Disraeli: Eine politische Biographie. Aus dem Englischen von Axel Walter [1 ed.] 9783428531561, 9783428131563

Es war der größte Triumph des Liberalismus im 19. Jahrhundert, dass Benjamin Disraeli auf dem Höhepunkt des britischen E

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Disraeli: Eine politische Biographie. Aus dem Englischen von Axel Walter [1 ed.]
 9783428531561, 9783428131563

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Edgar Feuchtwanger

Disraeli Eine politische Biographie

Duncker & Humblot

EDGAR FEUCHTWANGER

Disraeli. Eine politische Biographie

Disraeli Eine politische Biographie

Von Edgar Feuchtwanger

Aus dem Englischen von Axel Walter

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagbild: Porträt von Benjamin Disraeli, Earl of Beaconsfield, 1881 gemalt von Sir John Everett Millais (getty images) Die englische Ausgabe erschien 2000 im Verlag Arnold, London, unter dem Titel „Disraeli“ © Edgar Feuchtwanger, 2000 Für die deutsche Ausgabe alle Rechte vorbehalten © 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-13156-3 (Print) ISBN 978-3-428-53156-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-83156-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞



Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort zur deutschen Übersetzung Der Aufstieg Disraelis vom Sohn eines jüdischen Literaten zum Staatsmann, der viele Jahre die Geschicke der britischen Weltmacht lenkte und in Europa ein gewichtiges Wort mitzureden hatte, mutet wie ein Märchen an. Seine Biographen aber unterdrückten lange Zeit die ganze Wahrheit über seine skandalöse Jugend, über seine Liebschaften und den Schuldenberg, der ihn so manches Mal beinahe ins Gefängnis gebracht hätte und den er erst spät im Leben loswurde. Die Höhe seiner Verbindlichkeiten und die Gerüchte um sie waren nicht gerade der wünschenswerte Hintergrund für das Amt, das er zum ersten Mal 1852 bekleidete, das des Schatzkanzlers der größten Finanzmacht der Welt. Schon Disraelis Testamentsvollstrecker sonderte viele Dokumente über dessen Leben aus und vernichtete sie im Feuer: Nach den Vorstellungen der damaligen Zeit durfte die Erinnerung an eine der Ikonen der Konservativen und des britischen E ­ mpires, als die Disraeli nun galt, nicht ernstlich getrübt werden. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist eine solche Zurückhaltung nicht mehr nötig und Disraelis schillernde Persönlichkeit liegt in ihrer ganzen Zwiespältigkeit offen zu Tage. Sinn und Zweck des englischen Bandes war es, der interessierten Leserschaft die Möglichkeit zu geben, sich mit den neueren Forschungen über Disraeli und mit der aktuellen Quellenlage bekannt zu machen. Ich freue mich, dass dies nun auch dem deutschen Leser möglich ist. Darüber hinaus bietet das Buch auch eine Einführung in die Politik der viktorianischen Epoche, in der Disraeli über eine ganze Generation hin eine führende Rolle spielte, meistens in der undankbaren Stellung eines Oppositionsführers. Es gab dazumal auch andere Staatsmänner – man denke nur an Melbourne oder P ­ almerston –, die in sexuelle Skandale verwickelt waren und die sich im Wortsinn aus der Affäre zogen, ohne politisch Schaden zu nehmen. Bei ihnen handelte es sich aber um Mitglieder der aristokratischen Führungsschicht, und in diesen Kreisen hat man sich der viktorianischen Respektabilität, wie sie den Zeitgeist in der Mitte des Jahrhunderts zumindesten offiziell beherrschte, nur teilweise verpflichtet gefühlt. Da Disraeli im Unterschied zu vielen anderen politischen Größen dieser Zeit im öffentlichen Bewusstsein fortlebte, musste er möglichst unbefleckt bleiben. Die skurilen, oft antisemitischen Vorurteile und Angriffe, denen er ausgesetzt war, gerieten in Vergessenheit, und übrig blieb ein Monument. Auch in den Debatten der heutigen Zeit taucht sein Name häufiger auf als der seiner politischen Vorgänger oder Zeitgenossen. Disraelis Leben stand gleichsam von der Wiege an unter dem Zeichen der Selbstfindung. Er nutzte jede ihm sich bietende Gelegenheit, um seine Identität neu zu bestimmen und sie den Umständen anzupassen, in denen er sich wiederfand.

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Vorwort zur deutschen Übersetzung

Da wir heute mehr über Disraeli wissen und nichts mehr bemäntelt oder beschönigt werden braucht, tritt uns in den heutigen Darstellungen ein „echterer“ D ­ israeli entgegen als in den frühen. Die letzte bedeutende Disraelibiographie stammt von Robert Blake und ist 1966 veröffentlicht und später ins Deutsche übertragen worden. Seitdem ist viel neues Material, darunter auch wichtige politische Tagebücher, ans Licht gekommen. Ich bin den Verlegern, Professor Dr. h. c. Norbert S ­ imon und Dr. Florian Simon, und dem Übersetzer Axel Walter zu großem Dank verpflichtet dafür, dass sie diesen Band in deutscher Sprache zugänglich m ­ achen. Winchester, September 2011

Edgar Feuchtwanger

Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Genie, Literat. Auf der Suche nach seiner Bestimmung (1804–1837) . . . . . . . . . . . . 12 2. Politik und häusliches Leben (1837–1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3. Jung-England (1841–1845) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 4. An die Spitze (1845–1849) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 5. Auf dem Weg in die Regierung (1849–1852) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 6. Auf Beutezug in kargen Jahren (1853–1859) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 7. Frustration und Triumph (1859–1868) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 8. Die schlüpfrige Karriereleiter hinauf und hinunter (1868–1874) . . . . . . . . . . . . . . . 142 9. Apotheose (1874–1878) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 10. Abstieg (1878–1881) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 11. Nachleben: die Entstehung des Disraeli-Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Bibliographische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Chronologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Personen- und Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

Einführung In den Augen seiner Zeitgenossen war Disraeli gleichermaßen Schriftsteller wie Staatsmann. In seinem Roman Tancred spielt das, was er „das große asiatische Geheimnis“ nannte, eine tragende Rolle, und viele seiner Landsleute sahen in ihm selbst die Verkörperung dieses Geheimnisses. Selbst seinen Freunden gab er nicht selten Rätsel auf, was sie sich mit seiner Angewohnheit erklärten, die Menschen zu verblüffen und über seine Person im Unklaren zu lassen. Disraeli hatte nicht viel gemein mit dem Ethos der Epoche, in der er eine so herausragende Rolle spielte. Häufig ließ er sich über „Musterknaben und Pedanten“ aus, über eine Freimaurerloge von Musterknaben, „die immer zusammenhält“.1 So gab er zu verstehen, dass er sich selbst außerhalb des moralisierenden viktorianischen Charakterkults an­ siedelte. Er war durchaus nicht der einzige Außenseiter im viktorianischen Zeit­ alter, und doch war keiner der bedeutenden Männer seinerzeit in so vielem Außenseiter, wie er es war. Jetzt, da er bereits über 100 Jahre tot ist, verstehen wir besser, was es mit dem Geheimnis, das ihn umgab, auf sich hatte, und warum ihm daran lag, den geheimnisumwitterten Mann zu geben. Ein Außenseiter war Disraeli nicht nur wegen seiner Jüdischkeit, die er – selbst wenn er es versucht hätte – nicht hätte ablegen können. Während die meisten Vertreter der politischen Elite angesehene Schulen und Universitäten besucht hatten, brachte er diesen Hintergrund nicht mit. Er war fest davon überzeugt, ein Genie zu sein, fernab vom üblichen Geschiebe und Gedränge der Menschen, auch wenn er lange nicht wusste, wohin ihn seine Genialität tragen würde. Am ehesten wohl in die Literatur – in diesem Feld würde er seine übermäßigen Ambitionen befriedigen können, würde sein Nonkonformismus kein Hindernis darstellen. Bald jedoch deutete einiges darauf hin, dass die Feder ihm nicht die Erfüllung zu bringen vermochte, und es verlangte ihn danach, sich als ein Mann der Tat zu be­weisen. Als literarisches Genie, das wurde bald offenkundig, konnte er es mit den Großen nicht aufnehmen. Wenn er kein Byron werden konnte, wie konnte er, der Sohn eines recht angesehen Literaten, ein Bloomsbury-Junge der Mittelschicht, dann ein Napoleon im konstitutionellen, parlamentarischen, aristokratischen England werden? Er mag fremdländisch ausgesehen und wie ein Mann von Welt gehandelt haben, doch hinter der glanzvollen Fassade, hinter Venedig, Konstantinopel und Jerusalem, war Holborn, sein bescheidener Herkunftsort, nicht schwer zu entdecken.2 Disraeli setzte sich gegen diese Nachteile zur Wehr, als romantischer Held und Märtyrer im Stile von Goethes Werther: nur an sich interessiert bis hin zur narzisstischen Selbstbesessenheit. Große Teile seines literarischen Schaffens sind Ausdruck seines Ringens um das eigene Selbstverständnis. Anders als die der meisten anderen Menschen war seine Identität nicht von vornherein festgelegt, sondern sie

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konnte entworfen und neu erfunden werden, und ließ sich so den Umständen anpassen, in denen er sich wiederfand. Bei vielen seiner frühen litera­rischen Unternehmungen handelt es sich um autobiographische Versuche der Identititätsfindung, mit denen er sich in einer Umgebung einen Platz verschaffen wollte, in der er, wie er deutlich empfand, nicht vorgesehen war. Durch die Vermittlung Madame de Staëls hatte er sich ein wenig mit der deutschen idealistischen Philosophie vertraut gemacht und die Überzeugung gewonnen, dass Verstand und Wille der Wirklichkeit Form geben. Anders als Werther trieb ihn die Feindseligkeit der Welt nicht in den Selbstmord, sondern sie rief bei ihm bloß eine länger anhaltende Nervenkrise hervor, von der er sich allerdings erst nach zwei Jahren wieder ganz erholte. Danach war sein Wille noch fester, war er noch entschlossener, die Welt mit seiner Genialität bekannt zu machen. Disraeli war ferner so eine Art Renaissance-Mensch, der daran glaubte, dass es am Tüchtigen – am Mann der virtù – selbst liegt, die Ge­ legenheit beim Schopfe zu packen, die fortuna ihm bietet. Kein Wunder, dass eine feindselige Welt in ihm einen Abenteurer und S ­ charlatan sah. Seine große Gelegenheit kam, als er 1837 einen Parlamentssitz errang und vor allem, als die Spaltung der Torys (1846) aus ihm eine bedeutende politische Figur machte und schließlich sogar einen Parteiführer. Fortuna bot ihm eine Chance, und der mit ihr Beglückte ließ sie sich nicht entgehen. Ein Napoleon wurde aus ihm zwar nicht gerade, aber doch ein Führer von nationalem Rang in der mächtigsten parlamentarischen Versammlung der Welt. Er machte das Parlament, die prägende Institution des 19. Jahrhunderts, zum Werkzeug seines Triumphs, und das, obwohl er mit vielen der Werte und Gepflogenheiten seiner Zeit nicht übereinstimmte. Ein Traum ging in Erfüllung; seine Führerschaft erwies sich jedoch gleichsam als Dornenkrone und die wahre Macht blieb ihm lange versagt, fast zu lange, um noch zu reüssieren. Er hatte sich dem vorherrschenden Ethos jetzt notgedrungen äußerlich anzupassen, zumindest musste er den Schein wahren und sich tarnen. Sein Leben nahm einen unverkennbar neuen Kurs, was weit mehr einschloss, als nur den üblichen Verzicht auf den Idealismus und die Unbesonnenheit der Jugend. Als 1853 eine Ausgabe seiner Romane erschien, war darin so manches ausgespart. Durch unbedingten Willen und eiserne Selbstdisziplin gelang es ihm, sich den Anschein der Achtbarkeit zu geben, den er nur bei ganz wenigen Gelegenheiten aufgeben durfte. Er verhielt sich der gravitas des Senats angemessen, und weil er sich meisterlich aufs Reden, auf die Ironie und den bildlichen Ausdruck verstand, hörten ihm die Parlamentarier zu. Statt romantische Fantasiestücke wie ehedem, verfasste er nun staatliche Dokumente und diplomatische Berichte. Seit seinem 21. Lebensjahr war Disraeli so schwer von Schulden geplagt, dass er sich die Gewohnheiten eines noto­rischen Schwindlers angeeignet hatte, um sich die Geldverleiher vom Leib zu halten. Jetzt musste er das Guthaben der weltgrößten Wirtschaft verwalten. Was blieb ihm da anderes, als aus sich ein Geheimnis zu machen; und so blieb er vielen ein Rätsel und eine obendrein eher finstere, unheimliche Gestalt. Selbst als er kurz davor stand, in den Rang nationaler Bedeutung aufzusteigen, und an seiner Romantrilogie Coningsby, Sybil und Tancred schrieb, auf der sein Ansehen als

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Literat in der Hauptsache beruht, sorgte er sich dennoch mehr um seine Identität, als darum, aus sich einen öffentlichkeitstauglichen, genehmen Mann zu machen. Mit seinen merkwürdigen theologischen Ansichten, durch die er sein Judentum einer christlich geprägten Gesellschaft anpasste, machte er sich wenig Freunde. Der Autor Disraeli schrieb als jemand, dem die Nation als einem eigenwilligen und un­berechenbaren Propheten von Fall zu Fall zuhörte, der allerdings kaum erwarten durfte, dass sie ihn zu ihrem Anführer machen würde. Es versteht sich, dass das meiste von dem, was über Disraeli geschrieben worden ist, und auf dem sein Ansehen beruhte und beruht, den viktorianischen Staatsmann in den Mittelpunkt rückte und diesen wiederum nach den Maßstäben beurteilte, die an die Führungsfigur der damaligen Zeit angelegt wurden. Man fragte danach, wie viel Substanz in seinem volksverbundenen Konservativismus steckte, was von seiner Empirepolitik zu halten sei, oder ob er als der Wegbereiter der modernen konservativen Partei anerkannt werden sollte. Monypenny und Buckle, die Verfasser der im frühen 20. Jahrhundert erschienenen monumentalen Bio­graphie, reden Disraelis Leben dadurch schön, dass sie ihm in Hinblick auf seine frühen Jahren selbst dort Ehrbarkeit attestieren, wo das ganz unangebracht ist. Erst in unseren weniger zum Tadeln und Abstrafen neigenden Tagen ist seine Persönlichkeit in all ihren Facetten aufgedeckt und erforscht worden. Zu Lebzeiten hat Disraelis über sein wahres Selbst bisweilen einen Schleier gelegt, er hat jedoch nie etwas zurückgenommen oder wirklich abgestritten. Als 1870 eine Gesamt­ausgabe seiner Romane erschien – zu der Zeit war er bereits einmal Premier­minister gewesen und hatte mit dem zweiten Reformgesetz die politischen Institu­tionen umgestaltet –, schrieb er ein Vorwort, in dem er nachdrücklich betonte, dass er von den Vorstellungen, von denen er sich immer schon hatte leiten lassen, nie abgerückt sei. Wer immer heute über Disraeli schreibt, muss ihm als Mann des Geistes genauso gerecht werden wie seinem Ruf als bedeutender Akteur auf der britischen Politbühne. Als Ideengeber gehörte er zwar ebenso wenig zur ersten Garde der Originellen wie als Schriftsteller, er hatte jedoch die Gabe, die unterschiedlichsten Einflüsse aufzunehmen und sie mit Verve und Stil wiederzugeben. Indem er in seinen Schriften alles von sich preisgab, setzte er sich Gefahren aus, welche die Karriere eines Geringeren womöglich beendet hätten. Disraeli kam seine ausgeprägte Vorstellungskraft zu Hilfe: Er konnte Bilder entwerfen und Formulierungen prägen, die stärker in die Nachwelt hineinwirkten und ihr mehr bedeuteten als die vergänglichen politischen Triumphe. Heutzutage würde man ihn als einen Meister des Slogans, des medial Zitierfähigen bezeichnen, und weil er außerhalb seiner Zeit stand, kommt er einem moderner vor als die meisten seiner Zeitgenossen. Das politische Geschehen der viktorianischen Zeit wurde so gründlich untersucht und ausgeleuchtet wie das jeder anderen Epoche. Mag sein, dass Disraelis Leistungen nun in ihren Grenzen sichtbar werden, seine außerordentlichen Qua­litäten als Person aber, mit denen er die politische Führung bereicherte, machen ihn nach wie vor zu einer faszinierenden Gestalt.

1. Genie, Literat. Auf der Suche nach seiner Bestimmung (1804–1837) Am 27. Februar 1868 gab Disraeli seine ersten förmlichen Handküsse als Premierminister. Am Vortag hatte Königin Viktoria ihrer Tochter, der preußischen Kronprinzessin, geschrieben: „Mr. Disraeli ist Premierminister! Dass ‚ein Mann aus dem Volke‘ das geschafft hat, kann ihn mit Stolz erfüllen.“1 Als Disraeli am 21. Dezember 1804 geboren wurde, deutete nichts auch nur vage darauf hin, dass er auf dem Höhepunkt der Macht Englands britischer Premierminister sein wird. Sein sagenhafter Lebenslauf hat nichts von seiner Faszination eingebüßt. Noch heute beziehen sich Politiker und Kommentatoren auf ihn, weil er dem Publikum nach wie vor etwas sagt. Es erschließt sich nicht ohne weiteres, weshalb Disraelis Aufstieg auf die Menschen geradezu märchenhaft wirkte. Königin Viktoria ist nicht ganz zuzustimmen, denn Disraeli kam nicht gerade aus ärmlichen Verhältnissen. Richtig ist, dass er nicht zum erlauchten Kreis gehörte, aus dem sich das Gros der politischen Elite in Westminster bis weit ins 19. Jahrhundert hinein rekrutierte. Als es das erste Mal so aussah, als ob er Minister werden könnte, wir schreiben das Jahr 1851, billigten die Queen und Prinz Albert seine Wahl nicht. Lord Derby, der Parteiführer, dessen Stellvertreter Disraeli war, sagte der Queen, so hat es Disraeli selbst später niedergeschrieben: „Madam, Mr. D ­ israeli musste sich seine Position selbst erarbeiten, und Männer, die sich ihre Position selbst erarbeiten, sagen und tun Dinge, die nicht unbedingt von denen gesagt oder getan werden sollten, für die die Positionen da sind“.2 Disraelis Herkunft war zwar keine, die ihm Amt und Würden garantiert hätte, allerdings stammte er auch nicht aus dem Volk. Sein Großvater, Benjamin der Ältere, hatte es bereits zu Wohlstand gebracht, als er 1748 aus dem Kirchenstaat, genauer aus Cento bei Ferrara nach England kam. Sein Sohn Isaac, der für eine Geschäftskarriere vorgesehen war, rebellierte gegen diesen Plan, so dass ihm schließlich gestattet wurde, seinen literarischen Neigungen nachzugehen. Den Großteil seines Lebens verbrachte er in seiner Bibliothek und im Lesesaal des Britischen Museums; so wurde aus ihm ein Homme de lettres, der zwar durchaus angesehen war, dessen Talent sich jedoch in engen Grenzen hielt. Benjamin der Jüngere gehörte also der dritten Generation derer an, die in der ersten zu Reichtum gekommen waren und die Voraussetzungen für den gesellschaftlichen Aufstieg geschaffen hatten; die zweite Generation wandte sich von kaufmännischer Tätigkeit ab und ihnen angenehmeren Beschäftigungen zu. Und zwar mit solchem Nachdruck, dass der dritten Generation nun alle Wege offen stehen und ihr alles möglich ist, Zerstreuung und Verschwendung nicht ausgenommen.

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Das Außergewöhnliche und Unberechenbare bei Disraeli war seine jüdische Herkunft. Sein Vater Isaac ist ein Beispiel (wenn auch kein Paradebeispiel) für jene ungewöhnlich radikale Assimilierung der Juden im England des 18. Jahrhunderts. Die meisten Mitglieder der jüdischen Gemeinde waren sephardische Juden. Manche waren ihrer Herkunft nach Marranen oder Kryptojuden – seinerzeit in Spanien zwangsbekehrt –, die dem Judentum gegenüber eine ambivalente Haltung an den Tag legten. Die Wohlhabenderen unter ihnen taten es häufig ihren nichtjüdischen Handelspartnern gleich, er­warben Grund und Boden und wurden Landbesitzer. Ihre Bande mit dem Judentum und der jüdischen Gemeinde verkümmerten zusehends, und die Mischehen taten ein Übriges und führten zum vollständigen Absterben aller Verbindungen. Der ältere Benjamin gehörte nicht zu den ranghöchsten Figuren der sephardischen Gemeinde, wo sich solche Entwicklungen am häufigsten vollzogen. Immer weniger englische sephardische Juden übten die jüdischen Praktiken und Bräuche noch aus, die mithin allmählich verblassten, auch in der Familie D’Israeli. Benjamin der Ältere trug das Seine dazu bei, und seine Frau Sarah war in diesem Punkt noch rigoroser. Ihr Enkelsohn sagte, „dass sie ihre gesellschaftliche Stellung als eine solche Kränkung empfand und so verbitterte, dass sie nie ein liebes Wort fand, bis ins hohe Alter nicht. Und für ihr Kind erwartete sie keine Besserung, im Gegenteil“.3 Offensichtlich sah sie in ihrem Jüdischsein ein Unglück; ihrem Enkel zufolge starb sie als eine „inoffizielle Protestantin“, die Beisetzung fand in der Kirche von Willesden statt. Ihr Ehemann aber hielt alle Verbindungen aufrecht, die sie zur jüdischen Gemeinde hatten. Isaac, ihr Sohn, war ein Mann der Aufklärung, ein Anhänger Voltaires. Seine Weltanschauung vergrößerte die Distanz zum Judentum noch und brachte ihn in die Nähe eines Theismus, der allen Offenbarungsreligionen skeptisch gegenüberstand. Das ganze Drum und Dran des rabbinischen Judaismus wies er als Plunder von Obskurantisten zurück. Das wird Disraeli wohl gemeint haben, als er viel später festhielt, dass „ich […] nicht im Geiste meiner Rasse, sondern sogar mit einem großen Vorbehalt gegen sie erzogen [wurde]“4, möglicherweise hat er dabei aber auch an die Haltung seiner Großmutter gedacht. Isaac entrichtete den jährlichen Beitrag an die Bevis-MarksGemeinde, brachte den Autoritäten der Synagoge gegenüber aber vor, dass der große Mitgliederverlust ihren starren Ri­tualen geschuldet sei und dass „ein großer Teil unserer Gemeinschaft zu Juden-Heiden, halb so, halb so“5 geworden war. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Isaac sich durch den Tod seines Vaters, der im November 1816 starb und ihm ein Erbe von 35.000 Pfund hinterließ, von allen Verpflichtungen befreit fühlte, die formellen Verbindungen zur jüdischen Gemeinde aufrechtzuerhalten. Im Juli des kommenden Jahres ließ er seine vier ihm verbliebenen Kinder taufen. Wie sich herausstellen sollte, wird dieser Schritt ­Benjamin dem Jüngeren die politische Karriere ermöglichen. Isaac D’Israelis Entschluss war keine große Geste, die den Abfall von einem Glauben signalisieren sollte. Große Gesten waren ohnehin nicht seine Sache. Vermutlich wollte er seine Kinder bloß von einer aus seiner Sicht unnützen Bürde befreien, er selbst aber ließ sich nicht taufen. Er blieb Jude und maß seinem jüdischen Erbteil weiterhin Wich-

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tigkeit bei. Die Namen wurden beibehalten, nur der jüngere Benjamin verzichtete später auf das Apostroph im Familiennamen, und sein Bruder und seine Schwester taten es ihm gleich. Benjamin hätte seine Herkunft unmöglich tarnen können, beim besten Willen nicht, denn er sah jüdisch aus, südländisch, exotisch. Als er so berühmt war, dass er ein veritables Ziel für Anfeindungen abgab, waren die gehässigen Angriffe auf ihn sehr oft antisemitisch eingefärbt, denn das öffentliche Bekunden antisemitischer Vorurteile war mit keinem Tabu belegt. Für D ­ israeli war Angriff die beste Verteidigung. Selbsthass, für viele der Preis der Assimilation, war in seinem Wesen nicht angelegt, und im Fortgang seiner Karriere erfand er sein Judentum neu, um es mit seinen persönlichen Bedürfnissen in Übereinstimmung zu bringen. Das Jüdischsein war es nicht allein, das Disraelis Aufstieg so unwahrscheinlich machte und einen märchenhaften Anstrich verlieh. Er trat der schmalen, überwiegend von Aristokraten gebildeten politischen Herrscherschicht des viktorianischen England auf keinem der üblichen Wege bei, die in der relativ offenen britischen Gesellschaft gangbar waren. Einer von diesen führte über die Ausbildung an den Eliteschulen und den beiden älteren Universitäten, ein anderer über die ange­ sehenen Dienstleistungsberufe, etwa im Rechtswesen. Disraeli verschaffte sich anders Zugang. Es gibt keine schlüssige Erklärung dafür, wieso er, derart klug und begabt, nicht auf eine Eliteschule geschickt wurde, wohingegen seine beiden jüngeren Brüder, zwei keineswegs bemerkenswerte Jungen, später auf elterliches Geheiß nach Winchester gingen. Disraelis eigener Darstellung zufolge hatte sein Vater die Absicht, ihn dorthin zu geben, seine Mutter aber wollte das nicht. Vielleicht zeigte er bereits erste Anzeichen der emotionalen Labilität und schlechten Gesundheit, die bei ihm in seinen 20er Jahren einen Zusammenbruch bewirkten. Dies hat es womöglich nicht ratsam erscheinen lassen, ihn den Wirren einer Internatsschule auszusetzen, zu einer Zeit, als von Dr. Arnolds Reformen noch keine Rede war. Disraeli fand sich mit dieser Entscheidung auch später nicht ab, und daher rührte wohl zu einem Teil der Groll, den er seiner Mutter gegenüber hegte. So produktiv er mit der Feder auch ist, sie erwähnt er kaum einmal. Ego und Durchsetzungsvermögen wurden bei ihm vermutlich auch deshalb über die Maßen groß, weil er sich von seiner Mutter nicht genug beachtet und geliebt fühlte. Seine in Coningsby enthaltene Darstellung des Lebens in Eton ist von einer sentimentalen Glut, dass man den Eindruck bekommt, ihr Autor fühlte sich um eine Verheißung betrogen. Dass die emotionalen Freundschaften zwischen Jungen – die seinerzeit nicht so beargwöhnt wurden, wie sie es heute würden – mit so viel Liebe beschrieben sind, hat seinen Grund vielleicht darin, dass er auch diese Erfahrung verpasst zu haben glaubte. In den Männerbünden des englischen Lebens fühlte er sich nie wirklich wohl, was mit daran lag, dass er an den Internatsschulen- und Universitätserfahrungen seiner Zeitgenossen nicht teil hatte. Als Disraeli mit elf Jahren getauft wurde, wechselte er von einer kleinen Internatsschule in Blackheath nach Higham Hall, einer anderen Internatseinrichtung mit 50 bis 60 Schülern in Epping Forest, die von einem unitarischen Geistlichen

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geleitet wurde. Diverse Passagen seines Romans deuten darauf hin, dass er schikaniert wurde, wahrscheinlich wegen seines fremdländischen, jüdischen Aussehens. Er nahm Boxunterricht, so dass er sich seiner Haut erwehren und zurückschlagen konnte. Nach zwei oder drei Jahren, da war er etwa 15, ging seine Schulausbildung zu Ende und er verbrachte die nächste Zeit (ein oder zwei Jahre) damit, sich in der väterlichen Bibliothek weiterzubilden. Im Studium bzw. der Wahrheitssuche sah Disraeli durchaus keinen Selbstzweck. Er bildete sich, um mit seiner Selbstverwirklichung voranzukommen. Sein Genie sollte sich in seiner ganzen Pracht entfalten dürfen. Disraeli war ein Vielleser, der alles begierig verschlang. „Ich war immer schlecht im Lernen, und auch wenn ich das Wissen von klein auf liebte, habe ich es mir gern auf meine eigene Art angeeignet. Meiner Meinung nach wurde ich mit einer Abscheu vor Grammatiken geboren.“6 Seine Intelligenz und Sensibilität ermöglichten ihm, große Mengen an Stoff aufzunehmen, und das geradezu unterbewusst. Seine Kenntnisse der klassischen alten Sprachen waren gerade gut genug, um damit vor Mitstreitern und Widersachern bestehen zu können, vor Derby und Gladstone beispielweise, mit denen er sich als Gelehrte der klassischen Sprachen jedoch nicht messen konnte. Isaac D’Israelis geistige literarische Heimat war das augusteische Zeitalter, Pope sein Lieblingspoet, die Romantik aber ging auch nicht spurlos an ihm vorbei. Mit Autoren wie Southey und Tom Moore war er befreundet, Byron verehrte er als Held. All das färbte auf Benjamin ab. Southeys romantischer Konservativismus und seine Abwendung von der Industriegesellschaft beeinflussten ihn ganz ohne Frage.7 Goethes Werther, das Urbild des tragischen Helden des romantischen Zeitalters, hinterließ bei ihm tiefe Spuren. Wahrscheinlich ist, dass er parallel zur Abfassung von Vivian Grey, dem ersten seiner halb autobiographischen Romane, den Wilhelm Meister las, der als Beschreibung der schrittweisen Selbstverwirklichung eines Menschen, den Prototyp des Bildungsromans darstellt. Von Byron aber ging eine noch größere Wirkung auf Disraeli aus, und damit ging es ihm nicht anders als vielen anderen. Byrons Thea­ tralität, sein Heroismus und sein Sarkasmus (wie etwa in Childe Harold oder im Don Juan) wurden vom jungen Benjamin aufgesogen. Die intensive Beschäftigung mit sich selbst, mit den eigenen Emotionen, Wahrnehmungen, Ambitionen – diese Erkennungsmerkmale der Romantik wurden ihm zur zweiten Natur. Im Gegensatz zu Byron war Disraeli nicht „verrückt, böse“ und keine „gefähr­liche Bekanntschaft“, und anders als Goethes Faust war er auch keinen Pakt mit dem Teufel eingegangen, dennoch aber gehörten die Selbstdarstellung à la Byron und die Faust’sche Herausforderungshaltung zu seinem Repertoire. Kurz vor seinem 17. Geburtstag wurde Disraeli bei einem führenden Unter­ nehmen Londoner Rechtsanwälte in die Lehre gegeben. Von hier aus haben viele konventionelle Aufstiege in die hohe Politik ihren Ausgang genommen, zu Dis­ raelis Persönlichkeit aber passte ein solches Szenario offenkundig nicht. Denn dieser war von klein auf viel zu sehr von seiner Genialität eingenommen, viel zu ungeduldig, um ihre allgemeine Anerkennung abzuwarten, um sich auf ausgetrete­ nen Pfaden dahinzuschleppen. Lange Zeit muss ihm der literarische Ruhm als die

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nächstliegende Möglichkeit vorgeschwebt haben, sich den Beifall zu verschaffen, nach dem ihn so sehr verlangte. Auch wenn sie den höchsten Ansprüchen an wahre Genialität nicht genügten, waren Disraelis frühe literarisch-journalistische Arbeiten bemerkenswert erfolgreich, er brauchte jedoch lange, um einzusehen, dass er kein Dichtergenie ersten Ranges war. Gewisse Passagen in seinen frühen Romanen und diverse Einträge im „Mutilated Diary“, seinem Tagebuchfragment, das er in den 1830er Jahren führte, belegen, dass er bisweilen das Gefühl hatte, er würde in den Zenit aufsteigen, und zwar nicht durch literarische Leistung, sondern durch Ausübung von Macht, dass er „wahre Größe“ nur als Mann der Tat erlangen könnte.8 Umso verwunderlicher ist, dass es ihm gelang, die zweieinhalb Jahre bei Messrs Swain, Stevens, Maples, Pearce & Hunt durchzustehen. Während dieser Zeit, wurde eine Heirat mit der Tochter einer der Partner, Maples, von den beiden Familien in Erwägung gezogen. Ein weiterer und verlockenderer Horizont eröffnete sich ihm, als er an den berühmten literarischen Abendessen des Herausgebers John Murray, den Zweiten dieser bekannten Familie und ein Freund seines Vaters, teilnehmen durfte. Murray brachte Byron und viele andere Berühmtheiten heraus. Es ist ganz erstaunlich, welches Vertrauen ein solch distinguierter Mann wie Murray in Disraeli setzte, der doch beinahe noch ein Junge war. Murray erlitt große öffentliche und finanzielle Katastrophen, nicht zuletzt deshalb, weil er sich vom jungen Benjamin zu diversen Unternehmungen breitschlagen ließ. Über dem jungen Disraeli schwebte eine manische Depression, er unterlag heftigen Stimmungsschwankungen: unbeschwertem Optimismus folgten depressive Phasen, in denen er einem Zusammenbruch bedrohlich nahe kam. Die Börse mit ihren fiebrigen Spekulationen zog ihn un­ widerstehlich an, bot sie doch die Chance, das Glück zu zwingen und die höchste Sprosse der Ruhmesleiter mit einem mächtigen Satz zu erklimmen. Die Aktien der südamerikanischen Bergwerke erlebten im Zuge der An­ erkennung der neuen Republiken durch die Regierung Cannings einen kurzzeitigen und trügerischen Boom. Disraeli verfasste für Murray Flugschriften, in denen er die südamerikanischen Minen als aussichtsreiche Anlagemöglichkeit lobte. Als der Crash kam, erlitt Murray Verluste, für seinen Protegé aber waren die Folgen verheerend. Disraeli halste sich Schulden auf, die ihn in ganz jungen Jahren zu ruinieren drohten und die ihm auch nach der Hochzeit mit der wohlhabenden Mrs. Wyndham Lewis, die 1839 stattfand, noch zusetzten. Er versuchte das Beste aus der Situation zu machen und ließ sich von den Verbindlichkeiten zum Handeln anspornen. In Tancred legte er einer seiner Figuren die Worte in den Mund: „Die beiden größten Anreize in der Welt, Jugend und Schulden! Was wäre ich ohne meine Schulden? Diese teuren Gefährten, die mich nie im Stich lassen!“9 Er wird zeitlebens nicht mit Geld umgehen können und eine verächtliche Haltung ihm gegenüber an den Tag legen. Noch erstaunlicher war, dass der knapp 20 Jahre alte Disraeli als Murrays Mittelsmann wirkte, als dieser versuchte, eine Zeitung auf den Markt zu bringen, die mit der Times konkurrieren und The Representative heißen sollte. Disraeli reiste in den Norden, um J. G. Lockhart, den Schwiegersohn von Sir Walter Scott, als Ge-

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schäftsführer für die Zeitung zu gewinnen. In dem, was von dieser Angelegen­ heit überliefert ist, treffen wir auf einen Disraeli, der bereits über die Eigenschaften verfügt, an denen man ihn später leicht erkennen wird: die Neigung zur Intrige, zur Täuschung und zum Rätselaufgeben und die optimistischen Prognosen, die den glaubwürdigsten und geschicktesten Hochstaplern alle Ehre machen würden. The Representative scheiterte schnell und gründlich. Disraeli war hoch geflogen und stürzte böse ab. Schon bald hob aufs Neue eine rauschhafte Zeit an, gefolgt von Verzweiflung. Im Jahre 1826 trat er mit seiner ersten großen literarischen Unternehmung hervor, dem Roman Vivian Grey. Dessen Entstehungsgeschichte lässt zahlreiche der für Disraeli typischen Züge zu erkennen. Da ist das Verlangen nach schnellem Erfolg, ausgelöst und angetrieben von der Notwendigkeit, Geld zu verdienen. Ferner gehört dazu das hohe Tempo, das er beim Schreiben anschlug. „Mit meinen Gedanken, meiner Leidenschaft und dem Ansturm meiner Erfindungen hielt meine Feder nicht Schritt.“10 Eine Kreativität, die von solchen Motiven herrührt und auf diese Weise entfaltet wird, kann fraglos jeden nachhaltigen künstlerischen Wert ermangeln, muss aber nicht. Disraeli verfügte nicht über die alles andere in den Schatten stellende Genialität, die solche nüchternen Erwägungen unnötig gemacht hätte. Dennoch kommt man nicht umhin, die pure Ausdruckskraft und Kühnheit und die überbordende Fantasie zu bewundern, die in V ­ ivian Grey zum Tragen gekommen sind. ‚Silber-Gabel‘-Romane, die die arrogante und dekadente High S ­ ociety schilderten, waren mit einem Mal in Mode, und Disraelis Versuch, auf dieser Welle mitzuschwimmen und Kasse zu machen, stellt eine ansehnliche Leistung dar. Er entfaltete einen beachtlichen Realismus darin, eine Gesellschaft zu beschreiben, von der er nichts aus erster Hand wusste, obgleich er solche Kenntnisse später erwerben wird. Der Roman enthält anschauliche Passagen, jedoch auch dürftige Schilderungen und eine Menge Unausgegorenes, das sich im Ungefähren verliert. Anfangs war Vivian Grey ein umwerfender Erfolg, der sich jedoch bald schon in einen demütigenden Fehlschlag verwandelte. Anonym veröffentlicht und von seinem Verleger Henry Colburn marktschreierisch beworben, verdankte sich der Erfolg des Buches zu großen Teilen der Spekulation darüber, um wen es sich bei seinen Figuren handelt. Die faszinierte Hautevolee trieb die Frage um, wer es geschrieben haben könnte und wen es portraitierte. Als sich herausstellte, dass der Autor ein ‚anmaßender Judenbengel‘ war, der die High Society nicht aus der Nähe kannte, attackierten ihn die Düpierten, darunter die Kritiker, mit Gehässigkeiten. John Murray, der sich in der Darstellung des immer nach der Flasche greifenden Marquess von C ­ arabas wiedererkannte, wurde noch verbitterter. In Contarini Fleming erlebt der Held einen ebensolchen Skandalerfolg mit einem anonym veröffentlichten Roman wie ­Disraeli und wird genau wie dieser mit Schmähungen überzogen, als man ihn in seiner Deckung aufspürt: Mit welchem Entsetzen, mit welcher Verzweiflung, mit welch schreckenerregendem Erstaunen musste ich feststellen, dass ich das erste Mal in meinem Leben aufs Rücksichtsloseste, Böswilligste und auf die kunstfertigste Art und Weise lächerlich gemacht wurde. Man meuchelte mich, zog mir den Skalp ab. […] Die Kritik überwältigte mich. Ein Schleier legte sich auf meine Augen, meine Knie zitterten. Es war ein Stich ins Herz, wie man ihn empfindet,

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1. Genie, Literat. Auf der Suche nach seiner Bestimmung (1804–1837) wenn man das erste Mal eine Niederlage erleidet und eine Schramme davonträgt. Ich war lächerlich. Es war an der Zeit zu sterben.11

Disraeli fühlte sich vernichtet, was er als eine Art Tod erlebte. Er begab sich auf eine Kontinentalreise zusammen mit den Austens, einem Londoner Rechts­ anwalt und seiner Frau, die mit der Familie befreundet waren. Benjamin Austen lieh D ­ israeli Geld; Sarah, seine Frau, hatte sich auf eine emotionale Beziehung mit ihm eingelassen und ihn beim Schreiben unterstützt. Durch sie hatte er Vivian Grey veröffentlichen und seine Anonymität wahren können. Sie war eine von vielen älteren Frauen, mit denen Disraeli romantische Beziehungen unterhielt, mal körper­ liche, mal platonische. Die Austens nützten Disraeli viele Jahre lang in finanzieller und emotionaler Hinsicht sehr, doch als ihm 1830 anderes wichtiger erschien, entledigte er sich ihrer wie einer ausgepressten Orange. Sie erinnerten ihn viel zu sehr an seine Lotterjahre. Sarah war die Tante von Henry Layard, der Ninive ausgrub und Disraeli später als Botschafter in Konstantinopel diente, als die Balkankrise in den 1870er Jahren ihren Höhepunkt erreicht hatte. 1826, Disraeli befand sich mit den Austens auf Reisen, wurde er von Maurice, Byrons berühmtem Bootsführer, nächtens über den Genfer See gerudert. In einer Nacht, als sie ‚draußen‘ waren, peitschte ein Sturm den See, wie in Childe Harold. Auf weiteren Reisen durch Norditalien kam Disraeli am Herkunftsort seiner Familie, Cento, vorbei und blieb in Venedig. Es scheint, als habe er sich nicht dafür interessiert, was seine Familie mit diesen Orten verband. Von seiner Abstammung war er offensichtlich noch nicht besessen. Bei seiner Rückkehr war Benjamin zwar noch in der Lage, den zweiten, viel schlechteren Teil von Vivian Grey zu schreiben, dann aber brach er zusammen. Mit der Folge, dass in seinem Leben eine Lücke klafft: Von 1827 bis 1830 tat er kaum etwas und litt unter den Folgen eines Nervenzusammenbruchs, wie man ein solches Leiden später nennen wird.12 Die Familie Disraeli begab sich auf die Suche nach Heilung, reiste hierhin, reiste dorthin, und ließ sich endlich in Bradenham in der Grafschaft Buckinghamshire nieder, wo sie ein schönes Gutshaus ausfindig machte. Isaac wurde Gutsherr, soweit das einem in die Jahre gekommenen Londoner Literaten, der weder zur Jagd ging noch dem Schießen frönte und sein Haus nur zur Miete bewohnte, möglich war. Disraeli war stolz auf seine immerwährende Verbindung mit der Grafschaft, darauf, dass er Friedensrichter war und schließlich für die Grafschaft ins Parlament gewählt wurde und einen Landsitz in Buckinghamshire hatte. Als er dreißig Jahre später von einer Familie aus der Grafschaft, die von den Disraelis immer Abstand gehalten hatte, um einen Gefallen gebeten wurde, empfand er das als große Genugtuung. Während der Zeit seiner Erkrankung brachte Disraeli einen kleinen Roman zustande: The Voyage of Captain P ­ opanilla, eine Satire im Stile von Swift und Voltaire, die auf den seiner Fantasie entsprungenen Pazifikinseln Fantaisie und ­Vraibleusia spielt. Wir bekommen einen Einblick darein, welche politischen Ansichten der Autor vertritt; Ansichten, die sich in ihren Umrissen nicht mehr groß verändern sollten. Disraelis Konservativismus tritt am deutlichsten in seiner Geringschätzung der ‚philosophischen‘ Politik zutage, in der Verachtung, die er für

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die Ideologie, das Dogma und den Entwurf oder Plan empfand. In ­Popanilla gilt sein Spott in erster Linie den Utilitaristen. Er hält sich jedoch auch auf Kosten der etablierten Ordnung schadlos, bespöttelt darüber hinaus die Getreidezollgesetze, das Kolonialsystem, die Landwirtschaft mit ihren Problemen und Anliegen, verhöhnt den Duke of Wellington und auch die Aristokratie bekommt ihr Fett weg – so manches davon wird er jedoch später verteidigen. Der Romantiker Disraeli hatte eine angeborene Abneigung gegen die Schichten, „die nach Kontor rochen“ (das sagte man später von Peel). Dagegen lag ihm das Schicksal „der einfachen Leute“ instinktiv am Herzen; sein Wohlwollen galt ihnen, ganz gleich, wer sie waren und wie wenig er von ihnen wusste. Wie die meisten Romantiker war auch er ein Rebell gegen die gesellschaftlich Etablierten. Doch nichts zog ihn mehr an als Glanz und Gloria der High Society. Er vereinte Elemente, die für einen nicht so fantasiebegabten Geist unvereinbar gewesen wären, zu einer Haltung, die er sein Leben lang beibehielt. Disraeli schrieb Popanilla zu Beginn des Jahres 1828, als sich sein Gesundheitszustand vorübergehend besserte. In einem Brief an den Historiker Sharon Turner teilte er mit, er erhole sich „langsam von einer jener fürchterlichen Zerrüttungen, die alle Menschen irgendwann einmal in ihrem Leben ereilten. […] Ob ich jemals wieder etwas zustande bringen werde, das mich aus der Masse herauszuheben vermag, weiß ich nicht. Ich gehöre zu den Menschen, für die ein bescheidenes Ansehen kein Grund zur Freude ist und die sehr wahrscheinlich nicht in der Lage sind, sich ein großes zu verschaffen.“13 Gut möglich, dass Disraeli von der Zerrüttung in gewisser Weise auch angezogen wurde; sie faszinierte ihn, und jeder roman­tische Held, der etwas taugt, müsse sie durchmachen. Bis 1829 war er soweit genesen, dass er darüber nachdachte, dem elterlichen Dach, England und seinen Gläubigern durch ausgedehnte Reisen zu entfliehen. Isaac würde eine große Reise durch den Mittelmeerraum und den vorderen Orient nicht finanzieren, weil er nach wie vor um die Gesundheit seines Sohnes fürchtete. Wie hoch dessen Schulden waren, erfuhr er nie. Um seinem Geld­mangel abzuhelfen, musste Benjamin also abermals einen Beutezug in die Literatur unternehmen, und das schnell: The Young Duke entstand, mit dem aus Byrons Don Juan entlehnten Untertitel ‚Eine moralische, gleichwohl vergnügliche Geschichte‘. Disraeli schrieb, um Geld zu machen, aber trotzdem wieder schwungvoll, witzig, sarkastisch, bisweilen quälend verschnörkelt. Edward Lytton Bulwer, der sich in diesen Tagen mit Disraeli anfreundete, war der Meinung, dass sie zu viel Frivolitäten enthalte. Bulwer war Disraeli sehr ähnlich, eine ebenso geckenhafte und affektierte Person, die sich mit der (von Vivian Grey beeinflussten) Novelle Pelham, einen Namen gemacht hatte. Die Geschichte von The Young Duke – ein junger Mann befindet sich mit einer verdorbenen Gesellschaft im Krieg – ist autobiographisch eingefärbt: „Wo sind sie nun, meine Taten und Ansprüche, wo ist der Ruhm, von dem ich als Junge träumte? Die Welt gleitet mir durch die Finger. […] Mein Leben war bislang ein Fehlgriff, ein Nichts, und alles endet damit, dass ich die Schattenwelt der verhängnisvollen Frühreife mit einem weiteren unbedeutenden Gespenst bevölkere.“14

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Disraelis Reise in den Nahen Osten, die er im Mai 1830 antrat und die bis in den Oktober 1831 dauerte, fand folglich in einem wichtigen Abschnitt seiner Entwicklung statt, in dem er von schweren Zweifeln hinsichtlich seiner Zukunft, seiner Gesundheit und seiner Karriere geplagt wurde. Seine Briefe nach Hause, insbesondere die an seine Schwester, enthalten anschauliche, wenn auch egozentrische Schilderungen der Reise. Sarah war seine Vertraute und nahm die Stelle in seinem Leben ein, die seine Mutter nicht auszufüllen vermochte. Er wollte seine Briefe aufbewahrt wissen und verwendete Passagen daraus in seinen Romanen. Sarahs Verlobter, William Meredith, begleitete Benjamin, bis er im Juli 1831 den Pocken erlag, während die Reisenden in Kairo Station machten. Es zerriss Benjamin förmlich das Herz, als er seiner Schwester, die für den Rest ihres Lebens Junggesellin blieb, die Nachricht vom Tod ihres Verlobten überbringen musste. Eine Heirat kam für sie nicht mehr infrage, und so konzentrierte sie ihre emotionalen Energien fortan voll und ganz auf ihren Bruder. In Malta schloss sich James Clay den Reisenden an. Clay, der mit Disraelis Bruder die Schule in Winchester besucht hatte, war ein vermögender und zu Ausschweifungen neigender junger Mann, von dem die Familie Disraeli nicht viel hielt. Er mietete eine Jacht, mit der sie ab September 1830 unterwegs waren. Clay zog später für die Radikalen ins Parlament, und eine Generation später wird er Disraeli bei der Verabschiedung des zweiten Reformgesetzes sogar wertvolle Unterstützung gewähren. Disraelis ausgefallener Kleidungsstil und sein sonderbares Verhalten riefen bei den britischen Bewohnern von Gibraltar und Malta Belustigung hervor, machten ihn jedoch auch zum Ziel von Anfeindungen. Die Offiziere in der Garnisonsmesse hielten ihn ohne Frage für einen unerträglichen Laffen. In Albanien und anderswo im Osmanischen Reich entdeckte Disraeli eine Lebensart, die ganz nach seinem Geschmack war. Als sie Janina in Albanien erreichten und er vom türkischen Großwesir empfangen wurde, schrieb er nach Hause wie „entzückt“ er darüber sei, „von einem Mann gewürdigt zu werden, der tagtäglich die halbe Provinz einen Kopf kürzer machen ließ.“ Selbst als junger Mann war Disraeli immun gegen den Abscheu, den die britischen Nonkonformisten, Evangelikalen und Liberalen vor den türkischen Gräueltaten auf dem Balkan empfanden. Seine Bewunderung galt der Macht und der Realpolitik. Einen Höhepunkt der Reise stellte der Aufenthalt in Jerusalem dar, der Wiege seiner Rasse; auf diese Erfahrung kam er in seinen Schriften häufig zurück. „Athen ausgenommen, sah ich nie etwas so wahrhaft Beeindruckendes; keine Stadt mit einer so außerordentlich schönen Lage.“15 Jerusalem war zu dieser Zeit ein heruntergekommener Flecken unter türkischer Verwaltung. Im Verlauf dieser Reise kam es auch zu zahlreichen Ausschweifungen. In einem Brief Clays an Disraeli ist die Rede von „all den Dornen, mit denen (wie Mr. Dickens, der Pförtner von Winchester, zu sagen pflegte) Venus ihre Rosen schützt“ und von Merkur, der Venus begleitet. Wenn Disraelis Nachlassverwalter und Testamentsvollstrecker, Sir Philip Rose, dessen Dokumente nicht aussortiert hätte, als Disraeli gestorben war und die viktorianische Rechtschaffenheit ihren Höhepunkt erreicht hatte, wüssten wir von diesen Dingen

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vermutlich mehr. Zurück in England musste sich Disraeli jedenfalls einer Quecksilber-Behandlung unterziehen. Disraeli kehrte von dem großen Abenteuer gereift zurück; er hatte mehr von sich erfahren, doch was die Zukunft bringen würde, war ungewiss wie je. Nach wie vor wollte er aus sich einen Löwen der Literatur machen, wie Byron einer war, und er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass ihm das gelingen würde. Vermutlich wäre er lieber Napoleon gewesen, es brauchte allerdings eine Revolution, damit der Weg für den Korsen frei war. Genialität ist oft gepaart mit Egozentrik, mit Narzissmus sogar, Disraeli aber muss sich unsicher gewesen sein, ob er ein Genie ist oder bloß ein mittelmäßiges Talent, das er um keinen Preis sein wollte. Das autobiographische Schreiben, wie er es in fast allen Schriften bis dato praktiziert hatte, stellte eine Form der Selbstentwicklung dar. So konnte er das Potenzial seiner Persönlichkeit zur Entfaltung bringen, ohne dass das ihm das allzu viel Einsatz abverlangt hätte. Ironie war bei Disraeli stilprägend und erlaubte ihm, zu all dem, was er über sich selbst geschrieben hatte, Abstand zu halten. Er beobachtete sich häufig selbst, vermochte allerdings nicht wirklich zu beurteilen, wie sein Bedürfnis nach Beachtung, seine Persönlichkeit und seine Art, sich selbst zu preisen, bei anderen ankam. Etwas Modernes oder gar Postmodernes haftete seiner Sorge ums Image an, seinem Glauben, dass Rhetorik und Worte Wirklichkeit schaffen und verändern können, seiner Huldigung der öffentlichen Meinung und der Berühmtheit, koste es, was es wolle. Das Leben war ein Spiel für ihn, und das wollte er unbedingt spielen und auskosten. Diese Eigenschaften werden ihn zu einer Art Anachronismus machen in einer Zeit, in der man so viel Energie darauf verwendete, das Gute vom Bösen zu unterscheiden, und in der alle Bemühungen auf das Seelenheil gerichtet waren. Zu Disraelis Glück war das Zeitalter der viktorianischen Wohlanständigkeit und Solidität erst im Entstehen begriffen, das freilich, wie jede andere Epoche auch, Menschen kannte, die vom Zeitgeist abwichen. Diese Jahre des Sich-treiben-Lassens und der Tändelei stellten jedoch für jene ein Problem dar, die ihn ein halbes Jahrhundert später in den Rang einer Ikone erhoben. Noch schwerer fiel es ihnen, mit der unmöglich abzustreitenden Tatsache zurechtzukommen, dass seine Loyalität zur Partei anfangs prekär und unstet war. Die moderne Geschichtsschreibung hat Aufschluss darüber gegeben, was es mit den Parteien zur damaligen Zeit auf sich hatte, welche Unsicherheit und welches Durcheinander sie umgab. Wenn man das bedenkt und das Bild berücksichtigt, das wir heute von Disraelis Persönlichkeit haben, brauchen seine breit gestreuten und respektlosen frühen Beutezüge in die Politik nicht länger vertuscht werden. Vermutlich hatte er während seiner Reise damit begonnen, die beiden Bücher zu entwerfen, die er 1832 und 1833 herausbrachte, Contarini Fleming und Alroy. Das erste ist aufgrund der vielen biographischen Hinweise für uns von Interesse. Es brachte nicht den erhofften und dringend benötigten kommerziellen Erfolg. Auch in seinem Falle ist die Handlung eher dürftig und findet ein abruptes und unbefriedigendes Ende. Der Roman ist voller Reiseberichte, die aus Briefen stammen, die Disraeli während seiner Tour durch den Osten und im Laufe früherer Reisen nach

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Hause geschickt hat. Bei The Wondrous Tale of Alroy haben wir es mit einer Art poetischer Prosa zu tun, an die Disraeli hohe Erwartungen knüpfte. William Maginn, den Disraeli als Pariser Korrespondent des fehlgeschlagenen Representative angeworben hatte und der mittlerweile das Fraser’s Magazine herausgab, parodierte das Buch wie folgt: „Ach, lieber Leser! Schau doch her, dann siehst du das lockige Haar und die schöne Stirn, die hocherhobene Nase und das glänzende Auge von Benjamin Dis-ra-e-li, dem Wunderknaben, der Alroy schrieb in Reim und Prosa, nur um zu zeigen, wie vor langen Zeiten, die Löwenflagge Judahs vom Sieg kündete.“16 ­Alroy war ein bisschen erfolgreicher als Contarini Fleming, vielleicht weil darin häufig ein sinnlicher, sexueller Ton angeschlagen wurde, was für die damaligen Verhältnisse sehr gewagt war. Die Leserinnen hatten wohl ihre Freude an der Verführung des Helden durch die sinnliche Prinzessin Schirene, die wunderschöne Tochter des Kalifen, die ihn ins Verderben lockt. Alroy ist Disraelis erster Roman mit einem starken jüdischen Thema. Er lenkte die Aufmerksamkeit auf Disraelis Judentum, als dieser den meisten noch bestens als der Hochstapler in Erinnerung war, der Vivian Grey geschrieben hatte. Zum anderen kannte man ihn auch als ‚Disraeli den Jüngeren‘, als der er auf den Titelseiten mancher seiner Publikationen firmierte, während Disraeli der Ältere als ein äußerst achtbarer Literat und Gelehrter galt. Isaac stand unmittelbar davor, den Ehrendoktortitel der Universität von Oxford verliehen zu bekommen, den einzig möglichen akademischen Grad für einen Nichtanglikaner. Kurz nachdem Benjamin Alroy veröffentlicht hatte, brachte Isaac The Genius of Judaism heraus, worin er seine Auffassung erörterte, dass die Tage des Judentums der Speisegesetze und all der anderen Bräuche gezählt seien, dass der Talmud und die anderen jüdischen Überlieferungen dennoch viel Wunderbares enthalten, das als ein wertvoller Beitrag zum religiösen Mainstream gelten darf. Es sei das Schicksal des Judentums, sich mit diesem Mainstream der aufgeklärten Christenheit zu vereinigen. Eine ganz ähnliche Auffassung wird Benjamin in zahlreichen seiner späteren Schriften vertreten. Was allerdings das Temperament betraf, so konnten Vater und Sohn kaum unterschiedlicher sein. Wo jener zurückhaltend agierte und auf Ausgleich bedacht war, ging dieser auf erbitterten Konfrontationskurs und parierte jeden Angriff auf sich mit einem Gegenangriff. Die Reise durch den Nahen Osten bestärkte Benjamin in seinem Stolz auf die Rasse und in seiner Entschlossenheit, jedem antijüdischen Angriff auf sich kühn entgegenzutreten. In Alroy setzt der Niedergang des Helden damit ein, dass er es zulässt, dass die Schmeicheleien Babylons ihn dem angestammten Glauben abspenstig machen. Als Alroy sich in der Todesstunde seinem Glauben wieder zuwendet, gewinnt er seine Würde zurück. Contarini Fleming und Alroy und große Teile seines Spätwerks verfasst Disraeli unter dem Einfluss des Orientalismus, jener breiten und vielgestaltigen europäischen Literatur­strömung seiner Zeit. Für ihn sind die Hebräer Teil einer ‚semitischen‘ Rasse, die er auch als beduinische oder arabische Rasse bezeichnet, der eine besondere religiöse Aufgabe anvertraut ist.17

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Benjamin bemühte sich darum, ins Parlament einzuziehen. Auf seine theatralische Natur hatte die parlamentarische Bühne schon seit langem anziehend gewirkt; in seinem „Mutilated Diary“ hält er fest: „Ich könnte das Unterhaus beherrschen, obwohl es anfänglich ein großes Vorurteil gegen mich geben würde, in der größten von Neid erfüllten Versammlung der ganzen Welt. […] So, wie sie ist, macht unsere englische Gesellschaft, machen unsere aristokratischen Institutionen eine Karriere schwierig.“ Edward Lytton Bulwer war 1831 für die nahe Kornische Stadtgemeinde St. Ives gewählt worden, und dessen Beispiel spornte Benjamin an. Bulwer war zu dieser Zeit ein enger Freund, ein Seelenverwandter, und sein Haus bildete den Kristallisationspunkt von Benjamins aufblühendem Gesellschafts­leben. Bulwer setzte sich für seinen Freund ein und versuchte die Unterstützung der Whigs für ihn einzuwerben, was ihm jedoch nicht gelang. Er brachte den führenden Radikalen Joseph Hume dazu, einen Unterstützungsbrief nach High Wycombe zu schreiben, dem ein doppelter Irrtum zugrunde lag; einmal verwechselte Hume High Wycombe mit Wendover, zum anderen glaubte er, dass sich Benjamin dort nicht einem Whig entgegenstellen müsse. Disraeli versuchte insgesamt drei Mal vergeblich, High Wycombe, das man als seinen Heimat­ sitz betrachten könnte, zu erobern: das erste Mal bei einer Nachwahl 1832, als es nur cirka 30 Wahlberechtigte gab, und dann bei den beiden Parlamentswahlen, der vom Dezember 1832 und der vom Januar 1835, als bereits etliche hundert Personen über die Wahlberechtigung verfügten. Disraeli stellte fest, dass ihm der (wie es Dickens formulierte) ‚Eatanswill‘-Aspekt solcher Wahlveranstaltungen Genuss verschaffte, nämlich die damit verbundenen Ess- und Trinkgelage, und er lernte, die Flut an Schmähungen, Spott und Hohn­gelächter an sich abprallen zu lassen, die ‚Judas‘-Rufe und all das andere Geschrei: ‚Lumpensammler‘ und ‚Schafft ein Stück Schweinefleisch für den Juden herbei‘. Die Worte, mit denen er Sara Austen seine erste High-Wycombe-Wahl schildert, sind häufig zitiert worden: „Ich sprang auf den Säulenvorsprung des Roten Löwen und redete eine Stunde und eine Viertelstunde lang auf sie ein. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, welche Wirkung das auf sie hatte. Ich machte sie alle toll. Ganz viele weinten regelrecht. Nie in meinem Leben habe ich so viele Freunde gewonnen und Feinde bekehrt. Sämtliche Frauen sind auf meiner Seite.“18 In den beiden Wahlen von 1832 trat er als Radikaler an. Er verkündete, dass er für Reformen eintrete und für solche eindeutig radikale Anliegen wie geheime Wahlen, dreijährige Legislaturperioden und Abschaffung der Besteuerung des Wissens [d. h. der Papiersteuer]. Als sich im März 1833 die Gelegenheit für einen Wahlkampf in Marylebone bot, veröffentlichte er ein Wahlprogramm als Radikaler, in dem er sich für „das großartige System der Verbesserungen [aussprach], das alle, die rechtschaffen sind, herbeisehnen müssen“, aber gegen „eine Gesellschaft von Menschen, die, nachdem sie vermöge der freiheitlichen Prinzipien die Macht erlangt haben, sich zusammenschließen, um gegen die Verfassung zu verstoßen“.19 Er zog sich zurück, trat jedoch einen Monat später, als für die vorherige Wahl ein Ungültigkeitsgesuch drohte, wieder in Erscheinung. Er brachte eine Flugschrift

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heraus What is He?, die vielleicht als Antwort auf die Frage gedacht war, wo er stehe. Eine Zeitschrift antwortete für ihn: ‚Auf meinem Kopf‘. In der Flugschrift erklärte er, dass das aristokratische Prinzip durch die Art, wie die Reformbill (1832) dem House of Lords aufgezwungen worden ist, vernichtet wurde. Daher hatten die Torys die Pflicht, „mit den Radikalen zusammenzugehen und es zu billigen, dass sich die beiden mit Spitznamen bezeichneten politischen Gruppen unter dem gemeinsamen, allgemeinverständlichen und würdigen Titel einer nationalen Partei verbinden“.20 Disraeli vertrat zweifellos eine Anti-Whig-Haltung, doch der Toryismus hatte in diesen Tagen weniger Zukunft als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt im 19. Jahrhundert. Die Torys waren sehr uneins und hatten in der lange währenden Reformschlacht eine Niederlage erlitten; zudem waren sie im Dezember 1832 auf einen bescheidenen Rest zusammengeschrumpft. Darum formulierte er eine vage konservativ-radikale Position, die fortan als sein eigenes Markenzeichen gelten wird. Unklar blieb, wie Disraelis unmittelbare politische Zukunft aussehen würde. Was er befürwortete, war weniger offensichtlich als das, wogegen er eine Abneigung hatte. Die nonkonformistischen kleinen Geschäftsleute, die sich hinter den Whigs formierten, konnte er nicht ausstehen. Die Utilitaristen mit ihrem absurden Glückskalkül stießen ihn ab. „Die Utilitaristen in der Politik haben große Ähnlichkeit mit den Unitariern in der Religion. Beide sparen sie in ihren Systemen die Vorstellungskraft aus, die Fantasie, diese aber leitet die Menschheit.“21 Die altbewährten Institutionen und eine vortreffliche Aristokratie, kurz, die ‚auf dem Land­ eigentum beruhende Verfassung‘ erregte seine Fantasie. Er hatte es nicht sonderlich eilig, die frei flottierenden Ideen mit der praktischen Politik zu verknüpfen. Als seine literarische Produktion im April 1832 ihren Höhepunkt erreichte, ging er mit einem langen Pamphlet an die Öffentlichkeit: England and France; or A Cure for Ministerial Gallomania. Hierbei handelt es sich um eine heftige Schmähschrift gegen die von Palmerston und der Whig-Regierung betriebene wohlwollende Politik gegenüber dem Regime der Orleanisten, das durch die Juli-Revolution von 1830 in Paris an die Macht gekommen war. Die Schrift hatte er zusammen mit Baron d’Haber verfasst, einem deutsch-jüdischen Bankier mit Verbindungen zum gestürzten Regime von Charles X. Die Intrigen und Verschwörungen in der Welt zogen Disraeli unwiderstehlich an, wobei er deren Bedeutung jedes Mal stark überbewertete. In dieser Phase beruhte seine Überzeugung von der eigenen Wichtigkeit maßgeblich auf solchen ‚Fühlungnahmen‘, und er wähnte, im Mittelpunkt der Ereignisse zu stehen, während er sich in Wirklichkeit am Rande befand. Die Hoffnung, einen finanziellen Vorteil aus diesen Dingen ziehen zu können, war sein ständiger Begleiter. Mit welch zwiespältigen Gefühlen Disraeli auf die Revolution blickte, kommt in Gallomania zum Ausdruck. Der mit der Welt hadernde romantische Held musste mit der Revolution sympathisieren, doch hier wittert er, wie der bigotteste Reaktionär, hinter jedem Busch einen revolutionären Verschwörer. Im Gegensatz zum Tenor von Gallomania, wurde die Förderung eines guten Einvernehmens mit Frankreich eine bestimmende Konstante für Disraeli.

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Da nun lässt der deutliche Tory-Ton seiner Schrift Zweifel an seiner RadikalenGlaubwürdigkeit aufkommen. Sollte er in diesem Stadium ein Radikaler gewesen sein, dann bestimmt nicht nach Art der philosophischen Radikalen, des älteren Mills etwa oder Benthams, sondern vielleicht in der Weise eines aristokratischen Rebellen wie Sir Francis Burdett. Seine Gegner in Wycombe jedenfalls waren Whigs. Bei einem von ihnen, Colonel Grey, handelte es sich um den jüngeren Sohn des Premierministers. Aus diesem Grund konnte Disraeli auf die Unterstützung durch die Torys hoffen. Bei den Dezember-Wahlen brachte er die Namen Bolingbrokes und Sir William Wyndhams ins Spiel, der Anführer der Torys im frühen 18. Jahrhundert, und nahm für sich in Anspruch, prinzipientreu zu sein. Er begann damit, die englische Geschichte in einer äußerst eigentümlichen Version darzustellen, die in Coningsby und in Sybil vollständig entfaltet ist. Eine Whig-Oligarchie hätte ein ‚venetianisches‘ System installiert, den Monarchen zu einem Dogen herabgesetzt, ein ‚holländisches‘ Finanzsystem basierend auf Staatsverschuldung unterhalten und schließlich die Französische Revolution unterstützt. Diese Auffassung nahm im Laufe der vielen Stunden Gestalt an, die Benjamin in der Bibliothek seines Vaters zubrachte, und sie stand den Bemühungen Isaacs nahe, das Ansehen Charles I. wiederherzustellen. Die politischen Ideen des 27-jährigen Benjamin waren jedoch eher unbestimmt und fließend. Ist das Leben ein Spiel, dann ist die Politik erst recht eins. Es war nicht leicht für einen romantischen Helden von byronschen oder napoleonischen Ausmaßen, sich auf die Alltagsebene des parlamentarischen Parteienhaders herabzulassen. Eine Passage aus dem Young Duke (Ausgabe von 1853) wurde häufig zitiert: „Ich muss verlässlich und berechenbar agieren, konsistent sein eben, darf meine Prinzipien nicht infrage stellen, was in England nur maximal ein Mal im Jahr geduldet wird. Mal sehen: was sind sie, die Leute? Und ich? Bin ich ein Whig oder ein Tory? Ich weiß es nicht. […] Ich komme mir vor wie Garrick, irgendwo zwischen Tragödie und Komödie. Ich gedenke ein Whig und ein Tory zu sein, im Wechsel, über Nacht.“22 Unter dieser für Disraeli typischen Leichtfertigkeit spürt man ein machiavellis­tisches Glücksvertrauen, das den großen Mann macht und zunichte macht, der mit seiner virtù den Kampf mit fortunas Fallstricken und Pfeilen aufnimmt. ­Disraeli mutete wie ein Renaissance-condottiere an. Als die Reformbill 1832 in Zweifel geriet, schrieb er an seine Schwester: „Es kümmert mich fast gar nicht, was dabei herauskommen wird, weil ich die Hoffnung habe, unter allen Umständen am höchsten zu schweben.“23 Disraelis erste Schritte in die politische Arena waren begleitet und wurden mitunter begünstigt von seinem Vorankommen in der Gesellschaft. Das Eintritts­billet verschaffte ihm (neben anderen) Bulwer, ein wahrer Komplize. „Bulwer ist einer der wenigen, mit denen ich auf geistiger Ebene aneinandergeraten kann und das als wohltuend und nutzbringend empfinde. Er steckt voller Gedanken und Ansichten, die originell und unparteiisch zugleich sind.“ Bulwer war gefangen in einer schrecklichen Ehe mit Rosina, die einer Familie mit unkultiviertem irischem Hintergrund entstammte. Sie fand, Disraeli habe einen schlechten Einfluss auf ihren Mann; viele Jahre später verspottete sie ihn in ihrem Roman als Mr. Jericho Jabber,

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einen ‚Jew-d’esprit‘. Bei den Bulwers traf er zum ersten Mal auf seine zukünftige Gattin, die damalige Mrs. Wyndham Lewis, „eine hübsche kleine Frau … ein Flirt und eine Schwätzerin“. Als Rosina Bulwer ihn bat, er möge sie, Mrs. L ­ ewis, zu Tische führen, sagte er: „O, alles lieber als diese unausstehliche Frau, aber Allah ist groß“, und indem er seine Daumen in die Armlöcher seiner aus­gefallenen Weste steckte – auf seine typische manierierte Art –, schritt er zu ihr hinüber.24 Einen anderen Ausgangspunkt für Disraelis gesellschaftlichen Aufstieg bildete das Haus von Dr. George Bolton und seiner Gattin Clara. Clara setzte ihre sexuelle Anziehungskraft dazu ein, um den Bekanntenkreis des Paares zu erweitern; Benjamin nannte sie später „eine Lockente“,25 jetzt aber wurde sie seine Geliebte. Die wichtigste Adresse für Disraelis gesellschaftliche Eroberungen stellte das Haus Lady Blessingtons am Seamore Place dar. Alfred Count d’Orsay, der noch selbstsicherer und eleganter als Dandy auftrat als Disraeli, hatte mit Marguerite, der Countess of Blessington, in einer berüchtigten ménage à trois gelebt, bis ihr exzentrischer Ehemann 1829 starb. Wie Disraeli musste sich auch Marguerite mit Schriftstellerei über Wasser halten, was in Anbetracht des verschwenderischen Lebensstils, den sie selbst und mehr noch Alfred pflegte, eine Sisyphusarbeit war. Lady Blessington war eine ‚blaue‘, also eher zweitklassige Gastgeberin, denn ihre glänzend ausgestatteten Salons wurden von denen gemieden, die in der gesellschaftlichen Hierarchie die höchsten Ränge einnahmen, zumal von den Frauen. Ihr und d’Orsays erlesener Geschmack machten ihre Partys „zu dem einzigen Versuch, in der Welt dieser großartigen, missgünstigen & mit Begabungen gesegneten Stadt eine Literaten­republik einzurichten“.26 Benjamins große Liebe der Jahre 1833 bis 1836 war Lady Henrietta Sykes, die Frau von Sir Francis Sykes, einem Baronet und Abkömmling eines indischen ­Nabobs und noch dazu Eigentümer eines schönen palladianischen Landsitzes (­Basildon Park) sowie eines Hauses in der Londoner Upper Grosvenor Street. Henrietta hatte Francis 1821 geheiratet und vier Kinder mit ihm. Auch wenn sich das Verhältnis mit Henrietta noch als politisch nützlich erweisen sollte, war Disraeli mit dem Herzen dabei und legte die Leidenschaft eines romantischen Helden an den Tag. Wahrscheinlich hatte er Henrietta Sykes im Sinn, als er in Hen­rietta Temple schieb: Henrietta Temple umgab eine verspielte Anmut; sie war auf unkomplizierte Art sie selbst, dabei ungestüm und geistreich, was umso charmanter wirkte, weil es mit ausgesprochen guten Manieren einherging. Kein gewöhnlicher Mensch reichte an ihre ruhige Gelassenheit heran oder erfreute sich einer größeren Selbstbeherrschung, dennoch gab niemand den kleinen natürlichen Temperamentsausbrüchen stärker nach, die einen eher an ein verspieltes Kind denken ließen als an die glänzende Frau; in solchen Momenten ging ein unvergleichlicher Zauber von ihr aus.27

Dass Henrietta sehr eifersüchtig war, mag ihn bisweilen gestört haben; selbst diese grand amour konnte seine Selbstbesessenheit und seine übermäßigen Ambitionen nur zeitweilig zurückdrängen. Doch als Henrietta ihn schließlich Ende

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des Jahres 1836 für den Maler Daniel Maclise verließ, fühlte er sich ganz niedergeschlagen. Dem Count d’Orsay, seinem vielleicht besten Freund zu dieser Zeit, schrieb er: „Gut möglich, dass ich mich selbst beglückwünschen sollte, dass eine Innigkeit, die, wie ich annehme, früher oder später zu Ende gehen musste, auf eine Weise ihr Ende fand, die zwar meinem Herzen einen stechenden Schmerz verursacht, aber bestimmt nicht meinem Gewissen. Es hat allerdings keinen Zweck, mit denen vernünftig reden zu wollen, die ihren Gefühlen ausgeliefert sind. Vermutlich werde ich mich in besonneneren Augenblicken deiner Meinung anschließen; derzeit bin ich elend.“28 Hinter der Maske des arroganten Sarkasmus und der hochmütigen Affektiertheit verbarg sich ein Disraeli, der verletzbar, empfindlich und unsicher war. Disraeli bewegte sich vornehmlich am nichtrespektablen Rand der Gesellschaft, und doch kam er mit führenden Politikern in Kontakt. Seiner Schwester beschrieb er, wie er aus Anlass einer Dinnerparty im Mai 1832 neben Sir Robert Peel zu sitzen kam: „Ich kann mir ohne weiteres vorstellen, dass er sehr unangenehm sein konnte, gestern aber war er in leutseligster Stimmung und entspannt, aber mit geziemendem Hochmut. Ich näherte mich ihm auf die schicklichste Weise und erinnerte ihn im Vertrauen daran, dass er ein ehemaliger Minister ist und ich ein aktueller Radikaler bin.“ Die Schilderung, die der Gastgeber dieses Aufeinandertreffens, der 3. Earl of St. Germans, viele Jahre später gab, ist überzeugender. „Seine Erscheinung oder sein Auftreten schienen in Sir Robert Peel eine intuitive Abneigung hervorzurufen. Er ‚begrub sein Kinn im Halstuch‘ und sprach bis zum Ende der Mahlzeit kein Wort mehr mit Disraeli.“29 Peel hatte, seit er als 24-Jähriger zum Hauptstaatssekretär für Irland ernannt worden war, große Macht inne und viele Ämter und Anstellungen zu vergeben; das Geschick, unerwünschte Bittsteller abblitzen zu lassen, hatte er zur hohen Kunst entwickelt. Was sich offensichtlich gut mit seiner Schüchternheit und seiner Unsicherheit auf dem gesellschaftlichen Parkett vertrug. Ein anderes Zusammentreffen mit einer führenden politischen Figur, das mit Lord Melbourne im Sommer des Jahres 1834, ist häufig beschrieben worden. Melbourne war seinerzeit Innenminister, und bald sollte er zum Premierminister aufsteigen. Disraeli traf ihn chez Mrs. Norton, bei einer der drei wunderschönen Enkelinnen von Richard Brinsley Sheridan, des berühmten Dramaturgen, Schauspielers und Bühnenschriftstellers. Zwischen Disraeli und einer der beiden anderen Schwestern, Helen Blackwood, der späteren Lady Dufferin, hatte sich eine amitié amoureuse entwickelt. Caroline Norton war mit George Norton verheiratet, einem brutalen Rohling, der zwei Jahre später eine Ehebruchsklage gegen Melbourne einreichte, als der Premierminister war. Diese hätte fast dessen politische Karriere beendet, doch Melbourne rettete sich, indem er auf Caroline verzichtete. Ihr Ruf war ruiniert und sie sah sich der Möglichkeit beraubt, Umgang mit ihren Kindern zu haben. Das machte aus ihr eine frühe Kämpferin für die Rechte der Frauen. All das sollte sich jedoch erst noch ereignen. Als Disraeli in Caroline Nortons kleinem Haus am Storey’s Gate auf Melbourne traf, fragte ihn der 25 Jahre

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ältere Innenminister: „Nun sagen Sie mir doch mal, was Sie werden wollen?“ Zu Melbournes Überraschung erwiderte der junge Mann, er wolle Premierminister werden. Disraelis viele Jahre später verfassten Darstellung nach sagte Melbourne zu ihm: „Das ist unmöglich in unserer Zeit. Das ist alles schon arrangiert und festgelegt. Niemand kann es mit Stanley aufnehmen […] Wenn Sie die Sache umsichtig angehen, werden Sie es zweifellos am Ende zu etwas bringen. Sie müssen sich aber diese Hirngespinste aus dem Kopf schlagen; die führen zu nichts. Stanley ist der nächste Premier, Sie werden sehen.“30 Und so kam es: Stanley, als der 14. Earl of Derby, wurde Premierminister, und Disraeli war sein Hauptstellvertreter und schließlich folgte er ihm im Amt nach. Die wichtigste politische Verbindung, die Disraeli in jenen Jahren knüpfte, war die mit Lord Lyndhurst, dem Lordkanzler in allen Tory-Regierungen von ­Canning 1827 bis Peel 1846. Disraeli traf Lyndhurst auf einem von Henrietta gegebenen Dinner im Juli 1834. Die beiden Männer waren vom gleichen Schlag, auch wenn mehr als 32 Jahre zwischen ihnen lagen. Lyndhurst war der Sohn eines amerikanischen Malers und darum genau wie Disraeli ein Außenseiter innerhalb der herrschenden Klasse Englands, sein Aufstieg vollzog sich allerdings über den herkömmlicheren Weg des Justizsystems. Ihm eilte der hartnäckige Ruf voraus, ein Wendehals zu sein. Es hieß, er sei einst ein Radikaler und Republikaner gewesen. Als Tory und Mitglied von Cannings Kabinett bekämpfte er dann die Emanzipation der Katholiken, blieb jedoch in der Regierung, als diese von Wellington verwirklicht wurde. Nach Wellingtons Sturz übernahm er das Amt des chief baron of the Exchequer [d. i. eines der höchsten Richterämter] unter der Whig-Regierung von Lord Grey, der sich unwiderstehlich zu Lady Lyndhurst hingezogen fühlte. Sie hatte es bisher stets so gehandhabt, dass sie sich nur solche Liebhaber zulegte, die der Karriere ihres Mannes förderlich waren, der selbst wiederum ein notorischer Frauenheld war. Nicht reich geboren, war Lyndhurst auf sein Amtssalär angewiesen, das stattliche 14.000 Pfd. betrug, mit einer Pension von 4.000 Pfd. Darum klammerte er sich an sein Amt wie an seine Ämter zuvor, unter welcher politischen Fahne er sie auch erreicht hatte. Durch diese Erfahrungen und durch seinen Beruf als Jurist wurde er zu einem ausgesprochenen Experten für opportunistische Politik.31 Kurz bevor Disraeli im Juli 1834 das erste Mal auf Lyndhurst traf, war dieser gerade Witwer geworden. Zur selben Zeit wankte die Whig-Regierung Lord Greys, die einst so unantastbar schien. Grey dankte im Juli 1834 ab und Melbourne trat seine Nachfolge an. Im November wurde Melbourne von William IV. ‚entlassen‘; das war das letzte Mal, dass ein Monarch eine solche Handlung vollziehen konnte. Weil Peel sich zu dieser Zeit in Italien aufhielt und seine Rückholaktion drei Wochen in Anspruch nahm, führten der Duke of Wellington und Lyndhurst die Regierungsgeschäfte. Aufgrund der enger werdenden Freundschaft mit Lyndhurst nahm Disraeli mittelbar an diesen großen Ereignissen teil. In den Tagen vor Melbournes Entlassung wurde er zu einer Verhandlung mit Lord Chandos, einem wichtigen Vertreter der landwirtschaftlichen Interessen, hinzugezogen, die den

