass k eine gesetzlichen Maßnah men notwendig seien.35 Sieht man sich die Besitzv erschiebungen im e xemplarisch herausge griffenen Kreis Ekaterinoslav an, so wird deutlich, dass die K onkurrenz zwischen russischen bzw. ukrainischen Bauern und deutschen Kolonisten eine Realität war, aber nicht die Bedeutung hatte, die ihr in der nationalistisch aufgeheizten Atmosphäre zugewiesen wurde:36 Bis 1889 erwarben Bauern und Kolonisten auf Kosten des Adels etwa gleich viel Land. Danach wuchs der deutsche Besitz nur mehr unwesentlich, während der bäuerliche Besitz noch beträchtlich zunahm. Seit 1890 fielen somit im Kreis Ekaterinoslav die deutschen Kolonisten als Konkurrenten der ukrainischen und russischen Bauern nicht mehr ins Gewicht. Tatsache ist aber auch, dass die ukrainischen und russischen Bauern im Schnitt wesentlich schlechter mit Land versorgt waren als die Kolonisten. Im Gegensatz zu den Kolonisten besaßen vor der Stolypinschen Agrarreform nur sehr 33 Exemplarisch für diese Angriffe: VELICYN, A. A.: Nemcy v Rossii. Oãerki istoriãeskago razvitija i nastojaš ãego položenija nemeckich k olonij na juge i v ostoke Rossii [Die Deutschen in Russland. Abriss der historischen Entwicklung und der gegenwärtigen Lage der deutschen Kolonien im Süden und Osten Russlands]. S.-Peterburg 1893. 34 Postanovlenija Ekaterinoslavskago uezdnago zemskago sobranija 1888 goda [Beschlüsse der Ekaterinoslaver Kreis-Zemstvo-Versammlung 1888]. Ekaterinoslav 1889, S. 43–45. 35 Innenministerium, Zemstvo-Abteilung, 27.10.1904. RGIA f. 1291, op 70 (1890), d. 353, Bl. 1. 36 N EUTATZ: Deutsche Frage (wie Anm. 1), S. 279–280. Berechnet nach Ot ãet Ekaterinoslavskoj uezdnoj zemsk oj upra vy [Rechenschaftsbericht des Ekaterinosla ver Kreis-Zemstv o-Amtes]. Ekaterinoslav 1880–1916.

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wenige Bauern privates Kaufland. Das Wachstum des bäuerlichen Landbesitzes betraf nur eine dünne Schicht reicher Bauern.

6. Stolypinsche Agrarreform Das Gesetz der Regierung Stolypin vom 9.11.1906 leitete eine umf assende Agrarreform ein. Jeder Bauer erhielt das Recht, die Abteilung und Zusammenle gung seiner Anteile am Gemeindeland zu verlangen. Das Land wurde dann sein Privateigentum, und er konnte frei darüber verfügen. Die Gemeinde konnte als Ganzes mit Zweidrittelmehrheit zum Einzelbesitz übergehen. Ziel der Reform war die Überwindung des Mirsystems. Die Bauern sollten Eigentümer des von ihnen bewirtschafteten Landes werden, die überlangen Anfahrtswege und unrentablen winzigen Äck er durch eine Flurbereinigung besei tigt werden. Im Idealfall sollte jeder Bauer sein gesamtes Land in einem Stück erhalten. Wenn es vom Dorf zu weit entfernt war, sollte er aus dem Dorf ausziehen und mitten auf seinem Land einen Einzelhof errichten, den sog. Chutor . Über den Erfolg bzw. die langfristigen Erfolgschancen dieser Reform ist viel diskutiert worden. Eine empirische Überprüfungist nicht möglich, denn be vor die Reform in großem Stil zum Tragen kommen konnte, brach der Erste Weltkrieg aus.37 Interessant ist die Art und Weise, wie die Reform von den deutschen Kolonisten rezipiert wurde. Es entstand eine lebhafte Diskussion, wie sich das Gesetz auf die deutschen Dörfer auswirken werde. Grundsätzlich sah man wirtschaftliche Vorteile durch die Zusammenle gung zersplitterten Besitzes und das Wegfallen langer Anfahrtswege.38 Viele Äußerungen gingen jedoch über die wirtschaftlichen Gesichtspunkte hinaus: Durch die Übersiedlung auf Chutore befürchtete man den Zusammenbruch der Gemeinden und die Russifizierung der dann abseits des deutschen Dorfes wohnenden Chutorbesitzer, deren kirchliche und schulische Betreuung nicht mehr gewährleistet sei. Alle Gemeindeeinrichtungen, wie Kirche, Schule, Kreditanstalten, Waisenkassen oder Feuerversicherung seien durch die Chutorwirtschaft bedroht.39 Die größte Gefahr erblickte man aber im Übergang zum Einzelbesitz, durch den die Gemeinde ihr Einspruchsrecht gegen die Veräußerung von Höfen und Grund an Außenstehende verlor. Manche befürchteten, dass sich nun Ortsfremde in den Ko37 K

OVAL’âENKO, Ivan. Dimitrieviã: Stolypinskaja agrarnaja reforma. Mify i real’nost’ [Die Stolypinsche Agrarreform. Mythen und Realität]. In: Istorija SSSR (1991), H. 2, S. 52–72. PALLOT, Judith: Khutora and Otruba in Stolypin’s Program of Farm Individualization. In: Slavic Review 43 (1984), S. 242–256. M ACEY, David A.: The Peasant Commune and the Stolypin Reforms: Peasant Attitudes, 1906–14. In: Land commune and peasant community in Russia: communal forms in imperial and early Soviet society. Hg. v. Roger BARTLETT. London, Basingstoke 1990, S. 219–236. Umfassend: M ORITSCH, Andreas: Landwirtschaft und Agrarpolitik in Rußland vor der Revolution. Wien 1986. 38 Odessaer Zeitung Nr. 283 (10.12.1908), S. 2, Nr. 168 (25.7.1913), Beilage. 39 Odessaer Zeitung Nr . 17 (20.1.1908), S. 1, Nr. 263 (14.11.1908), S. 2, Nr. 290 (18.12.1908), S. 2.

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lonien ankaufen könnten und die ethnische und k onfessionelle Geschlossenheit der Dörfer damit aufgebrochen werde. Sie plädierten folgerichtig dafür , dass der Besitzwechsel v on Höfen an die Zustimmung der Gemeinden geb unden bleiben solle, denn wenn erst einmal eine gewisse Zahl von Angehörigen anderer Nationalitäten und Konfessionen als Grundbesitzer ein Stimmrecht in der Gemeinde hätten, dann würden sie bald auch die Errichtung eigener Schulen und Gotteshäuser for dern.40 Andere bezeichneten die Befürchtungen als grundlos. Das Beispiel der Tochterko lonien auf gekauftem Land, w o jeder schon bisher seinen Besitz ohne Zustimmung der Gemeinde v erkaufen konnte, beweise, dass die Gef ahr des Eindringens von Fremden gering sei. Auch diese Gemeinden seien konfessionell und national größtenteils geschlossen. Sie hätten auch eine gewisse Assimilationskraft gegenüber Eindringlingen gezeigt. 41 Nichtkolonisten hätten gar kein besonderes Interesse, sich in deutschen Kolonien anzukaufen, denn die Verwaltung von Kirche und Schule sei in den deutschen Gemeinden k omplizierter und teurer , und der Anders gläubige oder Nichtdeutsche müsse befürchten, dass seine Nachk ommen religiös und sprachlich assimiliert werden. 42 Die Mehrheit der K olonisten blieb trotzdem sk eptisch.43 Nur einige wenige katholische Gemeinden im Gouv ernement Cherson beschlossen den Über gang zum Einzelbesitz, während die Mehrheit am bisherigen gemeindlich-hofweisen Besitzsystem festhielt.44

7. Resümee Die zentrale Leitfrage des Bandes aufgreifend, in welcher F orm sich Agrarverfassungen und Agrarreformen auf die ethnische Struktur und die Entwicklung der Kulturlandschaft auswirkten, lassen sich folgende Ergebnisse festhalten: Der Unterschied in den Agrarverfassungen der russischen und ukrainischen Bauern und der ausländischen K olonisten führte dazu, dass sich die Besitzstrukturen, die Flurformen und das Gesicht der K ulturlandschaft unterschiedlich entwickelten. Die Agrarverfassung verschaffte den Kolonisten langfristig einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den russischen und ukrainischen Bauern, der sich in einer ökonomischen Prosperität und einer überproportionalen Expansion des Grundbesitzes äußerte. Die ethnische Struktur der Re gion wurde durch die Agrar- und Gemeindeverfassung insofern beeinflusst, als letztere die Geschlossenheit der Gemeinden för derten und ein Hindernis für die kleinräumige Vermischung der Ethnien und Kon40 Odessaer Zeitung Nr. 258 (8.11.1908), S. 2, Nr. 275 (29.11.1908), S. 2–3. 41 Odessaer Zeitung Nr. 283 (10.12.1908), S. 2, Nr. 285 (12.12.1908), S. 3, Nr. 294 (23.12.1908), S. 2–3. 42 Deutsche Rundschau Nr. 22 (24.12.1908), S. 2. 43 Deutsche Rundschau Nr. 74 (28.3.1914), S. 2. H ILFER, Michael: Die deutschen K olonisten in Rußland und die neueste russische Agrarreform. In: Deutsche Monatsschrift für Rußland 3 (1914), S. 440–442. 44 Deutsche Rundschau Nr. 76 (2.4.1914), S. 3. Odessaer Zeitung Nr. 168 (25.7.1913), Beilage.

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fessionen bildeten. Außenstehende konnten nicht einfach in einem Kolonistendorf einen Hof kaufen und sich dort ansiedeln. Das heißt nicht, dass in den K olonistendörfern nur Deutsche ge wohnt hätten. Es gab am Ende des 19. Jahrhunderts eine große Zahl an russischen und ukrainischen Arbeitskräften, die zum Teil saisonal, zum Teil dauerhaft in den K olonien wohnten, aber sie w aren nicht Mitglieder der Gemeinde und konnten daher in Gemeindeangelegenheiten nicht mitreden.45 Die Agrarreformen zwischen 1861 und 1871 erhöhten die Mobilität sowohl der Bauern als auch der K olonisten. Die russischen und ukrainischen Bauern wurden 1861 aus der Leibeigenschaft entlassen. In den deutschen Kolonien kam es zu einer nicht so einschneidenden, aber dennoch überaus folgenreichen Agrarreform. Man musste auf das aus der Agrarverfassung resultierende Landlosenproblem reagieren und löste es durch eine partielle Mitbeteiligung der Landlosen an der Gemeinde und durch gemeinschaftlich organisierte Landankäufe und Aussiedlungsprojekte. Diese Reform war entscheidend dafür, dass die bei der Ansiedlung eingeführte Agrarverfassung nicht in einer sozialen Katastrophe mündete, sondern der Expansion des Grundbesitzes einen starken Anstoß gab. In ethnischer Hinsicht förderte diese Reform die Entstehung einer großen Zahl neuer Siedlungen und zum Teil sogar geschlossener Siedlungsgebiete, wenn es Gemeinden gelang, große Güter zu erwer ben und zu parzellieren. Gleichzeitig entstanden auch zahllose Streusiedlungen in mehrheitlich russischen oder ukrainischen Bezirken. Die Stolypinsche Agrarreform barg das Potential, für einen Teil der russischen und ukrainischen Bauern den Wettbewerbsnachteil zu kompensieren. In ethnischer Hinsicht hätte sie möglicherweise dazu beigetragen, die bis dahin weitgehend ethnisch und konfessionell geschlossenen Dorfgemeinschaften der K olonisten aufzubrechen. Da die Reform nur ansatzweise realisiert wurde, lassen sich aber ihreAuswirkungen nicht wirklich beurteilen.

45 N

EUTATZ:

Deutsche Frage (wie Anm. 1), S. 360–361.

Der wirtschaftliche Wettbewerb zwischen Deutschen und Serben in den Werken von Radoslav Markoviç (1865–1948) Zoran Janjetoviç

1. Einleitung Kennzeichnend für das 19. Jahrhundert sind die Entwicklung der Wirtschaft und gleichzeitig das Erstark en v on Nationalismus und Nationalbe wusstsein, w obei beide Prozesse eng miteinander verflochten waren. Die Abschaffung der Leibeigenschaft, Rationalisierungsmaßnahmen, die Entwicklung eines modernen Rechtswesens, der Ausbau des Verkehrswesens, der Fortschritt in Wissenschaft und Technologie sowie die F ortentwicklung des Schul wesens ermöglichten eine stark e wirtschaftliche Entf altung. Andererseits entwick elte sich der Nationalismus zu einer starken schöpferischen Kraft in Europa. Die Vorstellung vom zu erstrebenden Nationalstaat hatte jedoch in einem Raum mit zahlreichen Ethnien wie der heutigen Wojwodina eine nicht zu unterschätzende Sprengkraft. Wirtschaftliche Prozesse wurden oft als Ausdruck eines nationalen Kampfes interpretiert. Damit kam der Wirtschaft, insbesondere der Agrarwirtschaft nicht nur mehr die Rolle zu, zur Er nährung der Be völkerung und zur Prosperität des Staates beizutragen, vielmehr wurde sie zu einem Instrument zur Stärkung der eigenen Nation, mit deren Hilfe ihr Einflussbereich gestärkt werden sollte. So f anden Fragen des Landbesitzes, der Wirtschaft und des wirtschaftlichen Wettbewerbs ihren Niederschlag in denWerken „nationaler“ Vordenker und Volkspädagogen bzw. Volksaufklärer, in der Publizistik und in der Politik. Wirtschaftsprobleme betrachtete man durch den F okus „nationaler“ Interessen. Der Beitrag bef asst sich mit den Vorstellungen über den als ök onomischen Zweikampf zwischen Deutschen und Serben postulierten wirtschaftlichen Prozessen wie sie in den Werken von Radoslav Markoviç (1865–1948) zu finden sind. Da seine Bibliographie über 60 Arbeiten aufzeigt, beschränkt sich diese Abhandlung auf die wichtigeren Veröffentlichungen, zumal die Kernthesen von Markoviç in seinen zahlreichen kurzen Aufsätzen und Vorträgen hier auch wieder widergespiegelt werden. In seinen kleineren Arbeiten wurden seine Hauptideen für seine Leser oder Hörer kurz zusammengef asst. Um seinen Blick auf die „deutsch-serbische wirtschaftliche Rivalität“ richtig zu v erstehen, wird es hilfreich sein, zunächst einige Ausführungen zu seiner Person und seinenWirkungsort zu machen.1 Sie sind wichtig für die Einordnung und das Gesamtverständnis der Werke von Markoviç. 1

Die biographischen Daten über Radosla v Markoviç wurden aus folgender Literatur übernommen: Narodna enciklopedija Srba, Hrvata i Slovenaca [Volksenzyklopädie der Serben, Kroaten und Slowenen], Bd. II. Zagreb o. O., S. 802; P OTKONJAK, Simo: Bibliografija radova prote Radoslava Markoviça i radova o njemu [Bibliographie der Werke des Priesters Radoslav Markoviç und der Werke über ihn]. In: M ARKOVIå, Radosla v: Pra voslavna srpska parohija u In điji

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2. Radoslav Markoviç als Priester und Nationalkämpfer Radoslav Markoviç wurde 1865 in Mošorin geboren. Dieser Ort w ar zugleich der Geburtsort von Svetozar Miletiç (1826–1901), der in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts als Führer der liberalen Bewegung die nationale Meinungsführerschaft bei den Serben in Ungarn übernahm, auch gerade weil er seit 1866 das publizistische Symbolblatt Zastava (Fahne) in Ofen [Buda] herausgab. Nach dem Gymnasium in Karlowitz [Sremski Karlovci] und Neusatz [Novi Sad], besuchte Markoviç das theologische Seminar in Karlowitz. 1889 wurde er Priester in der serbisch-orthodoxen Pfarrei in India [In đija], zu jener Zeit eine mehrheitlich deutsche Gemeinde. Dort ist er bis zu seinem Tod 1948 geblieben. 2 Unter dem Einfluss der Ideen eines der führenden serbischen radikalen Politik ers in der Wojwodina, Jaša Tomiç (1856– 1922), widmete sich Mark oviç dem bäuerlichen Genossenschaftswesen, dessen Gründer er war. Anfang der 1890er Jahren gründete er die erste serbische landwirtschaftliche Genossenschaft in India, die eine der ersten unter den Serben überhaupt war. Anstoß zur Gründung der Genossenschaft war der wirtschaftliche Wettbewerb mit den Indiaer Deutschen, deren K onkurrenz als übermächtig empfunden wurde. In seiner Arbeit war Markoviç stets bemüht, die serbischen Bauern dazu zu be wegen, ihre Wirtschaftsleistungen zu verbessern und sie darin zu unterstützen. Mit der Entwicklung des serbischen Genossenschaftswesens wurde Mark oviã Mitglied der Leitung des Bundes der landwirtschaftlichen Genossenschaften in Zagreb, und der erste Obmann des gleichnamigen Bundes, der nach dem Ersten Weltkrieg in Neusatz [Novi Sad] gegründet wurde. Bis zum Zweiten Weltkrieg ist er der Ehrenvorsitzende des Bundes geblieben. Er gehörte zwar nicht zu den führenden serbischen Politikern im Habsburgerreich, bewegte sich aber in ihrer Nähe und veröffentlichte seine Aufsätze in den führenden serbischen Zeitungen der Monar chie.3 Die bisherigen Ausführungen v erdeutlichen, dass Mark oviç v or allem ganz pragmatische Ziele verfolgte. Neben seinem Eintreten für „nationale“ serbische Interessen war er auch der geistige Führer seiner Pf arrkinder, der sich nicht scheute, diese in ihrem Verhalten zu ermahnen. So klopfte er mor gens an die Tür der ser bischen Bauern, um sie zu wecken mit dem Ziel, dass sie nicht später als die Deutschen zur Feldarbeit auf ihre Äck er k ommen. Um seine Ideen weiteren Kreisen bekannt zu machen, sah er sich veranlasst, zur Feder zu greifen. SeineArbeiten sind daher weniger eine Frucht wissenschaftlicher Neugierde oder seiner theoretischen Neigungen, sondern Ausdruck und Er gebnis seines an der Praxis ausgerichteten krajem 1900. godine (reprint izdanje), In đija (Narodna biblioteka „Dr Ðor đe Natoše viç“) [Orthodoxe serbische Pf arrei in Indjija im Jahre 1900, Indijija (V olksbibliothek „Dr Ðor đe Natoševiç“)], 1997, S. 69–72. 2 Eine ausführliche Biographie v on Radosla v Mark oviç steht leider immer noch aus, so dass bislang kaum eingeschätzt werden kann, welchen Einfluss Jaša Tomiç auf seinen persönlichen Werdegang und seine Karriere hatte. Allerdings war Miletiç ein Liberaler, der sich mit der Kirche auseinandersetzte, während Markoviç Priester war. 3 Vgl. GAŠIå, Ranka: „Novi kurs“ Srba u Hrv atskoj [„Der Neue K urs“ der Serben in Kroatien] (Srbobran 1903–1914). Zagreb 2001, S. 28, 26.

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Eintretens für die nationalen Anliegen der von ihm vertretenen serbischen Bevölkerung. Dies hat seine Werke zutiefst geprägt. Aus den gleichen Gründen wurden seine Werke vor allem für die Serben verfasst: Die Serben waren sein Publikum und das Objekt seiner F orschungen. Das Ziel seines publizistischen Wirkens w ar es zuallererst, sie zu tüchtigerer Arbeit, Sparsamkeit, Nüchternheit und zu einem vertieften Nationalbewusstsein anzuspornen. Das erklärt auch, weshalb die Deutschen in seinen Arbeiten nur sporadisch als signifikant anders erscheinen, die gleichwohl aber im Hintergrund als Ursache des wirtschaftlichen Verfalls seiner Volksgenossen verstanden wurden. Sie w aren damit als Fremdbild wichtig für die identitätsstiftende Selbstwahrnehmung. So war es für ihn nur konsequent, den von ihm wahrgenommenen Verfall des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Potentials der Ser ben als selbst verursacht darzustellen. Das unterscheidet ihn v on jenen charakteristischen Einschätzungen, die für alle Fehlentwicklungen und für alles Unglück der Serben die Deutschen oder die Habsburger Monarchie als verantwortlich betrachteten.4 Schon darum w ar er in seinen Werken bemüht, eine auf F akten beruhende Analyse „serbischer“ und „deutscher“ Lebensweisen vorzunehmen, mit deren Hilfe er zu erklären versuchte, warum es „den Deutschen“ gelang, ihren Grundbesitz zu ungunsten „der Serben“ auszudehnen.

3. Das Umfeld v on Markoviç Der Ort India, in dem Markoviç als Pfarrer tätig war,5 war in gewisser Hinsicht ein Brennpunkt für ethnodemographische Prozesse dieser Re gion. Einerseits wirkte sich hier die v on offizieller Seite forcierte Magyarisierung in Politik, K ultur und Gesellschaft aus. Andererseits konstituierten sich auch hier Gruppen mit ihren jeweiligen Identitäten, die sich sowohl hinsichtlich ihres gesellschaftlichen Wertekanons als auch in ihrer daraus resultierenden unterschiedlichen ök onomischen Werteschöpfung markant unterschieden. Der Ort India bestand schon seit dem Mittelalter . Nach der Befreiung v on der osmanischen Herrschaft, wurde dieser Ort entsprechend der charakteristischen Entwicklung in diesem Raum wieder besiedelt. DieseAnsiedlung erfolgte auf Initiative und im Auftrag des lokalen Grundherren, der Grafenf amilie Peja ãeviç. Zunächst wurden 1745 Serben angesiedelt. Doch die Vermehrung der Untertanen v erlief 4

Eine Bemerkung im üblichen Sinne, dass fremde Herrscher Ausländer unter den Serben angesiedelt hätten, um die Serben zu schwächen, befindet sich in seinem Werk über India aus dem Jahr 1923: M ARKOVIå, Radoslav: Inđija. Prilog za prou ãavanje naselja u Vojvodini [India. Beitrag zur Studie über Siedlungen in der Wojwodina]. Novi Sad 1923, S. 67.) Im Kontext seines ganzen Werkes scheint es, dass diese Äußerung eher ein Lippenbek entniss war und ein Zugeständnis an die damalige „political corectness“ und nicht seiner eigentlichen Überzeugung entsprach. In seinen Arbeiten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg finden wir solche Meinungen nicht – nicht zuletzt, weil die Zensur sie nicht akzeptieren konnte. 5 India [Inđija] war ein typischer Marktort oder eine „Agrostadt“ (wie sie genannt wurde) Südungarns. Im 19. Jahrhundert gewannen Industrie, Handel und Handwerk zunehmend an Bedeutung.

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schleppend, war von Rückschlägen und Stagnation gekennzeichnet, so dass ab 1825 Kolonisten tschechischer und deutscher Herkunft aus Böhmen angesiedelt wurde. Doch der größte Teil dieser Ansiedler verließ den Ort schon nach einigen Jahren wieder. So beschloss die Grundherrschaft, Deutsche aus der Batschka und dem Banat in India anzusiedeln. 6 Neben einigen jüdischen Einw ohnern wohnten in dem Ort somit fast ausschließlich Deutsche und Serben, was es erleichtert, den von Markoviç beobachteten wirtschaftlichen Wettbewerb hinsichtlich seiner ethnodemographischen Komponente besser zu deuten. Im Lauf des 19. Jahrhunderts kam es zu Verdrängungsprozessen, in deren Verlauf die Deutschen zahlenmäßig den ser bischen Bevölkerungsanteil übertrafen und durch Landkäufe den größtenAnteil des Ackerlandes an sich brachten. 7 Dabei beobachtete Mark oviç diesen Prozess nicht nur in seiner Gemeinde, sondern kam zu der Feststellung: Die Serben v erloren überall dort, wo sie mit anderen ethnische Gruppen zusammen lebten, Land zugunsten ihrer nichtserbischen Nachbarn. In idealtypischer Konstellation beobachtete er dies bei der K oexistenz von Serben und Deutschen. 8 Diese Entwicklung, die anhand statistischer Erhebungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verifiziert werden kann, hat er durchaus zutreffend beobachtet. 9 Doch als in Syrmien lebender Zeitgenosse, der emotional um das Schicksal der Serben bangte, entzog es sich seinem Blickwinkel, dass deutsche Siedler ihren Landbesitz nicht nur in serbischen Dör fern ausdehnten, sondern auch in ungarischen10 und rumänischen.11 Jedenfalls sind seine Schlussfolgerungen lokalen Ursprungs und können keine allgemeine Gültigkeit für alle Länder des Königreiches Ungarn und alle betroffenen ethnischen Gruppen beanspruchen. Dies schließt ähnliche Mechanismen in anderen Ortschaften oder Regionen jedoch nicht aus.12 6

MARKOVIå: Pra voslavna srpska parohija (wie Anm. 1), S. 5–7; D ERS.: In đija (wie Anm. 4), S. 33–34; GAVRILOVIå, Slavko: Privredne i društvene prilike u Inđiji 1746–1849 [Wirtschaftliche und Gesellschaftliche Verhältnisse in India 1746–1849]. In: Godišnjak Filozofsk og fakulteta u Novom Sadu, VI. Novi Sad 1961, S. 143–163; O BERKERSCH, Valentin: India. Deutsches Leben in Ostsyrmien (1825–1944). Stuttgart 1978, S. 48–52. 7 MARKOVIå: Pravoslavna srpska parohija (wieAnm. 1), S. 47, 58, 64; DERS.: Inđija (wie Anm. 4), S. 19, 60. 8 MARKOVIå: Pra voslavna srpska parohija (wie Anm. 1), 22, 65; D ERS.: In đija (wie Anm. 4), S. 17; DERS.: O rask ošu (modi) i ostalim štetnim obi ãajima i na vikama našim [Über Pracht (Mode) und andere schädliche Manieren und unsereAngewohnheiten]. Zagreb 1905, S. 34–35; DERS.: Sadašnje stanje naše agrarne privrede (prilog k temi da li naš narod propada) [Derzeitige Lage unserer Agrarreform (Beitrag zum Thema, ob unser Volk verfällt)]. (Letopis Matice srpske, Bd. 286). Novi Sad 1912, S. 54. 9 Vgl. GAVRILOVIå, Slavko: Srem, Banat i Baãka od XVIII do sredine XIX veka [Syrmien, Banat und Batschka vom 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts], (Zbornik Matice srpske za istoriju, 6). Novi Sad 1972, S. 15; DERS.: Privredne i društvene prilike (wie Anm. 6), S. 157. 10 M ACARTNEY, Carlile Aylmer: Hungary and Her Successors. The Treaty of Trianon and its Consequences. London, New York, Toronto 1937, S. 34. 11 K OLAKOVIå, Vasilije: Naselje Ovãa [Das Dorf Ovãa], (Godišnjak grada Beograda, 7). Beograd 1960, S. 122. 12 Offensichtlich war es Markoviç nicht möglich, noch hatte er Interesse daran, eine über den lokalen Bezug reichende Forschungsarbeit zu erstellen. Ihm ging es lediglich um die Darstellung der Gründe, die vor Ort zu der damaligen Wirtschaftslage der Serben geführt hatten.

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4. Markoviçs Darstellung „deutscher“ und „serbischer“ Lebensweisen im Vergleich Nach dem Erklärungsmodell v on Markoviç beruhte die Lande xpansion der Donauschwaben auf Kosten der Serben auf der unterschiedlichen Lebensweise der zwei ethnischen Gruppen. Mark oviç beobachtete und deutete diese v erschiedenen Lebensmodelle. Einerseits interpretierte er das wirtschaftliche und gesellschaftliche Verhalten seiner Landsleute als typisch „serbische Lebensweise“ und tadelte diese und andererseits stellte er die „deutsche Lebensweise“ als nachahmenswert hervor. Dabei analysierte er weniger aus ök onomischer, als vielmehr aus soziologischer und demographischer Sichtweise. So kam er zu der Erkenntnis, dass die rationellere und bessere Landwirtschaft der deutschen Bauern nicht mehr die eigentliche Ursache der Expansion des deutschen Landbesitzes w ar. Die fortschrittlichen Arbeitsmethoden hätten den Deutschen zwar zunächst einen Vorsprung verschafft, jedoch in seinem Beobachtungszeitraum keine große Rolle mehr gespielt, da auch die Serben diese Be wirtschaftungsmethoden bereits übernommen hätten. 13 Allerdings räumte er ein, dass es viele Serben zumindest in India v ersäumt hätten, „deutsche Arbeitsmethoden“ rechtzeitig anzunehmen. 14 Dennoch sei dies am Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr der eigentliche Grund der wirtschaftlichen Unterlegenheit gewesen. Die besseren Arbeitsmethoden oder der größere Fleiß schieden für ihn in seinem Beobachtungszeitraum damit als Hauptgründe für die wirtschaftliche Disparität aus. Im Unterschied zu anderen Autoren und wegen der spezifischen Situation von India maß Markoviç den Begünstigungen, die den Deutschen als Kolonisten bei der Ansiedlung zuteil wurden, nicht die entscheidende Rolle im Prozess der wirtschaftlichen Prosperität der Donauschwaben zu. Den zentralen Grund sah Markoviç vielmehr in der von ihm beobachteten größeren Sparsamk eit der Deutschen und im Hang zur Verschwendung seiner ser bischen Landsleute, ein Phänomen, dem er sich in vielen seiner Werke widmete.15 Darin geißelte er immer wieder die verheerenden Kosten für die oft tagelangen serbischen Hochzeitsfeiern oder andere Feste sowie aufwändige Begräbnisse, die Zecherei und die Ausgaben für Mode. 16 Insgesamt gäben die Serben mehr aus als sie erwirtschafteten, und machten sogar Schulden um die K osten der Scheinbedürfnisse für aufwändige Hochzeiten, Beerdigungen oder Kleidung zu deck en. Hier 13 M ARKOVIå: Sadašnje stanje (wie Anm. 8), S. 48–51, 55; DERS.: O raskošu (wie Anm. 8), S. 35– 36. Modernere Ackerbaumethoden gingen vor allem auf deutsche Ansiedler zurück, die nach 1848 ins Dorf gek ommen waren. Parallel dazu erfolgte eine zunehmende Intensi vierung der Landwirtschaft, die insbesondere durch eine Umw andlung v on Weide- in Ackerland so wie durch die nach der Grundentlastung einsetzende Nutzung der Brachflächen gekennzeichnet war. Vgl. OBERKERSCH: India (wie Anm. 6), S. 157. 14 M ARKOVIå: Pravoslavna srpska parohija (wie Anm. 1), S. 27. 15 Diesem Thema wurden sogar ganze Broschüren und Aufsätze ge widmet. Mark oviç subsumierte oft alle v on ihm als v erschwenderisch bezeichneten Ausgaben unter dem Be griff „die Mode“. Vgl. seine Bibliographie in: M ARKOVIå: Pra voslavna srpska parohija (wie Anm. 1), S. 73–80.) 16 Ebd., S. 22, 27–28, 33–34, 64; MARKOVIå: O raskošu (wie Anm. 8), S. 5–6, 19–22, 26–32, 35– 36; MARKOVIå: Sadašnje stanje (wie Anm. 8), S. 46, 50.

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würden die Serben we gen der öf fentlichen Meinung aus Gründen des Sozialprestiges und der eigenen Eitelk eit mit ihren Nachbarn in den Ausgaben wetteifern. Besonders die Modehörigkeit prangerte Markoviç an. Er empörte sich, wie oft die Serben, und besonders die Serbinnen ihre Kleidung wechselten und welche Unsummen an Geld sie für die Garderobe ausgaben. Er wies auf die Dukaten hin, die serbische Mädchen in Kleider investiert an sich trugen und bezeichnete diese Investitionen als totes Kapital, das der Wirtschaft v erloren ge gangen sei. So ist sein Werk als Plädoyer für eine verstärkte Investition in die Landwirtschaft zu interpretieren, indem er v or übermäßigem K onsum in kurzlebige Güter des alltäglichen Bedarfes warnte. Doch mitunter führte er auch andere Erklärungsmotive an, indem er den staatlichen Behörden die Schuld für die übermäßigen serbischen Ausgaben zuwies: In den planmäßig angelegten Dörfern würden die Serben weit entfernt von ihren Feldern leben, und das Leben in der Gruppe würde die Moral sink en lassen und zudem die Bindung zum eigenen Landbesitz verringern.17 Allerdings verfolgte er diesen Ansatz nicht weiter. Einen weiteren Erklärungsansatz bot Mark oviç an, in dem er unterschiedliche gesellschaftliche Wertemaßstäbe und Zielsetzungen der ethnischen Gruppen als bedeutenden Faktor ins Spiel bringt. Die Serben hätten sich in den letzten 30 Jahren des 19. Jahrhunderts mehr dem Kampf um politische Freiheiten als der wirtschaftlichen Entwicklung ge widmet. Hingegen zeigten die „Schw aben“ überhaupt k ein Interesse für die Politik und w aren gänzlich der ök onomischen Stärkung zugewandt.18 Immerhin geht es bei diesem Ansatz um Fragen der Identität, die einen wesentlichen Beitrag zu dem auf die wirtschaftliche Prosperität zentrierten Wertemaßstab der donauschwäbischen Be völkerung beizutragen v ermögen. Damit v erfolgte er einen überlegenswerten Ansatz, der auch in der historiographischen Literatur immer wieder aufgegriffen wurde und der seine Beobachtungen bestätigte.19 Indem Mark oviç den beobachteten Deutschen mehrere lobenswerte Eigenschaften zuschrieb, verfolgte er erzieherische Zwecke. Damit hielt er seinen Landsleuten einen Spie gel oder einen Maßstab v or. Die Deutschen seien, so seine Meinung, sehr sparsam. 20 Dies würde für alle Lebensbereiche, besonders aber für die Kleidung gelten. Markoviç hob hervor, dass die Deutschen gut, aber einfach gekleidet seien, so dass sie ihre Kleidung lange tragen könnten. 21 Besonders lobte er die 17 M ARKOVIå: Pravoslavna srpska parohija (wie Anm. 1), S. 53. In der Tat war der auf die verschiedenen Gewanne verteilte Besitz innerhalb einer Session ein Hindernis für eine moderne Landwirtschaft. Zunächst jedoch bedeutete die Einteilung der Gemarkungen nach den Prinzipien der Dreifelderwirtschaft ein optimiertes Wirtschaften und einen Inno vationssprung mit höheren Erträgen. In Wirklichkeit scheidet dieses Argument gerade deshalb aus, weil die von Kolonisten besiedelten (deutschen) Dörfer starken Planungscharakter hatten. Vgl. dazu den Beitrag in diesem Band von Karl-Peter Krauss. 18 M ARKOVIå: Pravoslavna srpska parohija (wie Anm. 1), S. 62. 19 Vgl. Istorija srpsk og naroda, Bd. 5, Buch 1 [Geschichte des serbischen Volkes]. Beograd 1981. 20 M ARKOVIå: Pravoslavna srpska parohija (wie Anm. 1), S. 47, 64; Ders. O raskošu (wie Anm. 8), S. 6–7. 21 M ARKOVIå: O raskošu (wie Anm. 8), S. 6–7; DERS.: Pravoslavna srpska parohija (wie Anm. 1) , S. 34.

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Bescheidenheit der deutschen Frauen, die immer die gleiche einfache Kleidung tragen würden, ohne Handschuhe, Sonnenschirme und anderes Beiwerk und nur sehr wenig Schmuck.22 Demgegenüber stellte er die Abhängigkeit von der Mode als den größten „Feind“ der Serben dar .23 Kommentarlos k onstatierte er, dass die Deutschen regelmäßiger in die Kirche gingen, aber weniger Geld für kirchliche Zwecke ausgeben würden als die Serben, deren Kirchgang hinsichtlich der Häufigkeit doch manches zu wünschen übrig ließe. 24 In dieser Frage w ar Markoviç als Priester natürlich befangen und er tat sich schwer, hier eine Bewertung abzugeben, für welche Verhaltensweise er plädieren sollte. Darin eine klare Position zu beziehen, w ar für ihn ein zweischneidiges Schwert: Einerseits ließ er Bewunderung für die Sparsamkeit der Deutschen erk ennen, andererseits sah er die serbisch-orthodox e Kirche in einem überwiegend katholischen Reich als förderungswürdig an, denn ihre Unter stützung stärkte zugleich die Stellung der Serben im Habsburgerreich. Andererseits sah er durch sein Plädo yer für mehr Sparsamk eit in diesem Bereich auch die Gefahr, die Gegner der Kirche in den Reihen der serbischen Radikalen zu stützen, die bemüht waren, die Priester aus der Spitze der serbischen Nationalbe wegung in der Habsburger Monarchie zu verdrängen. In diesem Zusammenhang ist es interessant, w as Markoviç über die Rolle der Konfession im wirtschaftlichen Wettbewerb schrieb und welche Rolle ihr die einfache serbische Be völkerung zugeschrieben hatte. Diese hätte früher ge glaubt, so der Autor ohne nähere zeitliche Präzisierung, dass die Wirtschaftstüchtigkeit der Schwaben im Zusammenhang mit ihrer Religion stünde und ihre eigene Unfähigkeit, sich gegenüber den Deutschen wirtschaftlich zu behaupten, Folge ihrer orthodoxen Zugehörigkeit sei.25 Allerdings ist seinen Notizen nicht zu entnehmen, welche Konfession die Serben überhaupt v or Augen hatten, wenn sie v on Deutschen sprachen. Da diese Ausführungen jedoch in dem Buch über seine Gemeinde India zu finden sind, wo die meisten Deutschen katholisch w aren,26 kann mit großer Sicherheit davon ausgegangen werden, dass seine Gewährsmänner in diesem Zusammenhang von der römisch-katholischen Konfession sprachen. Außerdem waren die meisten Protestanten im Ort später angek ommen. Bei ihnen handelte es sich v or allem um Kaufleute, Handwerker und Arbeiter und damit um Leute, die gewöhnlich nicht mit den serbischen Bauern im Ackerbau wetteiferten. 27 Dabei widerspricht sich Markoviç im gleichen Satz selbst, indem er schreibt, dass die Serben glaubten, die donauschwäbischen wirtschaftlichen Tugenden seien „unerreichbar , w as im Blut des Volkes selbst“ sei.28 Diese Bewertung stimmte überein mit den im 19. und frühen 20. Jahrhundert geläufigen, irrationalen, wissenschaftlich nicht zu unter mauernden Theorien über „Blut“ und Nationalgeist. Mark oviç selbst liefert hier 22 Ebd., S. 34. 23 Er gebraucht gerade dieses Wort: Feind (dušmanin). Vgl. MARKOVIå: O raskošu (wie Anm. 1), S. 36.) 24 M ARKOVIå: Inđija (wie Anm. 4), S. 116–117. 25 Ebd., S. 128. 26 O BERKERSCH: India (wie Anm. 6), S. 125–135. 27 Ebd., S. 135. 28 M ARKOVIå: Inđija (wie Anm. 4), S. 128.

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keinen Erklärungsansatz, inwiefern die k onfessionelle Zugehörigk eit F olgen für das wirtschaftliche Verhalten haben würde. Zudem machte gerade die weitgehende Abwesenheit von katholischen Kroaten oder Magyaren in India diese Theorie über die Konfession für die einfachen Leute plausibel. Der k onfessionelle Deutungsansatz hätte sich auch daher als wenig haltbar erwiesen, weil donauschwäbische Siedler ihren Landbesitz auch auf Kosten von katholischen Kroaten und Magyaren ausdehnten – doch so weit gingen Markoviçs Betrachtungen nicht: Er nannte zwar diese beim „Volk“ gehörten Behauptungen, aber bewertete und begründete sie nicht; offensichtlich waren sie für ihn ein Versuch einfacher Leute, das für sie schwer zu deutende Phänomen zu begründen. Zudem betrachtete Markoviç die Trunksucht der Serben als weitere Ursache für die Landexpansion der Deutschen. 29 Dieser Form der Verschwendung seien Arme und Wohlhabende gleichermaßen verfallen. Allerdings glaubte Markoviô, dass, dass diese Unart nicht mehr so verbreitet wäre wie zu früheren Zeiten, sah darin jedoch ein wichtiges Grundproblem. 30 Diese of fensichtliche Vorliebe hatten schon Beobachter im 18. Jahrhundert bemerkt und kritisiert.31 Schließlich lieferte Markoviç noch eine demographische Deutung für die wirtschaftliche Überle genheit der Deutschen in India. Anhand der ihm v orliegenden Statistiken folgerte er auf eine unterschiedliche Geb urtenrate der Deutschen und Serben. Er stellte fest, dass die Deutschen eine höhere Geb urtenrate hatten. Dabei würden bei den Deutschen mehrheitlich außerehelich gezeugte Kinder sterben. Solche außerehelichen Kinder würden bei den Serben seltener vorkommen. Diese Kinder seien jedoch als Erstgeborene ohnehin schwächer als die nachfolgenden und damit sei der biologische Verlust nicht so spürbar . Dieser Umstand würde wieder der donauschwäbischen Wirtschaftskraft zugute k ommen und den Deutschen ihre Wirtschaftsentfaltung erleichtern. Dazu käme eine bessere Hygiene und Sor ge für die Kinder bei den Deutschen.32 All dies ermöglichte den Donauschwaben in India, die Serben auch demographisch zu verdrängen. Diese Beobachtungen stehen aller29 M ARKOVIå: Pravoslavna srpska parohija (wieAnm. 1), S. 32–33; DERS.: O raskošu (wie Anm. 8), S. 5, 20. 30 M ARKOVIå: Pravoslavna srpska parohija (wie Anm. 1), S. 32. Dieses Phänomen wurde immer wieder beklagt, so auch über dreißig Jahre nach den Ausführungen von Markoviç, als in einer Tageszeitung berichtet wurde, dass die Serben zu oft und zu gern nach der Flasche griffen: Jugoslovenski dnevnik [Das jugoslawische Tagebuch], 20. September 1933. 31 P OPOVIå, Dušan: Srbi u Vojvodini [Serben in der Wojwodina], Bd. 2. Novi Sad 1990, S. 33–34; Ebd. Bd. 3, S. 177, 183; NAGY, Mariann: Nineteenth Century Hungarian Authors on Hungary's Ethnic Minorities: In: K ONTLER, László (Hrsg.): Pride and Prejudice. National Stereotypes in 19th and 20th Century Europe East to West. Budapest 1995, S. 35, 42–43; H UNFALVY, Paul: Ethnographie von Ungarn. Budapest 1877; H EGEDIŠ, Antal: Josif II o sv om putovanju u Banat 1768 [Joseph II. über seine Reise ins Banat 1768]. In: Istraživanja, 11, 1986, S. 210, 233; SEEWANN, Gerhard: Serbische Süd-Nord Migrationen als Voraussetzung für die deutsche Ansiedlung im 18. Jahrhundert. In: A Kárpát-medence v onzásában. Pécs 2001, S. 432, 433, 436, 438; E NGEL, Franc Štef an: Opis Kralje vine Sla vonije i Vojvodstva Srema [Darstellung des Königsreiches Slawonien und der Wojwodschaft Syrmien] (Zbornik Matice srpske za književnost i jezik, Buch 19, Bd. 2, 1971), S. 309; BÖHM, Leonhard: Geschichte des Temeser Banats, Bd. 1. Leipzig 1861, S. 214–214; Ebd.: Bd. 2, S. 205–211, 217. 32 M ARKOVIå: Pravoslavna srpska parohija (wie Anm. 1), S. 55–64.

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dings im Widerspruch zu anderen Aussagen zeitgenössischer Autoren am Ende des 19. und zu Be ginn des 20. Jahrhunderts, die ein stark es Sinken der Geb urtenrate gerade auch bei den Donauschw aben bemerkten. 33 Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Einerseits berief sich Mark oviç nur auf statistische Daten für die Gemeinde India und zieht k eine Vergleichsdaten aus anderen donauschwäbisch-ser bischen Orten heran. Andererseits gab es in India keine andere nennenswerte katholische Nationalität (z. B. Kroaten oder Magyaren), so dass die Donauschwaben dort keine Verluste zugunsten der „staatstragenden Nation“ durch Magyarisierung zu verbuchen hatten. Damit kam der Geb urtenüberschuss der deutschen Volksgruppe zugute. In anderen Ortschaften und Gebieten kam mindestens ein Teil ihres Geburtenüberschusses anderen ethnischen Gruppen, vor allem den führenden Magyaren, zugute. Dies berücksichtigte der auf das Einzelbeispiel von India fixierte Markoviç nicht. Damit sind die aus der Sicht v on Markoviç maßgeblichen Gründe für den ser bischen Wettbewerbsnachteil in der Landfrage dargelegt. Die „Tugenden“ der Deutschen instrumentalisierte er , um auf die „Fehler“ der Serben hinzuweisen. Die Deutschen wurden in mahnender Weise als Vorbilder für die Serben skizziert, wenn sie wirtschaftlich und als Nation in einem ihnen, so Mark oviç, wenig wohl gesonnenen Staat überleben wollten.

5. Radoslav Markoviç über das Kr editwesen und die Genossenschaften Markoviç war kein Wissenschaftler dem es um grundsätzliche Erk enntnisse ging und der bestrebt war nachvollziehbare, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende Erklärungsmodelle zu konstruieren: Er war jemand, der kämpferisch für die serbische Sache eintrat und die wissenschaftlich gesammelten und analysierten Fakten für die v on ihm v erfolgten Intentionen v erwendete. Es v erwundert daher wenig, wenn er die Ursachen für die wirtschaftliche Überle genheit der Donauschwaben in seinen Arbeiten unterschiedlich k onfigurierte, abhängig v on seinen momentanen Intentionen. Seine Erklärungen w aren keineswegs monokausal und änderten sich mit der Zeit, abhängig auch v on den sich v erändernden Bedingungen. Um 1900 betonte er eher die allgemeinen serbischen Fehler und Schwächen wie Verschwendung, Trunksucht, Modehörigkeit und eine zu geringe Geb urtenrate. In den darauf folgenden Jahren34 verlegte sich der Schwerpunkt seiner Kritik schwerpunktmäßig auf die Ausgaben wegen der Mode. Schließlich aber w andte er sich

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RENTRUP, Theodor: Das Deutschtum an der mittleren Donau in Rumänien und Jugosla wien. Unter besonderer Berücksichtigung seiner kulturellen Lebensbedingungen. Münster inWestfalen 1930, S. 25; RÜDIGER, Hermann: Die Donauschwaben in der südslawischen Batschka. Stuttgart 1931, S. 45, 90; D AMMANG, Andreas: Die deutsche Landwirtschaft im Banat und in der Batschka. Novi Sad 1931, S. 43. 34 Vgl. die Bibliographie. In: MARKOVIå: Pravoslavna srpska parohija (wie Anm. 1), S. 74–75.

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Fragestellungen des Kreditwesens und der Funktionsweise der serbischen landwirtschaftlichen Genossenschaften zu.35 Gerade in der Auseinandersetzung mit den letztgenannten Fragen fand er wiederum wichtige Gründe für den wirtschaftlichen Nieder gang der Serben. Hier sah er auch das Instrument zur Überwindung derWettbewerbsnachteile. So brandmarkte er die hohen Zinsen als ein K ernproblem für die In vestitionsbereitschaft und weitere Zahlungsfähigkeit. Oft mussten bei Wucherern bis zu 30 Prozent Zinsen für die aufgenommenen Schulden bezahlt werden. Viele zahlungsunfähige Serben w aren wohl bereit, diesen Zinssatz zu akzeptieren, nur damit niemand bemerkte, dass sie verschuldet waren. Die erste Kreditanstalt in India, die in den Jahren 1878 bis 1888 tätig war, konnte diesem Problem nicht grundsätzlich abhelfen. Zw ar wurden die Zinsen dadurch etwas tiefer angesetzt, aber dies führte dazu, dass die Leute massenhaft be gannen, Anleihen aufzunehmen. Nur wenige v erfolgten damit ausgesprochen wirtschaftliche Investitionsziele wie Landkauf, Einsatz von Pachtgeldern oder den Kauf von landwirtschaftlichen Maschinen, Saatgut oder Düngemittel. Vielmehr wurden bestehende Kredite durch eine neue Kreditaufnahme abgelöst oder noch zusätzliche Kredite aufgenommen. So häuften sich die Schulden an und die Lage der Schuldner wurde immer aussichtloser . Mark oviç sah in diesem Gebaren v or allem ein Verhalten der serbischen Be völkerungsgruppe.36 Er gab der unzulänglichen Organisation des Kreditwesens, aber auch dem mangelhaften Ausbau von Kreditinstituten die Schuld. 37 Jedoch räumte er ein, dass die Donauschw aben mit den Krediten viel umsichtiger umgingen als ihre serbischen Nachbarn, was in anderen, allerdings späteren Berichten immer wieder bestätigt wurde. 38 Nicht selten erhielten Donauschwaben von serbischen Kreditinstitutionen das notwendige Kapital für den Landkauf, um anschließend Land v on serbischen Eigentümern zu kaufen.39 Selbst der Orthodox en Kirche galten donauschwäbische Schuldner und Pächter zuverlässiger als serbische Kreditnehmer und Pächter, was zur Folge hatte, dass entsprechende Geschäfte eher mit Donauschw aben abgeschlossen w orden seien.40 Für das ausgehende 19. und das be ginnende 20. Jahrhundert stellte Mark oviô eine Erstarkung des serbischen Genossenschaftswesens und einen erfolgreicheren wirtschaftlichen Wettbewerb mit den Deutschen fest. 41 Den Stolz des Verfassers über diese Entwicklung angesichts der verbesserten Wirtschaftslage der Serben vermag der Leser deutlich zu erkennen, zumal sich der Autor in zahlreichen Aufsätzen mit dem Genossenschaftswesen befasste und ein fast lebenslanges besonderes Interesse für diese Thematik hatte. Doch auch hier fehlen nachv ollziehbare Angaben, 35 Noch im Jahr 1912 betrachtete Mark oviç das Fehlen von Kreditanstalten als einer der Hauptgründe für den Wirtschaftsverfall der Serben. MARKOVIå: Sadašnje stanje (wie Anm. 8), S. 46. 36 M ARKOVIå: Pravoslavna srpska parohija (wie Anm. 1), S. 29. 37 M ARKOVIå: Sadašnje stanje (wie Anm. 8), S. 52–54. 38 D AMMANG (wie Anm. 33), S. 157. 39 M ARKOVIå: Sadašnje stanje (wie Anm. 8), S. 54. 40 M ARKOVIå: Inđija (wie Anm. 1), S. 65. 41 Ebd., S. 7; DERS.: Sadašnje stanje (wie Anm. 8), S. 58–69; DERS.: Pravoslavna srpska parohija (wie Anm. 1), S. 30–31.

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inwiefern die Entwicklung der serbischen landwirtschaftlichen Genossenschaften Auswirkungen auf die Landv erteilung hatten. Nur für India selbst liefert er Daten über den Zuwachs des serbischen, aber auch des donauschwäbischen Landbesitzes zwischen 1910 und 1920. Diese Entwicklung jedoch erklärte er mit der Verteilung des adligen Großgrundbesitzes im Rahmen der Agrarreform.42 Eine nähere Erörterung der Rolle der deutschen und der serbischen Geldinstitute unterbleibt dabei allerdings.

6. Der Publizist Radosla v Markoviç Was ist die zentrale Intention in den Werken von Radoslav Markoviç? Die bisherigen Ausführungen lassen darüber wenig Zweifel of fen. Ausgehend v on seinen Beobachtungen geht es ihm darum, seine Leser zu belehren, ihnen den Spie gel vorzuhalten, ihnen Impulse für eine Verhaltensänderung zu geben, ihre Sinne für die von ihm beschriebenen Phänomene zu schärfen und ihnen die Instrumente zur Verfügung zu stellen, die es ihnen gestatteten, die von ihm dargelegte Landproblematik im Sinne der Serben zu verändern. Markoviç ging es nicht um eine tiefgründige, re gional anwendbare Analyse der Vorgänge. Sein Beobachtungsobjekt w ar „seine“ Gemeinde India. Aus diesem Objekt zog er seine Schlussfolgerungen, Er kenntnisse und Reflexionen, beseelt von dem Wunsch, die Ursachen des „Landhungers“ der Deutschen zu finden, um dann geeignete Instrumentarien zu finden, diesem Einhalt zu gebieten. Schon deshalb stellte er die v on ihm als charakteristisch heraus gestellten „Lebensweisen“ von Deutschen und Serben einander ge genüber. Keineswegs war sein Ziel ein „genaues“ Serben- oder Deutschenbild zu schaf fen. Zu differenziert wäre dies angesichts der zahlreichen ethnok onfessionellen Gruppen in der Wojwodina geworden. Insofern bedürfen viele seiner Aussagen der Relativierung durch andere zeitgenössische Autoren und der Einordnung im Rahmen seiner Intentionen. Dabei hob sich Markoviç nicht unbedingt ab von anderen Autoren dieser Zeit, die auf der Suche nach „typischen“ Eigenschaften von Völkern oder ethnischen Gruppen waren.43 Jedenfalls wiesen auch andereAutoren in ihrerFremdwahrnehmung im 19. Jahrhundert auf „die Deutschen“ in Ungarn als tüchtige und sparsame Bauern hin, auch diese charakterisierten „die Serben“ ähnlich wie Markoviç dies getan hat; insofern war er Kind seiner Zeit. Wie groß indes der Einfluss von Werken anderer Verfasser auf Markoviç war, lässt sich nur schwer feststellen, da er 42 M ARKOVIå: Inđija (wie Anm. 1), S. 71–72. 43 Vgl. NAGY, (wie Anm. 31); HUNFALVY, Paul: Ethnographie von Ungarn. Budapest 1877; H EGEDIŠ, (wie Anm. 31); S EEWANN (wie Anm. 31), S. 432, 433, 436, 438; P OPOVIå: Srbi u Vojvodini (wie Anm. 31), Bd. II, S. 33–34; ENGEL, Franc Štefan: Opis Kraljevine Slavonije i Vojvodstva Srema [Darstellung des Königsreiches Sla wonien und der Wojwodschaft Syrmien]. In: Zbor nik Matice srpske za književnost i jezik, 19, Bd. 2, 1971, S. 289–356, hier S. 309; B ÖHM (wie Anm. 31), Bd. 1, S. 214–214; Ebd. Bd. 2, S. 205–211, 217. Diese Werke schreiben den Serben gewöhnlich die gleichen Eigenschaften zu wie Mark oviç; nur werden „Faulheit“ und „Alk oholsucht“ mehr betont als Verschwendung. Die Deutschen dagegen werden stereotyp als „fleißig“, „sparsam“ und „nüchtern“ angesehen.

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sich auf andere Veröffentlichungen nicht beruft. Bei einer umf assenden Kenntnis entsprechender Schriften hätte er w ohl zur Untermauerung seiner Ansicht daraus zitiert. So kann angenommen werden, dass er mit ziemlicher Sicherheit entsprechende Publikationen nicht kannte oder sie für sein thematischesAnliegen nicht für relevant erachtete. Sein Metier w ar die Beobachtung seiner Pf arrkinder und deren Wirtschaftsgebaren v or Ort – über einen Zeitraum v on Jahrzehnten. Da er k ein Sklave von Stereotypen w ar, war er bereit, v on ihm bemerkten Entwicklungen in Lebensweisen der Be völkerung des Ortes Rechnung zu tragen und zu anderen Schlüssen zu kommen. Der Pfarrer [serb. prota] Radoslav Markoviç gilt zugleich als typisch und untypisch unter den nationalen serbischen Autoren. Seine schriftstellerische Tätigkeit war Ausdruck seines pragmatischen, national-politischen Engagements. Seine schriftstellerische Aktivität war kein Selbstzweck, sondern sie stand im Dienste seiner Bemühungen, die Serben in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie wirtschaftlich zu stärken. Seine Werke, die eben auf der Beobachtung und auf ihm zugänglichen Statistik en beruhten, w aren im kritischen Ton v erfasst und sollten seine Landsleute zu größeren Leistungen anspornen. Die Donauschwaben treten in seinen Schriften einerseits als die wirtschaftlichenWidersacher auf, andererseits als nachahmungswertes Vorbild. Er w ar kein Wissenschaftler, der bemüht w ar, seine Erkenntnisse wissenschaftlich-empirisch zu analysieren und v ergleichende F orschung zu betreiben. Gleichwohl sind seine Werke eine wertvolle Quelle und Fundgrube für die Fremdwahrnehmung der deutschen Bevölkerung in India und für die zeitgebundenen Formen interkultureller Kommunikation. Sie tragen damit zur Er forschung des Zusammenwirkens verschiedener ethnokonfessioneller Gruppen und zu Deutungsansätzen für sozioök onomische Prozesse in dieser damals südungarischen Region wesentlich bei.

7. Rezeption und Missbrauch der Werke von Markoviç Aus den o. g. Gründen ist es sachdienlich, abschließend einen kurzen Blick auf einen Aufsatz über die Werke von Radoslav Markoviç zu werfen. Es handelt sich um den Artikel „Wirtschaftskampf der Serben und Deutschen in den Arbeiten von Radoslav Mark oviç“ aus dem Jahr 1953 v on Ljubomir Iv anãeviç.44 Mark oviç w ar keine Nationalgröße, der sich mit den politischen Führern und bedeutendenWojwodiner Serben wie Svetozar Miletiç (1826 – 1901), Mihajlo Polit Desan ãiç (1833 – 1920) oder Jaša Tomiç (1856 – 1922) messen konnte, so dass seine Werke wohl nur in diesem einen Aufsatz gewürdigt wurden. Der Beitrag beschäftigt sich kritisch mit zwei Monographien von Markoviç über India. Entsprechend der Entstehungszeit setzt sich der Beitrag kritisch mit der Zeit der Doppelmonarchie auseinander; das wurde in der damaligen jugoslawischen Historiographie als durchaus obligato44 I

VANâEVIå, Ljubomir: Ek onomska borba Srba i Nemaca u rado vima Radosla va Mark oviça [Ökonomicher Kampf zwischen den Serben und Deutschen in den Werken von Radoslav Markoviç]. In: Zbornik Matice srpske za društvene nauke, 6, 1953, S. 47–57.

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risch betrachtet. Das gleiche galt für die Bewertung der Donauschwaben, die ja nur kurz davor ein grausames Schicksal im Lande erlebt hatten. 45 Schließlich war der Artikel der marxistischen Ideologie verpflichtet; historische Deutungsmodelle mussten in Einklang mit der marxistischen Lehre über den Klassenkampf gebracht werden. So sah sich der Verfasser des Aufsatzes, Ivanãeviç, verpflichtet, weniger eine Analyse der Werke von Radoslav Markoviç vorzunehmen, als vielmehr eine national-marxistische Revision derselben durchzuführen. So behauptete er: „ÖsterreichUngarn führte mit allen Mitteln v olle zweieinhalb Jahrhunderte einen wirtschaftlichen und politischen Krieg gegen die Bevölkerung, die es dort vorgefunden hatte: Durch das kombinierte System der Ansiedlung, die feudal-leibeigenschaftliche Verknechtung und die kapitalistische Ausbeutung.“ Dabei hätten sich die habsb urgischen Herrscher der deutschen Be völkerung bedient, die alle möglichen Be günstigungen erhalten hätten. Der lokale Grundherr, Graf Pejaãeviç hätte die deutschen Ansiedler ebenso in ähnlicher Weise begünstigt.46 Außerdem, so Ivanãeviç, hätten die Donauschwaben günstige Kredite v on den Wiener und Budapester Geldinstituten bekommen und später auch von Banken aus dem Deutschen Reich, damit sie den serbischen Ackerboden aufkaufen könnten.47 Ivanãeviç beklagte entsprechend, dass Markoviç sehr wenig über diese angebliche Rolle der großen Wiener und Budapester Bank en hinsichtlich der „wirtschaftlichen Unterjochung unseres Volkes durch die Fremden“ geschrieben hatte.48 Diese Vorwürfe stammen aus der Zwischenkriegszeit, als in den serbischen und jugoslawischen nationalistischen Kreisen behauptet wurde, die Deutschen bekämen große Geldsummen aus dem Reich, um ihren Landbesitz zum Nachteil der Südslawen auszudehnen – alles im Dienste der großdeutschen imperialistischen Idee.49 Solche Verlautbarungen aus der Zwischenkriegszeit fanden ihren Niederschlag auch in der k ommunistischen jugosla wischen Geschichtsschreib ung nach dem Zweiten Weltkrieg,50 konnten aber nie bewiesen werden.51 Die lokalen wirtschaftlichen Verdrängungsprozesse sieht Iv anãeviç in einem viel breiteren K ontext von 45 Vgl. JANJETOVIå, Zoran: Between Hitler and Tito. The Dissapearance of the Vojvodina Ger mans. Zweite Auflage. Belgrade 2005; Das Schicksal der Deutschen in Jugoslawien. Eine Dokumentation. Hg. vom ehemaligen Bundesministerium fürVertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. (Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, Bd. 5), Sonderausgabe. Augsburg 1994. 46 I VANâEVIå, (wie Anm. 44), S. 47–48, 51. 47 Ebd., S. 48. 48 Ebd., S. 51. 49 J ANJETOVIå, Zoran: O širenju zemljoposeda v ojvođanskih Nemaca izme đu dv a sv etska rata [Über die Vermehrung des deutschen Landbesitzes in der Zwischenkrie gszeit in der Wojwodina]. In: Godišnjak za društvenu istoriju, 5, 1–3, 1998, S.101–111, hier S. 101–102. 50 B IBER, Dušan: Nacizem in Nemci v Jugosla viji 1933–1941 [Nazismus bei den Deutschen in Jugoslawien 1933–1941]. Ljubljana 1966, S. 203; MESAROŠ, Šandor: Mađari u Vojvodini 1929– 1941 [Ungarn in der Wojwodina 1929–1941]. Novi Sad 1989, S. 156. 51 G AåEŠA, Nikola: Nemci u agrarnoj reformi i vlasništvu obradivog zemljišta u Vojvodini 1919– 1941 [Die Deutschen in der Agrarreform und ihr Eigentum am Ackerland in der Wojwodina 1919–1941]. In: D ERS.: Radovi iz agrarne istorije i demografije. Novi Sad 1995, S. 286–308, hier S. 301; BIBER, (wie Anm. 51), S. 386.

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Konflikten der Deutschen mit ihren Nachbarvölkern.52 Er stellte den Vorgang damit in einen größeren Rahmen, den Markoviç so nie in seine Betrachtungen mit einbezogen hatte. Obzwar Ivanãeviç die statistischen Angaben von Markoviç zitierte und sie bezüglich India anführte, so kritisierte er doch die Methode v on Markoviç und die daraus gezogen Schlussfolgerungen. Er warf Markoviç vor, dass er den breiten Kontext der Entwicklung der Weltwirtschaft aus den Augen verloren habe, der auch die Lage in India beeinflusst habe und kritisierte das Fehlen der Auswirkungen des kapitalistischen Systems. 53 Damit ging die Be wertung über die Interpretation der Konjunktur für landwirtschaftliche Produkte hinaus. Seiner antideutschen Haltung folgend, führte er die Gründung des Bauern vereins in Temeswar (Timi≥oara) 1891 als Beispiel dafür an, wie solche Zusammenschlüsse den Donauschw aben die „Landeroberung“ ermöglichen sollten. 54 Dabei vergaß er, dass zu jener Zeit die deutsche Grundbesitzv ergrößerung in India f ast abgeschlossen war. Doch wesentlich härter fiel seine Kritik an Markoviç über die „Selbstanklagen“ aus, wie er die v on dem Indiaer Priester ausgeübte nationale Selbstkritik bezeichnet.55 Er lehnte die Existenz „nationaler“ Eigenschaften wie Faulheit oder Fleiß ab. Falls diese überhaupt existierten, seien sie eine Folge der „Wirtschaftsgrundlagen“ bestimmter Völker.56 Besonders scharf kritisierte er Markoviç, da dieser angeblich zwei Tatsachen völlig außer Acht gelassen hatte: Einerseits die K onkurrenz der freien, aber sehr armen ungarischen Landarbeiter , die ihre Arbeitskraft der Herr schaft billig verkauft hätten und damit die Löhne der serbischen Arbeiter niedergedrückt hätten. Andererseits, so Ivanãeviç, sei Österreich-Ungarn ein militaristischer Staat gewesen, so dass die K osten für die Ausrüstung und Kriege von den steuerlichen Abgaben der Bauern gedeckt werden mussten.57 Allerdings erklärte er dabei nicht, w arum durch die ungarischen Landarbeiter nur die Löhne der serbischen, nicht aber der deutschen Landarbeiter gesenkt w orden seien und weshalb nur die Bauern (und nicht die Mitglieder anderer Sozialschichten), die K osten des Militarismus hatten zahlen müssen. Noch weniger einsichtig ist das Fehlen einer Erklärung, warum deutsche Bauern von diesen Lasten verschont geblieben seien, zumal sich aus der Agrarverfassung keine Unterschiede ergaben. Vielleicht beabsichtigte er zu suggerieren, dass dies eine Folge der unterstellten allgemeinen Begünstigung der Deutschen gewesen sei. Damit aber wird deutlich, dass die Kritik von Ivanãeviç schwerlich auf nachvollziehbaren Tatsachen beruht, sondern Resultat seines Bemühens war, die Werke des Priesters nach klassenkämpferischen und oberflächlichen Maßstäben marxistischer Ideologie zu bewerten.

52 I VANâEVIå, (wie Anm. 44), S. 49. 53 Ebd., S. 51. 54 Ebd., S. 51. 55 Ebd. Er wirft das Gleiche f ast allen serbischen Autoren (z. B. Dimitrije Ruvarac, Ðorđe Natoševiç usw.) des 19. Jahrhunderts vor. 56 Ebd., S. 51. 57 Ebd., S. 52.

„Kolonisationsgesetz“ und „Kolonats“-Reform: Defensiver Konservatismus und agrarische Struktur politik in Zentraleuropa um 1900 Günter Schödl Agrarische Strukturpolitik zwischen sozialemWandel und Nationalismus, zwischen wirtschaftlichem Krisendruck und defensi vem K onservatismus: für die systematische Erörterung dieses Zusammenhangs sollen die folgenden Ausführungen über die preußische Pro vinz Posen und über das österreichische Kronland Dalmatien einige komparative Anregungen vermitteln. Zwar handelte es sich um zwei zunächst sehr verschieden anmutende Erscheinungsformen agrarischer Strukturpolitik. Zum einen um Bismarcks Initiati ve von 1886, die agrarische Besitz- und nationale Bevölkerungsstruktur des preußischen Ostens durch eine Erneuerung der friderizianischen „Inneren Kolonisation“, durch ein „K olonisationsgesetz“1, von Grund auf zu verändern. Zwei Jahrzehnte später – zum anderen – unternahm die Habsburgermonarchie Vergleichbares: die cisleithanische Re gierung Beck w ollte durch eine Reform des „K olonats“ gleichermaßen Agrarordnung und politische K ultur der südslawischen Konfliktzone, ein ganzes Kronland in staatlicher Regie sanieren. Gemeinsames, ein Ansatzpunkt vergleichender Betrachtung mithin, tritt zuTage, wenn die Frage nach dem politischen K ontext gestellt wird. So wird es im F olgenden darum gehen, die Einbindung agrarischer Strukturpolitik in anderen Zusammenhängen, in diesen beiden Fällen so wohl von aggressivem Nationalismus wie v on defensivem Konservatismus, zu erörtern. Im Falle der preußischen Provinz Posen ist zunächst auf jene Veränderungsdynamik hinzuweisen, die seit dem frühen 19. Jahrhundert unter dem Eindruck v on napoleonischer Herausforderung, preußischem Reformwerk und Industrialisierung zustande gekommen ist. Aber die Entwicklung der preußischen Ostprovinzen bleibt hinter derjenigen Preußens bzw. des Deutschen Reiches insgesamt zurück.Was sich vor allem seit der Agrarkrise der siebziger Jahre demographisch als massenhafter Abwanderungsverlust, agrarpolitisch als überlebte Prärogative einer gutsbezogenen Besitzordnung und wirtschaftlich als Festhalten am tendenziell k onkurrenzunfähigen Getreideanbau erweist, nimmt im späten 19. Jahrhundert Systemcharakter an: es wird während der späten Bismarck-Ära in den Kategorien staatlicher Autorität, danach während der Wilhelminischen Ära in den Kategorien deutschnationaler Vergemeinschaftung w ahrgenommen. Und auf nationalismustypische Weise aggressiv-paranoid codiert wird es als polnische, sla wische, überhaupt rassische Gefahr wahrgenommen. Das reformerische, das Veränderungspotenzial der zeitgenössischen etatistisch-bürokratischen, der staatssozialistischen und der liberal-genossenschaftlichen Debatten über „Innere Kolonisation“ wird jedoch seit den neunziger Jahren regelrecht absorbiert: sei es durch die Umdeutung demographisch-ök ono1 zit.

WEHLER, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 3. Bd. München 1995, S. 964.

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Günter Schödl

mischer Sachverhalte zu abhängigen Funktionen nationaler bzw . rassischer K onkurrenz, ebenso des agrarischen Strukturproblems zu einer Machtfrage; sei es durch die macht- und rassebezogene Übersetzung einer agrar - und be völkerungspolitischen Strukturdebatte in die Sprache „völkischer“ Teleologie. Ähnlich eskapistisch wie diese „völkische“Weiterentwicklung einer etatistischautoritären Minderheits- und Agrarpolitik in P r e u ß e n erscheint die Reaktion in der H a b s b u r g e r m o n a r c h i e auf analoge Phänomene krisenhafter Be völkerungsentwicklung und k onstitutiver agrarischer Reformdefizite im dalmatinischbosnischen Süden – auf der Ebene der cis- und transleithanischen Führungseliten – nicht wesentlich anders als auf derjenigen des politischen Massenmarktes. Es sind auch hier nicht nur die Wiener und Budapester Zentralstellen, die etw a im F alle Dalmatiens und Bosniens den Reformbedarf derAgrarverfassung, das ist von Kolonat und Kmetstv o als zentralem wirtschaftlich-gesellschaftlichem Problem, zu ignorieren oder nationalitätenpolitisch zu instrumentalisieren v ersuchen: seit etwa 1908, seit der bosnisch-herze gowinischen Annexionskrise, gilt dies weitgehend auch für die südslawischen Antagonisten einer selbstzweckhaft-irrationalen Nationalpolitik ohne soziale und kulturelle Logik. Auch wenn re gionale Instanzen, seit der Jahrhundertwende besonders in Dalmatien und den Küstenlanden die Statthalter, auf die drohende Unre gierbarkeit des Südens hinweisen; auch wenn ferner Kommissionen und wissenschaftliche Beiräte des österreichischen Ackerbau- und des Handelsministeriums anwendungsreife Reformprojekte v orlegen, – so wohl Problemanalyse wie Handlungsempfehlungen werden den k ommunikativen und taktischen Regeln eines vorgegeben-selbstreferentiellen Rituals politischer Administration unterworfen.

1. Der Fall Preußen-Deutschland: Krise und K onflikt in der Provinz Posen 1.1. Polenpolitik im Kaiserreich: Eine Skizze Die (preußisch-)deutsche Politik ge genüber der polnischen Minderheit hatte im Laufe des 19. Jahrhunderts zwar den ganzen Umfang der deutsch-polnischen Konfliktkonstellation vermessen. Sie wählte wechselnde Optionen. Da von zeugen ein wiederholter Wechsel von forcierter staatlicher Autoritätswahrung und konservativmoderatem Umgang mit der polnischen Politiküberlieferung, v on Repression und Hinwendung zur Symbiose. Unter den Bedingungen zweier paralleler , schwerlich kompatibler Nationalbe wegungen und schließlich der Einfügung Preußens samt seiner polnischen Be völkerung in einen deutschen Nationalstaat wurden zwei gegensätzliche Möglichkeiten deutscher Polenpolitik generiert. Der Primat v ollständiger Inte gration der polnischen Minderheit in den deutschen Nationalstaat einschließlich konsequenter Assimilation schien ebenso v orstellbar wie die Garantie einer grundsätzlichen Gleichberechtigung der deutschen Staatsbürger p o l n i s c h e r Nationalität und wie die Be wahrung nationaler Identität und polnischer Minder heitsexistenz im fremdnationalen Staat.

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Ohne dass es in den siebziger und achtziger Jahren zur ausdrücklichen Festlegung auf einen Zw ang zur Assimilation gek ommen wäre, be günstigte Bismarck nach 1871 doch diese Möglichk eit. Ohne Rücksicht auf die ge wachsenen symbiotischen Ansätze v erstärkte er zeitweilig den Inte grationsdruck und stilisierte das propagandistisch-taktische Verhalten polnischer Minderheitsexistenz zu einer „polnischen Frage“, seit den späten achtziger Jahren zu einer „polnischen Gef ahr“. Im Rahmen der „sekundären Inte gration“ wurde sie gezielt instrumentalisiert. Es ist nicht völlig auszuschließen, dass Bismarcks Polenpolitik, wenn sie 1890 nicht durch seinen Rücktritt unterbrochen w orden wäre, letztlich doch auf den Versuch einer regelrechten Entnationalisierung hinausgelaufen wäre: insofern auf „Germanisierung“, verstanden als staatlich-administrativ und sozial erzwungene Assimilation der Minderheit. Diese jüngst häufigere Einschätzung dürfte aber ebenso wie die mit ihr verbundene Begriffssprache – so der Begriff „Germanisierung“, der jene Nähe zur NS-Okkupation in Polen, die erst zu be weisen wäre, v on vorne herein nahe legt2 – schwerlich mit älteren Er gebnissen und Überlegungen der Forschung zu vereinbaren sein: so steht fest, dass Bismarcks Polenpolitik zeitweilig in andere politische Aktivitäten eingebunden war – in die Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche, ferner in sein Taktieren zwischen Nationalliberalen und Konservativen und schließlich in seine außenpolitische Rücksichtnahme auf den eher propolnischen Bündnispartner Habsburgermonarchie. Dies setzte insgesamt einer isolierten Verschärfung allein der Polenpolitik bestimmte Grenzen. Andererseits ist nicht zu übersehen: sprachen- und verwaltungspolitische Maßnahmen während des „Kulturkampfes“ begannen das kirchliche Leben der katholischen Bevölkerung zu behindern, im östlichen Preußen schränkten sie außer der freien Religionsausübung schrittweise auch die polnische Sprache in Bildungswesen und Verwaltung gravierend und systematisch ein.3 2

3

Zum Stand der Forschung u. a. SERRIER, Thomas: Provinz Posen, Ostmark, Wielkopolska. Eine Grenzregion zwischen Deutschland und Polen 1848–1914. Marb urg 2005; B OOCKMANN, Hartmut: Ostpreußen und Westpreußen. In: Deutsche Geschichte im Osten Europas, Bd. 1. Zweite Auflage. Berlin 2002; ROGALL, Joachim: Land der großen Ströme. In: Deutsche Geschichte im Osten Europas, Bd. 8. Zweite Auflage. Berlin 2002; Z ERNACK, Klaus: Preußen-DeutschlandPolen. Berlin 1991; SCHUTTE, Christoph: Deutsche Königliche Akademie in Posen 1903–1919, Phil. Diss. FU Berlin 2006; H AGEN, William W.: Germans, Poles and Je ws. The Nationality Conflict in the Prussian East, 1772–1914. Chicago, London 1980; MOLIK, Witold: The Poles in the Grand Duchy of Poznan, 1850–1914. In: K APPELER, Andreas (Hg.): Formation of National Elites. Dartmouth 1992, S. 13–37; K OWAL, Stef an: Społecze ƒstwo Wielkopolski i Pomorze NadwiÊlaƒskiego w latach 1814–1914 [Das Miteinander v on Großpolen und Pommern in den Jahren 1814–1914]. Poznaƒ 1982; NITSCHE, Peter. (Hg.): Preußen in der Provinz. Frankfurt M. 1991; M AIER, Robert/S TÖBER, Georg (Hgg.): Zwischen Abgrenzung und Assimilation: Deutsche, Polen und Juden. Hanno ver 1996; E LEY, Geoff: German Politics and Polish Nationality . In: DERS.: From Unification to Nazism. Reinterpreting the German Past. Boston 1988, S. 200– 228. Zu den „klassischen“ Positionen der Debatte über das „Germanisierungs“-Problem u. a. ROTHFELS, Hans: Bismarck und der Osten. Leipzig 1934; L AUBERT, Manfred: Deutsch preußische Polenpolitik von 1772–1914. Berlin 1920; G ALOS, Adam/GENTZEN, Felix-Heinrich/JAKÓBCZYK, Witold: Die Hakatisten. Berlin 1966; BROSZAT, Martin: Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik. Frankfurt M. 1972. Dazu jetzt S CHUTTE: Königliche Akademie (wie Anm. 2), bes. S. 26ff;

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Unabhängig von Bismarck und den Zielen deutscher Nationalpolitik ist aller dings auf Realität und Auswirkung der preußisch-deutschen Polenpolitik hinzuweisen: An welcher Zielsetzung auch immer gemessen, – sie blieb hinter all den möglichen Zielen zurück. Nicht nur, dass die – allerdings nicht durch Bismarcks Politik bewirkte – Entmachtung der adlig-klerikalen Führung der Minderheit k einen Entwicklungsstillstand verursachte, sondern dass sich allmählich eine neue, sehr viel agilere, bürgerlich-intellektuelle Elite bildete; hinzu kam, dass Bismarcks Druck auf die katholische Kirche und die sprachenpolitischen Repressionen – so schon 1872 durch das preußische Schulaufsichtsgesetz – sichtlich das Zusammengehörigkeitsbewusstsein der Minderheit, überhaupt deren Politisierung, sogar förderten. Nicht zufällig entstand seit 1875 das Netzwerk der polnischen Bauern vereine von Maksymilian Jack owski. Auch über den politisch-sprachlich-kirchlichen Bereich hinaus pro vozierte der deutsche Druck geradezu genossenschaftliche Vernetzung und nationalpolitische Basisarbeit der polnischen Be völkerung besonders in der Provinz Posen. Angesichts dieser durchaus ne gativen Ergebnisbilanz, zugleich als Er gänzung seiner antiliberalen K urskorrektur seit 1878 so wie einer folgerichtig-selbsttätigen Intensivierung der sog. „sekundären Inte gration“ lancierte Bismarck 1885/86 eine polenpolitische Initiative. Zunächst wurde am 26. März und 26. Juli 1885 die Ausweisung von mindestens 25.000 Polen und Juden ungeklärter, meist österreichischer und russischer Staatsangehörigk eit verfügt. Danach kam es am 26. April und 21. Juni 1886 zum Auftakt einer neuen Variante deutscher Polenpolitik, der sog. „Ansiedlungs-“ oder „Bodenpolitik“. Dass Bismarck diese seine Initiati ve gleichzeitig gegen agrarische Krisensymptome im Osten und gegen die „Polonisierung“, außerdem mit dem nationalliberalen Siedlungsk onzept des freien Bauerngutes k ombinierte, verweist auf eine weitere taktische Absicht, nämlich die Nationalliberalen als parlamentarische Bodentruppe gegen das Zentrum zu aktivieren.4 Das „Gesetz betreffend die Beförderung deutscher Ansiedlungen in den Provinzen Westpreußen und Posen“ von April 1886 wurde ergänzt durch die Schaffung einer „Ansiedlungskommission“. Diese sollte durch Ansiedlung deutscher Bauern in den beiden Provinzen den erkennbaren Trend zur Verringerung des deutschen Anteils an Grundbesitz und Be völkerung zu Ungunsten der polnischen Minderheit umk ehren. HAHN, Hans-Henning/KUNZE, Peter (Hg): Nationale Minderheiten und staatliche Minderheitenpolitik in Deutschland im 19. Jh. Berlin 1999; G LÜCK, Helmut I.: Die preußisch-polnische Sprachenpolitik. Hamburg 1979; K ORTH, Rudolf: Die preußische Schulpolitik und die polnischen Schulstreiks. (Marburger Ostforschungen, 23). Würzburg 1963; S MITH, Helmut Walser: German Nationalism and Religious Conflict. Princeton 1996; P OLCZY¡SKA, Edyta: Im polnischen Wind. Poznaƒ 1988. 4 Dazu WEHLER, Hans-Ulrich: Von den „Reformfeinden“ zur „Reichskristallnacht“. In: D ERS.: Krisenherde des Kaiserreichs 1871–1918. Studien zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte. 2. überarb. und erw. Aufl., S. 181–199. Die Zahl der Ausgewiesenen wird in der Literatur unterschiedlich, zwischen ca. 25.000 und 48.000, bezif fert. Wehler beispielsweise schwankt zwischen 32.000 (S. 186) und 48.000; D ERS.: Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 1), S. 963; DERS.: Gesellschaftsgeschichte. 3. Bd., dazu u. a. S. 934–965; N EUBACH, Helmut: Die Ausweisungen von Polen und Juden aus Preußen 1885/86. Wiesbaden 1971; M OMMSEN, Wolfgang J.: Das Ringen um den nationalen Staat. Berlin 1993, S. 598: Ca. 32.000 Ausweisungen.

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Eine Revidierung dieser Bismarckschen Polenpolitik unter dem Nachfolger Leo Graf Caprivi blieb Episode. Seit 1894 kam es zur polenpolitischen Rückkehr zu Bismarck, zur innenpolitischen Etablierung der wilhelminischen „Ostmarkenpolitik“. Diese verschärfte und k ombinierte Bismarcks sprachen-, v erwaltungs-, siedlungs- und wirtschaftspolitische Einzelmaßnahmen gezielt während der neunziger Jahre. Auch die massenmedial-propagandistische Begleitung erfuhr durch die nun entstehenden nationalistischen5 Verbände wie dem Alldeutschen Verband (ADV) und dem „Deutschen Ostmarkenverein“ (DOV) und durch die nationalliberal-k onservative Presse fortlaufende Radikalisierung und Intensivierung. Dies ist festzuhalten, ohne dass die Unterschiede etwa zwischen staatlich-administrativen und völkisch-nationalistischen Varianten der wilhelminischen Polenpolitik übergangen werden dürfen. Differenzierungen dieser Art sind auch Voraussetzung dafür, dass die wilhelminische Polenpolitik nicht allein aufgrund offensichtlicher verbaler und emotionaler Verschärfung, die sie vor allem seit 1908/09 erfuhr, vorschnell mit der rassistischbiologistischen Polenpolitik des „Dritten Reiches“ gleichgesetzt wird. Letztere kostete etwa sechs Millionen polnischen Staatsbür gern, davon ca. drei Millionen Juden, das Leben. Damit sie durch einen Vergleich mit den Verhältnissen vor 1914 nicht geradezu v erharmlost wird, ist darauf hinzuweisen, dass die wilhelminische „Ostmarkenpolitik“ anders geprägt war: trotz aller nationalistischen Arroganz und ihrer provokativ plumpen Praxis, trotz di verser rechtswidriger Vorstöße wahrte sie noch ein gewisses Maß an Rechtsstaatlichkeit; sie war jedenfalls weit entfernt von einem Verfolgungs- und Liquidierungsregime wie dem nationalsozialistischen während des Zweiten Weltkriegs. 1.2. Ethnodemographischer und wirtschaftlicher Wandel: Zur Genesis der „polnischen Frage“ Den politischen Schwerpunkt der polnischen Bevölkerung in Preußen – ca. 3,7 Millionen, d. h. ca. zehn Prozent der Gesamtbevölkerung – bildete die Provinz Posen6, 5 Dazu OLDENBURG, Jens: Der Deutsche Ostmark enverein 1894–1931. Berlin 2002; G RABOWSKI, Sabine: Deutscher und polnischer Nationalismus. Marb urg 1998; G ALOS/GENTZEN/JAKÓBCZYK: Hakatisten (wie Anm. 3); S CHÖDL, Günter: Alldeutscher Verband und deutsche Minderheitenpolitik in Ungarn 1890–1914. Zur Geschichte des deutschen „extremen Nationalismus“. Frankfurt, Bern, Las Vegas 1978, bes. S. 13–27, 233–246; K ORINMAN, Michel: „Deutschland über alles.“ Le pangermanisme 1890–1945. Paris 1999, u. a. S. 61–67. 6 Neben den noch immer anre genden zeitgenössischen Studien v on B ERNHARD, Ludwig: Das polnische Gemeinwesen im preußischen Staate. Leipzig 1910 2 und M ITSCHERLICH, Waldemar: Der Einfluß der wirtschaftlichen Entwicklung auf den ostmärkischen Nationalitätenkampf. Leipzig 1910 u. a. SERRIER (wie Anm. 2) und JAWORSKI, Rudolf: Handel und Gewerbe im Nationalitätenkampf. Göttingen 1986; S PICKERMANN, Roland: Germans among Poles. Ethnic rivalry, economic change and political mobilization in the Bromber g Administrative District 1885– 1914. Ann Arbor, Mich. 1994; TRZECIAKOWSKI, Maria/T RZECIAKOWSKI, Lech: W dziewi´tnastowiecznym Poznaniu ˝ycie codzienne miasta 1815–1914 [Posen im 19. Jh. Der städische Alltag von 1815 – 1914]. Pozna ƒ 1982; U NRUH, Georg-Christoph von: Provinz Posen. In: H EINRICH, Gerd (Hg.): Verwaltungsgeschichte Ostdeutschlands 1815–1945. Stuttgart u. a. 1992, S. 362–

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wo sie 1910 einen Anteil von 67 Prozent auswies, w as ca. 900.000 Personen entsprach. Obw ohl sich Technisierung, Ertragszuw achs und sozialer Wandel in der Provinz Posen weniger als etw a in Oberschlesien oder Danzig beschleunigten, zeichneten sich doch markante Veränderungen ab. Zunächst ist in aller Kürze auf jenen Zusammenhang v on sozialem Wandel, Massenpolitisierung und nationaler Solidarisierung im russischen und österreichischen Teilgebiet hinzuweisen, dessen Entf altung zu den e xternen Gestaltungsfaktoren der Entwicklung in den polnischen Gebieten Preußens gehörte. 7 Was die polnischen Gebiete im Russischen Kaiserreich betrif ft, setzte sich ein zw ar verzögerter und ungleichmäßiger , aber doch wirkungskräftiger sozialer Wandel durch. So wuchs die Be völkerung zwischen 1863 und 1897 v on fünf auf 9,4 Millionen, wobei sich die Stadtbe völkerung allein zwischen 1890 und 1905 um 63 Prozent vergrößerte, die Einw ohnerzahl von Warschau und Lodz als Zentrum der be ginnenden Industrialisierung zwischen 1870 und 1910 auf 764.000 bzw . 424.000 nahezu v erdrei- bzw. v erzehnfachte; es entstand eine be wusst polnische, selbsttragende unternehmerische Initiative, die allerdings nicht gesamtpolnisch, sondern auf den gesamtrussischen Markt ausgerichtet war. Ungünstig für eine flächendeckende politisch-kulturelle und nationalpolitische Solidarisierung der polnischen Bevölkerung im Russischen Reich waren u. a. die zählebigen Entwicklungsunterschiede im Verhältnis zwischen Agrar- und Industrie wirtschaft, desgleichen die im Vergleich mit dem preußischen Teilgebiet signikati v unterentwick elten kulturellen Bedingungen nationalpolitischer Aktivierung. Dies ist an Details wie dem hohen Analphabetenanteil von 65 Prozent ebenso abzulesen wie an der Verringerung der Elementarschulen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts von ca. 9.200 auf 3.700. Die De-Agrarisierung, wie sie in einigen Gebieten urban-demographischerVerdichtung zustande kam, und die gesamtpolnisch-nationale Politisierung, die im Sinne v on „Warschauer Positivismus“ und „Basisarbeit“ besonders der Piłsudski-Sozialisten und Nationaldemokraten u. a. durch die re volutionären Erschütterungen 1905 auf die Tagesordnung rückte, erwiesen sich als nicht wirkungsmächtig genug, um „K ongresspolen“ zum „Piemont“ eines grenzübergreifenden Reform- und nationalen Integrationsprozesses avancieren zu lassen.

