Dominanzkultur reloaded: Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen [1. Aufl.] 9783839430613

This volume combines contributions that discuss gender, sexuality, disability, religion, culture, ethnicity, and class a

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German Pages 354 Year 2015

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Dominanzkultur reloaded: Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen [1. Aufl.]
 9783839430613

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Das Werk von Birgit Rommelspacher
DOMINANZKULTUR
Ableism. Neue Qualität oder ›alter Wein‹ in neuen Schläuchen?
Der Schwulenkiez. Homonationalismus und Dominanzgesellschaft
Einblick gewähren in die Welt der Muslime. ›Authentische Stimmen‹ und ›Kronzeugenschaft‹ in antimuslimischen Diskursen
Germanen, Götter und Gelehrte. Zu völkischen Denkmustern und Deutungsschemata vom Deutschen Kaiserreich bis heute
ERINNERUNGSKULTUREN
Geteilte Erinnerungen. Global- und beziehungsgeschichtliche Perspektiven auf Erinnerungspolitik
Erinnerungsarbeit an den Porajmos im Widerstreit. Gegen Epistemologien der Ignoranz
Vom Vergessen und Erinnern. Ein Portrait der AG »Frauen gegen Antisemitismus«
Interdependenz von Inklusion und Exklusion – ein sozialwissenschaftlicher Selbstversuch. Zu einer deutsch-niederländisch-jüdischen Familiengeschichte im Kontext von Rassismus und Krieg
MENSCHENRECHTE INTERSEKTIONAL
Entweder Schwarz oder weiblich?. Zum Umgang mit Intersektionalität in UN-Fachausschüssen
Verflechtungen von Rassismus und Ableism. Anmerkungen zu einem vernachlässigten Diskurs
Vom medizinischen zum menschenrechtlichen Modell von Behinderung
Konzepte für Behindertenrecht und -politik
ASYMMETRISCHE GLOBALITÄT
»Hier geht alles ziemlich langsam voran...«. Der Transnationale Soziale Raum als Ressource für Familien im Kontext von Migration und Behinderung
»Doppelte Bestimmung« im Privathaushalt. Zum Zusammenkommen von Feminisierung und Kolonialität in der bezahlten Hausarbeit
The Caring Question. The Emotional and the Political
DOMINANZ UND DISKRIMINIERUNG IM KONTEXT SOZIALER ARBEIT
Soziale Arbeit im Netz der Macht. Versuch einer sozialphilosophischen Einordnung
Cripping und Queering Soziale Arbeit. Aspekte der Disability Studies
Prävention von Rechtsextremismus unter Berücksichtigung von Genderperspektiven
»Wir behandeln alle gleich«: Zwischen Gleichheitsanspruch und Diskriminierungswirklichkeit. Prozesse der Auseinandersetzung mit Diskriminierung im Hochschulalltag
Poverty as a Culture of Dominance. An Ethnographie among Social Work Students in the Postsocialist European Periphery
SCHWEIGEN, SPRECHEN UND SCHREIBEN
Die Vermessung des Schweigens – oder: Was heißt sprechen? Dimensionen epistemischer Gewalt
Dialog und dialogisches Denken Der Anspruch von anderswo: eine Herrschaftsabsage
Envisioning New Futures. Literary Performances of Intertexuality, Gender and Race in the Works of Zadie Smith, Pauline Melville and Toni Morrison
Beleidigungen und Herabsetzungen. Zur sozialen Logik antisemitischer Aussagen
»A strong woman doesn’t follow – she leads!« (Selbst-)Darstellungen muslimischer Akademikerinnen im sozialen Netzwerk Facebook
Autor_innen

Citation preview

Iman Attia, Swantje Köbsell, Nivedita Prasad (Hg.) Dominanzkultur reloaded

Sozialtheorie

In memoriam Birgit Rommelspacher (1945-2015)

Iman Attia, Swantje Köbsell, Nivedita Prasad (Hg.)

Dominanzkultur reloaded Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen

Druck und Lektorat wurden freundlicherweise gefördert durch die Alice Salomon Hochschule Berlin, die Heinrich Böll Stiftung und die Rosa Luxemburg Stiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Nicola Lauré al-Samarai Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3061-9 PDF-ISBN 978-3-8394-3061-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort

Iman Attia / Swantje Köbsell / Nivedita Prasad | 10 Das Werk von Birgit Rommelspacher

Silvia Staub-Bernasconi | 13

DOMINANZKULTUR Ableism Neue Qualität oder ›alter Wein‹ in neuen Schläuchen?

Swantje Köbsell | 21 Der Schwulenkiez Homonationalismus und Dominanzgesellschaft

Zülfukar Ҫetin | 35 Einblick gewähren in die Welt der Muslime ›Authentische Stimmen‹ und ›Kronzeugenschaft‹ in antimuslimischen Diskursen

Yasemin Shooman | 47 Germanen, Götter und Gelehrte Zu völkischen Denkmustern und Deutungsschemata vom Deutschen Kaiserreich bis heute

Rolf Cantzen | 59

E RINNERUNGSKULTUREN Geteilte Erinnerungen Global- und beziehungsgeschichtliche Perspektiven auf Erinnerungspolitik

Iman Attia | 75

Erinnerungsarbeit an den Porajmos im Widerstreit Gegen Epistemologien der Ignoranz

Isidora Randjelović | 89 Vom Vergessen und Erinnern Ein Portrait der AG »Frauen gegen Antisemitismus«

Debora Antmann | 101 Interdependenz von Inklusion und Exklusion – ein sozialwissenschaftlicher Selbstversuch Zu einer deutsch-niederländisch-jüdischen Familiengeschichte im Kontext von Rassismus und Krieg

Rudolf Leiprecht | 113

MENSCHENRECHTE INTERSEKTIONAL Entweder Schwarz oder weiblich? Zum Umgang mit Intersektionalität in UN-Fachausschüssen

Nivedita Prasad | 129 Verflechtungen von Rassismus und Ableism Anmerkungen zu einem vernachlässigten Diskurs

Judy Gummich | 143 Vom medizinischen zum menschenrechtlichen Modell von Behinderung Konzepte für Behindertenrecht und -politik

Theresia Degener | 155

ASYMMETRISCHE G LOBALITÄT »Hier geht alles ziemlich langsam voran...« Der Transnationale Soziale Raum als Ressource für Familien im Kontext von Migration und Behinderung

Donja Amirpur | 171

»Doppelte Bestimmung« im Privathaushalt Zum Zusammenkommen von Feminisierung und Kolonialität in der bezahlten Hausarbeit

Encarnación Gutiérrez Rodríguez | 185 The Caring Question The Emotional and the Political

Nira Yuval-Davis | 199

DOMINANZ UND DISKRIMINIERUNG IM K ONTEXT S OZIALER ARBEIT Soziale Arbeit im Netz der Macht Versuch einer sozialphilosophischen Einordnung

Ruth Großmaß | 215 Cripping und Queering Soziale Arbeit Aspekte der Disability Studies

Heike Raab | 229 Prävention von Rechtsextremismus unter Berücksichtigung von Genderperspektiven

Heike Radvan | 241 »Wir behandeln alle gleich«: Zwischen Gleichheitsanspruch und Diskriminierungswirklichkeit Prozesse der Auseinandersetzung mit Diskriminierung im Hochschulalltag

Annita Kalpaka | 255 Poverty as a Culture of Dominance An Ethnographie among Social Work Students in the Postsocialist European Periphery

Darja Zaviršek | 269

S CHWEIGEN, SPRECHEN UND S CHREIBEN Die Vermessung des Schweigens – oder: Was heißt sprechen? Dimensionen epistemischer Gewalt

Sabine Hark | 285 Dialog und dialogisches Denken Der Anspruch von anderswo: eine Herrschaftsabsage

Christina Thürmer-Rohr | 297 Envisioning New Futures Literary Performances of Intertexuality, Gender and Race in the Works of Zadie Smith, Pauline Melville and Toni Morrison

Susan Arndt | 311 Beleidigungen und Herabsetzungen Zur sozialen Logik antisemitischer Aussagen

Barbara Schäuble | 323 »A strong woman doesn’t follow – she leads!« (Selbst-)Darstellungen muslimischer Akademikerinnen im sozialen Netzwerk Facebook

Reyhan Şahin | 335

Autor_innen | 347

Die vorliegende Textsammlung war als Festschrift für Birgit Rommelspacher gedacht. Vorwort und Beiträge wurden in der Annahme geschrieben, ihr das Buch zu ihrem 70. Geburtstag überreichen zu können. Die Festschrift sollte ihr Werk würdigen und ihm Diskussionsbeiträge zur Seite stellen. Birgit Rommelspacher ist Mitte April unerwartet gestorben. Sie hatte soeben eine Seniorprofessur angetreten, ihr neuestes Buch war bereits durch das erste Lektorat des Verlags gegangen. Ihr Tod setzte ihren Plänen ein jähes Ende. Er riss sie aus dem Leben und traf die Hinterbliebenen ganz unvorbereitet. Mit ihren fast 70 Jahren war Birgit Rommelspacher bis zuletzt aktiv, interessiert und inspirierend. Sie hinterlässt eine große Lücke. Die Festschrift erscheint nun als Gedenkschrift. An den ursprünglichen Texten wurden keine Anpassungen vorgenommen. Wir würdigen mit der vorliegenden Gedenkschrift das Lebenswerk von Birgit Rommelspacher und trauern um sie. Berlin, Iman Attia / Swantje Köbsell / Nivedita Prasad im April 2015

Vowort Iman Attia / Swantje Köbsell / Nivedita Prasad

Lange bevor ›Intersektionalität‹ in Teilen des weißen deutschen Feminismus als Paradigma institutionalisiert wurde, beschäftigte sich Birgit Rommelspacher mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Machtverhältnissen in ihrer jeweiligen Spezifik und in ihrer Verwobenheit. Sie nahm Kritiken Schwarzer, jüdischer, eingewanderter und beeinträchtigter Feministinnen ernst und unterzog ihre eigenen Arbeiten immer wieder der Revision. Wie nur wenige Andere ließ sie sich irritieren und schaffte es, die Irritationen und Kritiken produktiv zu wenden. Ihre Studien mündeten in den von ihr kreierten Begriff der Dominanzkultur. Auf ihn wird seitdem in feministischen, queeren, anti-rassistischen und anti-ableistischen Studien zustimmend und weiterentwickelnd Bezug genommen. Mit dem Begriff der Dominanzkultur meint Birgit Rommelspacher, »daß unsere ganze Lebensweise, unsere Selbstinterpretation sowie die Bilder, die wir vom Anderen entwerfen, in Kategorien der Über- und Unterordnung gefaßt sind. Wobei Kultur hier in einem umfassenden Sinn verstanden wird, und zwar als das Ensemble gesellschaftlicher Praxen und gemeinsam geteilter Bedeutungen, in denen die aktuelle Verfaßtheit der Gesellschaft, insbesondere ihre ökonomischen und politischen Strukturen, und ihre Geschichte zum Ausdruck kommen. Sie bestimmt das Verhalten, die Einstellungen und Gefühle aller, die in einer Gesellschaft leben, und vermittelt zwischen den gesellschaftlichen und individuellen Strukturen. Diese Kultur ist in westlichen Gesellschaften vor allem durch die verschiedenen Traditionen von Herrschaft geprägt, die zugleich auch sehr unterschiedliche Dimensionen umfassen. […] Dominanzkultur [ist] als ein Geflecht verschiedener Machtdimensionen zu begreifen, die in Wechselwirkung zueinander stehen.« (Rommelspacher, Birgit (1995): Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin, S. 22 f.)

Vorwort | 11

Birgit Rommelspacher war von 1990 bis 2007 Professorin für Psychologie mit dem Schwerpunkt Geschlechterverhältnisse und Interkulturalität an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Hier setzte sie sich nachhaltig für die Institutionalisierung der Diversity Studies, für die Etablierung gesellschaftskritischer, machtanalytischer und menschenrechtsbasierter Forschung und Lehre sowie für die Einrichtung entsprechender Stellen ein. Die Professuren der drei Herausgeberinnen dieser Festschrift sind direkte oder langfristige Folgen des hochschulpolitischen Engagements und der diskursiven Interventionen von Birgit Rommelspacher. Die vorliegende Festschrift will dies anerkennen. Birgit Rommelspacher war über ihre Tätigkeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin hinaus bundesweit und international aktiv. In den letzten dreißig Jahren publizierte sie zahlreiche Aufsätze und Bücher, hielt Vorträge, besuchte Kongresse und kam mit vielen Wissenschaftler_innen, Praktiker_innen und Aktivist_innen ins Gespräch, die in diversen Disziplinen, Arbeitsfeldern und Themenbereichen tätig und unterschiedlich gesellschaftlich positioniert sind. Birgit Rommelspacher inspirierte durch ihre Schriften und Vorträge viele Nachwuchswissenschaftler_innen, von denen nicht wenige bei ihr promovierten und heute selbst Professor_innen sind. Ihr Buch »Dominanzkultur« trägt damit zwanzig Jahre nach seinem Erscheinen weiterhin zu Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen bei. Als die Idee zu einer Festschrift für Birgit Rommelspacher Gestalt anzunehmen begann, sammelten wir Namen von in Frage kommenden Wegbegleiter_innen, Kolleg_innen, Schüler_innen und Freund_innen. Schnell wurde deutlich, dass wir eine Auswahl treffen mussten – zu viele waren es, die bereit gewesen wären, einen Text beizusteuern, und wir waren uns sicher, nicht alle zu kennen, die hätten gefragt werden können. Wir entschieden uns, Autor_innen anzufragen, die sowohl die Breite als auch die Differenz der von Birgit Rommelspacher im Laufe mehrerer Jahrzehnte bearbeiteten Themen und Zugänge abbildeten. Insofern sind die Beiträge auch historische Belege unterschiedlicher Thematisierungen von gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen. Sie beanspruchen weder Vollständigkeit noch geben sie die Positionen der Herausgeberinnen wieder. Vielmehr sollen sie Zeugnis von aktuellen Entwicklungen ablegen und zu weiteren Diskussionen anregen. Insbesondere aber will die Festschrift das Werk von Birgit Rommelspacher würdigen und ihm eine Zwischenbilanz zur Seite stellen. Zwischenbilanz deswegen, weil weder die Debatten zur Dominanzkultur ein Ende finden werden noch zu erwarten ist, dass Birgit Rommelspacher aufhört zu publizieren, vorzutragen und zu lehren. Sie tritt mit Beginn des Sommersemesters 2015 eine Seniorprofessur in Sozialpsychologie am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt/Main an, ein neues Buch steht kurz vor der Veröffentlichung. Den-

12 | Iman Attia / Swantje Köbsell / Nivedita Prasad

noch wollen wir ihren 70. Geburtstag zum Anlass nehmen, ihr bisheriges Werk zu würdigen. Die Autor_innen, deren Texte hier versammelt sind, nahmen die Einladung, einen Beitrag zu einer Festschrift für Birgit Rommelspacher zu schreiben, gern an, andere konnten aus verschiedenen Gründen der Einladung nicht folgen. Da Birgit Rommelspacher im Laufe ihres langen, aktiven Berufslebens mit sehr vielen Menschen ins Gespräch kam und kooperierte, konnten nicht alle, die ihr vielleicht wichtig gewesen wären, angesprochen werden. Auch Ursula Wachendorfer, mit der sie die meisten ihrer Arbeiten diskutierte, kommt hier nicht persönlich zu Wort. Doch soll ihr Beitrag, den sie durch aktives Zuhören, kritisches Hinterfragen und intensive Diskussionen zu Birgit Rommelspachers Werk geleistet hat, an dieser Stelle ausdrücklich gewürdigt werden. An der Verwirklichung der Festschrift waren viele Personen und Organisationen beteiligt. Ganz besonders danken wir Nicola Lauré al-Samarai, die das Lektorat mit großer Fachkenntnis, Professionalität und Sorgfalt erledigte. Zusammen mit Josefine Heilmann und Diane Izabiliza besorgte sie außerdem Satz und Layout der Beiträge. Die Alice Salomon Hochschule Berlin, das Gunda-Werner-Institut der Heinrich Böll Stiftung und die Rosa Luxemburg Stiftung teilten sich freundlicherweise die Kosten für Druck und Lektorat.

Berlin, im Februar 2015

Das Werk von Birgit Rommelspacher* Silvia Staub-Bernasconi

Birgit Rommelspachers Werk zeichnet sich aus durch eine lange Reihe von theoretischen wie praxisbezogenen Beiträgen zu zentralen, politisch umkämpften Themen: Sie reichen von Antisemitismus, Nationalsozialismus und Rechtsextremismus, über die Debatte zu den Vertriebenenverbänden bis zu Themen westlicher Dominanz, Feminismus und weiter zu solchen einer interkulturellen und menschenrechtlichen Perspektive in der Sozialen Arbeit. Im Folgenden versuche ich, der Komplexität ihres Wirkens und Denkens so weitgehend als möglich gerecht zu werden.

B IOGRAPHISCHER R ÜCKBLICK Birgit Rommelspacher wuchs in der oberschwäbischen Provinz auf. Ihre ursprüngliche Studiendisziplin war Psychologie an Universitäten in Deutschland und den USA, später ergänzt durch Studien in Philosophie, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in München. Beruflich war sie von Anfang an in der Forschung tätig, zunächst am Deutschen Jugendinstitut München, wo es um die Frage ging, ob Mütter ihre Kleinkinder in fremde Hände geben dürfen bzw. welchen Schaden sie dadurch anrichten und deshalb besser zu Hause bleiben sollten. Anfang der 80er Jahre zog sie nach Berlin, war an der Freien Universität und der Technischen Universität Berlin wissenschaftliche Mitarbeiterin und wurde nach ihrer Habilitation an der TU zum Thema »Mitmenschlichkeit und Unterwerfung« (1992) Gastprofessorin. Dank dieser Publikation wurde ich auf sie aufmerksam. Näher und intensiv kennenlernen konnte ich sie erst ab etwa 2000: Sie, Christina Thürmer-Rohr und ich hatten die

*

Dieser Beitrag stellt die überarbeitete Fassung der Laudatio dar, die ich anlässlich der Verleihung der Louise-Schroeder-Medaille an Birgit Rommelspacher am 2. April 2009 im Festsaal des Abgeordnetenhauses von Berlin halten durfte.

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Aufgabe übernommen, das Curriculum für einen Masterstudiengang »Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession« zu entwickeln, der bis heute von den drei Berliner Hochschulen und drei Universitäten getragen wird. Die Kombination von Theorieentwicklung, Lehre und Forschung hätte für ein volles Arbeitspensum bei weitem genügt. Für Birgit Rommelspacher nicht; sie war immer zugleich auch politisch engagiert, zuerst in der 68er, dann zunehmend in der Frauenbewegung. Und es waren diese Erfahrungen, welche ihre Fragestellungen an Theorie und Forschung bestimmten, deren Ergebnisse sie wiederum für die politische wie sozialarbeiterische Praxis fruchtbar machte. Auf eine Kurzformel gebracht ist ihr wissenschaftliches Lebensthema »Psychologie und Macht« – genauer: Wie setzen sich Machtverhältnisse in Gefühle, Denken und Handeln von Menschen um und wie reproduzieren diese wiederum die Machtverhältnisse? Diese Fragestellung konkretisierte sie über ihr berufliches Engagement ab 1990 an der Alice Salomon Hochschule Berlin, wo sie bereits zu dieser Zeit die Themen Geschlechterverhältnisse, Interkulturelle Soziale Arbeit und Behindertenfeindlichkeit lehrte. Sie erreichte, dass – damals erstmalig in der BRD – Interkulturelle Soziale Arbeit zum Pflichtfach wurde. Heute ist dies eine Selbstverständlichkeit an fast allen Hochschulen. Auch zur Etablierung der Fächer Gender- und Queerstudies sowie Disability Studies hat sie maßgeblich beigetragen. Als Mitglied zahlreicher Gremien setzte sie sich mit Rechtsextremismus, Antisemitismus, Migration, Frauenfragen sowie Menschenrechten und Sozialer Arbeit auseinander. Zusätzlich zu ihrem hochschulpolitischen Engagement war sie u.a. aktiv als Vorsitzende des Beirats der Landeskommission »Berlin gegen Gewalt« der Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport Berlin – dies aufgrund ihrer Expertise zum Rechtsextremismus (bis 2008). Sie war überdies Gründungsmitglied der Stiftung »Zurückgeben«, einer Stiftung zur Förderung Jüdischer Frauen in Kunst und Wissenschaft, die vom Wissen getragen war, dass das jüdische Eigentum in Europa zugunsten fast aller Deutschen ›sozialisiert‹, d.h. enteignet und geraubt worden war. Birgit Rommelspacher war langjährige Vorsitzende der Kommission des Programms zur Förderung der Chancengleichheit für Frauen in Forschung und Lehre des Senats von Berlin (bis 2007). Sobald auch FH-Absolvent_innen promovieren durften, entwickelte Birgit Rommelspacher zusammen mit ihren Kolleginnen Marlies Dürkop und Dagmar Schulz ein erfolgreiches Promotionskolleg. Sie wirkte im europäischen Netzwerk »International Doctorate in Social Work« (INDOSOW) an der Konzeption und Durchführung einer international orientierten Promotion mit. Als Mitglied im Beirat zu Fragen von »Homosexualität und Migrantenfamilien« sowie in der Hirschfeld-Edy Stiftung zum Thema »Sexuelle Identität, Geschlechterposition und Menschenrechte« konnte sie ihre Expertise einbringen. Erwähnenswert ist schließlich ihre Funktion als Vertrauensdozentin der Rosa-Luxemburg- sowie der Heinrich-Böll-Stiftung.

Das Werk von Birgit Rommelspacher | 15

R ECHTSEXTREMISMUS , N ATIONALISMUS , ANTISEMITISMUS UND E RINNERUNGSKULTUR Birgit Rommelspacher ist eine der ersten Wissenschaftlerinnen, die – analog zur Mittäterschaftsthese von Christina Thürmer-Rohr – zunächst zusammen mit Christine Holzkamp, die Frage nach der Mittäterschaft von Frauen im Umkreis des Rechtsextremismus bearbeitete. Öffentliche Diskurse waren auf Gewalt von rechts fixiert und damit auf Männer mit rechtsextremen Einstellungsmustern, die auf eine expansive, nationale Politik setzten. Frauen dagegen bezogen sich vorrangig auf Recht und Ordnung, auf Anpassung im Alltag als Legitimation für ein Anrecht auf Teilhabe an der Gesellschaft. Eigene Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen als Frauen führen bei ihnen dazu, den ›Ausländer‹ als Prototypen des Vergewaltigers zu definieren. Dazu kommt die Mystifizierung der Familie als alleiniger Ort der Geborgenheit, Intimität und Fürsorglichkeit. Dies erlaubt die Zuschreibung von reiner, funktionaler Sachbezogenheit, Mitleidlosigkeit, bis zur mörderischen Kälte rassistischer Ausgrenzung im außerfamiliären Bereich. Es gibt bekanntlich in der rechten Szene einen militanten Antifeminismus; zugleich setzen sich aber viele dieser Frauen gegen den Sexismus in den eigenen Reihen zur Wehr, wobei gleichzeitig die Unterscheidung zwischen der auserlesenen, starken und der erbuntüchtigen und schwachen, auch nicht-deutschen Frau aufrechterhalten wird. Das Interessante, ja Paradoxe ist hier, dass Emanzipationsforderungen auch im Rahmen von Ungleichheitsideologien und autoritären sozialen Strukturen gestellt werden können. Birgit Rommelspacher räumt des Weiteren mit naiven Erklärungsmustern auf, die den Rechtsextremismus von Jugendlichen mit der Suche nach ›Thrill und Geborgenheit‹ erklären. Sie vermag zu zeigen, dass eine macht- bzw. dominanztheoretische Erklärung den Motiven der Jugendlichen näher kommt, das heißt: Um an rechten und rechtsextremen Jugendcliquen teilzunehmen, mit Nazisymbolen so ›herrlich zu provozieren‹, ein Rauschgefühl bei der Anwendung von Gewalt zu erleben und dadurch einen sozialen Aufstieg durch symbolische wie reale Partizipation an Macht zu erleben, bedarf es keiner Vorleistung. Die ›richtige‹ Herkunft und Hautfarbe genügen, um Teil dieser ›Eliten‹ zu werden. Auch die Leugnung des Holocaust versucht, ihren Wahrheitsanspruch mit Macht durchzusetzen und ist keiner rational-empirischen Argumentation zugänglich. Denn jedes Eingeständnis eines Fehlurteils wäre ein Machtverlust. Dies führt zur Frage, warum der heroische, ›rassenreine‹ Herrenmensch so große Ängste gegenüber Minderheiten entwickelt, die er als schwach, minderwertig und dekadent ansieht. Da sich der Selbstwert des symbolisch aufgestiegenen Herrenmenschen auf die ›Minderwertigkeit‹ der Anderen stützt – nur der Stärkste kann überleben und allein in seiner Stärke zeigt sich seine Existenzberechtigung – müssen ›die Anderen‹ möglichst übermächtig und feindlich erscheinen, um sich in strikter Abgrenzung zu ihnen als die eigentlichen Helden betrachten zu können.

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Des Weiteren beklagt Birgit Rommelspacher zu Recht, dass sowohl in öffentlichpolitischen wie wissenschaftlichen Diskursen oder auch bei Aussteigerprojekten der Rechtsextremismus auf soziale Problemlagen zurückgeführt und an die Soziale Arbeit delegiert wird, ohne dass man sich mit seinen Inhalten auseinandersetzt. Zu nennen wären: Die Denkfigur eines Volksganzen deutscher Abstammung; die Funktionalisierung des Individuums für den Erhalt eines Kollektivs bei gleichzeitiger symbolischer Produktion eines individuellen Elitebewusstseins der Stärke, das mit Verachtung gegenüber Anderen einhergeht. Ihre Schlussfolgerung: Es genügt nicht, sich von gewalttätigen Jugendlichen zu distanzieren und sie als sozial Benachteiligte zu bedauern – es geht ebenso um die Auseinandersetzung mit dieser Denkfigur der Funktionalisierung des Individuums zur Stabilisierung eines sozialen Systems oder gar eines ›Ganzen‹, die sich überdies auch in vielen Texten zur Sozialen Arbeit wiederfindet. Birgit Rommelspachers Forschung zur Erinnerungskultur geht aus vom Unbehagen über die Kluft zwischen öffentlichem Reden und privatem, innerfamiliärem Schweigen zur Rolle der Großeltern und Eltern in der Zeit des Nationalsozialismus. Es zeigte sich ihr auch in ihren Seminaren über den Nationalsozialismus bei ihren Studierenden in den verschiedensten Formen. Es war und ist ein ständiger Kampf um Erinnerung und Vergessen, um den Mut, Fragen an die ältere Generation und ihr Mittragen der Verdrängung zu stellen. In vielen Beispielen zeigt sich, dass das Bedürfnis nach Loyalität zur Familie oder zur Nation einem eigenen Urteil über diese Zeit entgegensteht, ja ein solches gar verhindert. In diesem Zusammenhang ist das Projekt »Berlin meets Haifa« entstanden. Studierende der Alice Salomon Hochschule begegnen israelischen und palästinensischen Studierenden der Schule für Soziale Arbeit der Universität von Haifa. Sie studieren gemeinsam vereinbarte Texte unter den gleichen Fragestellungen: Wie geht die jeweilige Gesellschaft mit Mehrheiten und Minderheiten um? Was hat die individuelle Identität mit der sozialen Position als Mitglied der Mehr- oder Minderheit in den jeweiligen Gesellschaften zu tun? Und was bedeutet dies für die Soziale Arbeit? Bei einem gegenseitigen 10-tägigen Besuch werden die Auseinandersetzungen gemeinsam diskutiert.

D OMINANZKULTUR , I NTERSEKTIONALITÄT , F EMINISMUS UND INTERKULTURELLE P ERSPEKTIVEN IN DER S OZIALEN ARBEIT In diesem zweiten Themenkreis erweitert Birgit Rommelspacher Fragen nach Dominanzverhältnissen zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung durch eine interkulturelle Perspektive. Sie beschäftigt sich mit Un-/Gleichheit zwischen Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft und Mitgliedern von ethnisch-kulturellen, religiösen oder ethnisch-nationalen Minderheiten, zwischen Frauen der Mittel- und Oberschicht, zwischen weißen mittel-

Das Werk von Birgit Rommelspacher | 17

ständischen Frauen und ihren meist zugewanderten und oft illegalisierten Pflegekräften und Hausangestellten, welche den ersteren sowohl die berufliche Emanzipation als auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen. Die zentrale Aussage von Birgit Rommelspacher ist hier, dass kulturelle Differenz bzw. der vielbeschworene, normativ gesetzte kulturelle Pluralismus immer im Hinblick auf latente oder gar gesetzlich institutionalisierte Ungleichheitsstrukturen hinterfragt werden muss. Um diese These theoretisch zu verfeinern und empirisch zu belegen verweist sie auf verschiedene Weiterentwicklungen des Machtdiskurses: So etwa auf die »critical whiteness studies« aus den USA. Ausgehend von der Frage, warum Weiße bereit sind, das Schwarz-Sein der Anderen zu thematisieren, sich aber kaum ihres eigenen Weiß-Seins, insbesondere ihrer Privilegien, bewusst sind. Ihr gesellschaftlicher und kultureller Ort in der (welt-) gesellschaftlichen Machtstruktur bleibt so unbenannt und unsichtbar. Birgit Rommelspacher geht es in ihren Arbeiten immer auch um einen Praxisbezug. Sie lehrte zu Diversity-Pädagogik, social justice education, anti-oppressive social work, »Eine Welt der Vielfalt« sowie Methoden der Menschenrechtsbildung und der konkreten Einlösung von Menschenrechten. Für das Problem der ethnischen Unterschichtung von Mittel- und Oberschichthaushalten schlägt sie die Schaffung regulärer, sozial abgesicherter Arbeitsplätze vor. Diese handlungstheoretischen Zugänge gehen weit über das hinaus, was heute als Empathie oder ›Sensibilität‹ für so genannte ›andere Kulturen‹ gefordert wird. Am Beispiel der Gegenüberstellung von Islam und Feminismus möchte ich abschließend aufzeigen, wie Birgit Rommelspacher in all ihren Beiträgen die analytisch-theoretische Kunst beherrscht, alltägliche Selbstverständlichkeiten, Ambivalenzen, Unvereinbarkeiten wie politische Polarisierungen im öffentlichen Diskurs aufzudecken und, sofern man sich verstören lässt, zum weiteren Nachdenken zu bewegen. Die ›westliche, emanzipierte Frau‹ mag in der Wahl ihrer Kleidung im Unterschied zur ›patriarchal unterdrückten Frau‹ frei sein, unterliegt aber neuen Zwängen: ihr Körper darf nicht zu dick, zu dünn, zu alt oder zu schlaff sein. Dies wird zum großen Geschäft für die plastische Chirurgie, die den Körper den herrschenden, fast durchwegs von Männern definierten Schönheitsnormen unterwirft. Die kemalistische Frau, für die Kemal Atatürk per Dekret westliche Kleidung durchsetzte, orientierte sich am europäischen Schönheitsideal der schlanken, energischen Frau mit kurz geschnittenem Haar; ihre Geschlechtlichkeit wurde ihr dadurch weitgehend abgesprochen; qua Selbstdisziplinierung musste sie sich einen männlichen Habitus zulegen. Sexuelle Befreiung hat im Westen zu extremen Formen der Sexualisierung der Öffentlichkeit, der Kommerzialisierung der Sexualität und zu neuen Formen von Gewalt und sexueller Ausbeutung geführt. Der ›Fortschritt‹ dieser Befreiung wurde folglich mit massiven ›Rückschritten‹ erkauft. Durch die Gegenüberstellung von ›westlicher‹ Freiheit und ›islamischer‹ Unterdrückung wird die Spannung der jeweils widersprüchlichen aktuellen Situation auf-

18 | Silvia Staub-Bernasconi

gehoben: Im westlichen Selbstbild wird das Risiko des Scheiterns von Emanzipation und Befreiung negiert, während den Musliminnen in kulturalistischer Verengung das Potential der Transformation und eigenständigen Wahl von möglichen Befreiungsalternativen, wozu auch die Entscheidung für oder gegen die Familie und für oder gegen das Kopftuch gehört, abgesprochen wird. Auf der Grundlage wird die Kopftuchdebatte um einiges komplexer. Der simple Schluss »Kopftuch = Unterdrückung« ist nicht mehr möglich, sondern muss zur Frage werden: Welche Differenzen müssen akzeptiert, welche aber auch klar – beispielsweise aufgrund menschenrechtlicher Kriterien – zurückgewiesen werden?

* Liebe Birgit, als wir einmal zusammen in einer Berufungskommission saßen, wurdest Du vehement dafür kritisiert, ja angegriffen, dass Du im Grunde gar nicht wüsstest, was Soziale Arbeit wirklich sei und deshalb Präferenzen für die falschen Bewerber_innen entwickeln würdest. Ich hoffe, dass ich zeigen konnte, wie unzutreffend dieses Urteil war. Zugegeben: Wenn mit Sozialer Arbeit die Ökonomisierung des Sozialen und die soziale Normalisierung ihrer Adressat_innen gemeint ist, dann bist Du nicht nur meilenweit von einer solchen Sozialarbeitskonzeption entfernt, sondern hast auch die theoretischen Kategorien entwickelt, um sie auf zentrale, menschenverachtende Vorstellungen hin zu kritisieren. Aber es gibt in der Sozialen Arbeit zum Glück andere historisch-theoretische Traditionen, die es heute allerdings sehr schwer haben, etwa die Verbindung von Sozialarbeit und Gesellschafts- bzw. Sozialpolitik, insbesondere Frauenpolitik bei Alice Salomon. Oder auch die Arbeiten von Jane Addams aus Chicago, die eine erstaunliche Parallelität Deiner und ihrer Themen und Forschungstätigkeit in einer Einwanderungsgesellschaft aufzeigen. Auch sie kritisierte die ideologisch-nationale Massenmobilisierung, und auch sie forderte nicht emotionale, sondern kognitive, d.h. theoretisch und kritisch angeleitete Empathie. Erwähnenswert sind auch Euer gemeinsames theoretisches Denken wie praktisches Engagement für eine soziale Demokratie, in welcher der oberste, heute menschenrechtlich abgesicherte Grundsatz der Gleichheit aller Menschen hochgehalten wird, um immer wieder, auch bei Rückfällen, dafür einzustehen und daran zu arbeiten. Dies ist nicht nur eine Deiner obersten Leitlinien, sondern, wie Deine vielen Studierenden und Doktorandinnen berichten, ist sie auch maßgebend für Deine Beziehung zu ihnen. Dabei fordert Jane Addams nicht nur politische soziale Demokratie, sondern integrale Demokratie, d.h. in allen Teilsystemen der Gesellschaft: Familie, Bildungs-, Wirtschaftssystem und – man lese und staune – auch für die damaligen ›Dienstboten‹. Darum, liebe Birgit, sind Arbeiten wie Deine wichtig, und wir hoffen, dass Du weiterhin unbeirrt durchhältst sowohl gesellschaftlich, politisch und fachlich als auch persönlich.

Dominanzkultur

Ableism Neue Qualität oder ›alter Wein‹ in neuen Schläuchen? Swantje Köbsell

Im deutschsprachigen Diskurs zum Thema Behinderung ist zunehmend ein neuer Anglizismus anzutreffen: Ableism. Seine Verwendung erfolgt allerdings unterschiedlich; oftmals auch als Synonym für Behindertenfeindlichkeit: »Unter dem Begriff Ableism oder Behindertenfeindlichkeit wird die Abwertung oder Diskriminierung gegenüber Menschen verstanden, die für behindert erklärt werden« (Reimann 2012: o.S.). Das Verständnis in den Disability Studies geht darüber weit hinaus. Mit Bezug auf Sexismus und Rassismus gebildet, wird mit Ableism ebenfalls ein Gesellschaften durchziehendes und strukturierendes Verhältnis beschrieben: die hierarchische Bewertung von Menschen anhand angenommener, zugeschriebener oder tatsächlicher Fähigkeiten. Dieser Sachverhalt lässt sich mit keinem deutschen Wort auf den Punkt bringen, weshalb Ableism (oder manchmal Ableismus) auch im Deutschen als Begriff verwendet wird. Ist nun mit dem Begriff Ableism eine neue Qualität in das Denken und Forschen über Menschen mit angenommenen oder tatsächlichen Beeinträchtigungen eingezogen oder nur ein neues Label für einen bereits bestehenden Diskurs gefunden worden? Oder anders gefragt: Wurde das, was mit Ableism gekennzeichnet wird, auch schon unter dem Begriff »Behindertenfeindlichkeit« diskutiert? Die Antwort ist ein Sowohl-als-auch. Im Folgenden soll die Entwicklung des Begriffes bzw. Konzeptes Ableism im deutschen Diskurs zu Behinderung anhand ausgewählter deutscher Veröffentlichungen nachgezeichnet sowie skizziert werden, wie das Konzept in den internationalen Disability Studies diskutiert wird.

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»B EHINDERTENFEINDLICHKEIT « Wird der Begriff »Behindertenfeindlichkeit« in eine Suchmaschine eingegeben, so erscheinen etliche Links, in denen dieser als »Ablehnung, Diskriminierung und Marginalisierung von Menschen mit Behinderungen«1 definiert wird. Dabei wird häufig zwischen beabsichtigter und nicht beabsichtigter Diskriminierung unterschieden (vgl. ebd.). Auch in der Behindertenbewegung wurde der Begriff benutzt, um auf ausgrenzende, aussondernde Handlungen und Praktiken zu verweisen. In den 1980er Jahren wurden z.B. vom Frankfurter Volkshochschulkurs »Bewältigung der Umwelt«2 »bauliche Barrieren, bauliche Behinderungen […] mit dem ›Prädikat Behindertenfeindlich‹ ausgezeichnet« (Steiner 2003: o.S.). »Behindertenfeindlichkeit« ist ein Begriff aus der Alltagssprache, »kein wissenschaftlicher Begriff« (Wocken 2000: o.S.) und wird oft verwendet, ohne genauer definiert zu werden. Als behindertenfeindlich gelten z.B. direkte, physische Gewalt gegen beeinträchtigte Personen3, ›behindertenfeindliche‹ Gerichtsurteile wie die »Urlaubsurteile«4 von 1980 und 1992 (vgl. Klee 1980, Die ZEIT vom 02.10.1992), aber auch die zunehmend effizientere vorgeburtliche Selektion durch Pränataldiagnostik mit selektivem Schwangerschaftsabbruch sowie die immer wieder aufflackernde Diskussion um aktive Sterbehilfe (Wocken 2000). Der Behindertenpädagoge Hans Wocken veröffentlichte im Jahr 2000 einen Text über eine – von Studierenden eines seiner Seminare durchgeführten – Umfrage zur Behindertenfeindlichkeit von Hamburger Bürger_innen. Im Vergleich zu Einstellungsuntersuchungen aus den 1970er Jahren stellt er fest, dass weniger »Berührungsängste« gegenüber behinderten Menschen im Alltag bestanden, weshalb er geneigt ist, »dem Zeitgeist ein behindertenfreundliches Testat auszustellen« (ebd.: o.S.). Im weiteren Verlauf stellt er allerdings im Hinblick auf das Lebensrecht und das Recht auf Fortpflan-

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www.netz-gegen-nazis.de/ressorts/behindertenfeindlichkeit (Stand: 28.02.2015).

2

Gusti Steiner, ein früher Aktivist der Behindertenbewegung, und der Publizist Ernst Klee führten ab 1974 Volkshochschulkurse mit behinderten und nichtbehinderten Teilnehmer_innen durch. Aus diesen Kursen entstanden einige provokative Aktionen, wie es sie in der BRD im Kontext Behinderung bis dahin noch nicht gegeben hatte: Es wurden Gebäude und Verkehrsmittel, die nicht zugänglich waren, blockiert, und mehrere Jahre lang wurde die »Goldene Krücke« an die »größte Niete der Behindertenarbeit« verliehen (vgl. Köbsell 2012: 11).

3

Darüber wurde insbesondere in den späten 1990ern häufig diskutiert, als die Medien über einen Anstieg von Tätlichkeiten gegenüber behinderten Menschen berichteten (vgl. Wocken 2000).

4

In beiden Urteilen wurden Urlauber_innen Entschädigungen zugesprochen, weil sie den Anblick behinderter Miturlauber_innen ›ertragen mussten‹.

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zung eine ambivalente Haltung bei den Befragten fest, die er »als Ausdruck einer überzeitlichen, grundlegenden Einstellung zu Behinderten« (ebd.) wertet. Allerdings könne der positive Pol dieser Ambivalenz gestärkt werden: »Gegen Behindertenfeindlichkeit hilft am besten Behindertenfreundlichkeit« (ebd.). In der Empfehlung wird eine Schwachstelle dieses Zugangs zur Ausgrenzung und Diskriminierung behinderter Menschen sichtbar: Zwar konstatiert Wocken, dass »Leistung, Nützlichkeit, Gesundheit und Schönheit [...] die Leitvorstellungen der Marktgesellschaft [sind], also genau jene Werte, die eine Abwertung von Behinderung bedingen« (ebd.). Diese Erkenntnis wird jedoch nicht in einen theoretischen Zusammenhang mit Behindertenfeindlich- und -freundlichkeit gestellt. Gleichzeitig wird deutlich, dass eine Reduktion der Thematik auf Feindlich- und Freundlichkeit nicht ausreicht, um das Geschehen zu erklären. In ihrem 1995 erschienen Buch »Dominanzkultur« geht Birgit Rommelspacher bereits über diese Argumentationsweise hinaus. Sie stellt sowohl den Zusammenhang zwischen Behindertenfeindlichkeit und Normalität als auch den zur rassistischen Konstruktion des ›Anderen‹ her. Sie verweist auf die durch Behinderung ausgelöste Konfrontation mit der eigenen Vulnerabilität und darauf, dass »unsere Kultur die Behinderten5 ausgesondert und kulturell zu den Antipoden gemacht hat« (Rommelspacher 1995: 55). In der Folge symbolisiere Behinderung das Böse, während »Schönheit und Gesundheit eine Metapher für das Gute« (ebd.: 56) sei. Zudem handele es sich bei Behindertenfeindlichkeit um einen »›Biologismus‹, der die Norm einer erwünschten Biologie zur Grundlage sozialer Bewertung macht« (ebd.). »Die Behinderten wurden zur Negativfolie, von der sich die Tüchtigen in ihrer Leistungskraft deutlich abhoben. Insofern hat die Behindertenfeindlichkeit primär die Funktion, die Gültigkeit des herrschenden Wertesystems weiter zu verfestigen.« (Ebd.: 57)

Deutlich wird hier, dass Behinderung zur Konstruktion von ›Normalität‹ gebraucht wird. Dies funktioniert aber nur, wenn ›die Behinderten‹ an dem ihnen zugeteilten Platz bleiben. Dieser Platz befindet sich am Rand der kapitalistischen Erwerbsgesellschaft, die die einzuhaltende Normalität vorgibt: »Das Diktat der Normalität verlangt von den Behinderten, sich reibungslos einzupassen, nicht aufzufallen und

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Rommelspachers Sprachgebrauch aus dem Jahre 1995 erscheint inzwischen politisch unkorrekt: Es wird nicht mehr von ›den Behinderten‹ oder gar ›dem Behinderten‹ gesprochen; auch die Verwendung der Begriffe Beeinträchtigung und Behinderung hat sich verändert: ›Beeinträchtigung‹ (impairment) steht für die individuelle, ›biologische‹ Dimension, ›Behinderung‹ hingegen bezeichnet die Konstruktion von Behinderung – das Ergebnis des Behindertwerdens aufgrund unterschiedlicher Teilhabebarrieren (vgl. Köbsell 2012: 41, UN BRK, Art. 1).

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nicht durch ihren Anblick zu irritieren« (ebd.: 62). Die ihnen zugedachte Rolle drückt ein Aufkleber der damals jungen Behindertenbewegung pointiert aus: »Unser Musterkrüppelchen – dankbar, lieb, ein bisschen doof, leicht zu verwalten« (Klee 1976: 150). Bleiben behinderte Menschen in dieser Rolle und stellen keine Ansprüche über das hinaus, was ihnen gnädiger Weise zugeteilt wird, winkt als ›Lohn‹ das Mitleid. Rommelspacher beschreibt anschaulich die zahlreichen Verwerfungen des Verhältnisses von behinderten zu nichtbehinderten Menschen, die Prozesse des Vermeidens und Distanzierens, die »Angst vor ›Ansteckung‹, vor ›Übertragung‹ sowie die Angst vor der eigenen Behinderung, vor Leiden und vor dem Verlust gesellschaftlicher Akzeptanz, vor Abhängigkeit und Isolation« (Rommelspacher 1995: 65). Es handelt sich dabei um soziale Aspekte, von denen aber angenommen wird, sie seien naturhaft mit dem Vorliegen einer Beeinträchtigung verbunden. Hier wird deutlich, dass das Konglomerat aus Erwartungen, Zuschreibungen, Ängsten und Selbstschutzmechanismen bei der Konstruktion von Behinderung und von Normalität eine zentrale Rolle spielt. Die aufgeführten Aspekte werden 1999 in dem von Birgit Rommelspacher herausgegebenen Buch »Behindertenfeindlichkeit. Ausgrenzungen und Vereinnahmungen« wieder aufgenommen und anhand einiger Beispiele verdeutlicht, dass »Behindertenfeindlichkeit« in sehr verschiedenen ›Gewändern‹ daherkommen kann. Besonders eindrucksvoll zeigt dies der Beitrag von Dietke Sanders, die 1994 in autonomen Frauenprojekten arbeitende nichtbehinderte Feministinnen zu ihrem bzw. dem Verhältnis der Frauenbewegung zu behinderten Frauen befragte. Erwartet hatte sie, dass in diesen, sich selbst als »politisch bewußt« (Sanders 1999: 67) bezeichnenden Kreisen, die sich mit gesellschaftlicher Unterdrückung auseinandersetzten, ein anderer als der gesellschaftlich übliche ausgrenzende bzw. ignorierende Umgang gepflegt wurde. Sie wurde jedoch eines Besseren belehrt: Das Thema Behinderung bzw. behinderte Frauen war ein Tabu mit dem Effekt, dass behinderte Frauen in der Frauenbewegung nicht existent waren, unsichtbar gemacht wurden (ebd.: 68). In den Interviews wurde deutlich, dass »behinderte Frauen durch die Arbeitspraxis, die Stellenpolitik und die frauenpolitischen Zusammenhänge ausgegrenzt« wurden (ebd.: 70). Weiter zeigten die Interviews deutlich, dass alle von Rommelspacher beschriebenen Mechanismen der »Behindertenfeindlichkeit« hier zu finden waren: De-Thematisierung der Behinderung, Reduktion der Frauen auf ihre Behinderung (und damit Absprechen der Individualität), direkte Feindseligkeit, paternalistische Fürsorge, Vermeidungsverhalten und die Projektion eigener Ängste (Rommelspacher 1999: 205). An dieser Schnittstelle von Geschlecht und Behinderung wird sowohl deutlich, dass benachteiligte Gruppen nicht zwangsläufig mit anderen marginalisierten Menschen solidarisch sind als auch, dass zur Erklärung von Ausgrenzungsprozessen intersektionale Herangehensweisen benötigt werden.

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ABLEISM Unter dem Einfluss der Disability Studies setzt sich – auch im deutschen Diskurs zu Behinderung – zunehmend der Begriff Ableism durch, wenn es um die zahlreichen Facetten der Ausgrenzung und ›Andersbehandlung‹ von als behindert geltenden Menschen sowie die dahinter stehenden Denkweisen und Einstellungen geht. Der Begriff ›Behindertenfeindlichkeit‹ wird zunehmend durch ›Ableism‹ abgelöst (vgl. Maskos 2003). Gebildet wurde der Begriff in Analogie zu anderen ›Ismen‹ die ebenfalls die Benachteiligung aufgrund bestimmter Merkmale bezeichnen wie z.B. Sexismus und Rassismus. Rommelspacher (2009) definiert Rassismus »als ein System von Diskursen und Praxen, die historisch entwickelte und aktuelle Machtverhältnisse legitimieren und reproduzieren. […] Dabei werden soziale und kulturelle Differenzen naturalisiert und somit soziale Beziehungen zwischen Menschen als unveränderliche und vererbbare verstanden (Naturalisierung). Die Menschen werden dafür in jeweils homogenen Gruppen zusammengefasst und vereinheitlicht (Homogenisierung) und den anderen als grundsätzlich verschieden und unvereinbar gegenübergestellt (Polarisierung) und damit zugleich in eine Rangordnung gebracht (Hierarchisierung). Beim Rassismus handelt es sich also nicht einfach um individuelle Vorurteile, sondern um die Legitimation von gesellschaftlichen Hierarchien, die auf der Diskriminierung der so konstruierten Gruppen basieren. In diesem Sinn ist Rassismus immer ein gesellschaftliches Verhältnis.« (Ebd.: 29)

Diese Definition lässt sich analog auf Ableism übertragen, auch wenn es hier nicht um die Unterschiedlichkeit aufgrund von Hautfarbe oder Herkunft geht, sondern um die Nicht-/Erfüllung von Normalitätsanforderungen im Hinblick auf bestimmte geistige und körperliche Fähigkeiten, die als ›typisch menschlich‹ und damit als »natürlich gegeben und für das Menschsein zentral gesetzt (werden)« (Maskos 2010: o.S.). Ihre Nicht-/Erfüllung entscheidet über die Bewertung und gesellschaftliche Positionierung von Menschen. Wie in der angeführten Rassismus-Definition werden Unterschiede naturalisiert, Menschen in Gruppen homogenisiert, in der Zuordnung »behindert-nichtbehindert« polarisiert und der Erfüllung erwarteter Fähigkeiten entsprechend in eine hierarchische Ordnung gebracht. Damit geht es – im Gegensatz zum oben geschilderten allgemeinen Diskurs um Behindertenfeindlichkeit – nicht um Fragen der Freund- oder Feindlichkeit, sondern um die Thematisierung gesellschaftlicher (Macht-)Verhältnisse.

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W IRKUNGSWEISEN VON ABLEISM

UND

E RSCHEINUNGSFORMEN

Ableism bildet die Grundlage sowohl des individuellen wie auch des gesellschaftlichen Umgangs mit behinderten Menschen und ist kulturell tief verankert (Goodley 2014: 32). Er beeinflusst Einstellungen und Haltungen, ist weithin akzeptiert und wird kaum infrage gestellt, denn: »Wer die Normalität auf seiner Seite weiß, hinterfragt sie nicht« (Sierck 2013: 11). Auch die Betroffenen nehmen Ableism und seine Auswirkungen oftmals nicht wahr, so verinnerlicht sind die zugeschriebene gesellschaftliche Position und die daraus resultierenden Umgangsweisen. Ableism ist die Grundlage dessen, was Wolbring »Disableism« nennt, »dem diskriminierenden, unterdrückenden oder beleidigenden Verhalten, das aus dem Glauben entsteht, dass Menschen ohne diese ›essentiellen‹ Fähigkeiten anderen unterlegen seien« (Wolbring 2009: 30). Dieser Definition zufolge entspräche der Begriff Disableism tatsächlich Behindertenfeindlichkeit, denn hier werden ausschließlich negative Verhaltensweisen gegenüber behinderten Menschen benannt. Ableism geht jedoch darüber weit hinaus; er ist Bestandteil der »Dominanzkultur«, einem »Ensemble gesellschaftlicher Praxen und gemeinsam geteilter Bedeutungen« das durch »spezifische Kategorien von Über- und Unterordnung« gekennzeichnet ist (Rommelspacher 1995: 22 f.) und in dem die Zuschreibung ›behindert‹ zu eingeschränkter Teilhabe in vielen Bereichen führt. Ableism durchzieht alle gesellschaftlichen Bereiche, wird in uns alle hineinsozialisiert, beeinflusst so die Einstellungen und Haltungen aller Mitglieder einer Gesellschaft und damit auch ihre Handlungen, die, wenn sie unreflektiert und unhinterfragt bleiben, in allen gesellschaftlichen Bereichen zum »doing disability« (Waldschmidt 2008) und damit zur Konstruktion von Behinderung und Normalität beitragen. Ableism wirkt sich in allen Lebensphasen und Bereichen aus: Bereits vorgeburtlich wird mittels Pränatal- und Präimplatationsdiagnostik nach ableistischen Kriterien entschieden, wer zur Welt kommen darf; Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen sehen sich mit ableistischen Einstellungen und Vorhaltungen konfrontiert (vgl. McLaughlin et al. 2008). Auch in der Schule – aller Inklusionsrhetorik zum Trotz – wirkt Ableism weiterhin auf verschiedenen Ebenen wie z.B. darin, dass bestimmten Schüler_innen weniger zugetraut wird, sie sozial ausgegrenzt, beschämt oder gemobbt werden, weil sie von der gesellschaftlich erwarteten Normalität abweichen. Ableism kann sich auch gewaltförmig äußern im Einsperren, Isolieren, Bevormunden und Infantilisieren (vgl. Langner 2010: 146), im Vorenthalten von Bildungs- und Teilhabechancen sowie als körperliche und/oder sexualisierte direkte Gewalt (vgl. Jungnitz et al. 2013, Schröttle / Hornberg 2012). Sprache und kulturelle Repräsentation sind zwei weitere Bereiche, in denen Ableism zum Tragen kommt. Im Hinblick auf Sprache reicht das Spektrum von direk-

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ten Beschimpfungen bzw. dem Gebrauch bestimmter Beeinträchtigungsbezeichnungen als Schimpfwort über die Verwendung von Metaphern, die auf Negativzuschreibungen im Kontext von Behinderung rekurrieren (›taube Nuss‹, ›blinder Fleck‹ etc.), bis hin zu insbesondere in den Medien gängigen, und deshalb sehr einflussreichen, essentialisierenden und stereotypen Beschreibungen behinderter Menschen6. Bei dieser Art der Berichterstattung über behinderte Menschen herrscht eine ableistische Perspektive vor, infolge derer das Leben von Individuen mit Beeinträchtigungen – unabhängig von eigener Lebensbeschreibung – als ›leidend‹ und/ oder besonders tapfer dargestellt wird und sie entweder bemitleidet oder zu Held_innen stilisiert werden (Maskos 2003: 110). Auch in der Darstellung von Menschen mit Beeinträchtigungen wird Ableism (fast) immer wirkmächtig: Rosemarie Garland Thomson, eine Vertreterin der USamerikanischen Disability Studies, beschreibt verschiedene Arten, auf ›besondere‹ Körper zu blicken bzw. sie darzustellen und sie dabei für bestimmte Zwecke zu instrumentalisieren: Behinderte Menschen würden entweder als zu bewundernde ›Held_innen‹ (»wondrous«) (Garland Thomson 2002: 58), als zu bemitleidende geschlechtslose ›Sorgenkinder‹ (»sentimental«, ebd.), oder als exotisches Spektakel (»exotic«, ebd.) inszeniert. Zwar gäbe es auch realistische und alltägliche (»realistic«, »ordinary«, ebd.: 72) Darstellungen, diese seien jedoch nur äußerst selten anzutreffen. Schönwiese ergänzt noch den verobjektivierenden, »medizinischen«, klinischen Blick, der auf die Abweichung des ›besonderen‹ Körpers konzentriert ist und seine Steigerung im »vernichtenden« Blick der Darstellung behinderter Menschen während des Nationalsozialismus fand (Schönwiese 2003: 175). Insgesamt werden behinderte Menschen nur äußerst selten als selbstverständlicher Bestandteil gesellschaftlicher Gruppen dargestellt, sondern in stereotypisierender Weise hervorgehoben und auf ›Behinderung als tragisches Schicksal‹ reduziert. Eine solche Art der Darstellung transportiert die gängigen ableistischen Vorstellungen, verfestigt sie und schreibt sie fort. Scheinbar betrifft Ableism nur die als ›anders‹ Markierten – tatsächlich jedoch betrifft er »alle, auch die, die der Norm genügen oder sie sogar überbieten. Dass jemand wegen seines für attraktiv befundenen Aussehens oft auch im Verdacht steht, äußerst nett, schlau und charmant zu sein, ist im Grunde genauso ›ableistisch‹, wie die Annahme, kleinwüchsige Leute seien besonders lustig und clownesk oder blinde Menschen von Natur aus musikalisch und mit einem Spitzengehör ausgestattet. Ableism kann alle Menschen auf ihre Körperlichkeit reduzieren. Die praktischen Folgen jedoch werden für die defizitär Bewerteten weitaus unangenehmer und ausgrenzender sein.« (Maskos 2010: o.S.)

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Beispiele hierfür finden sich auf www.leidmedien.de (Stand: 25.02.2015).

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ABLEISM

IN DEN INTERNATIONALEN

D ISABILITY S TUDIES

Insbesondere in den angloamerikanischen Disability Studies wird Ableism seit Langem zur Fokussierung gesellschaftlicher Ausgrenzungsprozesse verwendet7; dem Begriff selbst wird jedoch erst in jüngerer Zeit mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Hierbei ist insbesondere auf »Contours of Ableism« der australischen Autorin Fiona Kumari Campbell (2009) hinzuweisen, die sich darin erstmalig grundlegend und umfänglich mit Ableism auseinandersetzt. Schon im Untertitel wird deutlich, dass es sich dabei um weit mehr als um Behinderten›feindlichkeit‹ handelt, sondern um »the Production of Disability and Abledness«. Nach Campbell ist Ableism »[a] network of beliefs, processes and practices that produces a particular kind of self and body (the corporeal standard), that is projected as the perfect, species-typical and therefore essential and fully human. Disability then is cast as a deminished state of being human.« (Campbell 2009: 5)

Die Funktion von Ableism sei die Aufrechterhaltung der scheinbar natürlichen, naturalisierten Norm der Nichtbehinderung, die sich als »ethos of compulsory ablebodiedness«8 (ebd.: 6) durch alle gesellschaftlichen Bereiche zieht (s.o.). Darüber wird die Trennlinie hergestellt, entlang der Körper und Identitäten in einer binären Dynamik als behindert bzw. nichtbehindert markiert und positioniert werden. Zentral für das System des Ableism sei der Gedanke des Normativen9 bzw. des diesem entsprechenden Individuums und die Erzwingung einer grundlegenden Teilung (»constitutional divide«) zwischen »perfected naturalised humanity and the abberant, the unthinkable, quasi-human hybrid and therefore non-human. This constitution provides the layout, the blueprint for the scaling and marking of bodies and the ordering of their terms of relation. It is not possible to have a concept of difference without ableism.« (Ebd.: 6 – Hervorh. im Original)

7

So schreibt z.B. Garland Thomson (2001: 12) von »sexism, racism, ableism and other

8

Dieser Begriff wurde von Robert McRuer in Anlehnung an Adrienne Richs »compulsory

forms of social oppression«. heterosexuality« geprägt, um zu verdeutlichen, dass »abled-bodiedness« die gesellschaftliche Norm ist, von der abzuweichen negativ sanktioniert wird. 9

Normativität bezeichnet die vom zeitlich-historischen Kontext unabhängigen Normen in Abgrenzung zur Normalität, die auf statistisch ermittelten Durchschnittswerten beruht (vgl. Hirschberg 2009: 139 ff. mit Bezug auf Link 1999)

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Damit beschreibt Ableism weit mehr als die Markierung von Menschen als nicht/ behindert: Es geht vielmehr um das Markieren und Positionieren aller menschlichen Körper in Abhängigkeit vom Grad der Erfüllung bzw. Abweichung von der ableistischen Norm. Obwohl in der Literatur oft synonym verwendet, ist Ableism nach Campbell nicht das Gleiche wie Disablism10, den sie wie folgt definiert: »a set of assumptions (conscious or unconscious) and practices that promote the differential or uneqal treatment of people because of actual or presumed disabilities« (ebd.: 4). Oft werde die Ungleichbehandlung behinderter Menschen von einer solchen Position (der ›Behindertenfeindlichkeit‹) aus analysiert. Dies führe – wenn auch oft unbeabsichtigt – jedoch dazu, dass behinderte Menschen in der Position der ›Anderen‹ verblieben und führe zu Lücken und Auslassungen in der Beschreibung des gesellschaftlichen Konstruktionsprozesses von Behinderung und Normalität. »The challenge then is to reverse, to invert this traditional approach, to shift our gaze and concentrate on what the study of disability tells us about the production, operation and maintenance of ableism.« (Ebd.)

Dies ermögliche auch die bis dato kaum betrachtete Gruppe der Nichtbehinderten, und die alles durchdringenden, verpflichtenden ableistischen Normen mit in die Analyse einzubeziehen. Diese Allgegenwart und Durchdringung ableistischer Normen – Campbell spricht von »ableistnormativity«11 (ebd.) – verhindere, sich mit Unterschieden zwischen Menschen zu beschäftigen und Menschsein anders als entlang der Linie »able« – »unable« zu denken und zu bewerten. Auch Goodley – ein Vertreter der britischen Disability Studies – hat kürzlich (2014) ein Buch veröffentlicht, in dem er sich vertieft mit Ableism auseinandersetzt. Unter Bezug auf Campbell betont auch er den Zusammenhang von Dis_ability und anderen Marginalisierungslinien im Kontext von Ableism: »As soon as disability emerges as a site of marginality then so too do Other identities. Ethnicity, class, gender, sexuality and pan-national identities converge around the problems of disability as a consequence to maintain what Campbell [..] terms ableist normativity. Disabled people, women, children, queer people, people of colour and poor people share an Other space to that of the dominant founded upon ableist, heteronormative, adult, white European and North American, high income nations’ values. A shift to ableism connects with other processes of dominance and the reification of some societal groups over others; in part based upon the processes of ableist normativity.« (Goodley 2014: 22 f.)

10 Wird im Gegensatz zu Ableism in englischen Texten immer ohne ›e‹ geschrieben. 11 In Analogie zu Heteronormativität.

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Goodley arbeitet heraus, dass eine Person, die die Ansprüche der »ableist normativity« erfüllt, die perfekte Bürger_in neoliberaler Gesellschaften darstellt: »the neoliberal self is an able-bodied entrepreneural entity« (ebd.: 39). Neoliberalismus sei besessen von der »ideology of ability« (ebd.: 30), zu der Vorstellungen von absoluter individueller Autonomie und Selbstverantwortlichkeit gehören, Vorstellungen, die von dem die Gesellschaft durchdringenden Ableism gestützt und genährt werden. »Ableism is part of our un/conscious everyday lives. We have internalised ableist values into the very heart of our ontological souls« (ebd.: 32). Hierin liegt der entscheidende Unterschied zum Konzept der Behindertenfeindlichkeit nach Wocken: Ableism – wie Rassismus und Sexismus – betrifft alle, auch die scheinbar nicht Betroffenen, weil Unmarkierten: »Yet, everyone across the dis/ability divide is caught up in the processes and fantasies of ableism« (ebd.: 26). Ableism betrifft somit nicht nur ›die Behinderten‹, sondern auch die (noch) nicht als ›anders‹ Markierten, und zwar in viel stärkerem Maße als Rassismus oder Sexismus: Bei letzteren ist nicht oder nur in Ausnahmen zu erwarten, dass die nicht als ›anders‹ markierte Person zu einer markierten wird – »Able-bodiedness« hingegen ist kein verlässlicher Zustand, sondern vielmehr ein äußerst prekärer, der sich von einem Augenblick auf den anderen verändern kann, weshalb in Schriften aus den Disability Studies oft von »temporariliy able bodied« (TAB, Garland Thomson 2001: 3) die Rede ist. Entsprechend ist ein zentrales Merkmal von Ableism die »Denormalisierungsangst« (Waldschmidt 2006: 195) der (noch) nicht Betroffenen, die zu Abgrenzung und Selbstversicherung des Nicht-so-Seins führt.

ABLEIST P RIVILEGE Ableism und Rassismus verbindet die Nicht-Thematisierung der mit dem nicht Markiertsein verbundenen Privilegien. Privilegien sind dann vorhanden, »when one group has something of value that is denied to others simply because of the groups they belong to, rather than of anything they’ve done or failed to do« (Johnson 2001: 23). Es gibt zwar – anders als bei Rassismus oder Sexismus – in der Begegnung mit behinderten Menschen oft ein Sich-selbst-in-Beziehung-Setzen zu der behinderten Person. Diese führt dann jedoch nicht zur kritischen Hinterfragung der eigenen gesellschaftlichen Privilegien, sondern lediglich zu einem inneren Stoßseufzer »Wie gut, dass ich nicht so aussehe!« (Rohr 1987: o.S.) bzw. der Selbstberuhigung darüber, dass man selbst ›so‹ nicht leben muss. Peggy McIntosh (1990) hat im Kontext des White Privilege eine viel zitierte Liste mit 50 alltäglichen Auswirkungen von White Privilege erstellt. Nicht alle dort aufgeführten Punkte treffen auf Ableist Privilege zu, aber doch eine ganze Reihe: So stoßen auch behinderte Menschen und ihre Familien bei Vermieter_innen und Nachbar_innen wegen ihres Andersseins auf

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Ablehnung, wird ›schlechtes Benehmen‹ (wie mit vollem Mund sprechen) zur Folge der Behinderung erklärt. Sie werden oft aufgefordert, für die gesamte Gruppe ›der Behinderten‹ zu sprechen; (akademische) Erfolge werden in besonderer Weise gelobt und in vielen gesellschaftlichen Bereichen fühlen sie sich nicht ›normal‹ und willkommen. Insbesondere im Hinblick auf kulturelle Repräsentation lässt sich eine Parallele ziehen: Wenn Menschen mit Beeinträchtigungen sich Filme, Zeitschriften, Schul- oder andere Bücher ansehen, finden sie dort nur äußerst selten eine ›unaufgeregte‹ Darstellung beeinträchtigter Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt einer Bevölkerung. Sie kommen entweder gar nicht vor oder werden in klischeehafter Weise dargestellt und bleiben in ihrer Individualität unsichtbar.

AUSBLICK Die UN Behindertenrechtskonvention (BRK) weist darauf hin, dass die Barrieren, die die Behinderung beeinträchtigter Personen erst hervorbringen, nicht nur physischer Art sind, sondern auch »Klischees, Vorurteile und schädliche Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderungen« eine zentrale Rolle spielen (UN BRK, Art. 8). Um dem entgegen zu wirken, wurde ein eigener Artikel »Bewusstseinsbildung« aufgenommen. Diese soll dazu beitragen, dass gesamtgesellschaftlich »das Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen« geschärft und »die Achtung ihrer Rechte und ihrer Würde« sowie »eine positive Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen und ein größeres gesellschaftliches Bewusstsein ihnen gegenüber« (ebd.) gefördert wird. Dies soll durch »die Einleitung und dauerhafte Durchführung wirksamer Kampagnen zur Bewusstseinsbildung in der Öffentlichkeit« (ebd.) erreicht werden. Im Licht von Ableism betrachtet, sind das zwar gute Absichten, die jedoch eher einem Zugang des ›Bekämpfen[s] von Behindertenfeindlichkeit‹ als einem grundsätzlichen Hinterfragen von Ableism entsprechen: Behinderte Menschen bleiben auch hier, wie von Campbell beschrieben, in der Rolle der ›Anderen‹; die Konstruktion von Normalität und Ableness wird nicht fokussiert, die die Gesellschaft durchziehenden Normalitätskonstruktionen nicht hinterfragt. Um ein Bewusstsein für Ableism, dessen Omnipräsenz und Auswirkung auf alle Menschen bei möglichst vielen zu schaffen, bedarf es einer kritischen Auseinandersetzung damit: »We need to attack the dull heartlands of ableist society. […] We therefore urgently require sophisticated critical theories of ableism and forms of activism that draw in allies and alliances with others subjected to the forces of neoliberal ableism.« (Goodley 2014: 34)

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Ob es dazu, wie von Goodley angeregt, unbedingt gesonderter »critical ableist studies« (ebd.: 156) bedarf, wird zu diskutieren sein. Konzepte von »Behindertenfeindlichkeit«, die nur die direkte Diskriminierung von behinderten Menschen fokussieren, können zwar auf Ungerechtigkeiten, Ausgrenzungen und Menschenrechtsverletzungen hinweisen. Behinderte Menschen bleiben dabei jedoch in der Position der ›Anderen‹ und die gegenseitige Bedingtheit von Behinderung und Normalität wird ebenso ausgeblendet wie die Tatsache, dass es sich um gesellschaftliche Machtverhältnisse handelt, in die alle involviert sind. In dieser Hinsicht war Birgit Rommelspacher mit ihrem Konzept der Behindertenfeindlichkeit tatsächlich ihrer Zeit voraus: Etliche Jahre, bevor in Deutschland der Diskurs der Disability Studies ›Fahrt aufnahm‹, wies sie bereits auf die Konstruktion von Behinderung im Verhältnis zur Konstruktion von Normalität hin. Ebenso thematisierte sie die zentrale Rolle des Kriteriums der Leistungsfähigkeit (ableness) bei der Konstruktion von Behinderung und zeigte, welche komplexen Auswirkungen sich im Verhältnis zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen ergeben. Der Diskurs zu Ableism in den internationalen Disability Studies verdeutlicht darüber hinaus nun zunehmend, wie sehr alle Menschen in ableistische Sicht- und Verhaltensweisen ›verwoben‹ sind, und dass auch die anderen Marginalisierungslinien auf diesem Hintergrund neu gedacht werden können.

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Ableism | 33

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Der Schwulenkiez Homonationalismus und Dominanzgesellschaft* Zülfukar Çetin

»Eine Begegnung von Muslimen und Homosexuellen in einer Moschee wird abgesagt«, beginnt ein Bericht der »taz«, um den angeblich gescheiterten Versuch eines Dialogs zwischen LSBTI1-Repräsentant_innen und Vertreter_innen der Berliner Şehitlik-Moschee zu problematisieren und zu debattieren (taz vom 16.11.2014). Anlässlich derartiger Debatten blickt mein Beitrag auf homonationalistische Tendenzen und damit einhergehende Transformationsprozesse in der Stadtteilpolitik deutscher Städte am Beispiel von Berlin zurück. Dabei greife ich auf das Konzept des Homonationalismus zurück. Es bietet Anschlussmöglichkeiten an Birgit Rommelspachers Konzept der Dominanzkultur (vgl. Rommelspacher 1995). Rommelspacher geht von Zusammen- und Wechselwirkungen der rassistischen, heterosexistischen und klassenspezifischen Dominanzverhältnisse aus. Um das Wirken der Dominanzkultur veranschaulichen zu können, hinterfragt Rommelspacher den westlichen universalistischen Gleichheitsanspruch und dekonstruiert ihn am Beispiel des weiß-feministischen Emanzipationsdiskurses. Dieser geht von der Unterdrückung der nicht-weißen Frauen in einer (konstruierten) muslimischen Welt aus, während er die weiß-europäischen Frauen als Gegensatz zu ihnen imaginiert. In diesem Diskurs wird dem Westen ein ›überlegener, zivilisierter‹ Status zugeschrieben, während der ›Rest der Welt‹ als ›unzivilisiert‹ und ›rückständig‹ deklariert wird (vgl. Attia 2009; Hall 1992; Erdem 2009; Prasad 2014; Shooman 2014). Parallel zum weiß-feministischen Emanzipationsdiskurs, der einen universalistischen Repräsentationsanspruch, nämlich alle Frauen zu vertreten, geltend macht, entwickelt sich im Westen spätestens seit den 2000er Jahren ein antimuslimischer *

Ich bedanke mich herzlich bei Salih Alexander Wolter für die Diskussionen, den Aus-

1

LSBTI steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans* und Intergeschlechtliche Personen.

tausch, neue Ideen, die einen wesentlichen Beitrag zu diesem Artikel geleistet haben.

36 | Zülfukar Çetin

Homophobie-Diskurs (vgl. Çetin 2012). An dieser Stelle scheint es mir angebracht, den Homonationalismus als eine Ausdrucksform von Dominanzkultur zu verstehen. Unter diesem Gesichtspunkt befasse ich mich hier mit dem Thema des deutschen »Homonationalismus« und seinem diskursiven Durchsetzungsvermögen in der BRD.

H OMONATIONALISMUS

ALS › NEUE ‹

S EXUALPOLITIK

Das Konzept des Homonationalismus wurde 2007 von Jasbir Puar etabliert, die sich dabei auf Lisa Duggans Begriff der Homonormativität (vgl. Duggan 2002) bezieht. Puar spricht von einer »neuen homonormativen« Sexualpolitik in den USA. Diese ›neue‹ Sexualpolitik begründet sie mit homonormativem Nationalismus bzw. Homonationalismus, der die heteronormativen, nationalistischen, rassistischen und Klassenverhältnisse bedient und diese reproduziert (vgl. Puar 2007). Nach Puar basiert Homonationalismus auf der zunehmenden Akzeptanz von Schwulen und Lesben in westlichen Staaten als Ausdruck einer ›Zivilisationsüberlegenheit‹ speziell gegenüber muslimischen Gesellschaften (vgl. Dietze et al. 2012: 11). Puar bezeichnet ihr Konzept des Homonationalismus als Kritik an einer neuen Sexualpolitik, die in den USA einen Dominanzanspruch erhebt und die Einschlüsse wie Ausschlüsse in den ›modernen‹ Gesellschaften produziert: »Homonationalism is fundamentally a critique of how lesbian and gay liberal rights discourses produce narratives of progress and modernity that continue to accord some populations access to cultural and legal forms of citizenship at the expense of the partial and full expulsion from those rights of other populations.« (Puar 2013: 25)

Als Paradebeispiel des Homonationalismus nennt Puar die Unterstützung des USamerikanischen Krieges gegen den Terror seitens der weißen schwul-lesbischen Organisationen, die einerseits ihre Rechte als Homosexuelle durch vermeintlich homophobe muslimische Gesellschaften bedroht betrachten und sich andererseits für die Emanzipation der irakischen Homosexuellen aussprechen (vgl. Puar 2013). Das Konzept und die Funktionsweise des US-amerikanischen Homonationalismus werden von Jin Haritaworn et. al. auf Deutschland übertragen. Er problematisiert den Charakter der in der BRD vorherrschenden Diskussionen über Homophobie als kulturalisierend, rassifizierend und klassifizierend (vgl. Haritaworn 2009). In einem Beitrag kritisiert Haritaworn gemeinsam mit anderen Feminist_innen die ›neue‹ europäische Sexualpolitik:

Der Schwulenkiez | 37 »Ethnisierende Geschlechts- und Sexualitätsdiskurse haben mittlerweile eine zentrale Stelle in der ›Sicherheits- und Werte-Debatte‹ des neuen Europas. Die Konstrukte ›muslimischer Sexismus‹ und ›muslimische Homophobie‹ legitimieren repressive Anti-Terrorismus-Maßnahmen, die radikale Umkehrung von schwer errungenen Staatsbürgerschafts-, Einwanderungs- und Aufenthaltsrechten und den Niederriss sozialer Rechte und ziviler Freiheiten. Neben Terrorismus sind Geschlecht und Sexualität die neuen Grundlagen, auf denen die islamophoben Kämpfe im In- und Ausland verfochten werden.« (Haritaworn et al. 2007: 8)

D EUTSCHER H OMONATIONALISMUS UND T RANSFORMATIONEN IN DER S TADTTEILPOLITIK Obwohl die Diskussionen über Homonationalismus in Deutschland erst seit Mitte der 2000er Jahre geführt werden, gehe ich von einer früheren Entstehungsgeschichte dieses Phänomens aus. Mit der Aids-Krise der 1980er Jahre befand sich die schwule ›Community‹ auch in der BRD im Fokus ›präventiver‹ Gesundheitspolitiken des Staates und parastaatlicher Organisationen (vgl. Bänziger 2014). Sie waren sowohl repressiv ausgerichtet als auch präventiv gegen die Verbreitung von Aids konzipiert. Durch die Krise wurde von konservativen Kreisen unter anderem die Promiskuität von Schwulen in den Vordergrund gerückt und die ›Community‹ aufgefordert, ein durch Kondome geschütztes monogames Leben zu führen. Sie führten damit Moralisierungs- und Marginalisierungsprozesse in Deutschland fort. In ihrer Folge entstanden Aidshilfe-Gruppen und Anti-Aids-Kampagnen. In Verbindung mit staatlich geförderten Präventionsstrategien kam es in den 1990er Jahren zur Normalisierung von Aids (vgl. ebd.). Im Zuge der Anti-Aids-Politik diskutierte man verstärkt Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre über die Möglichkeit der ›Homo-Ehe‹ in Deutschland. Trotz der kontroversen Positionen konnten Die Grünen, die ihre ›Schwulen- und Lesbenpolitik‹ als Bürgerrechtspolitik begriffen, erstmalig 1987 die ›Homo-Ehe‹ im Bundestag thematisieren (vgl. Raab 2009). Die Bemühungen der Grünen um die Homo-Ehe dauerten bis Ende der 1990er Jahre. Diese politischen Kämpfe verstärkten die Etablierung und Institutionalisierung einer schwulen Identitätspolitik, in deren Konsequenz das Lebenspartnerschaftsgesetz für gleichgeschlechtliche Paare im Jahr 2001 verabschiedet wurde (vgl. Voß 2013). Das Lebenspartnerschaftsgesetz wurde vor allem von Vertreterinnen des Lesbenring e.V. aufgrund seines patriarchalen und heteronormativen Charakters deutlich kritisiert (ebd.).

38 | Zülfukar Çetin

I NSTITUTIONALISIERUNG SCHWULER I DENTITÄTSPOLITIK UND H OMONATIONALISMUS Parallel zum weiß-feministischen Emanzipationsdiskurs rund um das Thema der ›unterdrückten muslimischen Migrantin‹ wird der Diskurs der ›von ihren eigenen Communities diskriminierten muslimischen Schwulen‹ nach wie vor gepflegt. In beiden Fällen geht es um die Konstruktion der Unsichtbarkeit der ›muslimischen‹ Migrantin und des ›muslimischen‹ Schwulen bzw. Lesben. Im Rahmen des Integrationsdiskurses in Deutschland seit 9/11 und dem Attentat eines (nicht-›muslimischen‹!) Tierschützers auf den schwulen niederländischen Rechtspopulisten Pim Fortuyn im Jahr 2002,2 der Homophobie und Muslim_innen für den Wahlkampf nutzte, erfahren zumindest in den westlichen Gesellschaften ›Muslim_innen‹ oder als ›muslimisch‹ Markierte rassifizierende Zuschreibungen, die unter anderem mit Sexual- und Sicherheitspolitiken in Verbindung gesetzt werden. Diese und ähnliche Ereignisse wurden und werden in den Medien und in der Politik immerzu als Angriffe auf das ›demokratische Zusammenleben‹ in westlichen Gesellschaften deklariert. Dies geschieht durch die ununterbrochene Konstruktion von Gegensätzen zwischen einem ›Wir‹ und einem ›Sie‹, wobei die Differenzlinien entlang der Themen Demokratie und Integration gezogen werden. Auf der Basis der Konstruktion eines ›demokratischen, toleranten, zivilisierten Wir‹ wird wiederholt die Notwendigkeit des Schutzes der ›unterdrückten, nicht emanzipierten und verschleierten muslimischen‹ Frau einerseits und des ›muslimischen‹ Schwulen andererseits propagiert. Die forcierte Sichtbarmachung der verschleierten Frau und des versteckten Schwulen hat sich in einer Allianz von Staat, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Medien der Dominanzgesellschaft vollzogen, die durch Studien, Berichterstattung, Kampagnen und Soziale Arbeit einen Kampf der Kulturen im Namen der ›freiheitlichdemokratischen‹ Grundordnung der BRD offenbart. So wurde z.B. 2005/2006 der sogenannte ›Muslim-Test‹ in Baden-Württemberg eingeführt. In diesem Test mussten sich Menschen, die Pässe ›muslimischer Staaten‹ hatten und sich einbürgern lassen wollten, einer Gesinnungsprüfung unterziehen und Fragen zu Terrorismus, Antisemitismus, religiösen Auffassungen, und zur Akzeptanz von Homosexuellen beantworten Mit dieser Politik wurde der ›muslimische‹ junge Mann im Kontext von ›Zivilisation‹ zur Verkörperung eines islamistischen Terroristen, eines Frauenunterdrückers und gewaltbereiten Homophoben ge2

Im Laufe der Ermittlungen zum Mord wurde monatelang über die ›ethnische‹ und religiöse Herkunft des Täters spekuliert. Obwohl der Täter sechs Monate nach dem Attentat als unpolitischer und nicht-muslimischer Tierschützer identifiziert wurde, wird die Ermordung Pim Fortuyns bis heute im Kontext mit dem Mord am Filmemacher Theo van Gogh thematisiert, und beide Fälle werden mit der unterstellten ›Barbarei‹, ›Menschenfeindlichkeit‹ und Homophobie von Muslim_innen verbunden.

Der Schwulenkiez | 39

macht und gleichzeitig für den Westen und dessen demokratische Gesellschaftsstrukturen als Bedrohung klassifiziert. In den medialen, politischen und wissenschaftlichen Diskussionen werden bis heute diverse ›Andere‹ diskursiv hervorgebracht, die zum Gegenstand von Studien, Bildungsprojekten oder Berichterstattung wurden. Seit 2001 wird das Image des ›homophoben, frauenfeindlichen, antisemitischen, gewaltbereiten, integrationsunwilligen‹ Migranten durch eine Reihe von Studien ›wissenschaftlich‹ erforscht und medial gepflegt. In Deutschland wurden bisher mehrere Studien vom Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD), vom Berliner Überfalltelefon Maneo und vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen auf ähnliche Weise durchgeführt. In diesen und vergleichbaren Studien, die überwiegend von vermeintlichen homofeindlichen Einstellungen, Handlungen, Weltanschauungen der ›Migrant_innen‹ handeln, lassen sich kulturalisierende und biologistische Rassismen erkennen, die unter anderem eine neue Sexualpolitik im Namen der neuen deutschen Nation propagieren. Während dabei in Deutschland lebende Menschen in homofreundliche und homofeindliche polarisiert werden, unterbleiben oftmals Diskussionen über Homophobie im ›eigenen‹ Kontext. Im Zusammenhang mit der antimuslimischen Homophobie-Debatte definierte eine Berliner Queer-of-Color-Gruppe in Anlehnung an Puar den Begriff des Homonationalismus, »[...] um den Versuch dieser [...] Assimilierung, und die damit einhergehende Erfindung einer ›schwulenfreundlichen‹ Nation, zu beschreiben. Dies geht auf Kosten derer, deren Zugehörigkeit im Kontext des Krieges, der Grenzverschärfung und der wachsenden Kriminalisierung immer prekärer wird: alte und neue Migrant/innen sowie ihre Kinder und Enkelkinder – vor allem die, die als muslimisch identifiziert werden – Roma und Sinti, sowie andere People of Color. Es sind auch die, deren reale oder fantasierte sexuelle und Geschlechtsidentitäten [...] immer weniger in den nationalen Maßstab zu passen scheinen [...].« (Suspect 2010[a])

S CHWULENKIEZ UND DIE EINER NEUEN ›N ATION ‹

E RFINDUNG

Dass Klaus Wowereit 2001 mit dem Spruch »Ich bin schwul – und das ist auch gut so!« als Regierender Bürgermeister von Berlin gewählt wurde, ermutigte in Berlin schwule Identitäts-, Kiez- und Sichtbarmachungspolitiken, so dass sich ein »Queer Nation Building in Berlin-Schöneberg« (vgl. Wolter 2014) etablierte. In einem Essay beschreibt der Publizist Salih Alexander Wolter die historischen Gentrifizierungsprozesse im Bezirk Schöneberg und zeigt mit literarischen Mitteln auf, wie aus einem ›anatolischen‹ Stadtteil ein ›westlicher‹ Schwulenkiez wurde:

40 | Zülfukar Çetin »Jüngeren Datums ist hingegen in Schöneberg die Frage: ›Europäische oder anatolische Seite?‹ Sie impliziert die Lösung eines Problems, das nach 1989/90 gerade in dieser Hälfte Berlins dringend wurde, wo die sich abzeichnende Realität des ›wirtschaftsgeographischen Begriffs Deutschland‹ […] den Verlust des in der jahrzehntelangen Systemauseinandersetzung inszenierten ›Wir‹ umso spürbarer machte: Wie lässt sich die weitere Zugehörigkeit zu einer ›Wertegemeinschaft‹ begründen, ›die trotz des Endes des West-Ost-Konflikts mit ›der Westen‹ umschrieben wird‹? Die Antwort – ›Es mussten neue Blöcke her, die in überzeugender Weise gegeneinander stehen‹ – verbindet sich […] mit dem gesellschaftlichen Aufstieg eines bestimmten Teils der bundesdeutschen Schwulenszene. Für diesen ist ›Schöneberg‹ ebenso sehr Chiffre wie begehrter Lebensort – wobei alles, was damit heute assoziiert wird, im ›Westen‹ liegt. […] Hier zog vor dem Rathaus […] eine grüne Bezirksbürgermeisterin 1995 erstmals zum Christopher Street Day die Regenbogenfahne auf, und seit dem 1. August 2001 können drinnen Eingetragene Lebenspartnerschaften stilvoll im Goldenen Saal geschlossen werden. Weiter nördlich bietet, außer ›schwulen‹ Blumenläden, der Kiez um Nollendorfplatz und Motzstraße ein gut sortiertes Nachtleben, samt Bars, in denen Jungs aus Rumänien anschaffen, und Clubs, die sich auf die unterschiedlichsten Fetische spezialisiert haben. […] Auch der ›Lesben- und Schwulenverband in Deutschland‹ (LSVD) residiert hier seit einigen Jahren – in einer repräsentativen Altbau-Zimmerflucht, für die der Bezirk die Miete zahlt. Von da wäre es ein bequemer Spaziergang, gen Osten die Bülowstraße entlang, zum ›Bosporus‹. Doch einflussreiche schwule Publizisten wurden nach dem 11. September 2001 nicht müde, die Gefahren dieser Nähe zu beschwören.« (Ebd.: 17)

In dem heute als ›Regenbogenkiez‹ geltenden Bereich rund um den Nollendorfplatz und die Motzstraße wird seit 1989 am Bahnhof Nollendorfplatz an die in der NSZeit verfolgten und ermordeten Homosexuellen mit einer Gedenktafel erinnert. So wird die zunehmende, später dominante, Existenz einer schwulen Population durch die stadtbaupolitische Erinnerungskultur und durch die romantisierende und dramatisierende Geschichtsschreibung einer schwulen Bewegung in zahlreichen deutschsprachigen Sammelbänden historisiert.3 Seit Jahrzehnten nimmt die Sichtbarkeit einer ›schwulen‹ Population zu, es etablieren sich ein schwuler Vergnügungssektor und eine ›bunte‹ Stadtteilpolitik. Sie setzt sich für die Durchführung eines kommerziellen ›Gay-Pride‹4 ein. Gleichzeitig werden die Existenz und die Geschichte von Arbeitsmigrant_innen und anderen, als Migrant_innen markierten Kiezbewohner_innen von Schöneberg unsichtbar gemacht. 3

Zur Kritik an einer solchen ›Gedenkkultur‹ vgl. Yılmaz-Günay / Wolter 2013.

4

Gay-Pride – Christopher-Street-Day– wurde bislang durch die weiß-dominierten schwullesbischen Organisationen veranstaltet. In dieser Veranstaltung, wurde/wird ›oft‹ auf die Partizipation von Queers of Color verzichtet. Zudem wurden in bisherigen CSDs rassistische Ausschlüsse reproduziert, weshalb 2010 Judith Butler den Zivilcourage-Preis der offiziellen CSD Organisation ablehnte (vgl. Suspect 2010[b]).

Der Schwulenkiez | 41

Die Frage nach den Sichtbarkeiten und Un-Sichtbarkeiten gewollter und ungewollter ›Bevölkerungsgruppen‹ kann dabei helfen, die rassistische Ausschlussfähigkeit des Homonationalismus besser zu verstehen. Seit die schwule Emanzipationsbewegung ihre Ziele zum ›großen‹ Teil erreicht hat – und seit sich Deutschland mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz 2001 und dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz 2006 bewusster als aufgeklärt, tolerant und fortschrittlich versteht –, werden die ›muslimischen‹ Migrant_innen durch die bereits erwähnten Studien sowie durch Projekte und Berichterstattung als unpassende ›Andere‹ hypersichtbar gemacht. Über ›sie‹ wird als Bedrohung und Gefahr für friedliches schwules Leben in ›unserer‹ Gesellschaft diskutiert und entsprechend gehandelt. Ähnlich wie in Schöneberg, wo der LSVD und das ›Schwule Überfalltelefon Maneo‹ ihre zivilgesellschaftlichen Kampagnen und Projekte – meistens zuungunsten der als homophob lancierten ›muslimischen‹ Migrant_innen – durchführen, ereigneten sich auch in Kreuzberg homonationalistische Entwicklungen. Haritaworn (2009) bezeichnet sie als »sexuelle Spektakel von Kiez und Nation«. Als eine Gruppe von Drag-Kings im Juni 2008 während eines Festivals von einer (vermeintlich türkischen) Gruppe angegriffen wurde, wurden die (antimuslimischen) Thesen von LSVD und Überfalltelefon Maneo auch in Kreuzberger QueerGruppen aktualisiert und verbreitet. Nach diesem Vorfall ›fühlten‹ sich weiße Queer-Gruppen durch die türkischen Jugendlichen in Kreuzberg bedroht. Einen Tag nach der Gewalt an den Drags konnten sie Tausende von Menschen gegen ›migrantische‹ Homophobie mobilisieren und in dem ›migrantischen‹ Kiez unter dem Motto »Smash Homophobia!« die Regenbogenfahnen hochhalten. Haritaworn problematisiert sowohl die lesbisch-schwulen Reaktionen als auch die linke Berichterstattung über diesen Vorfall mit dem Argument, dass wieder der Diskurs über die Homophobie der ›Anderen‹ gepflegt wurde – und dieses Mal nicht nur mit Hilfe von Studien des LSVD oder von Maneo, sondern auch durch ›linke-queere‹ Moralpanik und Alarmierung vor gewaltvoller ›migrantischer‹ Homophobie (ebd.: 45). Hinsichtlich der Stadtteilpolitik, in der nicht nur die Stadtverwaltung, sondern auch Vereine, Organisationen, Gewerbe und Wohngesellschaften und politische Parteien involviert sind, setzte die vermeintliche ›Anti-Homophobie-Demonstration‹ in Kreuzberg ein deutliches Signal gegen die ›migrantischen‹ Anwohner_innen, die seit Generationen in Kreuzberg mit unterschiedlichen marginalisierten Bevölkerungsgruppen leben und gleichzeitig mit rassistischen Zuschreibungen diffamiert werden. Auch diese Demonstration lässt sich als Ausdruck einer homonationalistischen Dominanzgesellschaft verstehen. In seiner Analyse zeigt Haritaworn auf, wie sich der Repräsentationsanspruch weiß-linker ›queerer‹ Gruppen für alle anderen «Queers» darstellt (ebd.: 60). In diesem Kontext kann man auch von einer Ethnisierung der Homophobie in weiß-linken Queer-Gruppen in städtischen Räumen wie Kreuzberg sprechen. In Anbetracht dieser Demonstration und früherer Kampagnen von lesbisch-schwulen Organisationen kann der ›Kampf gegen Homophobie‹ als

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Kampf gegen ›migrantische‹ Bevölkerungsgruppen übersetzt werden, die im Namen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung immerzu damit konfrontiert werden, sich entweder öffentlich als schwulenfreundlich zu bekennen oder die Konsequenzen ihrer ›orientalischen‹ Homophobie zu tragen.

I ST N EUKÖLLN

HOMOPHOBER ALS

S CHÖNEBERG ?

Was an den Kreuzberger und Schöneberger Beispielen für Gentrifizierung und der Verwandlung dieser Stadtteile vom ›orientalischen Anatolien zum okzidentalen Schwulenkiez‹ beispielhaft aufgeführt wurde, lässt sich in den 2010er Jahren auch im Berliner Kiez Neukölln beobachten. Der ehemalige ›soziale Brennpunkt‹ Berlins wurde spätestens mit der Schließung des Tempelhofer Flughafens und der Eröffnung des Flugfeldes unter dem Namen »Tempelhofer Freiheit« 2010 ein attraktiver Ort für Student_innen, Künstler_innen, Wissenproduzierende und linke Gruppen. Die spürbaren und sichtbaren demographischen und architektonischen Veränderungen ließen sich am Auftreten neuer Personengruppen, am Auftauchen von Kunstund Schutzräumen von und für ›Queers‹ sowie neuen Kneipen, Galerien und neuen Discos für – vor allem – Schwule beobachten. Als das alte SchwulenZentrum5 (SchwuZ) seinen Umzug von Kreuzberg nach Neukölln bekanntgab, wurde dies in den Berliner Printmedien und Online-Nachrichtenportalen mit großer Besorgnis thematisiert. Ein Bericht in der Berliner Morgenpost über den Umzug befand, »die Sache hat sozusagen nur einen Haken« (Berliner Morgenpost vom 23.10.2013): »Die ehemalige Kindl-Brauerei liegt in einem Viertel, über das Zeitungen noch vor zwei Jahren die Überschrift schrieben: ›Wohnen, wo niemand wohnen will‹ – auch wenn das ein Text über ein gelungenes Integrationsmodell war. Denn dieser Kiez rund um die Hermann-, Karl-Marx-, Flughafen- und Rollbergstraße ist eben nicht nur für Integrationsprojekte bekannt, sondern für eine hohe Rate an Analphabeten, an Eltern, die lieber ihre Sozialhilfe in Alkohol als in die Ausbildung der Kinder investieren, und soziale Spannungen zwischen verschiedenen Migrantengruppen.« (Ebd.)

Obwohl die Vertreter des SchwuZ sich von den Vorannahmen der Presse und der Politik – kurz gesagt: von der vorherrschenden Meinung, es gäbe viel Homophobie in Neukölln – distanzierten, wurde in den Medien vor den Gefahren für Homosexuelle im Kiez gewarnt. Auch im Zusammenhang mit diesem Umzug wurde eine ›urbane Panik‹ (vgl. Tsianos 2013 und 2014) durch die Konstruktion von ›gewaltvoller 5

Das SchwuZ wurde 1977 durch die Initiative der »Homosexuellen Aktion West-Berlin« als ein Treffpunkt für aktivistische Schwule in Schöneberg gegründet. Vgl. http://www. schwuz.de/de/schwuz/Geschichte.html (Stand: 20.01.2015).

Der Schwulenkiez | 43

Homophobie‹ seitens ›migrantischer‹ Jugendlicher aufrechterhalten. Um diese urbane Panik rechtfertigen zu können, interviewte der Reporter Sören Kittel für die »Berliner Morgenpost« Gilles Duhem, einen Mitarbeiter eines Jugendbildungsprojekts vom Rollbergkiez, und berichtete anhand dessen über mögliche ›schwulenfeindliche‹ Auseinandersetzungen im Kiez: »Dass aber auch Gewalt hier im Kiez vorkommt, könne er sich schon vorstellen. Sollte das geschehen, so hofft Gilles Duhem, dass dann sofort die Gegenreaktion greife: ›Polizei, Anzeige, Verurteilen, Knast – dann sehen die, dass ihr Verhalten in Berlin nicht funktioniert.‹ Duhem macht sich aber um die ›SchwuZ‹-Gäste wenig Sorgen: ›Die können auch im Zweifelsfall gut zurückschlagen, sind ja nicht wenige‹.« (Berliner Morgenpost vom 23.10.2013)

Im Zeitraum vor und nach dem Umzug des SchwuZ wurden in den erwähnten neuen Räumen für und von ›Queers‹ auch diverse Veranstaltungen zur Situation von Homosexuellen in Neukölln durchgeführt. Im Sommer 2012 organisierte der Neuköllner Bezirksverband der Partei »Die Linke« eine Diskussionsveranstaltung mit Neuköllner_innen zur Frage: »Ist Neukölln homophober als Schöneberg?« Das Ziel dieser Veranstaltung war es, offen über Homophobie im migrantischen Neukölln zu reden und ›Lösungsmöglichkeiten‹ zu finden, um ›miteinander‹ zu leben (vgl. Die Linke 2012). Eine weitere ähnliche Diskussionsveranstaltung wurde in einer QueerKneipe in der Nähe vom Rathaus Neukölln zur Frage: »Wie queer ist Neukölln?« organisiert. Im Ankündigungstext heißt es: »Gemeinsam mit euch möchten wir darüber diskutieren, wie wir eine positive Kiezentwicklung und ein respektvolles Zusammenleben aktiv gestalten können« (vgl. Bündnis 90 2013). Sowohl das Interview mit dem oben erwähnten Gilles Duhem als auch die Berichterstattung zum Umzug des SchwuZ sowie diese und ähnliche Veranstaltungen über ›queere‹ Verhältnisse und Kiezentwicklungspolitik in Neukölln belegen einerseits die Polarisierung der Gesellschaft in ›Wir‹ (die ›homofreundliche‹ Nation) vs. ›Sie‹ (die ›homophoben‹ Migrant_innen). Andererseits werden Ungleichheitsverhältnisse (zu viele Kinder, zu viel Alkohol, zu viele Arbeitslose usw.) so verkehrt, als würden sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen die Zugänge zu besseren Lebensmöglichkeiten selbst blockieren, weswegen sie unter anderem ›homophob‹ werden würden. Um zurück zu dem einleitenden Zitat zu kommen, möchte ich hier noch einmal auf die Polarisierung der Gesellschaft in ›Muslim_innen vs. Homosexuelle‹ hinweisen. Solange über zwei Gruppen als Gegensätze gesprochen wird, ist es für eine Gesellschaft nicht möglich, sich für fortschrittlich zu halten. Das Zitat macht deutlich, dass nach der weiß-hegemonialen Meinung unter Muslim_innen entweder keine Homosexuellen existieren oder diese von Muslim_innen prinzipiell nicht akzeptiert werden Diese Art des Redens und Handelns der weiß-hegemonialen schwulen Organisationen, der Politik, der Medien und (großer) Teile der Gesellschaft

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muss in diesem und anderen wissenschaftlichen wie bildungspolitischen Beiträgen problematisiert werden, um die Ausschlüsse und Ungleichheitsverhältnisse in einer pluralen Gesellschaft sichtbar, hörbar und kritisierbar machen zu können. Interventionen in politische, wissenschaftliche und zivilgesellschaftliche Debatten zielen darauf, Diskriminierung zu reduzieren.

L ITERATUR Das traditionsreiche »SchwuZ« zieht nach Neukölln um. In: Berliner Morgenpost vom 23.10.2013 (Beitrag von Sören Kittel). URL: http://www.morgenpost.de/ bezirke/neukoelln/article121129095/Das-traditionsreiche-SchwuZ-zieht-nachNeukoelln-um.html (Stand: 07.01.2015). Moschee: nur was für Heteros. In: taz vom 16.11.2014 (Beitrag von Alke Wierth). URL: http://www.taz.de/!149614/ (Stand: 06.01.2015). Attia, Iman (2009): Die ›westliche Kultur‹ und ihr Anderes. Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus. Bielefeld. Bänziger, Peter-Paul (2014): Vom Seuchen- zum Präventionskörper? Aids und Körperpolitik im deutschsprachigen Raum der 1980er Jahre. In: body politics 3, Heft 1. Bündnis 90 / Die Grünen (2013): Gesellschaft, Gleichstellung, Kiezgespräche. Einladung zur Diskussion »Queer in Neukölln«. URL: http://www.grueneneukoelln.de/neukoelln/aktuellemeldungen/einzelansicht/article/einladung-zurdiskussion-queer-in-neukolln.html?tx_ttnews[backPid]=273&cHash=2536271 ae426502985c4731fbb188792 (Stand: 07.01.2015). Çetin, Zülfukar (2012): Homophobie und Islamophobie. Intersektionale Diskriminierungen am Beispiel binationaler schwuler Paare in Berlin. Bielefeld. Çetin, Zülfukar / Taş, Savaş (2014): Kontinuitäten einer Kooperation: Antimuslimischer Rassismus in Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Staat. In: Hafez, Farid (Hg.): Jahrbuch für Islamophobieforschung Wien, S.19-41. Die Linke / Bezirksverband Neukölln (2012): Ist Neukölln homophober als Schöneberg? Veranstaltungsankündigung. URL: http://www.die-linke-neukoelln.de/ nc/politik/termine/detail/zurueck/termine-2/artikel/ist-neukoelln-homophoberals-schoeneberg-1/ (Stand: 07.01.2015). Dietze, Gabriele / Haschemi Yekani, Elahe / Michaelis, Beatrice (2012): Queer und Intersektionalität. URL: www.portal-intersektionalität.de (Stand: 07.01.2015). Duggan, Lisa (2002): The New Homonormativity: The Sexual Politics of Neoliberalism. In: Castronovo, Russ / Nelson, Dana D. (Hg.): Materializing Democracy. Toward a Revitalized Cultural Politics. Durham, S.175-194. Erdem, Esra (2009): In der Falle einer Politik des Ressentiments: Feminismus und die Integrationsdebatte. In: Hess, Sabine / Binder, Jana / Moser, Johannes (Hg.):

Der Schwulenkiez | 45

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Einblick gewähren in die Welt der Muslime ›Authentische Stimmen‹ und ›Kronzeugenschaft‹ in antimuslimischen Diskursen Yasemin Shooman

Aktuelle antimuslimische Diskurse in (West-)Europa bedienen sich eines festen Repertoires an Topoi. Zu den Kernaussagen gehört die Annahme, dass sich Muslim_innen aufgrund ihrer Religion und Kultur, die mit ethnischen Zuschreibungen über eine ›muslimische Herkunft‹ oder ›Abstammung‹ verknüpft werden, nicht in westliche Gesellschaften ›integrieren‹ ließen. Ein unüberwindbares Hindernis stelle dabei unter anderem das archaische und repressive Verständnis von Geschlechterrollen dar, dem Muslim_innen anhingen, ebenso wie eine der ›islamischen Kultur‹ inhärente Homophobie und Ablehnung der Freiheit des Individuums. Während ›der Westen‹ auf der zivilisatorischen Leiter vorangeschritten sei und die Aufklärung ›hinter sich gebracht‹ habe, stünde diese evolutionäre Leistung Muslim_innen erst noch bevor.1 Ob sie diese zu vollbringen in der Lage wären, solange sie an ihrer Religion und Kultur festhielten, sei jedoch überaus zweifelhaft – so das Narrativ. Das monolithische und deterministische Kultur- und Religionsverständnis, das solchen Vorstellungen zugrunde liegt, bringt spezifische Selbst- und Fremdbilder hervor: Weiße christliche bzw. atheistische Europäer_innen hätten demnach das Ideal der Geschlechtergleichheit, eine anti-heteronormative Gesinnung sowie andere Menschenrechtsnormen als Angehörige der ›westlichen Kultur‹ quasi per Geburt verinnerlicht, Muslim_innen – bzw. genauer gesagt, als solche markierte Menschen

1

Diese diskursive Formation einer dichotomen Anordnung von einem fortschrittlichen, überlegenen Westen versus einem unzivilisierten ›Rest der Welt‹ ist natürlich nicht neu (vgl. Stuart Hall 1992); er wird im Kontext europäischer Migrationsgesellschaften jedoch neu akzentuiert und adressiert nun ebenso das ›Andere‹ im Inneren Europas (vgl. Shooman 2014[b]).

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– stehen hingegen dieser Wahrnehmung zufolge permanent im Verdacht, ihrem Wesen nach frauenverachtend, homophob und demokratieunfähig zu sein.

D IE F IGUR

DER

K RONZEUGIN

Wie jede Anschuldigung, so lässt sich auch diese besonders wirksam untermauern, wenn sie durch Mitglieder aus dem Kreise der Beschuldigten ›bezeugt‹ wird. Vor Gericht bietet die sogenannte Kronzeugenregelung einem Angeklagten, der »durch freiwilliges Offenbaren seines Wissens« gegen Dritte aussagt, Straffreiheit oder wenigstens eine Strafmilderung an (vgl. § 46[b] StGB). Diese Figuration lässt sich zu einem gewissen Grad auf den seit der Jahrtausendwende in Deutschland verstärkt geführten Integrationsdiskurs übertragen. Ausgehend von der Sichtbarwerdung von Muslim_innen im öffentlichen Raum, zum Beispiel durch den Bau von im Stadtbild erkennbaren Moscheen oder durch religiöse Praktiken wie die Verschleierung, wird darin unter anderem die Frage nach der Grenzziehung von Säkularem und Religiösem, von Norm und Abweichung verhandelt. Schirin Amir-Moazami hat darauf aufmerksam gemacht, dass »[...] viele der religiösen Praktiken von Muslimen nicht etwa deshalb anstößig [sind], weil sie das Religiöse auf eine unzulässige Sphäre zu heben versuchen – denn auch religiöse Ausdrucksformen, etwa des Christentums, sind öffentlich präsent und wirksam. Sie gelten aber als Überschreitung des Zulässigen, weil sie eine eingeschriebene und inkorporierte Form des Religiösen und damit auch jenen säkularen Konsens, der als unmarkierte Schablone fungiert, hinterfragen und eine unbekannte und als störend empfundene Form des Religiösen in den öffentlichen und rechtlichen Diskurs einbringen, die als archaisch, traditional und zivilisierungsbedürftig gilt.« (Amir-Moazami 2014: 368 f.)

Solche Zuschreibungen münden ihrerseits in restriktiven Integrationsforderungen und der damit verbundenen Frage nach der Integrations(un)willigkeit oder gar Integrations(un)fähigkeit eines Großteils der muslimisch markierten Migrant_innen. Dieser Diskurs, der patriarchale Strukturen innerhalb der muslimischen Community und Gewaltvorfälle wie Zwangsverheiratungen oder sogenannte Ehrenmorde mitunter als Legitimierung zur Diskreditierung und Ausgrenzung der gesamten Minderheit nutzt, bringt auch ›interne‹ Stimmen zu Gehör, die das in diesen Debatten implizite essentialisierende Kulturverständnis reproduzieren und – eine dichotome Gegenüberstellung von ›westlicher‹ und ›islamischer‹ Kultur bejahend – die Überlegenheit der Dominanzkultur (vgl. Rommelspacher 1995) und Minderwertigkeit der ›eigenen Kultur‹ bestätigen. Diese doppelte Bewegung der Annahme des Stigmas bei gleichzeitiger Distanzierung ermöglicht die Diskursposition einer

Einblick gewähren in die Welt der Muslime | 49

Kronzeugenschaft. In einer solchen Rolle werden seit einigen Jahren eine Reihe erfolgreicher Publizistinnen breit rezipiert, die als ›muslimische Renegatinnen‹ wahrgenommen werden und als gefragte Ansprechpartnerinnen der Mehrheitsgesellschaft fungieren.2 Der große mediale Zuspruch geht auch mit politischer Anerkennung einher. So liest man beispielsweise bei der mit zahlreichen Preisen und Ehrungen, darunter dem Bundesverdienstkreuz, ausgezeichneten Autorin Serap Çileli: »Ich gehöre zu der Minderheit von Türken, die sich hier wirklich integriert haben. [...] Seitdem ich meine Geschichte öffentlich gemacht und gegen eklatante Menschenrechtsverletzungen wie Zwangsehe und Ehrenmord kämpfe, wird mir das immer wieder bescheinigt.« (Çileli 2008: 37)

D IE AUTORITÄT › AUTHENTISCHER ‹ S TIMMEN

ISLAMKRITISCHER

Es sind, wie das Beispiel Çilelis veranschaulicht, die als Jugendliche von ihren Eltern zwangsverheiratet wurde, insbesondere autobiografische Zeugnisse, die durch die Empirie des Selbsterlebten eine unangreifbare Evidenz erzeugen. Diese strahlt auch auf Aussagen aus, die die Ebene des Subjektiven verlassen und einen generalisierenden Charakter haben. Birgit Rommelspacher war eine der ersten, die sich mit den »native informants«3 in deutschen Islamdiskursen befasst hat (vgl. Rommelspacher 2010). Dabei handelt es sich zumeist um Frauen, die aus Einwandererfamilien mit muslimischem Hintergrund stammen und Opfer von körperlicher und/oder seelischer Gewalt geworden sind. Das Erlebte führen sie in ihren öffentlichen Äußerungen und Publikationen auf die ›islamische Kultur‹ ihrer Herkunftsgesellschaften zurück, aus der sie sich befreit hätten. Mit ihrem Schicksal bezeugen sie einerseits ein hegemoniales Islambild, das in dem Stereotyp der unterdrückten muslimischen Frau seinen Ausdruck findet, deren Pendant die emanzipierte westliche Europäerin bildet. Andererseits stattet ihre Herkunft und der ihnen zugeschriebene Binnenblick, der das Innere des Anderen zu durchschauen hilft (vgl. Amir-Moazami 2009: 197) und »den Code muslimischer Kulturen für eine westliche Öffentlichkeit« (Yurdakul 2

Dies ist keine auf Deutschland beschränkte Erscheinung, sondern findet sich auch in anderen westlichen Gesellschaften, in denen muslimische Minderheiten leben – eine der international bekanntesten (ex-)muslimischen Islamkritikerinnen ist z.B. Ayaan Hirsi Ali, die in den Niederlanden eine Karriere als Autorin und Politikerin gemacht hat.