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Zweck hatte, die Regierung in eine Minderheitsposition zu bringen. Diese Intrigen, so sehr sie Disraeli auch genoss, wurden rasch von den Ereignissen überholt. Selbst Lyndhursts gewichtige Unterstützung bescherte ihm keinen Wahlkreis, in dem er die sichere Aussicht gehabt hätte, den Sitz in den Parlamentswahlen im Dezember 1834 zu gewinnen. In den ersten Monaten dieses Jahres hatte er seine unabhängige Stellung noch beibehalten und versucht, sich über Lord Durham, Greys Schwiegersohn, der dem linken Flügel im Whig-Verband am nächsten stand, einen Sitz zu sichern. Greville notierte unter dem 6. Dezember 1834 in sein Tagebuch: „Seine politischen Grundsätze müssen […] unausgegoren sein, denn wie er sagte, tue Durham alles, um ihn durch das Angebot eines Sitzes für sich zu gewinnen, und so weiter; wenn er also unentschlossen ist und zwischen Chandos und D ­ urham schwankt, muss er eine mächtig unentschiedene Persönlichkeit sein. Ich glaube nicht, dass ein solcher Mann etwas taugt, obwohl er mit Lyndhurst in Verbindung steht.“32 Ihm blieb somit nichts anderes übrig, als ein drittes Mal zu versuchen, High Wycombe zu erobern, diesmal aber mit einer Zuwendung von 500 Pfd. aus Geldmitteln der Tory-Partei. Bei der Abstimmung kam er auf den letzten Platz. Andere Eisen hatte er freilich auch noch im Feuer: das Verhältnis mit Henrietta, sein hektisch betriebener gesellschaftlicher Aufstieg und seine literarischen Ambitionen. Daneben war er verzweifelt darum bemüht, sich seine Gläubiger vom Hals zu halten und mehr Geld aufzutreiben. Disraeli verfügte über die bemerkenswert ausgeprägte Gabe, sich ‚aufteilen‘ und unterschiedliche Handlungsfelder parallel beackern zu können. Erlitt er auf einem Feld eine Niederlage, hinderte ihn das nicht daran, auf einem anderen zu triumphieren. Er glaubte immer noch, ein bedeutender Dichter werden zu können; 1833 hatte er mit der Abfassung eines ambitionierten dichterischen Werks im Byron-Stil begonnen, The Revolu­tionary Epick. Darin bekämpft der feudale Geist – die Aristokratie – den föderalen Geist – die Demokratie. „Die Anlage scheint mir vortrefflich. Nun hängt alles von der Ausführung ab“, teilte er Sarah Austen mit, von deren Ehemann er sich weiterhin finan­ zielle Unterstützung erhoffte.33 Jahre später rief sich Sarahs Neffe Henry Layard die Szene vom Januar 1834 in Erinnerung, als Disraeli bei einem von den Austens veranstalteten Dinner den bereits fertiggestellten Teil der Dichtung vortrug: Hinter sich den Kamin, das Publikum vor sich, stand er da und gab weitere Kostproben seines gewohnt hochtrabenden Stils; mit der üblichen feierlichen Attitüde fragte er in den Raum: Wenn doch das heroische Zeitalter seinen Homer hervorgebracht hat, die augusteische Ära ihren Vergil, die Renaissance ihren Dante, warum sollte die revolutionäre ­Epoche, in der wir leben, nicht ihren maßgeblichen Dichter hervorbringen? Dieser junge Mann reizte unwiderstehlich zum Lachen, wie er sich mit dem unwahrscheinlich dandyhaften Anzug, den er in diesen Tagen zur Schau trug, […] als der Homer oder Dante seiner Zeit präsentierte!“34

The Revolutionary Epick war weder bei den Kritikern noch in finanzieller Hinsicht ein Erfolg; zwar hatte der Autor im Vorwort versichert, er werde „seine Leier ohne Zögern in die Rumpelkammer werfen“, wenn das Werk nicht den Beifall bekommt, den es seiner Meinung nach verdient, er rückte aber nie von seiner Mei-

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nung ab, dass The Revolutionary Epick zu seinen bedeutenderen Schöpfungen zu zählen sei. Außerdem hatte er sich auf ein weiteres Projekt eingelassen und zusammen mit seiner Schwester den Roman A Year at Hartlebury oder The Election verfasst, der erst vor kurzem zum Vorschein gekommen ist. Seine Eskapaden, insbesondere das Verhältnis mit Henrietta, sorgten für viel Unruhe in Bradenham, und über ­Sarah erfuhren seine Eltern peu a peu von ihnen. Sarah hegte eigene literarische Ambitionen, die ihr Bruder durch die Zusammenarbeit bei Hartlebury zu unterstützen suchte. Das Buch – im März 1834 erschienen – basiert zu großen Teilen auf seinen eigenen Erfahrungen in der Politik und beim Wahlkampf und kann darum als sein erster Anlauf zu einem politischen Roman gelten. Bei seinem Helden, Bohun, handelt es sich um einen erbitterten Anti-Whig; er will eine ‚nationale Partei‘ gründen, um sich den Whigs und ihren Anhängern, „den Sektierern der niedrigen Whig-Oligarchie“, die viele Stadtgemeinden [­boroughs] unter ihrer Kontrolle haben, entgegenzustellen.35 Im Jahre 1835 kam es zu einer entscheidenden Weichenstellung, was die allgemeine politische Situation anging, die nach der Verfassungsrevolution des Reformgesetzes (1832) noch immer von Ungewissheit geprägt war. Die Regierung, die Peel nach seiner Rückkehr aus Italien gebildet hatte, konnte sich nicht halten. Sie hatte in den Parlamentswahlen, bei denen Disraeli High Wycombe zum dritten Mal nicht zu gewinnen vermochte, um die hundert Sitze hinzugewonnen, was aber nicht reichte. Im April 1835 wurde Peel durch eine Koalition aus Whigs, Radikalen und Anhängern O’Connells, den Irish Repealer, abgewählt. Diese Koalition wurde bei einer Zusammenkunft im Lichfield House, eines der großen Whig-Häuser in London, ins Leben gerufen und als Lichfield-House-Abkommen bekannt. In dieser ad hoc zustande gekommenen Übereinkunft kann man den Beginn der Liberalen Partei des 19. Jahrhunderts sehen. Melbourne kehrte zurück, und niemals wieder hat ein Monarch einen Minister zu entlassen versucht. Die ‚Parteienlandschaft‘ im Unterhaus war nun übersichtlicher. Die Lichfield-House-Koalition bildete die Regierung und die wiedererstarkte Tory-Partei die Opposition. Der 30 Jahre alte Disraeli war in diese Ereignisse stark involviert. Nach Peels Abwahl war ganz ungewiss, wie lange die Regierung sich halten wird, die Melbourne auf der Grundlage der Lichfield-House-Übereinkunft gebildet hatte. Vielen Whigs missfiel die Verbindung mit den Radikalen, und mehr noch die mit O’Connell. Über Mrs. Norton agierte Disraeli als Mittler zwischen Lyndhurst und Melbourne, um die Möglichkeit einer Koalition zu erkunden, in der sein Förderer Lordkanzler würde bleiben können. Was aufs Ganze gesehen nicht mehr als eine Episode am Rande war, wurde von dem jungen Mann als berauschend erlebt. Wie sehr ihn das Geschehen in Aufregung versetzte, lässt sich noch nachempfinden, wenn man die Briefe zur Hand nimmt, die er in dieser Zeit an seinen Vater schickte.36 Melbournes Regierungsbildung machte eine Reihe von Nachbzw. Ergänzungswahlen erforderlich. Die neu eingesetzten Minister mussten, weil sie unter der Krone ein bezahltes Amt angenommen hatten, ihren Sitz freimachen

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und sich zur Wiederwahl stellen, wobei sie häufig ohne Gegenkandidaten blieben. Lyndhurst war maßgeblich am Zustandekommen eines Wahlkampfs für Disraeli in Taunton beteiligt, aus dem Disraeli, wie er hoffte, als Sieger hervorgehen würde. Der begab sich in seine nunmehr vierte Wahlschlacht, diesmal zweifelsfrei als ein Tory. Er bestritt, ein Abenteurer zu sein, der sich, wie man ihm vorwarf, jedes gerade greifbare Etikett angeheftet hatte, um nur ja ins Parlament einzuziehen, und betonte nachdrücklich, dass er sich in unbeirrbarer Opposition zur Sache der Whigs befinde. Die von ihm angeführten Gründe für seine diversen Frontwechsel machen von heute aus gesehen nicht den Eindruck, als seien sie an den Haaren herbeigezogen. Ob das damals anders gesehen wurde? – jedenfalls musste er erneut eine Niederlage einstecken. Im Zusammenhang mit der Taunton-Wahl gerieten Disraeli und O’Connell derart aneinander, dass ihr Streit einige Berühmtheit erlangte. Dass sich die Torys auf das Bündnis zwischen den Whigs und dem Befreier Irlands einschießen würden, lag vollkommen auf der Hand. Die politischen Auseinandersetzungen waren geprägt von heftigen Schmähreden und zügellosen Tiraden, und Disraeli machte von dergleichen ausgiebig Gebrauch. Es hieß, er habe das Koalitionsabkommen mit dem Iren als Bündnis mit einem Verräter bezeichnet. Darauf reagierte O’Connell mit noch schillernderen Beschimpfungen, in denen er auf Disraelis häufige Meinungsänderungen zu sprechen kam, ihn eine lebende Lüge nannte und sagte, das britische Empire sei dadurch herabgesunken, dass es einen „verabscheuungswürdigen Schurken seiner Art“ geduldet habe. Unter Anspielung auf seine jüdische Herkunft verglich er ihn mit „dem unbußfertigen Schächer am Kreuz“. Disraeli fordert ihn zum Duell heraus; weil jedoch O’Connell sich nicht mehr auf Duelle einließ, sollte sein Sohn ‚einspringen‘. Über die Zeitungen wurden einige Schmähbriefe ausgetauscht, doch schließlich machte die Polizei der Angelegenheit ein Ende und wahrte den Frieden. Disraeli glaubte, sich wacker geschlagen zu haben – „Ich habe sie zerquetscht“, schrieb er seiner Schwester.37 Die Sache trug ihm eine gewisse fragwürdige Berühmtheit ein, aber die war ihm viel lieber als gar keine. Politisch bewegte sich Disraeli nun in Lyndhursts Windschatten; in den nächsten beiden Jahren wirkte er als dessen inoffizieller Privatsekretär und Famulus. Henrietta hatte ihr Bestes getan, um ihm bei Lyndhurst behilflich zu sein, indem sie die Mätresse des älteren Mannes wurde. „Er tut, was ich will, also sage mir, wie Du es gerne hättest, und ich werde dafür sorgen, dass es so kommt […]“, schrieb sie Benjamin. „Was Frauen anbelangt, ist er ein vollständiger Narr“.38 Als Henrietta Lyndhurst nach Bradenham begleitete, um Benjamin einen Besuch abzustatten, sorgte das in der Grafschaft für Gerede, und noch nach Disraelis Tod erinnerte man sich dort an den Skandal. Lyndhurst war im Begriff, sich in eine große politische Schlacht zu begeben, und sein junger Gefolgsmann stürzte sich mit Leib und Seele in den Kampf seines Meisters. Die English Municipal Corporations Bill [Gesetzesvorlage über die städtischen Körperschaften] passierte gerade das Parlament. Es handelt sich dabei um eine der großen Whig-Reformen, die sich in politischer Hinsicht fast ebenso stark auswirkte wie das drei Jahre zuvor verabschie-

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dete Reformgesetz. Die Stadtgemeinden würden mehr denn je zu Hochburgen jener mehrheitlich nichtanglikanischen Mittelschicht werden, die so gar nicht nach Disraelis Geschmack war. Peel hatte dem Gesetzentwurf im Unterhaus grundsätzlich zugestimmt. Er folgte damit der im Tamworth-Manifest propagierten Politik der Unterstützung moderater Reformbestrebungen und der Vermeidung parteipolitischer Händel. Im Oberhaus wehrte sich Lyndhurst vehement gegen die Bill, derweil Peel deutlich auf Distanz zu ihm ging. Unter Lyndhursts Führung wurde einer Reihe von Zusatzartikeln zugestimmt, die für die Regierung nicht akzeptabel waren. Gerüchte machten die Runde, Melbourne sei gezwungen zurückzutreten und Lyndhurst werde ihm als Premierminister nachfolgen. Disraeli fieberte vor Aufregung und glaubte fest daran, dass er bald im Unterhaus sitzen würde. „Die Dinge entwickeln sich prächtig. Wie es scheint, wird ­Melbourne von seiner Partei im Stich gelassen“, schrieb er seiner Schwester. Er veröffentlichte mehrere Artikel in der Morning Post, in denen er Lyndhurst in den höchsten Tönen lobte und die Gegner mit galligen Schmähungen überzog. Seiner Schwester teilte er brieflich mit: „Ich habe Dir jeden Tag die Morning Post zukommen lassen, die die einzige Zeitung ist, die man momentan liest, weil darin ein großer Unbekannter unvermittelt in Erscheinung getreten ist, dessen Groß­taten fast das einzige politische Gesprächsthema sind.“39 Bei diesen Artikeln haben wir es mit Disraelis erstem bedeutenden Vorstoß auf das Feld des politischen Journalismus zu tun. Als er in Taunton um einen Sitz kämpfte, hatte er zudem mehrere Briefe an die dortige Wählerschaft herausgebracht. Diese wurden als Flugschriften ver­öffentlicht, in denen er seine politischen Ansichten darlegte und begründete und sich einmal mehr gegen den Vorwurf zur Wehr setzte, er sei in der Vergangenheit ein politisches Chamäleon gewesen. Ich bestreite, dass die Torys deshalb gegen kurze Legislaturperioden oder gegen die geheime Wahl sind, weil das Volk dadurch zu viel Macht erhält: Sie sind vielmehr deswegen dagegen, weil diejenigen, die über das Wahlrecht verfügen, dadurch zu mächtig werden; das ist ein großer Unterschied, wohlverstanden. Je mehr Menschen (aus dem Volk) der Wählerschaft angehören, desto stärker werden die Torys sein; dass sie augenblicklich gefährdet sind, liegt daran, dass die staatliche Macht aus parteipolitischen Gründen in die Hände einer sektiererischen Oligarchie gelegt wurde, womit ich nicht die Whigs meine […] sondern die unzufriedene nichtanglikanische Minderheit, welche die unzufriedene aristokratische Minderheit, nämlich die Whigs, aus purem Eigennutz unterstützt hat.40

Lyndhurst wurde nicht Premierminister, und einige der Tory-Peers bekamen es mit der Angst zu tun. Der ehemalige Lordkanzler wusste, wann es Zeit war nachzugeben, und die Municipal Corporation Bill wurde mit einigen Zusatzartikeln gebilligt. Lyndhurst selbst war eigentlich kein Ultra, dazu war er ein viel zu biegsamer Jurist und Politiker, und seine Differenzen mit Peel gehörten bald der Vergangenheit an. Dagegen hatte er die Autorität des Oberhauses wieder zur Geltung gebracht, die durch die Kapitulation wegen des Reformgesetzes beschädigt war. Vor diesem Hintergrund veröffentlichte Disraeli seine an Lyndhurst gerichtete Vindication of the English Constitution [Rechtfertigung der englischen Verfas-

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sung], die im Rückblick umfassendste Darstellung seiner politischen Ansichten.41 Er macht erneut geltend, dass die Tory-Partei die wirkliche nationale Partei ist und immer dann gewesen ist, wenn sie sich treu war. Seine Behauptung sucht er durch einen äußerst selektiven historischen Diskurs zu untermauern, in der abermals Bolingbroke als Gewährsmann auftritt und entsprechend häufig ins Feld geführt wird. Bei den Whigs handelt es sich um „ein kleines Grüppchen aus großen Familien, denen es lediglich um ihre Selbstüberhöhung zu tun ist“. Die übrige Nation – sprich neun Zehntel der Engländer setzte sich aus den Parteigängern der Torys, den Landbesitzern und der Bauernschaft des Königreiches zusammen, denen eine geistliche und im Volk verwurzelte Kirche vorrangeht. […] Die Tory-Partei ist in diesem Land die nationale Partei; sie ist die wahre demokratische Partei Englands.

Nach den jüngsten Ereignissen falle dem House of Lords eine besondere Rolle im Zusammenhang mit der Wahrung der Freiheiten der Menschen zu. Seiner Meinung nach vertreten die Lords das Volk, mehr jedenfalls als die Mitglieder des Unterhauses, die Commons, die bloß die Wahlkreise und deren Wählerschaft vertreten. Vielen Lesern entging nicht, dass diese Argumentation, logisch zu Ende gedacht, auf das allgemeine Wahlrecht hinauslief. Indem er Staat und Gesellschaft als eine Art Organismus auffasste und sich mit dieser Auffassung gegen den Versuch wendete, abstrakte Rechte geltend zu machen, befand sich Disraeli in pla­ giatorischer Nähe zu Burke: Jene großen Männer, die es immer wieder gab und die in turbulenten und stürmischen Zeiten das Regierungsruder übernommen haben – sie wussten, dass sie es beim Staat mit einem komplizierten Gebilde von ausgesucht feiner Bauart zu tun haben, und sie behandelten es mit all dem Feingefühl, das ein erlesener Mechanismus verlangt. Sie wussten: Hätten sie die abstrakten Staatsbürgerrechte erst einmal eingeräumt, wären sie unweigerlich gezwungen, die abstrakten Menschenrechte zu befördern, denen dann die eigentlichen Grundlagen des zivilen Gemeinwesens, für das sie eintraten, zum Opfer fallen würden.

Er machte sich die lobende Auffassung von der verfassungsrechtlichen Entwicklung und Freiheit Englands zu eigen, über die landesweit Einigkeit herrschte. Sie findet sich in den Schriften der Radikalen ebenso wie in denen der Konservativen und sie bildete auch den Kern der whigschen Auffassung. Ganz der clevere Propagandist, der er war, drehte Disraeli es so, dass aus der Tory-Partei der wahre Sachwalter des Volkes wurde. Und wie sich herausstellen sollte, war diese Image­ politik letztlich wirkungsvoller als der Managerkonservativismus, den Peel ein paar Monate zuvor im Tamworth-Manifest skizziert hatte. Peel hatte sich die Mühe gemacht und sich gleich nach Erscheinen ein Exem­ plar der Vindication zugelegt, noch bevor Disraeli ihm eines zusandte; den Autor ließ er brieflich wissen: „Ich habe mit Genugtuung und Überraschung festgestellt, dass ein vertrautes und scheinbar erschöpftes Thema sich mit einer so urwüchsigen Argumentationskraft behandeln und derart originell wie aktuell veranschau­lichen lässt.“ Seinem Vater sagte Benjamin, er habe Peel ein Exemplar übermittelt, je-

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doch „spät und widerwillig und mit einer kalten und trockenen Widmung, weil ich glaubte, dass er meine Schrift nicht zur Kenntnis nehmen oder auch nur zu­geben würde, je von ihr gehört zu haben; denn wie Du weißt, gilt er als der eifersüchtigste, frostigste und überheblichste aller Menschen; zudem hatte ich Grund zu der Annahme, dass er mir alles andere als freundlich gesinnt ist.“42 Disraelis öffentlichkeitswirksame Kampagne zu Lyndhursts Gunsten kann ihn Peel unmöglich empfohlen haben. Der Protégé war wohl ebenso wenig nach seinem Geschmack wie der Patron; dieser aber gehörte zum festen politischen Inventar, sein Gefolgsmann war bloß ein in schlechtem Ruf stehender Freibeuter. Für Disraeli ging es auf der Gesellschaftsleiter weiter nach oben. Eine entscheidende Sprosse war erklommen, als Frances Anne, Lady Londonderry, sich seiner annahm. Sie war eine tonangebende Gastgeberin der Torys und enorm reich. Im Juli 1835 dinierte er in Rosebank, dem an der Themse gelegenen Sommerhaus der Londonderrys, „dem hübschesten kleinen Haus auf der Welt“. Sie war ihm ihr Leben lang eine Freundin, ja sogar eine Mitwisserin und Vertraute; die gewisse Unterwürfigkeit aber, die er ihr gegenüber an den Tag legte, verschwand aus ihrer Beziehung nie ganz. In Sybil kommt sie als Lady Deloraine vor. Es scheint, dass Disraeli stets zwischen Phasen gesteigerter Energie und Zeiten großer Mattigkeit und Trägheit hin und her pendelte, wobei er das selbst an sich feststellte und bewusst wahrnahm. Im September 1833, als er sich in Henrietta verliebt hatte, schrieb er in sein Tagebuch: Mein Leben ist bislang ein einziger Kampf gewesen, mit Augenblicken der Begeisterung oder des Rausches – ein Sturm, und ab und an etwas Mondlicht. […] Bleibe ich einigermaßen gesund, ist mir zweifellos Erfolg beschieden, was sich jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach fatal auf mein Leben auswirken wird. Derzeit hält die Trägheit mich gefangen. Ich möchte müßig sein und mich amüsieren, über die stürmische Vergangenheit sinnieren und der beschaulichen Gegenwart ins Antlitz lächeln. Bald werde ich so viel Tatkraft haben, wie nie zuvor, und die Welt ob meines Ehrgeizes in Staunen versetzen. Leider kämpfe, ringe, mühe ich mich aus Stolz. Ja, was mich antreibt, ist der Stolz, nicht der Ehrgeiz. Sie sollen nicht sagen können, ich sei ein Gescheiterter, ein Versager.43

‚Sie‘, das waren seine Feinde und die Lästerer, vielleicht auch so manche Per­ sonen aus dem familiären Umfeld, etwa seine Basevi-Verwandten, die für seine Genialität quasi blind waren und die lediglich sahen, dass ihn seine skandalösen Liebschaften und die Schulden, die er angehäuft hatte, in Verruf brachten. Die Aufregungen und Enttäuschungen von 1835 änderten nichts und er tat, was er tat, auch weiterhin aus Stolz. Zu Beginn des nächsten Jahres veröffentlichte er nach Absprache mit dem Times-Herausgeber etliche Artikel in dieser Zeitung; unter dem Pseudonym ‚Runnymede‘ wiederholt er darin in einem äußerst polemischen Ton viele der Argumente seines Wahlkampfes in Taunton und seiner Vindication. Die heftigsten und galligsten Angriffe richteten sich auf O’Connell und die Iren. Als die Gesetzesvorlage über die städtischen Körperschaften Irlands, die Irish Municipal Corporation Bill, im April 1836 im Oberhaus verhandelt wurde und Lyndhurst sich gegen sie stellte, brachte Disraeli in seinem Runnymede-Brief vor:

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Dieser überaus widerwärtige O’Connell ist der große Repräsentant des Papstes, und in dieser Funktion wird er zu einer beherrschenden Gewalt, gegen die man mit herkömmlichen Mitteln nichts ausrichtet. […] In ein paar Stunden wird der oberflächliche Wolllüstling, der nach wie vor englischer Premierminister ist, dem Mandat des päpstlichen Priesterstands ge­ horsam entsprechen und mit einer verräterischen Note an Ihre Lords appellieren, ‚Irland Gerechtigkeit widerfahren zu lassen‘. […] Diese Leute sind nicht zu beschwichtigen. Sie sind Ihre Feinde, weil sie die Feinde Englands sind. Sie sind voller Hass auf unsere freie und fruchtbare Insel. […] Dieses ungebärdige, leichtfertige, arbeitsscheue, zweifelhafte und abergläubische Menschengeschlecht steht mit der englischen Art nicht in Einklang und schätzt sie nicht. Sein schönes Ideal der Glückseligkeit besteht in einem Wechsel von Sippschaftsfehden und grobschlächtiger Abgötterei. Seine Geschichte beschreibt einen vollendeten Kreis aus Engstirnigkeit und Blut. Und nun, man glaubt es kaum, nun hebt das Geschrei an, man sei schlecht regiert worden!“44

Das war eine Zeit, als solche anti-irischen Vorurteile leicht Anklang fanden, alle­mal unter den Torys. An den Runnymede-Briefen verdiente Disraeli nichts; außerdem drückte ihn seine Schuldenlast in diesen Tagen am schwersten. Pyne, ein Jurist in Diensten der Sykes-Familie, entwickelte ein komplexes und undurchdringliches ‚Umschuldungssystem‘, dass es Disraeli ermöglichte, sich einigermaßen über Wasser zu halten. Im Februar 1837 – da war er schon fast ein Jahr als Friedensrichter in Buckinghamshire aktiv – machte er im Rahmen einer Nachwahl in Aylesbury Wahlkampf. Bei einem Aufenthalt in Bradenham war er genötigt, sich brieflich an Pyne zu wenden: „Um alles in der Welt, schützen Sie mich vor dem Gerichts­ diener in meiner Grafschaft. Wegen dieser leidigen Geschichte werde ich nicht wie geplant in ­Aylesbury nächtigen, sondern am Abend wieder zurückkehren“.45 Während der Aylesbury-Wahl brach er zusammen und wurde zur Ader gelassen; dieser Schwächeanfall hatte zur Folge, dass seine Gläubiger verstärkt auf die Rückzahlung seiner Außenstände bei ihnen drängten. Disraeli vertrat die Ansicht, dass es neben all den andern Facetten die Schulden sind, die einen Lebemann machen, dass also auch seine Schulden die passende Ausstaffierung für den gutgekleideten Dandy und Mann von Welt sind, für den er sich hielt; diesen ganzen Habitus des Schuldners aber – all die Ausreden, Halbwahrheiten, Lügen und leeren Versprechungen – konnte er nur schwer loswerden und diese Gewohnheiten begannen auch in sein politisches Handeln als Polemiker einzusickern. Mit seinem unbändigen, aber jeder Grundlage entbehrenden Optimismus ließ er sich auf Vorhaben, Machenschaften und Intrigen ein, die ihm das große Geld einbringen würden, wie er glaubte. Es ist unwahrscheinlich, dass Disraeli bei irgend­ einem dieser Projekte etwas verdiente, er sorgte allerdings dafür, dass Pyne, Austen und die anderen den Eindruck bekamen, er hätte seine Schäfchen schon ins Trockene gebracht. Die Not brachte ihn zur Literatur zurück und bewirkte, dass er zwei weitere Romane herausbrachte. Er beendete die Arbeit an Henrietta Temple und schloss das zwei Jahre zuvor, im Herbst 1836, begonnene Werk ab. Den ersten Teil hatte er nie-

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dergeschrieben, als er in seine Henrietta verliebt war, die späteren Passagen lassen auf ihre Trennung schließen. In finanzieller Hinsicht war Henrietta Temple Disraelis erfolgreichstes Buch seit Vivian Grey. Gleich im Anschluss schrieb er ein weiteres, Venetia, derweil er mit D’Orsay und Lady Blessington in ihrem palast­artigen neuen Haus in Kensington Gore wohnte. Venetia, eine erfundene Geschichte über Byron, dessen Tochter Ada und Shelley, hatte keinen solchen Erfolg. Einen Sitz im Unterhaus – Disraeli brauchte ihn mehr denn je; er brauchte ihn, um nicht mehr das Gefühl zu haben, in einer Sackgasse festzustecken, um auf einer neuen Bühne agieren zu können und um sich vor seinen Gläubigern zu retten. Er versuchte, sich bei Peel beliebt zu machen, wobei er sich jedoch im Privaten häufig kritisch über ihn äußerte. In den Runnymede-Briefen wandte er sich mit folgenden Worten an ihn: „Einzig Ihre Ritterlichkeit lässt uns hoffen. Treten Sie in der Rüstung ihrer glänzenden Begabungen und ihres makellosen Charakters vor uns hin, so sind wir gewiss, dass Sie das unnatürliche und unnationale Scheusal [die radikale Bewegung] überwältigen werden“. In einem Brief an seine Schwester kommentiert er die von Peel im Januar 1838 in Glasgow gehaltene Hauptrede: „in ihrer ganzen Art scheint sie mir feierlich und kitschig zugleich; er kann sich nicht aufschwingen, und seine Bemühungen, Fantasie und Gefühl anzusprechen, sind eine Beleidigung für jeden Menschen mit Geschmack und Feinsinn.“46 Der von Disraeli bei jeder Gelegenheit voller Überzeugung vorhergesagte Zusammenbruch der Melbourne-Regierung blieb vorerst aus. Die Thronbesteigung Königin Viktorias ermöglichte es ihm schließlich, sich den lang ersehnten Sitz zu ver­schaffen. Das Gesetz verlangte, dass das Parlament bei jedem neuen Herrscher aufgelöst wird. Viktorias Thronbesteigung allerdings – wenngleich sie Disraeli in die Lage versetzte, ins Unterhaus einzuziehen – verlängerte die Amtszeit der Melbourne-Regierung und sorgte dafür, dass der Whig-Premierminister für eine gewisse Zeit unerhört einflussreich war, weil er der jungen Königin als ihr Vertrauter und Berater zur Seite stand. Disraelis Briefe aus den Tagen nach der Thronbesteigung verraten etwas von der atemberaubenden Spannung, derweil er mit der Entscheidung rang, welchen Sitz er anstreben sollte. Er entschloss sich, um Maidstone zu kämpfen, an der Seite von Wyndham Lewis, dem wohlhabenden Gatten der Frau, die er als „Flirt und Schwätzerin“ tituliert und vor Jahren zu Tisch geführt hatte. Vermutlich war sie dabei behilflich, ihren Mann zu überzeugen, Disraeli an seine Seite zu nehmen, anstatt eine der Gestalten, die auf der Suche nach einem Sitz um den Carlton Club herumschlichen. Die Hoffnung, Maidstone kampflos zu erobern, sollte sich nicht erfüllen, denn ein Radikaler Kandidat, Oberst Peronnet Thompson, ein Miteigner der Westminster Review, stürzte sich ins Getümmel. Man nannte ihn den ‚Bonaparte des Freihandels‘. Der von Wyndham Lewis’ Einfluss und Geld getragene Disraeli schaffte es sicher ins Ziel: auf Lewis entfielen 707 Stimmen, auf Disraeli 616 und Thompson erhielt 412. Viele von denen, die zuvor für Lewis votiert hatten, entschieden sich mit ihrer zweiten Stimme für Disraeli, aus dem im Laufe der Zeit ein guter Wahlkämpfer geworden war. Von den Rufen ‚Lumpensammler‘ und ‚Wucherer‘ ließ er sich nicht aus der Fassung

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bringen; in Unruhe versetzte ihn jedoch, dass ihm eine gerichtliche Zahlungsaufforderung zugestellt werden könnte. Die Angriffe auf das neue Armengesetz, dessen Unbeliebtheit damals ihren Höhepunkt erreicht hatte, spielten in Disraelis Wahlkampf eine bedeutende Rolle. Er rief den Wählern nicht ins Gedächtnis zurück, dass Peel ihm vor drei Jahren, als es erlassen worden war, zugestimmt hatte. Sarah schrieb er: „Mir scheint, dass Stärke und Grundbesitz der Stadtgemeinden uns zugute kommen, und der Widerstand gegen die Armengesetze macht uns bei den Massen beliebt.“47 Disraeli war fasziniert von der Idee, eine Tory-Aristokratie mit der Demokratie zusammenzubringen, und ließ kaum eine Gelegenheit aus, auf sie zu sprechen zu kommen. Es liegt nahe, Disraelis Einzug ins Parlament und in Verbindung damit seine Heirat, die unmittelbar bevorstand – und die mit dem Beginn der Regentschaft einer neuen Königin zusammenfielen –, als einen Wendepunkt in seinem Leben anzusehen. Mochten die Mythenmacher der fernen Zukunft seinen Aufstieg auch immer wieder als Märchen erzählen, Außergewöhnliches hatte er bis dahin nicht geleistet. Pitt war mit 24 Premierminister geworden, Napoleon war 26, als er Italien eroberte. Disraeli, der Sohn eines namhaften und wohlhabenden Autors mit schönem Landhaus, war noch immer der aufstrebende junge Mann, der sich eine ganze Menge Schrammen geholt hatte. Es gab nichts, wofür sich unser byronesker Held schämte, aber die Welt im Allgemeinen und selbst sein eigener Vater brachten nicht immer die gleiche Nachsicht auf. D’Orsay hatte ihm in einer frühen Version von Franglais ans Herz gelegt, er solle seinem Vater „l’Etendue de votre Scrape“ (seine Schrammen) eingestehen. Seine lebhafte und brillante Fantasie würde ihn dazu verleiten können, so D’Orsay mahnend, Luftschlösser zu bauen. „Tout cela est bel et bon pour les Wonderful Tales of Alroy mais pour la Maté­ rielle vie de l’Angleterre le positif bat l’imaginaire.“ (Das alles ist vielleicht schön und gut für „Alroys Wundersame Erzählungen“, aber für das wahre Leben in England würde dies nur zu Scheingefechten führen.) Darauf erwiderte Disraeli: „Ich stimme Dir voll und ganz zu, was die Fantasie angeht, über die zu verfügen, ich als das Schlimmste ansehe, was einem Menschen widerfahren kann. Indes, ich bin noch jung genug, um aus mir einen Geschäftsmann und Geizkragen zu machen; und dann wird alles in Ordnung sein.“48 Seine Fantasie und Vorstellungskraft waren es freilich, die ihm sein poli­tisches Fortkommen ermöglichen werden.

2. Politik und häusliches Leben (1837–1841) Disraeli war überzeugt, dass er das Parlament eines Tages beherrschen würde, doch dieser Tag stand noch aus. Er war nach wie vor der extravagant gekleidete, dandyhafte Lebemann, der einen brillanten Konversationsstil pflegte, dem er durch selbstbewusst vorgetragenen Sarkasmus die besondere Würze verlieh. Als politischer Streiter und Polemiker bediente er sich wie viele andere auch der beleidigenden Übertreibung, die man damals allerdings – möglicherweise zu seinem Glück – nicht allzu wörtlich oder ernst nahm. Wenn Speichelleckerei verlangt war, vermochte Disraeli dieser Gepflogenheit mit der gleichen Hemmungslosigkeit nachzukommen. In den feinen Tory-Kreisen war er nun zwar anerkannt, ganz ernst nahm man ihn dort jedoch nicht. Lady Salisbury, die erste Ehefrau des zweiten Marquis, traf ihn 1837 bei den Londonderrys und notierte in ihr Tagebuch: „Ich bin ihm nie zuvor begegnet. Dass er Jude ist, ist unverkennbar; wenn er redete, erinnerte er mich so sehr an Lord Lyndhurst, dass man hätte meinen können, er sei es selbst. Disraeli ist ganz offensichtlich sehr klug, aber äußerst unfein.“1 ­Henrietta kam kurz zurück als eine Art Heimsuchung. „Während der Wahl ereignete sich die schreck­liche Katastrophe mit Henrietta, genau ein Jahr nachdem wir auseinander gegangen waren“, schrieb er in sein Tagebuchfragment. Sir ­Francis war hinter ihr Verhältnis mit Maclise gekommen und hatte gedroht, eine Ehebruchsklage anzustrengen. Disraeli war möglicherweise in diese Angelegenheit verwickelt, denn angeblich flossen 2.000 Pfd. aus Henriettas finanziellen Mitteln in seine Tasche. Es kam zu keinem Prozess, doch Henrietta wurde ihres Zuhauses verwiesen und von ihren Kindern getrennt. Im darauffolgenden Jahr bemühte sich Lyndhurst darum, eine Sorgerechtsgesetz einzubringen, das in Henriettas und Caroline N ­ ortons Falle greifen würde, das allerdings nicht verabschiedet wurde. Disraeli war über seine Parlamentsmitgliedschaft hocherfreut: „Mir geht es sehr gut; ich fange an, meine neue Karriere zu genießen, mit der man doch gleich im Ansehen seiner Freunde steigt, wie ich finde. Ich kann es kaum fassen“, schrieb er am 10. August 1837 an seine Schwester.2 Als im Herbst die parlamentarische Sitzungsperiode begann, schmeichelte sich Disraeli, dass Peel ihm jetzt ein besonderes Wohlwollen entgegenbrächte. Er wurde vom Tory-Führer zu einem HouseDinner eingeladen: „all unsere großen Männer, und dazu Lord Ramsey [der spätere Lord Dalhousie, ein Generalgouverneur von Indien] und ich, die beiden einzigen Neumitglieder. Was bei dem einen oder anderen für Missgunst und Überraschung sorgte; W[yndham] L[ewis] aber ist entzückt und sagt, Peel habe ihn ‚ganz betont bei der Hand genommen‘“.3

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Einen für seine Verhältnisse ungewöhnlich bescheidenen Auftritt hatte Disraeli, als am 5. Dezember 1837 eine die Gemeindebeamten betreffende Gesetzesvorlage debattiert wurde, die die Quäker und die islamischen Almoraviden von der Notwendigkeit, den Eid zu leisten, entbinden sollte. Eine Anweisung an das Gremium, den Gesetzesentwurf zu erweitern und die Entbindung auf alle Konfessionen auszu­ dehnen, warf die lange schwelende Frage nach der Benachteiligung der Juden auf. Zehn Jahre später wird Disraeli auf bekannt mutige Weise zur ‚Juden-Frage‘ Stellung beziehen, aber diesmal hielt er sich bedeckt. Sarah schrieb er: „hörte der Debatte zu, die über einen Nebenpfad auf die Judenfrage hinauslief. Niemand warf einen Blick auf mich und ich fühlte mich nicht unwohl, doch als es zur Wahl kam, tat ich es mit äußerster Selbstbeherrschung und Kaltblütigkeit der Mehrheit (von nur zwölf Stimmen) gleich.“4 Hier wird uns ein flüchtiger Blick darein gewährt, wie die Familie Disraeli sich gegenüber ihrem Judentum verhielt, gegenüber diesem Etwas, das sie wie eine schwere Fußfessel mit sich herumtragen musste. Doch ihre Art, mit dem Problem umzugehen, passte nicht zu Benjamin und seinem Temperament. Von ein paar Anlässen abgesehen, wie dem eben genannten, bemühte er sich trotzig darum, das Kainsmal in ein Merkmal der Rassenüberlegenheit zu verwandeln. Dann kam der 7. Dezember und mit ihm das Fiasko seiner Jungfernrede, eine der berühmtesten in der Geschichte des Parlaments. Sein Einstieg in das Problem der Wahlkorruption in Irland war äußerst gewagt und eignete sich wegen der Brisanz des Themas denkbar schlecht für eine Jungfernrede. Es war ganz typisch für Disraeli, dass er sich Aufmerksamkeit und Anerkennung durch aus der Reihe fallende anstößige und angriffslustige Beiträge zu verschaffen suchte. Seit der Unterhauswahl im letzten Juli waren die Whigs mehr als je zuvor auf O’Connell angewiesen, und die politischen Leidenschaften entzündeten sich an dieser Abhängigkeit mehr als an vielen anderen Dingen. Bei dem zur Diskussion stehenden Thema handelte es sich um eine Reihe von Ungültigkeitspetitionen zur Irlandwahl, die nach Ansicht der irischen Parlamentsmitglieder aus Geldern der Protestanten finanziert wurde. Nach den Reformen von 1829 und 1832, die zur Abschaffung des auf der Höhe der Pachteinnahmen (mindestens 40 Shilling) beruhenden Wahlrechts in Irland geführt hatten, waren nur noch sehr wenige und noch dazu korruptionsanfällige Wahlberechtigte übrig geblieben. Der herausgeputzte ­Disraeli, der das stutzerhafte Betragen an den Tag legte, für das er berüchtigt war, trat geradewegs in ein Hornissennest. Er hatte noch nicht lange gestanden, da konnte er sich gegen das Buhen und Pfeifen der irischen Abgeordneten und der Radikalen kaum mehr Gehör verschaffen. Er versuchte fortzufahren und solange zu reden, wie er sich vorgenommen hatte, schließlich aber musste er es aufgeben und brüllte die berühmten Schlussworte: „Ich setze mich jetzt, doch die Zeit wird kommen, da werden Sie mich anhören.“ Es war vielleicht ganz gut, dass man ihn nicht anhörte, nicht hörte, denn mit seinem heftigen und vertrackten Sarkasmus hätte er sich noch mehr zum Narren gemacht. Er war sich seines Fehlschlags bewusst und ausnahmsweise einmal bereit, das seiner Schwester gegenüber zuzugeben: „Ich erkläre hiermit, dass mein début ein Misserfolg war, dass ich bisher keine Mög-

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lichkeit gefunden habe, zu sagen, was ich sagen wollte; der Misserfolg rührte aber nicht daher, dass ich schlappmachte oder mich in irgendeiner Weise als untüchtig erwies, sondern er war den Leibeskräften meiner Gegner geschuldet. Du machst Dir kein Bild, wie hämisch sie waren, wie streitsüchtig sie sich gebärdet und wie unfair sie sich verhalten haben.“5 Die Unfairness des Ganzen trug ihm ein gewisses Wohlwollen vonseiten Peels, Chandos’ und anderer ein. Greville, der ihm nie wohlgesinnt war, hielt in seinem Tagebuch fest: „D’Israeli gab heute Abend seine erste Vorstellung. Er begann blumenreich selbstsicher, verfiel jedoch rasch in lächerlichen Aberwitz und ging schließlich in einem anschwellenden Strom von Lachsalven unter.“6 Stanley, der nach ihm sprach, sparte sich die üblichen Kom­ plimente. Er hatte starke Vorurteile gegen den Mann, mit dem das Schicksal ihn später eng verbinden wird. Diese Empfindungen rührten vermutlich von einem Vorfall her, der sich sechs Jahre zuvor zugetragen hatte, als Disraeli gerade von seinen Reisen zurückgekehrt war, zusammen mit Henry Stanley, Edwards jüngerem Bruder. Der war ein Verschwender, der in London untertauchte, statt seinem Vater einzugestehen, dass er sich verschuldet hatte. Die Familie trat an Disraeli mit der Bitte heran, er möge bei der Suche nach Henry behilflich sein, doch Edward argwöhnte, dass es in Wahrheit Disraeli war, der Henry mit Effie Bond, einem berüchtigten Geldverleiher und Inhaber einer ‚Spielhölle‘ in St. James, bekannt gemacht hatte. Edward brachte es auf, dass eine solche Gestalt wie Disraeli etwas über die schmutzige Wäsche der erhabenen Derby-Familie erfahren würde. In den Runnymede-Briefen hatte Disraeli Stanley über die Maßen gelobt, privat aber erwiderte er dessen Abneigung. Schon bald aber respektierten sich die beiden: „Er war überaus zuvorkommend und darüber hinaus – sogar interessiert“, teilte er seiner Schwester am 20. Februar 1839 brieflich mit.7 In der Tat wirkte Stanley in diesen Tagen beschwichtigend auf die konservative Partei ein. Peel war es wichtiger, ihn und Graham ausdrücklich in den Tory-Schoß aufzunehmen, als den Whigs die Zügel der Regierung vor der Zeit zu entreißen. Disraeli jedenfalls wurde bald nüchterner, was die von ihm verfolgten Taktiken im Parlament anging. Richard Lalor Sheil, ein führender irischer Unterhäusler, riet ihm zu kurzen und langweiligen Reden: „Zitieren Sie Personen, führen Sie Zeitangaben, Rechenbeispiele an. Und schon sehr bald wird das Haus sich nach dem Witz und nach der Beredsamkeit sehnen, für die Sie bekannt sind; die Abgeordneten werden Sie ermuntern, ihnen genau das zu geben, und dann wird Ihnen das Haus Gehör schenken und Sie werden beliebt sein.“8 Diesen Rat wird ­Disraeli beherzigen. Wirklich eingeschüchtert aber war er nicht. Er schrieb Lady Caroline Maxse, mit der und deren Ehemann er gelegentlich seine Zeit verbrachte und zu Abend aß: „Ich muss wieder in diesen lärmenden Tumult, das House of C ­ ommons. Ich kann nicht sagen, dass sie mich dort sonderlich gut behandelt hätten, als ich den finsteren Ort mit einer Fackel betrat, aber für Krach und Radau bin ich zu haben; und um was es auch gehen mag: widersteht und widerspricht man mir nicht, fühle ich mich nicht angespornt und bringe ich nichts zustande.“9 Zehn Tage nach seiner Jungfernrede mischte er sich in einer Sache ein, die nicht für den Nah-

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kampf der Parteien taugte und bei der er sich als ausgewiesener Fachmann darstellen konnte. Der Rechtsanwalt und spätere Richter Thomas Talfourd bemühte sich um die Annahme eines Gesetzentwurfs zum besseren Schutz des Urheberrechts der Autoren. Disraeli war auf eine fast schon kindische Weise entzückt, als er seine Schwester davon in Kenntnis setzte, dass Talfourd ihn lobend erwähnt und von dem „exzellenten Vorschlag des ehrenwerten Abgeordneten für Maidstone“ gesprochen und hinzugefügt hatte, dass dieser selbst „eine der größten Zierden ist, die wir in unserer modernen Literatur haben“ – und dass Peel zu Talfourds Worten Beifall geklatscht hatte, ließ ihn vollends frohlocken.10 Disraeli äußerte sich et­liche Male zum Urheberrecht, stets mit guter Resonanz, und er brachte mehrere Änderungsvorschläge zu diesem Gesetzentwurf ein. Sachlich-nüchtern präsentierte er sich auch bei seiner nächsten, gewichtigeren Intervention am 16. März 1838, als er die Korngesetze verteidigte. Zwei Tage vorher war Wyndham Lewis plötzlich gestorben, der vor den Augen seiner Frau einen Zusammenbruch erlitten hatte und von seinem Stuhl gefallen war. Jetzt stand zu erwarten, dass Lewis’ Nachlassverwalter Disraeli unter Druck setzen werden, seine Außenstände zu begleichen, die bei der Maidstone-Wahl angefallen waren. Die Sache wurde bald so bedrängend, dass er sich eine weitere Schramme holte. Im Anschluss an die durch Wyndham Lewis’ Tod notwendig gewordene Nachwahl wurde eine Petition eingebracht. Disraeli wurde bezichtigt, dass er zugesagt hätte, die Wähler bei der Wahl im letzten Juli zu bestechen, und dass er seine Schulden nicht bezahlt hätte. Er ging zum Gegenangriff über und veröffentlichte einen Brief in der Morning Post, worin er Charles Austin, den Anwalt im Petitionsverfahren, der diese Anschuldigungen erhoben hatte, beschuldigte, bewusst Unwahrheiten verbreitet zu haben. Austin reichte eine Verleumdungsklage ein, doch Disraeli kam ungestraft davon, indem er sich im November 1838 auf etwas verschwommene Weise entschuldigte. Zu diesem Zeitpunkt war seine Brautwerbung um Mrs. Wyndham Lewis bereits in vollem Gange. Zu Lebzeiten ihres Gatten hatte er auf freundschaftlichem Fuß mit ihr ge­standen und sie ein wenig angeflirtet. Sie ihrerseits hatte lange schon ein Auge auf ihn geworfen und ihrem Bruder im Anschluss an die Wahl geschrieben: „Streiche Dir an, was ich prophezeie – Mr. Disraeli wird schon in wenigen Jahren einer der bedeutendsten Männer seiner Zeit sein.“11 Der Tod ihres Gatten rief unvermeidlicherweise all die vielen Männer auf den Plan, die sich ständig nach einer lohnenden Partie umsehen, und die nun meinten, bei ihr würde es sich um eine solche handeln. In Wahrheit aber war sie finanziell nicht so gut gestellt, wie die Allgemeinheit in Anbetracht des enormen Reichtums von Wyndham Lewis vermutete. Ihr blieb nur der lebenslange Nießbrauch an seinen Anwesen, was ihr ein jährliches Einkommen von 5.000 Pfd. sicherte, und ein schönes Haus am Grosvenor Gate, an der Park Lane, von wo aus sie den Hyde Park überblicken konnte. Schon bald begann Disraeli um sie zu werben. Ihn drängte es jetzt mehr als je zuvor, eine passende Frau zu finden. Wegen der unsicheren Lage der Melbourne-

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Regierung musste man jederzeit damit rechnen, dass das Parlament ein weiteres Mal aufgelöst wird. ­Disraeli wollte zwar, dass das geschieht, und er haderte mit Peels Zaghaftigkeit in diesem Punkt. Doch ohne Wyndham Lewis würde er Maidstone wohl kaum erneut erobern können, und dann wäre er wieder an seinem Ausgangspunkt angelangt und seinen Gläubigern ausgeliefert. Er brauchte einen sicheren Hafen, und in Bradenham konnte er nun wirklich nicht länger sein. Einer jungen Erbin dürfte er zu diesem Zeitpunkt schwerlich als attraktives Angebot zu vermitteln sein – zumindest der gängigen Auffassung der Vergangenheit nach zu urteilen. Es stand zu befürchten, dass er seine Erwartungen würde dämpfen müssen, sei es nun in der Liebe, in der Literatur oder in der Politik, auch wenn er sich das so nicht ein­gestanden hätte. Mary Anne war zwölf Jahre älter als er; sie kam 1792 zur Welt, behauptete aber, 1796 geboren zu sein. Sie stammte aus den soliden bäuerlichen Verhältnissen Devonshires; ihr Vater war Oberleutnant bei der Marine und als er starb, hatte sie ihr drittes Lebensjahr noch nicht vollendet. Sie stand mit den Vineys, einer Familie der Grafschaft, in Verbindung, doch ihr wurde nur eine recht dürftige Erziehung zuteil und sie war ziemlich ungebildet. Durch ihre Heirat (1815) mit Wyndham Lewis, dessen Geld aus den Dowlais Eisenwerken in Wales stammte, hatte sie mit der eleganten Welt Londons Bekanntschaft gemacht. Ihr gesunder Menschenverstand, ihre Wärme und ihre reizvolle unprätentiöse Art hatten ihr dabei geholfen, sich zu behaupten. Es ist gut möglich, dass das ursprüngliche Motiv für Disraelis Heiratsantrag Geld war, doch er wollte auch eine Frau, die ihm die Sicherheit bedingungsloser Liebe zu geben vermochte. Immer aufs Neue hatte er sich nach einer älteren Frau umgesehen, nach einer Mutterfigur, die willens ist, ihn auf seinem Schrein freimütig und bedingungslos anzubeten. Er wäre nicht der Romantiker gewesen, der er war, hätte er sich nicht beizeiten selbst glauben gemacht, dass er verliebt ist. Seine Briefe umfassen die ganze Klaviatur der großen Gefühle, die eine romantische Liebe braucht – von der ekstatischen Verzückung bis zur dumpfen Verzweiflung: „Ich bin liebestoll. Meine Leidenschaft grenzt an Raserei. Die Aussicht darauf, dass wir uns ganz bald sehen, überwältigt und bezaubert mich. Meine Tage und Nächte sind ein einziger seltsamer und faszinierender Taumel.“12 Auf ihr Ansehen bedacht, hielt sie ihn zumindest solange von sich fern, bis ein Jahr seit dem Tod ihres Ehemannes vergangen war. Sie wäre im Ansehen noch tiefer gesunken, hätte man in ihm den gedungenen Gigolo einer reichen Witwe gesehen. Im Februar 1839 versuchte er, ihr das Jawort zu entreißen, es kam zum Streit über einen Geldbetrag, den sie ihm im Zusammenhang mit der Maidstone-Affäre geliehen hatte, und sie warf ihn aus dem Haus. Er schrieb ihr einen langen wilden Brief in dem verzweifelten Bemühen, sie umzustimmen. Als ich meine ersten Annäherungsversuche bei Dir machte, ließ ich mich nicht von romantischen Gefühlen leiten. […] Ich meinerseits, der ich am Anfang meiner Berufslaufbahn stehe, sehnte mich nach dem Trost eines Zuhauses & schrecke vor all den quälenden Leidenschaften der Intrige zurück. Ich habe ihn wohl bemerkt, den weltlichen Gewinn, den ein solcher Heiratsbund mit sich bringen würde, doch ich hatte schon den Beweis angetre-

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ten, dass mein Herz nicht käuflich ist. Ich fand Dich, und Du warst in Trauer, & das rührte dieses Herz. Ich fand Dich, wie mich dünkte, liebenswert, liebevoll & doch scharfsinnig & von außergewöhnlichem Geist – eine Frau, auf die ich mit Stolz als meine Lebenspartnerin blicken könnte, die an all meinen Vorhaben und Gefühlen Anteil nehmen, mir Trost zusprechen könnte, wenn ich niedergeschlagen bin, die mit mir die Stunde meines Triumphs teilen & mit mir auf unsere Ehre & auf unser Glück hinwirken könnte.

Und er schließt: Lebe wohl. Ich werde mich nicht befleißigen, Dir Glück zu wünschen, da Du von Natur aus nicht verstehst, es Dir zu verschaffen. Du kannst noch einige Jahre mit Albernheiten und Frivolitäten zubringen. Aber die Zeit wird kommen, da Du Dich nach einem Herzen sehnst und die Hoffnung fahren lässt auf eines, das treu sein kann. Dann kommt die Stunde der Ver­ geltung, in der Du büßen musst: dann wirst Du Dich meiner mit Reue, Bewunderung und Verzweiflung erinnern; dann wirst Du Dir das leidenschaftliche Herz ins Gedächtnis zurückrufen, das Du verwirkt hast, und das Genie, das Du verraten hast.13

Sie schrieb zurück: „Um Gottes willen, komm zu mir. Mir geht es schlecht, ich bin schier verstört. Ich werde Deinen Vorstellungen entsprechen. Ich wollte gar nicht, dass Du das Haus verlässt, und das Geld spielt keine Rolle, ich habe mit keinem Wort daran gedacht.“14 Sie wurden am 28. August 1839 in der St. George Church am Hanover Square getraut, nach dem Ende der Sitzungsperiode. Unter den wenigen Gästen befand sich neben Bulwer auch Lyndhurst, der der Trauzeuge war. Sie führten eine sehr glückliche und erfolgreiche Ehe, ungeachtet der gelegentlichen Stürme, die vor allem aufgrund seiner Schulden aufzogen, deren wahres Ausmaß sie nie erfuhr. Dieser Bund gab ihm genau die Sicherheit, die er brauchte, und dafür war er immer dankbar. Mary Anne lag zweifellos ganz richtig mit dem, was sie später einmal sagte: „Dizzy heiratete mich meines Geldes wegen, hätte er jedoch erneut die Gelegenheit, würde er mich aus Liebe heiraten.“ Das wichtigste der Motive, die Disraeli für eine Ehe hatte, war die Sorge um seine politische Karriere. Doch auch wenn er sich als opportunistischer Taktierer zeigte und stets nach der besten Gelegenheit schielte, lässt sich dahinter schwerlich eine Strategie erkennen, die er konsequent verfolgt hätte. Wenn sich die Gelegenheit bot, bedachte er Peel nach wie vor mit den überschwänglichsten Schmeicheleien, aber für die mangelnde Bereitschaft seines Chefs, die Melbourne-Regierung zu stürzen, brachte er kein Verständnis auf. Wie Peel an die exekutiven und administrativen Regierungsangelegenheiten heranging, war ihm fremd. Disraeli sah in der parlamentarischen Arena ein Schlachtfeld, auf dem zum Zwecke der Schwächung des Feindes alle denkbaren befristeten Allianzen zustande kommen können. Er war ein nicht mehr ganz junger Mann, dem die Zeit im Nacken saß. Dennoch hielt er weiterhin begierig Ausschau nach irgendwelchen Zeichen der Gunst vonseiten Peels und bauschte die Bedeutung kleiner Gesten auf. Er berichtete von einem Abendessen bei Peel, das nicht recht in die Gänge kommen wollte: „Ich verschaffte mir einen Überblick über die am Tisch Anwesenden und brachte sie zum Reden. Mit der Zeit wurden sie sogar richtig gesprächig. Ich glaube, Peel war es ganz angenehm, dass ich dieser fürchterlichen Stille ein Ende gemacht habe, da er sich ziemlich

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lange mit mir unterhielt, obwohl wir weit entfernt saßen; er hatte in der Mitte des Tisches Platz genommen.“15 In Wirklichkeit ist es unwahrscheinlich, dass Peel sich sonderlich für ihn interessierte oder mehr in ihm sah als eine politische Randfigur. In einer Zeit, in der die strenge Parteidisziplin eher die Ausnahme als die Regel war, sprach wiederum nichts dagegen, dass Disraeli in der einen oder anderen Sache eine unabhängige Position vertrat. Dass er die Korngesetze am 16. März 1838 befürwortete, in seiner ersten größeren Rede nach dem Fiasko mit der Jungfernrede, war genau genommen eine ganz orthodoxe Handlung. Genau die hätte man von jemandem erwartet, der als ein Freund von Lord Chandos galt. Disraeli war auf diversen Abendessen der Agrarverbände erschienen, insbesondere in seinem Heimatbezirk Buckingham, wo Chandos eine treibende Kraft war. Diese Verbände sollten bald eine Gegenbewegung zu der 1838 ins Leben gerufenen Anti-Korngesetz-Liga bilden. Ein Jahr später, im März 1839, richtete er sich in seiner Rede gegen die Irish Municipal Corporations Bill. Der Melbourne-Regierung war es während der letzten drei Jahre nicht gelungen, das Gegenstück zur englischen ­Municipal Corporations Bill im Parlament durchzusetzen. Peel und Stanley stimmten der Bill für Irland 1839 grundsätzlich zu. Irland konnte nicht ewig eine Sonderstellung innehaben und anders behandelt werden als der Rest des Landes, selbst wenn das dazu führen könnte, dass die irischen Stadtgemeinden von unzufriedenen Katholiken dominiert würden. Disraelis Rede enthält einen Satz, der gelegentlich heute noch zitiert wird: „In England, wo die Gesellschaft stark war, wurde eine schwache Regierung toleriert; in Irland aber, wo die Gesellschaft schwach ist, sollte eine starke Regierung angestrebt werden.“16 Disraeli hatte diese Fähigkeit, Formulierungen zu finden, die die Dinge auf den Punkt bringen und haften bleiben, und die man heute politische Slogans nennen würde. In derselben Sitzungsperiode fand eine Debatte zu Lord John Russells Vorschlag statt, dauerhaft einen Ausschuss des Geheimen Rats einzurichten, der die staatliche Erziehungsförderung beaufsichtigt. Der Zuschuss, der sich bei ihrer Einführung 1833 auf 20.000 Pfd. belief, wurde auf 30.000 Pfd. erhöht. Eine sehr wichtige Entwicklung nahm hier ihren Anfang; bald jedoch kam es zu konfes­ sionellen Rivalitäten, die die Ausweitung der staatlichen Maßnahmen im 19. Jahrhundert und auch später noch beeinträchtigt haben. Disraeli opponierte nicht aus sektiererischen Gründen gegen den Vorschlag, sondern weil er die Auffassung vertrat, dass autoritäres Regieren und staatliche Erziehung Hand in Hand gingen. Beispiele von China bis Russland anführend, erklärte er: „Man hat festgestellt, dass die beste Möglichkeit, unbedingten Gehorsam zu sichern, darin besteht, mit der Tyrannei in der Kinderstube zu beginnen. […] Man war von jeher der Ansicht, dass der Einzelne stark und die Regierung schwach sein sollte, und dass man mit der Verringerung der Pflichten des Bürgers unweigerlich die Rechte des Untertanen aufs Spiel setzt. […] Das gleiche System, das unter dem Deckmantel der Erziehung in der Kinderstube eine Zwangsherrschaft ausübte, würde […] die Betagten innerhalb der verhassten Wände einschließen, unter dem fadenscheinigen Vorwand, das sei eine kostensparende Maßnahme.“17 In seinen Reden wandte er

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sich immer aufs Neue gegen das Armengesetz und gegen die Zentralisierung, die mit ihm einherging. Mittlerweile hatten sich die meisten Gutsbesitzer, denen Disraeli ansonsten seine Unterstützung gewährte, mit dem neuen Armengesetz angefreundet und goutierten es als billigere Lösung. Das neue Armengesetz war ein Grund dafür, dass er in der bemerkenswertesten seiner Reden im Laufe dieser Jahre dafür warb, den Chartisten Verständnis ent­gegenzubringen. Er hielt diese Rede am 12. Juli 1839 in der Debatte auf Antrag Thomas Attwoods, des Führers der Birmingham Political Union, die National ­Petition der Chartisten zu beraten, die dem Unterhaus zwei Monate zuvor in einer feierlichen Prozession übergeben worden war. Die Volksbewegung der Chartisten wollte einen sofortigen Übergang in die volle Demokratie, mit allgemeinem Wahlrecht und jährlichen Parlamentswahlen. Für die meisten Mitglieder der politischen Klasse, selbst für die meisten Radikalen, war das indiskutabel. Daher weigerten sich die beiden vorderen Abgeordnetenbänke gemeinschaftlich, die Petition der Chartisten, obwohl sie von Tausenden unterzeichnet worden war, überhaupt zur Debatte zu stellen. Disraeli sprach also, wie er Mary Anne schrieb, „in einer Situation größter Benachteiligung; denn weil man auf der Seite der Konserva­tiven davon ausging, dass die Debatte zum Chartismus auf eine Auseinandersetzung zwischen den Whigs und den Radikalen hinausläuft, waren nur sehr wenige der Tory-Abgeordneten anwesend, um mich zu unterstützen, derweil sämtliche Minister ihre Plätze eingenommen hatten und die Regierungsbänke voll besetzt waren.“18 Er brachte vor, dass es sich bei dem Gegenstand der Debatte um ein Mittelding „zwischen Ökonomie und Politik“ handelt, und behauptete, dass man durch die Weigerung, die Petition zur Debatte zu stellen, die Grundrechte der Menschen verletzt habe. Er [Disraeli] war keiner von denen, die die People’s Charter, wie man sie nennt, dem neuen Armengesetz zuordnen; gleichwohl glaubte er, dass es zwischen den beiden eine enge Verbindung gibt […] die alte Verfassung basierte auf einem einleuchtenden Prinzip, was auf die aktuelle nicht zutrifft. Die frühere erkannte einem kleinen Teil der Nation politische Rechte zu. Diese Rechte wurden dieser schmalen Schicht unter einer Bedingungen eingeräumt – dass die ihr angehörenden Personen die Grundrechte der großen Mehrheit schützen. Allein bedeutende Pflichten konnten einen hohen sozialen Rang rechtfertigen; die neue Schicht aber, der ein hoher politischer Rang zuerkannt worden ist, ist nicht mit den Massen dadurch verbunden worden, dass ihr die Wahrnehmung der Pflichten gegenüber der Gesellschaft auferlegt wurde. […] Die aus der neuen Schicht erhoben ein Geschrei, dass sie das Regieren nichts kosten oder abverlangen dürfe. […] Sie lehrten die Mittellosen, bei fernen und be­ soldeten Beamten Hilfe in ihrer Not zu suchen, anstatt bei ihren Nachbarn.“19

Das war klassisch Disraeli. Ein paar Jahre später noch war er so stolz auf diese Rede, dass er sich ihrer in Sybil als „äußerst bemerkenswert“ und „im eigent­ lichen Sinne demokratisch“20 erinnert. Inzwischen beherrschte er es meisterlich, sich als glänzenden Akteur der jüngeren und auch der weiter zurückliegenden Geschichte darzustellen und sie für seine Philosophie fruchtbar zu machen. Und diese seine Philosophie deckte sich nicht mit der Peels oder des Tamworth-Manifests. Peel zielte auf eine moderat-konservative Blockbildung, von der sich alle bedeu-

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tenden Männer sowie die gewerbliche Mittelschicht ebenso angezogen fühlen sollten wie der Landadel und die Aristokratie. Einige Jahre später schrieb Disraeli in Coningsby: „Das Manifest von Tamworth – 1834 – war ein Versuch, eine Partei ohne Prinzipien aufzubauen; dieser Versuch gründete notwendigerweise im Latitudinarianismus [theologische Richtung in der anglikanischen Kirche, die für Versöhnlichkeit und Toleranz eintrat und den praktischen Charakter des Christentums betonte], in politischer Freigeisterei; und er konnte nur die politische Untreue zur Folge haben.“21 Disraeli rechnete damit, dass sich die Landbesitzer und die mittellosen Massen, die in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zueinander standen, zusammentun würden. Peel stellte realistische Berechnungen für die unmittelbare Zukunft an, Disraeli dachte in größeren Zeiträumen. Es war nicht so, dass Disraeli glaubte, die Charter würde umgesetzt oder sollte umgesetzt werden. In einer Rede aus Anlass eines Misstrauensantrags im Januar 1840 wies er die Chartisten warnend darauf hin, „dass es in einem so aristokratischen Land wie England sogar mit dem Hochverrat ohne den Adel nichts wird“.22 Er blieb jedoch dabei, dass man begreifen müsse, worum es den Chartisten geht, statt sie einfach zurückzudrängen. 1839 bildete er zusammen mit den namhaften Radikalen John Fielden (dem Arbeiterschutzgesetz-Reformer), Tom Duncombe, John Leader und Thomas Wakley eine fünf Mann starke Minderheit, die sich gegen eine Vorauszahlung an die Verwaltungsbehörde von Birmingham sperrte, die damit einen Polizeiapparat aufbauen wollte, um der Unruhen in der Stadt Herr werden zu können. Disraeli bestand darauf, dass zuerst untersucht werden müsse, worin die Ursachen für die aufrührerische Stimmung zu sehen sind. Sarah schrieb er: „Ich habe den Entschluss gefasst – auch auf die Gefahr hin, damit auf unserer Seite allein zu stehen –, mich jeder anti-aufrührischen Maßnahme entgegenzustellen, die die Regierung durchzuführen gedenkt. Mag sein, dass solche Maßnahmen notwendig sind, um das Mindeste zu sagen, die Whigs aber sollten nicht zu ihnen Zuflucht nehmen dürfen – sie sollten abtreten.“23 Im Jahr 1840 kritisierte er die Behandlung der eingesperrten Chartisten und behauptete, dass es „kein Land in Europa gab, und sogar in Sibirien keines, in dem eine solche Strafe verhängt worden war.“ Zusammen mit John Fielden brachte er einen Antrag auf Untersuchung der Vorgänge ein, bei denen Fabrikin­ spektoren als „politische Spione“ eingesetzt wurden. Im Zusammenhang mit einem Abänderungsentwurf zum Armengesetz griff er dieses Gesetz 1841 abermals an, insbesondere seine Zentralisierungstendenz und die allgegenwärtigen brutalen Bedingungen in den Arbeitshäusern. Die sogenannten workhouses waren durch das Gesetz von 1834 zum Zwecke der ausschließlichen ‚Konzentrierung‘ der Armenhilfe auf diese Einrichtungen etabliert worden. In ihnen mussten daher hinreichend schlechte Bedingungen vorherrschen, d. h. der Mindestlohn, den man außerhalb von ihnen verdienen konnte, durfte nicht erreicht werden (the less-eligibility principle). Die workhouses waren bei der arbeitenden Bevölkerung verhasst und einer der Hauptgründe dafür, dass es zu beinah revolutionären Bewegungen wie dem Chartismus kam. Dickens Roman Oliver Twist ist wohl die bekannteste Anklage gegen das System der Arbeitshäuser. Disraeli schreckte also nicht davor zurück, mit Radikalen, Tory-Radikalen und außerparlamentarischen Kampagnen gegen das Ar-

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mengesetz und für Arbeiterschutzgesetze in Verbindung gebracht zu werden. Bei anderen Gelegenheiten brachte er der Whigregierung wirkungsvolle Schläge bei, und wann immer sich die Möglichkeit bot, rühmte er Peel in den höchsten Tönen. Durch die Heirat verbesserten sich Disraelis Karriereaussichten insofern, als er nun mit Mary Anne eine Gastgeberin an seiner Seite hatte, mit der zusammen er in einer prächtigen Park-Lane-Villa empfangen konnte. Das war ein Ausgleich dafür, dass er in einigen Salons (wie dem von Lady Londonderry) eine gewisse Zeit lang nicht willkommen war, jetzt, da er sich an eine Frau gebunden hatte, in der die Ladies ausdrücklich eine bourgeoise sahen. Schon im Februar 1840 hatte Mary Anne 60 Parlamentsmitglieder zum Dinner eingeladen und 40 waren erschienen. Mit diesen Bemühungen trieben die Klatschblätter ihren grausamen Spott: „Hat es je einen derart dreisten, arbeitsscheuen jüdischen Halunken gegeben wie diesen Kerl, diesen D’Israeli? ‚Ma shon Pen‘ [Mein Sohn Ben], wie sein alter Herr zu sagen pflegte, ist nun wer, fraglos!“24 Mit Mary Anne am Arm erschien er in dem großen Landhaus Stowe, wo sein Freund Chandos (nunmehr der zweite Duke of Buckingham), zu Ehren der Königinwitwe Adelaide einen Ball veranstaltete. Buckingham war noch viel stärker verschuldet als Disraeli und steuerte ein paar Jahre später auf den Bankrott zu. Die von Disraeli sehnsüchtig herbeigesehnte Parlamentsauflösung würde seine finanzielle Situation wieder prekär werden lassen, denn zum damaligen Zeitpunkt hatten sich seine Schulden auf rund 25.000 Pfd. aufsummiert – ein ungeheurer Betrag, der aus den exorbitant hohen Zinsen resultierte, die all die Jahre anfielen, zumal seitdem die Schulden vom Gericht als ‚Vollstreckungsschulden‘ anerkannt worden waren. Selbst wenn sein Vater und Mary Anne ihr wahres Ausmaß erfahren hätten, wären sie nicht in der Lage gewesen, vollständig für sie aufzukommen. Im Oktober 1840 gab es „einen schrecklichen Hausnotstand“, als am Grosvenor Gate in seiner Abwesenheit eine gerichtliche Zahlungsaufforderung eintraf. Da war er gerade dabei, seine finanziellen Angelegenheiten in neue Hände zu legen und G. S. Ford mit ihnen zu betrauen, einen Londoner Juristen, dessen Schreiben die Krise daheim ausgelöst hatte. Ford setzte Mary Annes Darlehen ein, die wahrscheinlich alles in allem 13.000 Pfd. für ihren Mann aufwendete. Ein Brief an sie, den Benjamin im Februar 1842 schrieb, lässt vermuten, dass sie Papiere unterzeichnete, damit Ford einen Vorschuss in Höhe von 5.000 Pfund zu 5 Prozent gewährt. Der Brief endet: „Mein süßer, süßer Schatz – verzweifle nicht. Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Ich bin sehr mitgenommen – doch ich liebe Dich – von ganzem Herzen & mit ganzer Seele, so wie Du mich liebst.“25 Zu der Zeit war Mary Anne in Bradenham, und wohl ohne ihr Wissen (und dass trotz der Liebeserklärungen) wurden am Grosvenor Gate ein Inventarvon aus Möbel­stücken und Wertgegenständen für Ford zusammengestellt. Da wundert es nicht, dass Mary Anne eifersüchtig war, als sie entdeckte, dass Sarah über einige Geheimnisse ihres Mannes nach wie vor besser Bescheid wusste als sie selbst. Er musste seine Schwester dazu bewegen, manche ihrer Briefe an den Carlton Club zu adressieren, damit Mary Anne sie nicht zu Gesicht bekam; zum Leidwesen seiner Biographen verlor seine Korrespondenz mit Sarah an Intensität, sie war nun weniger lebendig und ließ nicht mehr so tief blicken.

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In der Zwischenzeit war der große politische Umbruch gekommen, der Regierungswechsel von 1841, der auch in Disraeli politischer Laufbahn einen Einschnitt markiert. Im Entwurf zum Haushaltsplan schlug die Regierung vor, kleine Schritte in Richtung Freihandel zu machen, sie wurde jedoch durch eine Mehrheit von 36 Stimmen überstimmt. Daraufhin brachte Peel einen Misstrauensantrag gegen die Regierung ein, aus welchem Anlass Disraeli am 27. Mai 1841 eine effektvolle Rede hielt: Die gegenwärtig im Amt befindlichen Diener Ihrer Majestät blicken auf einen einmaligen Werdegang zurück; angefangen haben sie mit der Umgestaltung des House of Commons und mit der Herabsetzung des House of Lords; dann haben sie Hand an die Kirche gelegt – als nächstes dann an die Kolonialverfassungen; im Weiteren zogen sie gegen die Stadt­ gemeinden zu Felde, griffen die Reichen wie die Armen an, und jetzt, da sie ihren letzten Zuckungen liegen, führen sie mit einemmal Krieg gegen die kolonialen, die geschäftlichen und gegen die landwirtschaftlichen Interessen und Anliegen.26

Das war bester ‚Vernichtungs‘-Stil und obendrauf packte er noch eine weitere schmeichlerische Lobhudelei für Peel. Nachdem Melbourne mit einer Stimme unterlegen war, beantragte er die Auflösung des Parlaments. Disraeli sah sich schon seit einiger Zeit nach einem neuen Wahlkreis um, und er entschied sich auf An­raten seines Freundes Lord Forester für Shrewsbury, da dieser dort über einen gewissen Einfluss verfügte. Shrewsbury war ein Borough mit zwei Sitzen, die seit 1837 stets unter Liberalen und Konservativen aufgeteilt worden waren. ­Disraeli trat die Reise dorthin zusammen mit Mary Anne an, die ihn nicht nur so gut es ging mit Geld unterstützte, sondern auch unermüdlich Wahlwerbung für ihn machte. Die Wähler ließen sich von ihrer Heiterkeit und ihrem Mut beeindrucken. Disraeli selbst sah sich den üblichen Angriffen ausgesetzt, es hieß, er sei ein jüdischer Hochstapler und Abenteuer und politisch unzuverlässig. Ein Mann kam mit einem Karren vorgefahren, der von einem Esel, einem ‚Jerusalemer Pony‘, gezogen wurde, um Disraeli in die heilige Stadt zurückzubefördern. Ernster nehmen musste er da schon die Flugblätter, die in der ganzen Stadt verteilt wurden, und die ein ziemlich genaues Bild von seinen Schulden vermittelten und von den Zahlungsaufforderungen gegen ihn. Darauf hieß es weiter: „Rechtschaffene Wähler von Shrewsbury! Wollen Sie von einem solchen Mann repräsentiert werden? Kann man ihm und seinen Zusagen Vertrauen entgegenbringen? Seien Sie gewarnt: Ihren Brüdern in Maidstone darf er nicht mehr unter die Augen treten. Einen Platz im Parlament will er nur, weil er hofft, auf diese Weise um das Unabänderliche herumzukommen: einen Gefängnisaufenthalt.“27 In seinem Dementi behauptete Disraeli, dass es sich bei vielen der gerichtlichen Zahlungsaufforderungen um Kreditsicherheiten handelte, die er für einen „edlen Freund“ hinterlegt hätte, und dass diese Transaktionen mittlerweile geregelt seien. Es stimmt zwar, dass er dem klammen und noch unbedachteren D’Orsay einst mit einer zusätzlichen Sicherheit beigesprungen war, dennoch nahm Disraeli es hier mit der Wahrheit nicht allzu genau. Diese Vorgänge verhinderten nicht, dass er am 30. Juni gewählt wurde, mit nur acht Stimmen weniger als das arrivierte Tory-Mitglied Tomline und mit 180 Vorsprung auf den bestplat-

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zierten Liberalen. Wie sich herausstellte, fuhren die Konserva­tiven bei den Wahlen im ganzen Land einen großen Sieg ein; es war das erste Mal, dass die Wähler sich eindeutig gegen die Minister der Königin wandten, die den Urnengang angeordnet hatte. Als das neue Parlament zusammentrat, brachten die Konservativen einen Änderungsvorschlag zur Regierungserklärung ein, der in den Morgenstunden mit einer Mehrheit von 360 zu 269 angenommen wurde. Diese Mehrheit von knapp 90 Stimmen zeigt die Ausmaße von Peels Vormachtstellung, und sie ermöglichte es ihm, die gesamte Legislaturperiode über im Amt zu bleiben. Am 30. August fand sich Peel bei der Königin zur Antrittsaudienz ein. Viktoria hatte Prinz Albert im Februar 1840 geehelicht. Er hatte alles gut vorbereitet für den Regierungswechsel, und Peel bildete umgehend sein Kabinett. Es gab keine Neuauflage der Schlafgemach-Krise von vor zwei Jahren, als Peel aufgrund der Weigerung der Königin, Tory-Kammerfrauen anzustellen, auf die Regierungsbildung verzichtet hatte. Die höheren Ämter wurden der Königin am 31. August vorgestellt, die kleineren Posten am 3. September. Als der erwartete Brief vom neuen Premierminister ausblieb, verzweifelte Disraeli. Er schrieb Mary Anne aus dem Carlton, mutmaßlich am Donnerstag den 2. September: „Meine Liebe Polsy, ich kann in diesem infernalischen Club nicht bleiben und werde mich für einen Tapetenwechsel ins Crockfords [einen Londoner Gentlemens-Club] begeben.“28 Am Abend des 4. September schrieb Mary Anne – womöglich mit Wissen ihres Gatten – an Sir Robert, mit dessen Schwester sie freundschaftlich verbunden war: „Ich flehe Sie an, mir meines Eindringens wegen nicht zu zürnen, aber Sorge und Unruhe peinigen mich. Die politische Karriere meines Ehemannes ist für alle Zeit verloren, wenn Sie ihn nicht zu würdigen wissen“, und sie legte ihm nahe, Erkundigungen anzustellen: „Man wird Ihnen in Maidstone sagen können, dass allein auf meinen Einfluss hin mehr als 40.000 Pfd. aufgewendet worden sind.“ Am darauffolgenden Tag griff Disraeli selbst zur Feder und verfasste den berühmten Brief, in dem sich nach der üblichen Erklärung, er wolle ihn nicht „mit Forderungen [behelligen], die denen gleichen, von denen Sie gelangweilt sein müssen“, die folgende Passage findet: „Mein Fall hat etwas Besonderes an sich, das ich nicht stillschweigend auf sich beruhen lassen kann. Von dem Augenblick an, da ich mich auf Betreiben eines Ihrer Kabinettsmitglieder unter Ihre Fahne begab, sah ich mich genötigt, gegen einen Sturm politischer Feindseligkeit und Bosheit anzukämpfen, wie ihn wenige Männer je ertragen mussten […].“ Peel, der diese Passage bewusst missverstand, sagte in seiner Erwiderung vom 7. September, er hätte „nie eine Kommunikation der Art, die Sie erwähnen, autorisiert“. Disraeli schrieb am folgenden Tag zurück, er habe keineswegs „zu verstehen geben wollen, dass irgendein Mitglied Ihres Kabinetts mir zu irgendeinem Zeitpunkt offiziell einen Posten zugesichert hatte“.29 Am 6. September hatte er seiner Schwester bereits brieflich mitgeteilt: Es ist aus; und es würde mich niederdrücken, wäre da nicht der Heroismus Mary Annes, die nie müde wird, sich mit ihrer unbeschreiblichen Zärtlichkeit und Hingabe in meinen Dienst zu stellen. Ich muss und sollte mich eigentlich über jede weltliche Demütigung damit hinwegtrösten, dass ich eine solche Frau mein eigen weiß – nun war es allerdings vornehmlich

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2. Politik und häusliches Leben (1837–1841) ihrer Ehre wegen, dass ich nach dieser nunmehr vereitelten Würde trachtete. Ich kann nicht sagen, dass mein Paradies eine Traumwelt war, denn ich teilte es mit einem klugen Menschen – Ly[ndhurs]t war wie benommen von der Katastrophe; war ich immer schon zuversichtlich und hatte mir allerlei ausgerechnet, so er noch mehr.30

Bekanntermaßen strotzen die Dokumente der Politiker des 19. Jahrhunderts nur so vor Schmeicheleien und Bittgesuchen. Indem Disraeli und seine Frau sich brieflich an Peel wandten, taten sie nichts Ungewöhnliches; falls Disraeli jedoch allen Ernstes davon ausging, dass Peel ihn in Amt und Würden bringt, dann lebte er in einer Traumwelt. Nichts spricht dafür, dass Peel je in Erwägung zog, Disraeli ein Regierungsamt zu übertragen. Und es gibt keinen Grund, warum er das hätte tun sollen. Es wurde viel geschrieben über diese berühmte Zurückweisung, wenn man diesen Vorgang überhaupt so nennen kann. George Smythe, mit dem Disraeli damals bereits befreundet war, behauptete später, dass die Tadpoles und die Tapers, die Intriganten in Peels Entourage, Leute vom Schlage Crockers und Bonhams, in dieser Angelegenheit aktiv wurden. Sir Philip Rose, Disraelis Vertrauensmann und Testamentsvollstrecker, wiederum meint, Stanley habe sich eingeschaltet. Er soll Peel gegenüber gesagt haben, dass „er [Stanley] sich zurückziehen würde, wenn er den Halunken aufnimmt“.31 Solche Erklärungen sind überflüssig. Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, dass Peel und Disraeli durch eine Kluft getrennt waren, auch wenn sie an der Oberfläche einen freundlichen Umgang miteinander pflegten. Peel hätte nichts davon gehabt, diese eigenwillige Figur in seine Regierung einzubinden. Weder die Gunst von Lyndhurst oder Buckingham noch die ganz unterschiedlichen Affinitäten zu Oastler, Sadler oder Fielden (die für den Arbeiterschutz eintraten) dürften in Peels Augen Empfehlungen gewesen sein. Lyndhurst und Buckingham musste er in sein Kabinett aufnehmen, und er tat es ohne sonderliche Begeisterung; den beiden aber wäre es aufgrund ihres zu geringen Einflusses nicht möglich gewesen, die Aufnahme ihres Protégés zu erreichen, selbst wenn sie die Absicht dazu gehabt hätten. Kurz bevor Peel Premierminister wurde, hatte Disraeli einen neuerlichen Beweis für seine Unzuverlässigkeit geliefert. In der Times war unter dem Pseudonym Psittacus ein Brief erschienen, der sich gegen den Parlamentssprecher Shaw-Lefevre richtete, den Peel im Amt belassen wollte. Psittacus warnte Peel, er werde die zweite Sitzungsperiode nicht als Minister erleben, sollte Shaw-Lefevre auch im neuen Parlament als dessen Sprecher fungieren. Eine Reihe unzufriedener Hinterbänkler, die meisten vom rechten Parteiflügel, riefen diese Umtriebe hervor und wurden dabei von Lyndhurst und Buckingham unterstützt. Der Verdacht kam auf, dass sich Disraeli hinter dem Pseudonym verbirgt, was der aber in einem Brief an Peel abstritt; wirklich überzeugend ist sein Dementi allerdings nicht. Peel hatte folglich einen unmittelbaren Grund, ihm kein Amt zu übertragen. Man kennt den alten Trick: Wer auf eine politische Beförderung aus ist, macht sich zum Ärgernis. Zu einem wirklichen Ärgernis brachte es Disraeli aber nicht, dazu fehlte es ihm an Gewicht, er war bloß ein fremd und befremdlich anmutender Störenfried. So oder so ähnlich muss Peel gedacht haben, wenn er überhaupt einen Gedanken in diese Richtung verschwendete.