7

474.; BLANKE, Richard: Prussian Poland in The German Empire 1871 – 1900. New York 1981; Zu Westpreußen und Galizien S CHATTKOWSKY, Ralph/M ÜLLER, Michael G. (Hgg): Identitätswandel und nationale Mobilisierung in Re gionen ethnischer Di versität. Marb urg 2004; zur preußischen Nationalitätenstatistik B ELZYT, Leszek: Sprachliche Minderheiten im preußischen Staate 1815 – 1914. Marburg 1998. Im Folgenden besonders nach SCHÖDL, Günter: Nationsbildung und Minderheitenexistenz: Vergleichende Beobachtungen zur politisch-gesellschaftlichen Modernisierung im östlichen Eur opa. In: D ERS.: Formen und Grenzen des Nationalen. Erlangen 1990, S. 1–48, bes. 27 ff.; Batowski, Henryk: Die Polen. In: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hgg): Die Habsb urgermonarchie 1848 – 1918. Bd. III, Wien 1980, S. 522–554; MITSCHERLICH, Waldemar: Die Polenfrage. Der Nationalitätenkampf der Polen in Preußen. München, Leipzig 1920; R ADZYNER, Joanna: Stanisław Madeyski 1841 – 1910. Ein austro-polnischer Staatsmann im Spannungsfeld der Nationalitatenfrage in der Habsburgermonarchie. Wien 1983; LEITSCH, Walter/TRAWKOWSKI, Stanisław (Hgg): Polen im alten Österreich: Kultur und Politik. Wien 1993.

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Im österreichischen Teilgebiet hatten De-Agrarisierung und Urbanisierung samt kultureller Aktivierung und politischer Be wusstseinsbildung noch weniger eine Chance als im Russischen Reich. Zw ar waren die gesamtstaatlich-politischen Rahmenbedingungen polnischer Interessen un vergleichlich günstiger als in den beiden anderen Teilgebieten. Aber gerade deswegen, gerade wegen der engen Anbindung der galizischen großagrarischen und status quo-fixierten Führungsschicht an Dynastie und österreichische Re gierung unter dem Vorzeichen des „Eisernen Ringes“, gelang weder agrar - noch nationalpolitisch eine reformerische Überbrückung des Abstands zwischen Adel und bäuerlicher Be völkerungsmehrheit. Als weiterer Grund einer geradezu strukturellen status quo-Bindung erwies sich das wachsende Be wusstsein, dem Emanzipations- und Veränderungsdrängen der nahezu 40prozentigen ukrainischen Minderheit keinerlei Raum geben zu dürfen. Das Bewusstsein, einer ukrainischen „Gef ahr“, jedwedem Krisen- und Veränderungsdruck überhaupt, ausweichen zu müssen, verfestigte eine grundsätzliche Disposition contra Wandel und Reform. Darüber hinaus schuf es einen Bedarf für Verdrängung und k ollektive Selbsttäuschung. Ähnlich wie in den beiden anderen Armenhäusern der Habsburgermonarchie – im Nordosten bei den Rumänen, im Südosten bei den Südslawen – zeigte sich in Galizien die Tendenz zu Nationalismus als er satzweiser, sekundärer Integration und zu agrarischem Populismus, zu Antisemitismus und Antiukrainismus als integrativer Visualisierung einer polnischen Nation. Im Deutschen Reich bot sich die Lage der polnischen Minderheit zur gleichen Zeit ganz anders, sehr viel positi ver dar. Zwar wogen die Enttäuschung durch eigene nationalpolitische Niederlagen und schließlich ab 1867/71 die Minderheitsund Randexistenz in einem fremdnationalen Staat sicherlich schwer . Aber in der Mitte der 1880er Jahre wurde Bismarcks Polenpolitik – die Taktik von negativer Stereotypisierung der Polen bis zu alltäglich-administrati ver Repression, die meistens „nur“ Mittel zu ganz anderen innenpolitischen Zweck en war und auch re vidierbar erschien – im Zusammenhang der Ansiedlungspolitik auf neue Weise systematisiert und verschärft. Und dennoch kündigte sich eine Wende zum Besseren an. Nicht nur, dass zwischen 1870/71 und 1910 im Westen Preußens bei der Industrialisierung des Ruhrgebietes ein mindestens 400.000 Polen umf assender Siedlungsschwerpunkt entstand und damit die polnische Abwanderung nach Übersee gebremst wurde. Industrialisierung und „Landflucht“ führten außerdem zu verstärkter Abwanderung von Deutschen aus Ostelbien, sodass die ostelbische Landwirtschaft z. B. im Jahre 1910 ca. eine Million teilweise polnischer Arbeitskräfte aus Russland und Österreich ins Deutsche Reich holte. Die allgemeine Be völkerungsbewegung im Osten er gab einen für die deutsche Staatsnation tendenziell ne gativen Saldo. 8 Von den Provinzen Schlesien, Ostpreußen und Posen wiesen bis 1914 nur letztere sowie der schlesische Regierungsbezirk Oppeln eine polnische Mehrheit auf.

8

Zum Zusammenhang B ADE, Klaus J. u. a.: Auswanderer – Wanderarbeiter – Gastarbeiter . 2 Bde. Ostfildern 1986; DERS. (Hg.): Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. München 19933.

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Günter Schödl

1890: deutsch/ polnisch

1900: deutsch/ polnisch

1910: deutsch/ polnisch

Marienwerder (Provinz Westpreußen)

83/14 %

85/13 %

84/13 %

Bromberg (Posen)

51/49 %

50/50 %

50/50 %

Posen (Posen)

35/65 %

33/67 %

32/67 %

Oppeln (Schlesien)

40/55 %

41/52 %

45/48 %

Abb. 1: Deutsche und polnische Bevölkerung im Deutschen Reich (nach Muttersprache)9

Der Entschluss Bismarcks zur Ausweisung ausländischer Polen, 10 die im wesentlichen zwischen Februar 1885 und Ende 1887 stattf and, war durch seine Moti vierung Ausdruck des mehr oder weniger antipolnischen Umdenk ens in der preußischen und deutschen Regierung. Zwar kritisierte der Reichstag mit großer Mehrheit diese Ausweisungen im Januar 1886 als „nicht gerechtfertigt“. Aber bereits vorher hatte Innenminister Robert v on Puttkamer im Mai 1885 im preußischen Landtag mit dem Hinweis, es gehe um die „Sicherheit des Staates“ und um Belange des „Fortschrittes deutscher K ultur“ im Osten, 11 den neuen polenpolitischen Ton angeschlagen; eine nationalistisch-v olksbezogene Entgrenzung bloßen staatlichen Autoritätsdenkens wurde nun auch öffentlich vernehmbar, während sie bisher eher nur intern – exemplarisch in einem Schreiben von Kultusminister Gustav von Gossler an den o. g. Innenminister vom 11. März 1885 – üblich gewesen war: „auch die von der polnischen Agitation unberührten Massen stören unseren staatlichen Organismus dadurch, dass sie Grenzpro vinzen polonisieren, während die Germanisierung unsere Aufgabe ist.“12. Es zeugt aber von der mittlerweile erreichten Politisierung der polnischen Bevölkerung in den östlichen Provinzen, die sich jedoch noch nicht als kompakte Minderheit formiert hatte, dass sie derlei staatliche Überreaktionen überhaupt hervorzurufen imstande war – noch mehr, dass diese ihre beschleunigte Entfaltung nicht zu bremsen vermochte. In der Provinz Posen provozierte der paranoid-aggressive Aktionismus der preußischen Re gierung selbst – ganz im Sinne einer „self-fulfilling prophecy“ – eben jene nationale Politisierung und wirtschaftlich-gesellschaftlich9 Nach u. a. R HODE, Gotthold (Hg.): Die Ostgebiete des Deutschen Reiches. Würzburg 1957, S. 81–84 und BROSZAT (wie Anm. 3), S. 145 f. Die außerordentlich niedrige Zahl von Zweisprachigen wird hier nicht angegeben. Der Anteil von Juden an der Bevölkerung der Provinz Posen sank zwischen 1890 und 1910 von 2,5 auf 1,3 Prozent, das entspricht 26.500 Personen; SERRIER (wie Anm. 2), S. 25. 10 Dazu NEUBACH (wie Anm. 4). 11 Zit. BROSZAT (wie Anm. 3), S. 146. 12 Zit. BROSZAT (wie Anm. 3), S. 147.

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kulturelle Solidarisierung der Polen. Vor allem unter dem Eindruck der bismarckschen Intensivierung der Polenpolitik setzte sich in großen Teilen der polnischen Bevölkerung eine Tendenz zur Selbstorganisation durch – zur genossenschaftlichen Integration jedes Minderheitsangehörigen „v on der Wiege bis zur Bahre“: insgesamt zwar eher ohne als offen gegen den Staat, aber mehr und mehr mit dem Ziel eines polnischen Gemeinwesens im preußisch-deutschen Staat, einer autarkiebezogenen Parallelgesellschaft. Die Fortsetzung der Polenausweisungen von 1885 bis 1887 durch die bismarcksche Ansiedlungspolitik versorgte diese Aktivierung der polnischen Selbstorganisation erst mit dem charismatischen Notwehrargument. Hier wie auf der anderen, der staatlichen Seite wirkte es sich verhängnisvoll aus: es beschleunigte jene Emotionalisierung und Lagerbildung, jene Spiralbewegung gegenseitiger Fehlwahrnehmung und kollektiver Verfeindung, die sich bis in den ZweitenWeltkrieg, Vertreibung und Kalten Krieg fortsetzen sollte. Die Notwehrargumentation war auch in der Motivierung der preußisch-deutschen Ansiedlungspolitik seit 1886 enthalten: „umfassende Abwehrmaßnahmen“ seien nötig ge gen „das Vordringen der durch Sprache und Sitte dem preußischen Staatswesen innerlich entfremdeten polnischen ommisNationalität“13. Eine staatliche Behörde, die preußische „Ansiedlungsk sion“ in Posen, sollte polnischen Grundbesitz, v orrangig den Großgrundbesitz der bisherigen aristokratischen Führungsschicht, aufkaufen. Man gedachte mit staatlicher Finanzierungshilfe auf den zu bildenden Teilgrundstücken deutsche Bauern anzusiedeln – sei es in der Form von Eigentum oder mit staatlicher Vorfinanzierung als „Rentengut“ oder in Zeitpacht. Obw ohl im Reichstag v or allem Zentrum und Linksliberale ge gen die Verletzung der Rechtsstaatlichk eit protestierten, obw ohl außerdem zwischen 1848 und 1878 nicht der polnische, sondern der deutsche Großgrundbesitz in der Pro vinz Posen zugenommen hatte, setzte sich Bismarcks Notwehrargument durch. Erreicht werden müsse – so in der F ormulierung des Landwirtschaftsministers Robert Freiherr von Lucius im preußischen Abgeordnetenhaus am 22. Februar 1886 – darüber hinaus, dass nicht nur der Besitzfläche, sondern auch der Be völkerungszahl nach eine strate gische deutsche Mehrheit her gestellt werde14. Sicherlich war dies eine Zieldefinition, die aus dem traditionellen preußischen, staatlichen Autoritäts- und Lo yalitätsanspruch ein Stück weit abgeleitet werden konnte. Aber damit, auch mit der Rechtsstaatlichkeit, sicherlich nicht mehr kompatibel war, dass der Staat seine landwirtschaftliche Strukturpolitik nationalpolitisch, wenn auch noch nicht „völkisch“ oder sogar biologistisch-rassistisch dimensioniert begründete. Desgleichen nicht, dass nach eben diesem Kriterium der Staat bestimmten Teilen der Bevölkerung einen minderen Status zuschrieb . Die am 7./15. April 1886 in Abgeordnetenhaus und Herrenhaus angenommene Re gierungsvorlage für das Ansiedlungsgesetz brachte dies zum Ausdruck: „Der Staatsre gierung wird ein F onds von 100 Millionen Mark zur Verfügung gestellt, um zur Stärkung des deutschen Elements in den Provinzen Westpreußen und Posen gegen polonisie13 Ebd., S. 151. 14 Ebd., S. 152.

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rende Bestreb ungen durch Ansiedlung deutscher Bauern und Arbeiter 1. Grundstücke käuflich zu erwerben …“15. 1.3. Agrarische Strukturpolitik und nationale Konkurrenz: Von der Bismarck’schen zur wilhelminischen Polenpolitik Zum be vorzugten Demonstrationsobjekt dieser Art nationalisierter agrarischer Strukturpolitik des Staates avancierte die Provinz Posen. Sie erwies sich nun auch als politischer Brennpunkt der deutsch-polnischen Auseinandersetzung. Auf einem allgemeinen Entwicklungsniveau zwar noch nicht wie das angrenzende Schlesien und wie Danzig angelangt, sondern eher wie Teile der böhmischen Länder oder der slowenisch-kroatischen Gebiete und des westlichen Ungarns, erfuhr es doch beträchtliche Veränderungen durch Technisierung der Landwirtschaft, durch Ertragswachstum und sozialen Wandel überhaupt. Die Technisierung etwa zeigte sich im landwirtschaftlichen Detail darin, dass Dampfpflüge und chemische Düngung mit entsprechenden Ertragssteigerungen schneller als sonst ir gendwo in Preußen zunahmen. Der K ornexport allein zwischen 1887/94 und 1906/09 v erdoppelte sich und der Hektarertrag bei Roggen und Kartof feln stie g zwischen 1879/83 und 1909/13 um das 2,3– bzw. 2,8–fache. Der komplementäre Anstieg der Bodenpreise – zwischen 1886 und 1912 v on 568 auf 1600 Mark pro Hektar 16 zeugte da von ebenso wie der Wandel der agrarischen Besitzstruktur: derAnteil des Großgrundbesitzes, der durch Teilverkäufe etc. saniert werden konnte, sank zwischen 1882 und 1906 von nahezu 60 auf 45 Prozent; der Bauernhof anteil dagegen stieg zwischen 1882 und 1914 von ca. 29 auf 47 Prozent, von 48.500 auf 63.800 Hofstellen, während die Zahl ausgesprochen kleiner Höfe (unter 5 ha) zwischen 1882 und 1907 nur von 114.500 auf 139.000 stieg. In der Konsequenz des agrarischen Strukturwandels und der Technisierung lag eine Tendenz zum Großbetrieb und zur betriebswirtschaftlichen Rationalisierung. Diese musste sich als Widerspruch zu den Grundsätzen der Bismarckschen Ansiedlungs- und Polenpolitik auswirk en: anders als der durchschnittliche Familienbauernhof bedurfte der Großbetrieb f r e m d e r Arbeitskräfte, die dem polnischen Potenzial zu geringeren Kosten als dem deutschen – ohnehin abwandernd – entnommen werden konnten, ganz abgesehen von dem nationalpolitisch unerwünschten Arbeitskräftezuzug aus Russland und Galizien. Auch das Wachstum der bäuerlichen Konsumkraft wirkte sich insofern problematisch aus: sie stärkte den ge werblich-kommerziellen Mittelstand in den kleinen Landstädten. Im Zeichen der seit K ulturkampf und Ansiedlungspolitik forcierten nationalen Segregation zwischen Polen und Deutschen be günstigte dies den polnischen Aufholprozess. Dieser schritt in puncto ge werblich-genossenschaftlicher Mobilisierung, Urbanisierung und Mittelstandsbildung zügig voran: zwischen 1871 und 1890 verschob sich in den Re gierungsbezirken Posen und Bromber g das Ver15 Zit. BAIER, Roland: Der deutsche Osten als soziale Frage. Köln, Wien 1980, S. 59. Zur Ansiedlungspolitik die zeitgenössische Bilanz der preußischen Ansiedlungskommission: Zw anzig Jahre deutsche Kulturarbeit. Berlin 1907. 16 Dazu SCHÖDL, Nationsbildung (wie Anm. 7), S. 31–34.

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hältnis von Stadt- und Landbe völkerung von 28:72 bzw . 27:73 zu je weils 34:66. Entgegen den nationalpolitischen Grundsätzen der Bismarckschen Polenpolitik erzielte dieser soziale und wirtschaftliche Wandel der Pro vinz Posen als ganzer auf polnischer Seite größere Entwicklungs- und K onkurrenzvorteile als auf deutscher Seite. So gestaltete sich die Sanierung des polnischen Großgrundbesitzes erfolgreicher, so wuchs die Zahl ge werblich-industrieller Arbeiter auf polnischer Seite schneller als auf deutscher, ähnlich wie der Anteil polnischer Handwerker und Unternehmer. Dass die sehr viel höhere natürliche Wachstumsrate der Polen bevölkerungsstatistisch nicht voll zum Tragen kam, lag lediglich an der hohen Abwanderung. Insgesamt zeigte sich am Ausgang des Jahrhunderts in der Provinz Posen: die Leistungsbilanz des polnischen und die des deutschen Be völkerungsanteils konnte – entgegen der Aufgabenstellung der Ansiedlungspolitik – nicht zentral und nicht von oben bestimmt werden. Diese zwar nicht alternativlos-automatische, aber keineswegs politisch voll und ganz machbare Tendenz des deutsch-polnischen Verhältnisses zu Segregierung und deformierter Wahrnehmung, zur „epistemologischen Katastrophe“ (Karl W. Deutsch) als Initialphase v on Verfeindung und k ollektiver Aggressivität griff von der strukturellen Sphäre über auf die politisch-kulturelle. Der intensi vierte soziale Wandel trieb eine umfassende Fundamentalpolitisierung an. Diese sorgte ihrerseits für eine politisch-soziale Selbstorganisation der polnischen Minderheit und für einen neuen Schub nationaler Inte gration. Verbunden damit w aren diverse Teilvorgänge und Varianten dieses Prozesses: ein Elitenwechsel, der die adelskonservative Führung der Minderheit allmählich durch bürgerliche „Nationaldemokraten“, auch durch einen sozial-nationalen Klerus ersetzte. Intensi vierung und Radikalisierung in bürgerlich-nationalem Sinne ge wannen allmählich inhaltlich-politisches Profil. Und zugleich or ganisatorisch-finanzielle Gestalt durch ein eng v erzweigtes Netz nationaler Vereine und Genossenschaften, das seit der Mitte des 19. Jahrhunderts im Entstehen be griffen w ar. Dieses programmierte eine weitgehend autochthone politische Kultur der Polen in der Pro vinz Posen. Es w ar weniger zu gesamtpolnischer Inte gration und parteipolitisch-ideologischem Pluralismus disponiert als zur Formierung einer defensi v-autarken Einheitsorganisation, – zur „Einigelung“ der polnischen Be völkerung in der noch weitgehend agrarisch-kleinstädtisch geprägten Provinz Posen. Der v on oben politisch pro vozierte und v on unten sozial fundierte Verdrängungswettbewerb zwischen Deutschen und Polen, wie er in der Mitte der achtziger Jahre unter den Bedingungen v on Bismarcks antiliberaler K urskorrektur möglicherweise unumkehrbar wurde, setzte zwar noch keine gesamtpolnische Nationalbewegung i. e. S. in Gang. Dennoch kam schon v or dem Ersten Weltkrieg eine Intensität staats- bzw. grenzüberschreitender nationaler Bewusstseinsbildung der Polen zustande, wie dies bei den Südslawen inner- und außerhalb der Habsburgermonarchie nicht möglich w ar. Dies mag auf ein höheres Maß ge wachsener politischkultureller und k onfessioneller Inte gration zurückzuführen sein. Vielleicht noch mehr auf die zügigere strukturelle Angleichung per De-Agrarisierung: agrarischer Strukturwandel und signifikanter Bedeutungsschwund des agrarischen Sozialmilieus haben im polnischen Falle mehr als im südslawischen und sicherlich wiederum

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mit großen regionalen Unterschieden die nationale Zusammengehörigk eit ins kollektive Bewusstsein gehoben. Dies sollte allerdings nicht im Nachhinein mit der anonym-elementaren Dynamik „logischer“ nationaler Staatsbildung gleichgesetzt werden. Möglicherweise lie gt es an nach wie v or unzureichend reflektierter, womöglich sogar tabuisierter Selbstbeschränkung der Geschichtsschreibung, dass das offensichtliche Defizit an Binnendynamik nationaler Staatsbildung bisher wenig erörtert worden ist. In v orauseilendem Gehorsam ge genüber einer historical cor rectnes stößt man sich offensichtlich noch immer – und zwar eher rituell-oberflächlich als sachlich fundiert – am bloßen Augenschein der Ähnlichkeit dieser Überlegung mit völkisch-nationalsozialistischen Dogmen einer „rassischen“ Unfähigk eit der ostmitteleuropäischen Völker zur Nationalstaatsbildung. 17 Möglicherweise wurde und wird dabei v on beiden Seiten, der deutschen wie der ostmitteleuropäischen, etwas fast Anstößiges verdrängt: die polnische, besonders im Falle Großpolens, mehr noch die benachbarte tschechische Nationalbewegung hatten eben nicht nur den eigenen, den polnischen bzw. tschechischen nationalen Diskurs als Gestaltungsimpuls, sondern auch den deutschen. Letztlich stellt sich hier die Frage einer gemeinsamen Distanz sowohl der deutschen Nationalbewegung wie der ihr benachbarten ostmitteleuropäischen Phänomene ge genüber dem westlichen Nationalstaatsmodell als vorgeblich „logischer“ Realisierung des Nationalen überhaupt. Dieses Bewusstsein des Künstlichen und Ge walttätigen der deutschen Nationalstaatsbildung von 1871, ihrer möglicherweise unzureichenden strukturellen und mentalen Existenzgrundlage gehörte zu den prägenden Impulsen der agrar - und sozialpolitischen Reformdebatten. Auch auf sie stellte das Ansiedlungsgesetz von 1886 eine Antwort dar. Folgerichtig lauteten Einwände von Seiten des Freisinns im Regelfall: nicht der polnischeAdel und Klerus, sondern der säkulare wirtschaftliche Modernisierungsprozess sorge für die Dynamik der polnischen Westverschiebung und für die ostelbische Abwanderung von Deutschen. Staatliche Intervention samt repressivem Widerruf von Freizügigkeit und Besitzverfügung, ferner die lokale Prärogative der – trotz ländlicher Verwaltungsreformen in den 1870er Jahren – verbliebenen Gutsbezirke, schließlich Favorisierung von abhängigen Bauern auf Domänen und Zementierung einer perspekti vlosen Landarbeitere xistenz seien ‚künstliche’, untaugliche Korrekturversuche. Demgegenüber zog sich Bismarck auf eine defensive Zieldefinition zurück. Es gehe nicht eigentlich um agrarischen Strukturwandel; auch nicht um soziale Verbesserungen. Wichtiger sei es, für den Staat „sichere Leute“ zu gewinnen. Auch wenn Bismarck seinen liberalen Kritikern durch Bevorzugung des Rentengutskonzepts und bäuerlicher Siedlung den Wind aus den Segeln zu nehmen versuchte – sie beharrten auf ihrem zentralen Monitum:Ansiedlungspolitik im Sinne der „inneren Kolonisation“ des aufgeklärten Absolutismus habe sich überlebt. Das Instrument traditioneller staatlicher Autoritätswahrung und er gänzender innerer Integration nationalstaatlichen Zuschnitts sei ge gen die strukturelle Dynamik des wirtschaftlichen Wandels machtlos. Ländlicher Strukturw andel sei nicht als Intervention „von oben“ zu erzwingen, sondern bedürfe eines freiheitlich17 Zu dieser Problematik am deutsch-tschechischen Beispiel: Kô EN, Jan: Die K onfliktgemeinschaft: Tschechen und Deutsche 1780–1918. dt. Übers. München 1996 u. a., S. 41–50.

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bürgerlichen Zusammenhangs. Er setze eine selbsttragende Dynamik voraus, – nur so könne man aus Landarbeitern „neue Bauern“ machen, aus neuen und alten Bauern wiederum selbständig wirtschaftende Bür ger, die sich als Repräsentanten der Staatsnation verstünden. Für Johannes v on Miquel hieß dies im Jahre 1874: „W o ein mittlerer Besitzstand, eine starke Entwicklung bäuerlicher Höfe vorhanden ist, da befindet sich auch die arbeitende Klasse besser , […] sie fühlt sich heimischer und ansässiger schon deswegen, […] Die Frage wegen Bildung neuer und spannfähiger Höfe hängt daher auch sehr wesentlich mit der Arbeiter- und Abwanderungsfrage zusammen […]“18 Auf eben diese Forderung nach bäuerlich-eigenständiger Siedlung, nach einem „entwickelten Bauernstand“ (Johannes v on Miquel), nach sozialem Strukturw andel, zielten an sich auch die staatssozialistischen Konzepte des „Vereins für Sozialpolitik“. Ihnen ging es nach 100jähriger Unterbrechung allerdings um Erneuerung der preußischen, kameralistisch-bürokratischen Überlieferung der „Inneren Kolonisation“ (Max Sering). Deutsche Abwanderung und Zunahme der nichtdeutschen Bevölkerung seien letztlich Funktion einer überlebten agrarischen Besitzordnung. Nötig sei die Förderung bäuerlichen Mittel- und Kleinbesitzes durchAufteilung des Großgrundbesitzes (Werner Sombart). Dies sei durch staatliche Interv ention als Korrektiv liberalisierter Bodenwirtschaft möglich. Das gleiche gelte – so Gusta v Schmoller – für die Ausstattung von Landarbeitern mit Bodenbesitz. Nur so könne zudem jener ostelbische Großgrundbesitz, der auf den billigeren polnischen Landarbeiter ange wiesen sei und daher als „Polonisator“ wirk e, geradezu überflüssig gemacht, letztlich beseitigt werden (Max Weber). Eine jüngere Generation von Fachleuten im Umkreis teils des Vereins für Sozialpolitik, teils der Ansiedlungskommission und des deutschnationalen Genossenschaftswesens in Posen u. a. um den „Frankfurter Freundeskreis“ (Friedrich v on Schwerin, Alfred Hugenberg, Leo Wegener, Friedrich Swart) zog aus Max Webers konzeptioneller Verknüpfung v on agrarischer Strukturpolitik mit Nationalpolitik ihre eigenen Schlüsse. Sie bekannte sich zu einem Primat innerer K olonisation als Instrument der Nationalpolitik. Bis hin zu Siedlungsorganisationen wie der „Freien Scholle“ von 1910 oder der „Gesellschaft zur Förderung der inneren Kolonisation“ von 1912 unternahm man es, innere K olonisation als Volksbewegung, überhaupt „ländliche Siedlung“ als Vervollständigung der wilhelminischen Welt- und Kolonialpolitik nach i n n e n zu betreiben: als „völkisch“-genossenschaftliche (Geor g Fr. Knapp) Initiative „von unten“, verstanden als das nationalpolitisch engagierte Bürgertum, gegen Konservative und Großgrundbesitz. Es w ar für den jungen Hugenberg inakzeptabel, dass die eine preußische Behörde, die Frankfurter Generalk ommission, durch agrarische Strukturpolitik zeitweilig doppelt so vielen polnischen Ansiedlern in Westpreußen und Posen zu einer bäuerlichen Existenz v erhalf wie eine andere preußische Behörde, die Ansiedlungskommission, durch nationale Strukturpolitik wiederum deutschen Ansiedlern. Außerdem unterstütze die Generalkommission mit staatlichem Geld die P arzellierungs- und Ansiedlungstätigkeit polnischer Genossenschaften, die zum Teil eher proletarische Kleinbesitzer begün18 Zit. BAIER (wie Anm. 15), S. 69.

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stige. Die „germanische Rasse“ müsse sich aber den nötigen „Lebensraum“ v erschaffen. In diesem unausweichlichen Kampf um den „V olksboden“ werde es um den Besitz Ostmitteleuropas gehen: „Das Einzugsgebiet liegt auf dem Gebiete […] der kleinen, lebensunfähigen und namentlich zu eigenem Staatstum unfähigen Völker.“19. Agrarischer Strukturwandel, der in staatlicher Re gie dergestalt eine gleicher maßen sozial- und nationalpolitische Dimensionierung erf ahren sollte, wurde v on diesen „ostmark“politischen Interessenkreisen und Debattierzirk eln mit Hilfe v on Alldeutschem Verband (ADV) und Deutschem Ostmarkenverein in einen völkischnationalistischen Zusammenhang gebracht. Darüber hinaus wurde er als Teilaspekt und Antrieb weltwirtschaftlich-weltpolitischer Aufwertung des Deutschen Reiches verstanden: die gegenwärtige Konzentration der Großbanken, überhaupt von wirtschaftlicher Macht, in Deutschland sei zu sehr international, nicht eigentlich deutsch-national ausgerichtet; stattdessen „gelte es, die Kräfte der Landwirtschaft, die jährlich ‚Milliardenwerte’ erzeuge, zu sammeln, um ein Widerlager des Nationalismus zu schaffen.“20 Auch innenpolitisch sollte die Ansiedlungspolitik als „Innere Kolonisation“ der Wilhelminischen Ära eindeutig über die deutsch-polnische Problematik hinaus Deutschland verändern: während die „Kathedersozialisten“ sie als Instrument der primären Sozialreform betrachteten, fasste der Schwerin-Hugenberg-Kreis eben die agrar- und sozialreformerischen Ziele als Teilaspekte einer nationalpolitischen, letztlich nationalistisch entgrenzten mittelständisch-bäuerlichen Le vée en masse auf. Die nach Bismarcks Rücktritt durch den neuen Reichskanzler Leo von Caprivi rückgebaute Ansiedlungspolitik wurde wiederum durch dessen Nachfolger Chlodwig Fürst Hohenlohe-Schillingsfürst ab 1896 erneuert. Im März/April 1898 schließlich bewilligte der preußische Landtag durch zusätzliche finanzielle Mittel für die Arbeit der Ansiedlungskommission gegen den Widerspruch von Zentrum und Freisinn eine Neuauflage der Ansiedlungspolitik. Eine weitere Radikalisierung erfuhr die Polenpolitik unter Reichskanzler Bernhard von Bülow. Abgesehen von der Bewilligung weiterer finanzieller Mittel wurde nun die – in Bismarcks Polenpolitik nur als Möglichkeit enthaltene – rechtliche Peripherisierung polnischer Staatsbür ger sichtbare Realität. Die ländliche Siedlungstätigk eit polnischer Genossenschaften, die auf dem landwirtschaftlichen Bodenmarkt die preußische Ansiedlungskommission mit deren eigenen Mitteln zu schlagen be gannen, wurde durch verfassungsmäßige, einseitig antipolnische Sonderbestimmungen wie dem „Feuerstättengesetz“ von 1904 erschwert. Außerdem wurde durch forciertes Zurückdrängen der polnischen Sprache aus Schule, Kirche und öffentlichen Versammlungen in der polnischen Bevölkerung Angst vor allmählicher Entnationalisierung hervorgerufen. Die Folge waren – wiederum schwerpunktmäßig inTeilen der Provinz Posen, weniger in Westpreußen und gar nicht in der polnischen Be völkerung des Ruhrge-

19 So der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes: Hasse, Ernst: Deutsche Politik. München 1905/08, I/3, S. 12 f. 20 G URATZSCH, Dankwart: Macht durch Organisation. Düsseldorf 1974, S. 48.

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biets – zusätzliche Dynamik des polnischen Politisierungsprozesses, fortgesetzte kollektive Verfeindung und auf beiden Seiten nationalistische Radikalisierung. Aber weniger in diesem polenpolitischen Kontext als aus Gründen parlamentarisch-parteipolitischer Taktik unterblieb die an sich spätestens seit 1908/09 überfällige Beendigung der Ansiedlungspolitik. Sie war mittlerweile kaum noch finanzierbar und führte erk ennbar in eine k onzeptionelle Sackgasse: der polnische Ge genspieler von Staat bzw. Ansiedlungskommission, das polnische Vereins- und Genossenschaftswesen, w ar in der Defensi ve erst richtig stark ge worden. So f and die staatliche Ansiedlungskommission immer weniger Gelegenheit, polnischen Grundbesitz zu erwerben und deutsche Bauern anzusiedeln. Es wirkte eher wie eine rückwärtsgewandt-utopische Trotzreaktion des deutschen Nationalstaates, als er – v erbunden mit weiteren Budgetaufstockungen zugunsten der Ansiedlungskommission – sein ansiedlungspolitisches Instrumentarium 1908 und 1912 erweiterte. Der preußische Landwirtschaftsminister v on Arnim-Kriewen goss die tradierte Bismarcksche Formulierung eines paranoid-aggressiven Nationalismus in zeitgemäß wilhelminische Worte: „Wir können unseren Landbedarf im freihändigen Ankauf nicht mehr deck en. Hieraus folgt mit zwingender Notwendigk eit, dass ein eminentes Staatsinteresse die Anwendung des Enteignungsrechts durch die Ansiedlungskommission erfordert.“21 So kam es gegen den Widerspruch nicht nur des Zentrums und polnischer, sondern auch mancher k onservativer Abgeordneter im preußischen Landtag, die die Un verletzlichkeit des Eigentums bedroht sahen, zunächst am 20. März 1908 zum sog. Enteignungsgesetz und schließlich am 26. Juli 1912 zum Besitzbefestigungsgesetz. Letzteres stellte weitere 100 Millionen Mark für das Ansiedlungswerk zur Verfügung. Er gänzt wurde dies durch eine staatliche Enteignungsbefugnis. Sie wurde allerdings – nach Kritik auch seitens des Reichstags und der Habsburgermonarchie als verbündeter Macht – nur ein einziges Mal, und eher symbolisch genutzt. Die preußische Ansiedlungspolitik samt den mit ihr verbundenen Vorstellungen von agrarischer Strukturreform war in der Tat symbolische Politik geworden, – sie hatte Realitätsbezug und sozialpolitische Substanz eingebüßt. Außerdem wirkte sie im Kontext der wilhelminischen Weltpolitik wegen ihres völkisch-ko n t i n e n t a l e n Zuschnitts22 eher altmodisch und dysfunktional. Zudem musste die Kosten-NutzenBilanz ernüchternd ausf allen: die Ansiedlungskommission erw arb für etw a eine Milliarde Goldmark 23 in Posen und Westpreußen bis 1911 insgesamt 219 Güter , davon allerdings 181 aus deutschem, nur 38 aus polnischem Besitz, außerdem 48 bzw. 42 deutsche und polnische Bauernhöfe. Auf einer Fläche von 360.000 ha, auf der die Ansiedlungskommission ca. 21.000 Ansiedlerstellen schuf, davon 13.700 in Posen, wurden in Posen und Westpreußen insgesamt zwischen 1888 und 1913 ca. 20.000 deutsche Familien, also 100–120.000 deutsche Personen angesiedelt.24 Von diesen Ansiedlern war allerdings ein beträchtlicher Teil, ca. ein Viertel, schon vorher in Posen und Westpreußen ansässig gewesen. Dieses bescheidene Ansiedlungs21 Zit. BAIER (wie Anm. 15), S. 61. 22 Dazu SCHÖDL: Alldeutscher Verband (wie Anm. 19), u. a. S. 254–273. 23 B AIER (wie Anm. 15), S. 85. 24 B ROSZAT (wie Anm. 3), S. 167 ff; BAIER (wie Anm. 15), S. 115 ff.

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ergebnis konnte den abwanderungsbedingten deutschen Bevölkerungsverlust nicht ausgleichen. Nicht bedacht, bewältigt oder gar widerlegt waren die – für den Rechtsstaat Preußen charakteristischen – Bedenk en etw a des Landwirtschaftsministers von Arnim, der 1907 bemängelte, es werde „doch unzweifelhaft zweierlei Recht für Polen und Deutsche geschaffen“25. Dem Posener Oberpräsidenten von Jagow blieb zur Verteidigung der Ansiedlungs- und Polenpolitik nichts anderes, als die nationalpolitische Funktionalisierung einer sinnentleerten agrarischen Strukturpolitik zu bestätigen: „die staatsrechtliche Frage sei doch geklärt, die ganze Ostmarkenpolitik sei eine Kampfpolitik […].“26

2. Der Fall Österreich-Ungarn: Krise und K onflikt in den südslawischen Gebieten 2.1. Soziale, kulturelle und politische Konturen einer agrarischen Krise Attentismus und Passivität – dieses v erbreitete Charakteristikum k ollektiven politischen Verhaltens der Agrarbevölkerung in den südslawischen Gebieten der Habsburgermonarchie, wurde im Grunde nur zwischen 1905 und 1909, während der ungarischen Krise und der bosnisch-herze gowinischen Annexionskrise, nur „v on außen“ und nur kurzfristig reformpolitisch in Frage gestellt. 27 Und zwar zunächst von Anhängern des resolutionistischen Jugosla wismus, die diesem Neuen K urs contra Habsburgermonarchie eine Massenbasis v erschaffen wollten, und schließlich v on den Wiener Zentralstellen. Beide erblickten – in paradox er Allianz mit ähnlichen Argumenten preußisch-deutscher Agrarpolitiker nationalliberalen, staatssozialistischen und genossenschaftlichen Schlags – gleichermaßen in der Umwand-

25 Zit. BROSZAT (wie Anm. 3), S. 169. 26 Zit. Ebda. 27 Zur politischen und sozialen Charakteristik der südsla wischen Gebiete der Habsburgermonarchie unter den Bedingungen von ungarischer Krise und bosnisch-herzegowinischer Annexionskrise siehe GROSS, Mirjana: Povijest Pravaške Ideologije [Geschichte der Rechtspartei]. Zagreb 1973. Die „Partei des Rechtes“ (Stranka Prava) ist der Name einer P artei, die in Kroatien von Ante Starãeviç im Jahre 1861 gegründet wurde; DIES.: Hrvatska uoãi aneksije Bosne i Hercegovine [Kroatien v or der Annexion Bosniens und Herze gowina]. In: Istorija XX v . III (1962), S. 153–374; Dies. (Bearb.): Društveni razvoj u Hrvatskoj od 16. stolje ça do po ãetka 20. stoljeça Zagreb 1981 [Die gesellschaftliche Entwicklung in Kroatien vom 16. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts); zum langfristigen Zusammenhang siehe S UNDHAUSSEN, Holm: Experiment Jugoslawien. Mannheim et al. 1993; S TEINDORFF, Ludwig: Kroatien. Re gensburg, München 2001; B EHSCHNITT, Wolf-Dietrich: Nationalismus bei Serben und Kroaten 1830 – 1914. München 1980; M ILLER, Nicholas J.: Between Nation and State. Pittsb urg 1997; VRANKIå, Petar: Religion und Politik in Bosnien und der Herzegowina (1875–1918). Paderborn et al. 1998; JELAVICH, Charles: South Slav Nationalisms. Ohio 1990; SCHÖDL, Günter: Kroatische Nationalpolitik und „Jugosla venstvo“. München 1990; G LATZ, Ferenc/M ELVILLE, Ralph (Hgg): Gesellschaft, Politik und Verwaltung in der Habsburgermonarchie 1830 – 1918. Budapest 1987; GERGELY, András: Magyarország Története a 19. században. Budapest 2003.

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lung der Kolonen zu einer breiten Schicht bäuerlicher Eigentümer eine wirksame Vorkehr gegen die befürchtete südslawisch-serbische Irredenta. Für die südslawischen Siedlungsgebiete der Habsburgermonarchie insgesamt28 im späten 19. Jahrhundert wurden zw ar neue Entwicklungsimpulse wirksam, aber eben in sehr unterschiedlichem Maße, wie sich gerade im agrarischen Bereich zeigte. Ob Ansätze industrieller, weitgehend agrar naher Aktivierung, ob F ormierung eines überre gional agierenden Handelsbür gertums und entsprechend zunehmende Vernetzung v or allem mit dem gesamtungarischen Wirtschaftsleben, ob schließlich die kroatisch-serbische Erneuerung des seit den 70er Jahren erlahmten strossmayerschen Jugoslawismus – alle Entwicklungsimpulse dieser Art erfuhren in der K onfrontation mit jenem agrarischen Krisendruck, der die Existenzbedingungen einer erdrück enden Bevölkerungsmehrheit einschließlich der kleinbür gerlichen Mehrheit der städtischen Bevölkerung bestimmte, ihre anwendungsbezogene Ausdifferenzierung. In den slo wenischen Siedlungsgebieten der österreichischen Kronländer Krain und Küstenlande, Kärnten und Steiermark nicht anders als im ungarischen Zivilkroatien und an der Militär grenze, in Slawonien wie im österreichischen Dalmatien, oder im „gemeinsamen“ Bosnien-Herzegowina zeichnete sich eine uneinheitlich-kleinteilige Szenerie von Wandel und Rückständigkeit, Ansätzen wirtschaftlicher Modernisierung und perspektivloser Entwicklungsstarre ab.29 Ein Blick auf die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Agrarwirtschaft lässt dies deutlich hervortreten. Im Jahre 1910 variiert der Anteil der in Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei Tätigen in Kroatien-Sla wonien, Bosnien-Herze gowina sowie Istrien/Dalmatien zwischen 78, 86 und ca. 85 Prozent der kroatischserbischen Arbeitsbevölkerung. Ein ähnlich aussagekräftiges Detail: im besonders entwicklungsbedürftigen österreichischen Kronland Dalmatien blieb es selbst in der gesamtösterreichischen Beschleunigungsphase der wirtschaftlichen Modernisierung zwischen 1880 und 1910 sowohl bei der Agrarbevölkerung als auch den im sekundären Wirtschaftssektor Tätigen bei den anfänglichen Anteilen v on ca. 82 bzw. knapp fünf Prozent. Eine qualitative Ausnahme stellte nur der niedrige (ca. 68 28 Dazu u. a. S UPPAN, Arnold: Die Kroaten. In: WANDRUSZKA/URBANITSCH III/1 (wie Anm. 7), S. 626–733; WINKLER, Eduard: Wahlrechtsreformen und Wahlen in Triest 1905 – 1909. München 2000; Bethk e, Carl: „V olksdeutsche P arallelgesellschaft“? Phil. Diss. FU Berlin 2006; ROGEL, Carole: The Slovenes and Yugoslavism 1890 – 1914. New York 1977; PLETERSKI, Janko: Die Slo venen. In: WANDRUSZKA/URBANITSCH III/2 (wie Anm. 7), S. 801–838; M ORITSCH, Andreas: Das nahe Triester Hinterland. Wien, Köln, Graz 1969; J AKIR, Aleksandar: Dalmatien zwischen den Weltkriegen. München 1999. 29 Zu agrarischer Entwicklung und agrarischem Krisendruck in der Habsb urgermonarchie und – am Beispiel Dalmatiens – in deren südsla wischen Gebieten u. a. B RUCKMÜLLER, Ernst: Sozialgeschichte Österreichs. Wien, München 2001 2, bes. Kap. VI/3 und VII/4; H OFFMANN, Alfred (Hg.): Österreich-Ungarn als Agrarstaat. Wien 1978; Die Agrarfrage in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Bukarest 1965; P ERIâIå, Šime: Oskudica i glad u Dalmaciji [Not und Hunger in Dalmatien]. In: Rado vi 13 (1980), S. 1–31; S ANDGRUBER, Roman: Österreichische Agrarstatistik 1750 – 1918. München 1978; SCHÖDL, (wie Anm. 20), u. a. S. 82–151. Noch immer Informativ sind zeitgenössische Berichte wie bei L EITHE, Heinrich: Dalmatinische Agrarprobleme. Wien 1912 und R IEDL, Richard: Die wirtschaftlichen Zustände Dalmatiens. Wien o. J. (1907/08).

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Prozent) Anteil der Agrarbevölkerung an der Gesamtzahl der Slo wenen dar. Und trotz der erwähnten Uneinheitlichk eit galt insgesamt: die südsla wische Bevölkerung der Habsb urgermonarchie verharrte, verglichen mit den übrigen „Nationalitäten“ der Habsb urgermonarchie als ganzer , am unteren Ende der Skala v on gewerblich-kultureller Qualifizierung und wirtschaftlichem Entwicklungspotenzial, – ähnlich perspektivenarm wie in den östlichen Gebieten beider Reichshälften die Ukrainer und Rumänen. Indirekt, dabei fast noch eindringlicher zeichnet sich diese Vielfalt in Entwicklungsrückstand, sozialer Not und Krisenbe wusstsein auf der F olie der Auswanderungsstatistik ab: industrie wirtschaftlicher Arbeitskräftebedarf, Anstieg des Reallohnniveaus, Verbesserung der „sanitären“, d. h. medizinischen Existenzbedingungen u. ä. führten im Deutschen Reich und Teilen der Habsburgermonarchie ab den späten 1890er Jahren zu einem markanten Rückgang der Übersee wanderung; aber in den beiden Armenhäusern der Habsburgermonarchie, im Süd- und im Nordosten, hielt die südslawische und die polnisch-ukrainisch-jüdische Massenauswanderung weiterhin an. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts sind noch zwischen 350.000 und 500.000 Südslawen abgewandert.30 Am Beispiel einiger repräsentati ver Krisendetails aus dem österreichischen Kronland Dalmatien lassen sich die Auswirkungen dieses Entwicklungsgefälles innerhalb der Habsburgermonarchie bzw. des Entwicklungsrückstandes ihrer südslawischen Gebiete auf die conditio humana vor Augen führen. Ein Vergleich des Analphabetenanteils der über 10-Jährigen im Jahre 1910 der Bevölkerung von Dalmatien bzw. Niederösterreich von 63 (im Landesinneren sogar bis 85) bzw. 2,4 Prozent zeugt ebenso wie die Unterversorgung mit weiterführenden Schulen oder nach der Annexionskrise das – europa weit untypische – Stagnieren der politischen Presse insgesamt v on kulturell-bildungsmäßigem Rückstand, letztlich v on einem lähmenden Mangel kultureller Politisierungsvoraussetzungen. Dieser Sachverhalt correliert mit einem charakteristischen Defizit berufs- und schichtenspezifischer Ausdifferenzierung sowie vertikaler sozialer Mobilität, ferner mit einer – in gesamtösterreichischem Vergleich zwischen 1900 und 1910 – „galoppierenden“ Zunahme von Ge walt- und Eigentumskriminalität, geradezu einer kriminellen Umprägung kollektiven Verhaltens insgesamt.31 Die Schwelle zwischen bloßem krisenhaften Entwicklungsrückstand und unumkehrbar verfestigter Unterentwicklung war überschritten. Eine noch deutlichere Sprache sprechen dalmatinische Phänomene der Verseuchung durch Malaria und Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten etc., ferner der – in Österreich um 1900 einmaligen – Zunahme der Säuglingssterblichk eit, unzureichender medizinischer Versorgung und bis an den Rand ausgesprochener Hungersnot reichender P auperisierung, schließlich unzumutbare Wohnverhältnisse, Verschuldung und Agrarwucher. Diese Verhältnisse blieben k eineswegs unerkannt; die obersten Landesstellen – so seit 1903 die Berichterstattung des Statthalters an das österreichische Ministe30 S 31 S

CHÖDL, CHÖDL,

Nationsbildung (wie Anm. 7), S. 13 ff. Kroatische Nationalpolitik (wie Anm. 27), u. a. S. 145 ff.

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rium des Innern, auch fortlaufende Expertisen des Ackerbauministeriums, des Industrierats und diverser Handelskammern, – schließlich 1906 Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand und Ministerpräsident Beck stimmten im Wesentlichen überein: „ […] jeder Stabilität v on Eigentum und Gesetz entbehrend, ist der dalmatinische Bauer das ge worden, w as er heute ist, ein Gemisch v on Misstrauen und dumpfer Resignation.“ 32 Er sehe k einen Anlass, „mehr zu erzeugen, als er bedarf, um irgendwie sein Auskommen zu finden.“33 Das Resümee aus der Sicht der österreichischen Regierung im Jahre 1906 lautet: „Dalmatien ist heute für unsere Reichshälfte moralisch verloren.“ Während „die Masse […] in Apathie und Indolenz versinkt“, steigern sich die „intelligenteren Kreise“ in einen „Hass ge gen Österreich“.34 2.2. Agrarreform und Politisierungsprozess Es war diese Wahrnehmung einer gleichermaßen wirtschaftlichen und sozialen, kulturellen und politischen Krise im Südosten, welche zusammen mit der Besor gnis über eine südslawische Sezession als F olge des jugoslawistischen „Neuen Kurses“ in Kroatien-Slawonien und Dalmatien „W ien“, genauer: die Krone, in Alarmstimmung v ersetzte; es w ar die Solidarisierung der neuen ungarischen Re gierung mit dieser „resolutionistischen“ Mehrheit des kroatischen Sabor, die schließlich in Wien zu einer Art konzeptionellem „Kassensturz“ führte. Dazu trug auch eine neue personelle Konstellation bei: der Thronfolger begann 1906 angesichts derAuseinandersetzung zwischen Krone und neokossuthistischer Opposition entsprechend ungarischer Autonomiebestrebungen reichsreformerische Initiati ve zu entwick eln; er f and mit dem Kabinett Beck und der militärischen Führung, die zur Vorbereitung eines eventuellen Präv entivkrieges ge gen Italien eine zuv erlässigere Sicherung der Südostflanke für nötig hielt, nunmehr zu einem gemeinsamen reformerischen Nenner. Zentrales k onzeptionelles Element dieser Bestreb ungen, deren Federführung bei den österreichischen Ministerien des Innern sowie für Ackerbau und für Handel lag, war ein umfassender Sanierungsplan für das Kronland Dalmatien. Eine „Interministerielle Kommission“ wurde zw ar bereits 1906 eingesetzt, aber bezeichnenderweise begann sie erst am 28. Oktober 1909 die Planung dieser „Aktion Dalmatien“. Sie schlug schließlich als programmatisches Herzstück diesesVorhabens, das schon ab 1907 u.a. durch Notstandsmaßnahmen und zugleich gezielte manipulative Beeinflussung kroatischer Politik er flankiert wurde, eine umf assende Reform der Agrarordnung vor. Das dafür am 5. August 1910 eingesetzte „Subkomitee für Kolonat und agrarische Operationen“ k onzentrierte sich – im Hinblick zusätzlich auf Bosnien-Herzegowina – unter der Leitung des Sektionschefs im Finanzministerium August Freiherr von Engel insbesondere auf die Beseitigung des sog. Kolonats, das 32 L EITHE (wie Anm. 29), S. 6. 33 Verhandlungen und Beschlüsse des Industrierates, 12. H.: Industrie- und Gewerbebeförderung … Wien 1906, S. 5. 34 Österreichisches Staatsarchiv Wien, Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA), NL Beck, K. 18, M. Dalmatien, fol. 41.

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für die Agrarverfassung Dalmatiens konstitutiv war und außerdem in mehreren Varianten an der gesamten Adriaküste und in Bosnien-Herzegowina existierte.35 Während in Dalmatien insgesamt bzw. dem Raum Split im Jahre 1900 ca. ein bis zwei Drittel der Gesamtbe völkerung unter den Bedingungen des K olonats lebten, waren es in Bosnien-Herze gowina nahezu 40 Prozent, die unter den drückenden Bedingungen des Kmetstv o e xistierten, – einer v erwandten F orm des Pachtbauerntums. Die „Pacht“ betrug ein Siebtel bis die Hälfte, meistens ein Drittel Abgabequote, Arbeitsleistungen und 10 Prozent öffentliche Abgabe; der Grundherr stellte Gebäude, Gerät, Saatgut usw. Das Kmetentum verband persönliche Freiheit mit starren, v eränderungsfeindlichen Verhältnissen. Zwar signalisierten seit 1907 eine Genossenschaftsbewegung, ferner frühe Ansätze zur Politisierung sowie indirekt auch erste staatliche Maßnahmen, etwa zur Kreditversorgung der Kmeten, die an sich ein Vorkaufsrecht für den von ihnen bestellten Boden besaßen, den agrarpolitischen Reformbedarf. Dennoch kam es unter den vielf ach manipulati ven oder hinderlichen Bedingungen der österreichisch-ungarischen Einflusskonkurrenz nur zu unzureichenden Reformen. So enthielt das Gesetz v on 1911 zur f akultativen Kmetenablösung noch weniger als entsprechende Re gelungen in Dalmatien eine Perspektive durchgreifenden strukturellen Wandels. Die Kmetenablöse ging zu langsam voran, es entstanden sogar neue Kmetenansässigkeiten. Die interessenpolitische Verkrustung bäuerlicher Existenzbedingungen verband sich mit nationalen Gegensätzen zwischen Muslimen sowie Serben und Kroaten. Zu den Muslimen, ca. einem Drittel der Be völkerung, gehörten im Jahre 1910 mehr als 90 Prozent der Gutsbesitzer mit Kmeten, aber kaum 5 Prozent der Kmeten selbst, während Orthodoxe bzw. Serben (knapp 45 Prozent der Bevölkerung) und Katholiken bzw. Kroaten hingegen nahezu 75 Prozent bzw. ca. 20 Prozent der Kmeten stellten. Vor allem seit der bosnischen Annexionskrise wurden Agrarpolitik, bäuerliche Lebensbedingungen und Reformdebatten mehr oder weniger nach Maßgabe der habsburgischen Südslawenpolitik instrumentalisiert. Das Kolonat in Dalmatien – im Süden gab es noch dieVariante des Contadinaggio – w ar dadurch charakterisiert, dass der adlige, bür gerliche oder kirchliche Grundbesitzer (Padrone, proprietario) dem Kolonen (italienisch colono, serbokroatisch Kolon) bzw. einer Großfamilie das vertragliche Nutzungsrecht erteilte. Dafür konnte er zwischen einem Zehntel und der Hälfte, im Re gelfall ein Drittel des Er trags, ggf. zusätzliche Leistungen beanspruchen. Die gemeinhin an den Lebenszyklus der betref fenden Frucht – meistens Oli ven, Wein, seltener Getreide – geb undene Laufzeit der v orzeitig kündbaren, k eine persönliche Bindung enthaltenden Verträge konnte zwischen einem und ca. sechzig Jahren dif ferieren. Das zum Teil auf venezianische und osmanische Traditionen zurückgehende Kolonat, das von der Agrargesetzgebung des Jahres 1848 ausgenommen w orden war (außer in Istrien), ist im 19. Jahrhundert nie widerspruchsfrei definiert worden. Dies gilt zum Beispiel für das Verständnis von Eigentum, Pacht oder auch für den eventuellen Eigentums35 AVA, MI Präs., 22 Dalmatien; Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv Wien (KA), Militärkanzlei Thronfolger 1906–13, dazu im einzelnen S CHÖDL, Kroatische Nationalpolitik (wie Anm. 27), bes. Kap. III.

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effekt v on Meliorationsleistungen der K olonen. Letztlich w aren beide Seiten, Grundherr und Bauer, auf einander angewiesen: ersterer brauchte angesichts besonderer dalmatinischer Gegebenheiten zur Bewirtschaftung des betreffenden Grundes meistens die Kolonen; für letztere wiederum, die von ihrem eigenen Land oft kaum leben konnten, war dieser Zuerwerb existenznotwendig. Besonders prekär war die Lage des Kolonen insofern, als – wie eben um 1900 geschehen – Missernten etc. immer wieder zu einem Ertragsrückgang führten. Wegen der allgemeinen Rechtsunsicherheit, insbesondere was die jahrhundertelange Tradition von Erbteilung und Erwerb, Abtretung und Miteigentum betraf, we gen der Tendenz zur Zwergparzellierung bzw. Zersplitterung, wegen der oft kurzsichtigen Ertragsfixierung der Kolonen war eine langfristig angele gte, unternehmerische Landwirtschaft kaum möglich. Das K olonat als quasi-natural wirtschaftliche Entlohnung v on Arbeitskräften war letztlich Symbol für den insgesamt zurückgebliebenen agrarwirtschaftlichen Entwicklungsstand. In Dalmatien, nicht anders als in Bosnien-Herze gowina, in Istrien und Kroatien, hatten die – wie unterschiedlich im Einzelnen auch immer – agrarwirtschaftlichen Ge gebenheiten jedenf alls in struktureller Hinsicht für eine erhebliche Verzögerung bzw . überhaupt Verhinderung sozialer Dif ferenzierung, auch der zügigen Herausbildung einer tragfähigen bäuerlichen Führungsschicht gesorgt.

3. Zweierlei Nationalisierung: Österreichische „Aktion Dalmatien“ und preußisch-deutsche „Ansiedlungspolitik“ im Vergleich Unter diesen Bedingungen zielte die österreichische Politik bzw. die sog. Dalmatinische Kommission zunächst auf die Agrarordnung als solche. Dies bedeutete für Dalmatien: es ging darum, das Kolonat zu modernisieren oder überhaupt abzuschaffen und auf diese Weise die Herausbildung einer materiell besser gestellten, unter nehmerisch aktiveren und politisch loyalen Schicht bäuerlicher Eigentümer einzuleiten. Der drängende Reformdruck verleitete allerdings dazu, die Ursachenfrage nicht wirklich zu durchdenken, – ob das Kolonat denn wirklich Ursache oder vielleicht nur Ausdruck der krisenhaften Agrarsituation sei, blieb ungeklärt. FürVerfahrensweise und Reformplanung der interministeriellen K ommission wichtiger als diese Frage nach der agrar-, sozial- und nationalpolitischen Relevanz einer solchen qualitativen Veränderung von Agrarverfassung und gesamter Lebensweise der meisten Menschen war letztlich eine enge administrati v-juristische Auffassung dieses Vorhabens. Seine soziale, kulturelle und mentale Einbettung, insgesamt seine Kompatibilisierung mit Selbstverständnis und Existenzbedingungen der südsla wischen „Nationalitäten“ wurde nicht als Teil der Aufgabenstellung begriffen. Dieser landesfremd-schematische, aber aus der Sicht des – für die späte Habsburgermonarchie k onstitutiven – bürokratischen Absolutismus durchaus logische Modus von Wirklichkeitswahrnehmung und nationalitätenpolitischer Nicht-K ommunikation wirkte sich verhängnisvoll aus. Zum Einen ließ er es nicht zu, die seit

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der Formierung der kroatisch-serbischen Koalition 1903/05 anwachsende Politisierungsdynamik der südsla wischen Bevölkerung an den beabsichtigten Reformkurs zu binden; zum Anderen pro vozierte er zu viele, nicht kalkulierte Ge genwirkungen. Zu den Kräften südslawischer Neuorientierung und Selbstorganisation, die als Massenbasis des agrarpolitischen Reformkurses hätten genutzt werden können, zählten in Kroatien und Dalmatien Josip Franks „Reine Rechtspartei“ und di verse Tendenzen des politischen Katholizismus. 36 Desgleichen deren Ge genspieler aus dem ursprünglich liberal-aufgeklärten Lager der resolutionistischen Masaryk-Jünger, d. h. der frühen Bauernpartei („Kroatische Volks- und Bauernpartei“) der Brüder Radiç, und der „sozialliberalen“ Lorkoviç-Smodlaka-Gruppierung („Kroatische Volks- und Fortschrittspartei“ oder „Demokratische Partei“).37 Es war vor allem Josip Smodlaka, der seit 1905 im Raum Split als sozialreformerisches Instrument des neuen Jugosla wismus und Vorbereitung einer südsla wischen Bauernbe wegung eine dalmatinische K olonenbewegung („Demokratska Stranka“ 1905, „Težaãka Sloga“, Ende 1906) aufzubauen be gann. Ihr or ganisatorisches K onzept der k ommunalen Basisarbeit und nationalen Selbstor ganisation („Sitni Rad“) w ar mehr oder weniger identisch mit den Prinzipien der polnischen Selbstorganisation in der Provinz Posen, wenn man von der unterschiedlichen Rolle der katholischen Kirche absieht. Auf den um 1905 unübersehbar gewordenen agrarpolitischen Reformdruck antwortete Smodlaka, indem er ähnlich wie sein Konkurrent in Kroatien Stjepan Radiç das Charisma eines bäuerlichen Volkstribuns zu erwerben suchte. Er propagierte die Abschaffung des Kolonats als Voraussetzung für die Beseitigung v on Hunger und Not, Krankheit, P assivität und Auswanderungsdruck – dies zugleich als Mittel ge gen Bildungsdefizit, „Kampanilizam“ (lokalen Egoismus) und mangelnden politischen Zusammenhalt der Bevölkerung. Zu den durch Wien unzureichend w ahrgenommenen und bedachten Ge genwirkungen zählte in der Region selbst wachsende Sorge wegen bestimmter Anzeichen nicht nur bürokratischer , sondern außerdem zentralistisch-deutschösterreichischer Bevormundung. Nicht nur Padrones, sondern auch kirchliche Grundherren ließen mehr und mehr Zweifel an der beabsichtigten Änderung der landwirtschaftlichen Besitzordnung und einschlägigen Ablösungsmodalitäten erkennen, auch an deren Be gründung: nicht das K olonat sei Ursache der agrarischen Missstände, sondern die akute Krise des Weinbaus und die Verteuerung agrarischer Arbeitskraft als F olge eines neuen ge werblich-industriellen Arbeitskräftebedarfs. Nun schickten sich in Dalmatien auch die K olonen an, zu opponieren. Zum einen aus Angst vor hohen finanziellen Folgelasten der Kolonatsablöse, auch – gerade seitens der Ärmsten, v or allem im Landesinneren – v or „Privatisierung“ der bisher gemeinsam nutzbaren Flächen; zum anderen aus administrativ provozierter Sorge wegen noch schwierigerer Lebensbedingungen und einem umfassenden, fremdbestimmten Wandel des bäuerlichen Lebens überhaupt. Zu dessen Traditionen, die 36 S 37 K

TRECHA,

Mario: Katoliãko Hrvatstvo [Katholischer Kroatismus]. Zagreb 1997. Marko (Hg.): Zapisi dra Josipa Smodlak e [Briefe und Aufzeichnungen von Josip Smodlaka]. Zagreb 1972. OSTRENâIå,

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einer Agrarreform hinderlich waren, gehörten eben die innere Bindung an die katholische Kirche und patriarchalische Lo yalität ge genüber dem P adrone. Hinzu kam, dass die städtisch-bürgerliche Trägerschicht des resolutionistischen Jugoslawismus, die großenteils dem Sozialmilieu der Padrones selbst angehörte, sich nun auf ihre materiellen Interessen besann: sie begann sich aus der reformerischen und nationalpolitischen Solidarisierung mit der bäuerlichen Bevölkerung zurückzuziehen. Gegen diese paradoxe Koalition tatsächlicher und eingebildeter Reformverlierer, von Kolonen und P adrones betrieb die österreichische Re gierung schließlich weiterhin das zunehmend utopische Reformprojekt. Es ging um eine Agrarreform, die weder sozial- noch wirtschaftspolitisch, sondern nationalitäten- und innenpolitisch motiviert war. Dabei nahm man v erhängnisvollerweise keine Rücksicht auf die Tendenz der südslawischen, gerade der bäuerlichen Bevölkerung, sich von ihren eigenen ursprünglichen Reformanlie gen zu entfernen. Dennoch hielt die österreichische Regierung an einem Vorhaben fest, das schon einmal in den siebziger/achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts gescheitert war: ohne grundsätzliche Reform der Agrarordnung wenigstens durch eine Art Flurbereinigung und bäuerliche Besiedlung des Gemeindegrundes, der mehr als doppelt so ausgedehnt wie der bisher genutzte Boden Dalmatiens war, die konfliktträchtigen ländlichen Lebensbedingungen zu verbessern (1876: „Gesetz betr . Aufteilung der kulturfähigen Gemeinde gründe in Dalmatien“, 1878 Kontadinengesetz usw.). Die „Interministerielle dalmatinische Kommission“, ab 1910 zusammen mit dem „Subk omitee für K olonat und agrarische Operationen“, erstellte eine umf assende Entwicklungsbilanz und Entwürfe für ein Kolonatsgesetz (1911) wie auch für ein Teilungs- und Re gulierungsgesetz (1911/12). Obwohl, wie oben erwähnt, also die innen-/nationalitätenpolitischenVoraussetzungen und taktischen Zweck e der beabsichtigten Agrarreform allmählich gegenstandslos wurden und die Dalmatinische K ommission ihre Reformplanung im – politisch gesehen – luftleeren Raum betrieb, kam es noch zu konkreten Ergebnissen. Es war schließlich das Drängen der militärischen Führung auf Stabilisierung der Sicherheitslage im Südosten mit Hilfe der Reformpolitik, das 1911/12 zu Entwürfen für ein Kolonats- und ein Teilungs- und Regulierungsgesetz führte. Die zwischenzeitlichen Widerstände wurden dabei insofern berücksichtigt, als nur noch die „Regelung“ (Punkt 1), nicht aber dieB e s e i t i g u n g des Kolonats als nötig galt; sie wurde ferner zeitlich gestreckt und dank finanzieller Unterstützung seitens des Staates leichter durchführbar gemacht. Dies brachten Richtlinien von Oktober/November 1911 zum Ausdruck: „1. Die Kommission bezeichnet die Regelung der Kolonatsverhältnisse in Dalmatien und die möglichste Unterstützung der Überführung der K olonatsgründe in Eigentumsgründe als Notwendigkeit. 2. Die Kommission empfiehlt: a) die Erleichterung der Erwerb ung v on freiem Bodeneigentum für kleine und mittlere Ansiedler auf den staatlichen Domänen so wie auf den Religions- und sogenannten Studienfondsgütern. b) zum gleichen Zwecke den Ankauf größerer Besitztümer durch ein hiezu geeignetes Institut.

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c) Die Förderung der direkten pri vaten Auseinandersetzung zwischen Grundeigentümern und Kolonen. d) Die materielle Unterstützung der unter den Punkten a-c beantragten Maßnahmen. e) Die Schaffung einer behördlichen Organisation zur Durchführung dieser Maßnahmen etwa nach dem Vorbilde der Behörden für agrarische Operationen sowie eines hiezu geeigneten Finanzierungsinstitutes. f) Die gesetzliche Re gelung des K olonatsvertrages und die Schaf fung der notwendigen gesetzlichen Sicherungen für die Erhaltung des neu entstandenen freien Grundbesitzes.“38 Diese Agrarreform wurde aus den erwähnten Gründen schließlich nur noch v on oben und an den eigentlichen gesellschaftlichen Adressaten vorbei betrieben und vor Kriegsbeginn nicht mehr abgeschlossen. Sie degenerierte förmlich zu einer sozial- und nationalitäten-, insgesamt reformpolitisch perspektivlosen, eher nur administrativen Routineagenda. Dies zum einen we gen einer strukturellen Wahrnehmungs- und Kommunikationsdeformation, die mittlerweile für den Binnenzustand eines tendenziell selbstreferenziellen Staatswesens charakteristisch ge worden war. Zum anderen gab es k einen reformerischen Ge genentwurf zur Realität der Habsburgermonarchie als ganzer, der regionale und sektorale Teilreformen dieser Art im notwendigen Maße mit Legitimation und Resonanz hätte ausstatten können. Zwar unterscheidet sich dieses v erspätete und gescheiterte Vorhaben einer ursprünglich agrar- und nationalitätenpolitischen Reform in vielem von der preußischdeutschen Polenpolitik; dies unter anderem darin, dass es nicht als Verfahren nationaler Homogenisierung – so im Deutschen Reich ge genüber der polnischen Minderheit – gedacht w ar. Aber unübersehbar sind die Ähnlichk eiten dieser beiden Varianten eines konservativ-instrumentellen Umgangs mit agrarischen Reformvorhaben. So glichen sie sich darin, dass die Dominanz des Nationalen ne gativ bestätigt wurde. Wie im preußisch-deutschen F all ein un vollendeter Nationalstaat, so scheiterte im österreichisch-ungarischen Fall ein multi-, teils auch vor- und übernationales Staatswesen bei dem Versuch, sich ein dysfunktionales nationales Phänomen systemimmanent anzuverwandeln, – zum einen das der polnischen, zum anderen das der südsla wischen Emanzipationsdynamik. Zwar unterschieden sich deutsche und österreichische Minderheits- bzw. Nationalitätenpolitik seit den 1880/90er Jahren, seit den Anfängen der deutschen „Ostmarkenpolitik“ darin, dass nur erstere ihr eigenes sozial- und innenpolitisches Handeln national k odierte. Dennoch ähnelten sie sich wiederum insofern, als die ursprüngliche Ausrichtung preußischer und österreichischer Minderheitspolitik an den Grundsätzen staatlicher Autoritätswahrung und übernationaler Rechtsstaatlichkeit noch am Vorabend des Ersten Weltkriegs unsicher wurde; sie büßte – preußisches Enteignungsgesetz und gleichermaßen österreichische Kolonatsreform zeigen dies – Wirklichkeitsbezug und Anwendungsrelevanz ein. Wie sich ihre k ognitive Fundierung aus dem k orrigierenden Wechselbezug mit einer ge wandelten Realität löste, so mutierten Politik bzw . Reform ohne wechselseitige K orrektur zur bloßen Bestätigung einer Ersatzwirklich38 AVA, MI, 22 Dalmatien, Z. 4414/18.9.1911.

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keit, einer Ersatzwirklichkeit ohne Konflikt und Entwicklung, überhaupt ohne Gefahr, sei es einer polnischen, „großserbischen“ oder slawischen. Die Realitäts-, die Sinnentleerung der deutschen Ansiedlungspolitik um 1900, ähnlich der „Aktion Dalmatien“ im habsburgischen Südosten, erweist sich als Analogie zu den Anfängen des defensiven Konservatismus um 1800: zu jener Variante des entstehenden Konservatismus in Mitteleuropa, die ge genüber Aufklärung, Revolution und napoleonischer Vorherrschaft eine Antwort und Beruhigung im Rückzug auf eine utopisch-unangreifbare Gegenwirklichkeit jenseits von Ratio und Empirie, Konflikt und Entwicklung suchte: K onservative Utopie statt Entwicklung, – das organisierende Prinzip auch jener politischen Entwürfe um 1900, die nicht als künftige, als neue Wirklichkeit, als Orientierung in Konflikt und Wandel konzipiert waren, sondern als geschichtlich be gründete und doch geschichtslose, als teleologisch vorprogrammierte „höhere“ Wirklichkeit. Die antimodernistischen Mutmaßungen einer zugleich modernen und k onservativen Ära in Zentraleuropa, – die Illusion, agrarische Realität und einschlägigen Reformdruck instrumentalisieren und romantisch-nationalistisch metaphorisieren zu können, sollten nach dem Ersten Weltkrieg ihre Widerlegung erfahren. Ob es sich um ihre Artikulierung durch Bauernparteien wie in Polen, der âSR und Kroatien handelte, ob durch ein ländlich-antimodernistisches Politikparadigma wie in Deutschland, Österreich und Ungarn oder durch die zerstörerische Verselbstständigung konservativ-nationalistischer Kontexte: die Grenzen jahrzehntelanger Defor mation und Instrumentalisierung v on Realität w aren erreicht; die Auflösung von agrarpolitischer Substanz konnte nicht länger mehr durch nationalistische und autoritäre Reformimitate kompensiert werden; die anon ym-elementare Dynamik eines selbstzerstörerischen Zusammenstoßes v on Ersatzwirklichk eit und Wirklichkeit, von Agrarromantik und Agrarkrise war nicht mehr zu beherrschen. Aus dieser Perspektive ist zum Vergleich preußisch-deutscher und österreichisch-ungarischer Agrarpolitik, diverser Ansätze zu einer Agrarreform und schließlich ethnisch-nationalem Kontext festzuhalten: (1.) im F alle der Habsb urgermonarchie trat ein sehr viel ausgeprägteres Maß sozialen Krisencharakters, damit auch sozial moti vierter Mobilisierung hervor. Dagegen kam (2.) ethnodemographischer K onkurrenz bzw. Verdrängungsvorgängen zwischen Titularnation und nationaler Minderheit nur im deutsch-polnischen Falle bestimmendes Gewicht zu. Gemeinsam ist aber (3.) beiden Phänomenen, dass Wahrnehmung, dass politische K ommunikation und agrarpolitische reformerische Konzeptionsbildung seit dem späten 19. Jahrhundert fortschreitender „Nationalisierung“ und defensivem Konservatismus ausgesetzt sind.

Tiefgreifende agrarische Umwälzungen und Umstrukturierungen in den neu gegründeten baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen 1919/1920/1922: Motivationen und Ergebnisse bis 1940 Gert von Pistohlkors Der beste deutschbaltische K enner der Agrargeschichte des 20. Jahrhunderts, der Mainzer Emeritus Wilfried Schlau, hat in einem grundle genden Aufsatz über die Agrarreform in Lettland zwei Bezüge her gestellt, über die im einzelnen allerdings keine neueren vergleichenden Ausarbeitungen vorliegen. Er weist zum einen darauf hin, dass parallel zur Phase der Dekolonisation des baltischen Raumes am Ende des Ersten Weltkrieges durch die Enteignung der überwiegend deutschbaltischen Großgrundbesitzer in Estland und Lettland bzw. der kulturell zumeist polnisch geprägten Großgrundbesitzer in Litauen auch in Irland die auf Großgrundbesitz beruhende Herrschaft der Engländer, einer Siegermacht im Ersten Weltkrieg, an ihr Ende gekommen sei. Für ihn setzt also geschichtlich gesprochen mit diesen beiden zeitlich parallelen Vorgängen die historische Phase der Dek olonisation im Weltmaßstab ein.1 Zum anderen verweist Schlau auf den bekannten Volkswirt und Agrarwissenschaftler Max Sering (1857–1939), der 1922 als Professor das DeutscheorschungsF institut für Agrar- und Siedlungswesen in Berlin ge gründet und 1930 auf deutsch, vorher 1925 merkwürdigerweise auf russisch, ein Sammel werk über „Die agrarischen Umwälzungen im außerrussischen Osteuropa“ herausgegeben hat. Sering wählte für alle neu geformten Staaten Nordosteuropas, Ostmitteleuropas und Südosteuropas, die er beschreiben ließ, gemäßigte Kapitelüberschriften, wie „Agrarverfassung und Landreform in Finnland“, ähnliche F ormulierungen für Litauen, Polen, Ungarn und Bulgarien, „Die Bodenreform in der Tschechoslowakischen Republik“ sowie „Agrarische Umwälzung“ in Jugoslawien und Großrumänien. Im Hinblick auf Estland und Lettland schrieb Otto Korfes aus Potsdam jedoch über „Agrarrevolutionen“.2 Mit dieser umfassend angelegten Formulierung wird die Radikalität des Vorgehens gekennzeichnet, mit der in den neu ge gründeten Staaten Eesti (Estland) und Latvija (Lettland) der zumeist deutsche Großgrundbesitz durch Mehrheitsentscheidungen in den Parlamenten enteignet und zunächst verstaatlicht wurde; in Litauen, wie noch zu zeigen sein wird, hinkten die vergleichbaren Vorgänge nach und fielen deutlich gemäßigter aus. 3 Andererseits steckt in der Anlage dieses Sammelwerkes 1S

CHLAU, Wilfried: Die Agrarreform in Lettland. In: BRICHTA, Herbert/PARPLIES, Günther (Hgg.): Gegen den Mahlstrom der Zeit. Ausgewählte Beiträge zur politischen Soziologie und Neueren Sozialgeschichte. Stuttgart 1990, S. 279–300, bes. S. 279. 2 S ERING, Max (Hg.): Die agrarischen Umwälzungen im außerrussischen Osteuropa. Ein Sammelwerk. Berlin, Leipzig 1930. Der um Objekti vität bemühte Beitrag v on Archivrat Dr. Otto KORFES: Die Agrarrevolutionen in Estland und Lettland. Ebd., S. 72–127. 3 B ROEDRICH, Sulvio: Die Agrarreform in Litauen. Ebd., S. 128–153.

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aber auch die zeitgenössisch vielfach bezeugte Skepsis gegenüber dem Rechtsverständnis der neu ge gründeten Staaten des „östlichen Mitteleuropa“, einschließlich der baltischen Staaten und Polens. Sering selbst äußert sich äußerst kritisch über die Unfähigkeit des Völkerbundes, die durch Klagen v on Betroffenen aufgeworfenen Rechtsfragen zu klären. 4 Diese zeitgenössischen Vorbehalte ge gen die Agrarreformen und ihre Folgen zeigen bereits, dass es mit einer vergleichenden Geschichte der Agrarökonomie allein nicht getan wäre. Im F olgenden ist vielmehr zu prüfen, ob und inwiefern die Agrarpolitik in den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen Vergleiche zulässt, die zur Klärung der besonderen Lage der baltischen Staaten in der Zwischenkriegszeit bis 1940 beitragen könnten.

1. Agrarkapitalismus vor 1914 Die Vorgeschichte dieser tief greifenden Umwälzungen und Umstrukturierungen kann hier nur knapp charakterisiert werden. 5 Für die Ostseepro vinzen Russlands, die Gouvernements Estland, Li vland und K urland, verfolgte der überragende li vländische Agrarreformer Hamilcar Baron Fölk ersahm (1811–1856) das Ziel, eine Entwicklung nachzuholen, die bei der Bauernbefreiung 1819 in Livland und parallel dazu in den Gouvernements Estland (1817) und Kurland (1816) versäumt worden war.6 Mit dem nachgeholten Weg zum Agrarkapitalismus sollten sich die Ostseeprovinzen für immer vom Innern des Russischen Reiches unterscheiden.Wenige Jahre nach den Stein- Hardenber gschen Reformen im Königreich Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde in den Ostseepro vinzen der Bauernschutz v on 1804 aufge geben. Dort wurden die Esten und Letten zw ar persönlich frei, doch verblieb das Recht auf Landbesitz, abgesehen v on den im russischen Staatsbesitz befindlichen sogenannten Kronsgütern und wenigen städtischen Besitzungen v or allem Rigas, ganz beim immatrikulierten Adel, also bei den Angehörigen der Estländischen, Livländischen, Kurländischen und Öselschen Ritterschaft, in der größten Pro vinz Li vland immerhin bis 1866, auch wenn dage gen v on Vertretern des deutschen gebildeten Bürgertums und erst recht v on jungen Intellektuellen in den estnischen und lettischen nationalen Bewegungen öffentlich lebhaft protestiert worden ist. Im Übrigen wurde das System der Frone, dieArbeitspacht auf der Basis von 4 Vgl. SERINGS Einleitung zum Sammelwerk, ebd., S. 1–57, Zitat S. 57. 5 Eine gute knappe Einführung in die Agrarökonomie der baltischen Staaten und ihrer Vorgeschichte geben KAHK, Juhan/TARVEL, Enn: An Economic History of the Baltic Countries. (Studia Baltica Stockholmiensia, Bd. 20). Stockholm 1997. Leider werden die zahlreichen statistischen Angaben und Zahlen nicht näher belegt. Der Band mit Handbuchcharakter (141 S.) verweist lediglich auf weiterführende Literatur in Auswahl. 6 Über Fölk ersahm: Deutschbaltisches Biographisches Le xikon 1710–1960, hg. v . Wilhelm LENZ. Köln, Wien 1970, Nachdruck Wedemark 1998, S. 220 f. (künftig DBBL). Diese Darstellung der Vorgeschichte stützt sich auf: P ISTOHLKORS, Gert von: Ritterschaftliche Reformpolitik zwischen Russifizierung und Re volution. Historische Studien zum Problem der politischen Selbsteinschätzung der deutschen Oberschicht in den Ostseeprovinzen Rußlands im Krisenjahr 1905. (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, Bd. 48). Göttingen 1978, bes. S. 43– 114.

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abgeleisteten Stunden auf den Gütern, nach der Bauernbefreiung von 1819 weitergeführt, weil die Frone bei der überwiegenden Zahl der Gutsbesitzer als wirtschaftlicher galt als die ausgebaute Eigenwirtschaft, die zunächst vor allem Geld gekostet hätte. Fölkersahm aber wollte das System der Frone endgültig abschaf fen und neben den selbständig wirtschaftenden Großgrundbesitzer den Kleingrundbesitzer stellen, den selbständigen estnischen und lettischen Bauernwirt. Der Übergang von der Frone zur Geldpacht und zum Bauernlandverkauf sollte auf gesetzlichem Wege möglichst zügig eingeleitet werden. Der Bauernwirt sollte Eigentümer v on Grund und Boden werden, die Waldwirtschaft aber lieber dem Großgrundbesitzer überlassen und an der Seite des Gutsbesitzers eine Zentralsonne sein, um die sich die zahlenmäßig weit überwiegenden Gruppen der Landlosen drehten. Fölk ersahms sozialpolitische Vorstellungen blieben also ständisch geprägt. 1849 wurde eine Li vländische Bauernverordnung erlassen, die aber zunächst unter dem Eindruck der 1848er Re volutionen in Europa zurückgenommen wurde. Es dauerte in Livland bis zum Jahr 1860 – kurz vor der Bauernbefreiung im Innern des Russischen Reiches, in Lettgallen und in Litauen –, bis der besondere baltische Weg durch ein Agrargesetz eingeleitet wurde. 7 Die „Li vländische Gemeinnützige und Oeconomische Societät“ und die „Livländische Adelige Güterkredit-Societät“, nicht etwa die Russische Bauernagrarbank, v ersetzten mutige Bauern in die Lage, Land zu kaufen und die Schulden bei der Bank allmählich, z. B. in Fristen von 49 Jahren, abzutragen. Insgesamt hat dieser Weg in den Agrarkapitalismus gut funktioniert.8 Bald machten tüchtige Bauern den Großgrundbesitzern erhebliche K onkurrenz. Diese hatten bestimmte Areale als Bauernland auszuweisen – in Li vland wurde das Gutsland vom Bauernland durch den so genannten Roten Strich getrennt – und mussten nun nach der gesetzlichen Abschaffung der Fron verträge im Jahr 1868 funktionierende Gutswirtschaften mit eigenen Knechten aufbauen, was angesichts der allgemeinen Kapitalarmut und insbesondere auf schlechten Böden erhebliche Schwierigkeiten bereitete. Für die Zeit vor 1914 kann summarisch festgestellt werden, dass in den Ostseeprovinzen Russlands ein leistungsfähiger Bauernstand auf eigene Rechnung wirtschaftete und in Konkurrenz zu den Gutswirtschaften vor allem auf Milchprodukte und auswärtige Märkte setzte. Dieser Bauernstand suchte seine Interessen jedoch nicht wie erhofft bei der ethnisch fremden und in der Re gion dominierenden deutschen Führungsschicht, sondern wurde zur Stütze der „Nationalen Be wegungen“, die sich in Stadt und Land seit den 1870er Jahren herausbildeten, allerdings erst am 7

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Mit dem folgenden posthum erschienenen Werk zieht Juhan Kahk die Summe aus seinen zahlreichen Untersuchungen: K AHK, Juhan: Bauer und Baron im Baltikum. Versuch einer historisch-phänomenologischen Studie zum Thema „Gutsherrschaft in den Ostseepro vinzen“. Hg. v. Otto-Heinrich ELIAS u. a. Tallinn 1999. Grundlegende Gesamtdarstellungen: R AUN, Toivo U.: Estonia and the Estonians. (Studies of Nationalities in the USSR Series). 2. Aufl. Stanford 1991; P LAKANS, Andrejs: The Latvians. A Short History. (Studies of Nationalities). Stanford 1995; H ELLMANN, Manfred: Grundzüge der Geschichte Litauens. (Grundzüge, Bd. 5). 2. Aufl. Darmstadt 1976; B LOMEIER, Volker: Litauen in der Zwischenkrie gszeit. Skizze eines Modernisierungsk onflikts. (Arbeiten zur Geschichte Osteuropas, Bd. 6). Münster 1998.