3

Die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak bezeichnet mit dem Begriff kolonisierte bzw. ehemals kolonisierte Subjekte, die als ›Informant_innen‹ fungieren »for first-world intellectuals interested in the voice of the Other« (Spivak 1988: 284).

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2010: 123) aufzuschlüsseln verspricht, sie in den Augen von weiten Teilen der Mehrheitsgesellschaft mit einer quasi ›natürlichen‹ Autorität als Islamexpertinnen aus. Beispiele hierfür sind die Autorinnen Necla Kelek und Seyran Ateş. Sie werden in den Medien jeweils als »prominenteste Islamkritikerin in Deutschland« (DER SPIEGEL vom 17.12.2012: 75) bzw. »Deutschlands berühmteste Islamkritikerin« (Berliner Zeitung vom 19.10.2007) vorgestellt. Auf Einladung des Bundesministeriums des Innern nahmen sie an der ersten Deutschen Islam Konferenz teil. Kelek und Ateş haben auflagenstarke Bücher publiziert. Darin reichern sie autobiografische Passagen mit persönlichen Erlebnissen und Berichten aus ihrer beruflichen Praxis an und verweben diese zu einer Anklage gegen die ›Multikulti-Gesellschaft‹. Mit Kapiteln wie »Die Botschaft des Korans« (vgl. Kelek 2010: 43ff.) oder »Die Scharia« (vgl. Ateş 2008: 139ff.) enthüllen sie »das Wesen des Islam« und klären ihre Leser_innen auf, »woran die Muslime glauben« (vgl. Kelek 2010: 43). Dabei stützen sich die Autorinnen in ihren handbuchartig formulierten Ausführungen zum islamischen Glauben vorrangig auf nichtmuslimische Literatur. Seyran Ateş hebt in ihrem 2007 erschienenen Buch »Der Multikulti-Irrtum« zum Beispiel die Arbeit der Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher positiv hervor, auf die sie sich in ihrem Scharia-Kapitel explizit bezieht. Sie lässt jedoch unerwähnt, dass Schirrmacher Leiterin des International Institute of Islamic Studies der World Evangelical Alliance – eines evangelikalen Netzwerks – ist.4 Die Sprechposition der Autorin, die als Muslimin gelesen wird, führt also paradoxerweise dazu, dass die Thesen einer evangelikalen Islamwissenschaftlerin als ›muslimisches Wissen‹ dargeboten werden. Dies bedeutet nicht, dass das Gesagte deshalb weniger stichhaltig sein muss5 – es führt jedoch noch einmal deutlich die Problematik des Authentizitätsbegriffs vor Augen, der in der Diskursposition der Kronzeugenschaft und der sich daraus speisenden Autorität zum Tragen kommt. Denn die Werke von Autorinnen wie Ateş und Kelek werden verstanden als »Einblicke in die Welt der Muslime, die nur jemand mitteilen kann, der ihre Sprache und Kultur tatsächlich versteht« (Deutschlandfunk vom 19.04.2010), wie es eine Journalistin in der Rezension von Keleks 2010 erschienenem Buch »Himmelsreise« ausdrückt – ein Buch, mit dem Kelek laut Klappentext »gegen die Verharmlosung des Islam« anschreibt. Was ihre Sozialisation angeht, so verweisen sowohl Necla Kelek als auch Seyran Ateş allerdings darauf, dass die islamische Religion in ihrer 4

Vgl. dazu URL: http://www.worldea.org/whoweare/leadership/christine-schirrmacher (Stand: 18.01.2015).

5

Hier ist kein Raum für eine ausführliche Beschäftigung mit diesem Aspekt, es sei nur darauf hingewiesen, dass Ateş durch die selektive Auswahl der Forschungsliteratur, auf die sie sich stützt, ein sehr eindimensionales und verkürztes Verständnis des islamischen Rechts nachzeichnet, das der Komplexität der Thematik nicht gerecht wird.

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Erziehung keinen großen Stellenwert besessen habe. Bei Kelek heißt es dazu: »Ich [war] weder in der Koranschule, noch haben mich meine Eltern jemals auch nur in die Nähe einer Moschee gelassen« (Kelek 2010: 74). Und Ateş räumt in ihrer Autobiografie ein: »Vom Islam habe ich als Kind nicht besonders viel mitbekommen. Meine Geschwister und ich wurden nicht sehr religiös erzogen« (Ateş 2006: 35). Dass beiden qua Herkunft eine Expertise in Glaubensfragen zugeschrieben wird, obwohl sie nach eigener Auskunft keinerlei religiöse Bildung erhalten haben, verdeutlicht, wie sehr die Religionszugehörigkeit in der öffentlichen Wahrnehmung ethnisiert wird und unterschiedliche Milieus zu einer homogenen ›muslimischen Masse‹ verschmelzen. Ihren Äußerungen lässt sich entnehmen, dass sowohl Necla Kelek und Serap Çileli als auch Seyran Ateş eine kemalistische Auffassung vertreten. »Es war eines der wichtigsten Anliegen der Ära Atatürks, die Frauen von der Verschleierung zu befreien. Atatürk selbst mag nicht der größte Feminist gewesen sein, aber hatte einen entschieden westlichen und modernen Blick auf die Frau« (Ateş 2008: 134) schreibt Ateş, die sich – genau wie Kelek und Çileli – als scharfe Kritikerin des Kopftuchs positioniert und für Kopftuchverbote ausspricht. In der Wahrnehmung der deutschen Mehrheitsgesellschaft spielt der Umstand, dass sie diese Haltung als muslimische Frauen einnehmen, wiederum eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, diese religiöse Praxis gegenüber denjenigen Frauen, die ein Kopftuch tragen, zu delegitimieren. So schildert Ateş in ihrer Autobiografie eindrücklich die Reaktionen auf einen Vortrag, den sie 1998 auf dem feministischen Juristinnentag zur Kopftuchthematik hielt. Ihr eindeutiges Urteil – »das Kopftuch und der Tschador symbolisieren in meinen Augen die Unterwerfung der Frau« und »es sind nur wenige Frauen, die sich wirklich freiwillig bedecken« (Ateş 2006: 246) – sprach einem Teil der Zuhörerinnen offenbar aus dem Herzen: »Ich hätte ihnen Argumente geliefert, die ihre Gefühle bestätigt hätten. Sie würden sich, bestärkt durch eine Frau aus dem islamischen Kulturkreis, nun eher gegen das Kopftuch aussprechen können« (ebd.: 247). Das Zitat veranschaulicht noch einmal die Diskursposition der Kronzeugenschaft, denn, so Schirin Amir-Moazami, »[...] bemerkenswert an der Rezeption dieser muslimischen Akteurinnen ist der selektive Blick, mit dem bestimmte Ideen in der Öffentlichkeit als ›authentisch‹ und andere als weniger glaubwürdig erachtet werden. Anders ausgedrückt, während die Worte von selbsternannten säkularen oder liberalen Muslimen authentifiziert werden, gelten jene von praktizierenden Muslimen grundsätzlich als verdächtig.« (Amir-Moazami 2009: 198 f.)

Von Kelek wird das Befolgen religiöser Gebote durch Muslim_innen zum Beispiel als ›Integrationsverweigerung‹ denunziert: »Die Abgrenzung gegenüber den anderen – durch das Kopftuch, [...] die blutigen Traditionen der Beschneidung und des

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Opferfestes –, all das [...] ist die Absage der Muslime an die aufgeklärte Gesellschaft« (Kelek 2010: 73). Für Çileli ist das Kopftuch ebenfalls »eine klare Absage an die westliche Gesellschaft und deren freiheitliche und demokratische Werte« (Çileli 2008: 147). Auch Ateş sieht Frauen, die ein Kopftuch tragen, nicht nur per se als fremdbestimmt und unmündig an, sondern schreibt diesen zudem pauschal Fanatismus, Intoleranz sowie ein Bekenntnis zum fundamentalistischen Islam zu (vgl. Ateş 2008: 130 f.). Alle drei tragen so, ob gewollt oder ungewollt, zur Stigmatisierung von Kopftuchträgerinnen bei. Interessant ist, dass Kelek, die sich als Kämpferin für Frauenrechte versteht, offenbar keinen Widerspruch darin sieht, auf sexistische Beleidigungen zur Diskreditierung des Kopftuchs zurückzugreifen: »Manchmal trifft man auch auf diese selbstbewussten Islam-Bitches, die ihren Hintern in enge Jeans zwängen und das Ganze mit einem kunstvollen Turban auf dem Kopf krönen« (Kelek 2010: 11). Und auch Ateş urteilt, wenngleich in weniger aggressivem Tonfall, dass kopftuchtragende Frauen, die sich schminken, sich »erst recht zu Sexualobjekten [machen], da sie auch noch mit der Fantasie der Männer spielen, was sich wohl unter der Verhüllung verbirgt« (Ateş 2008: 131). Eine von ihrer Haltung abweichende Interpretation des Kopftuchs gestehen diese Autorinnen anderen Musliminnen nicht zu.

D IE Ü BERSETZUNG VON SUBJEKTIVEN E RFAHRUNGEN IN EIN POLITISCHES ARGUMENT Mit ihrem Postulat vom Scheitern des Multikulturalismus – ohne zuvor den Nachweis erbracht zu haben, dass dieser in Deutschland je politikleitend gewesen wäre – folgen Sprecherinnen wie Necla Kelek, Serap Çileli und Seyran Ateş der Argumentationslinie der feministischen Philosophin Susan Moller Okin. Diese hatte bereits Ende der 1990er Jahre den Multikulturalismus als eine Gefahr für die Gleichberechtigung der Geschlechter beschrieben, da er patriarchal geprägten Minderheiten Gruppenrechte gewähre (vgl. Okin 1999). Kelek, Çileli und Ateş, die genau wie Okin ›Kulturen‹ als das menschliche Handeln determinierende, holistische und statische Gebilde zu begreifen scheinen, sehen dieses Szenario in der Existenz von muslimischen ›Parallelgesellschaften‹ bereits verwirklicht. Kelek zufolge gibt es »[...] für die meisten Migranten nichts, was sie mit ihrem neuen Lebensort in Deutschland verbindet: Weder bedeuten ihnen die Landschaften etwas noch das deutsche Essen, weder die Musik Beethovens oder Bachs noch der Tag der Deutschen Einheit oder der Heilige Abend. Die wenigsten werden auf die Zugspitze klettern oder nach Helgoland fahren, sondern weiterhin, wenn es ihnen möglich ist, nach Mekka oder Mardin. Sie sind hier, weil ihnen dieses Land soziale und rechtliche Sicherheiten bietet, weil sie hier ein nahezu kostenloses Gesund-

Einblick gewähren in die Welt der Muslime | 53 heitssystem nutzen können, weil sie hier mit ihrer vielköpfigen Familie Anspruch auf materielle Grundversorgung haben, ihre Kinder Lehrmittelfreiheit in der Schule genießen und die Religionsfreiheit ihnen ermöglicht, ›dem Islam zu gehorchen‹.« (Kelek 2010: 112)

Und auch für Ateş steht fest: »In Deutschland existieren Parallelgesellschaften. [...] Ich meine damit tatsächlich eine Gesellschaft, die sich als Konkurrenz und in Abgrenzung zu unserer Mehrheitsgesellschaft gebildet hat und das erklärte Ziel verfolgt, Strukturen der Mehrheitsgesellschaft, die nicht mit der eigenen Kultur zu vereinbaren sind, zu verändern. Die Mehrheitsgesellschaft soll sich den Traditionen und Gewohnheiten der Minderheitengesellschaft anpassen oder gar unterordnen. Wir haben es mit einer sehr starken, selbstbewussten und teilweise ausgesprochen arroganten muslimischen (egal ob praktizierend oder nicht) Gemeinschaft zu tun, die sich eine von der Mehrheitsgesellschaft unabhängige Welt mit eigener Legislative, Judikative und Exekutive geschaffen hat. Kontakt zu Urdeutschen ist in dieser Welt gar nicht mehr nötig und oft auch nicht erwünscht.« (Ateş 2008: 16)

Zur Untermauerung ihrer These von der Parallelgesellschaft, die, nebenbei bemerkt, den Ergebnissen wissenschaftlicher Studien zuwiderläuft,6 finden sich bei allen drei Autorinnen quantifizierende Aussagen: So konstatiert Kelek in ihrem 2005 erschienenen Bestseller »Die fremde Braut – Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland«, für den sie mit dem renommierten Geschwister-SchollPreis ausgezeichnet wurde: »Die Integration der Mehrheit der in Deutschland lebenden Türken ist gescheitert« (Kelek 2005: 260). Der damalige Bundesinnenminister Otto Schily würdigte Keleks Buch in einer Rezension für Deutschlands auflagenstärkstes Nachrichtenmagazin als »einen alarmierenden Einblick in eine [...] Parallelgesellschaft« (DER SPIEGEL vom 24.01.2005: 59). Auch Ateş, die für ihr Buch über den »Multikulti-Irrtum« auf ihre Erfahrungen als Scheidungsanwältin für türkeistämmige Mandantinnen zurückgreift, mutmaßt: »In dieser Gesellschaft nicht angekommen sind meiner persönlichen Einschätzung nach nahezu 80 Prozent der Deutschländer« (Ateş 2008: 36).7 Die empirische Grundlage für diese Zahl bleibt genauso unklar wie diejenige der folgenden Aussage: »Die Tradition, Männer und 6

Vgl. dazu u.a. den Religionsmonitor 2015 der Bertelsmann Stiftung, darin heißt es: »Die Studie belegt eine starke Verbundenheit der Muslime mit Staat und Gesellschaft. 90 Prozent der hochreligiösen Muslime halten die Demokratie für eine gute Regierungsform. Neun von zehn Befragten haben in ihrer Freizeit Kontakte zu Nicht-Muslimen. Jeder zweite hat sogar mindestens genauso viele Kontakte außerhalb seiner Religionsgemeinschaft wie mit Muslimen.« URL: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuel le-meldungen/2015/religionsmonitor/ (Stand: 08.01.2015).

7

Als »Deutschländer« bezeichnet die Autorin türkische und kurdische Migrant_innen.

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Frauen gegen ihren Willen miteinander zu verheiraten«, finde in der muslimischen türkischen und kurdischen Community »keine hundertprozentige Akzeptanz« (ebd.: 51) – was im Umkehrschluss nahe legt, die Anzahl der Befürworter_innen von Zwangsehen in dieser Gruppe sei aber zweifelsohne immens hoch. Für solche generalisierenden und quantifizierenden Aussagen liefern Çileli (die sich, wie eingangs zitiert, selbst zur Minderheit der ›integrierten‹ türkischen Migrant_innen zählt), Kelek und Ateş keine belastbaren Belege; ihre Rezeption als ›authentische Stimmen‹ macht solche offenbar überflüssig. Entsprechend folgert der Journalist Nils Minkmar in seiner Rezension von Ateş’ »Multikulti-Irrtum« in der FAZ: »Es liegt natürlich nicht an der Ethnie, der Religion, den Bedingungen allein, nein, es geht auch anders, sie hat Beispiele für Männer, die einen aufgeklärten Islam leben, und Frauen, die ihre Ehe gleichberechtigt führen, und für Paare, die ihre Söhne und Töchter bildungsnah erziehen – aber es ist die Minderheit.« (FAZ vom 22.10.2007 – Hervorhebung Y.S.)

Die kulturalisierende Deutung der gesellschaftlichen Missstände, die die Autorinnen beschreiben, sucht die Verantwortung dafür in erster Linie in der ›fremden Kultur‹ und islamischen Religion der Minderheit. Eine damit einhergehende Ausblendung gesellschaftlicher Strukturen und sozialer Faktoren wie Fragen der Schichtzugehörigkeit wirkt letztendlich entpolitisierend und entlastet die Mehrheitsgesellschaft, was wohl zu einem gewissen Teil den Anklang, den diese Autorinnen mit ihren Thesen finden, zu erklären vermag. Wobei man an dieser Stelle differenzieren muss, da Seyran Ateş – im Unterschied zu Necla Kelek und Serap Çileli – durchaus Aspekte wie Armut und Diskriminierungserfahrungen beschreibt, die zum Beispiel ihre Eltern, die als Arbeitsmigrant_innen nach Deutschland kamen, gemacht haben. Diese sozialen Faktoren, zu denen auch der geringe Bildungsgrad ihrer Eltern (die Mutter war Analphabetin, der Vater hat nur die Grundschule besucht) gehört, rücken in ihrer Analyse jedoch zugunsten kulturalisierender Deutungsmuster in den Hintergrund. Dabei fällt auf, dass diese von ihr ausschließlich auf die ›islamische Kultur‹ angewandt werden: »Natürlich gibt es urdeutsche Frauen, die von ihren eifersüchtigen Ehemännern ähnlich gepeinigt werden. Doch in den Fällen, von denen ich spreche, paart sich die herkömmliche Eifersuchtsproblematik, die wir kulturübergreifend kennen, mit verinnerlichten kulturellen und traditionellen Verhaltensmustern, die zudem religiös begründet werden. Das Ergebnis ist ein Gewaltpotential, das kaum zu bändigen ist.« (Ateş 2008: 112)

Aus diesem behaupteten kausalen Zusammenhang zwischen häuslicher Gewalt und Religion folgt, dass die Kritik an der Gewalt gegen Frauen notwendigerweise zu einer generellen ›Islamkritik‹ werden muss, denn wer Ersteres ablehnt, muss auch Letzteres ablehnen, so die implizite Logik. Die Gewalt weißer deutscher Männer

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wird hingegen als ›kulturübergreifend‹ und damit als quasi ›kulturlos‹ begriffen und deshalb auch nicht analog zu der ›türkischen bzw. kurdischen‹ oder ›muslimischen‹ Gewaltkultur als Ausdruck ›deutscher‹ oder ›christlicher‹ Gewaltkultur gedeutet. Einem weißen, deutschen, christlich-säkularen Publikum wird dadurch implizit das Angebot unterbreitet, sich der eigenen Superiorität zu versichern. Als Handlungsaufforderung an die Dominanzgesellschaft geht damit sowohl ein Rettungsauftrag (in Hinblick auf muslimische Frauen und Kinder) als auch ein Disziplinierungsauftrag (in Hinblick auf muslimische Männer) einher. Dieser äußert sich unter anderem in Forderungen nach paternalistischer Fürsorge. Kelek prognostiziert beispielsweise: »Die europäische Wertegemeinschaft wird die Muslime nicht sich selbst überlassen dürfen, sondern muss ihnen durch eine klare Politik helfen, den Weg der Integration in die moderne Zivilgesellschaft zu gehen« (Kelek 2010: 246 f.). Neben einem besseren Zugang zu Beratungsstellen für Frauen plädieren die genannten Autorinnen, wie Esra Erdem herausgearbeitet hat, hauptsächlich für rechtliche Verschärfungen: »Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Angst vor einer Nichteinbürgerung (oder vor Prekarisierung des Aufenthaltsstatus) den familiären Alltag in Migranten-Communities beeinflusst? Kelek und Ateş unterliegen der liberal-feministischen Illusion, dass eine rechtliche Intervention dieser Art selbst schon einen sozialen Wandel mit sich bringen kann.« (Erdem 2009: 191)

In ihren politischen Positionierungen lässt sich eine Affinität der als muslimische Islamkritikerinnen rezipierten Autorinnen zum rechtskonservativen Lager ausmachen. So resümiert Seyran Ateş in ihrer Abrechnung mit den linken ›Multi-Kultis‹, die ihrer Ansicht nach die Entstehung der Parallelgesellschaften gemeinsam mit den Muslim_innen zu verantworten hätten: »Bei den Themen Integration, Deutschland als Einwanderungsland und Islam funktionieren die alten Zuordnungen von Links und Rechts nicht mehr. Ich sehe mich als linke Feministin plötzlich mit Konservativen verbündet, von denen ich mich in meinen Positionen und meinem Anliegen verstanden und ernst genommen fühle.« (Ateş 2008: 249)

Dabei hat Ateş mitunter keine Berührungsängste gegenüber Kreisen, die sich, wenn es nicht gerade um die Kritik an Muslim_innen geht, durch eine dezidiert antifeministische Stoßrichtung auszeichnen. Im Januar 2015 gab sie dem QuerfrontMagazin »COMPACT« – zu dessen Feindbildern das Gender-Mainstreaming, eine vermeintliche »sexuelle Umerziehung« und die »Schwulenehe« gehören, die »die

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biologische Fortexistenz der europäischen Völker« bedrohten8 – ein Interview, in dem sie über die aus ihrer Sicht zu lasche Bestrafung migrantischer Gewalttäter sprach (vgl. COMPACT 01/2015).9 Die Beweggründe für die behauptete Laissez-faire-Haltung gegenüber Minderheiten sehen die Autorinnen in der Vergangenheit der Deutschen. In einem Interview antwortet Serap Çileli auf die Frage der Journalistin: »Warum tun wir uns so schwer damit, eine nüchterne Bestandsaufnahme des Integrations-Dilemmas zu ziehen?« wie folgt: »Die Deutschen sind feige. Sie tun sich schwer damit, Grenzen zu ziehen und für ihre eigene Identität einzustehen. Das liegt sicherlich an der leidvollen Geschichte des Landes, das sich einst einem faschistischen Diktator anschloss. Aber diese Zeiten sind vorbei. Die Deutschen müssen mutiger sein. Sie dürfen nicht den Fehler begehen, jenen gegenüber tolerant zu sein, deren größter Feind die Freiheit ist.« (WELT Online vom 20.05.2008)

Dass solche Appelle, endlich die pathologische ›Fremdenliebe‹ abzulegen und härter gegenüber Minderheiten ›durchzugreifen‹, auch auf Beifall von rechter Seite stoßen, verwundert nicht. Auf ihrer Facebook-Seite schreibt Çileli: »Ich weiß natürlich, dass manche Leserinnen und Leser versuchen, mich und meine Arbeit als Kronzeugin für ihren Islamhass zu instrumentalisieren.«10 Diese Funktionalisierung lässt sich auch auf der für die rechtspopulistische Szene in Deutschland wichtigen islamfeindlich-rassistischen Webseite »Politically Incorrect« beobachten (vgl. Shooman 2014 [a]), wie die zustimmende Rezeption von Seyran Ateş‘ »MultikultiIrrtum« durch die dort versammelten, erklärten Islamfeind_innen zeigt: »Seyran Ates ist eine der wenigen Autorinnen, die uns (Ur-)Deutsche auffordert, zu unseren eigenen kulturellen Errungenschaften, unserer Demokratie und Verfassung, zu stehen, statt einfach wegzusehen, wenn traditionelle Formen des Islams unter dem Schutz unseres Rechts versuchen, unsere Gesellschaft zu unterwandern, um sich als Parallelgesellschaft zu etablieren, in denen Freiräume für ihre eigenen archaischen Sitten und Rechte bestehen.«11

8

Vgl. Ankündigung der COMPACT-Konferenz 2013 »Für die Zukunft der Familie«, https://www.compact-online.de/compact-konferenz/ (Stand: 04.02.2015).

9

Nicht uninteressant ist in diesem Zusammenhang, dass in derselben Ausgabe offen für die sogenannte PEGIDA-Protestbewegung (»Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes«) geworben wird, was die inhaltliche Ausrichtung des Magazins verdeutlicht. Vgl. COMPACT 01/2015, S. 14-16.

10 Vgl. URL: https://de-de.facebook.com/Serap.Cileli (Stand: 07.01.2015). 11 Vgl. URL: http://www.pi-news.net/2007/12/seyran-ates-der-multikulti-irrtum-2/ (Stand: 07.01.2015).

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Patriarchale Gewalt in von Rassismus betroffenen Minderheiten-Communitys zu bekämpfen, ohne sich für rassistische Argumentationen vereinnahmen zu lassen, stellt eine große Herausforderung dar, denn die Thematisierung dieser Missstände ist, und darauf weist Birgit Rommelspacher hin, »in eine asymmetrische Struktur eingebettet [...], in der die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft die Kommunikationsregeln, Themen und Ziele bestimmen« (Rommelspacher 2010: 467). Für Autorinnen wie Necla Kelek, Seyran Ateş und Serap Çileli ist der Rassismus – sofern sie überhaupt die Existenz eines solchen anerkennen (was zumindest bei Ateş der Fall ist) – dem Sexismus gegenüber als nachrangig zu behandeln. Damit stellen sie sich in die Tradition eines Feminismusverständnisses, das Intersektionalität ignoriert und die verschiedenen Formen von Unterdrückung hierarchisiert. Im Ergebnis, so stellte Birgit Rommelspacher schon vor zwanzig Jahren fest, beraubt sich ein solcher Feminismus seines kritischen Potentials, da er zum Zwecke der Aufhebung eines gesellschaftlichen Machtverhältnisses ein anderes bestätigt und damit stärkt (vgl. Rommelspacher 1995: 113).

L ITERATUR Akt der Unterwerfung. In: DER SPIEGEL vom 17.12.2012, S. 74-75. Alarmierender Einblick. Bundesinnenminister Otto Schily über die Darstellung der türkischen Parallelgesellschaft in Necla Keleks Buch »Die fremde Braut«. In: DER SPIEGEL vom 24.01.2005, S. 59. »Dieses Milieu hasst Deutschland«. Interview mit Seyran Ates. In: COMPACT 01/2015, S. 26-28. Frauenrechtlerin fordert mehr Mut von Deutschen. In: WELT Online vom 20.05.2008. Mein Mann bedroht mich, bitte kommen Sie! In: FAZ vom 22.10.2007. Nah am Vorurteil. In: Deutschlandfunk vom 19.04.2010. Zweisprachige Analphabeten. In: Berliner Zeitung vom 19.10.2007. Amir-Moazami, Schirin (2009): Islam und Geschlecht unter liberal-säkularer Regierungsführung – Die Deutsche Islam Konferenz. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 37, S. 185- 205. Amir-Moazami, Schirin (2014): Wer spricht für wen, wie und warum? Überlegungen zu Anerkennung und Repräsentation unter liberal-säkularen Bedingungen. In: Bertelsmann Stiftung (Hg.): Vielfältiges Deutschland. Bausteine für eine zukunftsfähige Gesellschaft, Gütersloh, S. 357-377. Ateş, Seyran (2006): Große Reise ins Feuer. Die Geschichte einer deutschen Türkin, Berlin.

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Ateş, Seyran (2008): Der Multikulti-Irrtum. Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können. Berlin. Çileli, Serap (2008): Eure Ehre – unser Leid. Ich kämpfe gegen Zwangsheirat und Ehrenmord. München. Erdem, Esra (2009): In der Falle einer Politik des Ressentiments. Feminismus und die Integrationsdebatte. In: Hess, Sabine / Binder, Jana / Moser, Johannes (Hg.): No integration?! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa: Bielefeld, S. 187-202. Hall, Stuart (1992): The West and the Rest. Discourse and Power. In: Ders. / Bram Gieben, Formations of Modernity. Cambridge, S. 275-320. Kelek, Necla (2005): Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland. Köln. Kelek, Necla (2010): Himmelsreise. Mein Streit mit den Wächtern des Islam. Köln. Okin, Susan Moller (1999): Is Multiculturalism Bad for Women? In: Cohen, Joshua / Howard, Matthew / Nussbaum, Martha C. (Hg.): Is Multiculturalism Bad for Women? Princeton, S. 9-24. Rommelspacher, Birgit (1995): Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin. Rommelspacher, Birgit (2010): Islamkritik und antimuslimische Positionen am Beispiel von Necla Kelek und Seyran Ateş. In: Schneiders, Thorsten Gerald (Hg.): Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen. Wiesbaden, S. 447-469. Shooman, Yasemin (2014[a]): Antimuslimischer Rassismus und Islamfeindlichkeit im World Wide Web. In: Attia, Iman / Häusler, Alexander / Shooman, Yasemin: Antimuslimischer Rassismus am rechten Rand. Münster, S. 34-61. Shooman, Yasemin (2014[b]): »... weil ihre Kultur so ist.« Narrative des antimuslimischen Rassismus. Bielefeld. Spivak, Gayatri Chakravorty (1988): Can the Subaltern speak? In: Nelson, Cary / Grossberg, Lawrence (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture. Chicago, S. 271-313. Yurdakul, Gökçe (2010): Governance Feminism und Rassismus. Wie führende Vertreterinnen von Immigranten die antimuslimische Diskussion in Westeuropa und Nordamerika befördern. In: Yurdakul, Gökçe / Bodemann, Y. Michal (Hg.): Staatsbürgerschaft, Migration und Minderheiten. Inklusion und Ausgrenzungsstrategien im Vergleich. Wiesbaden, S. 111-125.

Germanen, Götter und Gelehrte Zu völkischen Denkmustern und Deutungsschemata vom Deutschen Kaiserreich bis heute Rolf Cantzen

»Die Runen werden auf Baumstäbchen geritzt. Am besten ist Buchenholz, und das Wort Buch-stabe beweist ja, dass die Buche hier bevorzugt war. Das Schneiden der Stäbchen geschieht auf kultische Weise. Man kniee sich vor dem Baum nieder und spreche mit entblößtem Haupte: ›Frau Buche [...]‹.« (Warneck 1999: 34)

Derlei Rituale werden von Anhänger_innen neuheidnischer Gruppen als ›ureigene‹ verstanden, die eine Verbindung zu ›unseren Vorfahren‹ herstellen: »Mit indischen Gurus und fernöstlicher Weisheit ist [...] dem Europäer nicht geholfen, denn die Religion muss über Jahrtausende geschaffen werden, sie ist keine Modesache. Jedes Volk dieser Erde hat oder hatte seine eigene Mythologie und Naturreligionsform. Diese müssen wiederbelebt werden [...].« (Neményi 1993: 17)

Die Abgrenzung vom ›Anderen‹ beschränkt sich nicht nur auf ›das Fernöstliche‹, sondern bezieht sich auch auf das oft so bezeichnete ›naturfeindliche‹ ›JudäoChristentum‹. Menschen – vor allem Frauen, die in früheren Leben als Hexen tätig waren – hätten die Aufgabe »die Menschheit aufzurütteln und zur Rückkehr zu ihren Göttern zu bringen« (ebd.: 17). Tatsächlich wird im Rahmen einer ›neuheidnischen‹ oder ›paganen‹ Naturreligiosität auf vermeintliche germanische Mythologien zurückgegriffen. Germanische Gottheiten bzw. das, was sie angeblich symbolisieren, werden reanimiert und verehrt. Dass diese ›germanischen Götterwelten‹ Konstruktionen der Romantiker des 19. Jahrhunderts darstellen, wird dabei ebenso ignoriert wie die Tatsache, dass die Edda, das Nibelungenlied und andere, vermeintlich

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genuin germanische Kulturerzeugnisse in christlichen Zeiten verschriftlicht und geprägt wurden. Die ›neuheidnischen‹, ›paganen‹, naturreligiösen und germanophilen Szenen lassen sich schwer eingrenzen. Doch bereits aus den oben beschriebenen Runenritualen werden einige Aspekte völkischer Diskurse erkennbar: Es wird rekurriert auf etwas vermeintlich ›Eigenes‹, das sich abgrenzt von einem vermeintlich ›Anderen‹. Diese Dichotomie wird wie folgt aufgefüllt: Das ›Eigene‹ kennzeichnet die eigenen Götter, das eigene ›ganzheitliche‹ Naturverständnis, die eigene diesseitsbezogene Spiritualität, die eigene Kultur und Mythologie. Hinzu kommen eine eigene Medizin, ein eigenes Geschlechterkonzept, eine eigene lebensfreundliche Sexualität, eigenes Naturwissen, sogar eine eigene Musik. Das ›Andere‹ dagegen wird gekennzeichnet durch ein instrumentelles Naturverständnis, Monotheismus, Jenseitsbezogenheit, Sexismus, eine abstrakte Moral, durch Fanatismus und Sexualitätsfeindlichkeit sowie eine ›artfremde‹ Spiritualität. Verbunden ist diese Dichotomisierung mit einem Dominanzanspruch, der auch auf die Vergangenheit projiziert wird. ›Unseren Ahnen‹ wird kulturelle Überlegenheit zugesprochen: Die Germanen sollen bereits vor anderen Kulturen über exakte Kalender verfügt haben. Der mediale Hype um germanische oder keltische Artefakte wie die Himmelsscheibe von Nebra verband sich mit der Gewissheit, dass ›unsere Vorfahren‹ über weitreichende astronomische Erkenntnisse verfügt hätten. Germanophile Archäoastronom_innen und Ethnoastronom_innen widmen sich unter anderem dem Nachweis, dass es sich bei diesem Gegenstand und auch bei den Gravuren auf dem Berliner Goldhut, bei Einritzungen in Prunkäxten sowie bei ausgegrabenen Steinkreisen um exakte Kalender handele.1 Selbst in deutschen Märchen fänden sich Hinweise darauf, dass in nördlichen Breiten altes astronomisches Wissen existiert habe (vgl. Koneckis 1996). Die lang gepflegte Gewissheit, dass Kultur und Wissenschaft, dass das ›Licht der Erkenntnis‹ aus dem Osten kommt (ex oriente lux), wird mit derlei Forschungen infrage gestellt. Das Licht käme aus dem germanischen Norden (ex septentrione lux) (vgl. Wiwjorra 2009). Mit diesen Konstruktionen lassen sich Überlegenheitsansprüche mit Ursprungsmythen verbinden. Die hier einleitend skizzierten Denkmuster und Deutungsschemata finden sich in germanophil-völkischen Szenen wieder. Diese Gruppierungen sind heterogen und nicht pauschal dem Rechtsextremismus zuzuordnen. Das Spektrum erstreckt sich von germanophilen Archäoastronomen über Germanen-Reenacter und naturreligiösen ›Heiden‹ hin zu Musikgruppen, Initiator_innen von germanischen Mu1

Daher will die Gesellschaft für Archäoastronomie »Kulturdenkmäler in Deutschland im Sinne der Heimatpflege erfassen und bewahren« (http://www.archaeoastronomie.org Stand: 28.12.2014). Ausführlicher dazu siehe Cantzen 2009. Die mit den Ausgrabungen befassten Archäolog_innen verhalten sich gegenüber Spekulationen, es handele sich bei den komplexen Steinkreisanlagen um Kalender, vorsichtig bis ablehnend.

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seumsdörfern und anderen. In ihren Publikationen und ›Heimseiten‹ wenden sie sich wiederholt gegen Rechtsextremismus. Einige nehmen an Veranstaltungen ›gegen Gewalt und für Toleranz‹ teil. Derlei distanzierende Hinweise fehlen allerdings bei Vereinigungen wie der »Artgemeinschaft«. Das Programm dieser Germanenfreunde ist eindeutig: »Wir werden nicht ruhen, den Machtanspruch fremder Religionen in unserem Raum zurückzuweisen, bis jeder Mensch unserer Art sich von fremden Glaubensvorstellungen befreit hat.« (Rieger o.J.: 21)

V ÖLKISCHE B EWEGUNGEN

UM

1900

Ein kurzer Rückblick auf die völkischen Bewegungen des Deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik zeigt, dass die Deutungsschemata der heutigen völkischen Gruppierungen in älteren völkischen Ideologien und Bewegungen ihre Vorläufer haben. Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gründeten sich verschiedene völkische Orden, Gemeinschaften und Gruppen und wandten sich mit diversen Zeitschriften, Broschüren, Vortragsreihen und Seminarveranstaltungen an die Öffentlichkeit. Sie pflegten ein ›germanisches Christentum‹. Später werden auch germanische Gottheiten wie Freyja und Wodan verehrt. Orientierung bieten vermeintlich ›germanische‹ Tugenden, sowie die ›arische‹ Rasse, Blut und Boden, Volk und Heimat, auch ›Mutter-Natur‹ und die deutsche Nation, die germanische Mythologie, die Edda, Siegfried, Richard Wagners Musik und die Nibelungen (vgl. Puschner 2001 sowie Puschner / Großmann 2009). Bereits zuvor hatten – im Rahmen einer Konstruktion der deutschen Nation als überlegene – prominente Dichter und Denker den Germanenmythos für sich entdeckt und dominanzkulturell zugespitzt. Im Zuge der sogenannten Befreiungskriege mobilisierte Heinrich von Kleist den Befreier Germaniens, Arminus bzw. Hermann, als Vorkämpfer für die Freiheit von allem Fremden. Er sah nun allerdings die Feinde nicht mehr in Rom, sondern in Frankreich (vgl. Hoffmann 1990). Diese von blutrünstigen Phantasien begleiteten Konstruktionen einer deutsch-französischen Erbfeindschaft korrespondierten mit der Aufwertung des vermeintlich Eigenen. Die Deutschen seien, so etwa Johann Gottlieb Fichte, »[...] wenn sie als ein Volk betrachtet werden, ein Urvolk, das Volk schlechthin, Deutsche« (zit. n. Hoffmann 1990: 77). Das ›deutsche Volk‹ wird von ›Dichtern und Denkern‹ als überlegene ›Urkraft‹ unabhängig von dessen staatlich-nationaler Einheit konstruiert. Für Friedrich Schiller gilt das deutsche Volk als »Kern des Menschengeschlechts [...] erwählt vom Weltgeist [...] an dem ewigen Bau der Menschenbildung zu arbeiten« (zit. nach Poliakov 1993: 119). Kleist sieht in den Deutschen eine »Gemeinschaft, in deren Schoß die Götter das Urbild der Menschheit reiner als in irgendeiner anderen auf-

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bewahrt hatten« (zit. ebd.). Novalis versichert, dass die Welt »am deutschen Wesen genesen« (zit. ebd.) werde. Georg Wilhelm Friedrich Hegel versteht »die reine Innerlichkeit der germanischen Nation« als den »eigentliche[n] Boden für die Befreiung des Geistes« (Hegel 1976: 145). In der Romantik verdichtete sich dieser Überlegenheitsanspruch in einer quasibiologistischen Volkskörperideologie: Friedrich Schlegel und andere wollten die Nation als ethnisch homogene Einheit, »als eine große allumfassende Familie« verstehen, »wo mehrere Familien und Stämme durch Verfassung der Sitten und Gebräuche, der Sprache, des allgemeinen Interesses zu einem gemeinschaftlichen Ganzen verbunden sind« (Schlegel 1837: 357). Nation und Staat wurden bei Schlegel und anderen Romantikern nicht gesellschaftlich oder politisch-historisch gedacht, sondern als Organismus, als Volkskörper, dem sich die Einzelnen ein- und unterzuordnen hätten. Diese Biologisierung des Sozialen durchzieht das völkische Denken ebenso wie die Ideologie der Nationalsozialist_innen (vgl. Mosse 1979). Das deutsche ›Urvolk‹ wurde zunächst entlang der ›Reinheit‹ der deutschen Sprache konstruiert. Das Reinheitsideologem erhielt mit der verstärkten Rezeption der Schriften des Tacitus im 19. Jahrhundert eine völkische Wendung. Viel zitiert – auch bei heutigen Germanophilen – ist Tacitus’ »Germania«: »[...] die Völker Germaniens [sind] durch keine Zwischenheiraten mit anderen Völkern verdorben, ein eigentümliches, unvermischtes und nur sich selbst ähnliches Volk [...]. Daher auch ist die Form des Körpers [...] allen dieselbe: wilde blaue Augen, rötliches Haar, große, allerdings nur zum Angriff tüchtige Leiber [...]« (Tacitus 2000: 151).

Dass Tacitus selbst nie in Germanien war, interessierte damals und interessiert heute die Rezipient_innen ebenso wenig wie die Zielsetzung dieses Buches. Es handelte sich um eine eindeutige Tendenzschrift, die das erklärte Ziel verfolgte, die tapferen Germanen und tugendhaften Germaninnen zu ›edlen Wilden‹ zu stilisieren, um sie den ›dekadenten‹ Römer_innen als Spiegel vorzuhalten. Dessen ungeachtet liefert Tacitus den Germanophil_innen den Mythos, sie würden von den heldenhaften Siegern über Rom abstammen, hätten unvermischtes Blut, eine originäre Kultur und ›arteigene‹ Tugenden. Hinzu kam der Mythos um Arminius alias Hermann, der den Römer Varus in der Schlacht im Teutoburger Wald im Jahre 9 u.Z. vernichtend geschlagen haben soll. Die Mythenbildungen um die ›rassisch-reinen‹ Germanen und ihren nicht minder reinen Hermann verbanden sich – zum 1900. Jahrestag der Schlacht im Teutoburger Wald im Jahre 1909 – zu einem publikumswirksamen Jubiläum. Im Deutschen Kaiserreich geschah dies allerdings ungebrochener und begleitet von offen vorgetragenen Superioritätsansprüchen. Es bildeten sich verschiedene völkische Gruppierungen. Sie gründeten sich, spalteten sich, fusionierten, lösten sich auf, organisierten sich mit altem Personal neu. Aus der »Deutschreligiösen Ge-

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meinschaft« wurde zum Beispiel die »Deutschgläubige Gemeinschaft«; in deren Umfeld kam es zur Gründung der »Gesellschaft Wodan«, die sich auch »Freie Gesellschaft zur Erforschung der Germanischen Weis- und Brauchtümer« nannte (vgl. Puschner 2001). Ziel dieser Vereinigungen war die Neubegründung eines ›artgerechten‹ Glaubens, eines reinen, von den Germanen abstammenden Volkes, die Rückbesinnung auf eine vermeintlich germanische beziehungsweise deutsch-nationale Kultur: »Religion hatte im hybriden Nationalismus der Völkischen insofern eine Schlüsselfunktion, als das Religiöse die völkische Semantik beherrscht. Keines der zahllosen völkischen Weltanschauungsmanifeste verzichtet auf religiöse Anspielungen, Überlegungen und Forderungen.« (Puschner 2006: 1)

Diese religiöse Komponente verschränkte sich bei den Völkischen mit einem biologisch konstruierten Verständnis von Volk und ›Rasse‹. Um 1900 definiert ein »Deutschgläubiger« dies folgendermaßen: »Völkisch kommt von Volk und bedeutet den Willen, in arteigenen oder, anders ausgedrückt, blutbedingten Formen zu leben. Arteigen leben heißt völkisch sein. [...]. Völkischsein ist Sache des Blutes« (zit. n. ebd.: 4). Seit Mitte des 19. Jahrhunderts lieferten Rassentheorien eine vermeintlich wissenschaftliche Basis für die Ursprungs- und Reinheitsideologien. Arthur de Gobineau konstruiert mit seiner »Abhandlung über die Ungleichheit der menschlichen Rassen« (vgl. Poliakov 1993: 244 ff.) die Idee von ›Rassenhierarchien‹, die sich die Germanophilen nutzbar machten. Die Geschichte sei eine Geschichte von ›Rassen‹Kämpfen, nicht von Klassenkämpfen. Beeinflusst vom Darwinismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurde der ›Rassenkampf‹ als Auslese verstanden. Exemplarisch ist eine Aussage des um 1900 populären Julius Langbehn: »Das Leben ist eine Notwehr; das eigene Blut will sich durchsetzen gegen das fremde; so will und wird auch das arische Blut sich durchsetzen gegen jedes andere« (zit. n. Puschner 2006: 5). ›Rasse‹, Religion, Blut und Boden verbinden sich mit dem Reinheits- und Ursprungsmythos. Die völkischen Autor_innen entwickeln klare Hierarchien. Ganz oben stehen die weißen Deutschen. Sie offerieren eine naheliegende Therapie: Zurück zu den Germanen durch die Reinigung des Volkskörpers von artfremden Menschen und Reinigung der Volksseele von artfremder Religion und Kultur. Problematisch an dieser Argumentation war die nur schwer zu leugnende Tatsache, dass das Christentum auch jüdische Wurzeln hat. Die Ablehnung des Jüdischen hätte also – der Logik von Ursprungsmythologien folgend – auch die Ablehnung des Christentums einschließen müssen. Dazu waren die meisten völkisch Orientierten aber nicht bereit: »Die Rasse ist nebst meiner Religion das Höchste und Heiligste, was ich besitze. Ja, meine Religion besitze ich nur durch meine Rasse«, schreibt

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Artur Dinter in seinem Longseller »Die Sünde wider das Blut« (zit. n. Hoffmann 1990: 78 f.). Diese Konstellation machte es notwendig, einen »deutschen Glauben« zu kreieren. Der erste Schritt vollzog sich entlang der Konfessionsgrenzen: »Los von Rom« (vgl. Puschner 2001: 207 ff.) war eine Losung, die im protestantischen Kontext problemlos wirksam werden konnte. Die vollständige Germanisierung und ›Arisierung‹ des Christentums machte hingegen mehr Probleme. Die Lösung wurde bereits Anfang des 19. Jahrhunderts vorgedacht. Fichte stellte die Herkunft von Jesus in Frage. Er spekulierte, ob Jesus vielleicht doch nicht-jüdischer Abstammung gewesen sei (vgl. Poliakov 1993: 122 f.). Diesen Spekulationen folgend konstatierten völkische Gläubige, dass Jesus »nicht Jude [war] – weder an Leib noch an Geist« (zit. n. Puschner 2001: 217). Die Germanisierung und ›Arisierung‹ des Christentums setzte voraus, dass die jüdischen Wurzeln des Christentums geleugnet oder umgedeutet wurden. An der Bibel wurde nur das akzeptiert, »was sich mit dem arischen und germanischen Wesen einigermaßen verträgt« (Puschner 2006: 216 f.). Die so entstandene Distanz zum jüdischen Jesus verband sich mit dem christlichen Antijudaismus und unterfütterte schließlich den völkischen Antisemitismus. Unter dem Schlagwort ›Die deutschen Christen‹ oder ›deutschgläubige Christen‹ blieb dieses völkische Christentum auch nach dem Ersten Weltkrieg lebendig. Gleichzeitig formierten sich radikalere Kräfte, die sich vom Christentum lossagten: »Die Wirkung des Christentums auf die germanische Welt war [...] furchtbar. Weltanschauung und Lebensweise dieser kraftstrotzenden Naturvölker fand es seinen Anforderungen völlig entgegengesetzt; um sie zu unterwerfen, mußte es sie zahm und krank machen. [...] Die Grundlagen des germanischen Lebens wurden durch die Kirche zersetzt.« (Wachler zit. n. Puschner 2001: 226)

Auf der Folie der Rassenkonstruktionen, des Antisemitismus und der Konstruktion eines germanischen Urvolks mit einem entsprechenden Glauben brachen völkische Gruppierungen mit dem Christentum und wandten sich einem vermeintlich germanischen (Götter-)Glauben zu.

ARIOSOPH _ INNEN Die Wende hin zum vermeintlich Germanischen schlug sich auch in der Gründung verschiedener Organisationen nieder. In Deutschland und Österreich entstanden »Der Bund der Germanen«, die »Guido-von-List-Gesellschaft« und andere Vereinigungen mit jeweils eigenen Publikationsorganen. Die ›Ariosophie‹ des Österrei-

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chers Guido von List (1848-1919) wirkt bis heute hinein in die heidnisch-esoterische Szene: Runenmagie und Runenorakel sind ohne ihn nicht denkbar. List war fanatischer Antisemit. Er kreierte ein okkultes Runensystem, das spirituell Bedürftige mit ›arteigenen‹ Weisheiten ausstattete, und phantasierte vom heiligen Gral, von Mythen, Helden und Elfen. Er veranstaltete zur Musik des Antisemiten Richard Wagner ›germanische‹ Rituale. Da die Edda, das Nibelungenlied und Tacitus keine hinreichend authentischen Auskünfte über das Germanische gaben, half sich List mit der von ihm erfundenen Methode des intuitiven ›Erberinnerns‹. List ›schaute‹ in die germanische Urzeit, ›erinnerte‹ germanische Rituale und uraltes Priesterwissen. Lists ergiebige ›Methode‹ hilft auch heutigen spirituellen German_innen bei ihren Konstruktionen. Der Glaube an Reinkarnation und die ›Erinnerung‹ an frühere Leben als germanische Goden, also Schamanen, oder weise Frauen erlaubt ›authentische‹ Einblicke in ein germanisches Leben ›unsrer Ahnen‹. Auf der Basis dieses Obskurantismus unterscheiden Eingeweihte das ›Arteigene‹ vom ›Artfremden‹. List propagierte ›Rassereinheit‹ und sah in der ›Rassenvermischung‹ insbesondere mit Jüd_innen eine Erbsünde. Von ihr könne sich der ›Ario-Germane‹ befreien, allerdings nicht durch Buße und stille Einkehr, sondern durch aktive Selektion: »Ja, noch einmal sollen die Funken aus den ario-germanisch-deutsch-österreichischen Schlachtschiffen stieben, noch einmal sollen Donars Schlachtblitze zischelnd züngeln« (Gugenberger 2001: 65). List mythologisierte das industrielle Abschlachten der modernen Kriegsführung als heldischen ›Rassekampf‹ und prognostizierte: »Es wird der Tag kommen, an dem die gesamte Mischlingsbrut vom Antlitz der Erde hinweggefegt werden muß« (ebd.). Der List-Schüler Lanz von Liebenfels trat als völkischer Gnostiker, Gralshüter und Apokalyptiker auf und gründete einen an den Templern orientierten Orden. Seine Zeitschrift »Ostara« war in Wien an Kiosken zu haben. Die Auflage betrug im Jahre 1907 etwa 100.000 (vgl. Goodwick-Clarke 1997: 102). Sein Ziel war, dass die ›blonde arische Rasse‹ die ›dunklen Rassen‹ in einem letzten Kampf auslöscht. Die Vermischung der blonden mit anderen Rassen stelle einen Sündenfall dar, der zu korrigieren sei. Die Maßnahmen für eine ›Gesundung‹ sind ungewöhnlich konkret: Verhütungsmittel für Rassenunreine, Sterilisation, Sklaverei, Deportation, Verwendung als Kanonenfutter, Liquidation (vgl. Goodrick-Clarke 1997: 88). »Durch die Zertretung und Ausrottung des [...] Untermenschentums steht die höhere, heldische Rasse aus dem Grabe der Rassenmischung und Rassenentartung auf und steigt auf zum Gottmenschentum, zur Unsterblichkeit und Göttlichkeit in Keim und Rasse.« (Liebenfels zit. n. Daim 1994: 210)

Der Österreicher Lanz soll Einfluss auf den jungen Hitler gehabt haben (vgl. Daim 1994). Hitler habe die von Lanz publizierte Zeitschrift »Ostara« gesammelt und studiert. Nachweisbar ist, dass Hitler zwischen 1907 und 1911 in Wien lebte und dass

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dort auch ariosophische Gruppierungen sowie andere antisemitische Bewegungen aktiv waren. Lanz hatte ebenfalls Einfluss auf die spätere Gründung der sogenannten »Thule-Gesellschaft« nach dem ersten Weltkrieg 1918 in München durch Rudolf Sebottendorff. Zur Zeit der Münchener Räterepublik entwickelte sich aus der antisemitischen und deutschtümelnden »Thule-Gesellschaft« eine politische Kraft (vgl. Maegerle / Heller 1999). Personelle und inhaltliche Berührungspunkte zwischen der okkultistischen Thule-Gesellschaft und der antisemitischen Deutschen Arbeiterpartei, DAP, bestanden ebenfalls (vgl. Goodrick-Clarke 1997: 132 f.). Aus der DAP ging 1920 die NSDAP hervor. Die nationalsozialistische Bewegung vor 1933 war ebenso heterogen wie die völkische. Nach 1933 hatte das nationalsozialistische Regime bezüglich der völkischen Bewegungen eine Art Doppelstrategie: Konkurrierende Deutungsmuster wurden im rechten Feld des politischen Spektrums ausgeschaltet. Nach 1933 wurden die Ariosophen, die Theosophen, die Anthroposophen, diverse Germanenorden und Kultvereine verboten oder in ihrer Tätigkeit eingeschränkt. Das heißt: Völkische Gruppen und Vereine wurden verboten. Gleichzeitig aber wurden zentrale Inhalte integriert.

ARIOSOPH _ INNEN

UND

G ERMANENTÜMELEI

NACH

1945

Nach dem Krieg präsentierten sich völkische Gruppierungen als Verfolgte des Naziregimes. Sie trafen sich in den 1950er und 1960er Jahren, fanden aber wenig Resonanz. Sie nannten sich »Germanische Glaubens Gemeinschaft«, »Goden-Orden«, »Artgemeinschaft« oder »Nordische Glaubensgemeinschaft« und verstanden sich als pantheistisch und naturreligiös. Später kamen andere Gruppierungen hinzu, wie die »Deutschgläubige Gemeinschaft« (vgl. Schnurbein 1993; Hundseder 1998). Im »Armanen-Orden« setzte sich die Ariosophie des Guido von List fort: Er »[...] verkörpert die wahre Erkenntnis der göttlichen Weltordnung auf der Grundlage des germanischen und keltischen Weistums, dessen Religions- und Kultform die einheimischen Götter bilden« (zit. n. Schnurbein 1993: 13). Die Idee der ›Rassenreinheit‹ wird beibehalten, aber ›reinkarnationspathologisch‹ umgedeutet: Würde die ›reine‹ Seele in einem ›gemischtrassigen‹ Körper wiedergeboren, sei sie verwirrt und unglücklich. Deshalb sei artgemäßes Kinderzeugen notwendig. Die Mitgliedschaft im »Armanen-Orden« setzte einen Arier-Nachweis voraus. Runenorakel, Runenlieder etc. spielten in den Ritualen dieser ariosophischen Gruppe eine große Bedeutung (vgl. Schnurbein 1993: 12 ff.). Der Armanen-Orden existiert bis heute fort (vgl. Thüringer Allgemeine Zeitung vom 04.12.2014), tritt aber weder mit Publikationen noch Internetauftritten in Erscheinung.

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In den 1980er und 1990er Jahren bekommen die neuheidnischen Gruppen Zulauf. Einige Gruppierungen wie die »Artgemeinschaft: Germanische Glaubens-Gemeinschaft« sind eng verknüpft mit der rechtsradikalen Szene und auch nach dem Tod ihres Chefs Jürgen Rieger weiterhin aktiv. Im »Artbekenntnis« finden sich die aus den völkischen Bewegungen bekannten ideologischen Versatzstücke: Die Reinheit ›unserer Art‹ und ›unserer Kultur‹ erscheint als Ziel und Zweck dieser Vereinigung. Die religiöse Ausrichtung ist eine pantheistische. Die germanischen Götter symbolisieren lediglich Naturkräfte, werden jedoch nicht als personale Gottheiten verehrt. Rieger empfiehlt, als Kernzellen der neuen Gesellschaft Gemeinschaften zu gründen. Aktuelle Vertreter_innen der »Artgemeinschaft« verweisen auf die Kontinuität mit der Lebensweise ›unserer‹ Vorfahren. Neben »Gemeinschaftstagen« wird auch Unterstützung bei der Kinder- und Jugenderziehung angeboten sowie »Hilfestellungen« bei »Wiegenfesten«, »Jugendfeiern«, »Eheweihen« und »Totenfeiern«. Beobachter_innen der Szene schildern, wie Menschen aus dem Umfeld der »Artgemeinschaft« und rechtsradikaler Szenen vernetzte Gemeinschaften aufbauen und sich dadurch – auch in ihrem Auftreten und in ihrem Aussehen – kaum von alternativ-ökologischen Gemeinschaften unterscheiden. In diesen ›artgemäßen‹ Ökogemeinschaften, so die Konstruktion, lebt ›der germanische Mensch‹ mit seinen ›artspezifischen‹, ›heidnischen‹ Eigenschaften in seiner sinnenfreudigen Naturverbundenheit. Das vermeintlich Germanische wird unterschieden vom sexualitäts- und naturfeindlichen Christentum. Zusammengefasst können als Kennzeichen dieser Gruppierungen genannt werden: Völkische Ursprungsmythen, die Biologisierung des Sozialen, eine Reinheitsideologie sowie ein impliziter Antisemitismus und Rassismus.

M ODERNISIERTE G ERMAN _ INNEN

UND

H EID _ INNEN

Während der »Armanen-Orden« die ›spirituell-völkische‹ Rassenideologie Guido von Lists fortsetzt, pflegt die »Artgemeinschaft« eher eine biologistische Rassenideologie und ist mit der organisierten rechtsradikalen Szene verbunden. Dagegen distanzieren sich andere neuheidnische Gruppen sehr deutlich vom Rechtsextremismus und Nationalsozialismus, wenden sich auch – zumindest vordergründig – gegen Antisemitismus und Rassismus, knüpfen aber in verschiedenen Aspekten am völkischen Denken an. So schreibt Neményi: »Neugermanische oder ariosophische Erkenntnisse sind in diesem Buche daher nicht zu finden, auch keinen [sic!] Rassismus, den es bei den Germanen überhaupt nicht gab« (Neményi 1993: 12). Neményi und seine »Germanische Glaubens-Gemeinschaft« verehren ›germanische Götter‹. Auf der Homepage des Vereins werden feierliche Rituale beschrieben. Fehlende Informationen über germanische Vorfahren werden durch Rückblicke in

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frühere germanische Leben kompensiert. Besonders Begabte – solche mit nicht »verkümmerter Zirbeldrüse«2 – vermögen Gött_innen und Geister zu kontaktieren, verfügen der germanischen Ideologie zufolge über authentische Informationen. In weitgehender Übereinstimmung mit den völkischen Gruppierungen des Deutschen Kaiserreichs wird ein Heidentum gepflegt, das sich geografisch und ethnisch gebunden glaubt. Migrant_innen muss diese germanische Religion fremd bleiben. Fehl am Platz sind aber auch Menschen, die mit einer anderen Religion einwandern. Die Konstruktion vom ›Eigenen‹ und ›Anderen‹ funktioniert auch in dieser Form.3 Die Denkmuster und Deutungsschemata unterscheiden sich nur unwesentlich von rassebiologischen. Die Gesellschaft und ein entfremdetes Naturverhältnis erscheinen als therapierbar durch eine Rückkehr zum ursprünglich ›Eigenen‹. Die Forderung »Odin statt Jesus« fasst diese Orientierung zusammen. Die meisten heidnischen Gruppierungen geben sich inzwischen ›ethnopluralistisch‹. Sie verzichten ausdrücklich auf Dominanzansprüche außerhalb des ›eigenen Kulturraums‹, wollen diesen aber ›rein‹ halten.4 Vor allem vermeintlich indianische Naturreligionen und der Schamanismus koexistieren friedlich mit vermeintlich germanischen Religionen und Ritualen. Die Ablehnung des Christentums und des Judentums als artfremde Religionen bleibt allerdings im eigenen naturreligiösen Selbstverständnis präsent und verbindet diese Gruppen mit der rechtsextremen Szene. Auch werden häufig ähnliche Symbole verwandt. Bei den Auftritten von Reenactment-Gruppen tauchen hakenkreuzähnliche Abbildungen oder die ebenfalls verbotenen Wolfsangeln auf. Bei Auftritten der von verschiedenen Fernsehanstalten und Museen gebuchten Reenactment-Truppe »Ulfhednar« zeigt einer der Germanendarsteller den auf seinen Bauch tätowierten Schriftzug »Meine Ehre heißt Treue«. Dieser Wahlspruch der SS ist strafrechtlich relevant. In den letzten Jahren finden germanische Heiden ein neues ›arteigenes‹ und zudem kämpferisches Betätigungsfeld. Verkleidet als German_innen und Wikin2

Rückgriffe auf Zirbeldrüse, Reinkarnationsglauben, Hellsichtigkeit, Astrologie etc. mögen lächerlich erscheinen, sind aber fester Bestandteil der zeitgenössischen Esoterik und damit durchaus anschlussfähig für den dort üblichen Glauben an Wiedergeburt, Hellsichtigkeit, Engel etc. Ebenso verhält es sich mit feierlichen Gemeinschaftsritualen, Sonnenwendfeiern und allerlei Tänzen und Gesängen, vgl. etwa die »Gemeinschaftsbewegung« auf http://www.gemeinschaften.de/ (Stand 03.01.2015).

3

Die folgenden Passagen beruhen auf Interviews und Recherchen, die ich seit 2001 für verschiedene Rundfunkfeatures gemacht habe, die beim Deutschlandradio, beim SWR, HR und WDR gesendet wurden. Interviewt habe ich neben Fachwissenschaftler_innen auch Neuheid_innen, Reenacter und Aktive bei Mittelaltermärkten sowie Menschen, die sich im Rahmen der Gründung von germanischen Museumsdörfern engagieren.

4

So etwa das »Heidnische Jahrbuch«, das seit 2006 erscheint, sowie die Zeitschrift »Der Runenstein«.

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ger_innen präsentieren sie sich auf Mittelaltermärkten. Während die Frauen ›weibliche‹ Tätigkeiten nachstellen, dreschen die Männer in inszenierten Schlachten mit Gebrüll aufeinander los. Ihre Verkleidung, so versichern sie den Besucher_innen, sei germanischen Ausrüstungen detailgetreu nachgebildet. Auch Museen, Filmteams und andere buchen diese germanischen Kampftruppen. Das ›germanisch‹ konstruierte Geschlechterverhältnis ist bei den Reenactern traditionell: Die ›Mädels‹ treffen sich zum Sticken, die Männer trainieren Schwertkampf. Die Kinder ordnen sich geschlechtergetrennt und germanisch verkleidet zu. So verbringen ›deutsche Sippen‹ große Teile ihrer Freizeit als German_innen und Wikinger_innen. Die Lust- und Sexualitätsfeindlichkeit – so ein in neuheidnischen Kreisen unvermeidliches Stereotyp – sei mit dem Christentum in die nordischen Länder gekommen: Die German_innen dagegen seien sinnenfroh gewesen. Ob sich nun diese germanophilen Freizeitaktivitäten als Befriedigung eines Gegenweltbedarfs verstehen lassen, der auf die »Krisen der Moderne« reagiert (vgl. Schnurrbein / Ulbricht 2001), sei dahingestellt. Offensichtlich ist: Diese Menschen konstruieren sich mittels Ursprungs- und Herkunftsmythen als ›stolze German_innen‹. Sie leben ihre dominanzkulturellen Fantasien und folgen bewusst oder unbewusst antisemitischen und rassistischen Deutungsmustern. In Verbindung mit germanischen Kampftruppen existieren Initiativen, die germanische Siedlungen zu rekonstruieren versuchen, etwa »Gervina« in Thüringen oder »Gannahall« in Brandenburg. In Schleswig-Holstein wurde die Gründungsinitiative »Midgard« zum Scheitern gebracht, unter anderem, weil eine solche Siedlung möglicherweise für die Anhänger_innen der rechten Szene interessant geworden wäre und Anknüpfungspunkte geboten hätte.5 Die vom Semnonenbund e.V. betriebene Initiative zur Rekonstruktion des Germanendorfs »Gannahall« verweist in einer älteren Fassung ihrer ›Heimseite‹ selbst auf die Mitgliedschaft einiger Aktiver in der »Germanischen Glaubens-Gemeinschaft«. Als persönliche Motivation für ihre Aktivitäten geben die Gründungsmitglieder des Semnonenbundes an, es gehe ihnen darum, »mit emotionaler Verbundenheit und Verständnis die Religion unserer Vorfahren zu ergründen«.6 Auch die derzeitigen Mitglieder bekunden Inte5

Die »Midgard-Initiative« in Haseldorf kam nach Widerstand des örtlichen Landtagsabgeordneten Thomas Höck nicht zustande. Im Vorfeld wurde die Attraktivität eines solchen Dorfes für Rechtsradikale diskutiert. Ein Gründungsmitglied war gleichzeitig Mitglied der rechtskonservativen Deutschen Partei. Das Thüringer Projekt »Gervina« existiert noch und tritt mit diversen Veranstaltungen zu ›experimenteller Archäologie‹ in Erscheinung. Ein Vermerk auf der Hauptseite der Homepage verweist auf deren Identitätsund Ursprungskonstruktionen: »Zu Ehren unserer frühmittelalterlichen Ahnen«, http:// www.gervina-ev.de (Stand: 02.01.2015).

6

Vgl. http://alt.semnonenbund.de/ (Stand: 29.12.2014).

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resse an »Runenarbeit« und germanischen Gottheiten, verstehen sich als »spirituelle Krieger« und wollen, derart persönlich motiviert, im rekonstruierten Germanendorf pädagogische Jugend- und Kinderarbeit machen. Das Germanendorf wird von lokalen Politiker_innen und Gewerbetreibenden begrüßt, da »Gannahall« den Tourismus fördern könne. Der Semnonenbund plant, sein Germanendorf nahe Bärhorst zu errichten. In Bärhorst hatte die SS bereits 1935 Ausgrabungen vornehmen lassen. Das heutige Projekt distanziert sich jedoch ausdrücklich vom Rechtsradikalismus und betont, keine Religionsgemeinschaft zu sein. Dass einzelne Rechtsradikale mit einem Verkaufsstand oder als Mitglieder auftretender Bands an den Festivitäten des Semnonenbundes teilgenommen hätten, würden die Initiator_innen in Zukunft verhindern. Von der stellvertretenden Bürgermeisterin der Stadt Nauen erhielt der Semnonenbund ein Referenzschreiben, das das Projekt ausdrücklich unterstützt: »Der Semnonenbund fördert das traditionelle Brauchtum sowie die germanische Mythologie und Kultur. Es beabsichtigt, mit dem Projekt ›GANNAHALL‹ die bislang bedeutendste geschlossene Siedlung, das Germanendorf von Nauen/Bärhorst, wieder aufleben zu lassen.«7

F AZIT Zwischen der Periode des Deutschen Kaiserreichs und heute bleiben völkische Denkmuster und Deutungsschemata in zentralen Elementen erhalten: Es werden aus der Position beanspruchter Überlegenheit Ursprungs- und Zugehörigkeitsmythen gepflegt. Die Dichotomisierung von ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹/›Anderem‹ ist konstitutiv. Das vermeintlich Eigene wird an biologische Herkunft und/oder Region gebunden. Die Dichotomie wird rassifiziert und/oder kulturalisiert. In jedem Fall gilt die/der konstruierte ›Andere‹ als nicht zugehörig. Rassifizierte und kulturalistische Reinheitsideologien konkretisieren diese Deutungsschemata. Den ›Anderen‹ wird allenfalls ein Gaststatus eingeräumt. Die demonstrative Distanz gegenüber dem Nationalsozialismus und zumeist auch gegenüber dem heutigen Rechtsradikalismus verhindert zwar offenen Rassismus und Antisemitismus, doch erhalten sich im Rahmen der Ursprungsmythen rassistische und antisemitische Denkschemata.

7

Vollständiges Referenzschreiben siehe Homepage des Semnonenbundes (a.a.O.).

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L ITERATUR Arens, Peter (2008): Kampf um Germanien. Die Schlacht im Teutoburger Wald. Frankfurt/Main. Cantzen, Rolf (2001): Es raunen die Runen. Neuheidnische und naturreligiöse Orientierung der Rechten. Feature vom 13.12.2001. Manuskript zur Sendung unter URL: http://de.indymedia.org/2003/07/58095.shtml?print=on (Stand: 23.01.2015). Cantzen, Rolf (2009): Vom Himmel der frühen Menschheit. Methoden und Erkenntnisse der Archäoastronomie. Feature des Deutschlandradio vom 17.12.2009. Manuskript zur Sendung unter URL: http://www.deutschlandradiokultur.de/ manuskript-vom-himmel-der-fruhen-menschheit-pdf.media.84e71a751bdf5b1830 fca0b608d75364.pdf (Stand: 23.01.2015). Daim, Wilfried (1994): Der Mann, der Hitler die Ideen gab. Jörg Lanz von Liebenfels. Wiesbaden. Goodrick-Clarke, Nicholas (1997): Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus. Stuttgart. Gugenberger, Eduard (2001): Hitlers Visionäre. Die okkulten Wegbereiter des Dritten Reiches. Wien. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1976): Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke Bd. 12. Frankfurt/Main. Hoffmann, Lutz (1990): Die unvollendete Republik. Zwischen Einwanderungsland und deutschem Nationalstaat. Köln. Hundseder, Franziska (1998): Wotans Jünger. Neuheidnische Gruppen zwischen Esoterik und Rechtsextremismus. München. Koneckis, Ralf (1996): Mythen und Märchen. Was uns die Sterne darüber verraten. Stuttgart. Mosse, George L. (1979): Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Die völkischen Ursprünge des Nationalsozialismus. Königstein/Taunus. Neményi, Géza von (1993): Heidnische Naturreligion. Altüberlieferte Glaubensvorstellungen, Riten und Gebräuche. Bergen/Dumme. Maegerle, Paul / Heller, Anton (1999): Thule. Vom völkischen Okkultismus zur Neuen Rechten. Stuttgart. Maegerle, Paul / Heller, Anton (2001): Die Sprache des Hasses. Rechtsextremismus und Völkische Esoterik. Stuttgart. Poliakov, Léon (1993): Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus. Hamburg. Puschner, Uwe (2001): Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache. Rasse. Religion. Darmstadt. Puschner, Uwe (2006): Weltanschauung und Religion – Religion und Weltanschauung. Ideologie und Formen völkischer Religion. In: Zeitenblicke 5, Nr.1, URL: http://www.zeitenblicke.de/2006/1/Puschner (Stand: 24.01.2015).

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Puschner, Uwe / Großmann, G. Ulrich (Hg.) (2009): Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert. Darmstadt. Rieger, Jürgen (o.J.): Bekenntnis unserer Art. O.O. Schlegel, Friedrich (1837): Vorlesungen aus den Jahren 1804 bis 1806. Band 2. Bonn. Schnurbein, Stefanie von (1997): Göttertrost in Wendezeiten. Neugermanisches Heidentum zwischen New Age und Rechtsradikalismus. München. Schnurbein, Stefanie von (2009): Kontinuität durch Dichtung – Moderne Fantasyromane als Mediatoren völkisch-religiöser Denkmuster. In: Puschner, Uwe / Großmann, G. Ulrich (Hg.) (2009): Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert. Darmstadt, S. 245-265. Schnurbein, Stefanie von / Ulbricht, Justus H. (Hg.) (2001): Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe »arteigener« Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende. Würzburg. Tacitus, Publius Cornelius (2000): Agricola. Germania. Dialogus de oratoribus. Wiesbaden. Warneck, Igor (1999): Runengeflüster. Das verborgene Wissen des Runenorakels. Engerda. Wiwjorra, Ingo (2006): Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts. Darmstadt.

Erinnerungskulturen

Geteilte Erinnerungen Global- und beziehungsgeschichtliche Perspektiven auf Erinnerungspolitik Iman Attia

Große Erzählungen, Hauptwidersprüche und lineare Geschichtsschreibungen verlieren vielfach an Erklärungs- und Überzeugungskraft. Theorien zu Imperialismus, Nationalismus, Kapitalismus oder Patriarchat können zwar dazu beitragen, politische Systeme, kulturelle Repräsentationen und soziale Beziehungen zu verstehen. Für sich genommen sind sie jedoch jeweils unterkomplex und neigen dazu, alte ›Ismen‹ durch neue zu ersetzen. Dagegen werden Rasse,1 Klasse und Geschlecht – teils ergänzt durch Körper, Sexualität, Nation – zunehmend als gesellschaftliche Verhältnisse theoretisiert, die sich aufeinander beziehen, miteinander verschränken, wechselseitig bedingen etc.2 Wer über Geschlecht oder Sexualität spricht, ohne weiter zu differenzieren, handelt sich leicht den Vorwurf ein, Ableismus, Klassismus oder Rassismus zu reproduzieren; wer Ethnizität oder Religion thematisiert und dabei Geschlecht, Klasse oder Körper vernachlässigt, erkennt wichtige Dimensionen von Ethnizität und Religion nicht. Das Verhältnis und die Wechselwirkungen verschiedener Kategorien und gesellschaftlicher Machtverhältnisse werden also im Zusammenhang von Rasse-Klasse-Geschlecht zunehmend mitgedacht. Dagegen finden erst vereinzelt Differenzie-

1

Die Begriffe ›Rasse‹, ›Klasse‹, ›Geschlecht‹ und andere gesellschaftliche Konstruktionen beziehen sich nicht auf natürliche Gruppen. Ihre historische Hervorbringung hat freilich reale Effekte. Sie können z.B. dazu führen, sich als Gruppe (temporär und punktuell) zu konstituieren oder vergleichbare Erfahrungen zu machen. Insofern wird Rasse – ähnlich wie Geschlecht oder Klasse – im Folgenden nicht in Anführungszeichen gesetzt.

2

Hierzu haben die Arbeiten von Birgit Rommelspacher im deutschsprachigen Raum nachhaltige Impulse gegeben, vgl. 1995, 2002.

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rungen innerhalb der als Kategorien gesetzten Verhältnisse in einer Weise statt, die diese in ihrer Verwobenheit diskutieren. Rasse, Ethnizität, Kultur, Religion und Nation und ihre jeweiligen Konkretisierungen in Raum und Zeit können aber auf verschiedene gesellschaftliche Verhältnisse verweisen, die in ihren Wechselwirkungen und Bezügen zu untersuchen wären. Unter Berücksichtigung der Einzigartigkeit und Zentralität des Genozids an Jüd_innen im Nationalsozialismus sind in den letzten Jahren einige Studien erschienen, die an weitere Genozide, Diktaturen und Unrechtssysteme erinnern. Sie versuchen zum einen, den Holocaust als weltweit relevantes, historisches Ereignis – als große Erzählung also – zu etablieren und zugleich Stalinismus, Kolonialismus, Bürgerkriege usw. dazu ins Verhältnis zu setzen. Zum anderen reflektieren sie in den jeweils konkreten Situationen die plurale Zusammensetzung der Nation, des Stadtteils oder der Schulklasse und damit die unterschiedlichen Bezüge und Narrative, die gleichzeitig co-präsent sind, eingefordert werden und relevant sind. Es stellen sich nun die Fragen, ob und in welcher Weise die Interrelation der Erfahrungen und Erinnerungen, der Bedeutungen und Positionierungen entlang von Rasse, Ethnizität, Kultur, Religion und Nation berücksichtigt werden; ob bzw. wie es gelingen kann, große Erzählungen und Hauptwidersprüche, Linearität und Eindimensionalität in diesen Kontexten zu überwinden. Diesen Fragen wird im Folgenden mit Fokus auf Nationalsozialismus, Kolonialismus und Nahostkonflikt nachgegangen. An ihnen spitzen sich in bundesdeutschen Debatten die Positionen zu. Hier lassen sich deshalb die Potentiale und Herausforderungen herausarbeiten. Konkret wird auf jene Ansätze Bezug genommen, die diskutieren, in welcher Weise die Erinnerung an den Holocaust und die an den Kolonialismus miteinander in Beziehung gesetzt und jene Adressat_innen historisch-politischer Bildung angesprochen werden können, die aufgrund ihrer Familiengeschichte und CommunityBezüge differenzierte Perspektiven auf den Postnazismus einfordern.

N ATIONAL - VERSUS G LOBALGESCHICHTE Geschichtsunterricht in Europa ist seit seiner Einführung ein Mittel der Nationsbildung (vgl. von Borries 2000). Geschichtsbewusstsein soll die Idee stärken, dass sich die Nation ›natürlich‹ entwickelt habe und aus ihrer historischen Entwicklung ihre gegenwärtige Legitimation beziehe. Die Historisierung von (europäischer) Nation suggeriert Kontinuität und Geschlossenheit. Ihre Präsentation als fortschreitende Entwicklung wird auf eigene Erfolge und interne Bedingungen bezogen, während innere Widersprüche und Brüche, abweichende Sichtweisen und relationale Dimensionen ausgelassen werden (vgl. Quintero 2013). Im Prozess der Historisierung der europäischen Nation und ihrer Konstruktion als ›Moderne‹ wurden Theorieansätze

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und Begrifflichkeiten entwickelt, die als Norm und Maßstab für die Analyse und Erzählung anderer Gesellschaften angelegt werden (vgl. Chakrabarty 2000). Der Eurozentrismus in der Geschichtsschreibung blendet die globale Verwobenheit von Geschichte(n) und transnationale Perspektiven aus. Diese aber sind eine notwendige Voraussetzung, um die Wirkungen geteilter Erfahrungen als gemeinsame (shared) und spaltende (divided) zugleich analysieren zu können (vgl. Conrad / Randeria 2002). Auch historisch-politische Bildung ist eng an die Konstruktion von Nationen gebunden. Ihr kommt die Aufgabe zu, unter Rückgriff auf die Vergangenheit die Gegenwart zu gestalten und die Zukunft zu entwerfen. Dies geschieht auf unterschiedliche Weise: Nationale Geschichte und historische Entwicklungen können als natürliche und lineare dargestellt werden. Dann wird Geschichte von einem ›inneren Kern‹ aus erzählt, Nation wird essenzialisiert und homogenisiert. Es werden Kontinuitäten betont, während Brüche und Widersprüche vernachlässigt werden. Gegenwart und Zukunft werden in Geschichte eingeordnet, Linearität und Kohärenz hergestellt. Geschichte kann aber auch in einer Weise erzählt und erinnert werden, die sowohl den Konstruktionscharakter von Geschichte als auch die konflikthafte Hervorbringung von Nationen der Reflexion zugänglich macht. Geschichte – auch die einer Nation – wird dann als globale asymmetrische Beziehungsgeschichte erzählt; relationale Dimensionen, marginalisierte und externalisierte Perspektiven, Brüche und Widersprüche in den Narrativen sind dann besonders interessant und bilden den Ausgangspunkt von Erinnerungskultur und Bildungsarbeit. Es stellt sich die Frage, ob und wie sich durch diese Bezüge Narrative ändern und ob sie in der Lage sind, nationalistisches, eurozentrisches Wissen (nachhaltig) zu irritieren.

Z UM V ERHÄLTNIS

VON

E RINNERUNG UND M ACHT

Im kollektiven Gedächtnis werden Erinnern und Vergessen machtförmig hervorgebracht. »Herrschaft braucht Herkunft«, so Jan Assmann (1992: 71). Herrschaft legitimiert sich retrospektiv, indem sie Geschichte kontrolliert und ihr Sinn verleiht. »Gesellschaften imaginieren Selbstbilder und kontinuieren über die Generationenfolge hinweg eine Identität, indem sie eine Kultur der Erinnerung ausbilden« (ebd.: 18). Insofern spricht Jan Assmann in Anlehnung an Maurice Halbwachs von der »sozialen Konstruktion von Vergangenheit« (ebd.: 34). ›Vergangenheit‹ entsteht erst dadurch, dass man sich auf sie bezieht. Woran erinnert und was vergessen wird, was zum Gegenstand des kollektiven Gedächtnisses wird, in welcher Weise dies geschieht, was verhandelbar ist und in welchem Rahmen Pluralisierungen möglich sind, ist eine politische Entscheidung. An den Weggabelungen von Entscheidungen

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zeigen sich Bruchstellen, die zwar in spezifischen Weisen zu Nahtstellen zusammengefügt wurden, aber auch anders hätten artikuliert werden können. Der Rückgriff auf Geschichte und die Fokussierung auf die Brüche trägt dazu bei, kollektive nationale Erinnerung in Dimensionen von Macht und Herrschaft zu begreifen. Diese Bruchstellen werden von Hasko Zimmer, in kritischer Auseinandersetzung mit Jan Assmann, als Folge »machtförmiger Praxen der Inklusion und Exklusion« (Zimmer 2005: 71) beschrieben, als Kämpfe, »deren Resultat dann jenes kollektive Gedächtnis darstellt, das in einer Gesellschaft oder Nation als ›legitim‹ gilt. Es ist daher immer auch ein Ausdruck kultureller Hegemonie« (ebd.: 72). Dass es Kämpfe darum gibt, welche und wessen Erinnerungen Geltungsanspruch haben und ins nationale Gedächtnis eingehen, hängt damit zusammen, dass »eine Vielzahl von Gruppengedächtnissen und Erinnerungsmilieus in einer Gesellschaft« (ebd.: 71) miteinander konkurrieren. Gegenhegemoniale kulturelle Erinnerungen, die häufig negative Bezugspunkte für hegemoniale Erinnerungen darstellen, sind in der Lage, nationale Konstruktionen zu irritieren. Gleichzeitig ist in einigen Kontexten die »Erinnerung an historisches Unrecht inzwischen zu einer geschichtspolitischen Ressource geworden« (ebd.: 74). Die marginale Erinnerung an den Kolonialismus Die offizielle, kollektive, deutsche Erinnerung ist seit 1945 an den Nationalsozialismus gebunden und wird seit 1989 um die Erinnerung an den Stalinismus erweitert. Sie schließt jedoch jene an den Kolonialismus nicht ein. Der Vorwurf der Opferkonkurrenz, aber auch der Verharmlosung des Holocaust wird schnell laut, wenn an andere historisch bedeutsame Ereignisse und insbesondere an andere Rassismen und Genozide erinnert wird, insbesondere im deutschen Kontext. Die Rassialisierung von Gruppen und ihre Kulturalisierung homogenisiert, essenzialisiert und dichotomisiert ›Fremde‹ und ›Eigene‹. Rassismen nahmen und nehmen zu unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedlichen Orten und gegen unterschiedliche Gruppen verschiedene Formen an, ihre Entstehungs- und Wirkungsgeschichten sind verschieden. Die Struktur aber, Gruppen durch ihre Rassifizierung und Kulturalisierung hervorzubringen, weist Parallelen auf, die nicht zu vernachlässigen sind, sollen die jeweiligen Ereignisse in ihrer Vielschichtigkeit berücksichtigt werden (vgl. Rommelspacher 2009). In das hegemoniale kollektive deutsche Gedächtnis findet die Bearbeitung des und die Erinnerung an den deutschen Kolonialismus jedoch immer noch kaum Eingang. Demgegenüber leisten verschiedene Communities und Initiativen wichtige erinnerungspolitische Arbeit. Sie machen vergessene Geschichte(n) sichtbar, indem sie Biographien von People of Color erforschen (vgl. etwa Ayim et al. 1986 oder ElTayeb 2001) oder den kolonialen Spuren in Städten nachgehen, sie ergänzen fehlende Informationen in Museen und deuten auf stereotype oder fehlende Darstel-

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lungen in Schulbüchern hin.3 Sie setzen den verharmlosenden Erzählungen und verschwiegenen Geschichten kontrapunktische Lektüren, politische und zivilgesellschaftliche Aktionen sowie pädagogische Interventionen entgegen. Es geht ihnen darum, die Beteiligung des Imperialen Deutschland an der Aufteilung und Nationalisierung der Welt sowie an die kolonialen Verbrechen zu erinnern, Folgen der fehlenden Aufarbeitung aufzuzeigen und konkrete politische Konsequenzen zu ziehen. Auch einige Geschichtswissenschaftler_innen plädieren für die Überwindung nationalgeschichtlicher Perspektiven (vgl. einführend Conrad / Eckert 2007). Insbesondere global- und beziehungsgeschichtliche Orientierungen verabschieden sich davon, »nach global gültigen Antworten [...] mit einer vorgeblich allgemeingültigen und kulturneutralen Terminologie« (Osterhammel 2001: 9) zu suchen. Vielmehr gelte es, die historische Selbstbezogenheit und den eurozentrischen Blick zu überwinden und gleichzeitig die transnationalen Verflechtungen insbesondere im Kontext europäischer Expansion zu fokussieren. Unter dem Begriff der »geteilte[n] Geschichte und verwobene[n] Moderne« (Randeria 1999) wird ein Programm formuliert, das gemeinsame Geschichte als asymmetrische reflektiert und gleichzeitig differente Entwicklungen und Bedeutungen zur Kenntnis nimmt. Obwohl diese Zugänge in den Geschichts- und anderen Wissenschaften punktuell wahrgenommen werden, sind sie dort ebenso wenig verbreitet wie in der historisch-politischen Bildung; in geschichtsdidaktische und erinnerungspolitische Diskurse haben sie noch weniger Eingang gefunden. Dort dominieren weiterhin nationalpädagogische Ansätze, die den Holocaust berücksichtigen, ihn gegenwärtig in seiner globalen Relevanz als große Erzählung zu transnationalisieren versuchen und im Begriff sind, die Übernahme einer eindimensionalen postnazistischen Perspektive als Bedingung zur Gewährung von Bürgerrechten zu etablieren. Der Holocaust als große Erzählung Die kollektive Erinnerung an den Holocaust, die heute zum nationalen Gedächtnis Deutschlands gehört, etablierte sich nicht aus freien Stücken. Aleida Assmann, auf die zusammen mit Jan Assmann zum Thema kollektives Gedächtnis zentral Bezug genommen wird, hebt hervor, dass negative Bezüge auf eine gemeinsame Vergangenheit eher die Ausnahme bilden und erst in jüngerer Zeit in das kollektive nationale Gedächtnis integriert werden. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus weist auf Schwierigkeiten der gesellschaftlichen Neuordnung in Deutschland nach 1945 hin, weil die Konstruktion einer Nation sich üblicherweise um eine Gründungsnarration rankt, die positiv besetzt ist. Um aber »in den Kreis der zivilisierten Nationen« (Assmann 2013: 9) reintegriert zu werden, war es notwendig, 3

Vgl. etwa http://www.vergessene-biografien.de/, http://www.homestory-deutschland.de/, http://www.kolonialismusimkasten.de, Berlin/Freiburg/Bremen/Leipzig etc. postkolonial.

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sich öffentlich zur nationalsozialistischen Schuld zu bekennen. Im postnazistischen Deutschland kann nationale ›deutsche‹ Identität nun nicht länger nur als Produkt einer heroischen Erfolgsgeschichte kolportiert werden. Der Holocaust musste als negatives Ereignis in die kollektive Erinnerung eingebunden werden. Aleida Assmann ordnet die Erinnerung an den Holocaust – den sie synonym mit der Shoah setzt – als »Erinnern, um niemals zu vergessen« ein und spricht in diesem Zusammenhang von Erinnerung als einem für die Opfer und die Täter »unverzichtbaren Teil ihres kollektiven Selbstbildes« (Assmann 2013: 191). Dabei nähme der Holocaust »den Charakter einer normativen Vergangenheit« (ebd.) an. Demgegenüber hält sie die Erinnerung an »andere traumatische Vergangenheiten wie Sklaverei, Kolonialismus, Diktaturen und Bürgerkriege« für wichtig, »um zu überwinden« (ebd.) und überführt sie in eine »performative Handlung« (ebd.: 192). Darunter versteht sie eine »sozialtherapeutisch begründete Erinnerungsform, die auf Versöhnung und eine gesellschaftliche und nationale Integration ausgerichtet ist [...] Eine schmerzhafte Wahrheit muss noch einmal ans Licht geholt und öffentlich gemacht werden, das Opfer muss seine Leiden erzählen dürfen und sie müssen mit Empathie angehört und anerkannt werden, damit sie anschließend aus dem sozialen oder politischen Gedächtnis entsorgt [sic!] werden können. [...] Durch politische Rituale der Reue und empathischen Teilhabe der Gesellschaft an der Erinnerung der Opfer soll die Wucht des Traumas verringert und die Last der Schuld abgetragen werden. Anschließend ist dann ein Neubeginn möglich, unter der Bedingung, dass die traumatische Geschichte zur Vergangenheit geworden ist.« (Ebd.: 192 f.)

Während demnach also an den Holocaust erinnert werden müsse, um niemals zu vergessen, müsse an Kolonialismus und Sklaverei erinnert werden, um zu vergessen und damit abzuschließen. Und das, obwohl die Beteiligungen deutscher Machthaber am Versklavungshandel sowie die deutsche Kolonialherrschaft inklusive ihrer Verbrechen und Völkermorde lange Zeit vollständig ignoriert wurden und längst nicht aufgearbeitet sind. Assmanns Vorschlag ist weit davon entfernt, das Ausmaß der Bedeutung von Versklavung und Kolonialismus für die postkoloniale deutsche Gesellschaft zu erkennen. Im Unterschied dazu werden die Bedeutung des Holocaust und die Erinnerung daran in ihrer anhaltenden Relevanz als normative Vergangenheit gesetzt. Dies verhindert die Möglichkeit, nach historischen Verbindungen zu suchen und diese zu diskutieren. Zum erinnerungspolitischen Verhältnis von Holocaust und Kolonialismus Die Sonderstellung, die Aleida Assmann der Erinnerung an den Holocaust für das kollektive Gedächtnis zuweist, bildet den Mainstream in erinnerungspolitischen

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Diskursen auch dann, wenn der Kolonialismus nicht vergessen wird. Michael Rothberg (2009) etwa schlägt vor, die Konkurrenz und das Gegeneinander von Opfernarrativen zu überwinden, indem »multidirectional« erinnert wird. Im Unterschied zu Zugängen, die andere historische Ereignisse und kollektive Gedächtnisse vernachlässigen, sieht er in der Erinnerung an den Holocaust Potentiale für Erinnerungen an andere Geschichten. Als singuläres und herausragendes Ereignis könne der Holocaust und die Erinnerung daran modellhaft genutzt werden, um die Erinnerung an den Kolonialismus zu ermöglichen. Die Verknüpfung historischer Ereignisse könne dazu beitragen, den Holocaust und den Kolonialismus in ihrer jeweiligen Spezifik und in ihren Analogien zu erinnern. Indem Ähnlichkeiten entdeckt würden ohne sie gleichzusetzen, könne – ausgehend vom singulären und herausragenden Ereignis des Holocaust – eine Brücke zu anderen traumatischen Erinnerungen geschlagen werden. Auch Astrid Messerschmidt (2009) verknüpft die Erinnerung an den Nationalsozialismus mit jener an den Kolonialismus. Dabei bleibt die Orientierung am Nationalsozialismus grundlegender Ausgangs- und Bezugspunkt für die Erinnerung an den Kolonialismus. Diese wird im Kontext von Migrationspädagogik und Globalisierung relevant und damit nicht als genuin deutsche Geschichte behandelt. Obwohl Messerschmidt den konstitutiven Beitrag des Kolonialismus für die europäische Moderne benennt und von einer »doppelten Perspektive« (ebd.: 144) spricht, die Kolonialismus und Nationalsozialismus jeweils aufeinander bezieht, bleibt die pädagogische Auseinandersetzung linear. In ihrer Argumentation geht sie davon aus, dass es bereits Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus gäbe, die auf jeweils spezifische, über Generationen entwickelte Umgangsweisen hinweisen würden und von Abwehr gekennzeichnet seien. Die »Abwehrmuster sind spezifisch postnationalsozialistisch und kennzeichnen das gesellschaftliche Verhältnis zur Vergangenheit im Kontext von Täterschaft und ihren Nachwirkungen« (ebd.: 183). Dagegen stecke die Erinnerungsarbeit zum Kolonialismus noch in den Anfängen, setze aber nicht bei Null an, »sondern bildet sich inmitten der Diskontinuitäten des postnationalsozialistischen Gedächtnisses heraus und lässt sich davon nicht einfach abtrennen« (ebd.: 183). Pädagogische Erinnerungsarbeit zum Kolonialismus müsse deswegen an Erinnerungsarbeit zum Nationalsozialismus anknüpfen. Die unterschiedlichen Variationen von Linearität, wie sie hier mit Bezug auf Assmann, Rothberg und Messerschmidt ausgeführt wurden, basieren auf der Annahme, dass ›Erinnerung‹ in Deutschland eine primär weiße-christliche-deutsche Erinnerung und homogen sei. Andere Bezüge zu kollektiven Gedächtnissen kommen darin erst in der dritten Täter_innen-Generation und durch Migration hinzu. Im Unterschied dazu diskutiert Rudolf Leiprecht die marginale Erinnerung an Versklavung und Kolonialisierung bei gleichzeitiger kollektiver Erinnerung an den Nationalsozialismus mit Hilfe des Begriffs der »Deckerinnerung«. Er fragt,

82 | Iman Attia »ob und in welcher Weise im kollektiven Gedächtnis von Gesellschaften offenbar dominierende Erinnerungen an leidvolle Ereignisse dazu dienen, andere konflikthafte oder unangenehme Ereignisse zu verdecken und sie als Nichtthematisiertes verborgen zu halten.« (Leiprecht 2005: 99)

Mit dem Begriff der Deckerinnerung wird es möglich, historisch bedeutsame Ereignisse in ihrer Verwobenheit zu thematisieren, indem ihre Hierarchisierungen zum Gegenstand der Analyse gemacht werden, anstatt diese zu reproduzieren (vgl. Kux 2006, Rahner / Lauré al-Samarai 2014). Die Diversität kultureller Erinnerungen in der historisch-politischen Bildung anzuerkennen, erteilt großen Erzählungen eine Absage. Das zeichnet global- und beziehungsgeschichtliche Zugänge aus, die darauf zielen, »Europa [zu] provinzialisieren« (Chakrabarty 2000: 41). Konzepte dagegen, die Nationalsozialismus und Kolonialismus hierarchisierend ins Verhältnis setzen, beziehen den erinnerungspolitischen Umgang mit historischen Ereignissen methodisch linear aufeinander. Demnach kommt die kollektive Erinnerung an den Holocaust konzeptionell ohne jene an den Kolonialismus aus, nicht aber umgekehrt. Die Faulenbach-Formel der 1990er Jahre lautet: »1. Die Erinnerung an den Stalinismus darf die Erinnerung an den Holocaust nicht relativieren. 2. Die Erinnerung an den Holocaust darf die Erinnerung an den Stalinismus nicht trivialisieren.« (Zit. n. Assmann 2013: 114 – Hervorhebung im Original)

In postkolonialer Perspektive müsste diese Formel ergänzt werden um ein Drittens: Die Erinnerung an Kolonisierung und Versklavung und die Erinnerung an den Holocaust dürfen sich gegenseitig weder relativieren noch trivialisieren. Mit dieser Ergänzung ließe sich zwar an verschiedene historische Ereignisse, die Gesellschaften bis heute maßgeblich strukturieren, erinnern und ihre aktuelle Bedeutung reflektieren. Sie schließt indes die Überwindung linearer Geschichtsbezüge noch nicht mit ein, und sie berücksichtigt nicht notwendig die Verwobenheit von Geschichte. Zum erinnerungspolitischen Verhältnis von Holocaust und Nahostkonflikt Erinnerungspolitik und historisch-politische Bildung haben die Shoah als identitätsstiftendes Moment der postnazistischen kollektiven Identität in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen gestellt. Migrant_innen in Deutschland müssen sich, wie alle anderen auch, damit beschäftigen, weil dies Teil der Geschichte der deutschen Nation ist. Wer Deutsche_r werden will, muss dies mit allen Konsequenzen tun; Anwärter_innen auf die deutsche Staatsbürgerschaft werden auf die Übernahme des kollektiven Gedächtnisses verpflichtet, um der Nation beitreten zu können.

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Pädagog_innen und Forscher_innen, Fördereinrichtungen und Politiker_innen haben sich in den letzten fünfzehn Jahren mit der Frage beschäftigt, wie Jugendliche, die nicht über die gleiche Familiengeschichte und ähnliche nationale Bezüge wie Mehrheitsdeutsche verfügen, zur Auseinandersetzung mit der Shoah angeregt werden können. Es entstanden verschiedene Projekte (vgl. z.B. Georgi / Ohliger 2009) und Studien (etwa Georgi 2003; Gryglewski 2013), die Ansatzpunkte zur historisch-politischen Bildung mit Jugendlichen mit sogenanntem Migrationshintergrund herausarbeiten. Dabei spielt der Nahostkonflikt als Bezugsgröße eine große Rolle insbesondere für jene Jugendlichen, die familiäre Bezüge sowie Zugang zum kollektiven Gedächtnis einer palästinensischen Diaspora haben. Sie tragen spezifische Narrative zum Nahostkonflikt in die historisch-politische Bildung hinein. So zeigt sich z.B., dass diese Jugendlichen die Vertreibung ihrer Familien aus Palästina in direktem Zusammenhang mit dem deutschen Nationalsozialismus und der Vertreibung und Ermordung der europäischen Jüd_innen sehen. Sie bringen damit eine relationale, verwobene Geschichtsdeutung in die Bildungsarbeit ein. Diese relationale Deutung zum Dreieckverhältnis Deutschland-Israel-Palästina wird jedoch regelmäßig als historisch falsch zurückgewiesen (vgl. Gryglewski 2013). Zugelassen wird dagegen die Beziehungsgeschichte als israelisch-palästinensische Narration, das heißt die Erinnerungen und Erzählungen der Jugendlichen werden als ›palästinensische‹ Perspektive auf den Nahostkonflikt verortet. Den Jugendlichen wird als Nachfahren von Eingewanderten ein ›eigenes‹ kollektives Gedächtnis in Bezug auf den Nahostkonflikt zugestanden oder auch unterstellt, das einen genuinen Zugang zum kollektiven (mehrheits-) deutschen Gedächtnis und damit zum Nationalsozialismus begründet. Dieser Zugang wird als didaktische Notwendigkeit diskutiert (vgl. ebd.) und kann – etwa durch die Internationalisierung des Holocaust – thematisch eingefangen und entsprechend methodisch aufbereitet werden. Die Einbindung des Nahostkonflikts und des palästinensischen Exils in das deutsch-jüdisch-israelisch-palästinensische Beziehungsgeflecht dagegen wird korrigiert (vgl. ebd.). Die israelische Staatsgründung kann – nationalen Gründungsnarrativen entsprechend – nicht primär entlang negativer Ereignisse, wie dem europäischen Antisemitismus und der deutschen Shoah, erinnert werden. Indem aber durch die Narrative dieser Jugendlichen die positiven Bezüge auf eine Gemeinschaft und damit die Essenz eines historischen Ursprungs zugunsten vornehmlich negativer Bezüge in den Hintergrund geraten, wird – nationalen Gründungsnarrativen entsprechend – die Berechtigung der Existenz der Nation irritiert. Diese Sichtweise auf Israel kollidiert mit dem postnazistischen kollektiven deutschen Gedächtnis gleich in mehrfacher Hinsicht: in Bezug auf die deutsche Nation, in Bezug auf die israelische Nation und in Bezug auf das Verhältnis der beiden Nationen zueinander. Insofern ist die Zurückweisung dieses Narrativs nachvollziehbar. Sie hat allerdings den Effekt, dass die kollektive Erinnerung der Jugendlichen als ›fremde‹, als

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›eingewanderte‹ gedeutet wird. Geteilter Geschichte kommt lediglich die Bedeutung der Spaltung (divided) zu. Die Integration der mit den Jugendlichen eingewanderten Erinnerung in das kollektive deutsche Gedächtnis wird als additive konzipiert. Sie stellt ein (notwendiges) Zugeständnis an Jugendliche dar. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft hat keinen genuinen oder gemeinsamen Anteil an dieser Geschichte. Die Deutung der palästinensisch-deutschen Jugendlichen dagegen verweist auf geteilte Geschichte im doppelten Sinne (divided und shared) und wird als solche zurückgewiesen.

ANDERE N ARRATIVE –

GETEILTE

E RINNERUNGEN

Die genannten Zugänge erreichen eine (punktuelle) differenzsensible Überarbeitung historisch-politischer Bildung bezüglich unterschiedlicher kollektiver Gedächtnisse und Erinnerungskulturen. Sie betreffen aber letztlich lediglich den Zugang eingewanderter Jugendlicher zu historisch-politischer Bildung zum Nationalsozialismus und sind deswegen als didaktische Differenzierung nationalorientierter historischpolitischer Bildung einzuordnen (vgl. Rahner / Lauré al-Samarai 2014). Die Themen dagegen, die in diesen Prozessen bearbeitet werden, bleiben die Themen der ›Anderen‹. Sie gehen allenfalls als nicht relevante historische Erinnerung in das herrschende deutsche kollektive Gedächtnis ein und werden lediglich additiv als Aspekte der Einwanderungsgeschichte und der Migrationspädagogik behandelt. Die Erfahrungen und Erinnerungen von Palästinenser_innen, aber auch von Kurd_innen, Armenier_innen, Albaner_innen und Bosniak_innen werden, so sie thematisiert werden, im Kontext anderer nationaler Konstruktionen (Osmanisches Reich, britisches Mandatsgebiet, Israel, Türkei, Balkan) bearbeitet. Die jeweils spezifische Verwobenheit mit deutscher Geschichte bleibt weitgehend unberücksichtigt. Selbst die rassistische Verfolgung und systematische Tötung von Sinti und Roma im Nationalsozialismus und von Herero und Nama im deutschen Kolonialismus haben geringen oder keinen Eingang in das kollektive deutsche Gedächtnis, in Erinnerungspolitik und in historisch-politische Bildung gefunden. Hier setzen verschiedene Arbeiten derjenigen an, deren kollektive Gedächtnisse und Erinnerungen ›vergessen‹ werden bzw. lediglich zur Re-Zentrierung der weißen-christlichen-deutschen Nation funktionalisiert werden. Sie haben ein Interesse daran, andere als die hegemonialen Geschichtsbezüge ins kollektive Gedächtnis zu rufen. Der Kampf um die Errichtung eines Mahnmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Roma und Sinti oder um die Rückführung der Gebeine von im Kolonialismus ermordeten Herero und Nama, um die Ersetzung von Straßennamen in deutschen Städten, die unkritisch an koloniale Verbrechen erinnern oder auch die Entwicklung eines Audioguides, um deutsche Geschichte in einem konstitutiven

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Zusammenhang mit Kolonialismus zu erzählen4 – all das sind Beispiele für Interventionen in hegemoniale Erinnerungspolitiken. Die Aktionen und Forderungen zielen darauf, spezifische Ereignisse in das kollektive deutsche Gedächtnis zu rufen und zu einem genuinen Teil deutscher Geschichte zu machen. Auch die in den genannten Studien und Projekten zitierten Jugendlichen, die sowohl an deutschen als auch an palästinensischen kollektiven Gedächtnissen teilhaben und versuchen, diese miteinander ins Verhältnis zu setzen, bieten Anknüpfungspunkte für die relationale Zusammenführung historischer Narrative. Die Widerstände, auch diese Erinnerungen als Teil des deutschen Gedächtnisses, als normativ und faktisch anzuerkennen, aber auch ihre ethnisierenden Umdeutungen verhindern die Herausbildung eines konflikthaft verwobenen Geschichtsbewusstseins. Stattdessen werden ergänzend identitätspolitische Erinnerungskulturen gestärkt, die – ganz im Sinne nationaler Identitätskonstruktionen – zur Homogenisierung, Essentialisierung und Dichotomisierung von Gruppen beitragen, die um Sichtbarkeit und Deutungsmacht ringen. In Abgrenzung zum historischen Lernen für den Nationalstaat bzw. eine europäische Identität entwickelte Susanne Popp »weltgeschichtliche Perspektiven für globales Lernen im Geschichtsunterricht« (Popp 2011). Sie kritisiert, dass der Konstruktionsprozess nationaler Identität in der historischen Bildung wenig berücksichtigt wird: »Nicht zuletzt beruhen auch die typischen eurozentrischen Überlegenheitspostulate auf essentialistischen Annahmen eines vorgegebenen europäischen Wesens, dessen geschichtliche Leistungen, insbesondere the rise of the West, nicht als erklärungsbedürftiges historisches Problem, sondern im Gegenteil als Bestätigung einer vorab bestehenden welthistorischen Rolle interpretiert werden.« (Ebd.: 357)

Ihr Perspektivwechsel nimmt übergreifende Zusammenhänge im relationalen Vergleich in den Blick. Die globalgeschichtliche Perspektive ziele darauf, »sich kritisch mit der Standortgebundenheit und Begrenztheit der eigenen Sichtweisen auseinanderzusetzen, eurozentrische und andere geschichtliche Überlegenheitsannahmen zu identifizieren und zu analysieren und schließlich schrittweise zu verstehen, welche Stärken und Schwächen, insbesondere aber strukturelle Verzerrungen und konzeptionelle Blindstellen [sic!], jene Geschichtsdarstellungen aufweisen, die – wie die typische Nationalgeschichte – auf die Identität einer Wir-Gruppe fokussiert sind« (ebd.: 362 f.).

Das Konzept zielt auf die grundsätzliche Infragestellung der ›Natürlichkeit‹ und Berechtigung von Wir-Gruppen, indem diese historisiert werden. Ein solcher Zugang ermöglicht es, die Gewordenheit der Gegenwart nachzuvollziehen. Er macht 4

Vgl. dazu www.kolonialismusimkasten.de.

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deutlich, wie Nationen in Relation zueinander hervorgebracht wurden und dass diese historischen Entwicklungen konflikthaft und interessengeleitet waren und nach wie vor sind. Historisch-politische Bildung kann auf diese Weise zur Dekonstruktion von Nation beitragen. Ansätze, die in unterschiedlichen Weisen global- und beziehungsgeschichtliche Perspektiven in historisch-politischer Bildung und Erinnerungspolitik einfordern, tragen marginalisierte und externalisierte Narrative in hegemoniale Erinnerungskultur und Bildungsarbeit hinein und konfrontieren sie mit der Verwobenheit und Interrelation von Geschichte(n). Es stellen sich jedoch einige grundsätzliche Fragen: Wie können marginalisierte und vergessene Narrative der Erinnerung zugänglich gemacht werden, da sie in der Regel nicht (so gut) dokumentiert sind wie hegemoniale Geschichte und Nationalgeschichte? In welcher Weise kann in Bildungspolitik und Erinnerungskultur diesen Narrativen und Erinnerungen Rechnung getragen werden, um ihre spezifischen Verwobenheiten und Besonderheiten zu berücksichtigen, ohne zu universalisieren oder zu kulturalisieren? Wie können marginalisierte historische Erinnerungen gestärkt werden, ohne die ausschließende Logik nationaler kollektiver Gedächtnisse zu affirmieren?

L ITERATUR Assmann, Aleida (2006): Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München. Assmann, Aleida (2013): Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München. Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München. Ayim, May / Oguntoye, Katharina / Schultz, Dagmar (Hg.) (1986): Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. Berlin. Borries, Bodo von (2000): Interkulturelle Dimensionen des Geschichtsbewusstseins. In: Fechler, Bernd / Kößler, Gottfried / Lieberz-Groß, Till (Hg.): »Erziehung nach Auschwitz« in der multikulturellen Gesellschaft. Pädagogische und soziologische Annäherung. Weinheim & München, S. 119-141. Chakrabarty, Dipesh (2000): Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung. Frankfurt/Main & New York. Conrad, Sebastian / Eckert, Andreas (2007): Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen. Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt. In: Ders. / Ders. / Freitag, Ulrike (Hg.): Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen. Frankfurt/Main, S. 7-49. Conrad, Sebastian / Randeria, Shalini (2002): Geteilte Geschichten. Europa in einer postkolonialen Welt. In: Ders. / Dies. (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Post-

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Rommelspacher, Birgit (2009): Was ist eigentlich Rassismus? In: Melter, Claus / Mecheril, Paul (Hg.): Rassismuskritik. Band 1: Rassismustheorie und -forschung, Schwalbach/Taunus, S. 25-38. Rothberg, Michael (2009): Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford. Zimmer, Hasko (2005): Kollektives Gedächtnis im Zeitalter der Globalisierung: Gibt es eine postnationale Erinnerungskultur? In: Lutz, Helma / Gawarecki, Kathrin (Hg.): Kolonialismus und Erinnerungskultur. Die Kolonialvergangenheit im kollektiven Gedächtnis der deutschen und niederländischen Einwanderungsgesellschaft. Münster, S. 67-80.