3. Jung-England (1841–1845) Nichts ist entmutigender für einen politisch ambitionierten Mann, als ein Hinterbänklerdasein zu führen und keine Hoffnung auf ein Amt in einer Regierungspartei zu haben, die über eine große Mehrheit verfügt. So lagen die Dinge für Disraeli, nachdem Peel ihn unberücksichtigt gelassen hatte. Er konnte nicht einmal auf die Sicherheit seines Sitzes vertrauen, denn es war eine Petition eingereicht worden mit dem Ziel, ihn und Tomline in Shrewsbury abzusetzen. Hätte die Erfolg gehabt, Disraeli wäre von seinem Schuldenberg wie von einer Lawine erdrückt worden, und selbst Mary Annes Geld hätte ihn nicht vor dem Gefängnis und der Schande bewahren können. Im Herbst 1841 verbrachten er und Mary Anne fast drei Monate in Caen mit „Herumstreichen“, wie er es nannte; das war eine Flucht vor dem Scheitern und der Enttäuschung, aber nicht minder eine Flucht vor seinen Gläubigern, die wieder Blut geleckt hatten. Zurück am Grosvenor Gate für die erste Plenarsitzung des neuen Parlaments im Februar 1842, fühlte Disraeli den ganzen Ernst seiner Lage. Seine Anstrengungen, sich über Wasser zu halten, waren jetzt mit den höchsten Gefahren verbunden, derweil Mary Anne sich in Bradenham beunruhigte. Er schrieb ihr: „Du kannst Dir nicht vorstellen, wie deutlich ich es empfinde, dass ich im Abseits bin, wie vollkommen isoliert ich mich fühle. Vor dem Regierungswechsel war die Partei ein Band zwischen Männern, jetzt aber ist sie nur ein Band zwischen Männern im Amt. Und wer die Regierung unterstützt, ihr selbst jedoch nicht angehört und über keine Macht verfügt, der ist eine einsame Gestalt und kennt weder Hoffnung noch Furcht.“1 Zweifellos hatte er es auf das Mitgefühl seiner vielgeprüften Frau abgesehen, die er dazu gebracht hatte, Papiere zu unterzeichnen und damit ihr Vermögen zu belasten, indes er sie nach wie vor weniger in die Zusammenhänge einweihte als seine Schwester. Disraeli gestattete sich keine längeren Phasen der Mutlosigkeit. Seine Fähigkeit, Fehlschläge Fehlschläge sein zu lassen und zuversichtlich auf neue Triumphe zuzugehen, war legendär. Seine ausgeprägte Selbstbesessenheit machte aus dem Leiden an einer abweisenden und feindseligen Welt ein Sprungbrett für zukünftige Siege. Eine Zeit lang verhielt bzw. positionierte sich Disraeli im neuen Unterhaus ganz ähnlich wie vor der Enttäuschung wegen seiner Nichtberücksichtigung. Noch vor der Eröffnung des Parlaments durch die Königin war der Duke of Buckingham, sein Förderer und das nominelle Oberhaupt der Landwirtschaft, aus dem Kabinett zurückgetreten, weil Peel eine Neuregelung des Kornzolls vorgeschlagen hatte. Diese und die Wiedereinführung der Einkommensteuer stellten die Eckpunkte der

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Finanzpolitik der neuen Regierung dar. Disraeli war mehr denn je bestrebt, sich nicht unter den Unzufriedenen sehen zu lassen. Er schrieb an Mary Anne, dass es das – vorsätzlich gestreute – Gerücht gebe, er sei jetzt auch einer von ihnen, „die Wahrheit ist jedoch, dass ich mich mit Freemantle [dem Whip* der Konservativen] immer grundsätzlich einig wusste; oder zumindest die letzten Wochen; & ich bin mir sicher, die Regierung hatte oder vielmehr hat jetzt nicht den mindesten Zweifel daran, dass sie mit meiner Unterstützung rechnen kann. Jedenfalls war meine Anwesenheit bei den letzten Abstimmungen höchst politisch & notwendig.“2 Im Fortgang der Sitzungsperiode brachte er seine Unterstützung für bestimmte poli­ tische Projekte, wie etwa die bei vielen Tory-Hinterbänklern unbeliebte Wiedereinführung der Einkommensteuer, reserviert zum Ausdruck, und indem er Bedenken und Vorbehalte artikulierte, stellte er eine gewisse Unabhängigkeit unter Beweis. Doch Peel herauszufordern, den mächtigen Minister an der Spitze einer großen Mehrheit, war nicht angeraten. „Die Einkommensteuer, besser gesagt, die Eigentums- und Einkommensteuer, ist ein Paukenschlag – Peel kann sich im Moment jedoch alles erlauben“, schrieb er Mary Anne im März 1842.3 Unterdessen war er auch weiterhin im Unterhaus in Erscheinung getreten, denn er hatte einen Antrag zum Konsulatsdienst eingebracht und in diesem Zusammenhang eine Rede gehalten, die weit über zwei Stunden dauerte, und zwar ohne Notizen, dafür aber mit einer Fülle sorgfältig ausgewählter Zitate. In der Debatte kreuzte er die Klingen mit Palmerston: „Du bist einer der wenigen, die es mit Palmerston aufgenommen und den Sieg davon getragen haben“, sagte ihm ein Freund.4 Ein anderes Thema, dessen er sich annahm, war Afghanistan, und er verknüpfte es mit der strengen steuerrechtlichen Position, die die Wiedereinführung der Einkommensteuer notwendig machte. Wenn man bedenkt, welche Rolle Afghanistan am Ende seiner Laufbahn spielen sollte, war es eine Ironie seiner Geschichte, dass er den von der Melbourne-Regierung geführten ersten Afghanistankrieg als überflüssig geißelte. Er war im Begriff, aus sich eine Art Experten für Außenpolitik zu machen. Als er Peels Zollreformen im Mai 1842 verteidigte, tat er dies mit dem Argument, dass es Pitt und Shelburne waren, ihres Zeichens Torys, die eine Wirtschaftspolitik unter dem Zeichen des Freihandels begründeten, während Fox und die Whigs noch immer für Restriktionen plädierten. Der Earl of Liverpool hatte die Freihandelsprinzipien vorläufig außer Kraft gesetzt, durch Cannings politische Maßnahmen waren sie jedoch wieder in in Kraft gesetzt worden. Palmerston hatte es dann so weit gebracht, dass ein europäisches Land nach dem anderen Schranken errichtete und sich gegen Handelsabkommen aussprach. Im Augenblick war es nach wie vor ratsam und klug, Palmerston zu attackieren und nicht die Politik von Peels Regierung. Als die Sitzungsperiode im August 1842 zu Ende ging, war Disraeli immer noch so von Peel beeindruckt, dass er seiner Schwester schrieb: „Letzte Nacht hielt Peel die mit großem Abstand wirkungsvollste Rede, die ich je * whip, ursprünglich derjenige, der die Hunde beim Jagen zusammenpeitscht, dann der vom Parteiführer ernannte Parlamentarier, der für die Anwesenheit der Parteimitglieder bei Abstimmungen sorgt und zwischen Führern und Hinterbänkler vermittelt.

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von ihm hörte. Er vernichtete Palmerston, der gleich einem in höchster Erregung ungestüm setzenden Spieler all seine mühsam errungenen Gewinne des letzten Monats drangeben musste.“ Im selben Brief erwähnt er, dass Freemantle „mich nach Peels Rede gebeten hat, jedem bedeutenden Mann, der sich von den Oppositionsbänken erhob, eine passende Antwort zu geben“.5 Nur ein konformistischer Mitläufer wollte Disraeli jedoch nicht sein, das entsprach nicht seinem Naturell und befriedigte ihn nicht. Ein paar Wochen später begaben sich Disraeli und seine Gattin nach Paris, wo sie bis zum Beginn der nächsten Sitzungsperiode des Parlaments blieben (Januar 1843). Dass sie Grosvernor Gate abschlossen und nur für die Verpflegung der Bediensteten aufkamen, war vermutlich eine Sparmaßnahme. Durch das Einkommen seiner Frau war Disraeli finanziell stärker abgesichert, und es ist durchaus wahrscheinlich, dass sie über die Lage nun besser Bescheid wusste. Das Paar konnte sich in Paris also eines glänzenden gesellschaftlichen Lebens erfreuen, in dem D’Orsays Schwester, die Duchesse de Grammont, eine tragende Rolle spielte. In Paris waren auch zwei Männer mit ihren Ehefrauen, die er nun öfter sehen wird, Henry Hope und Anthony de Rothschild. Beide hatten so viel Geld, dass sie, wie er seiner Schwester mitteilte, die hundert Männer in Frankreich aufkaufen könnten, die über 10.000 Pfund im Jahr verfügten. Hope gehörte einer Bankiersfamilie mit holländischen Wurzeln an, in deren Haus in Deepdene die Disraelis sich nun häufig und länger aufhielten. Obgleich Disraeli nicht gerade übermäßig geblendet war von der französischen Aristokratie und deren prächtigen Titeln, schmeichelte ihm die Beachtung, die die Großen und Mächtigen der französischen Nation – Guizot, Thiers, Saint Beuve, um nur einige zu nennen – ihm und seiner Frau zuteil werden ließen. Am schmeichelhaftesten war eine Reihe von Privat­ audienzen, die ihm König Louis Philippe gewährte. Er verfasste ein bemerkenswertes Exposé für den Monarchen, in dem er eine Möglichkeit skizzierte, wie sich die britische Außenpolitik zugunsten einer engen Verbindung mit Frankreich beeinflussen ließe: Die Regierung Sir Robert Peels wird derzeit von einer nach außen hin geschlossenen Mehrheit von 90 Abgeordneten getragen. Man weiß, dass sich unter diesen 90 etwa 40 bis 50 unzufriedene Vertreter der Landwirtschaft befinden, die, wenn sie sich auch zu keiner aktiven Opposition bereit finden, häufig bei Debatten über solche Fragen fehlen, die zwar nicht von höchstem Interesse, dem Minister aber gefährlich werden könnten. Es liegt also auf der Hand, dass eine andere Gruppe konservativer Abgeordneter – jung, energiegeladen und jedes Mal anwesend –, ganz entschieden und unnachgiebig Einfluss darauf nehmen muss, welche Töne der Minister anschlägt. […] Wenn der Verfasser dieser Note erklärt, dass es möglich ist, solch eine Gruppe zu gründen, dann weiß er ganz genau, wovon er spricht. Es ist bereits ein Gentleman darum ersucht worden, sich an die Spitze einer Parlamentariergruppierung zu setzen, der – wie man allen Grund zu glauben hat – die gewünschte Außenpolitik auf englischer Seite umsetzen würde; die Rede ist von einer Parteiung der Jugend Englands.6

Disraeli übertrieb, wie so oft in seinem Leben. Dennoch aber hatte er während dieses Parisaufenthalts mit George Smythe und Alexander Baillie-Cochrane die

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Möglichkeit erörtert, in der kommenden Sitzungsperiode des Parlaments einheitlich abzustimmen. Zusammen mit Lord John Manners werden sie den Kern JungEnglands bilden. Der romantische Nationalismus brachte Jung-Italien, Jung-Irland hervor, und so drängte sich der Name ‚Jung-England‘ geradezu auf. 1838 wird ein Dining-Club namens ‚Jung-England‘ erwähnt, als dessen wichtigste Figur Richard ­Monckton Milnes galt, zu dessen Mitgliedern Disraeli allerdings nicht gehörte. Über ihn hieß es, er gehöre „zum Jungen Judentum, nicht zum Jungen England“.7 Smythe und Manners, die Cambridge-Studenten, verfielen dem Zauber Frederick F ­ abers, eines Oxforder Dozenten und Newman-Anhängers, der wie sein Vorbild zum Katholizismus konvertiert war (1838 während seiner Ferien, die er im Lake District mit Lesen zubrachte). Von Faber rührte der Hauch von Homoerotik her, der manche der Beziehungen innerhalb der Gruppe umgab. Durch den Einfluss, den ­Faber kraft seiner Predigten und Gedichte ausübte, fanden seine Unzufriedenheit mit der fortschreitenden Industrialisierung und Kommerzialisierung der Gesellschaft und seine Sorge um den „Zustand Englands“ ihren Niederschlag in einer unverkenn­baren Weltanschauung. Diese Weltanschauung war eine Reaktion auf die selbstsüchtige Gier und den Verlust des Gemeinschaftsgedankens in einer Gesellschaft, die zunehmend auf den Individualismus und den Markt setzte. Der Ansatz reduzierte sich jedoch an vielen Stellen auf das nostalgische Verlangen nach einer idealisierten Vergangenheit, die es so nie gegeben hat; gleichwohl aber war es im Wesentlichen derselbe Widerwille, derselbe Protest gegen die aktuellen Entwicklungen, der Schriftsteller von Carlyle bis Ruskin und William Morris antrieb. Und auch Disraeli hatte sich literarisch und politisch ähnlich geäußert. Die drei ‚Jung-Engländer‘ zogen ins Unterhaus ein: Smythe erkämpfte Canterbury in einer Nachwahl im Februar 1841; Manners war Gladstones Parlamentswahl-Partner in Newark; Baillie-Cochrane wurde in Bridport bei der Parlamentswahl zwar geschlagen, aufgrund einer Wahlanfechtung aber erhielt er den Sitz kurz danach. Unmittelbar bevor das Parlament 1842 zusammentrat, prahlte Disraeli seiner Schwester gegenüber: „Ich bin bereits der Parteiführer – vornehmlich der jungen Männer und der neuen Mitglieder –, und dafür musste ich mich nicht einmal anstrengen. Lord John Manners suchte mich wegen eines Antrags auf, den ich einbringen soll.“8 Jetzt, da er selbst nicht mehr ganz jung war und den Enttäuschungen seiner mittleren Jahre ins Auge sehen musste, befriedigte es ihn ersatzweise, aufstrebenden jungen Männern gegenüber die Mentorrolle zu bekleiden. Die Kombination aus blauem Blut, gutem Aussehen und einer gewissen Begabung übte einen beständigen Reiz auf ihn aus, wie auf viele andere auch, Gladstone eingeschlossen. George Smythe galt unter seinen Zeitgenossen als ein äußerst charismatischer junger Mann, doch bald schon verfiel er der Mondänität und dem Zynismus und wurde zu einem bon viveur und Frauenheld. Vielleicht sah Disraeli etwas von sich in Smythe oder das, was aus ihm hätte werden können, wäre er weniger diszipliniert und engagiert gewesen. Smythe ist in Disraelis spätem Roman Endymion als Waldershare porträtiert. Der vielversprechende junge Mann konnte die an ihn ge-

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stellten Erwartungen nie er­füllen; er starb 1857, noch keine vierzig Jahre alt. Er war der älteste Sohn von Lord Strangford, einem irischen Peer und angesehen Diplomaten, mit dem Disraeli eine Freundschaft verband. Lord John Manners, der zweite Sohn des 5. Duke of Rutland, verfügte über weniger Brillanz, dafür aber war seine würdevolle Ausstrahlung stärker ausgeprägt. Eton und das Trinity College in Cambridge hatten aus ihm einen Mann gemacht, dem fast einhellig Zuneigung entgegengebracht wurde. Auch der zwei Jahre ältere Baillie-Cochrane war ein Produkt von Eton und ­Trinity. In Coningsby fertigt Disraeli ein Porträt von Manners als Lord Henry Sydney, dem er ein „angenehmes Wesen“ attestiert; Cochrane wiederum lässt er in Gestalt von Buckhurst auftreten, einen „vergnügt im Überfluss“ lebenden Mann, dem alles „ohne Anstrengung zugefallen ist“. Cochrane machte nicht selten durch seine Ungereimtheiten und Widersprüchlichkeiten von sich reden, und der Morning Herald, ein Peel-nahes Organ, ließ sich vernehmen, dass der Blödsinn, der einem „aus Mr. Disraelis Romanen entgegentritt, in der ‚reizenden‘ Kopfhaut von Mr. Cochrane Zuflucht gesucht und gefunden hat“. Jung-Englands Männer sorgten jedenfalls dafür, dass über sie geschrieben und gesprochen wurde, was nicht zuletzt an Disraelis Verbindung mit ihnen lag; dennoch aber bildeten sie keine Partei im eigentlichen Sinne, und selbst die vier Kernmitglieder stimmten nicht immer einheitlich ab. Disraeli achtete darauf, dass er nicht zu sehr mit dem Kreis identifiziert wurde. Am Ende der Sitzungsperiode von 1843, als Jung-England Beachtung zu finden begann, hieß es im Morning ­Herald: „Mr. Smythe ist einer jener gewandten, feinen, dem Pauschalurteil zuneigenden Herren, die in Türpfosten ‚Prinzipien‘ erkennen. […] Lord John Manners […] sehnt sich heiß nach einem Strafford. […] Bei diesen beiden Gentlemen haben wir es mit den treibenden Kräften des Jungen England zu tun, und die Narretei selbst ist der politische Ableger des Traktarianismus. Das Ganze ist im Kern übergeschnappter Dandyismus.“9 Disraeli wollte nicht mit dem unpopulären und unter Romanisierungsverdacht stehenden Traktarianismus [der sogenannten Oxford Movement, die die anglikanische Kirche als die katholische Kirche von England ansah] in Verbindung gebracht werden, obwohl er sich mit seinen Gefolgsleuten vollkommen einig darüber war, dass die Kirche ihre geistliche Führungsrolle zurückgewinnen und der Allgemeinheit wieder als Mentor vorstehen muss. Die Roman-Trilogie enthält Passagen, in denen ihr Autor der Römischen Katholischen Kirche Achtung entgegenbringt. Der ernsthaft gesinnte Manners schrieb in sein Tagebuch: „Könnte ich mich doch nur davon überzeugen, dass D’Israeli all das, was er sagt, auch glaubt, wäre mir leichter ums Herz: seine historischen Ansichten sind ganz die meinen, aber meint er es ernst mit ihnen?“10 Der zynischere ­Smythe stellte fest: „Dizzys Bindung an die gemäßigte Oxford-Bewegung entspricht in etwa der Bonapartes an den Mohammedanismus.“11 Disraeli war wohl in beträchtlichem Maße von Manners beeinflusst, zumindest aber dachte er viel über die Religion und die Kirche nach. Gut möglich, dass seine sehr eigenwilligen Auffassungen von der Beziehung zwischen Judentum und Christentum, wie sie in der Trilogie festgehalten sind, es ihm ratsam erscheinen ließen, sich manche der

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Manners’schen Auffassungen zu Eigen zu machen – Ansichten und Empfindungen, wie sie etwa in dem Gedicht ‚England’s Trust‘ zum Ausdruck kommen. Darin gibt es ein Couplet, das immer wieder herangezogen wird, um Hohn und Spott über das Junge England auszugießen: Sollen doch Wohlstand und Handel, Recht und Bildung untergehen, wenn uns nur unser alter Hochadel erhalten bleibt!

Das Gedicht ist durchdrungen von nostalgischer Sentimentalität dieser Art. Im Vorwort der 1870 veröffentlichten Ausgabe seines Romans fasst Disraeli die Absichten, die Jung-England verfolgte, rückblickend, ganz zutreffend zu­sammen: die Oligarchie rückgängig machen und durch eine hochherzige Aristokratie ersetzen, die um einen wahren Thron versammelt ist; die Kirche mit neuem Leben und neuer Kraft erfüllen, damit sie wieder als Erzieher der Nation wirken kann; ein Handelsgesetz schaffen, auf der Grundlage der von Lord Bolingbroke in Utrecht ausgehandelten Prinzipien; dass Irland gemäß der Politik Charles I. regiert wird, und nicht der Oliver Cromwells; die politische Verfassung von 1832 von den Fesseln des Sektierertums und von aller kleingeistigen Gesinnung befreien; den körperlichen und den moralischen Zustand des Volkes heben, indem statuiert wird, dass die Arbeiter ebenso geschützt werden müssen wie der Besitz; und das alles, indem historische Formen zur Anwendung gelangen und die Vergangenheit in ihre alten Rechte eingesetzt wird, und nicht durch politische Revolutionen, die in abstrakten Ideen wurzeln.

Während der Sitzungsperiode von 1843 grummelte es in der Partei der Kon­ servativen: das Widerstreben gegen Peel und seine Herrschaft wurde größer. ­Disraeli blieb bei seiner generellen Unterstützung der Regierungspolitik und des Pragmatismus in der Handelspolitik. Als er einige Jahre später an der Spitze stand und seinen Gefolgsleuten den Protektionismus abzugewöhnen versuchte, konnte er mit gutem Recht behaupten, dass er in seiner Opposition gegen den Freihandel nie dogmatisch gewesen ist. Im Mai 1843 präsentierte er sich weiterhin als Verteidiger der Politik Peels. In Shrewsbury sagte er an seine Wählerschaft gewandt: „Sie sollten sich nicht wegen seiner Handlungen in der Vergangenheit von ihm abwenden; noch, weil Sie damit rechnen, dass er eine bestimmte Sache tun wird, wobei ich glaube, dass er sie nicht tun wird.“12 Er kann sich keine großen Hoffnungen gemacht haben, dass Peel ihn jetzt in Amt und Würden bringen würde, und so stand die Literatur wieder hoch im Kurs bei ihm. Bereits im vorigen November hatte ihn Smythe gedrängt, „etwas zu schreiben […] das von einem Riss in den Reihen der Regierung seinen Ausgang nimmt – oder eine Swift-artige Schilderung des Kabinetts – oder seiner Politik“.13 Wirklich schweres Geschütz fuhr er erstmals gegen Ende der Sitzungsperiode auf, als es um Irland ging. Das Jahr 1843 war eines der Jahre, in denen Aufruhr und Unruhe in Irland besonders groß waren, und diesmal verschärfte das Aufkommen des Nationalismus die Lage noch. Es war das Jahr von O’Connells riesigen Massenzusammenkünften. Auf diese reagierte Peel mit einer Mischung aus Härte – ein Gesetz über das Tragen von Waffen lieferte den unmittelbaren Anlass für ­Disraelis

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Rede – und ‚Friedensbotschaften‘, die ausgesendet wurden. Jung-England hatte bei ­Disraeli einen wirklichen Meinungsumschwung, was Irland anging, herbeigeführt; statt rassistische Schmähungen vorzubringen, wie bei seinen Auseinandersetzungen mit O’Connell, warb er nun für Verständnis und trat dafür ein, dass Irland nach den Prinzipien Charles I. regiert wird, nicht nach denen Oliver Cromwells. Smythe und Manners, die beide Verbindungen nach Irland hatten, waren schon zum Angriff übergegangen, nur um von Peel eine schroffe Abfuhr erteilt zu bekommen. Disraelis Attacke traf sein Ziel schwerer. Der Morning Chronicle beschrieb einen Peel, der bemüht war, „die Wirkung der Geißelung zu kaschieren, indem er emsig seine Nase rieb“; während Graham, der Staatssekretär des Inneren und Vorreiter in Sachen der Gesetzesvorlage zum Waffentragen, „bisweilen die Reihen musterte und in das Gesicht des Redners mit der Art von beklommenem Lächeln hinaufschaute, mit dem man mitunter den Eindruck zu erwecken sucht, dass man sich nicht nur wohlfühlt, sondern überaus amüsiert ist“.14 Eine Woche darauf zeigte sich Disraeli erneut angriffslustig; er rügte die Tatenlosigkeit der Regierung, die gegen die Einmischung Russlands in Serbien nichts unternommen habe und so zur Gefährdung des Osmanischen Reiches beitragen würde. Mit seinen Einlassungen lieferte er einen ersten Vorgeschmack auf die Politik, die er in den 1870er Jahren verfolgen wird, und dieses Mal machte er mit Palmerston gemeinsame Sache gegen Peel. Peels Erwiderung auf seine Anfrage zum Thema Serbien konterte Disraeli sarkastisch: „Es handelt sich um eine Anfrage, die meiner Meinung nach in der Sprache des Parlaments formuliert wurde und die ich mit allem Respekt vorgebracht habe, den ich für den sehr honorigen Gentleman empfinde, und auf die der sehr honorige Gentleman mit all der Deutlichkeit antwortete, die ihm zu Gebote steht, und mit all der Liebenswürdigkeit, die er ausschließlich seinen Unterstützern vorbehält.“15 Die Messer waren gezückt, und der Bruch zwischen der Regierung und Jung-England wurde ausgiebig diskutiert. In einem Brief an seine Schwester zitierte er mit Stolz den Morning Chronicle, wenn auch unvollständig: „Die Regierung ist so gedemütigt und gar nicht mehr sie selbst, dass JungEngland mit seinem mystischen Streitwagen – darauf Disraeli & seine zweifelhaften Kampfgefährten – über ihren am Boden liegenden Körper fährt“. Das Blatt hatte auch geschrieben, dass „es bei Jung-England einen gibt (der Autor von V. G. [Vivian Grey] etc.), der, wie wir sicher sind, glaubt, er sei sowohl William Pitt als auch William Shaespeare ebenbürtig“.16 Zwar wandte sich Disraeli nun der Literatur zu, die allerdings hatte eine poli­ tische Botschaft. Der im Herbst und Winter 1843/44 verfasste Coningsby ist ein Manifest des Jungen England und kann für sich in Anspruch nehmen, der erste politische Roman in englischer Sprache zu sein. Er enthält zudem eine ganze Menge Kritik an Peel und dem Peelismus, die oft bissig und sarkastisch, aber nur leicht boshaft ist. Es scheint daher, dass Sir Robert Peel von einem frühen Zeitpunkt an daran dachte, sich politisch zu emanzipieren und von Bündniszwängen freizumachen, und dass er in diesem Vorhaben fortgesetzt gebremst wurde. Er löste sich von Lord Liverpool; er zog sich von

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Genau eine solche ‚Emanzipation‘ wird Disraeli Peel zwei Jahre später in der Hauptsache vorwerfen und ihn damit zu Fall bringen. Coningsby wurde im Mai 1844 veröffentlicht. Bei der Abfassung des Romans war Disraeli stark von seinen Jung-England-Mitstreitern beeinflusst. Die zentrale Heldengestalt erweckt in vielem den Eindruck, dass es sich bei ihr um einen ernsthafteren Smythe handelt. Disraeli fühlte sich veranlasst, einen Glauben darzu­ legen und den Lesern eine Art Bildungsroman für eine ganze Nation an die Hand zu geben: Coningsby stellte fest, dass er in eine Zeit der allgemeinen Untreue hineingeboren wurde, und sein Herz sagte ihm, dass der Mangel an Glauben Ausdruck dafür ist, dass das Wesentliche fehlt. Mit seinem lebhaften Verstand aber konnte er sich nicht in den larmoyanten Glaubensersatz flüchten wie andere, die sich anstelle des Glaubens auf großspurige Theorien verlegten. Ihn verlangte es nach jener tiefen und bleibenden Überzeugung, die allein aus der Einheit von Herz und Verstand, Gefühl und Vernunft erwachsen kann. Er fragte sich, weshalb die Regierungen verhasst sind und die Religionen verächtlich abgetan werden. Weshalb die Loyalität tot und die Ehrehrbietung bloß eine galvanisierte Leiche ist.18

Da gibt es die merkwürdige Figur des Sidonia. Er „hatte alle Quellen des Wissens ausgeschöpft; was immer sich über eine Nation herausfinden ließ, er brachte es in Erfahrung, darin war er zur Meisterschaft gelangt. […] Kein Minister verfügte über solche Verbindungen zu Geheimagenten und politischen Spionen. […] Er war in Kontakt mit all den gerissenen Randexisten dieser Welt“. Sidonia ist eine Mischung aus Disraeli selbst und Lionel de Rothschild. Disraelis Beziehungen zur Rothschild-Familie waren eng geworden, sie nützten ihm und er glaubte zweifellos, dass dieses Porträt schmeicheln würde. Sidonia lässt er verkünden, dass die Rasse den Ausschlag gibt; in einem Brief an die Morning Post tritt er für eine gängige Klassifikation ein, die fünf Rassen voneinander abgrenzt: die kaukasische, die mongolische, die malayische, die amerikanische und die äthiopische. Die kau­ kasische Rasse stellt er als die überlegene dar und behauptet, die Juden würden die einzige reine und unvermischte kaukasische Rasse bilden: Eine reine Rasse wie die kaukasische kann nicht vernichtet werden. Das ist eine physio­ logische Tatsache; ein simples Naturgesetz. […] Kein Strafgesetz, keine Folter kann bewirken, dass eine überlegene Rasse in einer untergeordneten aufgeht oder durch sie zerstört wird. Die vermischten nachfolgenden Rassen verschwinden; die reine Rasse bleibt bestehen.19

Das wurde geschrieben, als sich der Rassenantisemitismus heutiger Prägung noch nicht abzuzeichnen begann, es könnte ihm jedoch durchaus ebenso als Vorlage dienen wie Disraelis gelegentliche Einlassungen zu jüdischen Weltverschwörungen und seine Behauptung, Juden hätten im Zentrum jeder irgend bedeut­samen Be­wegung oder Institution gestanden. Die Juden werden von ihm allerdings ge-

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gen den Vorwurf in Schutz genommen, dass „die ehemals loyalen Juden mit den Gleich­machern und den Latitudinaristen auf eine Stufe zu stellen“ sind.20 Dort kämen sie nur dann zu stehen, wenn die Gesellschaft und ihre einflussreichen Schichten die Juden vorsätzlich herabwürdigen. Wie so oft bei Disraeli weiß man nicht, wie wörtlich man ihn nehmen soll. Er hat stets klargemacht, dass keine seiner Figuren im engen Sinne einer Wirklichkeitsabbildung aufgefasst werden dürfe und dass das auch für seine Ideen und Ansichten gelte. Seine Literatur bewegt sich häufig in der Dimension des Ironischen, des Nicht-ganz-ernst-Gemeinten. Die Wahrheit bekommt man seiner Auffassung nach nicht rational zu fassen, sondern nur mit den schöpferischen Mitteln der Fantasie. Schreiben war für ihn eine Klarheit schaffende Übung. Und das wollte vereinbart sein mit seiner Rolle als Mentor und Vordenker einer Gruppe von Anhängern, während er selbst sich in einem schwankenden Zustand zwischen Skepsis und Glauben und von jeher im Niemandsland „zwischen dem Alten und dem Neuen Testament“ befand. Vielleicht weigerte sich Harriet Martineau nicht ganz zu unrecht, Coningsby zu lesen. Monckton Milnes teilte sie mit: „Ds Scharlatanerie erzürnt mich dermaßen, dass jegliches Vertrauen in seine Äußerungen von vornherein zerstört ist und ich mir nicht antun will, ihn zu lesen. Nie könnte ich einen Mann respektieren oder mögen, dem es keine Schmerzen verursacht, wenn er sich aus lauter Überheblichkeit und durch reine An­maßung lächerlich macht; und je genialer er ist, desto schlimmer.“21 Disraeli war immer schon schlecht auf jene zu sprechen, die sich als ernsthafte und vernünftige Menschen betrachteten. Intellektuelle fanden ihn immer schon zutiefst unsympathisch; er selbst war dem bloßen Verstand gegenüber ambivalent eingestellt. Die Bevorzugung des Verstandes zählte zu den kalten, befremdenden Eigenschaften, mit denen er Sidonia ausstattete. Menschen wiederum, denen es an Verstand und Geist mangelte, behandelte er verächtlich. Coningsby verkaufte sich gut, „um die 40 Exemplare pro Tag im Durchschnitt“, teilte er Sarah einen Monat nach der Veröffent­lichung mit. Die Sitzungsperiode von 1844 hatte mittlerweile begonnen, ohne dass D ­ israeli das übliche Rundschreiben des Parteiführers zugestellt worden war. Er verfasste einen Brief an Peel, worin er sein Verhalten in der letzten Sitzungsperiode verteidigte; der Premier schlug in seiner Antwort einen mäßig versöhnlichen Ton an. Disraeli war auch jetzt noch darauf bedacht, einen offenen Bruch zu vermeiden, und gegen Ende der ersten großen Debatte, erneut zu Irland, unterstützten die vier Jung-Engländer die Regierung bei der Abstimmung. Disraeli hielt in dieser Debatte eine große, denkwürdige Rede zur Lage Irlands, wobei er keine seiner Ansichten zurücknahm, die er in der letzten Sitzungsperiode geäußert hatte. Sie enthält die berühmte und oft zitierte Passage: „Diese in größter Not und dicht beieinander lebende Bevölkerung bewohnt eine Insel, auf der es eine Staats­kirche gibt, die nicht ihre angestammte Kirche ist, und einen Landadel, dessen begütertste Angehörige in weit entfernten Hauptstädten leben. Wir haben es also mit einer hungernden Bevölkerung zu tun, mit einem abwesenden Adel und mit einer fremden Kirche, und dazu noch mit der schwächsten Exekutive auf der Welt. Das

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ist die irische Frage.“ Peel beglückwünschte ihn zu „seiner sehr gelungenen Rede […] die nicht weniger dafür bewundert zu werden verdient, dass sie sich im Duktus von den üblichen parlamentarischen Reden abhob und umfassendere und allgemeinere Ansichten berührte“.22 Obwohl sich die wirtschaftliche Situation merklich verbessert hatte, kam die Regierung in eine schwierige Lage. Bei der Abstimmung über den Arbeiterschutz im Mai und der über die Zollsätze auf Zucker im Juni 1844 traten die Gegensätze im konservativen Lager deutlich zutage. Im Zusammenhang mit der Factory Bill sah sich die Regierung mit einem durch Lord Ahsley (später Lord Shaftesbury) eingebrachten Abänderungsvorschlag konfrontiert, die tägliche Arbeitszeit von Knaben auf zehn Stunden zu begrenzen; der Gesetzentwurf wurde jedoch mit neun Stimmen angenommen, unter großem Jubel und Hutgeschwenke auf den Tory-Bänken. Im Anschluss brachte die Regierung einen neuen Gesetzentwurf ein, und diesmal wurde Ashleys Vorschlag, weil die Whips mit der Peitsche geknallt hatten, durch eine große Mehrheit von 297 Stimmen gegenüber 159 abgelehnt. Zurück blieb ein allgemeiner Unmut. Disraeli und seine Freunde hatten durchweg Ashley unterstützt, und es schien, dass er fast zu ihrer Gruppe gehörte. Einen Monat später kam es zu einem ähnlichen Konflikt aus Anlass eines Vorschlags, den Zollsatz für den frei angebauten ausländischen Zucker beträchtlich und den für kolonialen Zucker weniger stark zu senken, um so die Begünstigung der Kolonien in dieser Sache wirksam einzudämmen. Einem Antrag darauf, die Kolonien noch stärker zu begünstigen, wurde gegen die Regierung mit einer 20-Stimmen-Mehrheit stattgegeben. Disraeli stimmte mit der Mehrheit gegen die Regierung. Peel drohte nun mit Rücktritt. Eine Versammlung von ungefähr 200 Tory-Abgeordneten verabschiedete im Carlton Club einen Antrag, worin das Gerücht, die Minister hätten die Absicht zurückzutreten, bedauert wird; man sei „sehr dafür, dass sie im Amt verbleiben“, behalte sich jedoch vor, „sie in vollem Umfang einer unabhängigen Beurteilung zu unterziehen“. Disraeli stimmte mit einigen anderen gegen diesen Antrag. Die Abstimmung im Unterhaus erbrachte diesmal eine 20-Stimmen-Mehrheit für die Regierung, es sah allerdings so aus, als ob Peel ernstlich geschwächt worden war. Disraeli hielt eine eindrückliche Rede in bester sarkastischer Manier. Peels Forderung, seine Gefolgsleute sollten ihre schon gegebene Stimme zurücknehmen, nannte er „entwürdigend“, und er legte ihm nahe, „sich dazu herabzulassen, etwas mehr Rücksicht auf die Gefühle seiner Leute zu nehmen“ und sie nicht „unberechtigterweise in den Schmutz zu ziehen“. Sollte es zu einer Auflösung kommen, würden es ihm, Disraeli, seine Wähler danken, dass er „der Drohung eines Ministers, innerhalb von 48 Stunden“ auf seine Linie einzuschwenken, standgehalten habe. Peel hatte die Sklaverei angeprangert und den mit Sklavenarbeit gewonnenen Zucker verdammt, seinen Hinterbänklern gegenüber verhielt er sich allerdings weniger skrupulös: „Dort wird die Sklavenkolonne noch versammelt, und dort hört man die Peitsche des Chefs noch knallen.“ Aus der Sicht eines Whigs, der von Sir John Cam Hobhouse, dem späteren Baron Broughton, stellte sich die Situation so dar: „Ein gewaltiger Jubel

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brandete auf; Peel, Stanley und Graham saßen inmitten des Beifalls vieler eigener Leute und der gesamten Opposition still und gequält da und ließen diese Zurechtweisung über sich ergehen. Nie sah ich sie so elend.“23 Hobhouse hatte am Abend zuvor an einem Abendessen bei den Lionel de Rothschilds teilgenommen, wo Disraeli auf führende Figuren der Whig-Opposition traf, darunter Russell und Lansdowne. Disraeli wird mit den Worten wiedergegeben, Peel sei „vollständig damit gescheitert, seine Partei zusammenzuhalten, und muss gehen, wenn nicht jetzt, so doch immerhin sehr bald“.24 Peel überlebte die Abstimmung mit einer Mehrheit von 22, selbst Gladstone aber war der Ansicht, dass „ein großer Mann einen großen Irrtum begangen hatte“. Peels Einschüchterungsversuche und das Knallen mit der Parteipeitsche hatten nicht bei vielen seiner Hinterbänkler Wirkung gezeigt und sie dazu bewogen, ihr Votum seinen Vorgaben anzupassen. Nur zwei taten das im Fall der Fabrik- bzw. Arbeiterschutzgesetze und vier in dem der Zucker-Zollsätze; gerettet wurde die Regierung durch einen Neuabgleich der Enthaltungs- und Befürwortungsstimmen. Ende August, als die Sitzungsperiode beendet war, begab sich Disraeli (diesmal ohne Mary Anne) nach Shrewsbury, um sich vor seinen Wählern zu verantworten. Er verwahrte sich gegen die Unterstellung, dass er Peel angegriffen habe, weil der ihm keinen Posten im Kabinett verschafft hatte. „Sir Robert Peel kennt mich viel zu gut, als dass er auch nur einen Augenblick glauben könnte, ich sei durch Geld in meinem Verhalten gefügig zu machen“, und mit dröhnender Stimme kam er zum Ende: „Ich stand zu [Peel] in schlechten Zeiten – in guten werde ich nicht sein Sklave sein“.25 Im Oktober 1844 statteten Disraeli, Smythe und Manners Manchester einen berühmten Besuch ab und sprachen im Athenäum. Disraeli und Mary Anne waren vor einem Jahr schon einmal dort gewesen, als er bei einer von Charles Dickens geleiteten Literaturveranstaltung in der Freihandelshalle eine Rede hielt. Er hatte Cobden, einen anderen Veranstaltungsredner, elegant gewürdigt. Als vulgär und oberflächlich hatte er das Vorurteil gegeißelt, „dass dem Handel und der Industrie das Vermögen abspricht, den schönen Erfindungen der Kunst und den poetischen Schöpfungen des menschlichen Geistes Verständnis entgegenzubringen“.26 Er zog Parallelen zu den großen Kunstmäzenen im Italien der Renaissance. In Coningsby lässt er den Helden die Stadt besuchen und ihre Bedeutung ergründen: In dieser beispiellosen Partnerschaft zwischen Kapital und Wissenschaft […] sah er eine wichtige Quelle des Wohlstands der Nationen, der diesen Zeiten vor­behalten worden war, und ihm ging auf, dass dieser Wohlstand zusehends die Schichten entstehen ließ, deren Macht in der Verfassungsordnung nur unvollkommen verstanden ist, und deren Pflichten im Gesellschaftsvertrag allem Anschein nach überhaupt ausgespart wurden.27

Den Vätern von Smythe und Manners gefiel es nicht, dass ihre Söhne unter ­ israelis Einfluss standen, und deren Widerstand gegen die Tory-Regierung beD reitete ihnen Unbehagen. Zunächst waren sie gegen den Besuch im Oktober, aber sie vergewisserten sich, dass sein Anlass bloß ein literarischer war. „Ich kenne Mr. Disraeli nicht von Angesicht, bringe jedoch ausschließlich seinen Talenten Achtung entgegen, mit denen er meiner Meinung nach Schindluder treibt“, schrieb

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der Duke of Rutland.28 Die Athenäum-Veranstaltung wurde von etwa 3.000 Leuten besucht, die vornehmlich der Mittelschicht angehörten und für eine Eintrittskarte (die zu zwei Eintritten berechtigte) fünf Shilling bezahlt hatten. Disraeli betonte in seiner Rede, wie wichtig es ist, dass die Arbeiterschaft sich bildet. „Das Wissen gleicht der geheimnisvollen Leiter im Traum des Stammvaters Jakob“, sagte er. Und fuhr fort: „Hätte man das Pflichtprinzip nicht aus den Augen verloren im Laufe der letzten 50 Jahre, hätten Sie nie etwas von den Klassen und Schichten gehört, in die England auseinanderfällt. […] Wir wollen dieser politischen und gesellschaftlichen Ausschließung ein Ende machen, von der wir glauben, dass sie das Land ins Verderben stürzt.“29 Manchester war ein Höhepunkt für Jung-England, namentlich für Smythe, dessen Rede die meiste Begeisterung hervorrief. Der Morning Chronicle schrieb: „Wir denken, dass Jung-England mit all dieser Arroganz, Coningsby-Attitüde und diesem närrischen Zeug über ‚die reine kaukasische Rasse‘ niemandem einen Dienst erwiesen hat und erweist, und dass es weitaus mehr erreichen kann, wenn es besser beraten und geführt wird.“30 Disraeli gab sich wohl nicht der Illusion hin, dass es seinem kleinen Trupp gelingen könnte, die Kräfteverhältnisse im Parlament grundlegend zu verschieben, und es scheint, als ob er vorhatte, sich in der nächsten Sitzungsperiode bedeckter zu halten. Er hatte sich nach Bradenham zurückgezogen, um an Sybil, seinem nächsten Roman, zu arbeiten; Manners schrieb er: „Ich stimme Dir zu: Es ist uns & unseren Freunden nicht nur das Angenehmste, wenn wir uns jetzt im Verborgenen halten, es ist im Moment auch das Klügste.“31 Mit Sybil setzte er ihren gemeinsamen Kampf auf seine Weise fort. Der Roman ist in sich weniger stimmig als Coningsby, und die ohnehin nicht sonderlich überzeugende Handlung findet ein abruptes und ziemlich unbefriedigendes Ende. Zum ersten Mal versucht sich Disraeli an Schilderungen des Lebens der Arbeiterschaft, die durchaus gelungen sind, und er zeichnet ein realistisches Bild des Elends, die der Industrialismus mit sich brachte. Das Buch beruht zu einem geringen Teil auf seiner persönlichen Erfahrung mit dem Milieu; das Gros des Materials aber bezog er aus den Blaubüchern [Berichten] des Parlaments, was er für sich behielt, weil er fürchtete, sonst dem Absatz zu schaden. Die eigentliche Stärke des Buches sind seine soziologischen Erkenntnisse, wie man heute sagen würde. Disraeli gelangte zu Ergebnissen, die denen von Marx und Engels auffallend ähneln; im Gegensatz zu diesen aber sperrte er sich gegen einen Dogmatismus in Zukunftsfragen. Auch in diesem Buch gibt es eine ganze Menge historischer Meinung und Meinungsmache, und wieder entfaltet Disraeli die Anti-Whig-Sicht auf die englische Geschichte. Dem römischen Katholizismus bringt er Sympathie entgegen, zumal in der Figur des Aubrey St Lys, eines Pfarrers, der sich der Armen annimmt. Es versteht sich, dass Peel, „der Gentleman in der Downing Street“, nicht ungeschoren davonkommt. Dieser weist seinen getreuen Funktionär Mr. Hoaxem an, zwei Delegationen, die sich angekündigt haben, seinen politischen Kurs näherzubringen: zunächst „unserem Freund Oberst Bosky, dem Abgeordneten für die Grafschaft Calfshire und einer Abordnung von Pachtbauern“, und das „genaue Ge-

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genteil davon“ solle er „der Abordnung von Fabrikanten aus Mowbray [sagen], die sich über die große Handelsflaute beschweren und darüber klagen, dass überhaupt keine Gewinne mehr zu machen sind, die den ganzen Aufwand lohnen“.32 Sybil wurde genau wie Coningsby schnell geschrieben; diesmal aber ging es ­Disraeli weniger um Verkäufe und Tantiemen, als um die Folgen, also darum, dass sein Ansehen keinen Schaden nahm. In gewissem Sinne setzte er sich auch jetzt noch zwischen die Stühle, denn schließlich wollte er als Künstler und als Politiker an­ erkannt werden. Die dargestellten theologischen Ansichten – das Christentum als die Vollendung des Judentums, und andere, daraus abgeleitete Aussagen – waren nicht gerade opportun. Der schiere Arbeitsdruck setzte ihm zu, und als er das Buch am 1. Mai 1845 endlich fertigstellen konnte, schrieb er an Sarah: „Ich habe noch nie so etwas erlebt wie diese vier Monate & ich hoffe, dergleichen bleibt mir in Zukunft erspart. Das Unterhaus und dann noch 600 Seiten zu schreiben, das ging beinahe über meine Kräfte; manchmal dachte ich, mir platzt der Kopf“.33 Seine politischen Aussichten am Beginn der parlamentarischen Sitzungs­periode 1845 waren nicht sonderlich berauschend. Trotz all der Spannungen innerhalb der Partei der Torys saß Peel fest im Sattel, und das Land war ruhiger und besser gestellt als einst. Disraeli hörte Gladstones verworrene Rede im Parlament, worin dieser seinen Rücktritt wegen der Erhöhung der Beihilfe für das Priesterseminar in Maynooth zu erklären versuchte, obwohl er sie doch eigentlich unterstützte; daraufhin schrieb Disraeli seiner Schwester, „Gladstones Rede war vertrackt und wirkungslos. Vielleicht hat er eine Zukunft, ich bezweifle es allerdings. Jetzt, da Stanley [zum Lord erhoben], G. & Follett [der Kronanwalt, der krank war und sich im Ausland aufhielt] ausfallen, wird Peel eine schwache Regierungsbank in den Debatten haben – freilich sind das keine Zeiten für ein Misstrauensvotum – & ich sehe nicht viel Ärger auf ihn zukommen – auch wenn im Parlament Unwetter aufziehen können, wie Sturmböen im Mittelmeer – von einem Moment auf den anderen.“34 Er glaubte, dass die Regierung sich in ihrem vierten Jahr einer „WalpoleAmtszeit“ befindet, und hielt es für möglich, dass noch 17 weitere Jahre folgen. Seine Angriffe auf die vorderste Bank der Konservativen wurden jetzt schärfer und im Laufe der Sitzungsperiode hielt er Peel drei ‚Standpauken‘, aus denen nach wie vor gelegentlich zitiert wird. Wie sich einem mutmaßlich zur Veröffentlichung bestimmten Brief entnehmen lässt, vertrat er die Ansicht, dass er sich im Widerstand gegen „eine parlamentarische Diktatur“ befand. Zu Beginn der Sitzungsperiode war eine Angelegenheit, die im vergangenen Jahr zu vielen Auseinandersetzungen geführt hatte, erneut auf die Tagesordnung gelangt und bot ihm die Gelegenheit, seine erste Breitseite abzufeuern. Es handelte sich dabei um die vom Innenministerium verfügte Öffnung von Mazzinis Briefen bei der Post. Giuseppe Mazzini, der Führer des „Jungen Italien“ lebte zu dieser Zeit in London. Der Radikale Tom Duncombe behauptete, dass seine Briefe ebenfalls geöffnet worden waren, und ­Disraeli befürwortete einen Antrag auf Bildung eines Untersuchungsausschusses. Peel warf er vor, ein emotionales Rührstück aufgeführt zu haben: „Ich glaube, dass einige der jüngeren Abgeordneten sehr eingeschüchtert waren, ich beruhigte sie je-

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doch, dass sie sich nicht fürchten bräuchten. Denn wie ich ihnen sagte, würde sie der sehr ehrenwerte Baronet nicht fressen, er würde noch nicht mal zurücktreten; im allerschlimmsten Fall würde er ihnen bestellen, dass sie ihr Votum zurücknehmen und sich anders entscheiden sollen.“ Lauter Jubel und Gelächter brandete auf. Am nächsten Tag erwiderte Peel: „Er unterfängt sich, das Haus zu versichern, dass meine Vehemenz rein gespielt und die Wärme bloß vorgetäuscht war. Ich hingegen will ihm volle Gerechtigkeit widerfahren lassen; ich glaube in der Tat, dass seine Bitterkeit nicht vorgetäuscht, sondern das sie vollkommen aufrichtig war.“ Dann zitierte er die Zeilen von Canning: „Gib mir den erklärten, den aufrechten, den mannhaften Feind […] Rette, rette, o rette mich vor dem aufrichtigen Freund!“ Da Peels Verhalten gegenüber Canning von vielen als fragwürdig angesehen wurde, war das Zitat nicht sehr glücklich gewählt. Eine Woche darauf kam Disraeli wieder auf den Angriff zurück, mit einer berühmt gewordenen Äußerung: Der sehr ehrenwerte Gentleman erwischte die Whigs beim Baden und ging in ihren Kleidern davon. Er überließ sie dem ungetrübten Genuss ihrer liberalen, freizügigen Position, und er selbst ist strengkonservativ in der Bewahrung ihrer Gewänder. […] Ein paar Zeilen über Freundschaft, verfasst von Mr. Canning und zitiert von dem sehr ehrenwerten Gentleman! Das Thema, der Dichter, der Redner – welch treffende Verbindung!“35

Die Schlacht hatte sich ganz auf die beiden Personen reduziert, und Disraeli, obgleich immer noch ein Hinterbänkler ohne großes Gewicht, fand einen Weg, dem Premierminister empfindliche Treffer beibringen zu können. Ihm wurde von den Hinterbänklern zugejubelt, die ihre eigenen Ressentiments gegen ihre Führer pflegten. In einem Brief an seine Schwester behauptete er: „Was P. betrifft, so war er bestürzt und wie benommen – hatte seine Fassung verloren, & schwankte zwischen Ruhe und Rage, redete viel und schwächlich. Ein nie dagewesenes Ver­ sagen! Er beteuerte, dass ich seine Gefühle nicht verletzt hätte – dass ihm seine Zeit für persönliche Angriffe zu schade sei – Die Glocke!“36 Disraeli hatte eine spöttische, sarkastische Bemerkung gefunden, die genau zu den Umständen passte und den Abgeordneten großes Vergnügen bereitete, die durch die Loyalität zur Partei und die Unmöglichkeit, ihre wahren Gefühle zum Ausdruck zu bringen, gebunden waren. Die zweite Gelegenheit für eine Philippica bot sich ihm bei einer der großen Debatten über die Frage ‚Protektion oder Freihandel‘ (Schutzzölle ja oder nein), die auf Cobdens Initiative zurückging. Es hieß, Peel habe sich im Verlauf dieser Debatte dabei ertappt, dass er auf Cobdens Argumente nichts zu erwidern wusste; daraufhin habe er sich an den neben ihm sitzenden Sidney Herbert mit den Worten gewandt, „Darauf musst Du antworten, ich kann es nicht.“ In der Streit­ sache selbst blieb Disraeli bei seiner pragmatischen Linie und stimmte mit der Regierung. Er legte seinen Finger auf die Schwachstelle der Freihandelsproblematik: Cobdens Irrglauben, dass, wenn England die Protektion aufgibt, es ihm alle anderen Länder gleichtun werden. Aber dann ging er erneut zum Angriff über und verhöhnte Peel als Wendehals: Fraglos hat der sehr ehrenwerte Gentleman als Oppositionsführer eine andere Position bezogen denn als Minister der Krone. Das ist jedoch die alte Geschichte; man darf sich in

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den Stunden des Werbens nicht gar zu anders verhalten als in den Jahren des Besitzes. […] Meine ehrenwerten Freunde machen dem sehr ehrenwerten Gentleman den Vorwurf, […] dass [er] seinen Kammerdiener nach unten schickt, der sich dann auf die vornehmste Weise vernehmen lässt: ‚Hier können wir kein Quengeln brauchen noch dulden‘. […] Bitte lösen Sie das Parlament auf, das Sie hintergangen haben, und wenden Sie sich an das Volk, das Ihnen, wie ich glaube, misstraut. Mir bleibt an dieser Stelle immerhin noch, meiner Über­ zeugung öffentlich Ausdruck zu verleihen und zu sagen – eine konservative Regierung ist eine kollektive Heuchelei.37

Die dritte Attacke gegen die Regierung ritt Disraeli, als die Entscheidung fiel, die Zuwendung für Maynooth zu erhöhen – eine von Peels ‚Friedensbotschaften‘ an Irland. Weil er Peels Irlandpolitik früher als zu negativ kritisiert hatte, hätte man glauben können, dass er diese Entscheidung begrüßte. Aber er war jetzt entschlossen, den Premierminister ans Kreuz der Wetterwendischkeit und des Vertrauensbruchs zu nageln. Er rechnete damit, dass man ihn mit dem engstirnigsten Anti-Katholizismus in Verbindung bringen würde, war sich jedoch sicher, dass eine solche Linie in Shrewsbury Anklang fände. Smythe und Manners unterstützten die Regierung, und die beiden Lager innerhalb der Torys hatten fast die gleiche Mannstärke. Doch Disraeli wollte sich nicht mehr von seinem Kurs abbringen lassen und nannte Peel „einen großen parlamentarischen Zwischenhändler. Man weiß recht gut, was ein Zwischenhändler ist. Das ist jemand, der die eine Partei beschwindelt und die andere schröpft, um dann, wenn er sich in eine Position gebracht hat, die ihm nicht zusteht, laut zu verkünden: ‚Was interessieren uns die Parteifragen, wir wollen Amtssicherheit‘.“ Er kam zum Schluss, indem er die Parlamentarier anhielt, diesem Haus zurückzugeben, „was es so lange entbehren musste – den legitimen Einfluss und die heilsame Kontrolle einer verfassungsmäßigen Opposition. […] Lassen Sie es uns sofort und auf die einzige Weise tun, auf die es getan werden kann, indem wir dem unerträglichen Joch der Willkür im Amt und des Schwindels im Parlament ein Ende machen. Wie Hobhouse berichtete, „ließ Peel den Kopf hängen, erbleichte und zog seinen Hut über die Augen“.38 Das spielte sich am 11. April 1845 ab. In den darauffolgenden drei Wochen war Disraeli ausschließlich mit der Fertigstellung von Sybil beschäftigt, und dann musste er sich erholen. Er genoss den Beifall und den gesellschaftlichen Erfolg, der ihm nun als einem Romancier von Bedeutung und als einem unabhängigen, profilierten Mitglied des Parlaments zuteil wurde. Der Macht war er nie nähergekommen, aber es ließ sich kaum denken, wie er sie erlangen könnte. Er schob auch weiterhin seine Schulden hin und her und musste sich beim Carlton Club herumdrücken, um dafür zu sorgen, dass seiner Frau nicht zu Ohren kam, wie es um seine Verbindlichkeiten wirklich bestellt war. Mary Anne ging es gesundheitlich nicht gut; allem Anschein nach befand sie sich in einer Art von hysterischem Zustand. Wenig später reisten die Disraelis auf den Kontinent, in die kleine flämische Stadt Cassel, wo sie zwei Monate in völliger Isolation verbrachten; ihre einzige Verbindung zu den Angelegenheiten daheim war Galignani’s Messenger, die englischsprachige Zeitung, auf die Disraeli bereits vor langer Zeit zurückge-

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griffen hatte, um auf seiner Reise in die Levante auf dem neuesten Nachrichtenstand zu bleiben. Er begann die Arbeit am Tancred, dem dritten Band der Trilogie. Ende November begaben sie sich nach Paris und stürzten sich abermals in den gesellschaftlichen Strudel aus Herzoginnen, Ministern und Botschaftern. Sie waren noch nicht lange hier, da erreichten sie Neuigkeiten von der politischen Krise in England. Am 27. November erschien in der Times ein Brief Lord John Russells an seine Wähler in London City, in dem er ein vernichtendes Urteil über die Regierung fällte – weil sie im Falle der verheerenden Kartoffelknappheit in Irland die Wahrheit verdreht und nur Ausflüchte gebraucht hatte – und für die vollständige Außerkraftsetzung der Korngesetze eintrat. Russell wollte unter keinen Umständen, dass Peel ihm zuvorkommt; der Premierminister aber sah sich außerstande, sein Kabinett über einer Politik zusammenzuhalten, in der die Korngesetze vorübergehend außer Kraft gesetzt und dann ständig modifiziert wurden. Am 6. Dezember trat er zurück. In Paris wurde Disraeli erneut vom König zurate gezogen. Er erbot sich, als Vermittler zu fungieren zwischen Louis Philippe und Palmerston, in dem man den kommenden Whig-Außenminister sah. Disraeli behauptet, er tue sein Äußerstes, um die Befürchtungen des französischen Königs zu zerstreuen, die angeblich noch von Palmerstons vorheriger Amtszeit herrührten. Palmerston dankte Disraeli für seine Bemühungen; hinter dieser Geschichte steckt aber wahrscheinlich mehr, als es scheint bzw. als die erhalten gebliebenen Dokumente vermuten lassen. Möglicherweise konnte Disraeli sich zum damaligen Zeitpunkt vorstellen, dass er unter einer Whig-Regierung irgendeine Zukunft hat, etwa im diplomatischen Dienst. Er scheint Palmerston gegenüber gewisse Anstrengungen unternommen zu haben, den britischen Botschafter in Paris, Lord Cowley, und seinen Sekretär, Lord William Hervey, anzuschwärzen. Disraeli war sich nicht sicher, wie die Krise ausgehen würde. Zunächst glaubte er, Peel wäre wirklich Geschichte; eine bezeichnende Stelle findet sich in einem Brief an P ­ almerston: „Das große Ziel meines politischen Lebens ist nun erreicht“, womit er mutmaßlich Peels Sturz meinte. Er war enttäuscht, als Russell mit der Regierungsbildung scheiterte, meinte aber, dass Peel im Falle einer Rückkehr nicht als Triumphator auftreten könnte. „Niemand wird jetzt von einer Walpole’schen Regierung reden“, schrieb er.39 Palmerston teilte er mit, dass er nicht zurückeilen werde aus Paris, wo er tatsächlich bis zum 16. Januar blieb. Ein paar Tage davor hatte er an Sarah geschrieben: „Die Politik scheint stürmischer und verworrener denn je zu sein. Mir kommt es vor, als ob Peel mit unüberwindlichen Schwierigkeiten konfrontiert ist: doch was das für die Zukunft heißt, kann ich unmöglich erraten.“40 Der entscheidende Augenblick seines Lebens rückte näher.

4. An die Spitze (1845–1849) Als sich Disraeli im September 1845 aus gesundheitlichen und wirtschaftlichen Gründen nach Frankreich begab, sah die Welt in ihm hauptsächlich einen Romanschriftsteller, der es zu einigem Ruhm gebracht hatte. Nur beiläufig nahm man zur Kenntnis, dass er zudem ein Hinterbänkler der Torys war, der bisweilen durch intelligente Reden auffiel, die in der Mehrzahl die eigene erste Bank aufs Korn nahmen. Sein erster in Frankreich geschriebener Brief an Sarah ist ein Beleg für die geradezu kindliche Freude, die er empfand, als er feststellen durfte, dass sich sein literarischer Ruhm sogar über den Kanal verbreitet hatte: „Auf unserem ersten Spaziergang in Boulogne entdeckten wir in jedem Schaufenster ein großes SybilPlakat auf dem zu lesen stand: ‚Disraelis neuer Roman‘.“1 Als er jedoch im Januar nach England zurückkehrte, stand er im Begriff, zu einem Hauptakteur auf der politischen Bühne zu werden, dessen Name sich im Bewusstsein jedes Zeitungslesers festsetzen sollte. Peel, der sein Amt wiedererlangt hatte, war entschlossen, die Korngesetze nicht nur vorübergehend aufzuheben, sondern sie innerhalb von drei Jahren ‚irreversibel‘ auslaufen zu lassen. Diese Maßnahme sollte Teil eines Pakets weiterer Senkungen von Zollsätzen sein, damit nicht der Eindruck entstand, dass nur der heimischen Landwirtschaft Opfer abverlangt würden. Er rechtfertigte sich damit, dass die Situation in Irland die Öffnung der Häfen notwendig mache und dass eine spätere Wiedereinführung der Korngesetze nicht möglich sei. Eine Rückkehr zur Protektionspraxis im Kornhandel würde zu einer gefährlichen Verschärfung der gesellschaftlichen Spannungen führen. Er gab zu, seine Meinung in puncto Freihandel geändert zu haben, nahm für sich allerdings in Anspruch, dass er den konservativen Prinzipien grundsätzlich die Treue halte. In seiner Rede aus Anlass der Parlamentseröffnung am 22. Januar 1846 sagte er: Zum wahren politischen Konservativismus gehörte für mich von jeher das Bemühen darum, das Volk so glücklich und zufrieden zu machen, dass die Stimme der Verdrossenheit nicht länger zu vernehmen, dass der Verfall unserer Institutionen vergessen und die Lebensfreude mit Händen zu greifen ist.2

Disraeli hatte Manners bereits auseinandergesetzt, worin sein Haupteinwand gegen Peel bestand; aus Paris schrieb er ihm: „Er [Peel] ist so eitel, dass er als derjenige in die Geschichte eingehen will, der all die großen Fragen erledigt hat; für solche Ambitionen ist eine parlamentarische Grundordnung jedoch denkbar unge­ eignet; die Dinge müssen von Parteien bewerkstelligt werden, nicht von Per­sonen, die sich der Parteien als Werkzeuge bedienen – und schon gar nicht von Männern,

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denen es an Vorstellungskraft fehlt und die nicht zu begeistern wissen oder die, statt von einer Sache beseelt zu sein, ein falsches Spiel spielen.“3 Anfänglich fühlte Peel sich ermutigt und war guter Dinge. Er bildete seine Regierung neu, wobei er nur einen wirklich wichtigen Abgang zu verzeichnen hatte, Stanley. George Smythe trat der Regierung bei und bekleidete den Posten eines Unterstaatssekretärs für auswärtige Angelegenheiten. Jahre zuvor hatte er Manners geschrieben: „um an die Macht zu gelangen, zu Ruhm oder auch nur an ein Amt […] dürfen wir nicht den Eindruck erwecken, dass wir allzu eng mit Disraeli verbunden sind“. An Disraeli schrieb Smythe jetzt: „wie auch immer Du zu mir stehst, für mich wirst Du immer ein genialer Mann bleiben, der mir half und mich tröstete und mir Kraft gab, als ich sogar von mir selbst verlassen war“.4 Als eine parlamentarische Gruppierung gehörte das Junge England der Vergangenheit an, Ideen aber gingen nach wie vor von ihm aus. In seiner ersten Rede in der Debatte zur ‚königliche Erklärung‘, mit der das neue Parlament traditionsgemäß eröffnet worden war, schilderte Peel die Ereignisse während des letzten Monats, wobei er das Haus bewusst mit nervtötenden Details langweilte. Disraeli beschrieb diese Szene einige Jahre später in seiner Biographie Lord George Bentincks; darin heißt es: Wenn sich ein Senat nach einer langen Pause und nach aufsehenerregenden Vorgängen versammelt, um einen Minister, wenn schon nicht anzuklagen, so doch zumindest bloßzustellen, und dann massiv mit einheimischem Schmalz eingerieben und aufgefordert wird, Vermutungen über den Preis von gepökeltem Schweinefleisch anzustellen, dann bekommt die Angelegenheit unweigerlich einen Anflug von Bedeutungslosigkeit, den sie allem Anschein nach unmöglich wieder loswerden kann.

Dann aber schreibt Disraeli, ohne sich selbst beim Namen zu nennen: egen der zwar nicht unbedeutenden, aber doch so trägen und verzagten Elemente der OpW position, konnte die erste Nacht maßgebend für das Land sein. Weil er das erkannte, wagte es ein Abgeordneter, der zwei Sitzungsperioden lang von den Tory-Bänken aus Opposition betrieb, sich zu erheben und den Minister anzugreifen.5

Das war der erste seiner großen Angriffe auf Peel, die Disraeli im Laufe dieser dramatischen Sitzungsperiode lancierte. Und es war wohl die wichtigste seiner bisherigen Reden, denn sie trug dazu bei, die Opposition gegen Peel in seiner eigenen Partei wachzurütteln, die ihn fünf Monate später zu Fall bringen wird. Er trug sie in diesem ungerührten gleichbleibenden Ton vor, den er sich zu eigen gemacht hatte, ohne es an Sarkasmus und Witz fehlen zu lassen. Er hatte sich beigebracht, mit Gesten sparsam umzugehen, und sein extravaganter Kleidungsstil gehörte schon lange der Vergangenheit an. Wenn er nicht sprach, sondern nur zuhörte, behielt er anders als viele andere Abgeordnete seinen Hut nicht auf, denn er brauchte seinen Gesichtsausdruck nicht verbergen. Er saß ohne Regung da, statuengleich, und hatte die Arme verschränkt. Seine Ausbrüche waren wohlkalkuliert und sorgsam eingeübt, wirkten aber spontan. Seine Verhalten täuschte über seine

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Emotionen hinweg, die sein Ansporn waren und die er auf viele seiner Zuhörer zu übertragen vermochte. In einer charakteristischen Passage sagte er: Ich kann es nicht ertragen, wenn ein Mann von oben herab sagt: ‚Ich werde ohne Rücksicht auf die Partei herrschen, auch wenn ich ihr meinen Aufstieg zu verdanken habe; und wie man mich beurteilt, interessiert mich nicht, denn mir geht es um die Nachwelt.‘ Sir, ganz wenige Menschen dringen bis zur Nachwelt durch. Und wem von uns das gelingt, erdreiste ich mich nicht zu prophezeien. Die Nachwelt ist eine Versammlung, in der es nicht viel Platz gibt.6

Peels Rede wurde schweigend aufgenommen, und als er sich setzte, klatschte man ihm Beifall, hinter ihm aber nicht. Disraelis Rede wurde von Gelächter und Applaus unterbrochen, und als er sich setzte, brandete der Jubel von den Bänken der Konservativen her auf. Der anwesende John Blackwood, dem das Blackwood’s Magazine gehörte, gab folgende Einschätzung ab: „Wer noch am Niedergang der konservativen und landwirtschaftlichen Partei zweifelte, wurde dadurch eines Besseren belehrt, dass solch ein Flegel wie Disraeli der erste war, den sie hochleben ließen“.7 Es war allerdings nicht Disraeli, der diese Auflehnung gegen Peel so viel durchschlagender, planvoller und dauerhafter machte als die früheren Tory-Revolten gegen ihn. Diesmal ging die Opposition vom Wähler aus; genau genommen war es das erste Mal seit 1832, dass die außerparlamentarische Meinung einen solchen unmittelbaren Druck auf die nach ihrer Parteizugehörigkeit gewählten Mitglieder des Parlaments ausübte. Seit mindestens drei Jahren hatten sich die landwirtschaftlichen Schutzzollverbände in den ländlichen Wahlkreisen gegen die Kampagne der Anti-Korngesetz-Liga engagiert. Diese gemeinhin als Anti-Liga bekannte Bewegung wurde im Februar 1844 zum Zentralen landwirtschaftlichen Schutzzollverband zusammengefasst, unter Führung der Dukes of Richmond und Buckingham, Disraelis altem Förderer. Die Anti-Liga stattete die Peel-Opposition mit dem organisatorischen Know-how aus. Peels vernünftiger und rationaler Kurs wurde von zwei Bewegungen aufgerieben, die aus einem praktischen Problem einen großen Konflikt von Weltanschauungen und Klasseninteressen machten. Wichtig war in diesem Zusammenhang auch, dass die Opposition gegen die (Korngesetz-)Aufhebung in Lord George Bentinck, dem zweiten Sohn des 4. Dukes of Portland, einen willkommenen Anführer fand. Er war der Neffe Cannings und dessen Privatsekretär, bevor er 1827 ins Unterhaus einzog. Dort meldete er sich so gut wie nie zu Wort. Er begann als ein Canning-naher Tory, unterstützte dann Grey, in dessen Kabinett er hätte eintreten können, was er jedoch ablehnte. Er kam mit der gleichen Bewegung zu den Torys zurück, die auch Stanley nach 1834 umstimmte. Er sah aus wie ein Whig der Glorious Revolution, legte eine antiklerikale Haltung an den Tag und glaubte an die Toleranz in Religionsfragen. Er befürwortete die Katholikenemanzipation und die finanzielle Vergütung der irischen katholischen Priester. Bis 1846 zählte all das jedoch wenig, denn er interessierte sich hauptsächlich für den Pferderennsport.8 Sein Cousin Greville, der Tagebuchschreiber, nannte ihn „den Leviathan des Turfs“. Für Bentinck bestand die Welt nur aus Freunden und Feinden, und er setzte jedem, der nicht seiner Meinung war, mit ungestümem

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Hass nach. Bekannt machte ihn die Aufdeckung eines Rennbetrugs, er selbst aber schien fragwürdigen Geschäften auch nicht abgeneigt gewesen zu sein. Seine Ausgaben für den Rennsport überstiegen viele Jahre lang sein Einkommen, und er kam nur dadurch über die Runden, dass er mit seinen Wetten Erfolg hatte. Dazu musste er Gewinnchancen und Quoten ausgiebig studieren. Dass er die wirtschaftlichen Statistiken in den Debatten über die Aufhebung so gut zu handhaben wusste, verdankte er zu einem Teil dem exzellenten Zahlengedächtnis, das er beim Pferderennen erworben hatte. Genau wie Disraeli führte auch er ein in finanzieller Hinsicht gefährliches Leben, und das muss die beiden einander nähergebracht haben. Das Vertrauen und die Freundschaft, die sich zwischen diesen beiden Männern entwickelten, sorgten mit dafür, dass die Protektionismus- bzw. Schutzzoll-Partei ein ‚gutgehendes‘ Unternehmen wurde. Häufig war davon zu lesen, dass Disraeli enge Beziehungen eher zu Frauen entwickeln konnte als zu Männern; das Beispiel Bentincks aber und die früheren Freundschaften mit Bulwer und D’Orsay machen deutlich, dass er sich nicht nur mit Männern zu verbinden vermochte, die jünger waren und ihn als Mentor betrachteten, sondern auch mit gleichaltrigen oder älteren Männern. Die ersten Schritte bei der Organisation der Protektionisten und der Einbindung B ­ entincks waren bereits unternommen worden, bevor sich das Parlament versammelte und bevor Disraeli und Bentinck überhaupt das erste Mal zusammentrafen. Nachdem Peel seine Vorhaben im Detail dargestellt hatte, stürzten sich alle Beteiligten ins Kampfgeschehen. Etliche Torys, die zum Freihandel konvertiert waren, unter ihnen Lord Ashley, legten ihr Mandat nieder, und so kam es in den Fällen zu Nachwahlen. Dabei ging es überwiegend um Grafschaftsmandate, von denen die Protektionisten 16 gewinnen konnten und nur 8 nicht. Diese Grundstimmung beflügelte die im Entstehen begriffene Schutzzoll-Partei zusätzlich. Es war die kleinflächige Landwirtschaft, die Landwirtschaft der kleineren Landadeligen und kleinen Pachtbauern, die sich vom Freihandel am meisten bedroht fühlte, wohingegen eine Reihe von namhaften Großgrundbesitzern Peel auch weiterhin die Treue hielt. Als am 9. Februar ein Antrag eingebracht wurde, über die Korngesetze im kleineren Ausschuss weiter zu verhandeln, sorgte ein protektionistischer Abänderungsantrag dafür, dass die Debatte sich über zwölf Tage hinzog. Eine kleine Gruppe aus führenden Schutzzoll-Befürwortern, unter denen sich Disraeli befand, koordinierte ihr weiteres Vorgehen. Dieser selbst hielt seine zweite Hauptrede am 20. Februar. Er brachte die bekannten Argumente für moderate Schutzzölle und einen freieren Handel vor (das Pitt-System, das später von Liverpool, Huskisson und Peel selbst verfochten wurde). Nun aber habe die Regierung beantragt, den Handel vollständig freizugeben und die Grundsätze der ‚Manchester-Schule‘ umzusetzen.9 Dieser Ausdruck wurde an dieser Stelle wohl zum ersten Mal verwendet. Disraeli sprach sich entschieden dafür aus, der Landwirtschaft im Rahmen der auf dem Landeigentum beruhenden Verfassung eine Sonderbehandlung zukommen zu lassen. ‚Englands Einzigartigkeit‘ – die Überzeugung, dass England anders ist als die anderen Nationen und seinen ganz besonderen Auftrag nur dann erfüllen kann,

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wenn es seine Ausnahmestellung behauptet, bildete das Zentralelement in Disraelis Argumentation. Er war nunmehr so berühmt, dass seine Rede in einem TimesLeitartikel neben der von Peel kommentiert wurde. Die mittlerweile von Delane herausgegebene Zeitung hatte Peels moderaten Protektionismus befürwortet, war jedoch jetzt für die vollständige Aufhebung der Gesetze. Zu Disraelis Rede merkt die Times an: Er nahm zu einem Traum des politischen Heroismus Zuflucht. […] Eine Wissenschaft, die gemeinhin als Tatsachenwissenschaft gilt, vergeistigte er zu einer hochanspruchsvollen Moralphilosophie. […] Die Partei ist der Inbegriff der Volksmeinung; eine Ordnung ebenso wie eine Vereinigung. […] Getreu dieser einfachen und romantischen Sicht auf die Dinge hat Mr. Disraeli sich diesem verfallenden protektionistischen Körper verschrieben, um ihm Gehör zu verschaffen und vor dem Vergessenwerden zu bewahren. […] Indem er den Weg des Fortschritts den gewöhnlicheren Geistern überließ, schickte er sich in die zarten und mit der Selbstverleugnung einhergehenden Pflichten der politischen Reaktion.10

Am Ende dieser Debatte (am 27. Februar) hielt Lord George Bentinck seine erste große Rede als anerkannter, obgleich nicht formeller Anführer der Protek­ tionisten. Er war sich so unsicher, ob er als Redner würde bestehen können, dass er darüber nachgedacht hatte, seine Sache durch einen Juristen vor den Abgeordneten vertreten zu lassen. Disraeli hatte ihn davon überzeugen müssen, selber anzutreten. Am Schluss seiner Rede kam Bentinck darauf zu sprechen, dass Prinz Albert sich zu einem früheren Zeitpunkt der Debatte auf der Empore eingefunden hatte, um die Rede des Premierministers zu hören, offenbar in der Absicht, die Unterstützung der Königin und des Hofes für den Redner zu bekunden. Der Prinz sei schlecht beraten gewesen, „den Anschein zu erwecken, Ihre Majestät billige eine Maßnahme, die […] eine große Mehrheit des landbesitzenden Adels […] als für sich schädlich, wenn nicht ruinös betrachtet […].“11 Bentinck teilte vermutlich die unter dem Whig-Hochadel übliche Verachtung für die unbedeutenden deutschen Fürstlichkeiten, die das britische Königshaus bevölkerten. Der Änderungsantrag der Protektionisten wurde schließlich mit einer Mehrheit von 97 Stimmen zurückgewiesen. Allerdings votierten nur 112 Torys für die Regierung und mehr als doppelt so viele gegen sie. Bei vier der 112 Befürworter handelte es sich um Amtsträger. Im April stimmte Bentinck widerwillig zu, die formelle Führungsrolle in der Schutzzoll-Partei zu bekleiden. Im Oberhaus trat Stanley als Führungsgestalt der Protektionisten in Erscheinung. Es wurde deutlich, dass Peel nur mit der Gnade von Whigs und Radikalen regieren konnte. Wenn die Aufhebung der Korngesetze mit ihrer Unterstützung erst einmal beschlossen wäre, würde sich zwangsläufig irgendeine Sache ergeben, über die er zu Fall käme. Je mehr Peel im Unterhaus von den Schutzzoll-Befürwortern – allen voran Disraeli – in die Enge getrieben wurde, desto höher stiegen seine Aktien außerhalb des Parlaments. Bis Mai hielt Disraeli keine weitere große Rede im Unterhaus, er beteiligte sich jedoch an den Bemühungen, Protektionisten und gemäßigte Whigs einander näherzubringen, um so einer möglichen neuen Regierung das Fundament zu verschaffen. In jeder solchen Übereinkunft wäre Palmerston die zentrale Figur gewe-

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sen. Ende März hatte er sich in einer Rede für einen moderaten festen Zollsatz auf Getreide ausgesprochen, freilich nur aus Rücksicht auf die Staatsfinanzen. Disraeli hatte ihm zu der Rede gratuliert und gesagt: „Die ‚Dummköpfe‘ auf beiden Seiten waren ganz verwirrt. Ich saß unter den Ihrigen, & und was sie von sich gaben, amüsierte mich ungemein.“12 Disraeli und Palmerston hatten in politischer Hinsicht und als Privatpersonen eine ganze Menge gemeinsam. Disraelis Bereitschaft, eine Koalition mit den Whigs, oder auch nur eines Teils von ihnen, ins Auge zu fassen, ließ Zweifel an seiner Rede über die Wichtigkeit der Parteien und der Parteientreue aufkommen und relativierte sogar seine jahrelange Feindseligkeit gegenüber dem Whiggismus. Zum finalen Zusammenstoß von Disraeli und Peel kam es am Ende der dritten Lesung der Repeal Bill, des Gesetzentwurfs über die Außerkraftsetzung der Korngesetze. Disraeli hielt eine lange Rede, in der er für moderate Zollsätze eintrat und auf die Schwachstelle des totalen Freihandels, wie ihn etwa Cobden vertrat, aufmerksam machte: dass es nämlich eine Illusion sei zu glauben, alle anderen Länder würden Englands Beispiel brav folgen. Zum Schluss ritt er eine heftige Attacke auf Peel. Der Premierminister habe keinen von langer Hand geplanten Verrat begangen, „sein Leben aber steht unter dem Zeichen der Aneignung. Er stielt anderen ihr geistiges Eigentum […] es gibt keinen Staatsmann, der sich in so großem Ausmaß politisch im Kleinen bedient hat.“ Und vielleicht weil er sich der ‚außerparlamentarischen‘ Popularität der Aufhebung der Korngesetze bewusst war, warnte er: Ich weiß, dass das Denken der Allgemeinheit verseucht ist mit Gewinnfantasien – mit einer verkommenen Gier, dass die Reichen ohne Fleiß und Anstrengungen noch reicher würden. […] Es mag müßig sein, sie im Frühling ihrer Bereicherungsekstasen zu warnen, dass es ein böses Erwachen geben wird. […] Dann […] werden sie sich an all die Verratenen und im Stich Gelassenen erinnern, die sich nie schämten und keine Angst hatten, für ‚die gute alte Sache‘ zu streiten – die Sache, mit der die am tiefsten im Volk verankerten Grundsätze, mit der die durch und durch nationalen Gefühle verbunden sind, die Sache der Arbeit, die Sache der Menschen, die Sache Englands!13