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Ende des Ersten Weltkrieges jeweils mehrheitlich den eigenen Nationalstaat gegen die k onkurrierenden Vorstellungen der Ritterschaften und der Bolsche wiki anstrebten. Eisenbahnbau, Urbanisierung und Industrialisierung so wie Intensivierung der Landwirtschaft wurden seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die entscheidenden Faktoren für einen wachsenden Wohlstand, auch unter den Esten und Letten. Riga verfünffachte seine Bevölkerung zwischen 1870 und 1914 und wurde zum größten Exporthafen des Russischen Reiches; Re val gedieh zu einem Zentrum des Schif fbaus im Russischen Reich und zum zweitgrößten Importplatz nach St. Petersb urg; dabei ist es charakteristisch für die re gionale Entwicklung, dass diese Städte, die Universitätsstadt Dorpat und auch die kleineren Kreisorte immer „lettischer“ bzw . „estnischer“ wurden. Am Vorabend der radikalen Umstrukturierungen in den neu ge gründeten Staaten Eesti und Latvija ergab sich folgende Besitzverteilung, die für die einzelnen Gouvernements Estland, Livland und Kurland gesondert ausgewiesen werden kann. In Estland umfasste ein Gutshof im Durchschnitt 2.113 ha, in Li vland 2.264 und in Kurland 1.956 ha. Bauernhöfe erreichten in Estland im Durchschnitt eine Größe von 31.6 ha, in Li vland 49.8 und in K urland 35.9 ha. Im estnisch besiedelten Teil der Ostseeprovinzen, also in Estland und Nordli vland, gehörten den zumeist deutschen Gutsbesitzern 58 Prozent des Grund und Bodens, den Bauern 42 Prozent. 9 Im lettischen Teil Livlands und in Lettgallen gehörte den deutschen bzw . zumeist polnischen Rittergutsbesitzern ebenfalls mehr als die Hälfte des gesamten Grund und Bodens: 51 bzw . 53 Prozent. 10 Das Bauernland umf asste eine Fläche v on 41 Prozent im lettischen Distrikt Li vlands, 37 Prozent in K urland und 40 Prozent in Lettgallen. In Kurland gab es nach dem Über gang von der herzoglichen Zeit unter polnischer Oberhoheit zur russischen Zeit nach 1795 natur gemäß besonders viele Kronsgüter. Von den Verwaltern von Kronsgütern sowie von den Großgrundbesitzern pachteten lettische Gesindewirte zahlreiche Ländereien, so dass Schlau zu dem Ergebnis k ommt, dass sich bereits am Vorabend der gesetzlichen Umstrukturierungen in K urland 63 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Flächen in bäuer licher Hand befanden. Diese Flächen, ob gekauft oder gepachtet, bildeten das Rückgrat der Ordnung auf dem Lande nach der Neugründung der Staaten Estland und Lettland und gingen in das Eigentum der Nutzer über. Wald und Unland erreichten in bäuerlichen Betrieben nicht einmal eine Ausdehnung v on 20 Prozent der Betriebsfläche. Sie w aren durch Jahrhunderte überwiegend Eigentum des deutschen bzw. polnisch/litauischen Gutsbesitzers gewesen.11 9 KAHK/TARVEL (wie Anm. 5), S. 107. 10 S CHLAU (wie Anm. 1), S. 281 f. 11 Vgl. PISTOHLKORS, Gert von: Estland, Lettland und Litauen 1920–1940. In: Handbuch der europäischen Wirtschafts– und Sozialgeschichte Bd. 6. Hg. v . Wolfram F ISCHER. Stuttgart 1987, S. 729–768 (mit zahlreichen Tabellen und weiterführender Literatur); wieder abgedruckt in: DERS.: Vom Geist der Autonomie. Hg. v. Michael GARLEFF. Köln 1995, S. 93–132. Die zahlreichen Tabellen und Zahlenangaben in diesem Handb uchartikel stützen sich, wenn nicht anders angegeben, auf den ungedruckten Beitrag von Doris Hertrampf in einem Münsteraner/Glasgower Forschungsprojekt aus dem Jahr 1981 unter der Leitung von Erik Boettcher (Münster) und

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Das System der Selbstherrschaft hatte bis in den Ersten Weltkrieg hinein den Großgrundbesitz vollständig respektiert. Die Vorbereitung einer ländlichen Grundsteuerreform, an der die Ritterschaften jahrzehntelang arbeiten durften, kam in Livland erst 1912 zum Abschluss. Bis dahin war der gesamte Großgrundbesitz grundsteuerfrei – im Unterschied zum bäuerlichen Besitz. Allerdings zahlten die Großgrundbesitzer z. T. bedeutende „Willigungen“ an die Ritterschaft, die für die Wegebaulast und soziale Leistungen zuständig blieb, obgleich ihrer ständisch geprägten Selbstverwaltung im Zuge des Ausbaus der staatlich-bürokratischen Kompetenzen, die als „Russifizierung“ erlebt wurden, seit den ausgehenden 1880er Jahren zahlreiche Aufgaben entzogen worden waren. Die Großgrundbesitzer, nach W. Schlau allein 820 deutsche F amilien im lettischen Siedlungsgebiet, k onnten sich gerade vor 1914 nachdrücklich dem wirtschaftlichen Ausbau ihrer Gutswirtschaften widmen und durch Intensi vierung von Ackerbau und Viehzucht am Aufschwung der europäischen Wirtschaft partizipieren.12 Ihnen standen zwei Gruppen ge genüber, die die Axt an die Vorherrschaft des deutschen Großgrundbesitzes legen wollten: die estnischen und lettischen Bauernwirte und Pächter sowie die große Zahl der Landlosen. Im Krisenjahr 1905, als 184 Gutshäuser, die „Zwingb urgen“ der lettischen Landbe völkerung, demoliert bzw . völlig eingeäschert wurden, erlebte die deutsche Oberschicht einen v on der lettischen Sozialdemokratie politisch geführten Klassenkampf, der im Jahr 1906 allerdings von Truppen des Zaren blutig niedergeschlagen wurde, so dass sich die Vorherrschaft der Deutschen noch einmal zu konsolidieren schien. In Wirklichkeit waren die interethnischen Beziehungen in den Ostseeprovinzen nach dieser revolutionären Krise jedoch auf Jahre hinaus vergiftet.13 Als während des Ersten Weltkrieges mit dem Sturz des russischen Kaisertums in der Februarrevolution, der physischen Bedrohung der Gutsbesitzer durch die regionalen Folgen der Oktoberrevolution, nach dem Ende aller Hoffnungen durch den Zusammenbruch der deutschen Okkupation im baltischen Raum im No vember 1918 und schließlich mit dem Sieg der demokratisch geführten Kräfte über die Bolschewiki sich die Gründung der Republik en Estland und Lettland abzuzeichnen begann, war es jedem realistisch denkenden Zeitgenossen klar, dass die neu gegründeten demokratischen Republik en nur nach einer umf assenden Neuordnung der Agrarverhältnisse die Chance hatten, politisch zu überleben. Dass diese Neuordnung in Estland 1919 und in Lettland 1920 so drastisch ausgefallen ist, kann allerdings ohne die Sie ge im „Freiheitskrieg“ von 1918 bis 1920 Erik Nove (Glasgow), dessen Er gebnisse leider nur in überarbeiteter Manuskriptform v orliegen. 12 Zur Grundsteuerreform immer noch am besten: TOBIEN, Alexander von: Die Livländische Ritterschaft in ihrem Verhältnis zum Zarismus und russischen Nationalismus Bd. 2. Berlin 1930, S. 77–109, bes. S. 102. Zur hoch ge griffenen Zahl von 820 deutschbaltischen Gutsbesitzerf amilien im lettländischen Raum vgl. SCHLAU (wie Anm. 1), S. 300, der sich hier auf die grundlegende Wirtschaftsgeschichte Lettlands von AIZSILNIEKS, Arnolds: Latvijas saimniecibas vesture 1914–1945 (Die Wirtschaftsgeschichte Lettlands 1914–1945). Stockholm 1968, stützt. 13 Vgl. PISTOHLKORS, Gert v on: Die Ostseepro vinzen unter russischer Herrschaft 1710/95–1914. In: Baltische Länder. Hg. v. Gert von PISTOHLKORS. Berlin 1994, durchgesehene Sonderausgabe 2002, S. 266–450, bes. S. 416–435.

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nicht erklärt werden, namentlich den Sie g der Nationalesten und der nationalen „Ulmanis-Letten“ über die deutschbaltische „Landeswehr“ und die in Lettland verbliebene reichsdeutsche „Eiserne Di vision“ in der Schlacht v on Wenden [Cesis] vom 22. bis 24. Juni 1919, im Schatten der Pariser Vorortsverträge von 1919.14 Bis weit in die Parteien der Mitte hinein wurde die Politik führender Deutschbalten, die mit den wirtschaftlichen Interessen des Großgrundbesitzes gleichgesetzt wurde, als reine Klassen- und Interessenpolitik angesehen; sie sei trotz mancher Ge genstimmen in den eigenen Reihen von den meisten Deutschbalten befürwortet worden und auf eine Eindeutschung des gesamten baltischen Landes gerichtet gewesen. Neben dem scharfen Urteil über den aus dem Mittelalter stammenden deutschen Kolonialismus und die negativen Auswirkungen der „siebenhundertjährigen“ deutschen Skla verei fiel bei der Entscheidung ge gen die ök onomische und politische Vorherrschaft der Deutschbalten und der Ritterschaften im Besonderen ein ganz nüchternes politisches Kalkül ins Ge wicht. Der k onkurrierende Machtanspruch der Bolschewiki, der gerade mit militärischen Mitteln und unter Mitwirkung des „Baltenre giments“, der Truppeneinheit der estländischen Deutschbalten, zurückgewiesen worden war, musste mit Hilfe einer durchschlagenden Umstrukturierung der Eigentumsv erhältnisse auch politisch überwunden werden. Wenn die Agrarpolitik der Bolschewiki wirksam und nachhaltig bekämpft werden sollte, die auf die Verstaatlichung der Ritter güter und die Abschaffung jeden Pri vatbesitzes abzielte, jedoch die enttäuschte landlose Bevölkerung faktisch in ähnlicher Abhängigkeit belassen hätte wie zuvor, dann musste dem Landhunger des einzelnen baltischen Landbewohners und manchen Städters ener gisch Rechnung getragen und eine eigene sozialpolitische Antwort auf die Agrarfrage gefunden werden. F amilien, die Land bebauen w ollten, so wurde öf fentlich v erkündet, sollten nach der Enteignung der Großgrundbesitzer genügend Land selbständig bewirtschaften und damit durch die Schaf fung v on F amilienbetrieben dem Staat ein festes soziales Fundament geben können. Bäuerlicher Landbesitz erschien als geeignetes Mittel, um die Abgrenzung und Abwehrkräfte gegenüber dem im Bürgerkrieg befindlichen Russland für immer zu stärken. Sozialre volutionäre, Sozialdemokraten wie Mitte-Rechtsparteien w aren sich deshalb darin einig, dass trotz der gleichzeitigen Verfassungsgarantie des Privateigentums die Stunde genutzt und der als politisch unzuv erlässig angesehene, überwiegend deutsche Großgrundbesitz zerschlagen werden müsse. Allerdings gab es über die F ormen des gesetzlichen Vorgehens und die praktische Durchsetzung der Agrargesetze in beiden Staaten durchaus ge gensätzliche Auffassungen in den verschiedenen politischen Gruppierungen. Die Er gebnisse in Estland und Lettland müssen trotz mancher struktureller Gemeinsamk eiten auf ihre Auswirkungen hin unterschieden werden. Die Vorgänge in Litauen nach dem Agrargesetz v om 29. 14 Vgl. GARLEFF, Michael: Die Deutschbalten als nationale Minderheit in den unabhängigen Staaten Estland und Lettland. Ebd., S. 452–551, bes. S. 465–481. Grundlegend für die Übergangszeit in Estland: B RÜGGEMANN, Karsten: Die Gründung der Republik Estland und das Ende des „Einen und unteilbaren Rußland“. Die Petrograder Front des russischen Bür gerkriegs 1918– 1920. (Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts München. Reihe F orschungen zum Ostseeraum, Bd. 6). Wiesbaden 2002.

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März 1922 beruhten ohnehin auf besonderen politischen Voraussetzungen, die für das Vorgehen der nördlichen Nachbarn in den Jahren 1919 und 1920 nicht galten.15 Agrargeschichte kann jedoch in den drei baltischen Staaten nicht in erster Linie als Problem der Ökonomie angesehen werden; die tief greifenden Umstrukturierungen waren vielmehr getragen vom dominierenden politischen Willen in den Titularvölkern der Esten, Letten und Litauer und v on entsprechenden parlamentarischen Mehrheitsentscheidungen in den einzelnen baltischen Staaten.

2. Nach Gründung der Staaten Estland, Lettland und Litauen: Die Agrarreformen von 1919/1920/1922 Der Freistaat Estland – Eesti v abariik – wurde am 24. Februar 1918 als demokratische Republik ausgerufen. Unter der deutschen Besatzung Estlands v om 25. Februar bis Mitte November 1918 ist jedoch die deutsche Oberschicht der eigentliche Partner der deutschen Militärv erwaltung gewesen, insbesondere die Estländische Ritterschaft. Ihr Großgrundbesitz wurde einstweilen weitgehend geschont, die bäuerliche Be völkerung jedoch durch Abgaben erheblich belastet. Nach Abzug der deutschen Truppen im November 1918 entstand eine gefährliche Bürgerkriegssituation zwischen den gemäßigten und den bolsche wistischen Gruppen, die aus dem Petrograder Gebiet nach Estland eindrangen.16 Als eine der ersten Maßnahmen der neuen estnischen Staatsführung wurde bereits im November der ehemals russische Staatsbesitz v erstaatlicht: Wälder, Landgüter und das Eigentum der Russischen Agrarbank. Ausschlaggebend für die Neustrukturierung der Landwirtschaft war jedoch das Agrargesetz vom 10. Oktober 1919, das vor dem Frieden von Tartu [Dorpat] am 2. Februar 1920 mit der Sowjetmacht von der estnischen Konstituante (Verfassungsgebende Versammlung) mehrheitlich angenommen wurde. Auf dem Boden des Freistaates bef anden sich zu diesem Zeitpunkt 1.149 Rittergüter, denen 51.640 Bauernhöfe ge genüber standen. 17 Diese Bauernhöfe mit einer Durchschnittsgröße von 31,4 ha wurden nicht angetastet, die Ritter güter hingegen – auch die wenigen Güter mit estnischen Eigentümern – v ollständig enteignet. Insgesamt wurden 2.346.494 ha v erstaatlicht, d. h. in staatliche Landfonds überführt. Auf gesetzliche Festle gungen über die Größe der „Restgüter“ oder die angestrebte Größe der neu zu schaf fenden Bauernhöfe wurde zunächst v erzichtet. Ergänzende Bestimmungen zum Agrargesetz wurden erst 1925/26 unter dem Titel „Gesetz betreffend die Vergebung von Staatsländereien zu erblicher Nutzung und zu Eigentum“ am 16. Juni 1925 erlassen und am 16. November 1926 präzisiert. Im Agrargesetz von 1919 wurden hingegen in aller Vorsicht nur von Erbpachtverträgen für Neusiedler gesprochen, so dass der Staat letztlich Eigentümer der F ondslände15 Zur Agrargeschichte Litauens vor 1914: BLOMEIER (wie Anm. 8), bes. S. 56–63. 16 Neben GARLEFF (wie Anm. 14) vgl. R AUCH, Geor g v on: Geschichte der baltischen Staaten. 3. Aufl. München 1990, bes. S. 48–80. 17 Alle Zahlen bei PISTOHLKORS, VON: Estland, Lettland und Litauen (wieAnm. 11), S. 750 f. (nach Doris Hertrampf, S. 31).

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reien blieb. Es konnte aber nicht das Ziel sein, auf gesetzlichemWege zwei Klassen von Bauern zu schaffen: den Alteigentümer und den Neusiedler, estnisch „asunik“. Deshalb wurde in den gesetzlichen Bestimmungen von 1925/26 Kauf und Erbpacht ausdrücklich als zwei Möglichk eiten des Landerwerbs zugelassen, jedoch v on der Errichtung von Betriebsgebäuden abhängig gemacht. Die Staatsführung hatte freilich nie die Absicht, die ganzen 2,35 Millionen ha aus den Landfonds unter den Neusiedlern aufzuteilen. Vielmehr wurde der Staat selbst zum größten Land- und vor allem zum alles dominierenden Waldbesitzer. Im Übrigen hielt er Ländereien für Muster güter, Forschungseinrichtungen sowie Nutzungsflächen für die Erweiterung von Städten zurück.18 Die vormaligen Rittergutsbesitzer verloren alle Besitzrechte Sie hatten aber wie jeder Staatsbürger Estlands das Recht, einen Antrag auf Landzuweisung zu stellen. Zunächst wurde es der Landgemeinde überlassen, ob sie ihre Gutshäuser behalten durften, und vor allem, welches Land aus dem ehemaligen Besitz ihnen zugewiesen werden sollte. Sie erhielten dann nach dem Gesetz v on 1925 maximal 50 ha, er gänzt um Sonderzuweisungen für solche Familienangehörige, die sich als Kämpfer im „Baltenregiment“, der deutschbaltischen Einheit unter estnischer Führung, an der Befreiung des Landes von den Truppenverbänden der Bolschewiki beteiligt hatten. Ein Anspruch auf die ehemaligen Gutsgebäude und das Gutshaus bestand aber auch dann nicht. Statistisch gesprochen erhielten die ehemaligen Gutsherren in ihrer Gesamtheit auf diese Weise 3,6 Prozent ihres ehemaligen Landbesitzes zurück. 19 Mehr als 50 Prozent v on ihnen v erließen jedoch mit ihren F amilien Estland und emigrierten zumeist in die unwirtliche Weimarer Republik. Dort fiel es ihnen schwer, sich trotz mancher Unterstützung aus dem Flüchtlingsstatus herauszuarbeiten.20 Die Zahlen zur Landverteilungspolitik des Staates sind nicht ganz eindeutig; es fehlt auch an eindeutigen Nachweisen. Nach offiziellen Statistik en wurden etw a 470.000 ha an ehemalige Pächter auf den ehemaligen Gütern ausge geben. Ca. 700.000 ha wurden schließlich in loser Folge an ca. 53.000 Neusiedler verteilt. Juhan Kahk (1928–1998) und Enn Tarvel, beide führende Agrarhistoriker Estlands, setzen jedoch deutlich andere Prioritäten und vermeiden auf diese Weise die Optik, als ob es sich um eine Erfolgsgeschichte handele. Sie betonen vielmehr, dass der Staat zum dominierenden Wirtschaftsfaktor wurde, indem er mehr als die Hälfte der enteigneten Flächen – insbesondere fast alle enteigneten Wälder – dauerhaft in seinem Eigentum und in seiner Nutzung beließ und insgesamt nur etw as mehr als eine Million Hektar an ehemalige Pächter , Neusiedler und ihre F amilien ausgab. Nur knapp über 40 Prozent der ca. 55.000 Bewerber erhielten Land, 44 Prozent von 18 Vgl. KAHK/TARVEL (wie Anm. 5), S. 108 f. 19 Vgl. PISTOHLKORS, VON: Estland, Lettland und Litauen (wie Anm. 11), S. 750. 20 Eine Darstellung der Geschichte der deutschbaltischen Flüchtlinge/Emigranten zwischen 1918 und 1939 fehlt, vgl. aber: H EHN, Jürgen von: Die Umsiedlung der baltischen Deutschen. Das letzte Kapitel baltisch – deutscher Geschichte. (Marburger Ostforschungen, Bd. 40). Marburg/ Lahn 1982, S. 15–21, bes. S. 16 sowie GARLEFF, Michael (Hg.): Deutschbalten, Weimarer Republik und Drittes Reich. (Das Baltikum in Geschichte und Ge genwart Bd. 1 und 2). Köln, Weimar, Wien 2001, 2008.

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ihnen sind Veteranen des „Freiheitskrieges“ von 1918/20 gewesen. 29 Prozent haben aus diesem Land als frühere Pächter ihre Äcker und Wiesen aufgestockt und 27 Prozent der Landlosen erstmalig ein Stück Boden zur Verfügung gestellt bek ommen.21 52 Prozent der Gesamtfläche Estlands haben nach ihren Berechnungen eine neue landwirtschaftliche Struktur erhalten, nur ca. 32.000 Höfe sind neu eingerichtet worden. In der Summe sind nach 1925/26 schließlich ca. 23.000 frühere Pächter zu selbständigen Eigentümern auf Höfen ge worden. 25.000 Pächter haben v om Staat Land zu Vorzugspreisen gepachtet. 13.500 Häusler haben kleine Landstellen gegen ein geringes Entgelt nutzen können. Insgesamt k ommen sie zum Er gebnis, dass im estnischen Siedlungsgebiet die Zahl der 52.000 selbständigen Bauern v or 1914 durch die Agrarreform mehr als verdoppelt wurde. 55.000 Höfe seien hinzugekommen. Dreimal so viel unbebautes Land sei unter den Pflug gekommen als vor dem Ersten Weltkrieg (1909–1913).22 Die Neustrukturierung der Landwirtschaft hatte erhebliche soziale Folgen. 67,4 Prozent der Landbe völkerung gehörten im Er gebnis der Agrarreform nunmehr zu den selbständigen Landwirten unter Einschluss der F amilienmitglieder. Im Jahr 1916 – so bezeugen offizielle Statistiken – waren ca. zwei Drittel der Landbevölkerung noch v on jeder Landnutzung ausgeschlossen; im Er gebnis der Volkszählung von 1934 wurden hinge gen nur noch 17,6 Prozent der Landbe wohner als „Landlose“ bezeichnet. 23 Als F olge dieser Politik herrschte in Estland – wie übrigens auch in Lettland – v or allem zu Aussaat- und Erntezeiten allerdings zunehmend Landarbeitermangel. Der v on Sk eptikern v orausgesagte völlige Zusammenbruch der Neusiedler-Wirtschaften ist hinge gen nicht eingetreten, doch haben immerhin auf 11.763 Neuhöfen bis zum Jahr 1939 die Besitzer gewechselt, besonders wohl in den Jahren der Weltwirtschaftskrise zu Beginn der 1930er Jahre. Nach einer Statistik aus dem Jahr 1929 – v or den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise – schuldeten Altbauern dem Staat im Durchschnitt 112, Neusiedler 713 Kronen, Summen, die vor allem in der Relation zueinander aussagekräftig erscheinen. Das lettländische Beispiel ermöglicht eine breitere Basis für die Beurteilung der Frage, ob es sich in beiden Staaten um „Agrarrevolutionen“ handelte oder doch nur um Reformen. Manche Vorgänge lassen sich im Vergleich mit Estland parallelisieren, allerdings mit charakteristischen Unterschieden, die weitgehend auf die Ausgangsbedingungen zurückzuführen sind, die durch den Ersten Weltkrieg verursacht wurden. Lettland hatte unter den F olgen des Krie ges zwischen dem Russischen Reich und den Mittelmächten viel stärk er zu leiden als Estland. Ca. 750.000 Letten aus Südlivland und Kurland wurden alsbald zur Flucht ins Innere Russlands veranlasst und waren dort in ganz anderer Weise den re volutionären Umbrüchen des Jahres 21 K AHK/TARVEL (wie Anm. 5), S. 108. 22 Ebd. Es fehlen allerdings wiederum Quellenverweise für die eindrucksvollen Zahlen. Eine archivisch – statistisch überzeugende Aufarbeitung des Themas „Agrarreform in Estland“ wäre ein Desiderat. 23 Hier und für das F olgende: P ISTOHLKORS, VON: Estland, Lettland und Litauen (wie Anm. 11), S. 751.

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1917 ausgesetzt als die Bewohner des estnischen Siedlungsgebietes. Nach der Oktoberrevolution konnte sich die Sowjetmacht unter Lenin auf niemanden so sicher verlassen wie auf die Roten Schützen und die lettischen Krie gsflüchtlinge, die in Petrograd wichtige Leitungsaufgaben in den Kommunen und Häuserblöcken übernahmen. In Südlivland wurden die lettischen Bauernwirte bekämpft und die Errichtung von Agrostädten angestrebt. Kurland hat hingegen seit 1915 bis zum Ende des Krieges ununterbrochen unter deutscher Okkupation gestanden und damit neben Litauen im Baltikum eine Sonderrolle eingenommen. In Kurland stützte sich die deutsche Besatzungsmacht auf die Deutschbalten, in den litauischen Gouvernements auf die Litauer, nicht auf die polnischen Gutsbesitzer. Die Zersplitterung unter den Letten im lettischen Siedlungsgebiet, auch unter Einschluss Lettgallens, hätte im Ersten Weltkrieg nicht größer sein können. Ende 1918, nach dem Abmarsch der re gulären deutschen Truppen aus dem gesamten Baltikum, kam es in Riga und im lettischen Siedlungsgebiet zu bür gerkriegsähnlichen Zuständen, die die Vorgänge in Estland weit übertrafen. Roter Terror, Hunger- und Ruhrepidemien w aren an der Tagesordnung, insbesondere in der ersten Hälfte des Jahres 1919, als die Roten in Lettland herrschten. Die v on den Briten favorisierten „Ulmanis-Letten“, die schließlich mit Hilfe der „Landeswehr“ und der reichsdeutschen „Eisernen Division“ obsiegten, rangen mit der Führung der deutschbaltisch geprägten Landeswehr und den Bolschewiki um die Macht. Nach der bereits erwähnten Schlacht bei Wenden vom Juni 1919, ca. 50 km nordöstlich von Riga, nach der „Bermondt-Affäre“, der Abwehr einer gewalttätigen russisch dominierten Soldateska, die Riga zu erobern trachtete, k onnte die bereits am 18. November 1918 ausgerufene Republik Lettland erst im Herbst 1919 richtig damit beginnen, eine demokratische Republik aufzubauen. Kriegerische Auseinandersetzungen mit den Bolschewiki setzten sich in Lettgallen bis 1920 fort, das ein Teil Lettlands werden sollte und in russischer Zeit v on Vitebsk aus verwaltet worden w ar. Die Arrondierung des künftigen Staatsgebietes machte also erhebliche Schwierigkeiten. Deshalb liegen die politischen Auseinandersetzungen um die lettländische Agrarreform zeitlich fast ein Jahr später als die vergleichbaren Vorgänge in Estland. Das Lettländische Agrargesetz Teil I wurde am 16. September 1920 erlassen und trat bereits eine Woche später in Kraft.24 In den Jahren 1922 und 1924 wurden ergänzende gesetzliche Bestimmungen v erabschiedet. Im Unterschied zu Estland enthielt das lettländische Agrargesetz bereits Ausführungsbestimmungen. Danach waren wie in Estland Landfonds zu schaf fen, die sich v or allem aus den Wäldern und Ackerflächen der ehemaligen Ritter güter, den Ländereien der P astorate, den Gütern der Städte sowie Landstücken der ausländischen Banken zusammensetzten und die der Staat entschädigungslos zugewiesen bekam. Zu diesem Paket gehörten auch sämtliche Wirtschaftsgebäude mit Ausnahme von ländlichen Industriebetrieben, die nicht der Landwirtschaft zuzurechnen waren. Den bisherigen Rittergutsbe24 Ebd.; ausführlicher bei S CHLAU (wie Anm. 1), S. 288–292. Dort auch differenzierte Zahlenangaben zu einzelnen Aspekten der Reform auf der Basis eigener Berechnungen, allerdings ohne neuere Archivstudien, die damals noch nicht möglich waren.

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sitzern blieben die Wohngebäude und ein „Gutsrest“ von 50 ha, im Deutschen bald nicht ohne Ironie „Restgut“ genannt. Dieses Restgut wurde dem ehemaligen Eigentümer von der Re gierung zugewiesen, nicht wie in Estland v on der örtlichen Gemeinde, doch bestand auch hier k ein Anspruch auf besonders günstig gele gene Landstücke. Der Staat erhielt also – nach der Währungsumstellung vom 18. März 1920, die den Gläubigern alle Ansprüche nahm – ein schuldenfreies Territorium von ca. 3,5 Millionen ha. Die Gläubiger verloren damit etwa ein Drittel des Gesamtwertes der enteigneten Ländereien ohne jede Entschädigung. Im Ergebnis wurde der Staat mit 1. 527.000 ha – etwa 84 Prozent – wie in Estland der beherrschende Waldbesitzer. Die Ober grenze für die parallel zu Estland geplanten Neusiedlerhöfe wurde allerdings auf nur 22 ha festgesetzt. Zu den 22 ha konnten 5 ha nicht landwirtschaftlich genutzter Fläche und maximal 3 haWald hinzutreten. Bereits bestehende Kleinwirtschaften k onnten bis zu 22 ha aufgestockt werden. In einer Hand durften sich laut Gesetz nicht mehr als 50 ha Land befinden, doch wurde den bäuerlichen – zumeist lettischen – Alteigentümern faktisch bis zu 100 ha anstandslos belassen. Der Preis für die geplanten Übereignungen sollte noch festgelegt werden. Neben den Neusiedlern hat der Staat wie in Estland die ehemaligen Pächter besonders begünstigt. 320.973 ha wurden ihnen ge gen mäßige Zahlungen als Eigentum überlassen. Es entstanden 9.754 leistungsfähige Betriebe mit einer Durchschnittsgröße von 33 ha. In der Praxis näherte sich Lettland also den Verhältnissen in Estland nahezu vollständig an. Zusammen mit den Alteigentümern, den „grauen Baronen“, bildeten die ehemaligen Pächter, die zu Eigentümern wurden, das Rückgrat der neuen Agrarordnung. Zusammen unterhielten sie im Jahr 1935 insgesamt 75.186 Betriebe mit einer Durchschnittsgröße von 38 ha, übertrafen damit also estnische Alt-Bauernhöfe in der Größe. Ca. 64 Prozent des gesamten Grund und Bodens w aren in bäuerlicher Hand ohne Neusiedler, die deutlich an dritter Stelle standen und in Lettland „Jungwirte“ genannt wurden. Ihre Zahl wurde auf 54.128 berechnet. Sie wirtschafteten im Durchschnitt auf 17 ha mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche v on insgesamt 928.757 ha und wurden f aktisch nur die „Juniorpartner“ (W . Schlau) der beiden vorgenannten Gruppen. In Lettland mussten bereits im Jahr 1930 23.200 Saisonarbeiter , zumeist aus Litauen, angeworben werden. Bald erwies sich die „Pferde wirtschaft“ überall als unrentabel; die erwünschte genossenschaftlich or ganisierte Mechanisierung der Landwirtschaft konnte von den Jungwirten allerdings kaum finanziert werden.25 Der Theorie nach hatte ähnlich wie in Estland jeder Staatsbür ger, der weniger als 22 ha besaß und selbständig wirtschaften wollte, das Recht, sich um eine Landstelle aus den staatlichen Landfonds zu be werben. In der Praxis wurden jedoch in Estland und Lettland Klassifikationen vorgenommen, an deren Spitze die Helden und Hinterbliebenen des Freiheitskrie ges standen. Heftige Auseinandersetzungen entbrannten, als die Kämpfer der „Landeswehr“, f aktisch nahezu alle wehrfähigen 25 Alle erwähnten Gesichtspunkte und Zahlen bei SCHLAU (wie Anm. 1), bes. S. 293–296.

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Männer deutschbaltischer Abstammung, v on diesen Vergünstigungen sukzessi ve mit dem Argument ausgeschlossen wurden, dass sich die Landeswehr mit dem „Libauer Putsch“ vom April 1919 gegen die rechtmäßige lettländische Re gierung gestellt habe. Mit einigem Recht ist aus den dif ferenzierten Klassifikationen und der unterschiedlichen Behandlung von lettischen und deutschen Landwirten der Schluss gezogen worden, dass politische und soziale, nicht ök onomische Erwägungen bei den Klassifikationen und ihrer Durchsetzung ausschlaggebend gewesen seien.26 In Lietuva (Litauen) müssen für die Beurteilung der Umstrukturierungen im Agrarbereich ähnlich wie in Lettland die besonderen Voraussetzungen hoch in Rechnung gestellt werden. Die litauischen Gouvernements aus der Zarenzeit,Wilna, Kowno [Kaunas] und Suwalki, hatten im Vergleich zu den Ostseeprovinzen zu den vernachlässigten Gebieten des Kaiserreichs Russland gehört. Wegen ihrer Beteiligung an den polnischen Aufständen von 1830/31 und 1863 ge gen die Herrschaft des Russischen Reiches nach den Polnischen Teilungen von 1791 bis 1795 wurden die litauischen Gouvernements durch ein hartes russisches bürokratisches Überwachungssystem an jeder Entwicklung gehindert. Es gab dort k eine Städte wie Riga und Reval, keine vergleichbare verkehrsmäßige Anbindung an Russland; Stadt und Land waren wirtschaftlich rückständig. 27 Die Bauern lebten traditionell in so genannten Straßenweilern, hinter denen f adenähnliche Ackerstücke nach dem alter tümlichen System der Dreifelderwirtschaft bestellt wurden. Subsistenzwirtschaft am unteren Rand der Wirtschaftlichkeit und Lokalmärkte bestimmten das Leben. Mit der Bauernbefreiung v on 1861 wurde zw ar im Unterschied zum Innern Russlands nicht die Umteilungsgenossenschaft, die Gemeinwirtschaft des „Mir“, in Kraft gesetzt und damit die Dorfgemeinschaft gefördert. Vielmehr wollten sich die litauischen Parteiführer, in Sonderheit die dominierenden Christdemokraten, in der Agrarpolitik am Beispiel Dänemarks orientieren und mit der Gründung von Einzelhöfen an den Peripherien der Straßenweiler zugleich die Landwirtschaft intensivieren. Das magische Wort hieß „Flurbereinigung“. Wer in Gebäuden der Straßenweiler wohnen bleiben und auf den Aufbau neuer Gebäude v erzichten wollte, musste bereit sein, eine Abfindung an die Gemeinde zu zahlen.28 Nach dem Über gang zur autoritären Herrschaft der Tautininkai, der Nationalisten um Antanas Smetona (1874–1944), wurde 1927 die Schaffung von Einzelhöfen obligatorisch, wenn mehr als ein Drittel der Dorfbewohner eine Flurbereinigung beantragten. In Estland und Lettland – außer Lettgallen – hatte sich der Über gang zum Agrarkapitalismus schon von den 1860er Jahren an auf den Ausbau von Einzelhöfen ge gründet; die litauischen Gebiete hatten hier also einen erheblichen Nachholbedarf; für die Bereitstellung v on günstigen Krediten fehlte es jedoch an Kapital, zumal ausländische Investitionen Mangelware blieben.

26 Ebd., S. 297–299. 27 Vgl. neben RAUCH, VON (wie Anm. 16) auch PISTOHLKORS, Gert von: Die historischen Voraussetzungen für die Entstehung der drei baltischen Staaten. In: Die baltischen Nationen. Hg. .vBoris MEISSNER. Köln 1991, S. 11–49. 28 Nunmehr grundlegend, auch für das F olgende: B LOMEIER (wie Anm. 8), bes. S. 56–64. Zum Vergleich mit Dänemark ebd., S. 65–72.

Tiefgreifende agrarische Umwälzungen und Umstrukturierungen

187

Das am 29. März 1922 beschlossene Agrargesetz wurde im Wesentlichen von den Christdemokraten, denen der auf dem Lande dominierende Bauernb und nahe stand, gegen den Widerstand radikalerer Kräfte unter den Volkssozialisten und den schwachen Sozialdemokraten durchgesetzt. Die Parteienherrschaft stand angesichts der ungelösten Wilna- und der Memelfrage und des Gewichts des Militärs, das den außenpolitisch kaum gesicherten Staat ge gen Ansprüche Polens und der K ommunisten verteidigen sollte, auf schwachen Füßen, zumal abgesehen von den Vereinigten Staaten v on Amerika mit seiner großen litauischen Emigration f aktisch jede Unterstützung von außen unterblieb und namentlich Frankreich litauische Interessen ignorierte und den polnischen Anspruch auf Wilna nachdrücklich unterstützte. Bis Ende 1920 war Litauen mit seinen ungesicherten Grenzen außenpolitisch weitgehend isoliert und nach innen paralysiert. Erst allmählich k onnte sich ein demokratischer Verfassungsstaat durch Wahlen zur K onstituierenden Versammlung am 14./15. April 1920 le gitimieren. Die wichtigste innenpolitische Frage w ar jedoch die Agrarreform vom September 1922. Im Vergleich mit Estland und Lettland v erfolgten die Christdemokraten k eine radikalen sozialpolitischen Ziele, die ge gen jede F ortexistenz des Großgrundbesitzes gerichtet waren. Die Enteignungen wurden deshalb moderat gehandhabt. Erst von 1923 an kam die Enteignung von Landgütern über 80 ha und die Neuverteilung des Bodens an lokale Landlose und Pächter allmählich in Gang, w obei die Arbeit wie bei der Flurbereinigung in den Händen der in den Landkreisen und in jeder Landgemeinde gebildeten Reformk ommissionen lag. Der K ommission auf Gemeindebene gehörten jeweils ein Kreistagsmitglied, ein Kreisrichter und fünf v on der Dorfversammlung gewählte Vertreter an. Die Dorfversammlung musste schließlich den Vorschlag zur Neuaufteilung des Bodens genehmigen. Die jeweils am längsten auf dem Gut tätigen Arbeiter hatten ein Vorzugsrecht, danach wurden weitere Landlose berücksichtigt. Wichtigstes Kriterium w ar in diesem katholischen Land die Familiengröße. Die entscheidende Machtposition hatte der Leiter der Kommission inne. Die Bauern selbst w aren zu Be ginn der 1920er Jahre oft noch Analphabeten, die Hilfe brauchten. Auf die Interessen der ehemaligen Gutsbesitzer und der Großbauern wurde deshalb und aus politischen und ökonomischen Gründen weitgehend Rücksicht genommen. Es sollte nicht darum gehen, die bestehenden ländlichen Eliten zu frustrieren oder gar zu ruinieren. Zunächst wurde das Ackerland aus dem Großgrundbesitz verteilt, das oberhalb der Grenze von 80 ha lag, wie das Gesetz von 1922 es vorschrieb. Rund die Hälfte der besitzlosen Landbevölkerung hat aus dieser Praxis Nutzen ziehen können, doch wurden die so zustande gekommenen Hofstellen von ca. 8 ha und weniger von Gutachtern häufig als zu klein angesehen; auch wurde heftig darüber geklagt, dass die staatliche Hilfe beim Aufbau neuer Gebäude zu gering war oder ganz ausblieb. Die entscheidende Frage, wie der Bauer und insbesondere der Neusiedler an bezahlbare Kredite kommen sollten, wurde gesetzlich gar nicht geregelt.29 29 Ebd., S. 64–92. Vgl. auch P ISTOHLKORS, VON: Estland, Lettland und Litauen (wie S. 752, sowie KAHK/TARVEL (wie Anm. 5), S. 109.

Anm. 11),

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Kapitalmangel war und blieb das dominierende Problem in der Landwirtschaft Litauens. Die gesetzlich vorgeschriebene Untergrenze von 8 ha, ökonomisch angesichts der Kar gheit der Böden ohnehin ein Hemmnis für jede Modernisierung, wurde angesichts der Bereitschaft zur Aufteilung unter verschiedenen Erben vielfach ignoriert und unterschritten. Fast ein Drittel der Neusiedler gab in Litauen aus Kapitalmangel trotz großen persönlichen Einsatzes schließlich wieder auf. Auf so schmaler Grundlage konnte die dringend erforderliche Umstellung auf eine intensive Viehzucht oder gar eine Mechanisierung des Ackerbaus zunächst kaum bewerkstelligt werden, zumal statt günstiger staatlicher Kredite der Zwischenhandel und die städtischen Bankhäuser mit niedrigen Erzeugerpreisen bzw . überhöhten Zinsen das eigene Geschäft in den Mittelpunkt rückten, w as vor allem den Juden angelastet wurde. Erst nach dem Dezember 1926 – nach dem Übergang zur autoritären Herrschaft – kam es zu drastischen Zinssenkungen: statt 40 Prozent p. a. (1923) 18–24 Prozent (1926) nur noch 12–16 Prozent p. a (1929), allerdings auch dann mit mäßigem Er folg. Die Währungs- Finanz- und Kapitalnot des Staates tat bereits 1919 ein Übriges. Das erhof fte profitable Flachsgeschäft musste ausländischen Firmen über geben werden; die Waldbestände waren nach 1915 von der deutschen Besatzungsmacht so stark eingehauen w orden, dass aus dem nunmehr staatlichen Waldbesitz nicht die erhofften Profite erzielt werden konnten; das Geld für den Ausbau der schon immer vernachlässigten Infrastruktur schien weitgehend zu fehlen. Es ist zu fragen, warum der Großgrundbesitz im Vergleich zu Estland und Lettland derartig geschont wurde. Die kulturell zumeist polnisch orientierten Großgrundbesitzer durften schließlich neben den 80 haAckerland bis zu 25 Prozent ihrer Wälder behalten. Im Jahr 1929 gestattete der autoritäre Staat sogar dieAufstockung des Großgrundbesitzes auf maximal 150 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche, zumal in der Praxis Güter, die weniger als 150 ha umf assten, kaum von der gesetzlichen Regelung erfasst worden waren. Der ursprüngliche Besitzer durfte im Übrigen die Landstücke selbst wählen, die bei ihm v erbleiben sollten, ein erheblicher Vorteil gegenüber dem Vorgehen in Estland und Lettland. Insgesamt ging es in Litauen in erster Linie um Flurbereinigung, also die Auflösung der Dörfer in Einzelhöfe, nicht wie in Estland und Lettland um den Ruin der bisher führenden deutschen Großgrundbesitzer, die f ast alle der Ritterschaft angehörten und in ihrer Mehrheit auf den Sieg Deutschlands im Nordosten Europas gesetzt hatten. In Konsequenz dieses gemäßigten Ansatzes wurden nur 1.6 Millionen ha enteignet. Nur 81.000 Landstücke wurden von Staats wegen an die Landbevölkerung ausgegeben; Bewerber erhielten im Durchschnitt nur 9 ha zur eigenen Bewirtschaftung. 22.000 neue Kleinbauernhöfe wurden errichtet; 18.000 Pächter k onnten ihr Eigentum ein wenig aufstocken. Insgesamt gab es in Litauen 287.380 Bauernwirtschaften mit insgesamt 4.318.514 ha. 30 Die Unterschiede in der Umsetzung der Agrarreformen zwischen Estland und Lettland auf der einen und Litauen auf der

30 Ebd.

189

Tiefgreifende agrarische Umwälzungen und Umstrukturierungen

anderen Seite hätten kaum größer sein können, wie aus der anschließenden Tabelle hervorgeht.31 Land

Landfonds in Hektar

Davon verteilt in Hektar

In Prozent

Estland

2.346.500

1.204.451

51,3

Lettland

3.396.915

1.358.847

40,8

Litauen

540.971

439.116

81,2

Tabelle 1: Die Umsetzung der Agrarreformen in Estland, Lettland und Litauen.

3. Agrarpolitik der autoritären Regime 1926/34 bis 1940 Die Christdemokraten Litauens haben gemeinsam mit der Bauernpartei ohnehin schon die Gutsbesitzer und die alt eingesessenen Bauern als das Rückgrat der neuen Gesellschaft angesehen und damit eher einen elitären als einen e galitären Ansatz vertreten, gleichzeitig jedoch nach Möglichkeit auch lokalen Landlosen zu Land und Eigentum verhelfen wollen. Diese Politik geriet in Turbulenzen, als die Christdemokraten im Frühjahr 1926 den Volkssozialisten zusammen mit den Sozialdemokraten die Re gierungsgeschäfte überlassen mussten. 32 Der Versuch, einen Ausgleich mit Polen zu erreichen, der Streit mit dem Vatikan über die Neuordnung der litauischen Diözesen, das ungerechte Steuersystem, das völlig unterentwick elte Wohlfahrtswesen und die fehlenden Krank enkassen führten unter Leitung der Volkssozialisten bald zu einer Staatskrise. Das Eingreifen des Militärs kam einem Staatsstreich gleich. Die neu gebildete Regierung unter Augustinas Voldemaras (1883–1942) wurde aus Anhängern der nationalistischen Tautininkai und Christdemokraten gebildet. Staatspräsident wurde Antanas Smetona. Unter dem Eindruck tief greifender Streitigkeiten zwischen den Tautininkai und den Christdemokraten v erkündete er am 17. Dezember 1926 das Kriegsrecht und löste im April 1927 den Landtag (Seimas) auf. Es begann die Alleinherrschaft der Tautininkai, die bis zum März 1939 dauerte. Die neue Verfassung vom 15. Mai 1928 stärkte die Macht des Staatspräsidenten erheblich; der Landtag spielte kaum eine Rolle mehr. Vielmehr baute die Tautininkai-Partei einen eigenen Parteiapparat auf und förderte den Aufbau einer Staatsjugend (Jaunoji Lietuv a). Staatliche Bildungsmaßnahmen richteten sich ge gen die Mitwirkung des katholischen Klerus am Schulunterricht; die bisher lokal funktionierende Selbstverwaltung wurde durch ein Kommunalgesetz von 1931 an die Kette gelegt, die Vereinsfreiheit und die Presse eingeschränkt, hierin beeinflusst durch das 31 P

ISTOHLKORS, Gert von: Estland, Lettland und Litauen (wie Anm. 11), S. 752. Dort auch Tabellen zur Landv erteilung, zusammengestellt v on Doris Hertrampf nach offiziellen Statistiken. Leicht abweichende und für Estland dif ferenzierte Zahlen in der knappen Studie v on Tiit Rosenberg: Agrarfrage und Agrarreform in Estland 1919: Ursachen und Folgen. In: The Independence of the Baltic States: Origins, Causes and Consequences, ed. by Eberhard Demm et al. Chicago 1996, S. 87–95, bes. die statistischen Angaben S. 93. 32 H ELLMANN (wie Anm. 8), S. 154–164.

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Beispiel des italienischen Faschismus. „Litauen hatte damit entschlossen den Weg zum autoritären Einparteienstaat beschritten“.33 Auf der anderen Seite wird in der Literatur durchaus anerkannt, dass sich unter der autoritären Herrschaft der Tautininkai agrarök onomische Erfolge einstellten. Die Staatswirtschaft wurde auf eine stabilere Grundlage gestellt, so dass Litauen die Weltwirtschaftskrise trotz erheblicher wirtschaftlicher Einb ußen immerhin überstehen konnte. Aus der Sicht v on Smetona w ar die Agrarpolitik der Christdemokraten und anderer gemäßigter P arteigruppierungen ein „parteipolitisches Steck enpferd“ gewesen.34 Seine Alternative zur Agrarpolitik der Christdemokraten, die sich v or allem auf Einzelgenossenschaften und lokale Entscheidungsträger gegründet hatte, lag in der Zentralisierung des Genossenschaftswesens. Staatliche Eingrif fe galten als geeignetes Rezept, um die Landwirtschaft anzukurbeln. Mit der Ausschaltung der Parteienvielfalt und dem Beginn der autoritären Herrschaft 1926/27 wurde der Agrarhaushalt verdoppelt. Die Gründung einer Landwirtschaftskammer symbolisierte den Machtanspruch der Tautininkai. Sie setzten sich das Ziel, neue Märkte zu erschließen und die dafür notwendigen Voraussetzungen zu schaf fen. Mit wirtschaftlich und politisch kalkulierten Kreditv ergaben an die bisher v on den Christdemokraten k ontrollierten Genossenschaften wurden diese faktisch von der Staatsführung abhängig gemacht. Alle hinhaltenden Widerstände der einst christdemokratisch geprägten Genossenschaften wurden durch den Druck des neu gegründeten Zentralverbandes der Genossenschaften überwunden. Auf lokaler Ebene konkurrierten die traditionellen Molkerei-Vereinigungen der „Pienosajunga“ mit dem Zentralv erband. Nur zwei Prozent der Milcherzeugung wurden schließlich v on den alten Genossenschaften v ermarktet. Der Zentralv erband obsiegte durchschlagend, nicht zuletzt durch den Hinweis, dass der „parasitäre Zwischenhandel“ in jüdischer Hand ausgeschaltet werden müsse.35 Im Zuge der Machtk onzentration wurde im Jahr 1928 eine staatliche Aufsicht über alle Genossenschaften eingeführt. Die zentrale Molkereigenossenschaftsvereinigung „Pienocentras“ sorgte dafür, dass die Zahl der Milcherzeuger auf ca. 80.000 wuchs, wovon zunächst die Groß- und Mittelbauern, schließlich aber alle bäuer lichen Gruppen im Lande profitierten. Die Über gänge v om parlamentarischen System zur autoritären „Ein-MannHerrschaft“ (Balabkins/Aizsilnieks) lassen sich im Hinblick auf Estland und Lettland trotz mancher Besonderheiten durchaus vergleichen, unterscheiden sich jedoch tief greifend vom geschilderten litauischen Beispiel aus den Jahren 1926/27. 36 Die parlamentarische Demokratie in beiden Staaten hatte sich trotz Halbierung ihres Bruttosozialprodukts in den Jahren der Weltwirtschaftskrise zu Beginn der 1930er Jahre zunächst behaupten können. Die Preise für Agrarerzeugnisse fielen jedoch drastisch, zumal die Hauptabnehmer – Großbritannien und Deutschland – sich ge33 Zitat ebd., S. 164. 34 B LOMEIER (wie Anm. 8), S. 75. 35 Ebd., S. 80. 36 B ALABKINS, Nik olas/AIZSILNIEKS, Arnolds: Entrepreneur in a Small Country . A Case Study against the Background of the Latvian Economy, 1919–1940. Hicksville N.Y. 1975.

Tiefgreifende agrarische Umwälzungen und Umstrukturierungen

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gen Importe aus den baltischen Staaten abschotteten. Die Antwort gaben Estland und Lettland, indem sie sich selber strikte Importbeschränkungen auferle gten. Die Staatsverschuldung stieg erheblich. Der Versuch, mit der Deflationspolitik eine Autarkiepolitik zu verbinden, führte allerdings zu einer erheblichen Beeinträchtigung der gesamten Produktivität und zu einer ungewohnten Arbeitslosigkeit.37 Ohnehin fehlte den jungen Staaten die politische Stabilität. Estland verbrauchte 21, Lettland 18 Regierungen zwischen 1919 und 1940. Der Vorwurf der Korruption erhöhte in beiden Staaten den Druck v on rechts. Gefordert wurden der Umbau der freiheitlichen Verfassungen und die massi ve Stärkung der Macht des Staatspräsidenten. Um dem Druck v on rechtsradikalen „Freiheitskämpfern“ (v apsid) in Estland und von „Donnerkreuzlern“ (perkonkrusts) in Lettland wirksam zu begegnen, wurde mit stillem Einverständnis der gemäßigten Parteiführer und der Militärs die Parlamentsherrschaft zunächst in Estland am 12. März, dann in Lettland am 16. Mai 1934 durch Staatsstreich beendet und je weils die Einmann-Herrschaft v on Konstantin Päts (1874–1956) in Estland sowie Karlis Ulmanis (1877–1942) in Lettland begründet. Beide Präsidenten förderten den Nationalismus der Titularvölker – „Lettland den Letten“ – und stärkten denAusbau zentraler Institutionen. Die ökonomische Macht der Minderheiten – insbesondere der Deutschen in Lettland – sollte gemindert werden. Im Folgenden können für alle drei Staaten nicht nur für die Zeit der autoritären Herrschaft zwischen 1926 und 1940 in Litauen sowie 1934 bis 1940 in Estland und Lettland trotz aller Unterschiede bestimmte Leitsektoren im Ausbau einer Staatswirtschaft unter besonderer Berücksichtigung der Agrarpolitik vergleichend dargestellt werden.

4. Parallelen und Diskrepanzen: Die Agrarwirtschaft der baltischen Staaten im wissenschaftlichen Diskurs Drei nachhaltige Schwerpunkte kristallisieren sich in den drei Staaten heraus: die Genossenschaftspolitik, die Bildungspolitik und das Kreditwesen. Im Mittelpunkt der Bemühungen, den Agrarreformen zum Erfolg zu verhelfen, stand von Anfang an der Ausbau des Genossenschaftswesens und die Förderung der Zusammenarbeit unter den v erschiedenen Genossenschaftsarten und -richtungen nach dem Vorbild Skandinaviens.38 Die verschiedenen Vereine gerieten allerdings häufig in den Sog v on dominierenden P arteirichtungen, so dass in den zw anziger Jahren versucht wurde, sich möglichst von Parteieinflüssen zu lösen. Die Konsum37 K

AHK/TARVEL (wie Anm. 5) widmen den autoritären Re gimen 1926/1934–1940 in den baltischen Staaten ein interessantes v ergleichendes Kapitel unter Einschluss der Industriepolitik, vgl. ebd., S. 113–119. 38 Ausführlich bei P ISTOHLKORS, VON: Estland, Lettland und Litauen (wie Anm. 11), S. 753–756, fußend auf Doris Hertrampf, die auch theoriebezogene Darstellungen einbezieht. Dazu: ESCHENBURG, Rolf: Ök onomische Theorie der genossenschaftlichen Zusammenarbeit. Tübingen 1971; B OETTCHER, Erik: K ooperation und Demokratie in der Wirtschaft. Tübingen 1974; DERS.: Die Genossenschaft in der Marktwirtschaft. Tübingen 1980.

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vereine Lettlands z. B. standen unter dem Einfluss der Sozialdemokratischen Partei. Ebenfalls in der lettischen Genossenschaftsbewegung stark verankert war der Bauernverband, aus dem der langjährige Spitzenpolitik er und Staatspräsident Karlis Ulmanis hervorging. Von 1919 bis 1934 waren in den drei Staaten die Kredit-, Konsum-, Versicherungs- und Molk ereikooperativen im ländlichen Bereich tonangebend. Zusammenbrüche von Einzelgenossenschaften konnten nicht vermieden werden. K onzentrationen führten wiederum zu unerwünschten wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeiten. In Estland kontrollierte die zentrale Konsumgenossenschaft ETK faktisch den gesamten Düngemittel-Import und re gelte zugleich den Verkauf von Flachs, Getreide und Eiern ins Ausland. Sie gründete Fabriken für Konserven, Röstereien und Obstweine. In Lettland hieß die entsprechende Or ganisation „Konzums“, die im Unterschied zu Estland aber auch dieVermarktung von Butter, Bacon (ab 1928) und Getreide übernahm. In Litauen schlossen sich die Verbände der Genossenschaften zur zentralen Handelsorganisation „Lietukis“ zusammen, die den Export von Butter und Flachs, die Organisation von Molkereieinrichtungen und sogar die Einrichtung von Läden auf dem flachen Lande beherrschte. Die Übergänge von der Parteiendemokratie zur autoritären Einmann-Herrschaft in Litauen 1926 und in Estland und Lettland 1934 trugen entscheidend zur Zentralisierung und zur Ausrichtung aller Anstrengungen auf die Titularvölker bei. In Lettland hieß die 1937 ge gründete Zentralunion aller Genossenschaften „T uriba“, die faktisch eine lettische Aktiengesellschaft war und dem Zweck diente, die Stellung der Minderheiten zu unterminieren und als quasi-staatliche Zentralinstitution die Kooperativen nach innen und die Vermarktung nach außen zu dominieren. 39 ETK, Turiba und Lietukis kontrollierten schließlich nahezu das gesamte Marktgeschehen und die Ausbildung des Nachwuchses in den Betrieben. Parallel dazu kam es auch in den Milchproduktionsgenossenschaften und in der Butterproduktion sowie im Buttere xport aller drei Staaten zu Monopolstellungen zentraler Einrichtungen wie „United Butter Export of Latvia Ltd.“ (1935) sowie „Pienocentras“ und „Maistas“ für den Milch-, Butter - bzw. Fleischexport Litauens. Die Exporterfolge im Butter-, Fleisch- und Milchgeschäft wurden in den drei Staaten besonders wichtig, auch für die Sicherung der Staatshaushalte. Im europäischen Wettbewerb gewannen die baltischen Staaten schließlich eine festere Stellung durch Qualitätskontrollen und Standardisierungen. Kühltransportmittel, Schlachthöfe und Getreidesilos sicherten dieTeilnahme am Welthandel mit Agrarprodukten. Lettland erreichte einen gewissen Vorsprung vor Estland; Litauen konnte trotz großer Erfolge im Fleische xport vor allem nach Großbritannien die schlechten Startbedingungen nicht ganz wettmachen und stand deutlich an dritter Stelle.40

39 B

UMANIS,

Martins: Die Genossenschaftsbe wegung in Lettland. In: O BERLÄNDER, Erwin/L EMHans/SUNDHAUSSEN, Holm (Hgg.): Genossenschaften in Ostmitteleuropa –Alternative zur Planwirtschaft? Montabaur 1993, S. 41–48, fußend auf AIZSILNIEKS, Arnolds: The Co-operative Movement in Latvia. In: Commentationes Balticae Bd. VIII/IX, Bonn 1962, S. 1–56. 40 Vgl. aber B LOMEIER (wie Anm. 8), S. 91 f., der zu dem Urteil k ommt, dass Litauen auf dem besten Wege gewesen sei, sein Potential auszuschöpfen. BERG,

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Die drei baltischen Staaten investierten auf der schmalen Grundlage ihrer Budgets in erheblichem Umfang in den Ausbau von Bildungseinrichtungen. Besonders das autoritär regierte Litauen war bemüht, den Alphabetisierungsgrad in der Bevölkerung – gerade auch der Landbe wohner – drastisch zu erhöhen. Im Jahr 1935 wurde ein Gesetz für die Lehrerbildungsanstalten, 1936 für staatliche Volks- und Mittelschulen erlassen. Damit ging eine völlige „Einschnürung“ (Hellmann) des Minderheiten-Schulwesens einher.41 Darüber hinaus wurden Instrumente geschaffen, um im Schulbereich eine litauische Staatsideologie im Sinne einer v aterländischen Propaganda in Anknüpfung an die historische Großmachtstellung Litauens im 14. Jahrhundert zu propagieren. Im Mittelpunkt stand die Förderung des Unterrichts in der Landessprache, auch im Hochschulbereich. Allerdings machte die Durchsetzung des obligatorischen Elementarunterrichts erhebliche Schwierigkeiten. Nach einer vierjährigen Elementarschule führte eine weitere vierjährige Ausbildung auf Progymnasien zum Abschluss der Mittleren Reife bzw. eines achtklassigen Gymnasiums zum Abitur. In größeren Orten wurde schließlich ein sechsjähriger Unterricht v erpflichtend. Im katholischen Litauen wurde auf den Gymnasien mit Latein be gonnen; zwei Fremdsprachen schlossen sich an, doch wurde das Deutsche wegen der Konflikte um das Memelgebiet in den 1930er Jahren zurückgedrängt. Die Startbedingungen in den lutherisch geprägten nördlichen Nachbarstaaten waren ungleich günstiger, hatte doch die lutherische Kirche schon seit der Reformation und insbesondere im Zeichen v on Pietismus und Aufklärung Wert darauf gelegt, dass Esten und Letten, Frauen noch besser als Männer , lesen und schreiben konnten. Im Jahr 1940 wurde für Estland ein Alphabetisierungsgrad von 98 Prozent, in Lettland (we gen der Rückständigk eit Lettgallens) v on 92 Prozent, in Litauen hingegen von nur 77 Prozent ermittelt.42 Dort waren nach statistischen Angaben aus dem Jahr 1897, dem Jahr der allrussischen Volkszählung, nur 55 Prozent der Einwohner des späteren Litauen des Lesens und Schreibens mächtig gewesen. Lettland hingegen hatte in der Zwischenkrie gszeit in Europa die zweithöchste Pro-Kopf-Buchproduktion hinter dem großen Vorbild Dänemark. Allein schon daraus ist zu ersehen, dass Bildungsanstrengungen auf allen Ebenen hoch im K urs standen. Dorpat [Tartu] war seit 1802 die einzige Universität für die Ostseeprovinzen ge wesen; die Uni versität Wilna w ar we gen des Polnischen Aufstandes v on 1830/31 geschlossen worden. Nunmehr gründeten Lettland 1919 und Litauen 1922 in Riga bzw. Kaunas eigene Universitäten. In allen drei Staaten schritt die Förderung derVolksbildung zügig voran. Kinder von wohlhabenden Bauern hatten besonders gute Aufstiegschancen. Private Träger, Kirchen oder landsmannschaftliche Verbände durften Schulen unterhalten; in Estland wurde der Staat mit dem Gesetz zur Kulturautonomie der Minderheiten sogar zum akti ven Förderer des Minderheitenschul wesens unter bestimmten Bedin-

41 H ELLMANN (wie Anm. 8), S. 163. 42 Für den Zusammenhang: P ISTOHLKORS, v on: Estland, Lettland und Litauen (wie S. 747–749.

Anm. 11),

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gungen.43 In Litauen w ar Religion Pflichtfach, in Estland und Lettland nicht. In Estland z. B. unterrichteten im Jahr 1919 1.232 Lehrer an 1.036 Grundschulen 45.540 Kinder. Zw anzig Jahre später standen 5.873 Lehrer bereit, die an 2.523 Schulen 298.946 Kinder unterrichteten. 44 Allerdings war die Be gleitmusik dieser Kraftanstrengung für die Minderheiten nicht immer erträglich: nationalistische, ja chauvinistische Töne waren nicht zu überhören. Die Zeit der stürmischen Entf altung des Kulturlebens führte jedoch dazu, dass die Titularvölker ihre eigene, unverwechselbare K ultur weiter entwick elten, die ihnen half, nachfolgende Okkupationen von mehr als fünfzig Jahren zu überstehen. Sehr unterschiedlich entwick elte sich in den einzelnen Staaten das Kreditwesen, in Sonderheit auch die Kreditpolitik gegenüber den Neusiedlern. In Estland lag die oberste Bewertungsgrenze der Bodenpreise bei umgerechnet 111 Reichsmark, in Lettland bei 16 und in Litauen nur bei 0.21 bis 2.94 RM pro ha. 45 In Estland konnte die vergleichsweise hohe Schuld allerdings als Hypothek eingetragen wer den und war erst im Verlauf von 60 Jahren zu 4 Prozent zu tilgen. In Lettland wurde die Kaufsumme bis zu 6 Jahren gestundet, in Litauen sogar bis zu 13 Jahren; dort mussten wegen der schw achen Infrastruktur ohnehin die größten Kauf anreize für Neusiedler geschaffen werden. Estland und Lettland w aren besonders bemüht, durch ein großzügiges Kreditwesen den Pächtern und Neusiedlern bzw. Jungwirten bei ihrem Hauptproblem zu helfen, der Errichtung von Wirtschaftsgebäuden. Es ging ja um mehr als nur um die Neuordnung der Agrarstruktur. Die Kriegsfolgen sollten möglichst rasch beseitigt, die Infrastruktur verbessert, stabile Währungen installiert, der Mittelstand gefördert und intensive Formen der Landwirtschaft auf bäuerlicher Grundlage erreicht wer den. Die Aufbauphase der Landwirtschaft in den baltischen Staaten zwischen 1919 und 1926 bzw. 1934, bis zu dem jeweiligen Übergang zu den Einmann-Herrschaften in Litauen bzw. Estland und Lettland, wird in der Literatur nahezu einhellig positiv bewertet, obgleich jeder der drei Staaten es v on Anfang an für notwendig hielt, in die Wirtschaft, in Sonderheit auch in die Landwirtschaft, einzugreifen. Der ur sprünglich angestrebte Mittel weg zwischen kapitalistischer Pri vatwirtschaft, gestützt auf den mittelstandsfreundlichen Ausbau freier Kooperativen, und staatlicher Wirtschaftspolitik wurde immer stärk er und nach 1926 bzw . 1934 unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise immer radikaler zugunsten einer interv entionistischen Staatswirtschaft v erlassen. Im Hinblick auf diese Verlagerung wird, wie erwähnt, besonders bei Balabkins und Aizsilnieks Kritik angemeldet.46

43 G

ARLEFF, Michael: Deutschbaltische Politik zwischen den Weltkriegen. Die parlamentarische Tätigkeit der deutschbaltischen P arteien in Lettland und Estland. (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte, Bd. 2). Bonn – Bad Godesberg 1976, bes. S. 104–120. 44 P ISTOHLKORS, VON: Estland, Lettland und Litauen 1920–1940 (wie Anm. 11), S. 748. 45 Für den Zusammenhang ebd., S. 753, 765 f. und die bereits mehrf ach zitierten Arbeiten von KAHK/TARVEL, SCHLAU und BLOMEIER. 46 Überzeugend die erwähnten Darstellungen v on B ALABKINS/AIZSILNIEKS (wie Anm. 36) und die große Monographie v on AIZSILNIEKS (wie Anm. 12). B LOMEIER (wie Anm. 8) verteidigt hinge-

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Wenn die äußerst schwierigen Startbedingungen insAuge gefasst werden, kann die staatliche Interv entionspolitik in den parlamentarisch demokratischen Verfassungsstaaten allerdings kaum überraschen. In allen drei Staaten gehörte es vielmehr zu den schwierigsten Aufgaben, überhaupt „Staat zu machen“ und auch nur ein gefestigtes Währungssystem zu errichten.47 Estland und Lettland gelang es erst 1922 bzw . 1923, einen Staatshaushalt mit einem festen Budget vorzulegen. Staatsmonopole auf Spirituosen, Flachs in Estland und Lettland und die neu erworbenen Staatswälder sorgten für zusätzliche Einnahmen. Durch die Abkehr des Pfund Sterling vom Goldstandard im Jahr 1931 v erlor jedoch die Bank von Estland fast ein Drittel ihrer Deckung. Erst die Abwertung der estnischen Krone um 35 Prozent am 28. Juni 1933 (in Lettland ähnlich am 28. September 1936) wurde der Anschluss an den Sterlingblock nach skandina vischem Vorbild erreicht. Damit besserte sich die Lage im Außenhandel und vor allem auch in der Landwirtschaft. Diese lag aber im Vergleich mit der Industrie und der Förderung des Außenhandels im Hinblick auf die staatliche Kreditpolitik in allen drei Staaten deutlich nur an dritter Stelle. Die Staatshaushalte wurden bewusst niedrig gehalten, um die Verschuldung zu drosseln, die in der Tat relativ mäßig blieb. An erster Stelle rangierten die Militär-, Transport- und Verkehrsausgaben; für die Verwaltungen wurden nur ca. 25 Prozent der Staatsausgaben relativ konstant aufgewendet. Der Staat Estland z. B. war 1922 mit 69,2, im Jahr 1939 hinge gen mit 121,4 Millionen Estnischen Kronen im Ausland verschuldet, was niedrig erscheint und nach der Weltwirtschaftskrise auf eine kontraproduktive Deflationspolitik schließen lässt, die besonders für Lettland und Litauen charakteristisch war. Großbritannien und Deutschland waren mit Abstand die größten Gläubiger aller drei baltischen Staaten. In Estland spielten staatliche Wirtschaftsbetriebe die größte Rolle, ihr Sonderb udget brachte den Staat in eine ge wisse Unabhängigkeit von der Wirtschaft, zumal noch Mischformen hinzukamen, die die Rechtsform einer staatlich k ontrollierten Aktiengesellschaft erhielten. Die estländische Staatswirtschaft war zwar noch k eine Lenkungswirtschaft; suchte sich aber durch politische Maßnahmen den wechselnden Verhältnissen anzupassen. Die Vorgehensweise der lettländischen Staatsregierung, insbesondere nach dem Staatsstreich von Ulmanis am 15. Mai 1934, wird als erfolgreich und problematisch zugleich angesehen. 48 Zunächst sollte die Be völkerung nicht mit hohen direkten und nur mit mäßigen indirekten Steuern belastet werden. Es ging vielmehr darum, die Krie gsschulden ge genüber Großbritannien und den Vereinigten Staaten v on Amerika abzuzahlen und die in diesem System besonders wichtigen „Selbstverwalgen das autoritäre Re gime der Tautininkai in Litauen mit dem Argument, dass die demokratischen Kritiker keine Alternativen aufzeigen konnten, vgl. bes. S. 89–92. 47 Für das Folgende vor allem das Kapitel „Der Staat und die Wirtschaft.“ In: P ISTOHLKORS, VON: Estland, Lettland und Litauen (wie Anm. 11), S. 762–768. 48 Hier müsste gerade auch die Außenwirtschaftspolitik nach eigenem Ge wicht behandelt wer den, w as den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde. Vgl. L OIT, Aleksander (Hg.) u. a.: Emancipation and Interdependence. The Baltic States as New Entities in the International Economy, 1918–1940. (Studia Baltica Stockholmiensia, Bd. 13). Stockholm 1994.

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tungsorgane“, die Gemeinden und Kreise, in den Stand zu v ersetzen, ihre gesellschaftlichen Aufgaben auf der Basis schw acher Finanzressourcen dennoch w ahrnehmen zu können. Die K ontrolle über Banken und große Unternehmungen, auch im Bereich der Agrarwirtschaft, wurde nach 1934 jedoch immer fester, auch in Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise. Die Pri vatwirtschaft, gerade auch Unternehmungen der deutschen und der jüdischen Minderheit, wurden durch staatliche Eingriffe behindert. Was man „k orporativen Kapitalismus“ nannte, hätte nach N. Balabkins und A. Aizsilnieks eigentlich Staatskapitalismus heißen müssen, der gegen die pluralistische Demokratie gerichtet w ar und Zwangskartellierungen beförderte.49 Wirtschaftskammern, die neu eingerichtet und mit großer Macht ausgestattet wurden, erwiesen sich als staatlich-bürokratischeAufsichtsorgane über die Wirtschaft, vom Staat übernommene Firmen erhielten den beschönigenden Namen „nationale Unternehmungen“. In 38 solcher Unternehmungen hielt die Ulmanis-Diktatur alle oder beinahe alle Anteile. In Zustimmung zu diesen Urteilen und in Anlehnung an das große Werk von A. Aizsilnieks über die Wirtschaft Lettlands 1914–1945 aus dem Jahr 1968 äußert sich Wilfried Schlau kritisch über die Entwicklung der lettländischen Landwirtschaft. 50 Noch am 1. Januar 1939 hätten sich 52,43 Prozent der Fläche der Landfonds in Eigentum des Staates befunden, davon über 80 Prozent der enteignetenWälder. Die großen Versprechungen an die Landbevölkerung waren also nur zum Teil eingelöst worden. De facto hätten, so Schlau, die Enteignungen zu einer Sozialisierung v on Privateigentum beigetragen, die ohnehin schon 1920 zumindest verdeckt angestrebt worden sei. Profitiert hätten allerdings die ehemaligen Pächter, die als Inhaber von Gesinden mit der Durchschnittsgröße von ca. 33 ha an die Seite der Alteigentümer von Bauernstellen getreten seien und so die Mittelstandsstruktur der lettländischen Landwirtschaft und den gesellschaftlich angestrebten F amilienbetrieb auf solider Grundlage verstärkt hätten. Daneben hätten die Neusiedler nur eine untergeordnete Rolle gespielt, erst recht die Ländereien, die als Fisch- und Gartenwirtschaften mit einer Durchschnittsgröße von 4 bzw. 6 ha ausgewiesen waren. Bodenzuweisungen für Landarbeiter hätten dage gen völlig gefehlt und seien einfach vergessen worden. So seien zahlreiche Landarbeiterf amilien, die bei den Mittelbauern dringend gebraucht w orden wären, bei Jungwirten unterbeschäftigt gewesen oder in die Städte gezogen. Das Landarbeiterproblem sei deshalb von Jahr zu Jahr gewachsen und auch durch litauische Saisonarbeiter nicht zu lösen ge wesen. Mit Recht hebt Schlau herv or, dass die bisherigen Eigentümer , die zumeist deutschen Großgrundbesitzer, keine Rechte erhielten. Sie mussten sich letztlich auf das Prinzip der Gnade v erlassen, erhielten zwar im allgemeinen die v orgesehenen 50 ha, konnten aber nicht auf eine Entschädigung für den Verlust der Ländereien, der Wälder und des kompletten Inventars hoffen, die den Namen verdient hätte.51

49 Vgl. BALABKINS/AIZSILNIEKS (wie Anm. 36) passim. 50 S CHLAU (wie Anm. 1), bes. S. 293–298. 51 Ebd., S. 298–300.

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Der Agrarideologe Ulmanis mit seiner Vorliebe für die heile mittelbäuerliche Familie folgte im Übrigen dem Zwang zur Mechanisierung der Landwirtschaft nur zögerlich und v erspätet. Dennoch errang Lettland auf diesem Gebiet einen deutlichen Vorsprung gegenüber Estland und erst recht gegenüber Litauen.

5. Entschädigungspolitik: Resonanz der Betr offenen Es ist v erständlich, dass die Hauptbetrof fenen der Güterenteignungen, die nach Deutschland emigrierten ehemaligen Gutsbesitzer, zumeist Angehörige der Ritterschaften, die Praxis der Enteignungen in den drei baltischen Staaten v erurteilten und publizistisch äußerst kritisch begleiteten. In der Halbmonatszeitung „Baltische Blätter“, die in Berlin erschien und sich in erster Linie an die geflüchteten oder nach 1919 emigrierten „Reichsbalten“ richtete, wurden regelmäßig Nachrichten über die Durchsetzung der Agrarreformen in Estland und Lettland verbreitet. Häufig wurden Artikel aus dem „Re valer Beobachter“ oder der „Rigaschen Rundschau“ nachgedruckt und knapp k ommentiert.52 Litauen wurde in diesem Zusammenhang v ernachlässigt, da nur wenige Deutschbalten dort Besitz gehabt hatten . In seiner grundle genden und ausge wogenen Darstellung der Geschichte der Estländischen Ritterschaft aus dem Jahre 1967 hatWilhelm Baron Wrangell (1894– 1976), einer der maßgeblichen Politik er der Deutschbalten Estlands in der Zwischenkriegszeit, auf einige Tatsachen aufmerksam gemacht, die außer Acht bleiben würden, wenn nur die Agrargesetzgebung und ihre Durchführungsbestimmungen ins Auge gefasst würden. Aus seiner Sicht führte die Wahl des Führers der Arbeitspartei, des estnischen Sozialrevolutionärs Arved Strandmann, zum Landwirtschaftsminister der Provisorischen Regierung dazu, dass bereits Ende 1918 die estnischen Gemeindeverwaltungen damit beginnen konnten, die Rittergüter zu bewirtschaften und solche Güter v or jeder gesetzlichen Festle gung zu parzellieren, die v on ihren Eigentümern verlassen worden waren. Die Habgier , so schilderte ein hohes Mitglied des estländischen Landwirtschaftsministeriums in seiner Gegenwart das praktische Verfahren, habe dem Zugrif f nicht widerstehen können. Nicht weniger als 300 Einheiten seien auf diese Weise bereits vor Verkündung des Agrargesetzes vom Oktober 1919 ihren bisherigen Eigentümern entzogen, dasVerfahren dieser Zwangsbewirtschaftung nachträglich le galisiert w orden. Propaganda habe rasch einen künstlichen Landhunger erzeugt und den Deutschenhass so wie die Hof fnung auf Bereicherung ohne K osten künstlich großgezogen. Diese Propaganda habe den 52 Die „Baltischen Blätter“ erschienen zwischen 1922 und Dezember 1930 in Berlin. Chefredakteur war Harald Berens v on Rautenfeld (1893–1975), zugleich Generalsekretär der „ Arbeitsgemeinschaft baltischer Or ganisationen“, des Dachv erbandes deutschbaltischer Vereine im Reich, und führendes Mitglied der 1929 gegründeten „Baltischen Brüderschaft“, einer elitären Geheimorganisation, die sich die Erneuerung des Deutschbaltentums zum Ziel gesetzt hatte. Vgl. die Arbeiten von FILARETOW, Bastian: Die Baltische Brüderschaft. Wider den Zeitgeist? In: GARLEFF, Michael (Hg.): Deutschbalten, Weimarer Republik und Drittes Reich. (Das Baltikum in Geschichte und Ge genwart, Bd. 1/I). Köln, Weimar, Wien 2001, S. 11–50 S IEGERT, Carla: Die Baltische Arbeitsgemeinschaft 1934–1940. In: Ebd., S. 51–76.

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Linksparteien genützt und der Arbeitspartei und den Sozialdemokraten die Mehr heit in der Konstituierenden Versammlung gebracht.53 Baron Wrangell bringt auch den er gänzenden Hinweis, dass in der Praxis k eineswegs nur die Ritter güter als solche enteignet wurden, sondern auch dazugehörige Häuser in ländlichen Orten so wie Sommerhäuser am Strande, K unstgegenstände, Tischwäsche und Essgeschirr.54 Um dem Ausland gegenüber einen besseren Eindruck zu machen, sei zwischen den zahlreichen Parteien Estlands über eine mögliche Entschädigung der Gutsbesitzer lange verhandelt worden; schließlich habe man sich aber derartig zerstritten, dass die Konstituante beschloss, diese Frage einer späteren Regelung vorzubehalten. Unmittelbar danach sei es in Estland zu einer entschädigungslosen Enteignung unter Einschluss des gesamten lebenden und toten In ventars gekommen. Den Verlust des Großgrundbesitzes berechnet Baron Wrangell auf ca. 324 Millionen Goldmark. 55 Manche Mitglieder der estnischen Rechtsparteien hätten im Übrigen das Verfahren der Besitzübernahme scharf kritisiert. Der v om Autor Wrangell in einem Stockholmer Archiv gefundene Bericht des Rechnungshofes v om Dezember 1920 stellte im Übrigen dem Ministerium insgesamt ein denkbar schlechtes Zeugnis aus.56 Dem K ommunistenputsch v om Dezember 1924 weist Wrangell eine bedeutende Rolle zu und führt die Ge währung des in Europa unübertrof fenen estländischen Gesetzes über die K ulturautonomie für die Minderheiten aus dem Jahre 1925 auf Überlegungen in der Staatsführung zurück, dass sich Estland stets auf die Loyalität der verbliebenen deutschen Staatsbürger trotz aller Gegensätze habe verlassen können. In den „Baltischen Blättern“ wird die Kritik an den Agrargesetzen hingegen grundsätzlicher angefasst. Im Januar 1923 reproduzieren sie aus der „Rigaschen Rundschau“, der maßgeblichen deutschen Tageszeitung Lettlands, die Rezension einer offiziösen Darstellung über die Durchführung der lettländischen Agrarreform. Zurückgewiesen wird vor allem jene verbreitete historische Argumentation, die das radikale Vorgehen mit der 700jährigen „Sklaverei“ der Letten durch die deutschen Kolonisatoren zu rechtfertigen suchte. Nicht überprüft werden kann die Mitteilung des anonymen Rezensenten, dass in Lettland 754 Restgüter den ehemaligen Besitzern v erblieben seien, aber nur 125 ehemalige Gutsbesitzer „das Zentrum mit der Wohnstätte“ behalten durften. 57 Ganz im Sinne der Vorgänge, auf die auch Wrangell v erweist, werden Unregelmäßigkeiten geltend gemacht. In Lettland seien 133 Güter noch vor 53 W RANGELL, Wilhelm Baron von: Die Estländische Ritterschaft, ihre Ritterschaftshauptmänner und Landräte. Geschichtlicher Teil. Limburg 1967, bes. S. 149–152. 54 Ebd., S. 151. 55 Ebd., S. 150. 56 Ebd., S. 151 und Anm. 157. 57 Die „Baltischen Blätter“ 1922 bis 1930 wurden k omplett durchgearbeitet. Hier kann nur eine knappe Auswahl einschlägiger Artikel präsentiert werden. Von einem Anonymus scharf rezensiert wird die v on V. (Vorname konnte nicht ermittelt werden) Markaus herausge gebene Darstellung: Agraras reformas gaita Latvija 1919–1922. (Die Durchführung der Agrarreform Lettlands 1919–1922). Riga 1922. Vgl.: ANONYMUS: Eine Verteidigung der Agrarreform. In: Baltische Blätter 15. Januar 1923, S. 3–5, besonders S. 4.

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Inkrafttreten des Agrargesetzes vom 29. März 1920 durchAbgesandte des zentralen Landeinrichtungskomitees zw angsbewirtschaftet w orden, sehr zum Nachteil der besonderen Zuchtstationen und Obstbaumkulturen auf den Gütern. Die Buchkritik kommt zu dem Er gebnis, dass das Nationalv ermögen in Lettland v erschleudert worden sei. Am 1. Juni 1924 wird die nicht datierte Eingabe des „Vereins ehemaliger Eigentümer enteigneter Güter in Estland“ unter Leitung v on Eduard von Bodisco (1863– 1940) an den Staatspräsidenten Estlands aus dem „Revaler Beobachter“ in den „Baltischen Blättern“ in gekürzter F orm abgedruckt. 58 Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass das Gesetz die Wegnahme der Güter als Enteignung bezeichne. Zum Begriff der Enteignung gehöre jedoch die Entschädigung, wenn es sich nicht einf ach um Konfiskation handeln solle und wenn der „materielle und der ideelle Staatskredit“ nicht geschädigt werden solle. Entschädigung sei gutes Recht des Enteigneten und Pflicht des demokratischen Staates. Diesem wird v orgehalten, dass er ca. zwei Drittel des enteigneten Bodens „ohne besonderen Zweck“ selbst behalte, v or allem Wälder, Moore und landwirtschaftlich – industrielle Betriebe. Alle diese nicht zur Siedlung erforderlichen Ländereien und Gebäude würden im F alle der Rückgabe eine gute Grundlage zur Wiederherstellung der Bodenständigk eit der ehemaligen Gutsbesitzer darstellen, denen es dabei nicht um Geld, sondern um Grundbesitz, wenn auch in verringertem Umfang, gehe. „Die estländische Agrarreform ist ein Akt politischer Leidenschaft ge wesen. Die F olgen, die sie herv orgerufen hat, sind viel verhängnisvoller als sie eben vielleicht zugestanden werden“. Es könne so nicht weiter gehen, „ohne Gefahr für das Leben des Staates hervorzurufen“ (ebd.). Besondere Beachtung und wütendeVerurteilung fand die Behandlung der „Landeswehr“ in Lettland und des ursprünglich ovm Gesetzgeber anerkanntenAnspruchs ihrer Mitglieder, als gleichberechtigte Freiheitskämpfer gegen den Bolschewismus neben den lettischen Kämpfern anerkannt zu werden, die für ihren Einsatz zu entschädigen seien. 59 Wie der Abgeordnete der lettländischen Saeima, des Landtags, Wilhelm Baron von Fircks (1870–1933) in mehreren Artikeln ausführt, wurde dieser Anspruch in der Praxis des Zentral-Einrichtungsk omitees zunehmend unterminiert.60 58 Artikel unter der Überschrift: „Politische Übersicht“. In: Baltische Blätter 1. Juni 1924, S.73 f. Zitate S. 74. Die Eingabe ist unterzeichnet v on Eduard v on Bodisco, damals Präsident des „Vereins ehemaliger Eigentümer enteigneter Güter in Estland“ (1922–1926), dem ehemaligen livländischen Landrat Woldemar von Roth (1860–1925) und dem bei den Esten besonders angesehenen Nachfolger Bodiscos im Amt des Präsidenten des Vereins, Carl Baron von Schilling (1872–1941). Über Bodisco, DBBL, S. 81 f., Schilling, DBBL, S. 679. Über v on Roth vgl. KRUSENSTJERN, Geor g v on (Hg.): Die Landmarschälle und Landräte der Li vländischen und Öselschen Ritterschaft. Hamburg 1963, S. 104. 59 Zum Landeswehrstreit vgl. Baltische Blätter 1. Januar 1930, S. 393: „Die lettländische Gesandtschaft in Berlin zum Gesetz ge gen die Landeswehr“. Die Angehörigen dieser Einheit würden nicht berücksichtigt werden können, da das dem Landfond zur Verfügung stehende Land bereits aufgeteilt sei und nur die erste Kate gorie der Freiheitskämpfer berücksichtigt werde, der die Landeswehrkämpfer laut Gesetz nicht mehr angehörten. 60 Ebd., S. 394 f. Über Fircks: DBBL, S. 216 f. Hier weist Fircks nach, dass die Behauptung, es handele sich um Landmangel, falsch sei. „Das Gesetz …vom 22. November 1929 ist ein grober

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Die Berichte von Baron Fircks in der „Rigaschen Rundschau“ des Jahres 1930 über das lettländische Agrarwesen zeichnen sich insgesamt durch einen sachlichen Ton aus, was dem scharfen Urteil über die Landwirtschaftspolitik allerdings keinen Abbruch tut. Lettland müsse noch immer Getreide einführen und könne weder die Viehwirtschaft ausbauen noch den Export steigern. Der Butterexport stagniere, gewiss auch wegen der Zollmaßnahmen der Hauptabnehmer Deutschland und Großbritannien im Zeichen der beginnenden Weltwirtschaftskrise, vor allem aber wegen mangelnder Wirtschaftlichkeit im Umgang mit den Ressourcen. Die Neusiedler wünschten ein staatliches Getreidemonopol; die deutsche Fraktion sei jedoch entschieden dagegen, weil eine Monopolbildung für Lettland schädlich sei, eine v ornehme Umschreibung der berechtigten Furcht, dass jede Monopolbildung auf K osten der Minderheiten ging.61 In einem zusammenf assenden Artikel unter dem Titel: „10 Jahre seit dem Inkrafttreten des Agrarreformgesetzes“ kommt derselbe Politik er zu dem Er gebnis, dass der lettländische Staat sein ursprüngliches Versprechen, die enteigneten Gutsbesitzer zu entschädigen, nicht gehalten habe. Der Plan der Großgrundbesitzer, die Reform auf die Bedürfnisse der ehemaligen Pächter zu k onzentrieren, in erster Linie die Beigüter aufzuteilen und die Hauptgüter den Eigentümern schon allein aus ökonomischen Gründen weitgehend zu belassen sowie den bewährten Agrarbanken die Durchführung des Agrargesetzes zu übertragen, sei sehr zum Nachteil Lettlands in den Wind geschlagen worden. Eine allmähliche Umwandlung des Großgrundbesitzes in Mittel- und Kleinbetriebe sei auch aus der Sicht der Großgrundbesitzer möglich gewesen. Die lettländischen Regierungen hätten sich nach 1920 die Erfahrungen zunutze machen müssen, die der erf ahrene deutsche Bodenreformer Adolf Damaschke (1865–1935) schon zu Be ginn des Jahrhunderts propagiert habe und die bei den lettischen Mittelparteien zunächst Anklang gefunden hätten. Das denkende lettische Bür gertum habe k einen Anlass, einen Sie g zu feiern. Der Getreideausfall der zerstörten Großbetriebe sei nicht k ompensiert worden; die einst blühende Viehwirtschaft lie ge in einigen Teilen des Landes danieder: „Die Landzuteilung an alle landfordernden Bürger ohne Auswahl, oder nur mit der Auswahl nach der Nationalität, hat in vielen Fällen das Land in Hände ge geben, die nicht imstande sind, dem Heimatboden die die Gesamtbe völkerung ernährende Frucht abzuringen“.62 De facto entschloss sich Estland, unter ausländischem Druck und als Mitglied des Völkerbundes, am 1. März 1926 zu einer Entschädigung des ehemaligen Landbesitzes, nicht des Waldes, auszahlbar in staatlichen Pf andbriefen zu 3,5 Prozent des tatsächlichen Wertes.63 In Lettland, ebenfalls Mitglied des Völkerbundes, wurde Verstoß ge gen das garantierte Prinzip der Gleichberechtigung aller Bür ger Lettlands“, ebd., S. 395. Weitere Artikel von Fircks ebd., S. 395–397. 61 Art. aus der „Rigaschen Rundschau“: Abgeordneter Baron Fircks über die politische Lage. In: Baltische Blätter 15. Oktober 1930, S. 691 f. 62 F IRCKS, Wilhelm Baron von: 10 Jahre seit Inkrafttreten des Agrarreformgesetzes“. In: Baltische Blätter, 15. Oktober 1930, S. 694 f. 63 P ISTOHLKORS, VON: Estland, Lettland und Litauen (wie Anm. 11), S. 752 f. Zu Lettland vgl. SCHLAU (wie Anm. 1), bes. S. 298–300.