Erinnerungsarbeit an den Porajmos im Widerstreit Gegen Epistemologien der Ignoranz Isidora Randjelović »Der Weg aus der Wohnung in den Schneideraum dauert 9 Minuten. Ich habe für diesen Weg öfters 4 Stunden und mehr gebraucht. Die Angst vor dem Material und der Arbeit ließ mich oft doppelt einkaufen, neue Umwege und Ausflüchte finden.« MELANIE SPITTA, DAS FALSCHE WORT (2000)

D IE V ERFOLGUNG Die rechtlichen Grundlagen für den Porajmos1 – den nationalsozialistischen Genozid an Sinti und Roma – sind bereits während der Weimarer Republik gelegt worden. Mit dem in Bayern verabschiedeten »Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen« vom 16. Juni 1926 wurden Sinti und Roma als »schädlicher Fremdkörper in der deutschen Kultur« kategorisiert und rassifiziert (vgl. Bastian 2001). Wenige Jahre später, nach Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze 1935, wurde deutschen Sinti und Roma die Reichsbürgerschaft entzogen und die Eheschließung mit sogenannten »Deutschblütigen« verboten. Im Jahr 1938 erfolgte die Einführung einer »Rassesondersteuer« auch für Sinti und Roma. Im selben Jahr führte die wechselseitige Zusammenarbeit von Wissenschaft, staatlicher Gesetzgebung und einem zentralisierten Polizeiapparat zu einem von Heinrich Himmler autorisierten Runderlass, der die »Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen der Rasse« begründete,

1

Porajmos ist eine romanisprachige Bezeichnung für den an Sinte_zza und Rom_nja begangenen Genozid.

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eine »Vorbeugungshaft für Asoziale« anordnete und die rassenbiologische Erfassung aller Sinti und Roma, die älter als 6 Jahre alt waren, vorschrieb. Ab Sommer 1938 begann die Deportation von Sinti und Roma in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und später auch nach Mauthausen (vgl. Rose / Weiß 1991). In den sich anschließenden Kriegsjahren stellte die SS auf der Grundlage des Programms »Vernichtung durch Arbeit« den Konzernen, Fabriken und Betrieben Zwangsarbeiter_innen gegen eine ›Ausleihgebühr‹ als Arbeitskräfte zur Verfügung. In der Kalkulation der Gebühren errechneten sie – bei einer durchschnittlichen ›Nutzungsdauer‹ von 9 Monaten pro Häftling, zuzüglich Zahngold, Kleidung, Wertsachen und Gold und abzüglich der Verbrennungskosten von 2 Mark – einen durchschnittlichen monatlichen Gewinn von 200 Mark pro Häftling (ebd.: 15). Ab 1941 wurde, aufgrund der Doppelfunktion von Robert Ritter als Leiter der »Rassenhygienischen Forschungsstelle« (RHS) und des Kriminalbiologischen Institutes der Sicherheitspolizei und des SD, die Zusammenarbeit zwischen Reichsgesundheitsamt und Reichssicherheitshauptamt intensiviert, was zur Folge hatte, dass die »Rassegutachten« der RHS maßgeblich über die Deportation von Sinti und Roma entschieden. Bis 1944 erstellte die RHS mindestens 24.000 solcher ›Gutachten‹. Die pseudowissenschaftliche Begutachtung der »Rassenzugehörigkeit« war ein fester und wesentlicher Bestandteil der Verfolgung von Sinti und Roma und äußerte sich durch die Sammlung verschiedener physiologischer Daten, durch die Berechnung der sogenannten »zigeunerischen« Blutanteile der erfassten Menschen sowie durch Menschenexperimente. Mit dem Auschwitz-Erlass von 1944 wurden die letzten 10.000 in Deutschland registrierten Sinti und Roma nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Die Schätzungen der Opferzahl des nationalsozialistischen Genozids variieren zwischen einer halben Million und 1,5 Millionen Sinti und Roma (vgl. Hancock 2004).

U MWEGE UND W IDERSTÄNDE DES E RINNERNS

AUF DEM

W EG

Melanie Spitta thematisiert 40 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus in ihrem gemeinsam mit Katrin Seybold gedrehten Dokumentarfilm: »Das falsche Wort«2 sowohl die Verfolgung von Sinti und Roma als auch die fehlende Anerkennung des Porajmos und die ausgebliebene Entschädigung der Opfer durch die deutschen Nachfolgestaaten. Sie lässt Überlebende erzählen und fügt aus Bildmaterialien und Dokumenten die Geschichte der Verfolgung zusammen. Sie erinnert an die Errichtung des ersten Ghettos in Berlin-Marzahn 1936, nach dessen Vorbild landesweit weitere Ghettos entstanden, und zeigt Originalfotografien des von Polizei 2

Das falsche Wort. Wiedergutmachung an Zigeunern (Sinti) in Deutschland? Regie: Katrin Seybold. Drehbuch: Melanie Spitta. D: ZDF 1987. 83 Min.

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und Hunden bewachten Lagereingangs.3 Durch die Erzählungen einzelner Protagonist_innen entsteht ein Bild der sukzessiven Entwertung menschlichen Lebens im Nationalsozialismus, beginnend mit der kollektiven Erfassung und Internierung über Zwangsarbeit und Zwangssterilisierung bis hin zur Ermordung. Deutlich wird außerdem, dass in den folgenden Jahrzehnten jedwede offizielle Anerkennung der seelischen Leiden und gesundheitlichen Spätfolgen für die Opfer ausblieb; statt dessen wurden sie bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit erneut mit einer rassistischen Sondergesetzgebung konfrontiert, während die einstigen Täter_innen nicht belangt wurden und ungestört ihre Karrieren in der Bundesrepublik machten.4 Die Dokumentation ist ein sehr gut recherchierter, leiser und positionierter Film, der unterschiedliche Menschen ins Zentrum setzt. Familienfotos, Dokumente, Bildmaterial der Verfolgung situieren die Erzählungen der einzelnen Menschen in einer bestimmten Zeit und im gesellschaftspolitischen Kontext. Die Menschen haben Namen; auch Akten und Bilder erzählen ihre Biographien. Die Erzähler_innen bleiben reale Gestalter_innen ihrer Geschichte(n), und sie sind zugleich Zeitzeug_innen, Expert_innen und Analytiker_innen. Die filmische Ästhetik gründet auf der würdevollen Darstellung der Protagonist_innen; die Kameraperspektive fängt die komplexe Schönheit und die individuelle Einzigartigkeit des_r Einzelnen ein, des Zusammenspiels der Blicke, des Lächelns, der Gestik, der Kleidung. Die Filmemacherin positioniert sich selbst als Stimme aus dem Off und bricht zu Beginn die normativen Rollenverteilungen zwischen Filmemacher_in, Akteur_in in der Dokumentation und Zuschauer_in, indem sie mit der Geschichte ihrer Eltern beginnt, sich als Sintezza positioniert, die Zuschauer_innen direkt anspricht und auffordert, sich auseinanderzusetzen: »Weil bei Euch so viele Hakenkreuzler übrig geblieben sind, die wußten, wie man eine Entschädigung verhindert, war unser Kampf vergeblich« (Seybold / Spitta 1987). In einem Interview beschreibt Melanie Spitta den schweren Weg, diesen Film zu drehen. Im Archiv gab man ihr das notwendige Material nicht, als Grund hierfür wurde Datenschutz für die Täter_innen angeführt; ein Archivar forderte sie auf, die Totenscheine der Ermordeten vorzulegen, um ihr Zugang zu gewähren, während sie selbst ›nur‹ die Vollmacht der Lebenden dabei hatte (Spitta 2000: 45 f.). Sie schildert, wie sie im Alter von 42 Jahren im Zuge der Filmrecherche zum ersten Mal mit den NS-Unterlagen zur Deportation und Ermordung ihrer Familie konfrontiert wurde (ebd.: 48). Der Dokumentarfilm von Melanie Spitta erschien 1987, nach fünfjähriger Arbeit. Nach der Erstausstrahlung musste sie auch Anfeindungen erleben, unter anderem weil sie die Zwangssterilisationen an Frauen allzu offen thematisiert hatte. In 3

Zum Lager Berlin-Marzahn vgl. auch Pientka 2013.

4

Zur Situation von Sinti und Roma in der DDR vgl. Krüger-Potratz 1991, Gilsenbach 2001 sowie Lauré al-Samarai 2008.

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einem Interview mit der Zeitschrift »Jekh Čhib« äußert sie sich zu ihrem dokumentarischen Anliegen: »Wir haben ja kaum eigene Dokumentationen, die das Lagerleben der Sinti- und Romafrauen und die systematische Zerstörung unserer Großfamilien in den KZ-Lagern aufzeigt. Deshalb müssen wir, die wir der zweiten Generation angehören, dafür Sorge tragen, daß das Leid und die Qualen unserer Mütter und Großmütter nicht übergangen werden. [...] Es ist aber unbedingt notwendig, daß dieses Tabu transparent wird, um die schweren Schandtaten, die deutsche Naziärzte nicht nur an unseren Frauen begangen haben, endlich benannt und aufgezeigt werden können.« (Spitta 1995: 53)

Melanie Spitta drehte insgesamt vier Filme über den Rassismus gegen Sinti und Roma und engagierte sich Zeit ihres Lebens für die Anerkennung des Genozids: »Ich wäre auch gerne bei denjenigen, die damit überhaupt nichts zu tun hatten, aber ich konnte es mir nicht aussuchen« (ebd.). Sie starb 2005 im Alter von 59 Jahren an einer Lungenerkrankung. Ihre beiden Brüder verlor sie im Konzentrationslager Auschwitz; ihre Mutter erkrankte infolge der medizinischen Experimente Josef Mengeles an Tuberkulose und starb, als Melanie Spitta zwölf Jahre alt war. Durch die Infektion der Mutter war Spitta schon als Kind lungenkrank und ihr Leben lang gesundheitlich beeinträchtigt.

D IE ZWEITE V ERFOLGUNG – O PFER EBNEN W EGE ZUR E RINNERUNG Nach 1945 gab es in Westdeutschland weder eine rechtliche noch eine materielle oder symbolische Anerkennung des an Sinti und Roma begangenen Genozids. Keine_r der Täter_innen wurde für seine_ihre Verbrechen verurteilt. Im Gegenteil: Die meisten von ihnen setzten ihre Karrieren im Polizeiapparat, in der Forschung, in der Verwaltung und in der Justiz nahtlos fort (Strauß 1998). Der Hauptverantwortliche für die Deportationen von Sinti und Roma, Josef Eichberger, wurde Leiter der sogenannten »Zigeuner-Abteilung« beim Bayrischen Landeskriminalamt. Robert Ritter, einstiger Leiter der »Rassenhygienischen Forschungsstelle« und des Kriminalbiologischen Instituts, avancierte nach 1945 zum Leiter einer psychiatrischen Anstalt in Frankfurt/Main. Ebenso arbeiteten alle seine Kolleg_innen der »Rassenhygienischen Forschungsstelle« in ihren Berufen weiter (Schuch 2015). Das »Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen« aus dem Jahr 1926 wurde in Bayern im Jahr 1953 in weiten Teilen übernommen und lediglich in »Landfahrerordnung« umbenannt. Polizeiakten mit personenbezogenen Daten aus der NS-Zeit gingen, ebenso wie die zahlreichen Forschungsunter-

Erinnerungsarbeit an den Porajmos | 93

lagen, in den privaten bzw. behördlichen Besitz der Bundesrepublik über und fanden sowohl bei der Polizei als auch in der Wissenschaft weitere Verwendung. Der Bundesgerichtshof verweigerte 1956 die Anerkennung der rassistischen Verfolgung von Sinti und Roma vor 1943 und begründete in einem skandalösen Urteil die Rechtmäßigkeit der Verfolgung mit den »üblichen polizeilichen Präventivmaßnahmen« aufgrund einer der Minderheit eigenen »natürlichen Neigung zur Kriminalität«. Dieses Urteil wurde erst 1963 – 18 Jahre nach dem Porajmos – in Ansätzen revidiert, was aber für viele Menschen und ihre Entschädigungsverfahren zu spät kam. In den wenigen Wiedergutmachungsverfahren waren die Überlebenden darüber hinaus regelmäßig mit ehemaligen Täter_innen als Gutachter_innen konfrontiert (vgl. Strauß 1998). Auch auf der symbolischen Ebene wurde der Genozid an den Sinti und Roma lange geleugnet oder allenfalls als historische Randnotiz behandelt. In diesem Klima der »zweiten Verfolgung« (Rose 1987: 46) wurden ab Anfang der 1950er Jahre die ersten Interessenvertretungen von Überlebenden und ihren Familien gegründet.5 Ihr primäres Ziel war es, die strafrechtliche Verfolgung der Täter_innen und eine Wiedergutmachung für die Opfer zu erreichen. Ab den 1970er Jahren formierte sich eine Bürgerrechtsbewegung. Sie forderte die Anerkennung des Völkermordes und das Recht auf Wiedergutmachung, betrieb eine gezielte Öffentlichkeits- und Vernetzungsarbeit, thematisierte den aktuellen Rassismus in den Polizeibehörden und machte im Kampf gegen die diskriminierende Sondererfassung sowie gegen die rassistische Gesetzgebung mit spektakulären Widerstandsaktionen auf die Situation der Minderheit aufmerksam. 1972 wurde der Sinto Anton Lehmann in Heidelberg von einem Polizisten erschossen. Es folgte eine große Demonstration von Sinti, in deren Konsequenz sich der Verband deutscher Sinti konstituierte. 1974 errichtete Vinzenz Rose aus privaten Mitteln das erste Mahnmal zur Erinnerung an die ermordeten Sinti und Roma in Auschwitz-Birkenau. Mit einer Kundgebung in der Gedenkstätte Bergen-Belsen im Oktober 1979 sowie mit einem einwöchigen Hungerstreik in der Gedenkstätte Dachau 1980 gewann der bürgerrechtliche Protest an Öffentlichkeit und setzte eine Beendigung der rassistischen Sondererfassung durch Justiz- und Polizeibehörden auf der Grundlage nationalsozialistischer Aktenbestände durch. Ein Jahr später konnte mit der Besetzung des Universitätsarchivs in Tübingen die Herausgabe der Unterlagen der »Rassenhygienischen Forschungsstelle« erzwungen (Lauré al-Samarai 2008: 106) und eine Überstellung des Materials in das Bundesarchiv nach Koblenz erwirkt werden.6 5

Dazu gehörte z.B. der 1956 von Oskar und Vinzenz Rose auf Bundesebene gegründete »Verband rassisch Verfolgter nicht-jüdischen Glaubens« (vgl. Rose 1985).

6

Die sogenannten »Rasseakten« sowie das umfangreiche Forschungsmaterial der »Rassenhygienischen Forschungsstelle« (RHS) waren in den Universitätsarchiven Mainz und Tü-

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Durch Proteste, Demonstrationen und Veranstaltungen erreichte die Bürgerrechtsarbeit in den frühen 1980er Jahren eine zwar kleine, aber internationale Öffentlichkeit und konnte das Unrecht gegen Sinti und Roma sichtbar machen. Als einen wesentlichen Erfolg der Bürgerrechtsarbeit beschreibt der Zentralrat deutscher Sinti und Roma den Empfang einer Sinti-Delegation bei Bundeskanzler Schmidt, der 1982 als erstes deutsches Staatsoberhaupt die Verbrechen gegen Sinti und Roma als rassistisch motivierten Völkermord politisch anerkannte. Erst 1992 beschloss die Bundesregierung die Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Sinti und Roma, doch brauchte es noch einmal 20 Jahre und die Überwindung vieler Widerstände bis zu dessen Einweihung im Jahre 2012.

»Z EIT

DES

S CHWEIGENS ...«

Die Dokumentarfilmerin Nina Gladitz erinnert mit ihrer Dokumentation »Zeit des Schweigens und der Dunkelheit« (1982)7 an die Geschichte der Sinti- und RomaZwangsarbeiter_innen, die im Film »Tiefland« von Leni Riefenstahl als Statist_innen eingesetzt wurden. Sie recherchierte das Schicksal jener Menschen, die als Internierte der Lager Marzahn und Maxglan für diesen Film aufgrund ihres »spanischen Kolorits«8 zwangsverpflichtet wurden. In der Dokumentation lässt Nina Gladitz die Überlebenden über diese Zeit berichten. Nach der Erstausstrahlung der Dokumentation im Westdeutschen Rundfunk verklagte Leni Riefenstahl – so wie Jahrzehnte zuvor den Verleger der Illustrierten »Revue«9 – nun auch Nina Gladitz

bingen gelagert und wurden für dubiose anthropologische Arbeiten weiter verwendet. So benutzte z.B. Sophie Ehrhardt, ehemalige Mitarbeiterin der RHS, das Material 1949 für ihre Habilitationsschrift »Morphologisch-genetische Untersuchungen an Hautleistensystemen der Haut«. Seit 1958 Professorin für Anthropologie, veröffentlichte sie 1969 einen Text über »Zigeunerschädel« und schrieb 1974 in einem Aufsatz über »Handfurchen bei Zigeunern«. Noch 1980 hatte sie eine Untersuchung zur Anthropometrie verschiedener deutscher ›Zigeunergruppen‹ fertiggestellt, die aber nicht mehr erschienen ist (vgl. Grün o.J.: 7). 7

Zeit des Schweigens und der Dunkelheit. Regie und Drehbuch: Nina Gladitz. D: WDR &

8

Leni Riefenstahl wollte zunächst spanische Komparsen, doch aufgrund des Krieges konn-

Nina Gladitz Filmproduktion 1981/82. 60 Min. te sie keine mehr engagieren und wich auf internierte Sinti und Roma aus (Trimborn 2002: 334). 9

Die Illustrierte »Revue« berichtete im Mai 1949, dass Leni Riefenstahl Sinti und Roma aus einem Lager ausgesucht und als ›Filmsklaven‹ zwangsverpflichtet hätte. Daraufhin prozessierte die Regisseurin wegen Rufmords gegen den Verleger Helmut Kindler.

Erinnerungsarbeit an den Porajmos | 95

wegen vermeintlicher Verleumdung. Nina Gladitz hatte sehr intensiv recherchiert und präsentierte weitaus mehr Beweismaterial als damals die »Revue«. Nach jahrelangem Rechtsstreit in zwei Instanzen gewann Nina Gladitz den Prozess in drei von vier Anklagepunkten und ihr Film wurde freigegeben. Anders als im Prozess gegen die »Revue« wurde Leni Riefenstahl die Aussage, sie wäre nie in den Lagern gewesen, als Lüge nachgewiesen. Das Gericht stellte fest, dass die Regisseurin zwischen 1941 und 1942 68 Personen als Statist_innen für ihren Film im Lager Maxglan persönlich ausgesucht hatte, um sie als Zwangsarbeiter_innen zu verpflichten (vgl. Gilsenbach / Rosenberg 2001). Nina Gladitz wurde aufgefordert, die Aussage des Überlebenden Josef Reinhardt aus der Dokumentation zu entfernen. Er war als Junge gezwungen worden, im Riefenstahl-Film aufzutreten: »Ich erzählte Tante Leni, wie wir sie nennen durften, daß Maxglan aufgelöst wird und spätestens nach Beendigung der Dreharbeiten alle in Auschwitz vernichtet würden. Ich sagte ihr, was wir damals von Auschwitz wußten und daß von dort niemand mehr zurückkommen wird...« (zit. n. Kühnert 1987: o.S.).

Das Gericht zweifelte die Aussage des Zeugen an und stützte sich dabei unter anderem auf Chronologien aus der Autobiographie von Rudolf Höß, dem ehemaligen Kommandanten des Konzentrationslagers Auschwitz. Demnach sei erst im Oktober 1941 mit dem Bau des Außenlagers Birkenau begonnen und dort erst später das Lager für Sinti und Roma eingerichtet worden; ebenso sei Himmlers Befehl zur Ermordung der Sinti und Roma erst auf 1942 datiert. Dem Gericht zufolge hätten weder die betroffenen Personen noch die Regisseurin von der geplanten Ermordung etwas wissen können. Nina Gladitz entschied sich gegen die Auflage des Gerichts. Seitdem liegen ihr Film und mit ihm ihre Recherchen, die Zeugenaussagen der Internierten und derjenigen, die nichts gesehen und gewusst haben wollen, wie auch die Spuren des Zwangslagers Maxglan für die Öffentlichkeit unzugänglich im Archiv des WDR (Trimborn 2002: 227).

E RINNERUNGEN »Als einzige Sinteza in Deutschland, die Filme macht, trete ich denen entgegen, die ständig einen Schlußstrich unter die deutsche Vergangenheit ziehen wollen.« (Spitta / Seybold 1999)

Mit Blick auf die Arbeit der Bürgerrechtsbewegung, auf einzelne Rromani Chronist_innen, wie Melanie Spitta, oder auf engagierte Filmemacherinnen, wie Nina Gladitz, wird deutlich, dass die öffentliche Erinnerung an den Porajmos, an die Verfolgung, an Menschen und ihre Namen kein selbstverständlicher Prozess ist. Das Erin-

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nern und die Erinnerung waren und sind ein hart umkämpftes Terrain, auf dem Geschichte immerfort verhandelt und ausgehandelt wird. Erinnerung findet immer in der Gegenwart und unter den jeweiligen Bedingungen ihrer materiellen Welt statt. Die hegemoniale Geschichtsschreibung hat dabei eine machtvolle Entinnerungsarbeit geleistet: mit Hilfe von Gesetzen, Verwaltung, Polizei, Forschung und historischer Archivierung; mit der Legitimation und Delegitimation von Sprecher_innen und Sprechpositionen; mit der Indienstnahme sozialer Stigmatisierungen und alter Rassismen; mit der Singularitätsthese der Shoah; mit der Reduzierung von Opferzahlen und medialer Nicht-Berichterstattung; mit der Auslassung von historischen Kontinuitäten sowie von Verfolgungen und Genoziden vor dem Nationalsozialismus; und schließlich mit der Verbannung von historischer Zeug_innenschaft in den Bereich der privaten Opfer-Erzählung. Gesetz, Verwaltung, Forschung, Politik und Medien arbeiteten dabei Hand in Hand. Ohne ein aktives institutionalisiertes Erinnern können und sind Ereignisse in Vergessenheit geraten. Wenn durch offizielle Erinnerungspolitiken Geschichten ausgelassen und verdrängt – sprich: unterdrückt werden – dann wird Erinnerungsarbeit eine Form des Widerstandes: »Official histories create and maintain the unity and continuity of a political body by imposing an interpretation on a shared past and, at the same time, by silencing alternative interpretations of historical experiences. Counter-histories try to undo these silences and to undermine the unity and continuity that official histories produce.« (Medina 2011: 6)

Der Hegemonie des Entinnerns hat die Sinti und Roma Bürgerrechtsbewegung, haben auch international die verfolgten Romani Kollektive sowie einige wenige Akteur_innen der Mehrheitsgesellschaft innerhalb ungleicher Machtverhältnisse Gegen-Erinnerungen und Gegen-Gedächtnisse entgegengesetzt. Der Einsatz dafür hat auch Melanie Spitta unzählige Arbeitsstunden und Widerstandsarbeit gekostet, z.B. gegen diejenigen, die als Archivar_innen den Wissens-Besitz verwalteten, die sich hinter den Gesetzen und Norm(alität)en der Gegenwart versteckten und sie an der Erinnerungsarbeit zu hindern suchten. In ihrem eingangs zitierten Interview verweist sie jedoch auf eine weitere Dimension: auf ihre täglichen, emotionalen Aushandlungen in der Annäherung an das Material der Erinnerung. Ich habe mit der ersten Überschrift dieses Beitrags versucht, diese Emotionalität in einen direkten Zusammenhang mit strukturellen und diskursiven Gewaltdimensionen zu stellen. Diese Emotionalität primär auf der Ebene einer individuellen Opfer-Geschichte zu diskutieren, hieße, Erinnerung zu entpolitisieren und den historischen Kontext der subjektiven Verortungen zu löschen. Der Schmerz Melanie Spittas ist subjektive Zeug_innenschaft und historische Erzählung zugleich. Das Vergessenmachen dieser schmerzvollen Erzählung, das Verbannen der Erzählung in den privaten / persönlichen Raum und das Trennen der Erzählung vom gesellschaftlichen Kontext, in dem sie entsteht, sind nicht nur

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sehr effektive machtvolle Praxen der Auslöschung von Erinnerungen, sondern lösen die Produktion neuer schmerzvoller Erinnerungen aus. Kollektive Erinnerungen an den Porajmos sind – ebenso wie die Erinnerungen anderer minorisierter Gemeinschaften – insbesondere im öffentlich-politischen Raum umkämpfte soziale Konstruktionen. Sie materialisieren sich auf vielfältige Weise sowohl in der realen Welt als auch in der Körperlichkeit der einzelnen Subjekte: durch Narben, Krankheiten, Traumatisierungen, fehlende Ressourcen, in innerfamiliären Beziehungen, Gegenständen aus der Vergangenheit. Erinnerungen schreiben sich in den Körper und in die Psyche ein, ergreifen Raum im Alltag, in sozialen Interaktionen und in unserem subjektiven Sein. Erinnerungen, insbesondere traumatische, sind aber auch in hohem Maße zukunftsprägend (vgl. Schuch 2014). Erinnerung und Vergessen konstituieren sich im Nachhinein – sie unterliegen damit unterschiedlichen Prozessen des Machens. Ein öffentliches, hegemoniales Entinnern ist keinesfalls gleichbedeutend mit kollektivem Vergessen in Sinti und Roma Communitys, denn die Gegenwart schafft für Täter_innen und Opfer auf diese Weise grundsätzlich unterschiedliche sowohl materielle als auch symbolische (Lebens-)Bedingungen für das Erinnern. Allerdings haben insbesondere die Folgen und der Kampf um die Anerkennung des Genozids sowie die zweite Verfolgung ein kollektives Gedächtnis geprägt: »Innerhalb der Communities von Sinti und von Rroma gibt es allerdings ein Geschichtsbewusstsein, da ein ausgesprochenes, leises oder auch schweigendes Gedenken in vielen zwischenmenschlichen Bindungen, Familien oder Freundschaften nach dem Porajmos stattfand und Trauer sowie ein breites Wissen da waren und sind. Diese kollektiven Archive bestehen aus Verflechtungen von mehrgenerationalem Geschichtsbewusstsein und familiär weitergetragenen Traumata.« (Fernandez 2014)

Das öffentliche Vergessen(-machen) – als absichtsvolles oder unbeabsichtigtes nichterzähltes Weitergeben von Geschichte aus der eigenen Perspektivität und aus der Gegenwart heraus – greift auch in den Raum der Sinti und Roma Communitys. Dabei gehen, wie der aktuelle öffentliche Diskurs uns suggeriert, die Erzähler_innen nicht erst jetzt als Zeitzeug_innen ›verloren‹; ihre Geschichten wurden bereits im Nationalsozialismus mit über der Hälfte der in Deutschland lebenden Sinti und Roma ermordet. Zudem überdeckt das aktive Vergessenmachen mit Hilfe von dominanten Erinnerungs- und Entinnerungsdiskursen minorisierte Gegengedächtnisse, die über weit geringere schriftliche, filmische, öffentlichkeitswirksame Ressourcen zur historischen Archivierung und Aufbereitung der eigenen Erzählungen verfügen. Trotzdem haben in den machtvollen Verhandlungen zwischen Vergessen und Erin-

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nern verschiedene Akteur_innen entlang unterschiedlicher historischer Punkte und Inhalte widerständige Erinnerungen durchgesetzt.10 Melanie Spitta hat mit ihrer Archivierungsarbeit, Rosa Winter und Zäzilia Reinhard haben mit ihren Lebenszeugnissen, Otto Rosenberg und Reimar Gilsenbach haben mit der Gedenkliste der ermordeten Komparsen erinnert, um auf die Menschen im Film und das begangene Unrecht hinzuweisen, auch um andere als nur die Sieger_innengeschichten in das hiesige kollektive Gedächtnis einzuschreiben. Es ist an der Zeit, sich wieder / weiterhin gegen die »Epistemologien der Ignoranz« (Medina 2011: 29) zu wenden und sowohl dem Dokumentarfilm von Nina Gladitz – ihr Einverständnis vorausgesetzt – aus dem Schweigen der Archive heraus zu verhelfen als auch die Dokumentation von Melanie Spitta und Katrin Seybold als historisches Bildungsmaterial der Öffentlichkeit aktiv zur Verfügung zu stellen.

F ILME Gladitz, Nina (Drehbuch und Regie) (1981 / 82): Zeit des Schweigens und der Dunkelheit. D: WDR & Nina Gladitz Filmproduktion. 60 Min. Seybold, Katrin / Spitta, Melanie (Drehbuch und Regie) (1987): Das falsche Wort. Wiedergutmachung an Zigeunern (Sinti) in Deutschland? D: ZDF. 83 Min.

L ITERATUR Bastian, Till (2001): Sinti und Roma im Dritten Reich: Geschichte einer Verfolgung. München. Fernandez, Elsa (2014): Kontinuitäten der Auslassungen. Das Projekt des Rroma Informations Centrum e.V.: »Gestern mit den Augen von Heute sehen«. In: Randjelović, Isidora / Schuch, Jane / Heinrich Böll Stiftung (Hg.): Dossier Perspektiven und Analysen von Sinti und Roma in Deutschland. URL: http:// heimatkunde.boell.de/2014/12/03/kontinuitaeten-der-auslassungen-das-projektdes-rroma-informations-centrum-ev-gestern-mit (Stand: 15.01.2015). Gilsenbach, Reimar (2001): Sinti und Roma – vergessene Opfer. In: Leo, Annette / Reif-Spirek, Peter (Hg.): Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien zum DDRAntifaschismus. Berlin, S. 67-83. Gilsenbach, Reimar / Rosenberg, Otto (2001): Riefenstahls Liste. Zum Gedenken an die ermordeten Komparsen. In: Berliner Zeitung vom 17.02.2001. URL:

10 Dessen ungeachtet kann der Film »Tiefland« von Leni Riefenstahl weiterhin online gekauft werden, während der Dokumentarfilm »Das falsche Wort« dort seit Jahren als »Derzeit nicht verfügbar« geführt wird und als VHS technisch längst überholt ist.

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http://www.berliner-zeitung.de/archiv/den-film--tiefland---den-leni-riefenstahl1940-bis-1942-drehte-und-1954-fertig-stellte--kann-heute-jeder-kaeuflich-erwer ben--ueber-ihre-komparsen-aus-den-zigeunerzwangslagern-salzburg-maxglanund-berlin-marzahn--die-bald-zu-einem-grossen-teil-ermordet-wurden--verlorriefenstahl-im-vorspann-des-films-kein-wort--riefenstahls-liste--zum-gedenkenan-die-ermordeten-komparsen,10810590,9878630.html (Stand: 21.01.2015). Grün, Bernd (o.J.): Sophie Ehrhardt (1902-1990). URL: http://www.uni-tuebingen. de/frauenstudium/daten/biographien/Biogramm_SophieEhrhard.pdf (Stand: 09.02.2015). Hancock, Ian (2004): Romanies and the Holocaust: A Reevaluation and an Overview. In: The Romani Archives and Documentation Center (Radoc). URL: http://www.radoc.net/radoc.php?doc=art_e_holocaust_porrajmos&lang=en& articles= (Stand: 21.01.2015). Krüger-Potratz, Marianne (1991): Anderssein gab es nicht. Ausländer und Minderheiten in der DDR. Münster & New York. Kühnert, Hanno (1987): Wenn Juristen Vergangenheit klären. In: DIE ZEIT vom 27.03.1987. URL: http://www.zeit.de/1987/14/wenn-juristen-vergangenheit-klaeren (Stand: 14.01.2015). Lauré-al Samarai, Nicola (2008): Weder »Fremde« noch »Ausländer«: Historische Verbindungen zwischen den Geschichten von Sinti und Roma und Schwarzen Deutschen. In: Golly, Nadine / Cohrs, Stephan (Hg.): de-platziert! Interventionen postkolonialer Kritik. Berlin, S. 89-114. Medina, José (2011): Toward a Foucaultian Epistemology of Resistance: Counter Memory, Epistemic Friction, and Guerrilla Pluralism. In: Foucault Studies, No. 12, S. 9-35. URL: http://www.vanderbilt.edu/AnS/philosophy/_people/faculty_ files/_medinafoucaultstudies.pdf (Stand: 20.01.2015). Pientka, Patricia (2003): Das Zwangslager für Sinti und Roma in Berlin-Marzahn. Alltag, Verfolgung und Deportation. Berlin. Rose, Romani (1985): Wir wollen Bürgerrechte und keinen Rassismus. Broschüre des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Heidelberg. Rose, Romani (1987): Bürgerrechte für Sinti und Roma. Das Buch zum Rassismus in Deutschland. Hg.: Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Heidelberg. Rose, Romani / Weiß, Walter (1991): Sinti und Roma im »Dritten Reich«. Das Programm der Vernichtung durch Arbeit. Herausgegeben vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Göttingen. Schuch, Jane (2014): Antiziganismus als Bildungsbarriere. In: Randjelović, Isidora / Schuch, Jane / Heinrich Böll Stiftung (Hg.): Dossier Perspektiven und Analysen von Sinti und Roma in Deutschland. URL: http://heimatkunde.boell.de/ dossier-sinti-und-roma (Stand: 15.01.2015). Schuch, Jane (2015): Die Entsubjektivierung und Rassifizierung von Sinti und Roma im Kontext von Erziehung und Bildung im Nationalsozialismus. Im Erscheinen.

100 | Isidora Randjelović

Spitta Melanie (1995): Mit einer Zunge reden. In: Jekh Čhib 4/1995, S. 52-59. Spitta, Melanie (2000): Das Falsche Wort. »Wiedergutmachung«. In: Wurr, Zazie (Hg.): Newo Ziro, Neue Zeit? Wider die Tsiganomanie – Ein Sinti- und RomaKulturlesebuch. Kiel, S. 43-50. Spitta, Melanie / Seybold, Katrin (1999): Sintezza und Nichtzigeunerin. Arche. URL: http://www.arche.or.at/conf/spitta.htm (Stand: 20.01.2015). Strauß, Daniel (1998): »da muß man wahrhaft alle Humanität ausschalten...«. Zur Nachkriegsgeschichte der Sinti und Roma in Deutschland. In: Landeszentrale für politische Bildung (Hg.): Zwischen Romantisierung und Vernichtung. Sinti und Roma 600 Jahre in Deutschland. URL: http://www.lpb-bw.de/publikatio nen/sinti/sinti7.htm (Stand: 20.01.2015). Trimborn, Jürgen (2002): Riefenstahl. Eine deutsche Karriere. Berlin.

Vom Vergessen und Erinnern Ein Portrait der AG »Frauen gegen Antisemitismus« Debora Antmann

V ORAB Die AG »Frauen gegen Antisemitismus« war eine feministische Arbeitsgruppe jüdischer und nicht-jüdischer Frauen, die in den 1990er Jahren zum Antisemitismus in feministischen Kontexten und dem mehrheitsfeministischen Verständnis der Rolle der Frau im Nationalsozialismus gearbeitet hat. Zu Beginn meiner Auseinandersetzung hatte ich die Vorstellung, eine nachträgliche Dokumentation über den Arbeitskreis zu verfassen – mit allen ›hard facts‹ über die Intentionen, die Arbeit, die Personen und die Chronologie. Ich wollte das Wirken der AG möglichst detailliert festhalten, um ihren Beitrag zur Auseinandersetzung mit Antisemitismus innerhalb feministischer Kontexte auch für mich persönlich, als junge weiße lesbische jüdische Berliner Queer-Feministin, greifbarer zu machen. Doch die Zeit hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Heute sind – bis auf die Publikation »Der Nationalsozialismus als Extremform des Patriarchats« (beiträge zur feministischen theorie und praxis 1993: 77-89) aus dem Jahr 1993 – keine Materialien mehr von oder über die AG »Frauen gegen Antisemitismus« zu finden. Ich war auf die Erinnerung der Frauen angewiesen, die damals Teil der AG waren. Mit vier von ihnen habe ich gesprochen: Birgit Rommelspacher, Iris Wachsmuth, Jessica Jacoby und Lara Dämmig. Entstanden ist ein Portrait, das einen sehr persönlichen und vielschichtigen Einblick in die AG und ihre Arbeit bietet.

AM ANFANG

WAR DER

»S CHABBESKREIS «

Es ist unmöglich, über die AG »Frauen gegen Antisemitismus« zu schreiben, ohne sich vorab mit dem »Schabbeskreis« befasst zu haben. Der »Schabbeskreis« war

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eine lesbisch-feministische politische Gruppe, die sich von 1984 bis 1989 aktiv mit jüdischen Frauen in der Frauenbewegung und mit Antisemitismus in feministischen Zusammenhängen auseinandersetzte. Dies war im Westberliner Nachkriegskontext die erste Gruppe, die sich mit diesen Themen beschäftigte. Aufgrund der »These vom Faschismus als schärfster Form patriarchaler Herrschaft über die ›Frau‹« (Baader 1993: 84) sahen sich weiße, deutsche, christlich sozialisierte Mehrheitsfrauen in ihrem Feminismusverständnis bis dahin als Opfer des Nationalsozialismus, und keinesfalls als Täterinnen. Sie dachten Antisemitismus, Rassismus und andere Unterdrückungsformen nicht mit oder klammerten sie sogar aktiv aus. Sie bedienten sich antisemitischer Argumentationen und konstruierten ein ›Wir‹, zu dem letztendlich nur weiße, deutsche, christlich sozialisierte, ableisierte Frauen der Mehrheitsgesellschaft gehörten. Im »Schabbeskreis« verbanden sich vorrangig jüdische, aber auch nicht-jüdische Frauen, um in Demonstrationen, Podiumsdiskussionen, Vorträgen, Partys und anderen Veranstaltungen zu intervenieren und für die Sichtbarkeit jüdischer Frauen sowie gegen antisemitische Strukturen in Politkontexten zu kämpfen. Dabei hat die Gruppe sowohl aus dem Publikum heraus agiert, als auch eigene Veranstaltungen und Ausstellungen organisiert. Die Reaktionen, die der Gruppe entgegenschlugen, reichten von Empörung über Wut bis hin zu »blankem Entsetzen«. Viele, auch linke Feministinnen und sogar die jüdische Gemeinde reagierten – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – mit Abwehr auf die Sichtbarkeit und die offene Kritik lesbischer feministischer Jüdinnen (vgl. Interview JJ_2014_11_21). Die Frauen der Gruppe hatten sich 1984 bei einem Vortrag zum Thema »Frauen, Lesben, Judentum« im Frauenzentrum »Lestra« kennengelernt und traten das erste Mal 1985 bei der Berliner Lesbenwoche als »Schabbeskreis« auf (vgl. Baader 1993). Jessica Jacoby1 erzählt im Interview, dass sich die Gruppe wöchentlich am Freitagabend traf, in der Regel ein harter Kern aus sieben Frauen, von denen weder alle lesbisch noch alle jüdisch waren. Trotzdem wurden freitags Kerzen entzündet und Brot gebrochen, jedoch nicht aus einem religiösen Ritus heraus, sondern eher als verbindende Tradition innerhalb einer kleinen Wahlfamilie. Jeden ersten Freitag im Monat öffnete sich die Gruppe für Interessierte. So hatte schon vor Gründung der AG »Frauen gegen Antisemitismus« die eine oder andere Aktivistin des späteren Arbeitskreises einen ›Gastauftritt‹ in der Runde des »Schabbeskreis« (vgl. Interview JJ_2014_11_21).

1

Jessica Jacoby war sowohl Initiatorin des »Schabbeskreis« als auch Teil der AG »Frauen gegen Antisemitismus«. Sie hat Theater- und Filmwissenschaften sowie Germanistik studiert und ist heute Filmjournalistin und Englisch-Coach.

Vom Vergessen und Erinnern | 103

1989 löste sich der »Schabbeskreis« auf. Benjamin Baader2 vermutete, dass neben den sehr engen Bindungen innerhalb des Kreises das Fehlen eines Konzepts zum Umgang mit unterschiedlichen Positionierungen innerhalb der Gruppe ein ausschlaggebender Faktor gewesen sein könnte, der zu ihrem Ende führte (vgl. Baader 1993). Jessica Jacoby setzt den Fokus anders. Zwar ist auch sie der Meinung, dass persönliche und emotionale Überlastungen der Gruppe eine Rolle gespielt hätten, sie sieht aber vor allem die Trennung von Lebenswegen und örtliche Veränderungen als Grund für die Auflösung der Gruppe (vgl. Interview JJ_2014_11_21). Nichtsdestotrotz ist der »Schabbeskreis« ein feministischer Meilenstein, der mit seinem subversiven Aktivismus den Mehrheitsfeminismus in Deutschland nachhaltig verstört hat. Innerhalb der Gruppe entstanden über die gemeinsame Arbeit langjährige enge Verbindungen und Freund_innenschaften, die zum Teil bis heute bestehen und die Arbeit der einstigen Mitglieder beeinflussen.

D IE AG »F RAUEN GEGEN ANTISEMITISMUS « – ( K ) EIN N EUANFANG Die AG »Frauen gegen Antisemitismus« war die Nachfolgegruppe des »Schabbeskreis« und doch ganz anders: eine zum größten Teil andere Besetzung, eine andere Arbeitsweise, ein anderer Schwerpunkt. Die AG entstand 1989 nach der Auflösung des »Schabbeskreis« und in der Folge der Bremer Tagung »Frauen und Rassismus«, die, laut Birgit Rommelspacher,3 der Auslöser zur Gründung der AG war (vgl. Interview BR_2014_11_10). Benjamin Baader, der kein Teil der AG, aber sehr wohl auch auf der Tagung anwesend war, und Birgit Rommelspacher, die zu den Tagungsorganisatorinnen gehörte, berichten aus zwei gegensätzlichen Perspektiven vom aufwühlenden Szenario der Veranstaltung. So unterschiedlich ihre Positionen auch sind – für beide führte der heftige Widerstand eines bestimmten Teils der Tagungsteilnehmerinnen zu entscheidenden und produktiven Perspektivwechseln. Benjamin Baader schreibt: »Hier erlebte ich das erste Mal, daß Immigrantinnen, jüdische, Schwarze deutsche, bi-nationale und andere ›Minderheiten‹-Frauen gemeinsam nicht in der Minderheit waren. Und das

2

Benjamin M. Baader war als Maria Baader Mitglied des »Schabbeskreis« und ist heute

3

Birgit Rommelspacher war Professorin für Psychologie mit dem Schwerpunkt Interkul-

Associate Professor an der University of Manitoba in Kanada. turalität und Geschlechterstudien an der Alice Salomon Hochschule und politische Aktivistin.

104 | Debora Antmann lag nicht daran, daß ›Wir‹4 zahlenmäßig stärker vertreten waren als bisher. Eigentlich fiel auch nichts Ungewöhnliches vor. Es wurden ein paar ignorante Beiträge gehalten, und als Frauen protestierten, folgten dumme Bemerkungen aus dem Saal. Und plötzlich waren ›Wir‹ viele, nicht mehr allein und voneinander isoliert, sondern sehr wütend. ›Wir‹ sagten laut, was ›Wir‹ für rassistisch und antisemitisch hielten. ›Wir‹ stellten alle Fettnäpfchen auf an diesen Tagen, und jedes Mal, wenn eine weiße, deutsche Frau mit christlichem Hintergrund hineintrat, schrien ›Wir‹ auf und benannten, was ›Wir‹ erlebten.« (Baader 1993: 89 f.)

Während Baader diesen Moment aus einer jüdisch-feministischen Perspektive als verbindend und ermächtigend, als Augenblick des ›Wir‹, als Befreiung und Ausbruch aus einem dominanten weißen deutschen Feminismus begreift, stellt sich Birgit Rommelspacher diese Situation zunächst ganz anders dar: »Ich hatte zusammen mit zwei anderen Kolleginnen aus dem Psychologieverband eine Tagung in Bremen zu Feminismus und Rassismus ausgerichtet und war damals unendlich naiv an die Sache rangegangen. Das kann man sich gar nicht mehr vorstellen, wie ignorant ich damals war. Ich dachte, die freuen sich alle, dass ich das Thema aufgreife – und letztendlich wurde die Tagung ein absolutes Desaster. [...] Die ganze Struktur, die Anlage der Tagung wurde von den Frauen absolut in Frage gestellt; eben dass alles von den Mehrheitsfrauen aus und aus der Perspektive der Mehrheitsfrauen gesehen wurde. Und deswegen wurde die Tagung insgesamt boykottiert. Es war ein Wahnsinn! Auf jeden Fall hab ich da erstmals richtig gespürt, was es eigentlich heißt, so ignorant von der Mehrheitsperspektive aus zu schauen, mit so vielen Selbstverständlichkeiten, die erst da für mich in Frage gestellt worden sind. [...] Und von daher war der Auslöser wirklich eine heftige Konfrontation zwischen einem Feminismusverständnis von Seiten der Mehrheitsfrauen und dem Widerstand von Seiten Schwarzer Frauen, Migrantinnen, jüdischer Frauen.« (Interview BR_2014_11_10)

Bei Birgit Rommelspacher führte diese Konfrontation zu einer stärkeren Auseinandersetzung mit der eigenen Positionierung sowie mit der von jüdischen, Schwarzen deutschen und migrantischen Frauen geäußerten Kritik. Wieder in Berlin, traf sich eine Gruppe von etwa 20 bis 30 Frauen, um – angestoßen durch die Tagung in Bremen und das Ende des »Schabbeskreis« – eine Arbeitsgruppe zum Thema Antisemitismus zu gründen. Nach den ersten Treffen blieben nicht alle Frauen Teil der Gruppe, aber die AG »Frauen gegen Antisemitismus« fand so ihren Anfang. Anders als der »Schabbeskreis« arbeitete diese Runde vor allem inhaltlich-theoretisch und beschäftigte sich vorwiegend kritisch mit feministi-

4

»›Wir‹ und ›Schwarz‹ sind hier politische Begriffe, wie sie zu dieser Zeit verwendet wurden. Sie schließen Immigrantinnen, jüdische, bi-nationale und andere ›Minderheiten‹Frauen ein« (Fußnote im Original).

Vom Vergessen und Erinnern | 105

scher Literatur zum Nationalsozialismus. Die AG trat seltener nach außen und war in ihrer Existenz und Arbeit wesentlich weniger wahrnehmbar, als es der »Schabbeskreis« gewesen war. Lara Dämmig5 zum Beispiel beschreibt die AG eher als eine Art »Studiengruppe« (Interview LD_2014_13_12). Der »Schabbeskreis« war ebenso Arbeitsgruppe wie Freundinnenkreis. Er bot den Aktivistinnen einen Raum, um sich mit ihren Biographien und Familiengeschichten auseinanderzusetzen, Erfahrungen auszutauschen und zu teilen, berichtet Jessica Jacoby im Interview. Und sie erzählt – nicht ohne eine gewisse Enttäuschung – dass dies ein Unterschied zur AG »Frauen gegen Antisemitismus« gewesen sei: »Die Auseinandersetzung war akademischer und die Beziehungen weniger nah [...]. Die Arbeit hatte eher einen Seminarcharakter und war nicht so aktivistisch. Ich konnte das nicht mehr so richtig mit meinen Wünschen in Einklang bringen.« (Interview JJ_2014_11_21)

Jessica Jacoby verließ die Gruppe vor 1993. Der veränderte Umgang mit Biographien und persönlichen Erfahrungen innerhalb der AG »Frauen gegen Antisemitismus« war kein Zufall. Er spiegelte eher eine Entwicklung wider, die auch der Zusammensetzung der Gruppe geschuldet war, erzählen Iris Wachsmuth6 und Birgit Rommelspacher. Zum einen waren es »[...] viel mehr nicht-jüdische Frauen. Deswegen hat es auch keinen Sinn mehr gemacht, sich Schabbeskreis zu nennen, weil wir gar nicht in der Tradition weiter gewachsen sind« (Interview IW_2014_12_07). Dass im Zuge dessen antisemitische Alltagserfahrungen zunehmend aus dem Fokus rückten, war zum anderen aber ebenso eine politische Entscheidung: »Ich denke schon, dass wir das auch immer wieder eingebracht haben, aber es war auf gar keinen Fall ein systematischer Zugang. Das wollten wir nicht oder haben wir nicht für notwendig empfunden. Es war auch so, dass wir sehr kritisch diesen ganzen Programmen gegenüber waren, wo es darum ging, dass jüdische und nicht-jüdische Leute sich austauschen und Selbsterfahrungskurse machen oder ähnliches. [...] Das fanden wir nicht besonders hilfreich und vor allem haben sich auch die jüdischen Frauen dagegen gewehrt. Die wollten gar nicht wissen, was bei uns los ist. Also, sich nicht gewissermaßen als Beichtstuhl funktionalisieren lassen. Das war nicht unser Ansatz.« (Interview BR_2014_11_10)

5

Lara Dämmig hat Bibliothekswissenschaft und Management von Kultur- und Non-ProfitOrganisationen studiert und ist Mitbegründerin der jüdischen Fraueninitiative »Bet Debora«.

6

Iris Wachsmuth ist Sozialwissenschaftlerin, Biographieforscherin und Vorsitzende des Vereins »Neue Arbeitsgemeinschaft für Zeitgeschichte + SozioAnalysen«.

106 | Debora Antmann

Trotzdem entwickelte sich zwischen einigen der Frauen im Laufe der Arbeit eine enge Verbundenheit. Für Iris Wachsmuth beispielsweise war die AG »[...] ein stückweit Familie, Kontinuität. Berlin ist wunderbar, wenn man aus Bremen kommt, aber es war einfach alles groß und meine Freundin hatte mich verlassen. Die Uni war auch so unbeständig. Jeder Kurs ist mit unterschiedlichen Leuten besetzt, es ist irgendwie eine große Anonymität und ich empfand die [AG] »Frauen gegen Antisemitismus« als eine Kontinuität. Wir kannten uns persönlich, wir haben miteinander an wichtigen Sachen diskutiert. Das war ein wichtiger psychischer, intellektueller, politischer Halt.« (Interview IW_2014_12_07)

Einige der Frauen stehen bis heute in Kontakt und tauschen sich aus. Auch wenn die AG »Frauen gegen Antisemitismus« weniger in Erscheinung trat als andere Gruppen, war sie keinesfalls unbedeutend. Ein wichtiges Ergebnis ihrer Arbeit ist die Stiftung »Zurückgeben«, die 1994 von Ursula Wachendorfer und Birgit Rommelspacher mit Unterstützung einiger Frauen aus der AG, wie beispielsweise Jessica Jacoby, gegründet wurde. Die Stiftung unterstützt Projekte von Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen jüdischer Herkunft oder jüdischen Glaubens, die in Deutschland leben und »tut dies im Wissen um die Zerstörung der Arbeitsmöglichkeiten und Existenzen von Juden und Jüdinnen während des Nationalsozialismus«.7 Die Entrechtung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Menschen während des Nationalsozialismus ging mit der Enteignung jüdischen Besitzes einher, wovon bis heute direkt und indirekt profitiert wird. Intention der Stiftung ist es daher, Verantwortung zu übernehmen, diesen Besitz unabhängig von Gesetzen und Fristen durch Spenden und Zustiftungen symbolisch und real zurück zu geben und zur individuellen Förderung jüdischer Frauen zu nutzen.

W ER

WAREN DIE

F RAUEN

GEGEN

ANTISEMITISMUS ?

Dies ist eine Frage, die sich im Nachhinein nicht so einfach beantworten lässt. Einige Namen sind im Beitrag der AG von 1993 festgehalten, weitere wurden in den Interviews genannt. Mit Sicherheit fehlen einige, aber nach etwa zehn Jahren des Bestehens und mit 15 Jahren Abstand ist es schwierig, genau nachvollziehen zu können, wer zu welcher Zeit zum Kreis gehörte. Zudem arbeiteten damals viele der Frauen in verschiedenen politischen Gruppen, und schließlich gab es im Laufe der Zeit auch eine gewisse Fluktuation innerhalb der AG. Trotzdem möchte ich einige der Frauen, auf die ich gestoßen bin, hier namentlich nennen: Lara Dämmig, Ulrike

7

Vgl. dazu die Website der Stiftung http://www.stiftung-zurueckgeben.de/ (Stand: 08.02.2015).

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Gottschalk, Jessica Jacoby, Rivka Jaussi, Caterina Lazzarini, Gotlinde Magiriba Lwanga, Marguerite Marcus, Sigrid Müller, Andrea Pechovsky, Christiane Quadflieg, Birgit Rommelspacher, Karin Schittenhelm, Dagmar Schultz und Iris Wachsmuth. In den Interviews wurde immer wieder die Diversität der Gruppe betont: jüdische und nicht-jüdische Frauen, Frauen aus der ehemaligen DDR und der BRD, akademische und nicht-akademische Frauen, Frauen mit und ohne Behinderung, Lesben und Heteras. Auch in »beiträge zur feministischen theorie und praxis« stellt sich die AG »Frauen gegen Antisemitismus« als Gruppe mit »jüdischen wie nichtjüdischen, deutschen und nicht-deutschen Frauen« vor (vgl. Frauen gegen Antisemitismus 1993). Tatsächlich jedoch waren die meisten Frauen deutsch und weiß; es waren mehr nicht-jüdische als jüdische Frauen; alle bis auf eine Frau hatten studiert; nur ein paar wenige kamen aus der DDR; und nur eine Frau war behindert (Rollstuhlfahrerin). Damit möchte ich die Perspektivenvielfalt des Arbeitskreises keinesfalls in Frage stellen. Im Gegenteil: Die AG »Frauen gegen Antisemitismus« arbeitete mit diesen Perspektiven und diese fanden Eingang in ihre Betrachtungen. Dennoch fiel in den Gesprächen auf, dass jene Einzelpersonen, die durch ihre Lebensrealitäten die Mehrheitsperspektiven innerhalb der Gruppe aufbrachen, in den Gesprächen immer besonders hervorgehoben und tendenziell besonders in den Blick gerückt wurden. Selten jedoch wurde darauf Bezug genommen, was es für die jeweilige Frau konkret bedeutet haben könnte, die einzige unter fünfzehn zu sein, die nicht studiert hatte, nicht aus dem Westen kam, nicht ableisiert war. In den Interviews blieben die Mehrheitsverhältnisse innerhalb der Gruppe größtenteils unbenannt. Dabei hatte beispielsweise der vorrangig akademische Hintergrund der Frauen durchaus einen starken Einfluss auf die Arbeitsweise und Ausrichtung der AG. Die meisten der Frauen waren lesbisch; in Bezug auf das Alter war die Gruppe ausgesprochen heterogen – mit bis zu 20 Jahren Altersunterschied. In Bezug auf Lebensrealitäten und Ressourcen schien der Altersunterschied zwar relevant, aber zumindest Birgit Rommelspacher, Jessica Jacoby, Iris Wachsmuth und Lara Dämmig haben diesen für die Gruppendynamik weder als problematisch noch als Hürde für die gemeinsame Arbeit beschrieben. Dafür ist etwas anderes auffällig: Iris Wachsmuth und Birgit Rommelspacher, beide Mehrheitsfrauen, sprechen durchweg positiv von ihrem Erleben der Gruppe. Für sie war die AG »Frauen gegen Antisemitismus« eine Bereicherung; die Gruppe wurde als harmonisch und stärkend empfunden (vgl. Interview IW_2014_12_07; Interview BR_2014_11_10). Etwas anders hingegen schildern die beiden jüdischen Frauen ihre Wahrnehmung: Jessica Jacoby verlässt die Gruppe relativ schnell wieder. Sie ist enttäuscht und unzufrieden, spürt keine Nähe und erlebt keine Bereicherung durch die Arbeit in der AG (vgl. Interview JJ_2014_11_21). Lara Dämmig zeichnet ein ähnliches Bild: »Es gab eine große Gruppe, da bin ich dann auch ir-

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gendwann mal raus gegangen, weil ich mich da völlig deplatziert gefühlt habe« (Interview LD_2014_13_12). Auf die Frage, warum sich die AG aufgelöst habe, äußern mehrere Interviewpartnerinnen die Vermutung, es könne wohl daran gelegen haben, dass sich einige Frauen aus verschiedenen Gründen in der Gruppe unwohl gefühlt hätten. Auch wenn sich dies in den Interviews nicht ermitteln ließ, wäre dennoch zu fragen: Was genau waren diese verschiedenen Gründe? Auf welche Dynamiken und Tendenzen innerhalb der Gruppe weisen sie hin? Wieso konnten sich einige Frauen wohler fühlen als andere? Und was bedeutet dies – retrospektiv betrachtet – für das Selbstverständnis und den Anspruch der AG?

D ER N ATIONALSOZIALISMUS DES P ATRIARCHATS «

ALS

»E XTREMFORM

In den 1980er und 1990er Jahren vertraten viele weiße Feministinnen die These, dass Frauen im Nationalsozialismus generell als Leidtragende des Systems zu verstehen seien und es ihnen in dieser »Extremform des Patriarchats« erst recht nicht möglich gewesen wäre, zu Täterinnen zu werden. Die AG »Frauen gegen Antisemitismus« machte es sich daher zur Aufgabe, feministische Texte hinsichtlich dieses Frauen- und Geschichtsverständnisses kritisch zu analysieren und zur Diskussion zu stellen. Dass ›Frauen‹ in den dominanten Theoretisierungen pauschalisiert als Opfer des Nationalsozialismus konstruiert wurden, ermöglichte es weißen deutschen, christlich sozialisierten Frauen zum einen, einfache Opfer-Täter-Dichotomien herzustellen. So ließ sich die Tatsache ignorieren, dass die meisten, im NS nicht verfolgten Frauen faktisch Nutznießerinnen des Regimes waren und dieses durch Kriegsbegeisterung, Bereicherung, Ausgrenzung, Denunziation, durch ihr Schweigen, durch gesellschaftspolitisches Engagement in Frauenorganisationen, in Lehre und Forschung sowie in staatlichen, kirchlichen und karitativen Verbänden und Institutionen aktiv und passiv unterstützten (vgl. Frauen gegen Antisemitismus 1993: 86). Zum anderen trug diese verallgemeinernde Opferperspektive zu einer Verzerrung des Opferbegriffs bei, weil auf diese Weise die Schicksale der vielen Verfolgten des Nationalsozialismus relativiert und verharmlost wurden. Die AG »Frauen gegen Antisemitismus« kritisierte vehement die Ausblendung von historischer Verantwortung, die Auslassung von Antisemitismus als Kategorie in der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit, die Relativierung von Täterinnenschaft, (Frauen gegen Antisemitismus 1993: 88) und den Mythos der ›Trümmerfrauen‹ (vgl. Interview IW_2014_12_07). Darüber hinaus untersuchte die Gruppe feministische Texte auf antisemitische Argumentationslinien, wie etwa die Annahme, dass das Judentum Ursprung des Patriarchats sei (vgl. Interview JJ_2014_11_21).

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Die Frauen der AG arbeiteten zuerst als Großgruppe, später in Kleingruppen und analysierten Veröffentlichungen von diversen Autorinnen wie z.B. Christine Wittrock, Gerda Szepansky, Gisela Bock und Christina Thürmer-Rohr.8 Es handelte sich dabei um Werke, die in feministischen Kontexten diskutiert wurden, weil sie entweder dazu beitrugen, die Täterinnenschaft von ›Frauen‹ zu relativieren und die Auseinandersetzung mit der Rolle der Frau im Nationalsozialismus auf die Geschlechterperspektive zu verengen,9 oder aber weil sie neue Konzepte wie das der ›Mittäterschaft‹ von Frauen zur Diskussion stellten.10 In der Analyse der feministischen Literatur fiel den Frauen der AG besonders auf, dass in nahezu keiner der Abhandlungen Antisemitismus thematisiert wurde (vgl. Frauen gegen Antisemitismus 1993: 86). Dies zeigt besonders deutlich, wie ausgeprägt die Mechanismen der Verdrängung und Tabuisierung und wie groß die Ängste vor der Auseinandersetzung mit dem Thema sowie einer damit verbundenen Übernahme von Verantwortung für antisemitisches Denken und Handeln waren. Denn die Frauenbewegung war keinesfalls frei von antisemitischen Denk- und Erklärungsmustern. »Judasfrauen« von Helga Schubert (1990), beispielsweise, war eines der wenigen Werke, das Täterinnenschaft tatsächlich benannte, doch griff der gewählte Titel, der sich als bildhaft und provokativ verstanden haben mochte, ein antisemitisches Stereotyp auf und reproduzierte dieses: »Judas ist bekanntlich die zentrale antijüdische Figur im Christentum. An ihm macht sich die Konstruktion des antisemitischen Bildes vom geldgierigen, verräterischen und hinterhältigen Juden fest. « (Frauen gegen Antisemitismus 1993: 84)

Die Auseinandersetzung mit der Bibel und ihren Exeget_innen war immer wieder Teil der Arbeit der »Frauen gegen Antisemitismus«. Einige der Frauen der AG beschäftigten sich explizit mit den Ansätzen weißer deutscher feministischer Theologinnen, die das Christentum häufig als positive Antithese zum Judentum interpretierten und über die Konstruktion eines ›starren‹, ›veralteten‹, ›patriarchalen‹ und

8

Vgl. dazu Christine Wittrock (1982): »Weiblichkeitsmythen: Das Frauenbild im Faschismus und seine Vorläufer in der Frauenbewegung der 20er Jahre«; Gerda Szepansky (1983[a]): »Frauen leisten Widerstand« sowie dies. (1983[b]): »›Blitzmädel‹, ›Heldenmutter‹, ›Kriegerwitwe‹: Frauenleben im Zweiten Weltkrieg«; Gisela Bock (1986): »Zwangssterilisation im Nationalsozialismus«; Christina Thürmer-Rohr (1987): »Vagabundinnen« sowie dies. /Emme, Martina / Wildt, Carola (Hg.) (1989): »Mittäterschaft und Entdeckungslust«.

9

Das betraf etwa die aus diesem Grund populären Publikationen von Gerda Szepansky (vgl. Frauen gegen Antisemitismus 1993).

10 Hier sind die Arbeiten von Christina Thürmer-Rohr zu nennen (siehe Fußnote 8).

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›gewaltvollen‹ Judentums die vermeintlich ›besseren‹ christlichen Werte für die Gleichberechtigung von Mann und Frau zu legitimieren versuchten. Dabei wurde die hierarchische Abgrenzung vom Judentum als ›Vorläuferreligion‹ genutzt, um ein Bild der ›emanzipierteren‹ christlichen Frau zu schaffen und zu fordern. Auf die Kritik an dieser Perspektive, in der sich antijudaistische und antisemitische Stereotype verknüpfen, wurde unterschiedlich reagiert. Während sie in einigen Kreisen auf Abwehr stieß, schienen andere sich ernsthaft damit auseinandersetzen zu wollen (vgl. Frauen gegen Antisemitismus 1993: 87; Interview IW_2014_12_07). Diese Öffnung nahmen die Frauen der AG in ihren Artikel von 1993 auf und zitieren eine Gruppe feministischer Theologinnen: »›Auch wir als feministische Theologinnen schleppen das Erbe des christlichen Antijudaismus mit uns und reproduzieren ihn häufig unreflektiert z.B. in der Kritik am Patriarchat des Judentums.‹ Daraus folgt als Anspruch an die eigene Arbeit: ›Kritik am Antijudaismus der herrschenden Exegese, Wahrnehmung des Selbstverständnisses jüdischer Traditionen, insbesondere rabbinischer Überlieferungen, Entdeckung jüdischer Frauengeschichte, nicht nur als Unterdrückungs-, sondern auch als Befreiungsgeschichte, die Entwicklung einer Jesusdeutung ohne jüdisches Feindbild‹.« (Frauen gegen Antisemitismus 1993: 88)

Heute, über zwanzig Jahre später, zieht Birgit Rommelspacher allerdings eine eher ernüchternde persönliche Bilanz: »Im Zusammenhang mit meinen Forschungen zum Christentum bin ich wieder auf die christlichen Theologinnen gestoßen. Ich habe aber den Eindruck, dass da später nicht mehr viel passiert ist, sondern dass damals die Zeit war, wo man das diskutiert hat und dann eigentlich auch wieder Schluss war. So ist mein Eindruck jedenfalls.« (Interview BR_2014_11_10)

Auch wenn Lesen, Analysieren und Schreiben im Mittelpunkt der Arbeit der AG »Frauen gegen Antisemitismus« stand, besuchten die Frauen gemeinsam Veranstaltungen oder traten gelegentlich mit ihrem Arbeitsthema nach außen. Sie demonstrierten als AG mit Spruchbändern und Plakaten bei einer Demo gegen den Golfkrieg, sie organisierten mindestens eine Veranstaltung zum Thema »Wie antisemitisch ist die Frauenbewegung?« im EWA e.V. – Frauenzentrum und besuchten gemeinsam als Gruppe einen Workshop zur Auseinandersetzung mit deutscher Identität (vgl. Interview IW_2014_12_07; Interview BR_2014_11_10). Vermutlich gab es weit mehr Gelegenheiten, bei denen die Gruppe sichtbar wurde, auch wenn sich die Erinnerungen daran nach so vielen Jahren bei den Frauen leider nicht mehr abrufen lassen. Ebenfalls ungeklärt bleibt, wie lange die AG letztendlich existierte. Lara Dämmig vermutet, bis etwa Mitte der 1990er Jahre; Iris Wachsmuth ist sich sicher, dass die Gruppe bis Ende der 1990er Jahre bestand; Birgit Rommelspacher glaubt, dass es nach der Publikation 1993 nicht mehr allzu lange weiter ging. Vielleicht

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liegen die unterschiedlichen Einschätzungen auch daran, dass – laut Lara Dämmig – die AG zunehmend in Kleingruppen zerfiel.

25 J AHRE

SPÄTER

– E IN B LICK

ZURÜCK

Ich würde gerne schreiben, dass ich erschrocken darüber bin, wie eindimensional sich der Umgang mit der Thematik »Nationalsozialismus« in den 1990er Jahren in der weißen deutschen Frauenbewegung aus heutiger Sicht darstellt. Wie ignorant ein dominantes Feminismusverständnis war, mit dem sich Antisemitismus nicht benennen und die Auseinandersetzung damit verweigern ließ. Wie ungeheuerlich sich die antisemitischen Argumentationslinien einiger weißer, deutscher, christlich sozialisierter Feministinnen lesen. Aber auch heute – 25 Jahre später – scheint es in den hegemonialen feministischen Kontexten nach wie vor möglich zu sein, Antisemitismus, Rassismus, Ableismus, Heteronormativität und andere Formen sozialer Ungleichheit entweder nicht oder nur am Rande zu thematisieren, die politischen Kämpfe von marginalisierten Gruppen zu ignorieren und die vielen intersektionalen Forschungsansätze, die aus diesen Kämpfen hervorgegangen sind, auszublenden oder zu überschreiben. Doch auch in den Berliner queerfeministischen Kontexten meiner Generation scheint die Auseinandersetzung mit Antisemitismus in den eigenen Reihen und die Frage nach der Sichtbarkeit von Jüd_innen innerhalb dieser über die Jahre leider eher wieder eingeschlafen zu sein. Es war Nivedita Prasad, die meine Suche und mein Gefühl, dass ich mich mit dem jüdischen Teil meiner Identität innerhalb dieser Szene nicht gesehen und auch nicht richtig wohl fühle, in einem Seminar aufgriff und anfing, mir über den »Schabbeskreis« und den jüdischen Widerstand ihrer Generation zu erzählen. Mich begeisterten und empowerten ihre Berichte ungemein, denn in meinem Umfeld waren weder der »Schabbeskreis« noch die AG »Frauen gegen Antisemitismus« als politische Gruppen der 1980er und 1990er Jahre ein Begriff. Dies zeigt, wie wichtig Dokumentationen und andere erinnerungspolitische Projekte sind. Sie können dazu beitragen, das Wissen, die Auseinandersetzungen und die Arbeit im Kontext marginalisierter Bewegungsgeschichten sichtbar und zugänglich zu machen. Sie erlauben es, die Beiträge, die von starken, mutigen und weitsichtigen Menschen geleistet wurden, wertzuschätzen, und sie können jene, die in der Gegenwart mit Diskriminierung und Gewalt zu kämpfen haben, stärken, ermächtigen und stützen. Ganz zum Schluss möchte ich mich bei Lara Dämmig, Jessica Jacoby, Birgit Rommelspacher und Iris Wachsmuth bedanken, die bereit waren, 25 Jahre zurück zu schauen und ihre Erinnerungen zu teilen.

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L ITERATUR Antmann, Debora (2014[a]): Interview BR_2014_11_10. Unveröffentlichtes Gesprächstranskript Birgit Rommelspacher. Antmann, Debora (2014[b]): Interview IW_2014_12_07. Unveröffentlichtes Gesprächstranskript Iris Wachsmuth. Antmann, Debora (2014[c]): Interview JJ_2014_11_21. Unveröffentlichtes Gesprächstranskript Jessica Jacoby. Antmann, Debora (2014[d]): Interview LD_2014_13_12. Unveröffentlichtes Gesprächstranskript Lara Dämmig. Baader, Maria (1993): Zum Abschied. Über den Versuch, als jüdische Feministin in der Berliner Frauenszene einen Platz zu finden. In: Hügel, Ika et al. (Hg): Entfernte Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung. Berlin, S. 82-94. Bock, Gisela (1986): Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Geschlechterpolitik. Opladen. Emme, Martina / Thürmer-Rohr, Christina / Wildt, Carola (Hg.) (1989): Mittäterschaft und Entdeckungslust. Berlin. Frauen gegen Antisemitismus (1993): Der Nationalsozialismus als Extremform des Patriarchats. Zur Leugnung der Täterschaft von Frauen und zur Tabuisierung des Antisemitismus in der Auseinandersetzung mit dem NS. In: beiträge zur feministischen theorie und praxis, Heft 35, S. 77-89. Schubert, Helga (1990): Judasfrauen: Zehn Fallgeschichten weiblicher Denunziation im Dritten Reich. Frankfurt/Main. Szepansky, Gerda (1983[a]): Frauen leisten Widerstand 1933 bis 1945. Lebensgeschichten nach Interviews und Dokumenten. Frankfurt/Main. Szepansky, Gerda (1983[b]): »Blitzmädel«, »Heldenmutter«, »Kriegerwitwe«. Frauenleben im Zweiten Weltkrieg. Frankfurt/Main. Thürmer-Rohr, Christina (1987): Vagabundinnen. Feministische Essays. Berlin. Wittrock, Christine (1982): Weiblichkeitsmythen. Das Frauenbild im Faschismus und seine Vorläufer in der Frauenbewegung der 20er Jahre. Frankfurt/Main.

Interdependenz von Inklusion und Exklusion – ein sozialwissenschaftlicher Selbstversuch Zu einer deutsch-niederländisch-jüdischen Familiengeschichte im Kontext von Rassismus und Krieg Rudolf Leiprecht

I Für meinen sozialwissenschaftlichen Selbstversuch, den ich im Folgenden in Ausschnitten vorstellen möchte, finde ich in den Arbeiten von Birgit Rommelspacher wichtige theoretische Ausgangspunkte und Analysen, aber ebenso eine zentrale Aufforderung. In einem Text, der die Überschrift »Nationale Identität und Größenwahn« trägt, diskutiert Rommelspacher die Frage des Deutsch-Seins, wobei auch die Geschichte des Nationalsozialismus an der Macht thematisiert wird. Sie fordert hier dazu auf, »sich immer wieder und intensiv mit dieser Geschichte zu befassen« (Rommelspacher 1995[b]: 207), ein Anliegen, das ich teile. Eine kritische Erinnerungsarbeit sollte zu einer Überprüfung und Weiterentwicklung von Erinnerungskultur beitragen, auch in dem Sinne, dass die Diskurse zur Erinnerung und die Erinnerungskultur/en selbst mit zum Gegenstand von Durcharbeitung und Analyse werden. Deutlich werden sollten dabei sowohl die unterschiedlichen Perspektiven, aus denen heraus erinnert wird, als auch warum bestimmte Fakten und Zusammenhänge in den Vordergrund gestellt, andere vernachlässigt, verdrängt, umgeschrieben oder gar verleugnet werden. Solche Perspektiven können zum Beispiel an nationale und/oder politische Interessen gekoppelt sein, eine unterschiedliche Durchsetzungskraft haben und sich im Laufe der Zeit und im Kontext jeweils zeitgenössischer Diskurse verändern. Sie können aber auch mit den Bezügen zu tun haben, die mit den unterschiedlichen, in der NS-Gesellschaft einge-

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nommenen oder erzwungenen Positionierungen verknüpft sind.1 Dabei ist auch zu unterscheiden zwischen Prozessen des Nicht-/Erinnerns auf der gesellschaftlichen Makro-Ebene und der sozialen Mikro-Ebene (einer Familie oder Nachbarschaft), wobei die Strukturen und Bedeutungsmuster der Makro-Ebene in die Möglichkeitsräume der Mikro-Ebene hineinragen. Wenn in einer Familie die Sprache der Erinnerung versagt und Erinnerung nicht kommuniziert wird, kann dies mit den dynamischen Verhältnissen innerhalb einer Familie selbst zu tun haben, auf der Seite von Täter_innen etwa verbunden mit der Angst der ersten Generation vor Bestrafung oder Verurteilung oder der Angst der nachfolgenden Generationen vor dem genauen Wissen über die Taten der Eltern oder Großeltern. Temporäre Sprachlosigkeit kann aber auch ein Hinweis auf Disartikulation (vgl. Hall 1997) sein, bezieht sich – und hier denke ich eher an die Familien von Verfolgten – auf die Abtrennung oder das Abgetrennt-Sein von thematisch-inhaltlicher Einbindung in die Sprache einer hegemonialen Nicht-/ Erinnerungskultur. Teilweise sind die Konstellationen innerhalb von Familien allerdings so komplex, dass es sowohl Handelnde gibt, die aktiven und überzeugten Täter_innen zuzuordnen sind, als auch solche, die im ›Nationalsozialismus an der Macht‹ zu den Verfolgten des mörderischen Regimes gehörten, und dazwischen ein Spektrum von Mitläufer_innen (in sehr hoher Zahl) in Bezug auf die vorherrschende Macht bis hin zu Unterstützer_innen (numerisch leider deutlich weniger umfassend) von Verfolgten. Unterschiedlich begründete Sprachlosigkeiten, die hier u.U. zusammenkommen, zeigen zwar, dass und wie es in recht verschiedener Weise schwer ist, sich gegen das Vorherrschende zu wenden und auf Erinnerung zu bestehen, gleichzeitig ist es aber auch nicht völlig unmöglich, es kann zu Prozessen von Thematisierung und Reartikulation kommen. All dies lässt sich verbinden mit einer Theorieskizze von Birgit Rommelspacher, in deren Zentrum der Begriff Dominanzkultur steht. Sie hat in den 1990er Jahren diesen Begriff für die (Fach-) Debatten in Deutschland vorgeschlagen und entfaltet und damit »ein Ensemble gesellschaftlicher Praxen und gemeinsam geteilter Bedeutungen« in den Blick genommen, das durch »spezifische Kategorien von Über- und Unterordnung« gekennzeichnet ist (Rommelspacher 1995[a]: 22 f.).2 1

Etwa gegenüber aktiven Täter_innen, Mitläufer_innen, Zuschauenden, aber auch gegenüber Opfern nationalsozialistischer Unterdrückung und Vernichtung und ihren Unterstützer_innen, gegenüber deutschen Jüd_innen, nicht-jüdischen Deutschen oder anderen Verfolgten des NS-Regimes (Roma und Sinti, Homosexuellen, Menschen mit Behinderungen, Kommunist_innen, usw.).

2

Entstanden ist – so Rommelspacher – die Dominanzkultur in der Folge von patriarchalen, kapitalistischen, kolonialen und nationalsozialistischen Herrschaftsverhältnissen. Es handelt sich um ein »Geflecht verschiedener Machtdimensionen [...], die in Wechselwirkung zueinander stehen« (23), und bei denen nicht mehr »eindeutig zu bestimmen« ist,

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Sowohl die Erinnerungskulturen und ihre gesellschaftlichen, politischen und sozialen Kontexte als auch – in besonders extremer und zugespitzter Form – die Ereignisse im Nationalsozialismus, an die erinnert wird, finden in Verhältnissen von Über- und Unterordnung statt. Zum einen ermöglichten Varianten von Dominanzkultur – eingelassen in die alltäglichen Lebensweisen und verbunden mit aufwertenden Selbstinterpretationen und abwertenden Bildern vom Anderen – Nationalsozialismus und Shoah und zum anderen behinderten und behindern sie Erinnerungskulturen, die auch auf Erinnerung an Dominanzkulturen und ihre Überwindung setzen. Meine eigene aktuelle Erinnerungsarbeit ist in diesem historischen und gesellschaftlichen Gegenstandsbereich verortet. Im Mittelpunkt steht meine deutsch-niederländische Familiengeschichte. Sie handelt von meinem jüdischen Großvater aus Rotterdam, dessen Tochter (meine Mutter) sich während der Besetzung der Niederlande durch Truppen aus dem nationalsozialistisch beherrschten Deutschland ausgerechnet in einen deutschen Soldaten (meinen Vater) verliebt. Mein Selbstversuch geht dabei nicht – wie in der Aufforderung von Rommelspacher, die sich vor allem an die »meisten nicht-jüdischen Deutschen« (Rommelspacher 1995[b]: 207) richtet – von einer mononationalen, monoreligiösen oder monokulturellen Perspektive aus. Ich versuche vielmehr, die Geschichte einer bi-nationalen (deutsch-niederländisch) und zugleich jüdisch/nicht-jüdischen Familie zu verdeutlichen. Dabei zeigt sich auch eine Form von Inklusion, die als ›Behauptung von Normalität‹ zum einen fast schon ›zwanghaft zukunftsgerichtet‹ ist, zum anderen aber alle Themen, die mit Nationalismen, Rassismen und Verletzungen der Vergangenheit verbunden sind, ausklammert. Meine Familiengeschichte ist möglicherweise deshalb für andere interessant, da sie – angesichts aktueller Kriege und grober Menschenrechtsverletzungen – deutlich macht, wie Kriege und Rassismen persönliche Erschütterungen verursachen, die nicht nur in den früheren Kontexten dramatische Folgen hatten, sondern deren Echos mehr als 70 Jahre nach den Ereignissen immer noch spürbar sind.

»welches der Hauptwiderspruch ist und welches die Nebenwidersprüche« (ebd.). Rommelspacher hat also Mitte der 1990er Jahre eine Theorieskizze entworfen, die heute unter dem Begriff Intersektionalität (Lutz / Herrera Vivar / Supik 2010) firmieren würde. In Deutschland war dieser Begriff, der von der US-amerikanischen Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw im Kontext einer Black Feminist Critique Ende der 1980er Jahre kreiert worden war (Crenshaw 1989), damals noch nicht in die Fachdebatten eingeführt, wobei auch im angelsächsischen Diskurs noch einige Jahre vergingen, bevor er sich in einer umfassenderen Weise durchsetzte (Davis 2008).

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II Seit über 30 Jahren bin ich als Forscher, Lehrer und Autor in den Bereichen von Rassismusforschung und Erziehungswissenschaften bzw. Sozialpädagogik tätig. Nach dieser langjährigen wissenschaftlichen Beschäftigung mit Prozessen, Folgen und Ursachen von stereotyper Negativzuschreibung, Othering und Exklusion habe ich es gewagt, einen »soziologischen Selbstversuch« durchzuführen, angeregt und ermutigt u.a. durch die Lektüre eines Textes von Pierre Bourdieu, der 2001 unter diesem Titel erschienen ist. Dabei waren es weniger Form und Inhalt von Bourdieus Reflexionen, die mir Mut machten.3 Es war eher die Tatsache, dass biografische Reflexionen eines Wissenschaftlers für ein Publikum interessant sein könnten, ohne dadurch in den Verdacht zu geraten, eine narzisstische Selbstbespiegelung betreiben zu wollen. Gleichzeitig war mir schon als Student in den 1970er und 1980er Jahren in Tübingen klar, dass in der Theorie und Praxis von (Sozial-)Pädagogik das Biographische eine besondere Rolle spielt, die reflektiert werden muss. Die Erziehungs- und Sozialwissenschaftlerin Bettina Dausien bringt dies auf den Punkt, indem sie darauf aufmerksam macht, dass »Professionelle, die verantwortlich mit den Biografien anderer ›arbeiten‹ wollen«, auch »eine praktische Auseinandersetzung mit biografischen Erfahrungen und Reflexionsprozessen ›am eigenen Leib‹« geführt haben sollten (Dausien 2005: 10). Auch Lehrende in Tübingen wie Hans Thiersch, Burkhard Müller oder Josef Held hatten dies damals betont, gleichzeitig allerdings darauf hingewiesen, dass zwischen Biografie und aktuellem Fühlen, Denken und Handeln kein monokausaler Ableitungszusammenhang besteht. Allerdings, so formuliert dies Bettina Dausien, bestimmen die »zeitlich aufgeschichteten Erfahrungen und Sinnzusammenhänge eines Subjekts« dessen »Handlungen und Deutungen in einer je aktuellen Situation mit« (ebd.: 6), wobei ich – vorsichtig geworden gegenüber deterministischen Lesarten – statt von Mitbestimmung eher von Rahmung oder Beeinflussung sprechen würde. Umgekehrt bedeutet die Reflexion der eigenen (Familien-) Biografie auch, dass das reflektierende Subjekt sich »zu sich selbst ›neu‹ ins Verhältnis setzt«, Erfahrungen und Erinnerungen »in einem veränderten Licht« erscheinen, »mitunter neu gedeutet« werden und Elemente in den Vordergrund geraten, die bislang kaum bedeutsam erschienen (ebd.). Reflexion verändert also die bewusst wahrgenommene und erzählte Biografie. Obwohl ich dies alles weiß und für bedeutsam halte, finde ich es aus mehreren Gründen riskant und schwierig, Elemente aus der eigenen Familiengeschichte für eine wissenschaftliche Analyse zu gebrauchen, zumal wenn es, wie in meinem Fall, 3

Bei seinem Text handelt es sich um die Beschreibung einer Biografie als ein Wissenschaftler, der im Geflecht von Fachdebatten, Politik und Mediendiskursen darum bemüht ist, eine inhaltliche Position, die gehört werden muss, zu behaupten; Bourdieu versucht, diese auch sehr persönliche Auseinandersetzung nachvollziehbar zu machen.

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ein ›Gelände‹ betrifft, in dem es an jeder Ecke Warnzeichen gibt, die auf Schmerzhaftes und Unberührbares hinweisen. Dabei macht mir paradoxerweise vor allem die zu erwartende (Fach-)Öffentlichkeit, die ich ja gerade gezielt aufsuche, weil ich denke, etwas Wichtiges zeigen und mitteilen zu müssen, besonders zu schaffen. Auf den möglichen Vorwurf der narzisstischen Selbstbespiegelung habe ich schon hingewiesen. Nicht weniger unangenehm ist mir zudem das Gefühl des ›Bloßstellens‹, und mulmig wird mir auch, wenn ich an die vielen ›Schubladen‹ denke, in die ich gesteckt werden könnte. Angesichts dieser ›Gefahren‹ finde ich es ›hilfreich‹ und ›beruhigend‹, dass ich als Analysierender meiner eigenen Familiengeschichte das ›Material‹ selbst in der Hand habe und mich schützen kann, indem ich zwar etwas Bestimmtes zeige, etwas Anderes aber weglasse oder nur andeute. Gleichzeitig liegt hier natürlich auch ein Problem, da ich vor eigenen ›Ignoranzen‹ bei der Analyse nicht gefeit bin.

III Zunächst möchte ich auf eine theoriebezogene Überlegung hinweisen, die meine biografisch angelegte Untersuchung begleitet. Der Begriff Inklusion wird in Deutschland vor allem in der allgemeinen Ungleichheitsforschung als positiv besetzter Gegenbegriff zur sozialen Exklusion gebraucht, aber natürlich auch – in einer sehr allgemeinen, abstrakten und eher formal-logischen Weise – bei Konzepten, die auf eine Systemtheorie Luhmannscher Prägung zurückgreifen. Zudem ist Inklusion seit einiger Zeit ein zentraler Begriff in der Menschenrechtsdebatte geworden, wobei die UN-Konvention von 2006 zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen, die 2009 auch in Deutschland in Kraft trat und dazu verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem zu schaffen, dazu geführt hat, dass die Verwendung des Begriffs einige Schubkraft erfuhr. Der Begriff Inklusion hat in den öffentlichen, aber auch in den wissenschaftlichen Diskursen meist einen positiven Klang, benennt eine Praxis auf dem Weg zu einem positiv bewerteten Ziel: Es soll fair zugehen, alle sollen dazu gehören, niemand soll draußen bleiben, niemand soll im Regen stehen gelassen werden. Exklusion ist dann das Gegenteil, beschreibt das Negative, den Verweis, den Ausschluss, die Grenzziehung, die Verweigerung des Zugangs. Mit dem Begriffspaar Inklusion/Exklusion werden also oft zwei Seiten oder zwei Möglichkeiten beschrieben, die sich zueinander in einem Gegensatz befinden. Sehr selten aber werden die Verbindungen bzw. die Interdependenz von Inklusion und Exklusion in den Blick genommen, und noch seltener wird thematisiert, dass es auch Konstellationen geben kann, in denen Inklusion das Negative und Unerwünschte darstellt. In meiner eigenen Familiengeschichte entdecke ich alle drei

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Formationen: a) das Gegensatzverhältnis, b) die Verbindung und c) Inklusion als etwas Problematisches.

IV Doch jetzt zu meiner Familiengeschichte, die ich in Auszügen und Umrissen erzähle, unterstützt von Fotos und Dokumenten aus Familienalben und Zeitgeschichte. Auf dem ersten Bild sind meine Großmutter Diana, mein Großvater Jacob, die Schwester meiner Großmutter – Tante Ani – und die Tochter meiner Großeltern – meine Mutter Adriana – zu sehen. Es wurde in Rotterdam in den Niederlanden aufgenommen, vermutlich nach dem Kriegsende in den 1940er Jahren.

Quelle: Privatarchiv Rudolf Leiprecht

Meine Großmutter schaut auf ihre Tochter (meine Mutter), der Blick meiner Großmutter ist ernst. Die beiden Frauen rechts, in modischer Kleidung der damaligen Zeit, lachen in die Kamera. Mein Großvater … Wann habe ich ihn eigentlich lachen sehen? Die Ehe meiner Großeltern stellt zu ihrer Zeit eine Grenzüberschreitung dar. Mein Großvater ist ein Jude, meine Großmutter eine Katholikin, beide interpretieren und leben Religion in einer säkularen Weise. Solche ›gemischten‹ Verbindungen sind in der niederländischen Gesellschaft bereits vor ihrem Verbot und ihrer Verfolgung unter der deutschen Besatzung oft sozial unerwünscht. Mein Großvater, ein Musiker, sein Künstlername lautet Jacques Bonofito, leitet ein kleines Orchester. Er komponiert, arrangiert und spielt Musik. Mit seinem Orchester lässt er Stummfilme im Kinosaal zu einem beeindruckenden Erlebnis für

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das Publikum werden. Es ist seine große Zeit. Er ist gut, er ist leidenschaftlich, er ist angesehen, er hat Erfolg. Seine Tätigkeit ist nicht nur sein Beruf, sondern seine Berufung.

Quelle: Privatarchiv Rudolf Leiprecht

Mein Großvater muss nun kurz hintereinander mehrere Ereignisse verkraften, die mit gesellschaftlichen Entwicklungen verbunden sind und für ihn zu persönlichen Katastrophen werden. Die Zeit des Stummfilms geht in den 1930er Jahren zu Ende. Die Kinos brauchen ihn und sein Orchester nicht mehr. Er wird arbeitslos, verdingt sich in Bars als Pianist, wo er die musikalischen Wünsche von Gästen erfüllt. Es ist nachvollziehbar, dass er dies als Abstieg empfindet. Im Mai 1940 dann die nächste Katastrophe. Die deutsche Luftwaffe bombardiert Rotterdam und legt die Stadt in Schutt und Asche. Das Land wird von den Truppen des nationalsozialistisch beherrschten Deutschlands besetzt. Die Judenverfolgung nimmt in der Besatzungszeit immer mehr an Schärfe zu. Mein Großvater muss, als säkularer Jude durch die Ehe mit einer katholischen Frau immer weniger geschützt, untertauchen (Henkes 1998). 1942 werden seine Eltern und ein Großteil seiner Familie nach Auschwitz deportiert und dort innerhalb von zwei Wochen ermordet. Und dann geschieht das Unfassbare. Seine Tochter, 15 Jahre alt, verliebt sich 1944 in einen deutschen Besatzungssoldaten.

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Quelle: Privatarchiv Rudolf Leiprecht

Dieser Besatzungssoldat, stationiert auf einem Kriegsschiff im Hafen von Rotterdam, schreibt dem Vater seiner Geliebten bald Briefe: »Ich achte alle Menschen als gleich.« »Ich komme aus einer sozialdemokratischen Familie.« »Ich werde Ihre Tochter gut behandeln.«

Mehrere Jahre später wird er auch einen Brief an die niederländische Königin schreiben. Der Krieg ist vorbei und der ehemalige Besatzungssoldat, mein Vater, hat 1947 das niederländische Mädchen aus einer säkularen jüdisch-katholischen Familie inzwischen heiraten können. Er lebt mit ihr im Dorf seiner Eltern in Süddeutschland. Das Problem ist, dass die beiden eigentlich in den Niederlanden wohnen wollen, dies aber nicht dürfen. Meine Mutter musste bei der Heirat ihren niederländischen Pass abgeben und gilt als Verräterin. Mein Vater fragt in seinem Brief an die Königin: »Wieso dürfen wir als deutsch-niederländisches Ehepaar nicht in den Niederlanden wohnen, wo doch auch Sie mit Ihrem Mann aus Deutschland dort wohnen dürfen?«

Er bekommt nie eine Antwort. Mittlerweile ist viel passiert. Mein Großvater und seine Schwester haben als einzige aus dem jüdischen Familienzweig die Judenverfolgung überlebt. Mein Großvater kam, wie meine Großmutter später berichten wird, »halb verhungert,

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abgemagert und völlig zerlumpt nach Hause«. Die Ereignisse von Verfolgung und Krieg werden ihn nie wieder los lassen. Er leidet unter massiven Angstzuständen. Nach Deutschland, in dieses feindliche und bedrohliche Land, wird er, obwohl mehrfach von seiner Tochter eingeladen, nie reisen. Meine Mutter ist noch 1944 meinem Vater nach Deutschland gefolgt. Sie hat sich freiwillig für den Reichsarbeitsdienst verpflichtet und wird in dem Dorf eingesetzt, in dem die Familie meines Vaters lebt. 1945, in den letzten Kriegstagen, wird dort mein Bruder geboren. Wenige Wochen später wird das Gebiet von französischen Truppen befreit, meine Mutter als Kollaborateurin verhaftet und – jetzt 16 Jahre alt – in die Niederlande gebracht. Ihr Kind hat sie bei der Mutter meines Vaters zurückgelassen, die Geburt gegenüber den französischen und niederländischen Behörden verschwiegen. Erst 1947 werden sich mein Vater und meine Mutter in Deutschland wiedersehen können. Mein Bruder lebt so lange bei meiner deutschen Großmutter; sie sieht das Kind als eine Art unerwünschte ›Kriegsfolge‹.

V Wenn ich nach dem Tod meiner Eltern in ihren alten Familienalben blättere, entdecke ich immer wieder Bilder, auf denen Besuche unserer kleinen Familie auf Kriegsschiffen in den Häfen dieser Welt gezeigt werden.

Quelle: Privatarchiv Rudolf Leiprecht

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Über seine Zeit als Marinesoldat hat mein Vater Kriegsgeschichten erzählt. Immer wieder. Ich bezeichne sie als Deckgeschichten (Covering Narratives). In ihnen erscheint der Krieg als großes und aufregendes Abenteuer, eine Art Freizeitkultur. Tod und Tötung werden kaum erwähnt, und schon gar nicht in einer Form, die meinen Vater als verantwortlichen Akteur zeigt. Gleichzeitig verdecken diese Geschichten den Riss in der Familie: dass seine Frau aus einer jüdischen-katholischen Familie kommt, dass sein Schwiegervater Jude ist, dass dieser Teil der Familie in Auschwitz fast vollständig vernichtet wurde: all dies findet keine Erwähnung. Die Geschichten sind unterhaltsam. In ähnlicher Weise gestaltet meine Mutter ihre erzählte Geschichte. Abenteuerlich, aber dort, wo es wirklich ernst geworden wäre, schweigt sie. Die Familie wird mit einem Tabu ausgestattet, dass mein Großvater Jude ist, wird zum Familiengeheimnis. Shoah und Auschwitz bleiben unthematisiert. Ein Ausschnitt aus einem Interview meiner Eltern, das sie 2007 Steffie van den Oord, einer befreundeten Forscherin, gegeben haben; beide waren damals schon über 70 Jahre alt: [Mein Vater:] »Ihr Vater sprach nur über seine Auftritte, und über Musik. Über den Krieg habe ich nie mit ihm gesprochen.« […] [Meine Mutter:] »Hier in Deutschland, in der Familie, weiß niemand, dass mein Vater Jude war. Ich kann das immer noch nicht sagen. Ich habe Angst, dass ich deshalb schief angeschaut werde.« (Van den Oord 2007)

Nach dem Krieg schauen alle nach vorne, es soll besser und vor allem soll das Vergangene überwunden werden. Auch mein Großvater hat seine Deckgeschichten. Sie handeln vom Stummfilm, seiner großen Zeit als Musiker, als Leiter eines Orchesters, auch seines Abstiegs als Barpianist. Nie ein Wort über seine Zeit im Versteck, nie ein Wort über Shoah und Auschwitz, nie ein Wort über seine ermordete Familie. Er hat nie mit seinem Schwiegersohn darüber geredet und nie mit seiner Tochter. Dieses Schweigen lastet allerdings schwer auf der Familie. Es ist ein bleiernes Schweigen. Die vielen Deckgeschichten, die erzählt werden und dabei zum Schweigen beitragen, ermöglichen es meinen Eltern, eine Exklusion im Dorf zu vermeiden. Das Sagbare in der dörflichen Öffentlichkeit und der dortigen Familie umfasst zudem nicht eine Positionierung, die auf den jüdischen Vater aufmerksam gemacht hätte. Wie der Historiker Stefan Berger zeigt, sahen sich in der Nachkriegszeit große Mehrheiten der deutschen Bevölkerung selbst als Opfer der NS-Zeit; das Thema der Gewaltverbrechen, die im Namen des eigenen Landes begangen worden waren, war äußerst unbeliebt (Berger 2006: 215). Birgit Rommelspacher beschreibt die Nachkriegszeit als einerseits »gegründet auf dem Extremismus der Nazizeit und genährt durch die Verdrängung dieser Vergangenheit«, andererseits als eine gelebte »Re-

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duktion auf zweckmäßige Lebensbewältigung« (Rommelspacher 1995[b]: 207). Und der Historiker Daniel Cil Brecher konstatiert über die Nachkriegszeit in Westdeutschland: »Offizielle Verlautbarungen [...] waren entsprechend vage gehalten, und die Sprache, mit der über Juden und die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in der Öffentlichkeit gesprochen wurde, blieb vorsichtig, defensiv und möglichst abstrakt.« (Brecher 2012: o.S.)

Inklusion war möglich, weil gegenüber dem vorherrschenden Diskursfeld Disartikulation praktiziert wurde. Dabei hatte diese Disartikulation auch eine Funktion für die Inklusion innerhalb der Familie. Es machte Familie möglich, suggerierte Harmonie und ließ Nähe und Zuneigung entstehen, auch zur deutschen Großmutter, auch zu den Brüdern und Schwestern meines Vaters. Dies allerdings war ambivalent und mit hohen Kosten verbunden. Meine Mutter fand nie eine Sprache, mit der sich ihre zentralen kritischen Lebensereignisse bearbeiten ließen. Dabei wirkte die Vergangenheit durchaus. Meine Mutter wurde depressiv, unternahm mehrere Selbstmordversuche, wurde innerhalb der Familie gewalttätig. Ich liebte sie und ich hatte Angst: vor ihren Ausbrüchen, die sich nicht vorhersagen ließen, vor der verbalen und körperlichen Gewalt, die von ihr ausging. Ich hatte aber auch Angst um sie, wenn sie aus mir unerklärlichen Gründen tief traurig war, völlig verzweifelt. Auch mein jüdischer Großvater versuchte, eine inklusive Familie zu entwerfen. Das Jüdische, Shoah und Auschwitz wurden exkludiert. Nie wurde darüber im deutsch-niederländischen Familienzusammenhang gesprochen. Dafür gab es keine Sprache. Seine Angstzustände bearbeitete er nie. Ich mochte ihn sehr, auch weil er mich vor meiner Mutter schützte und mich schon als Kind in Rotterdam in die große Welt des Kinos einführte. Ich fand ihn aber auch merkwürdig, irgendwie seltsam mit seiner nervösen, übervorsichtigen und sehr ängstlichen Art. Dass sich bei beiden, meiner Mutter und meinem Großvater, Folgen von Traumatisierungen zeigten, wurde mir erst klar, als ich mit 36 Jahren endlich – und zwar eher beiläufig und zufällig – erfuhr, dass mein Opa Jude war.

VI Es ist deutlich, dass sich auch in meiner Familiengeschichte Ereignisse auf der gesellschaftlichen Makro-Ebene mit der familiären Mikro-Ebene verbinden. Dabei verläuft allerdings vieles nicht so, wie es die machtvollen äußeren Verhältnisse vorsehen. Die Niederlande werden besetzt, die Feinde sind im Land, und meine Eltern – er ein Besatzungssoldat, sie die Tochter eines jüdischen Niederländers – verlieben

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sich ineinander. Wir können dies gegenüber den vorherrschenden Makro-Strukturen auch als eine Grenzüberschreitung interpretieren; und in bestimmter Weise, wenn auch unter ganz anderen gesellschaftlichen Verhältnissen, Bedeutungskontexten und Folgen, die Wiederholung einer ›gemischten‹ Verbindung, die meiner Mutter bereits von ihren Eltern vorgelebt worden war. Im Mikro-Verhältnis des bi-nationalen Paares entsteht dabei eine positive Inklusion, die in den nationalen Kontexten beider Seiten allerdings von Exklusion bedroht ist. Meine Eltern erhalten keine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis für die Niederlande. Der Staat zementiert hier die Trennung zwischen der verräterischen Tochter und ihrem Vater. Nach dem Krieg bemühen sich mein niederländisch-jüdischer Großvater, seine Tochter und mein deutscher Vater mit Hilfe von Deckgeschichten und gezieltem Schweigen um eine prekäre und dramatisch wirksame Inklusion, die sich kaum als positiv bezeichnen lässt: Eine bi-nationale Familienharmonie wird möglich, aber zu welchem Preis? Dabei weisen die Disartikulationsprozesse auch darauf hin, dass von ›innen‹ und ›außen‹ zu jeder Zeit Exklusionen drohten; dass es sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikro-Ebene keine geeignete ›Sprache‹ und keinen Verarbeitungsdiskurs gab und insgesamt Inklusion und Exklusion in meiner Familie in seltsam verschlungener Weise wirksam wurden.

VII Ich habe das Bedürfnis, meine Großeltern – Jacob und Diana – auf ein ›Podest‹ zu stellen, sie zu ehren, auch, um damit deutlich zu machen, welches Leid sie im Kontext von deutscher Besatzung und Shoah erfahren mussten. Ich kann dies nur andeuten: Jacob, der schreckliche Erfahrungen im Versteck machen musste und Todesängste erlitt, zudem fast seine ganze Familie in Auschwitz durch den antisemitischen Massenmord verlor. Diana, die Angst um ihren Jacob hatte und während des Krieges ein lebenswichtiges Lügengebäude ›nach außen‹ aufrecht zu erhalten hatte. Beide, die ihre minderjährige Tochter auf Abwegen sahen, erleben mussten, wie sie sich mit einem Mann aus dem Feindeslager einließ, ein Kind von ihm bekam und schließlich nach Deutschland ging, dem Land, aus dem heraus die Morde befohlen und organisiert worden waren, denen die meisten jüdischen Mitglieder der eigenen Familie zum Opfer fielen. Beide haben sich mir gegenüber – dem zweiten Kind aus dieser Ehe, einem ›Deutschen‹ – überaus großmütig verhalten. Jacob und Diana haben mich in ihrer kleinen Wohnung in Rotterdam aufgenommen, mir eine Sicherheit und Geborgenheit garantiert, auf die sie selbst wenige Jahre zuvor verzichten mussten. In den 1950er und frühen 1960er Jahren habe ich als Kind viel Zeit bei meinen Großeltern verbracht. Damals musste ich auch erleben, dass Kinder aus der Nach-

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barschaft nicht mit mir spielen wollten: »Met dit moffejochie spelen wij niet!« Sie gebrauchten dabei einen abwertend-verächtlichen Ausdruck für Deutsche (Moffen). Die Abweisung hat mich damals fassungslos gemacht. Ich habe es nicht verstanden, und niemand hat es mir erklärt. Erst viel später wurde mir klar, dass mein deutscher Vater für die Nachbarkinder – und vermutlich wohl vor allem für deren Eltern – als Repräsentant von Krieg, Faschismus, Bombardierung, Besatzung und Judenverfolgung gesehen wurde. In ihren Augen hatte ich diese absoluten Negativmerkmale von meinem Vater geerbt, es saß sozusagen ›in mir‹, durch die Biologie, durch die Erziehung. Es konnte gar nicht anders sein. Wie anders haben mich meine Großeltern behandelt, obwohl doch auch sie viele Gründe gehabt hätten, sich ablehnend zu verhalten. Wenn ich meinen Großvater dann so auf dem ›Podest‹ sehe, das ich errichtet habe – und niemand soll es wagen, ein schlechtes Wort über ihn zu verlieren! –, fällt mir ein, dass er häufiger abfällige Bemerkungen über frühere Kollegen machte. Kollegen, mit denen er mehr oder weniger intensiven Kontakt in seiner Zeit als Musiker und Künstler gehabt hatte; die jetzt, anders als er selbst, in der späten Nachkriegszeit einem größeren Publikum bekannt geworden waren und mit eigenen Beiträgen in größeren Theatern, im Radio und im sich langsam durchsetzenden Medium Fernsehen auftreten konnten. Dabei speiste sich seine lautstarke Abneigung diesen Kollegen gegenüber nicht etwa aus den künstlerischen Darbietungen, die er nicht mochte, sondern mein Großvater lehnte Homosexualität und Homosexuelle ab – und dies sehr deutlich und sehr grundsätzlich. Will ich dies öffentlich machen, ihn – ein Opfer von Judenverfolgung und Shoah – kritisieren? Ist dies nicht kleinlich und unangemessen? Vielleicht... vielleicht... vielleicht nicht. Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich denke, dass ich mit meinem Großvater auch zeigen kann, dass – um dies in Form einer absurden Zuspitzung zu formulieren – Judenverfolgung, Shoah, Krieg und Besatzung nicht verschwinden, wenn er Dinge dachte, sagte oder tat, die ich nicht unterstütze, sondern ablehne. Menschen, die schreckliche Erfahrungen machen, die Unterdrückung und Verfolgung erleben, werden deshalb nicht zu ›Heiligen‹ – auch wenn ich dies im Falle meines Großvaters gern so gehabt hätte. Menschen, die durch Antisemitismus oder Rassismus bedroht, mit Zuschreibungen belegt, abgewertet, in ihren Lebensmöglichkeiten und Zukunftschancen behindert werden, als Opfer zu idealisieren, ist verständlich, aber wenig sinnvoll. Zudem lauert hier die Gefahr von (ungerechtfertigter, da durch die zuvor stattgefundene Idealisierung evozierte) Enttäuschung, die zu einem ›Entzug‹ von Empathie und Anteilnahme, ja zum Verzicht auf ein Handeln, das sich gegen Dominanzkulturen und unterdrückende Verhältnisse richtet, führen kann. Und in der Tat: Nicht nur Inklusion und Exklusion können in komplexer und widersprüchlicher Weise ineinander verstrickt sein, sondern auch unterschiedliche Systeme und Muster von Zuschreibung, Abwertung, Unterdrückung und Ausgrenzung. Dies zeigt sich auch im Falle

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meines Großvaters, der selbst in extremer Weise von Antisemitismus betroffen war, gleichzeitig aber – von einer heteronormativen Lebensweise aus, die von ihm als ›allein gültige‹ und ›normale‹ gedacht wurde – Homosexualität und Homosexuelle ablehnte. Ich liebe ihn, ich danke ihm, ich ehre ihn – und ich kritisiere ihn.

L ITERATUR Berger, Stefan (2006): On Taboos, Traumas and Other Myths: Why the Debate about German Victims of the Second World War is not a Historians’ Controversy. In: Niven, Bill (Hg.): Germans as Victims. Remembering the Past in Contemporary Germany. New York, S. 210-224. Brecher, Daniel Cil (2012): Die unverträgliche Erinnerung. Holocaust und kollektive Identitäten in Deutschland und Israel. In: Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung, Heft 28, 1/2012. Schwerpunktthema: Jüdische Identitäten in Deutschland nach dem Holocaust. Eichengrund. Bourdieu, Pierre (2002): Ein soziologischer Selbstversuch. Frankfurt/Main. Crenshaw, Kimberlé (1998): Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory, and Antiracist Politics. Zuerst 1989. In: Phillips, Anne (Hg.): Feminism and Politics. Oxford & New York, S. 314-343. Dausien, Bettina (2005): Biografieorientierung in der Sozialen Arbeit. In: Sozial Extra, Heft 11, November 2005. Wiesbaden, S. 6-11. Davis, Kathy (2008): Intersectionality as buzzword: A sociology of science perspective on what makes a feminist theory successful. In: Feminist Theory, Vol. 9 (No. 1), S. 67-85. Hall, Stuart (1997): The Work of Representation. In: Hall, Stuart (Hg.): Representation. Cultural Representations and Signifying Practices. London, S. 13-74. Henkes, Barbara (1998): »Het vuil, de sterren en de dood.« Lucas Plaut en Stien Witte: portret van een ›gemengd‹ huwelijk. In: Van Eijl, C. (Hg.): Parallelle Levens. Jaarboek voor Vrouwengeschiedenis 18. Amsterdam: Stichting beheer IISG, S. 91-116. Lutz, Helma / Herrera Vivar, Maria Theresa / Supik, Linda (Hg.) (2010): Fokus Intersektionalität – Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts. Wiesbaden. Rommelspacher, Birgit (1995[a]): Einführung: Orientierungslosigkeit und Macht. In: Dies.: Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin, S. 9-38, Rommelspacher, Birgit (1995[b]): Zur Frage des Deutsch-Seins. Nationale Identität und Größenwahn. In: Dies.: Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin, S. 189-208. Van den Oord, Steffie (2007): Liefde in oorlogstijd. Amsterdam.