Unter stürmischem Jubel nahm Disraeli Platz. Peel hatte große Mühe, bei all dem Gejohle und Geschrei der Protektionisten mit seinen Schlussworten durchzudringen und die Debatte abzuschließen. An einer Stelle brach er fast zusammen und Tränen standen in seinen Augen. Diesmal wandte er sich direkt an Disraeli. Peel sagte: „wenn er [Disraeli] so von mir denkt, wie er vorgibt, […] verwundert es ein wenig, dass er sich im Frühling 1841 dazu bereit fand, mir sein Vertrauen auszusprechen. Noch verwunderlicher aber ist, dass er offensichtlich bereit war […] sein Schicksal mit dem meinigen zu verbinden, in einem Amt wohlgemerkt“.14 Disraeli war schlecht beraten, seinerseits wiederum aufzustehen und zu bestreiten, dass er sich 1841 auf einen Posten beworben hätte, und er hatte Glück, dass Peel nicht den von ihm verfassten Brief verlas. Es trifft zu, dass Disraeli in dem Brief vom 5. September 1841 nicht direkt um ein Amt gebeten hatte, sondern nur darum, „vor einer unerträglichen Schmach bewahrt zu werden“, und dass er ihn schrieb, als die meisten Ämter schon vergeben waren, dennoch aber kommt darin

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fraglos sein Wunsch nach einem Posten zum Ausdruck. Dieser Fall ist ein Beispiel für Disraelis Grenzgänge, für seine Art, hart am Wind zu segeln, die ihm in den langen Jahren, in denen er sich seiner Gläubiger zu erwehren hatte, zur zweiten Natur geworden war. Den Schutzzoll-Befürwortern misslang es, die Aufhebung der Korngesetze abzuwenden, aber sie konnten an Peel Rache nehmen. Zu Beginn der Sitzungsperiode war eine Notstands-Bill für Irland (eine von vielen im 19. Jahrhundert) eingebracht und von den meisten Unterhausmitgliedern befürwortet worden, nur die irischen Anhänger O’Connells verweigerten sich. Die Regierung hatte es zugelassen, dass die Bill auf die lange Bank geriet und nun zusammen mit den Gesetzesvorlagen zur Aufhebung der Korngesetze auf die Tagesordnung kam. Bentinck stellte Peels Redlichkeit aufs Heftigste infrage und behauptete, der Premierminister hätte seine Privatmeinung zur Katholikenemanzipation bereits 1825 geändert und dennoch „einen erlauchten Verwandten von mir [Canning] gejagt und zu Tode gehetzt’, weil der die Emanzipation befürwortete.15 Disraeli tat, was er konnte, seinem unbeherrschten Freund beizuspringen. Die Königin kommentierte den Vorfall Peel gegenüber mit den Worten, dass die Commons „sich schämen sollten, solche Mitglieder wie Lord G. Bentinck & diesen abscheulichen Mr. Disraeli zu haben“.16 Keine zwei Stunden, nachdem die Commons davon in Kenntnis gesetzt worden waren, dass die Lords der Aufhebung der Korngesetze stattgegeben hatten, wurde die Regierung in der Sache der Irischen Notstands-Bill mit einer Mehrheit von 73 Stimmen geschlagen. Diesmal votierten nur 74 Tory-Protektionisten mit Bentinck und Disraeli, über 100 wechselten zu Peel zurück und über 50 enthielten sich. Daran zeigt sich vielleicht am besten, dass ohne die unnachgiebige Zermürbungstaktik gegen Peel, die vor allem auf das Konto von Bentinck und Disraeli ging, der protektionistischen Tory-Partei keine Dauer beschieden gewesen wäre. Selbst jetzt war es beileibe nicht sicher, dass sie Bestand haben würde. Aus Disraeli war ein Hauptakteur auf der politischen Bühne geworden; Mary Anne gegenüber präsentierte er sich von seiner fröhlichen Seite, als die Nachricht von Peels Rücktritt im Carlton die Runde machte: „Alles ruft hier ‚Coningsby‘ & ‚Jung-England‘“,17 aber in seinem fatalistischen Innern muss er begriffen haben, dass seine Zukunft so unerforschlich war wie eh und je. Die Protektionisten sahen in ihm nur einen Mann, der wegen seiner Redegabe nützlich sein konnte, aber keinen wirk­ lichen Führer. Diese Krise schlug sich unmittelbar in der Bildung einer reinen Whig-Regierung durch John Russell nieder, die durch die Peeliten – also diejenigen, die Peel auch weiterhin die Treue hielten – unterstützt wurde, wenn ihr auch keiner von ihnen angehörte. Peels vorrangiges Interesse bestand nun darin, jede Rückkehr zu den Schutzzöllen zu verhindern und daher ihre Befürworter von allen Ämtern fernzuhalten; deren Hass auf Peel war indes so ausgeprägt, dass sie lieber Russell behalten wollten, als in irgendeiner Form Gefahr zu laufen, dass Peel zurückkommt. Palmerston tat sich mit Russell in einer Regierung zusammen, die sich nun dezidiert für den Freihandel stark machte. In den verbliebenen wenigen Wochen der

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parlamentarischen Sitzungsperiode bestätigte Russell sein Eintreten für den Freihandel dadurch, dass er sich mit den Zuckerzöllen befasste, das ist die Streitfrage, die 1841 zur Niederlage der Whigs geführt und 1844 eine der HinterbänklerRebellionen gegen Peel ausgelöst hatte. Einige Jahre später sinniert Disraeli beim Schreiben seiner Bentinck-Biographie: „Seltsam, dass die Herstellung von süßen Sachen, die den Kindern wunderbar schmecken und den Greisen Linderung verschaffen, so häufig eine politische Katastrophe nach sich zieht.“18 In der Debatte meldete sich Disraeli als ein „Anhänger Lord George Bentincks“ zu Wort und verkündete mit seinem typischen weit ausholenden und überspannten Schwung: Die Geschichte Englands ist eine Geschichte der Reaktion. Wir zerstörten zum Beispiel unsere etablierte Kirche und wir ersetzten sie. Wir zerstörten die alte Monarchie und wir stellten sie wieder her. Wir zerstörten das House of Lords und doch sind wir heute dazu verpflichtet, ihnen unsere Gesetzestexte zur Bewilligung vorzulegen. Wir schafften sogar das House of Commons ab, und doch sind wir hier am Ende der Sitzungsperiode und befassen uns mit einer großen Frage.19

Walter Bagehot hatte vermutlich recht, als er viele Jahre später Disraelis Aufstieg „auf seine ungewöhnliche Fähigkeit [zurückführte], ein mäßiges literarisches Genie in den praktischen Belangen des öffentlichen Lebens fruchtbar zu machen“.20 Disraeli war indes nicht unaufrichtig oder über Gebühr bescheiden, als er in einem Brief an einen ehemaligen Tory-Abgeordneten die ungewissen politischen Aussichten schilderte, ohne sich zu seiner eigenen zukünftigen Rolle in der Politik zu äußern. Seiner Meinung nach war Peel, der „eine ebenso dauerhafte politische Dynastie wie die der Walpoles, Pelhams & Grenvilles“ hätte begründen können, nicht in der Lage, sich zu erholen. „Er hat keine Partei & geht auf die 60 zu!“ Ihnen, sprich den Protektionisten, sei nicht daran gelegen, die aktuelle Regierung am Arbeiten zu hindern, die im Falle einer sofortigen Parlamentsauflösung mit einer Stimmenmehrheit von 25 oder 30 gewinnen könnte, dann aber vor den gleichen Schwierigkeiten stehen würde wie Melbourne 1837, der keine zuverlässige Mehrheit hatte. „Es wird einige Zeit brauchen, bis unsere Partei wieder auf festen Beinen steht & bis die Menschen wieder so viel Vertrauen in die Politiker gefasst haben, dass das Land als ganzes bereit ist, sich für einen Anführer ins Zeug zu legen.“ Das Hervortreten von George Bentinck „ist ein parlamentarisches Ereignis“, und er „könnte einen versierten Rhetoriker abgeben, der eine Regierung zu führen vermag; sollte sich kein anderer aufdrängen. Manche wollen Gladstone, der zu seinem Glück nicht im Parlament ist, als zukünftigen Führer der Torys sehen, & dass wir uns alle hinter seiner Fahne sammeln und uns von dem gescheiterten Peel abwenden.“ In einem Nachtrag zu dem Brief schrieb er, dass die Whigs in diesem Jahr an der Regierung bleiben werden: „Sie sind nicht sonderlich beliebt im Lande & ihre einzige Stärke ist die völlige Desorganisation der Torys“.21 Im Winter 1846 kehrte Disraeli zur Literatur zurück. Mit Tancred beendete er den dritten Band seiner Trilogie, woran ihn die Aufhebungsschlacht im Parlament gehindert hatte. Das Buch war nicht dazu gedacht, seiner politischen Karriere Auftrieb zu verschaffen. In dem allgemeinen Vorwort der 1870er-Ausgabe seiner

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Romane – worin er programmatisch erklärt, dass er sich und seinen Prinzipien stets treu geblieben ist – schreibt er, dass er sich in Coningsby mit Herkunft und Wesenart der politischen Parteien befasst habe und in Sybil damit, wie die Menschen leben; Tancred dagegen handele von den Pflichtaufgaben der Kirche als einer „heilbringenden Instanz in unserem jetzigen Staat“. Darüber hinaus liefert der Roman die bis dahin umfassendste Darstellung seiner Ansicht vom Christentum als vollendetem Judentum. Statt dem Unterhaus beizutreten, begibt sich Tancred, das einzige Kind des Dukes of Bellamont, auf eine Pilgerreise ins heilige Land, um sich über seinen Glauben Klarheit zu verschaffen. Hier, im Garten von Gethsemane, trifft er auf eine wunderschöne Jüdin (eine stehende Figur in der viktorianischen Romanliteratur). Eva Bello eröffnet ihm, dass sie Jesus und Maria nicht anbetet, aber derselben Rasse entstammt wie sie. Eva sagt zu Tankred: „Die Menschheit ist gerettet, und ohne die Mitwirkung eines hebräischen Fürsten hätte sie nicht gerettet werden können. Nun erklären Sie mir aber: Wie hätte die Sühne in die Welt kommen können, hätten die Juden die Römer nicht dazu gedrängt, Jesus zu kreuzigen?“22 In einer umfassenderen Darstellung wiederholt Disraeli seine Ansicht, dass die Rasse die große Triebfeder der Geschichte ist, mit der sich Aufstieg und Fall der Weltreiche erklären lassen. Wieder tritt Sidonia auf, und Fakredeen, den Emir des Libanon, stattet Disraeli mit einigen Eigenschaften aus, von denen man annehmen kann, dass sie auf ihn selbst verweisen: auf sein Wunschbild von sich und auf das, was er seiner Befürchtung nach wirklich war. Bald gelangte er zu der Überzeugung, dass man mit Schlauheit alles erreichen konnte und der Erfolg jedes Mittel rechtfertigte. Zu schmeicheln und sich zu verstellen, mit untereinander im Streit liegenden Mächten oder Parteien gleichzeitig vertrauliche Gespräche zu führen, bereit zu sein, sich jeder Meinung anzuschließen und keine eigene zu besitzen, sich der jeweils gerade herrschenden öffentlichen Stimmung anzupassen und der drohenden Katastrophe doch zu entgehen, alle Menschen als Werkzeuge zu betrachten und nie etwas zu tun, was nicht direkt oder indirekt auf die Erreichung eines bestimmten Ziels gerichtet war.

Fakredeen hat jedoch auch eine andere Seite: Sogar wenn er beabsichtigte, jemandem zu seinem Werkzeug zu machen, wie er es so häufig mit Erfolg tat, verleiteten seine Empfänglichkeit und sein Mitgefühl ihn fortwährend dazu, seine Karten offenzulegen, ohne dass er selbst es merkte […] Unbekümmertheit bestimmte sein Handeln. Er vertraute stets auf seine fruchtbare Fantasie, wenn ein Vorhaben fehlschlug und es darum ging, eine Ausweg zu finden, und lief dabei Gefahr, einen schon sicher geglaubten Erfolg wieder zu verspielen – das Schicksal aller, die zu unbesonnenem Handeln neigen.23

Tancred zu schreiben muss für den Autor eine Katharsis gewesen sein. Er wollte das jüngste Drama im Parlament und seine eigene Rolle darin in der Perspektive sehen. Er fühlte sich den vielen politischen Wichtigtuern um ihn herum haushoch überlegen, doch sein Ruf als ein jüdischer Abenteurer wirkte gleichsam wie ein unsichtbares Hemmnis. Darum erfand er seine jüdische Identität neu und machte aus ihr ein Kennzeichen alter Abstammung und ein Geschenk einmaliger religiöser Einsichten.

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Den Rest der Sitzungsperiode nach Russells Regierungsbildung waren die Protektionisten auf der Seite der neuen Regierung geblieben. Zu Beginn der Sitzungsperiode von 1847 schwenkten sie zu den Oppositionsbänken über. Bentinck und Disraeli saßen auf der vordersten Bank, ein Stück von Peel entfernt, mit dessen Anhängern sie nun die Oppositionsrolle teilten. Disraeli sollte auf der vordersten Bank bleiben, bis ihm 1876 die Peerswürde zuerkannt wird. Seine intensive Beschäftigung mit Tancred hatte ihn nicht daran gehindert, die politische Szenerie mit wachsamem Auge zu verfolgen. Im frühen Dezember kam Bentinck für längere Zeit nach Bradenham. Er war nicht nur ein Freund geworden, sondern er war auch der Mann, mit dem sich Disraelis politische Zukunft unauflösbar verband. Bentinck war der entschiedenste Gegner der Wiedervereinigung der Konservativen, und unter den Protektionisten gab es neben Disraeli niemanden der dieser Wiedervereinigung so im Wege stand wie er. Viele andere betrachteten es als selbstverständlich, dass es auf eine Wiedervereinigung hinauskommen wird. Lyndhurst hatte bereits entsprechende Schritte in der Sache unternommen – und was noch wichtiger ist: für den als Gesamtoberhaupt der verbliebenen Konservativen allgemein anerkannten Stanley wird sie weiterhin die Vorzugsoption bleiben. Disraeli war sich sehr wohl bewusst, dass „der Groll der Konservativen in all seiner ursprünglichen Heftigkeit und Kraft gedeihlich fortbesteht“ und eine Wiedervereinigung erschwert; für ihn stand nach wie vor auch die andere Option offen, über die während der Krise nachgedacht worden war: ein Zusammenschluss mit den gemäßigten Whigs. Zur Befestigung seiner eigenen Position musste Disraeli auch dafür sorgen, dass er seinen Platz im Unterhaus behielt, und es gab gewisse Anzeichen, dass Shrewsbury ihm dafür womöglich nicht die nötige Sicherheit bot. Es wäre für jemanden, der eine führende Rolle in der Partei der Landbesitzer spielt, ganz ohne Zweifel von Vorteil, einen sicheren Grafschaftssitz innezuhaben, und Disraeli würde es helfen, sein Image als jüdischer Abenteurer loszuwerden. Wegen seiner langjährigen Verbindungen mit Buckinghamshire und seiner Zuneigung zu dieser Grafschaft entschied er, sich um ihren Sitz zu be­ mühen; um das jedoch tun zu können, musste er Landbesitzer werden – ein alter Traum von ihm – und zumindest kleinere Ländereien sein eigen nennen. Als Lord George in Bradenham weilte, fanden lange Diskussionen darüber statt, wie die Bentinck-Familie Disraeli dabei helfen könnte, Hughenden Manor zu erwerben, eine Liegenschaft, die gerade auf den Markt gekommen war. Er benötigte Mittel für eine Hypothek, denn Mary Annes Geld war bereits zu sehr mit seinen Schulden belastet. Eine gewisse Unterstützung kam von Isaacs Seite und sein Tod im Januar 1848 machte Disraeli zum Erben der väterlichen Hinterlassenschaft. Es musste viel auf Zeit gespielt werden, bis das Geld beschafft war und der Kauf von Hughenden abgeschlossen werden konnte. Und so mussten die Disraelis mit dem Einzug bis Dezember 1848 warten; derweil war Benjamin bei der Parlamentswahl im Juli 1847 ohne Gegenkandidaten als einer von drei Grafschaftsabgeordneten für Buckinghamshire gewählt worden. In den abschließenden Verhandlungen mit den Bentincks im Oktober 1848, als Lord George gerade gestorben war, sagte er ihnen, „es wäre kein Ziel für sie und kein Vergnügen für mich, wenn ich nicht im

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öffentlichen Leben am großen Rad drehen würde, und das könnte ich nicht, ohne die Sicherheit dieses Felsens“.24 Diese Schachzüge, durch die Disraeli von Gnaden einer der großen Whig-Familien von 1688 ein Landedelmann wurde, haben die Be­obachter seines Werdegangs stets fasziniert, mitunter aber ist zuviel hineingelesen worden in das, was seinerzeit eine vernünftige Abmachung zu sein schien. Der sichere und in der Regel kampflose Buckinghamshire-Sitz war der Felsen, auf den er seine politische Karriere bauen konnte. Seine Position als ein Grafschaftsabgeordneter hatte in Hughenden die nötige Abstützung, zudem konnte er auf seinem beneidenswerten Anwesen nun auch privat reüssieren. Zu Beginn der parlamentarischen Sitzungsperiode von 1847 war seine Metamorphose in einen Landedelmann noch nicht über den Verhandlungsstatus hinaus, das würdevolle Verhalten eines Staatsmannes aber hatte er sich schon unverkennbar zu eigen gemacht. Eine kleinstädtische Zeitschrift stellte fest, dass er „seine kunterbunte Kleidung“, mit der er noch letzten August aufgetreten war, gegen einen schwarzen Anzug „von unerreichbarer Perfektion“ eingetauscht hatte, und „es scheint, als sei er mit dem Pfauenschmuck auch die Eitelkeit des Stutzers losgeworden“.25 Die Kartoffelknappheit in Irland hatte jetzt ein verheerendes Ausmaß angenommen und Russell wusste sich und den Iren kaum zu helfen. Bentinck legte mit Disraelis Unterstützung einen Plan für den Eisenbahnbau in Irland vor, der in großem Stil Arbeitsplätze schaffen sollte. Die Regierung war aus wirtschaftlichen Gründen gegen die Umsetzung und als es zur Abstimmung kam, votierten nur 118 Abgeordnete dafür. Das war eine schmerzliche Offenbarung der Schwäche der protektionistischen Partei und der Führung Bentincks. Es folgten weitere Blamagen. Bei einem seiner Angriffe auf die Regierung führte sich Bentinck wie „ein nicht zu bändigendes Tier zur Fütterungszeit“ auf, mit glühenden Augen schrie er förmlich, „und er war so erregt, dass es keinem Menschen außerhalb von Bedlam eingefallen wäre, sich ihm auch nur zu nähern“.26 Selbst seine eigenen Anhänger schwiegen betreten. Seine unversöhnliche Raserei fand außerhalb des Parlaments ihr Echo in einem explosiven Gemisch aus Hass und Verwirrung, das sich zu ­Disraelis Gunsten auswirkte. Als im Juli 1847 schließlich gewählt wurde, waren alle Bemühungen um eine Wiedervereinigung der Konservativen gescheitert. Sie hatten ihren Ausgang hauptsächlich vom Oberhaus genommen, wo die Feindseligkeiten nicht so groß waren. Die Kartoffelknappheit in Irland und Missernten in ganz Europa – ein wesentlicher Grund für die sozialen Unruhen, aus denen die Revolutionen des kommenden Jahres hervorgingen – hatten die Preise für die Agrarwaren hochgehalten. Dadurch waren die Schutzzölle ein weniger dringliches Thema und so verlegten sich die Nicht-Peeliten unter den Torys mit ihrer Forderung ‚Kein Papismus‘ auf ein anderes. Die Sache mit der Maynooth-Beihilfe war noch in guter Erinnerung, und viele der führenden Peeliten standen in Verdacht, Puseyiten (also Anhänger der hochanglikanischen Oxford Movement) zu sein. In seiner – stärker als früher beachteten – Wahlansprache, stellte sich Disraeli als konsequenter Befürworter der auf dem Landeigentum beruhenden Verfassung dar, welche die „Bewahrung der

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Agrar­industrie“ verlange, er bestritt jedoch, „die Maßnahmen von 1846 parteisüchtig und gewaltsam außer Kraft setzen“ zu wollen.27 Wiederholt bekräftigte er, dass er die im Volk verankerten Prinzipien den liberalen vorziehe, dass er für Dezentralisierung und lokale Selbstverwaltung sei und dass ihn die Lebensbedingungen der arbeitenden Klasse besorgt machten. Der Wahlausgang ist schwer genau zu beziffern. In nur 10 Fällen standen sich die beiden Tory-Lager im Kampf um die Sitze gegenüber, und die meisten von diesen gewannen die Peeliten. Manche schätzten die Zahl der gewählten Peeliten auf 120, manche nur auf 60. Es gab ungefähr 230 Protektionisten bzw. Schutzzoll-Befürworter und etwa 335 Unterstützer Russells. Zusammen hatten die beiden konservativen Gruppierungen um die 50 Sitze eingebüßt. Die schwache, weil selbst in verschiedene Lager gespaltene Russell-Regierung würde im Amt bleiben. Die Wahl brachte unmittelbar ein die Protektionisten entzweiendes Thema auf die Tagesordnung: die Rückkehr von Disraelis Freund Lionel de Rothschild als Abgeordneter der City of London. Wir haben es hier mit der berühmten ‚Judenfrage‘ zu tun, ob man einen Juden davon freistellen dürfe, den parlamentarischen Eid abzulegen mit den Worten ‚auf den wahren Glauben eines Christen‘. Bentinck und Disraeli waren dafür, der Ausschließung der Juden ein Ende zu machen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Disraeli betrachtete das Christentum als Vollendung des Judentums, wie er es in der Trilogie und vor allem in Tancred dargelegt hatte. In der Debatte im Dezember 1847 wird er sagen: „Als Christ, ich betone, als Christ will ich diese fürchterliche Verantwortung nicht auf mich nehmen, diejenigen von der Gesetzgebung auszuschließen, die der Religion angehören, in deren Schoß mein Herr und Heiland geboren wurde.“28 Bentinck bezog eine viel konventionellere pro-jüdische Position: Wie es sich für ein Mitglied einer der Whig-Familien von 1688 ziemte, stand er fest auf dem Boden der Toleranz. Stanley versuchte ihn zu überreden, Russells Antrag, einen Ausschuss zur Abschaffung der Judenbenachteiligung zu bilden, um eine sofortige Entscheidung zu vermeiden, stillschweigend zuzustimmen; er entschloss sich jedoch, einen groß angelegten Angriff auf die religiösen Eiferer zu starten. Daraufhin bekam er von William Beresford, einem der beiden Whips der Protektionisten, mitgeteilt, dass die Partei nicht mehr hinter ihm stehe, und weil „sein Stolz ihm zu warten verbot, bis er abgesetzt wird“, trat Bentinck als Parteiführer zurück. Die Lage der Protektionisten war prekärer denn je. Sie konnten sich nicht einmal auf einen Namen einigen. Als Beresford am Beginn der Sitzungsperiode von 1848 in einem Rundschreiben die Bezeichnung ‚Konservative‘ wählte, entrüsteten sich nicht wenige. Außerhalb des Parlaments hatte sich um die National Clubs herum ein gut organisierter militanter Protestantismus formiert, vertreten durch den Morning Herald und die Person von Samuel Phillips, bei dem es sich um einen konvertierten Juden handelte, von dem Disraeli bisweilen aufs Heftigste angefeindet wurde. Bentinck und Disraeli waren jedoch nicht die einzigen Führungsgestalten des Unterhauses, die für die Juden-Bill gestimmt hatten und von der Intoleranz des brachialen Anti-Katholizismus angewidert waren. Stanley, einst ein Whig, hatte die Abschaffung der

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Judenbenachteiligung in der Vergangenheit befürwortet, legte sich nun allerdings in dieser Sache Zurückhaltung auf. Doch anders als Bentinck meinte, war es auch um die Peeliten nicht viel besser bestellt, denn Peel selbst weigerte sich hartnäckig, eine Partei auf die Beine zu stellen, obwohl er als Person nach wie vor hohes Ansehen genoss. Russell und seine Regierung befanden sich gleichfalls in großen Schwierigkeiten, und das vor allem aufgrund der schweren Finanzkrise, die im Herbst 1847 ausgebrochen war. Peels Bank Charter Act, der das Recht der Banken, inklusive der Bank of England, Notengeld zu drucken, strenger regulierte, geriet unter Beschuss, insbesondere vonseiten der Protektionisten. Russell konnte jederzeit scheitern, und im Dezember brachte die Königin ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass Bentinck und Disraeli durch die Ereignisse nach oben gespült werden könnten. Als sich das Parlament im Februar 1848 erneut versammelte, zog sich Bentick aus der vordersten Reihe zurück und stellte klar, dass er die Führung nicht wieder übernehmen werde. Disraeli riet er dazu, auf der vorderster Bank zu bleiben, um nicht allzu offensichtlich werden zu lassen, dass sich eine Spaltung vollzogen hatte. Man einigte sich auf Lord Granby, den älteren Bruder Lord John Manners, als Kompromisskandidaten für die Führerschaft; der aber gab nach kaum einem Monat schon wieder auf. Danach blieb der Posten für die restliche Sitzungs­periode vakant, und die beiden Whips Newdegate und Beresford arbeiteten direkt mit ­Stanley im Oberhaus. Manners beschrieb Newdegate in einem Brief an Disraeli als „sehr redlichen, äußerst famosen und halsstarrigen Musterknaben von einem Eiferer und Intoleranten“, und Newdegate blieb seine ganze parlamentarische Karriere lang einer der engagiertesten und verschrobensten Anti-Katholiken. Über Beresford schrieb Disraeli an Manners: „Vor ihm bin ich jedes Mal zurückgeschreckt: er schien mir grob und gewöhnlich zu sein, kein Mann großer Begabungen: eher gierig als ehrgeizig, eher gerissen als gewitzt: aber er hat Kraft, fehlt es ihm auch an Anstand.“29 Beresford konnte sich mit Disraelis Ansprüchen nie anfreunden, es gab jedoch eine kleinere Gruppe von Bentinck-Dizzy-Anhängern innerhalb der – unter Stanleys Augen – von Beresford und Newdegate gemanagten Partei. Disraeli hatte man zu diesem Zeitpunkt als Parteiführer nicht ernstlich in Betracht gezogen, er vermochte es aber, das allgemeine Durcheinander zu seinem Vorteil zu nutzen. Er und Bentinck machten ihre Sache als Regierungskontrahenten ziemlich gut, als kein anderer Protektionist das hätte leisten können, und viele betrachteten sie als die De-facto-Führer der Opposition. Eine der bemerkenswertesten unter den zahlreichen Reden, die Disraeli im Laufe dieser Sitzungsperiode hielt, richtete sich gegen einen Antrag zur Parlamentsreform, den Joseph Hume, ein führender Radikaler, eingebracht hatte. Wie auch immer er sich in dieser Frage früher geäußert hatte oder später äußern wird, diesem Antrag musste er sich entgegenstellen. Er behauptete, dass es sich beim Wählen um ein Privileg und nicht um ein Recht handelt. An einem Punkt seiner Ausführungen kam er allerdings der Befürwortung des Frauenwahlrechts ziemlich nahe. Wäre das Wählen ein Recht, warum sollte es den Frauen dann nicht eingeräumt werden in einem Land, das von einer Frau regiert wird?

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Später in seiner Rede griff er die Berufsdebattierer an, die Leute, die ständig Fragen auf die Tagesordnung bringen, die sich aktuell nicht wirklich stellen, wie etwa die Parlamentsreform, und was er dazu sagte, klingt sehr modern: In diesem Metier [der Berufsdebattierer] kommt es auf das Entdecken oder das Erfinden großer Fragen und Aufgaben an. Wenn eine große Frage entschieden, eine Aufgabe erledigt ist, steht der Berufsstand vor dem Ruin. Es braucht keinen Vorsitzenden […] es gibt keine Ausschüsse, an denen man sich beteiligen könnte; keine Flugschriften, die man schreiben sollte. […] Die Regel besagt daher: wenn eine große Frage entschieden und nichts mehr zu tun ist, sieh dich gleich nach einer neuen um.30

Im Juli gaben die Disraelis ein Abendessen am Grosvenor Gate, das dazu gedacht war, Bentinck und Stanley miteinander zu versöhnen, bei dem sich jedoch herausstellte, dass Stanley sein altes Misstrauen gegenüber Disraeli abgelegt hatte. Stanley freute sich, dass er mit Bentincks Vorschlag (der womöglich sogar sein eigener war) übereinstimmte, wonach Disraeli am Ende der Sitzungsperiode die Abschlussrede für die Protektionisten halten sollte. Dieser nutzte die treffliche Gelegenheit zu einer ausladenden Rede, in der er häufig das philosophische Register zog. Sie enthielt ironische Ausbrüche gegen diverse Minister, die an seine Attacken gegen Peel denken ließen. Die Schuld an „der Unruhe in England, dem Aufruhr in Irland und an der Revolution in Europa“ schob er der Regierung in die Schuhe und kam in seinem Schlusswort wieder auf sein Thema zu sprechen, „die Desorganisation der Parteien“ als die Wurzel allen Übels. In vorgerücktem Alter wird er sich noch immer zu jener Rede äußern, die ihm die Führungsrolle einbrachte.31 1848 war ein außerordentlich dramatisches Jahr, in dem die Revolutionswelle über Kontinentaleuropa fegte und seine Throne wie Kegel fielen. In einem Brief an Lady Londonderry schrieb Disraeli: „Der König von Frankreich in einer Villa in der [Grafschaft] Surrey, Metternich in einem Hanover Square Hotel [in London] & der Prinz von Preußen bei Lady Palmerston! […] Könige & Prinzen lässt man abtreten, wie wir Diener entlassen – schlimmer noch, ohne Zeugnis. […] 50 übergeschnappte Professoren in Frankfurt nennen sich ein Parlament“.32 Es war typisch für ihn, dass er die Revolutionen in erster Linie Geheimbünden und ihren Machenschaften anlastete. Ein langes und bewegtes Treffen mit dem exilierten Louis Philippe hatte ihn zu der Überzeugung gebracht, dass „die Geheimbünde sich in Anbetracht der allgemeinen Unordnung & Kopflosigkeit entschlossen haben, spontan loszuschlagen & sich die Beute zu krallen“. Später schrieb er in seiner Bentinck-Biographie: „Die Bündnisse, die wie ein Netz über Europa liegen, haben zweierlei gemein: sie ziehen gegen das Eigentum zu Felde und haben einen Hass auf die semitische Offenbarung.“ Aufgrund der kontinentaleuropäischen Revolutionen und der Spannungen im eigenen Land – des Aufschwungs der Chartisten, der Agrarkrise und des anhaltenden Siechtums Irlands – waren die Nerven zum Zerreißen gespannt. Das politische Kaleidoskop wurde unerwartet erneut in Drehung versetzt, als der gerade einmal 46 Jahre alte Bentinck am 21. September jäh einem Herzinfarkt erlag. Disraeli war schwer getroffen. Bald schon – und früher, als er angesichts

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seiner ungeklärten Situation wohl gehofft hatte – nahm die Führungsfrage eine scharfe Wendung. Den ganzen Herbst und Winter lang wurde in privaten Kreisen und in der Presse spekuliert und viel intrigiert. Es gab eine ganze Reihe von Dingen, die einer formellen Anerkennung Disraelis als Anführer im Wege standen; er ließ nicht nur den wichtigen aristokratischen Hintergrund vermissen, man misstraute ihm auch reihum und dazu kam noch, dass er niemand war, der den verbliebenen Hoffnungen auf eine Wiedervereinigung von Peeliten und Protektionisten Auftrieb verschaffen würde, im Gegenteil. Anderseits wiederum war er allen anderen Mitgliedern der Unterhausgruppierung der Protektionisten, die man eigentlich kaum als Partei bezeichnen kann, deutlich überlegen. Ein Ausweg aus diesem Dilemma bestand darin, Disraelis De-facto-Führerschaft mit einem Feigenblatt zu bedecken und jemanden für die Rolle der, wie es in einem Zeitungsartikel hieß, „Hauptmarionette in der Dizzy-Show“ aufzutreiben. Stanleys erste Wahl in diesem Vorhaben war J. C. Herries, wie er Disraeli in einem langen einschmeichlerischen Brief auseinandersetzte. Herries war ein ehemaliger Tory-Minister, ein Überbleibsel von Peels erster Regierung von 1834, der sein 70. Lebensjahr schon hinter sich hatte. D ­ israeli lehnte den Vorschlag in seinem Antwortschreiben ab und drohte beinahe unverhohlen mit Ärger von den Hinterbänken: „Ich mag mich irren, aber meiner Meinung nach […] kann ich den Mut unter unseren Freunden im ganzen Land eher heben, wenn ich allein & ungehindert handle, als wenn ich mich an die Partei­disziplin halte, wie es Ihnen vorschwebt“.33 Herries lehnte ohnehin aus gesundheitlichen Gründen ab. Disraeli musste achtgeben, dass er den Bogen nicht überspannte und allzu sehr wie ein Intrigant wirkte. Gut möglich, dass es Beresford – dem Whip, für den Disraeli als Parteiführer undenkbar war – allmählich dämmerte, woher der Wind wehte; Stanley schrieb er: „Wenn die Partei unter allgemeiner Zustimmung entscheidet, sich von ihm führen zu lassen, so sage ich nicht ohne Bedenken, dass ich gewiss keine Zwietracht stiften werde. Doch ich muss auch sagen, dass ich nicht bereit bin, einer Intrige nachzugeben.“34 New­ degate, der andere Whip, war noch entschiedener gegen Disraeli, weil er fürchtete, mit ihm als Führer vor leeren Bänken zu stehen und in der Bedeutungslosigkeit zu versinken; und keine 18 Monate später trat er ab. Disraeli war umtriebig und streckte seine Fühler in alle Richtungen aus. Einer derjenigen, deren Rat er sehr ernst nahm, war Metternich, von dem er nunmehr eine hohe Meinung hatte. In einem Brief ließ er ihn wissen: In einer untergeordneten Position werde ich mir die Debatten nicht antun, denn sonst würde ich als ein Mann gelten, dessen man sich bedienen, dem man jedoch nicht trauen kann, und das empfände ich als schmachvoll und demütigend. Die bloße Tatsache, dass ich kein Aristokrat bin, macht es für meine Begriffe umso dringlicher, dass meine Stellung gesichert ist & ich mir Geltung zu verschaffen und standzuhalten vermag; damit ich an Einfluss gewinne in einem Kampf, in dem ich zugleich die Whigs und Sir Robert Peel im Auge haben und die von der Manchester Schule ausgehenden revolutionären Umtriebe bekämpfen muss.35

Dem gefallenen österreichischen Kanzler war vor allem an der Existenz einer ‚konstruktiven‘ Partei gelegen, die sich den ‚destruktiven‘ Radikalen der Man-

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chester Schule entgegenstellte, und er gab sich zuversichtlich, dass Disraeli an der Sache der Konservativen festhalten würde. Es war kein Zufall, dass Isaac ­Disraelis Memoiren jüngst von seinem Sohn veröffentlicht worden waren, worin die Familie in einer Abstammungslinie mit einigen der aristokratischsten Familien der Iberischen Halbinsel steht. Was auch immer er Metternich im Vertrauen zugab, die Welt sollte glauben, dass er, Disraeli, einem alten und angesehenen Geschlecht entstammte. Stanley wartete schließlich mit dem Vorschlag auf, dass sich ein Dreier­ gremium – bestehend aus Herries, Granby und Disraeli – in die Führung teilen sollte. Stanleys Sohn zufolge erhob Disraeli erneut Einwände und sagte: „Ich bin ­Disraeli der Abenteurer und ich werde mich in keine Rolle drängen lassen, die es der Partei ermöglicht, sich meiner in den Debatten zu bedienen und mich dann auf die Seite zu schieben.“36 In Wahrheit nahm Disraeli das Arrangement hin, aber gleich in der Debatte der königlichen Parlamentseröffnung ein paar Tage später übernahm er in Absprache mit Stanley die Führung. Vor dem März ließ Stanley ihn wissen, dass er den Posten des ersten Ministers im Unterhaus einnehmen müsse, falls die Partei an die Regierung käme. Die letzten Reste des Gremiums verschwanden, als Granby im November 1851 abtrat. Disraeli war „nach langen Kämpfen […] nun doch der Führer“37, wie er seiner Schwester am 22. Februar 1849 schrieb. Ein Traum war in Erfüllung ge­gangen, doch das hatte seinen Preis. Er war an die Spitze gelangt, indem er seine literarisch-journalistischen und schauspielerischen Talente in der parlamentarischen Arena einsetzte. Diese Talente erstrahlten in ihrem hellsten Licht, sobald er über die Freiheit eines unabhängigen Parlamentsmitglieds verfügte. Als Polemiker war er zur Höchstform aufgelaufen; er malte in den grellsten Farben, freizügig, aber nicht unbedingt wahrheitsgetreu. Darauf musste er nun verzichten und sich stattdessen mit Magerkost bescheiden, musste seine Worte mit Bedacht wählen, Blaubücher wälzen und sich mit Wirtschaftsstatistiken vertraut machen. Es drohte ein Leben, bei dem er auf der vordersten Bank festgebunden war, mindestens für jeweils die Hälfte des Jahres. Er war gezwungen, Männern vorzustehen, von denen er zahlreichen keine Achtung entgegenbrachte. Gegen Peel hatte er die Parteikarte ausgespielt, doch die Zustimmung zu ihm als Führungsperson beruhte auf der offenen und versteckten Drohung, dass er seine Unabhängigkeit auch ganz schnell wiedererlangen könnte. Durch das Auseinanderbrechen von Peels Partei war er schlagartig praktisch alle potenziellen Konkurrenten losgeworden; doch der Torso, der von der Partei übrigblieb, sah einer ungewissen Zukunft entgegen und eignete sich kaum als mög­liche Regierungsbasis. In seinen Romanen mochte er über eine Verfassung schreiben, die auf dem Landeigentum beruht und auf deren Grundlage Adel und Massen durch ein Band geeint sind, angeführt von einer Monarchie, die allseits Loyalität erweckt, und mit einer Kirche, die dem Gemeinwesen die geistliche Richtung vorgibt. In der Realität aber hatten die Massen kein Stimmrecht, überließ die Mittelschicht dem Hochadel so lange die Regierungsgeschäfte, wie es ihr gutging. Der Zeitgeist war geprägt von Nützlichkeitsdenken und politischer

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Ökonomie, und gegen beides hatte Disraeli eine starke Abneigung. Auch die Monarchie gab sich zumindest zu Alberts Lebzeiten liberal und zeigte sich Derby und Disraeli gegenüber abweisend. Die Kirche war tief in Lager gespalten. Zu seinem Glück aber lagen die Dinge nicht so eindeutig, wie sie sich im Rückblick darstellen lassen. Die Wahlen gingen jedes Mal sehr eng oder unentschieden aus, und im Parlament konnten jähe Kontroversen und Gefühlsaufwallungen die Szene augenblicklich verwandeln. Dem Anführer Disraeli würden Jahre harter und frustrierender Arbeit bevorstehen, aber selbst das war nicht sicher.

5. Auf dem Weg in die Regierung (1849–1852) Disraeli hatte gerade erst die Führung der Protektionisten im Unterhaus übernommen, als er eine schwierige und verworrene Kampagne startete, um der Partei den Protektionismus abzugewöhnen. Er selbst war zu keinem Zeitpunkt ein dogmatischer Befürworter des Schutzzolls gewesen, und es heißt, er habe einmal zu Palmerston gesagt: „Durchforsten Sie meine Reden und Sie werden sehen, dass darin nicht ein Mal von Protektion die Rede ist.“1 Der Grundsatz, für den er sich durchweg stark machte, war die ‚Gegenseitigkeit‘, d. h. Abbau der Schutzzölle nur in dem Maße, wie das auch der Staat tut, mit dem man den Vertrag schließt. Mit diesem Grundsatz würden sich die Interessen der einheimischen und der in den Kolonien ansässigen Produzenten schützen lassen und auch die Englands als führender Seefahrtnation, wie er in den Debatten zur Aufhebung der Schifffahrtsgesetze 1848 und 1849 behauptete. Eine Rückkehr zur Protektionspraxis im Kornhandel war im Parlament von 1847 völlig ausgeschlossen, es gab allerdings noch ein gewichtigeres Gegenargument. Die Außerkraftsetzung der Korngesetze hatte eine neue gesellschaftliche Übereinkunft zwischen Stadt und Land, zwischen Landwirtschaft und Industrie und vor allem zwischen den Klassen herbeigeführt. Man vertrat weithin die Ansicht, dass Großbritannien als einziges größeres europäisches Land von der Revolution verschont worden war, weil die finanz- und steuerpolitischen Maßnahmen Peels dem Gerechtigkeitsempfinden hierzulande Auftrieb verschafft hatten. Die Angst vor der Revolution war mit Händen zu greifen und auch Disraeli hatte sie voll erfasst. In Sybil beschreibt er das Wüten „der Höllenkatzen von Wodgate“, eines fürchterlichen Mobs, der „50 Pfund für einen lebenden Polizisten“ bietet. Als die Nachrichten von den europäischen Revolutionen im März 1848 eintrafen, schrieb er von „Zeiten beispielloser Gräuel! Ich weiß kaum noch, wo mir der Kopf steht“.2 Die meisten Menschen, unter ihnen die Königin und Prinz Albert, glaubten, dass England in die Revolution abgleiten würde, wenn die von Stanley und Disraeli angeführten Protektionisten an die Regierung kämen. Disraeli wollte unbedingt erreichen, dass seine Partei salonfähiger wurde und ein bisschen mehr nach einer potenziellen Regierung aussah. Zu Beginn der Sitzungsperiode von 1849 brachte er einen Antrag ein, der Landwirtschaft dadurch zu helfen, dass das zentrale Schatzamt die Hälfte der Last der Gemeindesteuern übernimmt. Er warnte davor, dass, wenn die Manchester Schule sich durchsetzt und aus England die Werkstatt der Welt wird, wodurch die Landwirtschaft verkümmert, „auch wir verblassen wie die ‚tyrische‘ Farbe und verrotten wie die venetia­nischen Paläste“ und fügte hinzu, „ich möchte erleben, dass die Landwirtschaft, der Handel und die Industrie von England sich nicht gegenseitig bekämpfen, sondern

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Kompagnons und Partner sind – Rivalen nur in der Leidenschaft ihres Patriotismus und ihres Gemeinsinns.“3 Im weiteren Verlauf der Sitzungsperiode äußerte er sich noch mehrfach ähnlich, seine Redekunst aber vermochte wenig gegen die Entschlossenheit der Peeliten, Russell im Amt zu halten. Er beklagte sich bei Lord John Manners, der nach wie vor ohne Sitz war, über die Unfähigkeit der Partei, ihn zu unterstützen. Und sagte: „Ich habe Bankes, Miles […] Newdegate & all das alte Gelumpe klein gehalten & dem Parlamentssprecher eine Liste von Männern übergeben, die das Wort ergreifen sollten. […] Sie kniffen & der Sprecher war genötigt, Miles und Newdegate zu bestellen, die schon auf dem letzten Loch pfiffen & bei denen es sich um genau die Männer handelte, von denen ich nichts hören wollte – Miles sprach über nichts anderes als über Schlachtfleisch & Newdegate belegte die Importe ausnahmslos mit einem Fluch. Ach! Gott sei’s geklagt! Eine Armee ohne Offiziere!“4 Nun war es allerdings genau dieser Mangel an geeignetem Führungspersonal, der Disraeli in seiner prekären hohen Stellung hielt. Als das Parlament Ende August 1849 in die Pause ging, konnte sich Disraeli zum ersten Mal in die Ruhe und den Frieden von Hughenden zurückziehen, dennoch aber war es weder politisch noch privat eine glückliche Zeit für ihn. Er brütete einen größer angelegten Entwurf zur Entschädigung der Landwirtschaft aus. Den früheren Vorschlag, Gemeindesteuern durch das zentrale Steueramt zu begleichen, ergänzte er durch einen Plan zur Erwirtschaftung eines Haushaltsüberschusses, mit dem ein Tilgungsfond eingerichtet werden sollte. Dieser wiederum würde zur Abtragung der Staatsverschuldung verwendet werden, wodurch sich der Zinssatz absenken ließe. Dadurch wäre den Bauern und Landbesitzern geholfen, die in großer Zahl hypothekarisch belastet und von den Zinssätzen ebenso abhängig waren wie der hoch verschuldete Disraeli selbst. Der Entwurf war nicht bis in alle Einzelheiten ausgearbeitet und verdankte sich zu großen Teilen dem exzentrischen Banker Henry Drummond. Anlässlich einer Rede in Aylesbury im September 1849 legte Disraeli den Plan der Öffentlichkeit vor. Dass er noch nicht ausgereift war, hätte jeder mit einiger Verwaltungserfahrung erkennen können, und Stanley beeilte sich, auf die Schwachstellen hinzuweisen. Um diese Scharte auszuwetzen, legte D ­ israeli in einer Rede in Essex größeren Nachdruck darauf, dass er die auf dem Landbesitz liegende Abgabenlast der Belastung anderen Eigen­tums angleichen wolle. Nur kurze Zeit später geriet er schon wieder in die Klemme. Zu seinem Pech erlebte die Forderung nach einem Einfuhrzoll auf Getreide gerade einen neuen Aufschwung. Nach der Aufhebung der Korn­ gesetze waren die Preise für Agrarprodukte eine Weile lang hoch geblieben, doch von 1849 bis 1852 machte die britische Landwirtschaft ihre schwerste Krise seit 1815 durch. Schlechte Ernten in England gingen mit guten in Kontinentaleuropa einher, die Kornpreise waren tief, und im Freihandel schien der Übeltäter gefunden. Die Landwirtschaft war vom wachsenden Wohlstand im Land ausgenommen. Im Mai 1849 wurde eine Nationale Vereinigung zum Schutz der britischen Industrie und des britischen Vermögens ins Leben gerufen, in der die Gegner des Freihandels in der Landwirtschaft, der Seefahrt und auch der industriellen Produk-

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tion zusammenfanden. Zahl­reiche führende Mitglieder der konservativen Partei, wie etwa der Duke of Richmond und Lord Malmesbury, standen mit ihr in Verbindung. Der treibende Motor war George Frederick Young, ein wohlhabender Eigner von Schiffswerften und glühender Befürworter des Schutzzolls. Er verfasste einen ziemlich ehrerbietigen Brief an D ­ israeli, in dem er ihm vorschlug, bei einem gemeinsamen Treffen Kriegsrat zu halten, wie die Sache des Protektionismus zu befördern sei, sich aber auch gegen begrenzte Entlastungsmaßnahmen aussprach wie etwa jene, die Disraeli in seinen Reden in Aylesbury und Essex angeregt hatte. Disraeli antwortete mit einem eindringlichen Schreiben, dass er unverzüglich in den Druck gegeben hatte. Er sagte, dass die protektionistische Partei seiner Ansicht nach nicht damit rechnen könnte, in der von der Nationalen Ver­ einigung verlangten sofortigen Parlamentswahl die Mehrheit zu erlangen. Und er fuhr fort: Die politische Situation scheint mir folgende: Wenn die proagrarischen Wahlkreise (Grafschaft & Stadtgemeinde) nicht davon abgehalten werden, gegen das Finanzsystem dieses Landes Amok zu laufen – und es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie das aus dem Leidensdruck heraus & aus lauter Gehässigkeit & Verdruss tun werden –, dann ist es vorbei mit England als großer und freier Monarchie; & aus dem Land würde zwangsläufig nicht nur eine zweitklassige Republik, die die Verein. Staaten kopiert, sondern auch eine zweitklassige & industrielle Republik.5

Disraeli war schlecht beraten, mit solchen Worten an die Öffentlichkeit zu gehen. Stanley schrieb ihm gleich einen langen Protestbrief, in dem er bestritt, dass die Protektion bzw. Schutzzoll-Politik ein hoffnungsloser Fall sei.6 Disraeli hatte mit seiner Einschätzung der nahen politischen Zukunft wieder einmal daneben gelegen, so recht er damit hatte, dass die Protektion ein Klotz am Bein der Partei war. Dass er alle Möglichkeiten auszuloten bereit war, den landwirtschaftlichen Sektor für den Wegfall der Protektion zu entschädigen (von einer Absenkung der Malzsteuer bis hin zu einer Staffelung der Einkommensteuer), zeigte immerhin, wie wenig er sich von Widerspruch einschüchtern ließ; und seine lebhafte Fantasie eröffnete ihm Wege, wo bürokratischere Geister nur Hindernisse gesehen hätten. Beresford, der Disraeli mit Recht suspekt war, hatte Stanley zuvor im Herbst be­ ruhigt. Nach einem Besuch auf Hughenden hatte er geschrieben: Er [Disraeli] arbeitet sich in alle Blaubücher der letzten Sitzungsperiode ein. […] Mir scheint, er ist sehr eifrig bei der Sache und fühlt sich mit uns jetzt vollständig verbunden, und ich glaube in der Tat, dass wir uns völlig einig sind und dass er treu bleibt. Er verfügt zweifellos über großartige Begabungen, zu denen nicht zuletzt die große Macht zählt, die er ganz offensichtlich über sich und seine Gefühle und Leidenschaften hat.7

War das aber wirklich beruhigend und drückte sich hier ein großes Vertrauen aus in einen Mann, der nunmehr für sich in Anspruch nahm, der Führer zu sein? In den Erinnerungen, die er in den 1860er Jahren zu Papier brachte, beschreibt Disraeli seine Beziehungen zu Stanley als unbehaglich während des ganzen Jahres 1849, und denen von 1850 hätte es an „wirklicher Vertrautheit“ gefehlt.8 Und dennoch nahm hier die längste symbiotische Beziehung in der viktorianischen

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Politik ihren Anfang. Die späteren Historiker ließen es zu, dass Disraeli den 14. Earl of Derby – zu dem Stanley nach dem Tod seines Vaters 1851 wurde – vollständig in den Schatten stellte. In jüngerer Zeit neigte sich die Waage vielleicht zu sehr in die andere Richtung. Beide waren so intelligent, dass sie sich bald gegenseitig achteten, wobei jedoch aus dieser Achtung keine enge Freundschaft erwuchs. Derby brauchte Disraeli, und der Gedanke, dass aus ihm womöglich ein unsicherer Kantonist wird, der das Schiff zum Sinken bringen könnte, duldete kein langes Nachdenken. Der Umstand, dass Disraeli für die Verbindungen und Koalitionen mit anderen Gruppierungen wie etwa den Peeliten ein Hemmnis darstellte, könnte sogar ein Vorteil gewesen sein, denn jene Verbindungen hätten unter Umständen zu ihrer beider Sturz geführt. Die beiden Männer waren sich gar nicht ähnlich. Die Politik avancierte für Disraeli zum großen Spiel, Derby aber hatte andere Zerstreuungen. Wie Bentinck liebte er Pferderennen und man konnte ihn im Wettbüro in N ­ ewmarket sehen, „inmitten einer Horde von Betrügern, Wettern und frag­würdigen Gestalten jeder Art, wie er im größten Tumult stichelte, sich stritt, vor Lachen brüllte und Witze machte.“9 Derbys etwas distanzierte Haltung passte zum Oberhaus, dort ließ sie sich leichter aufrechterhalten als im Unterhaus. Für ­Disraeli wurde sie zu einer empfindlichen Prüfung und sie widersprach seiner Auffassung von der Oppositionsrolle. 1849, im Jahr seiner ersten parlamentarischen Sitzungsperiode als De-factoParteiführer, wurde Disraeli auch im Privaten von Schwierigkeiten heimgesucht. Er geriet erneut unter finanziellen Druck, weil sein öffentliches Hervortreten einige seiner alten Gläubiger hatte auf den Plan treten lassen. Es gibt Hinweise, dass mit Disraelis Ehe etwas nicht stimmte. Mary Anne war häufig unpässlich, womöglich hysterisch und klimakterisch, aber mit Sicherheit eifersüchtig und besitzergreifend. Im Juli 1849 brach sie die Türschlösser seines Privatbereichs am Grosvenors Gate auf und veranlasste ihn, eine Nacht im Hotel zu verbringen. Sie entdeckte nichts Verfängliches; in einem Brief an seine Schwester (der lange unterdrückt wurde) findet sich jedoch die Wendung „es hätte auch anders ausgehen können“.10 Es kann sein, dass Disraeli zu dieser Zeit eine Affäre hatte; Mary Annes Eifersucht wurde vielleicht durch Lady Londonderry geweckt, mit der ihr Ehemann die alten Freundesbande wieder enger geknüpft hatte. Diese ziemlich unausstehliche grande dame betrachtete Disraeli als politisch wichtigen Besitz, empfing Mary Anne jedoch nur widerwillig, die in ihren Augen eine hoffnungslos gewöhnliche Person war. Lady Londonderry war eine jener umtriebigen Gestalten, die sich um eine Aussöhnung zwischen Protektionisten und Peeliten bemühten. Von ­Hughenden aus, wohin er sich mit Mary Anne und seinen politischen Sorgen verkrochen hatte, schrieb Benjamin am 4. November an Sarah: Ich bin nicht körperlich krank – sondern niedergeschlagen & unsagbar mutlos. Ich finde dieses Leben schlechthin unerträglich – & wünschte, es gäbe irgendein Erdbeben, oder etwas anderes Einschneidendes geschähe, das eine große Veränderung bewirken würde.11

Im neuen Jahr, 1850, begannen die Dinge für ihn besser zu laufen. Nach einer intensiven Debatte über die Notlage der Landwirtschaft, die von Disraeli im ­Februar

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angeregt worden war, verringerte sich die Regierungsmehrheit auf 21 Stimmen, und die Peeliten hatten sich als tief gespalten gezeigt; mehr als die Hälfte von ihnen, einschließlich Gladstone, unterstützten die Protektionisten. Dann erkrankte Disraeli an einer schweren Grippe, und in seiner Abwesenheit wurde deutlich, wie unverzichtbar er für die Protektionisten geworden war. Er blieb bei seiner Überzeugung, dass die Protektion verloren war: „Solange die allermeisten Menschen einer gut bezahlten Erwerbstätigkeit nachgehen, ist jeder Versuch, eine Volksbewegung zugunsten der Protektion zu lancieren, zum Scheitern verurteilt“, schrieb er dem Eigentümer des Bucks Herald.12 Er war bemüht, den Eindruck zu zerstreuen, dass es sich bei den Protektionisten schlichtweg um Reaktionäre handelt. In den ausgedehnten Haushaltsdebatten befürwortete er die alte Forderung der Radikalen nach Abschaffung der Papiersteuer. Als das eine ungute Spaltung nach sich zog, weil die Radikalen Angst hatten, dass die Regierung gestürzt werden könnte, zeigte er sich erfreut, dass dadurch „das Monopol der Radikalen auf liberale Vorhaben gebrochen wurde“.13 Um jedoch seine Freunde die Londonderrys zu erfreuen, deren großer Reichtum von den Kohleminen herrührte, wirkte er einer Gesetzesvorlage entgegen, die sich für sie Überprüfung der Minen aussprach, und schlug einen ganz anderen Kurs ein als sonst in solchen die Arbeitswelt betreffenden Fragen. Letzten Endes musste er Lord Londonderry mitteilen: „Ich konnte nichts tun bei diesem verdammten Gesetzentwurf. Meine Freunde, die Wohltäter und Menschenfreunde sind, konnten ihn, nachdem sie Ashleys Zehn-Stunden-Bill 1844 gegen Peel unterstützt hatten, nicht ablehnen, ohne sich untreu zu werden; & zu meinem Erstaunen waren auch die Manchester-Leute für ihn.“14 Die beiden Hauptereignisse des parlamentarischen Jahres waren die Don-Paci­ fico-Debatte im Juni und Peels Tod ein paar Tage später. In der Debatte stellte ­Palmerston mit seiner Civis Romanus sum-Rede unter Beweis, dass er sich innerhalb und außerhalb des Parlaments eine große Anhängerschaft erworben hatte. Vor der Debatte riet Stanley seinem Statthalter, schwere Geschütze aufzufahren: „Alles außer einem guerre a l’outrance würde bei den argwöhnischen Geistern nur die alten Missverständnisse aufleben lassen.“15 Viele teilten die Ansicht, dass Disraeli sich gegenüber Palmerston stets in verbaler Zurückhaltung übte, und man mutmaßte, dass es Pläne für eine politische Allianz gäbe. Eine Verbindung mit den gemäßigten Whigs wie Palmerston hätte Disraelis Stellung weit weniger gefährdet als eine Wiedervereinigung mit den Peeliten. Disraeli hatte Palmerston in den Runnymede-Briefen einmal „den Lord Fanny der Diplomatie“ genannt, war jedoch nach und nach zu einer anderen Auffassung gelangt und verehrte ihn und seine Politik in vielem. Lady Palmerstons Salon besuchte er häufig. Nichtsdestotrotz kam er seiner Pflicht nach und attackierte Palmerston in der Debatte von der vordersten Oppositionsbank wegen der unnötigen und noch dazu planlosen und verworrenen Einmischung in die Belange anderer Länder und wegen des Versuchs, ihnen die britischen Ideen des Liberalismus und der verfassungsmäßigen Regierung aufzudrängen. Er bezichtigte ihn, mit „dieser modernen, neumodischen, an das Gefühl appellierenden Vorstellung von Nationalität“ zu sympathisieren und

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behauptete, dass sein (Palmerstons) Eintreten für den Nationalismus im Falle von Italien oder Schleswig-Holstein den britischen Interessen entgegenstand. Dennoch hieß es, Gladstone habe die schonungsloseste Rede gehalten, und nicht Disraeli. Peeliten und Protektionisten taten sich in der Lobby mit Cobden und Bright gegen Palmerston zusammen, der die Debatte mit einer Mehrheit von 46 Stimmen gewann und nahezu alle Radikalen auf seiner Seite hatte. Peel starb binnen vier Tagen an den Folgen eines Sturzes vom Pferd, und Disraeli gefiel der Gedanke, dass es mit den Anfeindungen zwischen ihnen vorbei war. In seinen Erinnerungen von 1860 gibt er Gladstone mit folgenden Worten wieder: „Peel starb friedlich, im Einklang mit der gesamten Menschheit; sogar mit Disraeli. Das Letzte, was er tat, war, Disraeli zu ermutigen. Es war keine sehr laute Ermutigung, aber es war eine; sie war deutlich vernehmbar. Ich saß direkt neben ihm.“16 In Wahrheit aber ist es eher unwahrscheinlich, dass Peel für Disraeli etwas anderes empfand als Abneigung. Während Disraeli hart daran arbeitete, sich der Protektion als dem Hindernis für die Wiederherstellung seiner Partei zu entledigen, war es der ‚Kirchenkrieg‘, der den Protektionisten – in denen man nun immer mehr die Konservativen sah – die erste Gelegenheit bieten sollte, an die Regierung zu kommen. Der Glaubens­abfall führender Puseyiten wie etwa Newman ‚gen Rom‘ hatte für große Unruhe gesorgt und den Eindruck hervorgerufen, dass in der Kirche von England eine fünfte Kolonne mitmischte. Diese Spannungen schafften neue Hürden auf dem Weg zu einer Wiedervereinigung der Konservativen, weil so viele führende Peeliten Vertreter der romnahen Hochkirche waren. Gerüchte kursierten, Gladstone selbst sei im Geheimen Katholik. Disraeli nahm das alles distanziert zur Kenntnis und bloß in Hinblick auf die politischen Folgen. Er war ein kommunizierendes Mitglied der Kirche von England, aber mit keiner der innerkirchlichen Richtungen emotional verbunden. Er hatte den Bigotten in seiner Partei die Stirn geboten, als es um die ‚Juden-Bill‘ ging, und für gewöhnlich stimmte er für sie, wenn sie wieder auf die Tagesordnung gelangte, dennoch hielt er sie für ein Ärgernis: „Sehen wir zu, dass wir uns der ‚Juden-Bill‘ so bald als möglich entledigen, die ich für meinen Teil auf den Grund des Roten Meeres wünsche“, hatte er dem Duke of Newcastle im Februar 1849 geschrieben.17 Im Oktober 1850 teilte Papst Pius IX. England in zwölf Bischofsitze und begrüßte den Wiedereintritt des englischen Volkes in die Heilige Kirche. Die Protestanten entrüsteten sich sogleich gegen die sogenannte ‚päpst­ liche Aggression‘. Russell war unbedacht genug, dem Bischof von Durham einen Brief zu schreiben, in dem er nicht nur den Papst, sondern auch die Puseyiten angriff. Es schien, als ob Russell sich unbedingt auf die erfolgversprechende Seite der aufgebrachten Protestanten schlagen wollte, doch mit seinem Durham-Brief erzürnte er sowohl die irischen Verbündeten als auch die Peeliten. Disraeli war entschlossen, Russell nicht das Monopol auf die Ausbeutung der Stimmung unter den Protestanten zu überlassen, er musste aber diejenigen aus seinen eigenen Reihen fest im Griff behalten, die bloß zu ungeduldig waren, um sich dem Premierminister in seinem Kampf gegen den Papst anzuschließen.

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Am Beginn der parlamentarischen Sitzungsperiode von 1851 brachte Russell eine Gesetzesvorlage zu den kirchlichen Rechtsansprüchen ein, die untersagte, dass römische Katholiken Rechtsansprüche auf britisches Land erwerben können – eine nutzlose Geste, die seinem Toleranzdenken zuwiderlief, zu dem er sich in Religionsfragen verpflichtet hatte. Obgleich dieser Gesetzentwurf das Parlament mit großer Mehrheit passierte, wurde Russell bald darauf bei einem Antrag auf Angleichung der Grafschafts- und Stadtgemeindewahlrechte geschlagen und erklärte seinen Rücktritt. Als die Russell-Regierung wankte, setzte Disraeli alle Hebel in Bewegung, um seine Führerschaft zu sichern. Er brachte einen weiteren Antrag zur Notlage in der Landwirtschaft ein und hielt in diesem Zusammenhang eine dreistündige Rede, in der er unvermutet einräumte, dass das Land allgemein prosperiere; allerdings ließ er es sich nicht nehmen festzustellen, dass es die gesellschaftliche Fairness und die politische Gerechtigkeit gebieten, die Missstände in jenem wichtigen Bereich, der an dieser Wohlfahrt nicht teilhat, anzusprechen und anzugehen. Zu dieser Zeit wurde der ‚junge Griesgram‘, der 24-jährige Edward Stanley – später der 15. Earl of Derby, ein noch viel weniger überschwänglicher Charakter als sein Vater – ein enger Freund Disraelis, was der ältere Stanley mit gemischten Gefühlen betrachtete. Der junge Stanley schrieb über Disraelis Auftritt in sein Tagebuch, es sei „eine Rede [gewesen], wie es sie nach übereinstimmendem Urteil aller Parteien in puncto Raffinesse und Feingefühl selten gegeben hat“. Ein schon eher skeptischer Journalist schrieb: „Der in der Wüste Geborene kam ohne Karaffe mit Wasser und ohne Papiertüten mit Orangen aus, und er brauchte auch keine würzigen Knabbereien, um durchzuhalten. […] am Schluss dieser überraschenden Zurschaustellung physischer Kraft […], schritt der glanzvolle Judäer […] unbekümmert in die Abgeordnetenlobby […] und verlangte nach einem kleinen Glas Brandy.“18 Am Ende der Sitzungsperiode sank die Regierungsmehrheit auf 14 Stimmen, was mit dazu beitrug, dass Russell ein paar Tage später zurücktrat. Es ging das Gerücht, Mary Anne habe den Hofhalte-Anzug ihres Gatten gelüftet und gebürstet, so dass er nun „unverzüglich hineinschlüpfen kann, wenn er ‚gerufen‘ wird“. Für die Protektionisten war die Gelegenheit zur Regierungsbildung gekommen, für Disraeli aber nahm die Krise einen niederschmetternden Ausgang. Stanley befürwortete bei seiner ersten Audienz bei der Königin die Bildung einer Whig-Peeliten-Koalition. Russell war nicht in der Lage, eine solche Koalition zustande zu bringen, was in Anbetracht der Missstimmigkeiten wegen der Bill über die kirchlichen Rechtsansprüche kein Wunder war. Die älteren P ­ eeliten Lord Aberdeen und Sir James Graham lehnten sogar den Versuch dazu ab. Nun war Stanley wieder am Zug und er konnte kaum ein zweites Mal zurückziehen, ohne sich lächerlich zu machen. Keiner der bedeutenden P ­ eeliten war jedoch bereit, sich ihm anzuschließen, stets aus dem unverhohlenen Grund, dass Stanley beabsichtigte, den Schutzzoll für Getreide und womöglich für Zucker in g­ewissem Umfang wieder einzuführen. Gladstone bekam von Stanley angeboten, er könne, vom Außenamt abgesehen, jedes ihm genehme Amt übernehmen.

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Die Führung im Unterhaus, die Disraeli ihm zu überlassen bereit war, bot er ihm nie an. Gladstone war erleichtert, dass ihn die Absicht, wieder einen Schutzzoll auf Getreide zu erheben, gar nicht erst in Versuchung brachte, sich an der Regierung zu beteiligen. Stanley sah sich daher gezwungen, eine rein aus Protek­ tionisten be­stehende Regierung zu bilden, es stellte sich aber bald heraus, dass die dafür nötigen geeigneten Personen schlichtweg nicht zur Verfügung standen. ­Disraeli verfasste später eine amüsante Darstellung der Geschehnisse, wie so mancher erbleichte bei dem Angebot, ein Amt zu übernehmen, wie Beresford, der Whip, behauptete, dass es geeignete Männer beim Carlton Club gab, die nur darauf warteten, angefordert zu werden, und Stanley ausrief: „Pah! Das sind keine Namen, mit denen ich der Königin kommen kann.“ Das königliche Gespann war bestürzt ob der Möglichkeit einer Rückkehr zur Protektion. Die Königin stand der Person Disraeli nach wie vor sehr ablehnend gegenüber, und sie verlangte von ­Stanley, er solle es sich persönlich angelegen sein lassen, dass dieser sich gut betrage. Stanley nahm seinen Kollegen mannhaft in Schutz und wahrte dessen Interessen während all der Drehungen und Wendungen der Krise, dennoch aber zeigte er sich entschlossen, ihn vom Außenministerium fernzuhalten. Das diplomatische Korps ließ durch seinen Doyen, den russischen Botschafter Graf de B ­ runnow, seine Abneigung gegenüber einem Außenminister Disraeli verlautbaren.19 Dem Viscount Palmerston machte Stanley keinerlei Avancen; Disraeli allerdings hatte schon seit langem mit dem Gedanken an eine solche Annäherung gespielt. Als alles vorüber war, fühlte Disraeli sich sehr niedergeschlagen. Seiner Schwester schrieb er: Ich bin der Meinung, dass wir unsere Chance verspielt haben & dass sich eine solche Gelegenheit wohl sobald nicht wieder bietet. Graham wird demnächst Minister sein – an der Spitze einer neu aufgestellten liberalen Partei & mit einer neuen Reformbill. […] Wenn wir dieser Entwicklung nicht zuvorkommen & keine Parlamentsauflösung aufgrund des der­ zeitigen Wahlrechts erzwingen können, ist es endgültig vorbei mit Old England, glaube ich, und dann werden die amerikanischen Grundsätze den Sieg davongetragen haben.“20

Dem jungen Stanley teilte er mit, dass er sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehen und erneut der Literatur zuwenden werde; ein Plan, mit der er während der frustrierenden Jahre ab und an liebäugelte. Er war der Ansicht, dass es Zeit brauchen würde, „die ‚Bruchstücke wieder zusammenzufügen‘ nach einem solchen Crash“.21 Für die meisten Torys war die Protektion nicht wirklich von der Agenda verschwunden, und der einzige Fortschritt bestand darin, dass ­Stanley zugab, dass sie endgültig ausgedient hätte, würde die nächste Wahl gegen sie ausgehen. Allem Anschein nach hat Disraeli im Sommer angeboten, die Führung auf Thomas Baring übergehen zu lassen, einen der wenigen befähigten Männer auf den Bänken der Protektionisten, dessen Ehrgeiz sich allerdings eher auf die Familien­bank richtete als auf die Politik. Disraelis Angebot könnte durchaus mit neuerlichen Ängsten vor der Bloßstellung wegen seiner Schulden in Zusammenhang gestanden haben, vielleicht sogar mit der Hoffnung darauf, dass ihm Hilfe aus den gut gefüllten Schatullen der Barings käme.