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1924 jede Entschädigung der eigenen Staatsbürger in einer Parlamentsabstimmung mit 50 zu 35 Stimmen abgelehnt. Dabei blieb es. In Litauen wurden Pri vatbesitzer in verschwindend geringer Höhe entschädigt. Den Domänen- und Waldbesitz übernahm der Staat hingegen ebenfalls kostenlos. So blieb die Entschädigungsfrage ein Dauerthema, auch vor dem Völkerbund, der Klagen einzelner, nunmehr reichsdeutscher Staatsbürger baltischer Abstammung laufend zu behandeln hatte.

6. Vorläufiges Fazit Ob die tief greifenden Umstrukturierungen der baltischenAgrarwirtschaften „Agrarrevolutionen“ genannt werden können, hängt v on der Perspektive ab, unter der sie betrachtet werden. Aus der Sicht der Betroffenen, der ehemaligen Gutsbesitzer und den sich an ihnen orientierenden Angehörigen der ehemaligen deutschbaltischen führenden Schicht, wäre die Antwort für Estland und Lettland unbedingt zustimmend gewesen. Es besteht kein Zweifel, dass mit den Enteignungen die Axt an die Wurzeln der lange beanspruchten und m. E. schon seit den 1880er Jahren stark eingeschränkten Führungsrolle der Deutschbalten gele gt w orden ist. Nunmehr w ar nach dem Abbau der ständischen Selbstverwaltung im Zeichen der staatlichen Reformen, die seit den ausgehenden 1880er Jahren als „Russifizierung“ erlebt wurden, auch ihre ökonomische Dominanz auf dem flachen Land beseitigt worden. Der Weg in die neue Rolle der „nationalen Minderheit“ im demokratischen Verfassungsstaat bzw. in die Emigration in das kulturelle Mutterland Deutschland schien damit v orprogrammiert und unaufhaltsam. In der K onsequenz dieser radikalen Maßnahmen blieben die meisten Deutschbalten Gegner jeder parlamentarischen Demokratie und der Sozialdemokratie im Besonderen, der die Sympathien für die „Lettische Revolution“ v on 1905 nicht v ergeben werden k onnten.64 Die Flüchtlinge wurden zu Emigranten und suchten in der Weimarer Republik ganz überwie gend den politischen Anschluss an die völkische Rechte.65 Aus der Perspekti ve der sie greichen estnischen und lettischen Gründer der neuen Republiken Estland und Lettland waren die Enteignungen hingegen Akte der souveränen, demokratisch gewählten Parlamente und verdienten deshalb, Reformen genannt zu werden. Die Protagonisten der Mehrheitsentscheidungen in den Konstituanten Estlands und Lettlands k onnten formal mit einigem Recht darauf v erweisen, dass die Agrargesetze Estlands und Lettlands vom Oktober 1919 bzw. September 1920 im Ansatz keine ethnische Komponente enthielten, da sie den estnischen bzw. den lettischen Großgrundbesitzer ebenso betrafen wie den deutschen. Zw ar 64 Das sagt auch der Chefredakteur der Baltischen Blätter, vgl.: RAUTENFELD, Harald Berens von: Das Baltentum im Deutschen Reich. 1. Februar 1930, S. 421–424, bes. S. 423. 65 Vgl. auch die Artikelfolge aus dem Jahr 1924 und den Streit um die demokratische Orientierung Paul Schiemanns (1876–1944), des Chefredakteurs der „Rigaschen Rundschau“ 1907– 1933, eines Gegners der völkischen Erneuerungsbe wegung in Deutschland: S CHIEMANN, Paul: Das Auslanddeutschtum und „Schw arz-Weiß-Rot“. In: Baltische Blätter v om 1. September 1924, S. 185 f., und die entsprechend scharfe Antwort Rautenfelds, ebd. 1. Oktober 1924, S. 196–199.

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wurde nach und nach v on Vertretern der gemäßigten P arteien eingeräumt und von der parlamentarischen Linken auch offen ausgesprochen, dass die Entscheidungen nach den Erfahrungen im Weltkrieg, der deutschen Besatzung im Jahr 1918 und der willfährigen K ooperationsbereitschaft der deutschbaltischen Führung mit den reichsdeutschen Militärs und Politik ern auch antideutsche Elemente enthielt, die sich im Übrigen propagandistisch herv orragend dazu eigneten, Zustimmung in Stadt und Land zu mobilisieren.Aber aus der Sicht der Reformer lag der Nachdruck der Entscheidung gegen den Großgrundbesitz auf der rechtsstaatlich einwandfreien Gesetzgebungsebene. Sie sprachen deshalb deutlich von Agrarreformen.66 Sieht man v on den politischen Vorgaben weitgehend ab und behandelt die Agrarfrage primär unter wirtschaftsgeschichtlichen Gesichtspunkten, wie Juhan Kahk und Enn Tarvel das tun, wird vor allem das außergewöhnliche Wagnis in den Mittelpunkt gerückt, das die Mehrheiten in den Parlamenten Estlands und Lettlands angesichts der ungesicherten Lage der neu ge gründeten Republiken eingegangen sind.67 Beide Staaten hatten sich noch nicht ge gen konkurrierende Ordnungsvorstellungen der Bolsche wiki endgültig durchgesetzt; ihr Staatsgebiet bef and sich noch nicht in festen Grenzen, die Industrie lag danieder, der wirtschaftliche Kontakt zu Russland war abgebrochen, neue Märkte waren noch nicht erschlossen und kaum sichtbar, die Infrastruktur der Staaten w ar durch den Krie g tief greifend in Mitleidenschaft gezogen, Finanzmittel standen kaum zur Verfügung, ein Staatshaushalt konnte nicht aufgestellt werden, die Währung war völlig destabilisiert. Es spricht einiges dafür, dass ein allmählicher Übergang zur gewünschten bäuerlichen Mittelstandsgesellschaft und zur Angleichung des Großgrundbesitzes an das Großbauerntum, wie der „V erein ehemaliger Eigentümer enteigneter Güter in Estland“ ihn vorgeschlagen hatte, ökonomisch nahe liegender und vernünftiger gewesen wäre: Er w ar aber politisch mehrheitlich nicht ge wollt, und es entwick elte sich in der politisch aufgeheizten Atmosphäre des erfolgreichen Freiheitskrie ges eine eigene Dynamik, die den Vorgang der Agrargesetzgebung in beiden Ländern weitgehend bestimmte. Stellt man schließlich den ökonomischen Erfolg der autoritären Regime in den Mittelpunkt, wie manche Autoren dies tun, ohne deshalb dem politischen System der Einmann-Herrschaften zuzustimmen, so muss doch immer gefragt werden, welcher politischer und letztlich auch ökonomischer Preis für die Politik des Staatskapitalismus unter dem griffigen Motto „Lettland den Letten“ gezahlt werden musste. Gewiß: Juhan Kahk und Enn Tarvel weisen zu Recht darauf hin, dass es gelungen sei, das befürchtete Übergewicht viel zu kleiner Betriebseinheiten zu vermeiden. In den baltischen Staaten lagen nur 20 bis 30 Prozent der Betriebsgrößen um die 5 ha, im Unterschied zu den übrigen ostmitteleuropäischen Staaten, die im Durchschnitt 70 bis 80 Prozent solcher Kleinsteinheiten aufwiesen. 70 bis 80 Prozent der Betriebe hatten in den drei baltischen Staaten eine Größenordnung v on 5 bis 100 ha; 66 So auch R AUN (wie Anm. 8), S. 128 f., der v on „land reform“ spricht; ebenso P LAKANS (wie Anm. 8), S. 124 –126, und V. BLOMEIER (wie Anm. 8), S. 64–73. 67 Vgl. die Einführung zum Abschnitt über die selbständigen baltischen Staaten in K AHK/TARVEL (wie Anm. 5), S. 103–106; sehr instruktiv auch die Vorgeschichte unter der Überschrift: „The transition to capitalism in the baltic countries“; ebd., S. 80–102.

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im übrigen Ostmitteleuropa waren es nur 25 bis 30 Prozent. Nur noch 1 Prozent des Landes gehörten zu Großbetrieben; in der Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien waren es 15 bis 40 Prozent. Der mittelständische F amilienbetrieb, so Juhan Kahk und Enn Tarvel, sei zwischen 1920 und 1940 im Großen und Ganzen Wirklichkeit geworden. Auf der anderen Seite führte die K onzentration auf den zentral gelenkten Export von Agrarprodukten ins nationalsozialistische Deutschland und nach Großbritannien zu ök onomischen Abhängigkeiten.68 Unter dem Primat des außenwirtschaftlichen Erfolges war es für die autoritären Regime ein leichtes, das politische Leben im Innern weitgehend lahm zu legen und mit staatlichen Kontrollen zu funktionalisieren. In den „Jahren der Stille“ (Raun) entwickelten sich in der deutschbaltischen Minderheit nationalsozialistisch orientierte „Be wegungen“, besonders in Lettland.69 Die erzwungene strikte Neutralitätspolitik machte die baltischen Staaten nach außen und nach innen immobil. Man muss nicht so weit gehen wie Hans Erich Volkmann, der angesichts der NS-W irtschaftspolitik im Zeichen des Vierjahresplanes (1936–1940) und der damit verbundenen Diktate im Hinblick auf die Finanzierung von Import und Export feststellt, dass die baltischen Staaten ihre spätere Besetzung durch die Truppen des nationalsozialistischen Deutschland f aktisch „vorfinanziert“ hätten.70 Es würde sich lohnen, den Gedanken von Wilfried Schlau aufzunehmen und die Frage zu diskutieren, ob mit den agrarischen Umstrukturierungen in den baltischen Staaten und dem zeitgleichen Vorgehen in Irland der weltgeschichtlich immer noch nicht ganz abgeschlossene Prozess der Dek olonisation eingeleitet w orden sei. Es scheint zweifelhaft, ob es dafür ein breites Be wusstsein in den baltischen Staaten um 1920 bis 1940 gegeben hat. Zwar taucht immer wieder derVorwurf auf, dass die Deutschen sich seit dem 12. Jahrhundert bis zur Umsiedlung der Deutschbalten in den Machtbereich des Deutschen Reiches Ende 1939 als Kolonisten bereichert und die alt eingesessene, indigene Be völkerung siebenhundert Jahre lang unterdrückt habe.71 Mit einer solchen Sichtweise würden jedoch Jahrhunderte unter dem leiten68 Vgl. HIBBELN, Ewald: Rivalen im Baltikum. Deutsche Reaktionen auf die britische Handelsvertragspolitik 1920–1935. (Europäische Hochschulschriften Reihe III Nr . 760). Frankfurt/Main 1997. H IDEN, John: The Baltic States and Weimar Ostpolitik. Cambridge 1987; H IDEN, John/ LOIT, Aleksander (Hg.): The Baltic in International Relations between the tw o World Wars. (Studia Baltica Stockholmiensia, Bd. 3). Uppsala 1988. HIDEN, John/SALMON, Patrick: The Baltic Nations. Estonia, Latvia and Lithuania in the Twentieth Century. London, New York 1991. 69 Vgl. RAUN (wie Anm. 8), S. 118–123 (Zitat S. 118), und P LAKANS (wie Anm. 8), S. 132–135. Zu den NS- nahen Be wegungen in Estland und Lettland vgl. neben G ARLEFF, Michael (Hg.): Deutschbalten, Weimarer Republik und Drittes Reich (wie Anm. 20) v. a. HEHN (wie Anm. 20), S. 59–74. 70 V OLKMANN, Hans-Erich: Ökonomie und Machtpolitik. Lettland und Estland im politisch – ökonomischen Kalkül des Dritten Reiches (1933–1940). In: Geschichte und Gesellschaft 2, 1976, S. 471–500. 71 Vgl. aber die spannende Diskussion in der estnischen Kulturzeitschrift „Vikerkaar“ [Regenbogen] 8/9, 2000, S. 178–190, in Übersetzung abgedruckt und kurz k ommentiert von B RÜGGEMANN, Karsten: Von der Renationalisierung zur Demontage nationaler Helden. Oder wie schreibt man estnische Geschichte? Fortsetzung mit PLATH, Ulrike: Wie schreibt man estnische Geschichte? In: Osteuropa 7/2001, S. 810–819, 188–200.

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den Gesichtspunkt von Kolonisation und Dekolonisation zusammengefasst werden, die doch in der langen Dauer der ständisch geprägten Vorherrschaft mehr Substanz entwickelt hatten als jedes k oloniale Regiment auf fremden Territorien. Die Deutschen haben im Nordosten Europas durch Jahrhunderte mit dem Lübecker und dem Hamburger Recht, mit der Christianisierung und der lutherischen Reformation, mit der Kaufmanns-, der Städtehanse und dem Handwerk, mit demAufbau einer Vasallenherrschaft, aus der die Ritterschaften hervorgingen, mit der Einwanderung Deutscher und dem ständigen kulturellen Rückbezug auf Deutschland ein re gionales System aufbauen helfen, auf dem die demokratischen Republik en aufbauen konnten. Als demokratisch regierte Mehrheitsvölker in einem definierten Raum mit einer entwickelten Infrastruktur seit dem Mittelalter und dauernden kulturellen Bezügen zum mitteleuropäischen Raum, besonders zu Deutschland, fingen die baltischen Staaten Estland und Lettland nicht v on vorne an, als sie ihre Selbständigk eit mit dem dramatischen Akt der Agrarreformen begannen. Und Litauen? Die Ergebnisse zeigen, dass die Voraussetzungen, um ein demokratisches Staatswesen zu errichten, we gen der langjährigen Vernachlässigung der Infrastruktur, des Dauerstreits mit Polen um Wilna, we gen der Memelfrage und wegen des schlechteren Bildungsstandes der Landbevölkerung ungleich schlechter waren als in den nördlich gele genen baltischen Re gionen – v on Finnland einmal ganz abgesehen, das im 19. Jahrhundert nach innen einen kontinuierlichen Aufstieg erlebt hatte.72 Die moderne Litauenforschung arbeitet im Übrigen heraus, dass die politische und ökonomische Dominanz der Polen in den litauischen Gouvernements des Russischen Reiches geringer ge wesen ist als bisher behauptet. Sie kann mit der jahr hundertealten Vorherrschaft der Deutschen in den Ostseeprovinzen nicht verglichen werden. Die deutsche Besatzungsmacht im Ersten Weltkrieg hat im Übrigen die litauische Zivilgesellschaft gefördert und die Polen in den litauischen Gebieten unterdrückt. Das gemäßigtere Vorgehen der Christdemokraten beruhte auf einem Konzept der elitären, nicht der e galitären Demokratie und auf der wirtschaftlichen Überlegung, dass ein funktionierender ehemaliger Großgrundbesitz, der mit den litauischen Groß- und Mittelbauern zusammenarbeitete, für die Entwicklungsdemokratie Litauen besser geeignet ge wesen sei als die Beseitigung größerer Wirtschaftseinheiten.73 Darin liegen wesentliche Unterschiede zu Estland und Lettland. Es bleibt aber bestehen, dass auch in Litauen die Umstrukturierung des Landbesitzes als zentrales Problem angesehen wurde. Trotz der Tatsache, dass alle drei baltischen Staaten der Industriepolitik und der Außenwirtschaft mehr Aufmerksamkeit und Finanzressourcen widmeten als der Landwirtschaft, betrachteten sie sich dennoch als Agrarstaaten, die dem Vorbild Dänemarks nachstreben w ollten. Ihre Zusammenarbeit

72 Vgl. ALAPURO, Risto: State and Revolution in Finland. Berkeley, Los Angeles 1988. 73 Das ist ein wichtiges Ergebnis der Forschungen von HELLMANN (wie Anm. 8), S. 165–176 und von BLOMEIER (wie Anm. 8), bes. S. 56–92.

Tiefgreifende agrarische Umwälzungen und Umstrukturierungen

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scheiterte im Wesentlichen am polnisch-litauischen Ge gensatz in der Wilnafrage und nicht an den Unterschieden in der Agrarpolitik. Als sich mit dem Hitler -Stalin-Pakt vom 23. August und 28. September 1939 das nationalsozialistische Deutschland und die So wjetunion auf Interessensphären in Ostmitteleuropa einigten und schließlich alle drei baltischen Staaten der so wjetischen Okkupation erlagen, zeichneten sich Entwicklungen ab, die mit den Agrarreformen nichts zu tun hatten. 74 Estland, Lettland und Litauen hätten ohne diese völkerrechtswidrige Einigung von Großmächten auf Kosten Dritter die Chance gehabt, sich friedlich weiter zu entwickeln. Wie Wilfried Schlau vermerkt, waren estnische, lettische und litauische, sozial der Mitte zugehörige Gruppen, die dieAgrarreformen mitgetragen hatten, und die deutschbaltischen Umsiedler im Verlauf des Zweiten Weltkrieges gleichermaßen vom Verlust der Heimat betroffen.75 Dass Nordosteuropa, Ostmitteleuropa und Südosteuropa nahezu ohne Deutsche in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gegangen sind und zahlreiche Be völkerungsverschiebungen und -v erluste erdulden mussten, hat mit den agrarischen Umstrukturierungen weniger zu tun als mit den Er gebnissen der zerstörerischen Welt- und Bürgerkriege seit 1914, insbesondere aber mit den Folgen des Zweiten Weltkrieges.76

74 Vgl. PISTOHLKORS, Gert von: Der Hitler-Stalin-Pakt und die baltischen Staaten. In: OBERLÄNDER, Erwin (Hg.): Hitler -Stalin-Pakt 1939. Das Ende Ostmitteleuropas? Frankfurt/Main 1989, S. 75–97, 143–145 (mit weiterführender Literatur). 75 S CHLAU (wie Anm. 1), S. 300. 76 Dass Nordosteuropa, Ostmitteleuropa und Südosteuropa als F olge des Zweiten Weltkrieges weitgehend ohne deutsche Großgruppen e xistieren, hält die 10 Bände zusammen, die in den 1990er Jahren unter dem Reihentitel „Deutsche Geschichte im Osten Europas“ im Siedler Verlag Berlin erschienen sind. Im Jahr 2002 wurde eine durchgesehene Sonderausgabe v eröffentlicht.

Landreformen, Property rights und ethnische Minderheiten. Ideen- und Institutionengeschichte nachholender Modernisierung und Staatsbildung in Rumänien und Jugoslawien 1918–1948 Dietmar Müller

1. Forschungsperspektiven und Hypothesen Nach dem Ende der kommunistischen Planwirtschaft bzw. des „dritten Weges“ und der Einparteienherrschaft wird in Rumänien und Serbien die nachosmanische und vorsozialistische Zeit in den lokalen Historiographien oft als Projektionsfläche für eine gelungene Modernisierung der Wirtschaft, eine K onsolidierung des Staates und eine kulturell-gesellschaftliche Partizipation der Bürger benutzt.1 Diese Glorifizierung insbesondere der Zwischenkrie gszeit dient zum Einen der Rek onstituierung einer Erfolgsperiode in der eigenen Geschichte der Moderne, ge gen die zum Anderen der Kommunismus stark negativ abgrenzbar ist. Solch eine Periodisierung basiert auf der Annahme eines mehr oder weniger totalen Bruchs in der Geschichte des östlichen Europa in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, der durch die Errichtung eines sozialistischen/k ommunistischen Politik- und Wirtschaftsmodells markiert sei. Vor allem die Abschaffung des Privateigentums – dieser Lesart folgten auch westeuropäische und amerikanische Historik er, Juristen und Wirtschaftswissenschaftler – habe diesem Bruch eine besondere Tiefe verliehen, der sich in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft niedergeschlagen habe. Es ist Anliegen der vorliegenden Studie, die Annahme vom radikalen Bruch auf den genannten Feldern zu hinterfragen. 2 Mit dem Fokus auf Property rights sollen die Landreformen der Zwischenkriegszeit in Rumänien und Jugoslawien mit denen der unmittelbaren Nachkrie gszeit verglichen werden, w obei den ethnischen Min1

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Zur postkommunistischen Historiographie im Überblick vgl. MURGESCU, Bogdan: A fi istoric în anul 2000 [Historik er im Jahr 2000]. Bucure ≥ti 2000; VULTUR, Smaranda: Ne w Topics, New Tendencies and Ne w Generations of Historians in Romanian Historiography . Münster 2004, S. 236–276; MARKOVIå, Predrag/K OVIå, Miloš/M ILIâEVIå, Nataša: De velopments in Serbian Historiography since 1989, S. 277–316. In: B RUNNBAUER, Ulf (Hg.): (Re)Writing History . Historiography in Southeastern Europe after Socialism. Münster 2004. Gegen diese konventionelle, vornehmlich an der politischen Geschichte orientierte Konzeptionalisierung und Periodisierung wenden sich auch Ulrich Herbert, Dan Diner und Tony Judt. Vgl. HERBERT, Ulrich: Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century. In: Journal of Modern European History 5 (2007) 1, S. 5–21; D INER, Dan: Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung. München 1999. Mit Verweis auf das hohe Maß an staatlicher Intervention im östlichen Europa der 1930er Jahre schreibtTony JUDT: „In Osteuropa begann die staatlich gelenkte Wirtschaft also nicht erst 1945.“Vgl. JUDT, Tony: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 2007, S. 56.

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derheiten eine zentrale Rolle zuk ommen wird. Dabei wird die These zu erläutern sein, dass die k ommunistischen Eingrif fe in das Eigentum und die damit intendierten Modernisierungsfolgen in der Landwirtschaft ebenso wie die dahinter stehende Rolle des Staates als Agent einer planmäßigen, nachholenden und beschleunigten Modernisierung Vorläufer in der Ideen- und Institutionengeschichte der Zwischenkriegszeit hatten. 3 Gleiches soll für die Rolle ethnischer Minderheiten nachgewiesen werden, die in beiden Staaten und in beiden Agrarreformen, allerdings in je unterschiedlichem Ausmaß, bevorzugte Objekte einer diskriminatorischen Politik waren. Diese folgte einem im letzten Drittel des 19. Jahrhundert herausgebildeten und in der Zwischenkriegszeit praktizierten Leitbild eines Staates, in dem die Titularnation das eigentliche Staatsv olk stelle, während Angehörige ethnischer Minderheiten Staatsbürger zweiter oder dritter Klasse seien.4 1.1. Ethnonationalismus auf agrarischer Grundlage Nicht nur in Rumänien und Jugoslawien, sondern auch in den anderen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas v on Estland bis Bulgarien wurden in der Zwischenkriegszeit mehr oder weniger weit reichende Agrarreformen durchgeführt.5 Einige dieser Staaten, wie Polen und das Königreich der Serben, Kroaten und Slo wenen (SHS; ab 1929 und hier im F olgenden Jugoslawien genannt), w aren gänzlich neu oder wieder entstanden, andere, wie Rumänien, bezüglich Be völkerung und Territorium, signifikant vergrößert worden. In den meisten dieser neuen Staaten f anden sich zum Teil große Be völkerungsgruppen wieder, die ethnisch oder religiös distinkt von der Titularnation waren. Die größten Minderheitengruppen in den Staaten Ostmittel- und Südosteuropas stellten Juden, Deutsche, Ungarn, Russen und Muslime, die von den neuen Staaten als Profiteure der untergegangenen multi-ethnischen und dynastisch legitimierten Imperien eingeschätzt wurden. Von den zeitgenössischen Akteuren so wie v on großen Teilen der F orschung seitdem wird die Notwendigk eit von Agrarreformen in der Zwischenkrie gszeit in Ostmittel- und Südosteuropa mit zwei Argumenten begründet:6 Furcht der Eliten vor der Ausbreitung bolschewistisch motivierter „wilder“ Bodenent- und Bodenaneignungen sowie eine nach sozialen und ethnischen Gesichtspunkten ungerechte Verteilung des Landes. Dementsprechend erschöpft sich die Literatur des entspre3

Vgl. auch M ÜLLER, Dietmar: Die Gouv ernementalität des Bodeneigentums im östlichen Eur opa. In: Entgrenzung des Eigentums in modernen Gesellschaften und Rechtskulturen, hg. v on Hannes SIEGRIST, Leipzig 2007 (zugl. Comparativ 16 (2006) 5/6), S. 112–129. 4 Vgl. MÜLLER, Dietmar: Staatsbürger auf Widerruf. Juden und Muslime als Alteritätspartner im rumänischen und serbischen Nationscode. Ethnonationale Staatsbür gerschaftskonzeptionen, 1878 – 1941. Wiesbaden 2005. 5 Aus der Flut der Literatur vgl. beispielhaft S ERING, Max (Hg.): Die agrarischen Umwälzungen im ausserrussischen Osteuropa. Ein Sammelwerk. Berlin 1930. 6 Als frühe Standardwerke in westeuropäischen Sprachen gelten MITRANY, David: The Land and the Peasant in Rumania. The War and Agrarian Reform (1917–21). Ne w York 1968 (zuerst 1930); MATL, Josef: Die Agrarreform in Jugoslavien. Berlin, Breslau 1927; TOMASEVICH, Jozo: Peasants, Politics, and Economic Change in Yugoslavia. Stanford 1955.

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chenden Landes nicht selten in der positi ven Darstellung der Agrarreform unter dem Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit,7 während die da von betroffene Gruppe in der Regel auf die verheerenden wirtschaftlichen Folgen der Verkleinbäuerlichung der Landstruktur abheben. Kritiker wie Befürworter der Agrarreformen waren sich aber einig, dass wirtschaftliche Überle gungen im Vergleich mit politischen kaum eine Rolle spielten. Die ethnopolitischeVerteilungsgerechtigkeit, ja die auch mittels der Agrarreform herzustellende Dominanz der Titularnation im Staat hatte im Denken der Eliten bereits eine ge wisse Tradition. Der rumänische und der serbische Nationscode waren seit den 1870er Jahren re vendikativ strukturiert. Die Eliten sahen ihre angestammten Territorien und die Nation durch v erschiedene ethnische Gruppen in Zeiten der Herrschaft des Habsb urgischen, des Zarischen und des Osmanischen Reiches überfremdet. Dieses „historische Unrecht“ gelte es nun durch vielfältige Maßnahmen wieder gut zu machen, die v on physischer Besetzung des Landes bspw. durch Umverteilung des Landes, durch Kolonisation mit Mitgliedern der Titularnation und bis zur mentalen Re-Nationalisierung reichten.8 1.2. Nachholende Modernisierung als „high modernism“ Den konzeptionellen Rahmen für die folgenden Überle gungen bieten die Soziologen James C. Scott und Zygmunt Baumann, bei denen der Staat in einer als „high modernism“ charakterisierten Art und Weise agiert. Staatliche Akteure nehmen sich das Recht heraus, ein angestrebtes Idealbild ihres Staates und der Gesellschaft durch ethno- und sozialplanerische Aktivitäten zu verwirklichen.9 Im Folgenden werden Versuche in Rumänien und Jugosla wien analysiert, einen perzipierten Entwicklungsrückstand zu Westeuropa hinsichtlich der ethnischen Homogenität der Bevölkerung sowie deren wirtschaftlicher Leistungsfähigk eit mittels eines großen Modernisierungssprunges nach einem Plan und unter Anleitung v on Politik ern und Intellektuellen erst protektionistisch-nationalliberalen, dann technokratisch-faschistischen und schließlich technokratisch-k ommunistischen Zuschnitts zu v ollbringen. Innerhalb dieses großen Themenkomplexes werden die Überlegungen auf folgende Fragen konzentriert: 7

Fast uneingeschränkt positi v aus nationalk ommunistischer Perspekti ve vgl. H RISTODOL, Gheorge: Agricultura României între anii 1919–1938 [Die Landwirtschaft Rumäniens 1919– 1938]. In: P U≤CA≤, Vasile/VESA, Vasile (Hgg.), Dezvoltare ≥i modernizare în România interbelic™ 1919–1938 [Entwicklung und Modernisierung im Rumänien der Zwischenkrie gszeit 1919–1938]. Bucure≥ti 1988, S. 139–172. Innerhalb der sozialistischen Historiographie können als ausgewogen gelten: ≤ANDRU, Dumitru: Reforma agrar™ în România [Die Agrarreform in Rumänien]. Bucure ≥ti 1975; G AåEŠA, Nik ola: Agrarna reforma i k olonizacija u Jugosla viji [Agrarreform und Kolonisation in Jugoslawien]. Novi Sad 1984. 8 Vgl. MÜLLER: Staatsbürger auf Widerruf (wie Anm. 4). 9 Vgl. SCOTT, James C.: Seeing lik e a State. How certain schemes to impro ve the human condition have failed. London 1998; BAUMANN, Zygmunt: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust. Hamburg 1992 (zuerst: Cambridge 1991).

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Was bedeutet der massive Eingriff in die Property rights der enteigneten Grundbesitzer sowie in die der neu zu Land gekommenen Kleinbauern für den liberalindividualistischen Eigentumsbegriff auf mittlere und lange Sicht? Was bedeutet die zunehmende Rolle des Staates in diesem Prozess der Enteignung, Zuteilung und Zwangsverwaltung von Grund und Boden für das liberale Wirtschafts- sowie das demokratische Politikregime der Zwischenkriegszeit? Was haben die Agrarreformen im östlichen Europa in der Zeit nach dem Ersten mit denen nach dem Zweiten Weltkrieg zu tun?

2. Der Staat in der Agrarreform: Vom Nationalliberalismus zum Dirigismus 2.1. Grenzen des liberal-individualistischen Eigentums Das am deutlichsten herv orstechende Merkmal der Agrarreformen nach 1918 in Ostmittel- und Südosteuropa ist erk ennbar die signifikant zunehmende Rolle des Staates bei der Zuteilung von Lebenschancen. Überall waren es staatliche Akteure und Institutionen, die bestimmten, welche Gruppen um wie viel Land enteignet wurden, welche Gruppen andererseits wie viel Land erhalten sollten und welche Rechtsstellung dieses Land in Zukunft haben sollte. Im klaren Bruch mit der Zurückhaltung des Staates über die Sicherung der Property rights hinaus, wie sie im westlichen Europa im 19. Jahrhundert im Zeichen des Liberalismus praktiziert worden war, wurde dem Staat zudem die Rolle eines akti ven Akteurs zugewiesen. Für die Bedeutungszunahme des Staates in Wirtschaftsdingen waren die Agrarreformen in Rumänien und Jugosla wien aber nur der Anfang eines Prozesses, der sich im Laufe der 1930er Jahre in zunehmender Form als Dirigismus und Korporativismus fortsetzte. Seit der Amerikanischen und Französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts hatte das Recht auf Eigentum sowie dessen staatlich geschützte Unverletzlichkeit den Rang eines Menschenrechtes erhalten, nachdem es bereits im Denk en der schottischen und englischen Philosophen und Wirtschaftswissenschaftler Thomas Hobbes, John Locke und Adam Smith sowie bei Immanuel Kant eine zentrale Rolle gespielt hatte. 10 Das Versprechen eines allgemeinen und formal gleichen Rechtes auf Eigentum besteht darin, die Basis für eine Gesellschaft v on Eigentümern zu bilden, in der langfristige Handlungs- und Verfügungsrechte über zentrale gesellschaftliche Ressourcen von traditionalen Begründungen wie Stand, familiäre, regi10 Vgl. MACPHERSON, Crawford B.: Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Von Hobbes bis Locke. Frankfurt am Main 1967 (zuerst Oxford: 1962); v ornehmlich zu Locke vgl. B ROKKER, Manfred: Arbeit und Eigentum. Der Paradigmenwechsel in der neuzeitlichen Eigentumstheorie. Darmstadt 1992; TRAPP, Manfred: Adam Smith – politische Philosophie und politische Ökonomie. Göttingen 1987. Zur Be griffsgeschichte des Eigentums im deutschen Sprachraum vgl. SCHWAB, Dieter: Eigentum. In: BRUNNER, Otto/CONZE, Werner/KOSELLECK, Reinhart (Hgg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 65–116.

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onale und nationale Herkunft, K onfession, Ethnie etc. abgek oppelt sind. In wirtschaftlicher Hinsicht sorgt ein so organisiertes Eigentumsregime für eine effektive Allokation von Handlungsrechten und Gütern, während seine politischen Ef fekte auf die Herausbildung und Stärkung einer aktiven und selbstbewussten Gesellschaft von Bürgern zielten.11 Die rumänische Verfassung von 1866 hatte unter dem Einfluss der ersten belgischen (1831) und verschiedener französischer Verfassungen aus dem 19. Jahrhundert gestanden. 12 In Fortschreibung dieses westeuropäischen Einflusses wurde die Eigentumsordnung Großrumäniens in seiner Verfassung von 1923 egalitär-universalistisch formuliert. Die einschlägigen Artikel aus dem Verfassungskapitel „Über die Rechte der Rumänen“13 sicherten allen Staatsbürgern, ohne Ansehen ihrer Ethnie, Religion und K ultur das einschlägige Bündel bür gerlicher Rechte und Freiheiten von dem der Meinung bis hin zu dem der Presse und derAssoziation (Art. 5), weiterhin die gleichberechtigte Ausübung der bürgerlichen und politischen Rechte (Art. 7) sowie die Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 8). In Art. 17 wurde das Eigentum jedweder Art garantiert und Enteignungen auf Fälle öf fentlichen Bedarfs eingeschränkt, wobei der Bedarfsf all in einem Gesetz festgestellt und die Höhe der Entschädigung v on der Justiz festgele gt werden mussten. In der jugosla wischen Verfassung von 1921 wurden in etwa dieselben Bürgerrechte gewährt, so auch der Schutz des Eigentums in Art. 37, dessen erster Satz das Eigentum für gewährleistet erklärte.14 Enteignungen k onnten ebenf alls nur auf dem Rechtswe ge stattfinden. Nicht unerhebliche Abweichungen v on diesem Idealbild einer liberal-demokratischen Gesellschaftsordnung ergaben sich bereits durch den weiteren Wortlaut des entsprechenden Artikels, durch einige weitere Verfassungsartikel, weiterhin durch die in der Verfassungsdebatte deutlich ge wordenen Deutungshorizonte zentraler 11 Vgl. RITTSTIEG, Helmut: Eigentum als Verfassungsproblem. Zur Geschichte und Gegenwart des bürgerlichen Verfassungsstaates, Darmstadt 1975; D ICHMANN, Werner/FELD, Gerhard (Hgg.): Gesellschaftliche und ökonomische Funktionen des Privateigentums. Köln 1993. Für eine Einbettung v erschiedener Meistererzählungen zum Eigentum in eine v ergleichende Perspektive vgl. S IEGRIST, Hannes/S UGARMAN, David: Geschichte als historisch-v ergleichende Eigentumswissenschaft. Rechts-, kultur - und gesellschaftsgeschichtliche Perspekti ven. In: D IES. (Hgg.): Eigentum im internationalen Vergleich (18.–20. Jahrhundert). Göttingen 1999, S. 9–30; S IEGRIST, Hannes: Die Propertisierung von Gesellschaft und Kultur. Konstruktion und Institutionalisierung des Eigentums in der Moderne. In: D ERS. (Hg.): Entgrenzung des Eigentums in modernen Gesellschaften und Rechtskulturen. Leipzig 2007 (zugleich: Comparati v 16 (2006) 5/6), S. 9–52. 12 Vgl. STADTMÜLLER, Georg: Westliches Verfassungsmodell und politische Wirklichkeit in den balkanischen Staaten. In: Saeculum 9 (1958) 3/4, S. 405–422; F OC≤ENEANU, Eleodor: Istoria constituΣional™ a României (1859–1991) [DieVerfassungsgeschichte Rumäniens (1859–1991)]. Bucure≥ti ²1998. 13 Die rumänische Verfassung von 1923 bei IONESCU, Cristian (Hg.): Dezvoltarea constituΣional™ a României. Acte ≥i documente 1741–1991 [Die Verfassungsentwicklung Rumäniens. Akten und Dokumente 1741–1991]. Bucure≥ti ²2000, S. 559–574. 14 Die jugoslawische Verfassung von 1921. In: Srpski usta vi od 1835. do 1990. godine sa ustavima Kraljevine SHS i Kraljevine Jugoslavije [Serbische Verfassungen von 1835 bis 1990 mit den Verfassungen des Königreiches SHS und des Königreichs Jugosla wien]. Beograd 2004, S. 189–224.

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Akteure und schließlich durch deren politische Praxis. So proklamierte die Verfassung Jugoslawiens in drei weiteren Artikeln Eingriffe in Property rights: Die Fideikommisse wurden abgeschafft (Art. 38), sämtlicher Waldbesitz wurde verstaatlicht (Art. 41) und ebenso wurde bereits in der Verfassung festgelegt, dass bestimmter Großgrundbesitz enteignet und an jene ausge geben wird, „die den Boden selbst bearbeiten“ (Art. 43). 15 Im Kapitel „Über gangsregelungen“ der rumänischen Verfassung firmierte der Artikel 131, in dem zentrale Regelungen der Agrarreformen in Altrumänien sowie in den neuen Provinzen Siebenbürgen, Bessarabien und der Bukowina sanktioniert wurden und somit Verfassungsrang erhielten. 16 Durchaus im europäischen Trend der 1920er Jahre, der Leistungsfähigkeit des uneingeschränkten Privateigentums zu misstrauen,17 bezweifelten auch der rumänische und jugoslawische Gesetzgeber dessen Tragfähigkeit für die neuen Herausforderungen. Das Eigentum, das in Art. 19 der rumänischen Verfassung von 1866 noch als „heilig und unverletzbar“ definiert worden war,18 wurde 1923 in Art. 17 zwar noch „garantiert“, aber mit dem Attribut der „sozialen Funktion“ v ersehen.19 Ebenso wurde in Jugoslawien verfahren, wo gleich nach der Garantie des Eigentums in Art. 37 folgte, dass sein Inhalt, Umfang und Begrenzung durch einfache Gesetze geregelt werde. Von der jugosla wischen Öffentlichkeit wurde dies allgemein als Be grenzung des Eigentums zur Erfüllung sozialer Zwecke verstanden.20 Damit hatten sich die Gesetzgeber zu einer größeren Lenkung der Wirtschaft und Gesellschaft mittels Eingriffen in das Eigentum bekannt. Dies sollte dazu dienen, den perzipierten Entwicklungsrückstand im Verhältnis zu Westeuropa aufzuholen, sowohl was die ethnische Homogenität der Bevölkerung als auch deren wirtschaftliche Leistungsfähigkeit betraf. Die Landwirtschaft w ar sicherlich nicht der einzige Sektor mit Entwicklungsrückstand, aber in Rumänien wie in Jugosla wien waren jeweils über 80 Prozent der Be völkerung dort tätig. In Ermangelung sonstiger Güter, die exportiert werden konnten, war die Landwirtschaft und die ländliche Bevölkerung die einzig mögliche Quelle der Kapitale xtraktion für eine Modernisierungsstrategie anderer Wirtschaftssektoren, wie der Industrie.21 Es ist daher 15 Ebd., S. 199. 16 Vgl. IONESCU (wie Anm. 13), S. 573. 17 Vgl. MAZOWER, Mark: Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2002, S. 26 f., 157–205. 18 Die rumänische Verfassung von 1866 bei IONESCU (wie Anm. 13), S. 414–428. 19 Vgl. COSTIN, Alexandru: ConcepΣiile actuale ale propriet™Σii ≥i constituΣia [Die zeitgenössischen Konzeption des Eigentums und die Verfassung]. In: Noua Constitu Σia din 1923 în dezbaterea contemporanilor [Die neue Verfassung von 1923 im Spiegel der zeitgenössischen Diskussion]. Bucure≥ti 1990 (zuerst 1923), S. 356–380. 20 Vgl. KONSTANTINOVIå, Mihajlo: Pitanje svojine. Od svojine individualnog prava ka svojini socialnoj funkciji [Die Frage des Eigentums. Vom individuellen Eigentumsrecht zum Eigentum als soziale Funktion]. In: Generacija pred stv aranjem. Almanah jedne grupe [Die Generation im Werden. Der Almanach einer Gruppe]. Beograd 1925, S. 7–16; PAUNOVIå, Živojin M.: Svojina i njena ograni ãenja u srpsk om zakonodavstvu [Das Eigentum und seine Einschränkungen in der serbischen Gesetzgebung]. In: Arhiv za pravne i društvene nauke 12 (1926) 1, S. 40–52; 12 (1926) 2, S. 112–132; 12 (1926) 3, S. 209–221. 21 Für eine Analyse der Wirtschaftspolitik der wichtigsten rumänischen P arteien der Zwischenkriegszeit vgl. M ÜLLER, Dietmar: Agrarpopulismus in Rumänien. Programmatik und Re gie-

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stark anzunehmen, dass die in der Verfassung sanktionierte Einschränkung des Eigentumsbegriffs ganz wesentlich eine Reaktion auf die vorgesehenen und größtenteils bereits durchgeführten Enteignungen in der Agrarreform war. Betrachtet man den eingeschränkten Eigentumsbegriff allerdings lediglich als nachträgliche Le galisierung von Enteignungen, bleibt die der Zukunft zuge wandte Seite der Agrarreform unerforscht. Diese wird im Folgenden wesentlich als protektionistische und ethnonationale Begrenzung des Eigentums beschrieben werden, denn in derselben Be wegung, in der Land ausgehändigt wurde, wurden die Property rights daran massi v eingeschränkt. Der Verlauf der Agrarreformen sowie deren k onkretes Gepräge können mit den in der Forschung zentral genannten Gründen – Furcht vor dem Bolschewismus und Ausgleich sozialer Ungerechtigkeiten – also nicht erklärt werden. Insbesondere ist unklar geblieben, weshalb der Staat über die Rolle des konkreten Organisators der Bodenumv erteilung hinaus im Laufe der Zwischenkrie gszeit immer mehr in die eines Demiur gen einer gelenkten Modernisierung hineinwuchs. Diese Entwicklung kann in quantitativer sowie zeitlicher Hinsicht beobachtet werden. 2.2. Die Agrarreformen in Rumänien und Jugoslawien Teilt man die Agrarreformen der Zwischenkrie gszeit in drei analytisch gef asste Phasen – Enteignung, Zuteilung so wie Administration des Bodens – so stie g die staatliche Rolle in allen Bereichen signifikant an.22 Im Juni 1917 wurde von einer kriegsbedingt in Jassy tagenden Konstituierenden Verfassungsversammlung Art. 19 der rumänischen Verfassung dahingehend modifiziert, dass nun Pri vateigentum an Grund und Boden nicht nur aufgrund „öf fentlichen“ sondern auch aufgrund „nationalen Bedarfs“ enteignet werden dürfe. Im Weiteren wurde dann präzisiert, dass der Grund und Boden mehrerer staatlicher Institutionen, fremder Staatsangehöriger und Absentisten zur Gänze so wie bis auf 100 Hektar v on allen anderen Grundbesitzern enteignet werden solle. Insgesamt sollten auf diesem Wege zwei Millionen Hektar Land zurVerfügung stehen. Formal rungspraxis der Bauernpartei und der Nationalbäuerlichen Partei Rumäniens in der Zwischenkriegszeit. St. Augustin 2001. Allgemein vgl. TEICHOVA, Alice: Kleinstaaten im Spannungsfeld der Großmächte. Wirtschaft und Politik in Mittel- und Südosteuropa in der Zwischenkriegszeit, München 1988. Aus dem zeitgenössischen Schrifttum ist herausragend P ASVOLSKY, Leo: Economic Nationalism of the Danubian States. New York 1928; vgl. auch HOFFMANN, Walter: Südost-Europa. Bulgarien – Jugosla wien – Rumänien. Ein Querschnitt durch Politik, K ultur und Wirtschaft. Leipzig 1932; H ERTZ, Frederick: The Economic Problems of the Danubian States. A Study in Economic Nationalism. London 1947. 22 Für die einschlägigen Gesetze samt den ausführenden Bestimmungen zur Agrarreform vgl. Codul General al României [Allgemeines rumänisches Gesetzb uch], v ol. 9/10, 1919–1922, Bucure≥ti o. J. Für Bessarabien S. 265–271 und S. 864–908, das Altreich S. 653–732; für Siebenbürgen 733–803. Für Jugosla wien hat Bogdan Leki ç eine Dokumentation der rele vanten Gesetze und Verordnungen vorgelegt, vgl. L EKIå, Bogdan: Agrarna reforma i k olonizacija u Jugoslaviji 1918–1941 [Agrarreform und K olonisation in Jugosla wien 1918–1941]. Beograd 2002.

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handelte es sich dabei um Konfiskation und nicht um Enteignung, denn durch die in Aussicht gestellte Entschädigung war dem legalen Prinzip Genüge getan. In demokratietheoretischer Hinsicht war das Parlament auch zu einem solch weitgehenden Eingriff in die Property rights legitimiert, signifikant dabei ist die Tatsache, dass die Parlamentarier dies mit „nationalem Bedarf“ begründeten und mit der Nennung von Mengen des zu enteignenden Bodens erste Schritte zu einem staatlich gef assten Wirtschaftsplan taten. In Jugoslawien wurde keine Menge des zu enteignenden Bodens bekannt gegeben, insgesamt aber etw a 2,5 Millionen Hektar – da von ein kleinerer Teil aus der Staatsreserve – im Zuge der Agrarreform ausge geben. Mehr als zwei Millionen Hektar war durch die Enteignung aller Güter des Hauses Habsburg, aller Fideikommisse, der Absentisten, die ihr Land v erpachtet oder nicht angebaut hatten so wie des Großgrundbesitzes allgemein zustande gek ommen. Bereits in diesen ersten „Übergangsbestimmungen zur Vorbereitung einer Agrarreform“ vom Februar 1919 wurde k eine allgemeingültige Definition v on Großgrundbesitz ge geben, sondern nur angeführt, dass Flächen v on 100 bis 500 Katastraljoch (ein Katastraljoch entspricht 0,575 ha) als solcher betrachtet und „je nach den Besitz- und ökonomischen Verhältnissen des Ortes“ enteignet werden solle. 23 Der entscheidende F aktor bei dieser Elastizität in der zulässigen Maximalgröße des Landbesitzes sollte dann allerdings nicht die Produkti vität des Betriebes sein, sondern die Nachfrage nach Land. Noch deutlicher als bei der Enteignung zeigte sich die zunehmende Rolle des Staates bei der Zuteilung des Landes. In Rumänien wurden damit in mehreren Gesetzen und Verordnungen seit 1918 nach historischen Pro vinzen unterschiedliche öffentlich-rechtliche Institutionen betraut. 24 In Jugoslawien waren dafür die Kreisagrarämter und die Agrardirektionen, also staatliche Institutionen v erantwortlich, gegen deren Entscheidungen lediglich beim Ministerium für Agrarreformen, also einem weiteren exekutiven Organ, geklagt werden k onnte.25 Die zentralen Institutionen bzw. ihre untergeordneten Agenturen auf Kreis- und Ortsebene gaben Land aus oder legalisierten dessen Inbesitznahme, indem sie einem Prinzip folgten: Jeder Bauer sollte soviel Land zur Verfügung haben, wie er mit seiner Hände Arbeit bestellen konnte. Implizit maßte sich der Gesetzesgeber damit die Definitionsmacht darüber an, wie viel Eigentum an Grund und Boden notwendig, nützlich und le gitim sei. Ungeachtet ihrer bisherigen Leistungen, ihrer aktuellen Fähigk eiten und ihres zukünftigen Leistungspotentials sollten alle Bauern ein zur Existenz notwendiges Mindestmaß an Acker- und Wiesenland verfügen. Alles bisher erworbene Eigentum – und somit auch das meritokratische Prinzip bei derVerteilung von Lebens23 Art. 10 der Predhodne odredbe za pripremu agrarne reforme [V orläufige Bestimmungen zur Vorbereitung der Agrarreform]. In: LEKIå (wie Anm. 22), S. 223. 24 Im Altreich war es die Casa Central ™ a Împropriet ™ririi, die Casa Noastr ™ in Bessarabien, die Banca Agrar™ in Siebenbür gen und die Banca Re gional™ in der Buk owina. Vgl. G EORGESCU, Mircea: Principii ≥i metode în legiuirile Române pentru reforma agrar™ [Prinzipien und Methoden der rumänischen Agrargesetzgebung]. Bucure≥ti 1943, S. 127. 25 Vgl. FITSCHER, Ludwig: Agrarverfassung und agrarische Umwälzung in Jugosla wien. In: S ERING (wie Anm. 5), S. 315 ff.

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chancen – stand somit unter dem mehr oder weniger of fen ausgesprochenen Vorwurf, durch Ausbeutung und sonstige ille gitime Methoden erw orben w orden zu sein. Dieselbe erkennbar soziale und, wie noch zu zeigen sein wird, politische und ethnonationale, aber kaum wirtschaftliche Logik folgende Enteignung und Zuteilung des Bodens 26 kam auch in der staatlich bestimmten Rechtsstellung des im Zuge der Agrarreform ausgehändigten Bodens zur Geltung. In den Bestimmungen zur Agrarreform behielt sich der Staat in mehrf acher Hinsicht ein Mitspracherecht bezüglich der Veräußerung, Beleihung, Vererbung, ja sogar der Bearbeitung des Agrarreformbodens vor. In Rumänien regelte das Reformagrargesetz für das Altreich in Art. 120,27 dass das Land erst fünf Jahre nach seiner endgültigen Inbesitznahme, die wiederum rechtskräftig w ar, nachdem die gesamte Ablösesumme des Bodens an den Staat gezahlt worden war, veräußert, getauscht oder v ererbt werden konnte. In Art. 122 behielt sich der Staat aber ein Vorkaufsrecht auf alles Land vor, das in dieser sowie in allen v orhergehenden Agrarreformen ausgehändigt w orden w ar.28 In diesem Zeitraum durfte das Land auch nur von staatlichen oder staatlich autorisierten Institutionen beliehen werden. Ein Minimum v on einem Hektar so wie das Gartenland und das Haus sollten v on den Ef fekten des Geldmarkts wie v on denen der Vererbungspraxis aber gänzlich geschützt werden.29 Art. 137 und 139 des Agrargesetzes von 1921 sahen sogar das Recht der Bodenreformagentur (Casa Central ™a Împropriet™ririi) vor, den mit Land ausgestatteten Bauern v orzuschreiben, welche Pflanzen sie auszusäen und wie sie diese zu bearbeiten hätten. Wenn sie dies nicht zur Zufriedenheit der Behörde zu erledigen in der Lage w aren, konnte ihnen das Land wieder weggenommen werden.30 Da in Jugosla wien die Versorgung v on Krie gsfreiwilligen oft mittels Kolonisierung,31 definiert als Ausgabe von Land an Ortsfremde, die zu diesem Zwe26 Diese Motivationslage wird v on Otto v on Frangeš besonders herv orgehoben. Vgl. F RANGEŠ, Otto von: Auswirkungen der Agrarreform in den Südostländern Europas, S. 57–63, hier S. 57, als Anhang in: KALLBRUNNER, Hermann: Die Landwirtschaft der mitteleuropäischen Staaten. Wien, Berlin 1930; DERS.: Die sozialökonomische Struktur der jugoslawischen Landwirtschaft. Berlin 1937, S. 159–231. 27 Gleichlautende Bestimmungen finden sich auch in den Agrarreformgesetzen für die neuen Provinzen Siebenbürgen, Bessarabien, Bukowina und, tendenziell noch restriktiver, für die Dobrudscha. Für eine Analyse der Agrarreformen und der K olonisierung in der Dobrudscha vgl. MÜLLER: Staatsbürger auf Widerruf (wie Anm. 4), S. 362–474. 28 Vgl. GORUNEANU, Octav I.: Re gimul circulaΣiunii p™mânturilor rurale. Studiu economico-juridic. Le gislaΣie – doctrin ™ – jurispruden Σ™ [Die Bestimmungen zum Kauf und Verkauf v on Agrarland. Eine ök onomisch-juristische Studie. Gesetze – Doktrinen – Rechtsprechung]. ConstanΣa 1932, S. 110 ff. 29 Ebd., S. 75. 30 Vgl. BULGARU, Valeriu: Câtre o nou™ reform™ agrar™? [Einer neuen Agrarreform entgegen?] Ia≥i 1936, S. 12. 31 Nicht alle Krie gsfreiwilligen wurden dafür mit Land in anderen Landesteilen entlohnt, und nicht alle K olonisten waren Kriegsfreiwillige gewesen, aber die Überschneidung der beiden Gruppen ist beträchtlich. Zudem scheint das kulturelle Leitbild des K olonisten das eines romantisch-verklärten Bauern-Kämpfers ge wesen zu sein: „Mit dem Ge wehr in Händen le gten

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cke z. T. aus anderen historischen Landschaften anreisten, im Zuge derAgrarreform eine sehr große Rolle spielte, bezog sich das Gros der protektionistischen Maßnahmen auf diese Gruppe. Neben umf angreichen Vergünstigungen, wie z. B. die k ostenlose Ausgabe des Bodens und dreijährige Steuerexemption, mussten die Kolonisten mit Erhalt des Siedlungslandes auch erhebliche Einschränkungen ihrer Handlungsfreiheit hinnehmen. Als obligatorische Mitglieder v on staatlichen Genossenschaften, die das Land an sie v erpachteten, mussten sich die K olonisten 10 Jahre lang deren Reglement unterwerfen, bevor das Land in ihr Eigentum überging. Dies enthielt natürlich die Zahlung der P acht, aber auch die Pflicht, das Land auf eine bestimmte Art und Weise selbst zu bebauen und das Verbot, Beziehungen mit staatsfeindlichen Elementen zu unterhalten. Selbstverständlich durfte das erhaltene Land in dieser Zeit weder verpachtet noch verkauft werden.32 All diese Bestimmungen sollten verhindern, dass die Ergebnisse der Bodenzuteilung binnen kurzer Zeit durch unterschiedliche Kräfte wieder rückgängig gemacht wurden. Abgesehen von dieser Absicht, stellten die Bestimmungen in erster Linie aber eine erhebliche Einschränkung der Property Rights dar. Der tatsächliche Nutzen, den die Bauern aus dem Boden ziehen konnten, tendierte oft gegen Null, da er nicht als Sicherheit für einen Bankkredit zurVerfügung stand. Da derAufbau von Genossenschaftsbanken oder sonstiger agrarischer Kreditlinien weder in Rumänien, noch in Jugosla wien mit der Nachfrage Schritt hielt, hatten die kleinbäuer lichen Familienwirtschaften also lediglich zu Bankkapital mit hohen Risik ozinsen Zugang, was zu einer sehr hohen Verschuldung binnen kurzer Zeit führte.33 2.3. Agrardirigismus in der Zwischenkriegszeit Die analysierte Zunahme staatlicher Regelungen der Wirtschaft setzte sich im Laufe der Zwischenkriegszeit ebenso fort, wie deren im Zuge der Agrarreformen hervorgetretenen Begleiteffekte: Eingriffe in die Property rights . Es scheint, als ob die Begründung des Agrardirigismus und die Eingriffe in die Property rights in Rumänien eine theoretisch anspruchsv ollere Begründung erfahren habe, als in Jugoslawien.34 Dort scheint das Thema – angesichts des Ausmaßes der Kolonisierung im Kosovo, in Makedonien und in der Wojwodina ist dies auch verständlich – viel stärker ethnopolitisch gefärbt zu sein, während sich in Rumänien der Etatismus und das sie sich schlafen, mit dem Gewehr in Händen standen sie auf und mit dem Ge wehr in Händen bestellten sie das Feld“. Vgl. KRSTIå, Ðorđe: Kolonizacija u Južnoj Srbiji [Die Kolonisation in Südserbien]. Sarajevo 1928, S. 74. 32 Vgl. Matl (wie Anm. 6), S. 111 f.; F RITSCHER, Ludwig: Die südslawische Agrarverfassung und die Agrarverordnungen von 1919/21. Phil. Diss. Auszug. In: Jahrbuch der Diss. d. Phil. Fakultät Berlin 1922/23, S. 322 ff. 33 Laut LucreΣiu P™tr™≥canu wurde dieses Phänomen in der Finanzwelt „balkanische Zinsen“ (dobânzi balcanice) genannt. Vgl. P ®TR®≤CANU, Lucre Σiu: Probleme de baz ™ ale Romîniei [Die grundlegenden Probleme Rumäniens], 3. Auflage. Bucure≥ti 1946 (zuerst: 1944), S. 111. 34 Theoretiker vom Range eines Mihail Manoilescu, ≤tefan Zeletin oder Virgil Madgearu sind in der jugoslawischen Zwischenkriegszeit ebenso wenig vorhanden, wie größere wirtschaftspolitische Debatten.

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ethnopolitische Motiv im Agrardirigismus die Waage halten. Daher liegt in diesem Kapitel der Schwerpunkt auf Rumänien, während der jugosla wische F all später wieder aufgegriffen wird. In den programmatischen Schriften von Politikern der die 1920er Jahre in Rumänien bestimmenden Nationalliberalen P artei (P artidul Na Σional Liberal; PNL) wie z. B. I. G. Duca wird das Prinzip des Privateigentums rhetorisch hoch gehalten, allerdings durch das Attribut seiner sozialen Funktion ergänzt, deren Ausgestaltung wiederum von staatlichen Akteuren definiert werden solle. 35 In derselben Sammlung von Vorträgen, die 1923 im Rumänischen Sozialinstitut zu dem Zweck gehalten wurden, die grundsätzliche Ausrichtung rumänischer P arteien und politischer Denkrichtungen darzulegen, war es bereits Mihail Manoilescu, der für eine größere Rolle des Staates in der Wirtschaft plädierte. Er bezeichnet dieses System als Neoliberalismus, und seine Darlegungen beschreiben wesentlich genauer und ehrlicher die Praxis des neuen Eigentumsre gimes, wie auch die Re gierungspolitik der PNL, die unter dem Schlagwort „Durch uns selbst“ („prin noi în≥ine“) bekannt ist.36 Manoilescu, wie auch der ebenfalls zu dem Thema publizierende ≤tefan Zeletin,37 gingen von einem Modernisierungsrückstand Rumäniens im Vergleich zu Westeuropa aus, der in wirtschaftlicher Hinsicht mit der liberalen Methode des laissez faire nicht aufzuholen sei. Nicht nur eine staatliche Definition des anzustrebenden Entwicklungsziels sei deshalb vonnöten, sondern auch staatliche Eingriffe in das Handeln der Wirtschaftsakteure, die bis hin zur Lenkung gehen sollten. Während diese Art des Dirigismus sowie seine positiven und negativen Folgen im Bereich der Industrie gut erforscht und kritisch diskutiert wurden, 38 werden in der F orschung gleichgerichtete Maßnahmen im Bereich der Landwirtschaft kaum problematisiert. Der Agrardirigismus entwickelte sich organisch aus der Agrarreform als Maßnahmen, die zunächst dazu dienten, deren Er gebnisse zu festigen. 1925 wurde ein Gesetz v erabschiedet, das die Bestimmung, w onach per Agrarreform zugeteiltes Land erst fünf Jahre nach seiner vollständigen Ablösung den Eigentümer wechseln 35 Vgl. DUCA, I. G.: Doctrina liberal ™ [Die liberale Doktrin]. In: Doctrinele partidelor politice [Die Doktrinen der politischen Parteien]. Bucure≥ti o. J., S. 144–154. 36 Vgl. MANOILESCU, Mihail: Neoliberalismul [Der Neoliberalismus]. In: Doctrinele partidelor politice. Bucure≥ti o. J., S. 198–228. 37 Z ELETIN, ≤tefan: Burghezia Român™. Originea ≥i rolul ei istoric [Das Bür gertum Rumäniens. Sein Ursprung und historische Rolle]. Bucure ≥ti 1925; D ERS.: Neoliberalismul. Studii asupra istoriei ≥i politicii burgheziei Române [Der Neoliberalismus. Studien über die Geschichte und Politik des rumänischen Bürgertums]. Bucure≥ti 1992 (zuerst 1927). 38 Vgl. CHIROT, Daniel: Neoliberal and Social Democratic Theories of Development: The ZeletinVoinea Debate Concerning Romania’s Prospects in the 1920’s and it’s contemporary prospects, S. 31–52; MONTIAS, Michael: Notes on the Debate on Sheltered Industrialization: 1860 – 1906, S. 53–71; SCHMITTER, Philippe C.: Reflections on Mihail Manoilescu and the Political Consequences of Delayed-Dependent development on the Periphery of Western Europe, S. 117–139, alle in: JOWITT, Kenneth (Hg.): Social Change in Romania, 1860–1940. A Debate on Development in a European Nation, Berk eley 1978; TRENCSÉNYI, Balázs: The „Münchhausenian Moment“: Modernity, Liberalism and Nationalism in the Thought of ≤tefan Zeletin. In: DERS. u. a. (Hgg.): Nation-Building and Contested Identities: Romanian and Hungarian Case Studies. Budapest, Ia≥i 2001, S. 61–80.

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konnte, auf sämtliche Agrarreformen seit 1864 und somit auf einen Großteil des von Kleinbauern genützten Landes ausdehnte.39 Das staatliche Vorkaufsrecht wurde im selben Gesetz dahingehend präzisiert, dass jegliches Land erst der Casa Central™ angeboten wurde, und nicht nur jenes, das an Nichtbauern v eräußert werden sollte.40 Ein von der Nationalbäuerlichen Partei (Partidul NaΣional-ˇ™r™nist; PNˇ) 1929 verabschiedetes Gesetz stellte eine partielle und kurzfristige Unterbrechung der ansonsten geradlinigen Tendenz hin zum Dirigismus dar .41 In der Praxis hatte sich herausgestellt, dass das Vorkaufsrecht von staatlichen Behörden selten in Anspruch genommen wurde und dass es trotz des Verbotes einen schwungvollen Handel mit Agrarreformboden gab, obw ohl dieser nicht v ollständig abgelöst w orden und die vorgesehene Frist nicht v erstrichen w ar. F olglich wurden diese beiden Bestimmungen ebenso wie der absolute Schutz des Hauses v or der Vermarktung abgeschafft.42 Damit v ersprach sich die PN ˇ eine Verbesserung der Bodenkreditsituation sowie die Möglichkeit für erfolgreiche Bauern, ihre Anbauflächen auf legalem Wege vergrößern zu können. Angesichts der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920/ Anfang der 1930er Jahren zerstoben solche Hof fnungen angesichts des rapiden Preisverfalls landwirtschaftlicher Produkte. Damit sich die Bauern nicht v ollkommen vom Markt zurückzogen und damit sie wenigstens in kleinem Maße wieder Steuern zu zahlen und ihre ausstehenden Kredite zu bedienen in der Lage w aren, sahen sich von 1930 bis 1934 mehrere Kabinette aller politischen Richtungen gezwungen, erneut massiv in die Property Rights, diesmal der Kreditgeber, einzugreifen. Es wurden mehrere Gesetze zur Schuldenk onversion v erabschiedet, infolge derer die Banken, aber auch staatliche Institutionen auf einen Großteil der ausstehenden Zahlungen verzichten mussten.43 Ab Mitte der 1930er Jahren, be ginnend mit dem PNL-Kabinett unter Führung Gheorghe T™t™rescus, intensivierte sich so wohl der Agrardirigismus in der Praxis als auch seine ideologische Untermauerung. So sah ein 1937 evrabschiedetes Agrargesetz im Ergebnis die Abschaffung jeglicher Handlungsfreiheit der kleinen Familienwirtschaften vor.44 Zur Rationalisierung des Agrarbereiches sollte ein langfristiger sowie ein Jahresplan erstellt werden (Art. 13.), in denen die Vorsitzenden der Landwirtschaftskreise ( ≥ef de circumscrip Σie agricol ™) den Bauern v orschreiben konnten, welche Frucht gepflanzt werden solle (Art. 17). 45 Dabei handelte es sich freilich nur um eine Wiederaufnahme und Verstärkung der bereits 1921 v orgese39 Legea pri vitoare la înstr ™inarea loturilor dobândite prin împropriet ™rire din 13 Martie 1925 [Gesetz über den Verkauf von Agrarreformland vom 13. März 1925]. In: Codul General v ol. 11/12, S. 857 ff. 40 Vgl. Goruneanu: Regimul circulaΣiunii (wie Anm. 28), S. 102, 113. 41 Vgl. POTÂRC®, Virgil/OPRESCU, Gh. C. M.: Mica proprietate Σ™r™neasc™. Studiu doctrinar ≥i jurisprudenΣiar asupra situa Σiunii ei juridice [Das bäuerliche Kleineigentum. Eine Studie zur Doktrin und Rechtssprechung zu seiner juristischen Lage]. Craiova 1932. 42 Vgl. DERS., S. 76, 103 f., 113. 43 Zu den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf die rumänische Wirtschaft vgl. M ÜLLER: Agrarpopulismus (wie Anm. 21), S. 130–140. 44 Vgl. ANGELESCU, Alexandru C.: Or ganizarea micii propriet ™Σi Σ™r™ne≥ti [Die Or ganisation des bäuerlichen Kleineigentums]. Bucure≥ti 1939. 45 Vgl. BULGARU: Câtre o nou™ reform™ agrar™? (wie Anm. 30), S. 6.

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henen staatlichen Kontrolle der Kleinlandwirtschaft, die aber nicht realisiert w orden w ar. Auch die bis dahin eher auf die ungehinderte Initiati ve der Klein- und Mittelbauern sowie makroökonomisch auf Freihandel setzenden NationalΣ™r™nisten machten nun unter Führung ihres unumstrittenen Chefdogmatikers Virgil Madgearu einen Wandel hin zum staatlichen Dirigismus einerseits mit sowie zur – wenn nötig auch zwangsweisen – Zusammenfassung der Kleinbauern in Genossenschaften im Rahmen eines Bauernstaates.46 Noch unter der PNL-Regierung wurde mit den Vorbereitungen für ein „Rumänisches Institut für Landwirtschaftsrecht“ (Institutul Român de DreptAgrar) begonnen, das schließlich im Dezember 1939 ge gründet wurde. 47 Dessen in zahlreichen Publikationen vertretene generelle Ausrichtung zielte darauf ab, das Agrarrecht als gesonderten Rechtsbereich zu etablieren, in dem die allgemeinen Bestimmungen des Zivilgesetzbuches bspw. zur Veräußerung und Vererbung von Grund und Boden keine Gültigkeit hatten.48 Die Autoren hoben in explizit anti-liberaler Tendenz hervor, dass das rumänische Zi vilgesetzbuch starke Anleihen aus dem französischen Code Civil gemacht habe und deshalb ungeeignet sei, die rumänische Eigentumspraxis an Grund und Boden zu regeln. Besser dazu geeignet seien die Regelungen des faschistischen Italien sowie das Reichserbhofgesetz des nationalsozialistischen Deutschland.49 Die im Februar 1938 v erabschiedete Verfassung der Königsdiktatur Carols II. verlieh dieser dirigistischen Ausgestaltung des Agrarrechts dann sogar grundgesetzlichen Charakter. Generell schuf die Verfassung von 1938 ein korporatistisches System, in dem nicht nur die indi viduellen Property Rights der Bauern abgeschafft w aren, sondern auch die P arteien, das P arlament und auch das politische Nationsverständnis. Die intellektuelle Vorarbeit dazu hatte eine Generation von Technokraten, wie Mihail Manoilescu, geschaf fen, die die Institutionen und 46 Vgl. MADGEARU, Virgil: Economia dirijat™ [Die gelenkte Wirtschaft]. In: ViaΣa Româneasc™ 26 (1934) 7, S. 3–18; D ERS.: Economia dirijat ™ ≥i Coopera Σia [Die gelenkte Wirtschaft und die Genossenschaft]. In: Independen Σa economic ™ 5 (1934), S. 129–136; Z ANE, Gheor ge: ˇ™r™nismul ≥i organizarea statului Romîn [Der ˇ™r™nismus und die Organisation des rumänischen Staates]. In: N. C OST®CHESCU (Hg.): Pentru biruin Σa Σ™r™nismului [Für den Sie g des ˇ™r™nismus]. Ia≥i 1934, S. 15–38. 47 Vgl. R®DULESCU, Andrei: Dreptul ≥i proprietatea rural™ [Recht und Bodeneigentum]. Bucure≥ti 1940, S. 3. 48 Vgl. LAZ®R, Mihai: Autonomia dreptului agrar [Die Autonomie des Bodenrechts]. Cluj 1936; IORNESCU, C.: Dreptul agrar in România. Importan Σa acestiu studiu [Bodenrecht in Rumänien. Die Bedeutung dieser Studie]. Bucure ≥ti 1936; D ERS.: Institutul Român de Drept Agrar [Das Rumänische Institut für Agrarrecht]. Bucure ≥ti 1937; R AZI, Mihail E.: Problema succesiuni imobilelor rurale [Das Problem der Vererbung landwirtschaftlicher Immobilien]. Bucure ≥ti 1938; VIDRA, Vasile Gh.: NoΣiunea actual™ a dreptului de proprietate [Der aktuelle Be griff des Rechts auf Eigentum]. Bucure ≥ti 1938; R ®DULESCU: Dreptul ≥i proprietatea rural ™ [Recht und Bodeneigentum] (wie Anm. 47). Kritisch zum Agrarrecht als Sonderrecht vgl. L EONARDESCU, Gr.: Câte-va observaΣiuni asupra unor articole din Le gea de Reform™ Agrar™ pentru Basarabia [Einige Beobachtungen zu einigen Artikeln im Bodenreformgesetz für Bessarabien]. Chi≥in™u 1922. 49 Zur nationalsozialistischen Eigentumslehre und Agrarrecht vgl. S TOLLEIS, Michael: Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht. Berlin 1974; GRUNDMANN, Friedrich: Agrarpolitik im Dritten Reich. Anspruch und Wirklichkeit des Reichserbhofgesetzes. Hamburg 1979.

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Werte der parlamentarischen Demokratie als ungeeignet zur Lösung der drängenden Modernisierungsprobleme kritisiert hatten. 50 Die Eingrif fe in die Property Rights der Bauern, wie sie v om „Rumänischen Institut für Landwirtschaftsrecht“ propagiert und unter Carol II. erneut und deutlicher in der Verfassung verankert worden waren, bedeuteten also jedoch qualitativ signifikante Abkehr vom liberal-individualistischen Eigentumsbegriff. Ebenso wenig w ar dies der F all bei den Re gelungen im Agrarbereich unter dem Militärdiktator Ion Antonescu, der diesen im Wesentlichen an die Krie gsbedürfnisse anpasste. 51 In der Königsdiktatur und unter Antonescu kulminierte allerdings die weiter unten noch zu analysierende ethnopolitische Überformung der Property Rights und des Staatsbürgerverständisses dadurch, dass sukzessive ein großer Teil der Juden Rumäniens erhebliche K onfiskationen sowie die Aberkennung ihrer Staatsbürgerrechte erlitten.52 Wie dargestellt, fand der einschneidende Bruch mit Begriff und Praxis des liberal-individualistischen Eigentums während der Agrarreform seit 1917 statt. Der fortgesetzte und sich langsam aber fast stetig steigernde staatliche Dirigismus in der Wirtschaft im Allgemeinen und dem Agrarbereich im Besonderen war der Versuch, einen großen Modernisierungssprung nach einem Plan und unter Anleitung v on Politikern und Intellektuellen erst protektionistisch-nationalliberalen, dann technokratisch-faschistischen Zuschnitts zu vollbringen.

3. Der Staatsbürger in der Agrarreform: Die politische und ethnopolitische Dimension der Pr operty rights 3.1. Paternalismus und Eigentumssicherung Das politische Regime Rumäniens basierte seit seiner Gründung bis zum Ende des „langen 19. Jahrhunderts“ auf einem de f acto-Ausschluss der Bauern aus der Nation. Ein äußerst restriktives Zensuswahlrecht bewirkte, dass insbesondere die ländlichen Wahlkreise von wenigen Abgeordneten – in aller Regel von Großgrundbesitzern – v ertreten wurden, deren wichtigstes Interesse die Beibehaltung des post 1864–Agrarregimes war.53 Dies war von der politischen Elite des Landes in Gestalt der Arbeits- und P achtvereinbarungen so ausgestaltet w orden, dass die Bauern 50 Vgl. MANOILESCU, Mihail: Rostul ≥i destinul b urgheziei române ≥ti [Zweck und Bestimmung des rumänischen Bür gertums]. Bucure≥ti 1997 (zuerst 1943). Für eine Vertiefung dieser Problematik vgl. J ANOS, Andrew C: The One-P arty State and Social Mobilization: East Europe between the Wars. In: H UNTINGTON, Samuel P./MOORE, Clement H. (Hgg.): Authoritarian Politics in Modern Society. The Dynamics of Established One-P arty Systems. New York, London 1970, S. 204–236. 51 Vgl. FILIPESCU, Constantin: Ob≥tea, satul ≥i noul regim agrar [Die Gemeinschaft, das Dorf und das neue Agrarregime]. Bucure≥ti 1943. 52 Vgl. MÜLLER: Staatsbürger auf Widerruf (wie Anm. 4), S. 454 ff. 53 Vgl. MAIER, Lothar: Rumänien auf demWeg zur Unabhängigkeitserklärung 1866–1877. Schein und Wirklichkeit liberaler Verfassung und staatlicher Souveränität, München 1989. Vgl hierzu auch den Beitrag von Holm Sundhaussen in diesem Tagungsband.

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sämtliche wirtschaftlichen Risiken und Lasten der geschlossenenVerträge zu tragen hatten, während den Großgrundbesitzern der gesamte Staatsapparat zur Verfügung stand, die Bauern zur Erfüllung der Verträge zu zwingen. 54 Obw ohl dieses neofeudale System immer wieder zu Unruhen und Aufständen auf dem Lande führte (z. B. 1888, 1907), bedurfte es erst der Drohung einer totalen Katastrophe im Ersten Weltkrieg, bis die politische Elite grundle gende politische und wirtschaftliche Reformen in Aussicht stellte: Die Agrarreform und das allgemeine (männliche) Wahlrecht. Der Zusammenhang zwischen den beiden Reformen besteht darin, dass die Agrarreform so ausgestaltet werden sollte, dass die Kontinuität des politischen Regimes garantiert blieb. Neben dem Auftreten der Massen auf der politischen Bühne war es die Inte gration der neuen Pro vinzen und insbesondere der ethnischen und religiösen Minderheiten, die den politischen Status quo bedrohten. Auch in dieser Hinsicht war die Agrarreform als herrschaftsstabilisierendes Mittel k onzipiert, indem sie zu einer „Regatenisierung“ der neuen Provinzen führen sollte, d.h. zu einem Import nicht nur des wirtschaftlichen, sondern auch des politischen Re gimes aus dem rumänischen Altreich. Die Implikationen des allgemeinen und direkten Wahlrechts hielten sich gemessen am Grad der Eliten- so wie Systemk ontinuität in engen Grenzen. 55 Das politische System blieb aufgrund der sehr schw achen Stellung des Parlamentes im Vergleich zu den zahlreichen Befugnissen des Königs eine konstitutionelle Monarchie.56 Unter solchen Bedingungen v erwundert es nicht, dass sich die P arteien kaum zu modernen Institutionen w andelten, die bestimmte politische, wirtschaftliche und soziale Interessen bündelten und umzusetzen v ersuchten. Ihre Hinwendung zur Wählerschaft, insbesondere zu der auf dem flachen Land, hatte einen ausgesprochen paternalistischen Zug: Es w aren nicht die Wähler, die die politische Agenda einer Partei oder einer Regierung bestimmten, sondern die in Parteien organisierte Elite, die einen bestimmten Entwicklungswe g definierte und durchsetzte. Nimmt man den Grad der Mobilisierungsfähigkeit und der formalen Mitgliedschaft als Kriterien für die Modernität der Parteien, so machten die traditionellen Parteien der Zwischenkriegszeit allenfalls geringe F ortschritte in dieser Hinsicht, während erst die faschistische Legion „Erzengel Michael“ seit Mitte der 1930er Jahren mit einer direkten Ansprache der Wählerschaft zur ersten mobilisierungsfähigen Massenpartei und die Kommunistische Partei Rumäniens nach 1945 zu einer Partei mit einer hohen Zahl eingeschriebener Mitglieder wurden.57 54 Vgl. GHEREA, Constantin Dobrogeanu: Neoiob™gie. Studiu economico-sociologic al problemei noastre agrare [Neoleibeigenschaft. Eine ök onomisch-soziale Studie zu unserem Agrarproblem] (Opere complete vol. 4). Bucure≥ti 1977 (zuerst 1910). 55 Für eine Analyse des rumänischen politischen Systems in der Zwischenkriegszeit vgl. MÜLLER, Dietmar: Die Zwischenkriegszeit: Politisches System und Staatsbürgerschaft. In: KAHL, Thede/ METZELTIN, Michael/U NGUREANU/Mihai-R™zvan. (Hgg.): Rumänien. Raum und Be völkerung. Geschichte und Geschichtsbilder. Kultur. Gesellschaft und Politik heute. Wirtschaft. Recht und Verfassung. Historische Regionen. Österreichische Osthefte Jg. 48. Wien 2006, S. 279–296. 56 Zu einer Analyse des rumänischen Parlamentarismus vgl. MANER, Hans-Christian: Parlamentarismus in Rumänien (1930–1940). Demokratie im autoritären Umfeld. München 1997. 57 Vgl. HEINEN, Armin: Die Le gion „Erzengel Michael“ in Rumänien. Soziale Be wegung und politische Organisation. Ein Beitrag zum Problem des internationalen F aschismus. München

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Der wachsende staatliche Einfluss in der Wirtschaft im Zuge der Agrarreform sowie die schw ach definierten bäuerlichen Property rights waren ein idealer Ansatzpunkt für die paternalistische Strategie insbesondere der PNL, die Bauern wirtschaftlich und somit auch politisch abhängig zu halten. Wenn Bauern sich ihres Eigentums an Grund und Boden nicht sicher sein konnten, blieben sie eine manipulierbare Masse, die von den lokalen Staatsvertretern zu einer bestimmten Wahlentscheidung gezwungen werden konnten. Die Vielzahl der geschilderten gesetzlichen Bestimmungen, die die freie Verfügung der Bauern über ihr in der Agrarreform erhaltenes Land und in zunehmendem Maße über ihr gesamtes Land einschränkten, stellten einen solchen Hebel dar. Ob die entsprechende staatliche Institution Konsequenzen daraus zog, dass ein Bauer die Ablösesumme für das Land verspätet oder gar nicht mehr zahlte, ob das staatliche Vorkaufsrecht eingelöst wurde oder ob der Bauer zum Anbau einer bestimmten Frucht gezwungen wurde oder eben nicht, all dies lag in der Hand staatlicher Akteure. Das Erpressungspotential zu politischem Wohlverhalten bei Strafe von erheblichen Schwierigkeiten, sein Eigentum an Grund und Boden zu behaupten und zu nutzen, w ar also erheblich.58 In Systeme der Bodenevidenz, wie Kataster und das Grundb uch, die geeignet w aren, den Bauern hinsichtlich ihres Eigentums Rechtssicherheit zu v erleihen, war der rumänische Gesetzgeber jedenfalls nicht gewillt, signifikante Summen zu investieren. Es sollte bis 1938 dauern, bis ein Gesetz erlassen wurde, in dem die Ausweitung des in Siebenbürgen praktizierten Kataster - und Grundb uchsystems auch auf das Altreich und Bessarabien übertragen wurde. 59 Aufgrund des bald darauf einsetzenden Zweiten Weltkriegs kamen die Arbeiten daran über Vorarbeiten jedoch nicht hinaus.60 1986; B ARBU, Daniel: Republica absent ™. Politic™ ≥i societate în România postcomunist ™ [Die abwesende Republik. Politik und Gesellschaft im postkommunistischen Rumänien]. Bucure≥ti 1999, S. 19. 58 Das hohe Maß an Rechtslosigk eit der Bauern, ihre Schwierigk eiten, Rechte geltend zu machen, also der immer noch weite Graben zwischen Stadt und Land in der Zwischenkrie gszeit Rumäniens wird besonders plastisch in der Belletristik dar gestellt. Vgl. Z ELETIN, ≤tefan: Din Σara m™garilor. Însemn™ri [Aufzeichnungen aus dem Land der Esel]. Bucure ≥ti 1998 (zuerst: 1916); R EBREANU, Li viu: Pro ≥tii [Die Blöden]. In: D ERS.: Nuv ele. Bucure ≥ti o. J. (zuerst: 1916). 59 Vgl. Expunerea de moti ve ≥i proectul de Le ge pentru Cartea Funciar ™ alc™tuite de Consiliul Legislativ [Motivenbericht des Gesetzgebenden Rates zum Gesetz für das Grundb uch]. Ia ≥i 1938; BR®DEANU, Salvator A.: C™tre o nou™ legislaΣiune funciar™ [Einer neuen Bodengesetzgebung entgegen]. Bucure≥ti 1938. 60 Zur Geschichte des Katasters und der Grundbücher in Rumänien vgl. H ERLEA, Alexandru: Organizarea ≥i principiile publicit™Σii imobiliare reale în România dup™ Unirea din 1918 [Organisation und Prinzipien der Publizität des Grundeigentums in Rumänien nach der Vereinigung von 1918]. In: D ERS.: Studii de istorie a dreptului. Bd. 2: Dreptul de proprietate [Studien zur Rechtsgeschichte. Bd. 2: Das Eigentumsrecht]. Cluj-Napoca 1985, S. 166–196. Für die Zwischenkriegszeit liegen zahlreiche Schriften zu der Thematik vor, in denen die Funktionsweise des habsburgischen Kataster- und Grundbuchwesens erklärt und für dessen Übertragung aufs Altreich geworben wurde. Gerade die große Menge publizierten Schriftgutes über mehrere Jahre hinweg verweisen auf den Misserfolg dieser Lobbyarbeit. Vgl. R ®DULESCU, Andrei: Publicitatea drepturilor reale imobiliare ≥i registrele de proprietate [Die Publizität des Grundeigentums und die Eigentumsregister]. Bucure≥ti 1923; BR®DEANU, Salvator A.: Problema introducerii c™rΣilor funduare in Vechiul Regat ≥i Basarabia [Das Problem der Einführung von Grundbü-

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3.2. Die ethnopolitische Dimension der Agrarreform Die politischen Vertreter der ethnischen Minderheiten aus den neuen Provinzen kritisierten die Agrarreform als groß angelegte Umschichtung ehrlich erworbenen Eigentums zu ihren Ungunsten, kurz: als Rumänisierung respektive als Serbisierung/ Slawisierung. Auch wenn einige der Argumente als überzogen, als Versuch der eigenen Interessenwahrnehmung gewertet werden können, so lieferten die Gesetzgeber doch genügend Gründe, eine ethnopolitische Schlagseite der Agrarreform zu diagnostizieren. Die Kritik von Minderheitenvertretern, aber auch von rumänischen und jugosla wischen Publizisten und Politik ern aus den neuen Pro vinzen an der Agrarreform konzentrierte sich auf drei Aspekte.61 Ihnen gemein w ar eine perzipierte Benachteiligung der ethnischen Minderheiten und der neuen Provinz im Verhältnis zu den Titularnationen bzw. zum rumänischen Altreich und zu Serbien, die sich teilweise sicher aus Unkenntnis der Verhältnisse vor Ort, sicher aber auch aus ethnopolitischer Absicht ergab. In Rumänien waren sowohl die im Besitz des Grundbesitzers verbleibende Maximalgröße als auch die Entschädigungssumme in den neuen Provinzen signifikant niedriger als im Altreich. In Bessarabien betrug die Maximalgröße lediglich 100 Hektar, in Siebenbürgen 250 Hektar und im Altreich 500 Hektar.62 Das Ausmaß der Ungleichbehandlung wurde aber noch einmal signifikant erhöht, indem in den neuen Provinzen sämtlicher Grundbesitz eines Eigentümers zusammengenommen und dann bis zur gesetzlichen Maximalgröße enteignet wurde, während imAltreich jedes Stück Land eines Grundbesitzers getrennt betrachtet und bis auf die zulässige Maximalgröße enteignet wurden.63 Während die Entschädigung imAltreich im Verhältnis zum Verkehrspreis errechnet wurde, geschah dies in den neuen Pro vinzen anhand des teil weise signifikant niedrigeren Durchschnittspreises der letzten Vorchern im Altreich und in Bessarabien]. Bucure ≥ti 1936. Die Gesellschaft der Geodäten (AsociaΣia Generale a Topometrilor) warb in ihrer Zeitschrift Re vista Cadastral™ seit Anfang 1928 etwa zwei Jahre lang – also in etwa während der ersten Regierungszeit der PNˇ – für den Institutionentransfer, indem sie detaillierte Pläne zur Reor ganisation des Katasteramtes vorlegte. Mit dem Scheitern dieser Pläne stellte auch die Zeitschrift ihr Erscheinen ein. 61 Exemplarisch für die Kritik der ethnischen Minderheiten vgl. die Deutschen und Ungarn aus Siebenbürgen: K LEIN, Gustav Adolf: Soziale und nationale Probleme der Agrarreform in Siebenbürgen. Hermannstadt 1927; Klein, Wilhelm: Die Liquidierung des siebenbürgisch-sächsischen Nationalvermögens. In: Nation und Staat 10 (1936/37), S. 721–730; D ARKÓ, Eugen: Die rumänische Agrarreform und die ungarischen Kirchen. In: L UKINICH, Emerich (Hg.), Die Siebenbürgische Frage. Studien aus der Vergangenheit und Ge genwart Siebenbürgens. Budapest 1940, S. 366–380; für die Russophonen in Bessarabien: SYNADINO, P. V.: Însemn™tatea reformei agrare în Basarabia [Die Bedeutung der Agrarreform in Bessarabien]. o. O. 1926; D ERS.: Memoriul agricultorilor a vând peste 25 hectare pâm ™nt din Basarabia [Memorandum der Landwirte aus Bessarabien mit mehr als 25 ha Land]. Chi ≥in™u 1921; D ERS.: Confiscarea p™durilor particulare din Basarabia [Die K onfiskation der pri vaten Wälder in Bessarabien]. o. O. 1922. Für die Deutschen aus der Wojwodina vgl.: Die Agrarreformen im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen und ihre Folgen. Novi Sad 1924. 62 Vgl. MITRANY, David: The Land and the Peasant in Rumania. The War and Agrarian Reform (1917–21). New York 1968 (zuerst: 1930), S. 122 ff. 63 Vgl. EVANS, Ifor E.: The Agrarian Revolution in Roumania. Cambridge 1924, S. 108.