Menschenrechte intersektional

Entweder Schwarz oder weiblich? Zum Umgang mit Intersektionalität in UN-Fachausschüssen Nivedita Prasad

Auch wenn nicht explizit als solche betitelt, finden sich die Ursprünge dessen, was heute als »Intersektionalität« bezeichnet wird, unter anderem bei Davis (1982), hooks (1984), Mohanty (1988) und Crenshaw (1989). Bei allen Autorinnen handelt es sich um Pionierinnen des Schwarzen Feminismus bzw. Feminismus of Color in den USA und darüber hinaus. Während Feministinnen in dominanten Kontexten Gender als Hauptdiskriminierungsmerkmal fokussierten, begriffen die genannten Autorinnen es als eines von mehreren gesellschaftlichen Machtverhältnissen und nicht als sogenannte ›Masterkategorie‹. Gemeinsam ist ihren Überlegungen, dass sie die Verknüpfungen von Rassismus und Sexismus theoretisierten und zumindest diese beiden Unterdrückungsformen als interdependent zusammendachten. Besonders hervorzuheben sind die Arbeiten von Davis, die zusätzlich Klassismus berücksichtigte und damit – auch nach heutigen Maßstäben – ihren Analysen die Komplexität intersektionaler Verhältnisse zugrunde legte. Birgit Rommelspacher gehört zu den wenigen weißen Feministinnen, die frühzeitig Gender mit anderen Diskriminierungsmerkmalen wie Ethnizität, Schicht und/oder Behinderung ins Verhältnis setzte, und unterscheidet sich damit von vielen weißen Feministinnen ihrer Generation. Besonders deutlich wird dies in ihrem Konzept der »Dominanzkultur« (Rommelspacher 1995). Auch in ihren Büchern »Behindertenfeindlichkeit« (1999) und »Anerkennung und Ausgrenzung« (2002) diskutiert sie jenes Geflecht, das später unter dem Begriff »Intersektionalität« (akademische) Aufmerksamkeit erfuhr. Birgit Rommelspacher war als Mitglied der AG »Frauen gegen Antisemitismus«1 maßgeblich daran beteiligt, die Kritik jüdischer Frauen am Mainstream des weißen deutschen Feminismus zu verbreiten. Seit Ende der 1980er Jahre gehörte sie 1

Siehe dazu den Beitrag von Antmann im vorliegenden Band.

130 | Nivedita Prasad

zu jenen weißen Frauen, die Kritiken von Schwarzen und migrierten Frauen sowie von Women of Color sehr ernst nahmen und in der weißen Frauenbewegung thematisierten. So erinnert Rommelspacher z.B. in ihrem Beitrag zu »Interdependenzen – Geschlecht, Klasse und Ethnizität« daran, dass »bereits in den 80er Jahren Schwarze Frauen, Migrantinnen und jüdische Frauen in Deutschland sehr eindringlich gefragt haben, wen die Mehrheitsfrauen eigentlich meinten, wenn sie von ›der‹ Frau sprachen« (2006: 2). Seit Mitte der 1990er Jahre kritisiert Rommelspacher jene Feministinnen, die antimuslimischem Rassismus Vorschub leisten oder in ihrem spezifischen Verständnis von Feminismus Rassismus re-/produzieren. Birgit Rommelspacher arbeitete zusammen mit Silvia Staub-Bernasconi und Christina Thürmer-Rohr das Curriculum des Masterstudiengangs »Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession« aus. Ihre theoretischen Ausführungen zur und politischen Interventionen in Dominanzkultur sind in das Konzept des Studiengangs eingegangen. An diese Tradition anknüpfend wird im folgenden Beitrag diskutiert, in welcher Weise Intersektionalität in der Arbeit von Fachausschüssen der Vereinten Nationen (UN) Rechnung getragen wird.

V ON

DEN

UN

ANERKANNTE

D ISKRIMINIERUNGSMERKMALE

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) verkündete bereits 1948 in Artikel 2, dass alle Menschen einen Anspruch auf alle darin enthaltenen Menschenrechte hätten, ohne Unterschied nach ›Rasse‹,2 Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand. 1966 wurde diese Vorgabe sowohl im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt) als auch im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) fast im Wortlaut wiederholt. Durch die Aufnahme der in der AEMR enthaltenen Diskriminierungsmerkmale in den Zivilpakt wurden diese justiziabel, denn der Zivilpakt enthielt von Beginn an einen Beschwerdemechanismus. Erst 1965 definierten die UN rassistische Diskriminierung in ihrer Konvention zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskriminierung (CERD); 1981 wurde mit der Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) geschlechtsspezifische Diskriminierung bestimmt; und erst 1989 hat der Menschenrechtsausschuss 3 in Anlehnung an CERD und CEDAW Diskriminierung allgemein formuliert als:

2 3

Zur Verwendung der Terminologie ›Rasse‹ in Gesetzestexten siehe Cremer 2009. Jede Konvention hat einen Fachausschuss, der für die Implementierung der jeweiligen Konvention zuständig ist; der Menschenrechtsausschuss ist der Ausschuss des Zivilpakts.

Entweder Schwarz oder weiblich? | 131 »[...] jede Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung aufgrund insbesondere der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauungen, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status [...], welche die Beeinträchtigung oder die Vereitelung der Anerkennung, der Inanspruchnahme oder der Ausübung der Gesamtheit der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle unter gleichen Bedingungen zur Folge oder zum Ziel hat« (Menschenrechtsausschuss 1989: Abs. 7 – Hervorhebung N.P.).

E RWEITERUNG DER D ISKRIMINIERUNGSMERKMALE Für die Erweiterung der von den UN ursprünglich anerkannten Diskriminierungsmerkmale ist die Formulierung »sonstiger Status« von großer Bedeutung und zeugt von weiser Voraussicht: Hierdurch können die Fachausschüsse – im Rahmen von sogenannten Allgemeinen Empfehlungen oder Allgemeinen Bemerkungen4 – für eine sukzessive Erweiterung der Diskriminierungsmerkmale sorgen. Heteronormativität Auch wenn UN-Fachausschüsse den Terminus »Heteronormativität« nicht explizit verwenden, so weisen sie dennoch auf einzelne heteronormative Aspekte hin, die Staaten zu beachten hätten. Historisch betrachtet ist hierbei das Verfahren Toonen gegen Australien (CCPR/C/50/D/488/1992) ein Meilenstein; hier vertrat der Menschenrechtsausschuss als erster UN-Fachausschuss die Ansicht, dass sexuelle Orientierung unter »sonstigem Status« zu subsumieren sei (ebd. Abs. 8.7). Während der UN-Fachausschuss zum Sozialpakt in den Jahren 2000 und 2002 sowohl in seiner Allgemeinen Erklärung Nr. 14 (in Bezug auf das Recht auf Gesundheit) als auch in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 15 (in Bezug auf das Recht auf Wasser) bereits erklärte, dass eine Diskriminierung basierend auf sexueller Orientierung für die jeweiligen Rechte nicht erlaubt sei, wird er einige Jahre später deutlich expliziter und weist darauf hin, dass » [...] seit der Annahme des Paktes sich das Verständnis des verbotenen Grundes ›Geschlecht‹ erheblich gewandelt hat und nicht mehr nur physiologische Merkmale umfasst, sondern auch das soziale Konstrukt der Geschlechterstereotype, Vorurteile und Rollenerwartungen« (Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 2009: Abs. 20).

4

Hierin geben die Ausschüsse Auskunft darüber, wie sie einzelne Artikel ihrer Konvention interpretieren. Dies sind wichtige Auslegungshilfen, da sie einzelne Artikel vertiefen oder präzisieren.

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In derselben Allgemeinen Bemerkung Nr. 20 wird außerdem klargestellt, dass unter »sonstigem Status« auch die sexuelle Orientierung zu subsumieren sei. Darüber hinaus erkennt der Ausschuss an, dass Transgender, transsexuelle oder intersexuelle Menschen oft ernsten Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind (ebd.: Abs. 32). Eine explizite Klarstellung zur Vulnerabilität von bisexuellen Menschen findet sich hier allerdings nicht.5 Auch müsste diskutiert werden, ob als queer identifizierte Menschen durch diese Auslegung geschützt sind oder hier nicht eine zusätzliche Erweiterung nötig ist. Klassismus Auch Klassismus erwähnt der UN-Fachausschuss zum Sozialpakt nicht explizit, aber er behandelt das Thema unter »Diskriminierung auf Grund von sozialer Herkunft«, die er nicht nur auf den ererbten sozialen Status einer Person bezieht (ebd.: Abs. 24), sondern auch auf den Vermögensstatus. Er weist darauf hin, dass »der Vermögensstatus als verbotener Diskriminierungsgrund ein breiter Begriff ist und unbewegliches (z.B. Grundeigentum oder Grundbesitz) ebenso wie bewegliches Vermögen (z.B. geistiges Eigentum, bewegliche Sachen, Einkommen) beziehungsweise den Mangel an solchem Vermögen umfasst« (ebd.: Abs. 25).

Der Hinweis des Ausschusses, dass »die Ausübung der im Pakt niedergelegten Rechte nicht vom gegenwärtigen oder früheren Wohnort eines Menschen abhängig sein darf« (ebd.: Abs. 34), ist mit Blick auf die Exklusion von Menschen aus stigmatisierten Stadtteilen und/oder die soziale Realität vieler rassismuserfahrener Menschen vielversprechend. Die Thematisierung von Diskriminierung aufgrund des sozialen Status ist nicht selbstverständlich; sie kommt z.B. im deutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz nicht vor. Was die internationale Justiziabilität von Diskriminierung aufgrund von klassistischer Diskriminierung angeht, so ist diese für Menschenrechtsverletzungen in Deutschland nicht gegeben, da das Zusatzprotokoll zum Sozialpakt, das im Mai 2013 in Kraft getreten ist, von der Bundesregierung bislang weder unterzeichnet noch ratifiziert wurde. Ableismus Im Jahr 1994 publizierte der UN-Fachausschuss zum Sozialpakt seine Allgemeine Bemerkung Nr. 5 zum Thema »Menschen mit Behinderung«. Die Tatsache, dass Menschen mit Behinderung nicht bereits im Vertragstext des Sozialpakts explizit 5

Dies ist insofern problematisch, als es eine Diskrepanz zu den Yogyakarta Prinzipien der Hirschfeld-Eddy-Stiftung 2008 darstellt, auf deren Definition sich der Ausschuss bezieht.

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erwähnt wurden, erkläre sich, so der Hinweis, mit »der mangelnden Wahrnehmung der Bedeutung dieses Problems zum Zeitpunkt der Diskussion des Sozialpakts« (Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 1994: Abs. 6). Auch wenn es mit Inkrafttreten der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) keine Erwähnung mehr braucht, dass die Verweigerung von Menschenrechten für Menschen mit Behinderung eine verbotene Form der Diskriminierung ist, wiederholte der UN-Fachausschuss zum Sozialpakt dies auch in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 20. Demnach stellt die Weigerung von Staaten, Menschen mit Behinderung adäquate Wohnmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen eine Form von Diskriminierung dar. Ebenso erfolgt der Hinweis, dass Staaten Diskriminierungen wie etwa Bildungsverbote thematisieren sollen (ders. 2009: Abs. 28). Anwendung des Menschenrechtsschutzes auf Migrant_innen Während die Diskriminierungsverbote der oben erwähnten Merkmale relativ eindeutig sind, bietet das Diskriminierungsverbot aufgrund nationaler Herkunft Anlass zu kontroversen Diskussionen. Zwar erwähnen sowohl der Zivilpakt als auch der Sozialpakt, dass Diskriminierung aufgrund von nationaler Herkunft zu unterlassen sei. Darunter ist aber nicht die Ungleichbehandlung von Staatsangehörigen und Nicht-Staatsangehörigen zu verstehen (vgl. Spieß 2007). Der Sache nach stehen alle Menschenrechte allen Menschen zu, allerdings können sich Staaten auch weiterhin vorbehalten, bestimmte Rechte nur Staatsangehörigen zu gewähren. Damit bleiben eklatante Lücken im Diskriminierungsschutz. Diese Widersprüchlichkeit wird in der Allgemeinen Bemerkung Nr. 15 des Menschenrechtsausschusses deutlich, in der zunächst festgehalten wird, »dass jedes der im Pakt garantierten Rechte ohne Unterscheidung zwischen Staatsbürgern und Ausländern gewährleistet werden muss und nur ausnahmsweise einzelne Rechte nur für Staatsbürger gelten« (Menschenrechtsausschuss 1986: Abs. 2). Im weiteren Verlauf weist der Ausschuss aber auch darauf hin, dass der Pakt niemandem das Recht gewähre sich im Hoheitsgebiet eines Staates aufzuhalten; die einzigen hier erwähnten Ausnahmen sind die Achtung des Familienlebens und das Verbot der unmenschlichen Behandlung (ebd.: Abs. 5). Dieses Problem greift der Menschenrechtsauschuss 2004 erneut auf und spezifiziert, dass sich der »[...] Genuss der Paktrechte nicht nur auf Staatsbürger/innen erstreckt, sondern auf jedermann, unabhängig von Staatsangehörigkeit oder Staatenlosigkeit, wie z.B. Asylsuchende, Flüchtlinge, Wanderarbeitnehmer/innen oder jede andere Person, die sich auf dem Staatsgebiet oder innerhalb der Staatsgewalt eines Vertragsstaates befindet« (ebd.: Abs. 10).

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Diese Auslegung wird auch vom UN-Fachausschuss zum Sozialpakt mehrfach bestätigt: Während er in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 14 aus dem Jahr 2000 ›lediglich‹ in Bezug auf das Recht auf Gesundheit klarstellt, dass Staaten einen gleichberechtigten Zugang zu Gesundheitsdiensten auch für Asylsuchende und illegalisierte Migrant_innen garantieren sollten, wird er 2009 in seinem General Comment Nr. 20 umfassender, in dem er darauf hinweist, dass »[t]he ground of nationality should not bar access to Covenant rights, e.g. all children within a state, including those with an undocumented status, have a right to receive education and access to adequate food and affordable health care. The Covenant rights apply to everyone including non-nationals, such as refugees, asylum-seekers, stateless persons, migrant workers […], regardless of legal status and documentation« (Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 2009: 30, Hervorhebungen – N.P.).

Diese Auslegung wird auch vom CEDAW-Ausschuss bestätigt (Committee on the Elimination of Discrimination against Women 2010: Abs. 12). Von besonderer Bedeutung für die Unterscheidung zwischen Staatsangehörigen und NichtStaatsangehörigen ist ferner die Allgemeine Empfehlung XXX6 des CERDAusschusses (Committee on the Elimination of Racial Discrimination 2004). Dieser stand vor dem Problem, dass Staaten der Ansicht waren, sie könnten NichtStaatsangehörigen Menschenrechte verweigern, weil in der Konvention darauf hingewiesen wird, dass CERD »keine Anwendung auf Unterscheidungen, Ausschließungen, Beschränkungen oder Bevorzugungen, die ein Vertragsstaat zwischen eigenen und fremden Staatsangehörigen vornimmt, findet« (CERD Artikel 1, Abs. 2). Migrant_innen, Asylsuchende und andere Nicht-Staatsangehörige wurden damit vom Schutz durch CERD ausgeschlossen. Die Widersprüchlichkeit dieser Sichtweise wird im Fall Zaid Ben Ahmed Habassi gegen Dänemark (CERD/C/54/1997) deutlich. Herrn Habassi, einem in Dänemark lebenden tunesischen Staatsangehörigen, wurde aufgrund seiner ausländischen Staatsangehörigkeit ein Kredit mit der Begründung verweigert, die Bank vergebe diese nur an dänische Staatsbürger_innen, um so eine Sicherheit für die Rückzahlung zu gewährleisten. Dass Herr Habassi eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis hatte, in Dänemark fest angestellt arbeitete und mit einer dänischen Staatsbürgerin verheiratet war, wurde von der Bank nicht berücksichtigt. Keine der Beschwerden, die er in Dänemark vortrug, führte zu einer umfangreichen Untersuchung des Falles. Schließlich wandte er sich – erfolgreich – an den CERD-Ausschuss unter Berufung darauf, dass Dänemark ihm keinen effektiven Rechtsschutz vor Rassismus geboten habe. Der Ausschuss stellte fest, dass Staatsangehörigkeit nicht als Garant für die Rückzahlung eines Kredits gelten könne und wertete das 6

Die Zählung der Allgemeinen Empfehlungen von CERD erfolgt in Römischen Zahlen.

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Unterscheidungskriterium der Nationalität als unangemessen und vorgeschoben. Solche Fehlinterpretationen nahm der Ausschuss zur Kenntnis und reagierte mit der Allgemeinen Empfehlung XXX, die unter anderem besagt, dass eine unterschiedliche Behandlung aufgrund von Staatsangehörigkeit nicht dazu führen dürfe, die in den Menschenrechtsverträgen anerkannten Rechte und Freiheiten auszuhöhlen (ders. 2004: Abs. 2). Auch wenn sich nicht alle Ausschüsse zu allen vulnerablen Gruppen geäußert haben, ist davon auszugehen, dass die UN-Fachausschüsse die Klarstellung anderer Ausschüsse auch für ihre Arbeit nutzen bzw. deren Auslegungen umsetzen. Damit wird deutlich, dass die UN Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe/Herkunft, Geschlecht/Gender, sozialem Status und Behinderung nachdrücklich verbieten. Wenn es um Diskriminierung aufgrund von Staatsangehörigkeit geht, so wird unterschieden, ob es sich um Menschenrechte oder staatsbürgerliche Rechte handelt, denn nur solche Rechte, die explizit Staatsbürger_innen vorbehalten sind, dürfen Migrant_innen verweigert werden. Die Gruppe der undokumentierten Migrant_innen stellt dabei eine besonders vulnerable Gruppe dar, weshalb mehrere Ausschüsse sich immer wieder explizit zu ihnen geäußert haben und keinen Zweifel daran lassen, dass alle Rechte – mit Ausnahme der explizit für Staatsbürger_innen formulierten – allen Migrant_innen, ob mit oder ohne Dokumenten, zur Verfügung gestellt werden müssen (vgl. Bielefeldt 2006; Spieß 2007).

I NTERSEKTIONALITÄT IN AUSLEGUNGEN DER UN-F ACHAUSSCHÜSSE Eine Durchsicht der Diskriminierungsmerkmale – auch der erweiterten – macht das strukturelle Problem deutlich, dass auch das UN-Menschenrechtsschutzsystem zunächst von lediglich einem Diskriminierungsmerkmal ausgeht. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass es jeweils eine Konvention zum Schutz eines Diskriminierungsmerkmals gibt (vgl. Bond 2001). Dennoch sehen fast alle Ausschüsse die Notwendigkeit einer intersektionalen Sichtweise und versuchen entsprechend zu reagieren. Der UN-Fachausschuss zum Sozialpakt hat bereits im Jahr 1994 in seiner 5. Allgemeinen Bemerkung zu Menschen mit Behinderung auf Intersektionalität aufmerksam gemacht: »Menschen mit Behinderungen [werden] manchmal wie Menschen ohne Geschlecht behandelt [...]. Im Ergebnis wird oft die doppelte Diskriminierung vernachlässigt, die Frauen mit Behinderung erleiden« (Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 1994: Abs. 19). In der mehrfach zitierten Allgemeinen Bemerkung Nr. 20 desselben Ausschusses findet sich der Hinweis,

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dass unter »sonstigem Status« auch die Intersektion von zwei verbotenen Diskriminierungsgründen zu verstehen ist (ders. 2009: Abs. 27). Auch der Menschenrechtsausschuss formuliert in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 28 einen intersektionalen Ansatz, indem er darauf hinweist, dass die »Diskriminierung von Frauen häufig mit Diskriminierung wegen anderer Gründe wie Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Eigentum, Geburt oder sonstigem Status zusammen fällt« (Menschenrechtsausschuss 2000: Abs. 30).

Dem folgte der CERD-Ausschuss in seiner Allgemeinen Empfehlung XXV, wo unter anderem sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten, Zwangssterilisierung indigener Frauen oder die Ausbeutung von Arbeitsmigrantinnen im informellen Sektor als Beispiele für intersektionale Diskriminierung angeführt sind (UNAntirassismus-Ausschuss 2000[a]: Abs. 2). Im selben Jahr ging der Ausschuss in seiner Allgemeinen Empfehlung XXVII zu Roma mehrfach auf die spezifische Vulnerabilität von Roma-Frauen und -Mädchen ein. Dabei argumentierte er aber nicht intersektional, sondern erweckte eher den Eindruck eines additiven Diskriminierungsverständnisses; denn er spricht von ›doppelter‹ Diskriminierung (ders. 2000[b]: Abs. 6). In seiner Allgemeinen Empfehlung XXX (2005) schließlich empfahl der CERD-Ausschuss den Staaten, Mehrfachdiskriminierungen mehr Aufmerksamkeit zu widmen. In Zusammenhang mit Kindern und Partner_innen von Migrant_innen soll insbesondere darauf geachtet werden, dass es keine Ungleichbehandlung zwischen migrierten Ehefrauen und Ehemännern von Staatsangehörigen gibt (Committee on the Elimination of Racial Discrimination 2004: Abs. 8). Während die Ausschüsse älterer Konventionen sich über Allgemeine Bemerkungen und Empfehlungen zum Thema Intersektionalität äußern, hatte der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen den Vorteil, dass Intersektionalität bereits im Vertragstext angedacht war. Dies hatte sicherlich zum einen damit zu tun, dass die Konvention erst 2006 verabschiedet wurde, lag zum anderen aber auch an der erfolgreichen Lobbyarbeit zivilgesellschaftlicher Akteur_innen im Rahmen der Verhandlung der Konvention.7 Bereits in der Präambel wird die Sorge über die schwierigen Bedingungen bekundet, denen sich Menschen mit Behinderung gegenübersehen, die Mehrfachdiskriminierungen ausgesetzt sind (CRPD 2006: Präambel, Abs. p). Auch wird hier daran erinnert, dass Frauen und Mädchen oft stärker von Gewalt betroffen sind (ebd.: Abs. q). Besonders deutlich wird der intersektionale Ansatz im Artikel 6 der Konvention, wo Staaten aufgefordert werden anzuerkennen, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen mehrfache Diskriminierungen erleben. 7

Siehe hierzu den Beitrag von Degener im vorliegenden Band.

Entweder Schwarz oder weiblich? | 137

Der CEDAW-Ausschuss hat sich zuletzt in seinen Allgemeinen Empfehlungen Nr. 26 und 28 (Committee on the Elimination of Discrimination against Women 2008; 2010) zu Intersektionalität geäußert. Hier weist der Ausschuss auf die spezifische Situation von Migrantinnen hin. Er erinnert daran, dass Migration kein genderneutrales Phänomen ist (ders. 2008: Abs. 5) und merkt an, dass Migrantinnen in Zielländern multiplen Formen von rechtlicher und tatsächlicher Diskriminierung begegnen (ebd.: Abs. 13). Am Ende erwähnt er explizit, dass Migrantinnen oft intersektionale Formen von Diskriminierung erleben. Er nennt Rassismus als zusätzliches Diskriminierungsmerkmal und führt an, dass auch Rassismus eine genderspezifische Komponente haben kann (ebd.: Abs. 14). In seiner Allgemeinen Empfehlung Nr. 28 äußert sich der CEDAW-Ausschuss explizit zu Intersektionalität und erläutert, dass »Intersektionalität ein Grundkonzept ist für das Verständnis der Verpflichtungen von Vertragsstaaten. Die geschlechts- und genderbasierte Diskriminierung von Frauen ist untrennbar mit anderen Faktoren wie Hautfarbe/Herkunft, Ethnizität, Religion oder Glaube, Gesundheit, Status, Alter, Klasse, Kaste, sexuelle Orientierung und Gender Identität verlinkt. Geschlechtsoder genderbasierte Diskriminierung kann Frauen, die solchen Gruppen zugehörig sind, in einer anderen Art oder Intensität betreffen. Staaten müssen intersektionale Formen von Diskriminierung und ihre kumulative negative Auswirkung auf Frauen rechtlich anerkennen und verbieten« (Committee on the Elimination of Discrimination against Women 2010: Abs. 18 – Übersetzung N.P.).

I NTERSEKTIONALITÄT

IN

E NTSCHEIDUNGEN

VON

C EDAW

Es überrascht nicht, dass die Ausschüsse von CERD, CEDAW und CRPD sich am häufigsten zu Intersektionalität geäußert haben. Da der CEDAW-Ausschuss dies am dezidiertesten getan hat, wurden dessen Entscheidungen analysiert, um Hinweise für ein konzeptuelles, intersektionalitätsbasiertes Umdenken und Handeln zu suchen. Die Analyse der beim CEDAW-Ausschuss diskutierten Beschwerden machte deutlich, dass der Großteil der Fälle (12 von 16) nicht ausschließlich Diskriminierung gegen Frauen allein aufgrund ihres Geschlechts betraf,8 sondern Komponenten von mindestens einem weiteren Diskriminierungsmerkmal beinhalten. Es handelte sich hierbei um Frauen, die entweder rassismuserfahren und/oder arm sind und/oder ein Kind mit einer Behinderung haben, und es liegt nahe, dass die Diskriminierung dieses Ausmaß annahm, weil die betroffenen Personen weiblich und von Rassismus und/oder Klassismus und/oder Ableismus betroffen waren. 8

Hier wurden lediglich die Fälle analysiert, die im Ausschuss inhaltlich diskutiert, d.h. zuvor als zulässig deklariert worden waren.

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Besonders deutlich wird dies im Fall A.S9., einer ungarischen Rromni, die gegen Ungarn geklagt hatte (CEDAW/C/36/D/4/2004). Sie kam mit Wehen ins Krankenhaus und musste sich einem Kaiserschnitt unterziehen. Im OP wurden ihr Dokumente zur Unterschrift vorgelegt, um ihr Einverständnis zu erhalten. Handschriftlich war hinzugefügt worden, dass Frau A.S. einer Sterilisation zustimme, wobei das lateinische Wort für Sterilisation verwendet wurde, welches sie nicht kannte. Zwischen dem Eintreffen von Frau A.S. im Krankenhaus und den beiden Operationen vergingen 17 Minuten (!). Da sie in Ungarn gegen diese – unter falscher Voraussetzung ausgeführte – Sterilisation keinen effektiven Rechtsschutz fand, wandte sie sich an den CEDAW-Ausschuss, der ihrer Argumentation folgte und die Meinung vertrat, dass Ungarn CEDAW (Artikel 12) verletzt habe. Die Tatsache, dass Frau A.S. Rromni ist, kann in diesem Fall nicht als unwesentlich betrachtet werden, zumal sie selbst darauf hinwies (ebd. Abs. 9.4) und vom »European Roma Rights Center« sowie dem »Legal Defence Bureau for National and Ethnic Minorities« juristisch vertreten wurde. Bemerkenswert ist allerdings, dass der CEDAWAusschuss ihr zwar Recht gab, nicht aber die Tatsache in Betracht zog, dass sie als Rromni diese Menschenrechtsverletzungen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht nur aufgrund von sexistischen, sondern vor allen Dingen aufgrund von rassistischen Stereotypen (und möglicherweise auch klassistischen Stereotypen) erleben musste. Im Jahr 2011 nahm der CEDAW-Ausschuss im Fall Maria de Lourdes da Silva Pimentel gegen Brasilien (CEDAW/C/49/D/17/2008) Stellung zu intersektionaler Diskriminierung. Frau Pimentel wandte sich an den CEDAW-Ausschuss im Namen ihrer verstorbenen Tochter Frau Teixeira, einer Afrobrasilianerin mit ›niedrigem sozial-ökonomischem Hintergrund‹. Im 6. Monat schwanger, musste diese wegen gesundheitlicher Beschwerden ins Krankenhaus, wo sie als Folge einer unterlassenen Behandlung starb. Die Beschwerde der Mutter an den CEDAW-Ausschuss führte auf, dass ihre Tochter nicht nur aufgrund frauenspezifischer Diskriminierung sterben musste, sondern auch Opfer rassistischer und klassistischer Diskriminierung wurde. Frau Pimentel gewann das Verfahren: Der Ausschuss folgte ihrer Einschätzung, wonach ihre Tochter Opfer ›multipler‹ Diskriminierung als Frau afrikanischer Herkunft und niedrigem sozioökonomischen Hintergrund geworden sei (ebd.: Abs. 7.7). Auch wenn dies auf der normativen Ebene ein sehr großer Schritt war, bleibt doch unerklärlich, warum die Tatsache, dass Frau Teixeira von ›multipler‹ Diskriminierung betroffen war, zwar anerkannt wurde, sich aber nicht in der Entschädigung widerspiegelte. Diese Entscheidung hatte auch nicht zur Folge, dass der CEDAW-Ausschuss nun intersektionale Diskriminierung regelmäßig anerkennt oder in seinen Entscheidungen thematisiert. Im Fall Frau Isatou Jallow gegen Bulgarien (CEDAW/ 9

Die UN Ausschüsse anonymisieren auf Wunsch – wie in diesem Fall – die Namen von beschwerdeführenden Personen.

Entweder Schwarz oder weiblich? | 139

C/52/D/32/2011) etwa lag ebenfalls intersektionale Diskriminierung nahe, wurde aber vernachlässigt. Frau Jallow, die durch Eheschließung aus Gambia nach Bulgarien zu ihrem Ehemann migrierte, sprach kein Bulgarisch und konnte in keiner Sprache lesen oder schreiben. Dort erlebte sie Gewalt in der Ehe, indem sie unter anderem zu pornographischen Aufnahmen gezwungen wurde. In der Wohnung, in der auch die gemeinsame Tochter lebte, stellte der Mann pornographisches Material aus und belästigte zudem das Kind sexuell. Als Frau Jallow eine eigene Aufenthaltserlaubnis erhielt, machte sie ihre Trennungsabsichten deutlich. Ihr Mann war damit nicht einverstanden und kam ihr zuvor, indem er zur Polizei ging und angab, er und seine Tochter erlebten Gewalt durch Frau Jallow. Sowohl die Polizei, als auch das Gericht folgten seiner Darstellung mit der Folge, dass Frau Jallow das Haus verlassen musste und sich ihrer zweijährigen Tochter nicht nähern durfte; der Gerichtsbeschluss hierzu wurde ihr nicht übersetzt. Nachdem Frau Jallow in Bulgarien keinen effektiven Rechtsschutz erhielt, wandte sie sich – ebenfalls mit Erfolg – an den CEDAW-Ausschuss, der eine Verletzung der Frauenrechtskonvention feststellte. Als besonders problematisch wurde dabei der Umstand gewertet, dass die Gerichte ihre Unterlagen nicht übersetzt hatten. Anerkannt wurde, dass Frau Jallow aufgrund ihrer Vulnerabilität mehr Schutz gebraucht hätte (ebd.: Abs. 8.2). Die Tatsache aber, dass die Gerichte von vornherein den Aussagen des Mannes mehr Gewicht schenkten könnte auch damit zu tun haben, dass Frau Jallow Afrikanerin ist und über wenig formale Bildung verfügt. Diese Umstände jedoch werden vom CEDAW-Ausschuss an keiner Stelle thematisiert. In seinen Empfehlungen an den bulgarischen Staat weist der Ausschuss lediglich darauf hin, dass er für angemessene Fortbildung für Richter_innen sorgen solle, mit besonderer Beachtung multipler Diskriminierung (ebd.: Abs. 8.8.c).

AUSBLICK Eine Durchsicht der Allgemeinen Bemerkungen und Empfehlungen der UNFachausschüsse macht deutlich, dass die UN durch eine sukzessive Erweiterung der ursprünglich definierten Diskriminierungsmerkmale dafür sorgen, dass auch jene UN-Dokumente aktuell bleiben und Diskriminierungsformen anerkannt werden, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der jeweiligen Konvention nicht im öffentlichen und/oder staatlichen Bewusstsein waren. Es zeigt sich ebenso, dass intersektionale Diskriminierung bei den UN als Thema zumindest auf der normativen Ebene angekommen ist. Die Analyse der beim CEDAW-Ausschuss eingereichten Beschwerden macht jedoch zugleich deutlich, dass es offenbar nicht gelingt, diese Erkenntnisse grundlegend in die Entscheidungspraxis umzusetzen. So hat sich die Tatsache, dass Klä-

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gerinnen, die mit großer Wahrscheinlichkeit Opfer intersektionaler oder ›multipler‹ Diskriminierung wurden, in keinem der Fälle positiv auf die Entschädigungssumme ausgewirkt. Die Untersuchung der Beschwerden zeigt darüber hinaus, dass eine diskriminierungsrelevante Menschenrechtsbeschwerde selten eindimensional ist. Tatsächlich handelt es sich in der Regel um komplexe Fälle mit Hinweisen auf intersektionale Diskriminierung mit mindestens zwei bis drei Diskriminierungsmerkmalen. Dennoch wurden die meisten Beschwerden monosektionalisiert bzw. mussten, um der Logik der UN zu folgen, ihren Fokus auf ein einzelnes Diskriminierungsmerkmal richten. Die Ontario Human Rights Commission (2001: o.S.) ist der Ansicht, dass in Fällen von intersektionaler Diskriminierung häufig der Rassismus-Bezug verloren geht. Dies hat unter anderem zur Folge, dass die intersektionale Erfahrung von Schwarzen Frauen / Frauen of Color ausgeblendet bleibt und sie entweder zu »raceless women« oder »genderless racial minorities« deklariert werden (ebd.). Es bleibt abzuwarten, ob die künftige Jurisprudenz sich in solchen Fällen verbessern wird, wenn die Beschwerden intersektional vorgetragen werden. Ebenso bleibt abzuwarten, ob hierbei der Rassismusbezug verloren geht. In Bezug auf die UN geht die Autorin Johanna Bond sogar soweit, in der bestehenden Struktur der UN-Fachausschüsse selbst ein Haupthindernis für die Umsetzung eines intersektionalen Ansatzes zu sehen. Sie plädiert daher für längerfristige strukturelle Veränderungen; so wäre z.B. denkbar, dass es nur noch zwei Ausschüsse in den UN gäbe: einen für alle Individualbeschwerden und einen für alle Staatenberichte. Sie vertritt die Ansicht, dass eine solche Umstrukturierung es ermöglichen könnte, intersektionale Realitäten adäquat zu adressieren (Bond 2012: 165 ff.). Um die komplexe Diskriminierung von rassismuserfahrenen und/oder armen und/oder Frauen mit Behinderung adäquat sichtbar zu machen, wird es auch künftig in der Beschwerdeführung nötig sein, auf Intersektionalität zu insistieren. Die Tatsache, dass viele Ausschüsse eher von ›multipler‹ Diskriminierung sprechen, könnte dazu beitragen, die Summe der geforderten Entschädigungen zu erhöhen. Damit verbliebe die Anerkennung der intersektionalen Diskriminierung nicht auf der symbolischen Ebene, sondern würde für die Betroffenen auch auf einer materiellen Ebene spürbar. Ansonsten wird es im Diskurs der UN – wie in vielen anderen öffentlichen und akademischen Debatten – dabei bleiben, dass die Idee der Intersektionalität auf der normativen Ebene Karriere macht, ohne dass diejenigen, die intersektionale Diskriminierung erleben, davon profitieren.

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L ITERATUR Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1994): Allgemeine Bemerkung Nr. 5: Menschen mit Behinderungen. Genf. Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (2000): Allgemeine Bemerkung Nr. 14: Das Recht auf ein Höchstmaß an Gesundheit. Genf. Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (2002): Allgemeine Bemerkung Nr. 15: Das Recht auf Wasser. Genf. Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (2009): Allgemeine Bemerkung Nr. 20 zu: Nichtdiskriminierung bei den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten. Genf. Für die deutsche Übersetzung siehe: URL: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF (Stand: (09.01.2015) Bielefeldt, Heiner (2006): Menschenrechte »irregulärer« Migrantinnen und Migranten. In: Alt, Jörg / Bommes, Michael (Hg.): Illegalität. Grenzen und Möglichkeiten der Migrationspolitik. Wiesbaden, S. 81-93. Bond, Johanna (2001): International Intersectionality. A Theoretical and Pragmatic Exploration of Women’s International Human Rights Violations. In: Emory Law Journal, 52 (1), S. 71-186. Committee on the Elimination of Discrimination against Women (2008): General Recommendation No. 26: On women migrant workers. Genf. Committee on the Elimination of Discrimination against Women (2010): General Recommendation No. 28: On the core obligations of States parties under article 2 of the Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women. Genf. Committee on the Elimination of Racial Discrimination (2004): General Recommendation XXX: Discrimination against Non-citizens. Genf. Cremer, Hendrik (2009): »... und welcher Rasse gehören Sie an?« Zur Problematik des Begriffs ›Rasse‹ in der Gesetzgebung. Berlin. URL: http://www.institutfuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/policy_paper_10_und_welcher_ rasse_gehoeren_sie_an_2_auflage.pdf (Stand: 18.02.2015). Crenshaw, Kimberle (1989): Demarginalizing the Intersection of Race and Sex. In: Legal Forum 129, S. 139-67. Davis, Angela (1982): Rassismus und Sexismus. Schwarze Frauen und der Klassenkampf in den USA. Berlin. Deutsches Institut für Menschenrechte (2005): Die »General Comments« zu den VN-Menschenrechtsverträgen. Baden-Baden. Hirschfeld-Eddy-Stiftung (2008): Die Yogyakarta-Prinzipien. Prinzipien zur Anwendung der Menschenrechte in Bezug auf die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität. Berlin. hooks, bell (1981): Ain’t I a Woman? Black Women and Feminism. Boston.

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Verflechtungen von Rassismus und Ableism Anmerkungen zu einem vernachlässigten Diskurs Judy Gummich »There is really no such thing as the ›voiceless‹. There are only the deliberately silenced, or the preferably unheard.« ARUNDHATI ROY (2004)

Lebensrealitäten und Diskriminierungen an den Schnittstellen von Rassismus und Ableism1 finden noch zu wenig Beachtung. Zwar gewinnt das Thema »Migration und Behinderung« seit einigen Jahren zunehmend an Aufmerksamkeit, doch werden in diesem Diskurs Macht- und Dominanzverhältnisse selten berücksichtigt. In diesem Beitrag werde ich aus meiner Perspektive als Schwarze Deutsche und als alleinerziehende Mutter einer Tochter mit sogenanntem Down Syndrom2 das Machtgeflecht von Ableism und Rassismus beleuchten. Dabei werde ich mich darauf konzentrieren, wie diese Dimensionen miteinander verwoben sind, wo einige der gesellschaftlichen Wahrnehmungsdefizite liegen und welche konzeptionellen Anknüpfungspunkte derzeit diskutiert werden. Als Mitte der 1980er Jahre in Westdeutschland die ersten Selbstorganisationen von Afro-Deutschen und Afro-deutschen Frauen gegründet wurden,3 lernte ich die ersten Schwarzen Menschen mit einer Beeinträchtigung kennen. Darunter waren eine gehörlose Frau, eine Frau mit Multipler Sklerose und ein Mann mit einer Gehbeeinträchtigung. Dies war ein paar Jahre bevor meine Tochter geboren wurde. 1

Zu »Ableism« siehe den Beitrag von Köbsell in diesem Band.

2

Syndrom beschreibt in Medizin und Psychologie die Kombination mehrerer Symptome.

3

»ADEFRA« – Schwarze Frauen in Deutschland und »ISD« – Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland in der BRD sowie »IG Farbig« in der DDR und nach 1989 im Osten Deutschlands »Machbuba's Schwestern«.

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Ich erinnere mich an unsere Euphorie darüber, dass wir uns selbst einen Raum schufen, in dem unser Afro-deutsch-Sein, unser Schwarze-Frau-Sein / SchwarzeLesbe-Sein selbstverständlich war und anerkannt wurde. Dies war der Platz, an dem wir uns nicht verstecken mussten, unser Schwarzsein nicht als Makel gesehen wurde, wir sicher waren vor rassistischer Diskriminierung und mit unserer ganzen Person wir sein konnten. Doch was bedeutete dieses ›Ganz-Sein‹? Ich beobachtete, dass auch wir einen engen Blick hatten und unser Afro-deutsch-Sein in den Mittelpunkt stellten und dabei unser Frau- bzw. Lesbisch-Sein vernachlässigten, ähnlich wie in Frauen-/ Lesbenkreisen unsere spezifischen Erfahrungen als Schwarze Frauen ignoriert wurden. Die Beeinträchtigungen der wenigen Menschen in unseren Kreisen war unter uns Schwarzen Deutschen höchstens in privaten Gesprächen Thema. In einem Dialog mit jener Frau mit Multipler Sklerose fragte ich sie, wie es ihr in Behinderten- im Vergleich zu Afro-Deutschen Zusammenhängen ginge. Sinngemäß erwiderte sie: In Behinderten-Zusammenhängen muss ich immer mein Schwarzsein ausblenden und in Schwarzen Zusammenhängen meine Behinderung. »Ich kann nie die sein, die ich wirklich bin.« Dieser Satz beschäftigt mich bis heute und ist nach wie vor ein Antrieb, mich stärker mit Ausgrenzungsmechanismen auseinanderzusetzen und vor allem mit der Dynamik an den Schnittstellen von Rassismus und Ableism, die oft noch in Verbindung mit weiteren Dimensionen wirksam sind. Dies führte mich letztendlich zum Thema der Intersektionalität und zu den Menschenrechten. Insbesondere die Menschenrechte, wenngleich zwischen Anspruch und realer Politik Widersprüche bestehen, treiben mein Engagement gegen Diskriminierung und für gleiche Partizipationschancen aller Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen an.

M ACHTVOLLE D IMENSIONEN Im menschlichen Zusammenleben suggerieren Kategorien oder Dimensionen klare Abgrenzungen zwischen den Einen, den ›Normalen‹, und den ›Anderen‹, etwa den behinderten oder Schwarzen Menschen. Auch wenn Kategorien konstruiert sind, haben sie doch reale Folgen (vgl. Attia 2013), etwa in Form von struktureller Benachteiligung oder Ausgrenzung oder in der Verinnerlichung negativer Zuschreibungen. Die verschiedenen Machtdimensionen strukturieren die Gesellschaft und bestimmen das Zusammenleben. Durch sie werden Zugänge zu Ressourcen und zur Teilhabe reguliert, die sich in Privilegien und Diskriminierung äußern. Doch wirken diese Dimensionen nicht eindimensional, sondern in einem »Dominanzgeflecht«: Die Macht speist sich »aus vielen unterschiedlichen Quellen, vernetzt sich und bildet dabei beständige Asymmetrien heraus, die den Anspruch auf soziale Unterscheidung und Überlegenheit durchsetzen« (Rommelspacher 2009: 3).

Verflechtungen von Rassismus und Ableism | 145

Mit den Konzepten von Rassismus bzw. Ableism wird die Institutionalisierung der Macht- und Unterdrückungsmechanismen im Hinblick auf Schwarze Menschen / People of Color beziehungsweise auf Menschen mit Behinderungen beschrieben. Dabei weisen Rassismus und Ableism viele Parallelen auf. Im Zusammenhang mit beiden Machtdimensionen wird von einer hegemonialen Position aus eine Normalität konstruiert, die Schwarze Menschen / People of Color beziehungsweise Menschen mit Behinderungen als anders definiert und stigmatisiert. Die Folge sind Marginalisierung, Segregation und Exklusion in zahllosen gesellschaftlichen Bereichen, damit gehen häufig Ausbeutung und Entrechtung einher. Menschen werden in Subkategorien eingeordnet, die Zugänge zu den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen öffnen, verschließen oder limitieren. Je nach Kontext wird dies amtlich zertifiziert oder legitimiert, etwa in Form von Prozentangaben zum Grad der Behinderung oder verschiedenen Abstufungen von Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen. Die Zusammenfassung von Menschen unter die Begriffe »Migrationshintergrund« und »Behinderung«4 stellt bereits eine wenig aussagekräftige Klassifizierung dar. Nicht alle Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund sind Ziel von Rassismus (etwa weiße Kanadier_innen) und nicht alle, die rassistische Diskriminierung erfahren sind Migrant_innen (wie Schwarze Deutsche). Der Sammelbegriff verdeckt die dahinter stehende Vielfalt, auch im Hinblick auf die individuellen Migrationsbiografien und den jeweiligen Status (undokumentiert, Student_in, Manager_in). Ähnliches gilt für den Begriff »Behinderung«: Darunter werden vielfältige Beeinträchtigungen und chronische Erkrankungen subsumiert. Die Zuteilung oder Nicht-Zuteilung von Schwerbehindertenausweisen hat unterschiedliche Zugänge zum Nachteilsausgleich, zu Rehabilitationsleistungen und Unterstützungsangeboten in Ausbildung und Beruf und generell unterschiedliche Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe zur Folge. Das Machtgeflecht von Rassismus und Ableism kann mit Hilfe des Konzepts der Intersektionalität gut nachvollzogen werden. Es wurde mit den Forschungsergebnissen der US-amerikanischen Juristin und Professorin Kimberlé Crenshaw (1991) populär. Diesem Konzept liegt die Metapher einer Kreuzung zweier (oder mehrerer) Machtachsen zugrunde. Crenshaws Anliegen ist es, ineinandergreifende soziale Ungleichheiten zu analysieren, um adäquat gegen Diskriminierung eintreten zu können. So zeigte ihre Studie, dass sich Diskriminierungserfahrungen Schwarzer Frauen von jenen Schwarzer Männer und weißer Frauen aufgrund des Zusammenwirkens von Rassismus und Sexismus unterscheiden können. Konzepte wie Intersektionalität, aber auch Mehrfachdiskriminierung und Dominanzkultur thematisieren die Komplexität von Diskriminierungserfahrungen und verdeutlichen, dass ein eindimensionaler Blick den verschiedenen Lebensrealitäten nicht gerecht wird. 4

»Migrationshintergrund« wird zu statistischen Zwecken festgelegt, während »Behinderung« in Bundes- und einigen Ländergesetzen rechtlich definiert ist.

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E NTWICKLUNGEN

UND

W AHRNEHMUNGSLÜCKEN

Persönlich bewege ich mich sowohl in Anti-Rassismus- / Migrations- als auch in Behindertenrechts-Zusammenhängen. Nach meiner Beobachtung wird die Verflechtung von Ableism und Rassismus in beiden Kontexten wenig thematisiert, es gibt kaum Wissen darüber, wie die Verflechtung von Rassismus und Ableism strukturell und organisatorisch verankert ist. Dies beginnt sich allmählich zu ändern, obwohl erst wenige Analysen zur Schnittstelle von Rassismus und Ableism zu finden sind (Gummich 2010). Wissenschaftliche Erhebungen und Statistiken, die Einblick in die Lebenswirklichkeiten und strukturelle Diskriminierung geben könnten sind kaum vorhanden (vgl. Pieper / Haji Mohammadi 2014). Wird dieses Machtgeflecht beleuchtet, dann fast ausschließlich in universitären Zusammenhängen, zum Beispiel in der Rassismusforschung oder in den Disability Studies (vgl. Attia 2013), nicht aber in Antidiskriminierungs-Kontexten oder in der sozialarbeiterischen Praxis. Hier werden Dominanzverhältnisse, Ungleichheitsstrukturen und Ausgrenzungsmechanismen häufig additiv und nicht intersektional verstanden. Es kann also vermutet werden, dass Konzepte für Beratung und Unterstützung sowie zur Herstellung von Chancengleichheit nur bedingt greifen. Evaluationen hierzu sind mir nicht bekannt. Seit einigen Jahren nimmt die Zahl der Organisationen zu, die Menschen mit Behinderung und Migrationshintergrund als relevante Zielgruppe ansprechen. Ihr Angebot ist zumeist sozialpädagogisch ausgerichtet, gesellschaftliche Rahmenbedingungen werden selten systematisch berücksichtigt. Gleichzeitig finden zunehmend Veranstaltungen zur Schnittstelle von Behinderung und Migration statt. Es gibt inzwischen einige Veröffentlichungen hierzu, etwa in Fach- und Vereinszeitschriften und auch in türkischer, arabischer oder russischer Sprache. Sie informieren vor allem über die Rechte von Migrant_innen mit Beeinträchtigungen. Einige Organisationen, meist Behinderten- und Wohlfahrtsverbände, haben erste Stellen für dieses Themenfeld eingerichtet. Aktuell ist zu beobachten, dass »Migration(shintergrund) und Behinderung« vorwiegend von großen Verbänden und Organisationen thematisiert wird, die Menschen mit Behinderungen beraten und unterstützen. Selbst wenn es Beratungsstellen und Vereine für diese Bevölkerungsgruppe gibt, agieren diese in der Mehrzahl unter dem Dach einer anderen Behinderten- oder Wohlfahrtsorganisation. Selbstvertretungsorganisationen sind eher selten zu finden. Auch wird das Thema selbst vorwiegend im Kontext von Behinderung und noch seltener in Migrationskontexten als relevant wahrgenommen. Dies spiegelt sich auch darin wieder, dass von der »interkulturellen Öffnung der Behindertenhilfe« die Rede ist, es umgekehrt aber noch keinen Terminus und kaum Bestrebungen gibt (etwa: »behindertenpolitische Öffnung der Migrant_innenorganisationen«). Unabhängige Anti-Rassismus-Organisa-

Verflechtungen von Rassismus und Ableism | 147

tionen und -Gruppen scheinen sich für dieses Thema noch nicht zuständig zu fühlen und damit auch nicht für Migrant_innen mit Beeinträchtigung. Was ebenfalls fehlt, ist eine aktive Vernetzung sowohl innerhalb von Organisationen wie auch zwischen Organisationen aus dem Migrations- / Anti-RassismusBereich und Organisationen aus dem Behindertenkontext. Nach wie vor verlaufen selbst innerhalb von großen Organisationen Strukturen zumeist parallel.5 So arbeitet z.B. die personalstarke Fachabteilung Migration mit nur einer Person aus dem ebenfalls personalstarken Fachbereich Behinderung zusammen, d.h. die dahinter stehenden Ressourcen sind ungleich gewichtet. Eine Ausnahme bildet das beim AWOLandesverband Berlin angesiedelte »Fachforum Menschen mit Behinderung und Zuwanderungsgeschichte – Netzwerk für Integration und Inklusion«.6 Es ist nach meiner Kenntnis die erste Institution, die eine solche Vernetzung aufgebaut hat. Doch auch hier sind vorrangig Organisationen aus dem Behinderungskontext aktiv. Es ist keine Organisation aus dem Anti-Rassismus-Spektrum vertreten und Migrantinnen-Organisationen nur, wenn Migration und Behinderung explizit als Thema aufgeführt ist – und dies trotz einer in Berlin sehr aktiven Migrations- und AntiRassismusszene. Dass die Bereiche Migration und Behinderung nach wie vor eher getrennt behandelt werden, zeigt sich selbst in Veranstaltungen zu genau diesem Themenfeld. Meist gibt es dort getrennte Vorträge zu beiden Aspekten. Fachleute sind äußerst selten in beiden Kontexten vertreten. Auch begegne ich nur wenigen Menschen mit (wahrnehmbarer) Migrationsbiografie / Rassismuserfahrung in Behindertenkontexten und Menschen mit (wahrnehmbaren) Behinderungen in Migrations- / und AntiRassismus-Zusammenhängen. Menschen mit erkennbarer bzw. zugeschriebener afrikanischer oder asiatischer Herkunft sind hier die absolute Ausnahme. Das Thema Migration und Behinderung wird allmählich in Wohlfahrtsverbänden, Trägern der Behindertenhilfe und in einigen wenigen Selbstorganisationen aufgegriffen. Die Verwobenheit von Rassismus und Ableism wird dagegen in den Strukturen und der alltäglichen Arbeit der Organisationen kaum berücksichtigt und schlägt sich noch zu wenig in den Aktivitäten der Organisationen nieder. Auch in Verwaltung und Politik hat die Verschränkung von Rassismus und Ableism, die Gleichzeitigkeit von Migrationsbezügen und Beeinträchtigung, noch zu wenig Eingang gefunden. Ein Weg, um diesen Faden aufzunehmen, könnte über die Auseinandersetzung mit dem Thema Integration und Inklusion führen.

5

Bei Förderpolitiken ist das ähnlich und für eine Vernetzung der Organisationen und die

6

Vgl. dazu https://fachforum.wordpress.com/ (Stand 28.01.2015).

Behandlung des Themas eher hinderlich.

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I NKLUSION – E IN ANSATZPUNKT ? Das Verständnis von Behinderung, das Inklusionskonzepten zugrunde liegt, gewinnt seit der Verabschiedung der Behindertenrechtskonvention (BRK) durch die Vereinten Nationen im Jahr 2006 an Bedeutung (UN 2006). Es weicht sowohl vom bisherigen rechtlichen als auch dem Alltagsverständnis von Behinderung ab. Während Behinderung bisher unter medizinischen und defizitorientierten Gesichtspunkten betrachtet wurde, verändert sich die Sichtweise in der BRK in eine menschenrechtliche Perspektive. Noch fließt sie nur allmählich in das Alltagsverständnis ein.7 Dem Inklusionskonzept zufolge werden Menschen mit Beeinträchtigung nicht mehr als Patient_innen oder als Objekte von Fürsorge betrachtet, sondern als Träger_innen von Rechten, die die Möglichkeit haben müssen, in allen gesellschaftlichen Bereichen selbstverständlich partizipieren zu können. Die BRK unterscheidet zwischen »Beeinträchtigung« und »Behinderung«. In der BRK wird Behinderung wie folgt definiert: »Behinderung [entsteht] aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren, die sie an der vollen und wirksamen Teilhabe auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen an der Gesellschaft hindern« (ebd.: Präambel e).8 Zu diesen Barrieren zählen bauliche und kommunikative Hindernisse ebenso wie Vorurteile und Einstellungen. Die Behinderung entsteht etwa dadurch, dass es keine Rampen gibt und nicht durch die Gehbeeinträchtigung, durch komplizierte Sprache und nicht durch Lernschwierigkeiten.9 Nicht das Individuum, nicht das ›Sosein‹ eines Menschen ist ausschlaggebend und soll korrigiert werden, sondern die Bedingungen, die zu Ausgrenzung führen, müssen den Bedürfnissen von Menschen angepasst werden. Der Slogan »Ich bin nicht behindert – Ich werde behindert« drückt diese veränderte Sichtweise auf klare Weise aus (vgl. Feige / Gummich 2013). In der Konvention ist »die Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit« als allgemeiner Grundsatz festgelegt (Artikel 3). Dies bedeutet, dass jeder Mensch mit seiner Individualität Teil der menschlichen Vielfalt ist und keine Abweichung von einer wie auch immer definierten Norm. Diese Sichtweise ist wesentliche Grundlage für das Verständnis von Inklusion. Bei Inklusion geht es nicht mehr um die Frage: Wie können wir behinderte Menschen oder Migrant_innen integrieren, sondern um die Frage: Wie müssen die jeweiligen Rahmenbedingungen gestaltet sein, damit Menschen gleichberechtigt miteinander leben 7 8

Siehe hierzu auch Beitrag von Degener in diesem Band. Schattenübersetzung des »Netzwerk Artikel 3«: http://www.netzwerk-artikel-3.de/index. php/vereinte-nationen (Stand 28.01.2015).

9

»Menschen mit Lernschwierigkeiten« ist eine Selbstbezeichnung für Menschen, die oft als »geistig behindert« bezeichnet werden. http://menschzuerst.de/ (Stand: 28.01.2015).

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und mit gleichen Chancen in allen gesellschaftlichen Bereichen partizipieren können? Hierin sind auch Macht- und Dominanzverhältnisse angesprochen, selbst wenn diese bisher zumeist nicht explizit im Inklusionsdiskurs benannt werden. Die BRK umfasst alle Lebensbereiche, fokussiert aber auf die Dimension Behinderung. Entsprechend der Präambel ist die Konvention unter Hinweis auf multiple und intersektionale10 Diskriminierung auf weitere Dimensionen, wie Hautfarbe / Herkunft (»race«), Geschlecht, Religion und sozialen Status auszulegen und lässt durch die Formulierung »sonstiger Status« weitere Dimensionen, wie sexuelle Identität,11 offen (vgl. BRK Präambel Absatz p). Ein ähnlich breites Verständnis von Inklusion findet sich in unterschiedlichen nationalen und internationalen Diskursen und Programmen wieder. Dort werden Armut, marginalisierte und/oder indigene Völker, Geschlecht, hierarchische Systeme wie Kasten (auch wenn diese offiziell abgeschafft sind) und andere in das Konzept mit einbezogen (vgl. Hinz 2008: 39). Diese Perspektive setzt sich erst allmählich durch. Bisher werden die Diskurse zu Integration und Inklusion weitgehend getrennt geführt. Im Kontext von Behinderung wird Inklusion als eine Weiterentwicklung von Integration betrachtet. Integration geht davon aus, dass es zwei getrennte Gruppen gibt (vgl. Hinz 2002), etwa Menschen mit und ohne Behinderung, Menschen mit und ohne sogenannten ›Migrationshintergrund‹. Die jeweils ›Anderen‹ werden als Abweichung von der für die ›eigene Gruppe‹ gesetzten Norm interpretiert. Durch Zuschreibungen, Vorurteile, Stereotype, Normen und Gesetze wird diese Dichotomie institutionalisiert und strukturell verankert. Hierarchisch geordnete Subkategorien sind Teil des Systems und werden in verschiedenem Aufenthaltsstatus, rassistischen Theorien oder Abstufungen der Beeinträchtigungen deutlich, die Zugänge zu gesellschaftlichen Teilbereichen regulieren. Verschränkungen mit anderen Dimensionen sind selten. Integration, im Alltag oft missverständlich mit Assimilation gleichgesetzt, wird hier als Eingliederung in das bestehende System verstanden und meist an Zugangsvoraussetzungen geknüpft (Integrationskurse für Migrant_innen, kein Vorliegen eines sonderpädagogischen Förderbedarfs). Dies zeigt sich auch in Begriffen wie »integrationswillig« oder »integrationsfähig« (vgl. Feige / Gummich 2013). Im Zusammenhang mit Migration / Rassismus und Behinderung fällt auf, dass gegenwärtig zwei gegenläufige Bewegungen stattfinden. Einige Akteur_innen beziehen sich auf den Integrationsbegriff, um ›ihre‹ Belange einzufordern; Andere nutzen hierfür den Begriff der Inklusion. In Anti-Rassismus-Kontexten wird der Integrationsbegriff aktiv abgelehnt, während der Inklusionsbegriff dort nicht disku10 Sie werden in der BRK benannt als »die mehrfachen oder verschärften Formen der Diskriminierung«. 11 Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hat aber in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 20 (2009) klargestellt, dass sexuelle Orientierung unter »sonstigen Status« fällt; siehe hierzu auch den Beitrag von Prasad in diesem Band.

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tiert zu werden scheint. In politischen Zusammenhängen und Selbstorganisationen, in Wohlfahrtsverbänden und bei sozialen Trägern wird, wenn von Integration die Rede ist, vorwiegend die Situation von Menschen mit sogenannter Migrationsgeschichte thematisiert. In Inklusions-Debatten stehen Menschen mit Behinderungen im Fokus. Die spezifischen Lebenswirklichkeiten und Diskriminierungen von Menschen, die beiden Gruppen gleichzeitig angehören, werden selten wahrgenommen und dadurch unsichtbar gemacht. Dennoch hat gerade diese Koppelung eine lange Tradition, wie ein Blick in die Geschichte zeigt. Sie ist eng verknüpft mit der Entwicklung rassistischer Theorien und Praxen im Zuge der gewaltsamen Kolonisierung des afrikanischen Kontinents und der Versklavung von Afrikaner_innen.

I NTERDEPENDENZEN EIN B LICK ZURÜCK

VON

R ASSISMUS

UND

ABLEISMUS –

Menschen afrikanischer Herkunft und behinderten Menschen wurde lange Zeit ihr Menschsein abgesprochen. Dies geschah zum Teil mit den gleichen abwertenden Attributen, insbesondere hinsichtlich ihrer psychischen und mentalen Verfasstheit. Gleichzeitig wurden – und werden – die so kategorisierten Menschen häufig auf demütigende Weise auf ihre Körper reduziert. Mit zugeschriebenen Eigenschaften wurden sie zu Objekten der Neugier degradiert und unter anderem in Völkerschauen, im Zirkus oder in Freakshows ausgestellt. Die Negation ihres Menschseins diente im Europa der Aufklärung als Legitimation: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für die Einen konnten so gleichzeitig mit der Ausbeutung und Entrechtung, mit Menschenversuchen und Verstümmelungen der Anderen in Einklang gebracht werden (vgl. Plumelle-Uribe 2004). Die aufkommenden Wissenschaften (Philosophie, Ethnologie, Anthropologie, Biologie, Medizin u.a.) nutzten diese Menschen als Objekte und ›Forschungsmaterial‹ und legitimierten mit ihren Ergebnissen die gängigen kolonialen und rassistischen Praxen. Diese Linie setzte sich fort bis hin zur Selektion und den medizinischen Experimenten mit behinderten Menschen in den Tötungsanstalten und Konzentrationslagern Nazi-Deutschlands, in denen wiederum unter anderem Menschen afrikanischer Herkunft getötet wurden. Auch in Verbindung mit weiteren Machtdimensionen entlang von Geschlecht oder dem Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt vor dem Hintergrund sozialer Herkunft, greifen Rassismus und Ableism ineinander. Dabei werden von der Gesellschaft und ihren Institutionen ›die Anderen‹ immer wieder neu definiert und konstruiert. Hier wird jeweils eine imaginäre Norm durch Strukturen und Regelungen institutionalisiert, die Macht, Privilegien und Status der Einen garantieren und so zu Marginalisierung, Segregation und Exklusion der Anderen führen können (vgl. Jarman 2011: 19; Bolaki 2011: 47).

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Das Beispiel Down Syndrom Das koloniale Erbe der Verknüpfung von Rassismus und Ableism reicht zum Teil bis in die Gegenwart. Dies zeigt sich beim sogenannten Down Syndrom, einer genetischen Veranlagung, bei der das Chromosom 21 dreimal statt wie zumeist zweimal vorliegt. Dieses Syndrom ist nach dem englischen Arzt John Langdon Down benannt, der 1866 Menschen und Gruppen mit bestimmten Lernschwierigkeiten beschrieb. Zur Einordnung griff Down auf gängige rassistische Theorien von der Einteilung der Menschen zurück, insbesondere orientierte er sich an der rassistischen Systematik des deutschen Anthropologen Johann Blumenbach, der die Menschen in fünf hierarchisch angeordnete Kategorien einteilte. Dabei wurden die weißen Europäer_innen, »Kaukasier« genannt, ganz oben platziert, ausgestattet mit dem schönsten und perfektesten Körper und der größten Intelligenz. Weiter unten in der Hierarchie bekamen die Mongol_innen einen Platz zugewiesen, am Ende die Afrikaner_innen. Down übernahm diese Perspektive, um Menschen, die er – wie damals üblich – als »Schwachsinnige« bezeichnete, entlang »ethnischer« Eigenschaften zu klassifizieren. In seiner Veröffentlichung »Observations on an Ethnic Classification of Idiots« (1866) stellte er fest, es sei schwer zu glauben, dass diese Kinder, die heute als Kinder mit Down Syndrom bezeichnet werden, tatsächlich von Europäer_innen abstammten. Deren ethnische Charakteristika, so schloss er, seien auf eine Degeneration zurückzuführen, viele dieser Kinder seien demnach Mongolen.12 Daraus leitet sich die rassistische Bezeichnung »Mongolismus« ab. Down interpretierte somit Menschen mit Down Syndrom als eine Degeneration der »weißen Rasse«, was in seiner Logik im Umkehrschluss bedeutete: Mongolen sind »Idioten«. Der Terminus Down Syndrom hat sich, seinen rassistischen Implikationen zum Trotz, inzwischen international durchgesetzt. Er wird auch von vielen Selbstorganisationen gegenüber den anderen Bezeichnungen, wie etwa Trisomie 21 bevorzugt, da diese das Syndrom allein auf die Genetik reduziert und den Menschen in ihrer Vielfalt nicht gerecht wird. Er dürfte daher nur schwer zu ändern sein. Die Verbindung von Rassismus und Ableism setzt sich ebenso in der Reproduktionsmedizin, und hier bei der In-vitro-Befruchtung, der Präimplantations- und der Pränataldiagnostik fort. Diese Technologien werden laut Medienberichten im globalen Norden vorwiegend von weißen Paaren genutzt, und zwar sowohl homo- als auch heterosexuellen, die sie sich wirtschaftlich leisten können. In der Regel sollen damit gezielt bestimmte Eigenschaften bei den Nachkommen erreicht beziehungsweise verhindert werden. So liegt die Abtreibungsquote bei Verdacht auf Down Syndrom bei mehr als 90 Prozent (Ethikforum 2012). Es ist anzunehmen, dass es global in Zukunft in der weißen Bevölkerung immer weniger Menschen mit Down Syndrom geben wird, während sich bei Schwarzen Menschen / People of Color, die ca. 80% der Weltbevölkerung stellen, aufgrund des fehlenden Zugangs zu diesen Techniken, hinsichtlich der Häufigkeit bei den Geburten von Kindern mit Down Syndrom kaum etwas ändern dürfte. Welche Bedeutung dies für Menschen mit Down Syndrom in den jeweiligen Gesellschaften haben wird, wird sich zeigen müssen.

12 Vgl. http://www.syndroomvandown.nl/files/essay.html (Stand: 28.01.2015).

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R ESÜMEE

UND

H ANDLUNGSPERSPEKTIVEN

Menschen, die zugleich Rassismus und Ableism ausgesetzt sind, sind kumulativ verletzlich, insbesondere wenn zusätzliche Verletzlichkeiten durch Sexismus, Klassismus und andere machtvolle Ausgrenzungsmechanismen bestehen. Sie haben ein hohes Risiko gesellschaftlich an den Rand gedrängt und ausgegrenzt oder mit ihren spezifischen Lebensrealitäten übersehen zu werden. In wissenschaftlichen Kontexten ist es notwendig, die Diskurse zu Rassismus und Ableism, zu Migration und Behinderung, zu Integration und Inklusion – mit ihren jeweiligen Facetten – zu verschränken. Dies kann zu neuen Erkenntnissen über Ausgrenzungsmechanismen im entsprechenden Macht- und Dominanzgefüge führen. Auch Diskurse zu »kritischem Weißsein« in Bezug auf Rassismus und zu »kritischem Fähigsein« in Bezug auf Ableism sollten mit einbezogen werden. Doch Erkenntnisgewinn um seiner selbst willen genügt nicht. Notwendig ist die Umsetzung von Handlungskonzepten, die darauf gerichtet sind, Diskriminierungen entgegen zu wirken und eine weitreichende gesellschaftliche Partizipation in allen Lebensbereichen zu ermöglichen. Handlungsperspektiven eröffnen sich dabei auf vielen Ebenen. Dazu zählen: • •

• • • • •

Bewusstseins- und Menschenrechtsbildung bindende Verpflichtungen (commitments), sich im Kontext von Rassismus und Ableism jeweils für diejenigen Menschen, die intersektionale Diskriminierung erfahren, zuständig zu erklären organisatorische Vernetzung der Institutionen und Organisationen verbesserter Diskriminierungsschutz bei intersektionalen Formen von Diskriminierung empirische Forschung zu Lebenswirklichkeiten, Ausschlussmechanismen und Empowerment eine an den Menschenrechten orientierte und differenzierte Datenerhebung und Sozialberichterstattung13 gesellschaftliche und politische Partizipation und Lobbyarbeit mit und für diejenigen, deren Lebenswirklichkeit an der intersektionalen Schnittstelle von Rassismus und Ableism stattfindet

Dies alles erfordert die Beachtung des Prinzips »Nichts über uns – ohne uns« wie es auch die Behindertenrechtskonvention benennt. 13 Der »Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen« weist hier in die richtige Richtung. Vgl. http://www.bmas.de/DE/ Themen/Teilhabe-behinderter-Menschen/Meldungen/teilhabebericht-2013.html 28.01.2015).

(Stand:

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Noch nehmen weite Teile unserer Gesellschaft und ihre Institutionen die Stärke und soziale Kraft nicht wahr, die viele der Menschen, die diesen Dynamiken ausgesetzt sind, entwickeln oder benötigen, um ihre alltäglichen komplexen Herausforderungen zu bewältigen. Dennoch werden die Stimmen – um mit Arundhati Roy zu sprechen – der »absichtlich zum Schweigen Gebrachten« oder der »willentlich Ungehörten« (Roy 2004) ignoriert. Sie könnten aber wegweisend sein, um (neue) Strategien und Handlungskonzepte zu entwickeln, die aus dem Diskriminierungsdschungel herausführen.

L ITERATUR Attia, Iman (2013): Rassismusforschung trifft auf Disability Studies. Zur Konstruktion und Marginalisierung von »Fremdheit« und »Behinderung« als Andere. Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung »Behinderung ohne Behinderte?! Perspektiven der Disability Studies«, Universität Hamburg, 11.11.2013; URL: http://www.zedis-ev-hochschule-hh.de/files/attia_rassismusforschung_ds.pdf (Stand 10.02.2015). Bolaki, Stella (2011): Challenging Invisibility, Making Connections: Illness, Survival, and Black Struggles in Audre Lorde's Work. In: Bell, Christopher M. (Hg.): Blackness and Disability. Critical Examinations and Cultural Interventions. Michigan, S. 47-74. Crenshaw, Kimberlé (1991): Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color. URL: http://socialdifference. columbia.edu/files/socialdiff/projects/Article__Mapping_the_Margins_by_ Kimberlee_Crenshaw.pdf (Stand 11.02.2015). Feige, Judith / Gummich, Judy (2013): Inklusion – Ein menschenrechtlicher Auftrag. In: Betrifft Mädchen, Heft 4, Weinheim & München. S. 148-154. Gummich, Judy (2010): Migrationshintergrund und Beeinträchtigung – Vielschichtige Herausforderungen an einer diskriminierungsrelevanten Schnittstelle. In: Jacob, Jutta / Köbsell, Swantje / Wollrad, Eske (Hg.): Gendering Disability. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht. Bielefeld, S.131-152. Hinz, Andreas (2002): Von der Integration zur Inklusion – terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung? In: Zeitschrift für Heilpädagogik 9/2002, S. 354-361. Hinz, Andreas (2008): Inklusion – historische Entwicklungslinien und internationale Kontexte. In: Hinz, Andreas / Körner, Ingrid / Niehoff, Ulrich (Hg.): Von der Integration zur Inklusion. Grundlagen – Perspektiven – Praxis. Marburg, S. 3352. Ethikforum der Gesellschafterverbände des IMEW (2012): Stellungnahme des Ethikforums des IMEW. Bemühungen um eine inklusive Gesellschaft dürfen nicht durch Entwicklungen der Pränataldiagnostik unterlaufen werden! URL:

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http://www.imew.de/fileadmin/Dokumente/Volltexte/Ethikforum_Stellungnahmen/ Ethik_Forum_Stellungnahme_110612.pdf (Stand 22.02.2015). Jarman, Michelle (2011): Coming Up from Underground: Uneasy Dialogues at the Intersections of Race, Mental Illness, and Disability Studies. In: Bell, Christopher M. (Hg.): Blackness and Disability. Critical Examinations and Cultural Interventions. Berlin, S. 9-29. Maskos, Rebecca (2011): »Bist Du behindert oder was?!« Behinderung, Ableism und souveräne Bürger_innen. Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung »Jenseits der Geschlechtergrenzen« der AG Queer Studies und der Ringvorlesung »Behinderung ohne Behinderte!? Perspektiven der Disability Studies«, Universität Hamburg, 14.12.2011, URL: http://www.zedis-ev-hochschule-hh.de/files/mas kos_14122011.pdf (Stand 10.02.2015). Pieper, Marianne / Haji Mohammadi, Jamal (2014): Partizipation mehrfach diskriminierter Menschen am Arbeitsmarkt. Ableism und Rassismus – Barrieren des Zugangs. In: Wansing, Gudrun / Westphal, Manuela (Hg.): Behinderung und Migration. Inklusion, Diversität, Intersektionalität. Wiesbaden, S. 221-251. Plumelle-Uribe, Rosa Amelia (2004): Weiße Barbarei. Vom Kolonialrassismus zur Rassenpolitik der Nazis. Zürich. Rommelspacher, Birgit (2009): Intersektionalität. Über die Wechselwirkung von Machtverhältnissen. In: Kurz-Scherf, Ingrid / Lepperhoff, Julia / Scheele, Alexandra (Hg): Feminismus; Kritik und Intervention. Münster, S.81-96. Roy, Arundhati (2004): Peace and the new corporate liberation theology. The 2004 Sydney Peace Prize lecture, 4 November 2004. URL: http://sydney.edu.au/ news/84.html?newsstoryid=279 (Stand 07.02.2015). UN (2006): Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, zu finden unter anderem unter http://www.institutfuer-menschenrechte.de/menschenrechtsinstrumente/vereinte-nationen /menschenrechtsabkommen/behindertenrechtskonvention-crpd.html (Stand 01.02.2015)

Vom medizinischen zum menschenrechtlichen Modell von Behinderung Konzepte für Behindertenrecht und -politik* Theresia Degener

Die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) hat die Behindertenpolitik weltweit auf den Kopf gestellt. Die größten Errungenschaften, die der BRK in normativtheoretischer Hinsicht zugeschrieben werden, sind der mit ihr verbundene Paradigmenwechsel vom medizinischen zum sozialen Modell von Behinderung und die Kontextualisierung der Rechte von Behinderten in den internationalen Menschenrechten. Damit werden Menschenrechtstheorie und Disability Studies zu den wissenschaftlichen Eckpfeilern moderner Behindertenpolitik. Eine Politik, die die Universalität, Unteilbarkeit und Unabdingbarkeit der Menschenrechte respektiert, schützt und gewährleistet und um die soziale Konstruktion von Behinderung weiß. So wurde mit der BRK nicht nur das soziale Modell von Behinderung kodifiziert, sondern ein weitergehendes menschenrechtliches Modell von Behinderung. Das haben allerdings die wenigsten Mitgliedsstaaten erkannt. 19 Staatenberichte wurden bislang (Stand: Dezember 2014) vom Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Genf geprüft. Daraus geht hervor, dass die Mehrzahl der Staaten dem traditionellen medizinischen Modell von Behinderung folgt. Wie schon vielfach beschrieben, gilt Behinderung nach diesem Modell als ein Problem, das behandelt, kuriert, therapiert oder rehabilitiert werden muss. Behinderung gilt als Abweichung vom normalen Gesundheitszustand. Die Exklusion behinderter Menschen wird als individuelles Problem betrachtet und die Causa der Ausschließung liegt in der gesundheitlichen Be-

*

Der Beitrag beruht auf einem Vortrag vom 27.04.2012 vor der Europäischen Akademie des Rechts, EUI, Florenz, Italien. Mein Dank gilt Franziska Witzmann für wertvolle Lektoratsarbeit am Text.

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einträchtigung. Michael Oliver, einer der Väter des sozialen Modells von Behinderung, hat diese Politik der Behinderung als ideologische Konstruktion von Behinderung durch Individualisierung und Medizinisierung bezeichnet (vgl. Oliver 1990). Ein weiteres Wesensmerkmal des medizinischen Modells von Behinderung sind zwei menschenrechtsgefährdende Annahmen: (1) Behinderte Menschen brauchen vor allem Schonraum und Wohlfahrtspolitik und (2) eine gesundheitliche Beeinträchtigung kann die Menschenrechtsfähigkeit mindern. Die erste Vorgabe legitimiert segregierende Einrichtungen wie Förderschulen, Wohnheime oder Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Die zweite Annahme hat zur Entstehung von entmündigenden Psychiatriegesetzen und Vormundschafts- bzw. Betreuungsrecht geführt (vgl. Dhanda 2007; Aichele 2013). Während der Verhandlungen zur BRK herrschte Konsens darüber, dass das medizinische Modell von Behinderung in die Sackgasse führt. Menschenrechtsbasierte Behindertenpolitik, so die kritische Erkenntnis, muss das medizinische Modell von Behinderung verabschieden (vgl. Kayess / French 2008; Degener 2006). Obwohl während der Verhandlungen das soziale Modell als Referenzmodell immer wieder zitiert wurde, vertrete ich heute die Ansicht, dass ein tatsächlicher Paradigmenwechsel zum Menschenrechtsmodell von Behinderung1 vollzogen wurde, der über das soziale Modell von Behinderung hinausgeht. Das soziale Modell ist der heuristische Ausgangspunkt für eine rechtsbasierte, an Antidiskriminierung orientierte Behindertenpolitik. Das wissenschaftliche Rückgrat einer solchen Behindertenpolitik sind die Disability Studies – eine neue interdisziplinäre Denkschule, die sich von den traditionellen Disziplinen der Heil- und Sonderpädagogik und den Rehabilitationswissenschaften abhebt. Die folgenden sechs Thesen sollen begründen, inwiefern sich das soziale und das menschenrechtliche Modell von Behinderung unterscheiden und warum die BRK das menschenrechtliche Modell manifestiert. 1. Eine gesundheitliche Beeinträchtigung bedeutet keine Minderung der Menschenrechtsfähigkeit Während das soziale Modell die soziale Konstruktion von Behinderung verdeutlicht, gründet das menschenrechtliche Modell auf moralischen Prinzipien einer Behindertenpolitik, in deren Mittelpunkt die Menschenwürde steht. Nur das Men-

1

Es gibt keine offizielle Urheberschaft für den Begriff »menschenrechtliches Modell von Behinderung«; Gerard Quinn und ich haben ihn aber bereits 1999/2000 in einem Aufsatz (vgl. Degener / Quinn 2002: 13) zu internationaler und vergleichender Behindertenrechtsreform und 2001erneut in unserer Hintergrundstudie zur BRK verwendet (vgl. ebd: 14).

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schenrechtsmodell kann erklären, dass Menschenrechtsfähigkeit die Abwesenheit von gesundheitlicher Beeinträchtigung nicht voraussetzt. Das soziale Modell wurde entwickelt, um zu zeigen, wie behinderte Menschen aus der Gesellschaft ausgesondert werden. Es wurde als bedeutsames Instrument entwickelt, um diskriminierende und repressive Strukturen zu analysieren, die behinderte Menschen betreffen. Das soziale Modell mag daher als Basis für eine soziologische Theorie von Behinderung angesehen werden, aber es hat nicht den Anspruch, die Werte und moralischen Prinzipien für Behindertenpolitik zu liefern. Diesen Anspruch erfüllt die BRK, deren Zweck es ist, »den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern« (Art. 1 BRK). Artikel 3 der Konvention enthält die acht tragenden Prinzipien der Konvention – darunter Respekt vor der Menschenwürde, Nichtdiskriminierung und Chancengleichheit, Inklusion und Barrierefreiheit – und in den nachfolgenden Normen der BRK wird der allgemein anerkannte Katalog der Menschenrechte, wie er in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948), dem Zivilpakt (1966) und dem Sozialpakt (1966) enthalten ist, auf den Kontext von Behinderung zugeschnitten. Das Absolutheitspostulat der Menschenrechtstheorie besagt, dass Menschenrechte absolute Rechte in dem Sinne sind, dass sie uns Menschen mit der Geburt verliehen werden. Sie können nicht durch Leistung erworben und auch nicht wieder entzogen werden. Nach dem völkerrechtlichen Universalitätsprinzip gelten die Menschenrechte für alle Menschen ausnahmslos, ohne Ansehen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder eines sonstigen Status (Art. 55 Charta der Vereinten Nationen). Dieser besondere rechtlich-moralische Charakter der Menschenrechte macht sie zu bedingungslosen Rechten. Sie sind nicht schrankenlos, aber sie können nicht an eine soziale oder biologische Ausstattung geknüpft werden, somit auch nicht an einen gesundheitlichen Status oder an eine menschliche Funktionsfähigkeit. Die BRK bekräftigt diesen besonderen Charakter der Menschenrechte in der Präambel und in verschiedenen Artikeln.2 Das Menschenrechtsmodell, so lässt sich resümieren, stellt die Annahme einer geminderten Menschenrechtsfähigkeit aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigung in Frage. Das soziale Modell bietet dies nicht.

2

Z.B. Unteilbarkeit und Universalität der Menschenrechte in Präambel, lit. c) BRK; menschenrechtlicher Schutz von behinderten Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf in Präambel, lit. j) BRK; gleiche Anerkennung vor dem Recht in Art. 12 BRK.

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2. Das Menschenrechtsmodell umfasst die Menschenrechte der ersten und zweiten Generation Zweitens geht das Menschenrechtsmodell über das soziale Modell hinaus, weil es nicht nur Antidiskriminierungsrechte in den Blick nimmt, sondern auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte betont. Beide Generationen der Menschenrechte, die zivilen und politischen sowie die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, gehören zum universellen Menschenrechtskatalog, der auch in der BRK enthalten ist. Die Forderung nach Antidiskriminierungsgesetzen war die logische Folge der Analyse von Behinderung als soziales Konstrukt durch Diskriminierung und Ungleichheit (vgl. Davis 1997). Jedoch kann Antidiskriminierungsrecht nur als ein Teil der Lösung angesehen werden. Selbst in einer inklusiven Gesellschaft ohne Barrieren und andere Diskriminierungen brauchen Menschen soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte. Menschen brauchen Unterkünfte, Bildung und Arbeit. Das gilt für nicht behinderte Menschen und erst recht für Menschen mit Behinderung. Während traditionelle Wohlfahrtslösungen behinderte Menschen entrechtet haben, ermächtigen moderne Sozialgesetze Behinderte, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Das gilt für persönliche Assistenzleistungen ebenso wie für Leistungen des persönlichen Budgets oder Schul- und Arbeitsassistenz (vgl. Degener 1991; Hvinden 2009; Power et al. 2013; Townsley 2010). Es ist deshalb auch bemerkenswert, dass die internationale Selbstbestimmt-Leben-Bewegung ihre Forderung immer schon im breiteren Kontext als Menschenrecht und nicht lediglich als Antidiskriminierungsrecht formulierte. Die Trennung zwischen politischen und bürgerlichen Rechten einerseits und wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten andererseits ist ein Erbe des Kalten Krieges, in dem der Internationale Bürgerrechtspakt und der Internationale Sozialpakt entstanden.3 Das Menschenrechtsmodell umfasst beide Generationen von Menschenrechten.4 Einige der in ihr enthaltenen Menschenrechte lassen sich kaum mehr eindeutig der einen oder anderen Generation zuordnen. So gilt das Menschenrecht auf gleiche Anerkennung als Person vor dem Recht (Art. 12 BRK) allgemein als bürgerliches Recht (Art. 16 ICCPR; Art. 6 UDHR). Allerdings werden in Artikel 12 Absatz 3 auch Unterstützungsmaßnahmen angesprochen, zu denen behinder-

3

Für eine anschauliche Darstellung der politischen Geschichte der Menschenrechte siehe Normand / Zaidi 2008.

4

Die politische Hierarchie der politischen und bürgerlichen Rechte über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ist spätestens seit der Wiener Menschenrechtskonferenz von 1992 offiziell überwunden (vgl. Vienna Declaration and Programme of Action, A/CONF.157/23, 12.07.1993).

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te Menschen, die bei der Entscheidungsfindung Assistenz benötigen, Zugang haben müssen. Solche Leistungen sind klassische Sozialleistungen. Ein anderes Beispiel ist das Recht auf selbstbestimmtes Leben in der Gemeinde (Art. 19 BRK): Es ist eines der wenigen Menschenrechte der BRK, das kein eindeutiges Vorbild in den älteren Kernmenschenrechtsverträgen hat. Das Recht auf selbstbestimmtes Leben wurde von der Behindertenbewegung als Antwort auf Menschenrechtsverletzungen durch und in Heimen bzw. durch Verstecken behinderter Menschen in Häusern oder Kolonien formuliert (vgl. Daniels et al. 1983). Das Konzept dieses Rechts hat seine Wurzeln nicht in der allgemeinen Menschenrechtsphilosophie, weshalb es nicht in der internationalen Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu finden ist. Als Herkunftsrecht für ein Menschenrecht auf selbstbestimmtes Leben kann allenfalls das Recht auf freie Wahl des Wohnortes gesehen werden, das in anderen Menschenrechtsverträgen oft als Freizügigkeitsrecht klassisch bürgerlich ausgestaltet ist.5 Für die Realisierung des Rechts auf selbstbestimmtes Leben brauchen viele behinderte Menschen jedoch persönliche Assistenzdienste, die wiederum als soziales Recht zu qualifizieren sind. 3. Das Menschenrechtsmodell wertschätzt gesundheitliche Beeinträchtigung als Teil menschlicher Vielfalt Das dritte Argument, warum das Menschenrechtsmodell über das soziale Modell von Behinderung hinausgeht, betrifft den Stellenwert und den Umgang mit gesundheitlicher Beeinträchtigung in der auf dem sozialen Modell von Behinderung beruhenden Behindertenpolitik. Das Argument lautet: Das soziale Modell von Behinderung ignoriert die Tatsache, dass Behinderung mitunter auch mit Schmerzen, abnehmender Selbstständigkeit und Verkürzung der Lebenszeit verbunden sein kann. Demgegenüber berücksichtigt das Menschenrechtsmodell diese Zusammenhänge und legt sie der Entwicklung von Theorien sozialer Gerechtigkeit zugrunde. In der englischsprachigen Disability-Studies-Literatur wurde das soziale Modell insbesondere von Feministinnen bereits in den 1990er Jahren aus diesen Gründen kritisiert. Dabei ging es sowohl um die Dichotomie zwischen Beeinträchtigung und Behinderung als auch um die materialistische Ausrichtung. In ihrem viel zitierten Buch »Pride and Prejudice« schreibt Jenny Morris: »However, there is a tendency within the social model of disability to deny the experience of our own bodies, insisting that our physical differences and restrictions are entirely socially created. While environmental barriers and social attitudes are a crucial part of our experience of disability – and do indeed disable us – to suggest that this is all there is to do is to deny the

5

Art. 13(1) UDHR; vgl. auch Art. 12(1) ICCPR; Art. 5(d), (i) CERD; Art. 15(4) CEDAW.

160 | Theresia Degener personal experience of physical or intellectual restrictions, of illness, of the fear of dying. A feminist perspective can help to redress this, and in so doing give voice to the experience of both disabled men and disabled women« (Morris 1991: 10 – Hervorhebung im Original).

Das Menschenrechtsmodell, das auf der BRK basiert, greift dies auf. Zwar lässt sich nicht argumentieren, die BRK enthalte ein klares Bekenntnis zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen als problembehafteter Bestandteil von Behinderung, doch wird an verschiedenen Stellen darauf hingewiesen. So werden behinderte Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf in der Präambel erwähnt,6 um daran zu erinnern, dass diese Gruppe nicht vergessen werden darf, wenn es um die Umsetzung der BRK geht. Die BRK soll alle behinderten Menschen schützen, nicht nur diejenigen, die ›fit‹ für die Inklusion sind. Gesundheitliche Beeinträchtigung als wichtiger Lebensumstand wird indirekt auch durch zwei der acht tragenden allgemeinen Prinzipien der Konvention, die in Artikel 3 aufgezählt sind, angesprochen. In diesem Sinne ist der Verweis auf die jedem Menschen inhärente Menschenwürde (Art. 3 a) BRK) zu verstehen. Die Menschenwürde gilt als Basismenschenrecht im modernen Völker- und Verfassungsrecht (vgl. Petersen 2012). Das zweite allgemeine Prinzip, in dem ein mittelbarer Bezug zur gesundheitlichen Beeinträchtigung als Bestandteil von Behinderung hergestellt wird, ist das Prinzip des Respekts vor behinderter Differenz als Teil menschlicher Vielfalt (Art. 3 d) BRK). Mit diesem Prinzip wird klargestellt, dass gesundheitliche Beeinträchtigung nicht als Defizit betrachtet werden darf, das die Würde des Menschen einschränkt. In diesem wertvollen Beitrag zur Weiterentwicklung der Menschenrechtstheorie steckt die Erkenntnis, dass es nicht reicht, Behinderung als soziales Konstrukt zu verstehen. Es gilt, Behinderung mit allen ihren Aspekten als Bestandteil menschlicher Vielfalt und Lebenslagen zu verstehen. Diese Prämisse ist die menschenrechtliche Basis, um moderne ethische Fragen im gesellschaftlichen Umgang mit Behinderung zu beantworten wie Euthanasie, Pränataldiagnostik oder auch (medizinische) Zwangsbehandlung. Hier geht das Menschenrechtsmodell über das soziale Modell hinaus, weil – wie wir bereits in unserer Hintergrundstudie, die Grundlage für die Verhandlungen zur BRK war, herausgestellt haben – das menschenrechtliche Differenzprinzip mehr als Nichtdiskriminierung garantiert (vgl. Quinn / Degener 2002: 14). 4. Das Menschenrechtsmodell berücksichtigt Identitätsfragen Viertens bietet das Menschenrechtsmodell Raum für die Identifikation mit Minderheiten und Kultur, während das soziale Modell Identitätspolitik als wichtigen Be-

6

Präambel, lit. j) BRK.

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standteil von Emanzipation vernachlässigt. Die Rolle von Identitätspolitik wird in der Disability Studies-Literatur kontrovers diskutiert (Shakespeare 2014: 92). Zwar ist auch Identitätspolitik inzwischen in die Kritik geraten, doch lässt sich nicht leugnen, dass ihr Hauptzweck darin besteht, Differenz wertzuschätzen und Mitgliedern einer unterdrückten Minderheit ein Forum zu bieten, sich positiv mit Eigenschaften oder Merkmalen zu identifizieren, die von der Gesellschaft geächtet werden: bestimmte Hautfarben, bestimmte ethnische Herkünfte und sexuelle Identitäten und geschlechtliche Seinsweisen oder auch Behinderung. Gay Pride, Black Pride, Feminismus oder Disability Culture sind Ausdrucksformen dieser positiven, an Emanzipation orientierten Identitätspolitik. Das soziale Modell eignet sich kaum als Basis für Disability Culture als Identitätspolitik, weil es nicht Analysekategorien für persönliche Emanzipation, sondern für Herrschaftsverhältnisse anbietet. Identitätspolitik im Kontext von Behinderung kann unterschiedlich ausgerichtet sein. Anknüpfungspunkt kann die Kategorie der gesundheitlichen Beeinträchtigung oder ihrer Ursache sein. Behinderte Identität wird zudem durch andere Lebenslagenfaktoren geprägt, wie wir spätestens seit der Debatte um Intersektionalität wissen: Ethnische Herkunft, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Religion und Alter sind weitere Umstände, die uns prägen und die zu verschiedenen Interessen führen können. Identitätsbezogene Behindertengruppen und -politik werden von Befürworter_innen des sozialen Modells mit Skepsis betrachtet, weil sie entweder als unpolitische Selbsthilfegruppen oder als Perpetuierung des medizinischen Modells von Behinderung betrachtet werden. Dabei sind moderne Menschenrechte zumindest partiell die politische Antwort auf kollektiv empfundene Ungerechtigkeiten. Die Geschichte der Menschenrechtsquellen der Vereinten Nationen zeigt, dass identitätsbasierte soziale Bewegungen eine wichtige Rolle in der Normsetzung spielten (vgl. Burke 2010; Bob 2009). So sind die Antirassismuskonvention von 1965 wie auch die Wanderarbeitnehmer_innenkonvention von 1990 Resultate einer internationalen Politik gegen Rassismus und Kolonialisierung. Die Frauenrechtskonvention von 1979 ist die Antwort auf Sexismus, die Kinderrechtskonvention von 1989 die Antwort auf Adultismus und die Behindertenrechtskonvention von 2006 die Antwort auf Ableism. Die Entwicklung dieser thematischen Menschenrechtskonventionen wurde als Personifizierung (vgl. Mégret 2008: 495) bzw. als Pluralisierung (vgl. Gould 2004: 77) analysiert. Sie wurden erkämpft, weil die Internationale Menschenrechtscharta einer Politik entspross, die vornehmlich westlich, weiß, männlich, heterosexuell und von Nichtbehinderten dominiert ist. Das Menschenrechtsmodell von Behinderung, das auf dem Kanon der Kernmenschenrechtsquellen basiert, berücksichtigt verschiedene Schichten von Identität. Die Anerkennung der Identitätsschichten durch das Menschenrechtsmodell führt in der BRK dazu, dass etwa behinderte Frauen und behinderte Kinder jeweils eigenständige Artikel erhalten haben (Art. 6 und 7 BRK). Im Frauenartikel der BRK wird erstmalig in einer Menschenrechtskonvention die Mehrfachdiskriminierung aner-

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kannt. Weitere geschlechts- oder altersspezifische Anmerkungen finden sich an mehreren Stellen der BRK.7 Bezüge zu anderen Identitätsschichten, wie ethnische oder nationale Herkunft, Religion oder Sprache werden dagegen nur am Rande behandelt. Dies mag an der fehlenden Lobby bei den Verhandlungen liegen – hier fehlen evtl. identitätspolitische Gruppierungen.8 Auch einige Beeinträchtigungskategorien werden in der BRK besonders berücksichtigt. Dazu gehören Gehörlosigkeit, Blind- und Taubblindheit. Artikel 30, der das Recht auf kulturelle Teilhabe zum Gegenstand hat, postuliert: »Menschen mit Behinderungen haben gleichberechtigt mit anderen Anspruch auf Anerkennung und Unterstützung ihrer spezifischen kulturellen und sprachlichen Identität, einschließlich der Gebärdensprachen und der Gehörlosenkultur« (Art. 30 Abs. 4 BRK). Auch im Hinblick auf inklusive Bildung werden diese Gruppen besonders erwähnt. So umfasst ihr Recht auf inklusive Bildung den Zugang zu Gebärdensprache und Braille sowie zu Vorbildern und in diesen Techniken qualifizierten Lehrer_innen (Art. 24 Abs. 3 c) BRK). 5. Das Menschenrechtsmodell bietet den Maßstab für präventive Gesundheitspolitik Mein fünftes Argument: Das menschenrechtliche Modell geht über die berechtigte Kritik des sozialen Modells an präventiver Gesundheitspolitik hinaus, indem es den Maßstab für eine menschenrechtsbasierte Präventionspolitik liefert, die behinderte Menschen nicht diskriminiert. Prävention von gesundheitlicher Beeinträchtigung ist eine zentrale Säule öffentlicher Gesundheitspolitik, die von Seiten der Behindertenbewegung mitunter als stigmatisierend und diskriminierend kritisiert wird. Die Kritik kann sich auf die Methoden oder die Ziele der Gesundheitspolitik beziehen. Während gegen Prävention von Verkehrsunfällen und Polioerkrankungen auch aus Sicht der Disability Studies nichts einzuwenden ist, ist die Art und Weise der Aufklärungsarbeit entscheidend. Wenn Menschen mit Beeinträchtigungen als Abschreckung instrumentalisiert werden, wird eine abschätzende Botschaft über ein Leben mit Behinderung gesendet. »Verkrüppelt bis ans Ende des Lebens ist schlimmer als der Tod« hieß z.B. ein Werbeslogan einer bekannten Autoversicherung Ende der 1970er Jahre, mit dem Autofahrer_innen zum Anlegen des Sitzgurtes angehalten werden sollten. Präventive Gesundheitspolitik, die das Ziel hat, Schwangerschaften mit geschädigten Embryonen zu beenden, um die Anzahl der Geburt behinderter Kinder zu verringern,

7

Präambel lit. p)– s); Art. 3(g), (h); Art. 4(3); Art. 8(2)(b); Art. 13; Art. 16(2), (3), (5); Art.

8

Präambel lit. p) BRK.

18; Art. 23(1)(b), (c), (3), (5); Art. 25 (b), Art. 28; Art. 29; Art. 34 BRK.

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wird ebenfalls als diskriminierend empfunden. Es ist die gleiche Botschaft, die hier gesendet wird: Ein Leben mit Behinderung ist schlimmer als nicht zu leben. Und wie in der Euthanasiedebatte geht es hier um eine Politik, die vorgibt, gesundheitliche Beeinträchtigung zu vermeiden, während es tatsächlich darum geht, behinderte Menschen zu verhindern oder zu eliminieren. Michael Oliver hat eine solche präventive Gesundheitspolitik als Wesenskern der ideologischen Konstruktion von Behinderung durch das medizinische Modell bezeichnet (vgl. Oliver 1996: 54-59). Feministinnen der Disability-Studies-Forschung haben viel zum Spannungsverhältnis zwischen feministischer Selbstbestimmung und dem Recht behinderter Menschen auf Nichtdiskriminierung geschrieben (vgl. Degener / Köbsell 1992; Morris 2001). Da der Zweck der Konvention im Schutz und in der Förderung der Menschenrechte behinderter Menschen liegt, kann sie nicht gleichzeitig die primäre Prävention von Behinderung regeln. Artikel 25 BRK bezieht sich auf die sekundäre Prävention und bietet damit einen Maßstab für behinderungssensible Präventionspolitik. Sekundäre präventive Gesundheitspolitik ist wichtig, weil viele behinderte Menschen im Laufe der Zeit sekundäre Beeinträchtigungen bekommen, aber auch weil sie keinen barrierefreien Zugang zu Gesundheitsleistungen haben, weil sie häufiger Gewalt erleben und häufiger in Armut leben. Das wissen wir spätestens seit dem Weltbericht zu behinderten Menschen aus dem Jahre 2011 (vgl. World Health Organisation / World Bank 2011: 57-60). Artikel 25 fordert deshalb gleichen Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen für behinderte Menschen, medizinische Versorgung auf freiwilliger und informierter Basis, so gemeindenah wie möglich und an der Menschenwürde orientiert. Damit ist die Norm zugleich ein Beispiel dafür, wie ein universal anerkanntes Menschenrecht, das Recht auf Gesundheit, auf den Kontext von Behinderung zugeschnitten werden kann. 6. Das Menschenrechtsmodell bietet den Rahmen für Armutspolitik Während das soziale Modell erklären kann, warum zwei Drittel der eine Milliarde behinderten Menschen weltweit in Entwicklungsländern lebt, enthält das Menschenrechtsmodell von Behinderung einen Fahrplan für Veränderungen. Die enge Verbindung zwischen Armut und Behinderung wurde von Befürworter_innen wie Kritiker_innen des sozialen Models frühzeitig gesehen (vgl. Oliver 1996: 12-13). Tom Shakespeare wies darauf hin, dass diese Interdependenz belegt, dass auch gesundheitliche Beeinträchtigung sozial konstruiert ist (vgl. Shakespeare 2014: 34-35). Das bestätigen zahlreiche Studien: Wer behindert ist, ist eher arm und wer arm ist, hat ein größeres Risiko, behindert zu werden (vgl. World Health Organisation / World Bank 2011: 10-11). Mangel an Ressourcen, an Bildung, fehlender Zugang zu finanziellen Mitteln sind einige der Ursachen dafür, warum die Mehrheit

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der behinderten Menschen weltweit in Armutsländern lebt. Das soziale Modell hat dazu beigetragen, zu verstehen, dass Behinderung ein Armutsproblem ist. Zwar hat es lange gedauert, bis diese Erkenntnis auch die internationale Politik erreichte. Erst in der Diskussion um die Post-2015-Ziele einer nachhaltigen Entwicklung werden behinderte Menschen ausdrücklich als Zielgruppe internationaler Armutspolitik benannt (vgl. United Nations Dezember 2014). Die BRK hat in diesem Zusammenhang eine bedeutende Rolle gespielt. Sie ist der erste Menschenrechtsvertrag mit eigenständigen Normen zu humanitärer Hilfe und internationaler Entwicklungspolitik. Artikel 11 zu Gefahrensituationen und humanitären Notlagen verpflichtet Staaten, behinderten Menschen gleichen Schutz wie nicht behinderten Menschen zu bieten. Artikel 32 regelt die internationale Zusammenarbeit und Entwicklungspolitik. Danach sind Staaten angehalten, Entwicklungszusammenarbeit inklusiv und barrierefrei zu gestalten. Behinderung soll als Thema in den Mainstream der Entwicklungspolitik aufgenommen und Organisationen von Menschen mit Behinderungen sollen auf Augenhöhe beteiligt werden. Beide Artikel zusammen bieten drei wichtige Aspekte für humanitäre Arbeit und Entwicklungspolitik: (1) den menschenrechtsbasierten Ansatz, (2) ein sogenanntes Disability Mainstreaming in der Notstands- und Armutspolitik und (3) die Notwendigkeit der Einbindung von Behindertenorganisationen als Expert_innen in eigener Sache. Mit der BRK haben diese drei Aspekte den Charakter verbindlichen Rechts erlangt. Der menschenrechtsbasierte Ansatz in der Entwicklungspolitik bedeutet, dass Menschen, die in Armut leben, keine Objekte der Fürsorge und Wohlfahrt sind, sondern Rechtssubjekte, die bei der Verteilung von Ressourcen und der Bedarfsfeststellung eine Stimme haben. Partizipation ist das Mittel und das Ziel, eine daran orientierte Armutspolitik muss die Menschen befähigen bzw. als fähige Expert_innen ihrer selbst ernstnehmen. Zielgruppen von Entwicklungsprojekten müssen benachteiligte, marginalisierte und ausgeschlossene Gruppen sein. Das sind einige der Prinzipien für eine menschenrechtsbasierte Entwicklungspolitik, die 2003 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurden.9

9

UN Common Understanding on Human Rights-Based Approaches to development cooperation and programming. URL: http://www.undg.org/archive_docs/6959-The_Human_ Rights_Based_Approach_to_Development_Cooperation_Towards_a_Common_Understa nding_among_UN.pdf (Stand: 19.01.2015).

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Der menschenrechtsbasierte Ansatz ist ein wichtiger Schritt in Richtung soziale Gerechtigkeit in Zeiten der Globalisierung. Eine inklusive Entwicklungspolitik kann das medizinische Modell, das auch in der traditionellen Entwicklungshilfe vorherrscht, überwinden und segregierende Sonderwelten beseitigen. Ohne gleichberechtigte Partizipation von behinderten Menschen und ihren Interessenverbänden werden Entwicklungsprogramme und -strategien die Diskriminierung und Ausgrenzung behinderter Menschen perpetuieren. Diese Erkenntnis ist nun Bestandteil der Entwicklungspolitik der Vereinten Nationen, wie dem im Dezember 2014 veröffentlichten Bericht des UN-Generalsekretärs zur Post-2015-Agenda zu entnehmen ist (vgl. United Nations Dezember 2014). Schluss Anders als das soziale Modell versteht sich das menschenrechtliche Modell von Behinderung nicht als Gegenentwurf. Mit ihm soll das soziale Modell nicht ersetzt, sondern jene Aspekte berücksichtigt werden, die dort vernachlässigt wurden. Sobald während der Verhandlungen zur BRK die globalen politischen Konflikte argumentativ überhandzunehmen drohten (oder: eskalierten), half die Erinnerung an den Paradigmenwechsel vom medizinischen zum sozialen Modell, einen Konsens zu bilden. Wenn keine Einigkeit über diffizile Fragen erzielt werden konnte, etwa ob Förderschulen oder Behindertenheime Menschenrechtsverletzungen sind, so bestand doch Einigkeit, dass das medizinische Modell verabschiedet werden muss. Dabei war die Bedeutung des sozialen Modells als Wesenskern der Disability Studies keineswegs allen Beteiligten bekannt. Im Gegenteil, ein eher populistisches Verständnis des sozialen Modells prägte den Verhandlungsdiskurs.10 In internationalen politischen Verhandlungen zu Menschenrechtsverträgen wird häufig theoretisch reduktionistisch (oder: unterkomplex) argumentiert. In New York fanden politische Verhandlungen, keine wissenschaftlichen Vorlesungen statt. Das soziale Modell funktionierte als Diktum, weil es spätestens seit Mitte der 1990er Jahre zum Leitmotiv der internationalen Behindertenbewegung avanciert war und sich im Kampf um Gesetzesreformen als nützlich erwies. Am Beispiel der Reformierung der Behindertenpolitik der EU hat Lisa Waddington das anschaulich nachgezeichnet (vgl. Waddington 2006). Das soziale Modell hat in den Disability Studies unterschiedliche Ausprägungen erfahren und es wurden ihm eine Vielzahl weiterer Modelle zur Seite gestellt. Rannveig Traustadottir (2009), Tom Shakespeare (2014) oder Mark Priestley (2003) sind einige der Autor_innen, die systematische Analysen dieser Unterschiede publiziert haben. Das britische soziale Modell wurde z.B. dem US-amerikanischen Minderheitenmodell und dem nordischen Be-

10 Zutreffend insofern Kayess / French 2008: 7.

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ziehungsmodell gegenübergestellt (vgl. Waldschmidt 2005). Weitere Modelle sind das individuelle (vgl. Priestley 2003), das kulturelle (vgl. Shuttleworth / Kasnitz 2006; Waldschmidt 2005) oder neuerdings das Befähigungsmodell (vgl. Mitra 2006) von Behinderung. So wie diese verschiedenen Modelle den Blick für weitere, nicht ausschließlich materialistische Faktoren und Strukturen für die Konstruktion von Behinderung öffnen, bietet das Menschenrechtsmodell den Kompass für eine Weiterentwicklung der Behindertenpolitik zu einer Menschenrechtspolitik. Dieser Perspektivenwechsel war vor der BRK selbst in der internationalen Behindertenbewegung nicht vollständig vollzogen. Wie wir mit unserer Hintergrundstudie herausfanden, hatten die internationalen Behindertenorganisationen zu Anfang des Millenniums zwar die Menschenrechte auf ihre Fahnen geschrieben, sie waren selbst aber noch wenig versiert (oder geübt) als Akteur_innen auf dem internationalen Parkett (vgl. Quinn / Degener 2002: 256-270). Insofern haben sie in der letzten Dekade von Amnesty International, Human Rights Watch u.a. gelernt. So gehört die Dachorganisation International Disability Alliance11 heute zu den einflussreichsten Verbänden in Genf. Die politische Aktion der internationalen Behindertenbewegung ist heute eindeutig Menschenrechtsaktion. Der Paradigmenwechsel, der international mit der BRK vollzogen wird, ist damit mehr als die Ablösung des medizinischen Modells von Behinderung durch das soziale Modell. Tatsächlich haben die Väter und Mütter der BRK das Menschenrechtsmodell von Behinderung geschaffen. Heute wird der Begriff auch vom Genfer Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen regelmäßig verwendet.12

L ITERATUR Aichele, Valentin (Hg.) (2013): Das Menschenrecht auf gleiche Anerkennung vor dem Recht. Artikel 12 der UN-Behindertenrechtskonvention. Baden-Baden. Bob, Clifford (Hg.) (2009): The International Struggle for New Human Rights. Philadelphia. Burke, Roland (2010): Decolonization and the Evolution of International Human Rights. Philadelphia.

11 URL: http://www.internationaldisabilityalliance.org/en (Stand: 18.01.2015). 12 Vgl. Concluding Observations on the initial report of Argentina as approved by the Committee at its eighth session (17.-28.09.2012), CRPD/C/ARG/CO/1, 08.10.2012, para 7-8; Concluding Observations on the initial report of China, adopted by the Committee at its eighth session (17.-28.09.2012), CRPD/C/CHN/CO/1, 15.10.2012, para 9-10, 16, 54.

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Asymmetrische Globalität

»Hier geht alles ziemlich langsam voran…« Der Transnationale Soziale Raum als Ressource für Familien im Kontext von Migration und Behinderung Donja Amirpur

Die Schnittstelle von Migration und Behinderung ist wissenschaftlich bislang nur wenig bearbeitet worden. Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) wird sie aber verstärkt zum Interessensfeld von Praxis und Wissenschaft – insbesondere seitens der Behindertenhilfe sowie der Heil- und Sonderpädagogik. Familien mit einem behinderten Angehörigen1 sind im Kontext von Migration in der Inanspruchnahme von präventiven und unterstützenden Hilfen unterrepräsentiert, scheinen also durch die Behindertenhilfe nur schwer erreicht zu werden (vgl. Die Bundesregierung 2012). Um sie aber im Sinne der UN-BRK unterstützen zu können, werden in verschiedenen Praxisfeldern Strategien zur interkulturellen Öffnung des Hilfesystems diskutiert. Allerdings scheinen sich einige Einrichtungen mit Handreichungen zur Umsetzung der interkulturellen Öffnung zu begnügen. Dort werden Tipps formuliert, in denen die Kategorie ›Kultur‹ als zentrale Differenzkategorie für den Kontext von Migration und Behinderung fungiert. In dieser Sichtweise existieren die vermeintlichen Barrieren vor allem innerhalb der Familie. Deren Umgang mit der Behinderung des Familienangehörigen und kulturspezifische Deutung von Behinderung, so die Annahmen, entsprächen nicht den Vorstellungen von Empowerment der Behindertenhilfe. Demgegenüber argumentiert der vorliegende Beitrag auf der Grundlage einer intersektionalen Perspektive mit interdisziplinärer Ausrichtung. Eine solche wird benötigt, um die komplexen Lebenslagen der Familien zu berücksichtigen sowie

1

In meinen Ausführungen folge ich dem Verständnis von Behinderung nach der UN-BRK. Für vertiefende Überlegungen siehe Quinn / Degener 2002; Köbsell 2010; Degener / Mogge-Grotjahn 2012 sowie den Beitrag von Degener im vorliegenden Band.