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Seine Konzentration galt nun wieder dem Schreiben, denn er war mit der Abfassung einer Biographie von Lord George Bentinck beschäftigt. Selbst dabei könnten finanzielle Gründe eine Rolle gespielt haben, denn der Bentinck-Familie, die ihm eine große Menge Geld geliehen hatte, war sehr viel an dem Buch gelegen. Der Duke of Portland schickte zwei Koffer voll mit Dokumenten nach H ­ ughenden hinüber. Disraeli beendete die Biographie im Dezember 1851 und gleich darauf wurde sie herausgebracht. Sie ist das Resultat einer Selbstrechtfertigung ihres Autors, protokolliert dieser doch, auch wenn er sich selbst nie beim Namen nennt, wie Bentinck mit seiner Hilfe Peel stürzen ließ und die Partei der Protektionisten gründete. Das Portrait Bentincks ist eine derartige Lobhudelei, dass es sich nie recht mit Leben füllt. Bezeichnenderweise findet Stanley an keiner Stelle Erwähnung. Vermutlich glaubte Disraeli beim Schreiben die meiste Zeit über, dass Stanleys Negativismus darauf hinauslief, kaputt zu machen, was er und Bentinck aufgebaut hatten. Den bemerkenswertesten Teil des Buches bildet das Kapitel über die Juden, das – scheinbar – deshalb eingefügt wurde, weil Bentinck wegen der ‚Juden-Bill‘ von der Führung zurückgetreten war, und das ohne Bindung zum Rest des Buches ist. Disraeli wiederholt darin vieles von dem, was er bereits in Tancred geäußert hatte. Der einleitende Absatz gibt die Richtung vor: Die Beziehungen, die zwischen der beduinischen Rasse, die unter dem Namen der Juden in jedem Land Europas zu finden ist, und den teutonischen, slawischen und keltischen Rassen bestehen […], werden in Zukunft die außergewöhnlichsten Kapitel in einer philosophischen Menschheitsgeschichte bilden. Die Sachsen, die Slawen und die Kelten haben sich die meisten Gesetze und viele der Bräuche dieser arabischen Stämme zu eigen gemacht, ihre gesamte Literatur und ihre gesamte Religion.22

Abermals spricht er die Juden von der Verantwortung für die Kreuzigung los und macht geltend, dass es keine Sühne gäbe, wären sie nicht gewesen. Nichts geht über die Rasse und die Reinheit der Rasse. „Was wäre die Folge für die angelsächsiche Republik beispielsweise, würden ihre Bürger ihrem gesunden Grundsatz des Vorbehalts abtrünnig werden und sich mit ihren negriden oder farbigen Populationen vermischen?“ Die großen europäischen Revolutionen von 1789 und danach kommen einer Verwerfung der semitischen Grundsätze gleich. „Vernichtung des semitischen Prinzips, Ausrottung der jüdischen Religion, ob nun in der mosaischen oder der christlichen Form, Gleichheit der Menschen von Geburt und Abschaffung des Eigentums – das proklamieren die Geheimbünde, die die pro­ visorischen Regierungen bilden, und in jeder von ihnen lassen sich Männer der jüdischen Rasse in den vordersten Positionen finden.“ Die Juden sind Revolutionäre nur deshalb, weil sie verfolgt werden, ihrem Wesen nach sind sie konservativ. „Und so wird es sich erweisen, dass die Verfolgung der jüdischen Rasse die europäische Gesellschaft eines wichtigen konservativen Elements beraubt und der vernichtenden Seite einen einflussreichen Verbündeten verschafft hat.“ So also gibt Disraeli seiner jüdischen Identität eine andere Gestalt, um sie für seine neue Rolle als ein nationaler Führer des Konservativismus passend zu machen. Sein Buch könnte auch den Rassisten, den Theoretikern der jüdischen Weltverschwörung

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und den völkermörderischen Antisemiten späterer Zeiten als ein für ihre Zwecke brauchbarer Text dienen. Vielleicht ist es aber auch eine Trotzreaktion, ein cri de coeur von jemandem, der dazu gedrängt wurde, den Gutsherren von England – die zu verbohrt sind, um ihn zu verstehen – dienstbar zu sein, und der sich gleichwohl seinen Stolz bewahrt hat. Es muss während der Abfassung von Lord George Bentinck gewesen sein, dass Disraeli die bemerkenswerte, weil den modernen Zionismus vorhersagende Unterhaltung führte, von der der junge Stanley im Januar 1851 in seinem Tagebuch berichtet. Stanley war gerade zu Besuch auf Hughenden und gemeinsam machten sie einen Spaziergang in Lord Carringtons Garten in der Nähe von High Wycombe. Unvermittelt redete Disraeli „mit großem Ernst“ über die Möglichkeit, dass den Juden ihr eigenes Land zurückgegeben wird: Geld stünde bereit: die Rothschilds und führende jüdische Kapitalisten, alle würden sie helfen: das türkische Weltreich sei im Zerfall begriffen: die türkische Regierung würde für Geld alles tun: es müssten bloß Kolonien gebildet werden mit den entsprechenden Rechten über Grund und Boden und der Sicherheit vor Übergriffen jeglicher Art. Die Frage der Nationalität könnte womöglich warten, bis diese entstanden wären.23

Er wiederholte seine Auffassung, dass die ‚Sephardim‘ die überlegene jüdische Rasse darstellten und dass Mozart, Soult und zahlreiche andere berühmte Namen jüdischer Abstammung seien. Sollte ihm nach seinem Rückzug aus der Politik noch Zeit bleiben, würde er das Leben Jesu von einem nationalen Blickwinkel aus schreiben. Stanley hatte Disraeli nie zuvor in einem solchen emotionalen Zustand gesehen, dennoch aber hörte er von ihm nie wieder etwas in dieser Sache. D ­ israelis seltsame Ansichten waren nicht geeignet, irgendwem zu gefallen. Auch seine Freunde, die Rothschilds, vermochten sich mit seiner leutseligen Haltung zum Judentum als einer unterentwickelten Form des Christentums nicht anzufreunden. Was immer er ab und an über die geplante Rückkehr zur Literatur auch gesagt haben mochte, Disraeli konnte das große Spiel nicht drangeben und es ließ ihn nicht los. Er wäre auch auf den Hinterbänken ein bedeutender Spieler geblieben, und hätte er sich aus dem Parlament zurückgezogen, wären seine Gläubiger über ihn hergefallen. Nicht selten schlägt er einen pessimistischen Ton an: „die Institutionen von England […] liegen im Sterben, und ohne Zweifel schreitet die Demokratie voran“, „die Whigs haben neuen Mut gefasst & sprechen von einer Mehrheit von 50 Stimmen“. Es wirkt wie ein schlechtes Omen, als er und der ältere ­Stanley auf dem Gelände von Syon House „sich auf ihrem gemeinsamen Spaziergang in ein Gespräch vertieften: abgelenkt wie sie waren, kamen sie vom Weg ab und gerieten am Fluss in ein Sumpfgebiet […] Als sie zurückkehrten, waren sie nicht mehr sauber, und guter Dinge auch nicht mehr.“ Dennoch aber hält Disraeli sich nach wie vor für einen Helden, der nur aus Mangel an Unterstützung nicht recht zum Zuge kommt. Als er es fertigbringt, die Regierungsmehrheit in der Abstimmung zum Staatshaushalt auf 13 Stimmen zu verringern, meint er: „Ich tat das auf

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meine eigene Verantwortung hin. Einige unserer Freunde, ich könnte sagen viele – kleingläubig nach allem, was sich ereignet hatte –, rechneten mit einer erdrückenden Niederlage & schenkten den Prahlereien der Regierung Glauben, sie würde eine Mehrheit von 80 Stimmen erreichen!“24 So schwach und ungeordnet die Opposition auch war, die Russell-Regierung befand sich in keinem besseren Zustand, und jeden Augenblick hätte sie eine Niederlage erleiden oder hätte es zu einer Parlamentsauflösung kommen können. Zu Beginn der parlamentarischen Sitzungsperiode von 1852 eröffnete sich den Protektionisten eine zweite Möglichkeit, an die Regierung zu kommen. Im Dezember 1851 war Palmerston entlassen worden, weil er dem Coup d’Etat zugestimmt hatte, mit dem Louis Napoleon sich zum unumschränkten Herrscher von Frankreich aufschwang. Die Differenzen zwischen Palmerston auf der einen Seite und Russell und dem Hof auf der anderen erreichten ihren Höhepunkt. Sie waren in der Hauptsache den Gesten geschuldet, zu denen sich Palmerston im Falle des ungarischen Revolutionärs Kossuth und bei anderen Anlässen gegenüber der revolutionär-liberalen Seite im Nachgang der 1848-Revolutionen hinreißen ließ. Sie hatten ihn beim Mittelklasse-Radikalismus beliebt gemacht, und seine Entlassung destabilisierte die Russell-Regierung zusätzlich. In der Zwischenzeit war Disraeli seiner formellen Anerkennung als Tory-Führer im Unterhaus einen Schritt nähergekommen. Mit Granbys Abtritt war die Zeit für das Dreiergremium, für diese lang währende und leere Formsache, abgelaufen. Der wegen seiner Stellung nach wie vor hellhörige Disraeli hatte bei den führenden Parteimitgliedern vorgefühlt und festgestellt, dass sie bis auf Henley (einen der alten Hasen der ­Torys) seiner formellen Anerkennung wohlwollend gegenüberstanden. Der am Beginn der Sitzungsperiode übliche Empfang für die führenden Unterhausmitglieder der Torys fand nicht wie bisher im Derby House statt, sondern bei Disraeli am ­Grosvenor Gate. Am 20. Februar 1852 führte Palmerston seinen ersten „Schlagabtausch mit John Russell“, der mit einer Niederlage der Regierung in der Abstimmung über eine ­Miliz-Bill endete. Palmerstons Abänderungsantrag, eine nationale Miliz aufzustellen, und keine regionale, wie die Regierung vorgeschlagen hatte, wurde von den Konservativen befürwortet. Russell trat zurück, und dieses Mal musste Stanley – mittlerweile Derby – eine Regierung bilden, wollte er nicht jegliche Glaubwürdigkeit verspielen. Derby machte nun den Annäherungsversuch an Palmerston, den er ein Jahr zuvor nicht gemacht hatte, und bot ihm die Führung im Unterhaus an und ein Amt seiner Wahl, vom Außenministerium abgesehen, das ihm das könig­liche Paar entschlossen verweigerte. Disraeli stand voll und ganz hinter dieser Entscheidung. Dem schon 67-Jährigen Palmerston die Führung zu überlassen, war ein Preis, den er durchaus gern zu zahlen bereit gewesen wäre für die größere Amts­sicherheit, die eine Derby-Regierung unter Palmerstons Beteiligung für ihn bedeutet hätte. Aus der Sache wurde nichts, weil Derbys Entschlossenheit, das Protek­tionsprinzip nicht anzutasten, bis eine Parlamentswahl eine Entscheidung in diesem Punkt herbeiführen würde, Palmerston eine Entschuldigung in

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die Hände spielte, so dass er sich zurückhalten und auf seine Zeit warten konnte. Man trat später noch verschiedentlich an ihn heran, doch die Überlebenschancen der Derby-Dizzy-Regierung waren ihm nie gut genug. Dennoch dauerte die erste Derby-Dizzy-Regierung etwas länger als die vier Wochen, die ihr viele Oppositionelle gaben, einschließlich Russell. Sie nannten sie die Derby-Miliz und gaben ihr 28 Tage, dann hätte es sich mit ihr. Die Peeliten waren gewillt, Derby eine Chance einzuräumen, und sie ließen verlauten, die Regierungsgeschäfte könnten solange fortgeführt werden, bis eine Parlamentsauflösung und allgemeine Wahlen reinen Tisch machen würden. Ihre Anschauungen waren immerhin so konservativ, dass ihnen Derby-Dizzy im Augenblick lieber war als eine Konstellation, die womöglich in Richtung Radikalismus zu schlingern drohte. Disraeli wurde Schatzkanzler, und bis er selbst zum Premierminister und Ersten Lord des Schatzamts aufstieg, bekleidete er kein anderes Amt. Dieses war freilich nicht so prestigeträchtig wie das Amt eines Staatsministers, passte aber gut zu seiner Führungsaufgabe, da es weniger Anstrengungen kostete als der Innenministerposten, für den er bisweilen als aussichtsreicher Kandidat gegolten hatte. Was das Außenministerium betraf, so war er nach wie vor persona non grata; der Posten ging an Lord Malmesbury und der junge Stanley vertrat ihn als Staatsekretär im Unterhaus. Disraeli fand Malmesbury bald unzulänglich, und die beiden hatten in der Folge kaum mehr etwas füreinander übrig. Disraelis Berufung ins Schatzamt wurde von der Presse nicht gut aufgenommen, trotz all seiner vielen erfolgreichen Interventionen im Finanz- und Steuersektor. Angesichts dessen, was über die wackligen Privatfinanzen seiner Jugendzeit bekannt war, rief das Ganze doch allzu sehr den Eindruck hervor, dass hier der Bock zum Gärtner gemacht worden war. Man kann sich vorstellen, welcher Eindruck entstanden wäre, hätte man um das wahre Ausmaß seiner aktuellen Verschuldung gewusst. Trotzdem war Derbys wegwerfende Bemerkung Disraeli gegenüber, „die Beamten werden Ihnen die Zahlen geben“, unnötig. Hatten die Peeliten ihr noch eine Atempause verschafft, sah sich die Derby-­ Regierung in den Juliwahlen mit ihrer ersten großen Hürde konfrontiert. Die Partei war noch immer nicht auf eine klare Linie bei der Schutzzollpolitik eingeschwenkt. In seiner Regierungserklärung hatte Derby wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass er von der Protektion grundsätzlich überzeugt sei, sich jedoch darauf festgelegt, mit konkreten Maßnahmen bis nach den Wahlen zu warten. Privat bezeichnete Disraeli diese Politik als „Protektion in ihrer abstoßendsten Form“. Als er im April einen vorläufigen, weitgehend ‚gesperrten‘ Haushaltsplan vorlegte, stellte er klar, dass sich die Freihandelspolitik der Vorgängerregierung günstig auf die Staatseinnahmen ausgewirkt hatte. Derby erhob Widerspruch, und es hieß, „Disraeli [hätte] eine Eloge auf Peel gehalten“.25 In seiner Wahlrede trat Disraeli wie schon früher für die Entschädigung der von Benachteiligungen betroffenen Bereiche ein, etwa der Landwirtschaft, der westindischen Zucker­plantagenbesitzer und der Schifffahrtsindustrie. Wie nicht anders zu erwarten, sprach die Partei in den Wahlen nicht mit einer Stimme, und ihr wurde vorgeworfen, dass sie sich in

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den Städten anders vernehmen ließ als auf dem Lande. Der kämpferische Protestantismus sollte als Thema herhalten und das Fehlen einer klaren Finanz­politik vergessen lassen, und sowohl Derby als auch Disraeli verschafften ihm in gewisser Hinsicht Auftrieb. Dadurch wurde jede Hoffnung auf eine weitere Verbesserung der Lage der konservativen Partei in Irland, die von Russells antikatholischer Haltung profitiert hatte, zunichte gemacht. Die Whigs machten ihre Sache in Irland sogar noch schlechter; Nutznießer des ganzen war die neue irische Pachtrechtspartei, die in Westminster als die ‚Brigaders‘ firmierte. Die Peeliten fühlten sich von der zum Großteil engstirnigen Rhetorik der Konservativen abgestoßen. Der junge Stanley hielt in seinem Tagebuch fest, Disraeli habe „den Verlust diverser Sitze darauf zurückgeführt, dass wir zunehmend die ‚Protestanten­ propaganda‘ übernahmen. Ich stimme ihm darin zu: doch wer ließ es so weit kommen?“26 Die Peeliten wiesen eine schlechte Zahlenbilanz auf, statt 40 hatten sie nur noch 30 Sitze inne, die Lage der Derby-Regierung aber war nach wie vor prekär. Das Kräftegleichgewicht hing an den Peeliten und mehr noch an der Irischen Brigade. Im November musste das Parlament wieder zusammentreten, denn die ­Peeliten gewährten ihre Unterstützung nur unter der Bedingung, dass die Finanzpolitik der Regierung eine baldige Klärung erfährt. Nach Lage der Dinge hätten die Pee­liten ihre Sitze auf den Bänken der Opposition eingenommen, was ein Hinweis darauf war, wo die meisten von ihnen sich zukünftig sahen. Viel hing von D ­ israelis Haushaltsplan ab, an dem er während der Sitzungspause hart gearbeitet hatte. Fast wäre er daran gehindert worden, ihn vorzulegen, und zwar durch einen Freihandelsantrag, dessen Annahme den sofortigen Rücktritt der Regierung zur Folge gehabt hätte. Palmerston eilte mit einem moderater gefassten Antrag zu Hilfe, der von den Peeliten befürwortet wurde und den die meisten der Protektionisten akzeptabel fanden. Die Peeliten wollten, dass die Regierung Farbe bekennt, was den Etat anging, während Palmerston nach wie vor auf Zeit spielte und nur dann konkreter wurde, wenn ihm das einen persönlichen Vorteil einzubringen schien. In der Debatte über diesen Antrag trat eine persönliche Feindschaft zutage, als nämlich Sidney Herbert, ein führender Peelite, sich zu Disraelis verworrenem Kurs in Sachen Protektion äußerte und zu der Bemerkung hinreißen ließ, dass die Juden aufgrund des „chirurgischen Eingriffs“ der Beschneidung kaum Zulauf von Konvertiten hätten.27 Man war Disraeli noch immer gram, dass er Peel, den verstorbenen Führer, demontiert hatte. In einer von Böswilligkeit geprägten politischen Atmosphäre war aus Disraeli ein Blitzableiter geworden, doch der ertrug derlei Angriffe hinter der Maske der Gleichgültigkeit. Am 3. Dezember 1852 stellte Disraeli seinen Haushaltsplan vor, wofür er fünf Stunden Redezeit benötigte. Die wichtigste der von ihm vorgeschlagenen Ausgleichs- bzw. Entschädigungsleistungen für die Landwirtschaft waren die Halbierung der Malzsteuer und eine Neubewertung der Agrargewinne mit dem Ziel, ihre Steuerpflicht um die Hälfte abzusenken. Die Einkommensteuer war zwar unverzichtbar, dennoch schlug Disraeli vor, zwischen „unsicherem“, nämlich er­

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arbeitetem, und „dauerhaftem“, nämlich nicht erarbeitetem Einkommen zu unterscheiden. Die erste Steuer sollte nur in Höhe von drei Vierteln des Satzes der letzteren von 7 Pence pro Pfund entrichtet werden. Dieses Vorhaben lief der Orthodoxie der Peeliten zuwider, entsprach jedoch der Auffassung der Radikalen und wurde später in das Steuersystem übernommen. Um die von diesen Zugeständnissen bewirkten Verluste bei den Steuereinnahmen auszugleichen, regte Disraeli eine Verdopplung der Haussteuer an und eine Absenkung der Befreiungsgrenze bei der Einkommensteuer von 150 Pfd. auf 100 Pfd. bei erarbeitetem und auf 50 Pfd. bei nicht erarbeitetem Einkommen. Mit seinem geschickten Entwurf wollte sich Disraeli die größtmögliche öffentliche Zustimmung sichern. Zu seinem Pech musste er in letzter Minute ein paar Anpassungen vornehmen, die dem Anstieg der Verteidigungsausgaben geschuldet waren. Dadurch konnte die Verminderung der Teesteuer, eine Maßnahme zur Beglückung der Konsumenten, nur 4½, statt der vorgesehenen 6½ Pence betragen. Außerdem hatte er es versäumt, der Vielschichtigkeit, die sich in den verschiedenen Einkommensteuer­tabellen abbildete, vollauf Rechnung zu tragen. Dennoch hatte der Haushaltsplan die Ablehnung nicht verdient, die ihm im Unterhaus vonseiten vieler selbsternannter Hüter der Finanzdisziplin à la Pitt und Peel entgegenschlug. Disraeli war verzweifelt bemüht, eine Niederlage abzuwenden. Er hatte ein ungewöhnliches spätabendliches Treffen mit Bright am Grosvenor Gate, bei dem er ihn vergeblich auf eine neutrale Haltung einzuschwören versuchte. Das war die Art von Manöver, die – wenn er sich in späteren Jahren ähnlich verhielt – das Misstrauen nährte, das ihn umgab. Als Disraeli am 17. Dezember seine Abschlussrede hielt, tobte draußen ein Wintersturm. Der Schatzkanzler endete mit seiner berühmten Einlassung über eine Koalition, die sich gegen die Regierung bilde, allein, „England hat für Koalitionen nichts übrig“. Gegen alle Gewohnheit des Hauses erhob sich daraufhin Gladstone, „bebend vor Leidenschaft […] und mit wutverzerrtem Gesicht, das sonst so viel Ruhe ausstrahlte“. Er geißelte den Ton der Rede des Schatzkanzlers, der noch immer nicht wisse, „was der Takt, die Mäßigung und die Geduld gebieten“.28 Er kritisierte ihn dafür, dass er mit der einen Hand wieder nahm, was er mit der anderen gegeben hatte, indem er die Haussteuer erhöhte und die Befreiungsgrenze bei der Einkommensteuer absenkte. Seine Kritik bezog sich vorrangig auf die technischen Details der Einkommensteuer und ihrer Ausdifferenzierung; den Haushaltsüberschuss, den der Schatzkanzler eigenen Angaben nach erzielt hatte, nannte er frei erfunden. Ein Überschuss wiederum war nach peelitischem Verständnis unabdingbar. Gladstone hielt Disraeli nicht nur für einen Quacksalber in finanziellen Angelegenheiten, er sah in ihm auch eine dämonische Gestalt, in der er sich seine moralische Rechtschaffenheit selbst zu bestätigen suchte. Galt Gladstone stets als der führende Peelite, bei dem es am wahrscheinlichsten ist, dass er zu den Konservativen zurückkehrt, war er nun drauf und dran, eine Koalition mit den Whigs einzugehen. Damit nahm die viktorianische Politik eine entscheidende Wendung, und dass Disraeli ein maßgeblicher Grund dafür gewesen sein dürfte, macht deutlich, dass er sich nunmehr im Zentrum des Geschehens befand.

6. Auf Beutezug in kargen Jahren (1853–1859) Disraeli wollte vom Amt und von der Macht nicht lassen. Er weigerte sich, und ließ sich auch nicht mit Geld ködern, das aus Pitts Zeit stammende Amtsornat abzulegen und seinem Nachfolger Gladstone zu überlassen, der ein Gewohnheitsrecht darauf hatte. Auf Gladstones hartnäckiges Nachfragen hin ließ er durch­blicken, dass es sich bei seinem Nachfolger nicht um „einen Mann von Welt“ handelt. Dass er sich an ein solch unwichtiges Symbol klammerte, zeigt, wie sehr das große Machtspiel der Politik von seinem Leben Besitz ergriffen hatte. Andere waren mindestens ebenso amtssüchtig, auch wenn sie den Schein wahrten, wie man es von ihnen als öffentliche Personen verlangte. Palmerston und Russell, um nur die prominentesten zu nennen, klebten nicht weniger an ihrem Amt als Disraeli, allerdings viel erfolgreicher. Die Ministergehälter waren nach heutigen Maßstäben sehr hoch, und sie entsprachen in etwa dem, was Führungskräfte aus der Industrie und dem Finanzwesen, nicht aber Politiker, heutzutage verdienen. Russell als auch Palmerston waren auf ihre Amtsgehälter angewiesen. Der sehr reiche Derby wiederum, der, was Disraeli so sehr ärgerte, nicht aufs Regieren versessen war, klammerte sich all die Jahre an seine Position als Tory-Führer. Manchmal hatte er seinen Stellvertreter im Verdacht, er plane im Stillen, ihn zu verdrängen, und in den 1860er Jahren, als sich viele wünschten, sein Sohn möge ihn ersetzen, zeigte Derby sich nicht bereit, die Bühne vor der Zeit zu verlassen. Disraeli wiederum ging es weniger um Geld als um Macht, die war sein Aphrodisiakum; aber wenn ihm die Macht auch so oft versagt blieb, zu Ruhm hatte er es gebracht. Er war eine solch exotische Erscheinung unter den führenden Männern dieser Tage, dass weder die Öffentlichkeit noch die Meinungsmacher ihn aus den Augen lassen konnten. Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als die Rolle zu spielen, die sein Publikum von ihm verlangte. Er konnte sich nicht erlauben, die Maske des „asiatischen Geheimnisses“ zu lüften, was Malmesbury „seine geheimnisvolle Art“ nannte, „die ihn wie einen Ausländer wirken lässt“. Der jüngere Stanley sah in Disraelis zynischem und sarkas­ tischem Auf­treten bisweilen eine nervtötende Maniriertheit.1 Seine Berühmtheit allein machte aus der konservativen Partei noch keine sichere Basis für eine Regierung. Die gemeinen Torys (in der Mehrzahl Grafschaftsabgeordnete, die dem Landadel angehörten) waren durch eine Kluft von den Funktionsträgern getrennt, die nur ein Amt erhalten würden, wenn die Partei eine Mehrheit erlangte. Das Fußvolk war nahezu unmöglich zu steuern, weil so viele von ihnen ihren Sitz ihrem Ansehen in ihrer Heimatgemeinde verdankten, und keinem Parteiruf oder Parteiführer. Disraeli hatte zwei Möglichkeiten, seine schwer erreichbaren und widerspenstigen Gefolgsleute unter Kontrolle zu bringen, die Parteiorgani-

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sation und die Presse. In den ein, zwei Jahren nach dem Sturz der ersten DerbyRegierung gelang es ihm, die Parteiorganisation zunehmend unter seine Kontrolle zu bringen. Beresford, der Whip, mit dem Disraeli zu keiner Zeit einvernehmliche Beziehungen gepflegt hatte, sah sich im Zusammenhang mit der Wahl von 1852 Bestechungsvorwürfen ausgesetzt, denen er sich nur mit knapper Not zu entziehen vermochte, aber dennoch als Whip abgesetzt wurde. Er war einer der vielen Mitglieder des mächtigen anglo-irischen Lagers, das in der Parteihierarchie den zweiten Rang einnahm und sich umtriebig und kämpferisch für den Antikatholizismus einsetzte. Auch der nächste Whip, Forbes MacKenzie, stolperte über Bestechungsvorwürfe; seinen Platz hatte seit 1854 Sir William Jolliffe inne, der spätere Lord Hylton, mit dem Disraeli viele Jahre lang einvernehmlich zusammenarbeitete. Die außerparlamentarische Parteiorganisation wurde zu großen Teilen von Philip Rose übernommen, Disraelis privatem Anwalt und Vertrauten, und von dessen Rechtsanwalts-Firma Baxter, Rose, Norton & Co. Rose wurde für seine Parteiarbeit nicht bezahlt, dafür aber war ein anderes Firmenmitglied, Markham Spofforth, Rose unterstellt, um sich gegen Gehalt um die Wahlen (und ihren Ausgang) zu kümmern, was ein bisweilen undurchsichtiges und schmutziges Geschäft war. Auf diese Weise wurde durch eine ‚Zwischenschicht‘ aus jenen Leuten, die Disraeli einprägsam als Tadpoles und Tapers [Kaulquappen und Würmer] bezeichnet hatte, eine sorgfältige Distanz gewahrt zwischen den Politikern und irgendwelchen fragwürdigen Vorgängen, die sich während des Wahlmanagements ereignen konnten. Es gab eine Mannschaft, der Disraeli trauen durfte, die aber auf die Wahlen unter den bestehenden Umständen nur begrenzt Einfluss zu nehmen vermochte. Disraeli, der so sehr an die Macht des gesprochenen und geschriebenen Wortes glaubte, war naturgemäß äußerst beunruhigt wegen der Feindseligkeit der Presse, die seiner Ansicht nach zum Sturz der Derby-Regierung beigetragen hatte. Die Anfeindungen waren Ausdruck der Abneigung gegen den Konservativismus der gut informierten und gebildeten öffentlichen Meinung, oder wie man heutzutage in England vielleicht sagen würde, der „chattering classes“, also der politisch interessierten und sich bei jeder sich bietendenden Gelegenheit zu Wort meldenden Schicht von Leuten. In einem an die Konservativen adressierten Rundschreiben, das um ihre Unterstützung für eine geplante neue Zeitschrift warb, räumte D ­ israeli ein: „Es scheint, dass alle Gebildeten des Landes gegen uns vereint sind, und die nachkommende Generation ist halb beschämt, eine Sache zu unterstützen oder hochzuhalten, die sie weder klug noch vernünftig dünkt.“2 Die Presse bezog ganz zweifellos überwiegend eine liberale Position. Die Morning Post, einst ein ToryBlatt, war zum Sprachrohr Palmerstons geworden. Tages- oder Wochenzeitungen spielten nun eine größere Rolle als die Periodika, und die Blätter, die nach wie vor den Torys zuneigten, wie der Morning Herald oder der Standard, galten als engstirnig und standen nicht bedingungslos zur Derby-Dizzy-Führungsriege. Mithilfe des jungen Stanley und anderer Gleichgesinnter gründete Disraeli eine neue Wochenzeitung, The Press, die trotz finanzieller Engpässe bis 1866 regelmäßig herauskam. Disraeli schrieb zahlreiche Beiträge für sie, und obwohl er alle Anstren-

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gungen unternahm, das geheim zu halten, wurde weithin vermutet, dass er sich aktiv beteiligte. Nach 1855 schrieb er selbst weniger, dennoch sah man in dem Blatt auch weiterhin sein Verlautbarungsorgan. 1858 verkaufte er seine Anteile. Für die erste Ausgabe steuerte er einen Angriff auf die Aberdeen-Koalition bei, der er die wesentlichen Punkte seines Einwandes gegen das Koalitionsprinzip artikuliert: Die Koalition wird ja nicht einmal durch einen Kompromiss getragen, sondern durch die schiere Außerkraftsetzung der Prinzipien. In den Akten findet sich nichts Vergleichbares. Die Regierung ist demzufolge nicht im moralischen, sondern im wörtlichen Sinne eine prinzipienlose Regierung. Sie führt die Geschäfte, vertritt jedoch keine Meinung.3

Von einer Zeitschrift konnte man kaum erwarten, dass sie die politischen Verhältnisse verändert, und dass er sich an ihr beteiligte, hat Disraeli wohl mehr geschadet als genutzt. Er verlor sicherlich Geld, denn mit der ihm eigenen Sorglosigkeit, was die Finanzen anging, griff er seine eigenen Resourcen an, als er es sich kaum leisten konnte. Seine journalistischen Veröffentlichungen verstärkten das Misstrauen gegen ihn noch, und sein Kollege Malmesbury bezeichnete sie einst als seine „verfluchte“ Presse. Als er im Februar 1853 bei seinem ersten Großangriff auf die Außenpolitik der Regierung sagte, „Ich für meinen Teil bin ‚ein Ehrenmann der Presse‘ und ein anderes Wappen führe ich nicht“, gab es ein großes Gelächter. Die Konservativen konnten nur dadurch wieder Aufmerksamkeit auf sich lenken, dass sie eine modernere Politik machten, die den zeitgemäßen Vorstellungen entsprach. Dass Disraeli nicht das alleinige Sagen hatte, behinderte ihn sehr bei seiner S ­ uche nach Lösungen für die inhaltlichen und strategischen Dilemmas seiner Partei. Derby war ‚der Chef‘, daran bestand kein Zweifel. Mit den Jahren wurde es immer unwahrscheinlicher, dass er – wie Graham es 1857 ausdrückte – Disraeli wegwerfen würde „wie eine ausgepresste Orange“.4 Noch unwahrscheinlicher war, dass der in Derby gelegentlich aufkeimende Verdacht, sein Stellvertreter wollte ihn womöglich verdrängen, sich als begründet herausstellen würde. Derby selbst teilte Prinz Albert 1852 mit, dass „Mr. Disraeli weiß, dass er [Derby] das Vertrauen von dreihundert seiner Anhänger hat, indes Mr. Disraeli im Falle, dass er selbst sich von ihm trennt, sehr wahrscheinlich keine fünf Unterstützer auftreiben würde“.5 Derby war fünf Jahre älter als Disraeli und häufig von der Gicht niedergeworfen worden. Es konnte also durchaus sein, dass er in den Ruhestand ausschied, aber wenn, dann nur aus freien Stücken. Disraeli war mithin in politischer Hinsicht von Derby genauso abhängig wie in finanzieller von seiner Frau. Gelegentlich gingen sich die beiden Männer auf die Nerven, was auch in den besten Ehen vorkommt, zu einem ernsthaften Bruch kam es jedoch nie. Der Grund dafür kann darin liegen, dass ihre Beziehung nie zu eng war: Disraeli besuchte Knowsley, den Hauptlandsitz der Familie Stanley, unweit von Liverpool, das erste und einzige Mal 1853, und ihm missfiel das Haus; Derby beehrte Hughenden kein einziges Mal mit seiner Anwesenheit. Wie ein viktorianischer Ehemann erteilte Derby manchmal Rügen, doch die waren in diplomatische Schmeicheleien verpackt, während Disraeli, obschon er sich ehrerbietig

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zeigte, nicht oft nachgab. Derby hatte andere, aus seiner Oberhaus­perspektive jedoch ebenso plausible Vorstellungen, wie sich die Sache der Konservativen voranbringen ließe. Er lehnte es ab, auf die zur Spaltung neigenden Kräfte, die sich den Torys widersetzten, allzu viel Druck auszuüben, ob nun in den Tagen der Aberdeen-Koalition oder späterhin zu Palmerstons Zeiten. Ein solcher Druck würde bloß diese Koalitionen festigen und jegliches Störfeuer unterbinden. Manchmal spottete er über Disraelis Rastlosigkeit und launenhaften Stimmungsschwankungen und machte sich „über seine Neigung zu den Extremen lustig“, über „sein Schwanken zwischen Begeisterung und Niedergeschlagenheit“.6 Derbys Vorsicht zog die Kritik jedoch genauso auf sich wie Disraelis Hyperaktivität. Die Partei war auf beide angewiesen, aber nur bei einem Erfolg, der sich selten einstellte, würden ihre Handlungen gerechtfertigt. Gladstone sagte 1851, Disraeli sei für Lord Derby ein Fluch und zugleich unverzichtbar; andersherum trifft es die Sache aber auch. Disraeli mag eine Aktie daran gehabt haben, dass es Derby nicht gelang, Allianzen zu schmieden, die die Torys in den mittleren Jahrzehnten länger an der Macht hätten partizipieren lassen, er erwies sich aber auch als nützlich, als es galt, ungebetene Eindringlinge abzuweisen. Die Weltanschauungen der beiden Männer deckten sich zu großen Teilen. Der ehemalige Whig Derby stand dem pragmatisch-liberalen Konservatismus Disraelis näher als den bornierten Ewiggestrigen auf den Tory-Hinterbänken. Allen Spannungen und dem Anschein zum Trotz war es unter den gegebenen Umständen eine funktionierende Partnerschaft; Derby konnte sich bei allem, was er tat, auf seinen nahezu unendlich belastbaren Vertrauensfond stützen, indes dem wenig geliebten Disraeli als ‚Cheerleader‘ applaudiert wurde und er das geringe ihm entgegengebrachte Vertrauen aufbrauchte, selbst wenn jeder seiner Sarkasmen beim Gegner einen Treffer landete. Die Konservativen dachten wohl, das aufreizende Objekt ihres Verlangens – die Machtsicherung – durch Taktieren oder Koalieren oder durch eine Kombination aus beidem erlangen zu können. Nach der Niederlage vom Dezember 1852 war es mit der Protektion endgültig vorbei, aber einige der alten Hochtorys, wie etwa ­Newdegate, wollten noch immer nicht aufgeben. Der Protestantismus blühte weiter auf, und das allgemeine Vertrauen in Derby hatte einen wesentlichen Grund darin, dass die Menschen an die Standfestigkeit seines Antikatholizismus glaubten. Disraeli war bereit, die protestantische Trommel zu rühren, doch in den 1850er und 1860er Jahren gehörte es zu seiner Strategie, um die irischen Katholiken und die Irische Brigade in Westminster zu buhlen. Er glaubte, dass die Katholiken naturgemäß Konservative seien und dass der Liberalismus in Europa der natürliche Feind des Papstes sei. „Irland ist agrarisch, aristokratisch und religiös; folglich müsste Irland konservativ sein“, sagte er 1861 zu Stanley.7 All das stand quer zu anderen Tatsachen: dass der irische Konservativismus zu großen Teilen orange (also protestantisch) war, dass „ein irischer Konservativer nicht aus dem gleichen Holz ist wie ein englischer Konservativer. Er ist ein wahrer Konservativer – ein Feind alles Demokratischen.“8 Die fanatischen Protestanten und die antikatholischen irischen Torys gehörten zu Disraelis erbittertsten Gegnern in der Partei. Der aber ließ

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sich von einer solchen Gegnerschaft nicht schrecken und tastete sich langsam vor zu so etwas wie einem konservativen Fortschrittsdenken, bei der Parlamentsreform etwa oder beim Thema Indien. Der stramme irische Tory-Landbesitzer, Oberst Taylor (Whip von 1854 und oberster Whip von 1859 an), vertrat die Ansicht, die Partei müsse ihrem Negativismus abschwören und Derbys abwartende Haltung hinter sich lassen. Die Politik war eng an Persönlichkeiten und Parteibündnisse geknüpft. Disraeli, der in der Vergangenheit auf die Whigs eingeprügelt hatte, war jetzt davon überzeugt, dass die alten Whigs mit den Torys koalieren müssen und dass Leute wie Russell, die sich dazu nie hergeben würden, früher oder später bei der Manchester Schule landen. Die Wahl, vor der die Nation eigentlich stand, war die zwischen Cobden und Bright auf der einen Seite und dem Derby-Dizzy-Konservativismus auf der anderen; die Whigs konnten sich nur für diesen entscheiden. In den tagtäglich sich ändernden politischen Umständen der Jahrhundertmitte war Disraeli bei der Lobbyarbeit jedoch mitunter gezwungen, Cobden und Bright als potenzielle Bündnispartner ins Kalkül zu ziehen, auch wenn er sie häufig als „demokratisch“ etikettiert hatte, was so viel heißen sollte wie revolutionär. Er überzeugte sich allerdings davon, dass der Mittelklasse-Radikalismus keineswegs revolutionäre oder umstürzlerische Pläne verfolgte und einen Bündnispartner abgeben könnte, wenn es darum ging, sich der Demokratie des allgemeinen Wahlrechts zu erwehren. Sein instinktives Vorurteil gegen die aufs Geschäftemachen ausgerichtete Mittelklasse schwand, es blieb jedoch eine seiner Schwächen, dass er sich mit dieser immer mächtiger werdenden Gesellschaftsschicht nicht recht anzufreunden wusste. Die konservativen Gutsherren aber, auf die Disraeli nächtelang einreden musste, wollten sich nicht mit Cobden und Bright in derselben Lobby wiederfinden. Es fiel ihnen wahrlich nicht schwer, ihren unaufrichtigen und prinzipienlosen Führer, den Juden, zu beschuldigen, dass er ihnen jene Gesellschaft aufnötigen würde. Palmerston war für die Torys auch weiterhin der reizvollste mögliche Fang. Dass es ihnen 1855 nicht gelang, ihn sich zu angeln, und ebenso wenig 1858/59, gleich nach seiner ersten Amtszeit als Premierminister, grämte Derby und Dizzy in den öden Jahren fast bis über das erträgliche Maß hinaus. Palmerston war viel zu gewieft, um sich fangen zu lassen, und sich seines Wertes sehr wohl bewusst, wenn der sich mit den Jahren auch verringerte. Er war näher an der öffentlichen Meinung und kommunizierte besser mit ihr als Derby und Disraeli, und hierin bestand seine Stärke. Manchmal war die öffentliche Meinung wichtiger als die Macht im Parlament. 1857 erlitt Palmerston eine Niederlage im Unterhaus, die nachfolgende Wahl aber wurde sein Triumph und zeigte, dass er das Kommando im Lande hat. Bei dem anderen Mann, der ‚zu haben war‘, handelte es sich um Gladstone; er galt als der Peelite, der den Anträgen der Torys am offensten gegenüberstand. Seine Anwerbung wäre von eher zweifelhaftem Wert gewesen, denn die gemeinen Torys lehnten ihn als einen Puseyiten, womöglich Kryptokatholiken und anmaßenden Eiferer entschieden ab. Derby und Disraeli wurden von Zeit zu Zeit von den Whips davor gewarnt, dass ein Beharren auf Gladstone eine Welle der Abtrünnigkeit aus-

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lösen würde. Gladstone bekleidete jedoch noch bis 1859 die Rolle der ‚nicht zurückeroberten Eurydike‘, um die Derby und Dizzy mit verhaltenem Eifer warben. Hätte sich Gladstone den Torys angeschlossen, wäre er für Disraeli ein ernster zu nehmender Rivale gewesen als der alternde Palmerston. Disraeli konnte Gladstone die Kanzlerschaft des Schatzamtes nicht in Ehren überlassen, denn die beiden rivalisierten auf dem Feld der Finanzen. Man weiß nicht, welche Folgen Gladstones Beitritt für die Führerschaft in der Partei gehabt hätte, die ihm nie formell angetragen wurde. Die meisten waren der Meinung, dass Gladstone sich unabhängig von seiner formellen Stellung bald als der De-facto-Führer durchgesetzt hätte. Jeder beliebige Tory-Führer hätte in den 1850er Jahren im Unterhaus eine schwierige und undankbare Aufgabe zu bewältigen gehabt, und wie sich herausstellte, noch bis in die mittleren 1860er Jahre. Disraeli musste diese Dürreperiode mit einem außerordentlichen Vertrauensdefizit angehen. Der zwielichtige Ruf, in dem er von seinen jüngeren Jahren her stand, und die Erinnerung an seine zahlreichen ‚Schrammen‘ verblassten mit der Zeit. Das Bild des Fremden und das des Juden wurden zu Klischees. Die Jahre im Rampenlicht, die zahllosen Karikaturen machten ihn mitsamt seinen absonderlichen Eigenschaften zu einer vertrauten Gestalt. Der Schwung und die Frechheit, mit denen er in das Allerheiligste des ­Establishments vorgedrungen war, hatten ihm eine gewisse Beliebtheit eingebracht. Als Derby als Kanzler der Universität von Oxford seinen Stellvertreter für einen Ehrendoktortitel empfahl, fragte Disraeli sich nervös, welchen Empfang man ihm in der alten Universität wohl bereiten würde, doch die Studenten begrüßten ihn mit Jubelgetöse. Die endlosen Manöver und das ständige Buhlen um einen Partner sorgten jedoch dafür, dass das Misstrauen blieb und der Widerwille zunahm. Die Meinung seines enttäuschten und oftmals eifersüchtigen Kollegen Malmesbury, „Disraeli würde für Amt und Macht alles tun und mit jedem zusammengehen“, wurde nahezu einhellig geteilt.9 Ein früherer journalistischer Verbündeter, Samuel Phillips, auch er jüdischen Ursprungs, veröffentlichte im Januar 1854 in der Times einen beißenden Angriff auf Disraeli. Es handelte sich dabei um eine Besprechung einer anonymen 600 Seiten langen Biographie über Benjamin, die selbst wiederum sehr feindselig war. Phillips klagte ihn an, er habe die angesehene Aristokratie von England auf sein eigenes moralisches Niveau herunterzogen. „Benjamin Disraeli wird vor der Nachwelt stehen als der große Ungläubige der Politik seiner Zeit – als jemand, der an nichts glaubte außer an sich selbst. […] Manche Männer glauben, sie seien um einer Sache willen da; er ist dezidiert der Meinung, dass jegliche Sache um seinetwillen da ist.“10 Man muss freilich sagen, dass hier mit einer Munition geschossen wurde, die Disraeli für gewöhnlich selbst benutzte. Das königliche Paar, genau genommen Prinz Albert, der die politischen Ansichten der Königin in der Regel formte, blieb gegen die Torys voreingenommen und insbesondere gegen Disraeli. Durch die größere Nähe während der Regierungszeit von 1852 hatten sich die Beziehungen gebessert; Disraeli war beeindruckt von den Fähigkeiten des Prinzen und man achtete einander in gewissen Grenzen. Nichtsdestotrotz war der Prinz aktiv an der Bildung der Aberdeen-Koalition beteiligt,

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was wiederum insofern nicht überrascht, als schließlich eine Regierung Ihrer Majestät gebildet werden musste. Während Derbys Abschiedsaudienz sprach Prinz Albert „häufig von Disraeli, von seiner Begabung, seiner Energie, und brachte dennoch die Furcht zum Ausdruck, dass er nicht mit ganzem Herzen hinter der existierenden Ordnung stehe.“ Derby verteidigte seinen Mitstreiter: „Er hat guten Grund, besseren als jeder andere, unserem Verfassungssystem anzuhängen, hat er doch erfahren, wie leicht ein Mann in ihm aufzusteigen vermag.“ Der Prinz war erfreut, das zu hören, „glaubte jedoch nach wie vor, dass Disraeli der Demokratie zuneigt, ‚und sollte das der Fall sein, könnte er zu einem der gefährlichsten Männer in Europa werden‘“.11 Das Klischee vom Juden als umstürzlerischen Revolutionär hatte sich in Alberts Kopf eingenistet. Disraeli war isoliert, aber wohl nicht isolierter als jeder andere außergewöhnliche Mann. Stanley war einer von ein paar jungen Adligen, die seine einzigen engen Freunde zu sein schienen. Ein anderer, der Zuneigung zu ihm fasste, war Lord Henry Lennox, ein mittelloser jüngerer Sohn des 5. Dukes of Richmond. Er war ein Leichtgewicht, ein Schwätzer, kaum für ein Amt befähigt und hatte nicht einmal einen Bruchteil des politischen Stellenwerts von Stanley, seine Beziehung zu Disraeli aber war von beiden Seiten wärmer und emotionaler. Disraeli handelte sich im Laufe seines Lebens immer wieder Ärger und Verlegenheiten ein, weil er sich für Lord Henrys Interessen einsetzte, was der ihm häufig genug nur mit Gereiztheit und Treulosigkeit dankte. In der Intimität seines Tagebuchs muss Stanley entgegen seiner Vorbehalte gegen Disraeli als eines zweifelhaften Charakters einräumen: In zwei Dingen ist Ds Wesen liebenswürdiger, als die meisten Leute meinen: da ist zum einen seine uneigennützige und nicht selten für ihn selbst mit Unannehmlichkeiten ver­ bundene Bereitschaft, aufstrebende Begabungen zu ermutigen und sie zu unterstützen (wofür ich etliche Beispiele anführen könnte): zum anderen seine Dankbarkeit – die jene bestätigen könnten, die sich mit seiner Stellung zu Hause auskennen, die ich jedoch nur andeutungsweise erwähne –, die er während der vielen Jahre nicht müde wurde, derjenigen [Mary Anne] zu erweisen, der er seinen Erfolg zu großen Teilen verdankt, die im Gegenzug jedoch keine geringen noch leicht zu befriedigende Ansprüche an ihn stellt.12

Die Ehe und das häusliche Leben am Grosvenor Gate und insbesondere auf Hughenden waren in der Tat zum Rettungsanker für Disraelis Existenz geworden. Trotz all der Enttäuschungen, die das große politische Spiel für ihn bereithielt, fand er es vollkommen erfüllend, doch am Ende einer parlamentarischen Sitzungsperiode war er jedes Mal erschöpft. Im August 1854 schrieb er an Lady Londonderry: „Obwohl ich mich recht passabel fühlte, als ich die Stadt verließ, fand ich mich keine 48 Stunden später in einem Zustand nervöser Erschöpfung wieder. Ich nehme an, das ist auf das jähe Ende der Aufregung zurückzuführen, das zu total und zu abrupt war für die mentale Ausstattung von unsereinem.“13 Was seinen Privathaushalt anging, so war er in diesen Dingen vollständig von Mary Anne abhängig. Als sie im Herbst 1853 ernsthaft krank war, schrieb er Lady ­Londonderry: „Weil sie die Seele meines Hauses ist, alle meine häuslichen Angelegenheiten regelt, stellt diese Situation, von allem anderen abgesehen, mein Leben komplett

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auf den Kopf. Mir kommt es vor, als verfalle alles der Anarchie.“14 Dennoch aber war seine Gattin fordernd und besitzergreifend und zunehmend exzentrisch in dem, wie sie auftrat, redete und sich kleidete. Sie befand sich mittlerweile in ihren 60er Jahren, und was in früheren Tagen den Charme der Naivität hatte, wirkte jetzt peinlich und sogar grotesk. Es gibt zahllose Anekdoten über sie: als die Rede auf die Schönheit einer griechischen Nacktstatue kam, soll sie gesagt haben, „O, Sie sollten einmal Dizzy sehen, wenn er ein Bad nimmt“. Sie gab sich ihm bedingungslos hin, und er hätte nie ein schlechtes Wort über sie toleriert. Aber man muss auch sagen, dass er kaum eine andere Wahl hatte, als das Leben zu führen, das er führte; wäre er nicht so bedeutend und berühmt gewesen, dann hätte es ein Problem sein können, dieses Leben auszuhalten. Selbst jetzt war er finanziell beileibe nicht auf der sicheren Seite; 1857 bekam er neue Probleme, als der spleenige 5. Duke of Portland die Bentinck-Hypothek auf das Hughenden-Anwesen kündigte. ­Disraeli musste sich erneut Geld leihen zu exorbitant hohen Zinsen. In ruhigere Fahrwasser gelangte er schließlich erst nach 1862. Ein wohlhabender Unterstützer der ­Torys, Andrew Montagu, kaufte all seine Schulden auf und räumte ihm einen niedrigen Zinssatz ein. Er kam auch zu einem Erbe von 40.000 Pfd. Es stammte von Mrs. Brydges Willyams, einer in Torquay lebenden Witwe. Sie war wie er jüdisch von Geburt, mit Mädchennamen hieß sie Mendez da Costa. Sie hatte ihm viele bewundernde Briefe geschrieben, die er allesamt unbeantwortet ließ. 1851 bat sie ihn, ihr Testamentsvollstrecker zu werden und damit ihr Vermächtnisnehmer. Schließlich trafen sie sich, und von 1853 an besuchte er sie gemeinsam mit Mary Anne regelmäßig. Seine Korrespondenz mit ihr in den letzten zehn Jahren bis zu ihrem Tod ist eine Hauptquelle für seine Biographen; beigesetzt wurde sie auf dem Friedhof von Hughenden. Die Aberdeen-Koalition war brüchig, und nach 1855 war Palmerstons Macht durchaus nicht so gefestigt, wie es im Rückblick den Anschein hat. Das hielt die Hoffnung in diesen kargen Jahren lebendig. Im Frühling 1853 gab Glad­stones Haushalt der Aberdeen-Regierung einen enormen Schub, doch das Lob, mit dem er überhäuft wurde, scheint einigermaßen übertrieben, wenn man bedenkt, welchen Verleumdungen Disraeli im Jahr zuvor für seine Bemühungen ausgesetzt war. Gladstone verzichtete auf die Unterscheidung zwischen erarbeitetem und nicht erarbeitetem Einkommen, die Disraeli mit administrativ ungeeigneten Bestimmungen einzuführen versucht hatte und die bei seinem Nachfolger auf die strengste Kritik gestoßen war. Spätere Generationen sahen in dieser Unterscheidung ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit. Noch in einer Rede zum Finanz­gesetzentwurf von 1854 verwies Disraeli darauf, dass „es ein Instrument gab, um die Einkommensteuer weniger ungerecht, weniger bedrückend und weniger inquisitorisch zu machen – nämlich die Änderung des Veranlagungsmodus für die unterschiedlichen Arten des Einkommens“.15 Gladstones Haushaltplan, mit seinem großen Überschuss und den in Aussicht gestellten Einkommensteuersenkungen, machte auf die Zeitgenossen einen guten Eindruck; sein Urheber beherrschte die finanziellen Detailfragen besser als sein Vorgänger.

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Bei der Indien-Problematik fällt das Urteil der Geschichte zu Disraelis Gunsten aus, auch wenn er in dieser Frage einen anderen Standpunkt bezog als viele seiner Parteikollegen. Die Ostindien-Kompanie-Charta war zuletzt 1833 für 20 Jahre verlängert worden und harrte demnach einer gesetzgeberischen Neubewertung. In der Gesetzesvorlage der Regierung blieb das Prinzip der dualen Kontrolle unangetastet, das sowohl der Kompanie als auch der Regierung Kontrollfunktionen zuerkannt hatte. Disraeli wollte diesem unübersichtlichem System ein Ende machen und die Kontrolle einem Minister aus dem Kabinett übertragen; diese Idee wurde fünf Jahre später nach dem indischen Aufstand umgesetzt, als Derby das zweite Mal an der Regierung war. Ein von Stanley eingebrachter Abänderungsantrag wurde abgelehnt und fand nur bei 140 Torys Unterstützung. Stanleys Ansicht nach lag das vor allem daran, „dass wir beide, Disraeli und ich, zu der Zeit außerordentlich unbeliebt waren und wie es (ganz zu recht) hieß, zu den meisten politischen Themen eine andere Auffassung hatten als die konservativen Massen.“ Stanley vertraute seinem Tagebuch weiter an, dass Malmesbury ihm gesagt hätte: „Disraeli könnte nicht und sollte nicht der Führer sein, dieser Platz war mir vorbehalten, ich dürfte ihn einnehmen, wann immer es mir beliebt, sofern mir nicht unterstellt wird, dass meine Sympathien auf der liberalen Seite liegen.“16 Viele Konservative meinten, dass die Ostindien-Kompanie „kein geeignetes Streit­objekt für die Torys ist“, und es ärgerte sie, dass sie durch die Disraeli-Stanley-Vorschläge in Cobdens und Brights Nähe gerieten. Disraelis Verhalten in dieser Sache trug ihm einen langen Beschwerdebrief von père Derby ein, der vielleicht über das übliche Maß hinaus ungehalten darüber war, dass sein Sohn und Erbe der wichtigste Verbündete seines Stellvertreters war: „Ich kann dir nicht verhehlen, dass mir von einer wachsenden Sorge berichtet wurde, […] dass du dich mehr und mehr von dem konservativen Teil unserer Anhänger entfernst und dich um andere Bündnisse bemühst, die weder sie noch ich in irgendeiner Weise anerkennen können.“17 Deutlicher hätte nicht zum Ausdruck kommen können, wer das Sagen hat, dennoch blieb Disraeli hartnäckig. Für Greville sah es „nicht so aus, als ob der Verbindung zwischen Dis. und der Partei noch eine lange Zukunft beschieden ist. Dass sie ihn fürchtet und ihm misstraut und dass er sie geringschätzt, macht das Miteinander schwierig, wenn nicht gar unmöglich.“18 Ständig kursierten Gerüchte über ein Palmerston-Dizzy-Bündnis, das eine Neuausrichtung der Partei zur Folge hätte. In der Sitzungsperiode von 1854 brachte Russell eine weitere Gesetzes­vorlage zur Parlamentsreform ein, wobei Palmerston alles unternahm, um sie zu blockieren. Der Eindruck entstand, dass die Aberdeen-Koalition auseinanderbricht. Disraeli teilte Stanley mit: „Was die Führung angeht, so sei er willens, sie abzugeben; P. ist ein alter Mann, zu ausdauernden Anstrengungen nicht in der Lage: die wahre Macht hätte er immer“.19 Russell unternahm ferner einen weiteren Vorstoß in Sachen des Parlamentseids und brachte einen Antrag auf Beendigung des Ausschlusses der Juden ein. Weil der implizit prokatholisch war, konnte Disraeli nicht für ihn stimmen, was Russell die Gelegenheit zu einem Gegenschlag gab, der darin gipfelte, dass er seinem Kontrahenten Unaufrichtigkeit in der jüdischen Frage vorwarf. Das entfachte bei Disraeli eine ungewöhnliche Leidenschaft

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und der seltene Fall trat ein, dass er auf seine Gewohnheitspose gleichgültiger Ironie verzichtete. Zu diesem Zeitpunkt war das Herannahen des Krimkriegs das beherrschende öffentliche Thema. Disraeli hatte nichts zu schaffen mit den Ereignissen, die zu diesem Krieg führten, den er und mit ihm zahlreiche spätere Historiker einen „un­nötigen Krieg“ nannten. Als die Aberdeen-Koalition zustande kam, gab weder der Nahe Osten noch Russland Anlass zur Sorge, sondern das kürzlich wiederbelebte napoleonische Imperium. Die Freundschaft mit Frankreich gehörte zu den beständigeren Elementen in Disraelis Haltung, zudem teilte er die Furcht vor einem zweiten Napoleon nicht, und auch nicht die weit verbreitete Abneigung gegen die autoritäre Herrschaft des obersten Franzosen. Louis Napoleon hatte er während dessen Exiljahren in England kennengelernt und in ihm eine verwandte Abenteurer-Natur erkannt. Im ersten Jahr seiner Ehe mit Mary Anne hatte Napoleon sie beide in einem Boot auf der Themse gerudert, und dann auf eine Schlammbank, wo sie steckenblieben. In den Erinnerungen, die Disraeli in den 1860er Jahren niederschrieb, entsinnt er sich, wie seine Frau den zukünftigen Kaiser ausschimpfte: „Sie sollten sich die Dinge verkneifen, die Sie gar nicht beherrschen. Sie sind auch immer zu verwegen, Sir, etc. etc. etc., ich sagte nichts dazu.“20 Der Kaiser aber hatte keine sonderlich günstige Meinung von Disraeli, der, wie er Malmesbury wissen ließ, „nicht den Kopf eines Staatsmannes habe; doch wie alle Literaten, die ihm [Napoleon] untergekommen sind – von Chateaubriand bis Guizot – stehe auch Disraeli der Welt fremd gegenüber, rede gut, sei aber nervös, wenn der Zeitpunkt des Handelns gekommen ist“.21 In seiner ersten wichtigen Rede nach Bildung der Aberdeen-Koalition warf Disraeli der neuen Regierung vor, die guten Beziehungen mit Frankreich aufs Spiel gesetzt zu haben, die die konservative Vorgängerregierung gepflegt hatte. Er ließ es sich nicht nehmen, ein paar unbedachte Worte in den Mittelpunkt zu rücken, die Sir James Graham seinen Wählern gegenüber fallen gelassen hatte, als er den französischen Kaiser „einen Despoten“ nannte, „der auf den Rechten und Freiheiten von 40 Millionen Menschen herumtrampelt“.22 Der Krieg schränkte die Möglichkeiten für eine wirksame Oppositionspolitik weiter ein, und aus diesem Grund hatte Disraeli, wie Malmesbury festhält, „eine Wut“ auf den Krieg.23 Am Patriotismus führte kein Weg vorbei, und dennoch gab es genug Gelegenheiten, das Aberdeen-Kabinett für das diplomatischen Versagen zu rügen, das überhaupt erst zu den Feindseligkeiten geführt hatte, und für das Unvermögen, das es bei der Kriegsführung offenbarte. Im Januar 1855 ging es mit der Aberdeen-Koalition schließlich zu Ende, womit Disraeli lange schon gerechnet hatte, die folgende Kabinettskrise aber resultierte in der Enttäuschung seiner Laufbahn. Die Krise stand am Anfang eines Jahrzehnts, das Palmerston beherrschen wird, bis auf ein kurzes Intermezzo, als Derby-Dizzy 1858/59 erneut regierten und für 15 Monate ein Minderheitskabinett anführten. Disraeli wird lange brauchen, um darüber hinwegzukommen, dass Derby nach dem Ende der Aberdeen-Koalition keine Regierung zustande brachte, und um sich einzugestehen, dass die Tory-

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Partei dazu allein nicht in der Lage war. Bereits vor der Krise hatte sich Disareli über Derbys Unvermögen beklagt, entschlossen die Führung zu übernehmen. In einem oft zitierten Brief an seine Freundin Lady Londonderry hatte er im August 1854 geschrieben: Mir kam eine Andeutung aus höchsten Kreisen zu Ohren, dass, wenn sich die Dinge entsprechend entwickeln, die nächste, hoffentlich sehr lange währende Tory-Regierung von einer Person angeführt werden könnte, die mir bisher nicht in den Sinn gekommen ist. […] Was unseren Chef angeht, so sehen wir ihn nie. Sein Haus ist immer verschlossen. Er hält sein Geld zurück, obwohl er sehr vermögend ist, und erwartet gleichwohl, dass alles erledigt wird. Ich bin in meinem Leben bislang nie anständig unterstützt worden.24

Diese ‚Andeutung aus höchsten Kreisen‘ war mutmaßlich eines von Disraelis Hirngespinsten. Er erfreute sich größeren Respekts am Hofe, seit er 1852 ein Regierungsamt innegehabt hatte, mehr Respekt als zu der Zeit, da er als der Mann, der den „armen Sir Robert Peel“ auf dem Gewissen hat, verwünscht worden war. Mit Entschiedenheit hatte er die Zurückweisung der niederträchtigen Hoch­ verratsanschuldigungen gegen Prinz Albert unterstützt und dass dieser, wie es ein weit verbreitetes Gerücht wissen wollte, wegen seiner Bemühungen um die Abwendung des Kriegs mit Russland in den Tower verbracht worden sei. Gut möglich, dass an Derbys Gesundheit wegen der kräftezehrenden Gichtattacken Zweifel bestanden, doch solange er sich aktiv politisch betätigte, muss er der Kandidat der Königin gewesen sein, für den Fall der Rückkehr der Torys an die Regierung. Was Disraelis Verärgerung über seinen Chef angeht, darf nicht vergessen werden, dass es ihm als Führer im Unterhaus selbst nicht gelang, die Partei zu einen. Aberdeen und seine Kollegen verloren zunehmend an Ansehen, doch eine Menge Torys waren nicht erpicht darauf, sie durch eine weitere Derby-Dizzy-Regierung zu ersetzen. Viele Torys fühlten sich unwohl mit dem Kurs, den Disraeli vor allem in The Press steuerte, dass der Krieg auf seine ursprünglichen defensiven Ziele beschränkt werden sollte. Die Gutsherren vertraten im Großen und Ganzen die Auffassung, „das alles, was für unsere tapferen Mitbürger und Verbündeten auf der Krim getan werden könnte, auch getan werden sollte“. Ökonomisch profitierte die Landwirtschaft von dem Krieg, und die Protektion war beinahe in Vergessenheit geraten. Unmittelbar vor der Kabinettskrise waren die Konservativen nicht in der Lage, sich als geschlossene Einheit zu präsentieren; nur 220 Torys stimmten für den Antrag des patriotischen Radikalen John Roebuck, der die Niederlage der Koalition zur Folge hatte. Derby hatte sich nicht zu einem Großangriff auf die Regierung durchringen können. Auch den Regierungsbildungsauftrag der Königin nahm er nicht einfach so an, sondern machte seine Zustimmung von der Mitwirkung Palmerstons abhängig, der seinen Beitritt wiederum an die Unterstützung Gladstones und Sidney Herberts knüpfte. Disraeli war bereit, die Führung des Hauses an Palmerston abzutreten, aber er war nicht bereit, Gladstone die Kanzlerschaft des Schatzamtes zu überlassen. Schnell war also klar, dass es nichts wird mit einer konservativen Regierung, was Derby wohl die ganze Zeit hatte kommen sehen, ohne aus der

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Fassung zu geraten. Das Land hatte ein heftiges Verlangen nach Palmerston. Derby glaubte womöglich, dass diese Überschätzung von Palmerstons Fähigkeit, mit dem Krieg fertig zu werden, bald als solche zutage treten, und dass dann erst die Stunde der Torys schlagen würde. Disraeli und viele andere, darunter Gladstone, waren der Meinung, dass Derby durch seinen Rückzieher die Probleme und Unzulänglichkeiten ihrer Partei nur noch schlimmer gemacht und festgeschrieben hatte. ­Palmerston wird ein solcher langanhaltender Erfolg beschieden sein, weil er in den Augen vieler, selbst in denen vieler Torys, der beste konservative Minister war, der zur Verfügung stand. Darum kann es unmöglich einen hartnäckigen ideologischen Grund gehabt haben, dass die Derby-Dizzy-Partnerschaft nicht ebenso erfolgreich zu sein vermochte. Der Zeitgeist sprach nicht dagegen. Die Konservativen blieben die größte zusammenhängende Gruppierung im Unterhaus, und eine erfolgreiche Regierungszeit hätte Wunder bewirken können. Disraeli hatte also guten Grund, sich gekränkt zu fühlen, und er behauptete nicht von ungefähr, seine jahrelangen Anstrengungen seien zunichte gemacht worden, denn das stimmte durchaus. Zu seinem Pech fehlte ihm die politische Gefolgschaft, die ihn in die Lage versetzt hätte, seine Vorstellungen umzusetzen, und so war er nach wie vor lediglich ­Derbys Stellvertreter. Die kommenden drei Jahre waren außerordentlich schwierige Jahre für ihn. Als die drei Peeliten Gladstone, Graham und Sidney fast postwendend aus der Regierung austraten, der sie sich gerade erst angeschlossen hatten, schien das ein hoffnungsvolles Zeichen zu sein, dass die Zeit des alten ‚Hochstaplers‘ (Palmerston) bald abgelaufen sein könnte. Im Mai ritt Disraeli einen Sturmangriff gegen die Regierung, weil die es an Klarheit hinsichtlich ihrer Kriegsziele fehlen ließ, musste sich allerdings einer 90-Stimmen-Mehrheit beugen. Über 20 Torys – ein harter Kern von Disraeli-Kritikern – votierten gegen ihre eigene Seite. The Times kommentierte: „Mr. Disraeli hatte offensichtlich nicht die Absicht, den Gefühlen des Hauses Ausdruck zu verleihen, sondern er wollte seinen Widersachern schaden und wenn möglich sich und seine Partei gänzlich unbelastet an die Regierung bringen, und dann wäre er vollkommen frei gewesen, genau das zu tun, was er jetzt missbilligt.“ Im Juli 1855 geriet das Kabinett abermals in Unordnung und Palmerston schrammte in der Sache eines Darlehens für die Türkei nur um drei Stimmen an einer Niederlage vorbei. Wäre der Krieg wirklich kostspielig oder zu einem Schaden für die Wirtschaft geworden, hätte das die Regierung in Schwierigkeiten gebracht und die soziale Lage hätte bedrohlich werden können, was jedoch kaum im Sinne der Konservativen sein konnte. Das Problem, dem sich Disraeli als Anführer der Opposition gegenübersah, bestand darin, dass das Parlament durch eine Kluft von der Allgemeinheit getrennt war. Im Lande strebte eine große Mittelschicht, verstärkt durch Teile der stimmlosen Massen, nach dem absoluten Sieg, der der Nation ihre Selbstachtung wiedergeben würde. Derartige Gefühle waren an der Basis der Torys weit verbreitet und wurden von vielen Tory-Hinterbänklern geteilt. Kompliziert wurden die Verhältnisse noch dadurch, dass der Krieg auf der Krim das aristokratische Regierungsprinzip wie nie zuvor infrage stellte. Die

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militärischen Fehler, die Aberdeen hatten stürzen lassen, wurden simplifizierend auf die Inkompetenz der Aristokratie und das Fehlen des meritokratischen Prinzips zurückgeführt. Der Sieg wurde nicht um des Siegens willen angestrebt, sondern weil in ihm die Überlegenheit der Mittelschichtsgesellschaft, die Großbritannien im Begriff war zu werden, ihren rechtmäßigen Ausdruck fände. Dass Sewastopol am 8. September gefallen war, machte die angestrebte Verdrängung Palmerstons unwahrscheinlich, Disraeli hatte den Premierminister jedoch im Verdacht, auf Friedensbedingungen aus zu sein, die nur durch die Fortsetzung des Krieges abgesichert werden könnten. Seine Informanten in Paris ließen ihn wissen, dass Frankreich und der französische Kaiser kriegsmüde wurden. Weil das Parlament in dieser Phase nicht tagte, hielt Disraeli sich zumeist an seinen in The Press vertretenen Kurs, der bei der Mehrheit der Torys vom Carlton Club bis hinunter zu den Wählern äußerst schlecht angesehen war. Und wieder klafften die Meinungen zwischen Derby und seinem Stellvertreter deutlich auseinander. ­Disraelis Standpunkt wurde von Jolliffe so wiedergegeben: „eine Partei, die davor zurückgeschreckte, einen Krieg zu führen, zumal wenn man die Umstände dabei bedenkt, müsste die Öffentlichkeit für einen staatsmännischen Frieden bereit machen; eine Opposition, die gegen den Krieg war, könne nicht mit einem Kabinett koexistieren, das für den Krieg ist“. Darauf erwiderte Derby Folgendes: Ich will nicht abstreiten, dass wir als Partei mit extremen Schwierigkeiten zu kämpfen haben […], aber ich kann unmöglich gelten lassen, dass wir davor zurückschreckten, den Krieg zu führen […] aber da wir, gemeinsam mit dem Land im Allgemeinen, den Eintritt in den Krieg unterstützten, können wir uns nicht ehrenhaft oder auch nur aus parteitaktischem Kalkül zu einer Friedensopposition machen, bloß weil wir ein Kriegskabinett haben“.25

In seinem Tagebuch beschreibt Stanley die Lage so: Es hat nicht den Anschein, als ob Lord Derby über eine Rückkehr an die Regierung nachdenkt oder sie gar anstrebt: er verfolgt auch keine konkreten politischen Ziele. Er begnügt sich damit, die Ereignisse zu beobachten und so viele konservative Peers und Abgeordnete wie möglich unter sein Kommando zu bringen, die an der Tatenlosigkeit keinen Anstoß nehmen. Zu denen zählt Disraeli nicht, und weil er und Lord D. aufeinander angewiesen sind, wird es zu keiner Trennung kommen: so dass der Führer im U. H. schalten kann, wie er will, und Lord D. wohl widersprechen, ihm aber nicht den offenen Widerstand antragen wird. Doch obgleich die Friedenspartei auf diese Weise eine enorme Bestärkung im Unterhaus erfährt, wird sie sich davor hüten, ihre Muskeln spielen zu lassen aus Angst vor einer Parlamentsauflösung.26

An dieser Situation änderte sich im darauffolgenden Jahr kaum etwas. Derby und Disraeli tauschten sich wenig aus, und jeder der beiden stand kaum in Kontakt mit seinen Gefolgsleuten. Es kann sein, dass Disraelis Isolation und Selbstbesessenheit ihm dabei halfen, die völlige Entmutigung abzuwenden, die ihn sonst womöglich ereilt hätte. Er arbeitete an einem Plan zur Reformierung der Ressorts und der Verwaltung, deren Kerngedanke die Verkleinerung des Kabinetts auf nur noch zehn Mitglieder war. Man hat den Eindruck, dass diese Beschäftigung ihm die wahre Macht ersetzen sollte, die er einfach nicht zu fassen bekam.

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Es gab noch andere Ersatzmittel. Als Oppositionsführer standen ihm und Mary Anne die Großereignisse des Gesellschaftskalenders und der Glanz der könig­ lichen Veranstaltungen offen, an denen er einen bleibenden Gefallen gefunden hatte. Seine Briefe an Mrs. Brydges Willyams sind voller Berichte von den Höhepunkten des großstädtischen Gesellschaftslebens. Es kann gut sein, dass er sich vorstellte, wie sie im fernen Torquay saß und sich von dem gesellschaftlichen und politischen Ansehen ihres erhabenen Berichterstatters in den Bann schlagen ließ. Bei dem anderen Machtersatz handelte es sich um die Intrige, die Disraeli von jeher liebte. Der Abenteurer und Renaissance-Mensch, der er war, nahm keinen Anstoß an der Verschlagenheit und dem falschen Spiel, die es dazu brauchte. Lord Henry Lennox hatte diesen Bedürfnissen Disraelis dadurch zu entsprechen gewusst, dass er ihn mit politischen und diplomatischen Klatschgeschichten versorgte. Dieser Tage nun fasste ein anderer junger Mann, Ralph Earle, Zuneigung zu Disraeli, der ihn alsbald und bis 1866 als seinen Privatsekretär beschäftigte. Unter Lord Cowley in der Pariser Botschaft arbeitend, legte Earle eine ungenierte Illoyalität an den Tag und gab eine Menge von dem, was vertraulich bleiben sollte, an seinen Förderer weiter. Disraeli gewann den Eindruck, dass Whigs und Liberale in den Jahren ihrer Vorherrschaft den ganzen Staatsdienst mit ihren Günstlingen bevölkert hatten. Da war es nur gerecht, wenn die Torys jede ihnen sich bietende Gelegenheit ausnutzten. Im Winter 1856/7 verbrachten er und Mary Anne einige Wochen in Paris. Disraeli versuchte Napoleon davon zu überzeugen, dass ihm mit einem konserva­tiven Kabinett mehr gedient sei als mit Palmerstons, es spricht allerdings nichts dafür, dass er davon den Kaiser überzeugen konnte. Zuhause war es in seiner Partei drunter und drüber gegangen, noch mehr als gewöhnlich. Stanley, sein Schützling, und Pakington, dessen Aufnahme ins Kabinett von 1852 er selbst arrangiert hatte, hatten sich praktisch von der Partei gelöst. Beide waren auf der Suche nach dem konservativen Fortschritt, mit dem Disraeli sympathisierte, den er seiner Partei jedoch nicht aufzwingen konnte, weil er sich nicht in der entsprechenden Position befand. Palmerston war ein Experte darin, derartige Spannungen unter den Torys zu befördern. Gerüchte, wonach Disraeli am Ende aus dem Spiel genommen würde, machten die Runde, denn es sah so aus, als ob die ungebundenen Peeliten, darunter Gladstone als Chef, wieder in den TorySchoß zurückgeholt werden könnten. Dann, so meinte man, würden die Rufe nach Disraelis Absetzung zwangsläufig laut. In Wahrheit wäre Gladstone bei den ToryHinterbänklern mindestens so unbeliebt gewesen wie Disraeli, und ihr Widerwille hätte in vielem berechtigter geschienen. Schlug Disraeli auch Misstrauen entgegen, so gab seine äußerste politische Gewandtheit doch wenig Anlass, ihn prinzipiell infrage zu stellen. Er ließ sich seinen allen Widrigkeiten trotzenden Optimismus nicht nehmen und brüstete sich damit, dass bei dem Abendessen vor Eröffnung der Sitzungsperiode von 1857 deutlich wurde, wie geeint die Partei war, und dass am Ende sogar Stanley seine Teilnahme zusagte. Die Wirklichkeit sah so aus, dass die Torys bei nahezu jeder der aktuellen Streitfragen geteilter Meinung waren, und der einzige Trost bestand darin, dass auch Palmerstons Mehrheiten bedenklich

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wackelten. Im Zuge einer seiner nicht gerade seltenen Anwandlungen, sich selbst etwas vorzumachen, gelangte er zu der Überzeugung, dass Palmerston durch das Publikmachen eines Geheimvertrages von 1854, der die österreichischen Besitzungen in Italien garantierte, gestürzt werden könne. Earle hatte ihm die Papiere zugespielt, und der Gedanke, dass durch diese Geheimverbindungen ein großer Erfolg erzielt werden könnte, übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn aus. Derby meinte, die ganze Sache würde sich als Reinfall entpuppen, und genau das tat sie. Palmerston stürzte aber dennoch – allerdings über seine Unterstützung des rücksichtslosen Handelns Sir John Brownings, des Statthalters von Hongkong, gegen die Chinesen in Kanton. Disraeli zögerte zunächst, Palmerston in dieser Sache anzugreifen, weil er ahnte, dass der Premierminister auch in dem Punkt näher an der öffentlichen Meinung war als das Haus selbst. Palmerston war so klug, Bowring, ein ehemaliges Parlamentsmitglied der Radikalen, als ein Beispiel für den ­Triumph der Mittelschicht hinzustellen. Die Regierung wurde dennoch mit einer Mehrheit von 16 Stimmen geschlagen: 202 Konservative waren von 63 Liberalen, zumeist Manchester-Radikale, und Peeliten unterstützt worden, 24 Torys aber votierten mit Palmerston und 15 blieben der Abstimmung fern. Das Parlament wurde aufgelöst und die folgende allgemeine Wahl zeigte Palmerston auf dem Höhepunkt seiner Unterstützung durch die Wähler. Die Zeitgenossen waren insbesondere von der Niederlage zahlreicher prominenter Radikaler überrascht, die man als die Friedenspartei bezeichnen könnte, Bright, Cobden, Milner Gibson, Layard und Miall, der führende Vertreter des Disestablishments [der Trennung von Kirche und Staat]. Lord John Russell verlor seinen Sitz in der City of London. Genau genommen war es beileibe kein eindeutiges Urteil für Palmerston, weil die Parlamentsreform, die Beschwerden der Dissenter [der Nonkonformisten bzw. Nichtanglikaner] über die Kirchensteuern und andere Streitpunkte in vielen Wahlkreisen ganz oben auf der Agenda standen. Die Torys büßten über 20 Sitze ein und verfügten nur noch über 260, doch Disraeli tröstete sich damit, dass der Zusammenhalt besser war als zuvor und dass die Verluste nicht weiter ins Gewicht fielen. In seiner typischen ‚Nur nicht unterkriegen lassen‘-Stimmung legte er Derby nahe, er solle zur Eröffnung der neuen parlamentarischen Sitzungsperiode der anderen Seite zuvorzukommen, indem er einen Entschließungsantrag zur Parlamentsreform einbringt. Der ‚Kapitän‘ suchte jeden solchen ‚kühnen und entschlossenen Kurs‘ zu verhindern, und Disraeli blieb für den Moment nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu üben. Kurz nach der Wahl, im Juni 1857, erreichten die Insel neue Nachrichten von der Meuterei in Indien. Als diese Nachrichten ernsthafter wurden, breiteten sich im Land Hysterie und Rachegelüste aus, verstärkt noch durch die immer grelleren und oft übertriebenen Darstellungen von Gräueltaten. Disraeli betrachtete diese mit Skepsis, wie die Nachrichten über die Gräuel der Bulgaren 20 Jahre später. Disraeli war der Auffassung – und dabei wird er bleiben –, dass das keine bloße Meuterei war, ausgelöst von „eingefetteten Patronen“27, sondern ein nationaler Aufstand, der seine Ursache in der gefühllosen Behandlung aller Schichten in Indien hatte.

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Seiner Ansicht nach sollten die Empfindungen und Vorstellungen der Inder dadurch an­gesprochen werden, dass man die Bande zwischen ihnen und dem britischen ­Monarchen enger knüpft; diese Strategie wird er abermals 20 Jahre später verfolgen. Ihm ist nach­zurühmen, dass er trotz der emotionalen Aufgewühltheit vieler Torys und der Allgemeinheit an sich „dagegen protestierte, dass man mit Gräueln auf Gräuel reagiert“; von dieser Wendung machte er bei einem Abend­ essen bei Landwirten Gebrauch, das im September 1857 in Newport Pagnell stattfand.28 ­Palmerston befasste sich schleppend und selbstzufrieden mit der Meuterei in Indien, und bald brachte die Krise von 1857, die mit Bankenpleiten und Bankrotten einherging, seine Regierung weiter vom Kurs ab. Das Parlament trat im Dezember wieder zusammen, um das Bank Charter-Gesetz von 1844 außer Kraft zu setzen, und D ­ israeli machte es wie immer und nutzte jede ihm sich bietende Gelegenheit zum Angriff auf die Regierung. Er befürwortete einen ablehnenden Abänderungsantrag zur Gesetzesvorlage der Regierung, die vorsah, die Leitung der Ostindien-Kompanie der Krone zu überlassen (ein Vorhaben, für das sich Disraeli 1853 stark gemacht hatte und das binnen kurzem umgesetzt werden wird). Der Abänderungsantrag wurde mit einer Mehrheit von sage und schreibe 145 Stimmen abgelehnt, was erneut zeigte, wie wenig er seine Gefolgsleute im Griff hatte. Aber dann, urplötzlich, kam das Glück zu ihm zurück. Ein Mordanschlag auf Napoleon III. am 14. Januar, das in London geplante Orsini-Attentat, veranlasste Palmerston, eine Gesetzesvorlage zu den Mordkomplotten einzubringen. Diese sah vor, die Vorbereitung solche Anschläge durch im Exil lebende Personen in Zukunft mit einer lebenslangen Haftstrafe zu ahnden. In erster Lesung stimmte Disraeli aus seiner altbekannten Sorge um die anglofranzösischen Beziehungen zu. Als immer offensichtlicher wurde, dass in Frankreich anti-britische Empfindungen aufkamen, verhärtete sich die allgemeine Stimmungslage in Großbritannien und Palmerston wurde bezichtigt, er „krieche vor Frankreich“. Er hatte die Empfindungen der Allgemeinheit bereits einmal hochmütig missachtet, als er Lord Clanricarde, einen Erz-Verderbten, aber ein Freund Lady Palmerstons, zum Lordsiegelbewahrer ernannte. Viele Männer unter seiner heterogenen Gefolgschaft waren verstimmt, und in zweiter Lesung wurde der Gesetzentwurf mit 19 Mehrstimmen abgelehnt. Etwa 80 Liberale, darunter Russell, als auch Gladstone und Graham votierten gegen die Regierung, aber nur 146 Konservative stimmten mit Disraeli. Laut Malmersbury „drohte Palmerston mit der Faust in Richtung der Manchester-Clique. Disraelis Gesicht sprach Bände – in ihm spiegelten sich Triumph und Sarkasmus, die er nicht zu unterdrücken vermochte.“29 Am folgenden Tag, dem 20. Februar 1858, fast auf den Tag genau sechs Jahre nach Bildung des vorherigen Derby-Dizzy-Kabinetts, wurde Derby nach Palmerstons Rücktritt ersucht, eine Regierung zu bilden. Diesmal war an Ablehnung nicht zu denken. In gewissem Sinne bewahrheitete sich Disraelis Diktum, dass „es kein Hasardspiel gibt, wie es die Politik ist“. Dieses zweite Derby-Dizzy-Kabinett hatte eine vielleicht sogar noch schwächere Position im Parlament als das erste, denn sein Überleben hing voll und ganz

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davon ab, dass die Liberalen gespalten blieben und ihre Richtungskämpfe fortsetzten. Personell war es etwas besser aufgestellt als das von 1852. Der wichtigste Beitritt war der von Derbys Sohn und Erben Stanley, der beileibe nicht selbstverständlich war. Er übernahm das Kolonialministerium, worauf er sich nicht eingelassen hätte, wäre ihm nicht zugesichert worden, dass diese Regierung den liberalkonserva­tiven Kurs der vorherigen fortsetzen werde. In seinem Tagebuch bekennt er, dass zu den Nachteilen, dem Kabinett seines Vaters anzugehören, zählt: „1. die Verbindung mit Disraeli. Fähig und gewandt, wie er ist, wird dieser Mann niemals das Vertrauen der Öffentlichkeit haben.“30 Derby unternahm die üblichen Versuche, sich die Unterstützung der außen vor bleibenden Peeliten zu verschaffen, indem er an Gladstone, Sidney Herbert und den Duke of Newcastle herantrat, und außerdem an den unabhängigen Whig Earl Grey, ohne Erfolg allerdings. Grey meinte, dass er „es sich anders überlegt hätte, wäre Disraeli nicht dabei gewesen“.31 Gladstone, der sich der Gefahr seiner isolierten Stellung vollkommen bewusst war und es kaum erwarten konnte, zurück an die Macht zu kommen, erkannte, dass er sich mit diesem Schiff auf eine sehr unsichere Seefahrt begeben hätte. Für die konservative Regierung konnte jeder Tag der letzte sein, und man ging allgemein davon aus, dass sie sich nicht würde in die Parlamentspause retten können. Diese Situation, in der alles vom taktischen Geschick abhing, kam Disraeli in vielem entgegen, und er schien sie zu genießen. Dieser Eindruck entsteht, wenn man sich seine lebendigen Berichte an die Königin ansieht, in denen er die Tagesereignisse im Unterhaus Revue passieren ließ. Die Monarchin fand ihrerseits Gefallen an diesen Briefen, und sie machten ihr, und auch dem Prinzgemahl, seine Amtszeit immer angenehmer. Wenn die Tory-Regierung den Augenblick überdauern sollte, musste der konservative Fortschritt als Losungswort ausgegeben werden. Sowohl Derby als auch Disraeli hielten entsprechende Antrittsreden. Die Gesetzgebungsbilanz dieser Regierung konnte sich eigentlich sehen lassen; sie erließ einige nützliche, wenn auch minder bedeutsame Gesetze. Als der Westminsterpalast von übelriechenden Dämpfen eingehüllt war, setzte Disraeli ein Gesetz über die Reinigung des Themsewassers durch. Ein Gesetzentwurf, der die Abschaffung der Eigentumsvoraussetzung [Grundbesitz als Bedingung des Wahlrechts] für Parlamentsmitglieder vorsah, passierte das Haus. Derby führte das Kommando mit Bestimmtheit, und Disraeli hatte an vielen Dingen ein vorwiegend strategisches Interesse, ging es ihm doch um die Sicherung des schieren Überlebens; weil aber das Überleben von der erfolgreichen Regie im Unterhaus abhing, wäre es grundfalsch, Disraelis hochwichtige Rolle abzuwerten und seinen Beitrag herunterzuspielen. Indien war das Schwergewicht unter den nachwirkenden Themen der Sitzungsperiode von 1858. Ellenborough, der Präsident des Board of Control (des Ministeriums für die Überwachung der indischen Angelegenheiten) und ein ehemaliger Generalgouverneur, übernahm die von der Palmerston-Regierung verfolgte politische Strategie, auf die Beendigung der (zwischen der Ost-Indien-Kompagnie und der britischen Regierung) geteilten Kontrolle zu drängen; er regte an, einen Minister einzusetzen und

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ein Gremium zu bilden, das zur Hälfte gemäß eines Verfahrens gewählt werden sollte, das von allen Seiten mit Spott überzogen wurde. Disraeli musste rasch reagieren, was er tat, indem er den Gesetzentwurf zurücknahm und mit Rücksicht auf die Stimmung des Hauses einen zweiten, auf Entschließungen (also Absichtserklärungen) basierenden Gesetzentwurf vorlegte. Die ganze Zeit über vertiefte er geschickt die Spaltungen innerhalb der Opposition und schürte insbesondere die Rivalität zwischen den beiden Primadonnen der Liberalen, Palmerston und Russell. Die drei Tory-Minderheitsregierungen machten ihn zu einem Experten in solchen Strategien, und acht Jahre später brachte er es darin zur Perfektion, im Zusammenhang mit der Verabschiedung der Reform-Bill. Im Mai wäre die Regierung beinahe gestürzt, weil Ellenborough eine Depesche veröffentlicht hatte, worin das Verhalten des Generalgouverneurs Lord Canning kritisiert worden war. Ellenboroughs Rücktritt rettete die Situation und versetzte Derby in die Lage, Gladstone ein weiteres Mal einen Sitz im Kabinett anzubieten. Aus diesem Anlass schrieb Disraeli Gladstone einen Brief, in einem für ihn untypischen Ton: Glauben Sie nicht, es ist an der Zeit, dass sie sich herablassen und großmütig sind? Mr. ­Canning war ein fähigerer Mann als Lord Castlereagh, ihm auch als Redner überlegen, doch er schloss sich Lord C. an, als der Liverpools Stellvertreter war, als der Zustand der Partei der Torys das verlangte. […] Es könnte sein, dass ich die Bühne verlassen muss, es könnte auch sein, dass ich die Bühne verlassen will. Jeder Mann tut seine Pflicht, und es gibt eine Macht, die größer ist als wir, die all das regelt.32

Gladstone ließ sich nicht bewegen, später aber erklärte er sich bereit, edel­mütig fast, das Amt des Hohen Kommissars der Ionischen Inseln zu übernehmen, das Derby ihm angeboten hatte. Stanley, der schnell im Ansehen wuchs, nahm Ellenboroughs Platz ein, und Disraeli war der Triumphator in der ganzen Geschichte. In der Downing Street klatschte man ihm Beifall; er konnte jedoch nicht wider­stehen, den Erfolg auszukosten, und hielt seinen Buckinghamshire-Wähler in Slough eine ‚scharfzüngige‘ Rede, in der er es wie üblich nicht an Sarkasmus fehlen ließ. Das ermöglichte Palmerston, zum Gegenschlag auszuholen, und Sir John Trelawny, der liberale Abgeordnete für Tiverton, hielt in seinem Tagebuch fest: „Es heißt, Derby belustige sich nicht weniger als alle anderen über Palmerstons Attacke auf Disraeli.“33 Die Regierung jedenfalls war für den Rest der Sitzungsperiode sicher, und die Experten, Männer wie Greville oder Delane, die ihr nicht mehr als eine Woche gegeben hatten, verfielen nun ins andere Extrem. Sie gaben ihr Kredit, weil die Liberalen ihrer Meinung nach nie zueinander finden würden, außerdem hätte Palmerston seine Zeit hinter sich. Ein anderes schwieriges Problem, das vor Ablauf der Sitzungsperiode von 1858 erledigt wurde, war die endlose Geschichte der Juden-Benachteiligungen. D ­ israeli konnte und wollte nicht von seinem langjährigen Engagement zur Abschaffung dieser Hemmnisse für die Juden ablassen, die unmittelbar seinen Freund Baron ­Lionel de Rothschild betrafen. Derby, obgleich er als ein früherer Whig die Toleranz in Religionsfragen befürwortete, war jedoch nach wie vor nicht gewillt, vielen

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seiner Anhänger etwas aufzunötigen, das diesen so sehr widerstrebte. Er und sein Stellvertreter starteten nun jedoch eine konzertierte Aktion, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Derby stellte weiterhin seine Unwilligkeit zur Schau, unterstützte aber einen von Lord Lucan vorgelegten Gesetzentwurf, der vorsah, jedem Haus freizustellen, den Eid für seine Mitglieder zu modifizieren. Als dieser Entwurf im Juli 1858 das Parlament passierte, wurde aus Lionel de Rothschild der erste Jude, der ins Unterhaus einzog – ein weiterer, wenn auch in erster Linie symbolischer Meilenstein auf dem Weg zur Durchsetzung der Religionsfreiheit. Auf die Moral und die Stimmung unter den Konservativen wirkte sich dieser Vorfall alles andere als positiv aus, denn selbst die Kabinettsmitglieder im Unterhaus waren gespalten, nur Stanley und Pakington standen voll und ganz hinter Disraeli. Das Überleben der Derby-Dizzy-Regierung hing auf längere Sicht von der Finanzpolitik, der Außenpolitik und der Parlamentsreform ab. Im April 1858 legte Disraeli einen Finanzhaushalt vor, für den er kaum eine andere Wahl hatte und der darum wenig Anlass zu Auseinandersetzungen bot. Er entsprach den Grundprinzipien der peelitischen Finanzorthodoxie, im Gegensatz zu seinem Haushalt von 1852, und fand Gladstones Zustimmung. Von einer Unterscheidung zwischen erarbeitetem und nicht erarbeitetem Einkommen war keine Rede mehr, und Glad­ stones Plan – den er 1853 vorgelegt hatte, dem aber der Krim-Krieg in die Quere gekommen war –, die Einkommensteuer bis 1860 schrittweise zu beseitigen, sollte umgesetzt werden. Ein großer Fehlbetrag, der bei gleichbleibend hohen Verteidigungsausgaben und bei einer Tilgung der Staatsschulden entstanden wäre, wurde dadurch vermieden, dass man mit der Schuldentilgung einfach noch wartete. Der nächste Haushalt, mit dessen Planung Disraeli gerade befasst war, als die Regierung stürzte, hätte eine Absenkung der Teesteuer sowie die Abschaffung der Papiersteuer umfasst, und damit ‚waschechte‘ liberale Freihandelsmaßnahmen. Bei den Finanzen hatte Disraeli von jeher ein besonders unglückliches Händchen. Die Kriege und Kriegsgerüchte nahmen ihm die Manövrierfreiheit, und Gladstone erntete, was er gesät hatte. Disraeli konnte kaum etwas tun gegen die vom technischen Fortschritt erzwungene Ausgabensteigerung, die bei der Marine besonders ins Kontor schlug, man denke nur an den Bedarf an stahlgepanzerten Schiffen und die Einführung des Dampfantriebs. Noch bedrohlicher und noch naheliegender war die Möglichkeit eines neuen Krieges in Europa. Vieles deutete im Herbst 1858 darauf hin, dass eine große Unruhe in Europa bevorsteht und dass Napoleon III. einen Krieg gegen Österreich in Erwägung ziehen könnte, um die Einheit Italiens zu verwirklichen. Palmerston hatte den Kaiser im Oktober aufgesucht und Disraeli mutmaßte zutreffend, dass Napoleon in seiner Rückkehr an die Macht eine für Frankreichs Italien-Pläne günstige Entwicklung sehen würde. Malmesbury unterschätzte Disraelis Ansicht nach das Engagement des Kaisers in Sachen Italien. All das ergab eine Situation, die nicht nur für Disraelis finanzielle Pläne eine Bedrohung darstellte, sondern auch für die Zukunft der Regierung. Im Dezember 1858 wurde Earle in geheimer Mission zum Kaiser geschickt, erreichte jedoch wenig.