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kriegsjahre. Als Großgrundbesitz in den neuen Provinzen wurde auch Grundbesitz von deutschen und ungarischen Glaubensgemeinschaften definiert, der zum Unterhalt des privaten Schulwesens gedient hatte. Der damit v ergleichbare Fall von Gemeinschaftsbesitz in Bessarabien war die proprietatea embaticar™, vormals im geteilten Besitz der Bauern einerseits und von Banken, des russischen Staates und von Kommunen andererseits, der nun in das e xklusive Eigentum des rumänischen Staates überging. Dieses sowie anderes dem Staat nun zurVerfügung stehende Land wurde zum Är ger der Bauern zu einem beträchtlichen Teil an orts- und landwirtschaftsfremde Krie gsteilnehmer so wie an Beamte v ergeben, die es in der Re gel wiederum an die Bauern verpachteten.64 Auffällig ist weiterhin, dass von dem enteigneten Land im Altreich lediglich 7,7 Prozent in der Staatsreserv e v erblieben, während es in Siebenbür gen 18,5 Prozent, in Bessarabien 26,4 Prozent und in der Bukowina 30,1 Prozent waren.65 Zudem wurde nur in Bessarabien sämtlicherWaldbesitz verstaatlicht.66 In Jugoslawien deutet bereits das Timing des Gesetzgebers darauf hin –Verordnungen und Gesetze zur Kolonisierung wurden in der Regel früher erlassen als allgemeine Agrarbestimmungen67 –, dass das ethnonationale Moment v on besonderer Wichtigkeit war. Die Kolonisierung des Kosovo, Mazedoniens und der Wojwodina war kein bloßer Teilaspekt der jugoslawischen Agrarreform, sondern sein Zentrum.68 Vergleicht man die Kolonisierung des Kosovo mit der der Wojwodina, so kann man ein gemeinsames Ziel bei durchaus unterschiedlicher Umsetzung k onstatieren.69 Der gesteigerte Grad der Rücksichtslosigkeit, mit der eine slawisch-serbische 64 Vgl. ˇURCANU, Ion: Rela Σii agrare din Basarabia în anii 1918–1940 [Die Lage der Landwirtschaft in Bessarabien zwischen 1918 und 1940]. Bucure≥ti 1991, S. 28 ff., 36. 65 G EORGESCU (wie Anm. 24), S. 132 ff. 66 Vgl. SYNADINO: Confiscarea p™durilor (wie Anm. 61). 67 Zu einer Katalogisierung der Verordnungen und Gesetze zur Agrarreform und K olonisierung im Kosovo vgl. O SMANI, Jusuf: Zak onski propisi o agrarnoj reformi i k olonizacija na Kosovo izmeôu dva svetska rata [Gesetzliche Vorschriften zur Agrarreform und K olonisation im K osovo in der Zwischenkriegszeit]. In: Vjetar i arkivit të Kosovës 20 (1985), S. 169–189. 68 In diesem Sinne auch G IORDANO, Christian: Agrarreformen als Potential ethnischer Spannungen in Osteuropa: Das Beispiel Jugoslawiens. Das Prinzip der Staatsnation und der Mythos der ethnischen Reinheit. In: B OSSHART-PFLUGER, Catherine u. a. (Hgg.): Nation und Nationalismus in Europa. Kulturelle Konstruktion von Identitäten, Frankfurt a. M. 2002. S. 463–480. Zu widersprechen ist dem Autor des englischsprachigen Standardwerks zur jugoslawischen Agrarreform, Jozo Tomasevich, der das Ziel der K olonisierung in der Agrarreform mehr versteckt als analysiert: „(…) the political strenghtening of the christian sector in Bosnia-Herze govina and Macedonia“. Gänzlich unreflektiert bleibt bei ihm, wie die Umsetzung dieses ethnonationalen Ziels z. B. den wirtschaftlichen Erfolg derAgrarreform beeinflusste. Vgl. TOMASEVICH, Peasants (wie Anm. 6), S. 358 ff. 69 Zur K olonisierung im K osovo vgl. O BRADOVIå, Milo van: Agrarna reforma i k olonizacija na Kosovo (1918–1944) [Agrarreform und K olonisation im K osovo 1918–1944]. Priština 1981; JOVANOVIå, Vladan: Jugoslo venska drža va i Južna Srbija 1918–1929. Mak edonija, Sandžak, Kosovo i Metohija u Kralje vini SHS [Der Jugosla wische Staat und Südserbien 1918–1929. Mazedonien, Sandschak, Kosovo und Metochien im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen]. Beograd 2002, S. 208–223; ROUX, Michel: Les Albanais en Yougoslavie. Minorité nationale et dév eloppment. Paris 1992, S. 191–203; M ALCOLM, Noel: K osovo. A Short History .

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Bevölkerungsmehrheit im Kosovo angestrebt wurde, ist mit dem größeren diplomatisch-militärischen Gewicht Deutschlands und Ungarn auch nach dem Ersten Weltkrieg im Vergleich zu Albanien zu erklären. Im K osovo wie in der Wojwodina konnte auf enteignetes Land zurückge griffen werden, das sich nun in Staatsbesitz und in dem von Gemeinden und Dörfern befand. Freies Staatsland war im Kosovo nach 1912 hauptsächlich ehemaliger Besitz v on frommen albanisch-muslimischen Stiftungen (vakıf) und in der Wojwodina ehemaliger kirchlicher Gemeinschaftsbesitz von vorwiegend ungarischen und deutschen Glaubensgemeinschaften zum Unterhalt des (Pri vat)Schulwesens gewesen.70 In der schon bedeutend urbanisierten Wojwodina wurde das Problem kommunalen Landbesitzes in derAgrarreform akut, da Land aus dem Eigentum der v ornehmlich ungarisch und deutsch geprägten Städte in die Hände von Kolonisten überging. Aus den Einkünften des verpachteten Landes waren bis dahin kommunale Dienstleistungen subventioniert worden.71 De facto galt das ganze Kosovo als potentieller Ansiedlungsraum, da einmal von Südslawen besiedeltes Land den vorherigen albanischen Besitzern auch dann nicht zurückgegeben werden musste, wenn diese ihren rechtmäßigen Anspruch darauf nachweisen konnten. Dies betraf insbesondere Land, das zu Brachland deklariert wurde, weil seine bisherigen Besitzer in den Kriegswirren geflüchtet waren oder als Aufständische (Ka ãaken) galten. Im K osovo wurde der Großgrundbesitz mit 50 Hektar definiert. Obwohl die Mehrheit der Albaner weniger Land besaß, wurden sie gleichwohl als Großgrundbesitzer definiert und bis auf 5 bis 15 Hektar enteignet. Radikalisiert wurde diese Praxis Mitte der 1930er Jahre, als insbesondere in grenznahen Gebieten und in solchen mit besonders hohem albanischen Bevölkerungsanteil eine Welle von Enteignungen stattfand, so dass das Minimum an Land, das den Albanern noch belassen werden musste, auf 0,4 Hektar pro Person herunter geschraubt wurde. Im selben Zeitraum musste der jugoslawische Gesetzgeber auch in der Wojwodina im Sinne der „Serbisierung“ der Provinz nachbessern. Hier war das individuelle Landeigentum der meisten deutschen und z. T. auch ungarischen Mittelbauern nicht sehr geschädigt worden.72 Zwar wurden die Deutschen und Ungarn der Pro vinz pauschal als Vertreter der ehemaligen Fremdherrschaft definiert, so dass sie in den Agrarausschüssen weder Wahl- noch Mitbestimmungsrecht hatten und folglich auch ihre Dorfarmut nur in sehr geringem Maße an der Landzuteilung partizipierte.73 Dennoch zeigten sich die jugosla wischen Behörden rund eine Dekade nach dem Beginn der Agrarreform alarmiert, weil am Markt erfolgreiche deutsche und ungarische Bauern ihren Landbesitz erneut ausbauen konnten. Im Februar London/New York 1998, S. 265–288; M ÜLLER: Staatsbür ger auf Widerruf (wie Anm. 4), S. 436–453. 70 Vgl. Das Schicksal der Deutschen in Jugoslawien. München 2004 (zuerst 1961), S. 20E. 71 Vgl. die Schrift von Stadtvertretern aus Novi Sad: Predlog slobodne i kraljevske varoši Novog Sada u predmetu spro vađanja agrarne reforme [V orschlag der freien und königlichen Stadt Novi Sad hinsichtlich der Durchführung der Agrarreform]. Novi Sad 1920. 72 Vgl. JANJETOVIå, Zoran: Die K onflikte zwischen Serben und Donauschw aben. In: Südost-Forschungen 58 (1999), S. 119–168; hier: 141 ff.; DERS.: Between Hitler and Tito. The Disappearance of the Vojvodina Germans. Zweite Auflage. Belgrade 2005, S. 35 ff. 73 Vgl. MATL (wie Anm. 6), S. 101.

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1938 wurde gegen diese Tendenzen ein Gesetz erlassen, das in einem 50 km breiten Streifen entlang der Staatsgrenze eine f aktische Sperre aller Landv erkäufe v orsah.74 Bis dahin war in der Wojwodina wie im Kosovo insbesondere Land gehandelt worden, das an die Kolonisten ausgehändigt worden war. Da das Hauptaugenmerk Belgrads darauf gele gen hatte, möglichst viele Serben/Südsla wen in den beiden Provinzen anzusiedeln, konnte die Tauglichkeit bzw. der Wille der Kolonisten, sich dort dauerhaft niederzulassen und Landwirtschaft zu treiben, kaum geprüft werden. Nicht wenige nahmen nur die zahlreichen Vergünstigungen in Anspruch, gaben das empfangene Land aber nicht selten sofort ortsansässigen Albanern, Deutschen oder Ungarn illegalerweise in Pacht, oder verkauften es später sogar.75 Bei der Agrarreform so wie auch bei den Landtransaktionen danach, konnte nicht die wirtschaftlich wünschenswerte Logik wirk en, dass der Boden zum besten Landwirt kam. Vielmehr sahen sich die Bauern zum Zweck e der Produktionsausweitung zu ille galen Praktiken, mindestens aber zu Transaktionen gezwungen, die zu unsicheren Property rights an ihrem Grund und Boden führten. Denn so wie in Rumänien wurde auch in Jugoslawien die habsburgische Erbschaft eines funktionierenden Katasterund Grundbuchsystems ausgeschlagen: Zwar wurde hier bereits 1931 der Beschluss gefasst, die Bodene videnzsysteme aus der Wojwodina auf das ganze Land auszudehnen, umgesetzt wurde davon aber recht wenig.76 Dieses Zurückwerfen der Bauern und der Landarbeiter auf v orschriftliche und illegale Aktionen mit hoher und jederzeitiger Aufdeckungsgefahr v. a. in der Wojwodina zielte wie im Falle Rumäniens und Siebenbürgens nicht nur auf eine „Serbisierung“ der Provinz in ethnischer Hinsicht, sondern auch auf ihre „Šumadisierung“. D.h. auf die Übertragung eines klientelistisch strukturierten politischen Systems aus dem Kernland Serbiens auf der Grundlage einer wenig ausdif ferenzierten Gesellschaft, in der eine homogene Schicht von Kleinbauern von den politischen Parteien im wesentlichen populistisch mobilisiert und integriert wurde. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre intensi vierte sich die Kritik an der Durchführung der Kolonisierung in Jugoslawien. Waren bis dahin lediglich deren System74 Vgl. GAåEŠA, Nikola: Nemci u agrarnoj reformi i vlasništvu obradi vog zemljišta u Vojvodini 1919–1941 [Die Deutschen in der Agrarreform und ihr Landbesitz in der Wojwodina 1919– 1941]. In: DERS.: Radovi iz agrarne istorije i demografije [Arbeiten zur Geschichte und Demographie der Landwirtschaft]. Novi Sad 1995, S. 286–308, hier 294 ff. 75 Dies behaupten nicht nur die möglicherweise voreingenommenen deutschen Zeitgenossen wie MATL (wie Anm. 6), S. 127; FRITSCHER (wie Anm. 32), S. 322 ff. und die direkten Interessenvertreter der Deutschen in ihrer Schrift: Die Agrarreformen im Königreich (wie Anm. 61), S. 17. Zum Teil sehr negative Einschätzungen bzgl. der agronomischen Fähigkeiten und des nationalen Pflichtbewusstseins seitens der Kolonisten sowie der Fähigkeiten der mit der Agrarreform betrauten Politiker und Beamten finden sich auch bei zeitgenössischen südslawischen Autoren. Für das Kosovo vgl. insbesondere: KRSTIå (WIE ANM. 31). 76 Zakon o izdavanju tapija na podruãju Kasacionog Suda u Beogradu i Velikog Suda u Podgorici [Gesetz über die Erteilung der Besitzurkunde in der Re gion des Appellationsgerichts Belgrad und des Hohen Gerichtes in Podgorica]. Beograd 1931. Zur, allerdings geschönten Geschichte des jugoslawischen Kataster- und Grundbuchsystems vgl. Le cadastre, le livre foncier et la reforme agraire en Yugoslavie. Belgrade 1936.

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losigkeit und die Bereicherung landwirtschaftsferner Personen kritisiert w orden, verschärfte sich der Diskurs nun dezidiert anti-parlamentarisch: Die politischen Parteien und der P arlamentarismus seien grundsätzlich nicht in der Lage, eine so komplexe Aufgabe wie die K olonisierung effizient zu lösen. Die P arteienpolitiker hätten sich der nationalen Pflichtvergessenheit schuldig gemacht, indem sie am demokratischen Mehrheitsprinzip so wie an der Rechtsstaatlichk eit festgehalten hätten, anstatt die Interessen der serbischen/südsla wischen Ethnonation rücksichtslos durchzusetzen.77 Diese Kolonisierungs- cum Systemkritik kulminierte gegen Ende der 1930er Jahren in öf fentlich vorgetragenen Überlegungen im „Serbischen K ulturclub“, wie die Serbisierung des Kosovo und der Wojwodina beschleunigt werden können. Nachdem Ðoko Perin, der Direktor des Bundes serbischer Landarbeitergenossenschaften in Sarajevo (Savez srpskih zelmjoradniãkih zadruga), die unbefriedigenden Er gebnisse der K olonisierung gleich Serbisierung des K osovo und der Wojwodina vorgerechnet hatte, schlug er eine radikale Alternative vor:78 Bevölkerungsaustausch und Vertreibung. Während die Türken und Albaner des Kosovo und Makedoniens auch gegen ihren Willen ausgesiedelt, also vertrieben, werden sollten, schien ihm dies für die Ungarn der Wojwodina nicht möglich zu sein. Hier schlug er eine Teilung der Provinz in einen nördlichen und größtenteils ungarisch besiedelten und einen etwa doppelt so großen, südlichen und hauptsächlich serbisch besiedelten Teil vor. Die gänzliche Homogenisierung der beidenTeile sollte dann freilich durch einen Bevölkerungsaustausch vonstatten gehen, und der Nordteil sollte sich Ungarn anschließen können. 1937, als Perin diesen Plan vorlegte, wurden die Deutschen der Wojwodina of fenbar noch nicht als Bedrohung des Staates perzipiert, denn sie tauchten in seinen Überle gungen lediglich als Randfiguren auf. In einem Memorandum an die jugoslawische Regierung, das der einflussreiche Intellektuelle und Historiker Vasa âubriloviç im März 1937 ebenfalls im „Serbischen Kulturclub“ vortrug, v erwies er auf das für seine Radikallösung des „albanischen Problems“ günstige internationale Umfeld:79 „Nichtsdestoweniger hat sich die Weltöffentlichkeit an weit Schlimmeres ge wöhnt und ist dermaßen in Tagesfragen beschäftigt, dass sie sich v on dieser Seite w ohl kaum beunruhigen dürfte. Wenn Deutschland Zehntausende von Juden vertreiben und Russland Millionen Menschen v on einem Teil des Kontinents zum anderen verlegen konnte, so wird die Vertreibung von einigen hunderttausendAlbanern schon nicht zumAusbruch einesWeltkrieges führen.“80 Die Massenvertreibung der Albaner war also seine Politikempfehlung, nachdem er die Kolonisierung im Allgemeinen sowie die Einführung und Verbreitung des west-

77 Vgl. KRSTIå (wie Anm. 31), S. 39–49. 78 Vgl. PERIN, Ðoko: Nacionalizovanje Vojvodine i Južne Srbije [Die Nationalisierung der Wojwodina und Südserbiens]. In: S IMIå, Pero: Iskušenja srpsk e elite. Dokumenti o radu Srpsk og Kulturnog Kluba [Die Versuchung der serbischen Elite. Dokumente über die Arbeit des serbischen Kulturklubs]. Beograd 2006, S. 105–120. 79 Vgl. âUBRILOVIå, Vasa: Iseljavanje Arnauta [Die Auswanderung der Arnauten]. In: S IMIô(wie Anm. 78), S. 73–101. 80 âUBRILOVIå, Vasa: Zitiert nach der deutschen Übersetzung des Memorandums vgl. Frankfurter Rundschau, Nr. 98, 28.4.1999, S. 21.

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europäischen Eigentumsbe griffs unter den Albanern im Besonderen kritisiert hatte. Aufgrund der Koalitionen im Zweiten Weltkrieg und aufgrund seines Verlaufes war der jugoslawische Staat zunächst nicht in der Lage, diese ethnischen Purifikationspläne in die Tat umzusetzen. Anders als das mit dem Dritten Reich alliierte Rumänien, das zw ar nicht ge gen die Ungarn und Deutschen Siebenbür gens, aber v. a. gegen die Juden des Landes als das perzipierte Hauptproblem v orgehen konnte.81 Die Deutschen Rumäniens und Jugoslawiens rückten erst im Laufe des Krieges ins Zentrum von Überlegungen zu einer erneuten Agrarreform, im Falle Jugoslawiens begleitet durch die schrittweise Vertreibung der Deutschen.

4. 1918 und 1945: Brüche und K ontinuitäten in der Eigentums-, Agrar- und politischen Geschichte Rumäniens und Jugoslawiens Nach 1989 ist die Forschung zur Agrargeschichte Rumäniens und Jugoslawiens für den Zeitraum nach 1945 sowohl bezüglich des Betrachtungszeitraums als auch der Themenwahl auf fällig be grenzt. In Rumänien dominieren eindeutig Studien zur dramatischen Phase der Kollektivierung zwischen 1949–1962, in denen wiederum insbesondere die Aspekte des staatlichen Zw anges und der Repression so wie des bäuerlichen Widerstandes belegt und analysiert werden. 82 Der Normalbetrieb der ländlichen K ollektivwirtschaften insbesondere nach 1962 einerseits so wie die Agrarreform von 1945 andererseits werden selten thematisiert. 83 Die diesem F or81 Vgl. MÜLLER: Staatsbürger auf Widerruf (wie Anm. 4), S. 468 ff. Ein den Plänen Perins und ôubriloviôs vergleichbares Memorandum le gte in Rumänien Sabin Manuil ™, der Direktor des Statistischen Amtes, 1941 v or. Er unterbreitete einen detaillierten und groß angele gten Plan zum „totalen und obligatorischen“ Be völkerungsaustausch f ast aller Minderheiten mit allen Nachbarn Rumäniens v or. Das Memorandum ist abgedruckt bei B OLOVAN, Sorina/B OLOVAN, Ioan: Probleme demografice ale Transilvaniei între ≥tiinΣ™ ≥i politic™ (1920–1950). Studiu de caz [Demographische Probleme Siebenbür gens zwischen Wissenschaft und Politik (1920– 1950). Eine Fallstudie]. In: MURE≤AN, Camil (Hg.): Transilvania între medieval ≥i modern [Siebenbürgen vom Mittelalter bis in die Moderne]. Cluj-Napoca 1996, S. 119–131. 82 Symptomatisch ist Dorin Dobrincus Beitrag zu einem Sammelband über den rumänischen Kommunismus, vgl. D OBRINCU, Dorin: Colecti vizarea agriculturii ≥i represiunea împotri va Σ™r™nimii din România (1949–1962) [Die K ollektivierung der Landwirtschaft und die Repression gegen die Bauern in Rumänien (1949–1962). In: C ESEREANU, Ruxandra (Hg.): Comunism ≥i represiune în România. Istoria tematic™ a unui fratricid naΣional [Kommunismus und Repression in Rumänien. Die thematische Geschichte eines nationalen Brudermordes]. Ia ≥i 2006, S. 108–125. Vgl. auch den ansonsten herv orragenden Sammelband von D OBRINCU, Dorin/I ORDACHI, Constantin (Hgg.): ˇ™r™nimea ≥i puterea. Procesul de colectivizare a agriculturii în România (1949–1962) [Die Bauern und die Macht. Die K ollektivierung der Landwirtschaft in Rumänien (1949–1962)]. Bucure ≥ti 2005. Vgl. auch zwei Reihen mit Dokumenten zur K ollektivierung, die v om Institutul Na Σional Pentru Studiul Totalitarismului herausgegeben werden, die den Zeitraum von 1949–1953 abdecken. 83 Darauf ausgerichtete Studien sind eher in der angelsächsischen Anthropologie produziert worden. Vgl. KIDECKEL, David A.: The Solitude of Collectivism. Romanian Villagers o the

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schungsschwerpunkt zu Grunde lie gende – freilich oft unausgesprochene – These ist die, dass erst das kommunistische Regime einen absoluten Bruch mit dem liberal-individualistischen Eigentumsbegriff vollzogen habe und dass die Einführung und der Betrieb der k ollektivierten Landwirtschaft v ornehmlich eine ge waltsame Veranstaltung gewesen sei. Auch in Serbien wird die Literatur zur Agrargeschichte von einem Thema dominiert, das in Tito-Jugoslawien ein Tabu war: Die Zwangsabgabe landwirtschaftlicher Produkte an staatliche Stellen zu einem fixierten Niedrigpreis sowie die Anfänge der Kollektivierung zwischen 1945 und 1952. 84 Ob diese Praxis ideen- und institutionengeschichtlicheVorläufer im Ersten Jugoslawien hatte, wird nicht systematisch analysiert. Mit einer abschließenden Analyse der Agrarreform v on 1945 soll wiederum belegt werden, dass die Agrar- und Eigentumsgeschichte Rumäniens und Jugoslawiens im 20. Jahrhundert eher einem Kontinuum gleicht, als eine von starken Brüchen markierte Entwicklung. In einigen Aspekten unterscheiden sich die Agrarreformen von 1945 und 1918, in wesentlich mehr aber gleichen sie sich so sehr, dass 1945 als logische Folge von 1918 gewertet werden kann. Der markanteste Unterschied ist die Geschwindigkeit, mit der die entsprechenden Beschlüsse und Gesetze gefasst und umgesetzt wurden. In der zweiten Hälfte der 1940er Jahre dauerten die Beratungen wenige Wochen und die Umsetzung wenige Jahre, während die Agrarreform v on 1918 in Teilen auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht vollendet worden waren. In Rumänien begannen die Beratungen zur zweiten Agrarreform am 16. Dezember 1944 in einer „Kommission zum Studium der Agrarreform“ (Comisia pentru studierea reformei agrare) unter dem Vorsitz des PN ˇ-Politikers Ion Hudi Σ™.85 Die Kommission kam zu keiner gemeinsamen Empfehlung, sondern die P arteien und die einschlägigen Institutionen beharrten auf ihren Positionen. Die neue Regierung unter dem Vorsitzenden der Pflügerfront (Frontul Plugarilor; FP), Petru Groza, nahm sich allerdings gleich in ihrer ersten Sitzung v or, möglichst schnell eine Agrarreform durchzusetzen. Am 12. März 1945 wurde das Gesetz schließlich vorgeschlagen und in nur drei Sitzungen am 13., 19. und 20. März in der Re gierung besprochen und verabschiedet, so dass es am 23. März 1945 in Kraft trat. Im März 1949 wurde die Agrarre-

Revolution and Beyond. Ithaca, London 1993; VERDERY, Katherine: Transylvanian Villagers: Three Centuries of Political, Economic, and Ethnic Change. Berkeley 1983; DIES.: The Vanishing Hectare: Property and Value in Postsocialist Transylvania. Ithaca 2003. 84 Vgl. PAVLOVIå, Momãilo: Srpsko selo 1945–1952. Otkup [Des serbische Dorf 1945–1952. Der Aufkauf]. Beograd 1997; POPOV, Jelena: Drama na vojvođanskom selu (1945–1952). Obavezni otkup poljoprivrednih proizvoda [Das Drama des w ojwodinischen Dorfes (1945–1952). Der Zwangsverkauf landwirtschaftlicher Produkte]. Novi Sad 2002. 85 Die Kommission setzte sich aus Vertretern folgender P arteien und Institutionen zusammen: PNL, PNˇ, aus Vertretern der v on Kommunisten dominierten Nationaldemokratischen Front (Frontul NaΣional Democrat) sowie je einem Vertreter der von Großgrundbesitzern dominierten Union der Agrarsyndikate Rumäniens (Uniunii Centrale a Sindicatelor Agricole din România), der Landwirtschaftsakademie (Academia de Agricultur™ din România), des Instituts für agronomische Forschungen Rumäniens (Institutul de Cercet ™ri Agronomice al României) und des nationalen Forstamtes (Casa P™durilor).

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form als abgeschlossen deklariert. 86 Im jugoslawischen Kontext hatte der „Antifaschistische Rat der Volksbefreiung Jugoslawiens“ (Antifašistiãko Veçe Narodnog Oslobodjenja Jugoslavije; AVNOJ) bereits am 21. No vember 1944 den grundsätzlichen Beschluss gefasst, „sämtliches Vermögen von Personen deutscher Volkszugehörigkeit außer dem derjenigen Deutschen, die in den Reihen der Nationalen Befreiungsarmee und der P artisaneneinheiten Jugoslawiens gekämpft haben (…)“ zu enteignen und in Staatsbesitz zu überführen (Art. 1). 87 Am 23. August 1945 wurde dann ein Gesetz über die Agrarreform und Kolonisation erlassen und zügig umgesetzt. Das wichtigste Moti v für diese Geschwindigk eit – und hier befinden wir uns bereits auf dem Feld der Gemeinsamkeiten – war die politische Determination der Agrarreformen von 1945, die dazu führte, dass wirtschaftliche Überlegungen in den Hintergrund traten und f ast vollständig von egalitär-populistischen und ethnopolitischen Moti ven v erdrängt wurden. Die Eingrif fe in die Property Rights stellten 1945 keine Besonderheit mehr dar, sondern sie waren ein seit 1918 erprobtes Mittel, politisches Wohlverhalten auf dem Land zu gewinnen und zu erzwingen sowie mittels Kolonisation die gewünschten ethnischen Verhältnisse herbeizuführen. In Rumänien ist nur eine Dimension der Agrarreform erfasst, wenn deren Motivation allein mit dem Bestreben der Kommunistischen Partei Rumäniens (Partidul Comunist din România; PCR) und ihrer Satellitenorganisation, der Pflügerfront Petru Grozas, erklärt wird, auf dem Land Einfluss gewinnen zu w ollen. Dabei wird übersehen, dass erneute Eingriffe in die Property Rights auf einem breiten Konsens fast aller politischen Parteien beruhten. In der Diskussion über eine erneute Agrarreform kam es zu interessanten und unerw artet moti vierten Be gründungen, wie diese durchgeführt und die rumänische Landwirtschaft in Zukunft or ganisiert werden sollte. Die Kommunisten verzichteten nach dem Sturz des Antonescu-Regimes am 23. August 1944 auf ihren bis dahin vorgebrachten Programmpunkt, alle Bauern in Kolchosen nach sowjetischem Muster zu organisieren.88 Diese Forderung wurde nun vornehmlich aus Kreisen der Großgrundbesitzer vorgebracht, die somit auf die Überlegenheit großer Anbauflächen hinwiesen, die v on Landarbeitern bearbeitet werden sollten. Damit hofften sie, eine erneute Enteignung und Landverteilung verhindern zu können. 89 In diesem Sinne w andte sich auch die PNL ge gen neue Enteignungen, v ornehmlich um ihrer Klientel im Altreich möglichst viele der v erstreuten Ländereien über 100 Hektar intakt zu halten. Die PNˇ legte einen Gesetzesentwurf vor, der ganz in der Tradition ihrer Vorstellungen von einem Bauernstaat 86 Im Folgenden vgl. ≤ANDRU (wie Anm. 7), S. 61–115. 87 Das Schicksal der Deutschen in Jugoslawien (wie Anm. 70), S. 180E. 88 Die PCR hob nach dem Erlass des Gesetzes zur Agrarreform ausdrücklich herv or, dass die Agrarreform von 1945 im Gegensatz zur der von 1920, Bedingungen geschaffen habe, die das ausgegebene Land als Eigentum tatsächlich stabilisieren würden. Vgl. Reformele Agrare din 1920 ≥i 1945. Bucure≥ti 1945. 89 Vgl. die von der Union der Agrarsyndikate Rumäniens (Uniunea Centrale a Sindicatelor Agricole din România) 1945 herausge gebene Denkschrift: Memoriu prezentat Comisiei de Studii pentru Reforma Agrar™. Für die Beibehaltung des noch übrig gebliebenen Großgrundbesitzes plädierte auch die Landwirtschaftsakademie (Academia deAgricultur™ din România): Reforma Agrar™. Bucure≥ti 1945.

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aus den späten 1930er Jahren stand, und der vorsah, dass nach einer erfolgten Enteignung und Landzuteilung sämtliche Bauern in K ooperativen or ganisiert sein sollten.90 Aus all diesen Plänen für eine gesetzesförmig zu v erlaufenden Agrarreform wurde schließlich nichts, da die PCR und der FP die Bauern seit dem Herbst 1945 ermutigt hatten, sich Land anzueignen, dass sie als Großgrundbesitz so wie als Eigentum von Landesverrätern und Schuldigen an Rumäniens Kriegsteilnahme gegen die Sowjetunion einschätzten. 91 Das Dekretgesetz zur Agrarreform am 23. März 1945 stellte in weiten Teilen des Landes dann nur noch die Le galisierung der geschehenen „wilden“ Enteignung dar. Das Gesetz sah vier Kate gorien v on zu enteignendem Grundbesitz v or: Es sollten Personen enteignet werden, die sich freiwillig für den Krie g gegen die Sowjetunion gemeldet, dabei Kriegsverbrechen begangen, nach dem 23. August 1944 das Land fluchtartig verlassen oder mit Hitlerdeutschland kollaboriert hatten. In der letztgenannten Kategorie wurden die Deutschen aus Rumänien gesondert genannt, wobei der Tatbestand der Kollaboration bereits durch die Zugehörigkeit zur „Deutschen Volksgruppe“ (Grupul Etnic German) erfüllt war. Unabhängig von ihrer Zustimmung oder Ablehnung, von Kollaboration oder Widerstand wurde die Zugehörigkeit der Deutschen zur Volksgruppe nach 1938 im korporatistisch verfassten Rumänien administrati v festgestellt und v on den rumänischen Behörden gefördert. Weiterhin wurde das Land von Absentisten und Verpächtern enteignet sowie grundsätzlich alles landwirtschaftlich nutzbare Land über 50 Hektar pro Person. Wie bereits in der ersten Agrarreform sollte das Land präferenziell an Krie gsteilnehmer und Invalide, an deren Witwen und Waisen und erst dann an Landarbeiter und Bauern ohne oder mit zuwenig Land v erteilt werden. 92 Im Januar 1947 wurde das Er gebnis der Agrarreform mit folgenden Zahlen resümiert: Von rund 143.000 Eigentümern – nur 11.600 davon waren Großgrundbesitzer – wurden rund 1,4 Mio. Hektar Land enteignet, wovon aber nur etwa eine Million Hektar Land an ebenso viele Personen ausgegeben wurde.93 In Jugoslawien war neben den Deutschen, Krie gsverbrechern und K ollaborateuren insbesondere der Großgrundbesitz (Maximum 45 ha), der Besitz v on Großbauern (Maximum 20–35 ha), der v on Banken, anderen Korporationen sowie von Kirchen, Klöstern und Stiftungen die Quelle der Enteignungen. 94 Auf diese Weise wurde etwa 1,5 Mio. Hektar Land von rund 162.000 Eigentümern enteignet, wobei 90 Proect de lege pentru Expropriere ≥i Împropriet™rire. Lupta Partidului NaΣional-ˇ™r™nesc pentru reformele agrare [Gesetzesentwurf zur Enteignung und Landv erteilung. Der Kampf der NationalΣ™r™nistischen Partei für die Agrarreformen]. Bucure≥ti 1945. Vgl. auch den Vortrag eines der Wirtschaftsexperten der PNˇ, Gheorghe Ta≥c™, den er am 22. Februar 1945 vor dem Ökonomenverband (Asocia Σia Economi ≥tilor) hielt; TA≥C®, Gheor ghe: Reforma Agrar™ [Die Agrarreform]. 91 Vgl. BÎTFOI, Dorin-Liviu: Petru Groza, ultimul b urghez. O biografie [Petru Groza, der letzte Bürger. Eine Biographie]. Bucure≥ti 2004, S. 297 ff. 92 Vgl. ≤ANDRU (wie Anm. 7), S. 122 ff. 93 Vgl. Ebd., S. 190 ff. 94 Das Gesetz über Agrarreform und Kolonisation abgedruckt in: Das Schicksal der Deutschen in Jugoslawien (wie Anm. 70), S. 223–233E; hier Art. 3, 5 und 10.

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allein die Deutschen 60 Prozent der Enteigneten und 40 Prozent des enteigneten Landes ausmachten. Mit knapp 800.000 Hektar wurden nur 51 Prozent des Landes an diejenigen ausgegeben, für die die Landreform angeblich durchgeführt w orden war: „Landwirte, die k eine oder nur eine ungenügende Menge besitzen“, wie das Agrarreformgesetz gleich im 1. Artikel postulierte.95 An diesen Zahlen wird so wohl die populistische als auch die ethnopolitische Ausrichtung der Agrarreformen in den beiden Ländern deutlich. Erneut wurden mit etwa 400.000 Hektar in Rumänien und mit etwa 760.000 Hektar in Jugoslawien ein großer Anteil Landes in Staatsreserve behalten, so dass nur so wenig Land ausgegeben wurde, dass von einer signifikanten Steigerung des den Bauern zur Verfügung stehenden Landes nicht gesprochen werden kann. Unabhängig von der Produktivität des enteigneten Großgrundbesitzes oder der indi viduellen Verstrickung der Deutschen in die Verbrechen des Dritten Reiches wurde deren Land entschädigungslos und im F alle der Deutschen auch restlos enteignet. Es ist richtig darauf hinzuweisen, dass in Rumänien die PCR und die FP diese Agrarreform ins Werk setzten, um – dem so wjetischen Beispiel folgend – ihre politische Basis auf dem Land auszubauen und zu festigen. Sie w ollten gleichzeitig die soziale und politische Basis der historischen Parteien PNL und PNˇ schwächen, die Zugriffsmöglichkeiten des Staates im Vorgriff auf die K ollektivierung steigern, und sie hatten mit den Deutschen in Rumänien den idealen Sündenbock zur Verfügung. Es ist freilich aber auch richtig, dass sie sich mit dieser Agrarreform in Konkurrenz teilweise mit der PN ˇ hinsichtlich der K ollektivierung und einigen Großgrundbesitzern hinsichtlich der Staatsf armen bef anden, Or ganisationsformen der Landwirtschaft, die erst nach 1949 verstärkt in die Tat umgesetzt werden sollten. So wie nach dem Ersten Weltkrieg hatte die Agrarreform nach dem Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien eine wesentlich stärkere ethnische Komponente als die in Rumänien. Zwar waren die deutschen Bürger beider Länder aufgrund einer Kollektivhaftung für den Nationalsozialismus und die v erheerenden Folgen des Krie ges überproportional von den Enteignungen betroffen. In Jugoslawien ging mit der Enteignung der Deutschen und demVerlust ihrer bürgerlichen Rechte auch ihreVertreibung einher, während die Deutschen Rumäniens Anfang der 1950er Jahre ihre aberkannten bürgerlichen Rechte sowie das staatlich akzeptierte Minimum an immobilem Eigentum zurück erhielten. Dieser zentrale Unterschied ist mit den unter schiedlichen Kriegskoalitionen sowie mit der Rolle der Deutschen in den beiden Ländern zu erklären. Als Alliierter des Dritten Reiches akzeptierte Rumänien zwar die Zusammenfassung der Deutschen in der Deutschen Volksgruppe sowie deren weitgehende Selbstverwaltung, diese umfasste aber zu k einem Zeitpunkt eine Befehlsgewalt rumäniendeutscher Personen oder Behörden über andere rumänische Staatsbürger. Anders in Jugoslawien bzw. der Wojwodina, wo die jugoslawiendeutsche Volksgruppenführung eine wichtige Stellung innerhalb des reichsdeutschen Besatzungsregimes innehatte. Die dabei an Serben v erübten Verbrechen und Enteignungen mögen ein wichtiger Grund für die noch während des Krie ges begin-

95 Vgl. ALLCOCK, John B.: Explaining Yugoslavia. London 2000, S. 126 f.

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nende Internierung und spätere Vertreibung der Jugosla wiendeutschen sein. 96 Dadurch stand in der Wojwodina viel Land zur Verfügung, auf dem etwa 44.000 Kolonistenfamilien aus den wirtschaftlich passi ven Gebieten des Landes angesiedelt wurden.97 Bei der Durchführung der Agrarreform und der Kolonisierung ist in Jugoslawien eine erstaunliche Elitenk ontinuität aus dem Ersten ins Zweite Jugoslawien zu beobachten. Mit Vasa âubriloviç und Sreten Vukosavljeviç w aren zwei Personen im Ministerrang für Agrarreform und Kolonisierung zuständig, die in der Zwischenkriegszeit mit ethnonationalen Vorstellungen und K onzepten einerseits sowie mit der Glorifizierung eines spezifisch – nämlich kollektiven – südslawischen Eigentumsregimes andererseits hervorgetreten waren.98 Die Eingriffe in die wesentlich als wirtschaftliche Handlungs- sowie politische Freiheitsrechte gefassten Property rights in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die von zwei Weltkriegen umrahmt wurden, waren erheblich. Die moderne Kriegsführung mit ihrer Notwendigkeit, alle ökonomischen und militärischen Ressourcen zu mobilisieren, hatte zu einer verstärkten Intervention des Staates in die Wirtschaft geführt, die auch nach den Kriegen als staatlicher Dirigismus beibehalten wurde. 99 Vor allem nach derWeltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren sind solcheTendenzen nicht nur im f aschistischen Italien und nationalsozialistischen Deutschland, sondern auch in den liberal-demokratischen USA in Gestalt des Ne w Deal Präsident Franklin D. Roosevelts zu beobachten. 100 Nach dem bolschewistischen waren nun weitere kollektivistische Angriffsmöglichkeiten auf das bür gerlich-liberale Eigentumsregime hinzugekommen. Für Rumänien und Jugoslawien sowie für weitere Staaten Ostmittel- und Südosteuropas, die nach dem Ersten Weltkrieg erstmals, seit langem wieder oder in neuer Gestalt zu existieren begannen, sind diese Erklärungen zutreffend, aber noch 96 Vgl. JANJETOVIå: Between Hitler and Tito (wie Anm. 72), S. 51–72. 97 Vgl. GAåEŠA, Nikola: Agrarna Reforma u Jugoslavije (1919–1948) [Die Agrarreform in Jugoslawien (1919–1948)]. In: DERS.: Radovi, S. 172–195, hier S. 193. 98 Zu Sreten Vukosavljeviçs Arbeit als Minister für K olonisation (März 1945 bis Februar 1946) vgl. G AåEŠA, Nik ola: Delatnost Sretena Vukosavljeviça kao ministra k olonizaciju od marta 1945. do februara 1946. g. [Die Tätigkeit Sreten Vukosavljeviãs als Minister für K olonisation von März 1945 bis Februar 1946]. In: D ERS.: Radovi, S. 413–423. Zu Vukosavljeviçs ethnologischen F orschungen zu Bodeneigentum vgl. K OVAâEVIå, Iv an: Istorija srpsk e etnologije II. Pravci i odlomci [Geschichte der serbischen Ethnologie, 2. Richtungen und Abschnitte]. Beograd 2001, S. 208–238. Zu seinen k ollektivistisch geprägten Vorstellungen über Eigentum in der serbischen Vergangenheit, die auch zukunftsweisend seien vgl. VUKOSAVLJEVIå, Sreten: Postanak privatne zemljišne svojine u nas [Die Entstehung des privaten Landeigentums bei uns]. In: Arhiv za pra vne i društv ene nauke 30 (1940) 1, S. 91–100. Während seiner Tätigkeit als Kolonisierungsminister vgl. D ERS.: Zajedniãki radovi na selu [Gemeinschaftliche Tätigkeiten im Dorf]. In: Arhiv za pravne i društvene nauke (Neue Reihe), 1 (1945) 1–2, S. 30–35; DERS.: Zajedniãka zemljišna svojina [Der gemeinschaftliche Grundbesitz]. In: Pravna Misao 11 (1945) 1–4, S. 17–29. 99 Zur europaweiten Planungseuphorie nach dem Zweiten Weltkrieg, seine ideologischen Wurzeln und Träger in den 1930er Jahren sowie in Besatzungsregimen vgl. Judt: Geschichte Europas (wie Anm. 2), S. 87 ff. 100 Vgl. SCHIVELBUSCH, Wolfgang: Entfernte Verwandtschaft. F aschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933 – 1939. München, Wien 2005.

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nicht ausreichend. Um die massiven Eingriffe in die Property Rights zwischen 1918 und 1948 erklären zu können, bedarf es zusätzlich einer Analyse der Rolle des Eigentums und dessen Sicherung für das politische System und für die angestrebte ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung. 1918 wie auch 1945 griffen die politischen Eliten aus denselben drei Moti vationen, allerdings mit unterschiedlichen Anteilen, in die Property Rights ein: Aus Populismus, der zu P aternalismus wird; aus staatlichem Dirigismus, der zum allgemeinen Wirtschaftsplan strebt und zur Exklusion von Minderheiten, die zur Dominanz einer Ethnonation im Staat führt. Nominell wurde das Privateigentum 1918 wie 1945 erhalten, aber sein Versprechen auf Freiheit dadurch blockiert, dass einerseits unter dem Zugrif f des staatlichen Dirigismus kaum noch Handelsrechte aus dem Eigentum folgten. Wenn Freiheit nicht nur die Macht des Stärk eren bedeuten soll, dann bedarf es v or allem der Rechtssicherheit, die andererseits ebenfalls nicht geschaffen wurde, denn Systeme der Bodenevidenz wurden in der Zwischenkrie gszeit nur sehr zögerlich ausgebaut und nach 1945 zunehmend dem Verfall preisgegeben. Wählt man also die Property rights an Grund und Boden als Ebene des Vergleichs, so war nicht die Agrarreform von 1945 und die spätere K ollektivierung der entscheidende Schnitt in der rumänischen und jugoslawischen Agrar- und Eigentumsgeschichte, sondern die Agrarreform von 1918. Sie führte die analysierte Praxis v on politisch motivierten Eingriffen in die Property rights ein, die in Rumänien und in den jugoslawischen Nachfolgestaaten auch nach 1989 nicht vollständig abgebrochen worden ist.

III. Bodenreform, staatliche Raumordnung und ethnische Homogenisierung vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die Gegenwart

Die Rolle der Bodenr eform und der Nationalitätenfrage bei der Vertreibung der Ungarndeutschen József Vonyó Die beiden wichtigsten K omponenten der Umgestaltung der ungarischen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Bodenreform und die Vertreibung etwa der Hälfte der Deutschen aus Ungarn. Obw ohl bereits zahlreiche Analysen über die beiden Fragenk omplexe angefertigt wurden, debattiert man heute noch darüber, inwieweit die zwei wichtigen Phänomene einander beeinflussten. Es muss vorneweg festgelegt werden: 1. Wie aus der bisher v eröffentlichten Fachliteratur uns wohl bekannt ist, geben die oben angebenen Faktoren an und für sich keine plausible Erklärung für dieVertreibung der Ungarndeutschen. Diese war in erster Linie eine politische Entscheidung, die ihre Ursache aber auch in der Bodenreform hatte. 2. In der Frage der Vertreibung der Deutschen und insbesondere der Bodenreform war die Lage Ungarns von der Mehrheit der Nachbarländer (von der Tschechoslowakei, von Rumänien und Jugosla wien) in vieler Hinsicht unterschiedlich. Der Unterschied lag v or allem darin, dass in Ungarn nicht nur Vertreibungen stattfanden, sondern es wurden – ähnlich wie in Polen – zurTitularnation gehörende Personen, also Ungarn, außerhalb der Staatsgrenze k ommend im Land angesiedelt, und es gab auch eine umfangreiche Binnenmigration. Aus diesen Gründen hingen die Art und der Umfang der Vertreibung von mehreren inneren und äußeren Faktoren ab. 1. Die Nachkriegslage ergab die Möglichk eit zur Lösung der brennendsten Fragen der ungarischen Gesellschaft, der sozialen Frage, nähmlich derAuflösung der millionengroßen Schicht der Agrarproletarier. In Ungarn fand – im Gegensatz zu den Nachbarländern – nach dem Ersten Weltkrieg keine Bodenreform statt. Die v om Minister István Nagyatádi Szabó v eranlasste Agrarreform brachte nur eine v orübergehende Lösung, und generierte später neuere K onflikte. 1945 f and, wegen der unproportionalen territorialen Gliederung des v erteilbaren Bodens und der Landlosen, vor allem wegen der großen Zahl der Agrarproletarier und der relativ geringen Zahl an sehr großen Großgrundbesitzgütern eine umfangreiche – bereits in den 30er Jahren geplante – Binnenmigration und innere Ansiedlung statt. 2. Äußere Faktoren: a. Die Vertreter der Alliiierten nahmen die Initiative von Beneš an, infolge dessen man aus der Tschechoslowakei nicht nur die Deutschen, sondern auch die Ungarn gänzlich v ertreiben w ollte. Hätte man diesen Plan realisieren wollen, hätte Ungarn über eine Million Flüchtlinge aufnehmen müssen.1 1

Die Zusammenfassung der Haltung der tschechoslowakischen politischen Elite siehe bei: HRABOVEC, Emilia: Vertreibung und Abschub: Deutsche in Mähren 1945–47. Frankfurt/M. 1995S.

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b. Die ungarische Re gierung siedelte 1941 in den v on Jugoslawien rück eroberten Gebieten (W ojwodina) Sekler aus der Buk owina an. Diese über 10.000 Personen zählende geschlossene Gemeinschaft w ar im Herbst 1944 gezwungen – ihre Güter hinterlassend – die Flucht zu er greifen, und wurde auf dem Gebiet Transdanubiens zerstreut.2 c. Im Zusammenhang der obigen Ereignisse flüchteten während des Krie ges, bzw. nach dem Weltkrieg ca. 376.000 ungarische Flüchtlinge v or den dor tigen Massak ern, Internierungen, und unterschiedlichen Restriktionsmaßnahmen aus den Nachbarländern nach Ungarn.3 3. Wie in vielen Landern Europas, so kam auch in Ungarn während des Krie ges, aber insbesondere nach der deutschen Besatzung, in den breiten Schichten der Gesellschaft eine ausgeprägte Nazi-Feindlichk eit zur Geltung, die – we gen mangelnder Informationen, politischer Manipulationen und alterVorurteile – in eine allgemeine Deutschfeindlichkeit umschlug.

1. Innenpolitische Konstellationen in Ungarn 1944–1948 Die Lösung dieser schwerwiegenden gesellschaftlichen Probleme wurde vom Status des Landes und v on den neuen Machtv erhältnissen beinflusst. In der v on uns untersuchten Epoche (zwischen Dezember 1944 und Frühling 1948) stand die politische Elite des von der Sowjetunion besetzten Landes unter der Leitung und Kontrolle der Vertreter der Siegermächte. Im Sinne des am 20. Januar 1945 abgeschlossenen Waffenstillstandabkommens, konnte die ungarische Regierung ohne Zustimmung der unter so wjetischer Leitung stehenden Alliierten K ontrollkommission (AKK) keinerlei außenpolitische Schritte einleiten, und dies traf auch auf die Innenpolitik zu. Der ungarische Staat war formell zwar ein pluralistisches parlamentarisches System, war aber in seiner Souverenität stark begrenzt. Die sowjetischen Behörden sicherten der Ungarischen K ommunistischen Partei (UKP) von vornherein einen weit über ihre gesellschaftliche Le gitimation stehenden Einfluss auf die Exekutive – und boten ihr gleichzeitig die Möglichkeit, die anderen Parteien in ihren Ambitionen und ihrer Funktion zu beschränk en. Außer der UKP k onnten nur die 1890 ge gründete Sozialdemokratische P artei (SDP), die 1930 reor ganisierte Kleinlandwirtepartei (Unabhängige Kleinlandwirtepartei – UKlP), so wie die for mell 1939 ge gründete, aber sich erst ab Ende 1944, in den v on der so wjetischen 33–57; Gerhard Seewann belegte mit Quellen englischer Archive, dass bis 1945 – im Ge gensatz zu den bisherigen Behauptungen der ungarischen Historiographie – die drei Großmächte die Pläne Beneš’ nicht unterstüzten. Vgl. S EEWANN, Gerhard: Britische Quellen zum Vertreibungsprozess vor und nach Potsdam. In: Deutschland und seine Nachbarn. F orum für K ultur und Politik. Heft 18. Bonn 1997. Ebd., S. 40–49, hier 45–46. 2 T ÓTH, Ágnes: Migrationen in Ungarn 1945–1948: Vertreibung der Ungarndeutschen, Binnenwanderungen und slowakisch-ungarischer Bevölkerungsaustausch. (Schriften des Bundesinstituts für Ostdeutsche Kultur und Geschichte, 12). München 2001. 3 R OMSICS, Ignác: Magyarország története a XX. Században [Die Geschichte Ungarns im 20. Jahrhundert]. Budapest 1999, S. 302.

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Roten Armee eroberten Gebieten akti vierende Nationale Bauernpartei (NBP) eine untergeordnete Rolle spielen. Das je weilige Vorhaben der einzelnen politischen Parteien konnte auch deshalb nur schwer zur Geltung gebracht werden, da sie seit dem 2. Dezember 1944 im Rahmen der k oalitionsähnlichen Ungarischen Nationalen Unabhängigkeitsfront zusammengefasst waren. Es ist symptomatisch für diese Lage, dass im No vember 1945 eine K oalitionsregierung geründet wurde, obwohl Anfang des Monats P arlamentswahlen abgehalten wurden, an der die Unabhängige Kleinlandwirtepartei mit 57 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit erreichte. Trotzdem verfügte diese nur über 50 Prozent der Ministerien, und zum enflussreichsten Mitglied der Regierung wurde als Staatsminister der Generalsekretär der UKP, Mátyás Rákosi. Der Innenminister, der auch für die Angelegenheiten der Nationalitäten, sowie für die Verwaltung und Polizei zuständig war, konnte ausschließlich ein Kommunist werden. Das Gleiche galt für dieVerwaltung und für die Polizei (vor allem für die politische Polizei) die eine wichtige organisatorische und kontrollierende Position im Leben der Gesellschaft innehatten. Die Ober gespane der Komitate wie die Bür germeister der Großstädte stellten zum größten Teil, die zentralen und re gionalen Leiter des Politischen Ordnungsamtes [Politikai rendészet], ab 1946 der Abteilung für Staatssicherheit des Innenministeriums (AfSs), fast nur ausschließlich die Mitglieder der Kommunisten oder der Sozialdemokraten.4 Infolge dessen w ar es ab 1945 in erster Linie die UKP , – die auch die so wjetischen Interessen stets berücksichtigte –, die in allen Fragen, so auch in der Frage der Bodenreform bzw . der Retorsionen ge gen die Ungarndeutschen ihren Willen durchzusetzen vermochte. Die Motivationen der Parteielite waren in beiden Fragen politischer Natur, und ihr lagen zwei Zielsetzungen v or Augen. Es war erstens der Legitimationszwang: die seit August 1919 in der Ille galität befindliche, im Herbst 1944 – laut Schätzungen – über etwa 3.000 Mitglieder verfügende Partei verdankte ihr politisches Gewicht nur den aus ihrer Sicht günstigen internationalenVerhältnissen. Andererseits: ihre Basis wuchs zw ar k ontinuierlich, doch diese quantitati ve Stärke stand keineswegs im Verhältnis zu ihren politischen Einfluss. Die Kommunistische Partei versuchte diese Diskrepanz teils mit der Anwendung politisher Ideologie und Propaganda, teils mit wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen für breite Schichten der Gesellschaft, die als Verlierer des Vorkriegssystems galten, zu überbrücken. Der inhaltliche Bestandteil der ersten K omponente bestand darin, sich selbst als den ersten Vorkämpfer gegen den Faschismus, also als wichtigste antifaschistische Kraft, zu profilieren. Deshalb brandmarkte sie nicht nur die nur kurze Zeit e xistierende Szálasi-Diktatur, sondern auch das ganze Re gime v or 1944 als

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Als Synthese des aktuellen F orschungsstandes siehe R OMSICS (wie Anm. 3), S. 269–303.; GYARMATI, György: Politika és társadalom 1945–1989 között. [Politik und Gesellschaft zwischen 1945–1989] In: Magyarország a XX. Században I. kötet. Politika és társadalom, hadtörténet, jogalkotás [Ungarn im 20. Jahrhundert. Bd. 1. Politik und Gesellschaft, Kriegsgeschichte, Gesetzgebung]. Hg. K ollegy Tarsoly István. Szekszárd 1996, S. 140–177; G ERGELY, Jen Œ/IZSÁK, Lajos: A huszadik század története [Die Geschichte des 20. Jahrhunderts]. Budapest 2000; S. 225–321; FÜLÖP, Mihály/S IPOS, Péter: Magyarország külpolitikája a XX. században [Ungarns Außenpolitik im 20. Jahrhundert]. Budapest 1998, S. 283–363.

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„faschistisch“ und „deutschfreundlich“, um die traditionellen Eliten als „Klassenfeinde“ zu stigmatisieren.

2. Ethnisch motivierte Intentionen der Bodenr eform Eine weitere K omponente dieser Taktik war die These über die „K ollektivschuld der Ungarndeutschen“. Diese ethnische Gruppe wurde pauschal als „fünfte K olonne Hitlers“ bzw. als dessen „ungarischer Quertiermacher“ abgestempelt. Diese Parolen waren nicht nur in den Reden undArtikeln der Politiker zu finden. Kommunistische Historiker, die sich auch parteipolitisch engagierten, versuchten diese Ansichten in ihren populär -wissenschaftlichen Schriften mit Hilfe der P artei zu v erbreiten.5 Dem Ausbau ihrer gesellschaftlichen Unterstützung und politischen Basis diente als wichtigste Maßnahme die Bodenreform 1945. Die Art der Lösung der Bodenfrage wurde auch den obigen Zielen unter geordnet. Die Führung der K ommunistischen Partei schob dabei ök onomische Überlegungen beiseite, für sie w ar die Sicherung landwirtschaftlicher Effizienz v on unter geordneter Bedeutung. Ihr Ziel war die Gewinnung der Sympathie der Ärmsten im „Land der drei Millionen Bettler“. Da der Durchschnitt des Grundbesitzes der ungarndeutschen Bauern – als Ergebnis der Erbfolge, der Sparsamk eit und der auf Besitzerweiterung zielenden effektiven Wirtschafts- und Produkionsweise – in deren Siedlungsgebieten (z. B. in der Umgebung von Budapest, in der Nordbatschka oder im Ödenb urger Weingebiet) den Durchschnitt der ungarischen Bauern, bzw. der Bauern anderer Nationali5

Als Grundsatz in dieser Hinsicht galt das 1943 v eröffentlichte Buch von MÓD, Aladár: 400 év küzdelem az önálló Magyarországért [V ierhundert Jahre Kampf für ein selbstständiges Ungarn]. Budapest 1943. Die Ungarische Kommunistische Partei wurde auch von politischen Zielen geleitet, als ihr Verlag Szikra 1945 dieses Buch zum zweiten Mal, in einer größeren F assung, auflegte. Es lohnt sich trotzdem die aus ihrer Moskauer Emigration heimkehrende Erzsébet Andics zu zitieren. Die Historik erin, die ab 1945 Mitglied des führenden Gremiums der UKP und zwischen 1946–1953 Direktorin der P arteihochschule der KP, später der Ungarischen Arbeiterpartei war, schrieb unter anderem folgendes über diese Frage: „Die Horthy-Reaktion war wahrhaftig ein politisches System f aschistischen Typs: charakteristisch w aren dafür die Missachtung der bür gerlichen Freiheitsrechte, die soziale und nationale Demagogie, der Antisemitismus, die Unterdrückung aller fortschrittlichen Gedanken, die Vernichtung oder die Vertreibung der Besten der ungarischen Nation.“ (S. 109.) „Die Außenpolitik der reaktionären ungarischen Regierungen stüzte sich stets auf die agressi vsten und reaktionärsten Länder . So auf das faschistische Italien und später, nach dem Sieg Hitlers, auf Deutschland.“ (S. 111) „… das ungarische reaktionäre Lager, so wie es war, ging in allen wichtigen Fragen Hand in Hand mit den deutschen Nazis durch Feuer und Wasser.“ (S. 116.) „Sie ge währten dem Volksbund enorme Autonomierechte, es schien, als ob die auf dem Gebiet Ungarns lebende deutsche nationale Minderheit einen Staat im Staate bilden würde, damit sie zum Vorposten des deutschen Imperialismus auf dem ungarischen Staatsgebiet werde.“ (S. 117); ANDICS, Erszébet: Munkásosztály és nemzet [Arbeiterklasse und Nation] Budapest 1945. Hier zitiert nach der 5. Auflage, Budapest, 1949. Eine ähnliche Argumentation ist charakteristisch auch für ihre weiteren Werke wie DIES.: Fasizmus és reakció Magyarországon [Faschismus und Reaktion in Ungarn.] Budapest 1945 bzw. DIES.: Ellenforradalom és Bethleni konszolidáció. [Konterrevolution und Bethlen-Konsolidierung]. Budapest 1946.

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täten übertraf, konnte die Enteignung nicht nur der Bestrafung der Deutschen, sondern auch der Realisierung der Bodenreform dienen. Andererseits spielten in der Umgebung von Bonyhád [Bonhard] diese Faktoren nur eine untergeordnete Rolle. Hier ging es v ornehmlich um die Ansiedlung der Sekler. Die Entscheidungsträger wurden hier also in erster Linie v on besitzpolitischen Standpunkten geleitet. Die Kommunistische Partei verknüpfte geschickt beide Fragen miteinander. Das Ganze spie gelte sich in ihrem im Herbst 1944 v eröffentlichten Pogramm wieder, wonach: „Alle faschistischen, volksfeindlichen, im deutschen Sold befindlichen Organisationen sind aufzulösen. Ihr Vermögen ist zu beschlagnahmen, ihre Presse ist zu verbieten.“ (Punkt I/3) „Im Dienste der Bodenreform ist der Grundbesitz der Vaterlandsverräter, der Krie gsverbrecher, der Volksbundmitglieder, der in der deutschen Armee Gedienten zu berücksichtigen, und er ist gänzlich, samt der Ausrüstung zu beschlagnahmen.“ (Punkt II/2) 6 Das Gleiche wird f ast wörtlich im am 3. Dezember verkündeten Programm der Ungarischen Nationalen Unabhängigkeitsfront wiederholt. 7 Die Intention, die Ungarndeutschen eindeutig aufgrund der politischen Verantwortung zu bestrafen, ist unmissv erständlich, obw ohl dies einer individuellen Überprüfung bedurft hätte. Die Modalität der Durchführung der Bodenreform und der Vertreibung der Deutschen – inhaltlich wie organisatorisch – wurde vom Konzept der schwächsten Partei der Koalition, der Nationalen Bauerpartei bestimmt, w as den Interessen der Kommunisten, die den entscheidenden Einfluss auf die politische Entwicklung hatten, weitgehend entsprach. Die Parteielite im weiteren Sinne – von Imre Kovács bis Ferenc Erdei und von László Németh bis Gyula Illyés – untersuchten intensi v seit dem Ende der 1920er Jahre die sozialen Probleme der ungarischen Pro vinz, so wie deren Ursachen. In ihren soziographischen Werken und Zeitungsartik eln stellten sie die dramatische Lage der ungarischen Dörfer , das Elend eines bedeutenden Teils der ungarischen Bauern, bereits in den 1930er Jahren durchaus w ahrheitstreu dar . Als Lösung schlugen sie schon damals eine radikale Bodenreform vor, wobei sie sowohl bei der Lageanalyse als auch in ihren Lösungsansätzen stark v on emotionalen F aktoren beeinflusst w aren. Die Lage wurde v on ihnen nämlich nicht nur als ein soziales Problem aufgefasst, sondern zu einer nationalen Schicksalsfrage stilisiert. Im Fahrwasser von DezsŒ Szabó deklarierten sie das Bauerntum zum einzig gesunden Kern der Nation und zum Hüter nationaler Traditionen. Szabó wirkte nachhaltig auf die sog. „Dorf forscherbewegung“ bzw. auf die Gruppe der „völkischen Schriftsteller“ ein. Die in der Mitte der Zw anzigerjahre beginnende Dorfforschung hatte ihre Wurzeln nicht nur in der nationalen Romantik, sondern auch in der Sozialpolitik, nach dem Vertrag v on Trianon (1920) wurde 6B 7

ALOGH, Sándor/I ZSÁK, Lajos: Pártok és pártprogramok Magyarországon (1944–1948) [P arteien und Parteiprogramme in Ungarn (1944–1948)]. Budapest 19792, S. 161–164, hier 162. „Für die Ziele der Bodenreform sind in erster Linie das Vermögen der Vaterlandsverräter, der Kriegsverbrecher, der Volksbund-Mitglieder, der in der deutschen Armee Gedienten zu k onfiszieren, und gänzlich samt Ausrüstung zu beschlagnahmen.“ Siehe: ROMSICS, Ignác (Hg.): Magyar történeti szöv eggyıjtemény 1914–1999, I. [T extsammlung zur ungarischen Geschichte 1914–1999. Bd. I]. Budapest 2000, S. 373–376, hier 374.

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diese sogar als eine Art „nationale Mission“ aufgefasst. „Neben der Folklore fanden sie auch die sozialen Probleme vor“, und übten eine berechtigt scharfe Kritik an den bestehenden sozialen Verhältnissen.8 „Wir suchten die Wurzeln der Landschaft und des Volkes auf all unseren Wegen, und ausgehend von der Landschaft und demVolk strebten wir nach endgültigen Schlussfolgerungen. Doch bei jedem unserer Schritte argumentieren wir mit dem Strom des Lebens, die Bilder des ungarischen Lebens und der ungarischen Landschaft huschen vorbei wie eine Summe von Anklagen und Beweisen. Wir selbst reden dabei wenig, lieber lassen wir das Leben selbst sprechen“ – notierte der Schriftsteller Géza Féja. 9 Neben den sozialen Problemen f anden sie aber einen weiteren Feind im Land, nähmlich das Ungarndeutschtum, und sie verknüpften die Lösung der überaus akuten sozialen Frage mit einer bisher gar nicht thematisierten ethnischen Komponente. „Das herrische Ungarn zog die Lehre aus den Bauernaufständen [des Mittelalters], dass man die Kraft des Bauerntums schwächen, die Reihen der Bauern mittels fremder Elemente verwässern muss, um so seine eigene Macht bis in die Ewigkeit zu sichern“ – konstatierte Féja.10 In diesem eigenwillig zusammengefügten „historischen Weltbild“ waren „die Fremden“ jene Ungarndeutschen, die seit 300 Jahren in Ungarn sesshaft und angebliche Instrumente des fremdgesinnten Hochadels w aren, vor denen das „zu kurz gek ommene“ ungarische Bauerntum beschützt werden musste. „Das sich entfaltende nationale Be wusstsein, d. h. der Schutz der Rechtssicherheit des ungarischen Ethnikums“ – wie der Schriftsteller Gyula Illyés formulierte – wurde fortan nicht nur mit antisemitischen Attitüden legitimiert, sondern auch mit einer nicht weniger emotionsbeladenen Deutschfeindlichkeit.11 Illyés, der bereits 1932 die „geistige Hegemonie“ des „judeo-germanischen“ Budapest an den Pranger gestellt hatte, bef asste sich nach eigenen Angaben noch vor der Machtergreifung Hitlers mit dem Gedanken der kollektiven Aussiedlung der Deutschen. 12 Daraus resultierte einerseits, dass in den Überle gungen dieser Be wegung bei der Ursachenanalyse wie der Erstellung von Lösungsansätzen weder ökonomische Gesichtspunkte noch objektive Maßstäbe eine Rolle spielten. Andererseits wurden nationale Komponenten in den Vordergrund gestellt. Deren Manifestierung war die bereits in den 1930er Jahren erfolgte, ar gumentativ kausale Verknüpfung der Bo-

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KÓSA, László: A magyar néprajz tudománytörténete [Wissenschaftsgeschichte der ungarischen Volkskunde]. Budapest 2001, S. 173. 9 FÉJA, Géza: Viharsarok. Az alsó Tiszavidék földje és népe [Sturmwink el. Land und Leute des niederen Theißgebiets]. o. O. o. J., S. 9. 10 Ebd., S. 257. 11 Begegnungen mit Gyula Illyés. In: H USZÁR, Tibor: Találkozások. Beszélgetések a két világháború közötti magyar szellemi-politikai mozgalmakról [Begenungen. Gespräche über die ungarischen geistig-politischen Be wegungen der Zwischenkrie gszeit]. Budapest 2005, S. 97–115, hier S. 99. 12 Vgl. UNGVÁRY, Krisztián: Antisemitismus und Deutschfeindlichkeit – der Zweifrontenkrieg. In: KARSAI, László/MOLNÁR, Judit (Hg.): Küzdelem az igazságért. Tanulmányok Randolph Braham 80. születésnapjára [Kampf für die Gerechtigk eit. Festschrift zum 80. Geb urtstag v on Randolph Braham]. Budapest 2002, S. 731–750, hier S. 733 und S. 740.

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denfrage mit der Nationalitätenfrage. 13 Für die demnach beklagenswerte Lage des ungarischen Bauerntums w ar nicht nur das Über gewicht des Großgrundbesitzes (Latifundien), sondern auch die „Übermacht“ der „fremden Elemente“ in der ungarischen Gesellschaft, nämlich das Judentum und das ungarländische Deutschtum, verantwortlich. Dieser „Zweifrontenkrieg gegen Juden und Deutschen“, der von der Geschichtswissenschaft noch nicht erforscht wurde, konnte deshalb Erfolge für sich verbuchen, weil er geschickt auf solche historisierende Bilder baute, die sich aus der Selbstreflexion der ungarischen Geschichte er gaben und im öf fentlichen Bewusstsein tief v erwurzelt waren. Das w ar sowohl in ihren Veröffentlichungen, als auch in den Romanen und politischen Schriften von László Németh deutlich.14 Dies signalisierte die 1933 nach dem Erscheinen des Romans15 Elnémult harangok [Verstummte Glocken] von JenŒ Rákosi entflammte Debatte über die Ereignisse in der Gemeinde Hidas, später die Branauer , vor allem die „Ormánságer Analysen“ von Illyés16, Kodolányi17 und Lajos Fülep 18 über die „Expansion der Deutschen“ und den daraus resultierenden „Untergang des Ungarntums“. Mihály Kerék, der spiritus rector der 1945 v eröffentlichten Bodenreform-Verordnung, notierte bereits 1939 in seinem Buch Die ungarische Bodemfrage: „Während unsere Landsleute anderer Nationalität meist in wohlhabenden Dörfern leben, sind die von Latifundien umgebenen, flurlosen und überbevölkerten Kleinhäuslerdörfer, diese erbärmlichen Elendssiedlungen ausnahmslos ungarisch. Diese historische Ungerechtigkeit, die den Fremden als Bauern mit Besitz und den Ungarn als 13 Ein typisches Beispiel dafür ist der Artikel von János Kodolányi: „Wir wollen das Land für das reine Magyarentum [magyarság] wieder in Besitz nehmen. […] Wir bek ennen mit stolzem Bewusstsein: an diesem Ort kann die Ordnung, die Ruhe und die Sicherheit alleine die erprobte politische Weisheit und der führende Geist des reinen Magyarentums sich stabilisieren. Wir erheben also unser Wort im Namen des ewigen historischen Magyarentums, wenn wir hier das Recht des Erstgeborenen fordern. Und dessen erste und wichtigste Voraussetzung ist: Der [eigene] Boden unter unseren Füßen.“ K ODOLÁNYI, János: Magántulajdont a földnélküli parasztságnak. [Privateigentum für das landlose Bauerntum] Nemzet Œr, 9. Oktober 1939. Zitiert nach J UHÁSZ, Gyula: Uralk odó eszmék Magyarországon 1939–1944 [Herrschende Ideologien in Ungarn 1939–1944]. Budapest 1983, S. 78. 14 Siehe z. B. seinen Roman Iszony [Phobie] und sein Essay Kisebbségben [In der Minderheit]. 15 Seine Rezeption siehe ALSZEGHY, Zsolt: Vázlatok. Budapest 1925, S. 47. 16 Illyés besuchte im Juli 1933 den reformierten Pf arrer Lajos Fülep in Zeng Œvárkony, der ihm nicht nur das Problem des Ein-Kind-Systems, sondern auch der „schwäbischen Expansion“ erläuterte. Vgl. BORBÁNDI, Gyula: A magyar népi mozgalom [Die ungarische v olkstümliche Bewegung]. Budapest 1989, S. 158–159; einige wichtige Essays v on Illyés in dieser Frage: Pusztulás [Unter gang]. In: Nyugat, 1933. Nr . 17–18, http://epa.oszk.hu/00000/00022/00562/ 17577.htm); Magyarok megmentése [Rettung der Ungarn]. In: Nyugat, 1934. Nr. 8., http://epa. oszk.hu/00000/00022/00576/17992.htm) 17 Siehe seine Artikelreihe Baranyai utazás [Reise durch die Branau]. Budapest 1941 und seinen Roman Földindulás [Erdbeben]. Den aktuellen Stand der Forschung über Kodolányi siehe TÜSKÉS, Tibor: Kodolányi János. Pécs 1999. 18 F ÜLEP, Lajos: A magyarság pusztulása [Der Unter gang des Ungarntums] Reprint. Budapest 1984. Über die poltischen Ansichten von Fülep siehe FÜLEP, Lajos: Nemzeti öncélúság [Nationaler Selbstzweck]. In: R ING, Éva (Hg.): Helyünk Európában. Nézetek és k oncepciók a 20. századi Magyarországon [Unser Platz in Europa. Ansichten und K onzepte in Ungarn im 20. Jahrhundert], Bd. 1. Budapest 1986, S. 281–305.

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landlosen Kleinhäusler angesiedelt hatte, haben wir bis heute nicht wieder gut19 gemacht“. Zu dieser Argumentation kam eine habsb urgfeindliche Propaganda, woraus teilweise eine im öffentlichen Bewusstsein fest verankerte, auf historischen Traditionen basierende deutschfeindliche Stimmung resultierte. All das wurde mit den als schädlich konstatierten Auswirkungen der „vierhundertjährigen Fremdherrschaft“ des Hauses Habsburg, mit den dagegen gerichteten nationalen Freiheitsbewegungen bzw. mit der Niederschlagung der Revolution von 1848/49 untermauert. Dieser deutschfeindliche Ton wurde nach 1933 durch die Aversion gegenüber dem Dritten Reich verstärkt. Dieser Ton zielte insbesondere als F olge der deutschen Be wegung – die anfangs emanzipatorisch ausgerichtet w ar, sich aber we gen der Misserfolge später radikalisierte – allmählich auf die ganze deutsche Minderheit ab, die immer öfter pauschal als die „fünfte Kolonne“ des „drohenden Deutschen Reiches“ bezeichnet wurde. Diese Aversionen wurden durch die – oft konfrontative – Politik des Volksbundes in den Kriegsjahren bzw. durch die deutsche Okkupation im März 1944 intensiviert. Solche Töne glichen un verkennbar den P arolen der K ommunistischen Partei. Diese lehnte auch die Auffassung der Kleinlandwirte ab, die auf die Schaffung von rentablen, Waren produzierenden Grundbesitzgrößen abzielte. Die Kommunistische Partei teilte stattdessen den radikalen Entwurf der Bauernpartei, der infolge ihrer Zusammenarbeit zunächst zur Verordnung und danach zum Gesetz erhoben werden konnte. Zusammenfassend läßt sich feststellen, dass das Endergebnis, nämlich die Vertreibung, aus unterschiedlichen Ausgangspunkten herv orging. Die K ommunisten verfolgten von ideologischen Prämissen determinierte, k onkrete politische Ziele, indem sie die Nationalitätenfrage und die Bodenreform zu einem Instrument, zum Bestandteil ihres Parteiprogrammes, ja ihrer politischen Strategie machten. Deshalb behandelten sie die Frage der Deutschen nicht als eine Nationalitäten-, sondern ausschließlich als eine politische Frage. Die Nationale Bauenpartei wiederum v erknüpfte – geprägt von einer nationalistischen Emotionalität – ein soziales Problem mit der Nationalitätenfrage, und deklarierte dieses zum wichtigsten Punkt ihres Programms. Während für die K ommunistische P artei die Lösung der Nationalitätenfrage und der Bodenreform „lediglich“ ein Instrument der Umsetzung ihrer politischen Ziele war, betrachtete die Bauernpartei die Politik selbst als Instrument zur Verwirklichung der zur nationalen Schicksalsfrage stilisierten Bodenreform und der Vertreibung. Letzlich lief es aber auf dasselbe hinaus, und auf dieser Kongruenz beruhte ihre weitere Zusammenarbeit. Die anderen zwei K oalitionsparteien, nämlich die Sozialdemokraten und die Kleinlandwirtpartei, gerieten in eine paradox e Lage. Beide Parteien befürworteten sowohl die Vertreibung der Deutschen als auch die Bodenreform, aber – im Gegensatz zu den anderen zwei P arteien – etwas differenzierter. Die Politiker der Klein19 K

ERÉK, Mihály: A magyar földkérdés [Die ungarische Bodenfrage]. Budapest 1939, S. 386. Über die Verbindung v on K erék mit den völkischen Schriftstellern siehe B ORBÁNDI (wie Anm. 16), S. 165.

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landwirtepartei und der Sozialdemokraten verkündeten nämlich bereits 1942 in öffentlichen Veranstaltungen, dass man die Vertreibung durchaus ge genüber einem Teil der Deutschen, nämlich den zu „Ungarn untreuen“Volksbund-Mitgliedern, anwenden könne. Am 13. Dezember 1942 erklärte auf dem XXXIII. K ongress der Sozialdemokratischen Partei Károly Pe yer, dass die Nationalitätenfrage aus zwei Varianten bestehe: diese ließen sich mittels der Demokratie bzw . „Waggons“, d. h. der Vertreibung, umsetzen.20 Damit schlug er einen anderen Ton an als die übrigen führenden Parteifunktionäre. Für große Aufregung sorgte die Rede des katholischen Pfarrers und Abgeordneten der Kleinlandwirtepartei, Béla Varga, im ungarischen Parlament am 11. No vember 1942, als er die Mitglieder des Volksbundes aufforderte, entweder sich zum Ungarntum zu bekennen, oder das Land „mit einem Bündel“, wie ihre Ahnen gekommen seien, zu v erlassen.21 Es fielen in beiden Fällen harte Worte, die deutlich machten, dass die Elite dieser beiden P arteien nicht ohne die Erfahrungen während des Krieges zu ihrem Entschluss gelangte. Die Spaltung der Sozialdemokraten bzw. die Worte von Béla Varga machen jedoch deutlich, dass in diesen Parteien unterschiedliche Positionen vertreten wurden. In der erfolgreichsten Periode der 1930 ge gründeten Kleinlandwirtepartei, nämlich zwischen 1932–1935, wusste sie die deutsche Agrarbevölkerung mit Grundbesitz als Wählerschicht für sich ge winnen. Vor allem auf dem Gebiet der ehemaligen „Schwäbischen Türkei“, in den K omitaten Baranya und Tolna, stellte sie bei den P arlamentswahlen 1935 in mehreren Bezirk en eigene deutsche Kandidaten zur Wahl bzw. unterstützte solche. 22 Bei der Vertretung der wirtschaftlichen und politischen Interessen des grundbesitzenden Bauerntums machte sie hinsichtlich der Nationalität keinerlei diskriminierende Unterschiede. Im Gegenteil: Sie unterstützte viel mehr die nationalen Bestrebungen des ungarländischen Deutschtums. Der Parteivorsitzende Tibor Eckhardt erklärte in seiner Wahlkampagne anlässlich seiner Rundreise in Pécsvárad (Komitat Baranya) vor seinem deutschen Publikum: „…die Kleinlandwirtepartei fordert für die Nationalitäten in Ungarn die gleichen Rechte, die wir dem Ungarntum in den besetzten Gebieten [d. h. in den Nachfolge20 Peyer forderte eine unterschiedliche Beurteilung der einzelnen Nationalitäten: „…wir haben Nationalitäten, mit denen wir k eine Probleme hatten, bzw . haben, es gibt aber solche, denen man nicht die Rechte ge währen kann, die sie jetzt genießen. Mit den Rumänen, Slo waken, Serben und anderen Nationalitäten werden wir k eine Differenzen haben, aber mit den Deutschen werden wir welche haben, nicht weil wir es w ollen, sondern weil sie diese Dif ferenz geschaffen haben, und sie hier das „Herrenvolk“ sein wollen. Nach dem Krieg […] müssen wir unsere Beziehung zueinander bereinigen, damit wir mit jenen Nationalitäten zusammenleben, von denen ich weiß, daß wir einen Weg der Lösung finden werden, es wird aber eine Gruppe geben, mit der man nichts Anderes machen kann, als sie aus dem Lande hinaus zu befördern, wie man das gerade europaweit macht.“ Zitiert nach TILKOVSZKY, Loránt: Nemzetiségi politika Magyarországon a 20. században [Nationalitätenpolitik in Ungarn im 20. Jahrhundert]. Debrecen 1998, S. 118 und DERS.: Die Sozialdemokratische Partei und die Frage der deutschen Nationalität in Ungarn 1919–1945. Budapest 1991, S. 113. 21 Tagebuch des Abgeordnetenhauses 15, 1939–1944, S. 219. 22 Im Wahlkreis Villány war Adam Riesz, im Wahlkreis Pécsvárad Anton Czirják, im Wahlkreis Sásd war Karl Schaff jun. der Kandidat der Kleinlandwirte, im Wahlkreis Mohács unterstüzten sie den Unabhängigen Kandidaten Lajos Schmidt, ge gen den sie keinen Gegenkandidaten zur Wahl stellten.

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staaten] zu gewähren lassen wünschen.“23 Bei denWahlen gaben mehr als die Hälfte der Wähler ihre Stimme den Kleinlandwirten oder einem parteilosen Kandidaten. Von den 95 deutschen Gemeinden der Baran ya erfolgte dies in in 58 Orten (61,1 Prozent). In weiteren 6 Gemeinden – da es imWahlkreis Dárda keinen Oppositionskandidaten gab – unterstüzte man den inoffiziellen Kandidaten der Regierungspartei.24 Das hatte zur Folge, dass – im Gegensatz zu den Wahlen 1931, als in allen acht Wahlbezirken der Baranya die Regierungspartei den Sieg davongetragen hatte – in zwei Wahlbezirken (Pécsvárad, Villány) der Kandidat der Kleinlandwirte und in Mohács ein unabhängiger Kandidat mit Unterstützung dieser P artei das Mandat erlangte.25 Alle drei Wahlbezirke waren mehrheitlich von Deutschen bewohnt. Es gab mehrere Gründe dafür, dass die Kleinlandwirteführung 1945 vom oben angeführten Standpunkt abwich und die Vertreibung der Deutschen – zumindest partiell – unterstützte. Das lag erstens darin, dass Endre Bajcsy-Zsilinszk y, der ab Anfang der 1930er Jahre einen immer kämpferischeren Hitler -feindlichen Ton angeschlagen hatte, dieser Partei beitrat und sein Einfluss in den Kriegsjahren immer größer wurde. Zweitens orientierte sich ein Teil der deutschen Landwirte um, und näherte sich dem Volksbund, dessen Tätigkeit Zsilinszky und die Parteielite beunruhigte. Das bele gten z. B. die Wahlen v on 1939, als jene deutschen Bauern im Mohácser Wahlbezirk, die 1935 noch die Kleinlandwirte gewählt hatten, 1939 größtenteils für den Kandidaten der Regierungspatei, den Volksbund-Führer Konrad Mischung, votierten. Auch auf der P arteiliste unterstüzte nur ein Bruchteil v on ihnen die Kleinlandwirtepartei. 26 Die Politik Hitlers, die in einem Teil der ungarischen Gesellschaft und der politischen Elite – insbesondere in der Opposition – Ängste hervorgerufen hatte, wirkte auch auf die Führung der Kleinlandwirte. Nach dem Krieg musste die P artei damit rechnen, dass sie infolge der speziellen machtpolitischen Lage – trotz ihrer großen gesellschaftlichen Basis – ihre Politik den Erwartungen der unter so wjetischer Führung stehenden Alliierten Kontrollkommission und den Kommunisten anpassen musste. Dieser letzte Faktor wurde auch durch die in die P arteiführung inte grierten Kryptok ommunisten v erstärkt. Gleichzeitig bemühte sich ein bedeutender Teil der Parteielite – trozt dieser Vorgänge – die traditionelle gesellschaftliche Basis der Partei zu bewahren. Der Standpunkt der Sozialdemokratischen Partei wurde von zwei Tatbeständen entscheidend beeinflusst. Ein Grund w ar, dass – infolge der Besonderheiten der ungarischen industriellen Entwicklung – ein bedeutender Teil der Parteimitglieder 23 Pécsi Napló, 29. März 1935. 24 In der Baranya bekannten sich bei der Volkszählung im Jahre 1930 34,7 Prozent der Be völkerung zur deutschen Muttersprache. Aus den 311 Ortschaften des K omitats war in 106 (34,1 Prozent) Gemeinden mehr als die Hälfte der Bevölkerung Deutsche – insgesamt machten sie in diesen 77,7 Prozent der Einw ohnerzahl aus; 11 im Wahlkreis SzentlŒrinc musste man außer Acht lassen, da hier – weil es nur einen Kandidaten gab – keine Wahlen abgehalten wurden. 25 Siehe ausführlicher VONYÓ, József: Politikai küzdelmek Baran ya megyében és a NEP a Gömbös-kormány idején [Politische Kämpfe im K omitat Baranya und die NEP (Re gierungspartei) zur Zeit der Gömbös-Regierung]. In: Baranyai Helytörténetírás 1985–1986, S. 355–380. 26 Ausführlicher dazu VONYÓ, József: Adatok és dokumentumok két parlamenti választásról (Mohács, 1935 és 1939) [Angaben und Dokumente zu zwei P arlamentswahlen (Mohács 1935 und 1939)]. In: Baranyai Történetírás 1992–1995. S. 117–135.

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bzw. ein Teil der Parteielite deutscher Abstammung war. Das galt erst recht in den großen Industriezentren (z. B. Budapest, Raab/Gy Œr) bzw. in den Splitter gebieten (z. B. Fünfkirchen, Ödenb urg–Brennberg), w o die P artei ihre traditionellen Einflusszentren hatte. Auf diese Basis k onnte sie nicht v erzichten. Der andere Grund lag in der politischen Spaltung der Partei, da auch in ihrer Führung Kryptokommunisten, namentlich die mit der K ommunistischen P artei k ollaborierenden Árpád Szakasits und György Marosán, eine wichtige Rolle spielten. In einem Artikel vom 23. Juni 1945 wurde noch betont: „…die Sozialdemokratische Partei und die Népszava [die Zeitung dieser Partei] (…) sind [seit längerem] der Ansicht, dass man im Gegensatz zu den „nach Faschismus riechenden“ [sic!] Parolen der kollektiven Verantwortung die [politische] Haltung eines jeden Menschen indi viduell überprüfen wird müssen; die Verbrecher müssen streng verurteilt werden, aber keiner soll deswegen leiden, weil er der einen oder anderen Nationalität angehört, oder die Sprache einer Minderheit spricht.“27

3. Bodenreform und die ideologische Rechtfertigung der Vertreibung Nach dem Krie g ergriffen im Interesse der Bodenreform und der Vertreibung als Erste die Politiker der Nationalen Bauenpartei die Initiati ve, indem sie die beiden Angelegenheiten – ihrem früheren Standpunkt entsprechend – miteinander v erknüpften. Zu diesem Zeitpunkt machten sie die Gesamtheit des Ungarndeutschtums betont k ollektiv v erantwortlich, und forderten ihre Verteibung. Imre K ovács, der Generalsekretär der Partei fasste in seinem Artikel vom 22. April 1945 die angeblichen Vergehen der deutschen Nationalität wie folgt zusammen: „…wir kämpften gegen die Deutschen außerhalb der Landesgrenzen und wir kämpften ge gen sie hierzulande. In der ungarischen Geschichte erschien zunächst die Fünfte K olonne. Ein Teil des Deutschtums schwärmte im Lande, getrieben v on einer zielstrebigen, ehrgeizigen Siedlungspolitik, aus, um ge wollt oder unge wollt die deutschen Interessen zu vertreten. Sie kamen mit einem Bündel am Rück en hierher, in ihren Augen wirkten die Versprechungen auf neuen Boden wie ein Zauber, in ihrer Seele der Eid der e wigen Treue, damit sie immer , unter allen Umständen dem Mutterv olk, dem Mutterland: Germanien dienen werden. […] Es gab Hitler noch gar nicht, oder er schlummerte noch im germanischen Trieb des furchtbaren Amoklaufs, schon arbeitete die Fünfte K olonne in seinem Interesse […] Das Schw abentum verdient keine Gnade. Wenn wir uns im zerstörten Land umschauen, die gesprengten Brücken und die ausgebrannte Bur g [von Ofen/Buda] sehen, dürfen wir nicht v ergessen, dass dies f ast gänzlich ihnen zuzuschreiben ist. Sie brachten und v ermittelten Hitlerpolitik nach Ungarn. […]. Wir w agen es niederzuschreiben, wir w agen es 27 Népszava, 3. Juni 1945. Zitiert nach FÖGLEIN, Gizella: A magyarországi németek kitelepítése a sajtó tükrében [Die Aussiedlung der Ungarndeutschen im Spiegel der Presse]. In: D IES. (Hg.): Nemzetiség vagy kisebbség? [Nationalität oder Minderheit?] Budapest, 2000, S. 26–33, hier S. 32.