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eine kritische Auseinandersetzung mit Barrieren und einer hegemonialen Praxis im Hilfesystem voranzutreiben. Vereinzelte Arbeiten verbinden bereits Überlegungen der (kritischen) Migrationsforschung mit jenen der Disability Studies (vgl. etwa Gummich in diesem Band Amirpur / Platte 2015; Attia 2013; Dannenbeck 2014; Karakaşoğlu / Amirpur 2012; Wansing / Westphal 2014). Daran knüpft der Beitrag an. Dabei liegt der Fokus auf den Möglichkeiten der Nutzung des »Transnationalen Sozialen Raumes«, der in wissenschaftlichen Arbeiten im Kontext von Behinderung bislang nicht als Ressource diskutiert wurde. Er bietet jedoch die Möglichkeit, neue Perspektiven auf die Schnittstelle von Migration und Behinderung zu werfen, die dazu beitragen können, Othering-Prozesse (vgl. Attia 2014) zu vermeiden, paternalistische und defizitorientierte Perspektiven zu überwinden sowie Ausgrenzung und soziale Ungleichheit in den Blick zu nehmen.

O THERING -P ROZESSE IM K ONTEXT M IGRATION UND B EHINDERUNG

VON

In Praxiszusammenhängen der Behindertenhilfe werden vor allem sogenannte Kulturkonzepte im Kontext von Migration diskutiert, die von einer kulturellen Differenz zwischen ›eingewanderten‹ und ›alteingesessenen‹ Familien ausgehen. Diese wird als mögliche Ursache für die mangelnde Inanspruchnahme des Hilfesystems in Betracht gezogen (vgl. Van Dillen 2008; Bayer 2003). Dabei befassen sich die Autor_innen insbesondere mit Familien türkischer Herkunft bzw. muslimischer Religionszugehörigkeit in Deutschland und versuchen, den Einfluss von ›kulturell geprägten‹ Behinderungs- und Krankheitskonzepten auf den Umgang mit Behinderung in der Familie herauszuarbeiten. Die Ontologisierung der ›muslimischen Familie‹ wird dabei in zwei Schritten vollzogen: Zunächst betrachten Autor_innen verschiedener Handreichungen oder Fortbildner_innen aus dem Praxisfeld (z.B. Rauscher 2003; Kauczor 2003; Yenice-Cağlar 2008; Langenohl-Weyer o.J.; Diakonisches Werk Schleswig-Holstein 2012) allgemeine Untersuchungen, die sich mit Behinderung und Krankheitsbildern im Islam, dem sogenannten Volksglauben und der Volksmedizin in islamischen Kulturkontexten (böser Blick, Heiler und Hodschas, schwarze Magie etc.) befassen. So schreibt bspw. Rauscher in ihrem Aufsatz »Zur Situation von türkischen Migrantenfamilien mit behinderten Kindern in der BRD«: »Für das Verstehen des Umgangs mit behinderten Kindern in türkischen Familien muss sich schließlich mit dem Bild von Behinderung, wie dies in der Religion und Kultur der Türkei gezeichnet wird, auseinandergesetzt werden.« (Rauscher 2003: 410)

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Die Forschungen zum Umgang mit Behinderung im Islam bzw. in der islamischen Theologie und die ethnologischen Beobachtungen sogenannter ›islamischer Kulturkreise‹ werden in einem zweiten Schritt in diversen Publikationen und in Fortbildungen als spezifisch für eine türkische Herkunft bzw. für muslimische Familien in Deutschland beschrieben und als Ratgeber an Fachkräfte vermittelt. Dabei gibt es nur wenige verlässliche quantitative und kaum qualitative Daten zur Situation von Familien im Migrationskontext mit einem behinderten Angehörigen. Erste qualitative Erhebungen (Halfmann 2012; Kohan 2012; Sarimski 2013) können dazu beitragen, gängige Klischees an der Schnittstelle von Migration und Behinderung zu hinterfragen und konkrete Hinweise auf Bedarfe der Familien zu geben. Die Studien heben die große Bedeutung hervor, die Eltern dem Hilfesystem zumessen, z.B. den Wunsch nach mehr Unterstützung bei der Bewältigung ihres Alltags und bei der Beantragung von Hilfen. Allerdings bleiben auch in diesen Studien die Ressourcen der Familien unberücksichtigt und es überwiegt stattdessen eine defizitorientierte Perspektive. So schildern in Sarimskis (2013) qualitativer Untersuchung nicht nur 16 Eltern türkischer Herkunft ihre Erfahrungen mit dem Hilfesystem, sondern es kommen auch diverse Fachkräfte des Hilfesystems zu Wort. Diese kritisieren den regen Kontakt der Familien zum Herkunftsland und mutmaßen, dass dort angewendete Methoden – bspw. vermeintliche Kontakte zu Heiler_innen – sich nachteilig auf die behinderten Kinder auswirken könnten. Die Einschätzung der Fachkräfte bleibt in der Studie unkommentiert. Gleichzeitig resümiert der Autor auf der Basis der Interviews mit den Eltern, dass kulturspezifische Ansätze zum Umgang mit Behinderung in den Familien nicht zum Tragen kommen. Diese Erkenntnis bestätigt auch Halfmann (2012) in ihrer Dissertation. Die Ergebnisse ihrer Einzelfallanalysen zeigen, ähnlich wie bei Sarimski, dass Strategien im Umgang mit Behinderung kulturunspezifisch sind und widersprechen damit den vorherrschenden Annahmen von Akteur_innen des Hilfesystems (z.B. Lanfranchi 1998; van Dillen 2008). Die Diskrepanz zwischen gängiger Vorannahme und Ergebnis ihrer Untersuchung erklärt Halfmann, indem sie spekuliert: Durch die komplexe Behinderung ihrer Kinder seien Eltern gezwungen, den Kontakt zu medizinischen Versorgungsstrukturen früh aufzunehmen und sich mit den hiesigen Sichtweisen auf Behinderung auseinanderzusetzen. Durch die Verknüpfung einer herkunftsspezifischen mit einer »deutschen Perspektive« entwickelten die Eltern eine »bikulturelle Perspektive« auf Behinderung (Halfmann 2012: 196). Diese Eltern lernten über die medizinische Versorgung die deutsche Struktur der Behindertenhilfe frühzeitig kennen und nutzen. Ärzt_innen aus demselben Herkunftsland wie die sie aufsuchenden Familien könnten allerdings diesen Prozess vereiteln. Ob kulturspezifische Ansätze in der Behandlung zum Tragen kämen, könne in diesen Fällen davon abhängen, wo die Ärzt_innen ihre Ausbildung absolviert hätten. Offen bleibt hier, wie die ›deutsche‹ Perspektive operationalisiert und von anderen trennscharf

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unterschieden wird.2 Für ihre Ausführungen werden keine eigenen empirischen Daten als Belege herangezogen, um die kulturalisierenden Vorannahmen kritisch zu hinterfragen. Stattdessen wird nach Ansatzpunkten gesucht, um diese Vorannahmen trotz gegenteiliger Ergebnisse zu bestätigen. Die Annahme und Setzung einer Kulturdifferenz zwischen Herkunftsland und Deutschland trägt zur ›Besonderung‹ bei. Dabei wird das Othering von Familien im Migrationskontext in ein asymmetrisches Beziehungsgefüge eingeordnet. Aus einer eurozentrischen Perspektive werden Differenzen hierarchisiert (Rommelspacher 2008: 118). Während die ›deutsche Perspektive‹ auf Behinderung als förderlich und mustergültig dargestellt wird, ist der Umgang mit Behinderung in der Türkei (und anderen Herkunftsländern) in einer Weise beschrieben, die wenig förderlich, sogar schädlich sei. Beide Umgebungen werden argumentativ wenig ausdifferenziert; die Differenz liegt allein zwischen den als ›national‹ konstruierten Kulturen. Vernachlässigt bleiben die vielfältigen möglichen Heterogenitätsdimensionen wie etwa der soziale oder rechtliche Status. Ihre Berücksichtigung könnte dazu beitragen, eine differenzierte Sichtweise auf die komplexen Umstände herauszuarbeiten, die zu spezifischen Umgangsweisen mit Behinderung in konkreten Situationen und Konstellationen führen können. Dagegen führt der eindimensionale Zugang dazu, allen Familien – ungeachtet ihrer konkreten Situation und Bedürfnisse – die gleichen Ratschläge zu geben. Der angeblich ›optimale‹ Umgang mit einer Behinderung folgt einem statischen Verständnis von Wissen und basiert auf keiner umfassenden Analyse. Diese könnte aber – das zeigen die Erkenntnisse einer im Folgenden vorgestellten Studie – die vielfältigen Gründe der Familien aufdecken, die hinter den Kontakten zum Herkunftsland und der Nutzung transnationaler Netzwerke stehen.

I NTERSEKTIONALE ANALYSE VON T RANSMIGRATIONEN IM K ONTEXT VON M IGRATION UND B EHINDERUNG Ein an der Universität Bremen durchgeführtes Dissertationsprojekt beschäftigt sich unter anderem mit der Bedeutung von Transmigrationen an der Schnittstelle von Migration und Behinderung. Dort wurden unterschiedliche Motivationen für das Pendeln zwischen nationalen Kontexten herausgearbeitet, die zur lebensweltlichen Realität und Alltagspraxis in der Migrationsgesellschaft gehören. Das Konzept der Transmigration versteht Migration nicht als Einbahnstraße, sondern überwindet die Perspektive einer auf die Ankunftsregion fokussierten Migrationsforschung: Pendelbewegungen werden als selbstverständlicher Bestandteil »durchaus kontinuier2

Aus der Arbeit wird zudem nicht ersichtlich, warum Eltern es schaffen sollen, sich ›anpassen‹ zu können, hier beschäftigte Ärzt_innen, die als Ärzt_innen mit einem Migrationshintergrund positioniert werden, diesen Schritt aber nicht vollziehen können.

Der Transnationale Soziale Raum als Ressource | 175

licher Lebensläufe« verstanden (Pries 2001: 49), durch die dauerhafte transnationale Verflechtungsbeziehungen entstehen. »Der alltagsweltliche Sozialraum« spannt sich auf diese Weise zwischen verschiedenen Orten dauerhaft in unterschiedlichen nationalen Kontexten auf und gestaltet so das Verhältnis zwischen Herkunfts- und Ankunftsregion (Gogolin / Pries 2003: 6 f.). Die sich durch Transmigrationen entwickelnden transnationalen sozialen Räume »[...] beinhalten Alltagspraktiken, Symbolsysteme und soziale Artefakte, deren Bedeutungsund Sinngehalt sich für die Handelnden selbst und für die wissenschaftliche Beobachtung nicht durch den ausschließlichen Bezug auf uni-lokale alltagsweltliche Sozialräume, sondern nur durch Rekurs auf pluri-lokale und transnationale Verflechtungen erschließt« (ebd.: 11).

Wissenschaftliche Beobachtungen zu Transmigrationen weisen auf eine Zweischneidigkeit hin: Gelten Transmigrationen auf der einen Seite als ›bereichernder Lebensstil‹ (Zugang zu mehreren Sprachen, Heimaten, Bildungsräumen etc.), kann auf der anderen Seite problematisiert werden, dass die Nutzung des transnationalen sozialen Raumes häufig nicht auf einer individuellen Entscheidung beruht (vgl. Wagner 2008). Migrant_innen werden auch durch ihre komplexen bzw. prekären Lebenslagen in der Migrationssituation gezwungen, sich grenzüberschreitend zu bewegen. Sie stehen häufig vor gesellschaftlichen Ausschlüssen, ökonomischer und sozialer Ausgrenzung und versuchen, diese durch Pendelbewegungen zu mildern oder ihnen zu entgehen. Im Folgenden werden die Biographien von Familie Kolat und Familie Karimi aus dem zuvor erwähnten Dissertationsprojekt unter Einbezug einer transnationalen (Forschungs-)Perspektive analysiert. Dabei steht die Frage im Vordergrund, aus welcher Motivation heraus die Familien im Kontext von Migration und Behinderung Transmigrationen und den transnationalen sozialen Raum nutzen.3

S AMPLE

DER

S TUDIE

Ausgehend von den Hinweisen aus Literatur und Praxis, dass religiöse Vorstellungen einen nennenswerten Einfluss auf die Perzeption und den Umgang mit Behinderung nach sich ziehen, war es zunächst auch das Ziel meines Dissertationsvorhabens herauszuarbeiten, welchen Stellenwert die islamisch geprägte Sozialisation bei muslimischen Familien im Umgang mit der Behinderung ihres Kindes einnimmt. Im Verlauf des Forschungsprozesses wurde dann aber recht schnell deutlich, dass – 3

Vgl. dazu ausführlich meine Dissertationsschrift »Migrationsbedingt behindert? Zur Interdependenz der Wahrnehmung von Behinderung und strukturellen Rahmenbedingungen im Kontext migrationsbedingter Heterogenität« (Amirpur i.E.).

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viel mehr als die Religion – die Suche nach Unterstützungs- und Fördermöglichkeiten zentrales Thema der elterlichen Bemühungen ist, so dass vor allem die Barrieren, mit denen die Familien im Hilfesystem konfrontiert sind, ins Zentrum der Analyse rückten. Für die Untersuchung wurden Familien mit türkischen und iranischen Migrationsbezügen und unterschiedlichen muslimischen Konfessionen zu ihrer Biografie vom Zeitpunkt der Geburt des Kindes an befragt. Es handelt sich demnach zumindest formal um ein »muslimisches Sample«. Die Interviews wurden großenteils auf Türkisch bzw. Persisch geführt. Die Kinder werden bzw. wurden großenteils auf einer Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung beschult. Alle Kinder wurden als »geistig behindert« bezeichnet.4 Elf der Interviews wurden schließlich mit Hilfe der intersektionalen Mehrebenenanalyse nach Winker und Degele (2009) ausgewertet. Salma Kolat: Der Transnationale Soziale Raum – Eine Ressource auf der Suche nach Handlungsbefähigung Salma Kolat ist Kurdin und war in der Türkei politisch aktiv. Sie floh Anfang der 2000er Jahre mit ihrer vierjährigen Tochter Rana nach Deutschland. Heute ist sie alleinerziehende Mutter von drei Kindern. Rana ist zum Zeitpunkt des Interviews 14 Jahre alt. Bei ihr wurde ein frühkindlicher Autismus diagnostiziert. Im Interview geht Salma Kolat auf ihre prekäre Migrationssituation ein. Durch den Verlust ihres sozialen Netzwerkes und die fehlende Anerkennung ihres Expertinnentums für ihre Tochter fehlten ihr wichtige Ressourcen. Kern der Identitätskonstruktion von Salma Kolat ist ihre Inszenierung als Expertin, die über Fachwissen zur Beeinträchtigung ihres Kindes verfügt: Sie weiß, was ihr Kind kann und was gut für ihr Kind ist. Sie ist überzeugt davon, ihrer Tochter durch eine gute Förderung gesellschaftliche Partizipation zu ermöglichen. In der 4

Dabei bin ich mir darüber im Klaren, dass ein unspezifischer Behinderungsbegriffs die Kategorisierungsproblematik mit der »Art der Behinderung« aufheben könnte, weil so die Heterogenität von behinderten Menschen anerkannt wird. Mein Weg mag auf den ersten Blick den Eindruck einer Homogenisierung von behinderten Menschen erwecken. Das Vorgehen hängt aber mit der Forschungsfrage und den strukturellen Rahmenbedingungen zusammen, die in der Arbeit analysiert werden sollen. Denn schließlich wird über die ›Art‹ und den ›Schweregrad‹ der Behinderung das Anrecht auf zusätzliche Unterstützungsbedarfe im Hilfesystem definiert. So können bei Barrieren im Hilfesystem bessere Vergleiche gezogen werden. Zudem scheint es gerade im Kontext einer sogenannten ›geistigen‹ Behinderung und Migration Tendenzen des Hilfesystems zu geben, die Barrieren der Teilhabe innerhalb der Familien zu verorten bzw. den Eltern zuzuschreiben. Diese Barrieren werden mit kulturspezifischen Ansätzen zum Umgang mit ›geistiger Behinderung‹ verbunden.

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Türkei sind zu jener Zeit keine differenzierten staatlichen Angebote für behinderte Menschen verfügbar. Die finanziellen Möglichkeiten der Familie indes erlauben es ihr, privat eine Betreuung (»Nanny«) zu engagieren. Rana erhält früh Therapien und wird in einer Krabbelgruppe angemeldet. Durch die Migration erfährt das Leben von Mutter und Tochter eine Zäsur: Die gute wirtschaftliche Lage der Familie und das unterstützende soziale Umfeld, die guten Bildungsmöglichkeiten und beruflichen Chancen werden gegen einen radikalen sozialen Abstieg in Deutschland eingetauscht; Mutter und Tochter sind nun auf sich allein gestellt. Der Beginn ihres Lebens in Deutschland ist durch Duldungsstatus, rassistische Ausschlüsse und hegemoniale Vorgaben geprägt. Angebote, die an den in der Türkei eingeleiteten Partizipationsprozess der Tochter anknüpfen könnten, stehen ihr in dieser Zeit nicht zur Verfügung. Durch die rechtlichen Rahmenbedingungen für Geduldete kann Rana die in der Türkei begonnenen Therapien in Deutschland nicht fortsetzen: »Es ist zwar sehr früh erkannt worden [der Autismus des Kindes – D.A.] und dort hat man auch schon mit Therapien angefangen. Aber die Situation in Deutschland, meinetwegen hat sich die Sache dann hinausgezögert. Da war dann ein ziemlicher Abstand.«5

Die Mutter ist aufgrund des rechtlichen Status mit staatlichen Regulierungen konfrontiert, die massiv und restriktiv – oder ›behindernd‹ – in ihre und Ranas Möglichkeitsräume eingreifen. In den zweieinhalb Jahren im Flüchtlingsheim bzw. in der Zeit des unsicheren Aufenthaltsstatus hat Rana keine Option, eine außerfamiliäre Betreuung in Anspruch zu nehmen. Dieses Angebot habe aus rechtlichen Gründen lediglich für die »normalen Kinder« (gemeint sind Kinder ohne Behinderung) bestanden. Auch nach Verbesserung ihrer rechtlichen Situation fehlt Salma Kolat das Unterstützungsnetzwerk für Rana, von dem sie in der Türkei profitiert hatte. Zudem ist sie damit konfrontiert, nicht mehr als Expertin für ihre Tochter anerkannt zu werden. Sie äußert ihre Unzufriedenheit mit den Bildungsangeboten auf der Förderschule, in die ihre Tochter eingeschult wurde, weil diese im Vergleich zur Qualität der schulischen Ausbildung in der Türkei zu wünschen übrig lassen. Salma Kolat setzt sich hartnäckig für eine Unterstützung und Förderung ihrer Tochter ein, doch Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen, die sich durch den Kontext von Migration und Behinderung verstärken, münden in einer gesellschaftlichen Isolation der Familie: »Das sind solche hässlichen Begegnungen, wo ich alleine mit den Problemen nicht fertig werde und gezwungen bin, Hilfe zu holen.«

5

Interviewauszüge sowie familienspezifische Informationen sind meiner unveröffentlichen Dissertation entnommen. Dies wird im Folgenden nicht mehr gesondert angegeben.

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Einen Freundeskreis habe sie in Deutschland nicht aufbauen können. Zudem erschwert ihre Migrationssituation die Unterstützung durch die Familie. Ihre beiden Brüder leben zwar in Deutschland und sind in Notsituationen auch zur Stelle, »[...] aber mal von sich aus, nein. Die Neigung ist sehr gering. Und das scheint auch bei anderen Familien der Fall zu sein.« Die Türkei hingegen dient als Referenzsystem und ist der Ort effizienter Hilfe: »Besonders in der Türkei, selbst wo ein behindertes Kind ist, da sind die Großeltern immer zur Stelle und passen auf das Kind auf. Aber ich bin hier nicht in dieser glücklichen Lage.« An anderer Stelle erzählt sie: »Als ich nach Deutschland kam, hatte ich natürlich Gewissensbisse, dass sie [Rana – D.A.] aufgrund meiner Lebensumstände keine Therapie bekommen konnte. Deswegen habe ich sie auch in regelmäßigen Abständen in die Türkei geschickt, damit sie Hilfe bekommt. Denn wenn man dort Geld hat, dann bekommt man auch Hilfen. Ein Beispiel: Hier hatte man mir erzählt, sie würde ein Dreirad nicht bedienen können. Der Druck mit dem Fuß sei nicht möglich. Ich habe sie dann in die Türkei geschickt. Und dort konnte sie innerhalb kürzester Zeit sogar mit einem Zweirad fahren. Hier geht es alles ziemlich langsam voran.«

Salma Kolat ist mit behinderungsspezifischen Barrieren konfrontiert, die die Partizipationsmöglichkeiten der Tochter einschränken und die sich durch die Migrationssituation verstärken. Sie kann ihre Identität als Mutter eines behinderten Kindes in Deutschland nicht ausleben. Das Recht der Tochter auf Entwicklung und Befähigung (vgl. UN-BRK 2011) sieht sie hier nur unzureichend gegeben. Weil sich Salma Kolat durch ihre Hartnäckigkeit und Expertise, die sie sich in der Türkei aneignen konnte, mit dem Hilfesystem auskennt, kann sie sich auch mit der Qualität der jeweiligen Angebote auseinandersetzen. Sie erwartet nicht nur Unterstützung und Betreuung vom Hilfesystem, sondern auch eine gute (Aus-)Bildung ihrer Tochter. So steht die Wahrnehmung der Beeinträchtigung der Tochter in einem Zusammenhang mit der Suche nach Handlungsbefähigung und einer qualitativ hochwertigen Bildung für Rana. Allein die Nutzung des transnationalen sozialen Raumes bietet ihr hierfür eine Perspektive. Jale Karimi: Der Transnationale Soziale Raum – Eine Ressource auf der Suche nach sozialer Absicherung Eine andere Motivation für Transmigrationen und die Nutzung des transnationalen sozialen Raumes zeigt das folgende Beispiel der Großmutter Jale Karimi und ihrer Enkelin Puran. Hier wird der transnationale soziale Raum auf der Suche nach sozialer Absicherung zu einer Ressource und zum Ausweg, um den restriktiven Auflagen zum Bleiberecht zu entkommen. 1998 wird Puran im Iran geboren. Ihre Eltern beschließen, fünf Monate nach ihrer Geburt, nach Deutschland auszuwandern und dort Asyl zu beantragen. Die

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genauen Gründe für die Entscheidung, Iran zu verlassen, werden im Interview nicht ausgeführt. Im Jahr 2000 folgt die verwitwete Großmutter Purans, Jale Karimi, ihrer Tochter, dem Schwiegersohn und der Enkelin nach Deutschland. Jale Karimi heiratet bald erneut. Etwa zeitgleich wird bei Puran im Alter von zwei Jahren eine Entwicklungsverzögerung festgestellt. Die Großmutter berichtet: »Wir haben erst ab dem zweiten Lebensalter gemerkt, dass sie Probleme hat mit dem Gehen, mit dem Reden und haben dann erst gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung ist. Da sie [Tochter und Schwiegersohn – D.A.] Asyl beantragt hatten, konnten sie eigentlich kaum Angebote für Puran in Anspruch nehmen. Nur ganz wenige.«

Im Gegensatz zur Großmutter sind die Eltern von Puran und Puran selbst in einer rechtlich prekären Situation in Deutschland: Der Ausgang ihres Asylverfahrens ist ungewiss; hinzukommt, dass für Puran diverse Möglichkeiten der Unterstützung nicht vollends ausgeschöpft werden können. Eine Logopädie z.B. erhält sie nur alle zwei Wochen. So scheitern die Eltern an dem Versuch, das Kind ausreichend fördern zu lassen. Wieder zeigt sich das Zusammenwirken der Dimensionen des rechtlichen Status und der Wahrnehmung einer Behinderung sehr deutlich, welches die Familie in eine problematische Lage versetzt. Als den Eltern bewusst wird, dass die Chancen auf eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis sehr schlecht stehen und Purans Fördermöglichkeiten durch die rechtlichen Restriktionen eingeschränkt sind, bemühen sie sich um Alternativen. Sie sprechen in der US-amerikanischen Botschaft für eine Greencard vor, die sie schließlich auch erhalten. Als Puran fünf Jahre alt ist, beschließen die Eltern, mit ihrer Tochter in die USA auszuwandern. Die Großmutter, die wegen ihrer Tochter und der Enkelin nach Deutschland gekommen ist, bleibt mit ihrem Ehemann zurück. Puran, die zu dieser Zeit in Deutschland einen Kindergarten besucht, hatte gerade begonnen zu sprechen, erste Worte zu verstehen. Für sie, so die Großmutter, war es sehr schwer, Deutschland wieder verlassen zu müssen. Als Jale Karimi ihre Enkelin in den USA besucht, stellt sie fest, dass Puran oft alleine ist: Die Eltern müssen fortwährend arbeiten, Puran besucht einen Kindergarten, in dem sie keinen Anschluss findet und isoliert ist. Diese Situation bezeichnet die Großmutter als für sich »unerträglich« und stellt Purans Eltern vor die Wahl: Entweder ihre Tochter bleibe zu Hause und kümmere sich mehr um das Kind, oder aber sie selbst übernehme die Aufgabe, Puran zu »erziehen«. Die Eltern übergeben Puran schließlich ihrer Großmutter, was Jale Karimi vor große Herausforderungen stellt, denn Puran besitzt keine Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland. So gehen Jale Karimi und Puran zunächst wieder nach Iran. Aufgrund der aufenthaltsrechtlichen Regelungen fahren sie unter der Bedingung karger ökonomischer Ressourcen alle sechs Monate im Wechsel nach Deutschland, um den Ehemann von Jale Karimi zu besuchen, oder in die USA, damit Puran ihre

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Eltern sehen kann. Puran pendelt im transnationalen sozialen Raum hin und her. Dabei ist ihre einzige Konstante ihre Großmutter, die mit ihrer Förderung befasst ist. In Iran macht die Enkelin schließlich Fortschritte: »Laufen, sprechen, Laute sprechen«, schwimmen und tauchen. Diese Fortschritte vermutet Jale Karimi nicht als Teil einer natürlichen altersentsprechenden Entwicklung, sondern schreibt sie ihrer Förderung zu. Im Hinblick auf das Gewicht einer Bindung von Eltern und Kind scheint es ungewöhnlich oder kaum akzeptabel zu sein, sein eigenes Kind permanent grenzüberschreitend zu bewegen. Für viele Menschen im Migrationskontext ist es aber durchaus eine Perspektive und oftmals einer schwierigen Situation in der Migration geschuldet. Gerade in der ersten Einwanderergeneration gab und gibt es ein erweitertes Familienverständnis und somit die denkbare Option, dass Kinder auch bei den Großeltern groß werden können – wie in diesem Fall sogar über tausende Kilometer entfernt. Doch das jahrelange Hin und Her im Dreieck »Iran, Deutschland, USA« wird für alle Beteiligten, insbesondere für Puran, zur Belastung. So schlägt die Großmutter ihrem Ehemann vor, Puran zu adoptieren. Jale Karimi, der die formalisierten Verfahren in Deutschland fremd sind, weiß die Ressourcen und die Vertrautheit ihres Ehemannes mit deutschen Behörden zu nutzen: Als ihr Ehemann in eine Adoption einwilligt, ist er es, der sich mit dem System befasst, den Antrag stellt und sich um sämtliche Formalitäten kümmert. Der Gerichtstermin wird mit Hilfe eines Dolmetschers wahrgenommen: Puran, Jale Karimi und ihr Ehemann werden befragt und der Adoption wird 2006 schlussendlich zugestimmt. Zwei Jahre später, als Puran auch eine Aufenthaltsgenehmigung erhält, gehen Jale Karimi und Puran wieder dauerhaft nach Deutschland. Mit der Veränderung des rechtlichen Rahmens hat sie eine wichtige Hürde gemeistert, damit das Kind weiterhin bei ihr bleiben kann. Am Beispiel von Jale und Puran Karimi werden rassistische Ausgrenzungen, mit denen Migrant_innen auf der (aufenthalts-)rechtlichen Ebene konfrontiert sind, besonders sichtbar. Sie erfahren strukturelle Diskriminierungen und ihre Möglichkeiten sind durch nationalstaatliche Rechtsverhältnisse gerahmt.6 So haben die Großmutter und die Eltern keine Alternative: Die Nutzung des transnationalen sozialen Raumes scheint in dieser Lebenssituation die einzige Option, um die Entwicklungsmöglichkeiten der Tochter/Enkelin zu begünstigen. Gleichzeitig herrscht in Deutschland eine Familienideologie, die den Stellenwert der Kernfamilie für das Aufwachsen eines Kindes als maßgeblich ansieht und somit die Unternehmungen der Großmutter und das Verhalten der Eltern als Beleg des Scheiterns versteht. Hier zeigt sich ein Widerspruch: Während im hegemonialen Diskurs eine enge Beziehung der Eltern zum Kind vorausgesetzt und die Schaffung einer räumlichen Kon6

Zur Diskussion, dass Staatsbürgerschaftsrechte allein kein Garant für gesellschaftliche Teilhaberechte (»substantive citizenship«) sind, vgl. Holston / Appadurai 1999: 4.

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stante für das Kind verlangt wird, produzieren die Strukturen für viele Migrant_innen eine Lebensrealität, die ihnen ebendies unmöglich macht.

S CHLUSSFOLGERUNGEN Transmigrationen und die Nutzung des transnationalen sozialen Raumes wurden in bisherigen Studien im Kontext von Migration und Behinderung kaum als migrationsspezifische Ressource erkannt. Im Gegenteil: Die Vorannahme, derzufolge Kontakte zum Herkunftsland sich nachteilig auf die Entwicklung des Kindes auswirken könnten, wird durch empirische Daten zu bestätigen versucht. Im Praxisfeld, in der Literatur und in dominanten öffentlichen Diskursen werden die Herkunftskontexte als hinderlich und nicht unterstützend dargestellt. Es wird vermutet, dass im Herkunftsland zweifelhafte Heilungsmethoden eingesetzt würden. Die eurozentrische und defizitorientierte Perspektive vieler Studien kulturalisiert die Familien, macht sie zu »Anderen« und verhindert auf diese Weise die (An-)Erkenntnis, dass der transnationale soziale Raum genutzt wird, um rechtliche Restriktionen und gesellschaftliche Ausschlüsse für behinderte Menschen zu kompensieren. Migrant_innen, die pendeln oder sich transnationaler sozialer Räume bedienen, nutzen deren Möglichkeiten aktiv. Kenntnisse aus dem Herkunftsland über Partizipationsmöglichkeiten von behinderten Menschen werden von den Eltern genutzt, um selbstbewusst im Hilfesystem zu agieren. Die Annahme, dass eine Orientierung an den Strukturen des Herkunftslandes sich nachteilig auf die Beteiligung des behinderten Angehörigen und den Zugang der Familien zum Hilfesystem auswirken kann, kann – zumindest in dieser Pauschalität und Undifferenziertheit – durch die Bremer Untersuchung widerlegt werden. Die Interviews verweisen vielmehr auf das hohe Potential für Partizipationsprozesse, das im Einbezug von Kenntnissen aus den Herkunftskontexten liegen kann. Allerdings ist es grundsätzlich keineswegs selbstverständlich, dass Familien im Migrationskontext auf diese Ressource zurückgreifen können. Für viele Familien existiert die Option der Nutzung des transnationalen sozialen Raumes aufgrund ihrer Flucht aus dem Herkunftsland nicht oder die Familien sind in einer prekären finanziellen Situation, so dass Reisen für sie nicht realisierbar sind. Zudem können die Folgen der spontanen »Ausweichmanöver«, um den migrationsspezifischen Barrieren zu entgehen, auch kritisch betrachtet werden, weil sie zu einer Perpetuierung bestehender Strukturen in Deutschland beitragen. Sie führen in der Konsequenz dazu, dass die Notwendigkeit von Veränderungen im Hilfesystem – bspw. die Anpassung rechtlicher Rahmenbedingungen an die Bedürfnisse der Nutzer_innen – nicht erkannt wird und ausbleibt. Auf diese Weise kommt das Hilfesystem seiner Verantwortung in der Folge nicht nach, Strukturen, Kulturen und Praktiken

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im Rahmen inklusiver Entwicklungsprozesse so auszugestalten, dass Partizipation an der Schnittstelle von Migration und Behinderung ermöglicht wird.

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»Doppelte Bestimmung« im Privathaushalt Zum Zusammenkommen von Feminisierung und Kolonialität in der bezahlten Hausarbeit* Encarnación Gutiérrez Rodríguez »Die Unterdrückung innerhalb einer herrschenden Klasse oder ethnischen Gruppe hebt also nicht das Herrschaftsverhältnis gegenüber anderen Klassen oder ethnischen Gruppen auf.« BIRGIT ROMMELSPACHER, FRAUEN IN DER DOMINANZKULTUR (1994: 24)

Mit dieser Beobachtung verwies Birgit Rommelspacher in ihrem 1994 erschienenen Aufsatz »Frauen in der Dominanzkultur« auf das Zusammentreffen mannigfaltiger gesellschaftlicher Verhältnisse und deren widersprüchliches Beziehungsgefüge. Zusammengefasst in ihrem Begriff der »doppelten Bestimmung« macht sie auf paradoxe gesellschaftliche Subjektpositionen aufmerksam, die gleichzeitig sowohl über die Erfahrung der Dominanz als auch über die Erfahrung der Diskriminierung geprägt sind. Demnach kann eine weiße, christlich sozialisierte deutsche Staatsbürgerin aus dem Mittelstand aufgrund ihres Geschlechts Diskriminierung erfahren, während sie zugleich als Mitglied der Dominanzkultur über einen privilegierten Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen wie Arbeit, Bildung, Wohnen, Gesundheit, kultureller Repräsentation und politischer Partizipation verfügt. In Beziehung gesetzt zu Schwarzen, Women of Color, Geflüchteten oder post-/migrantischen Frauen ist die Position der weißen deutschen Staatsbürgerin strukturell über die der Dominanz geprägt. Jedoch konfiguriert sich diese Position der Dominanz, die im Rahmen von

*

Ich danke Iman Attia, Swantje Köbsell und Nivedita Prasad für ihre Kommentare. Ein besonderer Dank gilt auch Nicola Lauré al-Samarai für ihre Anregungen.

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rassistischen Differenzierungsprozessen ausgebildet wird, in der Verschränkung mit anderen Machtdimensionen, wie z.B. Produktionsverhältnisse, Heteronormativität und Ableism.1 In diesem sich gegenseitig bedingenden gesellschaftlichen Beziehungsgeflecht korrelieren soziale Positionen der Privilegierung mit denen der Diskriminierung. Das bedeutet, dass gesellschaftliche Positionen auf der Grundlage eines asymmetrischen sozialen Beziehungsgeflechts ausgebildet werden, welches ambivalente Subjektpositionen hervorbringt, die Rommelspacher »multiple Identitäten« (Rommelspacher 1994) nennt. In der Auseinandersetzung mit »multiplen Identitäten« geht es Rommelspacher um die Bestimmung der subjektiven und gesellschaftlichen Wirkweisen von Machtkonstellationen und -dynamiken. Der Fokus liegt vor allem auf dem Umgang mit Differenz als Element gesellschaftlicher Hierarchisierung. Mit »multiplen Identitäten« ist allerdings keine bloße Aneinanderreihung unterschiedlicher gesellschaftlicher Positionen gemeint, sondern der Herstellungsprozess dieser Differenzen als Vektoren der Dominanz und Indikatoren sozialer Ungleichheit. Dabei interessiert insbesondere, wie über die Zuschreibung von Differenz Unterwerfung und Ausschluss produziert werden. Von dieser Perspektive ausgehend, untersucht Birgit Rommelspacher am Beispiel der weißen deutschen Frauenbewegung den Umgang mit Antisemitismus und Rassismus und führt den Begriff der »doppelten Bestimmung« ein, um die gleichzeitige Erfahrung von Diskriminierung und Dominanz der weiblichen Mitglieder der Dominanzkultur zu fassen. Ihre mehrschichtige Betrachtungsweise verkomplizierte zu jenem Zeitpunkt den Diskriminierungsdiskurs im Feminismus und schärfte den Blick für die ›Mittäterschaft‹ von Frauen an antisemitischen und rassistischen Handlungen. An diese Untersuchung zur Dominanzkultur (Rommelspacher 1995) und die Arbeiten zu Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis (Rommelspacher 2009) knüpft der vorliegende Beitrag in seiner Besprechung affektiver Dynamiken, die im Rahmen der Hausarbeit im Privathaushalt auftreten, an. Um die soziale Dimension des Affektiven in Bezug auf Hausarbeit zu rekonstruieren, werde ich mich auf Interviews mit Hausarbeiterinnen und Arbeitgeberinnen beziehen, die ich im Rahmen meiner Studie zu Migration, Hausarbeit und Affekt in der Bundesrepublik durchgeführt habe (vgl. Gutiérrez Rodríguez 2010).2 Im Zuge dessen führte ich Interviews

1 2

Vgl. dazu die Beiträge von Degener, Gummich, Köbsell und Raab im vorliegenden Band. Meine Studie »Migration, Domestic Work and Affect: A Decolonial Approach on Value and the Feminization of Labor« basiert empirisch auf einem EU-Projekt (Caixeta et al. 2004) sowie weiteren Untersuchungen, die zwischen 2003 und 2009 durchgeführt wurden. In diesem Rahmen wurden Interviews mit Hausarbeiterinnen und Arbeitgeberinnen in Spanien, Großbritannien, Deutschland und Österreich geführt. Im vorliegenden Aufsatz beziehe ich mich auf Interviews, die in Deutschland durchgeführt wurden.

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mit lateinamerikanischen Migrantinnen durch, die ohne einen legalen Aufenthaltsstatus in der Bundesrepublik lebten und in deutschen, urbanen, mittelständigen Privathaushalten als Hausarbeiterin beschäftigt waren. Die Betrachtung von Affekt im Rahmen von Migration und Hausarbeit im Privathaushalt beinhaltet zunächst eine Auseinandersetzung mit ambivalenten Gefühlen der Zu- und Abneigung, aber auch mit Momenten der Desidentifikation und Identifikation sowie der Nähe und Distanz, die im Rahmen des Spannungsverhältnisses von Dominanz und Diskriminierung zwischen Hausarbeiterin und Arbeitgeberin verhandelt werden. Im Privathaushalt existieren zwar unterschiedliche Personenkonstellationen, doch tritt bei der Organisierung der bezahlten Hausarbeit ein Beschäftigungsverhältnis in den Vordergrund, das mehrheitlich unter Frauen abgeschlossen wird. Dieses stellt, so Judith Rollins (1985), ein historisch geformtes besonderes Ausbeutungsverhältnis zwischen Frauen dar, das sich entlang des Kontinuums Sklaverei, Leibeigenschaft und kapitalistischer Produktionsverhältnisse entwickelt hat. Dabei gestaltet sich das Verhältnis der Arbeitgeberin und der Hausarbeiterin zum Arbeitsobjekt – der Hausarbeit – auf komplexe Art und Weise. In der Regel unterscheidet sich die gesellschaftliche Position der Arbeitgeberin von jener der Hausarbeiterin durch ihre höhere ökonomische Stellung, ihren Einschluss als Staatsbürgerin und ihre Teilhabe an der Dominanzkultur. Demgegenüber ist die Hausarbeiterin in einem prekären und schlecht bezahlten Arbeitssektor beschäftigt (Triandafyllidou 2013). Zudem verschlechtert sich im Falle von migrierten Hausarbeiterinnen die Position auf dem Arbeitsmarkt durch diskriminierende migrationspolitische Differenzierungsmaßnahmen, die den Zugang zum formellen und arbeitsrechtlich abgesicherten Arbeitsmarkt beschränken und erschweren. In diesem Gefüge sozialer Ungleichheit begegnen sich die migrierte Hausarbeiterin und ihre Arbeitgeberin in der unmittelbaren Intimität des Privathaushalts. Während für die Arbeitgeberin der Privathaushalt eine Intimsphäre darstellt, ist er für die Hausarbeiterin primär ein Arbeitsplatz, der über die gesellschaftliche und kulturelle Entwertung der Hausarbeit konturiert ist. Das ungleiche Verhältnis zwischen Hausarbeiterinnen und Arbeitgeberinnen hat breite Beachtung in Studien zu bezahlter und unbezahlter Hausarbeit gefunden (vgl. z.B. Hondagneu-Sotelo 2001; Lan 2006). Des Weiteren sind Untersuchungen zum Verhältnis von Rassismus und Geschlecht am Beispiel der bezahlten Hausarbeit in den Vereinigten Staaten (Rollins 1985; Romero 1992; Morgan 2004) und Großbritannien (Anderson 2000; Phizacklea / Wolkowitz 1995) entstanden. Zudem ist die Wechselbeziehung zwischen Migrations- und Wohlfahrtsregime am Beispiel der staatlichen Organisierung der Pflege- und Hausarbeit untersucht worden (vgl. Lutz 2008; Williams / Gavanas 2008). Auch die emotionale Dimension der Pflege- und Hausarbeit hat hohe Aufmerksamkeit erfahren (Hochschild 1983, 2003; Huang / Yeoh 2007). Diese zuletzt genannten Untersuchungen setzen den Fokus primär auf die Analyse des Geschlechterverhältnisses und behandeln in einigen Fällen aus einer migrationstheoretischen Perspektive Prozesse der ethnischen Diskriminierung.

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Ein explizit rassismuskritischer Zugang ist in dieser Forschungsliteratur jedoch kaum zu finden. Studien insbesondere zur emotionalen Arbeit haben zwar die Verbindung zwischen Emotionen und Weiblichkeit thematisiert (Hochschild 1983), aber über die Beziehung zwischen Rassismus und Emotionen weitestgehend geschwiegen. An diese Debatten möchte ich im Folgenden anknüpfen, indem ich den Zusammenhang zwischen Feminisierung und Rassismus mit Fokus auf den Affekt im Rahmen der Hausarbeit im Privathaushalt analysiere.

AFFEKT

UND

H AUSARBEIT

In dem Moment, in dem eine Migrantin mit oder ohne legalen Aufenthaltsstatus als Hausarbeiterin im Privathaushalt eingestellt wird, tritt die hierarchisch differenzierende Logik der Migrationspolitik in den Alltag dieser Haushalte ein. Wir können sagen, dass aufgrund der Nachfrage nach Hausarbeiterinnen, Reinigungskräften oder Pflegerinnen Angehörige von Mittelschichtshaushalten einer sozialen Gruppe Eintritt in ihre Privatsphäre gewähren, mit der sie gewöhnlich keine persönliche Beziehung pflegen. Beide Gruppen leben üblicherweise räumlich voneinander entfernt. Ihre Kinder besuchen in der Regel nicht die gleichen Schulen, und ihre Freundeskreise überschneiden sich nicht. Der Alltag der beteiligten Frauen ist durch die staatliche Trennlinie zwischen Staatsbürgerin und Migrantin vorstrukturiert und wird durch das Beschäftigungsverhältnis verkompliziert. Die Anwesenheit der Hausarbeiterin im Privathaushalt ihrer Arbeitgeberin bezeichnet eine paradoxe Situation. Ihre Position im Haushalt ist durch eine Gleichzeitigkeit von Distanz und Nähe bestimmt, denn das Beschäftigungsverhältnis, das sie eingeht, situiert sie in der Unmittelbarkeit der Intimsphäre der Haushaltsbewohner_innen: Sie nimmt auf ungewollte Weise an den alltäglichen emotionalen Befindlichkeiten der Arbeitgeber_innen teil; sie arrangiert und räumt die Spuren des Lebensalltags auf; sie ist mit Situationen konfrontiert, in denen die Hausbewohner_innen sich verletzlich zeigen. Sie nimmt an den alltäglichen Sorgen, der Freude oder der Trauer der Haushaltsbewohner_innen – unfreiwillig – teil. Die Gefühle und Emotionen der Haushaltsmitglieder zirkulieren in den Räumen, fließen in den Umgang mit Gegenständen ein und treffen auf andere Personen (vgl. Ahmed 2004). Als solches bilden Affekte ein konstitutives Moment des Sozialen und konfigurieren alltägliche soziale Interaktionen. Wenn eine Hausarbeiterin einen Haushalt betritt, wird sie sofort Teil eines Netzwerks energetischer Kreisläufe und affektiver Beziehungen. Ihre berufliche Präsenz mag sowohl vom sozialen und persönlichen Leid als auch von individuellen Sehnsüchten, Hoffnungen und Freuden getragen sein. In dem Moment jedoch, in dem sie den Raum des privaten Haushalts betritt, begegnet sie den affektiven Spuren von

»Doppelte Bestimmung« im Privathaushalt | 189

dessen Bewohner_innen. Diese Emotionen bleiben bei ihrer Arbeit nicht außen vor, sondern bedingen sie. Es ist diese Dimension der affektiven Arbeit, die uns hier interessiert, und die nicht verwechselt werden sollte mit dem eher kognitiven Ansatz emotionaler Arbeit in privaten Haushalten. Während die feministische Theorie den emotionalen Charakter der Haushaltsarbeit in Bezug auf seine fürsorglichen Dimensionen hervorgehoben hat, werden die affektiven Äußerungen, die weniger mit altruistischer Zuwendung und Aufmerksamkeit zu tun haben, vernachlässigt. Dabei handelt es sich um affektive körperliche und sensorische Reaktionen auf physische, psychische und emotionale Zustände (vgl. Brenna 2004), die positiv oder negativ empfunden werden. Wohlbefinden, Behaglichkeit und Wärme auf der einen Seite, Besorgnis, Angst und Abscheu auf der anderen sind Gefühle, die in unseren Arbeitsräumen und Arbeitsbeziehungen zirkulieren und die Art und Weise formen, wie wir arbeiten. Affekte sind jedoch keine frei schwebenden emotionalen Energien. Sie werden in einem gesellschaftlichen Kontext geäußert, adressiert und erfahren. Der Ausdruck und die Übertragung von Affekten ereignet sich in einem Raum, der von historisch produzierten, gesellschaftlich konfigurierten Machtverhältnissen gekennzeichnet ist. Im Kontext der bezahlten und unbezahlten Hausarbeit im Privathaushalt überliefern die Gefühle und Emotionen, die in diesem Feld aufkommen, also auch immer wieder den kulturellen Gehalt dessen, wie diese Arbeit gesellschaftlich markiert und gewertet wird. Die negativen Affekte, die der Hausarbeit anhaften, entsprechen ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Wahrnehmung als simple, banale und monotone Tätigkeit. Diese Wahrnehmung ist historisch über Prozesse der Feminisierung von Arbeit (Federici 2004; Mies 1999; Beneria 1979, 2004) und der Kolonialität der Macht (Quijano 2000, 2008) entstanden.

D IE F EMINISIERUNG VON ARBEIT Was als erstes bei den Interviews mit den Hausarbeiterinnen und ihren Arbeitgeberinnen gleichermaßen auffällt, ist der Energieaufwand, der mit einer als erschöpfend empfundenen Arbeit verbunden ist. Die Frauen sprechen über die ermüdenden, monotonen, sich wiederholenden, apathischen und leblosen Gefühle, die mit der Verrichtung von Tätigkeiten wie dem Putzen, Bettenmachen, Fußbodenkehren, Wäschewaschen oder Spülen, der Essenszubereitung, dem Kämmen oder Ankleiden der Kinder und vielen anderen Aufgaben einhergehen, die erledigt werden müssen, die jedoch niemand gerne verrichtet und die niemand bemerkt, sobald sie verrichtet worden sind. Wie ich hier darlegen werde, werden diese Aufgaben nicht mit negativen Affekten verbunden, weil sie per se als langweilig betrachtet werden. Die ihnen zugeschriebene Langeweile hängt eher mit der geringschätzenden kulturellen Wahrnehmung dieser Tätigkeiten zusammen, die sich ihrerseits wiederum in der fehlen-

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den sozialen, beruflichen oder finanziellen gesellschaftlichen Anerkennung äußert. Die Gefühle und Emotionen, die in der Hausarbeit thematisiert werden und die an die Subjekte weiter gegeben werden, die diese Arbeit verrichten, hängen mit dieser kulturellen Wahrnehmung der Hausarbeit zusammen. Denn Affekte ereignen sich nicht nur in einem spezifischen gesellschaftlichen Kontext (vgl. Massumi 2002), sondern gestalten diesen auch. Dieser gesellschaftlicher Rahmen ist insbesondere von der Feminisierung von Arbeit geprägt, die sich paradigmatisch in der kulturellen Geringschätzung von Hausarbeit und ihrer gesellschaftlichen Entwertung sowie damit einhergehend in schlechten Bedingungen und Konditionen artikuliert (Phizacklea / Wolkowitz 1995). In der Folge arbeitet ein großer Teil der Erwerbstätigen unter ›feminisierten‹ (d.h. schlechten und unsicheren) Arbeitsbedingungen, wobei dies teilweise mit ihrer Deregulierung auf nationaler Ebene zusammenhängt (ebd.: 3). Hausarbeit markiert also paradigmatisch ein Terrain der Unterwerfung und Abwertung, das mit ›Weiblichkeit‹ assoziiert wird. Die Subjekte, die diese Arbeit verrichten, erfahren dementsprechend eine Entwertung ihrer Fähigkeiten und Tätigkeiten. Doch ist auch hier zu differenzieren, wie sich am Beispiel maskuliner Subjekte, die sich zeitweise dieser Tätigkeit widmen, zeigen lässt. Während bei Subjekten mit subalternen rassifizierten Maskulinitäten damit in der Regel eine Feminisierung ihrer gesellschaftlichen Positionierung einhergeht (Manalansan 2006), kann die Erledigung bestimmter Haushaltstätigkeiten bei Subjekten einer hegemonialen Männlichkeit, z.B. die Kinderbetreuung, eine moralische Aufwertung erfahren, die eventuell zu einer ReEtablierung hegemonialer Männlichkeit beiträgt. Nichtsdestotrotz hat die sporadische und marginale Beteiligung von Männern an der Hausarbeit deren gesellschaftliche Zuweisung an und Übernahme durch Frauen nicht abgelöst. Denn obwohl sich die Arbeitgeberin der Hausarbeit zeitweise entledigt, indem sie eine andere Frau einstellt, liegt diese Arbeit weiterhin in ihrem Zuständigkeitsbereich. In den meisten Fällen sind es die weiblichen Mitglieder des Privathaushalts, die für die Einstellung, Beaufsichtigung und Betreuung der Hausarbeiterin verantwortlich sind. In der Literatur wird in diesem Zusammenhang von einem »Managen auf Distanz« gesprochen, um die Tätigkeit der Arbeitgeberin zu bezeichnen (vgl. Folbre 1994). Beide Frauen, Arbeitgeberin und Hausarbeiterin, bleiben also die primären Ansprechpersonen für die Organisierung und Verrichtung der Hausarbeit. Beide Frauen, Arbeitgeberin und Hausarbeiterin, sind daher der Logik der Feminisierung unterworfen und erfahren hierüber eine geschlechtsspezifische Diskriminierung (Molyneux 1979; Dalla Costa / James 1972). Durch die Verlagerung der Hausarbeit auf eine andere Frau verkehrt sich jedoch für die Arbeitgeberin die Situation der Diskriminierung in eine der Dominanz. Denn obwohl durch die Anstellung der Hausarbeiterin die Hausarbeit im Privathaushalt zwischen den Geschlechtern nicht gleichberechtigt verteilt ist, ermöglicht die ungleiche strukturelle Verteilung ökonomischer Ressourcen und politischer Rechte

»Doppelte Bestimmung« im Privathaushalt | 191

unter Frauen eine ungleiche Verteilung der Reproduktionsarbeit unter ihnen. Die Delegierung der schlechter bezahlten und gesellschaftlich entwerteten Hausarbeit an eine Migrantin wird daher auf der Grundlage von Machtverhältnissen befördert, deren Ursprung in der kolonialen rassistischen Arbeitsteilung liegt. Dieses koloniale Vermächtnis ragt in Konfigurierungen gegenwärtiger Machtbeziehungen hinein, die der peruanische Soziologe Anibal Quijano als »Kolonialität der Macht« konzeptualisiert hat (vgl. Quijano 2000, 2008).

D IE K OLONIALITÄT

DER

M ACHT

Mit dem Konzept der »Kolonialität der Macht« beschreibt Quijano Technologien der Macht, die im Rahmen des portugiesischen und spanischen Kolonialismus in den Américas im 16. Jahrhundert etabliert wurden. Grundvoraussetzung dafür, dass sich dieses Machtsystem etablieren konnte, war die Einführung eines sozialen Klassifikationssystems auf der Basis einer Hierarchisierung der Gesellschaft in rassifizierte Bevölkerungsgruppen, die es ermöglichte, Menschenrechte zu verteilen bzw. vorzuenthalten. Auf die unterste Stufe der Bevölkerungspyramide wurden versklavte Schwarze und indigene Bevölkerungen verwiesen, deren rassistische Markierung mit einer dehumanisierenden Verdinglichung ihrer Arbeitskraft korrelierte (vgl. Dussel 1995). Dieses Modell der kolonialen Expansion Europas wurde ab dem 17. Jahrhundert von anderen Kolonialmächten wie Holland, England, Frankreich, Belgien, Italien und Deutschland im Sinne der Etablierung und Expansion der kapitalistischen Produktionsweise weiterentwickelt. Es untermauerte eine »neue globale Struktur der Kontrolle von Arbeit« (Quijano 2008: 184) mit spezifisch geformten Produktionsverhältnissen und -weisen, die in der globalisierten geschlechtsspezifischen und rassistischen Arbeitsteilung bis heute verankert sind. Wird eine Migrantin als Hausarbeiterin im Privathaushalt angestellt, dann stellt sich unter neuen Vorzeichen eine hierarchische Arbeitsteilung her, die es im konzeptuellen Rahmen der Kolonialität der Macht zu untersuchen gilt. Auch wenn in aktuellen nationalen Migrationspolitiken innerhalb der EU ein koloniales Klassifikationssystem nicht deutlich erkennbar ist, hallt in der Unterscheidung zwischen ›Bürger_in‹ und ›Ausländer_in‹ (Migrant_in und Geflüchtete_r) die Logik der Kolonialität wider. Dies zeigt sich z.B. in den Zugangs- und Niederlassungsanforderungen, denen Migrant_innen und Geflüchtete genügen müssen, um sich im EU-Raum niederzulassen. Insbesondere Migrant_innen aus Nicht-

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EU-Staaten müssen Anforderungen erfüllen, die sich ständig verändern, restriktiver werden und ihnen auf nationaler Ebene aufgezwungen werden.3 Die meisten lateinamerikanischen Interviewpartnerinnen, die an meinem Forschungsvorhaben (Gutiérrez Rodríguez 2010) teilnahmen, kamen mit einem Touristenvisum nach Deutschland. Einige von ihnen planten zu promovieren, stießen aber aufgrund der Nichtanerkennung ihrer lateinamerikanischen Universitätsabschlüsse auf Hindernisse. Das bedeutete, dass die in den Visabestimmungen festgelegte Frist von drei Monaten nicht ausreichte, um die notwendigen verwaltungstechnischen Fragen anzugehen. Der Ablauf ihres Touristenvisums stellte die Interviewpartnerinnen vor die Entscheidung, entweder in ihre Herkunftsländer zurückzukehren, ihre Reise in ein anderes Land fortzusetzen oder in der Bundesrepublik zu bleiben. Ihr Entschluss, in der Bundesrepublik zu bleiben, brachte sie in eine regelwidrige rechtliche Situation. Eine Beschäftigung als Hausarbeiterin in einem privaten Haushalt stellte eine der wenigen Möglichkeiten dar, für ihren Lebensunterhalt aufzukommen, da diese von offiziellen Beschäftigungsregulierungen ausgenommen ist. Damit öffnet der Privathaushalt für Migrantinnen ohne legalen Aufenthaltsstatus einen der wenigen Zugänge zum Arbeitsmarkt. Zugleich aber ist, wie zahlreiche Studien gezeigt haben (vgl. ILO 2012), der Arbeitsplatz Privathaushalt ein mehrfach prekärer Beschäftigungsort. Hinsichtlich der Arbeitsbedingungen ist die Beschäftigung von Hausarbeiterinnen durch mündliche Verträge, ungeregelte Arbeitszeiten sowie unsichere Konditionen charakterisiert. Außerdem stehen die Beschäftigten als Migrantinnen ohne legalen Aufenthaltsstatus außerhalb eines arbeitsrechtlichen und sozialpolitischen Schutzrahmens (Maroukis / Iglicka / Gmaj 2011; Düvell 2005; Triandafyllidou 2013). Das Arbeitsverhältnis zwischen Arbeitgeberin und Hausarbeiterin im Privathaushalt spiegelt damit auf der Ebene alltäglicher, lokalisierter Beziehungen die Makrostruktur eines globalen Systems sozialer Ungleichheitslagen wider. In diesem gesellschaftlichen Kontext drücken Affekte immer auch die soziale Befindlichkeit aus, von der sie umgeben sind.

AFFEKT

UND

R ASSISMUS

Im Kontext der Hausarbeit werden Gefühle geäußert, die mit spezifischen Haushaltsverrichtungen einhergehen. Alle Haushaltsarbeiterinnen berichteten über ihre Gefühle, während sie Fußböden reinigen, Flüssigkeiten, Haare und allgemeinen 3

Dazu gehören z.B. Veränderungen der Familienzusammenführungsgesetze (Kraler 2010; Kofman et al. 2012) sowie Visapolitiken, vor allem für Studierende, die den Zugang und die Niederlassung in der EU zunehmend erschweren.

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Schmutz entfernen. Diese Aufgaben sind untrennbar mit unseren Grundbedürfnissen verbunden und stellen eine ständige Erinnerung an unsere ephemere menschliche Existenz dar. Wenn die Hausarbeiterin mit den körperlichen und affektiven Spuren des Lebens umgeht, stürzen die Barrieren und Grenzen sozialer Unterschiede ein, was zu einer Destabilisierung der Machtbeziehung zwischen Hausarbeiterin und Arbeitgeberin führt. Es treten nicht nur affektive Bindungen zwischen der Hausarbeiterin und den Mitgliedern des Haushalts ein. Vielmehr wird die Hausarbeiterin zur Beobachterin, aber auch zur Adressatin von Emotionen, Gefühlen und Energien, die im Haushalt und dessen Räumen zirkulieren. Wie mehrere Hausarbeiterinnen mir im Interview mitteilten, bedeutete die Reinigung der Toilette, das ›Innenleben‹ ihrer Arbeitgeber_innen kennen zu lernen. Carmen etwa ist Mitte 20. Sie kam 2003 aus Chile nach Deutschland, um zu studieren. Nach Ablauf ihres Touristinnenvisums bemühte sie sich vergeblich um ein Studienvisum. Nun lebt und arbeitet sie ohne Aufenthaltsstatus im Hamburg. Sie erzählte mir, dass sie ihre Arbeitgeber_innen an den Toiletten erkennt: »Man kann sagen, dass die Toiletten das Schlimmste für mich sind! Also, du, du siehst Leute, die wirklich wie aus dem Ei gepellt sind, aber das kannst du vergessen. Wirklich! Daher trage ich überall Handschuhe. Du weißt – Gummihandschuhe?! [...] Weil ich nicht weiß?! Es kann sein, dass es Menschen sind, die super sauber sein mögen, aber zur Außenwelt! Aber du, du erkennst die Leute an der Küche und an den Toiletten! Also, wirklich! Bürsten sind überall verfügbar! Gott sei Dank, dass wir jetzt nur Tee trinken! [Carmen lächelt] Bürsten, diese Klobürsten sind überall verfügbar! Was kann man wenigstens machen? Was man machen kann, ist, es ein wenig sauberer zu machen. Aber es ist überall hingespritzt! Gepieseltes überall!« (Carmen, Hausarbeiterin, Hamburg)

Wie Rosi Cox (2006) im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Dreck – Reinigen – Status feststellt, steht die Art und Weise, wie eine Hausarbeiterin gesellschaftlich wahrgenommen und behandelt wird, in Zusammenhang mit dem kulturellen Verständnis dieser Gesellschaft von ›Dreck‹. Menschen, die mit Abwässern zu tun haben oder mit Putzen beschäftigt sind, werden schlecht bezahlt und meist gefährlichen und unsicheren Arbeitsbedingungen ausgesetzt; ›Drecksarbeit‹ zu verrichten markiert die unterste Stufe der sozialen Leiter. Cox merkt an, dass der »Status des_der Arbeiter_in untrennbar verknüpft ist mit dem Status der Arbeit selbst und es unmöglich ist, das jeweilige Ansehen grundlegend zu verbessern, ohne fest verankerte Gefühle über ›Dreck‹ in Frage zu stellen« (ebd.: 7 – Übersetzung E.G.R.). Die Toilette schmutzig zu hinterlassen bzw. sie in diesem Zustand vorzufinden, vermittelt – wie die Aussage von Carmen zeigt – eine deutliche Botschaft: Die Hausarbeiterin deutet sie als Verwahrlosung und Gleichgültigkeit; als Verachtung ihrer Arbeit und ihrer Person. Für William Miller vermittelt Verachtung die Emp-

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findung, nicht ›beachtenswert‹ zu sein (Miller 1998: 215). Möglicherweise hinterlassen die Nutzer_innen die Toilette nicht absichtlich in einem derartigen Zustand, dennoch vermittelt sich der Hausarbeiterin das Gefühl, verachtet zu werden. Der Zustand, in dem die Toilette von den Mitgliedern des Haushalts hinterlassen wird, zeugt von deren Achtlosigkeit in Bezug auf die Person, die diesen Raum reinigt. Eine solche individuelle Haltung deckt symptomatisch die Unsichtbarkeit auf, die der Hausarbeit und der Person, die diese Arbeit verrichtet, gesellschaftlich beigemessen wird. Die Hausarbeiterin muss sich dieser Situation, die sich negativ auf sie auswirkt, abstoßend ist und Ekel verursacht, stellen. Ekel ist ein starkes Gefühl, eine – wie Sianne Ngai nahelegt – »strukturierte und agonistische Emotion, die ein starkes und unmissverständliches Zeichen transportiert« (Ngai 2007: 335). Für Ngai ist Ekel nicht ambivalent gegenüber seinen Objekten. Im Kontext von Hausarbeit drückt das Gefühl des Ekels vielmehr eine von sozialen Bedeutungen gekennzeichnete Empfindung aus, denn die soziale Bedeutung von Hausarbeit ist bestimmt durch das historische Erbe des Kolonialismus und eine heteronormative Gesellschaftsordnung. Die Affekte, die in diesem Kontext ausgedrückt werden, entfalten sich in ihm und durch ihn. Carmens Beschreibung der Gefühlswelt, die ihr der Toilettenraum vermittelt, erinnert uns deshalb an das, was Ngai (2007) als »Rassifizierung von Affekten« beschreibt.

R ASSIFIZIERTE AFFEKTE Affekte sind gebunden an Geschichten der Unterdrückung. In affektiven Begegnungen werden Erinnerungen an Gefühle der Unterwerfung und des Ausschlusses wach. So können z.B. Glück und Abscheu – im Hinblick auf den sozialen Status ihrer Adressat_innen – unterschiedlich übermittelt und empfangen werden. Wie Sianne Ngai bemerkt, sind diese Gefühle Wünsche, die verschiedene körperliche und emotionale Reaktionen auf ein Objekt richten und deshalb in einer gewissen Asymmetrie zueinander stehen. Während ›Glück‹ einen anregenden Effekt hat, ist ›Abscheu‹ nach Ngai das »Hässlichste der ›hässlichen Gefühle‹« (ebd.: 32) und hinterlässt einen nicht reanimierenden, sondern eher des-animierenden (bedrückenden und entmutigenden) Effekt bei seinen Adressat_innen. Obwohl Ngai diesen Ansatz auf der Basis einer Analyse der kulturellen Repräsentation rassifizierter Körper entwickelt, scheinen die Affekte, die auf Carmen übertragen werden, in einer ähnlichen Dynamik zu stehen. Wie Ngai in Hinblick auf rassifizierte Affekte anmerkt, »wendet der Kontext der Rassifizierung den neutral und sogar potentiell positiven Affekt des Lebendigen ›hässlich‹, indem er auf die offensichtlich problematischeren Gefühle hinweist« (ebd.: 32). Das Gefühl des Abscheus wird mit einigen Haushaltstätigkeiten assoziiert und verweist auf die

»Doppelte Bestimmung« im Privathaushalt | 195

historische, kulturelle Entwertung der Hausarbeit als feminisierte Arbeit. Es zeigt sich jedoch ebenfalls, dass – z.B. für Carmen – die negativen Affekte auch in Beziehung zur differentiell hierarchisierenden Logik von Migrationspolitiken stehen. Vor einem solchen Hintergrund werden die im Raum zirkulierenden und in Begegnungen ausgedrückten Affekte ›hässlich‹, weil sie ein rassifizierendes Skript reaktivieren und dieses auf die Hausarbeiterin projizieren. ›Minderwertigkeit‹ wird so affektiv übertragen. Negative Affekte produzieren Immobilität. Sie wirken – wie Teresa Brennan (2004) betont – des-animierend und rauben unsere positive Lebensenergie. Daher laden zirkulierende Affekte in einem Kontext der Rassifizierung nicht immer dazu ein zu handeln, sondern können auch paralysieren. Das Gefühl, unsichtbar gemacht und ignoriert zu werden, durchdringt die Hausarbeiterin mit dem Gefühl gesellschaftlicher Insignifikanz. Dies steht im Kontrast zu den stimulierenden Energien, welche die Hausarbeiterin dem Privathaushalt der Arbeitgeberinnen zufließen lässt. Wenn auch nicht ausdrücklich in irgendeiner Stellenbeschreibung ausbuchstabiert, trägt die Hausarbeiterin mit ihrer Arbeit zum Wohlbefinden der Haushaltsmitglieder und zur Herstellung eines angenehmen Lebensraums bei. Hausarbeit hat somit eine ›belebende‹ Wirkung, obwohl diese von den Nutzer_innen der Dienstleistung und von der Gesellschaft gewöhnlich nicht als solche wahrgenommen wird. Die Betrachtung der affektiven Dimension in der Hausarbeit veranschaulicht daher die widersprüchliche gesellschaftliche Funktion von Affekten sowohl als Lebensantrieb als auch als Quelle der Ausbeutung im fortgeschrittenen Kapitalismus. So weist die Betrachtung der Hausarbeit als affektive Arbeit nicht nur auf die emotionale Qualität in der Reproduktionsarbeit, sondern insbesondere auf die allgemeine affektive Dimension des Sozialen hin.

K ONKLUSION : D IE

AFFEKTIVE

D IMENSION

DES

S OZIALEN

Affekte entwickeln sich innerhalb eines Spannungsfeldes sozialer Dynamiken und gesellschaftlicher Verhältnisse. Sie legen nicht nur diesen Zusammenhang offen, sondern gehen aus einem konkreten historischen und geopolitischen Kontext hervor. Sie entspringen den Dynamiken unserer Energien, Impulse, Empfindungen und Begegnungen und transportieren zugleich die Überbleibsel sozialer Bedeutungen vergangener Zeiten. Die Übertragung oder Projizierung von Gefühlen auf eine Person können bei dieser durchaus unterdrückte Empfindungen, Erfahrungen von Schmerz oder Freude erzeugen oder wieder aufleben lassen. Gefühle berühren uns und werden von anderen Gefühlen berührt. In der Begegnung zwischen Hausarbeiterinnen und ihren Arbeitgeberinnen geschieht mehr als nur eine (Um-)Verteilung von Reproduktionsaufgaben. Was diese

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Begegnungen tatsächlich formt, ist die Übertragung von positiven und negativen Affekten, die sich in der Vermittlung von Zuneigung oder Abneigung verselbständigen. Wie Teresa Brennan beobachtet, regen uns positive Affekte an, während negative Affekte uns lähmen (vgl. Brennan 2004). Somit können positive Affekte unterstützend wirken, »wenn sie nach außen projiziert werden, wenn man von ihnen entlastet wird« (ebd.: 6). Im Fall von Freude und Liebe z.B. werden wir angespornt. Negative Affekte dagegen können belastend wirken, insbesondere dann, »wenn man die affektive Last eines Anderen trägt, sei es durch eine direkte Übertragung oder weil die Wut des Anderen zu deiner Depression wird« (ebd.). Die Übertragung von positiven oder negativen Affekten in der Hausarbeit vollzieht sich im Kontext von konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen. Freude oder Ekel sind daher nicht frei schwebende Gefühle oder Empfindungen. Ihr Ausdruck ist eingewoben in eine kulturelle Matrix sozialer Bedeutungen, die bestimmte Gefühle in Korrelation mit gesellschaftlichen Momenten setzt. Dass Gefühle des Ekels oder der Geringschätzung mit der Hausarbeit assoziiert werden, ist auf historisch gewachsene kulturelle Verständnisrahmen zurückzuführen, die diese Arbeit als schmutzig, banal und minderwertig definieren. Eine solche Wahrnehmung der Hausarbeit gründet in gesellschaftlichen Prozessen der Entwertung, die ihre historische Entsprechung in der Feminisierung der Hausarbeit und der Kolonialität der Macht haben. In diesem relationalen gesellschaftlichen Zusammenhang wird ›Dominanzkultur‹ affektiv erfahren.

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The Caring Question The Emotional and the Political* Nira Yuval-Davis

[...] I would like to examine the sociology of emotions and how it intersects with the sociology of power, by especially focusing on the emotions of caring and love which underlie what can be seen as the feminist political project of belonging. The point of departure is not whether one belongs or not but rather how. There have been feminist interventions as part of and in resistance to virtually all forms of political projects of belonging. The ethics of care, however, developed as an attempt to demonstrate – as well as to transcend – gendered constructions of belonging, a morality which encompasses, rather than filters out, caring emotions as guiding interpersonal, familial and community relations. [...]

C ARE

AND CARE WORK

Hochschild (2003), Ehrenreich / Hochschild (2003) and others, as well as Tronto (2005), have pointed out the emergence of what they call the »care gap« and the resulting »global chains of care«. The »care gap« has developed as an unintended result of the needs of the economy, technological developments, as well as what can be considered as the limited success of second wave feminism, which allowed women fuller and more equal access to the workplace. This removed women, at least partially, from their role as primary carers of nuclear families and created a »care gap« on both micro and macro levels in society. At the same time, the nature *

Der vorliegende Beitrag ist ein Auszug des sechsten Kapitels aus »The Politics of Belonging. Intersectional Contestations« (2011). Kürzungen und leichte Veränderungen erfolgten mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Größere Auslassungen sind kenntlich gelassen (Anmerkung der Herausgeberinnen).

200 | Nira Yuval-Davis

of work itself changed and as Harvey (1990) pointed out, globalized, ›restless capitalism‹ under conditions of space/time compression, has created demands of more physical availability of service-oriented workers (the infamous 24/7). The establishment of the practice of flexitime, especially for women workers, did not mean the reduction of work but rather more work from different spatial bases. This created »a huge gap in the care work that they used to do (especially for women but also for men)« (Tronto 2005: 130). The care work crisis has created a commodification of care work of a ›pink collar ghetto‹ with less attractive work conditions. There were not enough local women attracted to these jobs, hence »the care drain« of care workers, skilled and unskilled, from the South (as well as from less developed parts of the South to more developed ones) into »global chains of care« (Anderson 2000; Lutz 2008; Ahmed 2009). Thus, although care work seems to be relating to intimate relationships between carers and those cared for, its overall impact has been to break down local boundaries of belonging. The microchip, communication and transportation revolutions have meant that much of the productive work with unattractive work conditions in the West could be exported to other parts of the world. This is one of the reasons that the previous relative success of labour movements in curtailing the power of capitalists via resistance and organizing which resulted in the establishment of welfare states in which citizens became entitled to social as well as political and civil rights, could become subverted, and the power of multinational corporations could not be upheld by specific nation-states. However, not all labour demands can be exported. No virtual presence can replace cleaners, nannies, carers for the elderly and disabled people – at homes and in institutions – as well as the more skilled labour of nurses, doctors, teachers. Care work does not only have specific spatial constraints, it usually also demands a specific regime of emotion which is very different to that of other sectors in the labour market (Soundings 2002). To carry out care work, the workers have to care – or, at least, to perform their work as if they care. Often caring – as in the case of migrant nannies who have left their own children to the care of relatives or care workers from an even less privileged part of their countries or the globe – is the only thing that makes their work bearable (Hochschild 2003). However, even if this is not the case, and the women have migrated as a way of escaping bondages of traditional gender relations (Sorensen 2005), it is the emotional regime of these jobs which is crucial and which raises the question of the assumed links not only between feeling and acting as ›caring‹ but also of caring and belonging. Judith Butler talks about the performativity of identities and social action, which are based on a discourse which is not just a given, but has a history – it »accumulates the force of authority through the repetition or citation of a prior, authoritative set of practices« (Butler 1990: 227). [...] It is this combination of action and feeling which is assumed by the hegemonic discourse of the regime of emotion in care

The Caring Question | 201

work. However, such an automatic association, if not conflation, cannot be assumed. Butler herself talks about subversive performances which reject such a conflation and – as Terry Lovell points out (2003) – this can be seen as the space where subjects gain agency and can affect social change. Whether or not the ontological construction of the subject in Butler’s own theorization is consistent with such a view of social agency and initiation of change, it is clear that in care work there are many instances where the emotional regime of labour is not being followed. The development of technologies of surveillance on the work of nannies and other care workers1 is just one symptom of the realization of the extent of the spread of the problem and attempts to repress it. [...]

C ARE

OF THE CARERS

It is important to note that feminists writing on the subject often do so in order to attract attention to the power relations involved in caring. The association of care work with traditional gendered divisions of labour, highlights the fact that women as carers are often not paid for their labour, prevented from finding other channels of paid and fulfilling work which makes them dependent on men (and in many societies also on older women). Even when they are paid, often their work brings with it relatively low payment, especially in relation to local, rather than international scales of payments and they are under-protected in terms of their conditions of labour. [...] [C]hanging the legal state of these migrants might be a necessary but definitely not sufficient condition to resolve their situation. There is an automatic assumption that the boundaries of the civil society overlap the boundaries of the nation which lives in the ›homeland‹ territory, controlled by the nation-state. This mythical relationship has never been completely true. There were always members of the civil society who were not members of the dominant national collectivity, they were members of ›the nation‹ who lived outside the state, and often there were disputes and contestations where the ›real‹ borders pass between one homeland and another. And this relates to the minority of national and ethnic collectivities in the world that were not ruled by other states and empires and in times before the contemporary »age of migration«, to use Castles’ and Miller’s terminology (2003). Tronto (1993) suggests citizenship of the country where the migrant care workers work as a solution to the situation of migrant domestic workers. And indeed, citizenship might give these women some legal rights and minimum wage (in countries where this exists) that otherwise they would not have. Formal citizenship can bestow not only civil, political and social rights but spatial security rights. These are 1

http://www.hiddenpinholecameras.com/ (accessed February 13, 2015).

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the right to enter the territory of a state and once entered, the right to stay there as long as one wants, to move in it freely and the ability to choose – at least formally – in what and for whom to work; spatial security rights, most basically, provide the right to plan a future and not to be afraid every day of the knock on the door and the order of deportation. Often migrant workers, especially domestic care workers, depend on their employers for the right to stay legally in the country – an enslavement that has caused a lot of abuse and suffering (Gupta 2007). However, Tronto’s suggestion does not deal with some of the basic issues involved in the fact that social and cultural citizenship and belonging of most people on the globe today is not a zero-sum game but is actually gradual (Hage 2002) and multi-layered, including local, ethnic, national, religious, regional, cross- and supranational collectivities – and this is true of people of hegemonic majorities and not just those of racialized minorities and migrant populations. These multi-layered citizenships and belongings affect and construct each other and dictate access to a variety of social, economic and political resources. This multiplexity has been recognized by Wendy Sarvasy and Patrizia Longo (2004) who embedded the citizenship status as suggested by Tronto in a more complex multi-layered citizenship structure in which such citizenship is a necessary facet of an anti-colonial world citizenship. Unfortunately, however, they anchored their suggestion in an uncritical use of the Kantian notion of ›hospitality‹. Hospitality, like the notion of tolerance (Wemyss 2009), assumes pre-given boundaries of belonging that guests, like tolerated minorities, cannot transgress. Beyond this, care and care work as euphemism of social and economic exploitation can become part of the discourse of formal citizenship. An illustrative example of this is the notion of »earned citizenship« which was included in the legislation proposals in the UK,2 in which becoming engaged, without getting paid, with care work, in ›voluntary‹ and ›charity‹ organizations, becomes a pre-condition (and given the economic situation of most migrant care workers, a highly exclusionary one) of ›earning‹ a formal British citizenship.

C ARE

AND POWER

If until now the discussion focused on the deficit of power which involves in the relations of care when carrying out care work both in the domestic sphere and in the labour market, it is important also to focus on the kinds of power that care work does give it bearers.

2

http://www.workpermit.com/news/2009-09-28/uk/uk-earned-citizenship-transitionalarrangements.htm (accessed February 13, 2015).

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Traditionally there have been many persecutions associated with fears of women healers, from ›witches‹ to nurses (Ehrenreich / English 1993), as there has been a recognition that the other side of giving life and healing injuries and diseases is the ability of causing deterioration and death. Much discussion of this can be found in anthropological literature (Tiffany 1980). However, much of the discussion of the power of carers can be found in critical discussions of the welfare state. Nancy Fraser and Linda Gordon (1994), for instance, discuss the constructed dependency of ›welfare mothers‹ and other recipients of welfare in welfare states. A whole range of ›caring professions‹ – the majority of their members are often women – gain entry to and control of people’s lives as a result of the latter having to comply with certain expectations of the former in order to gain the care offered. Even when there is no abuse of these powers, the result of the ›caring relationship‹ means transparency and surveillance of the life of the subject of care which in other types of human relationships are present only in intimate relationships. Beyond that, and as has been discussed much in the literature on international aid (Collier 1999), the asymmetrical relationships between the carers and those who receive care and aid, often create long-term dependency and involve normative, as well as power hierarchies which undervalue and undermine the attributes of those cared for, whether these are the elderly, disabled people or rural women in the South. Freedom from such dependency relationships has been the focus of much of the disability social movement’s focus of campaigning (Oliver 1990). Moreover, carers do not necessarily care for all their children/dependents in the same way or to the same extent and thus caring itself can become an exercise of manipulative power as well as a subject for an intersectional analysis. Virginia Held (1993) claims that the care social and political model, developed out of the mother-child relationships model, guarantees mutual equality and respect. In reality, however, although children can wield a lot of emotional power on their parents and others who love them, they do not have the same power as the carer adults and can easily be deprived and abused in many ways. Pointing out, as the feminists who developed the political project of ›the ethics of care‹ all do, that everyone at certain times of their lives become dependent on care, can be the normative basis for the development of ›ethics of care‹ as a necessary element of social and political solidarity, but cannot guarantee it. It is for this reason that Martha Nussbaum argues for an approach to compassion in public life that operates at »both the level of individual psychology and the level of institutional design« (Nussbaum 2001: 403). Although she recognizes that »some emotions are at least potential allies of, and indeed constituents in, rational deliberation« (ibid.: 454), she extends her analysis to include the recognition that public institutions play a role in shaping possible emotions, as well as the role individuals play in creating institutions according to their own values and imagination. Those, in their turn, influence the development of values in others.

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Nevertheless, in order to be able to influence, let alone construct, public institutions, emotions such as care and compassion are not sufficient, unless there is power to make them affective. It needs to be recognized, for instance, that while caring for others is the opposite of neo-liberal ethics which does not recognize notions such as ›public good‹ or ›public interest‹ and feminists have developed ›ethics of care‹ as an ideological and moral alternative to this, it can be argued that the adoption of ›ethics of care‹ by women, especially those who work in the care sector, facilitates and oils, rather than obstructs and resists, the smooth working of globalized neo liberalism which depends on local and global chains of care. As Martin Luther King, Jr. stated: »What is needed is a realization that power without love is reckless and abusive. And love without power is at its best power correcting everything that stands against love« (quoted in Gregory 2008: 195).

C ARE

AND POLITICAL PROJECTS OF BELONGING

»Power at its best«. Without power as a resource to, at least, resist if not affect positive change, the normative values of care and love of feminist ›ethics of care‹ can have very little social and political influence and can, at best, be perceived as utopian. However, situated gazes can delineate boundaries of recognition and care even within Utopias. What is most important to recognize, is that not every combination of power and care/love would be compatible with feminist ›ethics of care‹ political projects of belonging nor with that of Martin Luther King, Jr. While feminists focused on care and love associated with traditional gendered western femininity as it is constructed in women’s roles in family and society, it can be seen clearly that every political project of belonging generates it own intersected constructions of care and that the mere heteronormative constructions of ›femininity‹ and ›masculinity‹ as complementary opposites have detrimental effects on women’s powers and autonomy, let alone completely excludes the experiences and values of sexual minorities. There can be no clearer sign in hegemonic discourses that men care about their community and society than their traditional readiness to perform the ultimate citizenship duty – to sacrifice their lives and to kill others for the sake of the nation. Moreover, as Cynthia Enloe (1990) pointed out, fighting for the nation has been often constructed as fighting for the sake of ›womenandchildren‹. More concretely, it has been shown that men care not only for the notions of home and homeland, but for the other men in their unit with whom they are fighting (Kaplan 2006; YuvalDavis 1997). One of the main worries of military commanders about including women in combat military units has been that their presence will disturb the male bonding which is at the heart of military performance. On their side, women as

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carers are not only constructed as the biological and cultural reproducers of the nation, but are also the men’s ›helpmates‹ – their roles in the formal and informal labour market has been usually defined according to the range of duties demanded from the men, fulfilling, in addition to their traditional reproductive duties, all the tasks the men left when called to fulfil national duties in times of war and other crises (Yuval-Davis 1985). Caring, in its different gendered forms, therefore, has been at the heart of the performativity, as well as narratives of resistance, of national belonging. Nowadays, in many states, serving in the military is not any more a male citizenship duty. Just when women started to be allowed to join the military formally in more equitable manner, the military was transformed from a national duty into a form of a professional career, like other agents of national external and internal security. This is also a time in which usually in these states, women bear less children and the national population as a whole starts to age. This is also the time in which women come to participate in higher and higher percentages in the national labour market, just when, due to neo-liberal globalized economy demands, the nature of service work itself changes and becomes more demanding. This is the time when the »care gap« appears, not only in the domestic sphere, but in the national sphere as well and when the growing dependence on migrant and immigrant workers in various sectors of the economy but especially the care one, raises issues of racialized boundaries of the nation and the various inclusionary and exclusionary political projects of belonging – secular and religious – and the emotions associated with them. However, maybe even more importantly, this is the time in which in many countries, especially in the West, the percentage of citizens who care enough to vote in the elections falls beyond any previous known rate of the population, especially among younger generations who have grown up under the transformed state institutions as a result of globalized neo-liberalism. Neo-liberal morality of the ›selfish gene‹ seems to be celebrating, as people cannot see any relationships between engaging in the state and their own interests and concerns. A cynical illustration of this reality has been the demand – from all major political parties in the UK, for instance – to agree for savage cuts in state benefits and services and/or freezing workers’ salaries, when the profitability of banks and most of the incomes of the highest earners are largely not been affected or significantly interfered with. Of course, the distance – if not contradiction – between the care demanded from citizens, driven by feelings of entitlements (Squire 2007) of states and the interest of those who rule states can take also very different forms, such as when in ethnocracies, citizens who belong to non-hegemonic minorities are still demanded to show loyalty and care to the state which frames of reference are constructed in terms of excluding their collectivities.

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The probably obvious, and yet groundbreaking at its time, element in Benedict Anderson’s theory of nationalism in his book »Imagined Communities« (1983) has been a recognition that nationalism, although modern and correlative of the age of enlightenment, is not based on rationality. Anderson linked the rise of nationalism to a particular stage of the rise of industrialisation and capitalism (print capitalism in his case), and saw it as replacing religion. In this respect he was wrong, as we can see that most contemporary nationalist ideologies incorporate, rather than fully replace, religious belonging. However, he was right to emphasize the passion which is at the base of the nationalist sentiment in which, like religious or familial attachment, there is no actual rational reason and self-interest involved. As Anderson argues, this care is not based on any notion of self interest, and this is where it gets its strength from, as it is a substitute construction of ›the sacred‹. ›The sacred‹, constituting the heart of the religious sphere, then, inspires probably the strongest notions of loyalty and sacrifice. The notion of martyrdom is widely spread in various religions, especially the monotheistic ones. The notion of absolute sacrifice is not limited to sacrifice of self but also of those the self cares most about, as is illustrated in the stories when a father is prepared to sacrifice his son (Abraham and Isaac). One of the factors contributing to the growing strength of religious movements all over the world is that religious movements and organizations are often the only ones who put time, energy and funds in caring for the poor, the homeless, the slum neighbourhood, especially after the growing privatisation of the welfare state and the collapse of socialist and communist movements. What in the Jewish tradition is called »tzdaka« – charity, in which engaged members of the religious community commit at least ten percent of their monies as well as of their time to charity and welfare work – has proven to be a sustainable form of care work and caring which constructs and sustains community solidarity and cohesion. At the same time, it is important to recognize that there are growing secular global social movements concerned with war, poverty and global warming which transcend borders and boundaries, sharing common human values rather than ethnic, national and religious belonging in cosmopolitan practices and discourses of global and human care. In discussions of familial, national and religious sentiments, it is sometimes taken for granted that people would not be prepared to sacrifice their lives for any more abstract – or cosmopolitan – cause. And yet we know that strangers and outsiders volunteered to fight for various socialist revolutions. In recent years, the international solidarity movement in support of the Palestinians, for instance, has also been politically important as other similar organizations in other militarized conflict zones, such as Iraq and Afghanistan. Although some of the volunteers have religious motivation, for others it was the visceral cosmopolitan sentiment of caring and identification with oppressed strangers and the need to fight for their human rights to be recognized.

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Feminist ›ethics of care‹ morality does not ground its ontological base in membership in specific national, ethnic or religious communities but on transcending familial relationships into a universal principle of interpersonal relationships. We need to explore, however, what, if at all, is the relationship between the discourse of ›ethics of care‹ and collectivity boundaries. Such exploration should not be carried out only in relation to feminist ethics of care but also in relation to other similar moral philosophies which put ›love‹ at the basis of the good society.

»L OVING

A STRANGER «

The ›normal‹ logic of various political projects of belonging is that love and care should primarily, if not exclusively, be directed to other members of one’s own various real and imagined communities. This is true also in cosmopolitan – secular and religious – human rights political projects which justify ethics of care in sharing membership in humankind and in animal rights projects, by sharing membership in living species. When boundaries between ›us‹ and ›them‹ are being constructed, then care and love can be bestowed as part of a missionary strategy of persuading ›them‹ to become part of ›us‹ or as part of rational strategy of defending or maximising collective interests. However, there are different kinds of ›them‹. Elsewhere (Yuval-Davis 2010) I differentiated between different kinds of relationships between identity constructions of ›me‹ and ›not me‹, such as ›me‹ and ›us‹ which relates to different ways of constructing a community of belonging; ›me‹, ›us‹ and ›them‹, in which one’s fate is closely bound to her/his community of belonging vs. the ›them‹ in which the ›us‹ is in a zero-sum game conflict; ›me‹, ›us‹ and the many ›others‹ in which there is a whole range of distinctions and relations between people, from close identification and association, to total indifference, as well as rejection and conflict; and ›me‹ and the ›transversal us‹ in which a collective ›us‹ is constructed across borders and boundaries of identity and in which membership is bounded by solidarity that is based on common emancipatory values. While such a typology maps different relations with ›not me‹, Gerd Baumann (2004) discusses different grammars which construct relationships with the ›Other‹: orientalizing, segmentation, encompassment and which can historically shift from one to another. Baumann considers violence as »anti-grammar« as it aims to annihilate the Other. However, it is this anti-grammar in which international relations can be often conducted. It is often commented how international relations theories – unlike social and political theories – are often devoid of any normative element and use strategy and simulation games in order to assess what relations to pursue with

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›them‹ which, of course, includes the strategy of different kinds of war in which ›them‹ are to be subjugated or exterminated by force. The approach of feminist ›ethics of care‹ projects to issues of individual and collective boundaries is of a different kind – ideally it is not led by interest, indifference or even by shared normative values, but rather by respect and care for all. [...] There is one basic similarity which is assumed in all ethics of care theories which is, to use Alison Assiter’s words that »all human beings are needy and all suffer« (Assiter 2009: 101). Following Kierkegaard’s call to love all human beings, she also argues that »sometimes, loving another will involve respecting their differences from oneself to the extent that one is able« (ibid.: 102). The position expressed in the above quote raises two issues which are of fundamental importance to feminist and other emancipatory politics of belonging. Firstly, what criteria should be used to decide when such difference should or should not be respected, and secondly, how does one determine their ability to respect such differences. I would like to examine these two issues via examining transversal feminist politics (Yuval-Davis 1994, 1997, 2006; Cockburn / Hunter 1999).

C ARE ,

BELONGING AND FEMINIST TRANSVERSAL POLITICS

Transversal feminist political movements are one form of cosmopolitan dialogical politics. The participants, while being engaged with ›others‹ belonging to different collectivities, act not as representatives of identity categories or groupings but rather as advocates, how they are reflectively engaged in ›rooting‹ and ›shifting‹ and how their strength lies in the construction of common epistemological understandings of particular political situations rather than of common political action. Transversal politics, unlike ›rainbow coalitions‹, depend on shared values rather than on specific political actions, as differential positioning might dictate prioritising different political actions and strategies. Most relevant to our discussion here is how transversal politics encompass difference by equality and while continuously crossing collectivity boundaries, the transversal solidarity is bounded by sharing common values. Shared values as the basis of solidarity and cooperation is generally rejected by ethics of care feminists. The bond of mothers to their children and of carers to their dependents is not that of shared values but that of love and need. The ethics of care feminists and others might share is the value of helping the needy, but there is no such a demand for the needy to necessarily hold such values. This is an asymmetrical politics of solidarity based on the Levinas principle (Levinas 1999). Transversal politics, on the other hand, are based on the symmetrical politics of the Buberian »I-You« approach (Buber 1947). But the symmetry and reciprocity is not that of

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commercial interest, as Levinas claimed in his critique of Buber, but of the reciprocity of trust. While one might be engaged in defending the rights and/or helping to fulfil the needs of any individual and collective human beings whatever their values, common political belonging depends on shared values, although these shared values encompass intersectional individual and collective differential positionings. This trust, based on common values, also differentiates transversal politics from the Habermasian deliberative democracy approach.3 This is of crucial importance because in this way the transversal perspective helps us to judge which differences matter when and where, and to differentiate between care and compassion towards the oppressed, whoever and wherever they are, and that of accepting them all as potential political allies.4 Southall Black Sisters in London, for instance, are very active in the defence of women of all ethnic and religious communities from domestic violence and abuse, rejecting any cultural and religious justification of such acts. At the same time, they are not the political allies and oppose those who have sought to solve domestic violence caused by migrant men by deporting them from Britain – after all, men of all classes and ethnic communities commit the crime of domestic violence but are not punished by deportation. Racist solutions should not be the answer to sexist problems and SBS would not establish a transversal political alliance with those who do not share their anti-racist values. However, although Southall Black Sisters have been an effective campaigning organization in many ways and even managed to overthrow attempts by politically hostile local authorities to stop their funding, they do not have the power to stop such deportations.5

3

In the importance of trust in public political life and the ineffectivity of accountability as its replacement in public culture, please see Onora O’Neill’s 2002 BBC Reith Lectures http://www.bbc.co.uk/radio4/reith2002/ (accessed February 13, 2015).

4

Recently there have been major debates and political crises in two major human rights organizations, Amnesty International in London and the Centre for Constitutional Rights in the USA, when major feminist activists working in both organizations accused them of crossing the boundary of defending human rights victims and championing them as if they are not only victims but also human rights defenders and thus giving their views political legitimacy. Please see http://www.guardian.co.uk/commentisfree/cifamerica/2010/ nov/15/international-criminal-justice-yemen (accessed February 13, 2015).

5

Although the media was full of stories about the bureaucratic inefficiency of the Home Office which has prevented the deportation of criminals who hold non-British citizenship, as is the official rule.

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C ONCLUSION Examining feminist ethic of care and feminist transversal dialogical politics brings us back to the question of power and its relations to ethics and to the words of wisdom of Martin Luther King, Jr. quoted earlier. I would argue that a feminist political project of belonging, therefore, should be based on transversal ›rooting‹, ›shifting‹, mutual respect and mutual trust. It should be caring, but should also differentiate clearly between caring towards transversal allies and caring towards the needy. Above all, it should not neglect to reflect upon the relations of power not only among the participants in the political dialogue, but also between these participants and the glocal carriers of power who do not share their values and who need to be confronted, influenced, and when this is not possible, resisted.

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Dominanz und Diskriminierung im Kontext Sozialer Arbeit

Soziale Arbeit im Netz der Macht Versuch einer sozialphilosophischen Einordnung Ruth Großmaß

Soziale Unterstützung als eine Form der wechselseitigen Nothilfe scheint zu allen menschlichen Gesellschaften zu gehören – die Art und Weise jedoch, in der sie organisiert ist, ihr Umfang und die Bedingungen, unter denen sie gewährt wird, sind historisch und kulturell sehr unterschiedlich. Diese kulturelle und historische Kontextgebundenheit gilt auch für ihre ›moderne‹1 Form, die Soziale Arbeit, wie sie seit dem 19. Jahrhundert in den ›westlichen‹ Gesellschaften etabliert wurde. Soziale Arbeit findet immer in einem kulturellen, politischen und rechtlichen Kontext statt, durch den ihr Wirkungsbereich bestimmt ist, ebenso wie der konkrete Hilfeauftrag und die Ressourcen, die zum Einsatz kommen können.2 Staatliche und gesellschaftliche Machtstrukturen sind ein wichtiger Teil dieses Kontextes, sie geben den Rahmen für die Praxis vor und delegieren Bildungsaufträge, Kontrollaufgaben und Care-Tätigkeiten an die Soziale Arbeit. Zu klären, wie genau diese Machtstrukturen in die Soziale Arbeit hineinwirken, wäre nicht nur für die professionelle Praxis von 1

Die hier verwendete Bezeichnung ›modern‹ ist beschreibend gemeint, damit ist keine Bewertung (in Abgrenzung von traditionell/altmodisch) verbunden; sie rekurriert auf den soziologischen Begriff der ›Moderne‹, der gesellschaftliche Veränderungen bezeichnet, die in den europäischen Gesellschaften seit dem 18. Jahrhundert zu beobachten sind und zu sozialer Mobilität und Individualisierung auf Seite der Individuen sowie zu Verrechtlichung, Herausbildung von Organisationen und Systemen auf der strukturellen Seite führen.

2

Bis in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts ist der Kontext, in dem die Soziale Arbeit entwickelt wird, ein nationalstaatlicher – weshalb sich überall länderspezifische Besonderheiten von Wohlfahrts- oder Sozialstaatlichkeit herausbilden. Erst seit den 1990er Jahren entstehen parallel dazu international/global operierende Organisationen, die lokale Formen der sozialen Unterstützung z. T. überdecken, z. T. integrieren.

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Bedeutung, sondern könnte auch darüber hinaus reichende sozialtheoretische Einsichten liefern. Einfach jedoch ist eine solche Klärung nicht, da die gesellschaftliche Einbindung der Sozialen Arbeit über verschiedene und in sich sehr unterschiedliche Ebenen erfolgt. So haben viele Tätigkeitsfelder der Sozialen Arbeit eine große Nähe zu lebensweltlichen sozialen Beziehungen, die auf moralischen Pflichten und kulturell etablierten Praktiken beruhen3 und deshalb keine Verbindungen zu staatlicher Macht zu haben scheinen. Zudem spielen weiterhin unterschiedliche religiöse Traditionen in die heutige Organisation sozialer Hilfen hinein, was im europäischen Kontext in erster Linie die Frage nach der gesellschaftlichen Position der christlichen Kirchen aufwirft.4 Und auch die inzwischen erfolgte Einbeziehung der Sozialen Arbeit in die sozialwissenschaftliche Reflexion impliziert ein komplexes Verhältnis zur Wissenschaft, da die wissenschaftliche Fundierung und Analyse der Sozialen Arbeit nur interdisziplinär erfolgen kann. Die Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis der Sozialen Arbeit zur Macht ist jedoch nicht nur aufgrund ihrer Komplexität eine schwierige, sie scheint zudem für die in der Sozialen Arbeit Tätigen alles andere als unproblematisch zu sein. Das Thema ›Macht‹ trifft in auffälliger Weise den Kern der professionellen Identität, was immer dann deutlich wird, wenn die berufliche Praxis angesprochen ist. So löst die ›Machtfrage‹ im kollegialen Austausch häufig Irritationen aus – als habe man etwas falsch gemacht, wenn man überhaupt mit Macht in Verbindung gebracht werden kann. Der Fachdiskurs kommt in vielen Themenfeldern ganz ohne die Reflexion von Machtfragen aus. Und in der Praxisreflexion (in Studium und berufsbegleitender Supervision) positionieren sich die meisten Praktiker_innen in einem Bereich potentieller Ohnmächtigkeit, in dem sie von Mittelkürzungen, neoliberaler Politik und geringer gesellschaftlicher Wertschätzung betroffen sind, nicht aber als politische Akteure wirksam sein können. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Analyse des Verhältnisses der Sozialen Arbeit zur Macht keine die Profession selbstverständlich begleitende ist. Sie bleibt in der Regel der ›kritischen Sozialen Arbeit‹ vorbehalten, ohne von da aus in die fachliche Diskussion und die konkrete Praxis zurückzuwirken. Die folgenden Überlegungen nehmen den skizzierten Spannungsbogen zum Ausgangspunkt, um in Anlehnung an den Machtbegriff Foucaults (Foucault 2005) 3

Lebensweltliche Beziehungen werden auch da, wo sie nicht nur die private Nahwelt umfassen, sondern Gemeinsinn und politische Verantwortung einschließen, als persönliche erlebt und gestaltet, sie sind mit Emotionen und individuellen Werthaltungen verbunden (vgl. Nussbaum 2014).

4

Dass kirchliche Organisationen über Konkordate mit staatlicher Macht verbunden sind, ist allerdings eine spezifisch deutsche Variante staatlicher Säkularität (im Unterschied etwa zum französischen Laïzismus oder zu den Staatskirchen einiger skandinavischer Länder).

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unterschiedliche Ebenen und Knotenpunkte zu ermitteln, vermittels derer die Soziale Arbeit an Macht gebunden ist. Für einen solchen Einordnungsversuch ist die Theorieperspektive Foucaults deshalb produktiv, weil damit eine vergleichsweise weite Perspektive eröffnet wird. Es kommen nicht nur solche Tätigkeitsfelder in den Blick, deren staatlicher Kontrollauftrag – wie bei der Jugendgerichtshilfe, der Bewährungshilfe und manchen Feldern der Drogenhilfe – auf der Hand liegt, sondern es können auch die eher weichen Formen professioneller Eingriffe in die Lebenswelt und das Selbstverhältnis der Sozialarbeitsklientel5 – Beratung, Einzelfallhilfe und betreutes Wohnen – Berücksichtigung finden.

Z UR P OSITIONIERUNG IM F ELD DER M ACHT

DER

S OZIALEN ARBEIT

Eine der Schwierigkeiten bei der Beschreibung des Verhältnisses der Sozialen Arbeit zur Macht besteht darin, dass häufig ein wenig differenzierter Macht-Begriff verwendet wird, der Macht in die Nähe zur Gewalt rückt und mit Herrschaft und Unterdrückung assoziiert. Das ist, bezogen auf die Soziale Arbeit, keine völlig abwegige Vorstellung. Schaut man sich die Entstehung und die Organisation der Sozialen Arbeit in sozialhistorischer Perspektive an, lässt sich kaum leugnen, dass eine Verbindung zu Herrschaft, Disziplinierung und Gewaltausübung besteht. Insbesondere in den Anfängen der beruflich ausgeübten Sozialen Arbeit6 ist dieser Zusammenhang gut zu erkennen. Die mit der Industrialisierung verbundene soziale Mobilität hatte auch zur Verarmung der unteren sozialen Schichten geführt; das Industrieproletariat kämpfte mit Verelendung, politische Umbrüche und ökonomi-

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Um die Argumentation nicht zu kompliziert zu machen, verwende ich hier und im Weiteren ausschließlich die Bezeichnung ›Klient‹/›Klientin‹/›Klientel‹. Dass diese Bezeichnung für die Personen, denen Soziale Arbeit zugute kommen soll, weder unumstritten noch bewertungsfrei ist, sondern selbst eine Diskursposition markiert, ist dabei mitgedacht (vgl. Großmaß 2011).

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Soziale Arbeit als berufliche Tätigkeit beginnt im europäischen Raum im 19. Jahrhundert als Teil der öffentlichen Armenfürsorge, als ›charity‹-Aktivität der christlichen Kirchen, als Praxis des Zedakah der jüdischen Gemeinden, als philanthropische Vereinstätigkeit des Bürgertums und über Aktivitäten der Frauenbewegung. Alle Formen haben Vorläufer, die sich spätestens seit dem Beginn der Neuzeit nachweisen lassen. Der Ausbau der Sozialen Arbeit zu einer verlässlichen gesellschaftlichen Struktur findet in Deutschland während der Weimarer Republik statt (vgl. Hennings 2008; Hering / Waaldijk 2002; Hering / Münchmeier 2014). Zum sozialkritischen Blick auf den Prozess insgesamt vgl. Foucault 1973, 1977.

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sche Umverteilung wurden nicht nur verbal gefordert. Wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen – zu denen auch die Armenfürsorge und erste Bildungsangebote für die unteren Schichten gehörten – dienten in diesem gesellschaftlichen Umfeld der Befriedung7 sowie der Eindämmung republikanischer und sozialistischer Massenbewegungen. Diese auf Herrschaft ausgerichtete Ebene der Macht hat auch für die heutigen professionellen Formen der Sozialen Arbeit Bedeutung behalten, wenn sie auch in den meisten Arbeitsfeldern ausschließlich in symbolischer Form8 bzw. als letztes Mittel präsent ist. So kann unter den Bedingungen verfassungsrechtlich abgesicherter Sozialstaatlichkeit eine Zwangseinweisung in die Psychiatrie nur erfolgen, wenn alle anderen Formen der Beruhigung versagt haben; ebenso darf die Inobhutnahme eines Kindes gegen den Willen der Eltern nur stattfinden, wenn unmittelbare Gefahr für Leib und Leben droht. Dennoch besteht in vielen Bereichen der Sozialen Arbeit (nicht nur in den angeführten Beispielen) an den Grenzen der Freiwilligkeit auch die Möglichkeit von Zwangsmaßnahmen, und gerade an diesen Grenzen ist erkennbar, dass Soziale Arbeit, indem sie den ökonomisch und gesundheitlich Schwachen sowie den sozial Ausgegrenzten Hilfe und Unterstützung bietet, eine gesamtgesellschaftliche Funktion erfüllt, die etwas mit der »Regierung der Bevölkerung« zu tun hat und die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse gegen Unruhen und Widerstand »immunisiert« (Lorey 2012: 85 ff.). In den Anfängen der Sozialen Arbeit stand hinter den wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen ein staatliches Befriedungsinteresse im Hinblick auf Armut und soziales Elend; im weiteren Verlauf dominieren dann Steuerungsinteressen hinsichtlich Bildung, Gesundheit, Arbeits- und Marktfähigkeit. In beiden Formen erfüllt die Soziale Arbeit ein staatliches Lenkungsinteresse, das sich an so etwas wie ›Normalität‹ orientiert, dabei aber zunehmend ohne rigide Normierung auskommt. Michel Foucault hat den sozialhistorischen Transformationsprozess von einer in erster Linie auf Zwang, Disziplin und Gewalt basierenden Herrschaft in eine die Bevölkerung über Bildung, Gesundheitspolitik und soziale Unterstützung lenkende Regierung unter den Begriffen »Biopolitik« und »Gouvernementalität« beschrieben (vgl. Foucault 2000; Lemke 2002). Biopolitik und Gouvernementalität werden als Regierungsformen begriffen, die über vielfältige Formen »produktiver Macht« wirksam sind. Neben der Lenkung der ›Gesunden‹ (durch Schulpflicht und Bildungspolitik, Breitensport, Wehrpflicht, Arbeitsverwaltung und Gesundheitspräven7

Dass u. a. der sich ausdehnende Kolonialismus dies ökonomisch ermöglichte und die öffentlich inszenierte Identifikation mit der ›Nation‹ die Befriedung (nach innen) stärkte, darauf kann hier nur verwiesen werden.

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Isabell Lorey hat in ihrem Theorem der »Prekären« (Lorey 2012) darauf hingewiesen, dass bereits in der Definition einer Gruppe als »schutzbedürftig« eine Immunisierung von Herrschaft stattfindet (vgl. Lorey 2012: 61 f.).

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tion) kommt der Wahrnehmung und Versorgung der körperlich, psychisch und sozial ›Devianten‹ bei dieser Transformation eine wichtige Rolle zu.9 Medizin, Hygieneerziehung und Psychiatrie werden im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert stark ausgebaut. Parallel dazu wird die Soziale Arbeit für die soziale Devianz zuständig (gemacht), sie ist Teil dieses Transformationsprozesses und – in ihrer professionalisierten Form – sein Produkt (vgl. Bührmann 2007). Was in diesen Transformationsprozessen entsteht, ist eine sich liberalisierende Gesellschaft, in der (innerhalb eines durch das Rechtssystem festgelegten Rahmens) viele normative Orientierungen den Individuen überlassen werden und die gesellschaftlichen Ressourcen von einem marktförmig organisierten Wirtschaftssystem abhängen. Dezentrale Formen der Macht nehmen zu und werden für den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedeutsamer als Direktiven und autoritätsgebundene Formen der Lenkung. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts lässt sich beobachten, dass die biopolitische und gouvernementale Lenkung der Individuen sich zunehmend von den Institutionen (Schule, Fabrik, Kaserne, Heim, Klinik) auf die Individuen selbst verschiebt (vgl. Bröckling / Krasmann / Lemke 2000). In der Gesundheitsversorgung treten neben die Krankenbehandlung Präventionsprogramme, die die Einzelnen zu veränderter Lebensgestaltung anregen; bei psychischen Störungen wird die medikamentöse Behandlung durch therapeutische Verfahren ergänzt, die Patienten in Selbstreflexion und Verhaltenssteuerung einüben; die Wellness-Kultur macht die Selbstpflege und die Selbstgestaltung des eigenen Körpers zu einem nicht nur diskutierten, sondern die Alltagspraktiken verändernden Thema. Und in der Sozialen Arbeit werden soziale Problemlagen zunehmend in psychosoziale Probleme übersetzt, dezentrale Angebote der Krisenbegleitung nehmen zu, und Beratung wird zur Handlungsmethode der Wahl.10 Spätestens mit diesen Veränderungen wird die Soziale Arbeit

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Dass diese Transformationsprozesse nicht durch schlichte Erfindungen im Diskurs bewältigt werden, sondern mannigfaltiger Anstrengungen diskursiver, administrativer und fachlicher Art bedürfen, ist für den Bereich der Medizin und Psychiatrie inzwischen gut untersucht (vgl. z.B. die Studien von Brändli / Lüthi / Spuhler 2009). Dass in diesem Transformationsprozess nicht nur die Seite der ›Devianz‹ bestimmt wird, sondern auch das herausgearbeitet wird, was als ›normal‹ gilt, hat Foucault für die Sexualität gezeigt (Foucault 1979) und Andrea Bührmann für die Geschlechterkonstellation (Bührmann 1995).