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Die Parlamentsreform wurde indes zum Schlüssel für das Überleben der Regierung. Disraeli glaubte an die Sache des Adels, und man könnte ihn unmöglich als einen Demokraten beschreiben, in Wahlrechts- und Sitzverteilungsfragen aber war er ein Agnostiker und abermals ausschließlich auf den taktischen Vorteil bedacht. Im Juli 1857 brachte die Whig-nahe Edinburgh Review einen Kommentar zu Disraelis Newport-Pagnell-Rede, in dem es hieß: Es ist keinesfalls sicher, dass eine noch stärkere Absenkung der Hürden für das Wahlrecht, als es die wahren Freunde der Freiheit für wünschenswert halten würden, die politische Macht der Konservativen nicht vergrößern kann; sicher ist indes, dass manche Konservative glauben, es ließe sich dadurch erreichen, dass sie größer wird. […] Die bemerkenswerte Rede von Mr. Disraeli liefert in der Tat den Beweis, dass der listigste der Tory-Führer nicht unvorbereitet ist, gerade diesen Zusammenhang auszunutzen.34

In Wirklichkeit war Derby und nicht Disraeli die treibende Kraft bei den Vorbereitungen für die Reformbill, und Rose, Disraelis Vertrauter und zudem Geschäftsführer der Partei, zollte Derbys einschlägiger Sachkenntnis Anerkennung. Derby war außerdem listig und ließ sich nicht in die Karten schauen, denn er wollte verhindern, dass es in seinem Kabinett vor der Zeit zu Unstimmigkeiten kam. Disraeli wiederum gab sich in dieser Angelegenheit sorglos, wie er es oft tat und die anderen damit auf die Palme brachte. Als Palmerston durch ­Clarendon mitgeteilt bekam, dass Derby eine Gesetzesvorlage in Arbeit hat, folgerte er, sie würde moderat sein, „obwohl es ziemlich sicher ist, dass sie, weil Dizzy seine Hände mit im Spiel haben wird, manche absurde Bestimmung enthält“.35 An den Bestimmungen, die Bright später als „willkürliche Wahlberechtigungen“ verspottete, nämlich 60 Pfd. bei einer Sparkasse, ein Einkommen von 10 Pfd. aus Geld­ anlagen, eine Regierungspension von 20 Pfd. und ein Universitätsabschluss hatte Disraeli mutmaßlich großen Anteil. Die wichtigsten Bestimmungen der Bill waren ein allgemeines Zehn-Pfund-Wahlrecht in den Grafschaften sowie in den Stadt­ gemeinden und die Umschreibung städtischer Grundeigentümer aus den Landregistern in die der Stadtgemeinden. Mit der zweiten Neuerung wollte man einer alten Beschwerde der Torys entsprechen, dass jene Wähler ansonsten treue Grafschaftswahlkreise kontaminierten. Die Zehn-Pfund-Wahlberechtigung war den Liberalen eine noch zu hohe Hürde, und den Radikalen sowieso, sie sorgte allerdings für den Rücktritt von zwei Ministern, von Henley, dem alten Hasen, und von ­Spencer Walpole. Bei diesem handelte es sich um einen jener Frontbänkler, deren Mangel an Format Disraeli unverzichtbar machte. Walpole stand unter dem Pantoffel seiner Frau, einer Tochter des ermordeten Premierministers Perceval, und hasste Disraeli, weil der Jude war, und dafür, dass er den Juden Einlass ins Parlament verschafft hatte. Trotz des Rücktritts dieser Minister bereiteten die ToryHinterbänkler der Bill einen wohlwollenden Empfang, und sogar die Ultras befürworteten sie in der entscheidenden Abstimmung am 1. April 1859. Die zahlreichen Unstimmigkeiten aufseiten der Opposition hatten bei der Regierung bis zuletzt die Hoffnung auf den Sieg wachgehalten, doch sie unterlag mit einer Mehrheit von 39 Stimmen. Es war allzu offensichtlich, dass die Bill vor allen Dingen den

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Interessen der konservativen Partei zugute kommen sollte, und viele auf der anderen Seite fanden sie nicht radikal genug. Derby löste daraufhin das Parlament auf. Während des Wahlkampfs machte der Regierung die Außenpolitik erneut schwer zu schaffen. Die neutrale Haltung, die sie zu den Spannungen zwischen Frankreich und Sardinien einerseits und Österreich andererseits eingenommen hatte, war parteiübergreifend auf Zustimmung gestoßen, und weder Palmerston noch Russell hatten daran viel auszusetzen. Doch genau an dem Tag, an dem das Parlament sich vertagte, am 19. April, setzten sich die Österreicher durch ein unangebrachtes Ultimatum zur Entwaffnung Sardiniens selbst ins Unrecht. Dadurch wirkten die Behauptungen der Derby-Regierung, dass sie die Lage in Europa erfolgreich beruhigt hatte, sehr schwach und unglaubwürdig. Italien wurde plötzlich zu einem Wahl(kampf)thema, und an der Börse machte sich Panik breit. Die Liberalen aller Coleur redeten sich ein, dass hinter der vorgeblichen Neutralität der Regierung eine pro-österreichische Haltung steckte. Nichtsdestotrotz markierte die Wahl von 1859 einen Höhepunkt im Glücksverlauf der Konservativen zwischen 1846 und 1874. Dem Chef-Whip Jolliffe zufolge gewannen sie 31 Sitze hinzu und kamen am Ende auf 306 Sitze, auch wenn das noch immer nicht für die Mehrheit reichte. Derby wies darauf hin, dass sie es verpassten, elf weitere Sitze zu gewinnen, weil ihnen zu seinem Ärger weniger als zehn Stimmen fehlten. Das war möglicherweise tatsächlich die ganze Differenz, sonst hätte die Regierung, in ­Disraelis Worten, auf einem „grundsoliden Felsen“36 gestanden. Seine Politik der Umwerbung der irischen Katholiken zahlte sich aus, und die Torys erreichten ihr Jahrhunderthoch in Irland mit einem Zugewinn von acht Sitzen. Oberst ­Taylor, der ToryWhip und Abgeordnete für Dublin, hatte die irischen Wahlen mit harter Arbeit vorbereitet. Lord Naas, der Tory-Lordleutnant in Irland, hatte sich beim ‚Balzen‘ um die irischen Katholiken der Mittelschicht und die Irischen Brigaden in Westminster als hilfreich erwiesen, zumal was Gunsterweisungen anging. Die S ­ ituation in Italien kam ihnen ebenfalls zugute, denn der italienische Nationalismus und seine liberalen Sympathisanten daheim stellten eindeutig eine Bedrohung für das Papsttum dar. Die Zugewinne der Torys genügten nicht, um der konservativen Regierung das Überleben zu sichern. Gleich nach der Wahl versuchte Disraeli, Palmerston zum Beitritt zu überreden. Er stellte ihm sogar in Aussicht – ohne dafür in irgendeiner Form autorisiert gewesen zu sein –, dass er Derby zu gegebener Zeit als Führer ­ablösen könnte. Und er warnte ihn vor der möglichen Alternative, dass nämlich Russell mit der Unterstützung der Radikalen Premierminister wird. P ­ almerston lehnte kurz und bündig ab. Darauf ging ein weiterer Monat mit Manövern in beiden politischen Lagern ins Land. Derby und Dizzy erörterten alle Möglichkeiten des Machterhalts, einschließlich einer weiteren, modifizierten Reformbill. Die Lage in Italien war ein Faktor von vielen, die die berühmte Wiedervereinigung der Liberalen in Willis’ Teestuben am 6. Juni 1859 ermöglichten. Von all den Liberalen-Treffen seit 1832 kann von diesem mit dem größten Recht als der Gründung der modernen liberalen Partei gesprochen werden. Die Abneigung gegen

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die Person Disraeli spielte dabei eine wichtige Rolle. In einem letzten verzweifelten Anlauf schlug Disraeli vor, dass er und Derby zugunsten von Stanley zurück­ treten sollten. In der Abstimmung am 11. Juni verlor die Regierung mit lediglich 13 Stimmen, 323 zu 310, und die Torys hielten ihre Reihen bemerkenswert geschlossen. Selbst Gladstone stimmte mit der Regierung. Letztlich war es der Mangel an Unterstützung durch die Wähler, wie wenige Stimmen auch gefehlt haben mochten, der der Derby-Dizzy-Partnerschaft das Ende bereitete.

7. Frustration und Triumph (1859–1868) Die nächsten sechs Jahre in Disraelis politischem Leben verliefen enttäuschend für ihn, und als er sich seinem 60. Geburtstag näherte, schien es, als stünden die Zeichen auf Abschied und Rückzug aus der Politik. Aber selbst ein solcher Tiefpunkt am Ende hätte ihn nicht zu einer Fußnote der Geschichte degradiert. Seine Laufbahn hätte auch so etwas Märchenhaftes gehabt, er würde aber wohl nicht als einer der Protagonisten des bis heute fortdauernden politischen Kampfes in Großbritannien gelten, zumindest nicht als einer der wichtigsten, als der er heute gilt. Zu seinem Glück hatte er am Tag nach seiner Vertreibung aus dem Regierungsamt nicht an Rückzug denken müssen, dazu bestand kein Grund. Die Aussichten für Palmerston und für die locker verbundene Koalition, die in Willis Teestuben zusammengefunden hatte, waren nicht so erfolgversprechend wie die der ganz ähnlichen Koalition von 1853. Die Spannungen zwischen den Partnern bestanden wie gehabt, zudem ging der Chef auf seinen 75. Geburtstag zu. Kaum jemand hätte gedacht, dass der Premierminister weitere sechs Jahre amtieren würde und dass er die Spannungen so erfolgreich eindämmen könnte, dass er seinen Nachfolgern eine auffallend geeinte liberale Partei übergeben würde. Vorläufig musste auch Disraeli anerkennen, dass die Opposition nicht auf einen sofortigen Sturz der Regierung drängen konnte und dass mit einer weiteren kurzlebigen Minderheitsregierung nichts gewonnen wäre. Darum schwenkte er in der Sitzungsperiode von 1860 voll und ganz auf Derbys Taktik ein, Palmerston Unterstützung zu gewähren gegen den Druck, den er vonseiten der Radikalen zu gewärtigen hatte. Die meisten Tory-Hinterbänkler wollten Palmerston nicht stürzen und sahen in ihm mit der Zeit den bestmöglichen konservativen Premierminister. Manche von ihnen zogen ihn den eigenen Führungskräften vor, und zweifellos Disraeli. Aber wenn es auch ein Einvernehmen gab zwischen Derby und Disraeli auf der einen Seite und Palmerston auf der anderen, so hatte das doch Grenzen und war an Bedingungen geknüpft. Falls Gladstone „einen demokratischen Haushalt“ vorschlagen sollte, „der einen großen Lastentransfer von der indirekten zur direkten Besteuerung vorsieht“, würden die Konservativen Palmerston und das übrige Kabinett gegen Gladstone und seine radikalen Verbündeten unterstützen. Die ­Torys würden keine aktive Intervention gegen Österreich in Italien unterstützen, und die Frage der Abschaffung der Kirchensteuern musste die Regierung unberührt lassen. Wie Palmerston der Königin gegenüber zu verstehen gab, „impliziert dies freilich keinen Waffenstillstand, sondern den Verzicht auf sämtliche Bemühungen, einen Regierungswechsel herbeizuführen.“1 Gerade solch ein begrenztes Einvernehmen machte es außerordentlich schwierig, die Opposition zu führen, zumal für ­Disraeli,

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den Vater des Gedankens, dass Opposition heiße, dagegen zu sein. Mehr denn je wurde er zum Blitzableiter für die Unzufriedenheit und den Unwillen, den diese unklare Lage mit sich bringen musste. Viele seiner Gefolgsleute argwöhnten auch weiterhin, dass er wie früher schon keine Skrupel hätte, sich um ein Bündnis mit den Radikalen wie etwa Bright zu bemühen – deren Ernüchterung von der Palmerston-Regierung bald mit Händen zu greifen war –, wenn er dadurch selbst wieder an die Regierung kommen würde. Dieses Misstrauen kam in einem QuarterlyArtikel vom April 1860 zum Ausdruck, worin es hieß: „Mr. Disraelis ultimative Taktik lässt sich bündig auf die Formel bringen: Niederwerfung der Whigs durch das Zusammengehen mit den Radikalen“.2 Als Autor des Beitrags galt Lord Robert Cecil, der zukünftige 3. Marquis of Salisbury und Premierminister, der sich als Disraelis erbittertster Tory-Kritiker erweisen sollte, bis die beiden sich 1874 versöhnten. Lord Robert gehörte zu einem harten Kern von Anti-­Disraeliten, zu dem auch alte Feinde zählten wie beispielsweise George Bentinck, den ­Disraeli dessen Größe und Aussehens wegen mit einem Gorilla verglich, und Charles N ­ ewdegate, der einen Führungswechsel anstrebte und dazu unaufhörlich intrigierte. S ­ tanley konnte wenig Herzlichkeit in den Beziehungen zwischen seinem Vater und ­Disraeli entdecken, der hin und wieder mit Rücktritt drohte. Im Juni 1860 schrieb Disraeli einen langen Brief an Sir William Miles, der lange Jahre zu den Führungskräften unter den Tory-Protektionisten gehörte; das Schreiben gipfelte in folgender Erklärung: „Ich muss von einem Führungsposten zurücktreten, den ich nur widerwillig annahm; und obwohl ich mich der Aufgabe 14 Jahre lang mit bedingungsloser Hingabe gewidmet habe, könnte ich nicht sagen, dass sich die Partei mit meiner Führung versöhnt hat“. Ansonsten besteht der Brief aus Schilderungen der Ereignisse seit 1846, und mithin aus jener Disraeli-typischen Mischung aus Wahrheiten, Halbwahrheiten und Amnesien. Der Brief sorgte für Unruhe unter den Führungs­ figuren in der Partei, was er zweifelsohne auch sollte, und D ­ israeli wurde zugeredet, ihn zurückzunehmen und so zu tun, als gäbe es ihn gar nicht.3 Es war frustrierend, eine Opposition anzuführen, die zwar unbedingt Schläge austeilen, aber keine Wunden zufügen wollte, doch Palmerston lebte auch nur von der Hand in den Mund. Selbst Lord Derby, der Verfechter der ‚wait and see‘-­ Politik, grübelte bald darüber, wie er ein neues Kabinett bilden könnte. ­Disraeli freilich war der strategische Kopf und musste sich überlegen, wie der Koalition der liberalen Kräfte beizukommen bzw. wie sie auseinanderzubrechen sei, wobei er auf die höchsten Ansprüche an konsequentes Verhalten und Prinzipientreue keine Rücksicht nehmen durfte. Disraeli musste sich der von Russell 1860 vorgelegten Reformbill widersetzen, obwohl die sich gar nicht so sehr von seiner eigenen Gesetzesvorlage unterschied, die er im Jahr zuvor durchzubringen versucht hatte. Um Russells Bill war es bald geschehen, weil auch Palmerston und viele Whigs und gemäßigte Liberale sie nicht wollten; ­Disraeli aber musste das Scheitern der Whig-Reform und die Enttäuschung der Radikalen über die gebrochenen Regierungsversprechungen so gut es ging auszuschlachten versuchen. Es war nicht zu erwarten, dass sich auch die Parlamentsreform quasi von selbst er­

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ledigte, zu Palmerstons Lebzeiten gab es jedoch keine weiteren gesetzgeberischen Vorstöße in dieser Sache. Die Finanzen erwiesen sich als das kompliziertere Problem, und Gladstone war ein respekteinflößender Wider­sacher. Bei der Abschaffung der Papiersteuern im Haushalt von 1860 und dem Freihandels­abkommen mit Frankreich handelte es sich um politische Maßnahmen, die ­Disraeli womöglich selbst vorangetrieben hätte. Er lehnte es ab, Wissen zu besteuern, und hätte eine Absenkung der Papiersteuern vorgeschlagen, wenn er 1859 noch Schatzkanzler und also Haushaltsbevollmächtigter gewesen wäre. Das Bündnis mit Frankreich war von jeher ein Eckpfeiler seiner Außenpolitik, auch wenn er wohl lieber eine stärker auf Gegenseitigkeit beruhende Abmachung gehabt hätte. Der Plan zur Aufhebung der Papiersteuer kollidierte 1861 mit der verfassungsrechtlichen Befugnis des House of Lords, Finanzvorhaben abzuweisen. ­Palmerston signalisierte zwar halbherzig Unterstützung, doch Gladstone umging den Widerstand der Lords, und zwar dadurch, dass er alle seine Vorhaben und Pläne in einer Finanzbill versammelte. Die Abstimmung am 30. Mai 1861, zu der immerhin ein Abgeordneter im Rollstuhl erschien, gab den Ausschlag und brachte der Regierung eine Mehrheit von 15 Stimmen, 296 zu 281. Beide, Derby und Disraeli, waren schwer enttäuscht. Über 20 Torys waren der Abstimmung ferngeblieben, Verratsanschuldigungen wurden erhoben und Disraeli sprach abermals von Rücktritt. Etliche Tage ward er im Haus nicht gesehen; man hörte nur, dass er eine Einladung zu einem Abendessen mit den Mitgliedern des Carlton ablehnte, die ihrer Loyalität Ausdruck verleihen wollten. Er glaubte, dass solch eine Veranstaltung „bloß zu Missverständnissen führt und einem Gedanken Nahrung gibt, der ebenso haltlos wie bösartig ist, nämlich dass die Konservativen ernstlich uneins sind“.4 Ein Jahr später stellte sich die Situation nicht viel besser dar. Die Konservativen hatten sich entschlossen, einen von dem Radikalen James Stansfeld eingebrachten Antrag auf mehr Wirtschaftlichkeit bzw. Sparsamkeit zu unterstützen. Zu diesem Zeitpunkt war die Regierung äußerst verletzbar, weil öffentlich wurde, dass der Premier­ minister und sein Schatzkanzler Gladstone sich über die Höhe der Verteidigungsausgaben nicht einigen konnten. Ausnahmsweise einmal sah es so aus, als ob ­Disraeli die Regierung in die Zange nehmen könnte, ohne in den Verdacht zu geraten, dass er auf ein Bündnis mit den Radikalen aus sei. Palmerston sah sich zu Beginn der Debatte gezwungen, den Abänderungsantrag der Konservativen zur Vertrauensfrage zu erklären. Daraufhin gab Spencer Walpole, der Antragsteller, klein bei und zog seinen Änderungsvorschlag zurück. Was zum Sturz der Regierung hätte führen können, wurde zu einem Fiasko – ein Fiasko, das Disraeli erstaunlich gut gelaunt und gelassen hinnahm, was jedoch nicht kaschieren konnte, dass die Reihen der Torys nicht geschlossen waren und es bei ihnen gärte.5 Das sparsame Wirtschaften bei den öffentlichen Ausgaben stand in engem Zusammenhang mit dem außenpolitischen Vorgehen und der Frage von Krieg und Frieden. Die Außenpolitik spielte in den Jahren von Palmerstons zweitem Kabinett eine außerordentlich große Rolle und brachte eine Leidenschaft in die politischen Auseinandersetzungen, die der Innenpolitik häufig abging. Disraeli betrachtete

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die Außenpolitik als seine Domäne und rieb sich an Derbys Entschluss, an Malmesburys Anwartschaftsanspruch auf das Außenministerium festzuhalten. D ­ israeli kostete seine Rolle als Wortführer der Opposition in außenpolitischen Fragen aus und nutzte sie weidlich. Es gab vier Probleme, die alle beschäftigten, zunächst Italiens Risorgimento, dann der Amerikanische Bürgerkrieg, der polnische Aufstand im Jahre 1863 und 1864 die Schleswig-Holstein-Frage, Bismarcks erster größerer Vorstoß in die Europapolitik. Bei all diesen Problemen waren die anglofranzösischen Beziehungen und die Politik Napoleons III. von ausschlaggebender Bedeutung. Disraeli glaubte den Kaiser besser als jeder andere zu kennen und war jederzeit bereit, sich der Hysterie und der Angst entgegenzustemmen, die Louis Napoleon in Großbritannien hin und wider hervorrief. Es gefiel ihm, wenn – was nicht selten vorkam – zwischen seiner Laufbahn und der des französischen Kaisers Parallelen gezogen wurden und es hieß, sie beide seien höchst erfolgreiche Abenteurer, und er fühlte sich von der seiner Ansicht nach „großen Ähnlichkeit“ geschmeichelt. Trotz all seiner Voreingenommenheit für die Rasse hatte er wenig Sympathie für den italienischen Nationalismus, und er war nicht der Ansicht, dass im italienischen Liberalismus viel Substanz steckte. Dass die Regierung den italienischen Nationalismus befürwortete, kam seinem Werben um die irischen Katholiken zugute, die sich um den Fortbestand der weltlichen Macht des Papstes sorgten, „eines alten Mannes auf einem semitischen Thron“. In den meisten Fällen schwamm Disraeli gegen den Strom der öffentlichen Meinung zu Italien, und zu Napoleon vertrat er sogar eine andere Position als seine Gefolgsleute. Die ToryHinterbänkler misstrauten den französischen und napoleonischen Plänen instinktiv und schlugen sich gegen Gladstone und die Radikalen auf Palmerstons Seite, wenn es um die Sicherheit und den Schutz des Landes ging. Über die Verteidigungsausgaben waren sich Derby und Disraeli gelegentlich uneins, weil es der Tory-Führer nicht ratsam fand, wenn man sich allzu weit vom Bauchgefühl der Anhänger entfernte. Disraelis Rede von den „aufgeblähten Rüstungsausgaben“ hatte bei vielen Parteigängern für Unmut gesorgt und zu dem Fiasko von Stansfelds Antrag beigetragen. Was den Amerikanischen Bürgerkrieg anging, so war er sich mit seiner Partei nahezu einig, denn er teilte deren instinktives Wohlwollen für den Süden. Er hoffte, dass die Niederlage des Nordens sich weltumspannend als Rückschlag für die Demokratie und den Republikanismus erweisen würde. In der Öffentlichkeit war er stets auf umsichtige Neutralität bedacht, anders als Gladstone offensichtlich, der im Oktober 1862 erklärte, dass die Anführer des Südens eine Armee, eine Marine und, „was die noch größere Leistung ist, eine Nation aufgebaut haben“. Palmerston und sogar mehr noch Russell machten sich in der Sache des polnischen Aufstandes und der Schleswig-Holsteins dadurch angreifbar, dass sie bei den Polen und den Dänen offenbar Erwartungen weckten, die sie nicht erfüllen konnten. Disraeli scheint von Bismarck beeindruckt gewesen zu sein, als dieser London 1862 einen flüchtigen Besuch abstattete, kurz bevor er in Preußen an die Macht gelangte. Bismarck sprach häufig „beängstigend offen“, zumal bei An­

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lässen wie diesem, da er die führenden britischen Politiker zu beeindrucken suchte. Er soll vor Disraeli geprahlt haben, er würde „Österreich unter dem kleinsten Vorwand den Krieg erklären, das deutsche Parlament auflösen, die Kleinstaaten unterwerfen und Deutschland als Nation unter Preußens Führung einen“.6 Dagegen schrieb Disraeli an seinen Sekretär Earle, „Preußen ohne Nationalität – nach der alle Welt verlangt in diesen Tagen – also ohne dass es einer Nation zugehört, ist eindeutig ein Fall für die Aufteilung.“ 1864 gehörte Disraeli ins Lager der Friedensbefürworter und lag mit der Mehrheitsmeinung überkreuz, nicht zuletzt mit der der Torys. Stanley, der von jeher für den Frieden war und für die Nichteinmischung, glaubte, Disraeli würde ein doppeltes Spiel spielen und hätte ihm etwas anderes erzählt als seinem Vater, „weiß der Kuckuck, ob er einem von uns die Wahrheit gesagt hat“.7 Seiner Ansicht nach würden die bekannten Sympathien der Königin für die Deutschen dafür sorgen, dass Disraeli dem Frieden dauerhaft erhalten bliebe. Was auch immer Disraeli wirklich dachte, letztlich hatte er kein Problem damit, einen wirkungsvollen Angriff auf Palmerston zu starten, den der im Juli 1864 mit nur 18 Mehrstimmen überlebte. Sollten Derby und Disraeli gehofft haben, seiner Popularität zu schaden, so wurden sie enttäuscht. Dass der Premierminister nur mit knapper Not davonkam, wurde draußen nicht zur Kenntnis genommen. Die Leute jubelten ihm jeden Tag zu, wenn er zu den Debatten eintraf. Eine Opposition ist für gewöhnlich kaum in der Lage, die Richtung vorzugeben, und dass Disraeli in diesen Jahren die Kirche verteidigte, das könnte durchaus vor allem den Grund gehabt haben, dass er Palmerstons Politik unbedingt etwas entgegensetzen wollte. Diesem ging es mit seinen Ernennungen von Bischöfen und Priestern, die der Low Church angehörten (also dem Flügel der anglikanischen Kirche, der den Dissentern am nächsten stand) und mit seiner allgemeinen Haltung zu den Beschwerden der Dissenter (über die Kirchensteuer und die Erziehung etwa) darum, die Harmonie zwischen seinen anglikanischen und seinen nonkonformistischen [nichtanglikanischen] Anhängern zu fördern. Er vermochte es, die Disestablishment-Bewegung im liberalen Lager zu halten, ohne dass er sehr weit ging, um sie zufriedenzustellen. Disraeli wiederum konnte plausibel dagegenhalten (was er vielfach tat), dass die Kirche in Gefahr und dass ihre Verteidigung ein Anliegen sei, das alle Torys einen könnte und sollte. Disraeli ein Verteidiger der Religion – daran durfte man zweifeln, und selbst sein Freund Stanley war skeptisch: Ich verdanke ihm viele hilfreiche Hinweise, die alten Gewohnheiten haben uns zueinander gebracht, und ich bewundere seine Beharrlichkeit nicht weniger als seine Begabung; wie aber bringe ich zusammen, dass er im Privaten freimütig über alle Religionen herzieht und seinen Spott mit ihnen treibt, während er öffentlich von einer neuen Hetze gegen Kirche – und – Staat predigt? Oder wie könnte ich nicht sehen, dass es ihm um Ruhm und Macht geht, und nicht um das Wohl der Allgemeinheit? Man muss ihm immerhin zugute halten, dass er in dem Punkt kein Heuchler ist.8

Lord Robert Cecil, ein Feind, war sarkastischer. Im November 1861 schrieb er an Carnarvon, einen anderen Vertreter der Hochkirche, er habe „in Dizzys Führerschaft lange Zeit eine unabänderliche Strafe gesehen“, und dass Disraeli sich nun

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auch noch als Mann der englischen Kirche aufspielt, sei ein fürchterliches Getue, „eine bedeutungslose Vorspiegelung von Angelsachsentum“.9 Drei Jahre später, während D ­ israelis Strategie der Kirchenverteidigung kaum Früchte getragen hatte, kam Stanley hinter einen Verschwörungsplan von Tory-Ultras – einen von vielen, die nie zur Durchführung gelangten –, der darauf zielte, seinen Vater im Oberhaus durch den strengprotestantischen Duke of Marlborough zu ersetzen, und Disraeli im Unterhaus durch Lord Robert Cecil. Wie so oft legte Disraeli eine Haltung an den Tag, die sich, wenn nicht als lächerlich, so doch zumindest als opportunistisch bezeichnen lässt, die jedoch mit seinen alten und häufig geäußerten Überzeugungen in Einklang stand. Kirche und Monarchie sind in den Romanen der Trilogie die tragenden Stützen der englischen Gesellschaft. Jetzt, in den 1860er Jahren wiederholte er diese Ansichten bloß, wie etwa in einer Rede in Aylesbury im November 1861: „Manchmal heißt es, dass die Kirche von England der religiösen Freiheit ablehnend gegenübersteht. Genauso könnte man sagen, dass die Monarchie von England mit der politischen Freiheit unvereinbar ist. Beides sind Institutionen, die die Freiheit gewährleisten, indem sie die Ordnung aufrechterhalten.“10 Disraeli erzielte einen seiner vielen folgenlosen Triumphe in diesen Jahren, als Sir John Trelawnys alljährliche Gesetzesvorlage zur Abschaffung der Kirchensteuern im Mai 1862 mit einer Mehrheit von nur einer einzigen Stimme abgelehnt wurde. Er (Disraeli) war mit dem Hochanglikaner Samuel Wilberforce befreundet, der als Bischof von Oxford sein Diözesan war. Diese Freundschaft stellte einen willkommenen Durchbruch in Disraelis Verhältnis zu den Hochanglikanern dar, das bis dahin im Allgemeinen von Gleichgültigkeit geprägt war. Wilberforce war auch ein enger Freund Gladstones, zeigte sich jedoch tief verletzt, als sein Freund es 1862 versäumte, ihm das begehrte Erzbischofstum von York zu sichern. Es war Wilberforce, dem Disraeli die Einladung zu einer Rede in Oxford im November 1864 verdankte. Aus dieser Rede wird überwiegend die Stelle zitiert, in der Disraeli Widerspruch gegen Darwins Lehren erhob, indem er sagte: „Die Frage ist doch die – Ist der Mensch ein Affe oder ein Engel? My Lord, ich stehe aufseiten der Engel.“ Genau besehen war die Rede ein viel weiter gespannter Versuch, die aufgekommenen Fragen zu erörtern, nicht nur anhand des scheinbaren Gegensatzes zwischen der Wissen­ schaft und der Offenbarungsreligion, sondern auch anhand einer zeitgemäßen Bibel­kritik und ihrer liberal gesinnten Broad-Church-Anhänger in der Kirche: Der Mensch aber, my Lord, ist zum Glauben bestimmt. Und wenn keine Kirche Anspruch auf die Wahrheit erhebt […] wird er Altäre und Götzen in seinem Herzen und nach seiner eigenen Vorstellung finden. Bedenken Sie jedoch Folgendes. Welche Beziehungen müssen zwischen einer machtvollen Kirche ohne eigene Überzeugungen und einem Wesen bestehen, das so veranlagt ist? […] steht am Anfang, wie es der neuen Lehre gefiele, die Ablehnung des Offenbarungsprinzips, endet es damit, dass jeder Priester zum Prophet wird; und fängt es wie bei ihr mit der Verwerfung des Wunderglaubens an, werden wir bald, verlassen Sie sich darauf, einen Ort dauernd wechselnder geistiger Trugbilder bewohnen.11

Disraeli war kein ausgesprochener Theologe, und auch kein tiefgründiger Philo­ soph, er besaß jedoch die Fähigkeit, die wesentlichen Aspekte neuer geistiger Strö-

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mungen aufzugreifen und ihre praktische Relevanz zu ermessen. Wenn eine dem Anschein nach so zynische Person wie Disraeli über die Dinge des Glaubens und der Religion dozierte, hatte das zweifelsohne etwas Lächer­liches an sich, und die Oxfordianer hatten ihren Spaß. Was konnte lächerlicher sein als dieser christianisierte Jude, der sich als Beschützer von Kirche und Glauben aufspielte und der „die Kirche als die einzige bleibende jüdische Institution“ betrachtete und die Französische Revolution als „eine der regelmäßigen Erhebungen der nordischen Rassen gegen die semitische Wahrheit“? Man kann sich leicht denken, weshalb ihm die Intellektuellen ganz allgemein ablehnend gegenüberstanden. Jene, die es mit dem Fortschritt ernst meinten, fanden ihn unverbesserlich leichtfertig, während die auf der Rechten seine Anhänglichkeit an die „überkommenen Prägungen“ für bloßen Schein hielten. Sein Feldzug im Namen der Kirche brachte ihm in den 1860er Jahren keine nennenswerten politischen Vorteile. Palmerston wurde nicht gestürzt, und der Premierminister strafte die Propheten, die seinen Sturz vorhersagten, jedes Jahr aufs Neue Lügen und demonstrierte sein politische und physische Langlebigkeit. Er machte aus seinem hohen Alter einen Vorzug. Als Palmerston als 78-Jähriger wegen Ehebruchs bei Gericht zu einer Anhörung vorgeladen wurde, war Disraeli dennoch zum Spaßen aufgelegt. An Derby schrieb er: „Die Geschichte dürfte ihn jedenfalls lächerlich machen, womöglich aber macht sie ihn sogar noch beliebter. Wer weiß, vielleicht wurde die Affäre aufgebracht, damit es zur Parlamentsauflösung kommt? Sie brauchen eine Losung für die Wahlen. Das Ganze ist etwas unerfreulich für die Low-Church-Partei, die ihn als ‚Mann Gottes‘ gewürdigt hatte – aber das war König David auch & der benahm sich sogar noch schlechter“.12 Das eine oder andere gab es, das ihn für den politischen Trübsinn ent­schädigte und einen Ausgleich schaffte. Als langjährigem Oppositionsführer und früherem Kabinettsmitglied standen ihm alle Türen offen, und nur bei wenigen der Haupt­ ereignisse waren er und Mary Anne nicht zugegen. Ein Großteil dieses Programms sowie die alljährliche Tournee von Landhaus-Besuchen wurde ihm langweilig und er musste sich lange Auszeiten nehmen, um sich auf seinem geliebten Hughenden vom gesellschaftlichen wie auch vom parlamentarischen Leben zu erholen. Selbst dort musste er die Besuche zahlreicher wichtiger Personen bewältigen. Mary Anne mochte die langen Phasen der Abgeschiedenheit nicht, allerdings wurden ihr Verhalten und ihre Konversation immer exzentrischer und schrulliger. Charlotte de Rothschild zufolge wollte sie damit erreichen, dass man Notiz von ihr nahm; denn während alle Aufmerksamkeit ihrem Gatten zuströmte, war sie die Übergangene. Im April 1861 begleitete sie ihn das erste Mal bei einem Besuch auf Windsor. Disraeli war beglückt über den liebenswürdigen Empfang durch das königliche Paar, dessen Misstrauen gegenüber den beiden Tory-Führern der Vergangenheit angehörte. Als der Prinzgemahl Ende dieses Jahres starb, war den Politikern aller Parteien, und nicht zuletzt Disraeli, klar, dass das einen Einschnitt bedeutete. Solange Albert lebte, war die Monarchie aktiv am politischen Geschehen beteiligt, und sie gewann an Einfluss, seit die Ereignisse von 1846 Bewegung in die Parteienland-

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schaft gebracht hatten. Der Prinzgemahl hatte aus diesen Möglichkeiten viel gemacht, und Disraeli meinte es vermutlich ernst mit seiner Bemerkung, die von Vitzthum, dem sächsischen Gesandten, berichtet wurde: „Dieser deutsche Prinz hat England 21 Jahre lang so weise und tatkräftig regiert, wie keiner unserer Könige zuvor. […] Hätte er einige unserer ‚alten Hasen‘ überlebt, hätte er uns unter Beibehaltung aller verfassungsmäßigen Garantien die Segnungen einer absoluten Herrschaft beschert.“13 Bei Albert hatte Disraeli keine allzu großen Aussichten, seine persönliche Stellung zu verbessern, um die Gunst der verwitweten Königin aber buhlte er ununterbrochen. Dies geschah meistens in der Weise, dass er ihr ein überspanntes Loblied auf ihren verstorbenen Gatten sang und indem er sich für die Einrichtung des Albert-Mausoleums stark machte und für die Umsetzung der vom Prinzen in South Kensington verfolgten Pläne, dies allerdings mit weniger Erfolg. Dass er und Mary Anne 1863 zur Hochzeit des Prinzen von Wales mit der Prinzessin Alexandra von Dänemark geladen wurden, versetzte ihn in Entzücken. Er dachte, dass er die Einladung der Königin persönlich zu ver­danken hatte, in Wahrheit aber kam sie auf Palmerstons Empfehlung hin zustande. Seine Schilderung der Hochzeit und seiner persönlichen Unterredung mit der Königin lässt erkennen, dass seine Feder nichts an Kraft eingebüßt hatte. Obgleich sein politisches Leben auf dem Tiefpunkt angelangt war, nahm er die Feder merkwürdigerweise nicht wieder auf, um zu schreiben. Weil sich seine finanzielle Situation durch Andrew Montagus Hilfe und Mrs. Brydges Wylliams Erbe ver­bessert hatte, fühlte er sich dazu offensichtlich weniger angespornt, und die Tan­tiemen aus den vorliegenden Werken flossen reichlich. Allerdings hatte er sich seit 1860 Notizen gemacht, die wie Vorarbeiten zu seinen Memoiren wirkten. Einige von ihnen waren so freimütig, dass sie unmöglich gleich hätten veröffentlicht werden können. 1864 besuchte er das Unterhaus immer weniger, und dass er augenscheinlich das Interesse an der Politik verloren hatte, sorgte für Gesprächsstoff. Es fiel auf, dass er gelegentlich auf seinem Platz auf der vordersten Bank einschlief. Wenn das politische Leben für Disraeli an Reiz verlor, wäre es denkbar, dass er im Privaten von einer verspäteten Midlife-Crisis erfasst wurde. Seine Schwester, die ihm als Vertraute von jeher nähergestanden hatte als seine Ehefrau, war im Dezember 1859 gestorben. Mary Anne wurde 1862 siebzig Jahre alt und kränkelte häufig. Lady Dorothy Nevill, mehr als zwanzig Jahre jünger als er, war eine enge Freundin und seit vielen Jahren seine Nachbarin. Sie, eine Walpole, stand mit vielen politischen Freunden und Kollegen von Disraeli in Verbindung und machte als Tory-Lady noch von sich reden, als Disraeli schon lange nicht mehr war. 1846 hatte George Smythe für einen Skandal gesorgt, weil er ihr den Hof machte und sie, wie es hieß, von ihm schwanger war. 1847 dann heiratete sie den 19 Jahre älteren Reginald Nevill, der der Linie der Earls of Abergavenny entstammte. ­Nevill, der aktuelle Earl, der 1876 von Disraeli in den Rang eines ­Marquis erhoben wurde, war eine „graue Eminenz“ unter den Parteimanagern der Torys. Lady Dorothy hatte mehrere Kinder mit ihm, die Ehe erlahmte jedoch bald. Könnte ihr Sohn Ralph, ein (im März 1865) Spätgeborener, von Disraeli gezeugt

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worden sein? Diese Möglichkeit kam nie zur Sprache, allerdings sind damals die Familien­ähnlichkeiten in den Kinderzimmern der viktorianischen Oberschicht überhaupt nicht diskutiert worden. Eine gewisse Kate Donovan, geboren 1866, die später in Neuseeland lebte, behauptete tatsächlich, Disraelis Tochter zu sein, wofür es freilich keinen Beweis gibt.14 Bis 1911 konnten die Parlamente sieben Jahre bestehen, gelangten jedoch selten über sechs Sitzungsperioden hinaus. Die Parlamentswahl vom Juli 1865 kam daher nicht überraschend, dennoch aber erlebten die Torys einen schwierigen Wahlkampf. Außenpolitik, Religion und die Parlamentsreform stellten fraglos die strittigen Themen dar, und bei allen dreien waren Palmerston und die Liberalen klar im Vorteil. Disraeli tönte wieder, ‚Kirche in Gefahr‘, was jedoch nicht überzeugend wirkte, wenn sogar ein führender Traktarianer wie E. B. Pusey sich für Palmerston und Gladstone aussprach. Es war eine geräuscharme Wahl, bei der die Zahl der kampflos erworbenen Sitze über der von 1859 lag. Zum anderen gab es nicht einmal halb so viele geteilte Stimmen wie 1857. Wenn ein Wähler seine beiden Stimmen auf Kandidaten unterschiedlicher Parteien aufteilte, ließ das er­ kennen, dass die Persönlichkeiten und die Lokalthemen stärker ins Gewicht fielen als das Parteigefühl. Die Torys schnitten schlechter ab als 1859, standen aber besser da als 1857, und mit rund 290 Sitzen stellten sie ihr Resultat von 1852 ein. In England veränderte sich ihre Stellung kaum, aber entlang des keltischen Randes hatten sie erhebliche Verluste zu verzeichnen; die stärksten in Irland, wo der Höchststand von 1859 nie wieder erreicht wurde. Auch Disraeli musste anerkennen, dass, „wenn Schottland und die Großstadtbezirke der konservativen Sache vollends und fortgesetzt den Rücken kehren, keine konservative Regierung möglich sein wird, es sei denn auf einer breiteren Grundlage.“ Die Partei bezog ihre Stärke allzu sehr aus den englischen Grafschaften und den kleinen Stadt­ gemeinden, in den größeren Städten war sie schwach. Ein Bündnis mit den moderaten Whigs hatte seit Jahren als Möglichkeit im Raum gestanden und für endlose Diskussionen gesorgt, und jetzt bot Disraeli Derby zum wiederholten Male an, die Führung im Unterhaus abzugeben, um sich für das Zustandkommen einer solchen Koalition einzusetzen. Diesmal klang er sehr glaubwürdig, als er sagte: „Ich blicke auf meine Laufbahn im Unterhaus, mit der ich, soweit es das Amtieren angeht, abgeschlossen habe.“ Derby wies jeden Vorschlag, Disraeli solle zurück­ treten, um eine Whig-Tory-Koalition auf den Weg zu bringen, umgehend zurück, mit dem Hinweis, dass seine eigene politische Stellung dadurch unhaltbar und für ihn als Person untragbar würde, was durchaus der Wirklichkeit entsprach. Die dramatischen Ereignisse des nächsten Jahres werden zeigen, dass selbst in dieser Zeit der angeblich nicht fest umrissenen Parteikonturen die alten Whig- und ToryBindungen immer noch hielten.15 Und noch bestand Hoffnung. Das politische Leben des 80-jährigen Palmerston neigte sich zwangsläufig seinem Ende zu, und der Eindruck war nach wie vor der, dass der Zusammenhalt der liberalen Partei von seiner Person abhing. Die Wahl gab unter anderem zu erkennen, dass ein Generationenwechsel stattgefunden hatte,

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der mit einer deutlichen Stärkung der Personen und Ideologien des radikalen Parteiflügels einherging, dessen zahlenmäßige Unterlegenheit dadurch wettgemacht wurde. John Stuart Mill war für Westminster gewählt worden und einer seiner führenden Eleven, der blinde Henry Fawcett, für Brighton, und da war noch Thomas Hughes, der Christsozialist und Autor von Tom Brown’s Schooldays. Auch wenn die Parlamentsreform vielleicht nicht zum ganz großen Wahlthema avancierte, an dem sich die Gemüter erhitzten, so nahmen sich ihrer doch zwei Organisa­tionen ganz speziell an: die dem Stimmrecht für jeden household [Besitzer oder Mieter eines Hauses oder einer Wohnung] verpflichtete Reform Union und die radikalere Reform League, die für das Stimmrecht für jeden erwachsenen Mann eintrat. Gladstone schien zu seiner berühmten Stellungnahme vom Mai 1864 zu stehen, dass jede nicht untaugliche Person einen moralischen Anspruch darauf hat, „durch die Verfassung anerkannt zu werden“. Als der aussichtsreiche Anwärter auf die Führung der Liberalen nach Palmerstons und Russells Ausscheiden, war er zu einer äußerst umstrittenen und polarisierenden Figur geworden. Die Whigs und die gemäßigten Liberalen brachten ihm zu dieser Zeit wohl deutlich mehr Misstrauen entgegen, als es auf den Tory-Bänken gegenüber Disraeli gab. Noch immer war das Parlament mit seiner schmalen Wählerschicht durch eine Kluft von den Ansichten, Sorgen und Nöten all derer getrennt, die nicht über das Wahlrecht verfügten, und der Schatzkanzler schien seine Zukunft mit diesen zu verknüpfen. Sir John Trelawny hielt in seinem Tagebuch fest: „Es entstand eine merkwürdige Lücke auf der Ministerbank, während Gladstone eine Chartisten-Rede hielt.“16 Palmerstons Tod am 18. Oktober 1865, zwei Tage vor seinem 81. Geburtstag, ließ diese Spannungen offen hervortreten und weckte Disraeli aus seinem politischen Schlummer. Russell, der 73-jährig zum zweiten Mal Premierminister wurde, und Gladstone, der zum Unterhausführer avancierte, konnten der Streitfrage der Parlamentsreform kaum ausweichen, und das wollten sie auch gar nicht; wie weit aber durften sie gehen, ohne ihre Partei gravierend zu spalten?17 Robert Lowe entwickelte sich zum kraftvollsten Wortführer der Anti-Reform-Liberalen. Einst war er als Bildungsminister aus der Regierung ausgetreten, weil er das Gefühl hatte, er sei in einem Streit mit dem bitteren Lord Robert Cecil nicht genug unterstützt worden. Er war ein doktrinärer Utilitarist, der vor einigen Jahren in seinem Wahlkreis Kidderminster von einem Wahl-Mob angegriffen worden war. Folglich hatte er persönliche und auch intellektuelle Gründe, der Masse zu misstrauen. Von ihm hieß es, dass er nicht bereit sei, eine Absenkung des Stadtgemeinde-Wahlrechts um „ein Sixpencestück“ zu dulden. Die Spaltungen bei den Liberalen heizten Gerüchte von einer Koalition zwischen Torys und gemäßigten Liberalen an, und es wurden etliche Personen als mögliche Köpfe einer solchen Koalition gehandelt. Auf Tory-Seite galt Stanley als aussichtsreichster Kandidat, der aber war sich seiner Grenzen bewusst und schloss sich praktisch selbst aus. Eine Koalition wäre wohl nur um den Preis der Auswechselung von Derby und Disraeli zu haben ge­ wesen, und Derby war vielleicht sogar noch hartnäckiger entschlossen als sein Kollege, sich nicht ‚abschieben‘ zu lassen, und schon gar nicht zugunsten seines

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Sohnes. Einem Tagebucheintrag Stanleys zufolge dachte Disraeli über die Möglichkeit nach, einer moderaten Reformbill die Unterstützung der Torys zu gewähren. Die Parlamentsreform den Liberalen zu überlassen, wäre jedoch äußerst gefährlich gewesen. Neben dem Risiko, abermals ins Abseits zu geraten, hätte es der anderen Seite ermöglicht, die Details des Wahlrechts und der Neuregelung der Sitzverteilung nach eigenem Gutdünken und zum eigenen Vorteil auszugestalten. Disraeli kam bald zu dem Schluss, dass es nicht nur in seinem persönlichen Interesse, sondern auch in dem seiner Partei wäre, jedwedem Reform-Gesetzentwurf der Liberalen entschieden die Stirn zu bieten, aber keine Koalition mit den Reformgegnern auf liberaler Seite einzugehen. Disraelis fundamentale strategische Entscheidung machte ihn erst recht zur Zentralgestalt in dem komplexen Geschehen der nächsten beiden Jahre. Sein Kurs war rein von den Zwangslagen der parlamentarischen Taktik diktiert, und er rechtfertigte ihn erst nachträglich als die logische Folge seiner von jeher vertretenen Ansichten. In den Jahren vor Palmerstons Tod hatte er die Opposition im Sinne des defensiven bzw. abwehrenden Konservativismus geführt. Er nahm für sich in Anspruch, dass er Palmerston bei den entscheidenden innenpolitischen Themen, wie etwa der Parlamentsreform oder der Verteidigung der Staatskirche, auf der konservativen Linie gehalten und ihn vor dem Druck der Radikalen geschützt hatte. Das passte nicht recht zu der Idee von einem konservativen Fortschritt, die er in der Vergangenheit oft vertreten und in die Tat umgesetzt hatte, gegen die Neigungen seiner voreingenommeneren Gefolgsleute. Die Reformbill, die er und Derby 1859 eingebracht hatten, sah unter anderem vor, das Wahlrecht in den Grafschaften und den Stadtgemeinden anzugleichen und so mit dem Prinzip zu brechen, nach dem das Grafschafts-Stimmrecht auf Besitz, das der Stadtgemeinde aber auf Nutzung bzw. Mietzahlung beruhte. Weder Disraeli noch Derby konnten von sich behaupten, in Sachen Parlamentsreform einen konsequenten Kurs zu steuern, denn sie hatten sich bereits als inkonsequent gezeigt und widersprüchliche Positionen vertreten. Am 12. März 1866 machte Gladstone konkrete Angaben zu der liberalen Reformbill. Deren Kernstück war das Mietwahlrecht. In den Boroughs oder Stadtgemeinden wäre demnach jeder zur Wahl zugelassen, der eine Jahresmiete von sieben Pfd. zahlte, in den Grafschaften bzw. Landkreisen alle mit einer 14-Pfd.Jahresmiete bzw. -pacht. Die Bill hätte die Wählerschaft um 400.000 Personen erweitert, und sie sah eine niedrigere Hürde für das Boroughs-Wahlrecht vor als die Gesetzesvorlage der Torys von 1859. Disraeli fiel es nicht schwer, seine Partei zu einen und dafür zu sorgen, dass sie sich der Bill vier Tage später vehement entgegenstellte. Die liberalen Gegner der Bill, die von Lord Lowe und Lord Elcho angeführt wurden, nannte man die Adullamiten. Bright, der am anderen Ende der Partei angesiedelt war, hatte sie mit den Bewohnern der Höhle Adullam in Verbindung gebracht, in der David vor Saul Zuflucht suchte und in der „sich alles versammelte, was sich bedrängt fühlte und unzufrieden war“. Auch Bright sagte die Bill nicht zu, er nahm sie jedoch hin als einen ersten Schritt in die richtige Richtung. Was

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Lowe und Gladstone anbelangte, konnte Disraeli sich zurücklehnen, da diese sich durch ihren überspannten Redestil selbst bloßstellten. Indem Lowe von der Käuflichkeit und der Trunksucht der Unterschicht sprach, brachte er die Reformbewegung im Lande gegen sich auf und gab ihr noch einen zusätzlichen Impuls. Gladstone verfestigte die Anti-Reform-Stimmung unter den liberalen Parlamentariern dadurch, dass er als ein eifrigerer Reformer in Erscheinung trat, als er in Wirklichkeit war, und noch dazu durch sein selbstgerechtes Auftreten. Wie stark der Widerstand der liberalen Opposition gegen die Bill war, wurde bei der zweiten Lesung Ende April deutlich. Ein Abänderungsantrag, der die Regierung darum ersuchte, ihre Pläne zur Neuregelung der Sitzverteilung darzulegen, bevor sie die Wahlrechtsbill in Angriff nimmt, wurde nur mit einer knappen Mehrheit von fünf Stimmen abgelehnt. Die Regierung hatte gehofft, die Neuverteilung getrennt halten zu können, um dem Widerstand vorzubeugen, der sich aus der Überlagerung mit der Verabschiedung der Wahlrechtsanträge ergeben musste. Russell trat nicht zurück. Stattdessen stellte die Regierung zur Beschwichtigung der Adullamiten ihre Neuverteilungspläne vor, die, wie befüchtet, den Widerstand nur noch vergrößerten. Um 49 Stadtgemeinde-Sitze zur Neuverteilung freizugeben, sollten 63 Sitze von kleineren Stadtgemeinden zu Gruppen zusammengezogen werden. Das alarmierte die Whigs und auch die Torys. Es gab keine Bestimmung für die Änderung existierender Stadtgemeinde-Grenzen, so dass die Verstädterung der Landwahlkreise weiterging. Der Eindruck, dass eine Krise das Land erfasst hatte, verstärkte sich durch den Wirtschaftsabschwung, von dem ein aufsehenerregender Bankkonkurs in London kündete, und mehr noch dadurch, dass ein Krieg zwischen Österreich und Preußen unmittelbar bevorstand. Disraelis geschickte parlamentarische Manöver trugen zur Niederlage der Regierung bei. Am 18. Juni wurde die Russell-Regierung in der Abstimmung über einen Abänderungsantrag geschlagen (mit 11 Mehrstimmen), der den Zweck hatte, die Bill zu Fall zu bringen, indem er vorsah, eine Miet-Wahlberechtigung durch eine Gemeindesteuer-Wahlberechtigung zu ersetzen. Da die Miete in jedem Fall höher war als die Gemeindesteuer, hätte eine auf einem gewissen Mietbetrag fußende Wahlberichtigung weniger Menschen den Urnengang ermöglicht als derselbe Betrag an Gemeindesteuern. Die Radikalen in der liberalen Partei hatten sich über den Gang der Ereignisse erschüttert gezeigt und wollten nun eine Auflösung des Parlaments. Sie hofften, eine Wahl würde den Reformbedarf im Land deutlich machen, die Whigs im Kabinett aber, die die Reform ohne große Begeisterung mitgetragen hatten, wollten genau das nicht. Einmal mehr wurden die verschiedenen Möglichkeiten durchgespielt: eine Tory-Minderheitsregierung, eine Tory-Adullamiten-Koalition unter einem AntiReform-Whig wie Clarendon oder unter Stanley. Viele, darunter Delane und die Times, glaubten nicht, dass eine dritte Derby-Minderheitsregierung eine ernst­ zunehmende Option darstellte. Der 67-jährige und aufgrund der Gicht oft lange arbeitsunfähige Derby musste seinen Mut wieder gestärkt bekommen. Disraeli war in seinem Element. Die Sache gestaltete sich nicht allzu kompliziert, denn die

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von der Fraktion der Adullamiten gestellten Bedingungen für das Zustandekommen einer Koalition waren vollkommen überzogen. Sie wähnten sich in der gleichen Lage, in der sich die Peeliten bei der Bildung der Aberdeen-Koalition befunden hatten, es fehlte ihnen jedoch stets an Zusammenhalt und an Begabungen. „Sie müssen die Macht übernehmen; die Ehre Ihres Hauses und die Not im Lande verlangen das“, schrieb Disraeli an Derby.18 Stanley machte seinem Spitznamen ‚junger Griesgram‘ alle Ehre, weil er Zweifel an der Durchführbarkeit einer weiteren Tory-Minderheitsregierung hegte wie auch an seiner Eignung für den Chefposten; seiner Ansicht nach gelang es Disraeli, „der von jeher den Grundsatz vertrat, dass jedes Nein zur Regierungsübernahme sich für eine Partei verhängnisvoll auswirkt“, seinen Vater in seinem Entschluss zu bestärken.19 Alles war so gekommen, wie Disraeli die ganze Zeit gehofft hatte: Die liberale Reformbill war vernichtet und mit ihr die Einheit der liberalen Partei. Zweifellos blickte eine ToryMinderheitsregierung einer unsicheren Zukunft entgegen, dennoch aber hatte sie bessere Aussichten als ihre beiden konservativen Vorgängerinnen seit 1846. Disraeli selbst wäre die Schlüsselfigur in einem Tory-Kabinett, und genau von hier ab werden dann Disraelis Lebensgeschichte und der Fortgang der britischen Politik untrennbar miteinander verbunden sein. Die Existenz der konservativen Regierung wäre prekär, endlich aber hatte fortuna gelächelt, und nun war es an dem Mann der virtù, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen. Disraeli nahm großen Einfluss auf die Zusammensetzung des Kabinetts, das Derby nun bildete. Zu den jüngeren Mitgliedern zählte Sir Stafford Northcote, ein besonnener, planvoll vorgehender Devonshire-Baronet, der einst Gladstones Privatsekretär gewesen, dann aber ein zuverlässiger Mitarbeiter von Disraeli geworden war, der darauf bestand, ihn zum Präsidenten des Board of Trade, des Ministeriums für Handels- und Wirtschaftsfragen zu machen und ins Kabinett zu holen. Ein anderes aufstrebendes Talent, Gathorne Hardy – ein Mann der Hochkirche, der Disraeli unterstützte, ihn mitunter aber auch kritisierte –, wurde zum Prä­ sidenten des Ministeriums für das Armenwesen ernannt, mit einem Sitz im Kabinett. Der Duke of Buckingham – der sich Disraelis Achtung erworben hatte, weil es ihm gelungen war, das Schicksal seiner Familie nach seines Vaters Bankrott zum Besseren zu wenden – wurde President of the Council. Malmesbury gab das Außeministerium freiwillig ab und wurde Lordsiegelbewahrer. Hierdurch konnte Stanley seinen Platz als Außenminister einnehmen. Auch Lord Robert C ­ ecil – nach dem Tod seines älteren Bruders Lord Cranborne – verdankte seine Beförderung ins India Office (Reichsamt für Indien) in erster Linie Disraeli, der ein enger Freund der Cecil-Familie war und Hatfield häufig besuchte. Disaeli hatte etwas übrig für begabte Adelssprösslinge, selbst wenn die ihm kritisch gegenüberstanden. Er lag nicht immer richtig mit seinem Urteil über das Talent der jungen Männer, und er setzte ein unverhältnismäßiges Vertrauen in den skrupellosen Earle, den er als Mittelsmann in den heiklen Verhandlungen mit den Adullamiten einsetzte. Earle bekam jetzt einen untergeordneten Ministerposten übertragen, verkrachte sich jedoch bald mit seinem vormaligen Förderer, weil der ihn nicht

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noch zusätzlich begünstigte. Seinen Platz als Disraelis Privatsekretär nahm Monty Corry ein, der Sohn von Henry Corry, einem irischen Tory, der dem Kabinett 1867 als Marineminister beitrat. Monty Corry war der ideale, weil absolut ergebene und von persönlichem Ehrgeiz freie Sekretär und sein ‚Mädchen für alles‘, das er dringend brauchte. Die große Frage, mit der sich das dritte Derby-Dizzy-Kabinett konfrontiert sah und an der sein Überleben hing, war die der Parlamentsreform und was aus ihr werden sollte. Eine Adullamiten-Torys-Koalition hätte dieses Thema vielleicht zu den Akten legen oder auf den St. Nimmerleinstag verschieben können. Die HydePark-Unruhen im Juli 1866 machten deutlich, dass die unerwartet starken Reformwiderstände im Parlament zu großem Unmut innerhalb der Radikalen-Bewegung im Land geführt hatte. Die Angst vor der Revolution und vor dem Pöbel schwelte fast das ganze 19. Jahrhundert über. Die furchtsameren Geister unter den Politikern und in der Oberschicht, waren so bang und beunruhigt, dass sie eine Ausweitung des Wahlrechts für unumgänglich hielten. Die Königin gehörte zu denen, die glaubten, dass das Problem der Parlamentsreform unverzüglich gelöst werden müsse. Zu diesem Zeitpunkt herrschte kein Mangel an Gewalt; Aufruhr und Unruhe lagen in der Luft. Der Fenianismus in Irland [eine irische Unabhängigkeitsbewegung], der Krieg auf dem Kontinent, die vom hochviktorianischen Wohlfahrtsknick herrührenden Notlagen, die Streiks und dazu die Gewalt und die Bedrohung, die von der frühen Gewerkschaftsbewegung ausgingen – dies alles sorgte dafür, dass viele schon die Exekutionswagen der Revolution rollen hörten. Disraeli und seine Kollegen scheinen dagegen nicht übermäßig beunruhigt gewesen zu sein, und Stanley, eher kein sonderlich unerschrockener Geist, notierte zwei Tage nach den großen Kundgebungen, bei denen die Zaungitter des Hyde Parks zu Bruch gingen: „wieder Randale in den Parkanlagen, aber weniger heftig, und vornehmlich von Jugendlichen veranstaltet. […] Die Wirkung auf die honorigen Schichten eher gut – weil deutlich würde, unter welchem Radauvolk wir leben: obwohl man durchaus sagen kann, dass keine Niedertracht am Werk war, einzig die Lust an der Zerstörung, am Krawall und am Kampf.“20 Die großen Reform-Demonstrationen, die Bright im Herbst auf die parlamentarische Tagesordnung brachte, waren eine Warnung an die Ministerriege, dass die Streitfrage nicht einfach übergangen werden konnte; sie riefen aber bei den Whigs und den gemäßigten Liberalen größeres Unbehagen hervor, und selbst bei Gladstone, der sich klugerweise nach Italien davongemacht hatte, als bei der Tory-Regierung. Disraeli spielte zunächst mit dem Gedanken, dass man einfach an die Bill der Liberalen anknüpfen und sie weiterdenken könnte, bald aber plädierte er nur noch für Aufschub und Vertagung dieses Problems. Am meisten beschäftigte die beiden Führer die Frage des Überlebens im neuen Jahr, wenn sich das Parlament wieder versammelt haben würde. Im Herbst 1866 wurde die Parlamentsreform nicht wirklich angegangen, von konkreten Ergebnissen zu schweigen. Disraeli schrieb im November an Derby: „Man könnte meinen, dass das Unterhaus wirklich gegen jede durchdringende Reform ist und überhaupt gegen jede irgendwie geartete unverzügliche Reform.“21

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Die außenpolitischen und das Empire betreffenden Fragen hielten die Minister in Atem. Disraeli befand sich im Zentrum all der Schwierigkeiten und setzte sich als Schatzkanzler insbesondere mit deren finanziellen Folgen auseinander. Wie Kanada zu schützen sei und welchen Anteil an den entstehenden Lasten die heimische Regierung tragen sollte, das waren ständig diskutierte Fragen, die nun mit dem Ende des Amerikanischen Bürgerkrieges und der Möglichkeit von Übergriffen der (amerikanischen) Fenier drängender wurden. Eine Passage aus einem Brief an Derby vom 30. September wird oft zur Bekräftigung des Arguments herangezogen, dass die Sorge um das Empire eine Späterscheinung der Disraeli’schen Politik war: „Wir sollten in Asien Macht und Einfluss ausüben; und konsequenterweise in Osteuropa, und konsequenterweise auch in Westeuropa; was aber haben wir von diesen unnützen Lasten in den Kolonien, die wir nicht regieren?“ Das war jedoch nicht seine dezidierte Auffassung zu den Siedlungskolonien; noch nicht einmal über das der Autonomie am nächsten stehende Kanada dachte er so. 1862 sagte er im Unterhaus: „Das Kolonialreich Englands ist meiner Überzeugung nach der Stärke unseres Landes außerordentlich zuträglich. Wie sehr es von ihm profitiert, lässt sich nicht in Pfund, Schilling oder Pence bemessen, oder auch nur in der militärischen Macht, auf die wir aufgund unserer kolonialen Verbindungen in einem Notfall zurückgreifen könnten.“22 In seinen häufigen Beratungen mit Stanley darüber, wie man auf die Folgen der Bismarck’schen Ausweitung Preußens reagieren solle, speziell in Hinblick auf Belgien und Luxemburg, offenbart sich Disraelis größere Entschlossenheit, die die beiden Männer zehn Jahre später entzweien wird. „Ich meinerseits halte es mit dem alten Brunnow [russischer Botschafter in London], der sagte: ‚Es wird Zeit, ein bisschen was zu unternehmen‘; und ich glaube, dass wir Europa ein paar Dinge diktieren könnten. Der Gladstonismus hat sein Verfallsdatum überschritten und steht zum Ausverkauf“, ließ er sich Stanley gegenüber vernehmen.23 Dass Disraeli Gladstones liberale Partei später als die Partei des Verfalls (des Empires) und des Weltbürgertums angreifen wird, zeichnet sich hier schon deutlich ab. Einstweilen musste er sich als Schatzkanzler mit den unmittelbaren fiskalischen und steuerlichen Problemen herumschlagen. Die verschwenderische und unwirtschaftliche Ausgabenpolitik der Admiralität – die sich seinerzeit auf einem ihrer Tiefpunkte befand – verärgerten ihn. Im Folgejahr gestaltete sich der abessinische Feldzug zur Befreiung der von König Theodor gefangen gehaltenen britisischen Staatsangehörigen erfolgreich, stellte jedoch eine neuerliche Belastung für den Staatshaushalt dar. Disraeli hob besonders hervor, dass der Feldzug um der Rückgängigmachung eines Unrechts willen unternommen worden war, und nicht zur Landgewinnung.24 Als die Wiederversammlung des Parlaments näherrückte, war längst noch nicht klar, wie die Minister mit dem Reformproblem fertig werden sollten. Erst kurz vor Weihnachten 1866 wartete Disraeli beiläufig mit dem Vorschlag auf: „Von all den Hasen, die man ins Rennen schicken kann, weiß ich keinen besseren als die Ausweitung auf das household-Wahlrecht, gepaart mit dem Mehrfachstimmrecht“. Darüber hätte ein Ausschuss zu befinden, und ein solcher Ausschuss, der mit

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der Formulierung einer Reihe von angemessen vagen parlamentarischen Entschließungen beauftragt wäre, schien ein vielversprechendes Verfahren zu sein, um Zeit zu gewinnen, während er die Möglichkeit in Aussicht stellte, dass eine andere Generation die Reformfrage regelt. Der jeweilige Inhalt der vorgeschlagenen parlamentarischen Entschließungen wurde in mehreren Kabinettssitzungen im frühen Februar 1867 hastig erörtert; das Kabinett hatte sich am 5. Februar wieder versammelt. Es gab einen weitgehenden Konsens darüber, das household-Wahlrecht in den Stadtgemeinden als Grundprinzip einzuführen, sofern es durch diverse Bestimmungen ausgeglichen wäre wie etwa die persönliche Zahlung der Gemeindesteuern, das auf der Höhe der Gemeindesteuer fußende Mehrfachstimmrecht, erneut die „willkürlichen Wahlberechtigungen“ und die Auflage, bereits mindestens zwei Jahre am entsprechenden Ort zu wohnen. Diese Regelungen würden die Auswirkungen der Wahlrechtsverleihung in Grenzen halten. Das householdWahlrecht musste aus den Entschließungen getilgt werden, weil General Peel, der Kriegsminister, ihm nicht zustimmen wollte und mit Rücktritt drohte. „Sie werden sehen, er ist sehr versöhnlich, außer wenn es um das ‚household-Wahlrecht‘ geht und der Wahnsinn in seinen Augen aufscheint“, teilte Disraeli Derby mit. Als die Entschließungen am 11. Februar eingebracht wurden, fanden sie wenig Beifall, und Disraeli versprach eigenmächtig eine Gesetzesvorlage. Von zentraler Bedeutung bei der ganzen Reformgeschichte von 1867 war, dass Disraeli in den entscheidenden Augenblicken handelte, ohne irgendjemanden zurate zu ziehen, und zwar hauptsächlich deshalb, weil er unmittelbar auf die sich ändernde Stimmung im Parlament reagieren musste. Dadurch fühlten sich jene bestätigt, die ihn verdächtigten, dass er es von vornherein auf eine ‚Kapitulation‘ in Sachen Reform abgesehen hatte. In den drei Wochen nach dem 11. Februar kam es zu einer Reihe von überstürzten und verwirrenden Improvisationen. Wider die Vorbehalte von Peel, und noch gravierender: wider die von Cranborne und Carnarvon, wurde ein Gesetzentwurf vorgelegt, der auf dem household-Wahlrecht basierte. Als er im Kabinett erörtert wurde, drohten die drei Abweichler mit Rücktritt. Am 25. Februar – unmittelbar vor einer anberaumten Parteiversammlung und Stunden bevor es im Parlament zur Vorlage der Bill kommen würde – schusterte man in krampfhafter Eile eine Ersatzvariante zusammen, die auf einem Sechs-Pfund-Gemeindesteuer-Wahlrecht basierte (in etwa der Acht-Pfund-Mietsumme entsprechend, während Gladstones Bill von 1866 eine Sieben-Pfund-Mietsumme vorgesehen hatte), angeblich innerhalb von zehn Minuten, weshalb sie als Zehn-Minuten-Bill bekannt wurde. Auch diese stieß auf wenig Gegenliebe, zumal bei den Tory-Hinterbänkler im Rahmen einer Zusammenkunft im Carlton Club drei Tage später. Ein entscheidender Faktor in dem Geschehen war, dass die Torys nunmehr auf eine Regelung aus waren, die eine gewisse Zeit Bestand haben würde, und es daher bevorzugten, dass sie auf dem – freilich abgemilderten – household-Wahlrecht basierte. Vor allen Dingen war ihnen wichtig, dass die Regelung von ihnen kommt. Das Kabinett kehrte zu seiner ursprünglichen Gesetzesvorlage zurück, und die drei widersprechenden

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Minister dankten ab. Zu Disraelis großem Glück war das Geschick jener drei Männer, und insbesondere das von Cranborne, den Widerstand innerhalb der Partei zu organisieren, nicht halb so ausgeprägt wie ihre Verbitterung. Diese galt in erster Linie Disraeli. Keine Woche nach seinem Rückzug aus dem Kabinett schrieb Carnarvon an Richmond, einen der drei Dukes, mit denen die entstandenen Lücken in den Reihen der Minister geschlossen wurden: „Ich will weder Schaden anrichten noch auch nur meiner Verbitterung nachgeben, die ich zwangsläufig empfinde, wenn ich sehe, dass er eine große Partei ruiniert hat.“ Bis zum Ruin war es jedoch noch weit.25 Die Bill, die nun vorangetrieben wurde, sah ein auf der Gemeindesteuer beruhendes Wohnsitz-Wahlrecht vor und würde daher den ‚zugeschriebenen‘ Hausmieter ausschließen, der seine Steuern nicht direkt abführte, sondern an den Vermieter oder Hauseigentümer zahlte zusammen mit der Miete. Dadurch bliebe eine große Zahl von potenziellen Wählern außen vor, auf einer vollkommen willkürlichen Grundlage allerdings, denn es gab große lokale Abweichungen bei der Handhabung der Zuschreibung. Das Grafschaftswahlrecht sollte von 50 Pfd. auf 15 Pfd. herabgesetzt werden. Neuwähler mussten zwei Jahre am entsprechenden Ort gewohnt haben. Es gab ‚willkürliche Wahlberechtigungen‘: das Stimmrecht für Personen, die einen bestimmten Bildungsstand hatten, 50 Pfd. in staatlichen Fonds oder bei der Sparkasse besaßen, direkte Steuern in Höhe von einem Pfund entrichteten – das berechtigte zu einer zweiten Stimme. Von Anfang an war klar, dass der Gesetzentwurf eine Menge Abänderungsanträge zur Folge haben würde, weil die Regierung über keine Mehrheit verfügte. Disraeli musste, um der Bill sowie der Regierung das Überleben zu sichern, Gladstone ausmanövrieren, und dazu brauchte er all sein Geschick. Der Führer der Liberalen bemühte sich nach Kräften um den Nachweis, dass die von der Bill vorgesehene Zahl der Neuwähler sehr begrenzt war, und stellte dann seinen eigenen Plan vor, eine auf der Gemeindesteuer beruhende Fünf-Pfund-Wahlberechtigung. Dadurch würde das Stimmrecht auf den respektablen Teil der Arbeiterschaft übergehen, von deren moralischer Kreditwürdigkeit er sich selbst zunehmend überzeugt hatte. Außen vor bleiben würden die nutzlosen Armen, für die sich die Bezeichnung ‚der Bodensatz‘ (etwa das Lumpenproletariat) eingebürgert hatte. Selbst Bright wollte den Bodensatz nicht dabeihaben. Zu Glad­ stones Pech gaben viele Radikale einer Bill den Vorzug, die sich an das Prinzip des household-Wahlrechts hielt, denn sie rechneten damit, dass sich die meisten einschränkenden Klauseln überstimmen ließen, weil der Regierung die Mehrheit fehlte. Aufseiten der Liberalen, auch unter denen, die keine Radikalen im strengen Sinne waren, wollten viele nicht als Gegner des household-Wahlrechts und Befürworter eines restriktiver scheinenden Ansatzes wahrgenommen werden. Die gemäßigten Liberalen und die Adullamiten, die sowieso eine schwankende Gruppierung bildeten, gaben einer Version den Vorzug, die Bestand zu haben versprach und keine willkürliche Grenze einführte, die binnen kurzem wieder angefochten werden würde; in diesem Punkt waren sie sich mit vielen Torys einig.

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Mehrere andere Faktoren verhinderten Gladstones Erfolg. Dass eine Parlamentsauflösung drohte, erschreckte zahlreiche Abgeordnete auf allen Seiten, hatten sie doch vor weniger als zwei Jahren einen in jeder Hinsicht aufwendigen Wahlkampf geführt. Sehr viele Torys und eine ganze Menge Liberale wollten in Wirklichkeit nicht, dass Gladstone an die Stelle von Derby und Disraeli tritt. Das leidenschaftliche, eifernde und bisweilen anmaßende Verhalten des Liberalenführers hatte zu der Spaltung von 1866 beigetragen und rief nach wie vor Unbehagen und Widerwillen hervor. Ständig kursierten Gerüchte, dass seine geistige Gesundheit Schaden genommen hatte und dass er nach Meinung ernstzunehmender Mediziner im Irrenhaus enden würde. Den Gegensatz dazu bildete Disraeli mit seiner unerschütterlichen Ruhe, die er kultiviert hatte und bei seinen Auftritten im Parlament zur Schau stellte. Gladstone wurde im April 1867 in zwei Etappen geschlagen: die sogenannte ‚Teestuben-Revolte‘ am 8. April machte deutlich, dass seine Partei nicht für die Fünf-Pfund-Grenze stimmen würde; vier Tage später verlor er eine Unterhausabstimmung gegen 21 Mehrstimmen. Stanleys Analyse zufolge votierten 45 Liberale mit der Regierung, darunter 18 Adullamiten, und 27 blieben der Abstimmung fern. Lediglich sechs Konservative votierten gegen die Regierung, etwa 14 oder 15 sind mutmaßlich ferngeblieben. „Es ist wunderbar, wie die Partei bei all ihren Schwierigkeiten zusammengehalten hat“, ließ Stanley sich vernehmen.26 Für Disraeli war das ein großer Triumph. Als er am frühen Morgen des 13. April ans Grosvenor Gate zurückkehrte und Mary Anne noch wach war und ihn mit einer Fortnum&Mason-Pastete und einer Flasche Champagner erwartete, bemerkte er: „Mein Liebes, du bist mir eher eine Geliebte als eine Ehefrau.“ Die Wahrscheinlichkeit war jetzt groß, dass es der Regierung gelingen würde, einen Gesetzentwurf zu verabschieden, aber Disraeli musste noch eine heikle Aufgabe bewältigen. Einer neuerlichen Reform-League-Demonstration im Hyde Park am 6. Mai 1867 hatte man kaum Herr werden können, woraus der Innenminister Spencer Walpole die Konsequenzen zog und zurücktrat. Im Unterhaus musste Disraeli bestimmt und entschlossen auftreten, denn er konnte seiner Partei nicht zwei Schwächen zugleich zumuten, die gegen den Druck der Straße und die gegen den parlamentarischen Druck der Radikalen. Die Regierung näherte sich dem Punkt, an dem sie nur noch hätte zurücktreten oder das Parlament auflösen können. Nachdem diese kurze schwierige Phase überstanden war, sah sich Disraeli am 17. Mai imstande – ohne vorherige Konsultation und in einem spärlich besetzten Haus –, einem durch den Liberalen Grosvenor Hodgkinson eingebrachten Abänderungsantrag zustimmen, welcher die Zuschreibung ganz einfach abschaffte und so die Wählerschaft noch einmal um eine halbe Million potenziell Berechtigter in den großen Städten erweiterte. Er glaubte sich Gathorne Hardy gegenüber rechtfertigen zu müssen, der gerade die Nachfolge von Walpole im Innenministerium angetreten und der ihm (Disraeli) im Unterhaus gute Dienste geleistet hatte. Zu Hardy sagte er, dass er gehandelt habe, weil „wir einen Schritt machen konnten, der den gegenwärtigen Aufruhr ersticken und Gladstone & Co. auslöschen würde“. Hardy war sich häufig nicht sicher gewesen, was Disraeli im Schilde führte, und nach

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der entscheidenden Abstimmung am 13. April hielt er in seinem Tagebuch fest: „Es ist eine Sache, ein Ministerium zu sprengen, aber ich frage mich, ob ich noch einmal unter einem so skrupellosen Mann wie Disraeli dienen könnte“. Bezeichnenderweise ergänzte er viele Jahre später: „Heute habe ich eine andere Meinung und würde ich mich nicht mehr so äußern. Die Formulierung scheint mir überzogen.“27 Disraeli stimmte noch anderen Änderungen zu, nämlich einem Untermieter-Wahlrecht, das auf einem Zehn-Pfund-Gemeindesteuer-Wahlrecht der un­möblierten Wohnung basierte; einer Absenkung des Grafschaftswahlrechts auf 12 Pfd. mit einem Fünf-Pfund-Zinslehen; und diversen Pacht-Wahlberechtigungen. Bei der Wohnsitz-Bedingung musste die Regierung eine Niederlage einstecken und einer Änderung zustimmen; zur Erlangung des Stimmrechts musste man nur noch halb so lange am entsprechenden Ort gewohnt haben, also ein Jahr. Die Torys profitierten beträchtlich davon, dass sie die Reform und die Neu­ regelung der Sitzverteilung bestimmen konnten. Allein in England und Wales wurden 45 Sitze neu verteilt, mehr als die Regierung beabsichtigte, allerdings gingen 25 von ihnen an die Grafschaften. Nur 15 entfielen auf die Stadtgemeinden und nur vier auf die Großstädte. Die Kommission zur Festlegung der Grenzen tat viel, um die Grafschaften dem Einfluss der Städte zu entziehen, was ein altes An­ liegen der Torys war, obgleich die schließliche Regelung der Partei weniger Vorteile brachte, als sich das manch einer erhofft hatte. Bei den Wahlkreisen mit drei Sitzen, wie etwa Birmingham, Manchester, Leeds, wurde die kumulative Stimm­ abgabe eingeführt, wobei jeder Wähler nur zwei Stimmen hatte. Damit verband sich die Hoffnung, dass der dritte Sitz an die Konservativen gehen würde. Das Resultat war jedoch auch, dass der Birmingham Caucus, die Organistion des Radikalenführers Chamberlain, gestärkt wurde. Gleichwohl waren die Großstädte gravierend unterrepräsentiert, während viele kleine Stadtgemeinden, in denen die Torys stark waren, ihre Repräsentanz bewahrten. Im Jahr 1881 gab es immer noch 72 Abgeordnete, die Stadtgemeinden mit jeweils unter 10.000 Einwohnern und zusammengenommen weniger als einer halben Million repräsentierten. Auf der anderen Seite repräsentierten 75 Abgeordnete Stadtgemeinden mit jeweils über 100.000 und zusammengenommen mehr als 9 Millionen Einwohnern. In den Städten, in denen 1880 über 17.500 registrierte Wähler lebten, errangen die Torys 1868 nur zehn Sitze, die Liberalen dagegen 58. Die Liberalen blieben also dort überlegen, wo die Bill von 1867 für die meisten Neu-Wahlberechtigten sorgte, dennoch aber brachte sie ihnen nur eine begrenzte Anzahl von Parlamentssitzen. In den Großstädten gab es mittlerweile Vororte, in denen die Mittelschicht zunehmend konservativ wählte. Wir haben es hier mit dem Phänomen des ‚Villen-Toryismus‘ zu tun. Als es 1884 zur nächsten Reformbill kam, machte sich Salisbury, ein erbitterter Gegner der Reform von 1867, diesen städtischen Mittelschicht-Konserva­ tivismus dadurch zunutze, dass er sich zuvor für – an der Bevölkerungszahl gemessen – gleich große Wahlkreise eingesetzt hatte. Auf diese Weise konnten die Torys den Rückhalt, den sie bei der Mittelschicht in den Vororten genossen, in Sitze ummünzen, und zwar in weit mehr Sitze als durch die kumulative Stimmabgabe.