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auszusprechen: sie sollen mit einem 30 kg schweren Gepäck und mit 50 Pengô das Land verlassen.“28 Diese wenigen Sätze beinhalten all das, was die zeitgenössische Propaganda den Deutschen an Schuld zuschrieb. Die Nationale Bauernpartei blieb mit ihrer Auffassung nicht alleine. Die Führung der k ommunistischen P artei v ertrat einen ähnlichen Standpunkt. Ernô Gerô schrieb einige Tage zuvor: „…in den Augen des ungarischen Volkes war das Schwabentum immer der Erzfeind der Freiheit. […] Jahrhunderte zuvor wurden sie auf den fetten, schwarzen ungarischen Böden angesiedelt, damit sie zu Missionaren des deutschen Imperialismus unter den K olonialvölkern werden. […] Der ungarische Boden gab ihnen Brot, aber den letzten Bissen steckten sie in den Brotsack der Söldner der Nazis. Als Janitscharen von Hitler sind sie dafür v erantwortlich, dass Ungarn erneut eine schwere nationale Katastrophe erleiden musste. […] Auf der Liste der Krie gsverbrecher stehen sie ganz oben an der ersten Stellen.“ 29 All das war Teil jenes Propagandafeldzugs, der in erster Linie in den Presseorganen und auf den Versammlungen dieser beiden P arteien anzutreffen war und der sich mit Vorliebe – wie es aus den Zitaten deutlich wird – irrationaler , ja sogar absurder Argumente bediente. In diesem Wettrennen propagandistischer Überbietung desAnderen wollte auch die Kleinlandwirtepartei Schritt halten. Am selben Tage, an dem auch der Artikel von Gerôerschien, schrieb ihre Zeitschrift „Kis Újság“, dass im Endeffekt „größtenteils die ungarischen Schwaben für die Verbrechen der letzten Jahre verantwortlich sind“. Sie fuhr dann fort, indem sie den Akzent auf die technischen Aspekte einer „endgültigen Lösung“ der Schwabenfrage, im Sinne der Liquidierung der deutschen Minderheit, legte: „Eine halbe Million Menschen aus dem Körper der Nation herauszuoperieren ist zweifelsohne k eine einfache Aufgabe. Aber man möge daran denken, dass die Deutschen nach ungefährenAngaben zirka eine Million Menschen aus der ungarischen Bevölkerung für ihre eigenen Ziele aufopferten. Diese wurden hingerichtet, in Gefängnisse geworfen, verschleppt; also das ungarische Schwabentum sollte sich beim Ungarntum für die Vertreibung noch bedanken“. Im Interesse der im Aufbau befindlichen Demokratie befürwortete das Blatt „die Ausrottung des deutschen Egels, das Ausschneiden des deutschen Geschwürs aus dem genesenden Körper des Landes“.30 Die Propagandakampagne blieb nicht nur auf die Landespresse, bzw . die landesweiten P arteiversamlungen beschränkt. Die Orstv erbände v erbreiteten in den Lokalblättern, auf Flugblättern und Plakaten ebenfalls diese Parolen.31 Im April 1945, also im Monat der „Befreiung“, waren sich die Machthaber darüber einig, dass die ungarndeutsche Minderheit k ollektiv bestraft, also v ertrieben werden muss, unabhängig von der tatsächlichen politischen Aktivität einzelner Personen.32 Indem die ursprünglich politische Frage der tatsächlich v erantwortlichen 28 Szabad Szó, 22. April 1945. 29 Szabad Nép, 18. April 1945. „Schwäbische Vaterlandverräter“. 30 Kis Újság, 18.April 1945. „Das Schwabentum muss vertrieben werden!Aus den 700.000 Schwaben hielten höchstens 150.000 treu zum Ungarntum“. 31 Siehe z. B. FÖGLEIN (wie Anm. 27). 32 Vgl. Dazu ausführlich TÓTH (wie Anm. 2), S. 36 und 39.

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Deutschen auf die Gesamtheit der Deutschen ausgedehnt wurde, bekam die weiterhin politische Ziele verfolgende Frage einen nationalitätenpolitischen Anstrich. Die Entwicklungen der nächsten Wochen sorgten aber für Bedenk en. An den darauffolgenden Parteisitzungen, Koalitionsberatungen, Regierungssitzungen bzw. internationalen Verhandlungen wurde über die Notwendigk eit der Anwendung der Restriktionsmaßnahmen schon dif ferenzierter argumentiert. In den v erschiedenen Phasen deren Umsetzung näherten sich – hinter den K ulissen – die ursprünglich unterschiedlichen Standpunkte33 der Abgeordneten der Kleinlandwirte und der Sozialdemokraten bzw. einzelner Politik er der Bauernpartei 34 an. Das lag in erster Linie darin, dass die ungarische Minderheit in derTschechoslowakei von ähnlichen Maßnahmen bedroht war. Und falls Beneš seine Pläne gänzlich realisiert hätte, hätte die ungarische Re gierung mehr als eine Million Ungarn aus dem Nachbarland in Ungarn unterbringen müssen.35 An der Beratung der Koalitionsparteien am 14. Mai 1945 – nach einer aus einer partiellen Meinungsverschiedenheit entflammten Debatte – ergab sich ein Konsens darüber, dass Restriktionsmaßnahmen wie etw a Internierung und Aussiedlung, nicht gegen die gesamte Volksgruppe, sondern lediglich gegen die „Hitleristen“ ergriffen werden. Demnach gebe es „in Ungarn k eine Schwabenfrage, lediglich die Frage deutscher Faschisten.“36 Die Verordnung Nr. 3820/1945. der Provisorischen Nationalregierung wurde M. E. in diesem Sinne erarbeitet, und dementsprechend formulierte auch die Alliierte K ontrollkommission in ihrer an die Sie germächte adressierten Note v om 26. Mai: „[…] es wäre notwendig, die Deutschen, die die Sache Ungarns verraten und sich in den Dienst des Hitlerismus gestellt hatten, aus dem Lande zu entfernen, weil man nur so sicherstellen kann, dass es k einen deut-

33 Ebd., S. 36–39. 34 Es ist eine Ironie des Schicksals, dass es gerade einer der prominentesten Ideologen der Nationalen Bauernpartei, István Bibó, war, der damals als Abteilungsleiter für Gesetzesvorbereitung im Innenministerium arbeitete, am 14. Mai 1945 F olgendes niederzuschreiben w agte: „Laut der offiziellen Formulierung geht es hier um die Aussiedlung der Volksbund-Mitglieder und überhaupt der f aschistischen Schwaben. […] hinter den Presseagitationen und Pri vataktionen bezüglich der Schwabenfrage verbergen sich aber solche Kräfte, die nicht an der Vertreibung der faschistischen Schwaben interessiert sind, sondern viel lieber die ganze deutsche Minder heit, und wenn möglich, gleich alle Minderheiten vertreiben würden. […] Hinter diesem Konzept, wenn auch durch andere Personen, verbirgt sich derselbe Geist, der auch die Gräueltaten von Baky und seinesgleichen moti vierte: es sind die für Rassenhass und Ge walt bereiten Ungarn, die v on der Agression und v om Rassenmythos unwiderrufbar infiziert wurden, und die für alle Probleme eines Landes mit or ganisch krank em Geist und krank er Gesellschaft, die Fremden, die Minderheiten v erantwortlich machen. […], hinter der P arole, dass „die Schw abenfrage irgendwie gelöst werden muss“, befinden sich genau so viele w ahre Elemente, wie hinter den ähnlichen P arolen der Pfeilkreuzler bezüglich der Judenfrage.“ Zitiert nach TÓTH, Ágnes: Bibó István memorandumai a magyarországi német lak osság kitelepítésével kapcsolatosan [Die Memoranden des István Bibó bezüglich der Vertreibung der ungarndeutschen Bevölkerung] In: Bács-Kiskun megye múltjából 11 (1992), S. 330–383, hier 335 und 340. 35 Vgl.: SEEWANN (wie Anm. 1), S. 44–48. 36 Zitiert nach FÖGLEIN (wie Anm. 27), S. 30.

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schen Geist und keine deutsche Unterdrückung mehr geben wird.“37 Die Anzahl der als „auszusiedelnden F aschisten“ bezeichneten Personen wurde stufenweise v on ursprünglich 300.000 auf 250.000, schließlich auf 200.000 gesenkt.38 Die drei Großmächte beschlossen am 2. August 1945 auf der Potsdamer Konferenz, dass „Maßnahmen für die nach Deutschland erfolgende Umsiedlung der in Polen, der Tschechoslowakei und in Ungarn gebliebenen deutschen Be völkerung oder deren Teile zu er greifen sind“. 39 Diese Entscheidung ist unter zwei Aspekten beachtenswert. Einerseits wurden andere Verliererstaaten, wie z. B. das über eine große Zahl an deutscher Bevölkerung verfügende Rumänien in diesem Kontext nicht erwähnt. In der auf Ungarn bezogenen Entscheidung der Großmächte spielte also die Initiative der ungarischen Re gierung, die Note v om Ende Mai die entscheidende Rolle. Andererseits sah dieser Beschluss – der als Konsens unter den Siegermächten verstanden worden war – k eine konkrete Zahl v or. Die Westmächte bestanden darauf, dass dieser nicht die Annahme des K ollektivschuld-Prinzips bedeuten dürfe, und dass die Aussiedlung in „organisierter und humaner Weise“ erfolgen müsse.40 Die Stellungnahme der Konferenz wurde von der mit der Durchführung beuftragten Alliierten Kontrollkommission der ungarischen Regierung in einer eigenartigen Interpretation weitergeleitet, wonach die ungarische Regierung 450.000 Deutsche auszusiedeln habe. Diese Zahl lag jedoch weit höher als die Anzahl der auf dem Landesgebiet damals lebenden Ungarndeutschen, d. h. diese Erwartung setzte die Bestrafung aller Deutschen aufgrund des Prinzips der K ollektivschuld voraus. Die Politiker der Kommunisten und der Bauernpartei – allem voran der kryptokommunistische Innenminister von der Nationalen Bauernpartei, Ferenc Erdei – setzten die Vorbereitungen zur Aussiedlungsverordnung in diesem Sinne und entsprechend ihrer Auffassung fort. Daran konnten weder der inzwischen eine differenzierte Beurteilung fordernde Standpunkt der Politik er der Nationalen Bauernpartei, der Kleinlandwirtepartei und der Sozialdemokraten, noch weniger die Proteste der kirchlichen Würdenträger und unabhängiger Intellektueller etw as ändern. Die Er mahnung der Amerikaner, die kategorisch darauf verwiesen, dass in Potsdam keine Entscheidung über kollektive Bestrafung getroffen wurde, blieb ebenfalls wirkungslos.41 Dementsprechend bestimmte die im Dezember 1945 verkündete Regierungsverordnung Nr. 13300/1945. M. E., dass „nach Deutschland umzusiedeln ist derjenige ungarische Staatsbür ger, der sich bei der letzten Volkszählung zur deutschen Volkszugehörigkeit oder Muttersprache bekannte oder der seinen madjarisierten Namen wieder in einen deutsch klingenden ändern ließ, ferner derjenige, der Mitglied des Volkbundes oder einer bewaffneten deutschen Formation (SS) war.“42 Di37 Zitiert nach ZINNER, Tibor: A magyarországi németek kitelepítése [Die Aussiedlung der Ungarndeutschen]. Budapest 2004, S. 162. 38 T ILKOVSZKY: Nemzetiségi politika Magyarországon (wie Anm. 20), S. 128. 39 Zitiert nach ZINNER (wie Anm. 37), S. 172. 40 Vgl.: SEEWANN (wie Anm. 1), S. 41; ZINNER (wie Anm. 37), S. 172. 41 Z INNER (wie Anm. 37), S. 175–192. 42 Magyar Közlöny, 1945. Nr. 211. Zitiert und k ommentiert nach F EHÉR, István: Az utolsó percben. Magyarország nemzetiségei 1945–1990 [In der letzten Minute. Ungarns Nationalitäten 1945–1990]. Budapest 1993, S. 123–125.

Die Rolle der Bodenreform und der Nationalitätenfrage

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ese Formulierung bezieht sich aufgrund ihrer ersten drei Kriterien praktisch auf alle Ungarndeutschen. Das heißt, sie bringt zweifelsohne demWillen der Kommunisten, der Nationalen Bauernpartei und der sowjetischen AKK-Leitung entsprechend, das Prinzip der K ollektivschuld zur Geltung. Die diesbezügliche Entscheidung dieser drei F aktoren w ar politisch und nicht nationalitätenpolitisch moti viert, sie hatte letztlich nur deswegen einen solchen Charakter, weil sie alle Deutsche betraf. Das bestätigt auch ein Re gierungsentwurf vom Sommer 1945, der die Grundsätze eines zukünftigen Nationalitätengesetzes enthielt. Das Dokument f asste die Sicherung sämtlicher demokratischen Rechte der Nationalitäten – im Sinne der Gründungsurkunde von San Francisco – in 23 Punkten zusammen. Im Punkt 24 wurde allerdings deklariert: „Die obigen Grundsätze beziehen sich nicht auf die zur ungarndeutschen Minderheit gehörenden Personen. Bis zur internationalen Re gelung ihrer Lage bleiben auf sie bezogen die aktuellen Rechtsnormen in Kraft.“43 Im Klartext: Für sie galten die ab Dezember 1944 gültigen bestrafenden, entrechtenden Rechtsnormen. Die Verordnung rief im Kreise der Politik er der Sozialdemokraten und der Kleinlandwirte, der Intelligenz und der Bischöfe verschiedener Konfessionen laute Proteste hervor. Sie betonten, dass die Verordnung den Potsdamer Beschlüssen widerspreche, weil diese nur eine Möglichkeit beinhalteten und keine Verpflichtung.44 Die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel waren allerdings begrenzt; sie waren auf die Ausstellung v on Befreiungsscheinen 45 bzw. darauf beschränkt, dass v ersprochen wurde, die Aussiedlungsverordnung mittels Ergänzungen zu modifizieren.46

43 Die Grundsätze der die rechtliche Lage der ungarischen Nationalitäten re gelnden Verordnung. In: S IPOS, Levente (Hg.): A magyar állam és a nemzetiségek. A magyarországi nemzetiségi kérdés történetének jogforrásai 1848–1993. [Der ungarische Staat und die Nationalitäten. Die Rechtsquellen der Geshichte der ungarischen Nationalitätenfrage 1848–1993]. Budapest 2002, S. 663–666, hier S. 666. Das wurde durch zahlreiche andere Maßnahmen bekräftigt: Im Gegensatz zu anderen Nationalitäten durften die Deutschen weder muttersprachliche Schulen, noch Schulen mit Deutsch als Fremdsprachenunterricht aufrechterhalten, sie hatten k eine – weil es ihnen untersagt w ar – Kinder gärten und Mittelschulen, k eine Presseor gane und sie durften keine Vereine gründen. Erst nach Jahren, zwischen 1951 und 1956 bekamen sie diezbezüglich Konzessionen. Vgl. F EHÉR (wie Anm. 42), S. 65–171; TILKOVSZKY: Nemzetiségi politika Magyarországon (wie Anm. 20), 124–151. 44 Pater Balogh machte in einer Besprechung im März 1946 laut Lajos Thirring folgende Aussage: „… wir (d. h. die Regierung) haben gelogen: in Potsdam w ar über eine Aussiedlung auf der Grundlage der Kollektivschuld keine Rede, wir stehen auf der Basis der indi viduellen Verantwortung, der indi viduellen Beurteilung:“ B ANK, Barbara/ ÃZE, Sándor: A „német ügy“ 1945–1953. A Volksbundtól Tiszalökig. [„Die deutsche Frage“ 1945–1953. Vom Volksbund bis Tiszalök]. Budapest, München, Backnang, 2005, S. S. 174. 45 Ebda. 46 In diesem Sinne äußerte sich am 1. April 1946 Ministerpräsident Ferenc Nagy. BANK/ÃZE (wie Anm. 44), S. 204.

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4. Zur Methodik der Umsetzung der Bodenr eformbeschlüsse In der Fachliteratur ist es detailliert dargestellt, dass die Vertreibung der Deutschen auf der Grundlage der Kollektivschuld nicht vollständig erfolgte.47 Laut Kalkulationen von Mihály Kerék, der an der Spitze des Nationalen Grundbuchamtes stand, sowie seinem Kollegen György Bodor, standen in den 325 mehrheitlich deutschen Gemeinden insgesamt ca. 1.030.000 Katastraljoch (592.765 Hektar) Land für die Bodenreform zur Verfügung, von dem man 90 Prozent hätte beschlagnahmen und „den rechtmäßigen Eigentümern, den Nachfolgern der einheimischen vertriebenen ungarischen Leibeigenen“ zurückgeben können.48 Insgesamt wurden 5,6 Millionen Katastraljoch (3,2 Millionen Hektar) Land aufgeteilt, w ovon 3,2 Millionen Katastraljoch an Privatpersonen zugewiesen wurden.49 Davon stammten 204.116 Katastraljoch (117.469 Hektar) vom Besitz der 33.308 Volksbund-Mitglieder.50 Das bedeutete, dass man 19,8 Prozent des Grundbesitzes der Ungarndeutschen v erteilte, welches 6,4 Prozent aller k onfiszierten Ackerfelder ausmachte. Damit aber w aren die Konfiszierungen noch nicht zu Ende. Deren nächste Etappe w ar die erste, bis zum Frühjahr 1947 dauernde Vertreibungswelle der Deutschen, darauf folgte die Ansiedlung der etwa 68.000 Ungarn aus der Tschechoslowakei vor allem in deutschen Häsuern. Der eigentliche Umfang dieser Vorgänge ist in der Forschung noch immer nicht geklärt. Eines steht allerdings fest: Bis dahin war der Großgrundbesitz bereits aufgeteilt, so ergab sich keine andere Möglichkeit, als zur Bodenzuweisung der – meistens w ohlhabenden – grundbesitzenden Bauern aus der Slo wakei den noch übrig gebliebenen Grundbesitz der deutschen Landwirte in Anspruch zu nehmen. Es gab diesbezüglich mehrere Methoden, w obei hier nur auf eine hinge wiesen sei. Die Ansiedlung der ungarischen Umsiedler und Flüchtlinge w ar von Anfang an in deutschen Dörfern geplant.Auf Initiative und unter der Leitung des – selbsternannten – Beauftragten der Bauernpartei, Györ gy Bodor, siedelte man die in Transdanubien zerstreuten Sekler aus der Buk owina im April 1945, parallel zur Durchführung der Bodenreform im Komitat Tolna, in der Umgebung von Bonyhád, in einem mehr oder weniger einheitlichen Block an. Als Endziel schwebte ihm die Gründung eines „selbstständigen Seklerk omitates“ im ehemaligen deutschen Siedlungsgebiet v or. Während seiner Aktion wurde der größte Teil der deutschen Be völkerung auf seine Veranlassung interniert und Sekler angesiedelt. Laut der offiziellen Parole wurden dabei lediglich die Immobilien der Volksbund-Mitglieder in Anspruch genommen. 47 Die ungarischen Behörden beabsichtigten die Vertreibung von 363.310 Personen, v on denen zwischen Januar 1946 und Anfang 1948 tatsächlich 163.085 Personen zuerst in die Amerikanische, dann in die so wjetische Besatzungszone Deutschlands deportiert wurden. Zuv or hatte die Sowjetunion bereits 64.000 Personen zur Wiedergutmachungsarbeit verschleppt. Insgesamt ging die Anzahl der Ungarndeutschen um ca. 228.000 Personen zurück; ZINNER (wie Anm. 37), S. 250. 48 B ODOR, György: Hol laknak a magyarországi németek? [Wo leben die Ungarndeutschen?]. In: Szabad Szó, 11. April 1945. 49 R OMSICS 1999 (wie Anm. 3), S. 282. 50 Z INNER (wie Anm. 37), S. 141.

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Bodor vertraute aber den offiziellen Listen nicht, und ließ diese durch die kommunistisch dominierte Polizei überprüfen. Sein Vorgehen ließ der Willkür Freiraum. Bodor umging dabei bewusst die gültigen Rechtsnormen, bezeichnete sein Vorgehen als einen „revolutionären Akt“, und berief sich auf die bereits zitierten Worte von Imre Kovács und GerŒ.51 Auch in anderen Gebieten gab es ähnliche Beispiele für gesetzeswidrige Aktionen. Doch nicht nur Einzelaktionen w aren von Missbrauch geprägt. Die ge gen die Ungarndeutschen eingeleiteten Maßnahmen verletzten durchgehend die klassischen und grundle gendsten Rechtsnormen, die Kriterien der Schuld wurden oft unter schiedlich und beliebig interpretiert und definiert, die Unschuldsannahme wurde ignoriert, die gesetzliche Re gelung diverser Verfahren fehlte, Rechtsmittel w aren ausgeschlossen, dagegen gab es zahlreiche Schleichwege um die Gesetze zu umgehen, so dass die Behörden die ihnen ausgelieferten Ungarndeutschen ohne weiteres um ihr Hab und Gut bringen konnten.52 Die Forschung klärte bereits vieles über die Art der Durchführung der einzelnen Gesetze. Ihr antihumaner Charakter ist hinlänglich bekannt, ebenso die K onflikte zwischen den Neusiedlern und den alteingesessenen Deutschen. Wir wissen, unter welch unmenschlichen Bedingungen die Deutschen ihre Heimat v erlassen und ihr über mehrere Generationen erwirtschaftetes Hab und Gut zurücklassen mussten. Dabei spielte bei der Vertreibung der Deutschen weniger ihre politische Aktivität, als viel mehr die Größe ihres Vermögens eine Rolle: Je mehr Ackerland eine Familie hatte und je größer das Haus w ar, desto größer w ar die Wahrscheinlichkeit, dass sie enteignet wurde. Nach aktuellen F orschungsergebnissen w aren jedoch die Bauern mit dem größten Grundbesitz weniger v om Volksbund beeinflusst, und sie meldeten sich auch seltener freiwillig zur Waffen-SS. Im Gegensatz zu den deklarierten politischen Zielsetzungen und den Rechtsnormen widerfuhr damit größtenteils gerade denjenigen kein Unrecht, die es nach der politischen Le gitimation „verdient hätten“. Man kann so sagen, dass die Bodenreform die entscheidende Rolle bei der Bestimmung des Kr eises der zu vertr eibenden P ersonen spielte. Über die k onkreten F olgen kann aber erst mit mikrohistorischen Untersuchungen ein genaueres Bild v ermittelt werden. Erst nach detaillierter Analyse der Grundbücher deutscher Dörfer bzw. nach dem Vergleich der Namenslisten der Vertriebenen mit der Liste der Volksbundmitglieder und –führer bzw. der Freiwilligen der Waffen-SS, nach der Feststellung der Größe und der Art des Vermögens der Vertriebenen kann man die obige Aussage verifizieren. Es muss des Weiteren geprüft werden, ob diese Behauptung generell zutrif ft, oder ob re gionale Abweichungen vorliegen, und wenn ja, wie diese zu erklären sind. Es ist auch noch zu 51 Ausführlicher dazu B ODOR, Györ gy: Szék ely honfoglalás 1945–ben [Landnahme der Sekler 1945]. F orrás 7, 1975, 3, S. 70–83 und 4, S. 59–68. Zur kritischen Auseinandersetzung mit diesem Problem siehe Tóth (wie Anm. 2), S. 56–76. 52 Vgl. BOGNÁR, Tibor: Törvényesség és törvénytelenség a hazai németek elleni eljárásban a háború elŒtti és utáni jogalkotás tükrében [Gesetzlichkeit und Gesetzwidrigkeit im Verfahren gegen die Ungarndeutschen im Spiegel der Vor- und Nachkriegsgesetzgebung]. In: Somogy Megye Múltjából 1990, S. 263–282.

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erforschen, wie viel Prozent des Bodens während der Reform v on den Deutschen beschlagnahmt wurden, und wie viel Grundbesitz ihnen während der Vertreibung und der Siedlungsaktionen weggenommen wurde. Bei einigen Gemeinden wurden zwar diese Faktoren untersucht, aber eine umfassende Analyse fehlt bis heute.53 Ein weiterer Problembereich ist ebenfalls noch unerforscht: Die konkrete Tätigkeit und die Verantwortung der politischen Führungselite. Auch die Rolle der Verwaltung sowie der Behörden auf der mitteleren (Komitats-)Ebene bei der Durchführung der Verordnung sind noch unbekannt. 54 Es ist eine Aufgabe der kommenden Jahre, diese Lücke mit detaillierten Forschungsergebnissen zu schließen.

53 Auf diesem Gebiet leistete eine internationale Forschungsgruppe die Pionierarbeit. B ORODZIEJ, Włodzimierz/LEMBERG, Hans (Hg.): „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land ge worden…“ Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945–1950. Dokumente aus polnischen Archiven. Marburg/Lahn 2000–2004. 54 Die Arbeit von András Krisch, der die Rolle des Bürgermeisters von Sopron untersucht, ist eine Pionierleistung. K RISCH, András: A soproni németek kitelepítése 1946 [Die Vertreibung der Ödenburger Deutschen 1946] Sopron 2006.

Einige Zusammenhänge zwischen der Bodenr eform und dem Wandel der Sozialstruktur im südlichen Transdanubien1 (1945–1949) Ágnes Tóth

1. Einleitung Die Errichtung der Alleinherrschaft der kommunistischen Partei bzw. die Sowjetisierung Ungarns nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erfolgte nicht aufgrund einer einzigen „Wende“, sondern ist das Ergebnis einer ganzen Reihe von radikalen Veränderungen. Dabei spielten nicht nur die internationale Politik und die Bestrebungen der So wjetunion eine bedeutende Rolle, sondern auch F aktoren des politischen Lebens in Ungarn, in erster Linie die Aktivitäten der ungarischen kommunistischen Führung. Der Wandlungsprozess war im Wesentlichen durch politische Inhalte gekennzeichnet und hatte weniger wirtschaftlichen oder kulturellen Charakter. Die Maßnahmen und Zielsetzungen in den beiden letzteren Gebieten wurden daher auch durch das Primärziel der Machterringung bestimmt. Charakteristisch war zudem, dass die fundamentalen Veränderungen rasch in schneller Abfolge nacheinander erfolgten und oftmals ohne „V ollendung“ der be gonnenen Prozesse ihr Ende f anden, weil sie v on taktischen Erwägungen – im Zuge der machtpolitischen Bestrebungen – nach kurzer Zeit in den Hintergrund gedrängt wurden. Die nach dem Krieg durchgeführte Bodenreform stellt nur ein einziges Element dieses Prozesses dar. Sie zog eine Reihe v on willkürlichen und erzwungenen Umsiedlungen nach sich und war bei jedem ihrer Schritte und auf allen Ebenen (lokal, regional und landesweit) mit der Erringung der politischen Macht, mit der Ge winnung v on Wählern und mit der ge waltsamen Umstrukturierung der bäuerlichen Gesellschaft verbunden. In der vorliegenden Studie untersuchen wir, wie die Durchführung der Bodenreform in den Komitaten Baranya, Somogy und Tolna – über die ökonomischen Gesichtspunkte hinaus – v on der Ansiedlung der Szekler aus der Bukowina und der ungarischen Flüchtlinge, vom Kampf um die Macht und von der Bestrebung, die ungarndeutsche Be völkerung zur Rechenschaft zu ziehen, beeinflusst wurde. Wir suchen auch eine Antwort auf die Frage, wie dieser Prozess die wirtschaftlichen, politischen und ethnischen Strukturen der lokalen Gemeinschaften umgestaltet hat. In unserer Untersuchung setzen wir den Schwerpunkt auf die Auswirkungen der Bodenreform, auf die Migrationsbe wegungen und auf die Veränderung der ethnischen Struktur der Gesellschaft. Zugleich müssen wir aber voranschicken, dass wir uns darüber im Klaren sind, dass die konsequente Umsetzung der Gesichtspunkte unserer Untersuchung durch mehrere Faktoren behindert wird. Zum einen führte die Tatsache, dass die Boden1

Unter dem südlichen Transdanubien verstehen wir in der v orliegenden Untersuchung – entsprechend der Verwaltungsreform von 1950 – die Komitate Baranya, Somogy und Tolna.

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reform zwar rasch durchgeführt wurde, die damit v erbundenen fachlichen Aufgaben (Landvermessung, Eintragung ins Grundbuch) sowie die Aussiedlung der ihres Vermögens beraubten Deutschen sich aber über Jahre hinzog, zu einem ständigen und intensiven Wandel in den Entwicklungsprozessen. Zum anderen sind auch die thematischen und gebietsbezogenen statistischen Angaben, die uns zur Verfügung stehen, oftmals bruchstückhaft und gegensätzlich. Die Widersprüchlichkeit der Daten geht auf die permanente Diskontinuität der Entwicklungen, auf die unprofessionelle Tätigkeit des ausführenden Apparats sowie auch auf die zwischen 1945 und 1950 durchgeführten Gebietsreformen der Verwaltung zurück. Gleichzeitig wird die Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen den während der Bodenreform durchgeführten Umsiedlungen, der Aussiedlung der Deutschen und dem ungarischslowakischen Bevölkerungsaustausch dadurch erschwert, dass es sich hierbei um parallel ablaufende, einander kreuzende, bedingende und beeinflussende Prozesse handelte, deren Abwicklung in vielen Fälle ohne jegliche rechtliche Regelung unter aktiver Teilnahme der lokalen Verwaltung, der Organe des Innenministeriums und der Parteien erfolgte. Zu Maßnahmen zur rechtlichen Kodifizierung und Stabilisierung kam es seitens der Re gierung oftmals erst asynchron zu den Entwicklungen und mit beträchtlicher Verspätung. Im Anschluss an die Bodenreform wurden – wie die Durchführungsbestimmungen und die Archivquellen bezeugen – auf Gemeindeebene umf assende statistische Erhebungen über die von 1945 bis 1949 erfolgten Veränderungen der Besitzund Be völkerungsstrukturen durchgeführt. Zu deren Auswertung ist es – unseres Wissens nach – bislang aber nicht gek ommen. Den F orschern stehen nicht einmal die Datenblätter der statistischen Erhebungen zur Verfügung.2 Vorhanden sind allerdings verschiedene Aufstellungen, die von den Leitern der lokalen Verwaltung oder von den Experten, die die Ansiedlungen durchführten, angefertigt wurden. Diese enthalten zwar keine direkt vergleichbaren Angaben, aufgrund ihrer Ausführlichkeit sind sie aber durchaus dazu geeignet, gesellschaftliche Veränderungen auf lokaler und regionaler Ebene fassbar zu machen. Unserer Meinung nach sollten möglichst viele Untersuchungen auf der Gemeinde- und Komitatsebene durchgeführt werden, um auch über die landesweiten Prozesse zuverlässigere, die regionalen Unterschiede widerspiegelnde Gesamtanalysen zu unserem Thema anfertigen zu können. 2

Die Daten der statistischen Erheb ungen von 1949 könnten uns ein einmalig detailliertes Bild über die Zusammenhänge zwischen den wirtschaftlichen, den ethnischen und den Migrationsprozessen liefern. Anhand der Datenstruktur könnten wir auch die Gesichtspunkte k ennen lernen, die die ungarische Regierung hinsichtlich der Ergebnisse der Prozesse in Betracht zog. Im Zuge der Erhebung wurden in den von der Bodenreform betroffenen Siedlungen die Daten über die Besitzstrukturen, über die Verteilung der Anbauzweige und über die Größe der im Zuge der Bodenreform in Anspruch genommenen Böden gemäß dem Anbauzweig registriert. Die Größe der von den Deutschen beschlagnahmten Böden wurde gesondert aufgeführt. Die Zuteilungen wurden nicht nur gemäß dem Anbauzweig detailliert aufgeführt, sondern auch nach der Gruppenzugehörigkeit der Begünstigten (Ortsansässige, Inländer, Flüchtlinge, organisiert Umgesiedelte). Gesondert wurden auch die statistischen Indikatoren des Besitzes der Slowaken bzw. der Slowakeiungarn registriert. Das Verzeichnis enthielt auch detaillierte Angaben über den Immobilienbesitz an Häusern sowie eine Sammlung von bevölkerungsstatistischen Angaben über die jeweilige Ortschaft, wobei die einzelnen Nationalitäten gesondert aufgeführt wurden.

Einige Zusammenhänge zwischen der Bodenreform und dem Wandel der Sozialstruktur

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2. Über den Ablauf der Bodenreform Während des Krie ges herrschte bei allen politischen Kräften mit Ausnahme der konservativen Strömungen Übereinstimmung darüber , dass die Veränderung der Agrarstrukturen in Ungarn eine unaufschiebbare historische Aufgabe darstelle. Die sozialen Probleme, die we gen des F ortbestandes des halbfeudalen Großgrundbesitzes und der beträchtlichen Polarisierung der Bauernschaft in Erscheinung traten, aber auch die Probleme der Landwirtschaft hinsichtlich ihrer Betriebs- und Produktionsstrukturen sowie des Absatzmarktes signalisierten, dass die Veränderungen unaufschiebbar w aren. Der Be ginn der landwirtschaftlichen Produktion so wie das entschiedene und ungeduldige Verlangen bei der ländlichen Be völkerung machte eine rasche und radikale Veränderung der Eigentumsverhältnisse in der Landwirtschaft notwendig. Die Vorstellungen der einzelnen politischen P arteien über die Bodenreform wurden in besonderem Maße dadurch beeinflusst, ob sie bei der Ausarbeitung ihrer Konzepte in erster Linie ökonomisch-praktische oder politische Gesichtspunkte vor Augen hatten. Die wirtschaftliche Rationalität fand vor allem bei den Vorstellungen der Unabhängigen Kleinlandwirtepartei (FKGP) Berücksichtigung. Diese strebte an, die existierenden Besitzverhältnisse zu modernisieren, die klein- und mittelbäuerlichen Besitzungen zu stärken und ihre Produktivität zu erhöhen. In diesem Sinne empfahl die FKGP, für die Bodenreform ausschließlich Besitzungen über 300 oder 500 Katastraljoch 3 heranzuziehen, an der Boden verteilung interessierte Personen aus ihrer Durchführung auszuschließen und im Interesse der Verhinderung einer Besitzzersplitterung den Bodenerwerb v on besitzlosen Bauern zu be grenzen. Die Sozialdemokratische Partei (SZDP) befürwortete die Enteignung von Besitztümern mit mehr als 200 Katastraljoch und strebte lediglich im Falle von Kirchenbesitz und bei Majoratsgütern eine vollständige Enteignung an. Zudem le gte sie auch großen Wert auf die Frage der Entschädigung. Die radikalsten Vorstellungen v ertrat die Nationale Bauernpartei (NPP). Deren Pläne wurden auch von der Kommunistischen Partei (MKP) unterstützt, allerdings lediglich unter taktisch moti viertem, vorübergehendem Bruch mit ihren bisherigen Zielsetzungen. In der Verordnung Nr. 600 des Ministerpräsidenten aus dem Jahre 1945, die von der Pro visorischen Nationalregierung am 17. März angenommen wurde und die Auflösung des Großgrundbesitzes und die Zuteilung von Boden an das Landarbeitervolk verfügte, spiegelte sich im Wesentlichen die radikale Variante der NPP wider. Diese zielte darauf ab, die aufgestauten sozialen Spannungen zu lindern und gleichzeitig die Wählerbasis der Bauernpartei und der Kommunistischen Partei auszuweiten. Die ökonomische Zweckmäßigkeit der Reform ließ sie in vielerlei Hinsicht aber außer Betracht. 4 Laut der Bodenreform-Verordnung waren das Grundeigentum der Kriegsverbrecher, der Pfeilkreuzler und anderer nationalsozialistischer Führer sowie der Boden der Mitglieder des Volksbundes vollständig zu enteignen. Gegen Entschädigung war auch der Besitz des Adels, der 100 Katastraljoch über 3 4

Ein Katastraljoch entspricht 0,58 Hektar. Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], 1945, Nr. 10.

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stieg, und der Besitz v on Großbauern, der über 200 Katastraljoch lag, für die Bodenreform in Anspruch zu nehmen. Großgrundbesitz über 1.000 Katastraljoch war gänzlich und entschädigungslos zu enteignen. Die Verordnung eröffnete die Möglichkeit, neben dem Gesinde und den Landarbeitern auch Bauern zur Er gänzung ihres Besitzes landwirtschaftliche Flächen zu übereignen. Mit der Durchführung der Bodenreform betraute man nicht den F achapparat der Verwaltung, sondern die interessierten Personen selbst. Zur Abwicklung der Bodenverteilung rief man sogenannte Volksorgane – die „Lokalen Ausschüsse der Antragsteller auf Bodenzuteilung“ (FIB), die „K omitatsräte zur Regelung des Bodenbesitzes“ (MFT) und den „Landesrat zur Re gelung des Bodenbesitzes“ – ins Leben. Die Aufgabe der Besitzübertragung, also die Landvermessung und die Eintragung ins Grundb uch, erledigten die Grundb uchämter der K omitate, die neben den Komitatsräten zur Regelung des Bodenbesitzes gegründet wurden.5 Laut den Durchführungsbestimmungen der Verordnung musste in jeder Ortschaft ein Ausschuss aus dem Kreise der Personen, die Boden beanspruchten, gebildet werden. Dieser galt in rechtlicher Hinsicht als staatliche Körperschaft. Zu seinen wichtigsten Aufgaben zählten die Re gistrierung des zu enteignenden Grund und Bodens sowie die Entscheidung darüber, welche Flächen gegen Entschädigung bzw. entschädigungslos zu enteignen w aren. Gleichzeitig hatten sie auch die Aufgabe, eine Liste der Antragsteller zusammenzustellen und über ihre Anträge zu entscheiden.6 Die Lokalen Ausschüsse der Antragsteller auf Bodenzuteilung w aren anfänglich vor allem dazu berufen, über die Berechtigung der örtlichen Antragsteller zu entscheiden. Im Rahmen dieses Verfahrens hatten sie sich nicht nur um die F orderungen der alteingesessenen Bevölkerung zu kümmern, sondern auch um die Zuteilung von Boden und Wohnungen an die sich dort aufhaltenden oder bereits dort wohnenden Flüchtlinge. Wegen der ungleichmäßigen Besitzverteilung innerhalb Ungarns und der großen Zahl von Antragstellern kam es im Zuge der Bodenreform auch dazu, dass Antragsteller, deren Ansprüche an ihren eigenen Wohnorten nicht erfüllt werden konnten, planmäßig in andere Gebiete des Landes umgesiedelt wurden. Aufgrund dessen entwickelte sich eine ziemlich starke Bevölkerungsbewegung, die vor allem aus den nördlichen Gebieten Ungarns so wie aus den Gebieten jenseits der Theiß in Richtung der von Ungarndeutschen bewohnten Dörfer bzw. Landesteile drängte. Der Personenkreis für die innerungarische Umsiedlung wurde mittels Anwerbung rekrutiert. Zwar konnten sich hierzu offiziell nur „in der Landwirtschaft tätige, über keinen Boden verfügende, kinderreiche und politisch zuv erlässige“ Personen bewerben, in der Praxis war allerdings die parteipolitische Zuverlässigkeit das einzige Kriterium für eine Umsiedlung. In vielen Fällen bewarben sich auch Personen, die von Landwirtschaft nichts verstanden bzw. zuvor niemals einer entsprechenden 5

Die Lokalen Ausschüsse der Antragsteller auf Bodenzuteilung und die Räte zur Re gelung des Bodenbesitzes wurden 1947 aufgelöst. Ihre Rechtsnachfolger w aren die Grundbuchämter der Komitate. 6 V ÖRÖS, Károly (Hg.): A magyar állam szervei 1944–1955 [Die Organe des ungarischen Staates 1944–1955]. Bd.1. Budapest 1985, S. 173.

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Tätigkeit nachgegangen waren. Oftmals zogen diese Personen auch nach einigen Monaten, nachdem sie das Vermögen der Schw aben v erlebt hatten, an ihre ur sprünglichen Wohnorte zurück. Die Personen, die sich für eine freiwilligeAnsiedlung beworben hatten, strebten in den Ausschüssen der Antragsteller auf Bodenzuteilung oftmals nach einer besonders gewichtigen Rolle. Dieses Verhalten führte v or allem in Gemeinden mit gemischter Bevölkerung zu Konflikten zwischen der „Urbevölkerung“ und den Neusiedlern.7 Die örtlichen Selbstv erwaltungen und die Bezirksv orsteher standen zudem den freiwillig-willkürlichen Boden- und Hausbesetzungen der letzteren Gruppe völlig unvorbereitet gegenüber. Im Sommer 1945 war bereits abzusehen, dass – über den Besitz von Angehörigen des Volksbundes hinaus – weiterer v erteilbarer bzw. aufteilbarer Grundbesitz notwendig war, denn die Ansiedlung der Personen, die in Ungarn auf Boden w arteten, war bei weitem noch nicht abgeschlossen. Dies bedeutete, dass weitere Ansiedlungen aufgrund des Mangels an Boden bzw. ohne Ausweitung des zu beschlagnahmenden Grundbesitzes nicht durchführbar waren. Gleichzeitig wurde die Tätigkeit der Ausschüsse der Antragsteller auf Bodenzuteilung und der Räte zur Re gelung des Bodenbesitzes allgemein heftig kritisiert. Die unfachmännische Durchführung der Ansiedlungen, ihre Verzögerung und der Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion drängten nach einer Korrektur der Bodenreform und insbesondere der Art und Weise ihrer Durchführung. Anfang 1946 kristallisierten sich zwei gegensätzliche Standpunkte heraus: Gemäß dem einen sollte die verwirklichte Bodenreform im Wesentlichen gemäß dem tatsächlichen Zustand „abgese gnet“ werden, gemäß dem anderen sollte eine Re vision im Sinne der geltenden Rechtsnormen durchgeführt werden. Vor dem Hintergrund der Machtverhältnisse einigten sich die Parteien schließlich auf folgenden Kompromiss: Mit dem Gesetz Nr. IX des Jahres 1946 bekräftigten sie das Eigentumsrecht der Be günstigten an dem v on ihnen in Besitz genommenen Boden. Außerdem verboten sie allgemein den Rückkauf v on Boden, der v or dem 1. Januar 1946 v erteilt worden war, machten aber eine Ausnahme bei enteigneten bäuerlichen Besitzungen unter 50 Katastraljoch. Bei den in der F olgezeit durchgeführten Bodenzuteilungen f anden dann auch ök onomische Gesichtspunkte größere Beachtung und bezüglich der Grundbucheintragungen, die in Zusammenhang mit der Reform standen, wurde eine strengere Fachaufsicht versprochen.8 Im Zuge der Bodenreform wurden in Ungarn 75.500 Grundbesitztümer enteignet und dabei 35 Prozent der 16 Millionen Katastraljoch landwirtschaftlichen Bodens in Anspruch genommen. Die Größe des Besitzes der Personen, die Boden er hielten, betrug durchschnittlich 5,1 Katastraljoch. Zu den Be günstigten zählten 48 Prozent der Arbeiter in der Landwirtschaft, 53 Prozent der Knechte und Mägde 7

Magyar Országos Levéltár [Ungarisches Staatsarchiv, fortan MOL), Akten des Amts für Volksfürsorge des Innenministeriums, Signatur 693/1945. 8 S ZAKÁCS, Sándor: A földreform és a kisüzemi mez Œgazdaság 1945–1948 [Die Bodenreform und die kleinbetriebliche Landwirtschaft 1945–1948]. In: O ROSZ, István/F ÜR, Lajos/R OMÁNY, Pál (Hgg.): Magyarország agrártörténete. Agrártörténeti tanulmán yok [Agrar geschichte Ungarns. Agrargeschichtliche Studien]. Budapest 1996, S. 437–483, hier S. 441.

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sowie 56 Prozent der Besitzer von Zwergwirtschaften. Von den 750.000 eingereichten Anträgen wurden 663.000 als berechtigt anerkannt. Die Zahl der Personen, die Zuteilungen erhielten, belief sich allerdings auf nur 642.342. Von den 350.000 Personen, die Grund für den Hausbau beantragten, erhielten 150.000 Antragsteller 1.500 bis 3.000 Quadratmeter große Flächen.9 Die Bodenreform verringerte zwar die früheren Disproportionen beim Grundbesitz, sie wurde aber nicht v on einer umfangreichen Agrarreform begleitet, da sie vor allem dem Ziel diente, die sozialen und politischen Spannungen zu v erringern. Infolge der Reform v eränderte sich die innere Struktur der bäuerlichen Gesellschaft Ungarns in bedeutendem Maße. Innerhalb der Agrarbevölkerung fiel der Anteil der Besitzlosen von 46 Prozent (1941) auf 17 Prozent, der Anteil der Zwerg- und Kleinbauern stieg von 47 Prozent auf 80 Prozent. Diese Gruppe wurde somit zur entscheidenden Schicht der ungarischen Agrargesellschaft. Der Anteil der reichen Bauern sank von 7 Prozent auf 2,9 Prozent. Die Bodenreform stärkte gleichzeitig in der Bauernschaft das Eigentümerbe wusstsein und eröf fnete dem traditionellen bäuerlichen Lebensweg neue Perspektiven. Allerdings fehlte einem beträchtlichen Teil der zu Boden gelangten Bauern das entsprechende Fachwissen, das notwendige Betriebskapital und die grundle genden Mittel zum Wirtschaften. Sie w aren dementsprechend auch langfristig nicht in der Lage, eine selbständige bäuerliche Wirtschaft zu führen.10

3. Die Durchführung der Bodenreform im südlichen Transdanubien 3.1. Siedlungsbewegungen auf Komitats- und Landesebene Die Durchführung der Bodenreform von 1945 weicht im südlichen Transdanubien in mehrerlei Hinsicht von den Geschehnissen in anderen Teilen Ungarns, insbesondere in den Komitaten der Großen Ungarischen Tiefebene (Alföld) und jenseits der Theiß, ab. Die Unterschiede ergeben sich aus der geographischen Lage der Region sowie aus der ethnischen Zusammensetzung ihrer Be völkerung. Auf den ethnisch bunt gemischten, v on verschiedenen Nationen be wohnten Gebieten im südlichen Transdanubien lebte vor 1944/1945 ein bedeutender Teil der Ungarndeutschen. In den einzelnen Siedlungen war ihr Anteil an der Gesamtzahl der Bewohner wesentlich höher als in der Großen Ungarischen Tiefebene. Im K omitat Baranya gab es 1941 110 Siedlungen, in denen die Deutschen in der Mehrheit w aren. Von diesen hatten allerdings mehr als 80 weniger als 1.000 Einw ohner. Noch k onzentrierter wohnten die Deutschen im Komitat Tolna. Dort stellte die deutsche Nationalität in 30 der 50 von Deutschen bewohnten Dörfern einen Anteil von 90 Prozent oder mehr der Gesamteinwohner. Gleichzeitig ist in diesem Komitat auch die Zahl der Zwerg9

PETÃ, Iván/S ZAKÁCS, Sándor: A hazai gazdaság négy évtizedének története [Geschichte v on vier Jahrzehnten der ungarischen Wirtschaft]. Bd.1. Budapest 1986, S.38. 10 V ALUCH, Tibor: Magyarország társadalomtörténete a XX. században [Sozialgeschichte Ungarns im 20. Jahrhundert]. Budapest 2001, S. 190 f.

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siedlungen geringer. Auch hinsichtlich der Wirtschaftsweise bestanden beträchtliche Unterschiede. In Transdanubien gab es zwar mehr Großgrundbesitz, die Größe der Besitzungen, die sich im Eigentum v on selbständig wirtschaftenden Bauern befanden, war aber kleiner als in der Großen Ungarischen Tiefebene oder in der Gegend jenseits der Theiß. Aufgrund der günstigen klimatischen Bedingungen, der Größe des Grundbesitzes und der guten Qualität der Böden wurde im südlichen Transdanubien intensiver Obst- und Weinanbau betrieben. Eine bedeutende Rolle spielte auch die Tierzucht, die Milchwirtschaft und die Fleischverarbeitung. In der Großen Ungarischen Tiefebene war auf den schlechteren Flugsandböden – neben dem Obst- und Weinbau – der Ackerbau (Mais, Weizen) weit v erbreitet und auch der Anteil des mittleren Grundbesitzes, also v on bäuerlichen Wirtschaften mit 25 bis 50 Katastraljoch, war größer. In der Endphase des Zweiten Weltkrieges hatte die Bevölkerung des südlichen Transdanubiens aufgrund der zeitweilig festgefahrenen Fronten an der Südseite des Plattensees länger unter den Einflüssen des Krie ges zu leiden. Dementsprechend wurde hier auch die Verwaltung später or ganisiert und die Bodenreform später durchgeführt. Zudem w ar die Zahl der geflohenen Einwohner beträchtlich. Nach einer Statistik, die Anfang 1945 v on den Leitern der Lokalv erwaltungen – nicht aufgrund von Aussagen der Bevölkerung, sondern entsprechend Schätzungen durch die Behörden – erstellt wurde, verringerte sich die Gesamtbevölkerung im Vergleich zu den Volkszählungsdaten von 1941 im K omitat Baranya (ohne die Stadt Pécs/ Fünfkirchen) um 11 Prozent, im Komitat Somogy um 13,6 Prozent und im Komitat Tolna um 11,7 Prozent. Die nach Nationalitäten differenzierten Daten zeigen auch, dass sich in erster Linie die Zahl der Personen mit deutscher Muttersprache radikal verringert hatte, im Komitat Baranya um 43,8 Prozent, im K omitat Tolna um 55,2 Prozent.11 Es ist allerdings zu v ermuten, dass die in diesen Zahlen zum Ausdruck gebrachte Abnahme der deutschen Bevölkerung übertrieben ist. Es ist zwar gewiss, dass eine beträchtliche Zahl v on Deutschen dieses Gebiet 1944/1945 v erließ, es kann aber auch vermutet werden, dass die hohe Zahl dazu dienten sollte, die in der Gegend v erbliebenen Deutschen statistisch zu „v erstecken“ und so v or antideutschen Maßnahmen zu schützen.12 Die Tatsache, dass sehr viele Deutsche das südlicheTransdanubien bereits während der Krie gshandlungen endgültig v erlassen hatten, bedeutete auch, dass die Durchführung der Bodenreform in dieser Re gion – über die rechtlichen Möglichkeiten hinaus – besonders zu Lasten der Be völkerung deutscher Nationalität erfolgen konnte. Da sich nämlich der Umfang der verteilbaren Bodenflächen ungarnweit als unzureichend erwies, wurde eine Ausweitung der Enteignungen notwendig. 11 Zum Komitat Somogy verfügen wir über keine Angaben. 12 F ÜZES, Miklós: A népesség száma, an yanyelvi és nemzetiségi me goszlása Baranya járásaiban 1941–ben, nemzetiségi me goszlása 1945–ben [Be völkerungszahl und Verteilung der Mutter sprache und Nationalität in den Bezirken des Komitats Baranya 1941, Verteilung der Nationalitäten 1945]. In: S ZITA, László (Hg.): Baran yai helytörténetírás 1980 [Lokalgeschichtsschreibung in der Baranya 1980]. Pécs 1981, S. 533–580; FÜZES, Miklós: Forgószél. Be- és kitelepítések Délkelet-Dunántúlon 1944–1948 között [Wirbelwind. An- und Aussiedlungen im südöstlichen Transdanubien zwischen 1944 und 1948]. Pécs 1990, S. 12 f.

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Hierzu schien der Besitz der deutschen Nationalität, in deren Eigentum sich beträchtlicher Ackerboden befand, besonders willk ommen gewesen zu sein. Mit der Aufnahme der Volksbundmitgliedschaft als Kriterium für eine Enteignung in die Verordnung zur Bodenreform konnte der Umfang der verteilbaren Bodenflächen in großem Umfang ausgeweitet werden. Im F alle der Deutschen wurde so nicht nur auf die Feststellung der individuellen Verantwortung verzichtet, sondern zudem die Zugehörigkeit zur Gruppe der Volksbundmitglieder – da die Volksbund-Listen den Behörden nicht oder nur un vollständig zur Verfügung standen – so definiert, dass der Kreis der Betroffenen im Bedarfsfall ausgeweitet werden konnte. Die Ausschüsse der Antragsteller auf Bodenzuteilung bildeten sich im südlichen Transdanubien Ende Mai 1945 und entwick elten sich bereits in den ersten Monaten zu den wichtigsten Akteuren der wirtschaftlichen Interessendurchsetzung. In den Gemeinden der deutschen Nationalität entstand eine eigentümliche Situation. Die Verordnung zur Bodenreform unterschied nämlich bei den besitzlosen und kleinbäuerlichen Antragstellern nicht nach ihrer nationalen Zugehörigk eit, so dass selbstverständlich auch Ungarndeutsche Platz in den Ausschüssen bekommen konnten. Der Landesrat zur Re gelung des Bodenbesitzes v ersuchte dies in seinem Kompetenzbereich allerdings zu v erhindern: Bereits im Voraus ließ er in vielen Gemeinden mit deutscher Mehrheit die Tätigkeit der Ausschüsse suspendieren und löste später auch andere Organisationen der Gemeindeautonomie auf.13 Obwohl die Verordnung zur Bodenreform nur ein Verfahren gegenüber Individuen möglich machte, war in den Durchführungsbestimmungen – nicht einmal verdeckt – alleine schon die Zugehörigkeit zur deutschen Nationalität ausreichend, um einen Rechtsnachteil zu erleiden. In den v on Deutschen be wohnten Gemeinden diente die Suspendierung der Tätigkeit der Ausschüsse nicht nur dem Ziel, die eigentlich berechtigten F amilien aufgrund ihrer deutschen Nationalität v on den Zuteilungen auszuschließen, sondern es sollte auch das Ziel der K ommunistischen Partei gefördert werden, F amilien des Landproletariats aus den Ge genden jenseits der Theiß in der Großen Ungarischen Tiefebene bzw. in Transdanubien anzusiedeln. Mit dieser Vorgehensweise bezweckte die Partei mit Blick auf die Parlamentswahlen im Herbst 1945, ihre Wählerbasis auszuweiten. In Gemeinden mit ethnisch gemischter Be völkerung wurde die politisch-wirtschaftliche Interessendurchsetzung zu einem Schauplatz nationalitätenspezifischer Bestrebungen. Vor allem in Gemeinden, die von Bunjewatzen und Kroaten bewohnt wurden, war festzustellen, dass ihre Angehörigen danach strebten, in den sich neu bildenden Leitungsgremien der Gemeinden eine he gemoniale Position einzunehmen. Sie erzwangen dort eine – verglichen mit ihrem Bevölkerungsanteil – einflussreichere Repräsentation, um sich vor allem wirtschaftliche Vorteile zu sichern. Anfang Juli 1945 wurde der K ompetenzbereich des Amts für Volksfürsorge, das im Mai 1945 mit der Aufgabe gegründet w orden w ar, die aus den Nachbar staaten ankommenden Flüchtlinge anzusiedeln und die geplante Aussiedlung der Deutschen durchzuführen, ausgeweitet. Unter Leitung des Amts wurde nun damit 13 MOL, Akten des Amts für Volksfürsorge des Innenministeriums, Signatur 628/1945.

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begonnen, die Frage der „nationalen Treue“ der Ungarndeutschen zu untersuchen, und es wurde ihm auch die Aufgabe übertragen, die innerungarische Umsiedlung von Bevölkerungsgruppen durchzuführen. Mit der Einführung dieser Neuerungen wurden im Wesentlichen zwei Ziele v erfolgt: Zum einen beabsichtigte man, möglichst viele Ungarndeutschen für die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges zur Rechenschaft zu ziehen, zum anderen w ollte man die v ermögensrechtlichen Einschränkungen, die Bodenenteignungen sowie die individuellen und die Gruppenansiedelungen „synchronisieren“ und unter Kontrolle halten. Die Beurteilung aller Personen deutscher Nationalität, die das 16. Lebensjahr vollendet hatten, nach dem Gesichtspunkt der „nationalen Treue“ (bzw. ihre Kategorisierung als Volksbund-Leiter, -Mitglied, -Sympathisant usw.) machte verschiedene vermögensrechtliche Sanktionen möglich. Damit schuf die Regierung die Basis für diejenigen Bodenzuteilungen, die für die Fortsetzung der Ansiedlungen notwendig waren. Parallel zur Ausweitung der Aufgaben des Amts für Volksfürsorge kam es allerdings zu k einer Trennung und Präzisierung der Ansiedlungskompetenzen. Dies induzierte permanente Konflikte zwischen den beteiligten Organisationen (FIB, MFT, OFT, Amt für Volksfürsorge) und machte es möglich, dass bei der Durchführung nicht auf die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen geachtet werden musste und die politischen Parteien direkt intervenieren konnten. Das Amt für Volksfürsorge w ar zudem nicht in der Lage, die bereits be gonnenen Prozesse, insbesondere die unrechtmäßigen Enteignungen und Zuteilungen der lokalen Ausschüsse so wie die Ansiedlungsaktionen v on Einzelpersonen, zu steuern. Der Außenstellenleiter des Amts im Komitat Baranya betrachtete, wie aus seinem Bericht hervorgeht, folgende Sachverhalte als die größten Probleme bei den Ansiedlungen: Die Ausschüsse der Antragsteller auf Bodenzuteilung w aren sich über die Rechtsnormen nicht im Klaren; währenddessen hielten die Leiter der Ausschüsse „eine Macht in ihren Händen, die sie sehr oft zu ihr Gunsten missbrauchen konnten und dies auch taten“; außerdem nutzten in den v on Deutschen bewohnten Gemeinden auch die Ausschüsse der Antragsteller auf Bodenzuteilung ihre Macht, um als Schw aben ihr Vermögen zu retten. Aufgrund dieses Sachv erhalts löste der Außenstellenleiter in zahlreichen Gemeinden die Ausschüsse auf und setzte neue, nur aus Ungarn gebildete Ausschüsse ein. In vielen Fällen w ar dies aber nur so möglich, dass nicht Ortsansässige, sondern Be wohner anderer Orte innerhalb des Komitats die Ausschüsse der Antragsteller auf Bodenzuteilung bildeten. In jenen Gemeinden, in denen neueAusschüsse gebildet wurden, bestätigte man die früheren Enteignungen, ließ die Zuteilungen durch die neuen Gremien aber überprüfen, da bei diesen – angeblich – die ungarischen Interessen nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt worden seien. Im Komitat Baranya gab es kaum Flächen, die für die Ansiedlung von Gruppen geeignet w aren, denn entweder w ar die Zahl der ortsansässigen Antragsteller zu hoch oder es war zuvor zu zahlreichen willkürlichen Ansiedlungen gekommen. In der Gemeinde Bikal – so schrieb ein Mitarbeiter des Amts für Volksfürsorge – „gibt es gegenwärtig keine Siedlungsmöglichkeiten, weil die zur Verfügung stehenden Immobilien nur die Ansprüche des ortsansässigen ehemaligen Gesindes und der Landarbeiter befriedigen. Hinsichtlich der Häuser ist hier die Nachfrage

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bereits größer, als die Zahl der zur Verfügung stehenden Gebäude. In der Gemeinde Alsómocsolád dient eine Fläche von 570 Katastraljoch, die Gegenstand der Enteignungen bildete, der Befriedigung der Bodenforderungen der ortsansässigen, rein ungarischen Bewohner.“14 Die Ausschüsse, die die „nationale Treue“ bescheinigen sollten, hatten auch die Aufgabe zu „helfen“, die Aktivitäten der Selbstv erwaltungen in den betrof fenen Gebieten mittels neuerlicher Verordnungen einzuschränk en. Die Verordnung Nr. 9.560 des Ministerpräsidenten der Pro visorischen Nationalregierung aus dem Jahre 1945, aufgrund derer die Tätigkeit verschiedener Gremien in den einzelnen Komitaten sowie in den größeren und kleineren Gemeinden suspendiert und für die Verabschiedung der damit zusammenhängenden besonderen Verwaltungsvor15 schriften gesorgt wurde, trat am 15. Oktober 1945 in Kraft. Folgende restriktive Maßnahmen wurden durchgeführt: Zeitgleich mit dem Inkrafttreten der Verordnung suspendierte man in den K omitaten Tolna und Baranya die Tätigkeit der Munizipien. Der Innenminister wurde ermächtigt, in jedem Ort des Landes, in dem die genannten Siedlungs- und Zusammenzugsv erfahren in Gange waren, die Tätigkeit der örtlichen Vertretungskörperschaften einzustellen. Es bedarf kaum näherer Erläuterung, dass sich der Staat mit derAneignung des Rechts auf Suspendierung und Ernennung der Selbstv erwaltungsgremien die Möglichkeit sicherte, die geplanten Rechtsbeschränkungen mittels einer möglichst geringen gesellschaftlichen Kontrolle durchzuführen. Diesem Ziel diente auch die Möglichkeit, Beamte ohne jegliche Begründung zu versetzen. So konnte der Innenminister – und in ge wissen Grenzen auch der Vizegespan – frei über dieVersetzung der Beamten in den Komitaten Tolna und Baranya – sowohl innerhalb des je weiligen Komitats als auch zwischen den beiden K omitaten – verfügen. Obwohl eine derartige Versetzung nicht begründet werden musste, konnte sich der Beamte dieser nicht widersetzen. Auch der folgende Paragraph der Verordnung war kaum f assbar und bot breiten Raum für willkürliche Interpretationen: „Der Innenminister kann die Beamten der Komitate Tolna und Baranya sowie jene Beamten v on Groß- und Kleingemeinden, in denen die Tätigkeit der Vertretungskörperschaft suspendiert wurde, mit sofortiger Wirkung aus dem Dienst entlassen, wenn der betrof fene Beamte sich unter den besonderen Verhältnissen als unfähig zur Ausübung seinen Amtes erweist.“ Obwohl in dieser Verordnung nur die Komitate Tolna und Baran ya – als Gebiete mit den umf angreichsten deutschen Minderheiten – aufgeführt w aren, bezog sich die Rechtsnorm selbstv erständlich auch auf die anderen betroffenen Städte und Gemeinden. Im Laufe des Herbst 1945 sprach das Amt für Volksfürsorge gegenüber den Gemeinden reihenweise die Suspendierung ihrer Autonomie aus. Häufig gab es auch Anzeigen und Beschuldigungen. In Mágocs wollte der Lokale Ausschuss der Antragsteller auf Bodenzuteilung bei den Enteignungen die vom Nationalausschuss zusammengestellte Volksbund-Liste nicht berücksichtigen, weil 14 Baranya Megyei Levéltár [Archiv des Komitats Baranya, fortan BML]. Akten der Außenstelle des Amts für Volksfürsorge im Komitat Baranya 1/1945. 15 Magyar Közlöny [Ungarisches Amtsblatt], Nr. 154, 1945.

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seiner Meinung nach die tatsächliche Mitgliedschaft der darin aufgeführten Per sonen nicht glaubwürdig nachzuweisen w ar. Zu diesem Zeitpunkt hielt sich aller dings bereits eine Gruppe von Siedlern aus Kiskundorozsma in der Gemeinde auf, denen aus diesem Grund k ein Besitz übertragen werden k onnte. „Am Freitag vormittags kam ein Teil der Siedler aus Kiskundorozsma in Mágocs an. Eine Nacht lang habe ich sie gruppenweise in leeren Häusern untergebracht. Die Mitglieder des Volksbundes mussten am Samstag bis 10 Uhr ausziehen, w as bis auf wenige Ausnahme auch geschah. Die Polizei hat anschließend auch diese ausquartiert. […] Da ein Großteil der Volksbündler nicht nur das mitgenommen hat, worüber er frei verfügen k onnte, ließ ich mit polizeilicher Ermächtigung unter Trommelschlag verkünden, dass derjenige, der Vieh und Ernte usw . nicht zurückbringt und bei dem etwas gefunden wird, interniert wird.“16 Zu umfangreicheren Gruppenansiedlungen kam es in den Gemeinden des Bezirks Villány (10 Familien in Villány, 10 in Ivánbattyán, 20 in Pócsa, 25 in Ivándárda, 25 in Illocska, 25 in Újpetre, 25 in Lippó, 20 in Németmárok und 40 in Kiskassa). Dorthin waren im Sommer 1945 200 Familien aus EndrŒd eingetroffen.17 Auf Besprechungen des Amts für Volksfürsorge wurde hinsichtlich der Ungarndeutschen mehrfach folgendermaßen argumentiert: „Bei der Lösung der Schwabenfrage muss unbedingt beachtet werden, dass nicht nur ausgesprochene Volksbündler den ungarischen Landlosen geschadet haben, sondern auch jene, die eine solche Haltung nicht explizit zum Ausdruck gebracht haben. Sie w aren insgeheim noch viel schädlicher .“18 Bei einer derartigen Argumentationsweise ist es nicht überraschend, dass auch die Mitarbeiter desAmts für Volksfürsorge in vielen Fällen ungenau, willkürlich und unor ganisiert arbeiteten. Vielerorts führten sie noch v or den Beschlüssen zur Vermögensenteignung der Bezirksausschüsse, die die „nationale Treue“ untersuchten, Ansiedlungen durch. In andere Gebiete wurde ein Vielfaches derjenigen Personen, die in den je weiligen Gemeinden angesiedelt werden könnten, geleitet. Bei den Handlungen der Beamten, die über eine sehr unterschiedliche Arbeitsmoral und über sehr v erschiedene parteipolitische Einstellungen v erfügten, spielten die direkten Anweisungen und Bestrebungen der jeweiligen Partei und nicht die rechtliche Reguliertheit oder die Sachgerechtigkeit eine dominierende Rolle. Jene Mitarbeiter des Amts, die sich bei ihrer Arbeit um die Einhaltung der Gesetzmäßigkeit bemühten, gerieten selbst f allweise in eine schwierige Situation und v erließen die Or ganisation zumeist. Obw ohl es erst 1948, nach der tatsächlichen Besitzübertragung, zu einem endgültigen Abschluss der innerungarischen Ansiedelungen und Niederlassungen kam, war ihre überwiegende Mehrzahl in der Zeit vom März 1945 bis zum Sommer 1946 erfolgt. Im Zuge dieser Migrationsprozesse wechselten etwa 120.000 bis 130.000 Personen ihren Wohnort.19

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BML, Akten der Südungarischen Außenstelle des Amts für Volksfürsorge 7/1945. BML, Akten der Südungarischen Außenstelle des Amts für Volksfürsorge 6/1945. BML, Akten der Südungarischen Außenstelle des Amts für Volksfürsorge 48/1945. Gemäß den Angaben des Amts für Volksfürsorge vom Juli 1946 übersiedelten im Komitat Baranya bis zu diesem Zeitpunkt 608 Familien innerhalb des Komitats. Die Gesamtzahl der Familien, die sich niedergelassen hatten, betrug 6.135. Davon waren 2.955 ortsansässige Antragstel-

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Untersucht man die ursprüngliche Herkunft der Siedler und die Orte ihrer Ansiedlungen, dann kann eindeutig festgestellt werden, dass sich – v or allem in den ersten Monaten – die inländische Migration, aus den Gebieten jenseits der Theiß und aus Nordungarn, wo in beiden Fällen kaum verteilbarer Grundbesitz zur Verfügung stand, auf die südlichen Gebiete Transdanubiens sowie auf das Gebiet zwischen Donau und Theiß richtete. Gleichzeitig entfaltete sich in einzelnen Gebieten Ungarns auch k omitatsintern eine beträchtliche Be völkerungsbewegung. Bereits vor dem Beginn der Aussiedlung der Schwaben hatte sich die ursprüngliche Bevölkerungszusammensetzung der betroffenen Gebiete in entscheidender Weise verändert. Da sich ein beträchtlicher Teil der Siedler zuvor nicht mit landwirtschaftlicher Produktion befasst hatte, wäre es notwendig gewesen, diese entsprechend auszubilden und ihre agrarische Tätigkeit zu organisieren. Beides aber unterblieb. Aufgrund der Zeitnot und unzulänglicher Vorbereitung berechneten die Urheber der Verordnung weder die Größe des verteilbaren Grundbesitzes, noch die Zahl der Antragsberechtigten. Dementsprechend stellten Widersprüche zwischen den Möglichkeiten und Zielsetzungen v on Anfang an ein grundle gendes Problem dar, das durch die unzulänglich gere gelte bzw. unkontrollierte Prozedur der Durchführung nur noch weiter verschärft wurde. 3.2. Die Ansiedlung der Szekler aus der Bukowina Die Regierungen Ungarns und Rumäniens hatten bereits am 11. Mai 1941 ein Abkommen über die Umsiedlung der Szekler aus der Buk owina nach Ungarn unter zeichnet. Gemäß einer Entscheidung der ungarischen Regierung sollten diese in der Batschka, an den Wohnstätten der v ertriebenen Dobro wolzen20 angesiedelt wer den.21 Mit dem Näherrück en der Front im Herbst 1944 w aren die Szekler aber zu einer erneuten „Landnahme“ gezwungen. Am 6. Oktober 1944 erließ die ungarische Regierung eine Verordnung über die Evakuierung der Kriegsgebiete. In diesen Tagen verließen auch die Szekler ihre Wohnorte. Die ersten szeklerischen Flüchtlinge gelangten Mitte Oktober 1944 auf das Gebiet des K omitats Tolna. Der zur Erledigung der Flüchtlingsangele genheiten bestellte Staatssekretär Péter Schell w ar v on seiner Aufgabe völlig überfordert, so dass der Innenminister am 30. Oktober 1944 die Errichtung v on lokalen Flüchtlingsausschüssen anordnete. Der kommunistische Obergespan des Komitats unterbreitete am 31. März 1945 den Leitern des K omitatsrats zur Regelung des Bodenbesitzes den Vorschlag, die Szekler aus der Bukowina gruppenweise anzusiedeln. In einem Bericht, den die k ommunistischen Entsandten Györ gy Várhegyi und József Horváth am 9. Mai 1945 für die Führung der Ungarischen Kommunistischen ler. 943 Familien warteten noch auf eine Niederlassungsmöglichkeit. BML, Akten des Grundbuchamts des Komitats Baranya, Postennummer 315. 20 Die Dobrowolzen („Freiwillige“) hatten im Ersten Weltkrieg als Freiwillige auf Seiten Serbiens gekämpft und waren dafür nach dem Krieg mit Boden und Häusern in der Wojwodina belohnt worden. 21 S AJTÓ, EnikŒ A.: Délvidék 1941–1944 [Die Wojwodina 1941–1944]. Budapest 1987, S. 65.

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Partei verfassten, legten sie folgendermaßen Rechenschaft über ihreTätigkeit ab und schilderten dabei zugleich die damaligen Methoden und Zustände: „In der Praxis haben wir die Requirierungen so durchgeführt, dass wir alle Bewohner eines Hauses, in dem sich ein Volksbündler oder ein krie gsverbrecherischer SS-Soldat aufhielt, ausgesiedelt haben. […] Dass wir die Räumungen praktisch durchführen k onnten, verdanken wir in besonderer Weise dem Polizeikommandanten des Bezirks Völgység, der uns umfassend half, diesen Auftrag durchzuführen. Wir haben unsere Aufgabe mit 20 Polizisten be gonnen. Täglich haben wir zwei Dörfer geleert, und zw ar in der Praxis auf folgende Weise: Die Polizei hat diese Dörfer am frühen Mor gen besetzt und mittels Trommelschlag das Dorfv olk auf einer Wiese versammeln lassen. […] Währenddessen haben wir anhand der Liste des Volksbundes von Pécs zusammen mit den Boden verteilungs-Ausschüssen festgestellt, ob das Dorfv olk vollständig angetreten w ar. Aus dem Dorfv olk wurden die auf der Liste aufgeführten Volksbündler und ihre Angehörigen ausgewählt. Für diese wurde ein großes P aket aus den notwendigen Sachen und Lebensmitteln zusammengestellt und sie wurden mit Wagen in die Gemeinde Lengyel gebracht, wo sie in einem großen Schloss provisorisch untergebracht wurden. Als dort mehrere Tausend Volksbündler versammelt waren, wählte die Polizei die Arbeitsfähigen aus und setzte sie an v erschiedenen Orten des K omitats zur Arbeit ein. Die arbeitsunfähigen Personen wurden in die etwa 70 km entfernten schwäbischen Gemeinden Györkön y, Bikács und Németkér verbracht. Aus den ank ommenden Szeklern bildeten wir sofort den Nationalausschuss und den Ausschuss der Antragsteller auf Bodenzuteilung. Bei unserer Arbeit haben wir weder seitens der Verwaltung noch von den Parteien Unterstützung erhalten. Alleine der Polizei des Bezirks Völgység ist es zu v erdanken, dass wir diese durchführen konnten. Zwei Wochen nach Be ginn unserer Arbeiten kam der Siedlungsbeauftragte des Landwirtschaftsministeriums [György] Bodor zu uns.“22 In ihrem Bericht bewerteten die Emissäre die Aktivitäten Bodors allerdings negativ: „Er ist selbst Szekler und umgibt die Csangos mit einem Nimbus“. Außerdem wolle er sie aus den P arteikämpfen heraushalten. Eine ähnlich ne gative Meinung brachten sie auch gegenüber den Szeklern zumAusdruck. Diese seien „in einem sehr zurückgebliebenen Zustand und völlig korrumpiert. Diebstahl kommt bei ihnen tagtäglich vor und sie betonen, dass ihre Niederlassung hier nur vorübergehenden Charakter habe.“ Die Entsandten empfahlen der Parteiführung daher, eine größere Zahl von Soldaten oder Polizisten – etwa 200 Personen – in den Bezirk zu entsenden, weil man dieses Gebiet so behandeln müsse, „als ob es ein Frontabschnitt“ sei.23 22 Politikatörténeti Intézet Le véltára [Archiv des Instituts für Politikgeschichte, fortan PIL), Signatur 274.f.10.cs.34.ö.e. 23 Aus dem Bericht geht herv or, dass die k ommunistische Partei – unter Ausnutzung der Möglichkeiten der Bodenreform und über das gesetzlich Erlaubte hinaus – v ersuchte, die Ansiedlung der Szekler in „eigener K ompetenz“ durchzuführen. Über die Aktion sind nur wenige Quellen auffindbar. Dies liegt wahrscheinlich daran, dass sich selbst die P artei nicht offen zu ihren diesbezüglichen Aktivitäten bekennen wollte. Dieser Sachverhalt wird auch dadurch bestätigt, dass sie später v ersuchte, alle unangenehmen Aspekte der Angelegenheit auf Györ gy Bodor bzw. auf die Nationale Bauernpartei (NPP) abzuwälzen. Aus den Berichten von Bodor geht allerdings auch hervor, dass vor ihm bereits Emissäre aus Pest in diesen Gemeinden tätig waren und er in der Praxis nur einen be gonnenen Prozess fortführte bzw. beendete. Laut dem

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György Bodor war am 25. April 1945 nach Bon yhád gekommen. Dort hatte er sich sofort ein Büro besor gt, sich selbst zum Re gierungsbeauftragten ernannt und war an die Arbeit gegangen. Bis zum 29. April, also innerhalb von vier Tagen, hatte er zehn Gemeinden räumen und 1.500 F amilien (6.000 Personen) ansiedeln lassen. Aufgrund des kontinuierlichen Zustroms von Szeklern war das Amt für Ansiedlung den zunehmenden Aufgaben nicht gewachsen. Daraufhin griff man zu immer radikaleren Lösungen. Bereits am 29. April 1945 schrieb Bodor folgendes an seine Frau: „Wir haben das Apponyi-Schloss in Lengyel zum Konzentrationslager gemacht.“ Das Internierungslager in der Ortschaft Lengyel w ar am 20. April 1945 eingerichtet worden.24 Am 29. April führte der Gemeindearzt Dr. Ádám Schreck an 140 Personen eine Gesundheitsuntersuchung im Lager durch. Über seine Erf ahrungen im Lager verfasste er für den Obernotar des Bezirks einen korrekten und sachlichen Bericht.25 Da der Arzt keinerlei Verfügungsrecht hatte, bat er den Obernotar des Bezirks, die „feststellbaren Mängel vollständig zu beheben“. Mit Nachdruck wies er darauf hin, dass die Ansteckenden und die Krank en mit Fieber sofort gesondert unter gebracht und – wenn möglich – in ein Krank enhaus eingeliefert werden müssten. Außerdem sollten Maßnahmen ergriffen werden, um dieVerbreitung von Läusen zu verhindern sowie um die Kinder mit ihren Müttern in gemeinsamen Unterkünften unterzubringen. Als grundlegend bezeichnete er zudem die Beheizung dieser Räume bei kaltem Wetter, die Versorgung der Säuglinge mit warmem Badewasser und Seife sowie die Zuteilung v on täglich einem Liter abgek ochter Milch. Gesondert bat er um die Entlassung einer v ollständig blinden, 24jährigen Person und eines gebrochenen 93jährigen Mannes sowie um die Einführung einer ärztlichen Sprechstunde und einer Kontrolle jeden zweiten Tag. Anfang Mai, mit dem Beginn der Frühjahrsarbeiten in der Landwirtschaft, wurde es aufgrund des Arbeitskräftemangels in einigen Siedlungen möglich, arbeitsfähige Internierte zur Arbeit abzustellen. Zeitweise, für vier bis fünf Tage oder gar mehrere Wochen, konnte so eine größere Zahl von Personen – die Gruppen bestanden jeweils aus 10 bis 15 Personen – aus dem Internierungslager in Lengyel in den Ortschaften Bericht der kommunistischen Entsandten ließen sich 2.200 Familien im Bezirk Lengyel nieder und es wurden 21.900 Katastraljoch Grund verteilt. PIL, Signatur 274.f.10.cs.34.ö.e.). 24 Auf dem Gebiet des K omitats existierten – auch wenn diese Feststellung noch weitere F orschungen erfordert – mit Sicherheit noch Internierungslager in den Ortschaften Nagymán yok, Tolna, Bátaszék, Szekszárd, Györköny und Simontornya. 25 „[…] 4. Auf den Gängen liegen – auf Stroh – gedrängt Menschen; dieser Ort ist zugig und kalt. Die Untergebrachten behindern die Be wegung, vereinzelt machen sie sie unmöglich. 5. Bei Einbruch der Dunk elheit stehen k einerlei Mittel zur Beleuchtung zur Verfügung. Dies macht nachts jegliche Bewegung unmöglich. 6. Acht Tuberkulosekranke sind mit den anderen zusammen untergebracht, was die Möglichkeit einer Ansteckung besonders erhöht. Außerdem habe ich auch einen Kranken mit Trachotom entdeckt. 7. Die Kleinkinder – darunter auch ein sechsmonatiger Säugling – sind zusammen mit den Erwachsenen ohne Bade oder Waschmöglichkeit untergebracht. 8. Die Bewohner des Schlosses haben bislang kein warmes Essen erhalten. Dies kann insbesondere für die Kinder f atal sein.“ Tolna Megyei Önkormányzat Leveltára [Archiv der Selbstverwaltung des Komitates Tolna, fortan TMÖL]. Akten des Obernotars des Bezirks Völgység 3170/1945).

Einige Zusammenhänge zwischen der Bodenreform und dem Wandel der Sozialstruktur

269

Zomba, Bonyhád und Tevel arbeiten, vor allem in Wirtschaften mit ca. 30 Katastraljoch oder im Bergwerk von Nagymányok. Bei einzelnen Antragstellern auf Arbeitskräfte dürften auch Aspekte der Menschlichkeit eine Rolle gespielt haben, denn die Arbeitgeber k onnten Arbeiter nach der Person ausbitten. So dürften auch freundschaftliche oder f amiliäre Bande eine Rolle gespielt haben, dass selbst Internierte über 70 Jahre zur Arbeit erbeten wurden. Für die Be wachung und Versorgung der Internierten war der Arbeitgeber zuständig. Neben der Verpflegung musste der Arbeitgeber für die Internierten täglich pro Person 10 Peng Œ Tagelohn unter der Bezeichnung „Arbeitslohn“ im Amt des Obernotars des Bezirks einzahlen.26 Nach dem Ausgeliefertsein und der Gelähmtheit der ersten Tage bombardierten die Internierten bzw. ihre Familienmitglieder in immer größerer Zahl den Polizeichef des Komitats, den Regierungsbeauftragten Bodor, den Komitatsrat zur Regelung des Bodenbesitzes oder das Amt für Volksfürsorge mit Freilassungsanträgen. Die Antragsteller bewiesen mit Erklärungen der Selbstv erwaltungen ihrer Gemeinde, der Nationalausschüsse, der Ausschüsse der Antragsteller auf Bodenzuteilung oder einfach mit Zeugenerklärungen ihre Unschuld, ihre Lo yalität gegenüber der ungarischen Gesellschaft bzw . dem Staat Ungarn so wie die Tatsache, dass sie keine Mitglieder des Volksbundes waren. Der Bonyháder Einwohner József Neukircher bat in einem Schreiben an György Bodor um die Freilassung der vierjährigen Tochter seines Sohnes, die zusammen mit den Großeltern ihrer Mutter in das Lager in Lengyel gelangt w ar. Sein Sohn leiste gegenwärtig Dienst in der ungarischen Armee, seine Schwiegertochter sei im Januar nach Russland deportiert worden. Das kleine Mädchen sei deshalb zu den Großeltern der Mutter gelangt und mit ihnen zusammen ins Lager. Die Freilassung des Mädchens wurde von Bodor genehmigt. Über die Anträge bzw. das Verfahren kann festgestellt werden, dass Györ gy Bodor während seines Aufenthalts in Bonyhád (bis Ende Mai 1945) im Allgemeinen die Anträge erhielt und sie mit positiven Vermerken versah. Daraufhin gab die zuständige Polizeikommandantur den Tagesbefehl, aufgrund dessen der Internierte aus dem Lager entlassen wurde. Die Formulierung der Schriftstücke sowie die Tatsache, dass es immer mehr Tagesbefehle für Freilassungen gab, die auf mündlichen Antrag und ohne Befragung Bodors erteilt wurden, signalisiert zugleich, dass das Verfahren schrittweise in den Kompetenzbereich der Polizei gelangte. Der Schlusssatz, der von Bodor auf die Anträge geschrieben wurde, deckt das tatsächliche Ziel und den Sinn der ganzen Aktion auf: „Ich gestatte, dass Sie aus der Gemeinde Lengyel nach Püspöknádas zurückkehren. Meine Erlaubnis berührt aber nicht die Vermögensenteignung, d. h. Sie können auch nicht in ihr eigenes Haus zurückk ehren, sondern sich bis zur Erledigung ihres Einspruchs oder bis auf weitere Maßnahmen nur im Haus eines Nicht-Volksbundmitglieds aufhalten.“27 Es w ar also of fensichtlich, dass man das v orherige Verfahren nicht dadurch, dass man die Freigelassenen in ihre Häuser zurückk ehren ließ, in Frage stellen 26 Die Skrupellosigkeit der Zeit charakterisiert der Sachv erhalt, dass der Obernotar auf die Quittung Folgendes schrieb: „Die aus dem Arbeitslohn der Volksbündler eingegangene Summe habe ich […] zur Deckung der Kosten für das russische Heldendenkmal in Empfang genommen.“ 27 TMÖL, Akten des Obernotars des Bezirks Völgység 3170/1945.