10 Die hier angesprochenen Veränderungen lassen sich insgesamt als ein weiterer Modernisierungsschub beschreiben. Sie werden von einzelnen Sozialtheoretiker_innen unterschiedlich theoretisiert und bezeichnet (als Zweite Moderne, Postmoderne oder Reflexive Moderne). Phänomene wie die zunehmende Psychologisierung des Alltagslebens und das Bedeutendwerden persönlicher Identität kennzeichnen die Seite der Individuen (Kaufmann 2005). Damit verbunden ist eine größer werdende Anforderung an persönliche Entscheidungen, sie werden zahlreicher – in Schullaufbahn und Berufsfindung, Konsum und

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zum Akteur gesellschaftlicher Machtverschiebung (vgl. Rose 1996; Brändli 2009), indem begleitende Maßnahmen den familialen Zusammenhalt flexibilisieren und zugleich normativ bestätigen (vgl. Donzelot 1980) und neue Formen von (öffentlicher) Intimität in der Erziehungs- und Krisenberatung ›erfunden‹ werden (vgl. Brändli-Blumenbach 2011). Nimmt man die skizzierte sozialhistorische Entwicklung zur Kenntnis, dann kann es nicht ausreichend sein, die Einbindung der Sozialen Arbeit in Machtverhältnisse ausschließlich in Form von Herrschaft zu verstehen. Man erfasst damit ja nur die begrenzende Seite der Macht, nicht aber deren gestaltende, produktive Seite, in die auch die Soziale Arbeit einbezogen ist. Es ist daher erforderlich, die (ausgesprochen kreative) Form zu analysieren, in der die Soziale Arbeit ihren Auftrag der Integration/Inklusion, der materiellen und psychosozialen Nothilfe sowie der individuellen Entwicklungsförderung ausfüllt und gestaltet. Will man diese Dimension der Macht verstehen, dann kommt das in den Fokus, was Foucault die »Produktivität der Macht« nennt.11

D IE V ERNETZUNG DER S OZIALEN ARBEIT ÜBER K NOTENPUNKTE DER M ACHT Die Soziale Arbeit in ihrer aktuellen Form als ausgebaute soziale Infrastruktur der Gesellschaft arbeitet nach professionellen Standards: Problemlagen und Hilfebedarfe werden wissenschaftlich analysiert und begründet, die Beschreibung der einzelnen Arbeitsfelder und die Erarbeitung der jeweils angemessenen Handlungsmethoden findet in einem öffentlich nachvollziehbaren Fachdiskurs statt, und die Arbeit mit der Klientel wird von akademisch ausgebildeten Professionellen geleistet. Hierin ist die Soziale Arbeit ausgesprochen produktiv, aber ist sie damit auch machtvoll? Soziale Arbeit, so die relativ schlichte Antwort, ist über ihren Ressourcenbedarf mehrfach mit Macht verknüpft. Sie benötigt auf allen Ebenen – von der Praxisforschung über die Fachverbände und Zeitschriften bis zur Ausbildung der Sozialarbeiter_innen und zudem in jeder einzelnen Hilfehandlung – öffentliche Ressourcen

Lebensform genauso wie in Bezug auf Geschlecht, sexuelle Orientierung, Partnerwahl und Kinderwunsch. 11 Das Konzept der produktiven Macht (als Gegenkonzept zur Repressionshypothese) wird in »Sexualität und Wahrheit« (Foucault 1979) zur systematischen Grundlage der Analyse. In seiner Bedeutung für die Lenkung der Bevölkerung entfaltet Foucault das, was ›Produktivität‹ heißt, in zahlreichen Vorträgen und Interviews, relativ früh (1981) in »Die Maschen der Macht« (Foucault 2005: 220-232).

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und (anderswo erwirtschaftete) finanzielle Mittel. Diese Mittel müssen beantragt, konzeptionell begründet und in die (sozial-)rechtlichen Vorgaben eingeordnet werden. Da soziale Hilfen auf gesellschaftliche Entwicklungen reagieren und deshalb flexibel zu gestalten sind, werden je nach den sich verändernden Problemlagen unterschiedliche Ressourcen in Art und Umfang benötigt. Und, da Ressourcen in den modernen Gesellschaften immer umkämpft sind, befindet sich die Soziale Arbeit in kontinuierlichen Aushandlungsprozessen. Sie ist über die Verwaltungsstrukturen, durch die erforderlichen Konzepte und Begründungen für unterschiedliche Hilfen, durch die Beteiligung an sozialwissenschaftlicher Forschung bzw. durch die Nutzung ihrer Ergebnisse in vielfacher Hinsicht in gesellschaftliche Machtverhältnisse einbezogen. In der Arbeit mit der Klientel sind die Sozialarbeiter_innen selbst dann insofern unmittelbar Akteure der Macht, als die personenbezogene Hilfe über Konzepte und Praktiken erfolgt, die immer auch der Integration/Inklusion in bestehende gesellschaftliche Verhältnisse dienen. An jeder einzelnen Stelle der Ressourceneinwerbung und des Ressourceneinsatzes wird Macht flexibel und produktiv wirksam, indem Forschungs- und Projektanträge nach Finanzierungsvorgaben formuliert, manche dann bewilligt werden und manche nicht, indem Bedingungen für Anspruchsberechtigung formuliert und administrativ umgesetzt werden, indem Problemlagen beschrieben und Sozialdiagnosen begründet werden, auf die bezogen Handlungsmethoden zum Einsatz kommen. Für die heutige sozialstaatliche Struktur lassen sich die verschiedenen Ebenen und Transmissionspunkte der Macht, über die Soziale Arbeit produktiv gestaltet und gestaltend tätig wird,12 ziemlich genau benennen: • • •

Politische Zuweisungen und sozialwissenschaftliche Studien machen die ›Armen‹ bzw. Hilfebedürftigen als mögliche Adressaten von Hilfe sichtbar. Sozialrechtliche Regelungen verwandeln wahrgenommene Bedürfnisse in Bedarfe, auf die bezogen Anspruchsberechtigung besteht. Fachhochschulen und Universitäten bilden Akteure der Sozialen Arbeit in anerkannten Studiengängen aus und bieten Weiterbildung zur kontinuierlichen Aktualisierung des Wissens an.

12 Meine Argumentation bezieht sich auf deutsche Verhältnisse. Wegen der unterschiedlichen Schwerpunkte innerhalb der Sozialen Arbeit und einer entsprechend unterschiedlichen Fachterminologie ist eine regionale Begrenzung erforderlich, die, wenn es um sozialstaatlich organisierte Soziale Arbeit geht, immer auch eine nationalstaatliche ist. Eine globale Perspektive auf die Soziale Arbeit – durch internationale Vereinigungen und transnationale Aktivitäten von NGOs angestoßen – entsteht erst allmählich (seit den 1990er Jahren). Dennoch können die entfalteten Argumente in ihren grundlegenden Aspekten als exemplarisch gelten.

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• •





Wohlfahrtsverbände und kommunale Ämter erkämpfen/verwalten die für die Klientelarbeit erforderlichen Ressourcen. ›Träger‹ (der Sozialhilfe, der Jugendhilfe bzw. der Wohlfahrtsverbände) stellen (im Auftrag des Staates und mit öffentlichen Mitteln) die Ressourcen bereit, mit denen Hilfe geleistet wird. Die Teams in den einzelnen sozialen und psychosozialen Einrichtungen entwickeln ›fachlich‹ begründete Konzepte und Methoden und produzieren entsprechende Klientelgruppen. Die einzelnen Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen wenden die Konzepte und Methoden in der Interaktion mit ihren Klienten und Klientinnen an.

Soziale Arbeit gestaltet sich, indem auf jeder dieser Ebenen Strukturen produziert und Entscheidungen ermöglicht werden, die dann für andere Ebenen den Rahmen abstecken und plausibel beschreiben, innerhalb dessen sich Handlungsspielräume eröffnen. Um zu verstehen, wie dies geschieht, ist es hilfreich, den Machtbegriff etwas präziser zu fassen. Macht ist in der Beschreibung von Foucault kein überall präsentes Medium, das private, berufliche und politische Handlungen irgendwie infiziert. Macht ist vielmehr das Produkt von sozialhistorischen Entwicklungen, die Rechtsverhältnisse, gesellschaftliche Organisationen, administrative Routinen, Wissensbestände (= Alltagswissen, Verwaltungswissen, berufliches Wissen, wissenschaftliche Erkenntnisse) und Subjektivierungsweisen (= das, was als normal gilt bzw. davon abweicht) hervorgebracht haben und kontinuierlich fortschreiben. Daraus ergibt sich ein »Netz der Macht«,13 das im Großen und Ganzen dafür sorgt, dass diese verschiedenen Ebenen gesellschaftlichen und individuellen Lebens zusammenpassen, und zwar nicht durch Direktiven, Autorität und Gewalt, sondern in einer flexiblen Form, die Weiterentwicklung und Innovationen ermöglicht. Innerhalb dieses Netzes lassen sich Knotenpunkte erkennen, die in spezifischer Weise für den Zusammenhalt des Netzes insgesamt wirken. An »Knotenpunkten der Macht« greift in je unterschiedlicher Weise legitimes Wissen (sozialwissenschaftliche Ergebnisse, Statistik, pädagogische Konzepte, erhobene Bedarfe, Handlungsmethoden14) mit Umsetzungsmaßnahmen15 so ineinander, dass Entscheidungen getroffen und die nächsten Schritte in Angriff genommen werden können. So wird der Rahmen hergestellt, in dem Hilfe und Unterstützung geleistet werden können. Die Punkte am Übergang zwischen den oben genannten Ebenen der Macht, an denen Wissen bereitgestellt und administra13 Foucault bedient sich der Metapher des Netzes, die eine bildliche Vorstellung von dem vermittelt, was sich nur sehr abstrakt benennen lässt: flächendeckend, flexibel, an den Rändern offen, durch Knoten stabil gemacht. 14 in der Terminologie Foucaults »Diskurse«. 15 in der Terminologie Foucaults »Dispositive«.

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tiv umgesetzt wird, stellen für den Bereich der Sozialen Arbeit jeweils solche Knotenpunkte der Macht dar. Diese wahrzunehmen und in die Analyse einzubeziehen ist deshalb von Bedeutung, weil exakt an diesen Punkten sowohl die im Bereich der Sozialen Arbeit Lehrenden und Forschenden als auch die in der Sozialverwaltung tätigen Sozialarbeiter_innen sowie diejenigen, die unmittelbar mit der Klientel arbeiten, zu Akteuren werden, die das Feld der Sozialen Arbeit machtvoll (mit-)gestalten. Wer – um einige Beispiele herauszugreifen – sozialwissenschaftliche Studien zu psychosozialen Belastungen oder prekären Lebensverhältnissen durchführt, liefert Anschlussmöglichkeiten für die sozialpolitische Definition von ›Devianten‹ und ›Prekären‹. Wer sich innerhalb von Sozialverbänden für die Inklusionsrechte einer sozialen Gruppe einsetzt, kämpft um Ressourcen, die in der Regel nicht zusätzlich zur Verfügung gestellt, sondern durch Umwidmung und Verschiebung freigegeben werden. Wer ein Beratungsangebot gestaltet, definiert Beratungsbedarf, öffnet Zugangsmöglichkeiten für Zielgruppen und schließt gleichzeitig andere aus.16 Und: Jede konkrete Hilfebeziehung bindet den Klienten oder die Klientin in Selbstexplorationsstrategien und Versorgungsnetzwerke ein. Insgesamt wird über solche Knotenpunkte eine Struktur hergestellt, die verlässlich und flexibel zugleich auf gesellschaftliche Inklusionsprobleme zu reagieren vermag: Die rechtlichen und administrativen Bindungen verlangsamen allzu schnelle Veränderungsimpulse, und das analytische und praktische Know-how der Akteure der Sozialen Arbeit sorgt für Flexibilität hinsichtlich sich verändernder Problemlagen. Indem die Soziale Arbeit diese Aufgaben erfüllt, produziert sie nicht nur Definitionen und Konzepte sozialer Devianz und Prekarität, sondern – zumindest indirekt – auch Vorstellungen von ›normaler‹ Subjektivität. So lassen sich viele Methoden der Sozialen Arbeit auch als Techniken beschreiben, mit denen ›normale‹ Jugendliche, ›normale‹ Familien,17 ›normale‹ Gemeinwesen hergestellt werden können. Was hat es auf sich mit dieser Unterscheidung von Normalität und Abweichung? Im Theoriekontext Foucaults ist es diese Differenz, an der entlang Lenkungsprozesse in den sich liberalisierenden modernen Gesellschaften stattfinden. Bevölkerungen sind dann regierbar, wenn die Individuen in Verhalten, Lebensstil 16 Diese Prozesse habe ich für das Arbeitsfeld Beratung an anderer Stelle genauer untersucht (vgl. Großmaß 2006). In einer entsprechend differenzierten Analyse lässt sich auch erkennen, wie die professionelle Praxis daran beteiligt ist, gesellschaftliche Subjektivierungsweisen (mit-) zu produzieren. 17 Jürgen Link (2013) hat mit Bezug auf die Arbeit des französischen Sozialhistorikers Donzelot (1980) herausgearbeitet, dass es – zumindest in Frankreich – der Praxis der Sozialen Arbeit bedurfte, um das Konzept der Familie als Beziehungs- und Lebensform zur Leitvorstellung (über Reproduktion, Kindsein und Elternschaft) zu machen (vgl. Link 2013: 143 ff.)

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und Selbstwahrnehmung zu einer Art von Konformität gebracht werden können, die für das Arbeitsleben, die Kultur und die Reproduktion der Gesellschaft ›passt‹. Was diese Normalität ausmacht, ist einerseits zu erkennen, wenn man auf diejenigen schaut, die sich nicht einfügen (lassen, wollen oder können). Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts – darauf hat Jürgen Link hingewiesen – steht mit der quantitativen Erhebung von Sozialdaten und den Verfahren der Statistik außerdem ein Instrument zur Messung von Normalität zur Verfügung (vgl. Link 2013: 330-347). Nahezu alle gesellschaftlichen Prozesse werden heute quantitativ erfasst und statistisch ausgewertet. Krankheitshäufigkeiten lassen sich ebenso ermitteln wie die Beteiligung an Präventionsprogrammen; Schulversagen kann mit den elterlichen Einkommensverhältnissen korreliert werden und Arbeitslosigkeit mit dem Bildungsstand. Der Normalitätsbegriff, der sich daraus ableiten lässt, ist der der statistischen Normalverteilung. Die entsprechenden Kurven werden nicht nur den Berechnungen von Versicherungen, sondern auch den Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge und der Jugendhilfeplanung zugrunde gelegt. Ergänzt durch Ergebnisse qualitativer Forschung lassen sich so die Risiken von Fehlentwicklung und absehbare soziale Problemlagen bestimmen und entsprechende Programme entwerfen.18 Interveniert werden muss an den Rändern der Normalverteilungskurve, wobei Berufe wie die Soziale Arbeit die Aufgabe übernehmen, das Tempo der Verschiebungen des statistisch Normalen in der Balance zu halten, indem Defizite durch Förderung und Unterstützung ausgeglichen, zugleich aber ›Ausreißer‹ (an Verrücktheit, Elend und Delinquenz) diszipliniert werden. Auf drei Ebenen – so lassen sich die vorgestellten Überlegungen zusammenfassen – kann die Soziale Arbeit in gesellschaftliche Machtstrukturen eingeordnet werden: • • •

Als sozialstaatlich etablierte Struktur leistet sie über Versorgung und Befriedung einen Betrag zur Stabilisierung bestehender Machtverhältnisse. Über die genannten Knotenpunkte der Macht definiert sie soziale Probleme, prekäre Bevölkerungsgruppen und Einsatzstellen für soziale Hilfeleistung. Und gerade die wenig kontrollorientierten Formen der Sozialen Arbeit wie sozialpädagogische Begleitung, Arbeit in Krisenwohngruppen und Beratung intensivieren selbstreflexive Subjektivierungsformen und geben ihnen zugleich Halt.

Blicken wir von hier aus noch einmal auf die zu Beginn angesprochene Selbstpositionierung der Sozialen Arbeit, die in deutlichem Widerspruch zu diesem Befund steht. 18 Wie beide Formen – Normierung und Normalisierung – ineinander greifen, zeigen die von Helga Kelle und Johanna Mierendorff (2013) herausgegebenen Studien zur Konstruktion von Kindheit exemplarisch.

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Z UR S ELBSTPOSITIONIERUNG DER S OZIALEN ARBEIT AUF DER S EITE DER M ACHTLOSEN Den aktuellen Professionsansprüchen der Sozialen Arbeit entsprechend hat diese nicht nur die Aufgabe, fachkundig in Ämtern und Klientelbeziehungen tätig zu sein. Es geht auch um die Besetzung von Leitungspositionen in Einrichtungen und Sozialverbänden sowie um eine eigenständige Praxisforschung. Vertreter_innen der Sozialen Arbeit sind damit als Akteure an der Lenkung von Inklusionsprozessen beteiligt und dies nicht nur an der gesellschaftlichen Peripherie. Wie aber kommt es dann dazu, dass sich Sozialarbeiter_innen selbst eher auf der Seite der Machtlosigkeit positionieren, sich weniger als (zumindest mögliche) Akteure sehen, denn als abhängig von den Entscheidungen anderer? Auch für die Beantwortung dieser Frage lassen sich dem bis hierhin Explizierten einige Hinweise entnehmen: •





Die skizzierten Ebenen und Knotenpunkte der Macht werden – das ist aufgrund der Spezialisierung in der Praxis naheliegend – von unterschiedlichen Personen besetzt. Die Soziale Arbeit als Beruf ist für die meisten Praktiker_innen ein Raum der Diversifizierung, kein Feld für eine individuelle Karriere, in deren Verlauf man die verschiedenen Ebenen als einen Zusammenhang erfahren könnte. So erleben Sozialarbeiter_innen die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit jeweils als von anderen gesetzt – und zwar mit dem Anschein der Alternativlosigkeit. Gefühle der Machtlosigkeit sind häufige Begleiter im Arbeitsalltag. Nur eine theoriegeleitete Reflexion des Arbeitsfeldes ermöglicht eine angemessene Einordnung der eigenen Position in Machtkontexte.19 Einfühlung und Fallverstehen – zwei wichtige personenbezogene Ressourcen der Sozialen Arbeit – führen leicht zu einer Identifikation mit den (machtlosen) Klient_innen. Die Nähe des Arbeitskontextes zur Lebenswelt verführt dazu, sich auch für die Bedürfnisse der eigenen Klientel identifikatorisch einzusetzen. Individuelles Nachdenken und Fallbesprechungen im Team reichen dann nicht immer aus, um diese Identifikation aufzulösen. Paradoxerweise sind es gerade besonders gelungene Hilfeprozesse – etwa wenn Jugendliche das betreute Wohnen in ein eigenständiges Erwachsenenleben verlassen oder eine traumatisierte Frau beruflich aktiv wird oder eine Liebesbeziehung zu gestalten lernt – durch die sich die Soziale Arbeit an der Individualisierung von Lebensformen und der Herstellung flexibler Subjektivierungsformen beteiligt. Dies ist eine Paradoxie, die sich nicht auflösen lässt.

19 Für eine solche Reflexion gibt es durchaus theoretische Angebote, wobei der zentrale Fokus in der Regel die Interaktionsebene ist. Vgl. z.B. Kraus / Krieger 2013.

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Zudem ist die Position der Sozialen Arbeit zwischen den Institutionen der gesellschaftlichen Macht und den hilfebedürftigen Einzelpersonen eine grundsätzlich heikle. Soziale Arbeit kann auch in ihrer ›modernen‹ Form zur Ausübung von Herrschaft politisch funktionalisiert werden – am deutlichsten sichtbar während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland (vgl. Schnurr 1991). Soziale Arbeit kann aber auch zum Medium persönlicher Machtausübung einzelner Sozialarbeiter_innen werden – heute innerhalb der Profession als »Grenzverletzung« diskutiert (vgl. Fachbereich Soziale Arbeit Frankfurt 2011) und hinsichtlich der psychischen Disposition der Akteure bereits 1977 von Schmidbauer analysiert (vgl. Schmidbauer 1992).20

Trotz dieser Hindernisse, die eine klare Sicht auf die Einbindung der Sozialen Arbeit in die Strukturen der gesellschaftlichen Macht erschweren, möchte ich dafür plädieren, das Verhältnis der Sozialen Arbeit zur Macht für alle Praxisfelder sorgfältig zu analysieren. Erst dann – so meine These – eröffnen sich Handlungsspielräume auch an den Knotenpunkten der Macht. Erst dann lässt sich die Frage nach einer angemessenen Form gesellschaftlich organisierter Fürsorge und Solidarität auch politisch stellen.21

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20 Seit den 1970er Jahren ist die damit gegebene Macht-Ambivalenz unter dem Begriff des »doppelten Mandats« (= Soziale Arbeit als Hilfe und Kontrolle) normativ gewendet worden (vgl. Hollstein 1973). Professionstheoretisch (und in Aufgreifen einer transnationaler Perspektive) wurde das Konzept des doppelten Mandats von Silvia Staub-Bernasconi zum »Tripelmandat« erweitert (Staub-Bernasconi 2007: 198 ff.). 21 Anregungen hierzu finden sich bei Joan Tronto (2013).

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Cripping und Queering Soziale Arbeit Aspekte der Disability Studies Heike Raab

In diesem Beitrag diskutiere ich die Wechselwirkungen und Herausforderungen von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht. In der ersten Hälfte reflektiere ich einige Impulse der Disability Studies mit Blick auf den Ansatz der »Dominanzkultur«. Ausgehend davon schlage ich eine Re/Formulierung Sozialer Arbeit vor. Besonders bedeutsam ist der Zusammenhang von Dominanzkultur, Intersektionalität und Körper. Grundsätzlich beziehe ich mich hierbei auf das kulturelle Modell in den Disability Studies, welches Behinderung als kulturelles Phänomen und Ausdruck des Sozialen definiert.

D ISABILITY S TUDIES , D OMINANZKULTUR UND I NTERSEKTIONALITÄT Kennzeichnend für die Disability Studies ist der Anspruch, einen Paradigmenwechsel in der wissenschaftlichen Erforschung von Behinderung zu initiieren, mit dem Ziel, gesellschaftliche Diskurse und Praxen zu Behinderung im emanzipatorischen Sinne zu verändern. Der Hintergrund für diesen Paradigmenwechsel liegt in dem Umstand begründet, dass die Disability Studies im Kontext der Behindertenbewegung entstanden sind. Demgemäß wird in dieser Forschungsausrichtung nicht mehr aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft eine minorisierte Gruppe untersucht – nämlich die der Behinderten. Stattdessen wird umgekehrt, aus Sicht von Minorisierten (behinderte Personen), die Mehrheitsgesellschaft analysiert. Es schaut also nicht mehr das Zentrum auf den Rand, vielmehr schauen die an den Rand Gedrängten auf diejenigen, die sich selbst zum Zentrum erheben (Hermes / Rohrmann 2006).

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Mit Bezug darauf wird in den Disability Studies das Verhältnis von Rand und Zentrum hinsichtlich der Rolle von Ableism erforscht. Von Interesse ist die Rolle von Ableism als gesellschaftliche Norm. Nicht zuletzt deswegen werden in den Disability Studies inklusive, partizipatorische Ansätze bevorzugt und wird Behinderung als Querschnittsthema entworfen. Entsprechend verstehen sich die Disability Studies als eine trans- bzw. postdisziplinäre Forschungsausrichtung. Erkenntnistheoretische Basis ist eine de/konstruktivistische Perspektive und die Fokussierung auf soziokulturelle Unterscheidungsweisen von körperlicher Differenz: Behinderung wird also weniger als eine vorsoziale Gegebenheit verstanden, denn als ein soziales und kulturelles Konstrukt. Im Anschluss an Waldschmidt (2007) bezeichne ich Behinderung deshalb als eine soziokulturelle Problematisierungsweise von körperlicher Differenz. Dieser Ansatz bezieht sich in den Disability Studies auf das kulturelle Modell von Behinderung. Gemäß dieser konstruktivistischen Herangehensweise im kulturellen Modell von Behinderung fokussieren die Disability Studies auf Vergesellschaftungsformen von Behinderung, diese stellen das genuine Forschungsfeld der Disability Studies dar. Insofern stehen die Disability Studies für eine (Neu-)Entdeckung des Sozialen in der Hervorbringung von Behinderung. Entgegen herkömmlichen Vorstellungen entsteht so eine Sicht auf Behinderung, die sie als Konstrukt thematisiert. Ebenso verdankt die Soziale Arbeit ihre Entstehung der Entdeckung dessen, was im 19. Jahrhundert mit dem Wort ›Gesellschaft‹ auf den Begriff gebracht wird (Dollinger / Kessl 2012: 7; Kessl 2013). Beispielsweise ist Armut nun kein darwinistisch zu verstehendes Phänomen natürlicher Auslese, sondern Ausdruck sozialer Missstände, die veränderbar sind. Mit anderen Worten: Die ›soziale Frage‹ entsteht. Historisch betrachtet, ist die Entdeckung der ›sozialen Frage‹ deshalb ko-konstitutiv mit dem Auftauchen des neuen Arbeitsfeldes ›Soziale Arbeit‹. Analog dazu ist in den Disability Studies Behinderung kein individueller ›anatomischer Defekt‹, sondern soziokulturell bedingt. Die Disability Studies konzipieren Behinderung im Rahmen der Diskussion um die soziale Frage, da hier Behinderung als Prozess sozialer Benachteiligung, kultureller Vorurteile und/oder wissenschaftlicher, politischer und juridischer Diskurse behandelt wird. Gesellschaftsanalysen gehören daher, wie Kessl schreibt, zu den zentralen, mehr oder minder offen gelegten Reflexionsflächen, anhand derer sich Soziale Arbeit als professionelle und disziplinäre gesellschaftliche Instanz verortet. Umgekehrt haben soziale Bewegungen, wie die Behindertenbewegung, durchaus Einfluss auf Soziale Arbeit genommen und diese mitgeprägt, wodurch neue Handlungs- und Praxisfelder, vor allem aber neue Zugänge in alten Praxisfeldern Sozialer Arbeit entstanden (Kessl 2013: 50; Giebeler et al. 2013: 16). Inzwischen hat sich durch den Einfluss der Disability (und anderer) Studies eine neuerliche Diskussion um das Soziale etabliert. In dieser Debatte geht man davon aus, dass nicht mehr eindeutig zu bestimmen ist,

Cripping and Queering Soziale Arbeit | 231 »[...] wer die Macht in der Hand hat, und noch weniger lassen sich die Machtverhältnisse in eine Rangordnung bringen, die genau festschreibt, welches der Hauptwiderspruch ist und welches die Nebenwidersprüche. Die Omnipräsenz der Machtverhältnisse, ihre Vieldimensionalität wie auch ihre relative Unsichtbarkeit sind so zentrale Merkmale dessen, was als [...] Dominanzkultur bezeichnet wird« (Rommelspacher 1995: 23).

Für die Disability Studies ergeben sich mit dieser Bestimmung des Sozialen Anknüpfungspunkte für das Konzept der Dominanzkultur von Rommelspacher (vgl. ebd.). Dieses bietet ferner vielfache Anschlüsse an das kulturelle Modell von Behinderung. Denn das kulturelle Modell von Behinderung akzentuiert ebenfalls die Macht kultureller Normen durch die Behinderung, bzw. verkörperte Differenz, hergestellt wird. Dominanzkultur kennzeichnet im Wesentlichen, dass nicht statisch zwischen Machtlosen und Machthabenden zu unterscheiden ist. Vielmehr sind alle Menschen, vielfach und widersprüchlich, in gleichzeitig wirkende Machtverhältnisse verstrickt, d.h. sie können gleichzeitig diskriminiert werden und diskriminieren. Dominanzkultur beschreibt den Wirkmechanismus und die Funktionsweisen von gesellschaftlicher Normierung und Ausgrenzung und fokussiert auf die Vielzahl gesellschaftlicher Machtverhältnisse, die in ihrer jeweiligen Besonderheit und in ihrer wechselseitigen Verflechtung zu analysieren sind (ebd.: 28). Die Wechselwirkung dominanzkultureller Phänomene bezieht die Autorin systematisch auf verschiedene Aspekte von Fremdheit, Differenz und Verschiedenheit. Sie geht produktiv mit den Kritiken Schwarzer, migrierter, jüdischer und beeinträchtigter Frauen am hegemonialen Feminismus um und arbeitet die Verstrickungen weißer Mittelschichtsfrauen in rassistische, antisemitische und behindertenfeindliche Diskurse und Praktiken heraus (vgl. Rommelspacher 1999). Mit diesem Konzept ist Rommelspacher eine Wegbereiterin und Vordenkerin feministischer Intersektionalitätsdebatten in Deutschland, die in Teilen maßgebliche Einsichten des Konzepts der Dominanzkultur anerkennend weiterentwickeln. Intersektionalität als erkenntnistheoretisches und wissenschaftliches Konzept wurde Ende der 1980er Jahre im Kontext der Schwarzen Frauenbewegung in den USA entwickelt. Im Mittelpunkt dieses Konzepts stand zunächst die Frage nach einem Zusammenwirken von Rassismus, Sexismus, Heteronormativität und Klassenzugehörigkeit, mit dem Ziel, die spezifischen Lebenssituationen und Diskriminierungserfahrung von Schwarzen Frauen zu analysieren. Diese wurden sowohl in der weißen Frauenbewegung als auch in der männlich dominierten Schwarzen Bürgerrechtsbewegung regelmäßig vernachlässigt (Crenshaw 1989, 1991). Zudem ging es aber auch um den Ausschluss von Differenz und Ungleichheit unter Frauen im dominanten feministischen Denken. Inzwischen ist der Ansatz auch von weißen, politischen und akademischen Feministinnen aufgegriffen worden (McCall 2005; Tuider 2014). In den aktuellen Gender Studies (Knapp 2013) fokussiert Intersektionali-

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tät für gewöhnlich auf die Verwobenheit verschiedener gesellschaftlicher Diskriminierungsachsen und Differenzkategorien, wie beispielsweise Alter, Sexualität, Migration, Ethnizität, Heteronormativität oder Behinderung innerhalb gesellschaftlicher Geschlechterverhältnisse. Schwarze feministische Intersektionalitätsansätze leiteten damit einen Perspektivenwechsel ein, den man als Abkehr von Geschlecht als ›Hauptwiderspruch‹ und einem Modell der Mehrfachunterdrückung hin zu einer Theorie der Überschneidung oder der Differenz bezeichnen kann (Raab 2007). Für die Disability Studies bietet insbesondere das Intersektionalitätsmodell von McCall (2005), auf das ich mich im vorliegenden Beitrag beziehe, wertvolle Weiterführungen an. McCall unterscheidet zwischen einem inter-kategorialen Zugang, der die Wechselwirkung zwischen den Kategorien pointiert, einem intra-kategorialen Zugang, der nach Differenzen innerhalb einer Kategorie fragt und schließlich nach einem anti-kategorialen Zugang, der auf dekonstruktivistischen und poststrukturalistischen Grundlagen beruht (ebd.). Im Anschluss an McCalls Modell ist der Gegenstand der feministischen Intersektionalitätsforschung die Analyse von Hervorbringungsverhältnissen und weniger jene von Unterdrückungsverhältnissen durch Geschlecht und Heteronormativität (Tuider 2014; Lutz et al. 2012). Die Disability Studies greifen verschiedene Aspekte der – inzwischen allerdings überwiegend weiß dominierten – feministischen Intersektionalitätsforschung auf (Garland-Thomson 2002; Raab 2007). Im Anschluss an die Gender Studies (Lutz et al 2012) diskutieren die Disability Studies, ob und inwieweit weitere Differenzkategorien über Behinderung hinaus relevant sind. Behinderung lässt sich somit nicht auf eine einzige Macht- und Herrschaftsdimension – etwa Behindertenfeindlichkeit oder Ableism – reduzieren (Raab 2007). Behinderung als einzige zentrale Kategorie der Disability Studies wird relativiert, indem die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Differenzkategorien und Machtverhältnissen analysiert werden – etwa entlang von Behinderung, Heteronormativität oder Geschlecht. Behinderung ist demnach auch als gesellschaftliches Differenzverhältnis zu verstehen, denn die Fokussierung auf Behinderung als einzige Analysekategorie vernachlässigt nicht nur andere Diskriminierungsformen wie Homophobie, Sexismus und Rassismus, sondern kann diese theoretisch nicht integrieren. Intersektionalität in den Disability Studies ist insofern als ein Analysemodell zu verstehen, das mit mehreren Differenzkategorien operiert, die gleichermaßen als relevant gesetzt und ernstgenommen werden (McCall 2005). Auf diese Weise kann Behinderung als Teil eines multikategorialen Forschungsdesigns neu bestimmt werden. Auch der Behinderungsbegriff selbst wird erweitert, indem er die Vielfalt von Behinderungsformen berücksichtigt, etwa im Zusammenhang mit sichtbaren und unsichtbaren Behinderungen. Intersektionalität beachtet also sowohl die Wechselwirkung mit anderen Machtverhältnissen als auch Differenzierungen innerhalb der Kategorie Behinderung und deren Beziehungsgeflecht (Raab 2007; Tuider 2014). Behinderung wird als homogene Identität in Frage gestellt, die – im Anschluss an

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McCalls Intersektionalitätsansatz – von Pluralität und Heterogenität durchzogen und nicht herrschaftsfrei zu denken ist. Intersektionalitätsforschung in den Disability Studies geht also von einer umfassenden Komplexität gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse aus. Vorstellungen, wonach Gesellschaft ein in sich geschlossenes Ganzes sei, werden verabschiedet. Gesellschaft besteht aus unterschiedlichen, sich teilweise widersprechenden Praktiken, Denkweisen und Lebensbereichen. Intersektionalitätsforschung in den Disability Studies strebt also danach, gesellschaftliche Macht- und Teilungsverhältnisse (Knapp 2013) neu zu denken und komplexere Rahmungen für die Formulierung von Forschungsdesigns zu entwickeln (Erwägen, Wissen, Ethik 2013). Sie zielen darauf, Interventionen in herkömmliche grundbegriffliche Rasterungen in der wissenschaftlichen Erforschung von Behinderung vorzunehmen und ein erkenntnistheoretisches Modell zu entwickeln, das die weitreichenden Transformationen der Gesellschaft theoretisch und analytisch einzufangen vermag. Eine solche Herangehensweise hat Folgen für eine intersektionale Verortung von Sozialer Arbeit im Kontext von Disability Studies.

P ROBLEMATISIERUNGEN , E NTNORMALISIERUNGEN UND E NTHINDERUNGEN Ausgehend vom kulturellen Modell von Behinderung in den Disability Studies wird aus einer differenztheoretischen Perspektive Pluralität und Heterogenität diskutiert. Dies geschieht mit Fokus auf die Differenz der Differenz. Dabei geht es um theoretische, wie politische und pädagogische Zugänge in der Sozialen Arbeit, die Heterogenität, Pluralität und Vielfalt jenseits binärer Zuordnungen wie Mann/Frau, behindert/nicht-behindert oder Homo-/Heterosexualität ermöglichen bzw. bearbeiten. Im Anschluss an die kulturwissenschaftliche Ausrichtung der Disability Studies ist die Arbeit am Sozialen1 mit zweierlei Anforderungen konfrontiert: zum einen mit Forschungen, die herausarbeiten, wie durch Praktiken der Differenzierung Unterschiede entstehen, die einen Unterschied machen; zum anderen mit der Deutung dieser Diskussion im Zuge einer kritischen Gegenwartsdiagnostik. Hier meine ich

1

Mit dem Ausdruck der Arbeit am Sozialen meine ich eine spezifische Lesart bzw. spezifische Theorie von Sozialer Arbeit. Arbeit am Sozialen weißt in diesem Zusammenhang darauf, dass Soziale Arbeit immer Teil sozialer Formationen ist. Zum anderen bearbeitet Soziale Arbeit als konkrete Praxis jene sozialen Formationen. Schließlich betont der Ausdruck ein doppelt konstruktivistisches Verständnis von Sozialer Arbeit: Das Soziale ist ko-konstitutiv zur Sozialen Arbeit ebenso wie Praktiken von Sozialer Arbeit das Soziale erst hervorbringen, beispielsweise als behandlungsbedürftiges soziales Problem.

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die allgemeine Pluralisierung und zunehmende Ausdifferenzierung spätkapitalistischer Gesellschaften. Außerdem beziehe ich mich auf aktuelle Transformationsprozesse des Sozialen im Kontext neoliberaler Deregulierungen. Die Transformation wohlfahrtstaatlicher Arrangements in Richtung eines Sozialstaates, der nicht mehr primär versorgt, sondern aktiviert, ist ein Beispiel dafür. Im Zuge dessen findet hauptsächlich eine Neujustierung von Rechten und Pflichten, etwa zwischen dem behinderten Subjekt und dem Staat statt. Davon bleibt auch Soziale Arbeit nicht unberührt. Während der frühere Wohlfahrtsstaat den ›Klassenunterschied‹ bearbeitete, darin soziale Sicherungssysteme etablierte und demgemäß Technologien Sozialer Arbeit ausrichtete, werden nun soziale Belange zunehmend durch Aktivierungsprogramme vielfältigster Art umlagert (Cremer-Schäfer 2012; Kessl 2013). Es besteht die Gefahr, dass die soziale Frage damit nicht nur relativiert, sondern auch desartikuliert wird. Soziale Belange gelten zunehmend als ein Problem mangelnder Selbstaktivierung. Folgerichtig werden Soziale Arbeit und Sozialprogramme vermehrt auf die Selbstermächtigungskompetenzen und Eigenverantwortung von Betroffenen gerichtet. In diesem Sinne ist Soziale Arbeit als historisch spezifische, sozialstaatliche Regierungsweise zu begreifen bzw. als eine Thematisierungsform des Sozialen (Kessl 2013: 26), indem das Feld von Behinderung reguliert wird. Insbesondere die an Foucault anknüpfenden Gouvernementalitätsstudien ermöglichen es, die jeweiligen Formen und Praktiken der Arbeit am Sozialen im Kontext historisch variabler sozialpolitischer Regierungsrationalitäten und -technologien zu denken. Das Konzept der Gouvernementalität (Foucault 2004) beschreibt die neoliberale Umgestaltung des Staates bzw. der Gesellschaft, im Zuge derer der Imperativ der Selbstführung, des Selbstmanagements, der Selbstkontrolle und der Selbstregulation standardisiert wird. Gouvernementalität pointiert hierbei wechselnde Formen von Regierungshandeln. Anders gesagt: Ausdrucks- und Organisationsformen Sozialer Arbeit sind eingebunden in und Resultat von unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Arrangements und Praktiken, die als gouvernementale Regierungstechnologien zu dechiffrieren sind (ebd.). So wird das behinderte Subjekt in der Blüte des Wohlfahrtstaates bis in die 1980er Jahre hinein in (Groß-)Einrichtungen passiv versorgt. Das Leben und der Alltag von behinderten Personen sind durch diese Form der sozialarbeiterischen Ver-/Institutionalisierung von Behinderung standardisiert und normalisiert. Simultan mutiert das Feld von Behinderung zu einem Teilgebiet wohlfahrtsstaatlicher Arrangements, das überwiegend als Sozialleistungstransfer und Rehabilitationsmaßnahme gehandhabt wird. Hingegen kommt es gegenwärtig zu einer verstärkt neoliberal ausgerichteten Strukturierung des Sozialen (Bröckling 2008). Darin ist die Selbstaktivierung des Individuums sowohl die vorherrschende Regierungstechnologie als auch der vorherrschende Modus von Subjektivierung. Staatliche Sozialleistungen werden ge-

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kürzt oder neuartig angewendet. Hier sind etwa die zahlreichen privaten CareService-Anbieter_innen zu nennen, oder das Persönliche Budget. Insgesamt handelt es sich um sozialpolitische Konzepte, die von ihren Nutzer_innen oftmals eine hohe Selbststeuerungskompetenz erwarten und in diesem Sinne des aktivierenden Sozialstaats funktionieren. Aktiviert werden sollen die Selbstkompetenzen des Individuums, entlastet wird dabei der Sozialetat. Im Vordergrund steht die Herstellung von Beschäftigungsfähigkeit und Selbstermächtigung.

D IFFERENZ , S UBJEKT

UND

S OZIALE ARBEIT

Gegenüber herkömmlichen Ansätzen der Sozialen Arbeit, die auf einen HandlungsStruktur-Dualismus fokussieren (ebd.), möchte ich mit Bezug auf das kulturelle Modell von Behinderung und unter Verwendung des Intersektionalitätsgedankens Soziale Arbeit als organisierten Prozess der Subjektivierung beschreiben, in den Prozesse der Heterogenisierung gleichfalls eingelassen sind. Subjektivierung bezeichnet hier den ambivalenten Doppelcharakter von Unterwerfung und Subjektwerdung (Butler 1991). So betrachtet ist Soziale Arbeit sehr wohl eingebettet in die Durchsetzung genormter Lebensweisen, Körpernormen und deren Abweichung. Gleichwohl kann diese Grundstruktur Sozialer Arbeit, so Cremer-Schäfer, nur handelnd um- und durchgesetzt werden. Dies geschieht durch Interaktionen und mit Hilfe sozialer Akteur_innen (Cremer-Schäfer 2012: 135 f.). In der Arbeit am Sozialen wird aber auch das Soziale ko-konstitutiv bearbeitet. Auf diese Weise wird etwa das Feld der Behinderung als ein interventionsbedürftiges soziales ›Problem‹ konstruiert und organisiert. Gleichwohl bleibt in den Erörterungen zur Transformation des Sozialen der Zusammenhang von Subjektivierung, Selbstführung und Heterogenisierung marginal und wird eher selten hinsichtlich der Wechselwirkung von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht diskutiert. Anders gesagt: Differenztheoretische Aspekte in der Debatte um den Wandel wohlfahrtsstaatlicher Arrangements und der Arbeit am Sozialen sind bis heute Mangelware. Dies gilt auch für differenzsensible Ansätze in der Sozialen Arbeit (Schütte-Bäumer 2012). Allerdings sind unterschiedliche theoretische, wie politische oder pädagogische Konzepte und Praxen entwickelt worden, um Differenzen, mithin gesellschaftliche Differenzverhältnisse, zu problematisieren (Mecheril / Melter 2012). Als zentrale Grundlage schält sich die Frage nach dem ›richtigen‹ Umgang mit Differenz und Vielfalt heraus; das heißt, es geht um einen egalisierenden Umgang mit Differenzen gegenüber einer auf hierarchisierende Differenzproduktionen ausgerichteten Gegenwartsgesellschaft. Insofern sind Diskussionen um Heterogenität, Vielfalt, Differenz unentrinnbar mit Erfahrungen von struktureller Marginalisierung, Diskriminie-

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rung und Ausschluss verwoben (Giebeler et al. 2013). Mit Bezug auf die Verknüpfung von Disability Studies, Intersektionalität und Dominanzkultur erhält in diesem Zusammenhang die Frage nach der Relevanz von Mehrfachzugehörigkeit und Mehrfachunterdrückung sowie nach Differenzverhältnissen innerhalb des Feldes von Behinderung eine zunehmende Aufmerksamkeit und wird z.B. mit Blick auf das Verhältnis von Behinderung und Geschlecht in den feministischen und/oder queeren Disability Studies diskutiert (McRuer 2003; Garland-Thomson 2002). Grundsätzlich ist diese Debatte um Heterogenität, Intersektionalität und Dominanzkultur in den Disability Studies, in den Gender Studies und in den Sozialwissenschaften anschlussfähig für die Thematisierung von Sozialer Arbeit – und dies im doppelten Sinne: Einmal gilt es, Soziale Arbeit aus einer differenztheoretischen Perspektive wissenschaftlich zu erschließen. Zum anderen lassen sich in dieser Herangehensweise die Felder Sozialer Arbeit re-definieren – nämlich nicht mehr wie bisher entlang bestimmter Personengruppen oder Institutionen. Viel eher sind die Felder Sozialer Arbeit, etwa im Bereich von Behinderung und aus Sicht der Disability Studies, als soziale Kampf- und Aushandlungszonen von Differenz und Ungleichheit zu verstehen (Giebeler et al. 2013: 22). Mit Schütte-Bäumer (2012: 177212) formuliert: Behinderung bzw. Krankheit im Feld der Sozialen Arbeit kann als Herstellungspraktik spezifischer Identitäts- und Subjektivierungsformen beschrieben werden. In diesem Setting werden dominante Normen verhandelt, hergestellt und/oder verworfen (ebd.). Kritisch gilt indes anzumerken, dass bislang die Forschung zu Behinderung in der Arbeit am Sozialen die entscheidenden Diskurse der Disability Studies und der kulturwissenschaftlichen bzw. differenztheoretischen Wissenschaftsstränge übergeht. Die Janusköpfigkeit von Sozialer Arbeit wird damit potentiell entthematisiert. Dies betrifft etwa die Bestimmung von Professionalität in sozialen Berufen und deren Spannungsverhältnis von Aufrichten und Zurichten, Ermächtigung und Bemächtigung, von Hilfe zur Selbsthilfe und Techniken der gouvernementalen Regierung des Selbst (Bröckling 2008). In diesem Sinne tendieren Ansätze von Sozialer Arbeit in der wissenschaftlichen Behinderungsforschung zu einer Individualisierung sozialer Problemlagen. Behindertenfeindlichkeit, Homophobie, Misogynie oder Sexismus und Rassismus mutieren zu einem pädagogisch-therapeutischen Problem; die darin zutage tretenden Machtverhältnisse werden hingegen nicht offengelegt (Rathgeb 2014: 46). Für die Soziale Arbeit sind diese Diskussionen und Forschungen insofern bedeutsam, weil Praxen der Unterscheidung, Zuschreibung und Klassifizierung konstitutiv sind. Soziale Arbeit stellt folglich ein Handlungsfeld dar, welches – im Vergangenen wie im Gegenwärtigen – durch wechselnde Fokussierungen von Differenz geprägt ist. Nicht zuletzt erhält Soziale Arbeit dadurch ihre Legitimation, so Mecheril / Melter (2012: 264), indem Differenz und Andersheit als behandlungsbedürftiges Interventionsfeld angesehen werden. Für die Disability Studies bedeutet

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dies, dass Soziale Arbeit im Spannungsfeld von Handlungsmächtigkeit, im Sinne partizipatorischer, inklusiver Ermöglichung und einer gouvernementalen Normierungs- und Normalisierungstechnologie angesiedelt ist (ebd.). Das Verhältnis zwischen Disability Studies, der Arbeit am Sozialen und der Frage nach den Bedingungen gesellschaftlicher Differenzproduktionen, mithin von Behinderung in einer Dominanzkultur, kann somit in Anlehnung an Kessl / Maurer (2012) als analytische Grenzbearbeitung gefasst werden – als Tätigkeit an den Grenzen des sozial Intelligiblen und als dessen Neugestaltung. Ein solcher Ansatz ist zudem in der Lage, Differenzverhältnisse im Feld von Behinderung auch theoretisch einzubeziehen und damit der behinderungsübergreifenden Ausrichtung der Disability Studies gerecht zu werden. Prägend für Soziale Arbeit in den Disability Studies ist folglich, den Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der Vielfalt von Behinderung Rechnung zu tragen und die Binarität von behindert/nicht-behindert als System zu hinterfragen bzw. zu dekonstruieren.

ARBEIT AM S OZIALEN UND P OLITIKEN UND P RAXEN

DIE

D ISABILITY S TUDIES :

Der Körper kommt hierbei insofern ins Spiel, als dass nicht nur ›Behinderung‹ und ›Krankheit‹ traditionell über die normative Anatomie eines angeblich pathologischen Körpers definiert wird. Vielmehr ist auch die Etablierung des Sozialen mit Praktiken verbunden, die Körper normalisieren, disziplinieren oder als ›deviant‹ markieren (Kessl 2013). Dies geschieht nicht zuletzt durch verkörperte Praktiken in der Arbeit am Sozialen, denn die Produktion von soziokultureller Differenz geht mit der Konstruktion differenter Körper einher. Insofern kommt dem Körper für soziokulturelle Ein- und Ausschließungsprozesse große Bedeutung zu. Mit Bezug auf die Disability Studies und einem daran anknüpfenden Verständnis von der Arbeit am Sozialen scheint mir der Begriff Embodiment (Turner 2001) diesbezüglich zentral und hilfreich. Der Terminus erlaubt es, den Körper in actu zu untersuchen, und damit auch Verkörperungsprozesse von Behinderung in der Arbeit am Sozialen in den Blick zu bekommen. Entsprechend kann die Analyse verkörperter Praktiken in der Sozialen Arbeit als ein Moment der De/Konstruktion von Behinderung verstanden werden. Diese Vorgehensweise knüpft an das kulturelle Modell in den Disability Studies an, welches Behinderung als soziokulturelle Problematisierungsweise verkörperter Differenz versteht und körperliche Praktiken als Materialisierungen gesellschaftlicher Machtverhältnisse wahrnimmt. Eine intersektionale Perspektive erlaubt in diesem Zusammenhang, mögliche Ungleichzeitigkeiten in den Deutungsmustern, Anrufungen und verkörperten Praktiken der Fachkräfte und Adressat_innen in der Sozialen

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Arbeit ausfindig zu machen, etwa im Falle von Personen, die von Mehrfachbenachteiligung betroffen sind. Es geht um verkörperte Grenzbearbeitungen entlang von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht in der Arbeit am Sozialen (Schütte-Bäumer 2012: 205). Intersektionalität wirkt hier im produktiven Sinne verstörend auf herkömmliche Kategorisierungen, Formen der Subjektivierung und etablierte Muster von Etikettierungen der Betroffenen in der Sozialen Arbeit. Wesentlich sind in diesem Zusammenhang Gesellschaftsbilder des Sozialen (Repräsentationen) und deren Kritik. Nicht nur in den Disability Studies stellen kulturelle Repräsentationen von körperlicher Differenz ein gewichtiges Untersuchungsfeld dar. Repräsentationen werden in den Disability Studies als ein spezifischer Modus der Vergesellschaftung diskutiert. Sie sind als Teil eines doing differences, mithin eines embodying disability zu begreifen. Dementsprechend eignet sich die Analyse von Körperrepräsentationen besonders zur Analyse von Dominanzkultur entlang von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht, Rassismus und Migration. Desgleichen ist differenzsensible Soziale Arbeit mit wirkmächtigen kulturellen Repräsentationen von Verschiedenheit konfrontiert und durch diese beeinflusst (ebd.: 204). Mit Blick auf kulturelle Repräsentationen von behinderten Menschen lässt sich darüber hinaus fragen, welches Körperwissen und welche Körperpraktiken gegenwärtig in Praktiken der Arbeit am Sozialen angerufen werden. Körper bzw. Körperpraktiken fungieren hier als Ort und als Ausgangspunkt potentieller Interventionsmöglichkeiten in der Arbeit am Sozialen. Soziale Arbeit deutet in diesem Zusammenhang weniger auf ein Spannungsverhältnis von Theorie und Praxis hin, sondern, in Analogie zu Schütte-Bäumer (ebd.), auf ein stetiges Ringen um intelligible Körper, Subjektpositionen, Sichtbarkeiten und Partizipationsmöglichkeiten. Bezogen auf eine intersektionale Behinderungsforschung im Feld Sozialer Arbeit und aus Sicht der Disability Studies bedeutet dies methodologisch, von den Praxen der Subjekte auszugehen. Alltagshandlungen, Wissensbestände und das Körperwissen von Akteur_innen im Feld der Sozialen Arbeit sind in den Disability Studies daher besonders relevant, weil auf diese Weise Möglichkeiten von Agency (Handlungsmacht) herausgearbeitet und in entsprechende Praxismodelle übersetzt werden können. Insofern stehen verkörperte Praktiken in ihrer intersektionalen Verquickung im Vordergrund. Der Beitrag der Intersektionalitätsforschung besteht in diesem Fall darin, Differenzen und Prozesse der Heterogenisierung – etwa im Feld von Behinderung – adäquat in Forschung und Praxis von Sozialer Arbeit einzubeziehen. Daneben wird es mit der konstruktivistischen Sichtweise auf Behinderung im kulturellen Modell der Disability Studies möglich, Praktiken in der Arbeit am Sozialen als Problematisierungsweisen körperlicher Differenz zu durchleuchten.

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Prävention von Rechtsextremismus unter Berücksichtigung von Genderperspektiven Heike Radvan

Rechtsextreme1 Ideologien und Alltagspraxen sind in hohem Maße vergeschlechtlicht. In der Bildsprache politisch rechter Gruppierungen dokumentieren sich martialische, gewaltbereite Männlichkeiten einerseits und auf Mütterlichkeit und Häuslichkeit gerichtete Weiblichkeiten andererseits. Auch wenn entsprechende Zusammenhänge auf den ersten Blick naheliegen, sind Fachdebatten und öffentliche Diskurse hierzu vergleichsweise jung. So kritisieren Christine Holzkamp und Birgit Rommelspacher bereits 1991, dass Analysen zum Rechtsextremismus das Geschlecht der Akteur_innen fast vollständig ignorieren (dies. 1991: 33). Während Anfang der 1990er Jahre im Anschluss an die westdeutsche Frauenbewegung die Frage nach der Beteiligung von Frauen in rechtsextremen Gruppierungen aufgeworfen wird und hierzu mittlerweile diverse Publikationen vorliegen,2 beginnen Forschungen zu den Zusammenhängen zwischen Männlichkeitsvorstellungen und rechtsextremen Orientierungen umfassender erst eine Dekade später (vgl. dazu Claus / Lehnert / Müller 2010). In den vergangenen Jahren wird eine Ausdifferenzierung von Funktionen und Rollen beschrieben, die Frauen im Rechtsextremismus einnehmen können. Obwohl patriarchal geprägte Geschlechterrollen nach wie vor dominieren, sind in den All1

Bislang ist der Begriff Rechtsextremismus im Fachdiskurs nicht konsensual geklärt. In der Verwendung ergeben sich u.a. Probleme durch die Bearbeitung verschiedener politischer Phänomene unter einem Extremismusverständnis. Im Artikel verwende ich den Begriff dennoch, da bislang keine angemessenen Alternativen bestehen. Zur Kritik vgl. z.B. Radvan 2013: 12 ff.; Butterwegge 2011; Stuve 2014.

2

Für den Zeitraum zwischen 1992 und 2004 vgl. die Übersicht in: Antifaschistisches Frauennetzwerk 2005: 137 ff. Für den Zeitraum ab 2005 vgl. Birsl 2011: 11-16 und Radvan 2013: 20 f.

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tagspraxen rechter Gruppen Modernisierungen auszumachen. Zu erkennen ist zudem, dass rechtsextreme Frauen gesamtgesellschaftlich vorherrschende Geschlechterbilder strategisch nutzen, um z.B. als vermeintlich unpolitische Frau in der Nachbarschaft ihre Ideologie unerkannt verbreiten zu können.3 Im vorliegenden Artikel geht es um die Frage, welche Argumente für eine geschlechterreflektierende Rechtsextremismusprävention sprechen und wie diese gestaltet werden kann. Bereits 1995 verweist Birgit Rommelspacher auf diesbezüglichen Forschungsbedarf und die Notwendigkeit, präventive Ansätze unter anderem auch aus der Perspektive von Geschlecht zu entwickeln (dies. 1995: 76). Doch hat sich hier auch mehrere Jahre später wenig verändert, sodass Andrea Pingel und Peter Rieker 2002 von einem Mangel an geschlechterreflektierenden Ansätzen in der Rechtsextremismusprävention sprechen (dies. 2002: 52). In der vergangenen Dekade beginnt – unter anderem im Kontext einer veränderten Förderpraxis auf Bundesebene – eine Entwicklung. So gibt es in der Praxis durchaus einige Expert_innen, die sich diesen Ansätzen und ihrer Umsetzung fundiert widmen bzw. die Möglichkeiten dazu haben.4 Auch im Fachdiskurs liegen diverse Veröffentlichungen vor, in denen Fragen der Rechtsextremismusprävention konsequent mit Geschlechterperspektiven zusammengedacht werden.5 Langsam beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass eine geschlechterreflektierende Perspektive selbstverständlicher Teil der fachlichen Standards in der Prävention der Jugendarbeit sein sollte. Dennoch sind viele Fachkräfte herausgefordert und suchen nach Antworten für ihre alltägliche Arbeit. Zudem werden Fragen zur Arbeit mit der Zielgruppe rechtsextrem orientierter Jugendlicher diskutiert, die bereits in den 1990er Jahren debattiert wurden. Auch in diesem Bereich – so das Plädoyer des Artikels – ist eine geschlechterreflektierende Perspektive sinnvoll, um die Ziele sozialpädagogischen Handelns angemessen verfolgen zu können. Im Artikel werden diese Fragen theoretisch beleuchtet und praxisbezogene Antworten formuliert. Zunächst werden mögliche Funktionen der Kategorie Geschlecht im modernen Rechtsextremismus aufgezeigt und der Begriff ›Rechtsextremismusprävention‹ diskutiert.

3

Zur Instrumentalisierung der Bilder von der ›friedfertigen‹ und ›unpolitischen‹ Frau durch Rechtsextreme vgl. Fachstelle Gender und Rechtsextremismus 2014; zur Instrumentalisierung des Themas sexueller Missbrauch vgl. dies. 2013.

4

Zu entsprechenden Ansätzen in der Arbeit mit rechtsextrem Orientierten vgl. Vaja e.V., einsehbar unter www.vaja-bremen.de (Stand 28.02.2015); Miteinander 2014.

5

Vgl. die Übersicht zum Forschungsstand geschlechterreflektierender Prävention in der Mädchen- und Jungenarbeit in Radvan 2013: 22 f. sowie aktuell Debus / Laumann 2014; Hechler 2014; Radvan / Lehnert 2014.

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Z UR F UNKTION VON G ESCHLECHT IM MODERNEN R ECHTSEXTREMISMUS Innerhalb rechtsextremer Lebenswelten spielen Geschlechterkonstruktionen eine signifikante Rolle. Hierin unterscheiden sich rechte Gruppierungen nicht grundsätzlich von jenen der Mehrheitsgesellschaft; auch hier wird Geschlecht eine strukturierende Funktion zugewiesen. Vielmehr zeigen sich Überschneidungen und Anschlussmöglichkeiten. Im Konstrukt der ›deutschen Volksgemeinschaft‹ übernimmt die Geschlechterideologie mit den dominanten Bildern vom ›deutschen Mann‹ und der ›deutschen Mutter‹ eine ordnende und orientierende Funktion (Lehnert 2010: 90). Ohne die starre, biologistische Geschlechterkonstruktion und die Orientierung an traditionellen Geschlechterrollen würde der Rechtsextremismus nicht ohne weiteres funktionieren. Auch wenn sich Vorstellungen über Geschlechterverhältnisse im modernisierten Rechtsextremismus ausdifferenziert haben, dominiert in einer rassistischen und völkischen Ideologie dennoch ein differenztheoretisches Modell. So wird von biologischen Unterschieden zwischen Frauen und Männern ausgegangen, Eigenschaften und Verhalten werden geschlechtsspezifisch erklärt, soziale Räume und Positionen entsprechend zugeordnet. Zwar lassen sich auch hier Überschneidungen mit Vorstellungen in der Mehrheitsgesellschaft ausmachen, jedoch zeigt sich das Spezifische an der Unveränderbarkeit und Rigidität der Zuschreibungen: ›Mann-Sein‹ wird in erster Linie mit Attributen von soldatischer Härte, körperlicher Tüchtigkeit, Gewaltbereitschaft und dem Agieren in der Gesellschaft verbunden, ›Frau-Sein‹ mit Fürsorglichkeit, Anpassungsbereitschaft und dem Bild einer sich um Haus und Kinder sorgenden Mutter. Dieser ›weibliche Bereich‹ ist jedoch nicht entpolitisiert; auch das Privatleben ist dem ›Kampf für die Volksgemeinschaft‹ untergeordnet. Rechtsextreme Gruppierungen lehnen das Verständnis von Geschlecht als sozial konstruiert ab. Die massive Ablehnung, die in Kampagnen gegen Gender Mainstreaming oder die Einrichtung von Gender Studies deutlich wird (Lang 2013), dokumentiert insofern auch die Angst, durch ›Neuordnungen‹ der Geschlechterverhältnisse den Zusammenhalt in der ›Gemeinschaft‹ zu verlieren. Aktuell lässt sich eine Ausdifferenzierung geschlechterbezogener Vorstellungen unter rechtsextremen Frauen feststellen (vgl. Bitzan 2011). Neben traditionellen Orientierungen an Mutterrolle und Familie finden sich ›modernisierte‹ Lebensentwürfe, in denen sich diese neben der häuslichen Sphäre selbstverständlich in den öffentlichen Bereich der Politik einbringen. Mädchen und Frauen besetzen innerhalb rechtsextremer Szenen heute die verschiedensten Positionen. Im Vergleich zu den Weiblichkeitsvorstellungen im aktuellen Rechtsextremismus lässt sich Männlichkeit auf den ersten Blick eindeutiger als traditionell beschreiben. Im Vordergrund stehen assoziierte Eigenschaften wie soldatisch, kampf- und gewaltbereit und ideologische Orientierungen an »Arbeit, Familie, Vaterland«, deren zentrale Be-

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standteile Rassismus und Antisemitismus, Homophobie und Sexismus sind (Claus et al. 2010: 15). Dennoch lässt sich das Männlichkeitsbild nicht als homogen beschreiben: Im Spektrum zwischen gewaltbereitem Neonazismus und biederer Neuer Rechter finden sich unterschiedliche Ausprägungen von bürgerlichen bis proletarischen Männlichkeiten (ebd.). Was lässt sich hieraus für die Prävention lernen und welche Handlungsoptionen können sich für Fachkräfte der Jugendarbeit mit einem geschlechterreflektierenden Blick eröffnen?

Z UM B EGRIFF ›R ECHTSEXTREMISMUSPRÄVENTION ‹ In der Rechtsextremismusprävention6 wird unterschieden zwischen Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention (Rieker 2009: 12 ff.). Unter primärer Prävention wird das Verhindern problematischer Handlungsweisen im Vorfeld verstanden. In der schulischen und außerschulischen Bildung werden Teilnehmende deshalb für demokratische Einstellungen sensibilisiert und dahingehend gestärkt, Diskriminierungen zu erkennen, zu kritisieren und sich für die Gleichwertigkeit aller einzusetzen. In der Praxis werden hier z.B. Ansätze der Diversity-, Menschenrechts- und Demokratiepädagogik angewendet.7 Mit sekundärer Prävention sind Ansätze gemeint, die eine Verstärkung bereits bestehender problematischer Einstellungen und Handlungsweisen zu verhindern suchen, wie z.B. Ansätze in der Arbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen. Für die Arbeit mit dieser Zielgruppe liegen erste Grundlagen und fachliche Standards für das Handeln der Professionellen vor. Hierzu zählen eine Orientierung an demokratischen und menschenrechtlichen Positionen, fundiertes Wissen über den modernen Rechtsextremismus, eine von Anerkennung geprägte Beziehungsarbeit sowie selbstreflexive Haltung (VDK 2006: 80-87; AK geschlechterreflektierende Rechtsextremismusprävention 2013). Wichtig ist es, aufmerksam gegenüber Signalen zu sein, die auf politisch rechte Einstellungen deuten, und um geschlechtsspezifische Motive für eine Hinwendung zu rechten Szenen zu wissen (Klose / Lehnert 2009: 27). Ein Schwerpunkt der fachlichen Standards in der Präventionsarbeit mit

6

Grundsätzlich richtet sich die Präventionsarbeit an alle Altersgruppen und Menschen verschiedener Milieus. Da es sich, wie u.a. die Ergebnisse der Einstellungsforschung zeigen, bei Rechtsextremismus nicht um ein spezielles Jugendphänomen handelt, lässt sich eine – nicht selten von Politik formulierte – ausschließliche Fokussierung auf die pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen als eine verkürzte Antwort auf ein komplexes Problem kritisieren. Dementsprechend hat sich seit ca. 2000 der Fokus entsprechender Programme erweitert.

7

Vgl. die Übersicht und Kritik in Hormel / Scherr 2005: 203-274.

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rechtsextrem orientierten Jugendlichen beinhaltet die Forderung, in Gruppenkontexten zwischen ›Sympathisant_innen‹ und ›Mitläufer_innen‹ der rechtsextremen Szene sowie ›Kadern‹ und ›Aktivist_innen‹ zu unterscheiden und letztere aus Gruppenangeboten zu lösen. Tertiäre Prävention reagiert auf bereits manifeste Handlungen. Hier wird mit Personen gearbeitet, die Teil rechtsextremer Gruppierungen waren oder nach wie vor sind. Ziel ist eine Auseinandersetzung und Distanzierung von den damit verbundenen Meinungen und Positionen. Ansätze in der Einzelfallhilfe oder in Einrichtungen des Justizvollzuges arbeiten oft mit Anti-Gewalt- und Anti-Aggressionstrainings.8

Z UR G EFAHR DER ARBEIT MIT ›K ADERN ‹ UND ›AKTIVIST _ INNEN ‹ IN G RUPPENKONTEXTEN In der Arbeit mit der Zielgruppe rechtsextrem Orientierter in Einrichtungen der offenen Jugendarbeit gilt es, neben weiteren Anforderungen, in Gruppenkontexten zwischen ›Sympathisant_innen‹ und ›Mitläufer_innen‹ sowie ›Kadern‹ und ›Aktivist_innen‹ zu unterscheiden. Diese Unterscheidung bezieht sich auf den Grad der Ausprägung von Einstellungen; sie dient dazu herauszufinden, wie überzeugend Jugendliche rechtsextreme Argumentationen vertreten und wie stark sie in entsprechende Gruppen eingebunden sind. Wird ein weitgehend geschlossenes Weltbild vertreten oder ist eine Offenheit für Irritationen und Infragestellungen (noch) vorhanden? Erste Gespräche mit einzelnen Jugendlichen können Anhaltspunkte liefern, jedoch ermöglicht erst eine langfristige Arbeit eine genauere Einschätzung. Die Erfahrungen zeigen, dass ›Kader‹ und ›Aktivist_innen‹ über ein derzeit weitgehend geschlossenes rechtsextremes Weltbild verfügen und in der offenen Jugendarbeit versuchen, andere Teilnehmende für ihre Ideologie zu gewinnen und an rechte Cliquen zu binden.9 Für Sozialpädagog_innen ist es oft schwierig, Jugendliche in Gruppenangeboten zu erreichen, die auch von ›Kadern‹ genutzt werden.

8

Zu Ansätzen der Konfrontationspädagogik, insbesondere zum Anti-Aggressivitätstraining

9

Diese Fragen werden diskutiert, seit in den 1990er Jahren der Ansatz der akzeptierenden

vgl. u.a. Weidner / Kilb 2004. Zur Kritik vgl. Scherr 2002. Jugendarbeit in den Neuen Bundesländern angewandt wurde. Im Zusammenhang mit häufig wechselndem und gering ausgebildetem Personal und einer Alltagskultur, die zum Teil mit rechtsextremen Positionen übereinstimmte, nutzten und dominierten rechte Gruppierungen Jugendeinrichtungen für ihre politischen Aktivitäten, verdrängten nichtrechte Jugendliche und etablierten ein Klima der Bedrohung und Gewalt gegenüber Personen, die sie als Feinde wahrnahmen.

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Der Versuch, politisch rechte Meinungen zu problematisieren und zu irritieren, kann in derartigen Zusammenhängen meist nur von begrenzter Wirkung sein. Vielmehr besteht die Gefahr, dass ›Kader‹ andere Jugendliche auf der peer-Ebene wirksam erreichen. Vor diesem Hintergrund wird gefordert, ›Kader‹ und ›Aktivist_innen‹ von der Gruppe zu lösen und mit ihnen nicht länger in Gruppenangeboten zu arbeiten. In der Praxis ruft dies – in der Vergangenheit, aber auch aktuell – häufig Widerspruch hervor. Fachkräfte fühlen sich verantwortlich und als Ansprechpartner_innen für Jugendliche, die sonst niemand mehr erreichen würde. Ebenso wird die Offenheit der Angebote für alle Jugendlichen als Argument gegen einen Ausschluss Einzelner benannt und die Wirksamkeit der Beziehungsarbeit betont. Hier ist es notwendig, Diskussionen über die fachlichen Standards zu führen und Gruppenprozesse fallbezogen zu diskutieren. Ein Ausschluss der betreffenden Personen aus der Gruppe bedeutet nicht, die Arbeit vollständig zu beenden. Mit diesen Personen kann eine ausstiegsorientierte Arbeit in der Einzelfallhilfe durchaus sinnvoll sein und erfolgreich verlaufen. Dies setzt entsprechende Ressourcen und fachliche Kompetenzen voraus. Ebenso ist zu bedenken, dass Jugendarbeit den Auftrag hat, Angebote für alle Jugendlichen zu ermöglichen. Wird die Aufmerksamkeit ausschließlich auf diejenigen gerichtet, die ein Jugendzentrum dominieren, so wird dieser Auftrag unterlaufen. Opfer rechter Gewalt bleiben unbeachtet, sie suchen diese Orte aufgrund von Gewalt und Bedrohung nicht (mehr) auf. Daher ist es notwendig, demokratisch orientierte Jugend- und Alltagskulturen zu stärken, die den Schutz von Minderheiten gewährleisten, Vielfalt ermöglichen und rassistischen Positionen entgegentreten. Hierauf wird bereits in der Evaluation des Bundesprogramms CIVITAS verwiesen, mit dem von 2002-2007 schwerpunktmäßig demokratische Initiativen gefördert und gestärkt wurden: Neonazistische Gruppen verlieren an Einfluss und Dominanz, wenn es eine Gegenkultur gibt, die demokratische Standards im Alltag sichert (Rommelspacher et al. 2003). Hier zeigt sich ein Paradigmenwechsel: Der Fokus liegt nicht mehr (ausschließlich) auf Täter_innen rechter Gewalt und rechtsextrem orientierten Jugendlichen. Aus sozialpädagogischer Perspektive ist es sinnvoll, mit ›Sympathisant_innen‹ und ›Mitläufer_innen‹ in Gruppenkontexten zu arbeiten. Sie sind für alternative Meinungen und Weltbilder durchaus erreichbar. Wenn in der Beziehungsarbeit problematische Positionen infrage gestellt werden, können sich diese Jugendlichen – auf längere Sicht – von einem Einstiegsprozess in rechte Szenen distanzieren. Hierbei ist es unter anderem wichtig, geschlechtsspezifische Orientierungen zu berücksichtigen: Was motiviert Mädchen und Jungen jeweils, in die rechte Szene einzusteigen? Welche Rolle spielt z.B. eine Orientierung an hegemonialen Männlichkeiten? Welche Funktionen, welche möglichen Aufwertungen gegenüber ›Anderen‹ sind damit verbunden? Für Fachkräfte ist es wichtig, diese Zusammenhänge zu erkennen und zu nutzen, um Jugendlichen alternative Antworten aufzuzeigen. Neben

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einer beobachtenden und analytischen Haltung bedarf es dabei zu allererst auch einer selbstreflexiven Haltung: Wenn sich Sozialarbeiter_innen unhinterfragt selbst an Dominanzvorstellungen orientieren oder mit Männlichkeitspraxen sympathisieren, die als hegemonial oder auch gewaltförmig bezeichnet werden können, oder diese (vor-)leben, ist es schwierig, Jugendliche in ihren Handlungspraxen zu irritieren und Alternativen anzubieten.

W AS IST GEMEINT MIT › GESCHLECHTERREFLEKTIERENDER R ECHTSEXTREMISMUSPRÄVENTION ‹? Ganz allgemein lässt sich unterscheiden zwischen geschlechterdeterminierenden und geschlechterreflektierenden Vorgehensweisen. Während erstere individuelle Entwicklungsmöglichkeiten eingrenzen, indem sie die Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit festschreiben und damit gesellschaftlich bestehende Ungleichheiten manifestieren, berücksichtigen letztere das historische und individuelle Gewordensein von Geschlecht. Im Sinne des undoing gender ist eine Haltung gemeint, mit der die Zuschreibungen und Einschränkungen stereotyper Geschlechterrollen wahrgenommen und infragegestellt sowie Alternativen aufgezeigt werden. Aus sozialpädagogischer Sicht ist dabei der Blick auf die Funktion relevant: Welche Funktion übernehmen geschlechterbezogene Orientierungen? Was hat der_die Einzelne davon, sich als männlich oder weiblich mit bestimmten sozialen Kodes und Verhaltensweisen zu inszenieren? Lösen sich Fachkräfte von binären Festschreibungen, so können sie Handlungsoptionen im Alltag erkennen und aufzeigen. Kinder und Jugendliche erhalten Freiräume, individualisierte Rollenvorstellungen und Orientierungen zu entwickeln und zu leben: Dies ist zu allererst eine demokratiepädagogische Herangehensweise; Vielfalt und Individualität stehen rechtsextremen Vorstellungen diametral entgegen. Die Erfahrungen im Alltag zeigen, dass bereits kleine Veränderungen sehr wirksam sein können. Neben ersten Schritten geht es jedoch auch um die Auseinandersetzung damit, welche Gefahren gegeben sind, wenn die beschriebenen fachlichen Standards und die Kategorie Geschlecht in der Prävention unberücksichtigt bleiben. Die Gefahr der Reproduktion hegemonialer Männlichkeiten Inwiefern eine Reflektion von geschlechtsbezogenen Orientierungen für die Präventionsarbeit unabdingbar ist, zeigen die Erfahrungen der vergangenen Jahre. Im Bundesprogramm »Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt«, bezog sich die Mehrzahl der zwischen 1992 und 1996 finanzierten Angebote zwar auf Jungen und männliche Jugendliche, jedoch blieb dabei die Relevanz von Geschlecht weitge-

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hend unreflektiert. Jugendarbeit galt zumeist unhinterfragt als Jungenarbeit. Hier zeigt sich in besonderer Weise die Notwendigkeit, Angebote der Jugendarbeit grundsätzlich in Bezug auf die jeweilige(n) Zielgruppe(n) geschlechterreflektierend zu konzipieren. Probleme werden deutlich, wenn traditionelle Männlichkeitsbilder unhinterfragt vermittelt werden und Angebote vordergründige Orientierungen an körperlicher Stärke, Überlegenheit und Härte beinhalten. Beispielhaft zeigt sich dies in Kampfsportangeboten, die sich oft an männliche Jugendliche richten. Es geht an dieser Stelle nicht um das grundsätzliche Infragestellen von Kampfsport: Dieser kann verschieden trainiert werden und – als Selbstverteidigung oder in Kombination mit Körperarbeit – durchaus wirksam Emanzipationsprozesse und ein positives Selbstbild von Teilnehmenden mit verschiedenen Zugehörigkeiten stärken, also auch von Mädchen und Frauen oder Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Die Kritik zielt vielmehr auf solche Angebote, in denen es zentral um Wettbewerb und Sieg, Härte und Dominanz geht. Es stellt sich die Frage, ob ein solches Kampfsportverständnis geeignet ist, Jugendliche bei einer Distanzierung von rechten Orientierungen zu unterstützen oder ob die Gefahr einer Reproduktion von Alltagspraxen besteht, die anschlussfähig an in rechtsextremen Szenen und Subkulturen dominierende Männlichkeitsbilder und Körperkulte sind. Wie notwendig es ist, diese – vermeintlich auf den ersten Blick sehr einleuchtenden Argumente – in der Praxis breiter zu diskutieren, zeigt ein Vorfall aus dem Jahr 2012. Ein Verein arbeitete mit rechtsextrem orientierten männlichen Jugendlichen, Angebote wurden unter anderem von einem männlichen Studierenden der Sozialen Arbeit durchgeführt. Dieser war in mehreren sozialen Einrichtungen tätig und als Anti-Aggressionstrainer ausgebildet. Gleichzeitig war er aktiver Kickboxer und Europameister. Über den Sport war er freundschaftlich verbunden mit Personen, die für rechtsextreme Straf- und Gewalttaten verantwortlich waren; 2011 akzeptierte er eine Geldstrafe und umging damit ein Verfahren wegen Volksverhetzung.10 An dieser Stelle ist zu fragen, welche Gründe für eine diesbezügliche Zusammenarbeit in einer pädagogischen Einrichtung generell sprechen, insbesondere mit der Zielgruppe rechtsextrem Orientierter. Ein erstes Problem wird deutlich, wenn von Fachkräften behauptet wird, eine Person im ähnlichen Alter und mit ähnlichen Interessen wie die Zielgruppe erreiche diese sehr viel besser als langjährige, ältere Kolleg_innen. Gerade weil es hier nicht um die Einschätzung der politischen Orientierungen eines jugendlichen Besuchers geht sondern um die Zusammenarbeit mit einem im pädagogischen Bereich tätigen Erwachsenen, zeigt sich die Bedeutsamkeit der eingangs benannten Anforderungen in der Wahrnehmung politisch rechter Orientierungen und der Entwicklung einer Haltung dazu. Erst nach längerer 10 www.gender-und-rechtsextremismus.de/w/files/pdfs/stellungnahme-ak-geschlechterreflek tierende-rechtsextremismuspraevention-06_2013.pdf (Stand: 18.02.2015).

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Auseinandersetzung und öffentlicher Thematisierung beendet der Verein die Zusammenarbeit. Die sozialpädagogische Arbeit mit rechtsextrem Orientierten zielt darauf ab, Jugendliche darin zu stärken, sich nicht weiter in die Neonazi-Szene hinein zu begeben. Fachkräfte müssen also neonazistische Positionen erkennen und hinterfragen. Sind diese selbst in rechtsextreme Haltungen oder Gruppierungen verstrickt, steht das den fachlichen Anforderungen entgegen. Mit den Einstellungen und Haltungen betrifft dies im Sinne habituellen Handelns auch die Frage der im Alltag vorgelebten Männlichkeitspraxen. Das Versprechen von Überlegenheit und körperlicher Stärke stellt für viele männliche Jugendliche ein wichtiges Einstiegsmotiv in rechte Szenen dar. Einer nachhaltigen, geschlechtersensiblen Rechtsextremismusprävention widerspricht jedoch das Einüben in hegemoniale Männlichkeitsentwürfe. Vielmehr ist eine kritische Auseinandersetzung mit Dominanz, Gewalt und mit diskriminierenden Einstellungen und Handlungsweisen unabdingbar. So ist es sinnvoll, Jungen die Möglichkeit zu eröffnen, sich dominanten Männlichkeitsanforderungen zu entziehen und Alternativen hierzu erfahrbar und erlebbar zu machen (Stuve / Debus 2013). Jungen, die traditionellen Vorstellungen von Männlichkeit nicht entsprechen, sollten gestärkt und gegebenenfalls auch gegen entsprechende Anforderungen von peers geschützt werden. Für die konkrete Praxis kann dies bedeuten, dass wettbewerbsorientierte (sportliche) Spiele kritisch beobachtet werden: Wie werden hier Dominanz und Ausschlüsse hergestellt und welche Rolle spielt dabei gewalttätiges Handeln? Die doppelte Unsichtbarkeit von Frauen In der offenen Jugendarbeit werden junge Frauen mit ihren politischen Äußerungen und Positionen von Fachkräften häufig nur ungenau wahrgenommen. Aufmerksamkeit erfahren in vielen Fällen diejenigen jungen Männer, die sich auf bestimmte Art und Weise – inhaltlich direkt und akustisch laut – artikulieren und inszenieren. Dieser eingeschränkten Wahrnehmung entspricht das Stereotyp, Mädchen und Frauen würden sich seltener politisch äußern bzw. eine Meinung bilden. Die Bildungsforschung und die feministische Mädchenarbeit zeigen jedoch, dass Mädchen und Frauen ebenso wie Jungen und Männer politische Meinungen entwickeln, diese allerdings häufiger auf andere Art und Weise artikulieren. Michaela Köttig (2004) belegt sehr anschaulich, wie Sozialpädagog_innen die Meinungsäußerungen von Mädchen in einer gemischtgeschlechtlichen rechtsextremen Clique aus dem Blick verlieren. Oft wird die Position vertreten, männliche Cliquenmitglieder seien politisch überzeugt, Mädchen hingegen eher unpolitisch. Bei genauerer Betrachtung stellt sich aber oft heraus, dass rechtsextrem orientierte Mädchen und junge Frauen sehr dezidierte Meinungen vertreten und diese im Sinne von Überzeugungen durchaus nachdrücklich präsentieren (ebd.). Dennoch bleiben

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sie mit ihren politischen Äußerungen oft unerkannt. In diesem Zusammenhang wird von ›doppelter Unsichtbarkeit‹ gesprochen. Exemplarisch zeigt sich dies an der medialen Darstellung von Beate Zschäpe. Mit der Debatte um die rechtsterroristische Gruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« im Herbst 2011 richtete sich der Blick auch auf die Rolle rechtsextremer Frauen. Die Angeklagte, mutmaßlich mitverantwortlich für die Morde und Straftaten der Gruppe, wird in vielen Medienberichten zu Beginn der Debatte primär als unpolitische Partnerin gezeichnet (vgl. Forschungsnetzwerk Frauen und Rechtsextremismus 2011). Die Darstellung als Beziehungspartnerin (»Freundin von...«) geht häufig mit sexualisierten Bildern einher. Diese verharmlosende Darstellung korrespondiert mit einer Ausblendung ihrer politischen Einstellungen. Ihr Involviertsein in die Organisation und die Verbrechen und ihre weltanschaulichen Motive geraten dabei aus dem Blick. Dabei ist durchaus bekannt, dass sie bereits in den frühen 1990er Jahren gewalttätig gegenüber anderen Personen war und sich rassistisch äußerte. Was heißt dies nun für die sozialpädagogische Praxis? Gabi Elverich und Michaela Glaser plädieren dafür, Sozialpädagog_innen dahingehend zu sensibilisieren, dass es sich bei rechtsextremen Mädchen um »politische Subjekte« handelt, deren »potentiell rechtsextreme Orientierungen wahr- und ernst zu nehmen« sind (Elverich / Glaser 2009: 9). Fortbildungen sollten auf das Problem verkürzter Wahrnehmungen aufmerksam machen und Wissen zum Thema vermitteln. Michaela Köttig empfiehlt eine methodische Fremdheitshaltung, mit der professionelle Distanz zur Zielgruppe und Reflexion des eigenen Handelns eingeübt wird (Köttig 2004: 375379). Wichtig ist dabei die Reflexion eigener Vorstellungen von Geschlecht, deren (auto-)biografischer Entstehung und der gesellschaftlich vorherrschenden Heteronormativität. Um eine Vielfalt geschlechterbezogener Rollenvorstellungen vermitteln zu können, ist es unabdingbar, die Überschneidungen biologistischer Geschlechtervorstellungen der rechten Szene mit denen in der Mitte der Gesellschaft zu erkennen und kritisch zu hinterfragen. Einen Schwerpunkt stellt zudem die Reflexion über den Umgang mit Gewalt und Dominanz unter Mädchen dar. Um ein solches Verhalten wahrzunehmen und darauf reagieren zu können, ist es wichtig, dass Sozialpädagog_innen die Genese von Gewalt in Gruppen beobachten und die Rolle von Mädchen in gemischtgeschlechtlichen Gruppen reflektieren.11 So ist es notwendig, die Beteiligung von Mädchen und Frauen im Vorfeld zu erkennen: Es gilt zu hinterfragen, welche Rolle beispielsweise rassistische Äußerungen von Mädchen und das Einfordern von Schutz durch männliche Gruppenmitglieder spielen. Das betrifft etwa die Behaup11 90 Prozent der statistisch erfassten rechtsextremen Straf- und Gewalttaten sind auf männliche Täter zurückzuführen (Möller 2010). Vielfach wird jedoch auf eine Zunahme der Gewalttätigkeit unter Mädchen verwiesen, vgl. hierzu Köttig 2004: 43 ff.

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tung, Opfer eines sexualisierten Übergriffs geworden zu sein wobei der Täter als ›ethnisch fremd‹ markiert wird.12

F AZIT Im Sinne fachlicher Standards geht es in der Präventionsarbeit zu allererst um eine menschenrechtsorientierte und geschlechtergerechte Haltung von Sozialpädagog_innen. Dies beinhaltet, für demokratische Standards einzutreten und gegen jede Äußerung von Ungleichwertigkeit, Dominanz und Abwertung zu intervenieren. Solche Situationen sollten als Anlässe wahrgenommen und genutzt werden, um mit Adressat_innen in einen Austausch und Prozess der inhaltlichen Auseinandersetzung zu treten. Besucher_innen einer Jugendeinrichtung sollten sich sicher sein, dass Pädagog_innen im Falle einer rassistischen Äußerung intervenieren, sich auf Seiten der Betroffenen positionieren und das auch, wenn diese nicht im Raum sind. Auch sollten Jugendliche, die aufgrund von stereotypen Erwartungen nicht als ›richtiger Junge‹ oder ›richtiges Mädchen‹ gelten, Freiräume und Unterstützung erhalten, indem eine Atmosphäre geschaffen wird, die einer Vielfältigkeit positiv begegnet und stereotype Einschränkungen kritisch hinterfragt. In der Praxis können etablierte Ansätze aus der geschlechterreflektierenden Arbeit in ersten Schritten als Veränderung innerhalb des Teams und in den Angeboten einer Einrichtung hilfreich und im Sinne einer Rechtsextremismusprävention durchaus wirksam sein (Lehnert / Radvan 2014: 99 f.). Grundsätzlich ist es notwendig, dass Pädagog_innen kontinuierlich die hier beschriebene Haltung (weiter-)entwickeln: Es geht um kritische Selbstwahrnehmung und -reflexion als professionelle Haltung. Ein erster Schritt kann eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Sprachgebrauch sein: Reflektieren Fachkräfte über sprachliche Formen von Diskriminierung, z.B. zu Rassismus, so sind sie eher in der Lage, deren ausgrenzende und abwertende Folgen an Jugendliche zu vermitteln. Sinnvoll ist ebenso die Auseinandersetzung mit eigenen geschlechtsspezifischen Rollenbildern, (auto-)biografischen Erfahrungen und damit verbundenen Annahmen. Letztlich geht es mit einer geschlechterreflektierenden Haltung in der pädagogischen Praxis darum, unterschiedliche geschlechtliche Entwürfe anzuerkennen und erfahrbar zu machen. Aufgabe von Sozialpädagog_innen ist es daher, vereindeutigende, eingrenzende Vorstellungen zu hinterfragen und von Anforderungen zu entlasten, die mit normierenden Weiblichkeits- und Männlichkeitsvorstellungen einhergehen. Das Leben und Erfahrbarmachen von Vielfalt steht dem dichotomen und starren Geschlechterrollenmodell rechter Ideologie diametral gegenüber und ist be-

12 Zur Diskussion um ethnisierte Zuweisung sexualisierter Übergriffe vgl. Bitzan 2000: 51 f.

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reits präventiv wirksam. Auf diesem Weg lassen sich nicht nur Gespräche über Geschlechterrollen initiieren, sondern ebenso Fragen aufwerfen nach Ausgrenzung, dem Verständnis von Demokratie und danach, wie der Schutz von Minderheiten in der Jugendeinrichtung konkret gestaltet werden kann.

L ITERATUR Arbeitskreis (AK) geschlechterreflektierende Rechtsextremismusprävention (2013): Positionspapier: Fachliche Standards in der geschlechterreflektierenden Rechtsextremismusprävention. URL: www.gender-und-rechtsextremismus.de/w/files/ pdfs/fachstelle/positionspapier-ak-geschlechterreflektierende-rechtsextremismus praevention.pdf (Stand: 22.01.2015). Antifaschistisches Frauennetzwerk / Forschungsnetzwerk Frauen und Rechtsextremismus (Hg) (2005): Braune Schwestern? Feministische Analysen zu Frauen in der extremen Rechten. Münster. Birsl, Ursula (2011): Rechtsextremismus und Gender. In: Dies. (Hg.): Rechtsextremismus und Gender. Opladen & Farmington Hills, S. 11-28. Bitzan, Renate (2000): Selbstbilder rechter Frauen: Zwischen Antisexismus und völkischem Denken. Tübingen. Bitzan, Renate (2011): »Reinrassige Mutterschaft« versus »nationaler Feminismus«. Weiblichkeitskonstruktionen in Publikationen extrem rechter Frauen. In: Birsl, Ursula (Hg.): Rechtsextremismus und Gender. Opladen & Farmington Hills, S.115-128. Butterwegge, Christoph (2011): Linksextremismus = Rechtsextremismus? Über die Konsequenzen einer falschen Gleichsetzung. In: Birsl, Ursula (Hg.): Rechtsextremismus und Gender. Opladen & Farmington Hills, S. 29-42. Claus, Robert / Lehnert, Esther / Müller, Yves (2010): Einleitung. In: Dies. (Hg.): »Was ein rechter Mann ist...«. Männlichkeiten im Rechtsextremismus. Berlin, S. 9-24. Debus, Katharina / Laumann, Vivien (Hg.) (2014): Rechtsextremismus, Prävention und Geschlecht. Vielfalt_Macht_Pädagogik. Düsseldorf. Elverich, Gabi / Glaser, Michaela (2009): Mädchenspezifische Perspektiven auf die pädagogische Rechtsextremismusprävention. In: Betrifft Mädchen 22, 1/2009, S. 4-11. Fachstelle Gender und Rechtsextremismus / Amadeu Antonio Stiftung (Hg.) (2013): Instrumentalisierung des Themas sexueller Missbrauch durch Neonazis. Analysen und Handlungsempfehlungen. Berlin. Fachstelle Gender und Rechtsextremismus / Amadeu Antonio Stiftung (Hg.) (2014): Rechtsextreme Frauen – übersehen und unterschätzt. Analysen und Handlungsempfehlungen. Berlin.

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»Wir behandeln alle gleich«: Zwischen Gleichheitsanspruch und Diskriminierungswirklichkeit Prozesse der Auseinandersetzung mit Diskriminierung im Hochschulalltag Annita Kalpaka

ANLÄSSE An einer Hochschule schlägt eine Lehrende vor, Studierenden mit einer anderen Erstsprache als Deutsch längere Bearbeitungszeiten für die Erbringung von Prüfungsleistungen einzuräumen. Im Kollegium wird darüber kontrovers diskutiert, da Probleme zu erwarten seien. Am liebsten wäre es vielen, wenn dieser Vorschlag gar nicht erst aufgekommen wäre. »Bisher haben wir so ein Problem nicht gehabt«. ›Wir‹ vielleicht nicht, aber manche Studierende vermutlich schon. Eine »Gleichbehandlung« aller schien bisher eine gute Lösung zu sein, aber anscheinend auch ein Problem für einige. Die Argumente der Lehrenden waren vielfältig: Sie äußerten sich besorgt darüber, dass solch eine Regelung zu »Unübersichtlichkeit«, womöglich auch zu einem »Missbrauch« führen könnte. Darüber hinaus wurde angenommen, dass eine entsprechende Regelung »juristisch« nicht umsetzbar wäre. Auch wurde befürchtet, dass »die deutschen Studierenden« diese »Ungleichbehandlung« nicht akzeptieren würden. Andere Argumente bezogen sich auf die vermeintlichen Interessen der Betroffenen, die »nie genug Deutsch lernen« würden, wenn man ihnen immer entgegenkäme bzw. die mehr davon hätten, wenn die Regelungen als »Bonus« »unter der Hand« vergeben würden. Die Diskussionen gaben einen aktuellen, konkreten Anlass, den Umgang mit migrationsbezogenen Differenzverhältnissen an einem Fachbereich Soziale Arbeit

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im Rahmen eines Lehrforschungsprojekts etwas genauer anzuschauen. Dies erscheint deswegen interessant, weil in der Migrationsgesellschaft und ihren Institutionen machtvolle und hierarchisierende Unterscheidungen zwischen ›uns‹ und den ›Anderen‹ getroffen werden (Kalpaka 2009). Dies geschieht mit Rückgriff auf zugeschriebene körperliche bzw. als kulturell definierte Merkmale. Sie gehen in Regelungen, Normen und Routinen ein, ohne dass sie im Einzelnen genannt werden müssen. Gleichzeitig werden Differenzen zwischen Studierenden, etwa im Zusammenhang mit Migrationsbiographien und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Migration, wenig oder in diskriminierender Weise berücksichtigt. Sprache ist hierbei nur ein Moment, das aber für Hochschulen zentral ist, weil daran spezifische Anforderungen geknüpft werden und die Mehrsprachigkeit der Studierendenschaft unsichtbar gemacht wird.

I NSTITUTIONELLE D ISKRIMINIERUNG UND R ASSISMUS S ELBSTBEOBACHTUNGS - UND ANALYSERAHMEN

ALS

Im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz wird zwischen mittelbarer und unmittelbarer Benachteiligung unterschieden. Dort heißt es, dass »dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren« (AGG § 3, Abschnitt 2) Personen, die einer bestimmten Gruppe angehören, in besonderer Weise benachteiligen können. Demnach kann eine unhinterfragte Normalität in institutionellen Handlungskontexten diskriminierende und Ungleichheit (re-)produzierende Effekte haben, ohne dass die Akteur_innen unmittelbar diskriminierende Absichten oder Einstellungen haben müssen (Gomolla 2010: 62 ff.). Das Konzept der institutionellen Diskriminierung erweist sich als hilfreich, um das jeweilige Handeln in institutionelle und gesellschaftliche Kontexte einzuordnen und individualisierende oder kulturalisierende Erklärungsansätze zu vermeiden. Es benennt explizit und unmissverständlich Diskriminierung als Bezugsgröße. Es bietet sich als Orientierungsrahmen an, um Praxis zu reflektieren und dadurch den Blick für widerständige und verändernde Handlungsoptionen zu schärfen. Das Konzept nimmt institutionelle und gesellschaftliche Dimensionen in den Blick mit dem Ziel, Teilhabe zu ermöglichen bzw. Zugangsbarrieren abzubauen. Je nach Auslegung wird eine Erweiterung durch Verknüpfungen mit der Analysekategorie Rassismus vorgenommen. Rassismus wird hier verstanden als ein Prinzip, das diese Gesellschaft strukturiert. Der Begriff ermöglicht es, Strukturen und Handeln in der Migrationsgesellschaft adäquat zu analysieren. Denn ein Verständnis von Rassismus als gesellschaftliche und soziale Praxis, bei der mit Rückgriff auf zugeschriebene körperliche bzw. als kulturell definierte Merkmale eine machtvolle und hierarchisierende Un-

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terscheidung zwischen ›Uns‹ und ›den Anderen‹ vorgenommen wird, rückt den Konstruktionsprozess mit seinen Folgen in den Blick. Auf die Unterscheidung in ›Wir‹ und ›nicht-Wir‹, die in Gesetzen, Regeln und gesellschaftlichen Institutionen verankert ist, wird auch im Alltagsdenken und -handeln zurückgegriffen. Durch unterschiedliche ›Marker‹ (wahlweise z.B. ein äußeres Erscheinungsbild, ein Akzent oder der Name) werden Einzelne bzw. Gruppen als ›anders‹, als nicht eindeutig zur deutschen Mehrheitsgesellschaft dazugehörig konstruiert (Scharathow 2014; Kalpaka / Räthzel 1994). Dabei wird die Position, aus der das ›Andere‹ definiert wird, als die fraglose Normalität dethematisiert. Auch werden die Konsequenzen für die ›Anderen‹ ausgeblendet oder gar legitimiert. Die Analyseperspektive Rassismus ist nicht zuletzt für das Analysieren und Nachvollziehen der Relevanz von Erfahrungen mit offenen und subtilen Rassismen für Subjektivierungsprozesse und das Erlangen von Handlungsfähigkeit der als ›anders‹ markierten in der Migrationsgesellschaft zentral (Velho 2010). Auch Hochschule ist kein Ort außerhalb gesellschaftlicher Rassismusstrukturen und -diskurse. Die machtvollen Unterscheidungen wirken auch hier und werden in alltäglichen Praxen (re-)produziert. In diesem Sinne ist die Analyseperspektive Rassismus hilfreich, auch wenn sie aus taktischen Überlegungen oft nicht explizit thematisiert wird. Denn die Verwendung der Begriffe Diskriminierung und Rassismus stößt oft auf Abwehr, wenn diese als Unterstellung eines absichtsvollen Handelns bzw. lediglich als Kritik eines Fehlverhaltens oder persönlicher ›Einstellungen‹ Einzelner aufgefasst werden.

G LEICHBEHANDLUNG

ALS

D ISKRIMINIERUNGSFORM

Die Studie war als Lehrforschungsprojekt an einem Fachbereich für Soziale Arbeit angelegt. Sie nahm die problematisierte Normalität von gleichen Sprachanforderungen für alle – eine Praxis, die Differenzen ausblendet – zum Anlass, um die im Kollegium kontrovers diskutierte Frage der Gleichbehandlung bzgl. Bearbeitungsfristen in den größeren Kontext von Studienbedingungen zu stellen. Wir interessierten uns für die Frage, welche Effekte durch die Gleichbehandlung aller im Hinblick auf Anforderungen der Hochschule entstehen können. Wir wollten herausfinden, wie Alltagsroutinen Diskriminierung befördern können und wir wollten Wege finden, wie mögliche Nebenwirkungen thematisiert werden können. Konkret interessierten wir uns für die Perspektiven der unterschiedlichen Akteur_innen (Lehrende, Studierende, Verwaltung). Wir wollten sie genauer erkunden und miteinander ins Gespräch bringen, um einen internen Prozess der Diskussion, Selbstreflexion und Veränderung in Gang zu setzen und dabei Nicht-Gesagtes sagbar und thematisierbar zu machen. Bezogen auf Sprache und Sprachanforderungen interessierten wir uns dafür herauszufinden, wer sich in welcher Weise von diesen Anforderungen

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betroffen sieht und welcher Umgang damit gefunden wird. Denn bekanntlich haben nicht alle als ›ausländisch‹ markierten Studierenden ein ›Sprachproblem‹ und nicht alle, die eins haben, sind als ›ausländisch‹ markiert. Die Studie trägt den Arbeitstitel »Studienbedingungen von als ›ausländisch‹ markierten Studierenden – (unsichtbare) Barrieren an der Hochschule erkunden und verschieben«.1 Wir hatten uns dafür entschieden, die Umschreibung der Gruppe möglichst vage und nahe am Sprachgebrauch der Akteur_innen zu halten und zugleich die Benennungspraxis zum Gegenstand der Erhebung zu machen. Die Differenzierung »als ›ausländisch‹ markierte« verweist auf den Konstruktionsprozess. Nichtsdestotrotz konnte auch diese Studie dem immanenten Dilemma jeder Antidiskriminierungspolitik und jeder (dekonstruktiven) Forschung nicht entkommen, die Diskriminierten benennen zu müssen, um ihre Diskriminierungserfahrung zu erfragen und durch die Benennung gleichzeitig Gefahr zu laufen, ihre (konstruierte) Differenz festzuschreiben. Die Interviews fokussierten auf konkrete Erfahrungen von als ›ausländisch‹ markierten Studierenden bzw. auf den Umgang von unmarkierten Lehrenden und Studierenden mit als ›ausländisch‹ markierten Studierenden an der Hochschule. Dabei war auch das jeweilige Verständnis der Beteiligten, wen sie unter die Kategorie ›ausländische Studierende‹ fassen, Gegenstand der Erhebung. Die Interviews hatten einen Fokus auf konkrete Erfahrungen im Hochschulalltag. Wir interessierten uns für die jeweiligen Deutungen der Befragten und ihre Vermutungen über die Perspektive der jeweils anderen Akteur_innen, insbesondere im Hinblick auf das, was als problematisch erlebt wurde. Des Weiteren fragten wir, wie die Beteiligten in den geschilderten Situationen handelten, wie zufriedenstellend sie ihren Umgang damit fanden und welche Ideen und Wünsche sie über mögliche bzw. sinnvolle oder hilfreiche Maßnahmen hatten. Im Rahmen der qualitativ ausgerichteten Studie wurden insgesamt 23 Studierende und 21 Lehrende befragt.2 Während die beteiligten Lehrenden in problemzen-

1

Der inzwischen etablierte Begriff »Menschen mit Migrationshintergrund« wurde bewusst nicht gewählt. Er erweckt den Anschein von neutraler Beschreibung, bleibt aber eine Fremdbezeichnung und legt durch diverse Unterkategorien, die neuerdings in den Sozialerhebungen des Deutschen Studentenwerkes (BMBF 2013) statistisch erfasst werden, nahe, dass die besagte Gruppe als solche existieren würde und nur präziser gefasst werden müsste. Der machtvolle Konstruktionsvorgang und die unterschiedlichen Interessen hinter solchen Konstruktionen geraten dadurch in den Hintergrund

2

Die Interviews wurden von zwei Absolvent_innen der Hochschule geführt und zu einem Teil in Interpretationsgruppen von Studierenden des Lehrforschungsprojekts ausgewertet. Auch fünf weitere Interviews mit Mitarbeiter_innen der Verwaltung (Studienzentrum, Studienberatung, Sekretariat, Öffentlichkeitsreferent, Auslandsbüro/Internationales) fanden Eingang in die Auswertung.

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trierten und leitfadengestützten Interviews zu Wort kamen, wurden Perspektiven der Studierenden in 7 Einzelinterviews und 3 Gruppendiskussionen erhoben.3 Letztere wurden durch Aussagen aus den Interviews mit Lehrenden und Studierenden eingeleitet. Als studentische Gesprächspartner_innen wurden Studierende ausgewählt, die die Relevanz von Sprache selbst thematisierten. Nicht zuletzt wurde auch Hinweisen aus den Interviews mit Lehrenden nachgegangen, die bestimmte Gruppen als ›ausländische Studierende‹ identifizierten. Um die Anonymität zu wahren, werden die Aussagen aus der Studie nicht durch Sozialdaten o.ä. belegt. Die Quellenangaben liegen der Autorin vor.

AUSGEWÄHLTE E RGEBNISSE

ZUM

T HEMA S PRACHE

Sprache nimmt im erhobenen Material breiten Raum ein. Viele Studierende mit nicht-deutscher Erstsprache stellen die Normalität der Einsprachigkeit an der Hochschule nicht (öffentlich) in Frage. Sie unternehmen eine Reihe von (meist unsichtbar bleibenden) Anstrengungen, um den Sprachanforderungen zu genügen. Ausgewählte Aussagen aus den Interviews geben Einblicke in Wahrnehmungs- und Umgangsweisen von Studierenden mit der Herausforderung, Leistungen in deutscher Sprache zu erbringen. »Ich muss die Aufgabenstellung drei oder vier Mal lesen, damit ich genau verstehe, was gemeint ist. Auch wenn ich dann die Antworten weiß, habe ich viel Zeit verloren. Es dauert auch lange, bis ich es richtig formulieren kann.«

Die auswertende Studierendengruppe war nicht überrascht über die Inhalte dieser Passage. Sie waren jedoch irritiert von ihrer »Sachlichkeit«, weil sie die dahinter stehenden Nöte verdecke. Zu einem späteren Zeitpunkt im Erhebungsprozess wurde die Aussage in einer Gruppendiskussion mit Studierenden aufgegriffen und wesentlich emotionaler und kontrovers debattiert. Die Kontroversen drehten sich um die »Bringschuld« von Studierenden und das erwartete »Entgegenkommen« seitens der Hochschule. Hierbei bezogen sich die Erfahrungen der Studierenden auch auf Integrations- und Anpassungsforderungen im Alltag außerhalb der Hochschule und auf öffentlich geführte Integrationsdebatten.

3

Zwei Gruppendiskussionen fanden mit jeweils drei als ›ausländisch‹ markierten Studierenden statt. Bei der dritten wurden 7 ›Mehrheitsangehörige‹ und 3 als ›ausländisch‹ markierte Studierende einbezogen, die zunächst getrennt an Teilgruppendiskussionen und dann gemeinsam an der Gruppendiskussion teilnahmen.

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Solche Erfahrungen bzgl. des Verstehens von Aufgabenstellungen teilen die Befragten mit Studierenden, die zwar nicht als ›ausländisch‹ markiert sind und Deutsch als Erstsprache sprechen, aber in nicht-akademischen Familien und Milieus aufgewachsen sind. Darauf beziehen sich Lehrende im Interview und begründen ihre Position, wonach es keine nennenswerten Unterschiede gäbe, die berücksichtigt werden müssten: »Sie haben keine besonderen Probleme, es gibt genauso viele Deutsche, die sich mit der Sprache schwertun«. Hieran könnten Überlegungen ansetzen, auch diese Studierenden in ihren spezifischen Belangen zu berücksichtigen. Stattdessen verschiebt sich die Diskussion hin zur Vermutung, dass die entsprechenden Studierenden nicht »studierfähig« seien: »Es liegt nicht an der Sprache. Die meisten sind gar nicht studierfähig und haben sowieso andere Motive, warum sie sich bei uns immatrikulieren.« Aus den Interviews mit Studierenden geht hervor, dass es vielen schwerfällt, (Fach-)Begriffe zu verstehen und einzuordnen: »›Gewährleistung‹ war z.B. so ein Wort, das immer benutzt wurde. Ich habe es nicht verstanden. Keiner hat gefragt und ich wollte nicht fragen. Im Wörterbuch stand eine Erklärung, die ich auch nicht verstand. Auf dem Weg zur Mensa habe ich nach der Vorlesung Kommilitonen gefragt, was das meint. Sie wussten es auch nicht genau. Aber keiner fragte nach. Oder sie wussten es und wollten es mir nicht erklären?«

Die Versuche, sich einen Fachbegriff alleine zu erschließen, gelingen nicht. Mitstudierende helfen auch nicht weiter. Zum einen wird dabei auf eine gängige Praxis in Vorlesungs- und Seminarsettings verwiesen, bei der Studierende sich nicht als Unwissende zu erkennen geben wollen und deswegen kollektiv schweigen. Zum anderen klingt im Interviewausschnitt ein Misstrauen durch, das mit Konkurrenz an der Hochschule begründet sein kann oder mit den Erfahrungen der interviewten Person, aufgrund ihrer tatsächlichen oder unterstellten mangelnden Deutschkenntnisse keine Unterstützung zu erfahren. Durch die Selbstverständlichkeit der Erwartung, die Sprache der Mehrheitsgesellschaft perfekt zu beherrschen, geraten Studierende in vielerlei Hinsicht unter Druck. Sie geben an, sich einigen Aufgaben nicht gewachsen zu fühlen und befürchten, aufgrund ihres sprachlichen ›Mangels‹ bloßgestellt zu werden: »›Visualisieren‹ heißt das. Aber ich will auch keine Karten und Plakate im Seminar schreiben und allen meine Fehler zeigen. Du bist dann im Mittelpunkt«. Visualisierung als Ergebnissicherung kann ein durchaus sinnvolles didaktisches Prinzip sein. Wird es unhinterfragt im Sinne einer Gleichbehandlung aller eingesetzt, verkehrt es sich für manche Studierende zu einer Anforderung, die sie nicht erfüllen wollen, weil sie mit Beschämung einhergeht. Solche Aussagen erinnern daran, dass Techniken nicht universal sind und dass es nicht unwichtig wäre, uns durch die Analyseperspektive »institutionelle Diskriminierung« zu vergegenwärti-

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gen, welche Anforderungen wen unintendiert begünstigen bzw. benachteiligen könnten (Gomolla 2010: 62 ff.). Wiederholt wird in den Interviews auf die Reaktionen von Kommiliton_innen, aber auch von Lehrenden verwiesen, die auf die sprachlichen Besonderheiten von als ›ausländisch‹ markierten Studierenden vielfach ungeduldig und abwertend reagierten: »7 Semester Studium kosten 10 Jahre Leben ohne Sprache, man ist wieder Kind« formuliert eine Studentin mit einem Hochschulabschluss eines osteuropäischen Landes, der in Deutschland nicht anerkannt wurde. Anhand von Beispielen führt sie aus, dass sie sich nicht traut, ihr Wissen öffentlich in Seminardiskussionen einzubringen, und zwar in einer Sprache, die sie nach ihrer Selbsteinschätzung und Fremdbewertung nicht genügend beherrscht. Sie sieht ihre Kompetenzen nicht gewürdigt und wahrgenommen und stellt sich dabei die Frage, wie sie diese sichtbar machen könnte. Auch andere Umgangsweisen kamen zum Tragen, etwa: »Ich sage zu ihm [dem deutschen Kommilitonen]: Ich gebe dir 5 Jahre und wenn du dann so gut Arabisch sprichst, wie ich Deutsch, dann können wir wieder reden.« Der interviewte Student, der neben Arabisch und Französisch Deutsch als dritte Sprache spricht, weist die Erwartung, perfekt Deutsch zu sprechen, zurück und setzt in dieser Situation selbst die Spielregeln der Kommunikation. Er führt seine eigenen Kompetenzen sich selbst und dem Gegenüber vor Augen. Danach sei es ihm »viel besser gegangen« und er wäre »stolz« auf sich gewesen, erzählt er im Interview.