270

Ágnes Tóth

wollte. Gerade deshalb w ar es auch ein entscheidender Gesichtspunkt, dass der Antragsteller einen Ernährer oder Wohnungsgeber nennen konnte. Das Lager in Lengyel wurde auf Anweisung des Polizeichefs des K omitats (Anweisung 22/5) am 28. Juni 1945 aufgelöst. Die Zahl der Internierten betrug zu diesem Zeitpunkt 57 Personen. Es v erblüfft, dass sich unter diesen noch ein fünfmonatiger Säugling, ein dreijähriges Mädchen sowie mehrere 13 bis 15jährige Kinder und Personen über 70 Jahren befanden.28 Auch die Re gierung hatte K enntnis von der problematischen Situation. Aufgrund des wachsenden gesellschaftlichen Drucks beschäftigte sich am 14. Mai 1945 eine P arteienkonferenz mit dem Problem der Unterbringung der Szekler aus der Bukowina. Innenminister Ferenc Erdei stellte bei der Darlegung der Frage fest, dass „der Ministerrat und zuvor auch die Zentralkonferenz der Parteien beschlossen hat, dass in diesem Zusammenhang in erster Linie für ihre Heimk ehr (!) zu sorgen sei. Aber auch unter den Szeklern gibt es einen Teil, der ebenfalls zum Kreise der Anzusiedelnden zählt.“29 Zahlenmäßig gesehen wurden schätzungsweise 12.500 Deutsche und Ungarn im Komitat Tolna enteignet30. In den folgenden Wochen wurden Beschlagnahme und Zuteilung erneut v om Komitatsrat zur Re gelung des Bodenbesitzes behandelt. Diesem Umstand war zu verdanken, dass in einigen Fällen auch enteigneter Grundbesitz zurückgegeben wurde. Laut einem Bericht, der im No vember 1945 v om Amt für Volksfürsorge angefertigt wurde, siedelte György Bodor in 26 Gemeinden des Komitats Tolna 2.712 Familien und in 7 Gemeinden des K omitats Baranya 588 Familien an. Die Verteilung der Siedler stellt sich nach ihrer Herkunft folgendermaßen dar: 3.000 Szekler-Familien kamen aus der Bukowina, 110 Csango-Familien aus der Moldau und 190 ungarische Flüchtlingsfamilien stammten aus Bosnien und Kroatien31. Die Ansiedlung und Unterbringung der überwie genden Mehrheit der Szekler aus der Bukowina fand im Herbst 1945 ihr Ende. Lediglich kleinere Gruppen machten sich zwecks Familienvereinigung oder wegen der besseren Wohn- und Bodenverhältnisse später noch auf den Weg. Besonders im Komitat Zala zerstreute Familien oder Personen aus der nördlichen Batschka wechselten in größerer Zahl ihren Wohnort. Statistiken, die zu v erschiedenen Zeitpunkten des Prozesses angefertigt wurden, zeigen zwar keine Veränderungen der Größenordnung, aber doch zahlen28 Die überwie gende Mehrheit der Freigelassenen (28 Personen) w aren Einw ohner v on Nagymányok, wo die Internierungen am 22. Mai 1945 stattgefunden hatten. Die Internierung von weiteren 28 Personen wurde in Szekszárd fortgesetzt. 29 Mit dem Plan, die Szekler wieder nach Hause bzw. nach Rumänien rückzusiedeln, beschäftigte sich die Regierung später nicht mehr. Vgl. TÓTH, Ágnes: Bibó István memorandumai a magyarországi német lak osság kitelepítésével kapcsolatban [Memoranden v on István Bibó über die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung Ungarns]. In: Bács-Kiskun megye múltjából [Aus der Geschichte des Komitats Bács-Kiskun]. Bd. 11. Kecskemét 1992, S. 343. 30 MOL, Akten des Amts für Volksfürsorge des Innenministeriums, Signatur 2.504/1945. 31 Die Angaben stammen aus einem Bericht desAmts für Volksfürsorge, der einige Monate später verfasst wurde und sich mit der Analyse der Bodenreform befasste. MOL, Akten der Abteilung für Friedensv orbereitung des Außenministeriums, Signatur II./28). Diese Angaben stimmen insgesamt gesehen mit den früheren Forschungsergebnissen von Miklós Füzes überein: FÜZES: Forgószél (wie Anm. 12), S. 19–22).

Einige Zusammenhänge zwischen der Bodenreform und dem Wandel der Sozialstruktur

271

mäßige Unterschiede. Die folgende Datensammlung, die als Bilanz derAnsiedlung der Szekler aus der Bukowina betrachtet werden kann, wurde von György Bodor im September 1947 erstellt.323334 Komitat

Bezirk oder Siedlung

Zuteilung

Gesamte ZuteiWein Sonstiger lung Boden

Familie Baranya

Haus

Katastraljoch (abgerundet)

Dörfer des Bezirks Völgység32

255

252

142

1.968

2.110

östliche Baranya33

461

450

239

3.911

4.150

Bács-Bodrog34

Csátalja, Gara, Vaskút

500

452

282

3.540

3.822

Tolna

Bezirk Völgység

2.131

2.095

598

19.444

20.042

Zentralbezirk

145

143

89

877

966

Bezirk Simontornya

329

329

158

3.345

3.503

3.721 1.508

33.085

34.593

Insgesamt

3.821

Tabelle 1: Zahl und territoriale Verteilung der angesiedelten Szekler aus der Bukowina35

Wie hier zu sehen ist, sind die Zahlenangaben auf der Darstellung, die Bodor nachträglich, nach dem Abschluss der Ansiedlungsprozesse und der tatsächlichen Besitzübertragung anfertigte, größer als in den Berichten vom Herbst 1945, die parallel zur Ansiedlung erstellt wurden. Die Umsiedlung der Szekler aus der Buk owina 32 Die Ansiedlung von Szeklern in den Gemeinden Egyházaskozár und Hidas. 33 Es handelt sich um die Gemeinden Herce gszabar, Himesháza, P alotabozsok, Somberek und Véménd. 34 Eine kleinere Gruppe von Szeklern aus der Bukowina wurde im Komitat Bács-Bodrog angesiedelt. Einzelne Gruppen von Szekler aus Hadikfalva, Istensegíts und Andrásfalva begannen im Herbst 1944 erst sehr spät mit ihrer Fluch (8. bzw . 9. Oktober). Aufgrund der Kriegsgeschehnisse gelang es ihnen nicht mehr , nach Ungarn zu k ommen. Die in einem Lager in Sze ghegy internierten Szekler wurden im Februar 1945 aus Jugosla wien ausge wiesen. Eine F amilie durfte nur ein P aket mit 4 kg mit sich führen. Sie erreichten Ungarn lediglich mit ihrer Kleidung und einer Verpflegung für drei Tage. In der nördlichen Batschka, in Csátalja, Gara und Vaskút wurden 382 Familien, insgesamt 1.683 Personen angesiedelt. 35 TMÖL, Akten des Regierungsbeauftragten für Siedlung György Bodor. 1.d.

272

Ágnes Tóth

im Jahre 1941 wurde v on der ungarischen Re gierung grundsätzlich damit be gründet, dass die unter Assimilationsdruck stehenden Gruppenmitglieder Teil der ungarischen Nation seien und so ihr Be wusstsein als Ungarn wahren könnten. Ihre Ansiedlung in der Batschka signalisierte aber zugleich, dass man die Interessen der Gruppenmitglieder selbstverständlich den Interessen des ungarischen Staates unterordnete. Die hinsichtlich ihrer Wirtschaftsweise fremde Agrarkultur, die feindlich eingestellte, nationalitätenmäßig ebenfalls gemischte Einwohnerschaft und die Ansiedlung der Szekler in den Häusern früherer serbischer Siedler beinhaltete bereits Konfliktpotential. Bei der Ansiedlung in der Batschka v ersuchte der ungarische Staat noch mit allen Mitteln, diese Spannungen zu lösen. 1944 unternahm er diesbezüglich nicht einmal mehr einen Versuch. Mit der Bodenreform und ihrer zu Lasten der deutschen Nationalität durchgeführten Ansiedlung fand das Szekler -Problem aber nur formal eine Lösung. Tatsächlich wurden sie bei den Nationalitätenkonflikten und bei ihrer sozioökonomischen Integration vom Staat alleine gelassen. Es ging letztlich nur um die Gewinnung ihrer Wählerstimmen.

4. Die Auswirkung der Bodenreform auf die Sozialstruktur Im südlichen Transdanubien wurden – im Vergleich zum Landesdurchschnitt – die Böden in größerem Maße für die Bodenreform in Anspruch genommen. Während die Größe der übernommenen Flächen in den K omitaten Baranya und Tolna aber noch dem landesweiten Durchschnitt entsprach, waren die Flächen im Komitat Somogy um durchschnittlich 13,6 Prozent größer . Aufgrund der Besitzungen der F amilie Festetich war hier der Anteil des Großgrundbesitzes am gesamten Grund und Boden am größten. Komitat

Gebiet des Komitats in Katastraljoch

Enteignete Flächen in Katastraljoch

Prozentueller Anteil der enteigneten Flächen am Gebiet des Komitats

Baranya

697.458

255.498

32,3

Somogy

1.163.465

561.331

48,2

625.685

224.223

35,8

2.486.608

1.011.052

40,7

16.173.443

5.599.645

34,6

Tolna Insgesamt Landesweite Angaben

Tabelle 2: Grunddaten der Bodenreform im südlichen Transdanubien36

36 F

EHÉR, István: Politikai küzdelmek a Dél-Dunántúlon 1944–1946 között [Politische Kämpfe im südlichen Transdanubien 1944–1946]. Budapest 1972, S. 232.

Einige Zusammenhänge zwischen der Bodenreform und dem Wandel der Sozialstruktur

273

Im Zuge der Bodenreform erhielten insgesamt 73.197 kleinbäuerliche Familien Boden. Damit betraf die Reform – geht man v on vierköpfigen Familien aus – unmittelbar 30 Prozent der Gesamtbe völkerung der K omitate bzw. 292.788 Personen. Innerhalb der einzelnen Komitate gab es allerdings beträchtliche zahlenmäßige Unterschiede hinsichtlich der kleinbäuerlichen F amilien, die Boden erhalten hatten, und die Zahl der Begünstigten spiegelte auch die Größe der im jeweiligen Komitat beschlagnahmten Flächen nicht wider . Während im K omitat Somogy die größten Flächen enteignet wurden, w ar im Komitat Tolna die Zahl der be günstigten Familien am größten. Die Zuteilungen betrafen hier zwei- bis dreimal so viele kleinbäuerliche Familien wie im Komitat Baranya bzw. Somogy. Im Komitat Tolna gab es besonders viele Bodenzuteilungen an Knechte und Mägde, Landarbeiter und Zwer g37 bauern. Kategorien

Zahl der Familien im Komitat Baranya

Zahl der Familien im Komitat Tolna

Zahl der Familien im Komitat Somogy37

Gesinde

2.805

10.971

4.039

Landarbeiter

4.416

10.589

6.732

Zwergbauern

4.202

13.621

6.058

Kleinbauern

1.330

2.777

1.539

Handwerker (Landwirtschaft)

1.184

2.075

859

13.937

40.033

19.227

Insgesamt

Tabelle 3: Zahl der kleinbäuerlichen Familien im südlichen Transdanubien, die Boden erhielten38

Auf die Gesellschaftsstruktur wirkte sich auch – neben der Veränderung der Gliederung der bäuerlichen Gesellschaft und der Besitzstruktur – die Tatsache aus, dass die Gruppe der Neubauern hinsichtlich ihrer K ultur, ihrer mentalen Verhaltensweisen und ihrer K enntnisse über das Wirtschaften außerordentlich unter schiedlichen Mustern folgte. Unter ihnen finden wir neben den Ortsansässigen Siedler aus anderen Gebieten Ungarns, Szekler, Csangos und auch Magyaren aus Oberungarn (Slowakei), die Modelle der Sozialisierung mit sich gebracht hatten, die von denjenigen der lokalen Gesellschaft abwichen. Obwohl diese Gruppen in37 Die von István Fehér v eröffentlichten Daten weichen v on denjenigen bei József Kan yar ab. Nach diesem umfasste im Komitat Somogy die Größe des beschlagnahmten Gebiets insgesamt 460.912 Katastraljoch. Von diesem wurden Flächen an 36.050 Personen v erteilt, darunter an 9.682 Knechte und Mägde; K ANYAR, József: Elsikkasztott földreform me gvalósult földosztás Somogyban (1920, 1945) [Unterschlagene Bodenreform, gelungene Boden verteilung im K omitat Somogy (1920, 1945)]. Budapest 1964, S. 149 f. 38 Ebd., S. 231.

274

Ágnes Tóth

nerhalb der einzelnen Siedlungen zahlenmäßig unterschiedlich stark vertreten waren bzw. einen unterschiedlichen Bevölkerungsanteil ausmachten, verfügten weder sie selbst noch die Ortsansässigen über jene integrative Kraft, die die Kohäsion der örtlichen Gesellschaft unter den gewandelten Verhältnissen hätte wiederherstellen können. Die statistische Erheb ung, die der Vizegespan des K omitats Baranya im November 1949 auf Grundlage der von den Gemeinden gelieferten Daten zusammenstellte, bezweckte in erster Linie, die Situation der im K omitat verbliebenen Bewohner deutscher Nationalität – Anzahl, Wohnort, Auskommen – zu erfassen. Die Daten spiegeln aber unvermeintlich auch die Wirkung wider, die die Bodenreform und die Ansiedlungen auf die Gesellschaftsstruktur ausübten. Die Zahl der Familien, die von landwirtschaftlicher Arbeit lebten, betrug 42.416, insgesamt 163.203 Personen. Von den von der Landwirtschaft lebenden Familien verfügten 39.824 über eine eigene Wirtschaft, während 2.582 F amilien ausschließlich von landwirtschaftlicher Lohnarbeit lebten. Der Anteil an Neubauern bzw. erneut zu Boden gek ommenen Personen w ar innerhalb des K omitats mit 84,8 Prozent sehr hoch, es gab allerdings beträchtliche Unterschiede zwischen den einzelnen Bezirken. Verglichen mit dem Anteil der alteingesessenen Bauern stellten die Neubauern im Bezirk Siklós mit nur 37,3 Prozent den geringstenAnteil, im Bezirk Mohács hingegen mit 157,1 Prozent den größten. Das Ausmaß der in der lokalen Gesellschaft erfolgten Veränderungen kann gut aufgezeigt werden, wenn wir die Gruppe der Neubauern auch nach ihrem früheren Wohnort untersuchen. Den Kreis der Personen, die Boden zugeteilt bekamen, teilen wir zuerst nur in zwei Gruppen ein, in Ortsansässige und Auswärtige (Siedler). Die Zahl der Siedler (9.241) übertrif ft im komitatsweiten Vergleich die Zahl der Personen, die als Ortsansässige Boden erhielten (7.903). Nur im Bezirk Siklós ist in diesem Kreis der Anteil der Auswärtigen mit 2,8 Prozent zu vernachlässigen. In den Bezirken Pécs, Pécsvárad und Szentl Œrinc betrug er 10 Prozent bis 27 Prozent, im Bezirk von Hegyhát und von Mohács das 200fache und im Bezirk Villány erreichte er f ast das 500f ache. Wie oben bereits gezeigt, ist die Gruppe der Siedler k eineswegs homogen. Auch in den einzelnen Bezirk en gibt es bedeutende Unterschiede hinsichtlich ihrer Zusammensetzung. Diese Situation spiegelt – unserer Meinung nach – keine bewusste Siedlungspolitik wider, sondern wurde viel eher von tagtäglichen Möglichkeiten und Zufälligkeiten bestimmt. Unter den Siedlern im K omitat Baran ya betrug der Anteil der Personen aus Oberungarn (Slowakei) 30 Prozent, derjenige der Szekler 11 Prozent und derAnteil der Siedler aus anderen Landesteilen 59 Prozent. In den einzelnen Bezirken machte der Anteil der Personen aus Oberungarn (Slowakei) 21 Prozent bis 56 Prozent aus. Den größten Anteil stellten sie im Bezirk SzentlŒrinc, allerdings war dort der Anteil der Siedler unter allen Personen, die Boden erhalten hatten, nicht besonders hoch. Die meisten Siedler aus Oberungarn (Slo wakei) gelangten in den Bezirk He gyhát (776) sowie in den Bezirk Mohács (905). DerAnteil der Siedler aus anderen Gebieten des Landes schw ankte in den einzelnen Bezirk en zwischen 43 Prozent und 78 Prozent. Die meisten kamen in den Bezirk Mohács (1.499) und in den Bezirk Hegyhát, die wenigsten in den Bezirk Siklós.

6.295

6.233

6.089

7.626

6.542

3.150

42.416

Mohács

Pécs

Pécsvárad

Siklós

SzentlŒrinc

Villány

Insgesamt

163.203

14.032

28.061

28.424

25.765

11.940

26.473

28.508

Personen

Alt

18.294

2.157

1.787

1.737

2.953

2.746

3.998

2.916

21.560

881

4.345

4.654

2.368

3.542

2.544

3.226

Bauern

Neu

9.241

1.788

153

38

2.148

270

2.573

2.271

Siedler

7.903

370

1.492

1.319

789

1.479

1.366

1.088

39 Zusammengestellt nach: BML, Akten den Vizegespans des Komitats Baranya. Akten des Präsidenten 97/1949.

2.772

391

86

15

490

109

905

776

Orts ansässige Personen aus Oberungarn (Slowakei)

Neubauern

Tabelle 4: Anteil der Personen, denen im Komitat Baranya im Zuge der Bodenreform Grund zugeteilt wurde39

6.481

Familien

Personen, die von einer landwirtschaftlichen Tätigkeit leben

Hegyhát

Bezirke

1.041







626



169

246

Csangos

Siedler

5.428

1.397

67

23

1.032

161

1.499

1.249

Andere Gebiete

Einige Zusammenhänge zwischen der Bodenreform und dem Wandel der Sozialstruktur

275

276

Ágnes Tóth

Am unproblematischsten w ar – aufgrund ihrer K enntnis der lokalen Wirtschaftsweise sowie der kulturellen und gesellschaftlichen Bräuche – die Integration derjenigen Neubauern, die bereits früher ortsansässig w aren. Die größten Unterschiede hinsichtlich Kultur und Mentalität sowie auf dem Gebiet desWirtschaftens offenbarten sich zwischen den Ortsansässigen und den aus anderen Landesteilen zugezogenen Personen bzw. den Szeklern und Csangos. Der Bericht des Vizegespans ging auch auf einzelne, vor allem spezifische Aspekte des Wirtschaftens ein. Aus der Aufstellung geht hervor, dass die Personen, die erstmals zu Boden gekommen waren, in den ersten vier Jahren praktisch keine Vermögensakkumulation erreichen k onnten. Im Kreise der Neubauern gab es zu diesem Zeitpunkt gar Personen, die den ihnen zugeteilten Boden überhaupt nicht bestellten. Die Zahl der Bauern, die ständig oder im Bedarfsfall Landarbeiter beschäftigten, w ar relati v hoch. Es ist allerdings auf fällig, dass v on dieser Möglichk eit wesentlich mehr Bauern, die bereits zuv or gewirtschaftet hatten (Altbauern), Gebrauch machten. In diesen Fällen handelt es sich of fensichtlich um bereits früher entwickelte Beschäftigungsverhältnisse. Auch die ihres Bodens beraubten Schw aben wurden in größerem Maße v on Altbauern beschäftigt. Dieser Sachv erhalt signalisiert das Misstrauen zwischen den Siedlern und den Ortsansässigen sowie die Nicht-Aufarbeitung früherer K onflikte. Der Vizegespan machte auch darauf aufmerksam, dass in mehreren Gemeinden des K omitats, in denen gemäß der Volkszählung von 1941 keine oder nur wenige Personen deutscher Nationalität oder Muttersprache gewohnt hatten, ihre Zahl beträchtlich angestiegen war. Dies bedeutete, dass die nicht ausgesiedelten Deutschen innerhalb des K omitats in andere Siedlungen umgezogen w aren. Dies lag zum einen daran, dass sie an ihren früheren Wohnorten – ihres Vermögens beraubt – ihre Lebensgrundlage verloren hatten und daraufhin nicht bereit w aren, als Knechte und Mägde vielleicht gerade auf ihren ehemaligen Besitzungen zu arbeiten. Zum anderen k onnten sie sich in einer fremden Umgebung auch besser v or weiteren Belästigungen durch die Behörden „v erstecken“ und die Beziehungen zu den Mitgliedern der örtlichen Gesellschaft waren nicht durch frühere Konflikte belastet. Bereits zuvor, am 30. September 1948, aber mit einer anderen Struktur hatte der Vizegespan des K omitats Tolna eine zusammenf assende Aufstellung über die Er gebnisse der Bodenreform erstellt. Hier ist gut zu erk ennen, dass die Ansiedlungsmöglichkeiten innerhalb des K omitats mit der Niederlassung der Szekler aus der Bukowina und der aus anderen Teilen Ungarns ankommenden Personen erschöpft waren. Dementsprechend w ar die Zahl v on Personen aus Oberungarn (Slo wakei), die sich hier niederließen, wesentlich geringer.

12

33



25

4

Pécs

Pécsvárad

Siklós

SzentlŒrinc

Villány

215

105

72

53

32

68

10

26 542



– 108

1

21 199



4



277

3

39

30

109

52

18

26

550

3

117

198

65

118

29

20

Zahl

449

10

142

142

33

82

25

15

155

35





62

16

15

27

Bauern

















Neu- Alt-

3.553

9.146

5.112

Personen

2.914

2.174

1.317

188 34.413







4 10.197

184





Familien

Bewohner deutscher Nationalität

2.855

163

102

452

622

290

791

435

34



13

7

1

4

9



44



3

16



6

19



1.400



400

800





200



Katastral- Quadratjoch klafter

GeschäVermögenszunahme digte Familien deutscher NeuGröße Nationali- bauern tät41

40 Hier ist sicherlich von Personen die Rede, die zur Aussiedlung nach Deutschland bestimmt waren, aber nicht deportiert wurden. 41 Aus der Darstellung geht nicht hervor, aufgrund welcher Gesichtspunkte die hier aufgeführten Personen in die Kategorie „geschädigt“ gelangten. 42 BML, Akten den Vizegespans des Komitats Baranya. Akten des Präsidenten 97/1949.

Tabelle 5: Merkmale des Wirtschaftens der Personen im Komitat Baranya, denen Boden zugeteilt wurde42

4041

793

542

933

279

247

– 1.282



610

90

778

42

Bauern

Alt- Neu- Alt-

295 1.735 6.411

206

Mohács

Insgesamt

15

Neu-

Bauern GelegenUmgeBauern mit Gesinde Personen, mit fest heitsarbeiter siedelte die ihren beschäf- beschäfti- Schwaben unter 15 zwischen über 25 Boden nicht Katatigtem gende beschäfti- Katastral- 15 und bestellen joch 25 stral40 Gesinde gende Katajoch straljoch

Hegyhát

Bezirk

Einige Zusammenhänge zwischen der Bodenreform und dem Wandel der Sozialstruktur

277

408 25 145 1.676

Zahl der inländischen Familien

Zahl der aus Oberungarn (Slowakei) ausgesiedelten Familien

Institutionelle Tauschabkommen

Im Zuge von Tauschabkommen zugeteilter Boden (Katastraljoch)

2.288

174

11

676

-

6.328

861

4.114

368

20

415

370

10.553

1.173

11.840

1.494

1.622

Zentral

6.618

578

51

845

497

21.411

1.971

26.417

2.853

2.918

Simontornya

1.002

83

6

51

-

1396

140

1.438

186

195

Tamás

6.967

616

39

979

2.353

39.803

3.987

45.286

5.085

5.412

Völgység

5

2

2

-

-

7

3

7

3

8

Stadt Szekszárd

43 Zusammengestellt nach: TMÖL, Akten des Staatlichen Siedlungsinspektors, Reihe II (5.d.).

Tabelle 6: Darstellung über die Ansiedlungen im Komitat Tolna43

* Zehn Familien weniger, als die Gesamtzahl der unteren Quote (Szekler aus der Bukowina, inländische Familien, Ausgewiesene aus Oberungarn (Slowakei), Tauschabkommen). ** Stimmt nicht mit der von Bodor 1947 angefertigten Darstellung überein.

7

5.256

Gesamter zugeteilter Boden

Zahl der Szeklerfamilien aus der Bukowina**

575

9.513

7.004

Immobilien, die in das Eigentum des Bodenfonds gelangten (Katastraljoch)

Gesamtzahl der angesiedelten Familien*

1.351

936

Zahl der in Besitz genommenen Hauser

1.386

944

Dunaföldvár

Schwäbische Familien, gegen die ein Verfahren eingeleitet wurde (Enteignung, Aussiedlung, Rechts beschränkungen)

Dombovár

Bezirke

22.670

1.966

154

3.374

3.227

84.754

8.710

101.505

11.908

12.485

Komitat insgesamt

278 Ágnes Tóth

Einige Zusammenhänge zwischen der Bodenreform und dem Wandel der Sozialstruktur

279

Zusammenfassend können wir feststellen, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl seitens der Gesellschaft als auch der politischen Elite ein berechtigtes Bestreben gab, die v eraltete Gesellschaftsstruktur Ungarns zu v erändern. Es w ar auch verständlich, dass die neuen Eliten mit dieser Umgestaltung versuchten, ihre eigene Machtbasis zu stärk en. Vom Gesichtspunkt der historischen Beurteilung des Verfahrens ist es allerdings entscheidend zu untersuchen, ob diese Bestreb ungen dazu beigetragen haben, ef fektivere und harmonischere soziale Verhältnisse zu entwickeln. 1. Die Durchführung der Bodenreform und der Aus-, Um- und Ansiedelungen hat die nationalitätenmäßige Zusammensetzung auch dieser Re gion entscheidend beeinflusst. Nach den Daten der Volkszählung von 1920 erreichte der Anteil der in Ungarn lebenden Nationalitäten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung kaum mehr 10 Prozent. Die Volkszählung v on 1930 zeigte, dass es in Ungarn k ein Komitat mehr gab, in dem die Personen mit ungarischer Muttersprache nicht die Mehrheit gestellt hätte: Selbst im K omitat Baranya erreichte ihr Anteil zwei Drittel der Gesamtbevölkerung. Auf dem Gebiet Trianon-Ungarns setzte sich die ethnische Homogenisierung als Ergebnis der Assimilierung bis 1941 weiter fort. Fast 93 Prozent der Bevölkerung bekannten sich damals zum Ungarischen als Muttersprache und 95 Prozent zur ungarischen Nationalität. Die einzige bedeutende Minderheit des Landes wurden die Deutschen mit 475.491 Personen. Der Prozess der Homogenisierung gipfelte nach dem Zweiten Weltkrieg infolge v on Siedlungspolitik, Einschüchterungen und of fenen Repressionen. Zur Zeit der Volkszählung 1949 bekannten sich 98 Prozent der Bevölkerung des Landes sowohl hinsichtlich der Nationalität als auch der Sprache als Ungarn. Bei der ersten Volkszählung nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahre 1949 er reichte die Bevölkerung mit ungarischer Muttersprache nur in zwei Komitaten keinen Anteil von mindestens 97 Prozent: im Komitat Békés (94,23 Prozent), wo mehr als ein Fünftel der Personen mit einer Minderheitensprache als Muttersprache registriert wurden, sowie im Komitat Baranya, wo der Anteil von Personen, die keine ungarischen Muttersprachler waren, fast 13 Prozent erreichte. Diese beiden Komitate verfügten zusammen über ein Drittel aller Personen in Ungarn, die sich zu einer Minderheitensprache bekannten, auf ihrem Territorium lebte allerdings nicht einmal ein Zehntel der Gesamtbevölkerung Ungarns. In den Untersuchungsgebieten sank der Anteil der Personen mit deutscher Muttersprache auf ein minimales Ni veau: im K omitat Baranya von 27,5 Prozent auf 1,5 Prozent, im Komitat Somogy von 3,1 Prozent auf 0,1 Prozent und im K omitat Tolna von 26,8 Prozent auf 1,1 Prozent. Die Bereitschaft, sich zu einer Nationalität zu bekennen, sank aufgrund der Tatsache, dass sich die Aussiedlungen in erster Linie auf jene Personen bezogen hatten, die sich bei der Volkszählung 1941 zur deutschen Nationalität bekann hatten, auf einenTiefpunkt. Charakteristisch für die damalige Atmosphäre war, dass im Komitat Baranya, wo bei der Volkszählung 1949 insgesamt 5.446 Personen mit deutscher Muttersprache re gistriert wurden, sich nur 323 Personen zur deutschen Nationalität bekannten. Demge genüber enthält die Aufstellung des Vizegespans 34.314 Personen, die als Deutsche bezeichnet werden.

280

Ágnes Tóth

2. Wir können feststellen, dass dieAusplünderung und Vertreibung der Ungarndeutschen – zusammen mit anderen unmenschlichen Verfahren – die gesellschaftlichen Strukturen Ungarns nicht im Sinne effektiver und harmonischer sozialer Verhältnisse umgestaltet haben. 3. In Ungarn wurde im Zuge der Geschehnisse das Nationalprinzip weder rechtlich v erankert – wie mit dem AVNOJ-Beschluss in Jugosla wien – noch offiziell verkündet. Im Zuge der praktischen Politik aber setzte sich dieses Prinzip gemäß den konkreten Zwängen und Notwendigkeiten durch. 4. Die Machthaber grif fen beim Schüren antideutscher Ressentiments nicht zum äußersten Mittel, in der Presse ließen sie aber auch radikale Äußerungen zu Wort kommen, um ihre Maßnahmen akzeptabel zu machen. 5. Der Prozess der nationalen Homogenisierung, der in Ungarn nach dem Er sten Weltkrieg begann, fand nach dem Zweiten Weltkrieg seine Vervollkommnung. Infolge der durchgeführten Aus-, Um- und Ansiedlungen wurde Ungarn praktisch zum Staat einer Nationalität. Obwohl es auch als Teil des Sowjetisierungsprozesses zu einer zwangsweisen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Umstrukturierung der Gesellschaft kam, erscheint der Identitätsv erlust der nationalen Minder heiten, darunter auch der Deutschen, unumk ehrbar. Die Re vitalisierungsprozesse, die sich seit 1990 zeigen, machen aber deutlich, dass die Ungarndeutschen – ähnlich wie andere ethnische Gruppen der ungarischen Gesellschaft – trotz des allgemeinen politischen Drucks und der Assimilierungsbestrebungen nicht „verschwunden“ sind und ihre Identität nicht v erloren haben. Welches Ausmaß der – sprachliche, kulturelle und wirtschaftliche – Re vitalisierungsprozess annehmen wird, können nur die kommenden Jahrzehnte zeigen.

Die Agrarreform in Jugoslawien nach 1945 und ihr e Nachwirkungen Ranka Gašiç Die Agrarreform im Nachkriegsjugoslawien wurde in jüngster Zeit kaum zum Forschungsobjekt eines serbischen Historik ers. Daher greift dieser Beitrag auch auf schon vorhandene ältere Abhandlungen zurück. Die Agrarreform nach 1945 muss zunächst in Zusammenhang mit der daraus resultierenden Innenk olonisation gesehen werden. Des Weiteren werden die Reform und die Kolonisierung in der Wojwodina schwerpunktmäßig hier thematisiert werden, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Wojwodina die wichtigste Agrarregion Jugosla wiens w ar, deren kulturelle und wirtschaftliche Identität durch diese Prozesse langfristig und zutiefst betroffen war.

1. Die Agrarreform in der Zwischenkriegszeit (1919–1941) Vor der Rückschau auf die historische Analyse der Agrarreform und der Kolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg sei ein kurzer Einblick in die F olgen der vorangegangene Reform gegeben. Die Reformmaßnahmen und die Kolonisierung, die zwischen den beiden Weltkriegen durchgeführt wurden, änderten bereits beträchtlich so wohl die Agrar- und Besitzverhältnisse, als auch die ethnische Struktur derWojwodina. Dabei war es zur Aufteilung v on Großgrundbesitz gek ommen, aus deren Verfügungsmasse rund 50.000 Bauernhöfe mit einer Größe v on 2 bis 5 Hektar geschaf fen wurden, wobei das demographische Wachstum bewirkte, dass dieser kleinbäuerliche Grundbesitz noch mehr zerstückelt wurde. 1 Große Landgüter, die im Besitz v on Großgrundbesitzern fremder Herkunft waren, wurden enteignet. Stattdessen ließen sich jugoslawische Krie gsfreiwillige (Dobro voljci, Dobro wolzen), Flüchtlinge, Optanten [optanti]2 und Autokolonisten [autokolonisti]3 hier nieder.4 Nach den gesetzlichen Vorgaben war das Land nur den Freiwilligen v orbehalten, die auch vom Staat Zuschüsse für Wohnungsbau und landwirtschaftliche Geräte bezogen. Die Verwaltung 1G

AåEŠA, Nikola: Agrarna reforma i kolonizacija u Jugoslaviji 1945–48 [Agrarreform und Kolonisation in Jugoslawien 1945–48]. Novi Sad 1984, S. 9–10; TOMASEVICH, Jozo: Peasants, Politics and Economic Change in Yugoslavia. Stanford, California 1955, S. 371–373. 2 Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Deutschen und Ungarn in Jugosla wien für zwei Jahre das Recht zuerkannt, für Österreich bzw. Ungarn zu optieren. Diese Optanten mussten dann ihren Wohnsitz in jenen Staat v erlegen, für den sie optiert hatten; hatten jedoch das Recht, ihre Immobilien zu behalten und das bewegliche Gut mitzunehmen. Der weitaus größte Teil der Deutschen blieb jedoch an ihrem Wohnort. 3 So wurden Kolonisten aus derselben Re gion bezeichnet, die aus der näheren Umgeb ung freiwillig gekommen sind. 4 G AåEŠA, Agrarna reforma (wie Anm. 1), S. 362.

282

Ranka Gašiç

legte damals den Grundsatz der nationalen und politischen Eignung bei derVergabe des Landes zu Grunde, was zur Stärkung des serbischen Ethnikums in der Wojwodina (aber auch in Mazedonien) führte. Auf der anderen Seite war das soziale Kriterium, im Vergleich zu ethnischen und politischen Argumentationssträngen, nur von nachrangiger Bedeutung. Dementsprechend w aren landlose Bauern, die für „national ungeeignet“ [„nacionalno nepouzdani“] erachtet wurden, keine Teilhaber an dieser Reform. Das w aren vowiegend Angehörige von Minderheiten. Obw ohl die Deutschen beispielsweise einen großen Anteil beim Großgrundbesitz hatten (an zweiter Stelle, direkt nach den Ungarn), lagen sie gleichzeitig in der Hierachie bei den Landlosen an dritter Stelle – und zw ar im gesamten Gebiet der Wojwodina. Dementsprechend waren sie an einer Agrarreform sehr interessiert, w as auch v on deren politischen Interessenvertretung unterstützt wurde.5 Diese Reform verlief in mehreren Stufen; dabei verlief sie eindeutig langsamer als jene, die nach dem Zweiten Weltkrieg durchgeführt wurde, da sie weniger radikal war und eine Entschädigung an die Landbesitzer v orsah, was nach 1945 nicht der Fall war. Hinzu mussten die Teilhaber der Vorkriegsreform die Pacht bzw. die Annuitäten bezahlen, Inventar anschaffen, wovon alle Nutznießer der Reform in der Nachkriegszeit vom Staat befreit w aren. Als Folge dessen kam es zur Überschuldung der neuen Bauern. Der Staat versuchte, die Auswirkungen dieser Krise Mitte der Dreißiger Jahre abzufedern, was jedoch kaum gelang und erst durch die darauf folgende Reform in radikaler Weise gelöst wurde.6

2. Die rechtliche Grundlage der Agrarreform Welche Gesetzesartikel und rechtlichen Verordnungen der kommunistischen Regierung waren für die Agrarreform und die Kolonisierung im Zeitraum 1945–48 maßgeblich? Was waren die zentralen Entwicklungen hinsichtlich der Eigentumsv erhältnisse von Grund und Boden in den ersten Nachkriegsjahren? Vor der Durchführung der Agrarreform stand die vollständige Ausschaltung der deutschen und anderer Minderheiten aus der jugoslawischen Gesellschaft. In Anbetracht der Tatsache, dass der Anteil des deutschen Besitzes 58,24 Prozent des ge5G

AåEŠA, Nikola: Nemci u agrarnoj reformi i vlasništvu obradivog zemljišta u Vojvodini 1919– 1941 [Deutsche in der Agrarrefom und in den Eigentumsv erhältnissen beim Ackerland in der Wojwodina 1919–1941]. In: Rado vi iz agrarne istorije i demografije (Arbeiten aus Agrargeschichte und Demographie). Novi Sad 1995, S. 286–289; im Übrigen hatten die Deutschen den zweitgrößten Anteil an Bodeneigentum vor dem Zweiten Weltkrieg und kamen direkt nach den Serben. Gleichzeitig hatten die Deutschen in k einem Teil der Wojwodina absolut gesehen den größten Besitzanteil an Ackerland. Gleichwohl kauften sie Mitte der Dreißiger Jahre massi v Grundstücke v on armen Altansiedlern und Auswanderern ab, w as als Bestandteil einer gut durchdachten Kampagne zu sehen ist. Die Regierung versuchte, dem durch einen Erlass entgegen zu wirk en und die Vertreter des Dritten Reichs w aren sehr darum bestrebt, diesen Erlass abzuschaffen. Trotzdem wurde wissenschaftlich nicht nachge wiesen, dass die Mittel für den Bodenabkauf aus dem Dritten Reich kamen. Siehe GAåEŠA, Nemci u agrarnoj reformi, S. 294– 298). 6 G AåEŠA, Agrarna reforma (wie Anm. 1), S. 13; TOMASEVICH, (wie Anm. 1), S. 349.

Die Agrarreform in Jugoslawien nach 1945 und ihre Nachwirkungen

283

samten Grundbesitzes in der Wojwodina ausmachte,7 war die Aussiedlung der deutschen Volksgruppe eine wichtige Voraussetzung für eine grundlegende und allumfassende Änderung der Eigentumsv erhältnisse. Da die Gesetzgeb ung des Königreichs Jugoslawien von den kommunistischen Behörden für nichtig erklärt wurde,8 wurde im August 1945 bei der dritten Tagung von AVNOJ (Antifašistiãko vijeçe narodnog oslobođenja Jugoslavije, Antifaschistischer Rat der Nationalen Befreiung Jugoslawiens) das Gesetz über die Agrarreform und Kolonisierung verabschiedet.9 Es war die höchste gesetzgebende Instanz der neuen Staatsmacht. Durch dieVerabschiedung dieses Gesetzes wurde ein Prozess in Gang gesetzt, der bis zum offiziellen Ende der Agrarreform und der Kolonisierung reichte und der vom Regierungserlass vom 24. April 1948 markiert wird, als derAusschuss für die Agrarreform und die Kolonisierung aufgelöst wurde. Alle übrig gebliebenen Aufgabenfelder gingen damit in die Zuständigkeit des Landwirtschaftsministeriums über. Fast gleichzeitig wurden auch die Agrargerichte aufgelöst. 10 Diese Agrarreform wies einen eindeutigen föderalen Charakter auf. Sie wurde in die Bundesreform und „innere“ Reform aufgeteilt, wobei die Zuständigkeiten unter den Bundesbehörden und Behörden der einzelnen Teilstaaten getrennt waren. Alle Teilrepubliken verabschiedeten nach diesem Bundesgesetz eigene Gesetze über die Agrarreform. Die Verfügungsmasse des Bodenfonds der Agrarreform umf asste nach dem Bundesgesetz folgende Kategorien: Grundbesitz, der enteignet wurde, weil ihre Besitzer wegen Kollaboration verurteilt worden waren. Dann war es Grundbesitz mit einer Gesamtgröße über 35 Hektar , der v on Lohnarbeitern be wirtschaftet worden war. Schließlich handelte es sich um Güter v on Banken, Unternehmen, Aktiengesellschaften, Klöstern und Kirchen über 10 Hektar Größe und der über dem Maximum von 25–35 Hektar lie gende Grundbesitz, der ohne Entschädigung enteignet wurde, abgesehen von solchen Fällen, wo die Eigentümer nicht von der Landwirtschaft lebten. Des Weiteren w ar es Grundbesitz, der die Größe v on 3–5 Hektar überstieg, dessen Eigentümer k eine Landwirte waren, Land ohne Eigentümer und nicht zuletzt der Besitz von Volksdeutschen.11

7 GAåEŠA, Agrarna reforma (wie Anm. 1), S. 363. 8 Laut dem Beschluss v on AVNOJ vom 3.2.1945 wurden alle Rechtsv orschriften, die während der Besatzung erlassen wurden, abgeschafft und für nichtig erklärt, als auch alle früheren, die den Beschlüssen der neuen Staatsbehörden und den „Errungenschaften der Revolution“ widersprachen. Siehe: GAåEŠA, Agrarna reforma (wie Anm. 1), S. 101. 9 Ebd., S. 109; im Übrigen f asste die AVNOJ–Vertretung noch am 21.11.1944 einen Beschluss über die Verstaatlichung des Feindeigentums bzw . über die staatliche Verwaltung des Eigentums der Umgesiedelten und die Beschlagnahmung des v on der Besatzungsmacht enteigneten Eigentums. Das w ar die erste gesetzgebende Maßnahme der neuen Re gierung in diesem Bereich. Dadurch wurden 96.874 Grundstück e von Angehörigen der deutschen Nationalität er fasst, was 636.800 Hektar Fläche entsprach, die in den F onds der Agrarreform aufgenommen wurden. Siehe: GUDAC-DODIå, Vera: Agrarna politika FNRJ i seljaštvo u Srbiji 1949–1953 [Die Agrarpolitik des FNRJ und die Bauern in Serbien 1949–1953], Beograd 1999, S. 17. 10 G AåEŠA, Agrarna reforma (wie Anm. 1), S. 136 11 Ebd., S. 103–109.

284

Ranka Gašiç

Die Gesamtfläche des Fonds im Gesamtstaat setzte sich so zusammen: 1. Der Landbesitz der Deutschen umfasste den höchsten Anteil und betrug 38,73 Prozent. 2. Das Land aus dem Großgrundbesitz belief sich auf rund 15 Prozent.12 3. Danach folgten die e xpropriierten Kirchen- und Klöster güter, die meisten davon in Kroatien. 4. Die nichtlandwirtschaftlichen Grundstücke. 5. Die über dem erlaubten Größenmaximum liegenden enteigneten Güter. 6. Der gerichtlich k onfiszierte Landbesitz. Auch diese Kate gorie kam am häufigsten in der Wojwodina vor 7. Der Grundbesitz von Banken und Unternehmen. Der Bodenfonds der Agrarreform umf asste in der Wojwodina 40,58 Prozent, in Kroatien 23,9 Prozent der Gesamtfläche, w obei der unkulti vierbare Anteil des Agrarfonds bei einem Drittel lag.13 Mitte Juni 1945 beschloss die Partei- und Staatsführung Jugoslawiens, den Ratschlägen aus der So wjetunion und den Postulaten der k ommunistischen Ideologie widersprechend, die Verstaatlichung des Bodens nicht durchzuführen, sondern den verfügbaren Grund an die Bauern als Privateigentum zu verteilen.14 Die Ursachen, die zu dieser Entscheidung führten, werden weiter unten dar gelegt. Im Folgenden geht es um die Grundprinzipien der Verteilung im Fonds der Agrarreform. Die Begünstigten der Reform w aren mittellose Bauern, die am Befreiungskrie g beteiligt waren, Behinderte und Kriegsopfer ohne bzw. mit wenig Grundbesitz. Vorrang bei der Grundstücksvergabe hatten die grundbesitzlosen Kriegsbeteiligten, die Kriegsversehrten aus dem Zweiten Weltkrieg und den vorangegangenen Kriegen, Familien und Waisenkinder von umgekommenen Partisanen. Die Partisanen, die früher im landwirtschaftlichen Bereich nicht tätig waren, konnten unter der Voraussetzung Grundbesitz erlangen, dass sie mit ihrer Familie dort ansässig wurden und den BoVerordnung den be wirtschafteten.15 Im September 1945 wurde eine besondere über die Ansiedlung der ehemaligen Partisanen in der Wojwodina erlassen, wonach jede Familie 8–12 Katastraljoch zugeteilt bekommen konnte; die Soldaten und Offiziere mit besonderen Verdiensten erhielten bis zu 30 Prozent, in Einzelfällen sogar 12 Unter Berücksichtigung der Durchschnittsgröße des Großgrundbesitzes in Jugoslawien von etwa 9 Hektar scheint es fraglich zu sein, in wiefern dies als Großgrundbesitz zu bezeichnen wäre; GAåEŠA, Agrarna reforma (wie Anm. 1), S. 361, 363. 13 G AåEŠA, Agrarna reforma (wie Anm. 1), S. 364–366; gemäß den Angaben von Vera GudacDodiå bestand der F onds für die Agrarreform aus insgesamt 1.566.030 Hektar Boden. Da von machte der Grundbesitz der Deutschen 40,7 Prozent oder 636.800 Hektar aus, der Großgrundbesitz er gab 15 Prozent oder 235.000 Hektar , Kloster - und Kirchengüter 10,5 Prozent oder 163.700 Hektar , Landgüter über der höchst zugelassenen Größe 7,8 Prozent oder 122.000 Hektar, Grundbesitz ohne Ackerland 7 Prozent oder 109.400 Hektar und sonstiges Land 8,2 Prozent oder 128.800 Hektar. Der größte Flächenanteil des F onds lag in der Wojwodina, was 42.8 Prozent oder 668.412 Hektar entsprach und im restlichen Serbien 4,1 Prozent oder 64.017 Hektar; GUDAC-DODIå (wie Anm. 9), S. 27. 14 G AåEŠA, Agrarna reforma (wie Anm. 1), S. 99. 15 Ebd., S. 113–114.

Die Agrarreform in Jugoslawien nach 1945 und ihre Nachwirkungen

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darüber hinaus gehend, mehr Land. 16 Die Möglichkeit der Zusammenführung von Grundstücken in einer größeren Gruppe v on Nutznießern war dabei auch vorgesehen. Von dem Grundbesitz der Deutschen in der Wojwodina wurden 50.000 Joch für die Ansiedlung von Soldaten ausge wiesen, die sich für die Landwirtschaft als berufliche Haupttätigk eit entschieden. 17 Es gab aber viel mehr Interessenten für bäuerlichen Grundbesitz als dies die Kapazitäten des Agrarfonds zuließen.18 Auch im Jahr 1945 wurden aus dem Staatsfonds landwirtschaftliche Güter abgesondert, da die neue Regierung beabsichtigte, der Viehzucht und dem Obstanbau mit Hilfe dieser Muster güter bedondere Impulse zu geben, w odurch auf wissenschaftlichem Wege auch die private Landwirtschaft gefördert werden k onnte.19 So wurden aus dem Staatsfonds die meisten Grundstücke an die staatlichen Landwirtschaftsbetriebe v ergeben und wesentlich weniger an sonstige Einrichtungen und bäuerliche Arbeitsgenossenschaften.20 Des Weiteren war vorgesehen, dass aus dem Bodenfonds der Agrarreform auch Zuweisungen für militärische Zweck e, Wissenschaft und Sozialeinrichtungen erfolgen sollten. Ebenso sollten kleine Flächen bis zur Größe von zwei Ar an Gruppen, die nicht in der Landwirtschaft arbeiteten, zur Nutznießung verteilt werden dürfen.21 Das Ziel der Regierung war, die Nutznießer der Agrarreform fest an das Land zu binden. Diesem Ziel wurde gleichzeitig durch Förderungs- und Repressionsmaßnahmen Nachdruck verliehen. Im Jahr 1946 wurde das Gesetz über die endgültige Liquidierung der landwirtschaftlichen Schulden verabschiedet. Für die Beteiligten der Befreiungsbe wegung und für die hinterbliebenen F amilien dieser Gruppe wurden alle Schulden gelöscht; für Andere gab es Erleichterungen bei der Tilgung der Schulden. So wurde die ursprüngliche Gesamtschuldenlast v on 130 Millionen auf 30 Millionen Dinar reduziert. 22 Gleichzeitig wurde auch die finanzielle Liquidierung der Vorkriegsreform in der Wojwodina vollzogen.23 Auf der anderen Seite hatten die Nutznießer der Reform für einen Zeitraum v on 20 Jahren k einen Anspruch auf die freie Verfügung über das erhaltene Land; beim Verlassen des Grundbesitzes und bei der Unterlassung des Anbaus war die Enteignung vorgesehen. Da16 G AåEŠA, Agrarna reforma (wie Anm. 1), S. 115. 17 Ebd., S. 110. 18 Das Landwirtschaftsministerium legte fest, dass es rund 700.000 Bewerber für das Agrarland geben sollte; es war zudem klar, dass der Gesamtfonds des Landes nicht ausreichen würde, um wirtschaftlich nachhaltigen Landgüter zu bilden; GAåEŠA, Agrarna reforma (wie Anm. 1), S. 142. 19 Ebd., S. 104. 20 Ebd., S. 367. 21 Ebd., S. 145. 22 Ebd., S. 117–118. 23 Durch das Gesetz über die endgültige Schuldenliquidation für Landwirte wurden nach dem Zweiten Weltkrieg die Schulden der Kämpfer und deren Familien, der Opfer im Kampf gegen die deutsche Armee, der Mitglieder der Partisanen, als auch alle Schulden unter 5.000 Dinar und die Schulden der Zahlungsunfähigen aufgelöst. Die restlichen Schulden waren in einer Frist von 6 Monaten zu tilgen, zehn 10 alte Dinare wurden in einen neuen Dinar umgetauscht. Dies hatte einen nachdrücklichen politisch-ideologischen Charakter; Gudac-Dodiç (wie Anm. 9), S. 37.

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rüber hinaus k onnte ge gen jene Besitzer , die ihr Land nicht anbauten und kultivierten, eine Anzeige bei der Staatsanw altschaft erstattet werden und sie k onnten nach dem Gesetz zur Bekämpfung der Spekulation und Sabotage zur Rechenschaft gezogen werden.24 Der Beginn der K olonisierung [„kolonizacija“] wurde offiziell im März 1945 angesetzt, als das K olonisierungsministerium ge gründet wurde. Vor dem eigentlichen Verfahren der Umsiedlung der K olonisten musste das Ministerium den Bodenfonds, der für die Ansiedlung bestimmt war, von dem trennen, welcher für die Grundstückslosen vorgesehen war. Gleichzeitig galt es, die damalige ille gale Ansiedlung in den Griff zu bek ommen, die in dieser Umbruchszeit sehr v erbreitet war.25 Das K olonisierungsministerium bestimmte im August 1945 die Ansiedlungsbezirke für die Einzelpro vinzen und der Agrarbeirat benannte schon im September die Ansiedlungsquoten für jede Teilrepublik. Die höchste Quote wurde für Bosnien und Herze gowina festgele gt (12.000 F amilien), gefolgt v on Kroatien (9.000), Montenegro (7.000), Serbien (6.000), die Wojwodina selbst (6.000), Slowenien (3.000) und Mazedonien 2.000. 26 In den Quellen stehen k eine Angaben darüber, was die Gründe für diesen Beschluss waren, doch es ist allgemein bekannt, dass folgende Kriterien für die Festsetzung der Quoten zu Grunde gele gt wurden: Der Prozentsatz der Erstkämpfer , das Ausmaß der Zerstörung einer Ge gend, das Niveau der Überbevölkerung in einem Agrargebiet, das Entwicklungspotenzial und die Möglichk eit der Grundbesitzerlangung im Rahmen der inneren K olonisie27 rung. Bis Anfang 1947 wurde der Plan über die Ansiedlung von 45.000 Familien erfüllt. Da aber in der Zwischenzeit die Quoten erhöht worden waren, war der Prozess bis dato nicht vollgezogen. Aus diesem Grunde beschloss der Agrarreformausschuss damals, eine Frist von einem weiteren Jahr für Diejenigen zu setzen, die das Ansiedlungsrecht erlangten, um sich niederzulassen; wer das innerhalb dieser Frist nicht schafft, verlor das Recht auf dieses Privileg. Aufgrund der Senkung der slowenischen Quote wurde der Rest an die Anderen verteilt; demzufolge waren Bosnien und Herzegowina erneut am stärksten vertreten.28

3. Ziele und ideologische Merkmale der Ref orm Nachdem die K ommunisten an die Macht gek ommen waren, war der Zustand im Bereich der Verhältnisse des Agrargrundbesitzes folgender: in Serbien und im Zagorje (Hrvatsko Zagorje im Nordwesten Kroatiens) herrschte eine agrarische Übervölkerung, in der Wojwodina und in Slawonien ein durch die Vertreibung der zahlreichen und wirtschaftlich stark en deutschen Be völkerung v erursachtes Vakuum. 24 G AåEŠA, Agrarna reforma (wie Anm. 1), S. 115–116. 25 Die vorübergehend beschäftigten Landarbeiter aus unterschiedlichen Teilen des Landes blieben einfach in ihren vorübergehenden Unterkünften mit der Absicht, sich hier dauerhaft anzusiedeln; GAåEŠA, Agrarna reforma (wie Anm. 1), S. 287. 26 Ebd., S. 288–294. 27 Ebd., S. 311–314. 28 Ebd., S. 342–343.

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Dazu kam, dass die neue Re gierung die demographischen und politischen F olgen der Vorkriegs- und Ustascha-Kolonisierung während des Zweiten Weltkriegs rückgängig zu machen versuchte.29 Die Reformmaßnahmen betrafen die Interessen von fast drei Vierteln der Einwohner, und hatten dementsprechend gewaltige politische Auswirkungen. Man ging an dieseArbeit in der Phase der Konsolidierung der neuen Regierung mit Nachdruck heran, wobei noch ein weiterer Grund eine maßgebliche Rolle spielte: Eine Hungersnot direkt nach dem Krie g sollte unbeingt v erhindert werden.30 Denn v on der Produktionsstabilisierung in der Wojwodina hing die Er nährung im ganzen Staat ab . Deswegen war die Änderung der agrarischen Besitztumstruktur von vorrangiger Bedeutung. Welches w aren damit die zentralen ideologischen Merkmale und Ziele der kommunistischen Regierung bei der Durchführung der Reform und der K olonisierung? Der grundlegende ideologische Grundsatz w ar, dass der Boden demjenigen gehören soll, der ihn kultiviert. Dies war prinzipiell ein Ausdruck alter Postulate der Bauern, sich v on den „Feudalfesseln“ zu befreien und Eigentümer des v on ihnen bewirtschafteten Grundbesitzes zu werden. Nach dem k ommunistischen Dogma wird hierunter auch die Abschaffung v on kapitalistischen Verhältnissen und der Lohnarbeit v erstanden, sodass die Reform auch die Maximierung des Grundbesitzes voraussetzte. Dies hatte auch die Bestreb ung zur F olge, dass derjenige, der das Land kultiviert, auch möglichst an den Landbesitz gebunden wird. Andererseits sollten diejenigen, die nicht von der Landwirtschaft lebten, daran gehindert werden, aus der Landwirtschaft Gewinne zu erzielen. Im Unterschied zur Sowjetunion kam es in Jugoslawien nicht zur Verstaatlichung des Bodens; stattdessen wurde das Land den Bauern als Eigentum übergeben, und zwar aus folgenden Gründen: 1.Aufgrund der massiven Beteiligung der Bauern imVolksbefreiungskrieg wollte die Regierung hier politisches Kapital aus dem zahlenmäßig am stärksten v ertretenen Bevölkerungsanteil schlagen, zumal in der Agrarbevölkerung ohnehin die stärkste Wählerbasis für das neue Re gime bestand. 2. Der technische Zustand der inländischen Landwirtschaft war der Großproduktion nicht förderlich. 3. die Gebir gslandschaft war hinderlich für den Aufbau von großen Landgütern, die für die Kollektivierung geeignet ge wesen wären. 31 Gleichw ohl w ar der Wirtschaftsbeirat im Sinne der kommunistischen Ideologie bemüht, die staatliche und genossenschaftliche Bewirtschaftung gegenüber dem dominierenden Pri vatsektor zu stärk en.32 Eine wichtige Rolle war den Genossenschaften [Zadruge] dadurch zuge wiesen, indem sie so wie 29 Ebd., S. 86. 30 Deswegen wurde den Kolonisten auferlegt, auch in fremden Landgütern gegen Entgelt zu arbeiten und die auf diesem Weg erzielten Einnahmen in der darauf folgenden Saison in der Landwirtschaft zu investieren; GAåEŠA, Agrarna reforma (wie Anm. 1), S. 144–145. 31 Ebd., S. 99, 140. 32 Obwohl der Boden als Eigentum übergeben wurde, strebte der Staat die Bildung des Kollektiveigentums an. Deswegen wurde dem staatlichen Landwirtschaftssektor große Bedeutung zugeschrieben. Dieser verfügte jedoch über erheblich weniger Fläche als der Privatbereich. 1946 waren es 0,8 Prozent und Anfang 1948 3 Prozent. 1948 gab es die meisten Staatsgüter (So wchosen), insgesamt 210 auf Bundes- Republik- und Landesebene mit 288.107 Hektar , 1.242 örtliche Staatsgüter und 123 landwirtschaftliche Einrichtungen mit einer Fläche v on 181.000 Hektar. Die Gesamtfläche betrug 481.000 Hektar. Der Staat investierte in diesen Sektor im Jahr

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der Staat bei der Versorgung der Dörfer die zentrale Rolle spielen sollten. In diesem Sinne gab es eine Anordnung, „die kapitalistischen Tendenzen der Kulaken zu senken“, den Pri vat- und Bankkredit auszuschließen und die Versicherungen bei den staatlichen Unternehmen anzusiedeln. 33 Die Maßnahmen zur Vorbeugung der sog. Kapitalisierung des Dorfes waren: Die größte Besitzfläche sollte bei 25–35 Hektar liegen, der Erwerb von Grundbesitz war verboten, sogar unter der höchst zugelassenen Fläche und die Verkaufsumsätze standen unter K ontrolle. Daneben bestand ein Erwerbsverbot für größere Maschinen, ungünstige Bedingungen für den Einsatz von Lohnarbeitern und der nicht den Marktgesetzen unterworfene Verkauf der produzierten Waren. Der Staat war darum bemüht, den mittleren und kleineren Landwirten entgegen zu kommen, und die Stärkung v erhältnismäßig reicher Landwirte zu hindern und sie unter Kontrolle zu halten. Trotzdem war der Staat auf die Produktion des Pri vatsektors angewiesen, da dieser völlig dominant w ar. So wurden gerade Diejenigen eingeschränkt, die die meisten Erträge erwirtschaften k onnten. Die verpflichtende Warenabgabe zu festgesetzten Maximalpreisen erstickte ab 1945 die Produktion weitgehend.34

4. Die Durchführung der Kolonisation Der Agrarbeirat [Agrarni Sa vet] legte im September 1945 die Ansiedlungsquoten fest, w onach das stärkste K ontingent Bosnien und Herze gowina so wie Kroatien zugeteilt wurde. Der Fonds aus enteigneten Häuser, der für die Kolonisten bestimmt war, war groß und umfasste rund 62.000 Einheiten.35 Obwohl Quellen über die Beweggründe für den Verteilungsmodus fehlen, sind die Be weggründe für die hohe Quote der Re gion von Bosnien und Herze gowina offensichtlich: In diesem Raum befand sich die Basis der Partisanenbewegung. Aus Bosnien forderten meistens die ethnischen Serben den Umzug aus Westbosnien [Bosanska Krajina] und Herze gowina in das Banat (im Dreieck zwischen Zrenjanin, JašaTomiç und Kikinda) und in den Raum von Baãka Palanka. Zumindest 50.000 Personen zogen aus Bosnien und der Herzegowina weg, und im Laufe der Kolonisierung stieg diese Zahl weiter an, weil Slowenien auf seine Ansiedlungsquote verzichtete. Aus Kroatien wurden die Auswanderer aus dem Gebiet des Kordun und der Lika, etwas weniger aus Dalmatien in die Batschka übersiedelt, in den Raum um Sombor , Apatin und Odžaci. In1946 220 Millionen, 1947 1.410 Millionen und 1948 3.752 Millionen Dinar; G UDAC-DODIå (wie Anm. 9), S. 38–40. 33 Ga åeša (wie Anm. 1), S. 141. 34 Dennoch gab es keine klaren Maßstäbe für die Einstufung kleiner, mittlerer und reicher Landwirte. Personen mit mehr als 10 Hektar wurden als reiche Landwirte erachtet, wenn sie auch Lohnarbeiter einsetzten, wurden sie als Großbauern eingestuft. Dies hatte einen ideologischen Hintersinn, in der Praxis gab es diesbezüglich zahlreiche Missbräuche. Die k ommunistische Behörde hatte eine dogmatische Angst davor, dass die Landwirte Gewinn machen könnten. Um Spekulationen zu v erhindern, haben sie den freien Handel eingeschränkt; G UDAC-DODIô(wie Anm. 9), S. 41–44. 35 G AåEŠA (wie Anm. 1), S. 297.

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teressanterweise gab es zahlreiche Be werber aus Serbien für den Agrarbesitz (es war das Dreif ache der vorgesehenen Quote v on 6.000 F amilien), größtenteils aus dem Gebiet Südserbiens, aber sie k onnten sich im Großen und Ganzen relati v schlecht anpassen; es gab Adaptionsprobleme und so kamen sie auch in der Großzahl der Fälle zurück. Die Anzahl der Ansiedler aus anderen Teilrepubliken w ar eindeutig geringer. Aus der Wojwodina selbst hatten in erster Linie die Soldaten aus der Partisanenbewegung einen Anspruch auf eine Landzuteilung. Doch hier galt das Prinzip, umfangreiche Umsiedlungen nach Möglichk eit zu vermeiden. Die Regierung zeigte ohnehin wenig Interesse an der Ansiedlung von Wirtschaftsemigranten aus Übersee und den Nachbarstaaten. Zudem gab es aus diesem Kreis wenig Interessenten, da diese potentiellen Zuw anderer vor allem Industriearbeiter und nicht Landwirte waren. Die Anpassung der Kolonisten war durch eine Reihe von psychologischen, sozialen und geographischen Faktoren gekennzeichnet. Die Ernährung in denAnsiedlungsgebieten w ar mangelhaft und die gesamten gesundheitlichen Umstände schlecht. Die lokalen Behörden arbeiteten manchmal mit den K olonisierungsausschüssen nicht gut zusammen, es gab nicht ausreichend Raum für die Unterbringung der Angekommenen. Dabei bemühten sich die Behörden darum, dass die Gemeindebeamten aus dem gleichen Raum kamen wie die Ansiedler, so dass die Anpassung leichter vonstatten ging.36 Gleichwohl waren die Kenntnisse der Neusiedler über die Landwirtschaft äußerst gering, weil sie aus Ge genden kamen, in denen Viehzucht betrieben wurde. Deswe gen wurden Schulungen or ganisiert und K urse für die Wirtschafts- und Haushaltsführung, Alphabetisierung, Hygiene, Produktion und Zubereitung der Nahrungsmittel durchgeführt. Gleichw ohl hatten die Siedler Schwierigkeiten aus Mangel an Erfahrung bei der Anpassung an den neuen Arbeitsrhythmus und andere Ge wohnheiten. Um die Probleme leichter zu überwinden, wurden die K olonisten direkt bei unterschiedlichen landwirtschaftlichen Arbeiten eingesetzt, da eine optimale Arbeitsorganisation höchste Priorität genoss.37 Als Ergebnis kann indes aufgrund soziologischer Erhebungen festgehalten werden, dass die Anpassung erfolgreich gewesen ist. In diesem Zusammenhang bietet es sich an, kurz die Ergebnisse einer Erhebung vor Ort aus den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Syrmien darzustellen. Diese Untersuchung erf asste Daten über die Migrationsströme, Zeit, Art und Ursachen der Umsiedlung, aber auch zur ethnischen und kulturellen Anpassung in der neuen Umwelt. Syrmien war aufgrund seiner günstigen naturräumlichen Ausstattung und der kulturellen Anziehungskraft attraktiv und zog immer wieder Migranten aus dem Dinargebiet an. Daneben gab es natürlich auch innerhalb von Syrmien eine nicht unwesentliche Mobilität. Durch das Erhebungsmuster wurden rund 1.272 Haushalte erf asst, wobei die meisten Umsiedlungen nach Ruma zu v erzeichnen waren (82,7 Prozent), gefolgt von Hrtkovci (10 Prozent) und Nikinci (7 Prozent). Nach der ethnischen Zusammensetzung machen die Serben 93 Prozent der Zugewanderten aus, woraus 81 Prozent aus der bosnischen und kroatischen Kraina (Bosanska und Hrv atska Krajina) 36 Ebd., S. 333–334. 37 Ebd., S. 340, 332.

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kamen. Die Zugezogenen aus Syrmien selbst (Binnenk olonisation) machten etw a 13 Prozent aus; die meisten ließen sich dabei in Ruma nieder , wobei ein ähnlicher Prozentanteil der nach Ruma Zuge wanderten aus der Re gion Kordun kam. Etw as weniger, ungefähr 8 Prozent der Umgesiedelten kamen aus der Lika und siedelten sich ebenfalls mehrheitlich in Ruma an, ein kleinerer Anteil in Hrtkovci. Nach dem Zeitpunkt der Zuwanderung kam der größte Anteil (83 Prozent) während der Nachkriegskolonisierung 1945–46; ein Nachzug erfolgte bis zum Jahr 1958, w obei es sich meistens um einen F amiliennachzug aus der alten Heimat handelte. Einen wichtigen Anteil der Zugewanderten machen auch die Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien aus, die im Jahr 1941 nach Serbien kamen. Sie zogen nach dem Krie g in organisierten Gruppen nach Syrmien. Die Kroaten machten sich erst nach Abschluss der ersten K olonisierungsphase nach 1947 auf und blieben als Saisonarbeiter in Syrmien, weil sie dort heirateten und eine F amilie gründeten. Bei vielen Zuzügen handelte es sich um Arbeitsmigranten. Alle Zuwanderer waren darum bestrebt, in der eigenen Gruppe zu bleiben und sonderten sich nach ethnischen Prinzipien v on den anderen Gruppen ab . So w aren die Kroaten in Hrtk ovci und Nikinci k onzentriert, wo es auch früher Kroaten gab, und die Serben w aren in Ruma. Die ersten Kolonisten übernahmen die v on den Deutschen v erlassenen Häuser, w obei über 1.000 deutsche Familien aus Ruma wegziehen mussten, rund 139 aus Hrtkovci und aus Nikinci etwa 100.38 Die Anpassung fiel den serbischen Kolonisten aus Syrmien und Slawonien am leichtesten, da sie gewissermaßen fast das gleiche Umfeld v orfanden. Die Bosnier und Krainer, die seit 1941 in Serbien w aren, passten sich gleichermaßen gut an. Einzelne Kolonisten, die hier zunächst arbeiteten und dadurch die Lebensbedingungen kennenlernen konnten, hatten ebenfalls wenig Adaptionsprobleme. Anders war die Lage bei den später, nach 1945 angekommenen Kolonisten; hier gab es erhebliche Umstellungsprobleme. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Erhebung 15 Jahre nach dem Krieg durchgeführt wurde und so schon ein weitgehender Integrationsprozess erfolgt w ar. Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass nur wenige der Neusiedler in ihre Herkunftsgebiete zurückge gangen sind. Eheschließungen, Ausbildung, Wehrdienst, Arbeit in Belgrad – all dies w aren Einflüsse, die sie an ihr neues Lebensumfeld banden. Eine ähnlich gute Integration kann auch für die kroatischen Siedlern in Hrtkovci konstatiert werden; sie bauten zahlreiche familiäre Beziehungen durch Eheschließungen auf. Nur die wenigen Serben in den kroatischen Dörfern schlossen k eine Ehen mit Katholik en und lebten separiert. Dazu kam ein Entwicklungsrückstand im Vergleich zu ihren kroatischen Nachbarn.39 Im Jahr 1948 machten die Kolonisten 13,5 Prozent der Einwohner der Wojwodina aus. Der ethnischen Struktur nach w aren es in der Mehrzahl Serben (rund 72 Prozent) und Montenegriner (rund 18 Prozent). Im Schnitt hatte eine Kolonistenfamilie sechs Mitglieder. Die Kolonisierung wurde Ende 1947 durch die Liquidierung der Bodenfonds der Agrarreform auch formell-rechtlich abgeschlossen, weil der 38 Ebd., S. 333–334. 39 T RIFUNOSKI, Jovan: Posleratno naseljavanje stranovništva u Rumi, Hrtkovcima i Nikincima [Die Ansiedlung der Be völkerung in Ruma, Hrtk ovci und Nikinci nach dem Krie ge]. No vi Sad 1961, S. 58–68.

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Prozess zu seinem natürlichen Ende kam. 40 Die Geschichte der K olonisierung der Wojwodina endet indes hier nicht, weil noch jahrelang spontane Ansiedlungen und Nachwanderungen stattf anden. Allerdings zeigen sich gerade in der Erforschung dieses Fragekomplexes erhebliche Forschungslücken.

5. Die Ergebnisse der Agrarreform und der K olonisierung nach 1945 Zunächst einmal änderte die Agrarreform die Besitztumsverhältnisse in der Wojwodina radikal, indem der Großgrundbesitz und die Überreste rückständiger oder „halbfeudaler“ Verhältnisse abgeschafft wurden. Etwa 40 Prozent des Landes in der Wojwodina kamen in die Hände neuer Eigentümer. Das jugoslawische Gesetz über die Agrarreform [Zak on o agrarnoj reformi I k olonizaciji] zählt neben den albanischen und b ulgarischen Agrarreformen zu den radikalsten Nachkrie gsgesetzen dieser Art in Europa. Die Interessen der Landlosen und Kleinbauer wurden zufrieden gestellt und der Grundsatz, das Land gehöre demjenigen, der es kulti viert, wurde buchstabengetreu umgesetzt. Zweitens kam es zu einer wesentlichen Änderung der ethnischen Struktur: DieAussiedlung [iseljavanje] der deutschen Bevölkerungsgruppe und damit v erbunden ein größerer Anteil der ethnischen Gruppe der Serben in der serbischen Teilrepublik (durch die Ansiedlung in der Wojwodina und schon von Vorkriegskolonisten aus Mazedonien) einerseits, aber auch die Erhöhung des Anteils der bosnischen Muslime in der Bevölkerung von Bosnien und Herzegowina aufgrund der Aussiedlung serbischer K olonisten aus diesem Raum anderer seits. Dadurch wurden dieVoraussetzungen für die Föderalisierung des Staates nach dem ethnischen Prinzip geschaf fen, was durch die späteren Ereignisse in Jugoslawien bestätigt wurde. Drittens wurden die Kolonisten zu Trägern der neuen Organisationsform landwirtschaftlicher Genossenschaften [zemljoradni ãke zadruge bzw. kolhoz], die k ennzeichnend für den ersten Nachkrie gszeitraum in den jugosla wischen Dörfern wurden; allerdings zeichnete sich schon 1953 ihr endgültiger Misserfolg ab. Die Genossenschaften stellten eine Alternative zu den kapitalistischen Verhältnissen auf dem Dorfe dar , die die Kommunisten abschaffen wollten. Letztendlich wurde auch das topographische Bild der Wojwodina dauerhaft geändert. Die Landzuteilung wurde parallel zu der inneren und äußeren Kolonisierung abgewickelt, w obei es immer wieder zu Umsiedlungen v on Kolonisten innerhalb der Wojwodina kam. Es wurden neue Siedlungen errichtet, die bis heute erhalten blieben. Dieser Prozess der Bodenaufteilung und des Aufbaus neuer Siedlungen dauerte bis 1950.

40 G

AåEŠA

(wie Anm. 1), S. 347, 354.

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6. Wirtschaftliche Auswirkungen, historische Parallelen und historische Perspektive Vom wirtschaftlichen Aspekt führte diese Reform, gleichermaßen wie die vorangegangenen Reformmaßnahmen, durch die Zerstückelung größeren Grundbesitzes zu einer Stagnation. Die Prädomination v om flächendeckenden kleinen und mittleren Grundbesitz hemmte in wirtschaftlicher Hinsicht die F ortentwicklung der Landwirtschaft. Kleine autarke Landgüter erzeugten k einen Mehrwert und w aren nicht imstande, intensiven Anbau zu betreiben, was Impulse für die Industrialisierung des ländlichen Raumes geschaffen hätte. Dazu kam, dass die Volskdeutschen, die sich gut mit einer intensiven Kultivierung des Landes auskannten, durch Kolonisten aus gebirgigen Gebieten ersetzt wurden, die kaum etwas von Ackerbau verstanden. Die Volksdeutschen v erfügten über mehr Geräte und hatten einen höheren Anteil an selbstständigen Bauern, da ihre Familien kleiner waren als die Kolonistenfamilien. Die neuen Eigentümer hatten zwar Land bekommen, aber der Ertrag war aufgrund der unwirtschaftlichen Bodennutzung geringer. Die staatlichen Landgüter und die landwirtschaftlichen Genossenschaften waren nicht in der Lage, den Ertragsverlust auszugleichen. Natürlich waren die Kriegszerstörungen auch ein Grund dafür, dass im Jahr 1950 der Ertrag niedriger war wie in der Vorkriegszeit. Betrachtet man dieAgrarreform und die Kolonisierung in Jugoslawien 1945–48 aus der historischen Perspektive, zeigen sich auch manche K ontinuitäten und Diskontinuitäten. Im Rahmen dieser Reform stand der Grundsatz, das Land gehöre demjenigen, der es kultiviert, an oberster Stelle; in diesem Sinne stellt sie den Abschluss eines langwierigen Prozesses der Befreiung v on Feudalbeziehungen dar . Gleichzeitig besteht die Diskontinuität in der Abschaffung der kapitalistischen Verhältnisse auf dem Dorfe, als auch in der Schaffung einer neuen Organisationsform, der landwirtschaftlichen Genossenschaften. Diese Institutionen w aren jedoch nur von kurzer Dauer . Aus der historischen Perspekti ve heraus dominieren indes eindeutig die Kontinuitäten. Diese Reform stellte denAbschluss eines Zyklus dar, welcher sozusagen seit der Gründung des modernen serbischen Staates andauert. Unter den neuen gesellschaftlich-politischen Umständen und im Sinne der neuen Ideologie wurde eigentlich der Prozess der Bodenzerstück elung und die größenmäßige Angleichung des Grundbesitzes v ollzogen. Kleine Bauerngüter als ein Phänomen der serbischen Sozial- undWirtschaftsgeschichte wurden zunächst schon nach 1918 in der Wojwodina eingerichtet, die zu einem anderen Kulturraum mit anderen Traditionen gehörte. Dieser Trend wurde auch durch die Reform nach 1945 fortgesetzt, wie schon zuvor durch andere Reformen zwischen den beiden Weltkriegen. Damit einher ging die Entwicklung zur agrarischen Überbevölkerung, ein Phänomen, das in Zusammenhang zur Prädomination der kleinen autarken Bauernwirtschaft steht. Diese Dominanz kleiner und mittlerer Bauernwirtschaften entwickelte sich flächendeckend im ganzen Land. Hinsichtlich der Kolonisierung ergibt sich sehr offensichtlich eine Kontinuität zu früheren Migrationen im Balkanraum. Einerseits stellt sie eine weitere Welle in einer ganzen Reihe historischer Migrationsbe wegungen v on Süden nach Norden dar, die aus dem Passivraum der Dinariden nach Pannonien erfolgte und immer eine

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Auswirkung v on Krie gen und wirtschaftlicher Not w ar. Andererseits steht diese Kolonisierungsbewegung in einer Reihe v on organisierten Umsiedlungen der Bewohner, welche für diesen Großraum schon seit der Zeit des Byzantinischen und Osmanischen Reiches k ennzeichnend w ar. Es geht hier um Umsiedlungen mit einem politischem Hintergrund, um den Wegzug von „unzuverlässigen“ ethnischen und anderen Gruppen, die mit der gleichzeitigenAnsiedlung der „Zuverlässigen“ in die strategisch wichtigen Teile des Territoriums verknüpft war. Mehr oder minder offen und gezwungenermaßen, f and dies in allen Zeitabschnitten in Südosteuropa statt. Die K olonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg ersetzte die deutschen Bewohner vorwiegend durch Serben aus den dinarischen Alpen. Sie waren es, die im Volksbefreiungskrieg eine zentrale Rolle spielten und die eigentliche Stütze des neuen Regimes darstellten.

Zur Problematik des ländlichen Raumes in Südosteuropa nach 1989 Peter Jordan

1. Generelle Merkmale der Regionalentwicklung in den Transformationsländern, besonders Südosteuropas Der ländliche Raum im Sinne der großstadt- und großindustrieferneren Gebiete, durchaus mit gemischter , nicht nur agrarischer Wirtschaftsstruktur, auch mit kleineren städtischen Zentren, w ar schon während der k ommunistischen Periode eine sozioökonomische Problemzone mit geringerem Lebensstandard und ungünstiger wirtschaftlicher und demographischer Entwicklung. Seit der politischen Wende 1989/90 und dem Be ginn der Transformation hat sich die Situation f ast überall v erschärft, mit Ausnahme von ländlichen Gebieten mit intensiverem Tourismus und von ländlichen Gebieten, die an Wachstumsachsen zwischen großen Städten so wie an Grenzen zu wirtschaftlich besser gestellten Staaten lie gen. Wesentliche Gründe dafür sind die größer ge wordene Bedeutung marktwirtschaftlicher Standortfaktoren, der schwächer gewordene Ausgleich sozioökonomischer Disparitäten durch staatliche Transferleistungen und das Auflassen von genossenschaftlichen und staatlichen Agrargroßunternehmen, die während der kommunistischen Periode auch Funktionen im Sozial-, Gesundheits-, Bildungsund Kulturbereich übernommen hatten.1 Dagegen haben sich bisher als Hauptge winner des Transformationsprozesses Hauptstädte und große Regionalzentren erwiesen. Sie zogen mit ihrer guten Infrastruktur und leichten Erreichbark eit die In vestitionen an sich. Ihre Ge winnerrolle äußert sich oft auch in Be völkerungszuwachs, allerdings betrifft er wegen der zugleich stattfindenden Suburbanisierung zumeist die weitere Stadtre gion, nicht die Kernstadt. Einzige größere Ausnahme ist Tirana, wo auch die Kernstadt an Bevölkerung gewinnt. Ländliche Re gionen an Westgrenzen profitieren v om Grenzhandel, v om Arbeitspendeln ins Nachbarland mit höheren Löhnen, vom Einkaufs- undAusflugstourismus aus dem w ohlhabenderen Nachbarland, v on der Auslagerung industrieller Produktionen, moti viert durch das Lohngefälle, v om Zupachten landwirtschaftlicher Nutzflächen durch Bauern aus dem Nachbarland und v on anderen Arten öffentlicher und pri vater grenzüberschreitender Zusammenarbeit. Beispiele in Südosteuropa sind dafür das rumänische Grenzgebiet zu Ungarn und die Wojwodina [Vojvodina] in Serbien. K eine derartigen Ef fekte weisen dage gen die b ulgarische Westgrenze zu Serbien und Mak edonien auf, auch nicht die mak edonische Westgrenze zu Albanien. In beiden Fällen schließen im Westen wirtschaftlich schwächere oder nur unwesentlich stärkere Staaten an. 1

Allerdings waren durch sie die entsprechenden dörflichen Strukturen zerstört worden.

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Ländliche Regionen mit Tourismus können durch den Tourismus zusätzliches Einkommen lukrieren. Beispiele in Südosteuropa sind dafür Siebenbürgen [Ardeal] mit seinen touristisch attrakti ven Kirchenburgen und Sachsenstädten, die südliche Bukowina [Bucovina] mit ihren Klöstern, die rumänische und bulgarische Schwarzmeerküste oder die montenegrinische Küste. Ländliche Regionen an Wachstumsachsen zwischen großen Zentren haben gewissermaßen am Aufschwung der Zentren Anteil und profitieren von ihrer Lagegunst. Hauptverlierer ist der ländliche Raum, wenn er nicht durch diese F aktoren begünstigt ist, also vorwiegend agrarische Peripherien und Semiperipherien ohne touristisches oder sonstiges tertiäres Entwicklungspotential. Es handelt sich um weite Landstriche, gerade im post-k ommunistischen Südosteuropa im Sinne der Staaten Bosnien und Herze gowina, Serbien, Montene gro, Makedonien, Albanien, Bulgarien, Rumänien, auf das sich die weiteren Ausführungen nun beschränken.

2. Zur Entwicklung im ländlichen Raum des postkommunistischen Südosteuropas 2.1. Gemeinsame Entwicklungsmerkmale des ländlichen Raums in den postkommunistischen Staaten Südosteuropas Die gemeinsamen Merkmale sind nicht allzu zahlreich, denn die einzelnen Staaten Südosteuropas unterscheiden sich in wesentlichen F aktoren der post-k ommunistischen Entwicklung, nämlich so wohl im Hinblick auf die Ausgangssituation am Ende der kommunistischen Phase als auch im Hinblick auf die seit der politischen Wende eingeschlagene Reformpolitik. (A) Im ländlichen Raum wird weniger in vestiert als in städtischen und besonders als in großstädtischen Gebieten, denn die dort zumeist besser entwick elte Infrastruktur in Bezug auf Bildung, Wohnen, Verkehr und andere Dienstleistungen verspricht raschere Erlöse aus in vestiertem Kapital. Das bedeutet weniger Inno vation und Modernisierung im ländlichen Raum. (B) Ök onomisches Agieren im ländlichen Raum ist heute bestimmt v on Agrarmarktpreisen und der Höhe des Eink ommens in der Landwirtschaft relati v zum Einkommen in anderen Wirtschaftssektoren. Dagegen spielen im westlichen Europa und besonders in den Alpenländern Subventionen eine weit größere Rolle. Bauern werden dort, jedenfalls in den landwirtschaftlich weniger ertragreichen Gebieten, überwiegend für Landschaftspflege bezahlt, teils aus nationalen Mitteln, teils durch die Europäische Union (EU). Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU schüttet viel Geld aus und verfolgt zumindest seit 2000 („Agenda 2000“) und noch mehr in der Programmperiode 2007–2013 auch nicht mehr in erster Linie das Ziel der Sub ventionierung der landwirtschaftlichen Produktion, sondern einer Förderung des ländlichen Raumes insgesamt, besonders auch der Umweltqualität.

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In den Reformländern Südosteuropas fehlen dagegen derartige Fördermaßnahmen weitgehend. Rumänien und Bulgarien sind allerdings seit 2000 in den Genuss von EU-Strukturfondsmitteln aus dem Programm SAP ARD (Special Accession Pro-gramme for Agriculture and Rural Development) gekommen und sind seit 2007 Teil der GAP der EU, w obei allerdings den neuen Mitgliedsländern noch auf längere Sicht geringere Förderungen zufließen werden als den alten. (C) Die Agrarmärkte der Reformländer mussten sich im Zuge der Transformation dem Weltmarkt öffnen. Dies bedeutete das Zulassen oft übermächtiger westeuropäischer (EU) und überseeischer Konkurrenz, nicht nur bei Agrarprodukten selbst, sondern auch bei Nahrungs- und Genussmitteln, die aus Agrarprodukten hergestellt werden. Prestigeträchtige Weltmarken werden auch v on den K onsumenten in Südosteuropa heimischen Produkten v orgezogen und v erdrängen diese. Zum Teil werden auch Überschussproduktionen (z. B. Kartoffel, Zuckerrüben) aus der EU in Südosteuropa zu Dumpingpreisen angeboten, weil es billiger ist, sie dorthin zu transportieren, als sie im westlichen Europa zu vernichten. Sie untergraben dort das Preisniveau. Dies trifft eine heute überwie gend kleinbetriebliche, wirtschaftlich schw ache Landwirtschaft, die vom Staat kaum gefördert wird und der auch kaum administrative, soziale und wirtschaftlichen Stützstrukturen zur Seite stehen, wie sie z. B. im Alpenraum in F orm v on Lagerhausgenossenschaften oder eines landwirtschaftlichen Kreditwesens existieren. (D) Die kleinen landwirtschaftlichen Produzenten geraten leicht in Abhängigkeit von Monopolisten oder Quasi-Monopolisten, wenn sie sich mit Saatgut, Düngemitteln etc. eindeck en oder ihre Produkte v ermarkten wollen. Bei den Monopolisten handelt es sich zumeist um große Handelsunternehmen im Besitz von Banken. Gegenüber solchen Großunternehmen befinden sich die kleinen Bauern in einer ungünstigen Verhandlungsposition. (E) Migrationsströme er gießen sich in Richtung günstigerer wirtschaftlicher Aussichten, nach dem Wegfallen von Beschränkungen beim Wohnsitzwechsel zumeist doch vom ländlichen Raum in städtische Gebiete. Sie lassen im ländlichen Raum verzerrte demographische Strukturen zurück, eine überalterte, weniger gebildete Bevölkerung, die sich politisch strukturkonservativ verhält und von sich aus wenig Initiativen ergreift. Wenn in den Städten die wirtschaftlichen Aussichten nicht wesentlich besser sind, ziehen Städter aber auch aufs Land, betätigen sich in der pri vaten Landwirtschaft oder beim Aufbau privater Dienstleistungen in den Dörfern, tragen oft aber auch nur zu mehr Arbeitslosigkeit auf dem Land bei. Der ländliche Raum über nimmt in diesem Fall eine soziale Pufferfunktion. Eine solche Situation gab es z.B. ab 1993 in Rumänien. Der weitaus häufigere Fall ist aber doch die Land-Stadt-Wanderung. Trotzdem ist in allen Ländern Südosteuropas in den 1990er Jahren die Zahl der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft gestiegen. (F) Außeragrarische Aktivitäten größeren Ausmaßes (wie Agrotourismus und andere Formen des ländlichen Tourismus, spezialisierte Industrie) beschränk en sich

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im ländlichen Raum auf Regionen mit spezifischen Standortvorteilen. Aber auch sie setzen eine bessere Infrastruktur im Verkehrs-, Sozial- und Bildungsbereich v oraus. Allenthalben sind im ländlichen Raum aber Klein- und Kleinstunternehmen des tertiären und sekundären Sektors tätig, die sich zumeist behelfsmäßiger Einrichtungen bedienen und sehr flexibel temporäre Marktnischen füllen. Typische Sparten sind kleine Lebensmittelgeschäfte („Minimarkets“), Frisiersalons, Bars sowie Kleinindustrie und Kleinge werbe wie Säge werke, Bäck ereien, andere Nahrungsmittelproduktionen oder Transportunternehmen. An Letzteren sind Roma oft überproportional beteiligt. 2.2. Staatenweise, zum Teil auch regionale Unterschiede in der Entwicklung des ländlichen Raums im postkommunistischen Südosteuropa Die Unterschiede im heutigen Zustand der Entwicklung des ländlichen Raums zwischen den postk ommunistischen Staaten Südosteuropas, zum Teil auch zwischen größeren Teilregionen dieser Staaten, sind bedingt durch unterschiedliche Strukturen v or der k ommunistischen Periode, unterschiedlich intensi ve Überformung und Umformung des ländlichen Raums in kommunistischer Zeit sowie durch divergierende Formen der Transformationspolitik nach der politischen Wende. Auf Unterschiede, die auf vorkommunistische Strukturen zurückzuführen sind, soll hier nicht einge gangen werden, weil sie in anderen Beiträgen sehr k ompetent behandelt werden. Ihre Bedeutung ist k einesfalls zu unterschätzen; auch deshalb nicht, weil sie großen Einfluss auf die Wahl der Vorgangsweisen in der k ommunistischen Zeit und in der Transformationsperiode hatten. 2.2.1. Unterschiede, die auf die unterschiedlichen Vorgangsweisen in der kommunistischen Periode zurückzuführen sind Die Einflussnahme der k ommunistischen Systeme auf den ländlichen Raum v ariierte signifikant. Der Hauptgegensatz bestand diesbezüglich zwischen dem Selbstverwaltungssozialismus Jugoslawiens und den zentralen Planwirtschaften der anderen kommunistischen Staaten Südosteuropas. Unterschiede gab es aber auch zwischen Rumänien, Bulgarien und Albanien. Zusätzlich ergaben sich regionale Unterschiede zwischen Berggebieten einerseits und Flach- und Hügelländern andererseits innerhalb dieser Länder.

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Abb. 1: Durchschnittliche Betriebsgrößen Ende der 1980er Jahre. Die Flächenf arbe drückt die durchschnittliche Größe eines landwirtschaftlichen Betriebs in ha der Landwirtschaftlichen Nutzfläche aus. Bei den hellsten Tönen beträgt dieser Wert mindestens 10 ha, bei den dunk elsten bis zu 200.000 ha. Quelle: TASCHLER, 1985.

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2.2.1.1. Unterschiede, die auf Ausmaß und Intensität der Kollektivierung zurückgehen 2.2.1.1.1. Abgebrochene Kollektivierung in Jugoslawien Bis 1948 wurde wie in den anderen kommunistischen Staaten auch in Jugoslawien mit der Kollektivierung begonnen, zuerst in den fruchtbaren Gebieten vor allem des pannonischen Raumes und in den Beck en Makedoniens. Als es 1948 zum Bruch zwischen Tito und Stalin kam, erfolgte ein K urswechsel. Was k ollektiviert w ar, wurde überwiegend in selbstverwaltete Großunternehmen umgewandelt. Diese er-

Abb. 2: Besitzarten nach ihrem Anteil an der Landwirtschaftlichen Nutzfläche Ende der 1980er Jahre. Quelle: TASCHLER, 1985.

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reichten hohe Anteile an der Landwirtschaftlichen Nutzfläche (LNF). In der Wojwodina entsprach dies etw a einem Drittel und in Mak edonien fast der Hälfte der Landwirtschaftlichen Nutzfläche, in Makedonien aber vor allem auf Weideland, daneben im Tabak-, Reis- und Gemüseanbau. Was bis 1948 nicht kollektiviert worden war, blieb kleinbäuerlich privat. Kleinbäuerlich blieb somit praktisch der ganze Gebirgs- und Küstenraum Jugoslawiens, 67 Prozent der LNF landesweit. Die private Betriebsfläche blieb aber gesetzlich auf 10 ha limitiert. Die privaten Bauern wurden öffentlich kaum unterstützt, auch nicht (wie im Alpenraum) in private landwirtschaftliche Genossenschaften eingebunden. Sie führten daher zumeist eine kärgliche Existenz und waren bei Fehlen einer Zuerwerbsmöglichkeit (Pendeln zur Industriearbeit, Tourismus) kaum lebensfähig. Es handelte sich bei den privaten bäuerlichen Betrieben also zumeist um Selbstversorger. Die Betriebe wurden auch oft aufge geben, was Stadtwanderung, Gastarbeiterwanderung und das Wüstfallen ganzer Landstriche bewirkte. 2.2.1.1.2. Stalinistische Kollektivierung in Albanien und Rumänien In Albanien und Rumänien gab es vor der kommunistischen Machtergreifung viele Kleinbauern. Sie wurden vor allem im Lauf der 1950er Jahre mit „Zuck erbrot und Peitsche“ (wirtschaftlichen Anreizen und Zwangsmaßnahmen) veranlasst, ihr Land in Genossenschaften einzubringen und dann als Lohnarbeiter für die Genossenschaften zu arbeiten. Besonders in fruchtbaren Ebenen und Beck en wurden später Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) in Staatsbetriebe umgewandelt. Der Gebirgsraum Rumäniens blieb von Kollektivierung fast verschont und präsentiert sich heute als intakte, traditionell-bäuerliche Kulturlandschaft mit kompletter demographischer Struktur . Die K ollektivierung erreichte in Rumänien ein Ausmaß von etwa 85 Prozent der LNF , in Albanien von 95 Prozent. Daneben bestand in Albanien nur noch privates Hofland. Kollektivwirtschaften waren im Prinzip leistungsfähige Marktproduzenten mit riesigen Betriebsflächen und großen Maschinen. Die zur K ollektivierung gezwungenen Bauern betrachteten den Dienst im K ollektivbetrieb aber als Fron und taten nur das Notwendigste, „entnahmen“ oft auch Saatgut und Düngemittel und „liehen“ sich Maschinen aus – ohne schlechtes Ge wissen, denn sie w aren ja rechtlich und formal Miteigentümer . Sie produzierten damit auf ihrem winzigen pri vaten Hofland sehr intensiv und marktorientiert, wodurch sich das an und für sich marginale Hofland zur Stütze der Nahrungsmittelversorgung entwickelte. 2.2.1.1.3. Neostalinistische Kollektivierung in Bulgarien Auch in Bulgarien wurde die Kollektivierung rigoros vollzogen, im Unterschied zu Rumänien und Albanien aber mit hohen staatlichen Zuwendungen an die neuen Betriebe, so dass diese gute Löhne zahlen konnten und es den Landarbeitern besser als der Stadtbe völkerung ging. Später erfolgte ihre Umw andlung in „Agroindustrielle Komplexe“. Sie waren durch riesige Betriebsflächen, die weitaus größten in Südosteuropa (siehe Abb. 1), und eine v ertikale Verflechtung von Landwirtschaft und v erarbeitenden Industriebetrieben (K onserven, Fruchtsäfte, Zuck er etc.) gekennzeichnet.

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Abb. 3: Binnenwanderungsströme in Albanien 1989–2001. Quelle: DOKA, 2005.

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Bulgarien beteiligte sich ohne Einschränkungen am Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und befolgte die in diesem Rahmen vorgegebene Arbeitsteilung in Form einer Spezialisierung auf Viehhaltung (mit großen Ställen), Obst- und Gemüsebau. In diesen Sparten erzeugte Bulgarien Exportüberschüsse für die anderen RGW-Staaten. Das trockene Klima machte Bewässerungsanlagen notwendig, die aber schlecht gewartet wurden und zur Zeit der politischenWende zum Teil schon funktionsunfähig waren. Daneben erhielten sich in den Gebir gen auch unk ollektivierte kleinbäuerliche Strukturen. Gegen Ende der 1980er Jahre war die LNF Bulgariens zu etwa 90 Prozent kollektiviert, und zwar ausschließlich durch Staatsbetriebe, nicht durch LPGs (siehe Abb. 2). 2.2.1.2. Unterschiede durch Siedlungskonzentration im ländlichen Raum Mit Ausnahme Jugoslawiens betrieben alle k ommunistischen Staaten Südosteuropas eine Politik der Siedlungskonzentration im ländlichen Raum, das heißt die Politik einer Auflassung kleiner Dörfer zugunsten v on agroindustriellen Großdörfern und Landstädten, besonders in den durchwegs kollektivierten Gebieten. In die Ausstattung kleiner Dörfer mit Verkehrsinfrastruktur, Bildungs-, Versorgungs-, Kulturund Gesundheitseinrichtungen wurde kaum noch in vestiert, wodurch sie langsam verfielen und auch (vor allem jüngere) Bevölkerung verloren. Diese Politik hat die traditionellen dörflichen Siedlungsstrukturen in vielen Gebieten irre versibel beschädigt. Ausnahmen bildeten lediglich Gebir gslagen, w o die k ommunistische Agrarpolitik auch sonst kaum Ansatzpunkte fand. In den Gebirgen z. B. Rumäniens finden sich daher bis heute in jeder Hinsicht intakte Dörfer und Streusiedlungen. Die Politik der Siedlungskonzentration wurde bekannt, als sich das k ommunistische Rumänien in den späten 1980er Jahren unter dem Titel „Systematisierung“ anschickte, Dörfer zu schleifen und der politischeWesten dagegen protestierte, weil ethnische Minderheiten betrof fen waren. Vorher schon w ar man aber in Albanien und Bulgarien in ähnlicher Weise vorgegangen. 2.2.2. Unterschiede, die durch verschiedene Reformansätze in der Transformationsphase bedingt sind Die Reformansätze in der Transformationsphase variierten in Bezug auf die Geschwindigkeit des Systemwechsels von der Kollektivwirtschaft zur privaten Landwirtschaft, in Bezug auf das Ausmaß der Erhaltung größerer Betriebe, auf die Art der Privatisierung und in Bezug auf flankierende öffentliche Maßnahmen für den ländlichen Raum (Entwicklungs- und Förderprogramme). In Bezug auf die Geschwindigkeit des Systemwechsels reichte die Spanne von einem langsamen, vorsichtigen Übergang wie in Bulgarien bis zu einer sehr raschen und radikalen Privatisierung wie in Rumänien undAlbanien (gleich nach derWende 1991). Größere Betriebe blieben in Südosteuropa (im Unterschied zu Ostmitteleuropa) nur ausnahmsweise und konzentriert auf Teilregionen erhalten, so in Bulgarien und

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in der serbischen Wojwodina. Eine fast vollständige Aufteilung in viele kleine Betriebe fand jedenfalls in Rumänien und Albanien statt. Von den Arten der Privatisierung blieb die Restitution an frühere Besitzer und deren Erben die weitaus vorherrschende, jedenfalls in Rumänien und Albanien. Besonders in Bulgarien, Serbien und Makedonien kam es daneben aber auch zur Umwandlung v on staatlichen und genossenschaftlichen Großbetrieben in Kapitalgesellschaften. Die Restitution ließ zum Teil die Besitz- und Landnutzungsmuster der vorkommunistischen Periode wieder sichtbar werden. Im Er gebnis dieser unterschiedlichen Einflussfaktoren finden sich heute im ländlichen Raum der Staaten und Regionen des postkommunistischen Südosteuropas die folgenden charakteristischen Situationen: 2.2.2.1. Ehemals jugoslawische Gebiete 2.2.2.1.1. Wojwodina Die vielen großen, recht ertragreichen, gut wirtschaftenden selbstv erwalteten Unternehmen wurden vor allem nach der Ära Miloševiç (ab dem Jahr 2000) in private Eigentumsformen (Aktiengesellschaften, Gesellschaften mit beschränkter Haftung) umgewandelt, insbesondere durch Management- und Employee-Buyout, d. h. durch die Vergabe von Eigentumsanteilen an Manager und Beschäftigte, oft als Kompensation für nicht ausbezahlte Gehälter . Diese Unternehmen produzieren heute zumeist sehr intensi v und erfolgreich und sind am Markt k onkurrenzfähig. Maschinen- und Düngemitteleinsatz, Produktionsmengen und Beschäftigtenzahlen sind nicht gesunken, sondern liegen heute oft höher als zu Ende der 1980er Jahre. 2.2.2.1.2. Makedonien Viele selbstv erwaltete Großbetriebe in den fruchtbaren Beck enlagen des Landes wurden Mitte der 1990er Jahre pri vatisiert. Sie bauen v or allem Tabak, Reis und Gemüse an und vermarkten diese Produkte sehr erfolgreich im westlichen Europa (z. B. als Frühgemüse). Die Landwirtschaft ist heute jener Wirtschaftssektor Makedoniens, der am besten gedeiht. 2.2.2.1.3. Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Serbien ohne die Wojwodina Die in diesen Ländern und Gebieten ganz überwie gend kleinbäuerliche Landwirtschaft hat die kommunistische Periode überdauert und wird fortgeführt. Im Unter schied zur kommunistischen Zeit ist sie aber nicht mehr gesetzlich beschränkt (auf maximal 10 ha). Zukauf und Zupacht von Land sind möglich. Die Kapitalknappheit der kleinen Bauern erschwert dies aber . Aus demselben Grund stammen auch die Produktionsmittel (wie die kleinen Traktoren) noch ganz überwiegend aus jugoslawischer Zeit. Immerhin werden aber k eine Pferdegespanne mehr verwendet – wie noch ganz überwie gend in Rumänien. Doch k ommt es zur Abwanderung der Jugend und damit zur Überalterung der verbleibenden Landbevölkerung, die dann die Landwirtschaft doch hauptsächlich zur Selbstversorgung betreibt. In Bosnien und in der Herzegowina sind die materiellen und geistigen Krie gsschäden, dazu auch noch politische Gründe und Rechtsunsicherheit eine zusätzliche

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Ursache zur Abwanderung aus dem ländlichen Raum und oft auch zur Emigration. Die Extensivierung der Landnutzung schreitet daher weiter voran. Dies gilt auch für Montenegro. Dort ist die Ursache aber insbesondere die Sogwirkung des Tourismus an der Adriaküste, der Kapital und Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft ab- und an sich zieht. Dagegen hält sich die Extensivierung im engeren Serbien in einem engen Rahmen und ist jedenfalls weitaus geringer als in Bosnien und in der Herze gowina, in Montenegro, Bulgarien und Rumänien. Sozialbrache oder ungenutztes Land sind selten. Es findet auch k eine Vergrünlandung statt, und es überwie gt der Eindruck einer intakten, kleinbäuerlichen, v om Ackerbau bestimmten Agrarlandschaft. Lokale oder re gionale Initiativen sorgen örtlich sogar für Intensi vierung. So hat bei Guãa in Mittelserbien ein Fruchtsaftproduzent die Himbeerproduktion stimuliert, was auch bäuerliche Kleinbetriebe ertragreich macht. Für die ehemals jugosla wischen Gebiete Südosteuropas lässt sich insgesamt sagen, dass die pflanzliche Produktion zwischen 1990 und 2000 fast überall gestiegen ist, während die tierische Produktion während dieses Zeitraums in Serbien und Montenegro sowie in Makedonien (dort mit Ausnahme eines starken Rückgangs bei Schafen) relativ stabil geblieben, in Bosnien und in der Herze gowina aber stark gesunken ist. 2.2.2.2. Die übrigen Staaten Südosteuropas (Albanien, Bulgarien, Rumänien) In Albanien, Bulgarien und Rumänien erfolgte nach 1989 eine radikale Umstrukturierung des ländlichen Raums in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht durch Änderungen der Besitzrechte, der Möglichkeiten Besitzrechte auszuüben und des Rechts auf Landerwerb. Die Restitution v on Bodenbesitz an frühere Besitzer und deren Erben war die Hauptv ariante der Pri vatisierung der Landwirtschaft und bedeutete eine Vernachlässigung wirtschaftlicher und sozialer Gesichtspunkte. Einer symbolischen und politisch populären Geste wurde der Vorzug ge genüber ök onomisch sinnvollen Maßnahmen gegeben. Viel landwirtschaftlicher Besitz wurde Personen übertragen, die schon längst urbanisiert w aren und k ein Wissen für die Führung eines landwirtschaftlichen Betriebs mitbrachten. Auch ehemaligen Arbeitern kollektivierter landwirtschaftlicher Großbetriebe, die entsprechend ihrem früheren Beitrag zum Kollektivbetrieb mit Land beteilt worden waren, fehlte es an Erfahrung in landwirtschaftlicher Betriebsführung. Das Land wurde also in Kleinbetriebe aufgeteilt, die nur selten sachgerecht bewirtschaftet wurden. Den Bauern standen kaum Maschinen oder andere zeitgemäße Betriebsmittel (Dünger etc.), auch k eine Kredite zu deren Anschaffung zur Verfügung. Geringe Kenntnis des Marktes, seiner Mechanismen und der Vermarktungsmöglichkeiten der eigenen Produkte führten zu geringer Marktorientierung und zu überwie gender Selbstv ersorgung. Der Viehbestand ging deutlich zurück, weil die großen Ställe der kollektiven Landwirtschaften aufgelassen worden waren und k eine adäquate Versorgung der Tiere mit Futter ge währleistet w ar. Ein mar kanter Rückgang sowohl der pflanzlichen als auch der tierischen Marktproduktion mit der kleinen Ausnahme Albaniens war die F olge. Marktfrüchte wurden durch Produkte zur Selbstversorgung ersetzt.

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Die Rechtsunsicherheit bei Besitz und Nutzungsrechten bildet auch 16–17 Jahre nach der politischen Wende noch ein bedeutendes Hindernis für Investitionen, für wirtschaftliche Zusammenarbeit und private Initiativen. Dort wo sie noch nicht verfallen waren, leben traditionelle Siedlungsstrukturen wieder auf und übernehmen teil weise wieder die zentralörtlichen Funktionen, die sie in der kommunistischen Phase an die der großen landwirtschaftlichen Kollektivbetriebe abgetreten hatten. In der Kulturlandschaft ist damit oft eine duale Struktur aus Einrichtungen der (großteils aufgelassenen) k ollektiven Landwirtschaft und wiederbelebten alten Dörfern und Höfen erkennbar. In Bezug auf Sozial-, Bildungs-, Gesundheits- und Kultureinrichtungen sind die großen staatseigenen und genossenschaftlichen landwirtschaftlichen Betriebe aber zumeist noch nicht v ollwertig ersetzt worden, weil die Gemeinden wenig Geld haben und es auf lokaler Ebene oft auch an persönlichem Engagement fehlt. Das Leben auf dem Land ist dadurch weniger angenehm und erstrebenswert geworden. Die drei Staaten weisen aber über diese Gemeinsamk eiten hinaus doch auch einige spezifische Merkmale auf. 2.2.2.2.1. Rumänien Eine radikale Restitution der LNF an frühere Eigentümer erfolgte sofort nach der Wende (1991). F ast jeder fünfte Rumäne wurde Besitzer eines landwirtschaftlich nutzbaren Grundstücks. Tatsächlich nahmen die meisten das „Geschenk“ an, w as ab 1993 auch eine überwiegende Stadt-Landwanderung zur Folge hatte. Die relativ junge Urbanisierung in Rumänien, die zumeist noch große Verbundenheit mit dem Land auch bei Städtern so wie die schlechte Arbeitsmarktsituation in den Städten trugen dazu bei. Der ländliche Raum übernahm damit eine soziale Pufferfunktion. Bis auf wenige Großbetriebe wurde das Land in Kleinstbetriebe (ca. 4 Millionen) mit einer durchschnittlichen Betriebsgröße von 2,5 ha aufgeteilt, die oft wieder aus mehreren P arzellen bestanden. Sie hatten kaum Betriebsmittel und Kapital, konnten auch keine Kredite aufnehmen und wurden zum Teil von in der Landwirtschaft nicht Versierten bewirtschaftet. Die Folgen für die landwirtschaftliche Marktproduktion wurden bereits beschrieben. Mittlerweile hat sich aus den vielen Landbesitzern eine kleinere Zahl echter Bauern herauskristallisiert, die zupachten und marktgerecht produzieren. Auch die Zuteilungsgrenze bei Restitutionen wurde im Jahr 2000 auf 50 ha erhöht. Es gibt nun auch Genossenschaften neuen Typs, die sich für ihre Mitglieder um Produktionsmittel und Vermarktung kümmern. Es herrscht aber immer noch eine Über gangs- und Mischsituation, und die Nutzungsintensität nimmt manchmal gerade in den fruchtbaren Niederungen weiter ab. 2.2.2.2.2. Bulgarien Auch in Bulgarien wurde an v orkommunistische Eigentümer (viele Kleinbauern) bzw. deren Nachk ommen restituiert. Im Unterschied zu Rumänien zeigten die Nachkommen der früheren Bauern aber weniger Interesse, in den ländlichen Raum zurückzukehren und die Landwirtschaft wieder aufzunehmen. Der hohe Speziali-

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sierungsgrad der kommunistischen bulgarischen Landwirtschaft (auf Viehhaltung, Obst, Gemüse) mit großen Ställen und Monokulturen machte die Aufteilung auf Kleinbetriebe auch viel schwieriger. Die stark auf Exporte in den RGW ausgerichtete bulgarische Landwirtschaft hatte außerdem ihre bisherigen Absatzmärkte verloren. Die in einem trock enen Klima betriebswichtigen Bewässerungsanlagen waren oft schon v or 1990 v erfallen und k onnten durch Kleinbetriebe noch weniger saniert werden. Die Auflösung der „Agroindustriellen Komplexe“, typisch für Bulgarien, bedeutete die Stilllegung von verarbeitenden Industrien, wodurch die regionalen Großabnehmer der Landwirtschaft ausfielen. Manager der einstigen „Agroindustriellen Komplexe“ verstanden es manchmal, das Land in ihren Besitz zu bringen, bauten aber nichts an, sondern verwendeten es nur als Spekulationsobjekt. Als Folge gibt es viel ungenutztes Land; der ländliche Raum „trocknet demographisch aus“, das heißt Junge und Gebildete w andern ab, nur noch Alte bleiben. Sie betreiben die Landwirtschaft fast nur noch zur Selbstversorgung, die Marktproduktion ist stark reduziert. DieTierbestände haben sich mehr als halbiert, die pflanzliche Produktion ist auf 60 Prozent gesunken. 2.2.2.2.3. Albanien Die Privatisierung der LNF v ollzog sich in Albanien sehr ähnlich jener in Rumänien, nämlich in Form einer Restitution an die früheren Eigentümer gleich nach der Wende (1991). Im Unterschied zu Rumänien v erlief sie aber ungeregelter und fast ohne Mitwirken des Staates, dessen Autorität in den ersten Jahren der Transformation fast nicht vorhanden war und der sein Recht ge genüber den traditionsreichen Clans und örtlichen Gemeinschaften kaum durchsetzen k onnte. Die Arbeiter der Kollektivbetriebe teilten sich deshalb das Land mehr oder weniger eigenständig untereinander auf. Bis heute hat sich in Bezug auf Landbesitz ein hohes Maß an Rechtsunsicherheit erhalten, und es k ommt allenthalben zu oft ge walttätigen Besitzstreitigkeiten. Die durch Wanderungsbeschränkungen in der kommunistischen Phase erreichte hohe ländliche Bevölkerungsdichte und die für europäische Verhältnisse weiterhin große Kinderzahl führten zu einer noch stärk eren Zerstückelung des Landes als in Rumänien. Auf eine Familie entfielen im Durchschnitt 1,2 ha LNF, verteilt auf 4–8 Parzellen an v erschiedenen Orten. Das ermöglichte zumeist höchstens Selbstv ersorgung, kaum jemals Marktproduktion. Im Unterschied zu Rumänien, aber wie in Bulgarien, löste die Restitution in Albanien daher eine Abwanderung in die Städte aus, ganz in erster Linie in die Hauptstadt Tirana, die als einzige mit einer ge wissen wirtschaftlichen Dynamik lockte (Abb. 3). Es brach damit ein Damm, der v or 1991 in F orm rigider Wanderungsbeschränkungen errichtet w orden w ar und für ländliche Übervölk erung gesorgt hatte. Die Be völkerung Tiranas wuchs 1989–2001 offiziell um 41 Prozent, Schätzungen vermuten aber eine Verdreifachung der Be völkerungszahl. Dennoch hat die Beschäftigung in der Landwirtschaft auch in Albanien eine Pufferfunktion: Es gibt heute mehr Erwerbstätige in der Landwirtschaft als v or der politischen Wende.

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Kulturlandschaftsprozesse in Südosteuropa vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Gegenwart Horst Förster

1. „Im Raume lesen wir die Zeit“ Ziel der diesem Band zugrunde lie genden Tagungsbeiträge w ar es, die Agrarreformen, die ethnodemographischen Veränderungen so wie die K ulturlandschaftsprozesse Südosteuropas in einer großen Zeitspanne v om 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart zu beleuchten. Dies k onnte selbstv erständlich nicht in v oller thematischer Breite und re gionaler Dif ferenziertheit erfolgen. Vielmehr w ollten wir in bewertenden Überblicksdarstellungen und regionalen Fallstudien dieser vielschichtigen Problematik näher kommen. Der Blick über die Regionen Südosteuropas hinaus war dabei mehr als ein methodischer bzw. komparatistischer Ansatz. Der folgende Beitrag soll zunächst den Versuch darstellen, die wesentlichen Beiträge der Tagung kurz in das Gedächtnis zu rufen, be vor auf das eigentliche, abschließende Thema eingegangen wird. Holm Sundhaussen hat in seiner umf assenden Grundlegung die K ontexte der Bodenreformen des 19. und 20. Jahrhunderts analysiert. Gerhard See wann zeichnete die ethnok onfessionellen Auswirkungen der absolutistischen Reformen der Habsburger Monarchie nach. Norbert Spannenber ger und Karl-Peter Krauss stellten in F allstudien aufschlussreiche re gionale Entwicklungsprozesse dar . Dietmar Neutatz widmete sich der Analyse und Be wertung der Entwicklung im Schw arzmeergebiet nach 1861. Interessante Einblick e in das Verhältnis der Ethnien zueinander ergab die Betrachtung des „ök onomischen Wettbewerbs“ in den Schriften von Mark oviç durch Zoran Janjeto viç. Günter Schödl diskutierte die agrarische Strukturpolitik im Deutschen Reich und in der Habsb urger Monarchie, insbesondere die Wechselbeziehungen zwischen Agrarverfassung, wirtschaftlichen Entwicklungen und ethnodemographischen Strukturen. Wieder einen „Blick nach Draußen“ ermöglichte Gert v. Pistohlkors mit seiner Betrachtung der jungen Staaten Estland und Lettland. Eine vergleichende Analyse der Reformen, Kollektivierungen und der Eigentumsv erhältnisse in Jugosla wien und Rumänien in der Zwischenkriegszeit stellte Dietmar Müller vor. Bodenreform, staatliche Raumordnungspolitik und ethnische Homogenisierung nach dem Zweiten Weltkrieg standen im Fokus des letzten Panels. Jozsef Vonyó behandelte zunächst agrar- und minderheitspolitische Aspekte im Vertreibungsprozess der Deutschen aus Ungarn. Ágnes Tóth befasst sich im Tagungsband mit den Zusammenhängen zwischen der Bodenreform und dem Wandel der Sozialstruktur im südlichen Transdanubien nach 1945. Die Folgewirkungen der Agrarreformen in Jugoslawien nach 1945 diskutierte Ranka Gaši ç. Die generelle Problematik der Entwicklungsprozesse in den länd-

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lichen Räumen Südosteuropas, ihre Ursachen und Auswirkungen zeichnete Peter Jordan auf. Alle Beiträge haben in sehr unterschiedlicher Weise und aus v erschiedenen Blickrichtungen Erscheinungsformen, Steuerungsf aktoren und Auswirkungen historischer und kulturlandschaftlicher Prozesse in Südosteuropa eindrucksv oll dargestellt. Was bleibt nun für einen abschließenden Beitrag? Eine Verlängerung von Analysen auf der Zeitschiene oder eine weitere räumliche Dif ferenzierung anhand von weiteren Fallstudien? Karl Schlögel hat sein Buch über Zi vilisationsgeschichte und Geopolitik 1 mit einem Zitat von Friedrich Ratzel (1844–1904) 2, dem Begründer der wissenschaftlichen Anthropogeographie, überschrieben: „Im Raume lesen wir die Zeit“. Dieser Titel hat sicher nicht unbedingt etwas mit dem aktuellen „cultural turn“ oder „spatial turn“ in den Geistes- und Sozial wissenschaften zu tun. Vielmehr knüpft er an die Ratzelsche Grunderkenntnis an, dass Kulturlandschaftsentwicklung als ein vielschichtiger Prozess verstanden werden muss, der v on historischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Faktoren gesteuert und gestaltet wird. Selbstverständlich hat sich seit dieser Grunderk enntnis die K ulturgeographie im wissenschaftstheoretischen Verständnis, in der Methodik und Interpretation v on Kulturlandschaftsprozessen vielfältig gewandelt. Trotz dieses Wandels heißt Kulturlandschaftsforschung immer noch die Raumwirksamkeit jener steuernden und gestaltenden Prozessgrößen zu analysieren und zu bewerten. Mit anderen Worten: Im Rahmen unserer Fragestellung können kulturlandschaftliche Prozesse oder neue kulturlandschaftliche Muster als Folgen veränderter Raumbewertungen interpretiert werden. Die politischen, ök onomischen und gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse in Südosteuropa weisen seit 1945 in ihrem Ablauf deutliche Zäsuren auf, die in ihrer Vielfalt und Komplexität entscheidende Ursachen für Brüche und Kontinuitäten, für Wandel und Transformationen, für Veränderungen politischer , ök onomischer und gesellschaftlicher Bewertungen darstellen. Damit ist zugleich ein wichtiger methodischer Ansatz zur Interpretation gegeben. Allerdings muss ein Versuch, solche Zäsuren und damit Steuerungsgrößen erfassen zu wollen, sowohl zeitlich als auch thematisch eingeschränkt werden. Daher erfolgt der Fortgang im Folgenden in drei konzentrierten Schritten: – –

1S

In einem ersten Schritt soll kurz auf einige wenige theoretische und methodische Probleme zu K ulturlandschaftsentwicklungen und der sie steuernden Faktoren eingegangen werden. In einem zweiten Schritt soll an ausge wählten Bereichen der Kulturlandschaft die Raumwirksamk eit von Steuerungsgrößen erläutert werden (Be völkerung, Industrialisierung, Urbanisierung, ländlicher Raum).

CHLÖGEL, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zi vilisationsgeschichte und Geopolitik. München 2003. 2 R ATZEL, Friedrich: Politische Geographie oder die Geographie der Staaten, des Verkehrs und des Krieges. Leipzig 1897.

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Kulturlandschaftsprozesse in Südosteuropa



Und in einem kurzen abschließenden Schritt geht es um einen mögliche künftige Entwicklungen.

Ausblick auf

2. Brüche und Zäsur en in den K ulturlandschaftsprozessen Zur theoretischen Grundle gung der K ulturlandschaftsforschung bzw. zur Modellbildung ist in den letzten Jahren eine Fülle an Literatur v orgelegt worden. Das Bemühen, der zunehmenden Bedeutung wirtschaftswissenschaftlicher Raumtheorien in der Regionalwissenschaft gerecht zu werden, führte in der Kulturlandschaftsforschung zu neuen methodischen Ansätzen. Insbesondere erlaubte die Einbindung der Systemtheorie in die Raumwissenschaft nun den Zugang zu einer allgemeinen Systemanalyse und ersetzte damit die herkömmlichen Ansätze der Länderkunde und regionalen Geographie. Auch die Bedeutung des „politischen Faktors“ für die Kulturlandschaftsentwicklung, die zwar schon von Ratzel betont worden war, erhielt nun im System „Gesellschaft- räumliche Umwelt“ einen neuen Stellenwert. Erst in den 1960er- und 1980erJahren wurde der Ansatz von der „raumwirksamen Staatstätigkeit“ in das theoretische System der Kulturlandschaftsanalyse hineingestellt. Eine zentrale Bedeutung kam dabei den Begriffen „Raumbewertung“ bzw. „Leitbild der Raumentwicklung“ zu. Die Abbildung „Ablauf kulturlandschaftlicher Prozesse“ versucht, im Sinne regulationstheoretischer Ansätze, die Zusammenhänge zwischen dem Gesellschaftssystem, der Raumbewertung und den räumlichen Prozessen in der Kulturlandschaft (Aktionsfelder) darzustellen. Die empirische Erf assung der politischen, ök onomischen oder gesellschaftlichen Zäsuren, die zu Veränderungen von Leitbildern und Bewertungen und damit zu Brüchen und Veränderungen in der Kulturlandschaft geführt haben, erweist sich allerdings in einer so großen Zeitspanne (1945 bis zur Ge genwart) und zudem in einem so vielschichtigen geographischen Übergangsraum wie Südosteuropa als außerordentlich schwierig und problematisch. Dennoch sollen, nicht zuletzt als Diskussionsgrundlage, stark v ereinfacht und komprimiert, einige wichtig erscheinende politische, ök onomische und gesellschaftliche Bestimmungsf aktoren stichw ortartig aufgelistet werden, die entscheidende kulturlandschaftliche Veränderungen nach sich zogen: –

die F olgen des Zweiten Weltkrieges, insbesondere die be völkerungsgeographischen Veränderungen (Flucht, Vertreibung, Migration, ethnische Homogenisierung) – die So wjetisierung Ostmittel- und Südosteuropas und die neuen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Leitbilder – der Sonderweg Jugoslawiens („Konkurrenzsozialismus“) – der Zerfall des politischen und ökonomischen Systems „Osteuropa“ – die Postsozialistischen Transformationsprozesse – der Zerfall Jugoslawiens und die Etablierung der Nachfolgestaaten – die Osterweiterung der Europäischen Union und die Kohäsionsprozesse – die Ansätze einer „Europäischen Nachbarschaftspolitik“

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Horst Förster

Abb. 1: Der Ablauf kulturlandschaftlicher Prozesse

Kulturlandschaftsprozesse in Südosteuropa

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Dabei kann im Rahmen dieses Beitrags nicht auf alle hier plakati v und unvollständig aufgeführten Zäsuren einge gangen werden. Noch weniger ist es möglich, alle Felder der K ulturlandschaftsentwicklung zu analysieren. Daher werden im nächsten Schritt drei ausge wählte Aktionsfelder in den Mittelpunkt gestellt; an unter schiedlichen regionalen Fallbeispielen soll der Versuch unternommen werden, wesentliche Prozesse anzudeuten. Am Rande sei angemerkt, dass die geographische Südosteuropa-F orschung zwar mit zahlreichen Untersuchungen der Arbeitsgruppen in Wien, Leipzig, Potsdam und auch in Tübingen beachtliche Ergebnisse vorlegen konnte, aber nach wie vor große Forschungsdefizite aufweist.

3. Prozessfelder kulturlandschaftlicher Veränderungen 3.1. Demographische Veränderungen Das Ende des Zweiten Weltkriegs und die damit v erbundenen demographischen und ethnischen Verschiebungen, die Wiederherstellung von Staatsgebilden, Flucht, Vertreibungen und Migrationen, v on denen in Europa schätzungsweise 20 Millionen Menschen, davon etwa 14 Millionen Deutsche betroffen waren, vor allem aber die hohen Verluste an Menschen, haben das demographische Gefüge Südosteuropas grundlegend verändert. Allein in Jugosla wien hat der Krie g schätzungsweise eine Million getöteter, gefallener oder vermisster Personen gefordert. Während v on historischer und kulturwissenschaftlicher Seite diese Prozesse sehr gut aufbereitet wurden 3, gibt es aus der geographischen Szene nur Ansätze österreichischer, ungarischer oder serbischer Arbeitsgruppen.4 Verallgemeinert lassen sich für die meisten ostmittel- und südosteuropäischen Staaten die Bestimmungsgrößen der demographischen und auch ethnischen Nachkriegsentwicklungen mit folgenden Fakten verknüpfen: – Flucht und Vertreibung der Minderheitenbevölkerung – Binnenw anderungen – Freigabe der Schwangerschaftsunterbrechungen – Sozialistische, bevölkerungspolitische Programme – Industrialisierungsprogramme – Regionale Entwicklungsprogramme (Ballungsgebiete) Um diese allgemeinen Aussagen etwas zu k onkretisieren, sei auf einige Arbeiten verwiesen, die das regionale Fallbeispiel „Jugoslawien“ in den Mittelpunkt gerückt haben. Geographisches Hauptcharakteristikum des ehemaligen Jugosla wiens war 3 Vgl. HÖSCH, Edgar/NEHRING, Karl/SUNDHAUSSEN, Holm (Hgg.): Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Wien, Köln, Weimar 2004; HÖSCH, Edgar: Kulturgrenzen in Südosteuropa. In: Südosteuropa, 47, 1998, S. 601–623; S EEWANN, Gerhard (Hg.): Minderheiten als K onfliktpotential in Ostmittel- und Südosteuropa. München 1995. 4 F ÖRSTER, Horst: Aktuelle Probleme geographischer Re gionalforschung in Südosteuropa. In: Südosteuropa-Mitteilungen, 2006, Nr. 46, H. 1, S. 30 – 39.

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seine regionale Vielfalt: Die Unterschiede in der naturräumlichen Ausstattung, in der ethnischen Zusammensetzung der Be völkerung, im historischen, v orwiegend soziokulturellen Erbe, im Tempo der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung und damit auch im Ni veau des Lebensstandards, bildeten wesentliche Rahmenbedingungen.

Abb. 2: Historische Regionen des neu gegründeten Jugoslawiens

Abb. 3: Serben in Kroatien und dessen Grenzgebieten nach Gemeinden der Volkszählung von 1981

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Eine Analyse demographischer und ethnischerVeränderungsprozesse von der Nachkriegszeit über die 1980er - und v or allem der Krie ge der 1990er -Jahre hinwe g müsste alle diese K ontexte einbeziehen. Da dies den v orgegebenen Rahmen eines kurzen Überblicksbeitrags sprengen würde, sei auf die Abbildungen verwiesen, die die historischen Regionen dieses Raumes oder die ethnischenVerhältnisse in Grenzgebieten wieder geben. Eine tiefe Zäsur , insbesondere für Bosnien-Herze gowina stellte der sog. Bosnienkrieg (1992–1995) dar, der neben hohen Verlusten an Menschenleben bewirkte, dass im Sommer 1993 mehr als vier Millionen Menschen auf der Flucht waren.5 3.2. Industrialisierung und Urbanisierung Der größte Teil Südosteuropas w ar vor 1945 agrarisch geprägt. Der Wandel von Agrar- zu industriellen Schwellenländern erfolgte erst in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Die zw angsweise Übernahme des so wjetischen Systems v on Politik, Wirtschaft und Gesellschaft (So wjetisierung) bedeutete zugleich die Umsetzung der Planwirtschaft und damit die so genannte „sozialistische Industrialisierung“. Diese Industrialisierung galt als der Motor der Raumentwicklung und wurde zum entscheidenden F aktor für den Aufbau räumlicher Wirtschaftsstrukturen und hatte damit einen dominanten Einfluss auf das Siedlungssystem. Innerhalb der Planwirtschaft spielte die „Eiserne K onzeption“, das heißt absolute Be vorzugung der Schwerindustrie zu Lasten der K onsumgüterindustrie, der Landwirtschaft und der sonstigen Bereiche der Volkswirtschaft, die entscheidende Rolle. Die Territorialplanung w ar dabei der Volkswirtschaftsplanung untergeordnet. Dies bedeutete, dass das territoriale bzw . regionale Prinzip der Raumentwicklung stets dem sektoralen Prinzip der Wirtschaft nachgeordnet w ar. Die K onzentration der wirtschaftlichen Macht beim Staat, die Zurückdrängung des privaten Konsums zugunsten der staatlichen Akkumulation sowie des zentral gesteuerten Kapitaleinsatzes ermöglichten ein rasches Wachstum.6 Auch die jugosla wische Entwicklungsstrate gie zählte, trotz des „eigenen Weges“ nach 1948 und der späteren Selbstverwaltungs-Konzeption, zu diesem Typus. Die Wachstumsraten des primären und sekundären Wirtschaftssektors waren zunächst beeindruckend. Doch diese Entwicklungsstrate gie hinterließ bedeutende Erblasten, von denen Albanien, Bosnien und Herze gowina, Serbien, Mak edonien, Rumänien wie auch Moldau bis heute betroffen sind. Stadtentwicklung und Urbanisierung waren somit aufs Engste mit dieser überdimensionierten Industrialisierung verbunden. Gleichzeitig stellte dieVerstädterung 5 Dazu CALIC, Marie-Janine: Krie g und Frieden in Bosnien-Herce govina. Frankfurt am Main 1996. Bzgl. der Problematik der ethnischen Säuberungen und der damit v erbundenen siedlungsstrukturellen Veränderungen sei nochmals verwiesen auf SEEWANN (wie Anm. 3). Über die sozioökonomischen Auswirkungen der Krie gshandlungen und der Ereignisse in den späten 1990er-Jahren siehe unten. 6 Vgl. SUNDHAUSSEN, Holm: Industrialisierung. In: H ÖSCH, Edgar/N EHRING, Karl/S UNDHAUSSEN, Holm (Hgg.) (wie Anm. 3), S. 299.

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und damit die Erhöhung des Anteils der städtischen Bevölkerung ein wichtiges gesellschaftspolitisches Ziel dar . Urbanität galt als Ausweis der modernen sozialistischen Entwicklung. Allerdings war die wirtschaftliche Strukturkrise, die in den 1980er Jahren in allen ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Ländern auftrat, nicht zuletzt mit den Verzerrungen der Volkswirtschaft und mit der gesamten Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik kausal v erbunden. Hierin lie gen selbstv erständlich auch die wesentlichen Gründe für die großen Belastungen für diese Länder, als nach der politischen und ök onomischen Neuorientierung zu Be ginn der 1990er Jahre die ersten Transformationsprozesse begannen. Seit über fünfzehn Jahren befinden sich die Staaten Ostmittel- und Südosteuropas in diesem vielschichtigen Transformationsprozess, der alle Bereiche v on Politik, Wirtschaft und Gesellschaft erf asst. Dabei liefen die Prozesse in den Ländern Südosteuropas nicht nur in verschiedenen Geschwindigkeiten, sondern auch in unterschiedlichen Intensitäten und auf verschiedenen Pfaden ab. Darüber hinaus standen diese Staaten v or einem mehrf achen Dilemma: Die Gleichzeitigk eit der Prozesse bedeutete zum einen die Bewältigung des Systemumbaus und die Beseitigung von Altlasten im weitesten Sinne. Zum anderen mussten sie sich auf neue politische, ökonomische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen in Europa und in der globalisierten Welt einstellen. Ein wesentliches K ennzeichen der Raumwirksamkeit der Transformationsprozesse ist die in allen Ländern festzustellende „Renaissance der Regionen“ und eine Verstärkung regionaler Disparitäten. Diese „Renaissance der Re gionen“ bezieht sich dabei nicht nur auf historisch ge wachsene Gebiete im Sinne eines gemeinsamen Re gionalbewussteins. Sie bezieht sich auch auf Wirtschafts- oder Verkehrsräume. Unter dem Aspekt kulturlandschaftlicher Veränderungsprozesse und im Hinblick auf neue Raummuster er gaben sich zweifellos Ge winner und Verlierer der Transformation. Fast in allen Transformationsländern lassen sich daher Re gionalentwicklungsprozesse nachweisen bzw. Regionstypen finden, die als Ursachen für diese neuen oder verstärkten Disparitäten gelten können: – – – –

ökonomisch dynamische Entwicklungen in den Zentren und in den großen Städten sowie in einigen Grenzgebieten mit Kontaktvorteilen Stagnation der Wirtschafts- und Raumentwicklung in den peripheren Gebieten Rückläufige Entwicklung, Stagnation und Restrukturierungsbedarf in den Altindustrieregionen Restrukturierungs- und Entwicklungsprobleme in den ländlichen Regionen

Die Abbildung zur Raumstruktur Ungarns lässt das Ursache-W irkungsgefüge für die Herausbildung räumlicher Disparitäten sehr deutlich werden.

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Abb. 4: Einflussfaktoren der regionalen Polarisierung Ungarns

3.3. Kulturlandschaftsveränderungen im ländlichen Raum Der ländliche Raum Südosteuropas ist Ge genstand fast aller Beiträge der v orliegenden Publikation und stand im Mittelpunkt der Diskussionen. Daher beschränkt sich hier der Blick auf dieses Aktionsfeld und einige Anmerkungen zu den Leitbildern und Leitlinien der Kulturlandschaftsveränderungen im ländlichen Raum. Es muss immer wieder betont werden, dass es vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den später kommunistischen Ländern Ostmittel- und Südosteuropas große regionale Unterschiede in der Agrarstruktur wie auch in der wirtschafts- und raumordnungspolitischen Bedeutung des ländlichen Raums gab . Danach lassen sich,

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stark generalisiert, folgende Faktoren herausstellen, die für die Landwirtschaft bzw. für die Agrarräume kennzeichnend waren.7 –

die unterschiedliche wirtschaftliche Bedeutung des ländlichen Raums und der Landwirtschaft für die einzelnen Regionen und Staaten – die Bevölkerungsdichte in den ländlichen Räumen – die Disparitäten des ländlichen Raumes zu den städtischen Regionen – der Grad der Urbanisierung – das Siedlungssystem im ländlichen Raum – die Besitzverhältnisse – die landwirtschaftlichen Arbeitskräfte – die Landnutzung – die Größe von Parzellen und der landwirtschaftlichen Betriebe – die sozialen Verhältnisse auf dem Land Die Ergebnisse der Veränderungen, die mit dem kommunistischen System und der sozialistischen Planwirtschaft verbunden waren, variierten daher innerhalb der Länder Südosteuropas sehr stark. 8 Allein die Übersicht über die Besitzstrukturen nach den verschiedenen Kollektivierungen bzw. zum Teil auch Reprivatisierungen zeigt dieses sehr deutlich. Wie bereits angedeutet wurde, ist nun die Transformation in den einzelnen Staaten Südosteuropas sehr unterschiedlich abgelaufen. Über die Ergebnisse liegen umfangreiche Untersuchungen für Ungarn, Rumänien oder Kroatien vor. Gemeinsam scheint allen Transformationsländern zu sein, dass trotz des relativ hohen Anteils der Landwirtschaft am BSP dieAgrarproduktion seit 1990 zurückgegangen ist und re gionalwirtschaftlich gesehen fast alle ländlichen Räume, mit geringen Ausnahmen, zu den Verlierern der Transformation gehören. Dass dennoch den ländlichen Räumen ein hoher politischer Stellenwert zuk ommt, hängt mit der gesamtwirtschaftlichen Situation einzelner Länder , mit deren Arbeitsmarktproblemen und der sozialen Lage der Bevölkerung zusammen.

4. Perspektiven künftiger Entwicklungen Der Versuch, einige künftige Leitlinien möglicher Veränderungen in der K ulturlandschaft der südosteuropäischen Länder vorauszusagen, kann sich nur auf einige wenige politische und ökonomische Bestimmungsfaktoren stützen. Zweifellos sind die Transformationsprozesse in jenen Ländern noch nicht abgeschlossen. Die am 01.01.2007 erfolgte Aufnahme von Rumänien und Bulgarien in die EU wird die kulturlandschaftlichen Muster nachhaltig verändern. Die Zunahme regionaler Disparitäten und Dif ferenzierungsprozesse im Städte- und Siedlungssystem sind nur 7 Vgl. JORDAN, Peter: Entwicklungstrends ländlicher Räume in Ostmittel- und Südosteuropa. In: FASSEL, Horst/W AACK, Christoph (Hg.): Regionen im östlichen Europa – K ontinuitäten, Zäsuren und Perspektiven. Tübingen 2000, S. 37– 56. 8 J ORDAN (wie Anm. 7), S. 47.

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Abb. 5: Die Donau-Kreisch-Marosch-Theiss-Region

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zwei zu erw artende Auswirkungen. Dazu k ommen die weit reichenden Auswirkungen, die mit den Umstrukturierungen in der Agrarwirtschaft v erbunden sind. Für Kroatien sind die Verhandlungen noch im Gange. Für die so genannten Westbalkanländer hat die EU in den letzten Jahren eine neue Nachbarschaftspolitik konzipiert, bei der die regionale Kooperation ein wichtiges Instrument darstellt. Vorbild für diese neuen K onstruktionen sollten die aus den westlichen Staaten Europas übernommenen grenzüberschreitenden Re gionen sein. Die Grundidee dieser grenzüberschreitenden Zusammenarbeit lag in der Bündelung von Ressourcen und Potenzialen, in einer gemeinsamen Planung zur Steigerung des Wohlstands auf beiden Seiten der Grenzen. Die finanziellen Anreize seitens der Europäischen Union sollten letztens dazu führen, Strukturschwächen in den peripheren Regionen zu beheben und damit regionale Disparitäten abzubauen. Daher sei zum Abschluss auf ein mögliches Modellbeispiel für Südosteuropa verwiesen. Die „Donau-Kreisch-Marosch-Theiss-Re gion“ im Grenzgebiet zwischen Ungarn, Rumänien und Serbien (W ojwodina) könnte ein Vorbild für diese regionale Kooperation, vor allem aber für das Zusammenleben unterschiedlicher Ethnien und für die Inwertsetzung des in allen drei Regionen vorhandenen Potenzials sein. Gemeinsamkeiten in der historischen Entwicklung, kulturelle Verbindungen und gegenseitige Beeinflussung, übereinstimmende Entwicklungsziele im europäischen Rahmen, böten günstige Voraussetzungen für eine dynamische Zukunft. Allerdings stehen dieser Zukunft in der Realität noch große Hindernisse imWeg. Viele Ideen und Projekte können nur sehr langsam v erwirklicht werden, die erhof ften Erfolge in der Re gionalentwicklung in allen drei Teilregionen sind noch bescheiden. Die zum Teil noch vorhandenen politischen, stark zentralistischen Strukturen bilden zweifellos eine noch zu überwindende Barriere. Regionalisierung und Regionalität werden oftmals noch mit einem negativ beladenen Regionalismus verwechselt. Dennoch wird sich das „Regionale“, nicht zuletzt als Gegenpol zum nationalen oder europäischen „Zentralismus“ nicht aufhalten lassen. Diese Prozesse werden die Kulturlandschaft in jenen Regionen Südosteuropas sicherlich nachhaltig verändern.

Anhang

Personenregister Aizsilnieks, Arnolds 190, 194, 196 Angebrand, Josef 109 Angebrand, Magdalena 109 Antonescu, Ion 220, 230 Arnim-Kriewen, Bernhard 163 f. Bach, Lorenz 100 Bajcsy-Zsilinszky, Endre 246 Balabkins, Nikolas 190, 194, 196 Barta, János 66 f. Batthyány 96 Batthyány, Karl Joseph Fürst von 97 Baumann, Zygmunt 209 Beck, Max Wladimir Freiherr von 149, 167 Beneš, Edvard 237 f., 249 Beyrau, Dietrich 23 Bibó, István 249 Birkenstock, Johann 81, 84 Birli, Joseph 111 Bismarck, Otto von 149, 151–153, 155–160, 162 f. Bodor, György 252 f., 267–271, 278 Bodisco, Eduard von 199 Borovats, Jovo 99 Boettcher, Erik 178 Bülow, Bernhard von 162 Caprivi, Leo Graf von 152 f., 162 Carol II., König von Rumänien 219 f. Cuza, Alexander 28 âubriloviç, Vasa 227, 233 Damaschke, Adolf 200 Desanãiç, Mihajlo Polit 146 Ditz, Heinrich 113 Doriath, Thomas 104 Duca, Ion Gheorghe 217 Eckhardt, Tibor 245 Eimann, Johann 107 Engel, August Freiherr von 167 Erdei, Ferenc 241, 250, 270 Esterházy 20, 70–73, 76 f., 81 f. Esterházy, Nikolaus Fürst von 76, 78

Fehér, István 273 Féja, Géza 242 Fircks, Wilhelm Baron von 199 f. Fölkersahm, Hamilcar Baron 176 f. Förster, Horst 23 Frangeš, Otto von 215 Franz Ferdinand, Erzherzog 167 Franz Joseph, Kaiser und König 111 Fratics, Thodor 92 Friedrich II., König von Preußen 52, 63 Fülep, Lajos 243 Furtula, Radovan 23 Füzes, Miklós 270 Gamauf, Gottlieb 64 Gašiç, Ranka 23, 311 GerŒ, ErnŒ 248, 253 Gossler, Gustav von 156 Guth, Georg 108 Guth, Johannes Hacker, Werner 102 Halinger, Michael 109 Hellmann, Manfred 193 Hertrampf, Doris 178, 181, 189, 191 Higel, Anton Hitler, Adolf 22, 205, 240, 242, 246–248 Hobbes, Thomas 210 Hohenlohe-Schillingsfürst, Chlodwig Fürst von 162 Horthy, Miklós 240 Horváth, József 266 HudiΣ™, Ion 229 Hugenberg, Alfred 161 f. Illyés, Gyula 241–243 Iskruljev, Toša 85 Ivanãeviç, Ljubomir 146 f. Jackowski, Maksymilian 152 Jagow, Ernst Ludwig von 164 Janesik, Johann 106 Janjetoviç, Zoran 21, 135, 311 Johler, Reinhard 23 Jordan, Peter 8, 23, 312

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Personenregister

Joseph II., römisch-deutscher Kaiser und König 27 f., 52, 54–58, 60–66, 76, 87, 118 Jovanoviç, Vladimir 39 Justi, Johann Heinrich Gottlob 51 Kahk, Juhan 177, 182, 202 f. Kant, Immanuel 210 Kanyar, József 273 Karniel, Joseph 63 Katharina II., Zarin von Russland 61, 123 f. Kaunitz, Wenzel Anton, Reichsfürst von 63, 66 Kazinczy, Ferenc 62 Kerék, Mihály 243 f., 252 Klemm, Georg 108 Klemm, Joseph 108 Klemm, Klaus 108 Klemm, Mathias 108 Knapp, Georg Friedrich 27, 161 Kodolányi, János 243 Komlos, John 54 Kopf, Andreas 108 Korfes, Otto 175 Kosáry, Domokos 61, 65 f. Kovács, Imre 241, 247, 253 Kraus, Jakob 108 Krauss, Karl-Peter 20, 85, 311 Krstiç, Djordje 35 Kudlich, Hans 28 Laveleye, Émile de 32 Locke, John 210 Ludwig XIV, König von Frankreich 52 Lukits, Szima 110 Madgearu, Virgil 216, 219 Mägerli, Johan 102 Manoilescu, Mihail 216 f., 219 Maria Theresia, römisch-deutsche Kaiserin und Königin 13, 27, 52–55, 58, 63, 65 f., 118 Markoviç, Radoslav 21, 135–148, 311 Marosán, György 247 Marx, Karl Heinrich 40 Megerlin, Elisabeth 102 Mercy, Claudius Florimund Graf von 81 Mikoletzky, Hanns Leo 69 Miletiç, Svetozar 136, 146 Miloševiç, Slobodan 304 Miquel, Johannes von 161 Mirijevski, Teodor Jankoviç 61 Mischung, Konrad 246 Mitterauer, Michael 55 Moore, Wilbert 37 Müller, Dietmar 22, 311

Németh, László 241, 243 Neukircher, József 269 Neutatz, Dietmar 21, 311 Novák, János Jakab 82–84 Nove, Erik 179 Oestreich, Gerhard 51 Päts, Konstantin 191 Pejaãeviç 137, 147 Perin, Ðoko 227 f. Peyer, Károly 245 Pfeffer, Agatha 105 Pfeffer, Theresia 105 Pistohlkors, Gert von 21, 311 Puttkamer, Robert von 156 Radiç, Stjepan 170 Radoicsits, Rehso 99 Rákosi, JenŒ 243 Rákosi, Mátyás 239 Ratzel, Friedrich 312 f. Raun, Toivo U. 203 Rautenfeld, Harald Berens von 197, 201 Redl, Baron von 91 Révai, Miklós 62 Schäfer, Joseph 106 Schell, Péter 266 Schlau, Wilfried 175, 178 f., 185, 196, 203, 205 Schlögel, Karl 312 Schmoller, Gustav 51, 161 Schödl, Günter 21, 311 Schreck, Ádám 268 Schwerin, Friedrich von 161 f. Scott, James C. 209 Seewann, Gerhard 20, 311 Sering, Max 161, 175 f. Smetona, Antanas 186, 189 f. Smith, Adam 210 Smodlaka, Josip 170 Sombart, Werner 36, 161 Somogyi, Stephan 78 Spannenberger, Norbert 20, 23, 311 Stolypin, Pjotr 130 f., 131 Storck, Hans-Georg 103 Strandmann, Arved 197 Sundhaussen, Holm 7, 10, 19 f., 23, 311 Swart, Friedrich 161 Szabó, DezsŒ 241 Szabó, István Nagyatádi 237 Szakasits, Árpád 247

Personenregister Tarvel, Enn 182, 202 f. T™t™rescu, Gheorghe 218 Tessedik, Sámuel 70 f., 81 f., 82, 84 Tomiç, Jaša 136, 146 Tomkó, Márton 78 Tóth, Ágnes 22, 311 Ulmanis, Karlis 180, 184, 191 f., 195–197 Ürményi, Michael von 89, 107 Varga, Béla 245

Várhegyi, György 266 Vivian, Herbert 33 Voldemaras, Augustinas 189 Vonyó, József 22, 311 Vukosavljeviç, Sreten 233 Weber, Max 69, 161 Wegener, Leo 161 Windisch, Karl Gottlieb von 75 Wrangell, Wilhelm Baron 197 f. Zeletin, Ştefan 216 f.

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Ortsregister

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Ortsregister Das Ortsregister enthält die Namen von Regionen und Orten. Die heute offiziellen Ortsbezeichnungen sind, sofern sie nicht an erster Stelle stehen, unterstrichen. Ágh 77 Akkermann 127 Alföld 260 Alsómocsolád 264 Alsónána 73 Andrásfalva 271 Apar 73 f. Apatin 104, 106 f., 288

Bromberg 156 Buda s. Ofen Budapest 147, 150, 240, 242, 247 Bukowina 34, 64, 212, 214 f., 224, 238, 252, 255, 266, 270 f., 276, 278, 296 Buljkes s. Bulkes Bulkes / Buljkes (Baãki Magliç) / Bulkeszi 114 Bulkeszi s. Bulkes

Bácsalmás s. Batschalmasch Bács-Bodrog 87, 96, 271 Bácsszentiván s. Priglewitz Sankt Ivan Bácstóváros s. Tovariševo Baãki Brestovac s. Brestowatz Baãki Magliç s. Bulkes Baja 111 Banat 12, 55, 60 f., 65, 111, 114 f., 117, 138, 288, Baranya 22, 65, 96, 101, 111, 116, 245 f., 255, 260 f., 263–265, 270–275, 277, 279 Batschalmasch / Bácsalmás / Baãaljmaš 87 Batschka 55, 57, 65, 85, 92 f., 96 f., 101, 104, 107 f., 111, 114, 116, 117–119, 138, 240, 266, 270–272, 288 Békés 81, 279 Belgrad / Beograd 44, 111, 226, 290, 331 f. Beograd s. Belgrad Berény 74 Berlin 129, 175, 197, 199 Bessarabien 34, 123, 212, 214 f., 222–224 Bikács 267 Bikal 263 Bóly s. Deutschbohl Bonyhád 241, 252, 268 f. Borjád 99 Borócz s. Obrowatz Bosanska Krajina 288 Bosnien 14, 17, 23, 38, 150, 270, 286, 288, 290 f., 296, 304 f., 318 Bosnien-Herzegowina 21, 26, 34 f., 41, 165, 167–169, 318 Brbaš s. Szt. Borbás Brestowatz / Baãki Brestovac / Szilberek 93, 95

Caransebeş s. Karansebesch Cesis s. Wenden Cherson 127, 132 Cikó 73 Csátalja 271 Csikóstöttös 79 f. Dalmatien 10, 15, 21, 34, 149 f., 165–171, 173, 288 Danzig 154, 158 Dárda 246 Dernye s. Deronje Deronje / Dernye 117 Deutschbohl / Bóly 96, 99–101, 103 Deutsch Palanka / Baãka Palanka / Bácspalánka 106, 288 Döbrököz 73, 77 f. Dombovár 72 f., 77–80, 82, 84, 278 Dongebiet 128 Dorpat /Tartu 178, 181, 193 Egyházaskozár 271 Ekaterinoslav 127, 129, 130 EndrŒd 265 Filipovo s. Filipowa Filipowa / Filipovo / Szent-Fülöp 104 Frankfurt/Oder 40, 76 Fünfkirchen / Pécs 65, 83, 103, 247, 261, 267, 274 f., 277 Gara 271 Gerényes 77, 79 Gier / Giera / Gyér 114

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Ortsregister

Giera s. Gier Gödöli 76 Gottlob / Gotlob / KisŒsz 114 Grábóc 73 Grabovac s. Grábóc Gyér s. Gier GyŒr s. Raab Györköny 267 f. Hadikfalva 271 Hamburg 204 Hegyhát 274 f., 277 Hercegszabar 271 Herzegowina 14, 17, 23, 286, 288, 291, 296, 304 f., 318 Hidas 243, 271 Himesháza 271 Hódság s. Hodschag Hodschag / Odžaci / Hódság 104, 107, 109, 111, 288 Hrtkovci 289, 290 Illocska 265 India / Inđija / Ingyia 21, 115, 136–139, 141–146, 148 Inđija s. India Ingyia s. India Istensegíts 271 Istrien 165, 168 f. Ivánbattyán 265 Ivándárda 265 Jágónak 77, 79 Jaša Tomiç 288 Karánsebes s. Karansebesch Karanšebeš s. Karansebesch Karansebesch / Caransebeş / Karánsebes / Karanšebeš 111 Karlowitz / Sremski Karlovci 136 Kärnten 165 Kaschau 62 Kaunas / Kowno 186, 193 Kiskassa 265 Kiskundorozsma 265 KisŒsz s. Gottlob Kocsola 79 Kordun 288, 290 Kosovo 11, 17, 34 f., 38, 41, 216, 224–227 Kowno s. Kaunas Kozár s. Ráckozár Krain 165 Kraina 289

Krim 123, 128 Kurland 176, 178, 183 f. Lausanne 33 f. Lengyel 74, 267–270 Lettgallen 177 f., 184, 186, 193 Lika 288, 290 Lippó 265 Livland 176–179, 183 f., 199 Lodz 154 Lübeck 204 Mágocs 264 f. Mahlspüren 103 Makedonien 11, 17, 34, 38, 41, 216, 227, 295 f., 300 f., 304 f., 318 Marienwerder 156 Mekényes 71, 74, 77–79, 82–84 MezŒd 79 Mohács 145, 246, 274 f., 277 Moldau 25, 28, 270, 318 Mošorin 136 Mucsi 74 Nagyág 79 f. Nagymányok 268, 269 f. Németkér 267 Németmárok 265 Német Pulya 77, 83 Németság s. Segenthau Neusatz / Novi Sad / Újvidék 117, 119, 136 Neu-Siwatz / Novi Sivac / Uj-Szivácz 107 Nikinci 289 f. Novi Sad s. Neusatz Novi Sivac s. Neu-Siwatz Oberschlesien 154, Obrowatz / Obrovac / Borócz 93–95 Ödenburg / Sopron 64, 240, 247, 254 Odžaci s. Hodschag Ofen / Buda 108, 136, 247 Oppeln 155 f. Orczifalva s. Orzydorf 114 Ortenau 106 f. Ortişoara s. Orzydorf Orzydorf / Ortişoara / Orczifalva Ozora 73, 76 Palkonya 103 Palotabozsok 271 Parabuç s. Parabutsch Parabutsch / Parabuç / Paripás 93–95 Paripás s. Parabutsch

Ortsregister Pécs s. Fünfkirchen Pécsvárad 245 f., 274 f., 277 Pétervárad s. Peterwardein Petrovaradin s. Peterwardein Peterwardein / Petrovaradin / Pétervárad 86 Pócsa 265 Posen 15, 19, 149 f., 152–159, 161–164, 170 Potsdam 175, 250 f. 315 Priglewitz Sankt Ivan / Prigrevica Sveti Ivan / Bácsszentiván 104 Prigrevica Sveti Ivan s. Priglewitz Sankt Ivan Püspöknádas 269 Raab / GyŒr 62, 247 Ráckozár 74, 78 f., 81–83 Rac-Milititsch / Srpski-Miletiç / Rácz-Militics 89, 93–95, 104, 108–110, 117 Rácz-Militics s. Rac-Milititsch Rácztöttös s. Töttös RegŒcze s. Ridjica Reval 178, 186, 197, 199 Ridjica / RegŒcze 85 Riga 176, 178, 184, 186, 193, 197 f., 200 Ruma 289 f. Saderlach / Z™d™reni / Zádorlak 114 Sagu s. Segenthau Salzburg 63, 333 Sásd 77, 245 Schwäbische Türkei 245 Schwarzmeergebiet 123, 125–130 Segenthau / Sagu / Németság 114 Sekiç s. Sekitsch Sekitsch / Sekiç / Szeghegy 119, 271 Sibirien 128 Somberek 271 Somogy 22, 65, 255, 261, 272 f., 279 Sopron s. Ödenburg Siebenbürgen 13, 27, 34, 61, 212, 214 f., 222–224, 226, 228, 296 Siklós 274 f., 277 Simontornya 268, 271, 278 Slawonien 34, 112, 118 f., 165, 167, 286, 290 Sombor 86 f., 89, 112, 288 Somogy 22, 65, 255, 261, 272 f., 279 Sopron s. Ödenburg Srem s. Syrmien Sremski Karlovci s. Karlowitz Srpski-Miletiç s. Rac-Milititsch Stapar / Sztapár 117 Steiermark 75, 165 Südbatschka 20, 85, 93, 111, 119 Südtransdanubien 9, 20, 22, 69, 71 f., 116

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Suwalki / Suwałki 186 Syrmien / Srem 21, 65, 111, 115, 118 f., 138, 289 f. Szakcs 77 f., 81 Szálka 73 Szarvas 81 Szeghegy s. Sekitsch Szekszárd 73, 268, 270, 278 SzentlŒrincz 246, 274 f., 277 Szent Borbás 83 Szent-Fülöp s. Filipowa Szerém s. Syrmien Szilberek s. Brestowatz Sztapár s. Stapar T™rnovo 41 Tarrós 79, 80 Tartu s. Dorpat Taurien 127, 129 Tékes 79, Temesvár s. Temeswar Temeswar / Timişoara / Temesvár 61, 65, 112, 114, 148 Tevel 269 Timişoara s. Temeswar Tirana 295, 307 TofŒ 74, 77, 78, 79 Tolna 22, 65, 101, 245, 252, 255, 260 f., 264, 266, 270–273, 276, 278 f. Torscha / Torža / Torzsa 92 Torzsa s. Torscha Torža s. Torscha Töttös 77, 98 f. Tovariševo / Bácstóváros 117 Transdanubien 9, 20, 22, 69, 71, 113, 238, 252, 255, 260–262, 266, 272 f., 273, 311 Újpetre 265 Újvidék s. Neusatz Új-Szivácz s. Neu-Siwatz Vaskút 271 Vaszar 79 f. Vejke 74 Véménd 271 VerŒcze 65 Versailles 76 Villány 245 f., 265, 274 f., 277 Vitebsk 184 Vojvodina s. Wojwodina Völgység 267, 271, 278

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Ortsregister

Walachei 25, 28 Warschau 154 Wenden / Cesis 180 Weprowatz / Veprovac / VeprŒd 105 Westpreußen 15, 19, 152, 156 f., 161–163 Wien 12, 26, 28, 61, 63, 66 f., 75, 96, 108, 147, 150, 164, 167, 315, 331, 332 Wilna 186 f., 204 f. Wojwodina / Vojvodina 12, 14, 16 f., 19, 22 f., 34, 38, 112, 135 f., 145, 216, 224–227, 232 f., 238, 266, 281–287, 289–292, 295, 301, 304

Z™d™reni s. Saderlach Zádorlak s. Saderlach Zagorje (Hrvatsko Zagorje) 286 Zagreb, 14, 136 Zala 270 Zomba 269 Zombor s. Sombor Zrenjanin / Groß Betschkerek

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Horst FÖRSTER, Prof. Dr. phil., Dr. h. c. mult., geb. 1940, Studium der Geographie, Germanistik, Philosophie und Sla wistik in Mainz und Wien, 1975 Habilitation an der Abteilung für Geo wissenschaften der Ruhr -Universität Bochum. Von 1991– 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Geographie Osteuropas an der Uni versität Tübingen, v on 1992–2008 nebenamtliche Leitung des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Wirtschaftsgeographie, Regionale Geographie Ostmittel- und Südosteuropas, Transformationsforschung, Grenzregionsforschung. Ausgewählte Veröffentlichungen: FÖRSTER, Horst/F ASSEL, Horst (Hgg.): Das Banat als kulturelles Interferenzgebiet. (Materialien 6, Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde).Tübingen 1997; Entwicklungsprobleme altindustrialisierter Gebiete im Transformationsprozeß. In: P ÜTZ, Robert (Hg.): Ostmitteleuropa im Umbruch. Wirtschafts- und sozialgeographische Aspekte der Transformation. (Mainzer Kontaktstudien, Bd. 5), Mainz 1999, S. 21–36; Aktuelle Probleme geographischer Re gionalforschung in Südosteuropa. In: Südosteuropa Mitteilungen, 2006, Nr. 46, S. 30–39; Industrialisierung und Urbanisierung in Ostmittel- und Südosteuropa aus geographischer Perspekti ve. In: Biserica, Societate, Identitate. In honorem Nicolae Bocsan. Cluj-Napoca 2007, S. 863–869. Kontakt: Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Mohlstraße 18, 72074 Tübingen. Homepage: www .idglbw.de. E-Mail: horst.foerster@ uni-tuebingen.de. Ranka GAŠIå, Ph. D., geb.1965, Studium der Geschichte und Promotion in Belgrad, Serbien. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte in Belgrad. Forschungsschwerpunkte: K ultur– und Sozialgeschichte Jugosla wiens in der Zwischenkriegszeit, Serbo-kroatische Verhältnisse und Südsla wische Ideologie, Unternehmensgeschichte Jugoslawiens. Ausgewählte Veröffentlichungen: „No vi kurs“ Srba u Hrv atskoj. Srbobran 1903–1914 [Der „Neue Kurs“ der Serben in Kroatien. Srbobran 1903–1914]. Zagreb 2001; Beograd u hodu ka Evropi. Kulturni uticaji Britanije i Nemaãke na beogradsku elitu 1918–1941 [Belgrad auf dem Weg nach Europa. Deutsche und Britische Einflüsse auf die K ultur der Belgrader Elite 1918–1941]. Beograd 2005; Das Ser bische Pressewesen. In: Die Habsburger Monarchie 1848–1918, Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft, Bd. VIII, Die Presse als Faktor der Politischen Mobilisierung, 2. Teilband, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien 2006, S. 2177–2202. Kontakt: Institut za savremenu istoriju [Institut für Zeitgeschichte], Trg Nikole Pašiça 11, 11 000 Belgrad, Serbien. Homepage: www .isi.co.yu. E-Mail: r gasic@ eunet.yu.

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Zoran JANJETOVIå, Dr. phil., geb. 1967, Studium der Geschichte sowie Promotion in Belgrad, Serbien. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neuere Geschichte Serbiens in Belgrad. Forschungsschwerpunkte: Nationale Minderheiten in Jugoslawien, Populärkultur. Ausgewählte Veröffentlichungen: Between Hitler and Tito. Disappearance of the Vojvodina Germans. Belgrade 2000, 2. Aufl. 2005; Deca careva, pastorãad kraljeva. Nacionalne manjine u Jugoslaviji 1918–1941 [Kinder der Kaiser, Stiefkinder der Könige. Nationale Minderheiten in Jugosla wien 1918–1941], Beograd 2006; Od Auschwitza do Brijuna. Pitanje odštete žrtv ama nacizma u jugosla vensko-zapadnonjemaãkim odnosima [Von Auschwitz bis Brijuna. Die Frage der Entschädigung der Opfer des Nationalismus in den jugosla wisch-westdeutschen Beziehungen]. Zagreb 2007. Kontakt: Institut za noviju istoriju Srbije [Institut für Neuere Geschichte Serbiens], Trg Nik ole P ašiça 11, 11000 Beograd, Serbien. Homepage: www .inisbgd. co.yu. E-Mail: [email protected] oder [email protected]. Peter JORDAN, Prof. h. c. Univ.-Doz., Dr. phil., geb. 1949, Studium der Geographie und Ethnologie in Wien, Habilitation in Klagenfurt. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Stadt- und Re gionalforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Re gionale, politische, K ultur- und Tourismusgeographie des östlichen Europas mit den Schwerpunkten Ex-Jugoslawien und Rumänien, Atlaskartographie, Toponomastik. Ausgewählte Veröffentlichungen: Atlas Ost- und Südosteuropa. Aktuelle Karten zu Ökologie, Bevölkerung und Wirtschaft. Stuttgart, Berlin, seit 1989; Beiträge zur Fremden verkehrsgeographie der nördlichen kroatischen Küste. Klagenfurt 1997; JORDAN, Peter/PERŠIå, Milena (Hgg.): Österreich und der Tourismus von Opatija (Abbazia) vor dem Ersten Weltkrieg und zur Mitte der 1990er Jahre. Frankfurt a. M. u. a. 1998; Regional Identities and Regionalization in East-Central Europe. In: Post-Soviet Geography and Economics, 42. Jg., 2001, Nr . 4, S. 235–265; EU Enlargement, the Ne w Central European Member States, and Austria. In: Eurasian Geography and Economics, 47. Jg., 2006, Nr. 6, S. 662–682. Kontakt: Österreichische Akademie der Wissenschaften, Institut für Stadt- und Regionalforschung, A-1010 Wien, Postgasse 7/4/2, Österreich. Homepage: www . oeaw.ac.at/isr. E-Mail: [email protected]. Karl-Peter K RAUSS, Dr. phil., geb. 1955, Studium der Geschichte, Geographie und Germanistik in Tübingen. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Lehrbeauftragter am Geographischen Institut der Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Historische Demographie, Sozialgeographie so wie sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Themen der deutschen Minderheiten in Südost- und Ostmitteleuropa.

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Ausgewählte Veröffentlichungen: (Projektleitung): Umsiedlung, Flucht und Vertreibung der Deutschen als internationales Problem. Zur Geschichte eines europäischen Irrwegs. Stuttgart 2002; Deutsche Auswanderer in Ungarn. Ansiedlung in der Herrschaft Bóly im 18. Jahrhundert. (Schriftenreihe des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Bd. 11). Stuttgart 2003; Frauen in Not. Das Ehe gericht in der Batschka im Prozess der K onsolidierung und Disziplinierung: In: Religions- und Kirchengeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa. Er scheint demnächst. Kontakt: Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Mohlstraße 18, 72074Tübingen. Homepage: www.idglbw.de. E-Mail: karl.peter.krauss@ idgl.bwl.de. Dietmar MÜLLER, Dr. phil., geb. 1969, Studium der Osteuropastudien sowie der Ostund Südosteuropäischen Geschichte in Berlin und London.Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Nationsbildung und Minderheiten in Südosteuropa, Wirtschaftsgeschichte des ländlichen Raumes, Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, Eigentumsbegriff und Systeme der Administration von Bodeneigentum im östlichen Europa, Governance. Ausgewählte Veröffentlichungen: Die Gouv ernementalität des Bodeneigentums im östlichen Europa. In: S IEGRIST, Hannes (Hg.): Entgrenzung des Eigentums in modernen Gesellschaften und Rechtskulturen. Leipzig 2007. (zugl. Comparati v 16 (2006) 5/6), S. 112–129; Staatsbürger auf Widerruf. Juden und Muslime als Alteritätspartner im rumänischen und serbischen Nationscode. Ethnonationale Staatsbürgerschaftskonzeptionen, 1878–1941 (Balkanologische Veröffentlichungen 41). Wiesbaden 2005; Agrarpopulismus in Rumänien. Programmatik und Re gierungspraxis der Bauernpartei und der Nationalbäuerlichen Partei Rumäniens in der Zwischenkriegszeit (Rumänien-Studien 1). St. Augustin 2001. Kontakt: Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig, Beethovenstr. 15, 04107 Leipzig. Homepage: www .uni-leipzig.de/~kuwi/. E-Mail: [email protected]. Dietmar NEUTATZ, Prof. Dr. phil., geb. 1964, Studium der Geschichte und Slawistik in Salzburg, seit 2003 Professor für Neuere und Osteuropäische Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Russischen Reiches und der Sowjetunion im 19. und 20. Jahrhundert, Geschichte der Russlanddeutschen. Ausgewählte Veröffentlichungen: Die ‚deutsche Frage‘ im Schwarzmeergebiet und in Wolhynien 1856–1914. Stuttgart 1993; (Mitherausgeber) Die Russlanddeutschen in Russland und Deutschland. Essen 1999; Die Moskauer Metro. Von den ersten Plänen bis zur Großbaustelle des Stalinismus. Köln u.a. 2001; (Mitherausgeber) Die Deutschen und das östliche Europa.Aspekte einer vielfältigen Beziehungsgeschichte. Essen 2006; (Mitherausgeber) Gemeinsam getrennt. Bäuerliche Lebenswelten in multiethnischen Regionen des Schwarzmeer- und Wolgagebietes im späten Zarenreich. Lüneburg 2008.

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Kontakt: Historisches Seminar der Albert-Ludwigs-Universität, Rempartstraße 15, 79085 Freiburg. Homepage: www.geschichte.uni-freiburg.de. E-Mail: [email protected]. Gert VON PISTOHLKORS, Dr . phil., Dr . h. c. (Uni versität Tartu). Studium der Geschichte, Anglistik, Germanistik in München und Göttingen. 1966 Studienrat in Rosenheim, seit 1967 am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Geor gAugust-Universität Göttingen, 2001 als Akademischer Direktor pensioniert. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Baltikums 1700–1940. Ausgewählte Veröffentlichungen: Ritterschaftliche Reformpolitik zwischen Russifizierung und Re volution. (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, Bd. 48). Göttingen 1978; (Hg., Teilautor): Baltische Länder. (Deutsche Geschichte im Osten Europas, Bd. 3). Berlin 1994, überarbeitete Sonderausgabe 2002; Vom Geist der Autonomie. Aufsätze zur baltischen Geschichte. Festschrift zum 60. Geburtstag des Verfassers (eigene Aufsätze), hg. v. Michael GARLEFF. Köln 1995; Ostseeprovinzen, Baltische Staaten und das Nationale, hg. v on Norbert ANGERMANN u. a. (Schriften der Baltischen Historischen K ommission Bd. 14). Festschrift zum 70. Geburtstag. Münster 2005. Kontakt: Münchhausenstr. 12, D 37085 Göttingen. Homepage der Baltischen Historischen Kommission: www.balt-hiko.de. E-Mail: pistohlk ors@01019freenet. de. Günter S CHÖDL, Prof. Dr ., geb. 1944, Studium der Geschichte, Germanistik und Sozialkunde, Habilitation in Erlangen-Nürnber g, seit 1992 Humboldt-Uni versität (Geschichte Ostmitteleuropas). Forschungsschwerpunkte: Neuere und Neueste Geschichte, Geschichte Deutschmitteleuropas und Ostmitteleuropas, Nationalismusforschung. Ausgewählte Veröffentlichungen: Alldeutscher Verband und deutsche Minderheitenpolitik in Ungarn 1890–1914. Zur Geschichte des deutschen „extremen Nationalismus“. Frankfurt am Main u. a. 1978; Kroatische Nationalpolitik und „Jugoslavenstvo“. München 1990; F ormen und Grenzen des Nationalen. Erlangen 1990; (Hg., Teilautor): Land an der Donau. (Deutsche Geschichte im Osten Europas, Bd. 5. Berlin 2002 2; Forschungen zur Geschichte Ostmitteleuropas und der Habsb urgermonarchie seit den 80er Jahren: Anmerkungen zu Schwerpunkten und Tendenzen. In: Dieter D AHLMANN (Hg.): Hundert Jahre Osteuropäische Geschichte. Stuttgart 2005, S. 121–148. Kontakt: Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Geschichtswissenschaften Geschichte Ostmitteleuropas, Unter den Linden 6, 10099 Berlin. Homepage: www. geschichte.hu-berlin.de. E-Mail: [email protected] Gerhard S EEWANN, Prof. Dr. phil, geb. 1944, Studium der Geschichte und Philosophie sowie Promotion 1971 in Graz. Professur für deutsche Geschichte und Kultur an der Universität Pécs. Forschungsschwerpunkte: Geschichte Ungarns und der Habsb urgermonarchie vom 17. bis zum 20. Jh., Minderheiten und Migration in Ostmittel- und Südosteur-

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opa im 19. und 20. Jh., Geschichte der Deutschen in Ungarn und im Donau-Karpatenbecken. Ausgewählte Veröffentlichungen: DIPPOLD, Péter; S EEWANN, Gerhard (Hgg.): Bibliographisches Handb uch der ethnischen Gruppen Südosteuropas. Band 1.2. München 1997; Ungarndeutsche und Ethnopolitik. Budapest 2000; B EER, Mathias/ SEEWANN, Gerhard (Hgg.): Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches. Institutionen, Inhalte, Personen. München 2004. Kontakt: Stiftungsprofessur für deutsche Geschichte und Kultur an der Universität Pécs, Rókus u. 2, 7624 Pécs, Ungarn. Homepage (ungarisch): www.btk.pte.hu/ content/section/23/149/; Homepage (deutsch): www .btk.pte.hu/content/view/944/ 149/. E-Mail: [email protected]. Norbert SPANNENBERGER, Dr. phil., geb. 1969, Studium der Geschichte Ost- und Südosteuropas, der Neueren und Neuesten Geschichte und der PolitischenWissenschaften in München. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Minderheiten im Donauraum, Geschichte Ungarns und der Habsb urgermonarchie, Kirchengeschichte Ostmitteleuropas im 20. Jahr hundert. Ausgewählte Veröffentlichungen: Der Volksbund der Deutschen in Ungarn 1938–1944 unter Horthy und Hitler. (Schriften des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte). München 2002; Die katholische Kirche in Ungarn 1918– 1939. Positionierung im politischen System und „katholische Renaissance“. Stuttgart 2006; MANER, Hans-Christian/SPANNENBERGER, Norbert (Hgg.): Konfessionelle Identität und Nationsbildung. Die griechisch-katholischen Kirchen in Ostmittelund Südosteuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 2007; Die Lage der deutschen Minderheit in Ungarn im Spiegel des Minderheitengesetzes. In:ALMAI, Frank; FRÖSCHLE, Ulrich (Hgg.): Deutsche in Ungarn. Ungarn und Deutsche. Interdisziplinäre Zugänge. Dresden 2004, S. 71–85. Kontakt: Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig, Luppenstr. 1b, 04177 Leipzig. Homepage: www.uni-leipzig.de/gwzo. E-Mail: [email protected]. Holm SUNDHAUSSEN, Prof. Dr. phil., geb. 1942, Studium der Ost- und Südosteuropäischen Geschichte, Slawistik und Germanistik in München. Habilitation in Göttingen. Seit 1988 Professor für Südosteuropäische Geschichte am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin; Ko-Direktor des Berliner K ollegs für vergleichende Geschichte Europas. Forschungsschwerpunkte: Geschichte Südosteuropas (19./20. Jh.), insbesondere Nationsbildung und Nationalismus, Ethnische Konflikte; Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte, Sozialer Wandel; Erinnerungskulturen. Ausgewählte Veröffentlichungen: Wirtschaftsgeschichte Kroatiens im nationalsozialistischen Großraum 1941–1945. Das Scheitern einer Ausbeutungsstrategie. Stuttgart 1983; Historische Statistik Serbiens 1834–1914. Mit europäischen Vergleichsdaten. München 1989; Experiment Jugoslawien. Von der Staatsgründung bis

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zum Staatszerfall 1918–1991. Mannheim u. a. 1993; Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Hg. v on Edgar H ÖSCH/Karl N EHRING/Holm S UNDHAUSSEN. W ien u. a. 2004; Geschichte Serbiens 19. –21. Jahrhundert. Wien u. a. 2007. Kontakt: Freie Uni versität Berlin, Osteuropa-Institut, Garystraße 55, 14195 Berlin. Homepage: www .oei.fu-berlin.de/geschichte/soe/personal/team/sundhaussen.html. E-Mail: [email protected] . Ágnes TÓTH, Ph. D., geb. 1961. Studium der Geschichte und ungarischen Literatur in Szeged, Ungarn. Derzeit stellv ertretende Direktorin des F orschungsinstituts für ethnisch-nationale Minderheiten der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Minderheiten in Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert, Migrationen nach dem Zweiten Weltkrieg, Wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage der Minderheiten in Ungarn. Ausgewählte Veröffentlichungen: (Hg.): National and Ethnic Minorities in Hungary, 1920–2001. (East European monographs, Nr . 698; Atlantic studies on society in change, Nr . 124). Ne w York 2005; Migrationen in Ungarn 1945–1948. Vertreibung der Ungarndeutschen, Binnenw anderungen und slo wakisch-ungarischer Be völkerungsaustausch. (Schriften des Bundesinstituts für Ostdeutsche Kultur und Geschichte 12.). München. 2001; TÓTH, Ágnes/V ÉKÁS, Jánós: Identität und Migration. Ergebnisse aus der ungarischenVolkszählung 2001. In: Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde, Bd. 47, S. 193–213. Marburg 2005. Kontakt: Etnikai-Nemzeti Kisebbségkutató Intézet, Magyar Tudományos Akadémia [Forschungsinstitut für ethnisch-nationale Minderheiten der Ungarischen Akademie der Wissenschaften], Országház utca 30, 1014 Budapest, Ungarn. Homepage: www.mtaki.hu. E-Mail: [email protected]. József V ONYÓ, Dr. habil., geb . 1945, Studium der Geschichte, Hungarologie und Russisch in Pécs, Ungarn. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Universität Pécs. Forschungsschwerpunkte: Geschichte Ungarns im 20. Jahrhundert, rechtsradikale Bewegungen und Parteiengeschichte Ungarns. Ausgewählte Veröffentlichungen: Ziele und Methoden bei der Or ganisierung der Nationalen Einheitspartei in Ungarn 1932–1936. In: Specimina No va Uni v. Quinqueecclesiensis 1985. Pars Secunda. Pécs 1985, S. 17–37; Gömbös Gyula és a jobboldali radikalizmus. Tanulmányok. [Gyula Gömbös und der Rechtsradikalismus. Studien]. Pécs 2001; Die Sankt-Stephans-Idee und die nationalitätenpolitische Strategie der ungarischen Re gierungspartei zwischen den beiden Weltkriegen. In: Ungarn-Jahrbuch. Zeitschrift für die K unde Ungarns und v erwandte Gebiete, Bd. 22, Jg. 1995–1996. München 1996, S. 273–286; Women in Hungary in the 1930s: The Role of Women in the P arty of National Unity. In: Women and Power in east Central Europe – Medie val and Modern, Vol. 20–23, part 1(1993–1996). Los Angeles 1997, S. 201–218. Kontakt: Pécsi Tudományegyetem [Uni versität Pécs], Modernk ori Történeti Tanszék, Rókus u. 2, 7627 Pécs, Ungarn. Homepage: www .btk.pte.hu. E-Mail: [email protected].