W ENN S PRACHE IN ZUM T HEMA WIRD

DER I NTERAKTION MIT

L EHRENDEN

In den Interviews und den Gruppendiskussionen berichten Studierende über konkrete Erfahrungen in der direkten Kommunikation mit Lehrenden. Sie liefern eigene Interpretationen dazu und werfen Fragen auf. »›Das ist hier kein Deutsch, was Sie schreiben!‹, sagte dieser Prof. zu mir. Ich bin hier zur Schule gegangen, habe deutsches Abitur, niemand merkt, dass ich aus dem Iran komme. Was fällt ihm ein, mir so was zu sagen. Die Note war dann schlecht.«

Der Student empfindet diese Aussage als Ausgrenzung aus der Mehrheitsgesellschaft. Seine Empörung (»was fällt ihm ein«) wurde in der Gruppendiskussion von anderen Studierenden geteilt, die über weitere Erfahrungen, »als ›Ausländer‹ erkannt zu werden«, berichteten: »Egal wie gut du bist. Es kommt der Moment, da wirst du erkannt als ›Ausländer‹«. Sie sind sich jedoch weitgehend einig, dass dies nicht angesprochen werden könne, nicht zuletzt aus Angst vor möglichen Konsequenzen.

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Aber auch wohlmeinende Ansprachen, die als ›Bewunderung‹ daherkämen, werden nicht als Anerkennung besonderer Leistungen empfunden: »›Ich hätte nie gedacht, dass Sie als Ausländerin so gut formulieren können. Respekt! Ich könnte das in einer anderen Sprache nicht so gut wie Sie‹. Das hat mich wie ein Blitz getroffen.«

Die Anrufung als ›Ausländerin‹ kommt nicht als »Respekt!« an, sondern eher als grenzüberschreitende Zuschreibung. Der Sprechende knüpft an vermeintlich sichtbaren Merkmalen von Nicht-Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft an. Die als ›Ausländerin‹ markierte Studentin wird außerhalb der Ordnung verortet und kann vom »Blitz getroffen« nicht über Zugehörigkeitsordnungen (Mecheril 2010: 181) verhandeln, zumal in einem in vielerlei Hinsicht (Status, Geschlecht, Herkunft) hierarchischen Verhältnis. Eine interviewte Studentin, die sich selbst als ›Ausländerin‹ definiert, freut sich nicht über den vermeintlichen ›Bonus‹: »Als Ausländerin habe ich die gute Note bekommen. Soll ich mich darüber freuen? Es ist schon eine Beleidigung«. Die Beleidigung wird darin gesehen, dass ihre Leistung nicht anerkannt wird, die gute Note wird als aufdringlich empfunden, als Geschenk, das nicht zurückgegeben werden kann. Sie interpretiert sie als eine Form, nicht ernstgenommen zu werden. Im Unterschied zu Regelungen im Sinne eines institutionell verankerten Nachteilsausgleichs wird diese Art des ›Entgegenkommens‹ als ein Gnadenakt erlebt. Der ›Bonus‹ kann jederzeit willkürlich gegeben oder entzogen werden. In den Gesprächen mit den befragten Lehrenden können viele der beschriebenen Erfahrungen von Studierenden wiedererkannt werden. Sie werden jedoch teilweise anders interpretiert oder bewertet. Was von Studierenden als Beleidigung empfunden wird, wird von Lehrenden als »Ermutigung« und »Motivator« verstanden bzw. gezielt eingesetzt. Es wird mit Nachdruck vertreten, dass es um »anerkennende Worte« ginge, die durchaus »ehrlich gemeint« seien. Die Konfrontation der Lehrenden mit Lesarten von Studierenden stößt bis auf wenige Ausnahmen auf Unverständnis bis hin zur Empörung ob der »Undankbarkeit« und »Überempfindlichkeit der ausländischen Studierenden«. In anderen Aussagen wiederum wird Ratlosigkeit formuliert: »Man weiß gar nicht, was man tun soll. Alles wird falsch verstanden – man bewegt sich wie auf Glatteis. Solche Widersprüche kenne ich aus Genderdebatten im Fachbereich.« Einige Lehrende bezeichnen sich als »gebranntes Kind« und formulieren die Hoffnung, »dass es nicht wieder so zugeht mit der Polarisierung.«

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ALTERNATIVE H ANDLUNGSMÖGLICHKEITEN Die befragten Studierenden sind sich einig darin, Deutschkurse einzufordern. Dagegen wird der Vorschlag, »längere Fristen bei Hausarbeiten [zu erhalten] und länger schreiben [zu] dürfen bei Klausuren« zwar von einer Mehrheit der beteiligten Studierenden befürwortet, aber gleichzeitig mit Skepsis gesehen. In den Gruppendiskussionen werden Befürchtungen angemeldet, ob dies nicht zu einer weiteren Ausgrenzung bzw. Stigmatisierung führen könne: »Ich will nicht, dass wir anders behandelt werden, weil wir Ausländer sind«. »Ich wette, dass sich dann die deutschen Studenten benachteiligt fühlen und denken, dass wir eine Extra-Wurst bekommen«.

Die Erfahrung in und außerhalb der Hochschule, als anders und nicht-dazugehörig konstruiert und adressiert zu werden, soll nicht durch eine Ungleichbehandlung, wenn auch in positiver Absicht, verstärkt werden. Die Diskussionen changieren zwischen den Polen »nicht noch mehr auffallen« und »es ist unser gutes Recht«. Die geäußerten Bedenken korrespondieren mit Aussagen von Lehrenden, die die Sorge formulieren: »Die deutschen Studierenden würden so eine Ungleichbehandlung niemals akzeptieren, dann kriegen wir neue Probleme«. Sie wollten ›ausländische‹ Studierende durch eine Ungleichbehandlung nicht zu Hilfsbedürftigen machen. Aus den gleichen Gründen sind sie skeptisch gegenüber Deutschkursen: »Ich finde es gut, wenn sie zusätzliche Hilfen bekommen würden. Aber dann sind sie die Hilfsbedürftigen. Das wollen sie bestimmt auch nicht.« Zugleich wird kontrovers darüber diskutiert, ob Deutschkurse zu den Aufgaben der Hochschule gehörten oder nicht vielmehr zu den Zugangsvoraussetzungen. Viele der befragten Lehrenden halten andere, nicht institutionalisierte Hilfen für geeigneter, wie z.B.: »Sie können sich die Arbeiten von Deutschsprachigen korrigieren lassen, bevor sie abgeben – das rate ich allen« oder auch die Empfehlung, mehr Deutsch im Hochschulalltag zu sprechen: »Wenn sie sich mehr mischen würden, um auch mehr Deutsch zu sprechen, hätten sie viele dieser Probleme nicht.« Solche Vorschläge blenden zum einen Ausgrenzungsprozesse aus, die die Studierenden erleben, und die dazu führen, dass sie sich nicht ›mischen‹. Zum anderen delegieren die Lehrenden die Verantwortung für Lösungen an die Studierenden. Trotz geäußerter Bedenken fanden kompensatorische Maßnahmen wie Beratungsangebote oder Deutschkurse, die auch allgemeinhin als Lösung des ›Integrationsproblems‹ (›Sprache als Schlüssel zur Integration‹4) gelten, am meisten Akzep-

4

http://www.bundesregierung.de/Webs/Breg/DE/Bundesregierung/BeauftragtefuerInte gration/sprache/_node.html (Stand: 11.04.2015).

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tanz bei den Lehrenden. Solange solche Angebote lediglich additive Maßnahmen bleiben und nicht in strukturelle Änderungen innerhalb der Institutionen eingebettet werden, ist nicht zu erwarten, dass eine »nachhaltige Wirkung auf die Regelabläufe in der Hochschule, äußere Rahmenbedingungen sowie auf die Einstellungsmuster der Hochschuldozentinnen und –dozenten und die Gestaltung ihrer Lehrveranstaltungen« (Karakaşoğlu / Wojciechowicz 2012: 283) eintritt. Auch die Gefahr, kollektive Zugehörigkeiten bzw. Defizite zuzuschreiben oder gar zu zementieren, bleibt bestehen. Werden wiederum Maßnahmen pauschal als stigmatisierend oder ausgrenzend entlarvt, kann dies von der Verantwortung entlasten, adäquate subjektbezogene Konzepte zu entwickeln, um Lern- und Aneignungsprozesse entsprechend dem jeweiligen Unterstützungsbedarf der Lernenden zu ermöglichen. Es drängt sich die Frage auf, was Hochschule Studierenden (nicht nur als ›ausländisch‹ markierten) zu bieten hat, wenn sie bestimmten Anforderungen nicht entsprechen können und nicht zuletzt auch die Frage nach einer Praxis der Anerkennung dessen, was Studierende an Kompetenzen (wie Mehrsprachigkeit) mitbringen. Bleibt es bei der Feststellung, dass sie etwas nicht können, was u.a. durch die Benotung festgeschrieben wird, so stellt sich die Frage, wie und wo Studierende das lernen können, was sie – vermeintlich oder tatsächlich – noch nicht können. Es stellt sich auch die Frage, welches Angebot eine Hochschule unterbreiten kann, um kein Ort der Selektion, sondern der Unterstützung und der Förderung zu sein.

K ONTEXTUALISIERUNGEN : R ISIKEN

UND

N EBENWIRKUNGEN

Die Diskussion über das Verhältnis zwischen kompensatorischen und strukturverändernden Maßnahmen rückt die Spielregeln und Selbstverständlichkeiten des Hochschulalltags in den Blick. Der Vorschlag, Studierenden mit einer anderen Erstsprache als Deutsch längere Bearbeitungszeiten für die Erbringung von Prüfungsleistungen einzuräumen führte zu Diskussionen über Ansatzpunkte für institutionelle Veränderungen in Richtung Antidiskriminierung. Der Fokus von als ›ausländisch markierten Studierenden wiederum konnte erweitert werden um die Frage, warum nicht allen Studierenden längere Bearbeitungszeiten eingeräumt werden könnten. Die Koppelung von Prüfungsleistungen an Zeit in Frage zu stellen, kann ein Ansatzpunkt für die Erweiterung von Möglichkeitsräumen aller Beteiligten sein. Nicht zuletzt würden dadurch einige der befürchteten juristischen, Überlastungs- oder Defizitzuschreibungsproblematiken entschärft oder entfallen. Möglicherweise würden dadurch jedoch andere Problematiken verschärft werden. Am Beispiel der zeitlichen Begrenzung von Prüfungsleistungen, die als selbstverständlich und unverrückbar wahrgenommen wird, konnten strukturelle und hochschulorganisatorische Probleme offengelegt werden, sie verweisen u.a. auf verdeckte Selektionsverhältnisse.

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Es werden grundsätzliche pädagogische Fragen angesprochen, etwa zur Funktion von Noten und von Zeitdruck sowie nicht zuletzt zur Selektionsfunktion von Hochschule als Teil eines Systems von Laufbahnzuteilung. Argumente von Lehrenden, die gegen eine institutionalisierte Regelung zum Nachteilsausgleich bei Studierenden mit nicht-deutscher Erstsprache gerichtet sind, können als Überforderungsmomente und als ein Ringen um Handlungsfähigkeit begriffen werden. Es wäre dann zu fragen, welche Möglichkeiten die Institution Hochschule bietet, um als ›anders‹ markierten Studierenden gerecht zu werden. Wird Diskriminierung durch Gleichbehandlung als Bewältigungsstrategie im Umgang mit Heterogenität verstanden, dann kann sie nicht nur als Problem definiert werden, sondern auch als ›Lösung‹. Dies liegt nahe in Strukturen, die Vergleichbarkeit und Normierung durch Aufträge und Abläufe herstellen sollen. Damit sind Rahmenbedingungen des pädagogischen Handelns von Lehrenden und Arbeitsbedingungen an der Hochschule angesprochen: In ihnen erscheint eine Problemverschiebung auf Studierende, die als defizitär oder studierunfähig gelten, funktional. Aussagen wie »Die deutschen Studierenden würden so eine Ungleichbehandlung niemals akzeptieren, dann kriegen wir neue Probleme« machen darauf aufmerksam, dass diese Verschiebung in (alltags-)rassistische Unterscheidungspraxen eingebunden ist. Während die benachteiligenden Effekte für Studierende mit anderen Erstsprachen durch die Gleichbehandlung aller ausgeblendet oder in Kauf genommen werden, wird ein Nachteilsausgleich in Form einer Verlängerung von Bearbeitungszeiten als »eine Ungleichbehandlung« der als ›deutsch‹ konstruierten Studierenden dargestellt, die es zu verhindern gilt. Zugleich wird aber dadurch diese unhinterfragte Privilegierung überhaupt erst sichtbar. Ein Problem scheint erst dann zu existieren, wenn zu befürchten ist, dass die unmarkierten ›eigenen‹ Studierenden, die fraglos dazugehören, benachteiligt werden könnten. In dem Bemühen um Handlungsfähigkeit im vorgefundenen Rahmen wird zu individuellen Lösungen (»Bonus unter der Hand« erteilen) gegriffen und das Aufkommen neuer Probleme (durch Unübersichtlichkeit und Mehrarbeit durch Zusatzregelungen) zu verhindern gesucht. Dabei scheint die Handlungsfähigkeit der Lehrenden in den Vordergrund zu rücken, während an Studierenden orientierte Ziele teilweise aus dem Blick geraten: die Erweiterung ihrer Handlungsfähigkeit und die Eröffnung von Bildungsprozessen. Der diskriminierende Rahmen bleibt jedenfalls unangetastet. Die Berücksichtigung der institutionellen Diskriminierung und eine Analyseperspektive, die Rassismus im Blick hat, kann dazu beitragen, die An- und Überforderungen in einen größeren institutionellen und gesellschaftlichen Kontext zu stellen, anstatt sie primär als individuell zu bewältigende Handlungsproblematik zu behandeln. Auch die Perspektive von Lehrenden als Arbeitnehmer_innen systematisch einzubeziehen, kann dazu beitragen, alltägliche konkrete Erfahrungen und ihre Deutung in den größeren Kontext von Arbeitsbedingungen an der Hochschule zu

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stellen. Auf diese Weise kontextualisiert, können Widersprüche und Nebeneffekte des eigenen Handelns, die durch die Studie in den Blick geraten, Ansatzpunkte für eine umfassendere Analyse und für Veränderungen bieten.

D ISKUSSIONSRÄUME Durch das Projekt wurde temporär ein Raum geschaffen, um solche Fragen zu thematisieren. Zum einen wurden kurzfristig Maßnahmen möglich: Es wurde ein Kurs »Deutsch als Zweit- und Fachsprache« sowie Tutorien für das Korrigieren und Diskutieren von schriftlichen Arbeiten eingerichtet. Eine Reihe von Abschluss- und Hausarbeiten beschäftigte sich mit Themen, die im Kontext der Studie »Unsichtbare Barrieren für ›ausländische‹ Studierende und Möglichkeiten ihrer Überwindung« generiert wurden. Darüber hinaus wurden weitere Diskussions- und Bildungsprozesse in Gang gesetzt. Die Lehrenden kamen miteinander ins Gespräch über ihre eigene Praxis, während Studierende einen Raum bekamen, über Erlebnisse in der Hochschule zu sprechen. Über die Interviews und Gruppendiskussionen hinaus nutzten sie die Möglichkeit, ihre Erfahrungen und Interpretationen im Rahmen von zwei von ihnen mitorganisierten Fachtagen einem breiteren Publikum vorzustellen. Themen, die bisher als ›privat‹ verhandelt wurden, erhielten durch das Lehrforschungsprojekt einen Stellenwert als fachliche Themen und als Untersuchungsgegenstände. Das Projekt erhöhte, zumindest zeitweise, die Sensibilität und Wachsamkeit im Zusammenhang mit Diskriminierung. Themen, in die Studierende und Lehrende in institutionellen Kontexten widersprüchlich verstrickt sind, können Anlässe für Bildungsprozesse sein. Es können Diskussionsräume geschaffen werden, in denen grundsätzlichere Themen und Widersprüche in den Blick rücken. Dies geht allerdings oft mit einer erhöhten Gefahr für Konflikte und Verwerfungen einher. Auch solche Nebenwirkungen blieben im Kontext des Lehrforschungsprojekts nicht aus.

ABSCHLIESSENDE G EDANKEN Von der Erkundung von Barrieren für ›ausländisch‹ markierte Studierende ausgehend sind wir auf allgemeinere Themen von Hochschule (Organisationsstrukturen, Routinen, Umgangsformen, Arbeitsbedingungen) gekommen und haben dabei am konkreten Fall Verweise auf das Allgemeine herausgearbeitet. Aber das Allgemeine tangiert die jeweils Anderen unterschiedlich. Die Analyseperspektiven der institutionellen Diskriminierung und des Rassismus ermöglichten eine Einordnung in gesellschaftliche Machtverhältnisse in der Migrationsgesellschaft.

Zwischen Gleichheitsanspruch und Diskriminierungswirklichkeit | 267

Die Gefahr, alle aufkommenden Fragen von (Un-)Gleichbehandlung unter allgemein gefasste Rubriken wie soziale Ungleichheit und selektive Bildungspolitik zu subsumieren, besteht aber darin, spezifische Formen von Diskriminierung zu dethematisieren und rassistische Ausgrenzungsmechanismen auszublenden. Denn es gibt unterschiedliche und ungleiche Andere. Auf das Spezifische hinzuweisen, kann wiederum Otheringprozesse verstärken und Wir-Sie-Konstruktionen (re-)produzieren. Insofern ist es wichtig, Diskriminierungs- und Rassismuskritik an Bildungsinstitutionen als Teil der Kritik an Bildungspolitik, aber auch in ihrer Spezifik zu thematisieren. Die Perspektive von Critical Whiteness heranzuziehen, kann hier hilfreich sein, um die dethematisierte Weißheit der Hochschule und die Normalität dieser Dominanzperspektive als konstituierende Dimension bei der Produktion von Ungleichheit zu reflektieren. Eine Pendelbewegung vom Besonderen zum Allgemeinen und zurück kann dabei helfen, das jeweils Spezifische sowie das Allgemeine nicht aus dem Blick zu verlieren.

L ITERATUR Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hg.) (2012): Endbericht zum Projekt Diskriminierungsfreie Hochschule – Mit Vielfalt Wissen schaffen. Erstellt von Czock, Heidrun / Donges, Dominik / Heinzelmann, Susanne, prognos AG. Berlin & Basel. Brandl, Heike et al. (Hg.): Mehrsprachig in Wissenschaft und Gesellschaft. Mehrsprachigkeit, Bildungsbeteiligung und Potenziale von Studierenden mit Migrationshintergrund. URL: www.telc.net/ueber-telc/telc-publikationen/download/ 60/dl.html (Stand: 11.12.2014). Bundesministerium für Bildung und Forschung (2013): Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der BRD 2012. 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks. Bonn & Berlin URL: http://www.sozialerhebung.de/ erhebung_20/soz_20_haupt (Stand: 20.12.2014). Discher, Kerstin / Plößer, Melanie: Projektbericht: Erfahrungen von Studierenden mit Migrationshintergrund. URL: www.fh-kiel.de/ergebnisbericht-migrations studie/ (Stand: 19.12.2014). Gomolla, Mechtild (2010): Institutionelle Diskriminierung. Neue Zugänge zu einem alten Problem. In: Hormel, Ulrike / Scherr, Albert (Hg.): Diskriminierung – Grundlagen und Forschungsergebnisse. Wiesbaden, S. 61-93. Heinrich-Böll-Stiftung (2011): DOSSIER: Öffnung der Hochschule. Chancengerechtigkeit, Diversität, Integration. URL: http://www.migration-boell.de/web/ integration/47_2759.asp (Stand: 05.01.2015).

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Kalpaka, Annita (2009): Institutionelle Diskriminierung im Blick – Von der Notwendigkeit Ausblendungen und Verstrickungen in rassismuskritischer Bildungsarbeit zu thematisieren. In: Scharathow, Wiebke / Leiprecht, Rudolf (Hg.): Rassismuskritik Band 2. Rassismuskritische Bildungsarbeit. 2. Auflage. Schwalbach/Ts., S. 25-40. Kalpaka, Annita / Räthzel, Nora (1994): Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein. Leer. Karakaşoğlu, Yasemin / Wojciechowicz, Anna (2012): Studierende mit Migrationshintergrund an deutschen Hochschulen im Spiegel der aktuellen Datenlage. In: Matzner, Michael (Hg.): Handbuch Migration und Bildung. Weinheim & Basel, S. 273-287. Klein, Uta / Rebitzer, Florian (2012): Diskriminierungserfahrungen von Studierenden: Ergebnisse einer Erhebung. In: Heitzmann, Daniela / Klein, Uta (Hg.): Diversity konkret gemacht. Wege zur Gestaltung von Vielfalt an Hochschulen. Weinheim & Basel, S. 118-136. Mecheril, Paul (2010): Anerkennung und Befragung von Zugehörigkeitsverhältnissen. Umriss einer migrationspädagogischen Orientierung. In: Mecheril, Paul et al. (Hg.): Migrationspädagogik. Weinheim, S. 179-191. Projekt Hochschule in der Migrationsgesellschaft – Interkulturelle Öffnung der THM (ProMi) (2014): Erfahrungen Internationaler Studierender und Studierender mit »Migrationshintergrund« an der THM. Ergebnisse und Handlungsempfehlungen aus der qualitativen und quantitativen Studierendenbefragung. URL: http://www.thm.de/promi/downloads/42-ergebnisbericht (Stand: 10.01.2015) Scharathow, Wiebke (2014): Risiken des Widerstandes. Jugendliche und ihre Rassismuserfahrungen. Bielefeld. Velho, Astride (2010): (UN-)Tiefen der Macht. Subjektivierung unter den Bedingungen von Rassismuserfahrungen in der Migrationsgesellschaft. In: Broden, Anne / Mecheril, Paul (Hg.): Rassismus bildet. Bielefeld, S. 113-137.

Poverty as a Culture of Dominance An Ethnography among Social Work Students in the Postsocialist European Periphery Darja Zaviršek

T HE

CONTEXT

The EU social policies exist in a curious paradox: on the one hand, European citizens are forced to bail out the banks that engaged in irresponsible loaning in order to complete the process of privatisation of the real sector economy, health care, social security, education and management of natural resources; on the other hand, the EU 2020 plan proclaims lofty goals pertaining to the diminishing of poverty rates in the Member States. In Slovenia for instance, austerity policies have, since 2008, severely impacted the citizens, on a scale comparable to Greece and Spain. The damage in excess of 4 billion Euros inflicted by the state-owned banks was socialised among the taxpayers, severely shrinking in the process the budget for social security, public health service and public education. The story is well-known throughout the neoliberal West: the surpluses went into private pockets and the debts to taxpayers. In Slovenia, much as throughout the EU and the USA, the citizens are subsidizing the rich, the middle class is dwindling towards extinction, and the population on the threshold of poverty became truly poor. The official EU 2020 plan demands that Slovenia reduces poverty to a total of 40.000 persons by 2020. In reality, however, the numbers of the poor are steadily increasing since 2009. In a nation of about two million, approximately about 14,5% of the population (291.000 persons) lived below the poverty line in 2014, and no less than additional 20,4% are in danger to fall below the poverty line (410.000 persons). To put it differently, a quarter of the population in Slovenia is poor, among them all those sustaining themselves on social relief funds of 269,15 Euros per month; people on minimal wage (480,00 Euros); and retired persons whose pension

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amounts to less than 500 Euros per month, and of course the long-term unemployed who have lost their legal rights to substitute social service financing. All these are, in short, people whose monthly income does not meet the costs of basic subsistence needs which, in Slovenia, amount to 562,07 Euros (Josipovič / Šumi 2014). Poverty is gender, ethnicity, age and disability specific. In the 28 EU member states, the share of women over 75 years of age living in poverty was by 5% larger than the share of men in the same age group in 2013. In Slovenia, poverty among women of the same age group compared to men of this age group is greater by 20,9%, which is the second highest rate in the Union, just below Lithuania that has the largest portion of elderly women living in poverty (Eurostat 2014). Thus in Slovenia, every fourth woman over 65 years of age lives in poverty, a total of 48.000 people. The at-risk-of-poverty rates among elderly people are above EU average, and the average monthly pension of 565 Euros (in 2013) is below the basic subsistence needs, too. Despite of the formally proclaimed gender equality under state socialism and in the postsocialist era since 1991, the gendered poverty gap demonstrates yet another of the many hidden inequalities defined by Birgit Rommelspacher as the hallmark of the »culture of dominance« (Rommelspacher 1995) . There is no doubt that the fast growing poverty is a consequence of the Slovenian 2012 social reform to meet the European Commission’s fiscal requirements. The story is very much the same in all the countries of the EU periphery: the local and international capitalist structures and the structures of governance socialised the losses post-2008 economic crisis and simultaneously set out to economically oppress the populations within the national borders under the fiction of too much spending, living above the means, and the remedy of austerity. While in the Global North the financial crisis reinforced the old stereotypes of the global south and east as lazy, untrustworthy and therefore solely responsible for the economic breakdown of their countries' financial and economic systems, the local elites in these countries have at the same time restored the old stereotypes pertaining to the unemployed and the poor as being guilty of their own economic unsustainability. Rather than bringing into question the entirety of capitalist values and practices and the culture of neoliberal dominance, the old power structures were both immensely enriched and politically invigorated. Let us look at another recent example. Before the social reform of 2012, individuals whose pension was below minimal were granted poverty relief of 50 to 100 Euros per month by social services in Slovenia. By the social reform legislation, this relief money has been transformed into repayable loans that burden the inheritance of the heirs. As a consequence, about 40.000 elderly who were affected gave up their right to relief for fear of burdening their offspring and heirs in the future. Some social workers also reported cases where adult children of these elderly forced the parents to decline the relief. With this policy, the survival money was taken away from a very vulnerable group who, among others, also have the most

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restricted access to public space. Currently, only 7.000 persons still receive this social transfer, saving the government approximately 3 million Euros yearly, a sum hardly worth the aggravated poverty it caused. The efforts of Slovenia towards austerity and ›fiscal consolidation‹ were favourably assessed in 2014 by the European Commission (Evropska Komisija 2014); the mounting inequality and poverty were, however, not taken into consideration. On the contrary: the 2014 Stability Programme called for further reductions in welfare benefits that will continue to affect the middle class and those categories of population that are most vulnerable: disabled persons1, ethnic minorities, especially Roma and Sinti, the unemployed,2 and the elderly.3 While the EU continues to discipline the alleged lazy East and South, the European Commission of Social Rights concluded in its 2014 report on Slovenia that the allowances for sick leave, unemployment, minimal pensions and disability are indeed too low compared to other EU countries. Unemployment likewise dramatically increased after 2008, affecting young people of both gender and the long-term unemployed the most (among them disabled and Roma, too). In 2013, unemployment reached 10.3% and unemployment among the young, 21.6%, while the long term unemployment rate peaked at 5.2%. Given high unemployment rates in 2012 and 2013 in combination with the raised taxes, Slovenia experienced the fourth highest drop in gross household disposable income in the EU in 2014. Poverty in Slovenia thus advances in big strides rather than in tiptoed steps, the country thus being on a parallel track with the other states of the Southern European Union, notably Greece, Spain, Croatia and increasingly, Italy and France. It affects women more than men, and inevitably also the female social work students who are traditionally inclined to choose the historically constructed female profession and at the same time expect to climb up the social ladder.

1

The household poverty risk rates show that the national average of low work intensity among households with disabled persons is 15,5%, which is lower than EU average (24%).

2

The 2014 data on employment show that in Slovenia, there is a 61,4% average employment rate, compared to the EU average of 67%. The highest disparity is among disabled men (48,5%) and non-disabled men (71,8%). In the age group of 16 – 24 years of age, there is a meagre 9,8% of employed, while in the age group 55 – 64 years of age, merely 16,2% of people are still employed (Eurostat 2014).

3

The minimum wage as well as the pensions continue to be indexed only to inflation, while the Act on minimum wage allows for indexation also to other economic factors. Pension indexation was frozen in 2013, 2014 and 2015, while the living costs are rising.

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S OCIAL

WORK STUDENTS SINCE

2009

The effects of the crisis post 2008 were difficult to miss in the changed demeanour of the students at the Faculty of Social Work, University of Ljubljana. Blank faces during classes and a markedly decreased enthusiasm for the topics of learning spoke volumes. The rising poverty rates, and especially, the ever more bleak prospects of future employment of the young after completion of their studies, seemed to influence their study interest. It became obvious that the university was increasingly seen as a safe haven, however temporary, from prospective unemployment and a shelter from the harshness of social inequality and conflicts: The young people were seen, and saw themselves, as safely tucked away in classrooms, a situation obviously deemed preferable to the possibility of their political engagement, partaking in protests, or adding to the numbers at employment centres. Thus the Slovenian public university became yet another fortress of neoliberal policies that does not produce the thinking subjects, but rather the volatile bodies. Some critical thinkers already speak of the end of the public university (Bembič / Breznik et al. 2013). In Slovenia, youth between 18 and 25 years of age are the largest single group of unemployed, followed closely by women over 55 years of age. Amongst young people, 19,1% were unemployed in 2013, a share higher than in the EU-28 (18,5%). Higher shares of unemployed young had only Greece, Spain, Croatia and Italy.4 The university in Slovenia thus became not only an entrance hall of the unemployment service, but an elongated corridor to it, as well. In spring 2014, I ran an anonymous questionnaire among the students of the Faculty of Social Work (the one and only university based social work programme in the country) to assess the impact of the rising poverty rates on the student population. Included were almost 300 students of social work, and students of sociology of the University of Ljubljana. The questionnaire enquired about the impact of the economic situation on their

4

Comparing the above data with the data for young people with disabilities, the situation shows that after decades of awareness rising and the implementation of the UN CRPD, the actual data show a picture of a blatantly obvious inequality. The percentage of unemployed disabled persons in the age group 18-25 is 58,3% compared to the 27,4% EU average. There is high disparity in the group aged 55 – 64: 47,1% of the disabled are unemployed at the national level compared to 19,7% EU average for the same age group. The unemployment of the disabled youth is higher by 30% compared to non-disabled young people in Slovenia, and nearly twice the share of the EU-28 average (Eurostat 2014).

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families.5 The majority of the respondents were women (96%), 18 to 25 years of age, who defined their parents and siblings as their family unit, while some in-

cluded also their current partner. Three quarters of respondents resided in rural areas of Slovenia or in small towns, and the rest in the larger cities. In response to the question »Does the social crisis and the rising poverty affect your family?«, two thirds, among them a majority of rural dwellers, answered in the affirmative. A near half responded that the family cannot afford what it used to (»We sold the vacation trailer and don't go to the seaside any more«; »we keep at home«; »we used to go skiing every winter, but as skiing is expensive, we don't go for two years now«; »we no longer go for outings or vacationing and we are saving because mother is afraid she will lose her job«). Nearly 78% of respondents replied with some kind of remark on increased caution when shopping and saving electricity and heating: »When we go shopping, we choose the cheapest products, no matter their quality. We no longer go for ›luxury‹ items. Clothes are bought only when there are sales. We buy only the necessary stuff and try to save money. Both my parents are unemployed, which causes stress and conflicts, and we live on savings.«

It is a well-known fact that in Slovenia young people move out of their homes on average at the age of 30; comparable only to Bulgaria where youths stay at home even longer. This is unique within the EU, backed by both tradition and the lack of adequate housing policies. Nearly 51% of students revealed that they are supported entirely by their parents, but that survival nowadays often requires economic solidarity of no less than three generations: »Father and mother, whenever they can, contribute money so I can live in Ljubljana. Sometimes I feel guilty about that because I know they are having a harder time because of that.« »My older brother would like to go live by himself, but cannot do it, he is unemployed. But our parents cannot help him either, we live in an extended family and the income of all is low. Only my father works, and my grandmother's pension is very low.«

Nearly 34% of respondents stated that they cannot go live on their own, even as they would like to, and stated that their elder siblings who moved away are coming back home:

5

The questionnaire was entitled »Youth and the Crisis« and featured 11 questions, some of which were open-ended and some closed. The original questionnaires are in the possession of the author.

274 | Darja Zaviršek »Due to lack of income, my brother who is 30, had to return to live at home with parents.« »My sister who lives with her boyfriend and has three kids cannot get a job, so she comes home often to have a joint meal with us, so she can save on the food a little.«

Postsocialist families in Slovenia were, historically speaking, rarely dependent on a single earner, as mostly both parents were employed.6 Due to the changed social norms regarding gender relations and the ideology of activation of all people able to work, this became in the last decade the official European dual earner policy, too. At the same time the student respondents are experiencing first-hand how the salariat turns into precariat (Standing 2011). The numbers of people in search of a first employment are increasing steadily, while the jobs they can get their hands on are increasingly insecure and underpaid. A basic sense of security and trust in the future is compromised. The students witnessed that their parents who, as ex-salariat, were able to cover the basic family expenses, were descending into poverty: »My mother lost her job a month ago, which worsened our economic crisis.« »I think that the crisis hit us especially when mother lost her job. In that time, my sister and I tried hard to earn money ourselves, to gain money with voluntary work, student work, with stipends.«

The family members can be left without a job suddenly, or are only employed for a limited time, are transferred to another post, are undergoing status frustration when given a job beneath their education level, ability or experience. Additionally, these jobs do not provide for professionalism, meaningful workplace structure, relations of trust; the workers cannot develop their professional and branch networks. As to status frustration, the student respondents already feel victimised, with the prospect of getting only short term jobs paying 3,5 Euros/net per hour once they have their diploma in hand. Some graduates will even enrol into a secondary school to ensure a prolonged student’s status for another school year in order to be able to get employed by the firms which rather employ underpaid students (even if they already have a diploma) than more expensive ordinary workers. A fair share of respondents nevertheless adopt an active stance and do their best to relieve their parents of all the financial burdens incurred also by their student status: 16,5% say that they work more than they did only a few years ago:

6

Countries of European postsocialism had, in 1991, a half century long tradition of full employment of both women and men, as state socialism upheld the view that all able to work should work, and gain, in the spirit of social equality, their social benefits, pension rights, free health care and education on the basis of work contributed to the community.

Poverty as a Culture of Dominance | 275 »We children, we don't ask our parents for money but take up work and try to buy ourselves what we need.« »Before, it was a rule in the family that while studying, this is our only duty, but now, I study and do student work on the side.«

The conditions of the precariat are thus already extended from the parents to the adolescent or adult offspring. More than 40% of respondents revealed their insecurity and fear of the future, expecting that the conditions will worsen still. Nearly 35% shared their worries about the economic survival of their families. Not only do they fear that they will not get a job once they graduate; many worry that they will be unable to finish their studies should their parents lose their jobs: »The insecurity regarding jobs in the future worries us all the time. One can always expect to lose the job, perhaps in the very moment when one needs financial security the most – when ill or advanced in age when one cannot easily get employment any more. And, the worries whether one will be able to take care of one's parents, if they fall ill or get infirm.« »My father faces unemployment. My brother and I are studying but are afraid of what will happen if we are not able to study further at all. There are these fears all the time, we are afraid of the future.« »My father nearly got fired. It was obvious that we were all very nervous. Personally, I was worried about what all this means for my studies, as I knew very well that my mother's salary will not be enough for us to live on.«

The precarious atmosphere is part and parcel of these jobs, producing not only angst but also the feeling of helplessness, alienation from the social processes, and a diffuse anger that targets no particular object. In the students' responses the angst and insecurity are palpable. Each day can bring a disaster; the family life is devoid of all feelings of permanence and security. Any day the remaining sources of income can vanish. The angst becomes permanent, diffused, and easily turns into depression and passivity: »My father who contributes the largest part of funds is worried all the time that he might lose his job. So is mother who keeps saying for two years now that she will lose her job as there are no customers (in the shop where she works). So they keep pressing my sister and me to conclude our studies as soon as possible, and this is psychologically hard on us too.« »Because of the insecurity, and because of social welfare money that my brother and sister depend on, I notice that they are more and more depressed, fatalistic and pessimistic about their prospects to find a job.«

The indirect experience of the salariat, and the direct one of the precariat, drives home the message to the student respondents that there is no kind of employment

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left that would render to an adult a sense of dignity and self-respect, both of which are demonstrated, among other things, in the ability to buy the goods one desires: »My mother wishes very much to go to the opera and to the theatre, but she decided no longer to go as now there is this fear, the concern about whether or not she will keep the job and the pressure to save money.«

Solidarity: from parents to offspring and back Two thirds of respondents confirmed that there is financial solidarity in the family, whereby the term »solidarity« was taken to mean economic support: »Not long ago, my boyfriend's mother needed a lot of money for some dental work, and we all worked more and gave up cinema and eating out and concerts for as long as it took to save up the money.« »Yes. We are all short on money because one of the parents lost the job, so we all help the person who needs something, even as we all have (too) little.« »I often lend money to my sister when she is in need. Before my mother had a job, I would give her my stipend money so she could cover all the expenses when needed. And vice versa, all our family members are in solidarity with each other.«

It would seem that economic solidarity that rarely extends beyond the closest family members has become one of the primary strategies of the economic survival of the family, but under altered principles: »We upped our solidarity with grandmother and grandfather who always help us. So we also always buy something for them when we go shopping, even if it is just bread.« »Because we are saving money [ for fear of an even greater economic crisis], we do not lend money to other people as we did before [mainly to relatives who were unable to return the money].«

Only a handful took solidarity to mean emotional support: »When searching through listings of vacancies, we would always also look for other family members, we are seeking out connections, we are more concerned about how each of us feels.«

The extent to which the respondents help out their parents financially came as somewhat unexpected and is reminiscent of post-war conditions. No less than 13,2% of the students stated that they regularly lend money to their parents so that the latter can make ends meet:

Poverty as a Culture of Dominance | 277 »I often help out mother and father so that we fare better«; »sometimes they cannot pay the bills so I lend them money«; »we help each other and pay an odd bill from my stipend, or I buy the food when I get my stipend.« »Before the crisis, the financial help to the parents did not exist, now it does – my brother and I often lend/donate money to the parents.«

There is little doubt that the postsocialist neoliberal era in Slovenia eradicated the boundary between the adults and the children that was established in the modern times and is deemed the basic condition for the development of a child into an autonomous subject. Within the modern concept of childhood, the adults took upon themselves the entire responsibility for the economic wellbeing of their children and adolescents until the latter chose their profession, finished schooling and entered their first employment. The boundary between the adult caretaker and the dependent offspring bestowed upon the parents their dignity and authority, and on the children their freedom to rebel and a safe path to self-reliance. The forced neoliberal transgression of this relationship implies the humiliation of the parents; therefore the symbolic boundary is maintained, at least, on the level of language. The student respondents consistently spoke of the parents »giving« them money, while they themselves are »lending« it to their parents. The notion of »lent money« preserves the idea of parental dignity: »I lend money to the parents who are both employed but earn minimal wage.« »Yes, in the sense that we help each other out. Especially the children to the parents. I lent my dad thousand Euros that I earned on a summer job.« »Yes, I do lend money to the parents. And sometimes I just give it to them. We help each other out more. And my mother helps my father in his workshop.« »All of us work long hours and we are at home more and we are short of money the last two weeks in the month, so we children have to help parents out with food shopping and buying other important things.«

Still, many respondents consider themselves as the primary financial burden of the family: »I don't want to burden my father with the expenses of my living in Ljubljana, so I only spend 50 € / month for the bus and the food, the money that my mother sends me as alimony.« »I moved into the student residence and gave up living in an apartment, but not because they would ask me to at home, but as a preventive measure, because I know that the circumstances are not exactly rosy.«

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Family conflicts on the rise Despite any possible perspective on the above that could praise the increased solidarity within families or the temptation to see the new poverty as the opportunity for the return of a pre-modern family’s united struggle with hardships in the manner of conservative traditionalists, all the increased loyalty and money sharing the respondents present are merely one side of the coin that sports, on the other side, a much increased family dissention and tensions. 30,4% of the respondents wrote in their responses about the ways these tensions increased: »the parents are always at home and unnerve each other«; »there are endless quarrels about money, vacationing, buying household machines, buying a car«; »quarrels about the loans, and expenses«; »much quarrelling about money and about whether we spend wisely«; »who will pay the bills, the parents always nervous about uncovered bills.« »My mother and I often quarrel about how she cannot pay the bills on time.« »Mom sometimes buys small treats (candy, chocolate, biscuits...) if somebody is to visit us, or for us, and father goes crazy when these things pile up and says we have to save money.« »When my brother wants to go to a party father always used to give him a few Euros, but now he would sometimes say that he has nothing so my brother should stay at home.« »There are conflicts between parents because of unpaid bills, because they cannot afford vacations, because they have too much work.« »When father is out of work, consequently, there is no money, which means we cannot pay the bills, we get notices and there is much tension, nervousness and then conflicts begin.« »There are quarrels about the prices of things or the amount of food bought and the location of vacations, a lot of bad temper and bad energy at home.« »Because there isn't that much money in the house, any comment can cause a quarrel.«

No less than 16% of students also intimated that because of the money crisis, one of the family members had fallen ill or their health situation worsened: 28,5% of these respondents quoted physical health, and no less than 60% mental health problems. In connection to this, the conflicts the respondents describe within the primary family do not remain confined to it, but spread out to other persons and contexts: »We became much more responsible, self-reliant, but also more distant, absent, spending much more time working and much less time nurturing our mutual relationships and the quality of our mental health.« »Conflicts increased primarily with my partner, because I would not admit to my parents that we don't have enough money.«

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The reasons for the increased conflicts the students see in lack of privacy, staying in the home most of the time but often, the reason is an increased alienation from one another: »During weekends when I come home I hardly ever see my parents. I work as a waitress the entire weekend, I only see my brother when we go to smoke a cigarette in the evenings.« »Even as we are bonded and like each other very much, my parents are saving money because of the crisis and visit me in Ljubljana less frequently because of the gas that it takes to travel with frequent visits. I go home less frequently too for the same reasons and so we see each other less and less.«

The students quoted their parents' desire to obtain a divorce in 2,6%, but added that they cannot because of the financial situation. They reported psychological violence, to the exclusion of any other form of family violence (»there are also more frequent conflicts among parents as father would say he is the only one bringing home the money«): »My parents don't want to be together any more, but don't plan to divorce because we can't afford two apartments, which impacts the children considerably. When they quarrel, the younger siblings cannot study, they are crying and restless. In general, the atmosphere in the family is tense and therefore unpleasant.« »There are many conflicts between my parents and my brother, and between my older brothers. The eldest brother is unemployed, so he is the target of many pressures. My parents think he is not very diligent in seeking employment.« »There is much more tension and, as a consequence, many more quarrels; because of the dissatisfaction in the family, there is much less tolerance and everything gets to the edge.« »My parents are more irritable because they know they have problems, so they quarrel about everything.« »My parents quarrel about money. Especially about the bigger things, about buying a car, buying a washing machine. They blame each other for spending. Before, there were no such quarrels.«

Migration Until recently, Slovenia was one of the postsocialist countries whose people hardly migrated either on a daily or permanent basis. This began to change in 2005, and most pronouncedly after 2009 when highly educated young people up to 35 years of age began to leave the country permanently, comprising repeated and increasing waves of »brain drain«. Nevertheless, the growing unemployment in the last years forced more women to find care work jobs abroad. German and Austrian hospitals started to seek nursing labour with advertisements in Slovenian newspapers for eg.

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a clinic in Nuremberg looking for »female and male lower level nurses with German language skills« (Job search 2014). In 2014, the students reported primarily on daily work migrations (persons who travel mostly to Austria and Italy on a daily basis) that are likewise a novel, recent experience for the majority of Slovenians: »Father had to move abroad to work and we only see him a couple of times every month.« »Mother was left jobless, so she has to work in Austria [commuting 300 kilometres daily]. So she comes home every evening late and very nervous. We hardly spend any time together and when we do, we quarrel.«

Migration from the post socialist countries is a wellknown phenomenon. Since the middle 1990s thousands of women from Ukraine and Lithuania have become care workers in the west and very often social parents for the children abroad in order to economically support biological children at home, the phenomenon described as social parenthood (Zaviršek 2012) and the global motherhood (Ehrenreich / Hochschild 2003). In the Ukraine, some estimates show that in every third family at least one female member is a migrant worker abroad and the population dwindled from 52 to 45 million people in 20 years (Tolstokorova 2010). The old fashion inequalities and the »culture of dominance« get reproduced by the migrant women who have replaced the dominant culture women in the private sphere. While the former work for survival of themselves and the persons whom they support, the latter climb the social mobility ladder and work in economically more profitable areas than care work. Only after 2011, the large-scale female migration has become a governmental concern. In Lithuania, the mass media speak about the »national epidemic«, while in the Ukraine about the »Italian syndrome« (abandoned and lonely children but with monthly income from their mothers working mostly in Italy). Some creative responses by social workers were developed to support children who are left alone. For instance, Lithuania introduced temporary guardianship for grandparents who care for children of migrant workers (Malinauskas 2011). But precisely in the migrant’s home countries, and Slovenia has become yet another among them, the system of home care is almost entirely based on the unpaid care work of the female family members who are now paradoxically forced to leave their families in order to support them at the same time.

C ONCLUSIONS In conditions where establishing the family of choice is increasingly a matter of individual decision, the descent into poverty, on the other hand, substantially dimin-

Poverty as a Culture of Dominance | 281

ishes this freedom and, with it, the democratic standards of everyday life. Students of social work in Slovenia traditionally come from the less financially endowed social strata, therefore their expressed descriptions of life in their families is hardly representative of the entire student population in Slovenia or of all and any future professional social workers. However, even before the crisis and in a time when social work study at the University of Ljubljana was a two-year programme (until 1994), the students often explained their choice for the study precisely because it was short and, consequently, less of a burden on the students’ families. The predominantly female students at the faculty were also hardly a coincidence with regard to their familys’ economic situation: they would often intimate that their male siblings are studying in various four-year programmes while they themselves took the two-year one because otherwise their parents could not bear the combined expenses. That female children were to be economised upon was likewise no accident and can be attributed to substantial traditionalism in career expectations for the children of respective gender. Keeping all this in mind, certain trends discernible from the presented responses of the students to the query are obvious. There is little doubt that the respondents experience an increased and unforeseen entanglement with their families that substantially diminishes their personal autonomy and freedom, as well as career and life projections. However, there is a striking absence in their attitudes: nowhere one can detect anger about the insufferable living conditions, the dignity they and their families are robbed of, or about the lost future. While there is no open and direct anger, there instead exists passive aggression – as revealed in the blank faces in the classroom, the absent gazes of the students immersed not in the topic of the class, but rather the next odd job they may be able to secure. This absence of anger and revolt is perhaps an early symptom of a traumatisation that may have yet unforeseen consequences and future ways of revealing and venting itself. The anthropologist Mary Douglas in one of her classical studies (1987) demonstrated how the people in an Indian village community enjoyed relatively harmonious and egalitarian relationships until draught brought scarcity of food and comfort. Spontaneously, the old hierarchies re-established themselves that gave the traditional higher classes an unquestioned access to the rarefied goods, while the once lower classes took this to be completely normal: they accepted to bear the hunger, and even death. Once the draught was over and normal levels of supplies were assured, egalitarianism, at least at the surface of things, returned (Douglas 1987). These deeply entrenched ideas of power relations described by Douglas as well as Rommelspacher (1995) are uncomfortably reminiscent of the lack of anger in our student respondents. It may well testify to the fact that egalitarianism in socialist and postsocialism Slovenia was never more than skin deep, and that the folk wisdom holding that »silence is golden« covers untold social inequalities from before

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the times of crisis, austerity and increasing poverty in the face of likewise soaring inequality.

L ITERATURE Bembič, Brank / Breznik, Maja et al. (2013): Kaj po Univerzi? / After university, what next? Ljubljana. Douglas Mary (1987): How Institutions Think. London. Ehrenreich, Barbara / Hochschild, Arlie Russel (eds.) (2003): Global Woman. Nannies, Maids and Sex Workers in the New Economy. London. Evropska Komisija (2014): Priporočilo sveta, v zvezi z nacionalnim reformnim programom Slovenije za leto 2014, in mnenje Sveta o slovenskem programu stabilnosti za leto 2014. URL: http://ec.europa.eu/europe2020/pdf/csr2014/csr 2014_slovenia_sl.pdf (Stand 20.02. 2015). Eurostat (2014) European Comission. URL: http://ec.europa.eu/eurostat (Stand 01.03. 2015). Josipovič, Damir / Šumi, Irena (2014): Na poti v nerazvitost in revščino. / On our way to under-development and poverty. Dnevnik, Objektiv, 5 July 2014. Job search (2014) Klinikum Nuremberg. Saturday, 6. December 2014, Delo Daily. Malinauskas, Gedas (2011): This Child is Also Mine. A Narrative Approach to the Phenomenon of Atypical Custodial Grandparenthood. Rovaniemi. Rommelspacher, Birgit (1995): Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin. Standing, Guy (2011): Preciariat. The New Dangerous Class. London & New York. Tolstokorova, Alissa (2010): Where Have All the Mothers Gone? The Gendered Effect of Labour Migration and Transnationalism on the Institution of Parenthood in Ukraine. In: Anthropology of the East Europe Review, 28, pp. 184-214. Zaviršek, Darja (2012): From Blood to Care. Social Parenthood in a Global World. Maribor.

Schweigen, Sprechen und Schreiben

Die Vermessung des Schweigens – oder: Was heißt sprechen? Dimensionen epistemischer Gewalt* Sabine Hark We die. That may be the meaning of life. But we do language. That may be the measure of our lives. TONI MORRISON, NOBELPREISREDE (1993) Stets gilt es, eine Stimme, die gerade erst leise zu hören ist, sogleich zu stören, zum Schweigen zu bringen und zu hindern, in der ersten Person Plural zu sprechen. ACHILLE MBEMBE, KRITIK DER SCHWARZEN VERNUNFT (2014)

V ERSUCHSANORDNUNG Im Spätherbst 1917 notiert Franz Kafka in einem der beiden Zürauer Hefte ein gerade einmal 56 Zeilen langes, titelloses Prosastück (Kafka 2002: 40-42). Kafka variiert hier in einer extrem verdichteten, fast schon philosophisch zu nennenden Prosa den 12. Gesang aus Homers Odyssee, in dem Odysseus von seiner gefahrvollen Begegnung mit den Sirenen berichtet. Es ist Kafka dabei nicht um eine traditionskonforme Wiedergabe der Homerschen Dichtung zu tun, im Gegenteil. Er macht den Mythos zum Material seines eigenen Zwecks, den er gegenüber dem Freund Max Brod so beschrieben hat: »Über die letzten Dinge klar werden« (zit. nach

*

Dieser Aufsatz greift in Teilen auf meinen Text »Schweigen die Sirenen? Epistemische Gewalt und feministische Herausforderungen« (2014) zurück.

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Stach 2008: 252). Der Kafka-Biograph Reiner Stach charakterisiert den Text denn auch als »Versuchsanordnung« (Stach 2008: 252) beziehungsweise als eine »aus Bildern gewonnene, zu Bildern geronnene Denkbewegung« (ebd. – Hervorhebung S.H.). Kafka selbst führt den Text im ersten Satz als ›Beweisführung‹ ein: »Beweis dessen, daß auch unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung dienen können« (Kafka 2002: 40). Er folgt damit, indem er »die Szene vollständig aus ihrem Kontext und ihrer logisch-kausalen Einbettung in den Gang der Handlung« (Honold 2005: 320) herausschält, eher dem »Ethos naturwissenschaftlichen Experimentalverhaltens« (ebd.) als der narrativen Struktur des Mythos. Und tatsächlich erzählt Kafka uns streng genommen auch keine Geschichte, er experimentiert mit verschiedenen Anordnungen und führt einen Beweis: ›auch unzulängliche, ja kindische Mittel‹ können zur Rettung dienen.

E PISTEMISCHE G EWALT Während Kafka vordergründig die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Rettung zu umkreisen scheint, akzentuiert Max Brod mit seiner posthumen Titelgebung »Das Schweigen der Sirenen« das Schweigen (Kafka 1983: 58 f.). Stachs Bild der Versuchsanordnung aufgreifend, will ich im Folgenden dieser von Brod gelegten Spur folgen. Ausgehend vom Konzept der epistemischen Gewalt, wie es von Gayatri Chakravorty Spivak entwickelt wurde, und Pierre Bourdieus Überlegungen zu symbolischer Gewalt nehme ich Kafkas literarische Experimentalanordnung zur Vermessung des Schweigens zum Anlass, über den Zusammenhang von Schweigen und Macht nachzudenken. Kafkas Parabel bietet sich dafür deshalb an, da dieser hier, gleichsam avant la lettre, eine Frage untersucht, die für die feministische wie für die postkoloniale Kritik gleichermaßen von existentieller Bedeutung ist, nämlich wie Schweigen in Sprache und in die Ordnung des Sagbaren eingelassen ist. Und vielleicht genauer noch: Kafkas Versuchsanordnung zielt gerade auf die Untersuchung der Frage, wie die Ordnung des Sagbaren, das »Gitter der Lesbarkeit« (Butler 2009: 73), nicht nur auf Schweigen aufruht, sondern dieses im Modus der Sprache allererst hergestellt wird. Kafkas Meditation zum Schweigen der Sirenen stellt daher eine Antwort dar auf die Aufgabe, wie »die Problematik der Verknüpfung zwischen dem, was nicht gesagt werden kann, und dem, was gesagt werden muss«, kritisch zu bearbeiten wäre, wie die griechische feministische Philosophin Athena Athanasiou in dem gemeinsam mit Judith Butler verfassten Band Die Macht der Enteigneten (2014: 183) formuliert hat. Die Fabrikation von Schweigen nimmt dabei verschiedene Formen an. Etwa die, dass die Artikulation nur bestimmter Sachverhalte ermöglicht wird, während

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andere aus der Sprache ausgeschlossen beziehungsweise nur in entstellter Weise in sie eingeschlossen werden. Die Herstellung von Schweigen im Modus der Sprache umfasst aber auch und vielleicht vor allem die Formen sprachlicher Adressierung, die wir erfahren, das heißt die Weisen, wie wir je unterschiedlich in Sprache und Sein hineingeholt werden. Weisen, die es den einen erlauben, »zu atmen, zu begehren, zu lieben und zu leben« (Butler 2009: 20), während die anderen im Bereich des Nichthörbaren, Nichtverstehbaren, der Nichtanerkennbarkeit und damit der Unlebbarkeit platziert werden. Auf diese Dimension von Schweigen, nämlich in entstellter Weise in Sprache eingeschlossen, auf gewaltvolle Weise adressiert zu werden und gerade dadurch unhörbar, un(an)erkennbar zu sein, hat Toni Morrison im Hinblick auf rassistische sprachliche Strukturen wiederholt hingewiesen. Als »schwarze Schriftstellerin« (Morrison 1994: 13), so schreibt sie, kämpfe sie »mit einer und durch eine Sprache, die versteckte Anzeichen rassischer Überlegenheit, kultureller Hegemonie und abfälliges Ausgrenzen von Menschen und ihrer Sprache [...] machtvoll beschwören und noch verstärken« könne (ebd.). Es sei deshalb erforderlich, »Wege zu finden, um die Sprache von ihrer manchmal unheimlichen, oft trägen und fast immer voraussagbaren Verwendung von rassisch geprägten und festgelegten Ketten zu befreien« (ebd.). Und wenn die Weisen, wie wir je unterschiedlich in Sprache und Sein hineingeholt werden, auch die Regeln des Gehört-Werdens organisieren, geht es schließlich um die Frage, wie die Regeln des Sagbaren verändert werden müssten, damit marginalisierte, subalterne Stimmen Gehör finden. Damit ist »die enge Verbindung zwischen dem Status der Subalternität und dem Schweigen« (Steyerl 2008: 12) angesprochen, die Gayatri Chakravorty Spivak in die Frage gekleidet hat, ob sich aus den »auf groteske Weise falsch transkribierten Namen« (Spivak 2008: 81) je eine »Stimme zusammensetzen« lässt (ebd.). Spivak macht hier auf einen wichtigen Aspekt aufmerksam: Die Subalterne wird nicht deshalb nicht gehört, weil sie schweigt. Im Gegenteil: Sie führt eine Rede. Doch diese Rede kann nicht gehört werden, weil sie nicht unter eigenem beziehungsweise nur unter verzerrtem Namen geführt werden kann, weil die Stimme der Subalternen diffus und ausgefranst ist, weil sie verkürzt und verballhornt wurde, weil sie gestört und zum Schweigen gebracht wurde, weil sie außerhalb des hegemonialen logos und ohne auctoritas ist. Wie Judith Butler wiederholt gezeigt hat, bedürfen wir allerdings dringend der Anrede, um zu sein. Auch wenn die Sprache uns in subordinierte oder subalterne Positionen ruft, holt sie uns in eine Geschichtlichkeit hinein, die »diejenige des sprechenden Subjekts übersteigt« (Butler 1998: 46). Denn insofern »das Subjekt durch die Anrede ins Sein kommt«, fährt Butler fort, »läßt es sich dann unabhängig von seiner oder ihrer sprachlichen Haltung vorstellen? Ein solches Subjekt wäre in der Tat unvorstellbar, oder die Subjekte wären nicht, was sie sind, abgelöst von der konstitutiven Möglichkeit, andere anzusprechen oder von anderen angespro-

288 | Sabine Hark chen zu werden. Wenn diese Subjekte ohne die sprachliche Haltung zueinander nicht sein könnten, wer sie sind, dann ist diese Haltung hierfür offenbar wesentlich oder etwas, ohne das man nicht sagen könnte, daß die Subjekte existieren. Ihre sprachliche Haltung zueinander, ihre sprachliche Verletzbarkeit durch einander, tritt nicht einfach zu ihren sozialen Beziehungen zueinander hinzu. Vielmehr ist sie eine der ursprünglichen Formen, die diese sozialen Beziehungen annehmen.« (Ebd.: 49 f.)

Butler weist hier auf die Prekarität hin, die jeder Subjektwerdung innewohnt: Wir werden durch sprachliche Adressierung – und sei sie auch noch so entstellt – ins Leben geholt; es ist die Bedingung der Möglichkeit von agency. Zu Handelnden werden wir daher gerade erst dort, wo (autark gedachte) Souveränität schwindet, wo wir an/erkennen, dass wir, wie Butler schreibt, »von Anfang an soziale Wesen und von dem abhängig sind, was außerhalb unserer selbst liegt, von anderen, von Institutionen und von abgesicherten und sichernden Umwelten« (Butler 2010: 29). Angesprochen zu werden bedeutet aber auch, dass wir immer schon in der Hand der anderen, dass wir verletzbar sind. Verletzbarkeit, so Butler, ist eine der ursprünglichen Formen, die soziale Beziehungen annehmen. »Gefährdung ist nicht einfach als Merkmal dieses oder jenes Lebens zu begreifen; sie ist vielmehr eine allgemeine Bedingung, deren Allgemeingültigkeit nur geleugnet werden kann, wenn das Gefährdetsein selbst geleugnet wird« (Butler 2010: 29).

D AS S CHWEIGEN

DER

S IRENEN

Schweigen also. Die Sirenen, schreibt Kafka, haben »eine noch schrecklichere Waffe als ihren Gesang, nämlich ihr Schweigen« (Kafka 2002: 40). Vor dem Gesang sei es, wenn auch nicht geschehen, so doch immerhin denkbar, »daß sich jemand vor ihm gerettet hätte, vor ihrem Verstummen gewiß nicht« (ebd.). Und so ist nicht Odysseus in Kafkas Version des Sirenenmythos der Listige, die Sirenen sind es. Denn, so macht Kafka uns glauben, »tatsächlich sangen, als Odysseus kam, diese gewaltigen Sängerinnen nicht« (ebd.). Ob aber die Sirenen in Tat und Wahrheit willentlich schwiegen, also ihre »noch schrecklichere Waffe« (ebd.) einsetzten, oder sie ob Odysseus’ Anblick das Singen schlicht vergaßen, lässt Kafka im Ungefähren. Er bietet uns vielmehr beides als gleichermaßen gültige Hypothesen an: »sei es daß sie glaubten, diesem Gegner könne nur noch das Schweigen beikommen, sei es daß der Anblick der Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten dachte, sie allen Gesang vergessen ließ.« (Ebd.: 41)

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Kafka ist es indes nicht um eine Antwort auf diese Frage zu tun; er wendet sich zunächst Odysseus zu. Dieser nämlich, berichtet Kafka, »hörte ihr Schweigen nicht, er glaubte, sie sängen und nur er sei behütet es zu hören« (ebd.). Auch diese Aussage kleidet Kafka in eine hypothetische Form: »um es so auszudrücken« (ebd.). Es ist unentscheidbar, ob Odysseus etwas hörte oder er tatsächlich davor behütet war, etwas zu hören. Aber gäbe es überhaupt etwas zu hören? Wogegen schützt die »Handvoll Wachs« (ebd.: 40)? Gegen den Gesang oder gegen das Schweigen? Gegen das Hören oder das Nicht-hören-Wollen? Gegen das Wissen-Können oder das Begehren, nicht wissen zu wollen? Und was hört Odysseus (nicht)? Den Gesang? Das Schweigen? Was hätte er hören können, hätte er das Schweigen gehört? Wen täuscht Odysseus? Die Sirenen? Sich selbst? Und wen überlisten die Sirenen? Aber wenn Odysseus nichts hört, so ist doch unentscheidbar, ob er den machtvollen Gesang nicht hört oder das Schweigen, das Ausbleiben des Gesanges. Das Wachs schützt dagegen, dass das Schweigen gehört werden muss; die verstopften Ohren machen es ebenso unmöglich, den Gesang wie das dass des Schweigens zu hören. Die Nicht-Hörende kann nicht entscheiden, ob sie nicht hört, dass etwas gesungen wird oder dass nicht gesungen wird. Unentscheidbar bleibt auch, ob das Schweigen einfach ›nichts-zu-hören‹ oder das Ausbleiben oder Verstummt-Sein eines Gesangs ist. Das Schweigen aber, dem Odysseus entkommen will – dem er entkommt, nicht, weil er es nicht hört, sondern weil er nicht weiß, dass er es hätte hören können – ist mehr als dass einfach nichts zu hören ist. Und die Sirenen? Kafka schildert sie uns, obgleich »gewaltige Sängerinnen« (ebd.) und »schöner als jemals« (ebd.: 41), als subalterne Figuren. Es sind »schaurige« (ebd.), gepeinigte Kreaturen, sie sind ohne klare Gestalt und Bewusstsein, ohne gemeinsame Sprache und Repräsentation und bleiben damit letztlich unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Sie sind nicht intelligibel insofern sie außerhalb der historischen Schemata situiert sind, die das »Erkennbare als solches konstituieren« (Butler 2010: 14). Auch Odysseus wusste, »gerade als er ihnen am nächsten war, [...] nichts mehr von ihnen« (Kafka 2002: 41).1 Kafkas Sirenen haben »weder Heimat noch Gesetz« (Foucault 1977: 12)2 und »auch kein Wort« (ebd.); sie werden »gleichzeitig gejagt, verleugnet und zum Schweigen gebracht« (ebd.). Können wir das Schweigen der Sirenen daher tatsächlich als das Schweigen der Subalternen im Sinne Spivaks verstehen? Ist es die Rede, die sehr wohl gehalten wird, die aber nicht gehört werden kann? Bezeichnet Schweigen hier einen Gegensatz zur Rede oder ist es in Sprache eingelassen, in ihr ver-, aber eben auch gebor1

»Bald aber glitt alles an seinen [d.i. Odysseus‘] in die Ferne gerichteten Blicken ab, die Sirenen verschwanden ihm förmlich und gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen.« (Kafka 2002: 41)

2

In diesen Worten beschreibt Foucault bekanntlich das Schicksal der Sexualität im Zeitalter des legitimen, sich fortpflanzenden heterosexuellen Paares.

290 | Sabine Hark

gen? Und schließlich wäre noch denkbar, dass Kafka hier die Macht des Schweigens – die Macht der Sirenen – verhandelt. Welcher Art aber wäre diese Macht? Ist sie gebieterisch? Verführerisch? Aufrührerisch? Verstörend? Bietet das Schweigen der Sirenen der Macht ein Obdach oder schützt es vor Macht? Spricht Kafka hier also von der Subversion des Schweigens? Von Schweigen als Subversion? Doch wer oder was würde subvertiert? Odysseus, der nichts hört, allerdings davon ausgeht, dass die Sirenen singen, da er das, was er sieht, nämlich Mimik und Gestik der Sirenen, als Zeichen ihres Gesangs deutet und deshalb nicht nur ihr Schweigen nicht hört, sondern die Sirenen selbst nicht einmal wahrnimmt? Oder die Sirenen, die nicht wissen können, ob Odysseus sie hört oder nicht und darüber vielleicht schlicht zu singen vergaßen? Es ist mithin unklar, ob das Schweigen die von Odysseus zur Rettung eingesetzten ›kindischen Mittel‹ desavouiert oder das Schweigen selbst die Rettung ist. Nicht nur Odysseus kommt davon, auch die Sirenen blieben – weil sie ohne Bewusstsein waren.

ARCHÄOLOGIE

DES

S CHWEIGENS

Was aber wäre das Mehr des Schweigens, das anderes ist, als dass einfach nichts zu hören ist? Was wird hier verschwiegen? Könnten wir als Leser_innen von und Leser_innen in Kafkas Text das Schweigen der Sirenen hören, wenn wir wollten? Es hörbar machen? Und was würden wir dann hören? Lesen wir Kafkas Parabel mit einer an Bourdieu, Butler, Foucault, Morrison, Mbembe und Spivak geschärften Brille, so bietet sich folgende Lesart an: Das Schweigen der Sirenen, das Schweigen, das Kafka hier umkreist, ist nicht die Abwesenheit von Sprache; im Gegenteil. Das Schweigen der Sirenen ist eine Sache in der Sprache. Die Subalterne wurde zum Schweigen gebracht. Schweigen ist, mit anderen Worten, in die Ordnung des Sagbaren eingelassen, ja mehr noch: Schweigen fundiert, ermöglicht das, was sagbar ist. Schweigen, argumentiert Wendy Brown, ankert in Sprache, und Bedeutung wiederum ankert in Schweigen (Brown 2005: 83).3 Kafka geht es daher letztlich nicht um die Frage, wer mächtiger, listiger ist: Odysseus oder die Sirenen. Unerheblich ist auch, ob die Leser_in auf der Erzählebene »weiß«, ob die Sirenen geschwiegen haben oder nicht, ob sie sangen oder nicht und ob Odysseus hörte oder nicht. Denn das Schweigen ist in jedem Fall anwesend. Uninteressant ist letztlich auch, dass Kafka von Homers Bericht abweicht. Ohnehin wollte er nichts erzählen, sondern ein Experiment durchführen. 3

»Speech harbors silences; silences harbor meaning. When silence is broken by speech, new silences are fabricated and enforced; when speech ends, the ensuing silence carries meaning that can only be metaphorized by speech, thus producing the conviction that silence speaks.« (Ebd.)

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Indem in letzter Instanz unentschieden bleibt, ob gesungen oder geschwiegen wurde, ob etwas gehört wurde oder nicht, ob Odysseus wusste, dass er etwas hätte hören können oder nicht, weist Kafka vielmehr auf etwas anderes hin: Markiert wird hier nicht die Grenze zwischen Sprechen und Schweigen, zwischen Gesang und Verstummt-Sein. Worum es ihm in seiner Versuchsanordnung zur ›Klärung der letzten Dinge‹ tatsächlich zu tun ist, ist, die Faktizität von Schweigen innerhalb der Sprache zu markieren – eine Faktizität, die mehr ist als dass vergessen wurde zu sprechen. Im Schweigen der Sirenen sucht Kafka also eine abwesende Anwesenheit: Das Schweigen, das in Sprache okkludiert und nicht jenseits von Sprache angesiedelt ist. Denn Schweigen ist eine Möglichkeit der Sprache, und zwar nicht im Sinne des Nicht-Gesagten, sondern im Sinne des Nicht-Intelligiblen; das, was aus der Ordnung des Vernünftigen zugleich ausgegrenzt und in ihr verborgen wurde. Kafka umkreist damit die Frage, wie etwas anzusprechen wäre, das zu einer unmöglichen Möglichkeit der Geschichte geworden, gleichwohl eine Möglichkeit gewesen ist. Was Kafka in dieser kurzen Parabel versucht, ist nichts anderes als eine literarische »Archäologie dieses Schweigens« (Foucault 2001: 225), eine Archäologie, die darauf zielt, die aus der Ordnung der historischen Wirklichkeit, der Ordnung des Sagbaren, dem historischen Apriori ausgeschlossenen Sätze, jene Fülle der Äußerungen, die gar nicht Quelle hat werden können, freizulegen – allerdings im Wissen darum, dass diese vielleicht rehabilitiert, aber niemals restauriert werden können. Kafka erprobt also Möglichkeiten, Sprache zu öffnen für das Schweigen, das die Sprache selbst herstellt und das Sprechen ermöglicht. Er bietet eine Antwort an, wie eine der wesentlichen Aufgaben kritischen Denkens heute bearbeitet werden kann, nämlich »uns der Singularität jener anzunehmen, die als bloßes Menschenmaterial entwürdigt, als wertlos verworfen werden« (Butler / Athanasiou 2014: 184), und »nach Möglichkeiten zu suchen, die normativen Voraussetzungen zu ›benennen‹, deren es bedarf, innerhalb etablierter Herrschaftsverhältnisse Singularität zu erlangen« (ebd.: 185). Ohne Bezug auf Kafka hat Foucault jenes Schweigen, wie es spricht und sprechen könnte, im Vorwort der Originalausgabe von »Folie et Déraison« (1961) folgendermaßen umschrieben: »Seitdem sie erstmals formuliert worden ist, bringt die historische Zeit etwas zum Schweigen, das wir im Weiteren nur mehr in den Kategorien des Leeren, des Vergeblichen und des Nichts aufgreifen können. Die Geschichte ist allein auf dem Grund einer Abwesenheit von Geschichte möglich, inmitten dieses großen Raumes murmelnder Stimmen, denen das Schweigen als Berufung und Wahrheit auflauert. [...] Die Fülle der Geschichte ist allein möglich in dem zugleich leeren und bevölkerten Raum all jener sprachlosen Worte, die dem, der ihnen ein Ohr leiht, einen dumpfen Lärm von unterhalb der Geschichte vernehmbar machen, das hartnäckige Gemurmel einer Sprache, die ganz allein sprechen würde – ohne sprechendes Subjekt und ohne einen Mitsprechenden, über sich selbst gebeugt, mit zuge-

292 | Sabine Hark schnürter Kehle, zusammenbrechend, bevor sie überhaupt zu einer Formulierung gelangt ist, und glanzlos ins Schweigen zurückkehrend, von dem sie sich niemals befreit hat. Ausgedörrte Wurzel des Sinns.« (Foucault 2001: 228 f. – Hervorhebung im Original)

Hätte Odysseus dieses Schweigen, ›das glanzlose Gemurmel einer Sprache, die ganz allein sprechen würde‹, hören können? Und was wäre geschehen, hätte er es gehört?

S EIN

UND

S PRECHEN

Verlassen wir an dieser Stelle Kafkas Bericht. Wie dieser den Sirenen-Mythos zum Material für seine Zwecke machte, habe auch ich seine Versuchsanordnung zur Vermessung des Schweigens für meine Zwecke benutzt. Und zwar, indem ich diese 56 Zeilen gelesen habe als machtkritische Archäologie des Schweigens, als Lehrstück, in dem Kafka die Herstellung von Schweigen im Modus der Sprache zu begreifen sucht. Meine Argumentation lässt sich dergestalt zusammenfassen, dass Kafka in seiner Experimentalanordnung, in der er mit der Frage, wie das Schweigen der Sirenen gehört werden könnte, danach fragt, wie wir von ihnen wissen könnten, zwei Dimensionen epistemischer Gewalt fokussiert: erstens die Abhängigkeit des Gehört-Werdens von den Anforderungen an Hörbarkeit und zweitens die Verbindung zwischen Subalternität und Schweigen. Kafka untersucht im Schweigen der Sirenen also nichts weniger als den Zusammenhang von Macht, Wissen und Seinsweisen. Ich möchte abschließend einige der Herausforderungen umreißen, die sich daraus für das feministische Denken ergeben. Denn die Aufhellung dieses Zusammenhangs, die Befragung der Regime der Verständlichkeit daraufhin, wessen und welches Sein und Sprechen ermöglicht und wessen und welches Sein und Sprechen verunmöglicht wird, wer unter eigenem Namen sprechen und gehört werden kann, ist für feministisches Denken entscheidend. Denn es ist Wissen, das die Grenzen bestimmt, innerhalb derer wir uns haben begreifen können und haben begreifen lassen, das bestimmt, was lebbar ist. Was zu tun ist, erschöpft sich daher nicht darin, die epistemologischen Anordnungen, die verfügen, wer wahr sprechen kann, aufzuhellen, sondern auch Einspruch gegen sie zu erheben. Es gilt, in den Worten Foucaults, den Preis zu bestimmen, den ein Subjekt »für den Zugang zur Wahrheit zu zahlen hat« (Foucault 2004: 32). Dieser Einspruch gegen epistemologische Anordnungen ist deshalb notwendig, weil sich, wie Butler wiederholt angemerkt hat, unsere epistemologischen Gewissheiten immer wieder als Unterstützung einer Strukturierungsweise der Welt herausstellen, die alternative Möglichkeiten des Ordnens – und damit alternative Weisen des Seins – un(an)erkennbar machen. Die »Kategorien, mit denen das sozi-

Die Vermessung des Schweigens | 293

ale Leben geregelt ist«, so Butler, »bringen eine gewisse Inkohärenz oder ganze Bereiche des Unaussprechlichen hervor« (Butler 2002: 226). Diese Inkohärenz der Kategorien ist freilich nicht einfach ausbeutbar. Insofern »sprachliche Verhältnisse immer Verhältnisse der symbolischen Macht sind« (Bourdieu / Wacquant 1996: 177), »Technologien der Repräsentation« dazu beitragen, »Verletzung moralisch zu konsolidieren« (Butler / Athanasiou 2014: 182) und schließlich Macht sich dadurch auszeichnet, dass es, wie Mbembe argumentiert, der »Souverän ist, der entscheidet, was sichtbar ist und was unsichtbar bleiben soll« (Mbembe 2014: 211), sind Sprechpositionen nicht, wie auch Spivak argumentiert, beliebig vermehrbar. Denn Macht operiert nicht nur durch die Regulierung des Sagbaren, sondern auch und gerade durch die Verknappung autorisierter Sprechpositionen. Zudem manifestiert sich symbolische Gewalt »in den dunklen Dispositionen des Habitus, denen Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata innewohnen, aus denen vor jeder bewußt getroffenen Entscheidung und willentlichen Kontrolle eine sich selber undurchsichtige Beziehung praktischen Erkennens und Anerkennens hervorgeht. [...] [Sie] ist eine Form von Macht, die sich unmittelbar und wie durch Zauber, ohne jeden physischen Zwang, auf Körper auswirkt; der Zauber wirkt aber nur, weil er sich auf vorab bereitgestellte Dispositionen stützt, die er ›in Gang setzt‹ wie Triebfedern.« (Bourdieu 2001: 216, 218)

Symbolische Gewalt, so Bourdieu weiter, ist daher nicht »durch die Waffen des Bewußtseins und des Willens zu besiegen« (ebd.: 230). Ja, die Subalternen sprechen, aber ihre Rede wird nicht gehört, weil ihre »Sprache unverständlich oder zumindest unartikuliert« (Mbembe 2014: 211), ihr »Anteil am Menschsein« (Fanon 2013: 102) umstritten ist. Vernehmbar ist sie allenfalls als jener ›dumpfe Lärm von unterhalb der Geschichte‹, wie Foucault sagt. Was ein postkolonial informierter und intersektional orientierter Feminismus angesichts solcher Zusammenhänge zunächst und vielleicht zu allererst braucht, ist Mut. Mut zum Dissens. Mut zur Unterscheidung. Mut zum Urteil. Es gilt, immer wieder zu fragen, wie der Bereich des Sag- und Fragbaren organisiert ist und was aus dem Bereich des Vernünftigen ausgegrenzt wird. Es heißt aber auch zu fragen, wie Feminismus – beziehungsweise das, was in seinem Namen behauptet wird – selbst daran beteiligt ist, diese Sag- und Sichtbarkeiten zu organisieren, daran, »seitliche Stimmen« (Foucault 1992: 27) zu produzieren. Unabdingbar ist es daher, kontinuierlich Rechenschaft darüber abzulegen, wie Welt und Sozialität imaginiert, geformt und aufrechterhalten werden. Und das heißt, danach zu fragen, an welchen Werten, welchen Stimmen und Erfahrungen sich feministischer Aktivismus und feministische Theorie orientieren wird, an wem und welchen Interessen Feminismus sich orientieren sollte, welchen Kämpfen er Rechnung trägt, von wem aus feministisch gedacht und gehandelt wird, wessen und

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welches Handeln ermöglicht und wessen und welches Handeln verunmöglicht wird. Und es heißt die Frage zu stellen – und sich stellen zu lassen –, welche Erfahrungen und welche Körper, welches Begehren und welche Bedürfnisse, welche Gefühlsund Seinsweisen und welche Verwandtschaften lebbar sind und welche nicht – und nicht zuletzt, welche Allianzen über die Grenzen des Geschlechts hinweg ermöglicht und welche sabotiert werden. Judith Butler hat in diesem Zusammenhang jüngst an Kants drei Ziele der Kritik erinnert: was kann gewusst, was soll getan und auf was gehofft werden (Butler 2011: 37). Sie hat damit erneut den auch für das feministische Denken zentralen Zusammenhang von Wissen, Tun und Sein – das heißt den Konnex der materiellen Bedingtheit und diskursiven Regulierung von Wissen, der (auch) epistemischen Bedingtheit von Sein und schließlich der ethischen Fundierung von Tun – in den Vordergrund gerückt. Einer kritischen feministischen Theorie, in deren Zentrum dieser Konnex steht, geht es dabei gerade nicht nur darum, »die Beziehung zwischen den Grenzen der Ontologie und der Epistemologie« zu erkunden, sondern darüber hinaus auch den Zusammenhang zu untersuchen »zwischen den Grenzen dessen, was ich werden könnte, und den Grenzen des Wissens, das ich riskiere« (Butler 2002: 237). Die epistemischen Raster des Lebbaren sind also nicht nur darauf hin zu befragen, welches und wessen Sein sie ermöglichen; fragen müssen wir beständig auch, auf welches andere Sein zu hoffen ist. Insofern Feminismus die Fähigkeit zu der dafür nötigen Reflexion und Revision auch grundlegender eigener Annahmen und Perspektiven dabei vor allem den widersprüchlich organisierten gesellschaftlichen Erfahrungen von Frauen*4 und dem oft konflikthaften Dialog mit den ›Anderen‹ des feministischen Diskurses verdankt, kommt es vor diesem Hintergrund mehr denn je darauf an, das Bündnis mit anderen macht- und herrschaftskritischen Bewegungen und Erkenntnisperspektiven zu suchen. Und dies, um Dominanzkultur (vgl. Rommelspacher 1995) in all ihrer widersprüchlichen Komplexität nicht nur besser verstehen zu können, sondern vor allem, um sie so zu verändern, dass die von ihr erzeugten ›Gitter der Lesbarkeit‹ auch jene »Subjekte, die leben, aber noch nicht als ›Leben‹ betrachtet werden« (Butler 2010: 37), im Leben halten. Ist freilich gerade das, woran es mangelt, die Fähigkeit zu hören, und ist Gehörtwerden-können, wie Gayatri Spivak uns gelehrt hat, etwas anderes als Sprechenkönnen; ist zudem, wie Michel Foucault uns gezeigt hat, Schweigen eine Möglichkeit in der Sprache und konnten wir von Wendy Brown lernen, dass Schweigen in Sprache verankert ist, so können wir von Franz Kafkas Experimentalanordnung lernen, dass wir – im Wissen um die Unabschließbarkeit dieser Aufgabe – die Bedingungen der Hörbarkeit nicht nur verändern müssen, sondern sie verändern kön4

Der Stern signalisiert die Vielfalt von geschlechtlichen Identifikationen auch innerhalb einer Genusgruppe.

Die Vermessung des Schweigens | 295

nen. Gemessen werden wir jedenfalls daran, woran uns Toni Morrison erinnert, wie wir mit Sprache handeln.

L ITERATUR Bourdieu, Pierre (2001): Meditationen. Frankfurt/Main. Bourdieu, Pierre / Wacquant, Loïc (1996): Reflexive Anthropologie. Frankfurt/ Main. Brown, Wendy (2005): Freedom’s Silences. In: Dies.: Edgework. Critical Essays on Knowledge and Power. Princeton, S. 83-97. Butler, Judith (1998): Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin. Butler, Judith (2002): Was ist Kritik. Ein Essay über Foucaults Tugend: In: Jaeggi, Rahel / Wesche, Tilo (Hg.): Was ist Kritik? Frankfurt/Main, S. 221-246. Butler, Judith (2009): Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt/Main. Butler, Judith (2010): Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt/Main & New York. Butler, Judith (2011): Kritik, Dissens, Disziplinarität. Zürich & Berlin. Butler, Judith / Athanasiou, Athena (2014): Die Macht der Enteigneten. Zürich & Berlin. Fanon, Frantz (2013): Schwarze Haut, weiße Masken. Wien. Foucault, Michel (1977): Sexualität und Wahrheit I. Der Wille zum Wissen. Frankfurt/Main. Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin. Foucault, Michel (2001): Vorwort. In: Ders.: Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Band I, 1954-1969. Frankfurt/Main, S. 223-234. Foucault, Michel (2004): Hermeneutik des Subjekts. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Hark, Sabine (2014): Schweigen die Sirenen? Epistemische Gewalt und feministische Herausforderungen. In: Hobuß, Steffi / Tams, Nicola (Hg.): Lassen und Tun. Kulturphilosophische Debatten zum Verhältnis von Gabe und kulturellen Praktiken. Bielefeld, S. 99-118. Honold, Alexander (2005): Odysseus in korrigierter Haltung. Entstellungen des Mythos bei Kafka, Brecht, Benjamin und Adorno / Horkheimer. In: Vöhler, Martin / Seidensticker, Bernd (Hg.): Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Berlin & New York, S. 317-329. Kafka, Franz (1983): Das Schweigen der Sirenen. In: Ders.: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Herausgegeben von Max Brod. Frankfurt/Main, S. 58-59. Kafka, Franz (2002): Oktavheft G (18. Oktober 1917 – Ende Januar 1918). In: Ders.: Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Herausgegeben von Jost Schillemeit. Frankfurt/Main, S. 40-42.

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Mbembe, Achille (2014): Kritik der schwarzen Vernunft. Frankfurt/Main. Morrison, Toni (1993): Rede zur Verleihung des Nobelpreis für Literatur, 7. Dezember 1993. In: URL: www. nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/ 1993/morrison-lecture.html (Stand: 22.12.2014). Morrison, Toni (1994): Im Dunkeln spielen. Weiße Kultur und literarische Imagination. Reinbek bei Hamburg. Rommelspacher, Birgit (1995): Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin. Spivak, Gayatri Chakravorty (2008): Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien. Stach, Reiner (2008): Kafka. Die Jahre der Erkenntnis. Frankfurt/Main. Steyerl, Hito (2008): Die Gegenwart der Subalternen. Einleitung. In: Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien, S. 7-16.

Dialog und dialogisches Denken Der Anspruch von anderswo: eine Herrschaftsabsage Christina Thürmer-Rohr

Das Wort ›Dialog‹ war vor dreißig, vierzig Jahren hierzulande wenig geschätzt. Bei vielen war es geradezu verpönt und galt als Zeichen von Unentschiedenheit. Wer dezidierte Überzeugungen besaß, wollte keinen Dialog, sondern kämpfte für die eigene Position. Erst nach Ende des Kalten Kriegs setzte ein neues Interesse am Dialog und dialogischen Denken, an liegengebliebener und vergessener Literatur ein. Wir hatten viel nachzuholen, aber auch manches abzuwehren. Alle redeten auf einmal vom Dialog – nicht nur die professionell Zuständigen in Pädagogik, Therapie, Seelsorge und Politik, sondern auch Werbeleute, Unternehmensberater, Banker, Kfz-Werkstätten, Supermärkte –; alle boten ihre Dienste mit Hilfe dieses Wortes an: ›Dialog‹ als Kundenorientierung, Connection, Vernetzung, Informationsvermittlung, Kommunikationstechnik, Verkaufsstrategie, Konfliktvermeidungsstrategie, Konfliktmanagement etc. Abgesehen von solchen Discountangeboten schien ›Dialog‹ seit den 1990er Jahren zu einem Schlüsselbegriff zu werden, der Auswege aus politischen Umbrüchen und persönlichen Ratlosigkeiten versprach. Dem Dialog wurde jetzt zugetraut, was kaum noch jemand von institutionalisierter Politik, gesellschaftlichem Verhalten und sozialen Kontakten erwartet hatte. Vorsichtig optimistische Zeitdiagnosen prognostizierten, dass die Moderne dabei sei, ihre Dominanzpraktiken selbst zu entwerten und das dialogische Prinzip zu rehabilitieren (vgl. Bauman 1992, 1995; Beck 1997; Giddens 1997). Die 1990er Jahre waren für viele eine Zeit großer Hoffnungen und großer Verunsicherungen. Das formale Ende der großen Block-Verfeindungen, das Erschrecken über selbstproduzierte Schäden, das Wiedererstarken des Rassismus, die Entmachtung der Nationalstaaten, das Gefühl der Entortung in einer globalisierten Welt nahmen scheinbaren Sicherheiten in kürzester Zeit ihre alte Selbstverständlichkeit. Gerade solche Orientierungsverluste könnten Zugänge zu Anderen öffnen und die Angewiesenheit auf Andere bewusst machen, hieß es. Das persönliche Le-

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ben könnte zum dialogischen Trainingsfeld werden, und eine »subversive Politisierung« (Hitzler 1997: 175 f.) und »dialogische Demokratisierung« (Giddens 1997: 167) neue Chancen bekommen. Die schwankende Gegenwart und unkalkulierbare Zukunft (Kahl 1997), abbröckelnde Traditionen (Giddens 1997) und die Fragwürdigkeit begangener Wege könnten die Suche nach neuen Wegen und Brücken bewirken. Man könnte beginnen, sich an Andere zu wenden, mit Anderen selbstständig zu denken und zu sagen, was man denkt; man könnte nicht nur das Selbstreden fördern, sondern ein Sprechen, das sich der Realität stellt (vgl. Thürmer-Rohr 1999) und aus dem die Beteiligten »verändert hervorgehen« (Zeldin 1999: 10). Ein Dialog, der der Pluralität des Zusammenlebens gerecht werden will, ist nicht einfach auf die Vermehrung äußerer Buntheit und innerer Vielfalt aus. Dialoge vervielfältigen eher die Fragen und ebnen Konflikte nicht ein. Sie können »Identitätsfallen« (vgl. Sen 2007) aufdecken und Kontroversen zuspitzen. Die Wege sind nicht planbar, keiner weiß im Voraus, was geschehen wird. Ein Dialog ist nicht auf Sieg aus, sondern auf die Erweiterung der Vorstellungsräume. Er lässt die Dinge so mehrdimensional werden, wie sie sind; er versucht, dem Gegenüber und der Sache, um die es geht, gerecht zu werden; er konfrontiert mit dem beschränkten Fokus eigener und dem Anspruch anderer Sichten und zeigt damit auch den Einzelnen ihre Grenzen. Die Gegenwart der Anderen kann die eigene Perspektive korrigieren und erweitern, die notwendig beschränkt und verzerrt bleibt, wenn sie sich selbst zum Maßstab nimmt. Dialog ist nicht einfach eine pädagogische Technik, auch nicht Ausdruck einer ›Multikultur‹-Vorstellung, die Kulturen wie autonome Identitäten behandelt, die toleriert werden sollen. Mit einem so verstandenen Multikultur-Diskurs kann die dominante Kultur mit gutem Gewissen ihre Verantwortlichkeiten einstellen, sich mit bestehenden Ungleichheiten arrangieren und sie durch falsche Akzeptanz wegreden. Eine naive Dialog-Euphorie jedenfalls, die ein dauerndes Lob auf Harmonie und Konsens anstimmt und in jeden sozialen Kontakt betuliche Sanftheit einziehen lassen möchte, verkennt, dass »der Dialog dem Mutterboden der Kritik entstammt« (Freire 1980: 50).

* Die Dialogidee bildet einen Gegenpol zu den ideologischen Strategien einer westlichen Dominanzkultur, die mit ihren historischen Herrschaftsansprüchen, ihren Übergriffen, Kolonialisierungen und Genoziden die Zerstörung einer dialogischen Praxis und ihrer Grundgedanken betrieben hat. In dieser Zerstörungsgeschichte, die in den totalitären Entwicklungen des 20. Gewaltjahrhunderts gipfelte, wurden Einheiten der Zugehörigen und Einheiten der Nicht-Zugehörigen geschaffen: »Menschen wie wir« (Rorty 1996: 145) und »keine Menschen wie wir«. Unterschiede innerhalb des ›Wir‹ wurden nivelliert, Unterschiede zwischen ›Wir‹ und ›NichtWir‹ fundamentalisiert. Diese Verfahren der Wir-Konstruktion sind Wegbereiter

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sozialer Diskriminierung, rassistischer Normen und eskalierender Gewalt, bewährte Herrschaftsmittel, die die Geschichte der Moderne bis in ihre tiefsten moralischen Abgründe durchzogen haben. Mit der Löschung der Pluralität und dem Ruin des Politischen, das von der Kohabitation verschiedener und gleichberechtigter Menschen handelt, werden alle dialogischen Chancen vertan. Die Einteilung der immer Verschiedenen in hierarchisch angeordnete, einheitsschaffende Großkategorien lässt die Zugeordneten innerhalb der jeweiligen Kategorie »auf die Zahl Eins zusammenschrumpfen« (Arendt 1991: 20) und damit zum Singular werden (MacKinnon 1996: 120). Ein von allen Pluralen ›gesäuberter‹ Mensch hat kein anderes Gegenüber, das das ständige Weiter-so behindern würde (Arendt 1989[a]: 182 ff.): Er stellt sich selbst keine Fragen und damit sich selbst nicht in Frage, er stellt sich nicht vor, was er anstellt (vgl. Arendt 1986[a]), er hat kein Motiv, sich irgend etwas aus der Perspektive anderer zu vergegenwärtigen. Ihn umgibt ein zuverlässiger Schutzwall gegen die Worte und Gegenwart anderer und damit gegen die Wirklichkeit selbst (ebd.: 78). Diesen Zerstörungsakt hat Hannah Arendt als radikale »Abwesenheit einer denkenden Zuwendung zur Welt« (Arendt 1989[b]: 14) bezeichnet, als egalisierte und weltlose Vorstellung, als Unfähigkeit, die Differenz zu denken, den Unterschied zu sich selbst. Mit dieser Indifferenz wird jeder Dialog gegenstandslos. Denn wenn gleichartig gedachte oder gemachte Menschen wie eins erscheinen, deckungsgleich innerhalb ihrer konstruierten Einheit, wüssten sie immer schon, wer ihre Mitmenschen sind und hätten sich nichts mehr zu sagen. Und auch zwischen den monolithischen Blöcken würde sich ein Dialog erübrigen, denn wenn ›die Anderen‹ fundamental different und außerdem minderwertig erscheinen, gäbe es keinen Anlass, sich mit ihnen überhaupt noch zu verständigen oder Notiz von ihnen zu nehmen – es sei denn als Objekte der Gewalt oder der Verwertung oder um sich selbst durch Vergleich aufzuwerten. Zwischen essentialisierten Einheiten – die Weißen, die Schwarzen, die Männer, die Frauen, die Kulturen, Ethnien, Geschlechter etc. – kann es keinen Dialog geben. Deswegen gibt es auch keinen ›Dialog der Kulturen‹, denn ein Dialog fordert Personen heraus statt Repräsentant_innen von Einheitskonstrukten, die wie ›Spezies‹ erscheinen. Erst wenn der Dialog Personen zusammenbringt, kann er zu einer Kraft werden, die alteingesessene Sortierungen und Hierarchisierungen sichtbar macht, gewohnte Unter- und Überordnungen durchkreuzt und so das destruktive Potential der Moderne bewusst machen kann (Bauman 1992: 70 f.). Dialog und Gewalt schließen sich aus. »Gewalt ist stumm« (Thürmer-Rohr 2002: 775). In Form von Zwang und normativer Nötigung macht Gewalt das Sprechen ihrer Objekte und Opfer wirkungs- und folgenlos. Gewalt braucht keine Sprache außer der Sprache der Gewalt, die nur Befehlen und Gehorchen kennt. Der Dialog ist seinem Wesen nach eine Art mentale »Gastfreundschaft« (Thürmer-Rohr 1994: 12). Und in diesem Dialog sind wir alle noch Anfänger_innen, »nur sind sich die wenigsten dessen bewusst« (Lasslo 1995: 12). Es genügt nicht, zu reden. »Zwei

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Monologe ergeben keinen Dialog« (Bobbio 1997: 16). Allzu oft redet jede_r für sich, für die eigenen Ansichten oder zum Gefallen des Publikums, für den eigenen Prestigeerhalt oder Sympathiegewinn. Wenn die Beteiligten schon vorher wissen, worauf sie hinaus wollen, wenn sie gar keine Antwort erwarten und am Ende jeder auf seinem Standpunkt verharrt, ist jeder Dialogversuch vergeblich.

* Die westliche Ideengeschichte zu einem dialogischen Verhältnis zur jeweiligen Welt ist höchst diskontinuierlich und zerrissen. Zu erinnern ist an den griechischen Philosophen Sokrates, der vor mehr als 2400 Jahren wegen seiner Dialogmethode zum Tode verurteilt wurde. Seine Idee und Praxis bestand in einer konkreten subversiven Ethik, dem Gegenpol zu Herrschaft und abstrakter Weltinterpretation (vgl. Krippendorf 1999). Es war »eine Methode der Selbstkritik, [...] die Bereitschaft, eigene Annahmen zu überdenken und sich so immer wieder [...] einem selbstzufriedenen Dogmatismus entgegenzustellen« (Taylor 1999: 127 f.). Sokrates war ein Fragender, nicht ein Belehrender, und sein Vorgehen bestand darin, die Dinge stets von wenigstens zwei Seiten aus zu betrachten – Rede, Gegenrede, Nachfragen, beim Thema bleiben. Sein Leben war ein Leben des Gesprächs mit anderen, »[...] ein erregendes, beunruhigendes, bezwingendes Gespräch. [...] Um klar zu werden, brauchte er die Menschen, und er war überzeugt, daß sie ihn brauchten [...] Sokrates wollte [...] die Schwierigkeiten im scheinbar Selbstverständlichen entdecken, in Verwirrung bringen, zum Denken zwingen, das Suchen lehren, immer wieder fragen und der Antwort nicht ausweichen [...] Dieses Denken ist verantwortlich dafür, in sich selbst das Andere zu hören, [...] es schließt auf und fordert die Gefahr in der Offenheit.« (Jaspers 1975: 10, 30 f.)

Dieser Dialog ist keine harmlose Veranstaltung. Er ist provokativ, er fordert zu einem Nachdenken heraus, das wie jedes Denken dialogisch denken und »stets kritisch denken« heißt – »ein gefährliches Unterfangen [... aber] das Nicht-Denken ist noch viel gefährlicher« (Arendt 1996: 123). Der dialogische Charakter der Zwischenmenschlichkeit und dessen politische Relevanz ist häufig mit dem Wort Freundschaft beschrieben worden (vgl. ThürmerRohr 2001; 2009). Dessen politische Bedeutung ergibt sich daraus, dass kein einzelner Mensch die Welt von sich her adäquat erfassen und man sich Meinungen und Urteile erst bilden kann, wenn man versucht, die Dinge auch von anderen Orten aus wahrzunehmen, die nicht schon ›meine‹ sind. Freundschaft ist besonders angewiesen auf ein dauerndes Miteinander-Sprechen, das Menschen über Unterschiede hinweg und auch jenseits ›verwandtschaftlicher‹ Nähe zusammenbringt. Dieses Sprechen macht es möglich, sich verschiedenen Sichten auf die Realität und auf ein gemeinsames Drittes auszusetzen, den eigenen Verstand auch an den Verstand ande-

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rer zu binden und Eigeninteresse und Eigennutz zu überschreiten (vgl. Arendt 1993: 39, 52; 2002: 570, 601; 2006: 141). In ihm »[...] manifestiert sich die politische Bedeutung der Freundschaft und der ihr eigentümlichen Menschlichkeit, weil dies Gespräch [...] der gemeinsamen Welt gilt, die [...] unmenschlich bleibt, wenn sie nicht dauernd von Menschen besprochen wird. Denn menschlich ist die Welt nicht schon darum, weil sie von Menschen hergestellt ist [...], sondern erst, wenn sie Gegenstand des Gesprächs geworden ist. [...] Diese Menschlichkeit nannten die Griechen ›philanthropia‹.« (Arendt 1989[b]: 41) – die Welt mit anderen teilen.

Die Freundschaftsmetapher1 betont die selbstgewählte Verbindung, die freie Wahl unter verschiedenen Menschen, die sich nicht schon als zusammengehörig vorfinden, sondern neue Beziehungen zu Anderen trotz oder wegen bestehenden Andersseins suchen. Das Anderssein der Anderen bedingt, dass man nicht schon von vornherein von den Anderen weiß. Man muss sich vorstellen, wie es wäre, wenn man an ihrer Stelle wäre: anderswo. Während die Verwandtschaftsmetapher wie ein Schlagbaum wirken kann, der die Grenze zwischen Zugehörigen und Nicht-Zugehörigen markiert, kann man in einer Freundschaft ohne Angst verschieden sein (Adorno 1984: 131). Das schließt Kontroversen nicht aus. Freundschaft beweist sich nicht in dauernder Harmonie und Einstimmigkeit, sondern in gegenseitigem Interesse und gegenseitigem Vertrauen. Sie versöhnt nicht nur mit Differenzen, sondern nimmt sie auf und braucht sie. Freundschaft wird damit zu einem Symbol für selbstentschiedene heterogene Bündnisse und für den politischen Zusammenhang von Differenz und Freiheit (vgl. Thürmer-Rohr 2009). Die Größe Lessings, schrieb Arendt, lag darin, dass er in seiner Frage nach der ›wahren Religion‹ die Freundschaft sogar über die Wahrheit stellte. Wenn wir die eine Wahrheit besäßen, könnten wir nicht frei sein und bräuchten kein Gespräch und keine Freunde. Wer an die eine und einzige Wahrheit glaubt, braucht keinen Dialog. Die ins Politische transformierte Freundschaftsmetapher setzt sich ab von den christlichen und aufklärerischen Brüderlichkeitsvorstellungen der Moderne, die auf die Bindungsmächte von Geburt, Abstammung, (männlichem) Geschlecht verwei-

1

Die Unterscheidung des ›Freundschaftlichen‹ vom ›Familialen/Verwandtschaftlichen‹ ist eine systematische modellhafte, idealtypische oder auch metaphorische Unterscheidung zweier Prinzipien. Der Freundschafts- bzw. Familienbegriff ist hier also nicht als empirischer Begriff zu verstehen, sondern beruht auf Arendts strenger Trennung eines familialen und eines politischen Prinzips, zwischen Natur und Politik, Privatheit und Öffentlichkeit. Arendts Freundschaftsbegriff verweist exemplarisch auf Grundzüge ihres politischen Denkens und damit auch auf ihre These vom modernen Verfall des Politischen.

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sen, also auf sogenannte ›natürliche‹ Zusammengehörigkeiten. Der Freundschaftsgedanke widersetzt sich einem vorgegebenen Wir und besteht auf der Selbsttätigkeit eigener Wahl, mit der ich selbst entscheide, mit wem ich mich zusammentun will, mit wem ich sprechen und handeln kann und mit wem nicht. Diese Hinwendung zum Anderen schließt den Willen zu einem Denken vom Anderen her – von anderswo – ein. Es wäre zwar vermessen zu meinen, man könne sich in sämtliche Standorte anderer hineinversetzen und könne vollständig ›anderswo‹ sein. Aber der Versuch, aus sich selbst herauszutreten und sich durch die Augen anderer zu betrachten, kann konkrete, relevante oder generalisierte Andere im eigenen Bewusstsein versammeln. Sie bevölkern fortan den inneren Raum und verändern ihn, sie bleiben im Gedächtnis, reden weiter, beobachten, kommentieren, bedrängen. Sie stellen den Anspruch, mich etwas anzugehen. Sie sind nicht nur Bereicherungen und Vielfaltförderer meiner selbst, sondern muten mir etwas zu. Sie provozieren die Einsicht in die eigenen Blickbeschränkungen und in die Grenzen der eigenen Souveränität. Sie weisen nicht nur auf die Ergänzungsbedürftigkeit des Subjekts hin, sondern auch auf dessen Verletzungsmacht gegenüber denen, die übersehen und wegkategorisiert werden. »Vom Urteil dieses generalisierten Anderen hängt letztlich unser Verhalten ab« (Todorov 1996: 32). Dialogisches Denken verlangt ein Einhalten, eine Art Mäßigung, die sich aus der Anerkennung anderer als politisch Gleicher ergibt. An dieser Gleichzeitigkeit von Verschiedenheit und Gleichheit droht der Dialog immer wieder zu scheitern. Er bleibt ein Dauerexperiment, in dem zu prüfen ist, inwieweit dieses Scheitern auf Grenzen der Dialogidee selbst verweist oder auf Unzulänglichkeiten der Personen, die die Fähigkeiten zu dieser Art Zwischenmenschlichkeit verloren oder nie erworben haben.

* Die folgenden drei Aspekte des Dialogischen ergeben sich aus dem politischem Denken Hannah Arendts2 – ein Extrakt aus eher verstreuten Aussagen, deren Weitläufigkeit sich erst im Kontext ihrer Theorie des Politischen erschließt.

2

Vorbehalte gegen Arendt betreffen vor allem einige als rassistisch und eurozentrisch zu bezeichnende Aussagen. In der Tat ist Arendt keine Heilige und ihr Werk keine Bibel. Sie ist eine ›abendländische‹ und eine jüdische Denkerin des 20. Jahrhunderts, ihr Werk verlangt wie jedes Werk die Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte, und von den Leser_innen ein aktives Weiterdenken. Arendts theoretische Positionen sind selbst dazu angetan, »mit Arendt ›gegen Arendt‹ zu denken« (Benhabib 1998: 309). Dass auch Arendts Texte nicht einfach über jede Kritik erhaben sind, schmälert nicht die Produktivität, den Reichtum und die Unkonventionalität ihrer Denkbewegungen.

Dialog und dialogisches Denken | 303 •

1. Verständigung – Dialog zwischen Menschen

Die Tatsache, dass es nicht den Menschen gibt, sondern nur die Menschen, ist Grundbedingung menschlicher Existenz und enthält die politische Forderung, Pluralität anzuerkennen und zu schützen (vgl. Arendt 1993). Es gibt nicht den Menschen als eine »mehr oder minder geglückte Wiederholung des Selben« (ebd.: 11), sondern jeder Mensch ist für jeden anderen der andere Mensch. Weil wir im Plural erschaffen sind (Arendt 1981: 15), müssen wir von anderen wissen. Der Dialog ist auf ein Verhältnis zur pluralen Welt aus, das die Ansprüche auf gleichzeitige Verschiedenheit und Gleichheit aufnimmt. Aus der Verschiedenheit folgt, dass wir uns verständigen müssen, aus der Gleichheit folgt, dass wir uns verständigen können. Ohne Verschiedenheit bedürfte es keiner Verständigung, und ohne Gleichheit gäbe es keine Verständigung (ebd.: 164). Der Dialog ist darauf angewiesen, dass wir uns aktiv voneinander unterscheiden. Wir müssen uns zum Vorschein bringen, uns exponieren und Aufschluss über uns geben. Wir müssen die Verborgenheit und Anonymität verlassen, im Sprechen und Handeln zeigen, wer wir sind und als Zughörige gleichsam auf die Bühne der Welt treten. Wir verzichten damit auch »auf die ursprüngliche Fremdheit dessen, der durch Geburt als Neuankömmling in die Welt gekommen ist« (ebd.: 169). Wir sind Zeitgenoss_innen soweit unser Verstehen reicht und nehmen damit das Risiko auf uns, auch künftig mit anderen Menschen zu existieren, also die Folgen des Handelns zu verantworten. Im Dialog realisiert sich Leben als inter-esse: unter Menschen sein, mit Menschen zu tun haben, sich austauschen, sich aussetzen, sich dem Leben exponieren, handeln. Erst mit der Anwesenheit Anderer wird die Welt zu einer gemeinsamen und gemeinsam zu verantwortenden Welt. •

2. Weltbezug – das gemeinsame Dritte

Im Dialog mit Anderen kommt eine vieldimensionale Realität zum Vorschein und baut sich erst die Welt und Welterfahrung auf. Welt meint das von Menschen Eingebrachte, die Niederschläge menschlicher Tätigkeiten, die uns überdauern und Stabilität geben können, und ist zugleich Inbegriff der Beziehungsgeflechte, die sich mit der Vielfalt aller sich zwischen Menschen abspielenden Angelegenheiten herausgebildet haben. Diese Welt wird »[...] nur in dem Maße verständlich, als Viele miteinander über sie reden […]. In-einer-wirklichen-Welt-leben und Mit-Anderenüber-sie-reden sind im Grund ein und dasselbe.« (Arendt 1993: 52) Jede Sache hat so viele Seiten, wie Menschen an ihr beteiligt sind (ebd.: 60 ff.). Wirklichkeit kann nur erfasst werden in einem Sprechen, das die verschiedenen Sichten in öffentlichen Räumen präsent macht (Arendt 1981: 173). Die Anerkennung der Verschiedenheit ist angewiesen auf die Liebe zur Welt, die sich in der

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Verantwortung für die Beheimatung ihrer verschiedenen Bewohner_innen zeigt: in der »Sorge um die Welt – wir fürchten, daß der Welt der Menschen etwas zustoßen kann« (Arendt zit. in Breier 1992: 69). Indem Menschen über die Dinge der Welt sprechen, wird das, worüber gesprochen wird, nicht ›einfach‹ und nicht eindeutig. Am Ende steht nicht das fertige Ergebnis und die richtige Antwort, sondern die Erkenntnis, dass man, um weiterzukommen, immer wieder von vorn anfangen muss. Der Dialog ist auf die Stimulierung des Denkens gerichtet und nicht darauf, allgemeingültige Lösungen zu bieten (Ludz 1993: 166). •

3. Denken – Dialog mit sich selbst

Menschen haben nicht nur mit anderen Menschen Umgang, sondern auch mit sich selbst. Diese Verkehrsform heißt Denken (vgl. Arendt 1989[a]: 184), ein dialogischer Vorgang, der beweist, dass das Ich selbst kein Singular ist, nicht ›einfach‹ und nicht eins. Als Einzahl und Einheit wäre ein Mensch mit sich selbst ohne Gesellschaft. Fragen, Antworten, Weiterfragen kann man aber auch, wenn man allein ist. Denken ist ein stummer Dialog (ebd.: 122 f.), der die Perspektiven Anderer in Betracht ziehen und die Vorstellung des Nicht-mit-mir-Identischen aktivieren kann. Wer denkt, ist immer noch in-der-Welt- und unter Menschen. Denken ist damit kein Zustand der Einsamkeit, sondern eine zweisame Tätigkeit, in der man auf sich selbst ein- und zurückwirkt (ebd.: 80), statt sich wie A mit A zu spiegeln. Bedingung des geistigen Ichs ist der Unterschied zwischen mir und mir, der das Zwiegespräch des Ichs mit sich selbst möglich macht. Im Denken stellt man sich selbst Fragen und ist sein eigenes Gegenüber, mit dem man lebenslänglich zusammenleben muss. Man kann ihm nicht entrinnen, es sei denn, man hört auf zu denken. Es ist gut, in Freundschaft mit ihm zu leben, denn es erwartet einen, wenn man nach Hause kommt. Es ist ein kritischer Begleiter, dem Rechenschaft zu geben ist, ein Zweifler, Zeuge, Fluchtverhinderer, ein Hindernis im bedenkenlosen Weiter-so im Gleisbett der Vorurteile und des bloßen Funktionierens – ein anderes Wort für die Stimme des Gewissens. Dieser innere Dialog kann von jedem Menschen verlangt werden, gleichgültig wie gebildet oder unwissend er ist. Gedankenlosigkeit ist damit nicht Dummheit, sondern Gewissenlosigkeit (Arendt 1991). Dieses Denken steht unter der Mahnung: »Tue kein Übel, denn sonst musst du mit einem Übeltäter zusammenleben«, deswegen ist es »wie bei jedem Zwiegespräch erforderlich, daß die Gesprächspartner miteinander befreundet sind« (Arendt 1986[c]: 128).

* Judith Butler hat sich in ihrem zionismuskritischen Buch »Am Scheideweg« (Butler 2013) für eine Ethik der Kohabitation stark gemacht, die über die Freundschaftsmetaphorik des Politischen hinausgeht. Die Sicht ›von anderswo her‹, die jeder plura-

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len Kohabitation vorausgesetzt ist, bezieht Butler nicht nur auf diejenigen, mit denen man sich verbunden hat oder verbunden fühlt, sondern ebenso auf die, mit denen man gar nichts zu tun hat, die man nicht kennt und nicht durchschaut (vgl. Butler 2003). Die Sicht ›von anderswo her‹ bedeutet hier nicht nur, dass ich antworte auf die, die ich mir gewählt habe, sondern auch, dass ich meine Wahl- und Selbstbestimmungsansprüche zurückstecken muss; dass mit den Ansprüchen der Anderen immer auch Forderungen auf mich zukommen, die gar nicht meine Wahl und Entscheidung sind. Die Sicht ›von anderswo her‹ antwortet auf Ansprüche von denen, »die man weder vollständig kennt noch sich vollständig ausgesucht hat«. Sie räumt denen Platz ein, »die ›nicht ich‹ sind und die mich damit über meinen Souveränitätsanspruch hinaustragen« (Butler 2013: 19). Souveränität einzubüßen heißt bereit zu sein, ›anders zu werden‹, um menschlich zu sein (Butler 2003: 144). Das Außerkraftsetzen der selbstbestimmten individuellen Wahl ist kennzeichnend für die Abstraktheit eines uneingeschränkten ethischen Prinzips. Dessen universelle normative Forderungen schränken die eigene freie Verfügung über Art und Zusammensetzung unserer dialogischen Gegenüber ein und überschreiten das Konkrete der Freundschaftlichkeit. Um der freien Wahl des Gegenübers den Charakter einer willkürlichen ›Auslese‹ zu nehmen, muss sie persönliche Zuneigungen und Abneigungen zurückstellen. Die notwendig abstrakten ethischen Forderungen beinhalten insofern eine radikale Herrschaftsabsage, als sie den Willen zu Selbstentscheidung, Freiwilligkeit, damit auch zur Freiheit des Subjekts in Frage stellen. Sie verlangen die Vergegenwärtigung auch derer, die ich mir ›nicht ausgesucht‹ habe, die ich vielleicht nicht wählen würde, falls ich die Wahl hätte. Sie verlangen eine »Enteignung des Ichs« (Butler 2013: 67) in der Suche nach Wegen mit den vorhandenen Menschen, die wie ich in der Welt anwesend sind, auch mit denen, denen man vielleicht lieber nicht begegnen würde, auch mit den potentiellen oder agierenden Gefährdern, und auch mit denen, die unsichtbar bleiben oder gesichtslos erscheinen (Butler 2013: 52 ff.), weil sie im eigenen Horizont gar nicht auftauchen. Diese Ethik erweitert die Ansprüche von Anderen und die eigene Verantwortung in ein schier unendliches Spektrum. Verantwortung ist damit »keine Frage der Kultivierung eines Willens, sondern der Anerkennung einer unwillentlichen Empfänglichkeit als Quelle der Offenheit für den Anderen« (ebd.: 58). Diese Konzeption der Kohabitation spricht allen das Recht ab, zu entscheiden, mit wem sie die Erde bewohnen wollen und mit wem nicht. »Wir leben nicht nur mit denen, die wir uns nicht ausgesucht haben und zu denen wir uns vielleicht gar nicht zugehörig fühlen, sondern wir sind auch verpflichtet, deren Leben und die Pluralität, zu der es gehört, zu schützen.« (ebd.: 179) Das können wir nur tun, wenn wir sie zu unserer wirklichen Gegenwart, zu einem Inhalt des eigenen Bewusstseins machen. Handelt es sich bei diesen Forderungen um Überforderungen, die den Ruf nach Schutz, Behausung und Einhegung hervorrufen? Ist die Globalisierung der Pluralitätsforderung heute vielleicht eine Zumutung geworden, der große Teile der Mehr-

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heitsbevölkerungen nicht mehr folgen wollen oder können? Und was bedeutet das für den Dialog, seine Akteur_innen und den Stoff dialogischen Denkens? Kann und soll der Dialog sich von persönlichen Präferenzen und einem sympathiegetragenen freundschaftlichen Eros lösen? Kann der Dialog sich erweitern und anonymisieren, ohne seine Bindungskraft zu verlieren und ohne zum entemotionalisierten distanzierten ›Projekt‹ zu werden? Kann es einen Dialog geben, der sich vom Geist der Freundschaftlichkeit entbindet und nur noch zum Ausdruck eines reinen, abstrakten ethischen Prinzips würde? Der Einwand, dieser hohe ethische Anspruch sei in seiner Abstraktheit realitätsfern und in seiner Rigorosität nicht lebbar, führt heute zu prominenten Plädoyers für die unschätzbare Bedeutung »politischer Emotionen«: familial entwickelte »starke Gefühle«, die auf Prinzipien einer gerechten Gesellschaft übertragbar seien (Nussbaum 2014: 23). So spricht sich Martha Nussbaum aus für eine »aus Liebe hervorgegangene Moral« (ebd.: 268), die mit Hilfe pädagogischer, politischer, künstlerischer und rhetorischer Anstrengungen zur Basis des Zusammenhalts eines Gemeinwesens gemacht werden könnten. Allerdings richtet sich Nussbaums Interesse dabei ganz unverblümt auf einen Patriotismus, der schon den Schulkindern vermittelt werden sollte: Unterweisung in Vaterlandsliebe, ›Liebe‹ für das eigene Land. »Damit Menschen etwas lieben, müssen sie es als ›ihr eigenes‹ betrachten und am besten auch als ›das einzige‹, das sie haben. [...] [Sie] müssen dazu gebracht werden, den Gegenstand der potentiellen Fürsorge irgendwie als den ›ihrigen‹ zu betrachten.« (Ebd.: 335)

Diese Fokussierung auf die mir Zugehörigen und ihr Wohlergehen (ebd.: 599), die Stärkung der Liebe zur Nation (ebd.: 377), auf ein nationales Wir, – solche Gefühlsförderungen helfen uns in unseren Fragen nicht weiter. Im Gegenteil: Diese Vorschläge, die an der Selbstverständlichkeit nationalen Eigeninteresses festhalten, sind eher Herrschaftssicherungen als Beiträge zum Herrschaftsabbau. Sie stehen für eine Ideologie, die nationale Gefühle tatsächlich auf kindliche Liebeserfahrungen zurückführt und über eine Ethik stellt, deren Anspruch gerade über den Nationalismus hinausführt. Es handelt sich um eine Falle, die ›Liebe‹ auf biografische Früherwerbungen verkürzt, auf Erfahrungen einer liebenswerten Außenwelt, die in simpler Übertragung dem nationalen Gemeinwesen zugute kommen sollen. Nach konventionellem Verständnis mögen solche Anbindungen ans eigene Ich, ans Nahe und mir Zugehörige, an die Liebe zum mir Eigenen am ehesten die Authentizität des Dialogs mit den sogenannten Anderen versprechen. Aber was ist, wenn die schönen Gefühle sich nicht einstellen, wenn divergierende Geschichten die Nähe zu den Anderen ungewollt machen? Wenn wir »gezwungen« sind, »mit Mitmenschen zu leben, die wir uns nicht ausgesucht haben«, dann werde, so die zynische Antwort Pascal Bruckners angesichts einer sich globalisierenden Welt, »der Mensch für den anderen Menschen zum Ungeziefer« (Bruckner 1991: 166),

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dann breite sich jene »demokratische Melancholie« aus, die jeden Dialog mit dem Gift der Müdigkeit, mit Ekel, Ängsten, Schweigen, Misstrauen, Feindseligkeit, Vorurteilen verdirbt und unmöglich macht (vgl. Thürmer-Rohr 2000). Hannah Arendt schlägt ganz andere Töne an: In ihrer Freundschaftsmetapher des Dialogischen und Politischen geht es nicht um die Bedeutung politischer oder anderer Gefühle, sondern um die Bedeutung des Gesprächs, das am Leben zu halten und nie zu Ende zu bringen ist. Arendt sprach auch nicht von der ›Liebe zu den Menschen‹, auch nicht von der Liebe zu einer Nation (Arendt 1996: 30 f.), sondern von der ›Liebe zur Welt‹ – eine emphatische Wendung, die man kaum auszusprechen wagt. Gemeint ist jenes zerbrechliche Gebilde von Menschenhand und Menschengeist, um das es in den Gedanken zum Dialogischen eigentlich geht: um eine Welt, die allen gehört, die alle beheimaten soll und in der das ›ungewollte Zusammenleben‹ zur Bedingung unseres politischen Lebens gehört (Butler 2013: 59). Daraus ergibt sich eine Konzeption sozialer Bezüge und politischer Pflichten, die eine Bejahung der Heterogenität unausweichlich macht und die über den Nationalismus hinausführt. Dialogversuche sind unersetzbar, weil sie einerseits Ernst machen mit einem Herrschaftsabbau von unten, der konkret, alltäglich und unspektakulär vonstatten geht, und weil sie andererseits die menschliche Fähigkeit zu einer ›denkenden Zuwendung‹ zu dem beanspruchen, was außer mir ist. Dieser Anspruch verweist darauf, was es bedeutet, wenn Menschen aus dieser Welt herausgestoßen werden, wenn die gemeinsam bewohnte Welt auseinanderbricht und Menschen allein auf sich selbst zurückgeworfen sind (Arendt 1993: 728 f.). Vielleicht steckt in diesem Anspruch und seiner Art Liebe der einzige Schlüssel, um den Dialog zu vitalisieren und zu radikalisieren.

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Envisioning New Futures Literary Performances of Intertextuality, Gender and Race in the Works of Zadie Smith, Pauline Melville and Toni Morrison* Susan Arndt »›Is she black?‹ ›Is who black?‹ ›The dark lady.‹« ZADIE SMITH, WHITE TEETH (2000)

I NTRODUCTION It is the black teenager Irie Jones from Zadie Smith’s novel »White Teeth«, who poses this question to her white English teacher. In support of her hypothesis that Shakespeare’s »dark lady« were a Black woman, Irie cites from William Shakespeare’s sonnets 127 to 1321 invoking the »raven black eyes« (127.9) of the »mistress«, that »are nothing like the sun«; her breasts that are not white as snow but rather »dun«; and her hair, that looks like »black wires« (130.4). It is this line: »Then I will swear, beauty herself is black« (132.13-14), which triggers Irie to ask her white teacher if she – the »dark lady« – is black. Irie who hates her Afro and her bodily appearance, makes such an effort to find a space for her racialized Self other than ›fat‹ and ›ugly‹. However, her white teacher resists Irie’s rereading of the »dark lady«.

*

I wish to thank Birgit Rommelspacher. It was she who inspired and supported me, thus paving my way into a research project on negotiations of whiteness in fiction, against the odds.

1

This and the following quotations by Shakespeare are taken from Duncan-Jones 1997.

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This idea to read the so-called »dark lady« of Shakespeare’s sonnets as ›Black woman‹ is, however, not accepted by her white teacher who is an allegory of knowledge-distributor. The teacher is trapped in white – and thus positioned – knowledge. Her first impulse is to take refuge in the rhetorical figure identified by Roland Barthes as »the denial of history« (Barthes 1972: 151) by claiming: »No, dear, she’s dark. She’s not black in the modern sense … There weren’t any … well, Afro-Carrie-bee-yans in England at that time« (Smith 2000: 271-72). Her hesitant pronunciation of the word »Caribbean« seems to mark that she has stumbled across the fact that in around 1600 there certainly were black people in England. Indeed, in the course of the European enslavement of Africans the century-old presence of blacks in England had also attained an unprecedented degree of prominence. This makes her add a quick relativisation: »I mean I can’t be sure, but it does seem terribly unlikely, unless she was a slave of some kind, and he’s unlikely to have written a series of sonnets to a lord and then a slave, is he? [...] No, dear, she just has a dark complexion, you see, as dark as mine, probably.« (Ibid.: 272 – emphasis S.A.)

Resorting to what Barthes calls the rhetoric of tautology: »›[B]ecause that’s how it is‹, or even better: ›just because, that’s all‹« (Barthes 1972: 153) here, the teacher gets to the heart of her resistance to Irie’s rereading of Shakespeare: the white teacher is incapable of imagining Shakespeare’s famous mistress as anything but white like herself. This dialogue represents literary mechanisms of intersectionality that concurrently create and undo the gendered and racialized invisibilities. This very issue is at stake in this article. In doing so, it discusses modes of »looking back« – to use bell hooks’ (1992) terminology – at aestheticized knowledge of colonialism and whiteness, patriarchy and masculinity, sexuality and power, and finally migration and belonging. Moreover, it will demonstrate the ways in which literature dismantles the constructed, subverts the affirmed and resists »the master’s tools« which »will never dismantle the master’s house« – to use Audre Lorde’s wording (Lorde 1984: 110). For this reason, this article delves into works of three black diasporic women writers and their intertextual intervention with white male representations of blackness, thus writing back to the discourse of white masculinity. Firstly, the novel »White Teeth« (2000) by British author Zadie Smith and its intertextual dialogue with Shakespeare’s ›dark lady‹-sonnets is explored in some more detail, focussing on Irie’s restlessness to locate herself and her ancestors in literary history and its legacy. Secondly, the short story »Eat Labba and Drink Creek Water« (1990) by British writer Pauline Melville is analysed against the backdrop of Sir Walter Raleigh’s »The Discovery of the Large, Rich and Beautiful Empire of Guiana« (1596)

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in order to discuss her attempts to explore European colonial conquest of Guyana for a transcultural future. Thirdly, US-American literature is engaged while revisiting Toni Morrison’s scrutiny of Ernest Hemingway’s novel »To Have and Have Not« (1937); my discussion covers both her collection of essays »Playing in the Dark« (1992) and her short story »Recitatif« (1983) and puts at the fore her efforts to transgress the biological concept of ›race‹ in order to scrutinize the social position of race structurally and discursively.

Z ADIE S MITH ’ S »W HITE T EETH «: R E - READING S HAKESPEARE ’ S »D ARK L ADY « S ONNETS Shakespeare’s sonnets renegotiate the conceptualisations of fairness of his time by potentially subverting both prevalent racial and gender hierarchies. It is widely acknowledged that the »fair youth« addressed in Shakespeare’s procreation sonnets were a man. In doing so, fairness is performed by and within masculinity and homoerotic love. As for the »dark lady« cycle, whiteness is attributed to femininity. And yet fairness is resituated. Conventionally, sonnets are to admire aristocratic women’s fairness. Although Shakespeare’s mistress might have become known as a »dark lady«, his lyrical ›I‹ does not even once speak about a ›lady‹. Rather, she is called »mistress«, »woman«, »slave«. Moreover, while ›dark‹ is employed only once in depictions of her, black is frequently used to describe the mistress’s appearance – as fair and beautiful. Thus, for example, sonnet 127 holds: »In the old age black was not counted fair, / and if it were, it bore not beauty’s name; / but now is black beauty’s successive heir«. While this sonnet’s couplet concludes that nowadays »every tongue says beauty should look so« (127.1-4), the couplet of sonnet 132 even tops this by holding: »Then I will swear, beauty herself is black, / And all they foul that thy complexion lack« (132.13-14). What revolutionary lyrics at a time when Elizabeth I paid men like Sir John Hawkins and Sir Walter Raleigh to lead England into the devastating white business of enslaving Africans while simultaneously decreeing in 1596 and 1601 that all blacks are to be expelled from England. As a result, ›race‹ emerged as a category of difference through which blackness was perceived as antithesis to fairness and whiteness – with the new connotation of now meaning not only beauty but white beauty. The hype of cosmetics as celebrated by Elizabeth I might have been informed by her endeavour to sell her childlessness as virtue facing the fact that she would leave England without an heir apparent. On a different layer, however, the white-painted queen was also designed to claim the superiority of whiteness (of all genders) – a myth needed to sell colonial atrocities as ›civilizing mission‹.

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Thus, it is not surprising that Shakespeare’s white contemporaries and their heirs were deeply shocked given a sentence stating »that beauty herself is black«. Hence they claimed that Shakespeare did not mean ›black‹ when saying ›black‹ but rather ›dark‹ in a sense of ›brunette‹. How curious, given the fact that we are talking here of William Shakespeare, the great master of words. This is also besides the fact that whiteness/fairness and blackness were indeed already known and used as racialising markers in his time. Why, then, should Shakespeare have used ›black‹ when having ›dark‹ in mind, or vice versa: why does he not use ›dark‹ or even ›brunette‹ when this is what he actually means? The denial to read Shakespeare’s ›black‹ in a racialized dimension might be controversial, yet it worked out; throughout the centuries the thesis got stuck that the ›dark lady‹ were a white woman – and the respective list of likely role models in ›real life‹ is indeed very long. Well, some have started to assume that the »Dark Lady« Sonnets might actually be a laudation to Emilia Lanyer, a Jewish woman Shakespeare knew. After all, at the turn of the 16th century blackness comprised Jewishness. There is also another theory, seconded by me. A handful of scholars, translators and writers, including Zadie Smith, have voiced the assumption that Shakespeare’s lyrical ›I‹ addresses a black enslaved woman who was forced into prostitution. This woman might even find a role model in a person of color Shakespeare knew and she might be identical with the woman known as Lucy N,2 whom he could have met in London’s Gray’s Inn. Indeed, the metaphor of the ›slave‹ is employed extensively in these sonnets – to finally come back to the argument of Zadie Smith’s teacher that it is unlikely that the »dark lady« were black, »unless she was a slave of some kind« (Smith 2000: 272). Reading fairness as being synonymous with white female beauty, the teacher is incapable of imagining that the author of the famous lines »from fairest creatures we desire increase« (1.1) and ›her‹ Shakespeare might have projected beauty and desirability onto a black woman. Even more so, since it also implies that he would not have minded that black people could ›increase‹ (1.1). Being aware that this would endanger her white privilege of superior sexuality, desirability and procreation, she wants to have this very masculinist desire all to herself, because – though it silences her in terms of gender, as for ›race‹ – it simultaneously backs up her gendered position by inferiorising blackness in general and the black female body in particular. Thus motivated, the teacher employs whiteness as intersecting with age, authority and education to silence female blackness and the black presence in Britain. This act of silencing aims at stopping Irie to look for ancestors in British (literary) history. In a preemptive obedience to masculinist racial hierarchies, the teacher claims authority over Shakespeare’s wording. Concerned with keeping the

2

Egro.

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master’s house intact, she intends to prove that Shakespeare belongs to whiteness, only, because to her, to own Shakespeare means, to own the past, present and future of the British nation. Being educated by her, Irie fails (again) to locate herself historically and geopolitically. Irie feels empowered by her thought that black people are part of British history and could have even been praised and desired (sexually) in Shakespeare’s sonnets. Finding blackness in his »dark lady«, Irie is able to catch »something like a reflection« (Smith 2000: 272) of herself in the »gigantic mirror« (ibid.: 266) that symbolizes Englishness. After her teacher’s lesson, however, this is receding, dressing Irie once again in invisibility. Lost and bereft of her gaze once again, Irie, who was taught by racism to hate her body, visits a hairdresser to kill her Afro and buys an Indian women’s hair who is forced to sell it to make her living. In Zadie Smith’s novel, however, whiteness and its gaze on blackness do not have the last say. After all, the very chapter that turns us to rereading Shakespeare’s »dark lady« as a black woman is titled »The Miseducation of Irie Jones« – and we are told why by Irie’s queer friend, the Niece of Shame: »You’ve got to re-educate yourself. Realize your value, stop the slavish devotion, and get a life, Irie! [...] The Afro was cool, man. It was wicked. It was yours« (ibid.: 285). Desperately, Irie tears out »somebody’s else’s hair with her bare hands« (289). By thus affirming her Britishness, she becomes visible to others, too. Ultimately, the novel negotiates issues of ›race‹ in relation to the female body, empowering black women to subvert the predominantly masculinist, racist discourse in order to gain sovereignty over one’s own body and history. This is also at the fore in »Eat Labba and Drink Creek Water« by Guyanese-British writer Pauline Melville.

P AULINE M ELVILLE ’ S »E AT L ABBA AND D RINK C REEK W ATER «: R E - CALLING R ALEIGH ’ S »D ISCOVERY OF THE R ICH AND B EAUTIFUL E MPIRE OF G UIANA«

L ARGE ,

In her dreams of being a high-wire artist or tumbleweed, the protagonist crosses the Atlantic Ocean that symbolizes the gap between her two countries of origin: Britain and Guyana. It is the same ocean that bridges the gap between them, thus turning out to be her haven and home. This provincializes Europe as rhizomic home of Diasporas of Color that bridge European and American belongings (Chakrabarty 1992). Accordingly, Melville joins in a celebration of multifaceted Creole identity yet not without scrutinizing its pitfalls. Barbadian-British writer George Lamming argues that »[t]he pleasure and the paradox of my own exile is that I belong wherever

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I am« (Lamming cited in Stouck 2005: 1). Reemphasizing this inner strife, Melville’s first-person narrator claims: »[w]e do return and leave and return again, criss-crossing the Atlantic, but whichever side of the Atlantic we are on, the dream is always on the other side« (Melville 1990: 149). The fact that Melville’s narratorprotagonist speaks here in the first person plural corresponds to the fact that she remains nameless and hence may be read as an anonymous representative of the migrant’s voice. In as far as the narrative voice is identified as female, Melville invokes the potential of a differential feminine Creolized vision of both history and future. Through her voice the silencing mechanisms of whiteness, hand in hand with Creole masculinity, are depicted. Analogously, her friend Evelyn (whose name evokes ›Eve‹) seems to be a female counterpart to Derek Walcott’s »second Adam« (Walcott 1996: 354-58). In the last direct speech of the short story Evelyn outlines visions of a new Guyana as paradise for both Guyanese and diasporic people. This vision both links back and fragments the paradise that a white man was, centuries back, looking for in Guyana in vain: Sir Walter Raleigh, who at the turn of the 16th century got lost in his search for the paradise of gold of El Dorado. Conversing with Raleigh’s canonical text of European travel literature »The Discovery of the Large, Rich and Beautiful Empire of Guiana« from 1596, Melville returns to the very origins of the European colonial conquest of Guyana. She simultaneously explores its consequences for the present and sounds out the possibilities of a different future. In doing so, she demonstrates how a subversive process of remembering history that overcomes processes of forgetting and denial could allow new postcolonial identities to grow out of the remnants of the colonial past. In terms of narrative technique, she marks this approach by conflating time periods through the use of verbs in the present tense, in order to describe both present and past experiences, as well as of verbs in the future tense to recount her late grandfather’s experiences in early 20th century Britain. Although Melville’s English leader of the expedition remains nameless, he is – just as much as Sir Walter Raleigh – accompanied by a son called Wat, who dies during the journey. What is more, the »mountain of crystal, city of Manoa and palace and gardens of gold« that the English expedition »expects to find in Melville’s short story are all possibilities mentioned by Sir Walter Raleigh« (Stouck 2005: 8). Four centuries after Raleigh vainly searched for El Dorado and lost his son Wat to the creeks, it is the children from the creeks – the protagonist, her father and her grandfather – who go to England. They look for England’s riches which are symbolized by their myth of London as a »great and golden city«, »where they set the Gold Standard for the world« (Melville 1990: 155). Here, the myth of El Dorado is mimicried in order to pinpoint its longevity that has consequences for the present. This narrative structure also contextualizes the proverb around which the title of the short story is based: »[e]at labba and drink creek water and you will always return« (ibid.: 148). It invokes the fact that these people migrate ›always‹ and hence

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irreversibly; and they do so as a result of colonial history that brought Wat to Guyana, making him swallow the very water which damns him to live on as the »spirit of a pale boy« for good. Creolité being in its best form, Wat, the white male infant colonizer, has become famous as an aged, indigenous legend which embodies continuity between colonial and present periods and those yet to come. Being turned into »creek water«, he is imbibed by black migrants who are encouraged to drink it to continue to belong to the creeks. It is interesting to note that white masculinity is made to perform a Guayanese tradition. Thus, the black narrative perspective denies white masculinity; the white privilege of appropriating the colonial space and even the sovereignty over its own masculinist body. Conversely, just as much as Melville who ascribes future, mobility and sovereignty over one’s body to black women, Toni Morrison gazes b(l)ack at the white masculinist imagination.

T ONI M ORRISON ’ S »P LAYING IN THE D ARK « AND »R ECITATIF «: R E - VISIONING H EMINGWAY ’ S »T O H AVE AND H AVE N OT « In »Playing in the Dark«, Toni Morrison holds that »Africans and their descendants were not, in any sense that matters, there,« (Morrison 1990: 16), i.e. in the white imagination of US-American writing of the 19th and 20th centuries. If not bluntly bereft of presence, they were squeezed into homogenizing modes of white othering as another pattern of silencing which causes invisibility. This is to generate, as Morrison suggests by referring to the Saidian concept of Orientalism, Africanist characters that perform whiteness which silences blackness. As for Morrison, to analyze Africanism is a telling endeavor. In other words, any »close look at literary ›blackness‹« is of »paramount interest« for it contributes to discover »the nature – even the cause – of literary whiteness« (ibid.: 9). Just as much as »the subject of the dream is the dreamer« (ibid.: 17), the Africanist characters are signs, codes and literary strategies designed to accommodate and contour whiteness. To exemplify this thesis, Morrison examines, amongst others, Ernest Hemingway’s novel »To Have and Have Not« from 1937. Based on her analysis, I will offer a rereading of Hemingway’s novel. Although whiteness is performed throughout the text, there is no explicit mentioning of whiteness. »Eddy is white, and we know he is because nobody says so« (ibid.: 72). This is what Morrison describes a common phenomenon in the white imagination. Paradoxically, however, the white imagination is eager to reemphasize a characters’ lack of whiteness by employing respective markers. In Hemingway’s novel, any black character is marked by the respective narrator with an exceedingly derogative collective term for black people. Its depersonalizing impact, in fact, does not allow the reader to count or distinguish

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these characters in terms of, e.g., age, class, nation and hence social strata that matter for white characters. Moreover, all focalization is white, which even leads to odd syntactical constructions such as »I looked and saw he had seen a patch of flying fish burst out ahead« (Hemingway 1937: 13). How can someone, as Morrison argues, see »that someone else has already seen«? This is only to happen when a white gaze is eager to not only silence the black vision but the black voice altogether: »[s]aw he had seen is improbable in syntax, sense, and tense [...] it is risked to avoid a speaking black. The problem this writer gives himself, then, is to say how one sees that someone else has already seen.« (Morrison 1992: 72-73)

In another scene, a black male character is silenced by just mentioning that he was saying »something«, thus branding it as unimportant, unworthy to recall, as a vague mumbling devoid of any meaning. Yet something else matters: his ›daring‹ to address Harry’s wife Marie. This is the only scene where the masculinist polyphony of the novel is transgressed because here we encounter Marie’s I-narrative perspective. However, it remains in the domain of rhetorics of masculinism and Africanism. After all, she is amused that Harry responds to this ›something‹ by beating the black man up, sort of reproaching him to have contaminated him and what he considers to be his ›property‹: white femininity. Being his most devoted wife, as always, Marie feels in need to reemphasize her whiteness: »[t]hat was the first time I ever made my hair blonde« (Hemingway 1937: 258). Though admiring her hair herself – »it was just like gold« (ibid.: 259) – she grants (Harry’s) male whiteness all respective authority over bodily beauty. It is Harry who has to evaluate her ›renewed‹ white body. He expresses his approval by using a biblical cursing »Jesus, Marie, you’re beautiful« and appropriates her by desiring, while silencing, her: »Don’t talk about it [...] Let’s go to the hotel« (ibid.). In doing so, he reaffirms his ownership of Marie thus increasing and multiplying both his white and masculinist superiority. There is only one scene in which an Africanist character is occasionally granted a name – Wesley – and some speech. This, however, is controlled by a white agenda. Imprisoned in an Africanist idiom, i.e. depicting the imperfection in his language, he serves to perform black inferiority in order to reaffirm white superiority. While Harry has tended not to use the ›ni-word‹ (due to mere hypocrisy) at earlier occasions, now he does when addressing Wesley directly.3

3

»›I hurt bad... Any way I’m shot is bad‹... The ni. went on grumbling…« (Hemingway 1937: 68); »›Hell‹, said Harry, ›ain’t no ni. any good when he’s shot. You are all right, ni., Wesley‹.« (ibid.: 87).

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It is this Africanist imagination that is challenged in both Morrison’s essay writing and prose by providing black characters with names, speech and focalization. Part and parcel of Morrison’s innovative and subversive narrational strategies is that the protagonists and narrators are black women. In her short story »Recitatif« she relinquishes male characters almost completely and rather empowers her two female protagonists, Twyla and Roberta, who meet one another in a children’s home in Jim Crow’s 1950s, »look[ing] like salt and pepper« and belonging to »whole other race[s]« (Morrison 1983: 244). By impeding the impossibility to figure out unequivocally who is black and who is white, the author purposefully creates a disarray. Interlinking Playing in the Dark and »Recitatif«, she calls the latter an »experiment in the removal of all racial codes from a narrative about two characters of different races for whom racial identity is crucial« (Morrison 1992: 11). This experiment is meant to challenge symbols and codes that our reading is used to rely on. When describing Twyla and Roberta in various stations of their life, symbolic markers such as hair, names, religion, clothes, jewellery and musical preferences are employed with a sincere intent to cause confusion. Analogously, social codes which are used to position characters in terms of class, nation, ability, etc. are discarded. Toni Morrison makes it impossible to know who is who, race-wise and other-wise. For example, when first meeting again as young adults after many years of separation, Roberta is heading to a concert of Jimmy Hendrix having »big and wild« hair and »earrings the size of bracelets« (Morrison 1983: 249). She laughs at Twyla, who wears a hair-net and a white-and-blue waitress uniform and has never heard of him. We may be tempted to see a resistant black woman who meets a settled white woman. According to this conventional reading, Roberta would be black. However, »Afro, hoop earrings, and a passion for Jimi Hendrix [...] actually circulated independently of race throughout the counterculture of the 1960s« (Abel 1993: 474). Hendrix and hairstyle as polyvalent markers cause irritation. This confusion is reinforced when, years later, Twyla and Roberta meet in a setting that displays classical music. Roberta wears diamonds and »a smart white summer dress«. Her »huge hair was sleek now, smooth« (Morrison 1983: 251-52). There are some epistemologies that would make us read this as a marker of whiteness, thus suggesting Roberta is white. Moreover, Morrison plays poetically with aptronyms in order to create confusion about racial positions. As a rule, surnames are a privilege of whiteness or maleness or both – an asymmetry that creates hierarchies within texts. As for »Recitatif«, Twyla’s mother is only referred to with her first name. Roberta’s mother, however, is just called by her surname. Analogously, when first meeting as adults, Twyla addresses Roberta as Roberta Fisk yet is simply named back Twyla by her. As for the mainstream pattern, this would mean the Fisks, i.e. Roberta and her mother, are white. Since this is, however, a story about black empowerment, it

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could of course be the other way around: the surname being given to a black woman would mean the Fisks are black. When meeting next Twyla refuses to be called by her first name, insisting: »I’m Mrs. Benson« (ibid.: 251). Is black empowerment coming in here when Twyla insists on being called by her surname thus suggesting that it is Twyla who is black? To make things even more ambiguous, Morrison opts for the following aptronyms: while Twyla recalls associations with a famous white dancer, Twyla Tharp, Roberta’s surname Fisk is the name of a renowned black university. And here we are, twisted again, not knowing who is positioned as white and who as black. Obviously, the apparent impossibility of positioning the girls/young women in terms of race declares that racialized stereotypes are not only useless but appalling. Yet, as Colette Guillaumin argues »Race does not exist. But it does kill people« (1995: 107). Though it is impossible to classify people genetically, let alone culturally in terms of ›races‹, racism and its politics of inventing biological ›races‹ has given rise to an ›order of race‹. It has produced social positions and hierarchies and continues to exist both structurally and discursively. These structures and discourses, as well as the modes of representing them fictionally, need to be explored and analysed in order to challenge processes of racialization. By evading or not noticing them, as Morrison argues, they become naturalized and hence reinforced (Morrison 1992: 10). Thus, we are in need of a double movement of thought that is moving away from ›race‹ as a biologistic construct and category, while moving towards race as a social position and critical category of analysis. This epistemological rethinking is called »racial turn« by Shankar Raman (cf. Raman 1995). In fact, it is this very logic of the ›racial turn‹ which informs Morrison’s »Recitatif«, ultimately suggesting that race matters and that racism is being caught in ambivalences and contradictions that need to be tackled. By causing irritation purposefully, she turns the readers’ attention to race. By evoking one’s eagerness to find bodily or cultural codes, which would help to decide whether it is Twyla or Roberta who is black (or white), the text pinpoints at the very racializing performance of reading.

C ONCLUSION Ultimately, as this article was eager to show, literature constructs and dismantles, affirms and subverts, empowers and resists gendered and racialized versions of »the master’s tools«. Just as much as the white imagination relies on Africanism and its very appropriation of the black voice and body in order to construct, affirm and empower the master’s house, black women writers such as Smith, Melville and Morrison dismantle, subvert and resist the Africanist literary imagination – and its

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predominantly masculinist, racist discourse, thus envisioning new futures. Amongst many other realms, the oppositional gaze is concerned with the black and/or female voice and body and scrutinizes racial superiority in order to de-silence female blackness and to transform it into visibility. Consequently, the poetics of the three women writers, just as much as black writing and criticism in general, attribute paramount importance to the black (female) voice and body as part of the project to destabilize the white masculinist discourse on race, thus de-centering and re-situating whiteness and empowering blackness. In doing so, literature is in motion and entangled in a »poetics of relation« (cf. Glissant 1990). This, in turn, requires transcultural literary studies which, as argued elsewhere,4 perform transculturally and embed race and gender intersectionally, thus offering an appropriate framework for analyzing both black (women’s) writing and canonical (white and masculinist) literature in comparative perspectives. When performing transculturally (like Melville’s protagonist), unlearning truths (like Irie Jones) and dismantling normalities (like Roberta and Twyla), literature and its studies will be able to reject the monodimensional propositions of the white gaze and to foster and make visible the complexities of black agency for new global futures.**

B IBLIOGRAPHY Abel, Elizabeth (1993): Black Writing, White Reading. Race and the Politics of General Education. In: Critical Inquiry 19/3, pp. 470-498. Arndt, Susan (2009): Euro-African Trans-Spaces. Migration, Transcultural Narration and Literary Studies. In: Bekers, Elizabeth / Helff, Sissy / Merolla, Daniela (eds.): Transcultural Modernities. Amsterdam, pp. 103-120. Barthes, Roland (1994): Mythologies. New York. Chakrabarty, Dipesh (2000): Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton. Duncan-Jones, Katherine (ed.) (1997): The Arden Shakespeare. Shakespeare’s Sonnets. London. Glissant, Édouard (1997): Poetics of Relation. Ann Arbor. Guillaumin, Collette (1995): Racism, Sexism, Power and Ideology. London.

4

For a more detailed elaboration on my closer reading with regard to the trans-spatial field of literature and literary studies see Arndt 2009.

** I wish to thank Shirin Assa, MA student at the University of Bayreuth, for her inspiring reading of my paper in particular, just as much as for being a marvellous critical thinker in general.

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Hemingway, Ernest (1937): To Have and Have Not. New York. hooks, bell (1992): The Oppositional Gaze. In: hooks, bell: Black Looks: Race and Representation. Boston, pp. 115-31. Lorde, Audre (1984): The Master’s Tools Will never Dismantle the Master’s House. In: Lorde, Audre: Sister Outsider. Essays and Speeches. Freedom, CA, pp. 110-13. Melville, Pauline (1990): Shape-Shifter. Stories. London. Morrison, Toni (1983): Recitatif. In: Baraka, Amiri / Baraka, Amina (eds.): Confirmation. An Anthology of AfricanAmerican Women. New York, pp. 243-261. Morrison, Toni (1992): Playing in the Dark. Whiteness and the Literary Imagination. Cambridge. Raleigh, Sir Walter (1970): The Discovery of the Large, Rich and Beautiful Empire of Guiana. With a Relation of The Great and Golden City of Manoa (Which the Spaniards call El Dorado). New York. Raman, Shankar (1995): The Racial Turn. ›Race‹, Postkolonialität, Literaturwissenschaft. In: Pechlivanos, Miltos et al. (eds.): Einführung in die Literaturwissenschaft. Stuttgart, pp. 241-255. Smith, Zadie (2000): White Teeth. London. Walcott, Derek (1996): The Muse of History. In: Alison, Donnell / Lawson Welsh, Sarah (ed.): The Routledge Reader in Caribbean Literature. London. pp. 354-58. Stouck, Jordan (2005): »Return and Leave and Return Again«: Pauline Melville’s Historical Entanglements. In: Anthurium: A Carribean Studies Journal, Vol. 3, Issue 1, pp. 1-14. URL: http://scholarlyrepository.miami.edu/cgi/viewcontent. cgi?article=1080&context=anthurium (Stand: 02.03.2015).

Beleidigungen und Herabsetzungen Zur sozialen Logik antisemitischer Aussagen Barbara Schäuble

Wenn Menschen auf eine von ihnen ausgehende sprachliche Diskriminierung aufmerksam gemacht werden, so heißt es schnell: »So war das nicht gemeint. Du bist aber sensibel«, als läge die Herabsetzung im Auge des Betrachters und sei deshalb nicht der Rede wert. Was wir sagen, misst sich aber sozial nicht zuerst an Absichten, sondern am Gehalt und den Folgen des Gesagten. Man kann niemandem auf die Füße treten und einen gebrochenen Zeh kommentieren, indem man sagt: »Das hast du falsch verstanden, so habe ich das nicht gemeint«.1 Der folgende Beitrag befasst sich mit der Semantik und der sozialen Logik sprachlicher Herab-Setzung am Beispiel antisemitischer Beleidigungen. In der Antisemitismusforschung (vgl. z.B. Rommelspacher 1995, Schäuble 2012) sowie bei der Diskussion über antisemitismuskritische Reaktionen in pädagogischen und alltagspraktischen Situationen stellt sich die Frage, was als antisemitisch zu beschreiben ist und welcher sozialen Logik Beleidigungen folgen. Ich möchte dies anhand einer für die Jugendarbeit nicht ungewöhnlichen Situation diskutieren. Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem Jugendzentrum tätig. Sie beobachten dort Jugendliche, die andere als »Du Jude!« bezeichnen.2 Der Zuruf ist offenkundig 1

Ich verdanke diese Formulierung der Schauspielerin Franchesca Ramsey, die damit in ihren Video »Getting Called Out: How to Apologize« (2013) auf die unterschätzte Wirkung sprachlicher Gewalt und auf Abwehrstrategien anstelle der Übernahme von Verantwortung aufmerksam macht.

2

In der Gewaltforschung gerät verbale Gewalt insbesondere als Jugendgewalt in den Blick, da Jugendliche weniger diszipliniert kommunizieren als Erwachsene, und da angenommen wird, dass verbale Aggressionen und ihre Entgegnung eine wichtige Funktion bei der Bildung von Peer-Groups erfüllen (vgl. u.a. Deppermann/Schmidt 2003, Sitzer 2015: 169, Fuchs et. al. 2009: 82 ff.). Auch jenseits dieser Entwicklungsphase finden sich

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problematisch. Worin genau die Problematik solcher Aussagen besteht, ist jedoch deutlich schwerer zu beschreiben. Ich möchte drei analytische Schritte vorschlagen, die in ihrer Reihenfolge keineswegs beliebig sind. Wer einer solchen Aussage beiwohnt, sollte, so meine These, drei Dinge tun: Erstens über die eigenen Perspektiven als Beobachter_in nachdenken, zweitens den Gehalt der Äußerung und ihre Effekte analysieren und drittens der Frage nachgehen, was die Sprecher_innen aus ihrer subjektiven Sicht meinen. Alles andere wäre, so meine ich, eine fahrlässige Abkürzung.

1. D IE B EOBACHTER _ INNEN

BEOBACHTEN

Die erste selbstreflexive Perspektive betrifft Sie selbst als Beobachter_in einer solchen Äußerung. Ein auf sich selbst zurückgewandter, reflexiver Blick ist nötig, da Beobachtung immer auch Interpretation bedeutet. Genau genommen bringen Beobachter_innen den von ihnen beobachteten Gegenstand als solchen immer mit hervor (vgl. Bergmann 2002). Beobachtungen werden von Erfahrungen, Zukunftserwartungen und Handlungsperspektiven mit geprägt. Wer den Zuruf »Du Jude« beobachtet, muss sich fragen, was ihn an der Äußerung beschäftigt oder eben auch, warum sie ihn kalt lässt. Was ist in Ihrem Kopf, wenn Sie Jüdischsein in ein Schimpfwort verwandelt sehen? Vielleicht eigene Erfahrungen, antisemitisch adressiert zu werden; vielleicht Ihnen überlieferte Erfahrungen Ihrer Familie; vielleicht Ihr Wissen über den Holocaust; vielleicht Schuldgefühle oder ein Überdruss gegenüber Antidiskriminierungs- und Erinnerungspolitiken; vielleicht die öffentliche Diskussion über Rechtsextremismus oder religiös begründeten Antisemitismus oder die Befürchtung, die heutigen Jugendlichen entwickelten sich ganz anders als Ihre eigene Generation? All das bestimmt vermutlich mit, ob Sie die Äußerung als Handlungsanlass sehen oder dazu tendieren, sie nicht so ernst zu nehmen. Und nicht nur die Interpretation der Handlung selbst kann Ihr Handeln mit bestimmen, sondern auch das Spektrum der für Sie verfügbaren Lösungen (Pfadenhauer 2005) und Ihre Erwartungen darüber, was eine mögliche Reaktion hervorruft: Haben Sie Angst, in der Jugendgruppe in ein Wespennest zu stechen, wenn Sie die Beleidigung ansprechen? Oder haben Sie die Sorge, eine Mehrheit der Jugendlichen im Jugendzentrum mit dem Fehlverhalten einer Minderheit zu beschäftigen? All diese Erfahrungen und Aussichten können die Wahrnehmung einer Situation prägen. Als Zeug_in sind Sie Teil der Situation und müssen entscheiden, wie Sie das Gesagte verstehen und darauf reagieren. Beleidigungen in allen Altersgruppen: Sie sind also keineswegs allein ein Jugendphänomen und -problem, wie dies im öffentlichen Diskurs bisweilen erscheint.

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Beschimpfungen beziehen ihre Autorität oft gerade aus ihrer öffentlichen Wirkung, unter anderem deshalb, weil es scheint, als spräche die sie aussprechende Person auch für die schweigenden Zeug_innen, darauf hat Hannes Kuch (2010: 234 f.) unter Bezug auf Bourdieus »Was heißt sprechen?« (2005) hingewiesen. Eine Problematisierung der Aussagen kann diese Wirkung schwächen. Dies zeigt sich beispielhaft an der öffentlichen Tabuisierung von Antisemitismus in der Bundesrepublik. Im Vergleich zu anderen Formen der Diskriminierung wurde auf Antisemitismus lange besonders aufmerksam reagiert. So wurde antisemitische Kommunikation in der Öffentlichkeit dadurch tabuisiert, dass sie als besonderer moralischer Verstoß herausgehoben wurde (vgl. Luhmann 1978). Dies hat, wie wissenssoziologische Antisemitismusforschung (vgl. Bergmann 1994) gezeigt hat, deutlich zu einem Rückgang antisemitischer Einstellungen in der Bevölkerung beigetragen. Teilweise kommt es jedoch nur zu einer kommunikativen Veränderung: Ein Teil der antisemitisch eingestellten Personen äußert ihren Antisemitismus nicht offen und antisemitische Bedeutungen werden in der kommunikativen Latenz gehalten (vgl. Bergmann / Erb 1986; 1991), indem die Bedeutung des Gesagten heruntergespielt und auf verschleiernde Formen der »Umwegkommunikation« zurück gegriffen wird (vgl. Bergmann / Heitmeyer 2005). Das erschwert es, antisemitische Aussagen sprachlich als solche zu erkennen. Zudem gehen Einschätzungen der Beobachter_innen weit auseinander. So sehen die Einen eine direkte Verbindung zwischen antisemitischen Äußerungen und dem Holocaust; Andere tendieren dazu, antisemitische Äußerungen zu banalisieren, weil sie die besondere Sensibilität für antisemitische Äußerungen kritisch sehen – sei es aus Gründen der Zustimmung, sei es aufgrund einer generellen Moralisierungskritik (vgl. Bergmann 1997). In der Bundesrepublik gab es in der Folge immer wieder öffentliche Konflikte (ebd.) über die Bewertung antisemitischer Aussagen. Das hat mit dazu beigetragen, dass die Markierung einer Aussage als antisemitisch als schwerwiegendes Urteil gilt (vgl. Lapeyronnie 2005), was nahelegt, antisemitische Beschimpfungen, wie die hier beispielhaft besprochene, ausgehend von der Sprecher_innenperspektive als unernstes ›Spiel‹ zu charakterisieren. Doch handelt es sich dem Gehalt der Aussagen und den Effekten nach wirklich um ein Spiel? Darum soll es im nächsten Abschnitt gehen.

2. O BJEKTIVE R ELEVANZ Betrachtet man die Verwandlung des Wortes ›Jude‹ in ein Schimpfwort, so stellt sich die Frage, was damit eigentlich zum Ausdruck gebracht wird. Eine Antwort auf diese Frage lässt sich über objektiv hermeneutische Lesarten gewinnen, indem gefragt wird, wie eine Gesellschaft strukturanaloge Sätze regelmäßig typischerweise versteht, wie sie also ›objektiv‹ zu lesen sind und welche soziale Bedeutung ihnen

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zukommt. Mit der Aussage wird eine Gleichung eröffnet: Du = Jude, Jude = negativ. Dabei wird die Bezeichnung ›Jude‹ wie ein Schimpfwort benutzt und dadurch in eine Beleidigung verwandelt, als wäre Jüdischsein selbst etwas Negatives. Ich möchte dieser Aussagelogik nachgehen, mit Blick darauf, welche Verletzung sie impliziert, welchen semantischen Gehalt sie hat und welche argumentative Operation sie beinhaltet. Und ich werde die identitätsfunktionale und ordnungsstiftende Dimension antisemitischer Äußerungen diskutieren. Be-Leidigung – Fremddefinition und Miss-Achtung Die Verwendung des Wortes Jude als Schimpfwort stellt eine sprachliche Verweisung auf einen sozialen Platz dar, der – so die Konstruktion ohne weitere Begründung – gegeben scheint und der unterhalb der Position der Sprecher_innen liegt (vgl. Hormel 2007: 138 ff.; Blumer 1975). Als herabsetzende Fremddefinition stellt die Aussage eine be-leidigende Handlung und eine Form symbolischer Gewalt dar (Herrmann 2013: 110; Bourdieu 2010). Fremddefinitionen können verletzen, weil Menschen auf soziale Anerkennung angewiesen sind (Honneth 1992). Diese Anerkennung ist, so der Philosoph Steffen K. Herrmann (2013: 115) wesentlich über Sprache als Medium vermittelt, sie ist der »Stoff, aus dem das Subjekt gemacht ist«. Die Verletzungsmacht der Sprache gründet jedoch nicht allein in situativen Missachtungserfahrungen. Sie kann zudem dazu beitragen, dass vorhergehende Verletzungen erinnert und aktualisiert werden (vgl. Reemtsma 2008; Inzlicht 2011). Argumentationslogik und Semantik – Degradierung, Stigmatisierung und Entlarvung Betrachtet man die Aussage »Du Jude« auf der Ebene der sprachlichen Operation, so handelt es sich um einen Prozess der Zuschreibung kollektiver Eigenschaften. Dabei kommt es zu einer Homogenisierung, Naturalisierung und Hierarchisierung. Es wird gesagt: »Du bist wie alle Juden, ihr habt eine gemeinsame Natur, diese ist minderwertig.« An die Stelle der Anerkennung der Person tritt dabei der Rekurs auf einen negativ gezeichneten Typus, der – so die mit moralischer Entrüstung vorgetragene Konstruktion – der Person scheinbar wesenhaft zugrunde liegt, was mit der Aussage enthüllt wird. Harold Garfinkel beschreibt solche Typisierungen als Degradierungsprozesse: »Die Denunziation bewirkt eine Verwandlung des Charakters der wahrgenommenen Person. In den Augen seiner Beschuldiger_innen wird sie buchstäblich eine andere und neue Person. Die neuen Attribute werden nicht an seinen alten Kern geheftet. Sie ist nicht verändert, son-

Beleidigungen und Herabsetzungen | 327 dern neu konstituiert. Die vorherige Identität erscheint im besten Fall als bloßer Schein. In der sozialen Wirklichkeitswahrnehmung erscheint die vorherige Identität als Zufall, die neue Realität dagegen als Basisrealität. Was sie jetzt ist, war die Person ›nach allem was geschehen ist‹ immer schon. Die öffentliche Denunziation führt zu einer Verwandlung des Wesens, indem an die Stelle des vorherigen ein anderes, sozial anerkanntes Motivschema gesetzt wird, mit dem das Verhalten der denunzierten Person gekennzeichnet wird. Es erscheint nun den Zuschauer_innen zwingend und angemessen, ihr Verhalten, ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Rahmen des ihr zugeschriebenen sozialen Motivschemas zu verstehen. Durch diesen Interpretationsprozess wird die angeklagte Person in den Augen der Zeug_innen zu einer anderen Person.« (Garfinkel 1956: 421 f. – Übersetzung B.S.)

Gruppenbezogene Schimpfwörter und Namenspolemiken stellen eine sprachliche Kurzform dieses Degradierungsprozesses dar. Dabei werden die mit dem Negativschema ›Juden‹ Bezeichneten »unter die Perspektive einer generellen Antastbarkeit gebracht« (Bering 2000: 155). Namensbasierte Schimpfwörter funktionieren, weil Namen Menschen totalisierend bezeichnen. Sie erfassen eine Person scheinbar ganz, so dass der Name dann stellvertretend für sie stehen kann, so der Sprachwissenschaftler Dietz Bering (1991: 398). Dabei wird der konkrete Name und mit ihm die gesamte Person in einen Begriff überführt, als Ganzes negativ bewertet und »als autonomes Individuum gelöscht« (Bering 2002: 176). Schließlich findet die Person mit ihren individuellen Eigenschaften »kein Unterkommen mehr im Namen« (ebd.). Über die Zuschreibung einer kollektiven Wesenhaftigkeit wird sie zugleich entlarvt und ihre, so scheint es, sonst kaschierte Negativität ans Licht gebracht (ebd.: 183). Es wird ausgesagt: »Ich weiß, du bis eigentlich jüdisch und deshalb schlecht, wie alle Juden. All deine Eigenschaften sind davon und von dieser Negativität geprägt. Ich sorge dafür, dass du dich vor diesem Urteil nicht mehr verstecken kannst.« Diese auf eine Gruppennatur abstellende Entlarvungslogik ist vielen antisemitischen Deutungsmustern eigen, weshalb es auch zu einer umfangreichen Kompositabildung gekommen ist (vgl. unter anderem Worte nach dem Schema Jude + Grundwort, z.B. ›Judenschule‹). Zugrunde liegt die Idee, dass Juden eigentlich ›Juden‹, also »Mimikry-Naturen« seien, deren Normalität und Moral nur vorgegeben ist, während sie eigentlich Verderben bringen (Bering 2000: 148). Einen Hintergrund dafür bildet die aus der Zeit der christlichen Abspaltung aus dem Judentum stammende Rivalität um Wahrheit, Moral und kulturelle Dominanz. Seither liefern antisemitische Aussagen Opfermythen und verschwörungstheoretische ›Welterklärungen‹ für aktuelle und historische gesellschaftliche Probleme und internationale Konflikte, indem sie Juden eine besondere und zerstörerische Macht zuschreiben. Diesen zufolge fügen Juden sich nicht in die Ordnung der Welt sein, sie zerstören sie, indem sie die Negation ihrer Prinzipien darstellen, so hat dies der Soziologe Klaus Holz herausgearbeitet (vgl. Holz 2001).

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Die Welterklärungssemantik und -funktion unterscheidet antisemitische Konstruktionen vom Grundmuster vieler rassistischer Schemata. Antisemitische Aussagen stellen aufdeckerische und sich selbst für die eigene Klugheit lobende Behauptungen dar, was auch ein Hinweis auf ihre soziale Funktion für die Sprecher_in ist (vgl. Tajfel 1982; Tajfel / Turner 1986). Wer antisemitisch argumentiert, behauptet, klüger als die Klügsten zu sein, allgemein übersehene Gefahren abzuwenden und selbst auf der Seite der Moral zu stehen. Aufgrund der Tradierung dieser Vorstellungsinhalte ist bis heute die Semantik des Wortes Jude in Fremddefinitionen keineswegs leer. Die Aussage »Du Jude!« funktioniert kommunikativ nur, weil sie die Annahme impliziert, dass man damit eine spezifische herabwürdigende Differenz benennen kann. Die Bezeichnung setzt das im gesellschaftlichen Wissensrepertoire verfügbare Negativschema und die mit diesem verknüpften mehr oder weniger umfangreichen Merkmalsbündel rund um grundlegende Attribute wie ›mangelhaft‹, ›kaputt‹, ›zweifelhaft‹ (Lapeyronnie 2005: 29), ›ungenügend‹, ›schwach‹ und ›geizig‹ (Bering 2002: 174) in Gang. Wer antisemitische Aussagen trifft ruft diese Konnotationen auf, er bzw. sie spricht nicht allein; »in gewisser Weise spricht hier eine überlieferte Reihe von Stimmen, ein Echo von anderen« (Butler 1997: 43). Dieses Zitieren Anderer verleiht der Herabwürdigung ›als Jude‹ einen Teil ihrer Autorität (Kuch 2010: 234 ff.), denn ohne ihre Vorgeschichte, Kollektivität und ihr diskursives Erbe würde sie sprachlich keine besonderen Effekte erzeugen. Judith Butler, die sich mit Hate Speech auseinander gesetzt hat, spricht sich deshalb dafür aus, die Verantwortlichkeit für das eigene Sprechen nicht zurückzuweisen, sondern bewusster mit diesem Erbe umzugehen: »Wenn hate speech Zitiercharakter hat, bedeutet es, dass der Sprecher für den Gebrauch dieses Sprechens nicht verantwortlich ist? Kann man sagen, dass er von jeder Verantwortung frei ist, da ein anderer dieses Sprechen erfunden hat? Ich würde dagegenhalten, dass der Zitiercharakter des Diskurses unser Verantwortungsgefühl eher verstärken und vertiefen kann. Der Sprecher einer hate speech ist verantwortlich dafür, dass er dieses Sprechen in bestimmter Form wiederholt und wiederbelebt. [...] Die Verantwortlichkeit des Sprechers besteht nicht darin, die Sprache [...] neu zu erfinden, sondern darin, mit der Erbschaft ihres Gebrauches, die das jeweilige Sprechen einschränkt und ermöglicht, umzugehen.« (Butler 1997: 45 f.)

Diese Verantwortung ergibt sich für Butler vor allem aufgrund der sozialen Effekte des Sprechens.

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Herab-Setzung – Soziale Identität und soziale Ordnung Der Soziologie Didier Lapeyronnie hat sich mit den sozialen Folgen antisemitischer Äußerungen unter Jugendlichen befasst. Er beschreibt, dass die von ihm beobachteten Jugendlichen sich durch eine antisemitische Abgrenzung »selbst eine Form« geben, die sie aufwertet und sozial in eine Gruppe integriert (Lapeyronnie 2005: 38; vgl. Tajfel 1982; Tajfel / Turner 1986). Zugleich stellen die abwertenden Sprachhandlungen eine soziale Reglementierung gegenüber den Beleidigten dar. Sie verkünden eine soziale Hierarchie und moralische Ordnung (Lapeyronnie 2005: 5) und stellen diese zugleich her (vgl. Kuch 2010; Austin 1979). Beleidigungen können so eine »Ortsverschiebung« (Herrmann / Kuch 2007: 196) im sozialen Raum von oben nach unten sowie eine Verschiebung der Personen aus der sozialen Mitte in die Peripherie erzeugen. Dabei wird nicht nur gesprochen, sondern die soziale Stellung der stigmatisierten Personen wirklich verändert: Die Beleidigten werden wirklich verdrängt und herab-gesetzt. Hermann (2013) erläutert die hervorbringende (performative) Kraft der Sprache unter Bezug auf Austins sprechakttheoretische Überlegungen zu Gerichtsurteilen und Verheiratungen. In diesen Kontexten werden über sprachliche Aussagen neue soziale Tatsachen hervorgebracht: ein Urteil und ein_e Täter_in, eine Ehe und Eheleute. Performative Sprechakte bauen auf die Autorität von Konventionen und das Verhalten von Zeug_innen. Antisemitische Äußerungen stellen dabei, wie Lapeyronnie sagt, eine »Einladung zum Antisemitismus« (2005: 37) dar, die angenommen oder abgelehnt werden kann. Die Zeug_innen entscheiden, ob sie eine antisemitische Aussage als Skandal werten, oder sich zu Kompliz_innen machen. Das wird beim Witzeerzählen besonders deutlich. Witze zielen auf eine Verbündung von Sprecher_in und Publikum. Lacht dieses bei diskriminierenden Witzen mit, so wird eine sprachliche Herabsetzung über die Sprache hinaus real, indem die herabgewürdigten Personen an den Rand oder in eine untergeordnete Position gedrängt werden. Diese soziale Logik baut auf die Verstehensleistung der Zuhörer_innen. Es kommt also für das Gewicht einer Herabwürdigung sehr wohl auf die zu Beginn des Textes erwähnte Interpretation des Gesagten an. Anders als dort die Verantwortung abwehrend formuliert wird (»das hast du falsch verstanden«), geht es jedoch nicht allein darum, ob die direkten Adressat_innen antisemitischer Beleidigungen diese als herabwürdigend verstehen, sondern es geht auch um mögliche Zuhörer_innen. Und es geht nicht allein um eine situative Interpretationsleistung, sondern auch um Wirkungen für die soziale Ordnung und den angenommenen sozialen Platz der Beteiligten. Man kann deshalb angesichts wirksamer Aussagen in der Welt nicht lernen, »sich nicht betroffen machen zu lassen«, so Hannes Kuch (2010: 223). Es ist aber durchaus sinnvoll, unterschiedlich

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gewichtige Aussagen zu unterscheiden. Wie sehr der Gehalt einer Äußerung auch eine soziale Wirkung zu erzeugen vermag, hängt, so Kuch, von der sozialen Autorität des Sprechenden, dem Verhalten der Zeug_innen und der Fähigkeit ab, sozial geteilte Deutungsmuster und Konventionen ins argumentative Feld zu führen (ebd.: 231 ff.). Im Bereich der Internetkommunikation und ihrer Rückwirkungen auf die Offlinekultur zeigt sich aktuell das Ringen um eine Einschätzung des Gewichts von Äußerungen besonders deutlich. Im Internet sind beleidigende Bemerkungen gang und gäbe. Einer Studie von Alice Marwick und Danah Boyd (2011) zufolge bewerten jugendliche Internetnutzer_innen ihre eigenen Aussagen im Netz überwiegend als wenig problematisch. Sie kontern die Beleidigungen Anderer (vgl. Bourdieu 2007), schreiben anderen Sprecher_innen nur eine begrenzte soziale Autorität zu und kalkulieren den Enthemmungseffekt (vgl. Suler 2004), den die anonyme, selbstbezogene, asynchrone und nicht ko-präsente Kommunikation im Netz mit sich bringt, beim Lesen ein. Marwick und Boyd stellen heraus, dass Jugendliche ein feines Gespür für den schmalen Grad zwischen echtem ›Mobbing‹ und ›Spiel‹ (im Englischen ›drama‹ bzw. ›pranking‹) zu haben scheinen, der dort verläuft, wo keine Reziprozität und keine Ausstiegsoption herrscht (vgl. Marwick / Boyd 2011). Sie äußern sich jedoch besorgt darüber, dass die Jugendlichen bestehende Ungleichheiten nicht hinreichend im Blick hätten und die Folgen für die soziale Ordnung außer Acht ließen (vgl. dies. 2014). Dies gilt insbesondere angesichts der breiten OnlineÖffentlichkeit und der narzisstischen Dimension empörter Entlarvungskommunikation und ihrer Verbreitung. Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Einschätzungen der Bedeutung und Folgen eigener Kommunikation und des begrenzten Wissens um tradierte Semantiken erscheint es durchaus sinnvoll, nicht nur den objektiven Gehalt von Äußerungen in den Blick zu nehmen, sondern auch die Einschätzung der jeweiligen Sprecher_innen, solange das nicht primär der Abwehr und der Zurückweisung der Situationsdeutung derjenigen dient, die auf eine Diskriminierung aufmerksam machen. Dies leitet über zum angekündigten dritten Analyseschritt nach einer antisemitischen Äußerung, bei dem danach gefragt wird, was eine Aussage aus der Sicht der Sprecher_innen bedeutet.

3. S UBJEKTIVE R ELEVANZ Menschen haben Gründe für ihr Handeln und diese sowie die eigenen Absichten sind folgenreich dafür, wie leicht man sich von einem weniger diskriminierenden Sprachgebrauch überzeugen lassen kann. Dies zeigt sich mit Blick auf die Kommunikation Jugendlicher sehr deutlich. Obwohl die Kenntnis des Schimpfwortes »Du

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Jude« und einzelner antisemitischer Deutungsmuster weit verbreitet ist, stehen diese Äußerungen bei der Mehrzahl von Jugendlichen im Widerspruch zu ihrer Selbstwahrnehmung als vorurteilskritisch (vgl. Schäuble 2012). Sie haben einen fragmentarischen Charakter, der keine umfassende Diskursverstrickung oder eine vergleichsweise konsistente antisemitische Weltanschauung zum Ausdruck bringt, sie werden auf Nachfrage aber teilweise banalisiert und teilweise plausibilisiert. Ist Verletzung nicht die Absicht der Sprecher_innen, so finden sich hier in einer veränderungsorientierten Perspektive Ansatzpunkte, um die Motive und Funktionen entsprechender Äußerungen zu erfragen und herauszufinden, wieso die Äußerungen für die Sprecher_innen plausibel sind. Das dabei angestrebte rekonstruktive Verstehen ist nicht dasselbe, wie ein normatives Ein-Verständnis. Es zielt, ausgehend von einer subjektorientierten Perspektive, darauf, den Ausgangspunkt des Gegenübers zur Kenntnis zu nehmen, um ihm_ihr Prozesse der Selbstaneignung und gegebenenfalls auch einen Anschluss an einen anderen Horizont zu ermöglichen (Meueler 1997). Auf dieser Basis kann in pädagogischen Kontexten wie dem eingangs genannten Jugendzentrum oder in Alltagssituationen genaueres Wissen über den verletzenden Charakter antisemitischer Äußerungen weitergegeben, der Gehalt von Aussagen und die Problematik des Aufgreifens von tradierten Semantiken analysiert und nach »funktionalen Äquivalenten« (Möller 2007) im Bereich der Stiftung sozialer Identität und des Gestaltens sozialer Ordnungen ohne Herabsetzungen gesucht werden.

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332 | Barbara Schäuble

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Beleidigungen und Herabsetzungen | 333

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334 | Barbara Schäuble

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»A strong woman doesn’t follow – she leads!« (Selbst-)Darstellungen muslimischer Akademikerinnen im sozialen Netzwerk Facebook Reyhan Şahin

Dieser Aufsatz basiert auf den Ergebnissen einer Pilotstudie, die ich von 2012 bis 2014 durchführte. Ich habe – mit dem Einverständnis der Eigentümerinnen – private Facebook-Profile muslimischer1 Postmigrantinnen der zweiten und dritten Generation gesichtet, die in der Bundesrepublik Deutschland leben. Die Studie soll Ergebnisse zu religiösen und politischen Orientierungen von jungen Musliminnen sowie ihren Sichtweisen zu Aspekten des Geschlechterverhältnisses innerhalb islamischer Communitys und innerhalb der Mehrheitsgesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland liefern. Es wurden zehn Kopftuch2 tragende Profileigentümerinnen zu ihren Facebook-Profilseiten und religiösen Orientierungen per tonbandaufgezeichneten Einzelinterviews befragt und personenspezifische Informationen schriftlich erhoben. Daneben wurden muslimische Veranstaltungen, die in den Profilseiten empfohlen wurden, teilnehmend beobachtet. Das Material wird in den kommenden Jahren ausgewertet, im Folgenden sind erste Eindrücke zusammengetragen.

1

Die Bezeichnung »muslimisch« wird im vorliegenden Aufsatz als allgemeiner Begriff für eine heterogene Zusammensetzung von sich als muslimisch identifizierenden Individuen gebraucht. Sie drückt keine spezifische Form der religiösen Orientierung aus.

2

Die Begriffe »Kopftuch tragende Musliminnen« und »muslimische Kopftuchträgerinnen« fungieren in diesem Beitrag als wertneutrale Bezeichnungen. Viele der im Rahmen der Dissertationsstudie befragten Kopftuch tragenden Musliminnen nennen sich selbst so, wenn sie deutsch reden. Einige orthodox-religiöse Musliminnen bezeichnen sich als »bedeckt«. Übersetzung aus dem Türkischen: »kapalı kadınlar« = »bedeckte, [orthodoxe, verschlossene] Frauen«).

336 | Reyhan Şahin

F ACEBOOK -U MMA : M USLIMISCHE C OMMUNITYS

IN SOZIALEN

N ETZWERKEN

Mit der Verbreitung des sozialen Netzwerks Facebook bildeten sich in den letzten fünf Jahren kleinere, muslimische Communitys innerhalb von Facebook, die miteinander vernetzt sind und ihre Zugehörigkeit zum Islam auf ihren Profilseiten sichtbar machen. Die in der Pilotstudie befragten Frauen entstammen jeweils verschiedenen »Freundeskreisen« innerhalb Facebook, die sich überwiegend aus muslimischen Akademiker_innen zusammensetzen. Die Nutzung dieser Profilseiten dient den Profileigentümer_innen vor allem dazu, Tagesnachrichten zu lesen, mit anderen Nutzer_innen zu kommunizieren und sich über muslimische und universitäre Veranstaltungen in Deutschland zu informieren. Die Nutzer_innen kommentieren die Ereignisse und tauschen politische Meinungen aus. Sie fügen Fotografien, Zeichnungen, Illustrationen und Grafiken ihren sprachlichen Beiträgen hinzu. Schriftsprachlich thematisierte Aspekte in Facebook-Profilen Islamspezifische Sprachinhalte der gesichteten Profilseiten setzen sich unter anderem aus diversen Meldungen, Bittgebeten, der Verehrung von Gott und des Propheten, Ansprachen an Muslim_innen, religionshistorischen Geschichten über den Propheten und seine Angehörigen, arabische Kalligrafie und Zitaten aus dem Koran und Hadithen3 zusammen. Gratulationen und Wünsche zu speziellen Feiertagen werden länderübergreifend auf Arabisch ausgesprochen, so dass sie von der gesamten muslimischen Community weltweit verstanden werden. Dies trägt zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls der muslimischen User_innen bei. Die Profilnamen reichen von bürgerlichen Namen über aus dem eigenen Namen abgeleiteten Pseudonymen bis hin zu Namen in arabischer Kalligrafie. In der Zeit von 2012 bis 2014 diskutierten viele junge muslimische Frauen in den Profilen, wie sie ihren Alltag muslimisch ausleben und kommentierten Ereignisse und Debatten, die sie als islamfeindlich empfanden, etwa die MuhammedKarikaturen und den Muhammed-Film, die Konflikte in Israel/Palästina sowie Diskussionen um die gerichtlichen Urteile zum Kopftuch in Deutschland. In jüngster Zeit werden ebenso der Krieg in Syrien sowie vereinzelt Themen um die islamistische Organisation ISIS kommentiert. Auf vielen der Profilseiten von Kopftuch tragenden Musliminnen sind sprachliche Beiträge mit bildlichen Elementen kombiniert – wie etwa mit Schriftsprache versehene Ankündigungen per Plakat oder politische Zeichnungen sowie Kommentare der Profileigentümerinnen zu den geposteten Fotografien. 3

Hadith (Singular) / Ahadith (Plural) bezeichnet die Überlieferungen des Gesagten und der Handlungen des Propheten Muhammad (s.a.v).

»A strong woman doesn’t follow – she leads!« | 337

Islamspezifische Bilder Typische islamspezifische Bilder sind Abbildungen von Moscheen bzw. Moscheekuppeln, der Pilgerorte Mekka und Medina, arabische Kalligrafie, Fotografien von betenden Menschen, Händen in Gebetsgesten sowie Fotografien und Zeichnungen von Frauen, die ein Kopftuch oder einen Ganzkörperschleier tragen. Eine der Befragten hat eine Fotografie von sich und ihrem Mann am Pilgerort Mekka als Profilbild eingestellt; eine andere zeigt sie selbst und ihre Tochter im Innenraum einer Moschee von hinten. Eine dritte hat eine Fotografie von sich selbst als Profilbild gewählt, auf der sie ihr Gesicht zeigt. Abbildung 1: Profilbild einer Befragten (mit ihrer Tochter in einer Moschee)

Quelle: Mariams Facebook-Profilseite

Es finden sich auch Videos mit islamspezifischen Inhalten, vor allem Videoclips zu islamischen Gesängen, sogenannten Ilahiler4 (türkisch) und Anashid5 (arabisch), sowie Dokumentationen von Pilgerreisen. Eine Besonderheit stellen die zahlreichen Cartoon-Zeichnungen und Illustrationen auf den Profilseiten von muslimischen 4

Singular: Ilahi.

5

Singular: Nashid.

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Akademikerinnen in der Bundesrepublik Deutschland dar; es handelt sich dabei meist um satirisch-politische Zeichnungen, sie spiegeln die jeweiligen Haltungen der Profileigentümerinnen wider. Populär sind Zeichnungen zum Gaza-Konflikt und solche, die die Haltungen des ›Westens‹ gegenüber Muslim_innen sowie Diskriminierungen von Muslim_innen in Deutschland thematisieren.

S ELBSTDARSTELLUNGEN Abbildung 2: Von einer modebewussten Studentin gepostetes Selbstporträt

Quelle: Bukets Facebook-Profilseite

Auf ihren Facebook-Profilseiten stellen sich die Musliminnen bildlich unterschiedlich dar. Während einige der Akademikerinnen sich mit Lichtbild vorstellen, ver-

»A strong woman doesn’t follow – she leads!« | 339

zichten andere auf fotografische Selbstportraits. Stattdessen stellen sie Profilmotive wie etwa Blumen, Kalligrafie, Alltagsobjekte, Landschaften, Kinderbilder oder Städtepanoramas in ihre Profile ein. Ebenso gibt es eine Reihe von Userinnen, die von einem eigenen Facebook-Profil nach ihrer Verlobung bzw. Vermählung auf ein gemeinsames Profil mit ihrem Verlobten bzw. Ehemann wechseln. Daneben zeigen sich einige Userinnen nur abgewandt oder von hinten. Abbildung 3: Selbstdarstellung einer Studentin mit türkischem Hintergrund bei ihrer Hochzeit (modisches Brautkleid mit Kopftuch)

Quelle: Laras Facebook-Profilseite

Profileigentümerinnen, die einen Ganzkörperschleier tragen, zeigen sich auf ihren eigenen Profilseiten bewusst nicht. Einige der Frauen führen ihre Bekleidungsmode vor und verlinken zu Profilseiten von Herstellerfirmen von sogenannter KopftuchMode sowie zu Kopftuch tragenden Trendsetterinnen und Modebloggerinnen. Eine der bekanntesten Trendsetterinnen postet täglich auf ihrer öffentlichen Profilseite eigene Fotografien in kreativ zusammengestellten Bekleidungskonfigurationen. Sie ist mit mehr als 650.000 »Likes« auf Facebook unter dem Pseudonym Hijab is my diamond bekannt. Im Laufe der Studie werden diese und weitere Selbstdarstellun-

340 | Reyhan Şahin

gen unter körpersemiotischen Aspekten analysiert. Mich interessiert dabei, welche Nuancen der muslimischen Orthodoxie und/oder der Säkularität durch die Gesichter, Körperhaltungen und Bekleidung auf den Selbstportraits der Frauen ausgedrückt werden und ob es spezifische, visuell-semiotische Kodes gibt, die für eine bestimmte religiöse Orientierung der Profileigentümerin stehen.

R ELIGIÖSE M EHRSPRACHIGKEIT Junge bekennende Musliminnen in Deutschland nutzen eine spezifische Sprachmischung, die ich als »religiöse Mehrsprachigkeit« bezeichne. Diese religiös konnotierte Form der Mehrsprachigkeit ist in erster Linie durch die Vermischung arabischer Lehnwörter mit dem Deutschen und Türkischen markiert. Hierzu gehören primär religiös konnotierte Floskeln, wie etwa Salam aleykum, Bismillah, Maşallah, Ya Allah oder die Übernahme von arabischen Ausdrücken aus dem religiösen Kontext ins Deutsche. Eine Variante der religiösen Mehrsprachigkeit stellt das von mir als »Moslem-Deutsch« bezeichnete Phänomen dar, bei dem religiöse Ausdrücke und Äußerungen aus dem Arabischen und Türkischen direkt ins Deutsche übersetzt werden. Beispiele aus den Profilseiten der Befragten sind unter anderem die Begrüßungsformel »Salam alaykum«, die Anrede »Schwestern und Brüder« oder die Abschiedsfloskel »Mit islamischen Grüßen«. Die Mehrsprachigkeit bezieht sich auch auf religiöse Inhalte. Postings der jungen Musliminnen zu islamspezifischen Themen und Ereignissen, etwa zu RamadanFeiern, dem Opferfest und Pilgerfahrten, werden in ihrer jeweiligen Muttersprache (Türkisch oder regionales Arabisch) verfasst, während über Alltägliches, wie etwa Ausbildung, Universität, Beruf, in Deutsch gesprochen wird. Vor allem die Gratulationen und Wünsche zu rituell-religiösen Festtagen werden auf den Profilseiten in der Erstsprache und durch die Verwendung von Wunschfloskeln aus dem Koran ausgesprochen. Es findet also eine sprachliche Kombination von Familiensprache und dem Deutschen statt; viele Akademikerinnen ergänzen englische Passagen, um internationale Rezipient_innen zu erreichen. Die nachfolgenden Illustrationen mit der Aufschrift »Eid Mubarak« werden in vielen Facebook-Profilseiten länderübergreifend eingesetzt.

»A strong woman doesn’t follow – she leads!« | 341

Abbildungen 4 und 5: Gratulations-Illustrationen »Eid Mubarak« zum Opferfest

Quelle: Internet

K OPFTUCH

TRAGENDE

M USLIMINNEN

ALS

F OTOGRAFINNEN

Die professionelle Fotografie unter Kopftuch tragenden Musliminnen hat sich in den letzten fünf bis acht Jahren zu einem interessanten Phänomen innerhalb sozialer Netzwerke Deutschlands entwickelt. Hierbei handelt es sich überwiegend um Akademikerinnen, die das professionelle Fotografieren autodidaktisch erlernt haben und ihre Dienstleistung als Fotografinnen mittels ihrer Facebook-Profile vermarkten. Solche Profilseiten werden häufig unter einem Pseudonym geführt und mit eigenen Fotografien gefüllt. Die Fotomotive auf solchen Profilen sind meist Alltagsgegenstände; hierzu gehören z.B. Gratulationen zum Ramadan und/oder Opferfest, die auf einen Kuchen gesteckt oder mit Blumenornamenten verziert wurden. Ebenso gehören Fotografien von Hochzeiten und Verlobungen sowie von Neugeborenen zu den Hauptmotiven von Kopftuch tragenden Fotografinnen. Eine der ersten und populärsten Fotografinnen unter Kopftuchträgerinnen ist die Studentin Butterfly Photography mit türkischem Hintergrund aus Duisburg. Muslimische Organisationen bieten regelmäßig Foto-Wettbewerbe an, die durch Ankündigungen via Facebook verbreitet und von Kopftuch tragenden Musliminnen angenommen werden. Zwei der Interviewten haben bei solchen Wettbewerben, die von der Organisation Islamische Gemeinschaft Millî Görüş veranstaltet wurden, gewonnen. Die Preise für die Gewinnerinnen waren in beiden Fällen professionelle Digitalkameras.

O NLINE -AKTIVISTINNEN In den letzten fünf Jahren sind einige muslimische Aktivistinnen in den Bereichen Journalismus, Kunst und Netz-Aktivismus in der (sozial-)medialen Öffentlichkeit in Deutschland bekannt geworden. Aus dieser Gruppe möchte ich die Journalistin und Bloggerin Kübra Gümüşay, das Mitglied des Bündnisses Muslima Pride, Betül

342 | Reyhan Şahin

Ulusoy, die Comic-Zeichnerin Soufeina Hamed mit dem Künstlerinpseudonym Tuffix sowie die Berliner Rapperin Lady Scar vorstellen – alle sind mit ihren öffentlichen Profilseiten im sozialen Netzwerk Facebook sichtbar. Die Journalistin, Netz-Aktivistin und Bloggerin Kübra Gümüşay betreibt z.B. den Blog »Ein Fremdwörterbuch« und die Hashtag-Kampagne »#SchauHin«, im Rahmen derer unter anderem auf Erfahrungen von Muslim_innen mit Alltagsrassismus aufmerksam gemacht werden soll. Ebenso war sie als Kolumnistin für die tageszeitung (taz) tätig.6 Die Studentin und Comic-Zeichnerin Soufeina Hamed aka Tuffix erzählt anhand von Comic-Strips Kurzgeschichten, welche beispielsweise den Frieden zwischen den Weltreligionen und Diskriminierungen von Kopftuch tragenden Musliminnen thematisieren.7 Die Juristin Betül Ulusoy ist nicht nur eine Mitinitiatorin der aktivistischen Muslima Pride-Bewegung, sondern auch Mitglied des Partizipationsprojekts JUMA – jung, muslimisch, aktiv, das sich für Partizipation und Demokratieerfahrungen für in Deutschland lebende muslimische Jugendliche und gegen antimuslimischen Rassismus einsetzt. Bei allen drei Aktivistinnen handelt es sich um selbstbewusste junge Musliminnen, die bei der Diskussion gesellschaftspolitischer Themen innerhalb Deutschlands mitwirken. Sie sind bei jungen muslimischen Akademikerinnen innerhalb Deutschlands – auch den im Rahmen der vorliegenden Studie Befragten – bekannt und populär. Die zum Islam konvertierte Rapperin Lady Scar rappt seit 2005 in deutscher Sprache. Ihre sozialkritischen Songinhalte behandeln z.B. die Perspektivlosigkeit von Jugendlichen in sogenannten ›Problemkiezen‹ Berlins, den Stellenwert von Hip Hop-Musik in ihrem Leben sowie ihre Erfahrungen als Kopftuch tragende Muslimin in Deutschland. Ihre beiden Facebook-Profilbilder zeigen sie geschminkt und mit Hip Hop-spezifischer Streetwear. Islamspezifische Statements auf ihrem Profil setzen sich neben ihrem sichtbaren (hinten gebundenen) Kopftuch aus ihren Postings zusammen, die historische Geschichte(n) erzählen und ›das Gute im Menschen‹ hervorheben. Daneben betreibt Lady Scar ein eigenes Bekleidungslabel, das unter anderem T-Shirts und Kapuzenpullover mit der Aufschrift »We are Gaza« bedruckt und verkauft. Der Erlös kommt einem Kinderverein in Gaza zu. Ebenso weist ihr bürgerlicher Name, den sie seit ihrer Konversion trägt und unter dem sie ebenfalls ein Profil führt, auf ihre islamische Zugehörigkeit hin. Ein interessantes Phänomen bei der Rapperin Lady Scar ist das Zusammentreffen von Hip Hop-Subkultur und Islam. Hierbei verweist Lady Scars Identität als Woman of Color, die zum Islam konvertiert ist, ein Kopftuch trägt und rap-musikalisch aktiv ist, innerhalb der Mehrheitsgesellschaft wie auch innerhalb der männerdominierten Hip

6

Bis 2013 berichtete Kübra Gümüşay in ihrer Kolumne »Das Tuch« aus ihrer Lebenswelt

7

Zeichnungen von Soufeina Hamed aka Tuffix siehe Homepage tuffix.deviantart.com.

als Kopftuch tragende Muslimin in Deutschland.

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Hop-Szene auf eine mehrfache Marginalisierung, die sie durch ihre musikalische und politische Aktivität selbstbewusst auf ihrem Facebook-Profil zur Schau stellt .

V ERNETZUNG MIT ISLAMISCHEN O RGANISATIONEN ODER V ERBÄNDEN Einige der Befragten drücken auf ihren Profilseiten ihre Zugehörigkeit zur türkischmuslimischen Bewegung Millî Görüş8 und/oder zur Bewegung der Nurcular9 aus. Dies wird vor allem durch die Sichtbarkeit der organisationsspezifischen Embleme und durch Verlinkungen zu den Facebook-Profilseiten anderer Mitglieder sowie über direkte Verlinkungen zu den Verbänden deutlich. Einige der Profileigentümerinnen haben ihre Reisen zum Pilgerort Mekka, die von Millî Görüş organisiert werden, auf ihren Profilseiten fotografisch dokumentiert. Auf vielen dieser Fotos sind Millî Görüş-Embleme sichtbar. Andere lehnen die Zugehörigkeit zu einer bestimmten muslimisch-politischen Organisation ab und legen größeren Wert auf eine global vernetzte islamische Community – die Umma –, die sie jenseits ethnischer oder islampolitischer Zugehörigkeiten definieren. Die Zugehörigkeit ihrer Eltern zu spezifischen muslimischen Organisationen hat zwar einen bedeutenden Einfluss auf das Zugehörigkeitsempfinden der Befragten, muss jedoch, wie Einzelfälle belegen, nicht unbedingt richtungsweisend für die eigene religiöse Orientierung sein.

8

Millî Görüş (dt.: Nationale Sicht) ist eine länderübergreifende islamische Bewegung. Der Dachverband Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (abgekürzt IGMG) zählt im Januar 2015 ca. 87.000 Mitglieder und 323 Moscheen und ist damit die größte in Deutschland vertretene orthodox-muslimische Organisation. Ihren ersten Sitz hatte die Millî Görüş 1972 in Braunschweig, wo sie unter dem Namen Türkische Union Europa geführt wurde (vgl. www.igmg.de [Stand: 20.01.2015]).

9

Die Nurcular-Bewegung, auch Nurculuk-Bewegung, Jama’at-un Nur oder dt. Nuristen genannt, entspricht einer innerislamischen Strömung, die überwiegend unter sunnitischtürkischen Muslim_innen verbreitet ist. Sie versteht sich als »Aufklärungsbewegung, welche die Verbindung von Moderne und Islam« (vgl. www.jamaatunnur.com/wir-ueberuns.html [Stand: 20.01.2015]) anstrebt. Ihr Glaube bezieht sich – neben Koran und Sunna – auf die Lehren von Beduizzaman Said Nursi (1876-1960) und sein Werk Risale-i Nur. Vgl. außerdem www.saidnursi.de (Stand: 20.01.2015) sowie Homolka et al. 2010.

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P OLITISCHE H ALTUNGEN

DER

U SERINNEN

Die Facebook-Profile geben Hinweise auf die politischen Haltungen einzelner Userinnen. Hierbei überwiegen solidarische Haltungen zu Muslim_innen, die Ausgrenzungserfahrungen machen. Auffällig ist auch, dass sich einige zu bestimmten muslimischen Verbänden zugehörig zeigen. Einige der Befragten posten regelmäßig Kriegsbilder von zerstörten palästinensischen Gebieten und verletzten palästinensischen Kindern. Sie fordern einen Eingriff der westlichen Länder in den Gaza-Konflikt. Eine der Befragten macht die Regierungen der USA und Israels für die Kriegstoten in Gaza verantwortlich. Eine Userin mit palästinensischem Hintergrund postet täglich Kriegsbilder aus Gaza und beklagt sich über die ›Ungerechtigkeit auf der Welt‹. Eine weitere distanziert sich bewusst von der islamistischen Organisation ISIS; sie meint, dass die Anhänger_innen den Islam nicht »richtig« leben. Zwei Befragte mit türkischem Hintergrund drücken auf ihren Facebook-Profilseiten ihre Sympathien mit dem damaligen türkischen Premierminister Recep Tayyip Erdoğan aus; im Interview erklärt eine von ihnen, dass Erdoğan »viel für die politische und wirtschaftliche Lage der Türkei getan« habe. Eine der interviewten Frauen postete eine Fotografie ihres Wahlzettels auf ihrer Profilseite und kommentierte, dass sie sich politische Veränderungen bezüglich der Lebenssituation von Migrant_innen in Deutschland erhoffe. Weitere Frauen bekennen sich öffentlich zu Millî Görüş. Daneben kursieren auf den Profilseiten der Befragten einzelne Videos von den unter jungen Muslim_innen bekannten muslimischen Poetryslammern i,Slam. Zwei der befragten Frauen posteten ein Video, in dem zwei muslimische Student_innen gegen die von der Pegida als Meinungsfreiheit deklarierten Verletzungen von religiösen Gefühlen von Muslimin_innen slammen.10

E MANZIPATORISCHE O RIENTIERUNGEN F ACEBOOK -U SERINNEN

DER BEFRAGTEN

Zwei der Befragten drücken ihre emanzipatorischen Ansichten durch die »Likes« (und durch »Teilen«) von Artikeln zu muslimisch-feministischen Themen aus. Das

10 I,slam ist ein muslimischer Poetry Slam, organisiert von Youssef Adlah, Younes AlAmayra, Leila Younes El-Amaire und Assaad Adlah. Er soll jungen, talentierten Muslim_innen eine Plattform bieten, sich in Form von Prosatexten und Gedichten zu gesellschaftlichen, politischen oder religiösen Themen zu äußern, Ideen und Kreativität zu entfalten und gehört zu werden. Besonders an diesen Poetry Slams ist, dass die Texte ohne Beschimpfungen und Vulgärsprache auskommen. Siehe dazu: www.i-slam.de (Stand: 20.01.2015).

»A strong woman doesn’t follow – she leads!« | 345

Posting einer dieser Frauen »A strong woman doesn’t follow, she leads!«11 spiegelt ihre Haltung wider. Auch ist die selbstbestimmt gewählte, größtenteils elegantmodische Bekleidungsweise vieler Kopftuch tragender Profileigentümerinnen – durch die sie sowohl innerhalb ihrer Communitys als auch innerhalb der Mehrheitsgesellschaft auf Intoleranz stoßen – im Lichte einer emanzipatorisch ausgerichteten Haltung zu betrachten. Auf Facebook, Twitter und Instagram wehren sich Musliminnen gegen ihre Bevormundung durch Femen. Im April 2013 stellten sich Femen-Aktivistinnen barbusig zu einem selbstbetitelten »Topless Jihad Day« vor die Berliner AhmadiyyaMoschee, um – wie sie meinten – gegen die ›Unterdrückung der Frau‹ im Islam zu demonstrieren. Einen Tag später führte die Muslima Pride-Bewegung eine Gegenaktion durch: Sechs Musliminnen demonstrierten mit Kopftuch gegen die Bevormundung muslimischer Frauen durch die Femen-Bewegung. Sie hielten Plakate hoch, welche Aufschriften wie etwa »Islam is my choice«, »Du brauchst mich nicht zu befreien!« oder »Ich bin schon frei!« trugen. Über dieses Ereignis wurde unter anderem in der Süddeutschen Zeitung sowie in der taz berichtet. Diese ersten Einblicke in meine Pilotstudie weisen auf die selbstbewussten Selbstdarstellungen und politischen Positionierungen gut ausgebildeter, Kopftuch tragender Musliminnen hin. Nach dem Motto »Nothing About Us Without Us!«12 beanspruchen die Musliminnen, dass ihre Stimmen Gehör in der Mehrheitsgesellschaft finden. Ziel meiner Studie ist es, mit den Frauen zu sprechen und ihre Sichtweisen einzubeziehen – statt nur über sie.

L ITERATUR Ahmed, Leila (1992): Woman and Gender in Islam: Historical Roots of a Modern Debate. New Haven. Akyol, Çiğdem (2013): Du brauchst mich nicht zu befreien! In: taz vom 28.04.2013. URL: http://www.taz.de/!115330 (Stand: 21.01.2015). Engelmann, Kerstin et al.: (2010): Muslimische Weblogs: Der Islam im deutschsprachigen Internet. Erschienen in der Schriftenreihe Medien und politische Kommunikation – Naher Osten und islamische Welt, herausgegeben von Kai Hafez, Band 20. Berlin. Fraas, Claudia / Meier, Stefan / Pentzold, Christian (Hg.) (2013): Online-Diskurse. Theorien und Methoden transmedialer Online-Diskursforschung. Köln. 11 Da dieser Slogan die emanzipatorische Grundhaltung der Mehrheit der befragten Frauen widerspiegelt, habe ich ihn als Überschrift für den vorliegenden Aufsatz gewählt. 12 Dabei handelt es sich ursprünglich um ein Motto der internationalen Behindertenbewegung.

346 | Reyhan Şahin

Homolka, Walter et al. (Hg.) (2010): Muslime zwischen Tradition und Moderne: Die Gülen-Bewegung als Brücke zwischen den Kulturen. Freiburg im Breisgau. Kraft, Steffen / Raab, Klaus (2011): Das entblößte Ich. In: Der Freitag vom 09.06.2011. URL: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/das-entblosste-ich (Stand: 21.01.2015). Lüdi, Georges / Py, Bernard (1984): Zweisprachig durch Migration. Einführung in die Erforschung der Mehrsprachigkeit am Beispiel zweier Zuwanderergruppen in Neuenburg (Schweiz). Tübingen. Meier, Stefan (2008): Bilddiskurse im Netz. Konzept und Methode für eine semiotische Diskursanalyse im Word Wide Web. Köln. Meier, Stefan / Pentzold, Christian (2013). Multimodal Online Communication: Through the Lens of Practice Theory. URL: http://www.tu-chemnitz.de/phil/ imf/mk/onlinediskurse/pdf/Multimodal%20Online%20communication_Meier_ Pentzold.pdf (Stand: 21.01.2015). Mernissi, Fatima (1987): Geschlecht, Ideologie, Islam. München. Pantel, Nadia (2015): Nacktes Missverständnis. In: Süddeutsche Zeitung vom 08.04.2013. URL: http://www.sueddeutsche.de/politik/muslimas-empoert-ueberfemen-aktion-nacktes-missverstaendnis-1.1643194 (Stand: 21.01.2015). Rhouni, Raja (2009): Secular and Islamic Feminist Critiques in the Work of Fatima Mernissi. Leiden. Rommelspacher, Birgit (2009): Feminismus und kulturelle Dominanz. Kontroversen um die Emanzipation »der« muslimischen Frau. In: Berghahn, Sabine / Rostock, Petra (Hg.): Der Stoff, aus dem Konflikte sind. Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Bielefeld, S. 395-412. Rommelspacher, Birgit (2013): Zur Emanzipation »der« muslimischen Frau. Kontroversen im Kontext kultureller und patriarchaler Dominanz. In: Spenlem, Klaus (Hg.): Gehört der Islam zu Deutschland? Fakten und Analysen zu einem Meinungsstreit. Düsseldorf, S. 419-434. Şahin, Reyhan (2014): Die Bedeutung des muslimischen Kopftuchs. Eine kleidungssemiotische Untersuchung Kopftuch tragender Musliminnen in der Bundesrepublik Deutschland. Münster. Wadud, Amina (1999): Qur’an and Woman: Rereading the Sacred Text from a Woman’s Perspective. Oxford.

Autor_innen

Amirpur, Donja ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Paderborn in der Arbeitsgruppe »Inklusive Pädagogik«. Sie befasst sich dort mit dem Thema Intersektionalität an der Schnittstelle von Migration und Behinderung und inklusiven Entwicklungsprozessen im Bildungs- und Hilfesystem. Als Promotionsstipendiatin der Universität Bremen, Arbeitsbereich Interkulturelle Bildung, hat sie zu den Lebenslagen von Familien im Kontext von Migration und Behinderung promoviert. Antmann, Debora wurde 1989 in Berlin geboren und ist dort, bis auf ein paar Jahre in der Kindheit, bisher geblieben. Sie studiert Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule und arbeitet dort als stellvertretende Frauenbeauftragte. Seit Anfang 2013 betreibt sie das Blog »Don’t degrade Debs, Darling!« zu queerfeministischen Themen. Ihr politischer Fokus liegt auf der Auseinandersetzung mit Sexismus, Heterosexismus, Körpernormen, jüdischer Identität und Psychiatrieerfahrung. Arndt, Susan, Prof. Dr., ist Professorin für englische Literaturen an der Universität Bayreuth und Sprecherin der Bayreuth Academy of Advanced African Studies. Sie arbeitete an der HU Berlin, dem St. Antony’s College Oxford und der GoetheUniversität Frankfurt/Main. Forschungsschwerpunkte: Diasporaforschung und Kritische Weißseinsforschung, Intertextualität, Intersektionalität und Gender Studies. Jüngste Buchpublikationen: »Die 101 wichtigsten Fragen. Rassismus« (2012) und »Afrofictional In(ter)ventions« (2014, mit N. Ofuatey-Alazard). Attia, Iman, Prof. Dr. phil., Professorin an der Alice Salomon Hochschule Berlin; Arbeitsschwerpunkte: Orientalismus und antimuslimischer Rassismus, Interrelation gesellschaftlicher Machtverhältnisse, postkoloniale Theorie, historisch-politische Bildung. Aktuelles Forschungsprojekt: »Erinnerungsorte. Vergessene und verwobene Geschichten«. Aktuelles Buchprojekt: »Zum Verhältnis von Politik, Kultur und Religion im deutschen Islamdiskurs« (erscheint 2016).

348 | Dominanzkultur reloaded

Cantzen, Rolf, Studium der Politikwissenschaft, Philosophie und Germanistik in Hannover und Berlin; Diplom-Politologe; hat als freier Hörfunk-Autor mehr als 500 Features, Reportagen, Sendungen für das Wissenschafts- und Bildungsprogramm unter anderem für DLF, DLR, BR, SWR, WDR geschrieben. Schwerpunktthemen: Rassismus, Religionskritik, politische Philosophie. Bücher zum Anarchismus und zur Esoterikkritik; 2014 erschien sein Kriminalroman »Mordskarma«. Çetin, Zülfukar, Dr., lehrt an der Alice Salomon Hochschule in Berlin. Seit 2014 arbeitet er als Mercator-IPC Fellow an der Stiftung Wissenschaft und Politik. Seine Schwerpunkte sind Intersektionalität, Migrationsforschung, Antidiskriminierungspolitik, Antimuslimischer Rassismus, Queer Theorie und Politik, Qualitative Sozialforschung. Er ist Mitautor von »Interventionen gegen die deutsche Beschneidungsdebatte« (2012, zusammen mit S. A. Wolter und H. J. Voß) sowie Autor von »Homophobie und Islamophobie« (2012). Degener, Theresia, Prof. Dr., ist Professorin für Recht und Disability Studies an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum und seit 2011 Mitglied des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Zwischen 1999 und 2010 lehrte sie an den juristischen Fakultäten der University of California, Berkeley (USA) und der University of Western Cape, Kapstadt (Südafrika) internationale Menschenrechte. Großmaß, Ruth, Prof. Dr., Professorin für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Studium der Fächer Philosophie, Germanistik und Pädagogik; mehrjährige berufliche Praxis in der Beratung. Publikationen: »Psychische Krisen und sozialer Raum« (2000), »Beratung in der Praxis« (2010, zusammen mit Edith Püschel) »Ethik für Soziale Berufe« (2011, zusammen mit Gudrun Perko); »Kritik der Moralisierung« (2013, herausgegeben zusammen mit Roland Anhorn). Gummich, Judy ist Trainerin und Beraterin für Menschenrechte, Inklusion und Diversity. Sie war an der TU Dortmund im Fachbereich Rehabilitationswissenschaften in einem Beratungsteam für den Zukunftskongress der Aktion Mensch 2014 und als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Menschenrechte tätig. Seit über 25 Jahren arbeitet sie in unterschiedlichen Kontexten zu Belangen der afrikanischen Diaspora in Deutschland sowie zu intersektionalen Lebensrealitäten und Diskriminierungen.

Autor_innen | 349

Gutiérrez Rodríguez, Encarnación, Prof. Dr. phil., Professor_in für Allgemeine Soziologin an der Universität Gießen. Sie arbeitete an der Universität Hamburg und der University of Manchester. Forschungsfelder: Migration, Arbeit, Affekt, Transkulturalisierung und Konvivialität. Autorin von »Migration, Domestic Work and Affect« (2010) und »Intellektuelle Migrantinnen« (1999); außerdem Mitherausgeberin von »Decolonizing European Sociology« (2010, mit M. Boatcă und S. Costa), »Spricht die Subalterne deutsch?« (2003, mit H. Steyerl) sowie »Creolizing Europe« (2015, mit S. Tate). Hark, Sabine, Prof. Dr., Soziologin; Professor_in für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der TU Berlin. Leiter_in des Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der TU und Mitherausgeber_in von »feministische studien«. Arbeitsschwerpunkte: Geschlechterforschung als kritische Ontologie der Gegenwart, geschlechtersensible Wissenschaftssoziologie und Hochschulforschung sowie Feministische Erkenntnistheorie und Queer Theorie. Kalpaka, Annita, Prof. Dr., Professorin an der HAW Hamburg, Department Soziale Arbeit mit einem Schwerpunkt in Gemeinwesen- und Gruppenarbeit; DiplomVolkswirtin, Pädagogin, Supervisorin; langjährige Praxis in der Antidiskriminierungs- und Stadtteilarbeit, der Lehrer_innenbildung und der außerschulischen Erwachsenenbildung. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Migrations- und Rassismusforschung, Subjekttheorien, Lerntheorien, Methoden der Erwachsenenbildung, rassismuskritische Bildungsarbeit. Köbsell, Swantje, Prof. Dr., ist Professorin für Disability Studies an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen neben den Disability Studies auf intersektionalen Aspekten im Kontext von Behinderung sowie bioethischen Fragestellungen in diesem Zusammenhang. Darüber hinaus ist sie Koordinatorin der AG Disability Studies in Deutschland und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat für den Teilhabebericht der Bundesregierung. Leiprecht, Rudolf, Prof. Dr., Professor für Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt Diversity Education an der Universität Oldenburg; Mitglied im »Center for Migration, Education and Cultural Studies« (CMC). Arbeitsschwerpunkte: Ethnie/Nation/ Kultur und Geschlecht, Männlichkeitskonstruktionen, Diversity Education, Rassismusforschung und -prävention. Publikationen: »Alltagsrassismus. Eine Untersuchung bei Jugendlichen in Deutschland und den Niederlanden« (2001); »Diversitätsbewusste Soziale Arbeit« (2011); »Schule in der Migrationsgesellschaft« (2015, herausgegeben mit A. Steinbach).

350 | Dominanzkultur reloaded

Prasad, Nivedita, Prof. Dr., hat an der FU Berlin Sozialpädagogik studiert und an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg promoviert. Bis 2013 war sie Projektkoordinatorin bei »Ban Ying«, einer NGO gegen Menschenhandel. Seit 2010 leitet sie den Masterstudiengang »Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession«. 2012 wurde ihr der Anne-Klein-Frauenpreis der Heinrich Böll Stiftung für ihr Engagement gegen Menschenrechtsverletzungen an Migrantinnen verliehen. Seit 2013 ist sie Professorin an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Raab, Heike, Dr. phil., Studium von Politik, Soziologie, Geschichte und Pädagogik in Gießen und Frankfurt/Main mit Schwerpunkt Gender Studies; Promotion an der Universität Wien mit Schwerpunkt Queer Studies; Universitätsassistentin an der Universität Innsbruck. Zahlreiche Lehraufträge an verschiedenen Universitäten in der BRD und Österreich zu Disability-, Gender- und Queer Studies. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: (Sozial-)Staat, Cultural Studies und Bildung, Körper, Sichtbarkeitskulturen, Gen-/Reproduktionstechnologien und Neo-Eugenik. Radvan, Heike, Dr., studierte Sozialpädagogik an der Alice Salomon Hochschule Berlin. 2009 promovierte sie an der Freien Universität Berlin zum Thema »Pädagogisches Handeln und Antisemitismus«. Seit 2002 arbeitet sie in der Amadeu Antonio Stiftung und leitet seit 2011 die Fachstelle »Gender und Rechtsextremismus«. Die Autorin ist Lehrbeauftragte an der Freien Universität Berlin im Studiengang European Master in Intercultural Education. Randjelović, Isidora hat Sozialpädagogik / Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin studiert. Sie arbeitet hauptberuflich am Aufbau des feministischen Archivs »RomaniPhen« in Berlin. Nebenher engagiert sie sich in der »IniRromnja«, einem Netzwerk Berliner Sinti- und Romafrauen. 2014 hat sie mit Jane Schuch und in Kooperation mit der Heinrich Böll Stiftung das »Dossier Perspektiven und Analysen von Sinti und Roma in Deutschland« http://heimatkunde.boell.de /dossier-sinti-und-roma herausgegeben. Şahin, Reyhan, Dr. phil., ist Post doc-Stipendiatin an der Universität Hamburg. Ihr aktuelles Forschungsprojekt »Religiöse Selbstdarstellungen junger Muslim_innen in sozialen Netzwerken Deutschlands« wird im Sonderprogramm der GerdaHenkel-Stiftung gefördert. Neben ihrer Forschung ist sie unter dem Pseudonym Lady Bitch Ray als Rapperin, Performance-Künstlerin, Autorin und Schauspielerin tätig. Ihre Dissertation »Die Bedeutung des muslimischen Kopftuchs« wurde mit dem Deutschen Studienpreis ausgezeichnet und erschien 2014 im Lit-Verlag.

Autor_innen | 351

Schäuble, Barbara, Prof. Dr., Professorin für diversitybewusste Ansätze in Theorie und Praxis sozialer Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin, Sozialarbeiterin und Soziologin. Forschungsinteressen: Ungleichheit, Diskriminierung, Gewalt, Theorie und Geschichte sozialer Arbeit, Professionsforschung, Rechtsextremismus, Antisemitismus- und Rassismusforschung, politische Bildung. Shooman, Yasemin, Dr. phil., leitet die Akademieprogramme des Jüdischen Museums Berlin und verantwortet dabei die Programme Migration und Diversität sowie das Jüdisch-Islamische Forum der Akademie. Sie hat am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin promoviert. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Rassismus, Islamfeindlichkeit und Medienanalyse. Aktuelle Buchpublikation: »... weil ihre Kultur so ist.« Narrative des antimuslimischen Rassismus (2014). Staub-Bernasconi, Silvia, Prof. Dr. habil., Studium der Sozialen Arbeit in Zürich und den USA; der Soziologie, Sozialethik, Pädagogik an der Universität Zürich. 1967-1997 Dozentin f. Theorien Sozialer Arbeit und Gemeinwesenarbeit an der HS für Soziale Arbeit Zürich; 1997-2003 Professur am Inst. f. Sozialpädagogik, TU Berlin; 2002-2010 Leiterin des Masters »Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession« in Berlin. Mitgründerin und Lehrende im Internationalen Master »Social Work as a Human Rights Profession«, ASH Berlin; 1995-2010 Vorsitz der »Theorie-Sektion« der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit; Mitglied des Academic Board und Lehrbeauftragte von »INDOSOW – International Doctoral Studies in Social Work«; Trägerin des »Katherine Kendall Award 2010« der IASSW. Thürmer-Rohr, Christina, Prof. (em.) Dr. phil., Diplom-Psychologin, geboren in Arnswalde/Choszczno (Polen); Studium der Philosophie und Psychologie in Freiburg und Heidelberg. Bis 1972 wiss. Assistentin und Ass. Prof. am Psychologischen Institut; seit 1972 Professorin am FB Erziehungswissenschaften der TU Berlin. 1976 Gründung des Studienschwerpunkts »Frauenforschung«, später »Feministische Theorie / Menschenrechte«. Praxis in psychologischer Beratung und Stadtplanung. Mit Laura Gallati Gründung »Forum Akazie 3 e.V.« zum politischen und musikalischen Denken. Yuval-Davis, Nira, Prof. Dr., ist Direktorin des »Research Centre on Migration, Refugees and Belonging« an der Universität von East London. Sie publiziert zu theoretischen und empirischen Aspekten der Intersektionalität von Nationalismen, Rassismen, Multikulturalismen, Fundamentalismen, Staatsbürgerschaft, Identitäten, Zugehörigkeit/en und Geschlechterverhältnissen. Neueste Veröffentlichung: »The Politics of Belonging: Intersectional Contestations« (2011). Aktuelle Forschung zu Borderscapes sowie zu Situated Intersectional Everyday Borderings.

352 | Dominanzkultur reloaded

Zaviršek, Darja, Prof. Dr., Soziologin und Vorsitzende des »Center for Research of Social Justice and Inclusion – Disability Studies, Gender and Ethnicity« an der Universität Ljubljana, Fakultät für Soziale Arbeit. Seit 2008 Präsidentin der Eastern European Sub-Regional Association of the Schools of Social Work bei der IASSW. 2009-2014 Mitbegründerin und Vorsitzende der »INDOSOW – International Doctoral Studies in Social Work«. Forschungsfelder: Gender, Disability, Ethnizität, Geschichte der Sozialen Arbeit. Als Autorin und Herausgeberin Veröffentlichung von 14 Büchern.

Sozialtheorie Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Commons Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat (2. Auflage) 2014, 528 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2835-7

Urs Lindner, Dimitri Mader (Hg.) Critical Realism meets kritische Sozialtheorie Erklärung und Kritik in den Sozialwissenschaften August 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 25,99 €, ISBN 978-3-8376-2725-1

Joachim Renn Performative Kultur und multiple Differenzierung Soziologische Übersetzungen I 2014, 304 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2469-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Sozialtheorie Franka Schäfer, Anna Daniel, Frank Hillebrandt (Hg.) Methoden einer Soziologie der Praxis Juni 2015, 320 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2716-9

Hilmar Schäfer (Hg.) Praxistheorie Ein soziologisches Forschungsprogramm August 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2404-5

Rudolf Stichweh Inklusion und Exklusion Studien zur Gesellschaftstheorie (2., erweiterte Auflage) Oktober 2015, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2294-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de