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Mochte Derby auch von „einem Sprung ins Ungewisse“ gesprochen haben und Carlyle von einer ‚Reise‘ „den Niagara hinunter“, so war doch immer klar, dass diese Reformbill, wie alle früheren, auch die von 1832, das Abgeordnetensystem korrigieren und kein neues schaffen sollte. Disraeli vertrat diese Auffassung von jeher, und das nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch privat. Die Gesellschaft betrachtete er nie als etwas anderes denn ein Gebilde aus einer Vielzahl von Traditionen, Werten, Hierarchien und Beziehungen, die bei ihm die „überkommenen Prägungen“ hießen. Nicht sonderlich ernst nahm er all die Statistiken, die den Anschein erweckten, als lieferten sie die genaue Zahl der Wähler aus der Arbeiterklasse, die in jedem bestimmten Stadium der Ausweitung des Wahlrechts in den Registern auftauchen würden. In einem kritischen Moment tauschte er die Statistiker aus und ersetzte Dudley Baxter, einen Getreuen aus dem Management-Team der Partei, durch Thring, den Rechtsberater des Parlaments. Er fand es nicht unter seiner Würde, von den nebulösen Statistiken Gebrauch zu machen, wenn er beschwichtigen, Einfluss nehmen oder gar die Dinge verschleiern wollte. Stets konnte er sich mit dem Argument rechtfertigen, dass, hätte er die Bill fallengelassen, die Folgen für die Partei katastrophal gewesen wären. Von jeher hasste er die nüchtern mechanistische, rein an den Zahlen interessierte Sicht auf die Gesellschaft, die er den Utilitaristen zuschrieb. Cranborne offenbarte ein ähnlich mechanistisches, eindimensionales Denken, als er den Verrat geißelte, den Derby und Disraeli seiner Meinung nach an ihren eigenen Leuten begangen hatten. In dem im Oktober 1867 in der Quarterly Review veröffentlichten Artikel ‚Die Unterwerfung der Konservativen“ schrieb er: Eine klare Stimmenmehrheit wurde in den allermeisten Wahlkreisen denen vermacht, die nichts besitzen außer ihrer Hände Arbeit. Ihnen gehört das Parlament, seine Allmacht steht ihnen zu Gebote, ganz und ohne Abstriche. Ihnen unterworfen ist eine Minderheit, die sich in unterschiedlichen Anteilen die enorme Menge des angehäuften Reichtums teilt. Sähe er von allen Gewissensrücksichten ab, müsste er zugeben, dass es jeden, der zu der armen, aber absoluten Mehrheit gehört, naturgemäß danach verlangen dürfte, diese neue Macht zu nutzen, um sich einen Anteil an diesem Reichtum zu sichern.28

Sowohl Disraeli als auch Gladstone und die meisten ihrer Anhänger wollten eine politische Ordnung, ein Parteien-System, das die Klassenauseinandersetzungen transzendiert oder diesen wenigstens ihre Schärfe nimmt; keiner der beiden Führer aber war so naiv zu glauben, dass die Politik die Klassengegensätze aus der Welt schaffen könnte. Disraeli wäre auch dann zuversichtlich gewesen, dass die Bill ihre Wirkung auf die konservative Partei nicht verfehlt, wenn er nicht er­ wartet hätte, dass viele der Neuerungen, selbst die Abschaffung der Zuschreibung, weniger dramatische Folgen haben würden als befürchtet. Es kann nicht wirklich die Rede davon sein, dass es sein großer Plan gewesen wäre, die liberale Bourgeoisie durch ein Bündnis mit der Arbeiterschaft auszuhöhlen. Mag sein, dass seinen Zeitgenossen Napoleon III. und Bismarck dergleichen vorschwebte, ihre Arbeiterschaft bestand jedoch überwiegend aus Bauern. Disraeli teilte die weit verbreitete Ansicht, dass sich unterhalb der radikalen, häufig nicht staatskirch­lichen Ar­

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beiteraristokratie, der die Liberalen das Wahlrecht zugebilligt hätten, hätte Disraeli sie gelassen, eine Schicht aus konservativ denkenden Arbeitern befand. Er hoffte, dass seine Partei von der Übertragung des Wahlrechts auf diese tieferliegende Schicht profitieren würde, und zwar nicht nur durch ihre Stimmen, sondern auch durch das Hineinängstigen der Mittelschicht in den Tory-Schoß. Er konnte indes nicht widerstehen, zwischen dem, was er aus pragmatischen Gründen und mittels geschickter Täuschung getan hatte, und seinen früheren, in den Jung­englandTagen und in der Trilogie vertretenen Ansichten einen Zusammenhang herzustellen. Leute wie Cranborne, der ihm zynischen Verrat zur Last legte, verdächtigten ihn schon immer als Verschwörer, der diese seine Ansichten in die Tat umsetzen wollte. Nun verbreitete er selbst den Mythos, dass die Ereignisse von 1867 die logische Konsequenz seiner tiefen und lange schon bekundeten Überzeugungen seien. Kurz vor Beginn der parlamentarischen Sitzungsperiode im August 1867 fragte er in einer Rede im Mansion House, dem Amtssitz des Bürgermeisters der City of London: „Wozu soll eine Tory-Partei gut sein, die nicht das Nationalgefühl vertritt? Wenn der Toryismus nicht das Nationalgefühl verkörpert, taugt er nichts. Er ist nicht das Anhängsel des vornehmen Erbadels, stützt sich nicht auf dessen Zirkel. Er strebt nicht mit jener zweifelhaften und fadenscheinigen Kraft nach der Macht, die einem mitunter zuwächst, wenn man für kosmopolitische Grundsätze eintritt oder einen kosmopolitischen Jargon anschlägt.“29 Im Oktober 1867 sprach er in Edinburgh und erklärte, dass „die Tory-Partei die nationale Partei Englands“ sei, dass sie sich aus „Personen aller Schichten zusammensetzt, von den am höchsten gestellten bis hinunter zu den einfachsten“ und dass er „den Geist des Landes bereit machen und unsere Partei – wenn es nicht überheblich klingt – erziehen musste“, dass er „immer nur die Interessen der Arbeiterschaft im Blick hatte als die im Grunde konservativsten Interessen des Landes“.30 Vorerst war er nur damit beschäftigt, sich selbst zu rechtfertigen und gegen seine Feinde in der Quarterly oder der Edinburgh Review zurückzuschlagen, aber er war auch dabei, die Fundamente für einen volksverbundenen Konservativismus zu legen, den man später als Tory-Demokratie bezeichnete. Disraelis Darstellung der Ereignisse war von der Wahrheit nicht weiter entfernt als der von den Radikalen verbreitete Mythos, dass der Druck aus dem Volk das Parlament gezwungen hatte, sich selbst zu reformieren, oder die von den Liberalen vertretene Version, dass Gladstone die treibende Kraft gewesen war. Disraeli musste in seinem Bemühen, sich als kon­sequenten und willensfesten Akteur geltend zu machen, keinen ideologischen volte-face vollziehen. Disraeli hatte nun einen Gipfelpunkt der Macht und des Ruhm erreicht. Die ihn hassten, konnten ihn nicht länger als Scharlatan abtun. Sie mussten ihn mit Carlyle zumindest als „hervorragenden jüdischen Hexenmeister“ bezeichnen. Die Punch-Karikatur auf seine Rede in Edinburgh, als er vom „Erziehen unserer Partei“ sprach, war mit ‚Fagins politische Schule‘ überschrieben [Fagin ist eine ­Figur aus Oliver Twist, ein jüdischer Hehler und Chef einer Diebesbande]. Es gab viele, die ihn gleichsam widerwillig bewunderten: „Ein Halunke, an dem

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ich seines Schneids und seiner Cleverness wegen doch Gefallen finde“, schrieb ­Benjamin Jowett an Florence Nightingale im Mai 1868.31 Auf einer ähnlichen Empfindung beruhte der beliebte Witz: „Warum gleicht Gladstone einem Fernrohr? Weil Disraeli ihn in die Länge zieht [aus der Reserve lockt] und durch ihn durchsieht [ihn durchschaut].“ Ob nun mit oder ohne die Parlamentsreform, die ‚Popularisierung‘ der Politik war auf dem Vormarsch. Disraeli passte sich ihr an, er nahm sich ihrer jedoch nicht mit der gleichen Begeisterung an wie sein großer Rivale. Seine Welt war noch immer die der vergoldeten Salons einer adligen Herrscherschicht, dennoch aber war seine Reformbill ein großer Schritt in Richtung eines Machtausgleichs zwischen den Salons und den Massen, die zunehmend schwerer ins Gewicht fielen.

8. Die schlüpfrige Karriereleiter hinauf und hinunter (1868–1874) Derbys Anwesenheit wirkte beruhigend und ermöglichte so die Verabschiedung der Reformbill; aber weder Freund noch Feind bezweifelten, dass Disraeli die treibende Kraft in dem ganzen Geschehen war. Manch einer vertrat die Ansicht, dass Derby, der keine Romane veröffentlicht hatte über den natürlichen Einklang der Interessen von Oberschicht und Arbeiterschaft, seine Grundsätze stärker verbogen hatte als sein Stellvertreter. Im Herbst 1867 wurde Derby mehr als je zuvor von der Gicht geplagt und war einmal mehr außer Gefecht gesetzt, und die Strapazen der Sitzungsperiode hatten auch Disraeli niedergeworfen. Im November waren er und Mary Anne in verschiedenen Schlafzimmern am Grosvenor Gate ans Bett gefesselt und traten über Bleistiftnotizen miteinander in Kontakt. Sie war ernsthaft krank und zeigte vermutlich schon die ersten Symptome jenes Gebärmutter­ krebses, dem sie keine vier Jahre später erliegen wird. Gladstone, der immer gut mit Mary Anne zurechtkam, drückte im Unterhaus sein Mitgefühl aus, und ­Disraeli war beinahe zu Tränen gerührt. Auch jetzt noch sorgte sie häufig für peinliche Momente. Charlotte de Rothschild, Lionels Ehefrau, verband mit beiden eine enge Freundschaft; für Mary Anne war sie eine Vertraute, aber auch ein Objekt der Eifersucht, denn sie fand Disraeli eindeutig attraktiv. Während der Reformkrise schrieb Charlotte: „Mr. Disraeli entzückend liebenswürdig […] lauschte ihm mit heftiger Bewunderung. Es war ein großes Vergnügen, ihn zu hören, und selbst Mrs. Disraelis Anwesenheit änderte daran nichts.“1 Disraelis jüdische Herkunft war für alle Welt offensichtlich, doch für die Rothschilds war seine eigenwillige Haltung zum Judentum nur schwer erträglich. Charlotte hatte ihm in Erinnerung gerufen, dass sie über die weit verstreute Vetternschaft der Montefiores, Mocattas und Lindos miteinander verwandt sind, doch: „Mr. Disraeli gibt sich den Anschein, vom Himmel herabgestiegen zu sein, obwohl London nur so wimmelt von seinen Verwandten, die er mit keiner Silbe erwähnt“.2 Sie konnten nicht anders, als in ihm einen abtrünnigen Juden zu sehen. Im Februar 1868 bekam Derby von den Ärzten mitgeteilt, dass er sich für immer aus der Politik zurückziehen müsse, und es gab kaum Zweifel daran, dass allein Disraeli als sein Nachfolger infrage käme. Viele in der Partei waren von der Aussicht nicht gerade begeistert. Es ging die Rede, dass irgendeiner der Dukes, etwa Marlborough oder Richmond, übernehmen könnte, und auch Stanleys Name fiel wieder, es gab jedoch keine wirkliche andere Möglichkeit als Disraeli. Derbys Ausscheiden markierte einen tiefen Einschnitt für seinen Stellvertreter. Derby bildete die ideale Kontrastfigur, er lieferte Disraeli die perfekte Fassade, hinter der er sich um die wirklich wichtigen Dinge kümmern konnte, und Derby war jemand,

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dem er Achtung entgegenbringen konnte, der ihn jedoch nicht in den Schatten stellte. Dass er unablässig um die Gunst der Königin geworben hatte, zahlte sich jetzt aus, denn sie hätte seine Nachfolge verhindern können. Während jener zehn Monate seiner ersten Amtszeit als Premierminister pflegte er die Beziehung zu ihr und nutzte sie (die Beziehung) bedenkenlos aus, wenn sie ihm nicht sogar auf der öffentlichen wie auch auf der persönlichen Ebene Vorteile brachte. Die Eigen­ willigkeit der Königin und ihr unberechenbares Verhalten hatten nun schon seit etlichen Jahren für Nervosität in den politischen Kreisen gesorgt. Ihre Weigerung, den öffentlichen Pflichten nachzukommen, die Gerüchte über ihre Beziehung zu ihrem schottischen Diener John Brown, die übertriebene Vorstellung, die sie sich häufig von ihren Vorrechten machte, und ihre Abneigung, sich in die Rolle eines verfassungsmäßigen Monarchen zu fügen, all das gab ihren aristokratischen politischen Ratgebern das Gefühl, dass sie keinen festen Boden unter den Füßen hatte. Die Monarchie wurde ihrer Funktion als Rettungsanker des gesellschaftlichen Zusammenhalts nicht gerecht. Disraelis erste Amtszeit als Premierminister dauerte nicht lang genug, um diesem Zustand abzuhelfen, während seiner zweiten jedoch kam er damit ein gutes Stück voran. Weil er der Monarchie als Institution eine romantische Verehrung entgegenbrachte, war es ihm eine Selbstverständlichkeit, die Königin – als Frau wie auch als Herrscherin – in eine Aura aus höfischen Schmeicheleien zu hüllen. Er nahm aufrichtig Anteil an ihrer Einsamkeit, die ihre Stellung mit sich brachte; was aber sein Tun anbelangte, so gab er sich kaum Illusionen hin. Die gute Meinung, die die Königin von ihm hatte, war 1868 mit ausschlaggebend dafür, dass er zehn Monate Premier bleiben konnte. Einen Monat nach Amtsübernahme stellte Stanley dem Premierminister und Mrs. Disraeli die großen Räume des Außenministeriums für einen Empfang zur Verfügung. Dieser war ein noch glanzvolleres Ereignis als jene, die er in seinen Romanen oftmals beschrieben hatte, nach Meinung vieler aber war es ein schlechtes Omen für Englands Größe, dass das Schicksal des Landes nunmehr in den Händen eines solchen Mannes liegen sollte. Wilberforce schrieb in sein Tagebuch: „Dizzy in seinem Ruhm führte die Princess of Wales; der Prince of Wales Mrs. Dizzy – sie sah sehr krank und abgezehrt aus. Der undurchdringliche Mann schien müde. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass auf unseren Wänden Englands ‚Mene mene tekel‘ geschrieben stand.“3 Lange genug durchzuhalten, damit seine Amtszeit als Premierminister nur ja nicht bloß als Fußnote in die Geschichte eingeht, das war sein alles beherrschender Gedanke. Er klammerte sich ans Amt und widerlegte damit die all­gemein vertretene Fiktion, dass es niemanden in seinem Amt hielt; es gab Phasen, da wären die meisten seiner Kollegen lieber abgetreten. Ohne sie vorher zurate zu ziehen, brachte er die Königin dazu, die Parlamentsauflösung aufzuschieben, bis die schottische und die irische Reformbill und die Vereinbarungen zur Neuverteilung der Sitze verabschiedet und in Kraft wären. Als die Regierung Anfang Mai bei der Abstimmung über die erste der Gladstone’schen Entschließungen zur Entstaatlichung der irischen Kirche mit 65 Mehrstimmen geschlagen wurde, blieb er

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im Amt. Das stieß auf wütende Kritik, die freilich zum Teil künstlich war, denn eine Parlamentsauflösung bei Fortbestand der alten Wählerregister wäre auf wenig Gegenliebe gestoßen. Gladstone, oft ‚bis zur Weißglut‘ erregt, wagte es nicht, auf Disraelis Herausforderung einzugehen und einen Misstrauensantrag zu stellen. Doch Gladstone war beileibe nicht der einzige, den Disraeli in helle Rage versetzte dadurch, dass er sich mit Hilfe der Königin an sein Amt krallte. Bright warf ihm vor, er hätte sich in den langen Unterredungen mit der Herrscherin „zugleich wichtigtuerisch und unterwürfig“ gebärdet, und weil er ihr gegenüber mit falschen Karten gespielt habe, sei er „ebenso schuldig wie ein Verschwörer, der sie vom Thron stoßen wollte“. Das bedeutete das Ende ihrer freundschaftlichen Verbundenheit, die häufig für so viel Argwohn auf den Tory-Bänken gesorgt hatte. Cranborne, der gerade zum 3. Marquis of Salisbury aufgerückt war, und dessen Argwohn schon an Paranoia grenzte, schrieb: „Die Lage scheint sehr kritisch, eine Frau auf dem Thron & ein jüdischer Abenteurer, der hinter das Geheimnis gekommen ist, wie man bei ihr landet.“4 Die Angriffe der Fenier in Manchester und Clerkenwell im Herbst 1867 hatten die Probleme Irlands einmal mehr ins Zentrum der britischen Politik gerückt. ­Disraeli hätte sich nicht stärker in Widersprüche verwickelt als Gladstone, hätte er in diesem Moment entschieden, sein Hauptaugenmerk darauf zu richten, den irischen Missständen abzuhelfen. Seine berühmte Rede von 1844, in der er von „einer hungernden Bevölkerung, einem abwesenden Adel und einer fremden Kirche, und dazu noch [von der] schwächsten Exekutive auf der Welt“ gesprochen hatte, wurde viel zitiert. Sein langes Werben um die irischen Katholiken in den späten 1850er Jahren war nicht vergessen. Aufgrund seiner prekären Situation im Jahre 1868 waren ihm jedoch die Hände gebunden, was die meisten der mög­lichen Initiativen anging. Cranborne hegte den Verdacht, dass „Dizzy die Absicht hat, das alte Spiel weiterzuspielen, im Unterhaus grün zu reden und orange zu stimmen“. Die Schaffung einer irisch-katholischen Universität, die bereits 1859 er­wogen worden war, wurde heftig diskutiert, wobei Manning als Vermittler zwischen der irischen Hierarchie und Disraeli fungierte. Gleich als Gladstone im März 1868 die Entstaatlichung der irischen Kirche wieder in Angriff nahm, wechselten Manning und die irischen Katholiken auf seine Seite. Disraeli glaubte, Manning hätte ein falsches Spiel mit ihm getrieben und rächte sich später, indem er im Lothair ein wenig schmeichelhaftes Bild von ihm als Kardinal Grandison zeichnete. D ­ israelis Antwort auf Gladstones Bemühungen, die irische Kirche zu entstaatlichen und ihr die Pfründe zu entziehen, fiel schwach aus. Sein Kabinett war zu uneins, als dass es in irgendeiner politischen Frage zu einem Entschluss hätte kommen können. Ein vollständiger Schutz des Status Quo der Kirche von Irland – die lediglich ein Achtel der Bevölkerung unter ihrer Obhut hatte – war faktisch unmöglich, und Disraeli griff auf die Behauptung zurück, dass die Entstaatlichung in Irland der Anfang vom Ende der Kirche von England als Staatskirche sei. Nie um eine Verschwörungtheorie verlegen, sagte er in seiner ersten Rede in Reaktion auf den von Gladstone eingeschlagenen Kurs: „Die Ritualisten der Hochkirche und die iri-

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schen Anhänger des Papstes standen seit langem in geheimer Verbindung und paktieren nun ganz offen miteinander“. Damit war der Ton vorgegeben für vieles, was danach kommen wird. Kimberley, der ehemalige Lordleutnant für Irland – der zum festen Inventar der Liberalen-Kabinette zwischen 1868 und 1895 gehörte –, hielt in seinem Tagebuch fest: Im Club wird gemunkelt, dass Dizzy angetrunken war. Wie es scheint, trank er im Laufe seiner Rede drei starke Brandys (mit Wasser) & redete im zweiten Teil ziemlich wirres und rührseliges Zeug. Völliger Blödsinn war das, was er über die Eroberung Englands & Irlands durch die Normannen, & die Holländer!, und Cromwell von sich gab; und er beschloss seinen Beitrag mit einer albernen Anschuldigung im Whalley-Stil, dass Gladstone mit den Jesuiten im Bunde steht. Niemand geht vom Rücktritt der Minister aus. Sie werden bleiben &: sich zusammen mit ihrer Partei durch den Morast schleppen, bis die Nation Dizzy nicht mehr riechen kann und die konservative Partei ihr Leben aushauchen wird.5

Die beiden Hauptparteien einte das Interesse, die sozio-ökonomischen Streit­ fragen beiseite zu lassen, um die Aufmerksamkeit nicht auf das Trennende und die Unstimmigkeiten zwischen den Klassen zu lenken. Das Schulwesen und die Gewerkschaften waren zwei heiß diskutierte Themen, die für die englischen Wähler, und insbesondere die Neu-Wahlberechtigten, wohl von mindestens ebenso großer Bedeutung gewesen wären wie die irische Kirche. Die konservative Regierung regte eine Gesetzesvorlage an, die die Einsetzung eines Erziehungsministers vorsah, jedoch keinen Eingang ins Gesetzbuch fand. Jede weiterreichende Maßnahme im Erziehungssektor kam einem Stich ins Hornissennest gleich, wie die Gladstone-Regierung bald zu ihrem eigenen Leidwesen feststellen musste. In den durch die Gemeindesteuern finanzierten Grundschulen, in der Einführung einer Gewissensklausel, die es nichtanglikanischen Eltern ermöglichen sollte, ihre Kinder vom Religionsunterricht in den anglikanischen Schulen auszunehmen, darin erkannten die meisten Torys eine Bedrohung für das konfessionelle System der schulischen Grundausbildung. Mit diesem System waren die meisten von ihnen aus ihren ländlichen Regionen vertraut, und sie sahen in ihm eine wirkungsvolle Möglichkeit, die Arbeiterschaft unter gesellschaftlicher Kontrolle zu halten. Das Thema der Gemeindesteuern traf einen empfindlichen Nerv der Partei. Die Gewerkschaftsfrage gewann aufgrund der Ausschreitungen in Sheffield 1866 an Dringlichkeit. Die augenscheinlich mit den Streiks und den Gewerkschaften im Zusammenhang stehenden Gewaltausbrüche waren Wasser auf die Mühlen der Gewerkschaftsgegner in der Presse. Statt sich mit diesen strittigen Problemen zu befassen, verwies die Derby-Regierung diese an eine Royal Commission weiter, einen von ihr selbst ernannten Untersuchungsausschuss. Disraeli stand der Sozialreform im Allgemeinen wohlwollend gegenüber, nur eben dann nicht, wenn sie die Regierung in ihrer hochgradig gefährdeten Stellung in strategische Verlegenheit brachte. Unter den gegebenen Umständen war es jedenfalls ganz in Gladstones Sinne, dass Disraeli den Schutz der Staatskirche zum zentralen Anliegen im Wahlkampf der Konservativen machte. Weder Disraeli noch seine Parteimanager vermochten an

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die bevorstehenden Wahlauseinandersetzungen anders als mit den althergebrachten Vorstellungen heranzugehen. Die Mobilisierung konservativer Arbeitervereine hatte eine Bewegung entstehen lassen, die sich gegen das Netzwerk aus Organisa­ tionen richtete – das sich von der Liberation Society über die Reform League bis hin zu den Gewerkschaften erstreckte –, die dem Liberalismus in den Städten Auftrieb verschafften. Eine Reihe von jüngeren ambitionierten Torys war bestrebt, diese Bewegung in eine landesweit einflussreiche Institution zu verwandeln; im Herbst 1867 kam es zur Gründung eines nationalen Verbandes dieser Tory-Arbeitervereinigungen, der National Union of Conservative and Constitutional Asso­ ciations. Die Geschäftsführer der Partei, unter der Leitung des obersten Whips, Oberst Taylor, und Viscount Nevill, mittlerweile der 5. Earl of Abergavenny, ermutigten diese Bestrebungen. Disraeli war wenig interessiert, fast abweisend. Er wendete sich mit einigen seiner Reden an die Arbeiterverbände, doch er wollte nicht, dass sich innerhalb der Partei eine eigenständige Arbeiterbewegung mit womöglich eigenen Absichten herausbildete. Ihm war mehr am Zustandekommen eines ansehnlichen Wahlfonds gelegen, weshalb er seine Kollegen veranlasste, sich großzügig zu zeigen. Ein solcher Fonds sollte wie üblich zur Anwerbung von geeigneten Personen verwendet werden, die dort, wo die Aussichten günstig waren, für das Parlament kandidierten. Dies schien ihm die selbstverständliche Strategie zu sein, um die Kirche von England als Staatskirche zu verteidigen, nachdem es Glad­stone gelungen war, die Einheit der Liberalen in der Sache der Entstaat­lichung der irischen Kirche neu zu befestigen. Aber nicht nur Disraeli, sondern auch die Geschäftsführer der Partei glaubten, dass die Wahl mit einem Programm zu gewinnen sei, das auf drei Säulen ruht: dem Protestantismus, dem Anti-Katholizismus und dem Schutz der Staatskirche. Oberst Taylor, der oberste Whip, Monty Corry, Disraelis Sekretär, und noch andere aus dem inneren Kreis der Partei gehörten der irischen anglikanischen Kirche an, der Kirche der herrschenden protestantischen Minderheit in Irland, und sie betrachteten die Dinge durch eine orange Brille. Zufälligerweise waren während Disraelis kurzer Amtszeit als Premierminister ungewöhnlich viele Kirchenämter neu zu besetzen, darunter das des Erz­bischofs von Canterbury, und das versuchte er sich zunutze zu machen, um die Anziehungskraft der Torys als die Partei der Verteidigung der Kirche und als das Bollwerk gegen den Papismus zu stärken. Vielleicht sagte er Derby eher im Spaß, dass ­Gladstone es eilig habe, die Regierung durch seine Entschließungen zur Kirche von Irland zu Fall zu bringen, weil er die Vergabe der Kirchenämter in seine Hände bekommen wolle: „Es wäre doch seltsam und befremdend, wenn ein Mann über seinem Verlangen, Bischöfe zu machen, Kirchen vernichtet!“6 Disraelis kühnster Versuch, sich die Stimme der evangelikalen Niederkirche zu sichern, war die Berufung des Pastors Hugh McNeile, eines hitzigen anti-papistischen Predigers, der sich seine Sporen in Liverpool verdient hatte, in die Dekanei von Ripon. Bald quoll sein Postsack über mit Protestbriefen von Geistlichen aus dem ganzen Land. Mit einigen seiner anderen Ernennungen versuchte er das Gleichgewicht wieder­ herzustellen, die wichtigste aber war Canterbury und hier fiel die Wahl auf Tait,

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einen liberalen Mann der Broad-Church. Disraeli lehnte die breite Kirche fast ebenso stark ab wie die Hochkirche, da er jedoch keinen eigenen Kandidaten in petto hatte, gab er dem Druck der Königin nach. Sie ihrerseits fühlte sich ganz wohl mit der Low-Church und den schottischen Predigern, glaubte allerdings, die liberalen Kirchenansichten ihres verstorbenen Ehemannes hochhalten zu müssen. Man erwartete, dass Disraeli Wilberforce als Taits Nachfolger in London vorschlagen würde, doch der Premier war felsenfest davon überzeugt, dass dieser als ein Mann der Hochkirche ebenso unbeliebt war wie Laud (der Bischof Karls I.). Kein Wunder, dass Wilberforce – ein weltlicher Prälat in vielem – seine Übergehung zutiefst kränkte. Er wandte sich wieder Gladstone zu. Tatsache ist, dass Disraeli wenig über die Persönlichkeiten in der Kirche wusste und sich zu keiner der kirchlichen Richtungen instinktiv hingezogen fühlte. Anders als bei allen anderen, hatten sie nichts mit ihm und seinem Hintergrund zu tun, und das war ein Grund mehr, weshalb er wie ein Fremdkörper wirkte, wie eine „asiatische Rätselgestalt“. Die Kirche von England als eine via media lag ihm nicht im Blut. Mit der Vergabe der ‚Kirchenposten‘ verband er ein rein politisches Interesse: Die Rits und Rats [Ritualisten und Rationalisten] sollten zusammengehen gegen den gemeinsamen Feind, das sei seine politische Strategie, sagte er Derby, den er nach wie vor um Rat ansuchte. Ihm fiel es nicht leicht, zwischen den Männern der Hochkirche und den Ritualisten einen Unterschied zu machen; er hatte sie alle als heimliche Papisten im Verdacht. Disraeli hätte die Wahlen von 1868 wohl nicht gewinnen können, mit welcher Taktik auch immer. Dankbarkeit war noch nie ein hervorstechendes Merkmal der Politik, und die Vorstellung, dass die Neuwähler sich als dankbar erweisen und die Torys wählen würden, ist in den Augen der späteren Wahlforscher absurd. D ­ israeli blieb bis zum Schluss optimistisch, dass die Torys wenigstens als eine starke Opposition aus dem Geschehen hervorgehen werden. Tatsächlich aber wurden lediglich 274 Torys gewählt; die Liberalen errangen 110 Sitze mehr und bildeten mit dieser, wie Disraeli später sagte, „mechanischen Mehrheit“, einen größeren Block als zuvor. 217 der 274 Tory-Sitze entfielen auf England. Besonders schlimm waren die Resulate entlang des keltischen Rands, wo die Liberalen ihre absolute Mehrheit von 47 auf 84 Sitze ausbauten: von 60 Sitzen in Schottland konnten nur sieben errungen werden; es gab den großen walisischen Aufstand gegen die Vormachtsstellung der anglikanischen Gutsherren; und, keineswegs überraschend, einen weiteren Rückgang in Irland, von dem nur Nordirland ausgenommen blieb. Ein kleiner Trost: in Lancashire hieß es 21 Konservative gegen 13 Liberale. Hier trugen die anti-papistischen Appelle ein paar Früchte. Es kam auch zu einigen gewalt­ samen Übergriffen auf Katholiken, die meisten von ihnen irische Einwanderer, die als Konkurrenten um die Arbeitsplätze wahrgenommen wurden. William Murphy, ein anti-katholischer Aufwiegler aus Nordirland, sorgte mit seinen Hetzreden dafür, dass es zu Tumulten kam, bei denen Beichtstühle, Nonnenklöster und andere Einrichtungen der vorgeblichen Verworfenheit des Katholizimus angegriffen wurden. Es war nicht nur das Orange-Empfinden, dass sich in Lancashire zuguns-

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ten der Torys auswirkte. Seit langem schon hatten die Fabrikarbeiter einen regelrechten Hass auf die Besitzer der Textilmühlen und die von den Arbeitgebern vertretenen Doktrinen der Manchester Schule. Demgegenüber gab es auch ‚väterliche‘ Tory-Arbeitgeber, wie etwa die Hornbys in Blackpool, die sich darauf verlassen konnten, dass ihre Belegschaft für sie stimmte. In Lancashire, so schien es, gab es den Tory-Arbeiter. Von zwei Niederlagen der Liberalen waren die Torys ganz besonders entzückt, nämlich von der Gladstones in South Lancashire und der von John Stuart Mill in Westminster. Gegenüber dem Fahnenträger der ‚philosophischen Politik‘ hatte sich Disraeli stets ziemlich verächtlich gezeigt. Als er ihm während dessen kurzer und nicht sehr befriedigender Zeit als Parlamentsmitglied bei einer Gelegenheit zuhörte, verschaffte er sich mit der Bemerkung Gehör: „Ah, ja, die feine Gouvernante!“7 Bei einem anderen Ergebnis, das Disraeli Genugtuung verschaffte, handelte es sich um den Sieg Lord George Hamiltons in Middlesex. Er hatte die Kandidatur des jungen Gardeoffiziers vorangetrieben, der der Sohn seines irischen Vizekönigs Abercorn war, den er in jenen Tagen in die Herzogswürde erheben wollte. Die Tory-Siege in Westminster und Middlesex gaben klar zu erkennen, dass der Villen-Toryismus in London auf dem Vormarsch war, das sich ansonsten noch immer fest in liberaler Hand befand. Diesmal zögerte Disraeli nicht, seinen Kollegen den sofortigen Rücktritt vor­ zuschlagen, die allesamt zustimmten. Faktisch hatte es das noch nie gegeben, denn bis dato war es üblich, dass das neu gewählte Parlament zusammentrat, und der Rücktritt erst dann erfolgte, wenn die Regierung dort eine Niederlage erlitt. ­Disraeli und seine Mitarbeiter erkannten an, dass es nunmehr der Wähler war, der Regierungen hervorbrachte und verschwinden ließ. Die neue Wählerschaft schien ein deutliches Wort gesprochen zu haben, und mit seinem umgehenden Rücktritt anerkannte Disraeli somit, dass der Wahlsieger ein Mandat für die Entstaatlichung der irischen Kirche übertragen bekommen hatte. Solch eine Anerkennung ließ wenig Raum für einen resoluten Widerstand gegen Gladstones Bill. Wäre Disraeli der alten Konvention gefolgt, wäre die Uneinigkeit in seinem Kabinett, die eine schlüssige Strategie zur irischen Kirche unmöglich gemacht hatte, im neu gewählten Parlament zutage getreten. An diesem Punkt nun hätte ein Rückzug Disraelis aus der Politik nahegelegen. Als er im Februar Premierminister geworden war, hatte er W. F. Haydon, dem Journalisten und Sohn des Malers Benjamin, auf seine Glückwünsche hin gesagt: „Für mich kommt das 20 Jahre zu spät. Schenken Sie mir doch Ihr Alter und Ihre Gesundheit.“8 Jetzt, mit 64, erwarteten ihn nur weitere lange Jahre in der Opposition, und das bei verminderter Kraft. In den nächsten Jahren besuchte er das Unterhaus zuzeiten nur sporadisch, und häufig war er krankheitsbedingt abwesend. Gleichwohl war der Umstand, dass er die Königin darum ersuchte, seiner Gattin die traditionelle Peerswürde zu verleihen, und nicht ihm selbst, ein deutlicher Hinweis darauf, dass er vorläufig durchhalten und im Unterhaus den rechten Augenblick abwarten würde. Mary Anne wurde Viscountess Beaconsfield, entgegen den üblichen Gepflogenheiten, was sie der Gunst zu verdanken hatte, die ihr Gatte am

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Hofe genoss. Postwendend schrieb Mary Anne ihre Mitteilungen an ihren Mann auf Papier mit kleiner Adelskrone und unterzeichnete sie mit „Deine Dir ergebene Beaconsfield“. Das Verlangen, mit Gladstone abzurechnen, muss mit ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass er seine Karriere im Unterhaus fortsetzte, so wie der Führer der Liberalen nach seiner Niederlage fünf Jahre später auch Disraelis wegen, mit dem er noch nicht fertig war, in der Politik bleiben wird. Die Rivalität zwischen den beiden Führern wurde zu einem mitgestaltenden Faktor im sich verschärfenden Parteienstreit. Vorerst jedoch war Gladstone nicht beizukommen. Die Torys waren wieder auf den Stand von vor 1852 zurückgefallen, und die Vorherrschaft der Liberalen schien gesicherter denn je. Doch die Tory-Partei war noch ‚im Spiel‘ – als eine nationale Partei, die eine große Zahl von Wählern aus allen Schichten anzuziehen vermochte, und damit leistete sie genau das, was ­Disraeli in seinen Reden nach der Verabschiedung der Reformbill eingefordert hatte. Er rechnete damit, dass sich die Lage seiner Partei vor allem im Parlament verbessern würde. Seiner Ansicht nach war Gladstone kein neuer Palmerston und würde früher oder später so viele Gruppierungen und Interessen samt ihrer Vertreter verprellt haben, dass seine Position erschüttert wäre. Nach vielen Jahren kehrte Disraeli zur Literatur zurück. 1869 arbeitete er an einem neuen Roman, wovon allerdings niemand wusste. Als ein berühmter Mann, den man in der ganzen Welt kannte, durfte er davon ausgehen, dass sich sein Werk auf jeden Fall verkaufen würde; was seine Finanzen betraf, war er selbst jetzt noch nicht vollkommen gesichert. Mary Annes Tod, der – und das war ihm mit Sicherheit bewusst – nicht mehr fern sein konnte, würde sein Einkommen beträchtlich schmälern. Er muss sich auch darüber im Klaren gewesen sein, dass seine zahlreichen Gegenspieler unter den Torys wohl kaum daran erinnert werden wollten, dass an der Spitze ihrer Partei ein jüdischer Literat stand. Offensichtlich aber ließ er sich von den Angriffen seiner Parteikollegen, denen er 20 Jahre standgehalten hatte, nicht mehr allzu sehr beunruhigen. Lothair ist wie jeder Disraeli-Roman in der aristokratischen High Society angesiedelt, der er sich von jeher am liebsten zuwandte. Unter Stil-Gesichtspunkten ist das Buch besser als seine Vorgänger, weil nicht so überspannt, die Schilderungen sind realistischer. Mit dem Lothair war er weniger auf den Effekt aus – das hatte er nicht mehr nötig, schließlich war es ungewöhnlich genug, dass ein ehemaliger Premierminister sein Comeback als Romanschriftsteller gibt. Als er seine frühen Romane verfasste, befand er sich am Rand der großen Welt des Adels, mittlerweile war er bis in ihr eigentliches Zentrum vorgedrungen und kannte sie gut. Nostalgische Gefühle bemächtigten sich seiner, ganz so, als wäre ihm aufgegangen, dass diese Welt sich schnell veränderte und bald schon nicht mehr der gleichen würde, die er kannte. Mit seiner Feder verfertigte er viele genaue und scharf konturierte Portraits, die Schilderungen aber sind nicht stärker als früher. Hier gibt er ein Bild der wuchernden Metropole London: „[…] endlose Straßenzüge, manche wuselig, manche schäbig, manche geschmacklos und aufgedonnert, manche düster und gemein; die Götter des Gartens in Reihen auf die Mauern der Höfe gepflanzt, die voller Vasen und Gottheiten aus

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Zement stehen, gewaltige Eisenbahnhallen, riesige Hotels, Gotteshäuser der Nonkonformisten, die aussehen wie gotische Kirchen […]“.9 Kardinal Grandison alias Manning lässt er sagen: „Die Welt ist der Staatsmänner müde, die Demokratie hat sie zu Politikern degradiert, und sie will keine Redner mehr, die heißen und sind jetzt Debattierer.“10 Gut möglich, dass Disraeli mit der Gestalt des Pinto einen Fingerzeig auf sich geben wollte; Pinto war von einem Edelmann vor einem Vierteljahrhundert aus Portugal mitgebracht worden und geblieben: „Aus dem Günstling eines Einzelnen war das Orakel eines Zirkels geworden und dann das Idol der Gesellschaft. Er war weder demütig noch hochtrabend. Und auch kein Schmarotzer, und jedermann umschmeichelte ihn; nicht er hing der Gesellschaft an, sondern sie ihm, Pinto.“11 Disraeli handelt zahlreiche der damals aktuellen Themen und Probleme ab, die Anmaßungen des Papsttums und der katholischen Kirche, die Machenschaften der Geheimbünde, die Fenier und andere republikanische Verschwörungen. Er unterhält mit aufschlussreichen Witzeleien, alles in allem aber bleibt er an der Oberfläche. Disraeli bringt seine nahezu unterbewusste Empfänglichkeit für den Zeitgeist in all seinen Erscheinungsformen zum Tragen, er wollte und konnte sich jedoch nicht sonderlich tiefgründig mit ihm auseinandersetzen. Der Konflikt zwischen der Kirche von England, der römisch-katholischen Kirche und der Revolution – dargestellt durch die drei Heldinnen des Buches – ist ein ehrgeiziges Thema, Disraeli macht daraus allerdings kaum mehr als einen gut lesbaren Text für seine Zeitgenossen. Seine früheren ‚Obesssionen‘, die sich um die Juden als Rasse und das Judentum als Religion drehten, spielen wahrscheinlich deshalb kaum eine Rolle, weil er sein altes Identitätsproblem vor langer Zeit schon gelöst hatte, der Held aber unternimmt auch diesmal eine Wallfahrt ins Heilige Land. Phoebus, der erfolgreiche Maler, vertritt das arische Prinzip gegen das semitische und ist ­Disraelis Antwort auf die modische Betonung des Angelsachsentums in den historischen Schriften und möglicherweise auch auf Matthew Arnolds These, das Ethos der englischen Mittelschicht speise sich auch aus einer hebräischen Quelle. ­Lothair war auf beiden Seiten des Atlantiks ein Erfolg, woraufhin seine Werke zum zweiten Mal als Gesamtausgabe herausgebracht wurden; mit einem Vorwort, das stellenweise einer Selbstrechtfertigung gleichkommt: Beim Lesen wird man feststellen, dass diese Werke einen Geist atmen, der sich nicht mit den Ansichten vertrug, die in England lange Zeit vorherrschend waren und die allgemein, wenngleich nicht ganz zutreffend, als utilitaristisch bezeichnet werden können. Sie [die Werke] hielten dafür, dass es beim Regieren der Völker nicht weniger auf die Einbildungskraft ankommt als auf die Vernunft. Sie vertrauten sehr auf eine ehedem weit verbreitete Empfindung, die auf eine Tradition des Heldentums zurückging und vom Edelmut einer unabhängigen Aristokratie aufrechterhalten wurde. Deren ökonomische Grundsätze hatten nicht wenig für sich, und sie sah in der Gesundheit und dem Wissen der Massen nicht die geringsten unter den wertvollen Elementen des Reichtums der Nationen. Sie trat für die Lehre von den Rassen ein und widersetzte sich mit ganzer Entschlossenheit der Idee von der Gleichheit der Menschen und ähnlichen abstrakten Dogmen.

In den sechs Jahren bis 1876 verdiente Disraeli 10.000 Pfund mit seinen Romanen, eine große Summe, dennoch aber war die Literatur kein Politik-Ersatz, son-

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dern deren Ergänzung. Das Unterhaus blieb sein Lebensmittelpunkt, wenn auch vorerst „äußerste Zurückhaltung und Ruhebewahren“ angesagt war. In der Sache der Entstaatlichung der irischen Kirche musste er den Widerstand seiner Hinterbänkler zu verhindern suchen, denn er fürchtete, es könnte allzu offensichtlich werden, wie geschwächt und gespalten die Partei war. An seiner eigenen isolierten und ungeschützten Stellung schien er sich allerdings regelrecht geweidet zu haben: Wer aber hat denn Angst? Der Anführer der Opposition seiner Majestät gewiss nicht. Unter uns gesagt: Wir glauben doch alle, dass Disraeli Gefallen an seiner Lage findet und sie gar nicht anders haben will. Und wirklich, wenn wir es recht bedenken, hat sein Stolz in dieser Lage viel von einer Selbstbeweihräucherung an sich. […] Und wir dürfen den Stolz auf seine Rasse nicht vergessen, der in der Brust dieses einmaligen Mannes unauslöschlich brennt.12

So ließ sich am 27. März 1869 William White, der Chefportier des Unterhauses, in einem seiner Kurztexte für die Illustrated Times vernehmen. Die Hauptschlacht wurde im Oberhaus ausgetragen, wo es nicht um das Aufhalten der Entstaat­ lichung ging, sondern darum, die bestmöglichen Bedingungen durchzusetzen. Die Tory-Peers waren sich nicht einig, und Derby pochte bei seinem – wie sich herausstellte, letzten – Auftritt im Oberhaus auf eine totale Opposition bei der zweiten Lesung. Disraeli musste im Hintergrund leise auf einen Kompromiss hinarbeiten. Das Problem der Führerschaft der Tory-Peers brachte ihm eine ganze Menge Ärger ein. Malmesbury wollte nicht weitermachen und stellte seinen Posten nach der Abdankung der Regierung im Dezember 1868 zur Verfügung; es ging die Rede, dass womöglich Salisbury übernimmt. Weil zwischen ihm und Disraeli Funkstille herrschte, wären daraus große Schwierigkeiten entstanden. Disraeli gelang es, seinen Lordkanzler von 1868, Cairns, zu überreden, sich der Aufgabe anzunehmen. Cairns war ein self-made Anwalt aus Nordirland mit strengen evangelikalen, puritanischen Ansichten, dessen Rat Disraeli zu schätzen lernte. Am Ende der Sitzungsperiode von 1869 hatte der stets kränkelnde Cairns genug. Mittlerweile war Stanley als der 15. Earl of Derby ins Oberhaus eingezogen, und die anderen Tory-Peers wählten ihn zum Anführer. Er lehnte ab, weil er sich eine unabhängigere Posititon bewahren wollte. Daraufhin wurde wieder Salisbury ins Gespräch gebracht, und auch die konservativen Zeitungen sahen seine Stunde gekommen, nachdem Derby abgesagt hatte. Die in der Partei weit verbreitete Unzufriedenheit mit ­Disraeli wäre so zu einer ‚festen Einrichtung‘ geworden, aber selbst in diesem Fall hätte man sich seiner nur schwer entledigen können. Nur ein Schlussstrich seinerseits oder eine Krankheit hätten seinen Abgang zur Folge haben können, da niemand in der Lage gewesen wäre, die Partei im Falle seines Rückzugs auf die Hinterbänke zu führen. In der Sitzungsperiode von 1870 legte die Gladstone-Regierung zwei große Gesetzes­entwürfe vor, den über den irischen Landbesitz und den über die schulische Grundausbildung. Disraeli war aus Krankheitsgründen häufig abwesend, und man munkelte, er würde nicht weitermachen können. Bei der Education-Bill handelte es sich um die bedeutsamste Maßnahme dieses Parlaments. Wäre es ihm möglich gewesen, hätte sich Disraeli gern selbst mit dem Problem befasst, und zwar nicht

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so sehr, um auf die Chancengleichheit hinzuwirken, sondern um für die Bewahrung der später sogenannten „national efficiency“ (Leistungsfähigkeit der Nation) einzutreten. Man argumentierte, dass die Schlacht bei Königgrätz von dem preußischen Lehrer gewonnen wurde und dass die Vormachtstellung der britischen Industrie durch eine schlecht ausgebildete Bevölkerung gefährdet sei. „Wir müssen unsere Herren [die Wähler] besser bilden und erziehen“, so äußerte sich Lowe in den Reformdebatten. Die von W. E. Forster eingebrachte Bill stand der anglikanischen Position zur schulischen Grundausbildung näher, als die Torys erwarten durften. Die konfessionelle Erziehung sollte beibehalten und weiter gefördert werden, und nur dort, wo es an Einrichtungen mangelte, war die Bildung von Schulbehörden vorgesehen. Dabei handelte es sich um von den Gemeindesteuerzahlern gewählte Behörden, deren Aufgabe darin bestand, dort Schulen zu gründen und zu beaufsichtigen, wo sich das als nötig erwies. Wenngleich nicht alles nach dem Geschmack seiner Partei war, unterstützte Disraeli die Regierung gegen ihre eigenen, immer aufgebrachter werdenden nichtanglikanischen Gefolgsleute. Schließlich trat ein, worauf er so lange gehofft hatte: die Liberalen entzweiten sich, und es war noch dazu ein großer Riss, der durch ihre Reihen ging. Eine zu heftige Opposition vonseiten der Torys hätte es nur wahrscheinlicher gemacht, dass der sich wieder schloss. Später in der Sitzungsperiode brachte die Regierung mehrere Änderungsvorschläge ein, die zur Beschwichtigung der Nichtanglikaner gedacht waren und die zumeist auf den Widerstand der Konservativen stießen, denen es wiederum um den Schutz der Kirche und ihrer Interessen ging. Als Disraelis denkwürdigste Intervention darf jene im Fall der Cowper-Temple-Klausel gelten, die die Vermittlung des Katechismus und diverser charakteristischer Kirchenformeln in den Behördeschulen untersagte. „Sie sind dabei, einen neuen Priesterstand zu erfinden und zu gründen. Der Lehrmeister, der die Bestimmungen umsetzen wird, […] wird zukünftig einen außerordentlichen Einfluss haben […] auf das Tun und Lassen der Engländer“, sagte er.13 Der gesetzgeberische Eifer der liberalen Regierung und die in den Augen der Opposition manische Ruhelosigkeit ihres Anführers forderten ihren Tribut, genau wie Disraeli vermutet hatte. Die Ereignisse im Ausland: der Deutsch-Franzö­sische Krieg, das Abrücken Russlands von den Schwarzmeer-Bestimmungen des Pariser Vertrages und die Alabama-Forderungen der Vereinigten Staaten [hierbei handelte es sich um Schadensersatzforderungen der USA gegen das UK wegen der Kaperungen von Schiffen durch die Südstaaten während des Sezessionskrieges] wirkten sich sogar noch dramatischer aus. Die Öffentlichkeit Großbritanniens war besorgt ob des offenkundigen Unvermögens des Landes, Einfluss auf die folgenschweren Vorgänge auf dem Kontinent zu nehmen und sich der russischen und amerikanischen Anmaßungen zu erwehren. Trotz seines langjährigen Einsatzes für enge englisch-französische Beziehungen und seines Misstrauens Bismarck gegenüber, hatte Disraeli – in Übereinstimmung mit der Mehrheitsmeinung – anfangs Frankreich und Napoleon als die Urheber des Deutsch-Französischen Krieges ausgemacht. In seiner Er­widerung auf die Eröffnungsrede der parlamentarischen Sitzungsperiode von 1871 vertrat er schon eine durchdachtere Sicht auf das Geschehen:

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Dieser Krieg ist Ausdruck der deutschen Revolution, und er ist ein größeres politisches Ereignis als die Revolution des vorangegangenen Jahrhunderts. Ich sage nicht, ein größeres oder genauso großes gesellschaftliches Ereignis. Welche gesellschaftlichen Folgen er hat, wird die Zukunft zeigen. Kein einziger der Grundsätze, denen sämtliche Staatsmänner vor annährend sechs Monaten als Leitlinien unserer Außenpolitik beipflichteten, existiert noch. […] Das Machtgleichgewicht ist völlig aus den Fugen, und das Land, das am meisten leidet und die Auswirkungen dieser großen Veränderung am stärksten zu spüren bekommt, ist England.14

Es versteht sich, dass Disraeli in den Debatten schweres Geschütz auffuhr. Er brachte vor, dass eine bewaffnete Neutralität Englands den Krieg verhindert hätte; außerdem behauptete er, das konservativ regierte Großbritannien habe auf diese Weise 1867 einen Krieg wegen Luxemburg abgewendet. Er geißelte die Kürzungen im Verteidigungsetat, die die liberale Regierung durchgesetzt hatte, und durch die, wie er meinte, die Streitkräfte geschwächt worden waren. Seiner Ansicht nach war die von der Gladstone-Regierung einberaumte Konferenz über die Aufkündigung der Schwarzmeer-Bestimmungen bloß ein Feigenblatt, das Russlands einseitiges Handeln verdecken sollte, das selbst eine Folge der nachhaltigen Störung des Machtgleichgewichts gewesen sei. Auch in der Amerika-Frage befand er sich in einer starken Position, weil er nie öffentlich für die Anerkennung des Südens eingetreten war (während Gladstone das quasi getan hatte). Er mahnte, die Amerikaner dürften nicht denken, dass sie Großbritannien ungestraft „mit groben Reden“ beleidigen könnten, wie sie kein anderes Land beleidigten. Die Ereignisse und seine Reaktionen darauf brachten ihn dazu zu behaupten, dass die Torys die wahren Hüter der nationalen Interessen seien und dass die Liberalen ihre Chance verspielt und die Prüfung nicht bestanden hätten. Auch ­Gladstones IrlandBills seien eklatante Fehlschläge gewesen, die jenes Land nicht zu befrieden vermochten, sondern bloß „Frevel und Enteignung“ Vorschub leisteten. Im Gefolge des Deutsch-Französichen Krieges kam es in Paris zur kurzlebigen Herrschaft der revolutionären Pariser Kommune, wodurch die Angst der Besitzenden vor einer Revolution neue Nahrung bekam. Das war hilfreich, um die Wählerschaft der Mittelschicht in eine konservativere Stimmung zu versetzen, zugleich sensibilisierte es die Tory-Politiker für die mit der Sozialreform zusammenhängenden Fragen. Einige von Disraelis Kollegen engagierten sich in einer außergewöhnlichen Initiative, die im Herbst 1871 bekannt wurde: die New Social Movement; diese Neue Sozialbewegung setzte sich für ein Sieben-Punkte-Programm ein, das etwa die Stadtsanierung vorsah, den Acht-Stunden-Tag und eine Ausweitung des „öffentlichen Dienstes“ nach dem Post-Modell. Die Führer der Konservativen und der Arbeiter wollten in dieser Bewegung zusammenwirken, obwohl die Namen der Gewerkschaftsführer George Potter und William Apple­garth und des Sekretärs der Reform League George Howell Torys wie Hardy und ­Carnarvon eher abschreckten. Derby war der Meinung, dass die Arbeiterführer die Absicht hatten, „auf die Empfindungen und die Belange der Klasse der Landbesitzer Einfluss zu nehmen und den Arbeitgebern des kaufmännischen und des herstellenden Gewerbes entgegenzuwirken“. Seiner Ansicht nach hätte so manche der Zielvor-

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gaben auch einem sozialistischen Programm entnommen sein können, und er verweigerte dem Ausschuss seine Mitarbeit, was Disraeli hinter verschlossenen Türen unterstützte, öffentlich aber nicht. Reformen wie diese interessierten ihn nie als ein Mittel zur Gleichstellung der Klassen oder zur Herbeiführung der Demokratie, sondern – paternalistischer – als eine Möglichkeit, den Anliegen der Arbeiterschaft durch den Erhalt der bestehenden Ordnung und ihrer Stabilität zu entsprechen. Seine instinktive Abneigung gegen die Mittelschicht und die Klasse der Handeltreibenden war längst nicht mehr so ausgeprägt wie einst. Die Entwicklungen bei der Wählerschaft behielt er genau im Auge. Das Ausscheiden Markham Spofforths, der Rose als Agent der Partei abgelöst hatte, bot ihm die Gelegenheit, das Parteimanagement in beträchtlichem Umfang neu zu organisieren. Er bestimmte John Eldon Gorst, einen 35 Jahre alten Anwalt, zu ­Spofforths Nachfolger. Als Abgeordneter für Cambridge war Gorst 1867 ein erklärter Gegner der Reform; nachdem die Reformbill Eingang ins Gesetzbuch gefunden hatte, entwickelte er sich allerdings zu einem begeisterten Befürworter der später sogenannten Tory-Demokratie. Seinen Sitz hatte er 1868 eingebüßt, erklärte sich nun jedoch bereit, Spofforths Nachfolge anzutreten, in der Hoffnung darauf, wieder an Einfluss gewinnen und schließlich ins Parlament und ins Amt zurückkehren zu können. In seiner Funktion geriet er fast zwangsläufig in ein angespanntes Verhältnis zu den Whips, die das Wahlmanagement traditionsgemäß beaufsichtigt hatten. Gorst konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die viel größer gewordene Stadt­gemeindeWählerschaft, wohingegen die Whips und Granden wie Abergavenny sich hauptsächlich um die Grafschaften und die kleinen ländlichen Bezirke kümmerten, von denen nach wie vor der überwiegende Teil der Tory-Parlamentarier gewählt wurde. Mit Gorst verfügte Disraeli über eine zusätzliche Informationsquelle hinsichtlich dessen, was sich an der Basis tat, speziell an den Orten, wo die Torys zuvor wenig Präsenz gezeigt hatten und über die er selbst nichts aus erster Hand wusste. Gorst war bald eifrig damit beschäftigt, vor Ort konservative Vereinigungen und Vereine ins Leben zu rufen und sicherzustellen, dass eigene Leute zur Verfügung standen, die sich für das Parlament bewerben würden, so dass es in möglichst vielen Wahlkreisen zu einem Wahlkampf kam. In der Parliament Street richtete er eine Zentralstelle der Konservativen ein, die auch zum Hauptsitz der National Union der Conservative and Constitutional Associations wurde. Seinerzeit traten die meisten der konservativen Vereinigungen und Vereine, zumal in den Städten, der National Union bei, als deren ehrenamtlicher Sekretär Gorst wirkte. Während in der Zentrale alle Fäden der Geschäftsführung zusammenliefen, stand die National Union an der Spitze der Wahlkreis-Vereinigungen. So war aus der Praxis heraus der Prototyp der modernen Parteiorganisation entstanden – in mancher Hinsicht vor ähnlichen Entwicklungen in der liberalen Partei –, mit weitreichenden Folgen für das Kräftegleichgewicht in der Verfassung. Auf längere Sicht wurde die Exekutive gestärkt, das Parlament geschwächt. Gorst ging davon aus, dass seine Zukunft mit Disraeli verknüpft sein würde, und er sah in ihm den fortschrittlichen Führer, der seine Partei unter großem Protest und Geschrei in die Ära der politischen Demokratie zwang.

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Die Nachwahlen im Jahr 1871 lieferten erste Anzeichen dafür, dass der Rückhalt der Liberalen langsam zu bröckeln begann. Der durch die Jahre in der Opposition und in der Minderheitsregierung ernüchterte Disraeli war nicht darauf aus, Gladstone vor der Zeit zu Fall zu bringen, und er sah ein, dass jedes entschlossene Handeln seinerseits den natürlichen Graben zwischen den Gemäßigten und den Radikalen nur schließen würde. Er war oft niedergeschlagen und gab sich nicht der Illusion hin, dass er das politische Blatt wenden könnte. Im Juli 1871 teilte er Derby mit, Delane hätte ihm gegenüber geäußert, „dass die Allgemeinheit keine besondere Vorliebe für irgendeine Person zeigte; es hätte allerdings eine starke Ablehnung eines Mannes gegeben – des Premiers nämlich: das, fuhr D. fort, dürfte der Wahrheit ziemlich nahekommen“.15 Lady Dorothy Nevill berichtet in ihren Remisniscencen, er sei bis ins hohe Alter davon überzeugt gewesen, dass „die allermeisten Engländer gegen ihn voreingenommen waren“. Er konnte nur versuchen, das Beste aus den zahlreichen Störfällen und Missgeschicken zu machen, mit denen im Übrigen jede Regierung zu kämpfen hat. So konnte er sich beispielsweise den Cardwell’schen Heeresreformen nicht offen entgegenstellen, sondern lediglich die Vorgehensweise anprangern, die insofern verfassungswidrig gewesen sei, als durch die Inanspruchnahme der königlichen Prärogative die Praxis des käuflichen Erwerbs der Offizierspatente abgeschafft worden war. Tory-Parlamentarier setzten sich gegen die Reformen Detail für Detail zur Wehr, wobei sie eine bis dato noch nahezu unbekannte Blockadetaktik zur Anwendung brachten. Diese Tory-Hinterbänkler, Offiziere im Rang von Obersten, hassten den jüdischen Romanschriftsteller, der unglücklicherweise ihr Anführer war. Die meiste Zeit seines politischen Lebens hatte man ihm vorgehalten, er sei zu allem bereit, um an die Macht zu gelangen, jetzt war es seine Untätigkeit, die man ihm vorwarf und von der ein Großteil der Unzufriedenheit mit ihm herrührte. Häufig war die Zurück­ haltung Kalkül, und dennoch war nicht zu übersehen, dass Disraeli alt wurde und ihm seine frühere Energie nicht mehr zu Gebote stand. Mary Annes Verfall warf einen dunklen Schatten, und weil es ihr so gut gefiel und ihr guttat, fuhr er stundenlang mit ihr durch Londons Straßen. Im Februar 1872 versammelten sich die führenden Torys auf Lord Exeters Landsitz Burghley House; dort brachte Cairns, einer der Disraeli am nächsten stehenden Kollegen, den Stein ins Rollen, indem er andeutete, dass es womöglich besser sei für die Partei, wenn Derby die Führung übernähme. Noel, der oberste Whip, verkündete, der Name Derby sei 40 oder 50 Sitze wert, und diese Ansicht vertrat noch ein Jahr später Oberst Taylor, der damals auf den Posten des obersten Whips zurückgekehrt war. Die Möglichkeit, dass Derby die Führung übernimmt, wurde in den Zeitungen ausführlich diskutiert, und wenn es auch nicht sicher ist, ob Disraeli von den Burghley-Besprechungen Kenntnis hatte, muss er sich im Klaren darüber gewesen sein, dass ein Derby an der Spitze auf große Zustimmung in der Partei gestoßen wäre. Derby machte auf allen Bänken und in allen Schichten Eindruck, und es gab viele, die der Kombination aus blauem Blut und liberalem Ruf nicht zu widerstehen vermochten; Disraeli wusste jedoch nur zu gut, wie zögerlich und unentschlossen er, Derby, sein konnte. An Derby nagte von jeher der (Selbst-)Zweifel, was seinem Selbstbewusst­sein

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natur­gemäß wenig zuträglich war; er hätte sich nur widerwillig mit Disraeli gemessen, wenngleich ihm das Verlangen nach der höchsten Stellung nicht ganz fremd war, was nicht zuletzt an den ehrgeizigen Plänen seiner Gattin lag. Es war wie immer, und das Burghley-Treffen kam zu keinem Ergebnis. Kurz nach Burghley stiegen Disraelis Aktien. Am 27. Februar fand in St. Paul’s ein Dankgottesdienst aus Anlass der Genesung des Prince of Wales statt, der einen lebensbedrohlichen Typhusanfall erlitten hatte. Disraeli wurde von den Menschen, die die Straßen säumten, mit lautem Beifall empfangen, während Gladstone Schweigen und sogar Feindeseligkeit entgegenschlugen. Disraelis Beliebtheit erfuhr eine Bestätigung, als er fünf Wochen später Manchester besuchte. Dass derartige Beifallsbekundungen der Massen so ernst genommen wurden, lag wohl daran, dass andere Indikatoren für das öffentliche Ansehen, wie die Meinungsumfrage, zur damaligen Zeit noch unbekannt waren. Es hatte den Anschein, als ob die Krankheit und die Genesung des Prince of Wales der Monarchie neue Beliebtheit verschafft hätten. In den letzten beiden Jahren hatte der Republikanismus einen deutlichen Aufschwung genommen, der in einschlägigen Organisationen seinen Ausdruck fand. Die machthabende Elite in beiden Parteien sah darin einen Grund zur Besorgnis, und Disraeli ging es nicht anders. Im September 1871 hatte er die Redemöglichkeit bei einem Erntedankfest auf Hughenden zum Anlass genommen, eine eloquente Eloge auf die Königin anzustimmen. Seine eigene Wiederherstellung machte durch seinen Besuch in Lancashire im April große Fortschritte. Die Reden, die er dort und im Juni im Kristallpalast hielt, bilden das Herzstück des Mythos von Disraeli als dem Begründer des modernen volksverbundenen Konservativismus. Der Lancashire-Besuch stand seit mindestens zwei Jahren zur Debatte, und seinem Zustandekommen räumte Gorst im Rahmen seines Vorhabens, den urbanen Konservativismus zu einer maßgeblichen Kraft in den Wahlen zu machen, höchste Priorität ein. Disraeli selbst zögerte lange, ehe er die Einladung nach Manchester annahm. Dieser Reise konnte nur dann Erfolg beschieden sein, wenn von ihr das Signal ausging, dass er selbst wirklich wiederhergestellt sei und die Partei das Glück tatsächlich wieder zwingen könnte, und davon konnte 1870 noch keine Rede sein. Gorsts Sondierung der Lage förderte nur allzu deutlich die Vorbehalte zutage, die selbst an der Basis gegenüber Disraeli bestanden. Im Jahre 1868 war Lancashire das Juwel in der Krone des Arbeiter-Toryismus, um aber in den 1870er Jahren ein großes Parteitreffen auf die Beine stellen zu können, mussten alle zusammenarbeiten, von den Höchstgestellten bis hinunter zu den Leuten an der Basis. Im Falle von Lancashire bedeutete das eine Willensanstrengung von Derby und der Stanley-Familie, von anderen aristokratischen Großgrundbesitzern, vom niederen Adel, von den Tory-Fabrikbesitzern und anderen Tory-Arbeitgebern und zuguterletzt von den konservativen Arbeitern. Derby suchte Disraeli am Vorabend seines Besuchs auf und traf ihn ungewöhnlich nervös an: „Er [Disraeli] sagte, er wollte nicht nach Manchester reisen, er sei dazu beharrlich gedrängt worden seit der letzten Parlamentswahl (was ich bestätigen kann), und schließlich habe er dem auf ihn ausgeübten Druck widerwillig nach-

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geben müssen“.16 Es mag sein, dass Disraeli diesen Widerwillen zum Teil Derbys wegen zur Schau stellte. Schließlich drang er in Stanley’sches Hoheitsgebiet ein – manche aber meinten, er wollte damit etwaigen Ansprüchen Derbys auf die Führerschaft entgegenwirken. Es kann allerdings kein Zweifel daran bestehen, dass ihm solche Ausflüge in die ‚Massen­politik‘ nicht zusagten. Er gab Derby einen Entwurf seiner Rede, „räumte [jedoch] ein, besorgt zu sein, dass ihm in einer solch langen Rede eine unüberlegte Äußerung entschlüpfen könnte: sein Themen- und Faktengedächtnis sei intakt, es wäre ihm jedoch nie möglich gewesen, seine Worte im Voraus zu wählen“. Es muss ihn beschäftigt haben, dass sowohl seine offensichtlich wachsende Beliebtheit bei den Massen als auch die anhaltende Verbitterung vieler führender Torys ihm gegenüber von der Rolle herrührten, die er 1867 gespielt hatte. Derby sagte er, dass die Reformbill, die er in seiner Rede zu verteidigen gedachte, „den Arbeitern lediglich die Wahlrechte wieder verschaffte, die sie vor 1832 in den Stadtgemeinden hatten, wo es das Gemeinde­steuer-Stimmrecht gab [Wahlkreise wie Westminster, wo es bereits im 18. Jahrhundert 10.000 oder mehr Wähler waren]: welches Lord Greys Bill wegnahm, und dessen Verlust, wie er sagte, die Chartisten-Bewegung auslöste“. Die Rede am 3. April in der Freihandelshalle dauerte drei Stunden und 20 Minuten, und niemand weiß, wie viel das angeblich 6.000 Personen zählende Publikum von ihr wirklich hören oder gar aufnehmen konnte. Sie enthielt nicht viel, das er nicht schon in früheren Reden vorgebracht hatte. Derby fand sie übertrieben lang: Er verpasste den 23-Uhr-Zug und kam erst 3 Uhr morgens ins Bett. „Die ersten beiden Stunden füllte so eine Art essayistische Betrachtung über die englische Verfassung, genial, aber für meinen Geschmack etwas zu artifiziell: den meisten seiner Argumente wäre leicht etwas entgegenzuhalten gewesen, hätte irgendwer sich aufgefordert gefühlt, Partei für den republikanischen Standpunkt zu ergreifen.“ Disraeli hob abermals hervor, dass die Arbeiterklasse einen ebenso großen, wenn nicht sogar einen größeren Anteil als die anderen Klassen an der Stabilität hatte, die über Jahrhunderte die Verfassung und ihre Hauptstützen – Monarchie, Parlament und Kirche – schützte und bewahrte. Sie alle waren in der jüngsten Vergangenheit Angriffen ausgesetzt gewesen, und die politischen Auseinandersetzungen drehten sich auch weiterhin um sie. Dass er Gladstone zur Last legte, sie durch ihre unzureichende Verteidigung geschwächt und ausgehöhlt zu haben, fiel, wenn man so will, nicht aus dem politischen Streitrahmen. Es war freilich nicht diese althergebrachte Verteidigung der Verfassung, die als der wirklich bedeutende Teil dieser und der am 24. Juni im Kristallpalast (bei einem Bankett der National Union of Conservative Associations) gehaltenen Rede in Erinnerung blieb, sondern das waren die Ausführungen zur Sozialreform und zum Empire, die der konservativen Partei im späten 19. und noch lange im 20. Jahrhundert gleichsam als Programm dienten. Auch in diesen Passagen sagte Disraeli nichts, was er nicht schon früher häufig gesagt hatte. Über die Sozialreform fasste er sich in beiden Reden kurz und blieb sehr allgemein. In der Freihandelshalle gebrauchte er die scherzhafte Abwandlung des Bibelverses ‚vanitas vanitatum, omnia vanitas‘: sanitas sanitatum,

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omnia sanitas,17 um herauszustreichen, dass „einem Minister vor allem anderen die Gesundheit des Volkes am Herzen liegen sollte“. Auch von diesem Scherz hatte er früher schon Gebrauch gemacht. Im Kristallpalast wurde er etwas konkreter und nannte: ein Dach über dem Kopf, Luft, Licht und Wasser, Inspektionen in den Fabriken und ordentliches Essen. Diese Probleme – die Lage der Menschen, die Lage Englands – wurden ständig diskutiert, und das seit langem schon, und ­Disraeli selbst befasste sich mindestens seit der Veröffentlichung von Sybil mit ihnen. Aus Vorsicht schränkte er ein, dass die Gesetzgebung „jenen unerbittlichen Regeln der politischen Ökonomie [unterliege], denen wir alle uns beugen müssen“, dennoch aber glaubte er vermutlich, dass man sich ihnen künftig womöglich weniger werde ‚beugen‘ müssen.18 Disraeli verwendete in diesen Reden viel mehr Zeit auf die außenpolitischen und die das Empire betreffenden Strategien, zumal im Kristallpalast, erneut aber lieferte er nichts wirklich Neues, sondern bloß eine etwas allgemeinere Version der Vorwürfe, die er der Gladstone-Regierung gemacht hatte. Bevor er sie wegen ihrer Politik hinsichtlich des Deutsch-Französischen Krieges und des Zurücktretens Russlands von den Schwarzmeer-Bestimmungen 1871 angegriffen hatte, hatte er Derby geschrieben: „Ich bedaure es nicht, dass das Land sich wegen der Dinge im Ausland ängstigt […] weil es gut ist, wenn der Geist der Nation eine Ablenkung findet von diesem krankmachenden Wandel und Kritisieren zu Hause, die uns in den letzten 40 Jahren viel zu oft zugesetzt haben, und es ist zu begrüßen, wenn die Herrschaft der Pedanten ein Ende hat.“19 Nahezu nichts anderes sagte er im Kristall­palast. Das zweite große Ziel der Torys – neben der Aufrechterhaltung der Institutionen des Landes – war es, „den Fortbestand des englischen Weltreichs zu sichern. […] Es ist einzigartig, mit welcher Beharrlichkeit, mit welcher Raffinesse, mit welchem Energieeinsatz der Liberalismus den Zerfall von Englands Empire herbeizuführen sucht“. Disraeli bedauerte, dass, als man den Kolonien die Selbstverwaltung übertragen hat, „dies nicht im Zuge einer großangelegten Strategie zur Festigung der Reiches erfolgte. Das hätte mit Reichszollbestimmungen einhergehen müssen […] und mit einer präzisen Regelung des militärischen Mitteleinsatzes und der Zuständigkeiten für die Verteidigung der Kolonien und für den Fall, dass dieses Land in Not ist und nach Hilfe von den Kolonien selbst verlangt. […] Doch all das wurde versäumt, weil diejenigen, die zu diesem Kurs geraten haben […] die Kolonien von England und sogar unsere Verbindungen mit Indien als eine Last, als einen Klotz am Bein dieses Landes betrachten und nur finazielle Erwägungen gelten lassen.“20 Glücklicherweise hätten die Kolonien diese Loslösungspolitik durch ihre Loyalität gegenüber dem Mutterland vereitelt. Als Schatzkanzler hatte D ­ israeli die Verbindungen zu den Kolonien bisweilen selbst unter finanziellen Gesichtspunkten betrachtet, aufs Ganze ge­sehen aber konnte er für sich in Anspruch nehmen, dass seine Ausführungen in der Freihandelshalle und im Kristallpalast mit den Positionen und Haltungen vereinbar waren, die er von jeher vertreten hatte. Er spürte, dass das „sparsame Wirtschaften“ keine absolut sichere Bank mehr war für Gladstone. Was die außenpoli-

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tischen und die mit dem Imperium in Zusammenhang stehenden Angelegenheiten anging, glaubte er sich berechtigt, einen klaren Trennungsstrich zwischen der konservativen und der liberalen Partei zu ziehen, zwischen „den nationalen und den kosmopolitischen Grundsätzen“. Das Land musste eine Entscheidung fällen, und er zweifelte nicht, dass die Arbeiterschaft sich auf die Seite der patriotisch Gesinnten schlagen würde. Seine Ausführungen zur Sozialreform und zum Empire sind rückblickend ge­ sehen nicht ihrer unmittelbaren Wirkung wegen wichtig, sondern weil sie der Politik der Regierung, die er 1874 bilden wird, als Richtschnur dienten. Schon damals waren Oppositionsparteien – ging es nach den Strategen – gut beraten, sich nicht zu früh auf ein bestimmtes Programm festzulegen. Die Gegner der Torys stichelten, den Konservativen mangele es an eigenen politischen Inhalten; Disraeli hatte jedoch bereits etwas unternommen, das Vakuum zu füllen, nämlich vor allem Reden gehalten und sich um das Image der Partei gekümmert: Denn er neigte zu dem Glauben, und darin war er geradezu postmodern, dass in der Politik das Image die Sache ersetzt bzw. die Botschaft ist. Seine Manchester-Rede wurde in der Presse reichlich kritisiert, die politischen Kreise aber zeigten sich aufs Neue beeindruckt von der Begeisterung, die er bei den Massen auslöste. Im Großen und Ganzen waren seine Kollegen nun zufrieden mit ihm. Sogar Carnarvon teilte Derby und auch Northcote mit, er glaube mittlerweile, dass das Reformgesetz nicht die von ihm befürchteten nachteiligen Folgen hätte. Salisbury änderte seine Meinung nicht ganz so schnell. Es war indes bezeichnend, dass er im Oktober 1872 in seinem regelmäßigen Beitrag in der Quarterly Review (‚Die Situation der Parteien‘) Disraeli mit keinem Wort mehr schmähte, einen Wandel des politischen Klimas bei den Torys bestätigte und lediglich vor einem verfrühten Versuch, an die Macht zu gelangen, warnte; eine Warnung, die sich erübrigte. Mary Anne ließ es sich nicht nehmen, ihn nach Manchester zu begleiten, keine drei Wochen später aber vertraute er Lady Derby „aufgewühlt“ an, dass sie im Sterben lag. Derby hatte die Witwe des 2. Marquis of Salisbury 1870 geheiratet und war somit der Stiefvater des 3. Marquis geworden. Mary Annes Tod am 15. Dezember 1872 traf Disraeli schwer; sie wurde 80 Jahre alt. Der nunmehr alleinstehende, abgekapselte und alltagsuntaugliche Mann war verloren ohne eine Frau, die sich hingebungsvoll und ergeben um ihn kümmert. „Wer wird ihm jetzt die Haare färben?“, fragten sich die Leute. Er musste aus seinem Londoner Zuhause, Grosvenor Gate, ausziehen und lebte in einer Suite des Edwards’ Hotel in der George Street am Hanover Square. Im Februar 1873 musste er zeitweilig auch auf die Dienste des treuen Corry verzichten, dessen Vater im Sterben lag. Glücklicherweise war sein Stern und der der Partei im Aufstieg begriffen, sonst hätte er womöglich aufgegeben. Ob seines Verlusts wurde ihm viel Mitgefühl zuteil. Trelawny hielt zu Beginn der Sitzungperiode von 1873 in seinem Tagebuch fest: „­Disraeli und G ­ ladstone erhielten lauten Beifall, als sie das Hause betraten. D. den meisten, und es ist bemerkenswert, dass ihm beide Seiten ihr Mitgefühl bekundeten.“21 In seiner einsamen hohen Stellung fand er bald Trost in einer Freund-

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schaft mit zwei Frauen. Er kannte die Forester-Schwestern, Anne Countess of Chesterfield und Selina Countess of Bradford, seit den 1830er Jahren; ihr Vater war der Shropshire-Peer, dessen Einfluss ihm 1841 die Kandidatur in Shrewsbury gesichert hatte. Selina war 54 und die Ehefrau des Earls of Bradford, Anne war 17 Jahre älter und ver­witwet, und beide waren sie Großmütter. Anne bat er um ihre Hand, doch Selina gehörte seine Liebe. Solchen Beziehungen, die beinahe reine Briefbeziehungen waren, sind heute schwer nachvollziehbar, man macht es sich allerdings zu leicht, wenn man sie als Vorspiegelei abtut. Disraeli hatte sich möglicherweise nicht nur in Selina verliebt, sondern auch in die Vorstellung, dass er, ein astmathischer und gichtkranker ehemaliger Premierminister in seinen Siebzigern, im Herzen immer noch jung genug für solche Liebesspiele war. Der Historiker muss dankbar dafür sein, dass sich durch diese Korrespondenz das Fenster in Disraelis Denken und Empfinden wieder öffnete, dass seit dem Tod seiner Schwester im Jahre 1859 und von Mrs. Brydges Willyams 1863 geschlossen war. Ungefähr 500 Briefe an Lady Chesterfield sind erhalten geblieben und nicht weniger als 1100 an Lady Bradford, dagegen nur etwa 250 der Briefe an Mrs. Brydges. Selina fand seinen Überschwang bisweilen unangenehm, ließ sich davon jedoch nicht abschrecken; Anne wusste ihn immer zu trösten und aufzumuntern. Selinas Mann war ein sportbegeisterter Aristokrat, der mit Disraeli wenig gemein hatte, dennoch aber missfielen die beiden einander nicht. Es ist nicht bekannt, inwieweit er in die Korrespondenz zwischen seiner Frau und dem Tory-Führer Einblick hatte. Ein Teil der Briefe war für beide Seiten kompromittierend, Selinas Unbehagen kam also nicht von un­gefähr. Sie für ihren Teil fühlte sich durchaus von ihm angezogen und von seiner hohen Stellung und seiner Macht geschmeichelt, stark genug jedenfalls, dass sie die Verbindung aufrechterhielt. Die Erholung der Torys ging nicht ohne Rückschläge ab, und es verstand sich auch keineswegs von selbst, dass sie die Wahlen gewinnen würden. Disraeli fürchtete, Gladstone könnte eine passende Gelegenheit ergreifen und das Parlament auflösen, noch bevor die Konseravtiven im Vollbesitz ihrer Kräfte wären, oder ihn durch seinen Rücktritt vorzeitig in die Regierung drängen. Und genau dazu kam es, als Gladstone im März 1873 bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf zur irischen Universität eine Niederlage erlitt. Der Premierminister ergriff mutig die Initiative, anders als Disraeli 1868. Zu diesem Zeitpunkt war das Bündnis zwischen dem irischen Katholizismus und dem englischen Liberalismus, das im Zusammenhang mit der Entstaatlichung der irischen Kirche geschmiedet worden war, bereits zerfallen. Gladstones vielschichtiges Vorhaben wurde sowohl von den irischen Katholiken als auch von den englischen Radikalen abgelehnt. Als er zurücktrat, weigerte sich Disraeli, ihm im Amt nachzufolgen und schuf damit einen häufig angeführten verfassungsrechtlichen Präzedenzfall. Er argumentierte, dass die Niederlage der Regierung nicht durch die Opposition herbeigeführt worden war, sondern durch Kräfte, die der Zufall zusammengebracht, die aber sonst nichts gemeinsam hatten. Sir Henry Ponsonby, der Privatsekretär der Königin, schilderte sein Gespräch mit Disraeli so:

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Im ersten Teil der Unterredung saß er am Tisch und redete eifrig. Von der Königin sprach er in etwas überhöflicher Weise, und mich redete er immer mit ‚mein lieber Oberst‘ an, so dass es mir vorkam, als spiele er nur mit mir; ein paar Mal musste ich mir das Lachen verkneifen, aber als er dann seinen Entschluss [den Auftrag nicht anzunehmen] erklärte, stand er auf […] und sprach offen und unumwunden, mit Schärfe und Entschiedenheit […] Mit ihm war viel leichter reden als mit Gladstone, der jeden auf seine Seite zu zwingen versucht, während Disraeli dem Gesprächspartner folgt und sich freundlich, fast zu freundlich gibt.22

Später bemerkte Ponsonby allerdings: „Wie man sein Vertrauen in Dizzy setzen kann, ist mir unbegreiflich.“ Ponsonby sympatisierte mit der liberalen Partei und lief damit dem immer schärferen Konservatismus der Königin entgegen. Glad­ stone übernahm das Amt wieder. Disraeli hatte aus zahlreichen Gegenden Warnungen erhalten, dass die Torys, wenn sie die Amtsgeschäfte übernehmen und ihre vierte Minderheitsregierung bilden würden, ihren wachsenden Rückhalt durchaus wieder einbüßen könnten, noch ehe das Parlament aufgelöst und eine allgemeine Wahl abgehalten werden konnte. Dass Disraeli sich genötigt sah, mit äußerster Vorsicht zu agieren, veranschaulicht der Brief, den er einem Tory-Kandidaten aus Anlass einer Nachwahl in Bath im Oktober 1873 schickte. Die Torys hatten den Liberalen im Laufe der Amts­ periode dieses Parlaments beide Bath-Sitze abgenommen, den einen davon sehr wahrscheinlich deshalb, weil die National Education League aus Protest gegen das von der liberalen Regierung erlassene Gesetz zur schulischen Grundausbildung einen eigenen Kandidaten aufgestellt hatte. Ton und Sprache des Briefes sind die seiner Wahlkampfauftritte: „Seit annähernd fünf Jahren haben die amtierenden Minister jedes Gewerbe drangsaliert, jeden Berufsstand gequält und sind über jede Schicht, jede Institution und jede Form von Eigentum hergefallen oder haben ihnen gedroht. […] Das alles nennt sich bei ihnen Politik, und sie scheinen ziemlich stolz auf sie zu sein; meiner Ansicht nach aber ist das Land fest entschlossen, diesen Raubzügen und Pfuschereien ein Ende zu bereiten.“ Der zunehmend konservativ denkende Schlag der Mittelschicht sei von dieser überspannten und drastischen Sprache abgestoßen, hieß es, zumal als es den Konservativen nicht gelang den Sitz zu gewinnen. Der von Walter Bagehot herausgegebene Economist verkündete, dass dieser Brief das Törichste wäre, was ein Konservativer je von sich gab und dass diese Verstiegenheit den Widerwillen der Partei gegen ihren Führer verzehnfachen werde. W. H. Smith, der ‚Mann vom Bücherstand‘, der von D ­ israeli bald zum Befehlshaber der Marine Ihrer Majestät gemacht werden sollte, lieferte ein typisches Beispiel für die nichtanglikanischen Arbeit­ geber, die, zu Wohlstand gelangt, Torys und Anglikaner geworden waren. Er kommentierte: „Disraeli hat sich selbst ins Verderben gerissen und dafür gesorgt, dass an einem Umbau der Parteien – Stichwort: neue Führer – fast kein Weg mehr vorbei führt“.23 Derby fand den Brief heftig, töricht und geschmacklos, aber er kannte Disraeli gut genug, um einzuräumen, dass es ihm nur um die Partei ging, darum, sie zu ermutigen und „ihre Begeisterung zu wecken“. Die Nachwahlen brachten ein ums andere Mal Ärger und Verstimmung mit sich, und nicht selten fiel da-

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bei ein unüberlegtes, drastisches Wort, das aber bald wieder vergessen war; doch dass Disraeli besonders von jenen abgelehnt wurde, die sich selbst als bescheiden und besonnen betrachteten, bestätigte sich auch in dieser späten Phase. War dieser Mann ernst zu nehmen? Kurze Zeit später besuchte er Glasgow, weil er dort zum Lord Rektor der Universität eingesetzt werden sollte. In einer seiner Reden äußerte er sich ganz unbeschwert zu den Aufs und Abs in seinem Verhältnis zur Partei. Nachdem er herausgestellt hatte, dass niemand länger an der Spitze einer großen Partei stand als er, sagte er: „Ich muss mitunter lächeln, wenn ich von den ständigen Andeutungen der in alle Geheimnisse der politischen Welt eingeweihten Herren höre, dass die konservative Partei sich unbedingt meiner Dienste zu entledigen wünscht. Tatsache ist, die konservative Partei muss meine Dienste nicht in Anspruch nehmen, wann immer sie will, kann sie mir ein Zeichen geben und ist mich los. Jedes Mal, wenn ich die Parteiführung niederlegen wollte, wurde ich überaus freundlich darum gebeten, diesen Schritt nicht zu machen und im Amt zu bleiben.“24 Es war sein Glück, dass jedes Mal Derby der am stärksten umworbene Kandidat für die Übernahme der Führerschaft war, denn der hatte weder den Willen noch verfügte er über die Fähigkeit, die Rolle eines Rivalen auszufüllen. Wenn es hieß, die Partei würde unter einer Derby-Führung zulegen, erwiderte der Umworbene für gewöhnlich, dass „Disraeli ein Freund und ein alter Kollege“ ist und dass er „darum der Letzte [sei], der sich mit dem Gedanken tragen könnte, ihn zu verdrängen und abzulösen“. Ob das die ganze Wahrheit war, ist eine andere Frage. Mit Ausnahme von Bath gab es immer wieder Nachwahldesaster für die Glad­ stone-Regierung, die noch bis in den Januar 1874 hinein zu leiden hatte. Am 24. Januar gab Gladstone ganz unvermittelt die Auflösung des Parlaments bekannt. Disraeli weilte für ein Treffen mit den Kuratoren des British Museum in London, als ein Diener ihm die Times brachte und er die Neuigkeiten erfuhr. Es war ihm nur eingeschränkt möglich, seine Kollegen zurate zu ziehen – die im Vorfeld der parlamentarischen Sitzungsperiode über das ganze Land verteilt waren –, bevor er sein Wahlmanifest für die Zeitungen verfasste. Gladstone plädierte in seiner Erklärung im Kern nach wie vor für das, was ihn vor 20 Jahren in den Rang einer nationalen Figur hatte aufsteigen lassen, nämlich für ein sparsames Wirtschaften, das zu einer niedrigeren Besteuerung und im Speziellen zur Abschaffung der Einkommensteuer führt. Das Drängen vonseiten des Marineamts und des Kriegsministeriums auf höhere Ausgaben war einer der Gründe, weshalb er diesen Moment wählte, um sich an das Land zu wenden. In seiner Erwiderung hielt Disraeli sich eng an das, was er in den Reden der beiden letzten Jahre vorgebracht hatte: Die Torys seien weder gegen eine niedrige Besteuerung noch gegen die notwendigen Reformen, sie frönten jedoch nicht dem Gesetzgebungsfuror, mit dem die Liberalen alle Interessen im Lande drangsaliert hätten, und sie würden auch der schwachen Außen- und Imperiumspolitik Gladstones ein Ende machen. ­Disraeli schlachtete den Druck aus, den der extreme Flügel der liberalen Partei, wie er unterstellte, auf die Regierung ausgeübt hatte mit seinen Attacken auf die Monarchie, das Empire und die Kirche. Konkrete Versprechungen machte Disraeli nicht, da er hoffen

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durfte, dass die Liberalen sich über die Jahre genug ‚geleistet‘ hatten, um nun zu Fall zu kommen. Er war nicht optimistisch, dass es zu mehr als einem Patt reichen würde, und selbst Gorsts Berechnungen ergaben nur eine Mehrheit von drei Sitzen. Dass daraus dann 50 Sitze wurden, war folglich ein großer Triumph, der umso süßer schmeckte, weil er 30 dürre Jahre lang auf sich warten ließ. Das Urteil damaliger und späterer Kommentatoren, es sei in Wahrheit ein negativer Sieg gewesen, der den Spaltungen und der Enttäuschung der Liberalen geschuldet war, vermag ihn nicht gravierend zu schmälern. Die Wähler im Zeitalter der Massenwahl sind von vielen, oft widersprüchlichen Motiven umgetrieben, die sich selbst von den modernen Verfahren der Meinungsforschung nur schwer entwirren lassen. Der Enttäuschung über die Leistung der Machthaber kommt in allen solchen Motivlagen zwangsläufig ein großes Gewicht zu. Disraeli hatte selbst eine entsprechende Erfahrung gemacht, als er das Wagnis eingegangen war, das Wahlrecht umfassend zu erweitern, und zwar in Überseinstimmung mit seiner von jeher vertretenen Sicht auf die Gesellschaft. Selbst in einer Zeit des Individualismus war die Gesellschaft ein Geflecht aus Pflichten, Vorrechten, Prägungen und Einflüssen, die die kalte Statistik der Differenzierung entlang der Klassenund Schichtengrenzen aushebelte. Anders als 1868 ruckte es diesmal in nahezu allen Wahlkreistypen in Richtung der Konservativen, und der Umschwung wurde sowohl von der Mittelschicht als auch der Arbeiterschaft getragen. 1874 gewannen die Torys 44 von 114 Sitzen in den Städten mit über 50.000 Einwohnern, 1868 waren es 25. In den 118 Stadtgemeinden mit weniger als 20.000 Einwohnern gewannen sie 1874 60 Sitze, gegenüber 52 im Jahre 1868. Auch ein Mann wie Gorst, der sich jetzt als ein Tory-Demokrat verstand, der den Entwurf seines Meisters in die Tat umsetzte, hob in seinen Berichten stets hervor, dass man im Zuge der Organisierung des urbanen Konservativismus die Führungskräfte der Mittelschicht entdecken müsste, die ihrerseits die Wähler der Arbeiterschaft mobilisieren würden. Die politikbewussten Arbeiter sprachen wahrscheinlich auf die zahlreichen Vereinigungen an (nonkonformistische und anderweitige), die mit der liberalen Partei in Verbindung standen, während die potenziellen Tory-Wähler unter den Arbeitern in der Regel nicht sehr politisiert waren. Die zumeist liberal eingestellten politischen Kommentatoren porträtierten Disraeli jetzt als den Ahnherrn des ‚demokratischen Toryismus‘, der mit seiner Reformbill jene gesellschaftlichen Schichten zu Teilhabern der politischen Ordnung gemacht hätte, die unterhalb des für den Liberalismus empfänglichen Bevölkerungsteils angesiedelt waren. Er hatte sein Spiel erfolgreich gespielt, und dass ihm das gelungen war, hatte für die fortschrittlichen Geister etwas ungemein Bedrohliches. Disraeli empfand es als die totale Rechtfertigung. „Um Mitternacht ist der Carlton überfüllt: all die teuren ‚alten Gefährten‘, mit denen wir auf so vertrautem Fuß stehen – all die Frondeure und die Zyniker – sind nunmehr Bekennende einer gemeinsamen Religion, rufen nach ‚dem Chef‘, so wie junge Hunde nach dem Jäger bellen am Tag nach dem letzten Frost“, so wandte sich Corry an ihn, kurz nachdem die Resultate eingetroffen waren.25

9. Apotheose (1874–1878) Disraeli selbst sagte, dass ihn die Macht zu spät erreichte, aber auch wenn er bei besserer Gesundheit gewesen wäre und mehr Energie gehabt hätte, hätte er sich während seiner Amtszeit als Premierminister vermutlich nicht viel anders ver­halten. Mit Detailfragen gab er sich nicht ab, seine Arbeitsfähigkeit aber und sein Vermögen, Informationen aufzusaugen, waren nach wie vor beeindruckend. Carnarvons Klage, dass er nicht arbeiten würde und Monty Corry faktisch Premier­minister sei, ist nicht stichhaltig. Disraeli machte sich klar, dass er sich nur dann auf der besonders glitschigen obersten Sprosse der Karriereleiter würde halten können, wenn er sich nicht in Kleinigkeiten verzettelte. Er musste die allgemeine politische Richtung vorgeben und denen vertrauen, die er dazu bestimmt hatte, seine Vorgaben umzusetzen. Disraelis Kabinettsberufungen zeigten, dass er die Partei der ländlichen Gebiete nach wie vor im Griff hatte; die meisten der zwölf Kabinettsmitglieder entstammten dem Hochadel. Die anderen waren entweder schon lange im Geschäft, wie Cairns und Gathorne Hardy, oder kamen, wie Northcote und Ward Hunt, aus dem Tory-Landadel mit weit zurückreichenden Stammbäumen. Einen Sonderfall bildete der Innenminister, R. A. Cross. Aber selbst bei ihm handelte es sich um einen Lancashire-Bankier, der in Rugby, der bekannten Eliteschule, ausgebildet worden war. Er war kein ausgesprochener Favorit Disraelis und verdankte seine Berufung ins Kabinett Derby, den Disraeli im Zuge seiner Regierungsbildung zurate gezogen hatte. Er avancierte zu einer zentralen Figur der Gesetzgebung der Regierung für das Mutterland, Disraeli ärgerte sich jedoch oft über ihn. „Das hat man nun davon, wenn man einem Mann aus der Mittelschicht ein hohes Amt überträgt“, schrieb er Selina, als Cross sich über den „Gesundheitszustand“ des Premierministers geäußert hatte.1 Mit der Welt des Geschäftemachens, der Industrie und des Handels vermochte er sich auch weiterhin nicht anzufreunden, war sich aber schon im Klaren darüber, dass er seinen Sieg in hohem Maße den seismischen Verschiebungen in der Stimmungslage der Mittelschicht zu verdanken hatte, und in den Jahren der Tory-Konsolidierung hatte er sich darum bemüht, das Verhältnis zu ihr zu kultivieren. Nichtsdestotrotz kamen auf den meisten Bänken hinter ihm noch immer die Vertreter der ländlichen Gebiete Englands zu sitzen, und mehreren Interessen­ vertretern der Landwirtschaft, die ihm in der Vergangenheit gelegentlich ein Dorn im Auge waren, wurden untergeordnete Posten übertragen. Die einzigen Repräsentanten des städtischen Konservativismus waren W. H. Smith im Finanzministerium und Viscount Sandon – Erbe des Earls of Harrowby, dennoch aber Abgeordneter für Liverpool – im Bildungsministerium. In den Monaten vor der Wahl

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hatte Disraeli all jene aus seinen Reihen in gewissem Umfang ermutigt, die hofften, er könnte für die Belange der Arbeitskräfte, die anhaltenden Probleme der Gewerkschaften und die Neun-Stunden-Bewegung für eine weitere Absenkung der Arbeitszeit noch mehr Wohlwollen aufbringen als die Gladstone-Regierung. Einer seiner Verbindungsmänner in diese Welt war W. R. Callender, eine wichtige Gestalt in der konservativen Partei Manchesters, der 1872 sein Gastgeber gewesen war und 1874 als einer der Vertreter der Stadt ins Parlament gewählt wurde. Callender war einer von mehreren Tory-Großstadtabgeordneten, die, obgleich sie in kein Amt berufen wurden, Würden verliehen bekamen. Callender sollte zum Ritter geschlagen werden, er starb jedoch vor der Zeit. Disraeli war nicht daran gelegen, die finanzpolitische Kompromissbildung in der hochviktorianischen Gesellschaft zu stören, die für einen Ausgleich zu sorgen hatte zwischen dem Verlangen der Mittelschicht nach niedrigen direkten Steuern, dem Drängen der Arbeiterschaft auf die Beseitigung der verbliebenen Verbrauchssteuern und der Empfindlichkeit der Grundbesitzer gegenüber der Gemeindesteuerlast. Die Idee, die Einkommensteuer abzuschaffen, deren Umsetzung Gladstone in seiner Wahlerklärung in Aussicht gestellt hatte, hatte an Attraktivität eingebüßt. Die Wähler aller Schichten wollten zwar nach wie vor keine kostspielige Verteidigungspolitik, aber sie waren auch gegen eine schwache Außenpolitik und zeigten sich empfänglich für das Argument, dass diese Schwäche eine Folge der Kürzungen bei den Marine- und Militärausgaben war. Der Ashanti-Krieg stellte eines der Erbteile der Gladstone-Regierung dar, und als sich Disraeli im September 1873 brieflich an Northcote wandte, bezeichnete er ihn als „unnützen“ und „unrühm­ lichen“ Krieg, der keinem Vergleich mit dem abessinischen Feldzug der konservativen Regierung standhalte. Im Ausland Stärke zu zeigen heiße keineswegs, sich auf unsinnige imperiale Abenteuer einzulassen. In einem anderen Brief, in dem er Northcote zu einem bestimmten Kurs riet, den er in einer öffentlichen Rede einschlagen sollte, hatte er geschrieben: „Ganz allgemein stehen wir als Partei für die Aufrechterhaltung der Institutionen des Landes und für die Hemmung und Eindämmung der fiebrigen Kritik und des überflüssigen Wandels, die schon viel zu lange in Mode sind. Ich würde nicht zu stark darauf pochen, dass unsere Politik im Kern abwehrend und bewahrend ist, weil es dann immer heißt, wir treten auf der Stelle. Falls Sie in Sachen der Erweiterung des Grafschaftswahlrechts bedrängt werden oder das Thema nicht umgehen können, beharren Sie auf dem Standpunkt, dass das dauernde Umverteilen der Macht an sich ein Übel ist, dass die Maßnahme von 1868 gerade erst verdaut wurde; dass die Geheimwahl [durch die GladstoneRegierung 1872 eingeführt] ihre Probe noch nicht bestanden hat.“2 In einer Wahlrede in Aylesbury hatte er gesagt: „Ich glaube nicht, jetzt, da die sozialen Verbesserungen auf den Weg gebracht sind, dass wir die Dinge überstürzen und allzu voreilig Plänen zustimmen sollten, die darauf abzielen, die sozialen Bedürfnisse der Menschen durch politische Privilegien zu befriedigen. Das ist eine sehr große Frage und eine, mit der man sich eines Tages wird befassen müssen, aber sie gehört nicht in die Hände von Demagogen, sondern in die von Staatsmännern.“3 Den

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sozialen Verbesserungen sollte also Vorrang eingeräumt werden gegenüber weiteren strukturellen Veränderungen, ohne dass allerdings der Eindruck entstand, als würde sich die Partei gegen die Ausweitung des Wahlrechs grundsätzlich sperren. Sie sollte unter gar keinen Umständen wieder als ‚rückwärtsgewandt‘ wahrgenommen werden. Auch die Königin riet ihrem Premierminister, „jedwede nach rückwärts gerichtete Strategie zu vermeiden“,4 wenn der Partei das Regieren lieb wäre. Disraeli begriff sehr wohl, dass die Partei siegreich gewesen war, weil viele unterschiedliche Interessen und Gruppierungen für sie gestimmt hatten; sie alle zu beglücken, kam der Quadratur des Kreises gleich. Die neuen Unterstützer unter den Arbeitgebern argwöhnten nach wie vor, beim Tory-Führer könnte es sich in Wahrheit um „den Feind der kapitalistischen Klassen“ handeln. Die „Klassen, die in den Gewerkschaften ihr Heil sahen“ wurden nicht nur von den Arbeitgebern mit Argwohn betrachtet, sondern auch von den Landeigentümern, hatten sie doch die Macht der Landarbeiter-Gewerkschaftsbewegung in der Gestalt von Joseph Archs National Agricultural Labourers Union eben erst erfahren müssen. Disraeli ging es mit seiner Regierung darum, den Palmerston’schen Konsens zu erneuern und ihn zugleich auf eine breitere Basis zu stellen. Einstweilen wollte er die Macht genießen, und es befriedeigte ihn enorm, dass er sich nun an der Spitze dieser großartigen, glänzenden Adelsgesellschaft befand, über die er so häufig geschrieben hatte. Zu seinen Amtsgeschäften gehörte es, Selinas Gatten zum Posten des Oberstallmeisters zu verhelfen, Männer zu Dukes zu machen, den Prince of Wales, „unseren Prinz Hal“ [Henry V.], aus dessen selbstverschuldeter Bredouille zu helfen, gute Beziehungen zur Königin zu pflegen – und diese Dinge bereiteten ihm die meiste Zeit über wirklich Vergnügen. Freilich ging es ihm um mehr als das bloße Vergnügen, glaubte er doch, dass der ‚gesellschaftliche Einfluss‘, dass eine um die Krone gescharte Aristokratie auch jetzt noch wichtige politische Faktoren waren, und das waren sie ja tatsächlich. Die politische Ämter- und Postenpatronage gehörte aus seiner Sicht ganz wesentlich zum Regieren, und er hatte eine instinktive Abneigung gegen die Einstellungsprüfungen, die unter der Gladstone-Regierung im öffentlichen Dienst immer häufiger zur Anwendung kamen. Ihm schien, dass eine solche Praxis „Musterknaben und Streber“ begünstigte, und das passte ihm gar nicht. Für einen nicht selten vom Asthma und von der Gicht geplagten Mann führte er ein erstaunlich aktives gesellschaftliches Leben, besuchte zahllose Festveranstaltungen, Abendessen, Morgenempfänge und Bälle, und ließ schon gar keine Veranstaltung aus, bei der er Selina unter den Gästen wähnte. Die Politik indes blieb ein schwieriges und unberechenbares Geschäft. Der in Hinblick auf die Einheit und Geschlossenheit der Partei wichtigste Beitritt war der von Salisbury als Minister für Indien, und auch Carnarvons Beitritt als Kolonialminister wirkte sich in diesem Zusammenhang förderlich aus. Auf einer Kabinettsliste, die Derby im März 1873 mit Disraeli diskutiert hatte, als es so aussah, als müssten die Torys die Regierungsgeschäfte übernehmen, tauchte Salisburys Name nicht auf. Nach Disraelis Wahltriumph konnte sich Salisbury nicht länger heraus-

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halten. Derby stand bei den meisten Streitfragen ganz eindeutig auf der Seite der Parteiliberalen, bezog auch in den Kirchendingen einen liberalen, fast skeptischen Standpunkt, misstraute der religiösen Begeisterung in all ihren hoch- und niederkirchlichen Spielarten und war überhaupt anti-klerikal eingestellt. Demnach hatte er mit Salisbury wenig gemein, der seinen hochkirchlichen Anglikanismus zur Festung gegen die eigene innere Ungewissheit ausgebaut hatte. Was Haltung und Einstellungen betraf, stand Disraeli Derby viel näher, zudem waren die zwei Männer durch ein Treueband miteinander verbunden, an dem sie viele Jahre gemeinsam gewirkt hatten. Beide einte die Abneigung gegen das, was Disraeli manchmal „die priesterliche Partei“ nannte und was bei Derby die parti prêtre hieß. In Art und Charakter freilich unterschieden sich die beiden beträchtlich, und in diesem Punkt erwies sich Salisbury als der Wesensverwandte des Premierministers. Das Zusammenspiel der drei Persönlichkeiten sollte das Schicksal der konservativen Regierung ganz wesentlich mitbestimmen. Unter den gegebenen Umständen war es kein Wunder, dass die konservative Regierung nicht gleich mit einem großen Gesetzgebungsprogramm aufwartete. ­Disraeli hing nicht der Meinung an, dass sich der Wert einer Regierung an der Zahl der verabschiedeten Gesetze misst, und er hatte Gladstone der Maßlosigkeit bezichtigt, der mit seinem Gesetzgebungsfuror nichts und niemanden verschont hätte. Es war ohnehin keine Zeit, um ein Gesetzgebungsprogramm auf die Beine zu stellen, was in der Regel im parlamentarischen Herbst erfolgte. Deswegen kam das politische Geschehen aber nicht zum Erliegen, und Disraeli war bald mit einem kirchenpolitischen Thema konfrontiert, das einen kleineren Stresstest für den Zusammenhalt seiner Partei darstellte. Die Ausbreitung des Ritualismus hatte für viel Unbehagen gesorgt und die Bildung eines königlichen Ausschusses zur Folge, der 1872 Bericht erstattet hatte. Tait, der Erzbischof von Canterbury, wollte nicht länger warten und legte noch vor 1874 einen Gesetzentwurf zur Überwachung und Kontrolle der ritualistischen Praktiken vor, der die ungeteilte Zustimmung der Königin fand. Disraeli hatte Derby mitgeteilt, dass er von etwa 7.000 Ritualisten unter den Klerikern ausgehe und dass er „bereit [sei], wenn nötig, gegen sie vorzugehen“,5 mit der gebotenen Vorsicht freilich, um die High-Church-Gruppierung im Kabinett nicht zu verärgern, allen voran Salisbury. Als die Bill des Erzbischofs zur Reglementierung der öffentlichen Kulthandlungen im Unterhaus zur Debatte gestellt wurde, stemmte sich Gladstone – der sich seit seiner Niederlage nur unregelmäßig hatte sehen lassen – vehement gegen sie. Disraeli konnte nicht widerstehen, der Gesetzesvorlage unterstützend beizuspringen und sprach in diesem Zusammenhang von der „maskierten Messe“, womit er zu verstehen gab, dass sich hinter dem Gottesdienst der Ritualisten die katholische Messe verbarg. Im Oberhaus warnte Salisbury seine Mitpeers davor, einer „polternden Mehrheit“ im anderen Haus nachzugeben, während Disraeli diese Wendung wegzuerklären versuchte, indem er Salisbury – in einer Passage, in der er ansonsten voll des Lobes für den Kollegen war – „einen Meister in der Kunst des Spottes und des Seitenhiebs“ nannte. Erfreulichweise nahmen beide Seiten dieses Wortgefecht mit Humor, und

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Salisbury blieb im Amt. Der Gesetzesvorlage war darum kein Erfolg beschieden, weil der Versuch, die religiösen Gepflogenheiten in der Kirche von England durch ein mühseliges gesetzliches Verfahren unter Kontrolle zu bringen, nur zu un­ erwünschten Prozessen führen und Märtyrer hervorbringen würde, wie es mehrheitlich hieß. Viele Mitglieder der High-Church-Gruppierung fühlten sich durch die Bill in ihrer Abneigung gegenüber Disraeli bestätigt, und sie wendeten sich zwei Jahre später gegen seine Balkanpolitik. Die Bill schadete der konservativen Partei mehr – dadurch dass sie viele gemäßigte Mitglieder des Klerus und des Laienstandes befremdete –, als dass sie ihr in den protestantisch geprägten Gegenden nützte. Gorst warnte Disraeli: „Lässt der Erzbischof von Canterbury nicht von seinen Vorstößen in die Kirchengesetzgebung ab, besteht meiner Ansicht nach die große Gefahr, dass die High-Church-Gruppierung sich von der Regierung lossagt, wie es Gladstone mit den Dissentern passierte.“6 Weil Gorst sich nicht als derjenige anerkannt fühlte, dem, wie er meinte, die Partei ihre neue Machtposition maßgeblich zu verdanken hatte, schlug er zu dieser Zeit, im Dezember 1874, regelmäßig warnende Töne an; es ist allerdings unwahrscheinlich, dass sein Chef sich dadurch in allzu große Unruhe versetzen ließ. Die protestantische Trommel zu rühren, war in diesen Tagen angesagt, mehr als 1868. Die vatikanischen Erlasse von 1870 hatten eine Gegenreaktion ausgelöst. Bismarcks Kulturkampf und Glad­ stones 1875 herausgebrachte Flugschrift über die vatikanischen Erlasse zeugten dafür, dass die Sorge wegen der katholischen Offensive in den unterschiedlichsten Lagern umging. Cross, der bei der Gesetzgebung für innere Angelegenheiten zum Aktivposten unter den Ministern avancieren sollte, zeigte sich enttäuscht darüber, dass Disraeli zum Zeitpunkt seines Machtantritts über kein fertiges Programm verfügte. Er verfasste seine Memoiren 30 Jahre später, als die Dinge sich grundlegend gewandelt hatten. Was sich grob als Fürsorgeregelung bezeichnen ließe, nämlich die staatlicherseits ergriffenen landesweiten Sozialmaßnahmen, hatte inzwischen eine Wichtigkeit erlangt, die sie 1874 nicht hatte. Sieht man einmal von der Gesetzesvorlage des Erzbischofs ab, verlief die Sitzungsperiode von 1874 ereignisarm. Ein Gesetz über die berauschenden Getränke sorgte für eine Ausdehnung der Ausschankzeiten und stellte eine kleine Erkenntlichkeitsgeste an den Handel dar, der den Torys hilfreich zur Seite gestanden hatte. Die Liberalen wurden nicht von einer Flut aus Gin und Bier überrollt, wie Gladstone meinte, das Image der ­Torys profitierte jedoch von der allgemeinen Empfindung, dass auf die Partei Verlass sei und sie sich nicht zwischen die Arbeiter und ihr Getränk stellt. Ein königlicher Untersuchungsausschuss wurde einberufen, der sich mit den Arbeiterrechten befasste. Eine Sofort­maßnahme zugunsten der Arbeiter stellte das neue Fabrikgesetz dar, das die Wochenarbeitszeit von Frauen und Kindern auf maximal 56 ½ Stunden absenkte. Das deckte sich mit den Forderungen der Bewegung für den Neun-Stunden-Arbeitstag. Disraeli mischte sich kaum in die Belange der Ressortminister ein, was einem harmonischen Miteinander förderlich war; witterte er aber ein brisantes politisches Thema, so wurde er aktiv. Northcote, der Schatzkanzler, wollte die

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Einkommensteuer von drei Pence pro Pfund beibehalten, Disraeli bestand jedoch auf einer Absenkung um einen Penny. Als Gladstone in seiner Wahladresse die Abschaffung der Einkommensteuer in Aussicht gestellt hatte – was seine Art war, die Mittelschicht zu ‚schmieren‘ –, hatte sich Northcote an seinen Chef gewandt: „Es scheint, dass eine Senkung der Einkommensteuer das Gleichgewicht zwischen direkten und indirekten Steuern aus den Fugen bringt, und zwar zum Vorteil der Bessergestellten, es sei denn, die indirekten Steuern würden gleich mit gesenkt“.7 Und genau das hatte Disraeli jetzt vor. Die Einkommensteuer wurde um einen Penny gekürzt, die Zuckerzölle wurden abgeschafft und 1,25 Millionen Pfund aufgewendet, um die Abgabenlast bei den Gemeindesteuern für die Irrenhäuser und die Polizei zu mindern. Diese Maßnahmen waren ein Schritt auf den gesellschaftlichen Konsens zu, den Disraeli nach den Jahren der Gladstone’schen ‚Schikanen‘ wieder herstellen wollte. Die Sitzungsperiode von 1875 wurde zu einem annus mirabilis der Disraeli’schen Sozialreform, doch sind sich heutzutage sämtliche Historiker einig, dass die Sozial­ gesetze weder das Resultat eines schlüssigen Programms waren noch das einer weltanschaulichen Position, die sich von der vorherrschenden Auffassung des ökonomischen Liberalismus unterschied. Sie füllten die durch das Ausbleiben einer Verfassungsreform klaffende Lücke. Disraeli trug wenig zu den Gesetzen bei, und er döste bisweilen vor sich hin, wenn sie im Kabinett erörert wurden, war jedoch ganz bei der Sache, als die Rede auf die politischen Folgen kam. Auf längere Sicht waren es die Labour Laws, der Conspiracy and Protection of Property Act [das Gesetz über die Verschwörung und den Eigentumsschutz] und der Employers and Workmen Act [das Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Gesetz], die den bedeutendsten Teil der legislativen Initiative bildeten. Erstere umfassten das Recht darauf, Streikposten aufzustellen, wofür die Gladstone-Regierung keine die Gewerkschaften zufriedenstellende Lösung gefunden hatte. Auch die meisten der Empfehlungen des von Cross 1874 ins Leben gerufenen königlichen Ausschusses hätten die Arbeiterführer nicht zufriedengestellt, doch Cross kam ihnen sehr weit entgegen. Das Verschwörungsgesetz wurde geändert, um die Gewerkschaften in ihren Aktivitäten zu entkriminalisieren, solange es sich nicht um eine an sich verbrecherische Aktion handelte. Das Gesetz über die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer, die nun nicht länger als ‚Herren und Knechte‘ begriffen wurden, befreite die Gewerkschaften und ihre Mitglieder im Falle des Vertragsbruchs von der Strafverfolgung, mit Ausnahme mancher Bereiche im Staatsdienst. Diese Vorschläge stießen im Kabinett offensichtlich auf Vorbehalte. Derby notierte am 29. Mai 1875 in sein Tagebuch: Kabinettssitzung am Nachmittag: wir diskutierten 2¼ Stunden lang die Herr und Knecht und die Verschwörung betreffenden Gesetzesvorlagen: Differenzen im Kleinen: grundsätzlich waren wir uns einig, Salisbury und Carnarvon sagten, sie würden die vorgeschlagenen Gesetze ablehnen, seien aber gleichfalls der Ansicht, dass kein Weg an ihnen vorbeiführt. Disraeli schien zu bezweifeln, dass die Zeit reicht, um mit den Bills in dieser Sitzungsperiode voranzukommen, und es ist ja wirklich reichlich spät, doch wir haben uns ihnen auf Gedeih und Verderb verschrieben, so dass sie nur dann, wenn es absolut nicht anders geht, auf-

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gegeben werden dürfen. Wie schon bei der letzten Sitzung wirkte Disraeli auch diesmal sehr erschöpft: und heute schlief er ein und wachte erst nach ein paar Minuten wieder auf: das habe ich vorher noch nie bei ihm erlebt. Die Arbeit übersteigt die Kräfte eines 70-Jährigen.8

Derbys Darstellung lässt Zweifel an Disraelis späterer Behauptung aufkommen, die einem Brief an Selina entnommen ist: „als Minister X dem Kabinett sein Vorhaben erläuterte, waren viele dagegen und niemand außer mir dafür; und nur aus Ehrerbietung dem Premierminister gegenüber schob man die Entscheidung auf. Mit dem so gewonnenen Abstand wurde die Sache besser begriffen und besser gehandhabt.“ Das war allerdings einen Monat nach der Kabinettssitzung, bei der Derby ihn schlafen sah; in der Zwischenzeit hatte ihn die Euphorie erfasst und er ließ die beiden Schwestern wissen: „Wir haben es hier mit der größten Maßnahme seit dem Gesetz über die kürzere Arbeitszeit zu tun, und sie wird die Arbeiterschaft den Torys auf Dauer gewogen machen.“ „Es handelt sich um eine jener Maßnahmen, die einer Partei ein Fundament verschaffen und sie dadurch festigen. Wir haben die lange und leidige Auseinandersetzung zwischen den Vermögenden und den Arbeitenden beigelegt.“9 Diese Gesetze machten die Arbeiterschaft nicht unendlich dankbar, wie es schon das Gesetz von 1867 nicht vermochte. Offensichtlich konnten die Arbeiterführer nach einer Phase eingetrübter Beziehungen zur liberalen Partei ihre traditionellen Gefolgschaftsbande umstands- wie bedenkenlos wieder aufnehmen. Allgemein lässt sich konstatieren, dass die britischen Gewerkschaften in einer entscheidenden Phase ihrer Entwicklung nicht jenen unablässigen Anfeindungen von staatlicher Seite ausgesetzt waren, mit denen die einschlägigen Organisationen in den meisten großen Ländern Kontinentaleuropas zu kämpfen hatten. Während die konservativen Parteien in den anderen Ländern häufig als blind reaktionär galten, stand die konservative Partei Großbritanniens nicht in diesem Ruf. Disraeli, der Image-Maker per excellence, hatte dafür gesorgt, dass die Wirklichkeit nicht allzu sehr von dem Image abwich, das er zu entwerfen bemüht war. Die sozialreformatorischen Maßnahmen der Sitzungsperiode von 1875 umfassten etliche Gesetze: das über die Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, also die Form der Selbsthilfe unter der Arbeiterschaft, an deren Stelle später der Wohlfahrtsstaat trat; das Gesetz über das Gesundheitswesen, das über die Verfälschung von Nahrungsmitteln, welches insofern ein wichtige Regelung darstellte, als diese zunehmend eingekauft und nicht angebaut wurden; und schließlich das Gesetz über das Wohnungswesen, die Behausungen der Handel- und Gewerbetreibenden, das den städtischen Behörden die Stadtsanierung erleichterte. Die Sorge um die Wohnverhältnisse der Arbeiterschaft hatte bei den Torys eine gewisse Tradition. Shaftesbury war einer ihrer Protagonisten, und Salisbury setzte sie fort. Das Gesetz über die Behausungen der Handel- und Gewerbetreibenden war ‚zulassend‘, d. h. nicht bindend, dem „Charakter eines freien Volkes“ entsprechend, wie Disraeli späterhin in einem anderen Zusammenhang sagte. In all diesen Gesetzen musste die staat­ liche Verantwortlichkeit und die des Einzelnen ausbalanciert werden. Die Bildung und Erziehung stellte ein anderes Feld dar, auf dem Disraeli auch weiterhin ein recht liberales Bild abzugeben suchte, ohne dass sich daraus ein poli-

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tischer Schaden ergeben sollte. Gladstone hatte seine Partei mit seiner Initiative schwer geschädigt. Die Enttäuschung der Nonkonformisten über die Liberalen wegen des Schulgesetzes trug maßgeblich zu deren Niederlage 1874 bei. Manche Torys aus den Städten, darunter einige Lancashire-Abgeordnete und W. H. Smith in London, plädierten indes für die Schulbehörden, bei denen es sich um die bemerkenswerteste Neuerung des Gesetzes handelte. Smith war Mitglied der wichtigen Londoner Schulbehörde. Für das Gros der Torys aus den ländlichen Regionen waren die Schulbehörden Teufelszeug, Zentren des Radikalismus und bedeuteten hohe Kosten für die Kommunen und ihre Steuerkassen. Vor 1874 schlug sich Disraeli entschieden auf die Seite der Schulbehördengegner vom Lande und ließ es nicht zu, dass sich irgendeine Sorge um den Bildungsfortschritt störend auf sein Vorhaben auswirkte, die Gräben bei den Liberalen zu vertiefen. Sandon, ein städtisches Parlamentsmitglied und der Vizepräsident des Bildungsratsausschusses (also ein Art Erziehungsminister), überzeugte das Kabinett 1876, ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das den Schulbesuch auf dem Lande durchsetzen und so die Schülerzahlen erhöhen sollte. Es war eine delikate Aufgabe, für den fortschrittlichen Plan zur Reduzierung des Analphabetismus unter den Kindern der ländlichen Gegenden einzutreten und dabei ‚im Subtext‘ zum Besuch der anglikanischen Schulen zu ermuntern und die Ausbreitung der Schulbehörden in die ländlichen Regionen zu verhindern. Der Tory-Landadel hasste die Schulbehörden nicht nur, er wollte die Kinder als Arbeitskräfte nicht verlieren und sah in der Bildung und Erziehung hauptsächlich ein Instrument, mit dem man auf die Gesellschaft Einfluss nehmen und sie kontrollieren konnte. Insoweit Disraeli ein Interesse an dem Thema nahm, stand er jetzt auf der Seite des Bildungsfortschritts, denn er war bestrebt, das liberale Image der Partei zu pflegen und allem aus dem Weg zu gehen, was ‚rückschrittlich‘ wirkte. Kritisch wurde die Lage im späten Juli 1876, als Sandons Bill im Ausschuss erörtert wurde. Um den Tory-Abgeordneten vom Lande die Dinge schmackhaft zu machen, entschied das Kabinett, einem Abänderungsantrag zuzustimmen, der von Albert Pell, einem Hinterbänkler und führenden Parlamentsmitglied der LandTorys eingebracht worden war. Er sah vor, dass „überflüssige“ Schulbehörden unter gewissen Umständen aufgelöst werden könnten. Die radikalen, nichtanglikanischen Parlamentsabgeordneten reagierten entrüstet. Hardy, einer der Verteidiger der Kirchenschulen im Parlament, schrieb über Henry Richard, den bedeutenden walisischen Nichtanglikaner und Vertreter der Peace Society, er rede „im kleinlichsten Geist der niederträchtigsten Kirchenabtrünnigkeit und stochere im Schmutz auf der Suche nach den alten Geschichten von der Intoleranz“.10 Disraeli, der eine Menge andere Dinge im Kopf hatte, einschließlich sein kommendes Ausscheiden aus dem Parlament, möglicherweise aus der Politik überhaupt, kam ins Schwanken. War er von der „priesterlichen Partei“ verschaukelt worden? Es bedurfte eines Briefes von Salisbury, der von Sandon gewarnt worden war, damit er einsah, dass Pells Klausel bei seinen eigenen Gefolgsleuten zu beliebt war, als dass man sie hätte fallen lassen können. Salisbury erinnerte ihn daran, dass es diese

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Männer waren, die ihn zuvor in der Sitzungsperiode unterstützt hatten, als es um die sehr unbeliebte Bill über die königlichen Titel ging, die die Königin zur Kaiserin von Indien machte. Als die Sache ausgestanden war, erstattete Disraeli der Königin Bericht und ließ es so aussehen, dass er wie der weise Aufpasser der ungezogenen Bengel des politischen Kindergartens wirkte. Zwecklos zu versuchen, die Dissenter [Nichtanglikaner] günstig zu stimmen. Sie nehmen alles, was man ihnen anbietet, und im nächsten Augenblick gehen sie einem an die Kehle. […] In dem Moment, da wir unseren Freunden etwas be­willigten, gab es einen Aufschrei der ‚Reaktion‘, wozu es in Anbetracht der von Mr. Disraeli ausgehandelten Abmachungen eigentlich keinen Grund gab. Einmal kam es zu einer hitzigen Kabinettssitzung, bei der Mr. Disraeli all seine Erfahrung einsetzen musste, um sie leiten und auf die Teilnehmer beschwichtigend ein­wirken zu können.11

Mit Blick auf die ersten drei Sitzungsperioden dieses Parlaments muss man sagen, dass er tatsächlich nahezu so überlegen und dominant war, wie er es darstellte. Die Opposition war ungeordnet und Gladstone hatte die Führung der Liberalen formell abgegeben. Er ließ sich gelegentlich blicken; seinen Auftritt im März 1875 schilderte Disraeli der Königin als „die Rückkehr von Elba: Mr. Gladstone erschien nicht bloß, sondern rauschte in die Debatte [über eine Armee-Bill]. Dem Haus, das sehr voll war, verschlug es den Atem. Die neuen Mitglieder erschauerten und flatterten wie kleine Vögel, wenn ein Falke am Himmel ist.“12 Lord Hartington, der zukünftige 8. Duke of Devonshire, wurde der neue Anführer der Liberalen im Unterhaus; mit ihm und Granville, der an der Spitze der liberalen Peers stand, hatte die Partei einmal mehr zu Whig-Führern reinsten Wassers gegriffen. Disraeli war ganz aus dem Häuschen: „Die politische Welt war nie unterhaltsamer und amüsanter. Ich bin froh, dass Harty-Tarty [Hartington] das Rennen gemacht hat. Noch nie gab es eine Partei in solch starker Position, und wenngleich ich es niemandem gegenüber aussprechen würde, dir sage ich es, noch nie konnte ein Mann sich einer Stellung rühmen, die fester war, als es die meinige ist. Das kam nie vor, und es ist nicht wahrscheinlich, dass das jemals wieder vorkommen wird. Nur die, die Gladstones Boshaftigkeit aus einer 25 Jahre währenden Rivalität kennen, können nachempfinden, was das bedeutet“.13 In dem „großen Spiel“ der Politik gab es jedoch auch jähe Sturmböen und Unwetter, wie Disraeli nur zu gut wusste, und ihm als dem Premierminister oblag es, seine Mannschaft aus dem Schlamassel herauszuholen, in das sie sich selbst hineingeritten hatte. Noch heute erinnert man sich des Plimsoll-Vorfalls, jenes Ereignisses vom Juli 1875, als Samuel Plimsoll, der Abgeordnete für Derby, Disraeli im Unterhaus mit der Faust drohte. Plimsoll hatte einen langen Kampf gegen die „Seelenverkäufer“ geführt, die nicht seetüchtigen Schiffe, in denen viele Handelsseeleute den Tod fanden. Seine Kampagne traf den Nerv der Öffentlichkeit, für die die Seemänner in der Rangordnung der Arbeiter den Platz innehatten, den später die Bergleute einnahmen. Die Gesetzgebung zur Handelsmarine stand also stärker im Fokus der Öffentlichkeit als die anderen sozialgesetzgeberischen Initiativen der Regierung. Unglücklicherweise lag sie in den Händen von Charles Adderley, einem charmanten, aber unfähigen Edelmann vom Lande,

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den Disraeli zum Präsidenten des Board of Trade (Handelsminister) gemacht hatte. Er war Thomas Farrer, dem höchsten Beamten des Boards und Schwager North­ cotes, nicht gewachsen. Farrer und seine Kollegen aus dem Staatsdienst benahmen sich Plimsoll gegenüber herablassend und legten die gleiche Herablassung auch dessen Idee gegenüber an den Tag, die Schiffe mit Beladungsmarkierungen, den Ladelinien zu versehen (dann Plimsoll Line genannt). Unter den Arbeitgebern, die jetzt auf den Tory-Hinterbänken saßen, befanden sich Schiffseigentümer wie ­Edward Bates, Abgeordneter für Plymouth, und David MacIver, Abgeordneter für Birkenhead. Die Lage verschlimmerte sich noch durch die Bill über den Agrarbesitz, die vorsah, die Pachtbauern im Wert ihrer noch nicht amortisierten Investitionen zu entschädigen. Sie sollte die Partei in den ländlichen Regionen konsolidieren helfen, erregte jedoch das Misstrauen vieler Verpächter, ohne die Interessen der Pächter zu befriedigen. Der Plimsoll-Vorfall, ein frühes Beispiel für die Schlagzeilenhascherei, ereignete sich, als Disraeli die Bill über die Handelsschifffahrt fallenlassen wollte, um die Agrarbesitz-Bill zu Ende zu bringen. In der Sorge um die furchtlosen Handelsmatrosen kündigt sich bereits die Kampagne an, zu der es im Namen der auf dem Balkan unterdrückten Christen ein Jahr später kommen wird. Auch manche Torys waren derart ‚plimsollisiert‘, dass man nicht voll auf sie rechnen konnte. „Die Plimsolliten innerhalb und außerhalb des Parlaments machen mir zu schaffen; mal schmeicheln sie, und dann wieder verbreiten sie Terror“, ließ er Selina wissen. „Der Herr Minister Cross, der selbstredend ein tapferer Mann ist, ängstigte sich so um seinen Chef [für dessen Sicherheit er als Innenminister verantwortlich war], dass, wie ich vermute, 1000 Schutzmänner in und um die Häuschen von White­hall Gardens versteckt waren.“ Natürlich ging unser Held siegreich aus dem Geschehen hervor, obwohl auch er Selina zugeben musste: „Es war ‚okay‘, aber nicht gerade glorreich.“14 Disraeli wusste sich von den Problemen zu befreien, die er sich zum Teil selbst eingebrockt hatte. Er brauchte allerdings noch drei Jahre, um Adderley aus dem Board of Trade zu entfernen. Die Leute um Disraeli herum stellten fest, dass er in entscheidenden Momenten müde und kraftlos war und unter seiner Normalform blieb. Henry Lucy, der renommierte Parlamentsberichterstatter, verglich ihn mit einer an Glanz verlierenden Primadonna: „der Premierminister gibt sich zwar betont heiter und verwegen, verfehlt allerdings regelmäßig den richtigen Einsatz und den richtigen Ton, was ihn ungeschlacht wirken lässt.“15 Ein Großteil dessen, was ihm sein Arzt Sir William Gull gegen die Gicht und das Bronchialasthma verordnete, wie etwa große Mengen an Portwein, würde heutzutage als kontraproduktiv und abträglich betrachtet werden, dennoch aber bewies er eine bemerkenswerte Widerstandfähigkeit. Als im November 1875 in den Kabinettstreffen das Programm für die nächtse Sitzungsperiode erörtet wurde, hielt Derby fest, dass Disraeli nicht viel unternehmen wollte, im Gegensatz zu Cross, der verhalten andeutete, dass es immer noch viel zu tun gebe. Disraeli weiß wie kein zweiter, was die Allgemeinheit in einer schwierigen Frage von uns erwartet: und kaum jemand versteht es so wie er, sich aus Verlegenheiten zu befreien: um die Kleinigkeiten aber kümmert er sich nicht gern, ihrer wird er leicht überdrüssig und er schert sich wenig um die Vorbereitung

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von Gesetzesvorlagen, solange die Sitzungsperiode noch fern ist. Er ist bei guter Gesundheit und in hervorragender geistiger Verfassung, aber man sieht ihm sein hohes Alter an.16

Sich um die Königin zu kümmern – „die Fee“, wie er sie in seinen privaten Briefen jetzt immer nannte – und um die Angelegenheiten des Königshauses im Allgemeinen, das kostete ihn viel Kraft. Die Beziehungen zwischen der Herrscherin und ihrem Minister rückten durch ihre Ernennung zur Kaiserin von Indien im Jahre 1876 in den Fokus der Öffentlichkeit. Diese Ernennung passte in die Ideenwelt Disraelis, hatte er doch häufig ausgeführt, es sei geboten, die Fantasie der Völker des Ostens anzusprechen und in ihre Vorstellungswelt vorzudringen. Unvorteilhaft fand er allerdings die Zeitvorstellung der Königin, die zu Beginn der Sitzungsperiode von 1876 darauf drängte, in dieser Sache voranzukommen. Derby sagte er, „sie tut das, weil ihre Tochter in den kaiserlichen Rang aufsteigen wird [als deutsche Kaiserin] und ihr die Vorstellung, eine niedrigere Stellung einzunehmen, unerträglich ist“.17 Disraeli war der Königin und ihrem Willen gegenüber in einer ungewöhnlich schwachen Position, denn sie hatte das Parlament in jenem Jahr das erste Mal seit langem wieder persönlich eröffnet. Er sah sich gezwungen, sein politisches Ansehen für die Verabschiedung der Gesetzesvorlage über die königlichen Titel aufs Spiel zu setzen. Diese Bill war über alle Partei- und Klassengrenzen hinweg unbeliebt, zudem empfand man den Titel ‚Kaiserin‘ als unenglisch. Die Königin zeigte sich über den Widerstand gegen den Kaiserinnentitel erbost, und Disraeli musste sie mit großen Dosen an unterwürfiger Schmeichelei behandeln, in der auch sie die unübliche Prise Salz bemerkt haben dürfte. „Er ist zu gefügig & schmeichlerisch in solchen Dingen“, fand Derby.18 Der Premier wusste wie alle Mitglieder der politischen Klasse beider Parteien, dass die Königin den unverzichtbaren Schlussstein der Ordnung bildete, die sie bedienten. In dem Bild, das er der konservativen Partei zu verleihen suchte, war die Monarchie doppelt unentbehrlich. Disraeli katzbuckelte vor der eigensinnigen, oft absonderlichen, aber sehr erfahrenen und nicht unintelligenten Frau auf dem Thron nicht allein um seiner Vorteile und Annehmlichkeiten willen oder zur Befriedigung seiner romantischen Gefühle. Er belebte die Monarchie wieder nach einer Phase der Unbeliebtheit, in der sie Schaden genommen hatte, und schuf die Grundlagen für die imperiale Monarchie, die im goldenen und im diamantenen Thronjubiläum der Königin zur vollen Blüte gelangte. Salisbury teilte er bezüglich des Kaiserinnentitels mit: „Was wie die überschäumende Eitelkeit einer Einzelnen gewirkt haben mag, gleicht doch wohl eher einer starken und umsichtigen Strategie.“19 In der Beziehung zwischen einem ersten Minister, der die wirkliche Macht ausübt, und einer konstitutionellen Monarchin gibt es zwangsläufig ein Element des Glaubenmachens oder -lassens. Wenn die Umstände es unbedingt erforderten, konnte er sie auf den Boden der Tatsachen zurückholen, indem er andeutete, dass sie sich im Fall der Fälle andere Minister würde suchen müssen. Der Streit um den Kaiserinnentitel fiel im Unterhaus mit der Ratifizierung des Kaufs der Suez-Kanal-Anteile zusammen, Disraelis erstem außenpolitischen Coup. Das Wort ‚Imperialismus‘ fand Eingang in den politischen Diskurs, wobei

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die Presse zumeist in einem abwertenden Sinne von ihm Gebrauch machte. Die rationalen liberalen Geister wurden von Alpträumen geplagt, in denen ein anmaßender Minister sich der Kaiserkrone bediente, um die leicht zu beeindruckende Volksseele zu blenden. ‚Caesarismus‘, sagten seine Gegner dazu; diese Regierungsform ließ bereits erahnen, was im 20. Jahrhundert als die um einen charismatischen Führer herum errichtete plebiszitäre Diktatur in Erscheinung trat. Im April 1876 hieß es in einem Spectator-Artikel mit dem Titel ‚Der englische Imperialismus‘: Es ist nicht leicht, sich vorzustellen, dass solch eine Politik wie die der ‚Imperialisten‘ […] auch auf diesen Inseln heimisch ist. […] Mr. Disraeli hat sehr früh in seiner Laufbahn begriffen, dass solch eine Politik – eine Politik, die einerseits die Krone verherrlicht und andererseits den Willen der Menge preist, und die die konstitutionellen Beschränkungen, denen beide unterliegen, abtut – in Europa nach wie vor möglich ist und sogar in England eine Chance haben könnte.“20

Disraeli ging es in erster Linie darum, Macht und Prestige des Vereinigten König­reichs zu wahren. Großbritannien verfügte zwar nicht über eine Armee, die es mit denen der Kontinentalmächte hätte aufnehmen können, es hatte jedoch eine Marine und war ein weltumspannendes Empire. Sein Gewicht in der Welt wurde zumal durch den Besitz Indiens außerordentlich verstärkt. Bevor ­Disraeli 1874 zurück an die Macht gelangt war, hatten seine Angriffe gegen die Auf­lösungspolitik der Liberalen und ihren Kosmopolitismus vermuten lassen, dass sich die Außenpolitik mit ihm ändern würde, doch seine Strategie war genauso unbestimmt wie an der Heimatfront. Die Premierminister sahen im Außenministerium von jeher das Staatsressort, auf das sie ein natürliches Anrecht hatten. Trotz all seiner persönlichen Schwächen war Derby ein starker Außenminister wegen seiner engen langjährigen Beziehungen zum Premier. Disraeli war mit ihm in persön­ licher und politischer Hinsicht auf so komplexe Weise verbunden, dass er sich darüber selbst kaum hätte Rechenschaft ablegen können, geschweige denn anderen. Als die Königin sich über „diese sehr seltsame Person Lord D.“ beklagte, mit der „sehr schwer zurechtzukommen“ sei, teilte Disraeli ihr mit, dass er „ihn eindringlich gebeten [hatte], sich auf sein Potenzial zu besinnen und in der bevorstehenden Audienz seine eiserne Rüstung abzulegen“.21 Er verwendete große Mühen darauf, Derbys Selbstwertgefühl zu stärken, das unter anderem durch die übermächtige Persönlichkeit seines Vaters Schaden genommen hatte. Dennoch aber ließ er ihm sehr viele Freiheiten, wie allen anderen Ministern auch, und machte vom Vorrecht des Premierministers auf die Außenpolitik weniger Gebrauch als möglich. Derby seinerseits war sich sehr wohl der Kluft bewusst, die ihn als Persönlichkeit von seinem Führer trennte, obwohl sie über eine Generation hinweg sehr enge Beziehungen gepflegt hatten. Als in der Frühzeit der Balkankrise Berichte über Differenzen zwischen ihm und seinem Chef die Runde machten, schrieb er, am 1. Juli 1876, in sein Tagebuch: Die Berichte haben ihren Ursprung in der offenkundigen Verschiedenheit unserer Standpunkte und unserer Art, dergleichen Dinge zu handhaben: D. ist etwas zu erpicht darauf, eine interessante Figur abzugeben, sein Publikum in Erstaunen und Verblüffung zu ver­

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setzen, indem er geheimnisvoll tut, und er gibt sich im Allgemeinen den Anschein großer Aktivität, die er aber entweder gar nicht an den Tag legt oder derer es gar nicht bedarf. Von mir wiederum heißt es, vielleicht zurecht, ich neigte dazu, mich an unseren Unternehmungen möglichst wenig zu beteiligen. Dennoch aber sind wir uns in Hinblick auf das, was zu tun ist, stets einig: und ich sehe keinen Grund, weshalb sich daran etwas ändern sollte. Es ist eine von D.s Eigenheiten, dass er es nicht mag, wenn auswärtige Angelegenheiten im Kabinett diskutiert werden.22

Der Kauf der Anteile am Suez-Kanal wurde im Kabinett lang und breit er­ örtert, und Derby stand voll hinter der ergriffenen Maßnahme. Andere, allen voran Schatzkanzler Northcote, waren zögerlicher und beunruhigten sich wegen der Höhe der Vergütung, die Rothschild als Agent bekommen hatte. Seit einiger Zeit waren Gerüchte im Umlauf gewesen, dass Anteile auf den Markt kommen könnten, und Disraelis Behauptung traf zweifellos zu, dass er viel über die Angelenheit nachgedacht hatte. Der Erwerb selbst sicherte lediglich 44 Prozent der ursprünglichen Emission und damit nicht einmal eine Mehrheitsbeteiligung an der Suez-Kanal-Gesellschaft. Disraeli lobte ihn jedoch öffentlich „als eine politische Transaktion und noch dazu eine, die darauf ausgerichtet ist, das Empire zu stärken und zu festigen, was ihr meiner Überzeugung nach auch gelingen wird“. Das Ausland bekam einen Eindruck von der britischen Macht und Durchsetzungsfähigkeit. Langfristig gesehen war das Ganze ein Schritt hin zur britischen Kontrolle Ägyptens, wobei es Disraeli selbst mit dieser Entwicklung nicht sonderlich eilig hatte. Zuhause wurde die Aktion begrüßt und das zeigte, dass die Öffentlichkeit nicht immer den rein ‚ökonomischen‘ Belangen den Vorzug gab. Die Balkankrise hatte bereits ihren Anfang genommen. Der Aufstand der Christen gegen die türkische Herrschaft begann im Juli 1875 in Bosnien-Herzegowina, in der Nähe von Mostar und wurde zu einem Problem für die politischen Entscheidungsträger der europäischen Großmächte. Kurz bevor die Suez-Kanal-Anteile auf den Markt kamen, erörterte Disraeli das türkische Problem mit Derby. Dieser schrieb am 3. November 1875 in sein Tagebuch: „Er macht sich viele Gedanken über die türkische Angelegenheit, glaubt, das Ende sei nah, und sieht keine Möglichkeit, dem Sultan beizuspringen: stimmt mit mir überein, dass sich der Fall der Pfandbriefinhaber nicht als eine Ausnahme abtun lässt, ist jedoch der Auffassung, ein Bankrott des Sultans werde die Gefühle der Engländer gegenüber der Türkei in einer Weise beeinflussen, dass an eine Fortsetzung der alten politischen Strategie, nämlich die Politik der Türkei zu unterstützen, nicht zu denken ist.“23 Disraeli ging die Krise relativ vorurteilslos an, aber auch ohne vorgefasste Strategie, wobei er auf solche Strategien von jeher nicht besonders vertraute. Und selbst dann hätte er Salisbury zugestimmt, der 18 Monate später davor warnte, „sich an die alten Kadaver toter Strategien zu klammern“, namentlich an die alte Unterstützungspolitik für die Türkei.24 Sechs Monate später schrieb Disraeli an Derby: „unser Vorgehen sollte sich […] am Status Quo ausrichten, aber in einem liberalen, freiheitlichen Sinne verstanden, so dass wir unter Umständen weitere Vasallenstaaten schaffen. Ich denke, man täte besser daran, das Hoheitsgebiet von Montenegro oder von Serbien

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nicht auszuweiten“.25 Disraeli war also nicht pro-türkisch und auch nicht da­gegen, die Nationalitäten auf dem Balkan in die Autonomie zu entlassen, aber er sympathisierte weder mit der emotionalen Feindseligkeit den Türken gegenüber noch mit der Begeisterung für die Balkan-Christen wie so viele andere. Er bezweifelte, dass aus Landstrichen mit unterschiedlichen Ethnien, wie etwa Bosnien, funktionsfähige Staaten werden könnten. „Die fixe Idee von der Autonomie Bosniens mit seiner gemischten Bevölkerung: die Autonomie für Irland wäre weniger absurd, denn es gibt in Bosnien mehr Türken im Verhältnis zu den Christen als Ulster zu den drei anderen Provinzen“, stellte er im Oktober 1875 Selina gegenüber fest.26 Sein Wissen über den Balkan wies allerdings zahlreiche Lücken auf. Ihm ging es in der Hauptsache um die Wahrung der nationalen britischen Interessen, und er achtete auch sehr darauf, dass hierüber keine Missverständnisse aufkamen. Mit Bismarck wäre er gern zu einem Einvernehmen gelangt, doch als das in den ersten Monaten 1876 greifbar schien, sorgten Derbys Misstrauen und dessen Halbherzigkeit dafür, dass die Gelegenheit ungenutzt verstrich. Disraeli hätte sich mit Russland zusammengetan und eine Teilung des Osmanischen Reiches vorangetrieben, wenn das zu annehmbaren Bedingungen realisierbar gewesen wäre: „Es wäre klug, wenn wir vorangingen [bei der Teilung]. Das würde unsere Erfolgsaussichten erhöhen, weil keiner das von uns erwartet“, schrieb er Derby im September 1876.27 Salisbury sah es einem von seinem Neffen A. J. Balfour verfassten Bericht zufolge kritisch, dass Disraeli eine klare Linie in der Krise vermissen ließ: „Als Politiker griff er bemerkenswert kurz, wenngleich er sehr klar sah. Weder konnte noch wollte er weit voraus blicken oder sich darauf einlassen, in der fernen Zukunft liegende Möglichkeiten durchzuspielen; aber er erkannte, wo die Probleme hier und jetzt lagen und fand die einfachste, wenn nicht die beste Lösung für sie. Als Kabinettsoberhaupt fehlte es ihm an Bestimmtheit. […] ein Staatsmann, dessen einziger ultimativer politischer Grundsatz lautete: das Auseinanderbrechen der Partei muss unter allen Umständen verhindert werden.“ Am aufschlussreichsten ist der kritische Einwand, dass „Dizzy bis zuletzt davor zurückschreckte, all die Dinge konsequent anzugehen, denen Lord Derby seine Zustimmung verweigert hätte“.28 Disraeli fürchtete, ein Ausscheiden Derbys, würde zu erheblichen Stimmverlusten führen, darüber hinaus aber scheint es, als seien ihm die tief verankerten Instinkte eines Gefolgsmanns des Hauses Stanley bei seinem Umgang mit dem Außenminister hinderlich gewesen. Seinem Ärger machte er stattdessen durch zahlreiche Schmähbriefe gegen das Außenministerium und gegen die wichtigen Botschafter Luft. Trotz solcher Irritationen, trotz des Arbeitsdrucks und der an­geschlagenen Gesundheit übte er sein Amt nach wie vor gern aus. Selina schrieb er am 20. Juni 1876, als die Krise sich verschärfte: „Mir geht es ziemlich gut, wenngleich ich mehr zu tun habe, als den Normalsterblichen gemeinhin auf­erlegt ist. Es ist freilich interessant, und nach Anteilen und Steuern, tut la haute politique wohl: sie lohnt das Leben. Unglücklicherweise habe ich sonst wenig, wofür es sich zu leben lohnt.29 Der Umgang der Regierung mit der Balkan-Krise hatte bis dato nur zu wenigen Kontroversen geführt. Disraeli hatte Anfang 1876 widerwillig der Andrássy-Note

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zugestimmt, die auf Reformen vonseiten der Regierung des Osmanischen Reiches drängte. Seine meistbeachtete Initiative war die Absage (im Mai 1876) an das Berlin-Memorandum, den von Russland, Österreich und Deutschland unterbreiteten Vorschlag für einen Waffenstillstand zwischen den Aufständischen in Bosnien und der türkischen Regierung. Es gab naheliegende substanzielle Einwände gegen das Memorandum, doch Disraeli machte vornehmlich geltend, dass Großbritannien nicht viel stärker eingebunden worden war. Seit seiner Rückkehr an die Regierung hatte er sich darum bemüht, den britischen Einfluss gegen die europäische Dominanz der drei ‚Höfe des Nordens‘ – auch Dreikaiserbund genannt – geltend zu machen und zu vergrößern. Die Gefahr bestand darin, dass Großbritannien, indem es sich von den drei Mächten absonderte, der Uneinsichtigkeit und Unnachgiebigkeit auf türkischer Seite Vorschub leistet, vorerst aber schien es die richtige Entscheidung zu sein. „Ich kann mich an kein Kabinett erinnern, das sich derart einig war: wir können uns glücklich schätzen, denn unsere Entscheidung wird viel Kritik auf sich ziehen, obgleich ich der Überzeugung bin, dass sie im Großen und Ganzen gut ankommen wird“, hielt Derby am 16. Mai in seinem Tagebuch fest.30 Als im Juni Nachrichten von türkischen Gräueltaten eintrafen, sperrte sich Disraeli instinktiv dagegen, sich bangemachen zu lassen und tat die Sache – auch weil ihm genauere Informationen fehlten – verächtlich ab; die einschlägigen Äußerungen fielen ihm später auf die Füße. Insbesondere erinnerte man sich der Wendung, von der er am 10. Juli im Unterhaus Gebrauch machte: „Ich bezweifle […] dass ein orientalisches Volk sich in großem Umfang der Folter bediente, das, wie ich glaube, kaum je auf die Folter zurückgreift, weil es sich gar nicht erst so lange mit den schuldig gewordenen Personen aufhält, sondern sich ihrer prompter entledigt.“ Die Parlamentarier lachten, doch Disraeli wollte gar keinen Witz machen – das war seine barocke Art zu reden, die er sich angewöhnt hatte. Drei Wochen später bezog er sich auf die Berichte als „Kaffeehausgeschwätz“. Solche Äußerungen waren riskant, zumal als kurz darauf seine politische Strategie ins Kreuzfeuer der Kritik geriet, verstärkt noch durch die immer konkreteren Berichte über die Gräuel in Bulgarien. In seiner letzten Rede vor dem Unterhaus, die er am 11. August hielt und worin er diese Politik verteidigte, schlug er erneut den hohen imperialen Ton an. Die türkische Seite wurde nicht „aus blindem Glauben [unterstützt] oder weil es uns nicht danach verlangt, den höchsten Ansprüchen an die Menschlichkeit zu ge­ nügen […] Die Lage ist kritisch, und da ist es unsere Pflicht, Englands Empire zu erhalten.“31 Als er hinter den Rednerstuhl zurücktrat und sich umwandte, um den Schauplatz seiner Triumphe der letzten 30 Jahre zu überblicken, hatte er Tränen in den Augen. Sein Entschluss, weiter zu amtieren, sich jedoch als Earl of Beaconsfield ins Oberhaus zurückzuziehen, machte deutlich, dass er zu einem solchen Zeitpunkt nicht ‚loslassen‘ konnte. Ein Jahr zuvor wäre es ihm vielleicht möglich gewesen, an Derby zu übergeben, doch mittlerweile hätte der Außenminister, der bei der Allgemeinheit nach wie vor hohes Ansehen genoss, Schwierigkeiten gehabt, genügend Befürworter unter seinen Kollegen zu finden. Weder Hardy noch Northcote wären tragfähige Kandidaten für den Kabinettsvorsitz gewesen. Es war

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schon schwierig genug zu entscheiden, wer von den beiden die Führerschaft im Unterhaus übernehmen sollte. Hardy galt als der bessere Debattierer, seine hochanglikanischen Ansichten stellten jedoch ein Hindernis dar. Folglich fiel die Wahl auf Northcote, einen überaus passablen Politiker; als jedoch Gladstone vier Jahre später als Premierminister zurückkehrte, erwies Northcote sich nicht als gleichwertiges Pendant. Gladstone, vorerst nur einfaches Mitglied des Parlaments, hatte seine erste milde Kritik an der Balkan-Politik der Regierung am 31. Juli vorgebracht. Im Laufe des Augusts gelangte er zu der Überzeugung, dass die anwachsende Volksbewegung wegen der Gräuel in Bulgarien die Rückkehr einer „rechtschaffenen Leidenschaft“ bedeutete und seine Unterstützung brauchte. Anfang September veröffentlichte er seine Streitschrift Grausame Geschehnisse in Bulgarien und die Ostfrage, von der bis Ende des Monats 200.000 Exemplare abgesetzt wurden. Sein Wiedereinstieg in die aktive Politik zeigte aus Sicht seiner Gegner, dass sein Ausscheiden von Anfang an geheuchelt war. Der Umstand aber, dass er sich der Bewegung mit Ver­ zögerung anschloss, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass er sich einigermaßen unwillig in die Sache hineinziehen ließ. Seine Empfehlungen für die Balkan-Politik waren zurückhaltend, im Gegensatz zu der moralischen Leidenschaft, mit der er die Regierung anklagte. Dass Disraeli an deren Spitze stand, stachelte ihn wiederum an, sich noch stärker in der Opposition zu engagieren. Die Kluft, die die beiden Männer als Personen sowie in politischer und emotionaler Hinsicht trennte, nahm wahrhaft abgründige Ausmaße an. Gladstone sah in Disraeli einen Handlanger des schlechthin Bösen, der alle gesunden Grundsätze der Politik in den Staub trat, ja auslöschte. Wie viele andere glaubte auch er, dass der Premierminister ein pro-türkisches Komplott schmiedete, weil er Jude war und jüdisch fühlte, was wiederum die einzige aufrichtige Empfindung dieses „durch und durch falschen Mannes“ sei. Die Dämonisierung war total. Disraeli begegnete dem Hass vielleicht eine Spur weniger irrational. Für ihn war Gladstone ein Scheinheiliger, „ein einziger Tartuffe von Anfang an. Diese Sorte Mensch wird nicht [erst] mit 70 Jahren närrisch“, stellte er Selina gegenüber fest.32 Andere sahen in Gladstone einen klinisch Verrückten, nicht zuletzt die Königin. Die wegen der Gräuel in Bulgarien losgetretene Kampagne und die Tatsache, dass auf jeder Seite der Kluft solch dominante Gestalten wie Gladstone und Disraeli standen, wirkten sich nachteilig auf den Fortgang der diplomatischen Krise aus. Die Verwicklungen der GräuelKampagne – und das war ihre auf längere Sicht wichtigste Folge – trugen ihren Teil zur Zersplitterung und Schwächung der liberalen Bewegung bei, die die Szenerie so lange beherrscht hatte. Die liberalen Intellektuellen begannen an der Fortentwicklung der Menschen zu zweifeln. Sie fragten sich zunehmend, ob Gladstones Glauben an die „rechtschaffene Leidenschaft“ der Massen nicht vielleicht eine Art Selbstbetrug war, oder noch schlimmer, demagogisch vorgeschützt. Die Spaltung von 1886 – aufgrund der Uneinigkeit über die autonome Selbstverwaltung Irlands – kündigte sich bereits undeutlich an, ebenso die Geburt des liberalen Imperialismus.

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Vorläufig jedoch war die Grundstimmung unter den Intellektuellen, auch unter denen, die dem Liberalismus nicht sonderlich nahestanden, geprägt vom Misstrauen gegenüber Disraeli, „einem der unverbesserlichsten Lügner in der Christenheit“, wie Canon MacColl, einer der Anführer der Gräuel-Kampagne und ein Freund Gladstones, ihn nannte.33 In der Christenheit, nicht (von) der Christenheit, das war der Haken an der Geschichte. Was Disraeli in der Vergangenheit über das Judentum, das Christentum, die Moslems und den Orient geschrieben hatte, suchte ihn heim und spukte in den Köpfen der anderen herum. Seine ‚Träumereien‘ über die Rasse klangen im Zeitalter Darwins weniger träumerisch. Die Rassen standen nun unter dem Zeichen des biologischen Determinismus. Aus dem populistischen Antisemitismus seiner Jugend war eine Ideologie geworden, die die Juden für die meisten realen und eingebildeten Sorgen und Nöte der Moderne verantwortlich machte. Für diejenigen, die an eine jüdische Weltverschwörung glauben wollten, war Disraeli zusammen mit den Rothschilds geradezu ein ‚Segen‘. Aus den Wortführern der Kampagne stach E. A. Freeman als derjenige heraus, der Disraeli – „den ewig lügenden Juden“, der einem christlichen Staat eine „Hebräer-Politik“ aufnötigte – am heftigsten verunglimpfte und dessen Ausführungen am weitesten in den Bereich der Paranoia hineinführten. Freeman war einer der vielen Hochanglikaner, die sich in der Gräuel-Kampagne hervortaten. Sie waren den griechischorthodoxen Christen auf dem Balkan besonders zugetan, viele von ihnen trugen jedoch auch einen Hass auf Disraeli mit sich herum. Freeman zählte zu den Historikern und Verfassungsrechtlern, die der Idee von einem altenglischen oder angelsächsischen Auftrag hinsichtlich der Entfaltung der Freiheit und der freien Institutionen nachhingen. Dieser Auftrag sei durch die anmaßende Selbstdarstellung des Juden-Fremdlings verfälscht worden, der sich im Vorbeigehen und behelfsweise einer edlen Sache bemächtigt hätte. Die aufgrund der Gräuel in Bulgarien ange­stoßene Kampagne hätte womöglich nicht diese Ausmaße angenommen, und sie wäre sicherlich weniger leidenschaftlich geführt worden, wenn Disraeli nicht eine solch ideale Zielscheibe abgegeben hätte. Er und Gladstone wurden halb gegen ihren Willen zu Ikonen, die ihre Botschaft noch verbreiteten, als diese Krise lange schon vorbei war. Beide waren sie Opfer eines politischen Übertönungswettkampfs: ihre Botschaften erreichten die Empfänger nur bruchstückhaft und verzerrt, die maßvollen und sachlichen Töne blieben ungehört. Disraelis Erhebung in den Adelsstand machte in Buckinghamshire eine Nachwahl erforderlich. Diese war ein erster Meinungstest, nachdem sich Gladstone in die Gräuel-Kampagne eingeschaltet hatte. In einer am Wahlabend in Aylesbury gehaltenen Rede ging Disraeli öffentlich auf die Hetze ein und warnte davor, dass „intrigante Politiker“ versuchen könnten, die edlen Empfindungen der Engländer „für ihre dunklen Zwecke“ auszunutzen. Die Torys behaupteten den Sitz mit einer verringerten Mehrheit. Ein Seufzer der Erleichterung ging durch die Reihen der Regierungsbefürworter, angefangen bei der Königin. Ihrer aller Zuversicht war von dem Ausmaß und Umfang der Hetztiraden erschüttert worden; dennoch zeigten sie sich fest entschlossen, nicht den Eindruck zu erwecken, als würden sie sich

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von einer Gefühlsaufwallung der Leute, die von dem „Greenwich-Tartuffe“ aufgebauscht worden war, vom Kurs abbringen lassen. Disraeli und Derby weigerten sich einzuräumen, dass sie an ihrer Politik der Vergangenheit irgendetwas bedauern müssten oder dass sie eine Mitschuld an den türkischen Gräueltaten trügen. Privat musste Disraeli zugeben, dass sich die Gräuel-Kampagne nachteilig auf den Stil der britischen Diplomatie ausgewirkt, ihn sozusagen verkrampft hatte. Es wäre wohl besser gewesen, er hätte die Gräuel öffentlichkeitswirksamer verurteilt und sein Bedauern mit den Opfern zum Ausdruck gebracht, und damit dem Willen einiger seiner Kollegen entsprochen. Bereits am 1. September 1876 hatte er an Selina geschrieben: „Alles ist gegen uns gelaufen – am allermeisten aber die ‚Gräuel in Bulgarien‘, die die Meinung in England hinsichtlich der Türken haben kippen lassen, angetrieben nicht bloß von den Schwärmern, sondern auch von der Opposition und von russischen Agenten; die Regierung hat freilich genauso wenig mit den Gräuel zu schaffen wie der Mann im Mond.“34 Nach St. Petersburg gerichtete Drohungen im Namen der türkischen Integrität hatten vorerst ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Disraeli fühlte sich gelegentlich entmutigt, alles in allem aber blieb ihm das Glück treu und half ihm durch die zahlreichen Drehungen und Wendungen dieser langwierigen Krise. Im Herbst 1876 nahm die Unterstützung im Land für die Hetze merklich ab; zudem muss man sagen, dass es eine ganze Menge Liberale gab, darunter die Führer Hartington und Granville, die nie sonderlich mit ihr sympathisiert hatten. Im diplomatischen Poker mit Russland tat Disraeli sein Bestes, um die Vorstöße seines Außenministers, der vor größeren Provokationen zurückschreckte, robuster aussehen zu lassen. Als Disraeli im November 1876 in seiner Rede bei dem alljährlich vom Lord Mayor, dem Londoner Oberbürgermeister, veranstalteten Dinner erklärte, dass „England, obwohl es sich den Frieden auf die politischen Fahnen geschrieben hat, so gut für den Krieg gerüstet ist wie kein anderes Land“, empörten sich ­Gladstone und andere Wortführer der Gräuel-Kampagne. Einen Monat später hielten sie in der St. James Hall eine Versammlung ab, an der eine ganze Reihe von namhaften Koryphäen teilnahm, unter anderen Lord Acton, Charles Darwin, ­Anthony Trollope, John Ruskin, William Morris, sowie zahlreiche Politiker, darunter auch Torys wie etwa Shaftesbury. Nur Disraeli konnte eine solch bunt gemischte Truppe gegen sich zusammenbringen. Hartington sagte seine Teilnahme ab, und auch Granville blieb der Veranstaltung fern, wenngleich er Gladstone zu seiner Rede beglückwünschte. Es war eine gemäßigte Rede; für mehr Gesprächsstoff sorgte hingegen, dass er sich Arm in Arm mit der glamorösen Madame Nowikow zeigte, der Verbündeten von Ignatiew, dem Verfechter des Panslawismus unter den russischen Führungsgestalten. Es ist unwahrscheinlich, dass die Versammlung den Zielen Gladstones und seiner Mitstreiter in der Gräuel-Kampagne förderlich war. Hartington urteilte: „Weder Gladstone noch sonst irgendwer verwahrte sich mit einer Silbe gegen die Verstiegenheiten Freemans und ein paar anderer; mir schien, dass sie die ganze Veranstaltung mehr oder weniger diskreditierten“.35 Die Königin schäumte vor Wut und stellte gegenüber Disraeli fest, dass „diese Männer

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eigentlich strafrechtlich verfolgt gehören“.36 An Selina schrieb er: „Die Fee war reizend zu mir. Sie weiß alles über Mrs. Thistlewayte [sic; (thistle=Distel)]. Sie hält G. wirklich für verrückt.“ Bei Mrs. Thistlewayte handelte es sich um die geläuterte Kurtisane, mit der Gladstone eine herzliche Freundschaft unterhielt und mit der er unmittelbar im Anschluss an die Versammlung zu Abend aß.37 Die unmittelbare Sorge galt zu diesem Zeitpunkt der bevorstehenden Konferenz in Konstantinopel, auf der die Zukunft des Balkans verhandelt werden sollte, mit Lord Salisbury als dem britischen Gesandten. Die Konferenz wurde nach Ein­ stellung der Feindseligkeiten zwischen Türken und Serben Ende Oktober 1876 einberufen. Salisburys Sympathien für die Balkan-Christen waren allgemein bekannt, und seine Entsendung nach Konstantinopel wurde von Gladstone und anderen begrüßt. Falls sie ihn für den Mann hielten, der die ihrer Ansicht nach streitsüchtige russophobische Haltung Disraelis zu dem Problem ‚aushebeln‘ würde, sahen sie sich getäuscht. Salisbury war wie Disraeli Realist. Salisbury wollte sich vermutlich ganz von den toten Palmerston’schen Strategien trennen (den „Kadavern“), er wusste jedoch um die faktischen Schwierigkeiten, die einer Nationa­litätenlösung im Wege standen, zudem hatte er an Russlands Redlichkeit so seine Zweifel. Im Gegensatz zu Disraeli aber – und darin bestand ihre Hauptmeinungsverschiedenheit – wollte er die türkische Herrschaft über die Christen auf dem Balkan nicht verlängern und war zu keinem Bündnis mit den Türken bereit. Die Konstantinopel-Konferenz scheiterte, und zwar in erster Linie deshalb, weil die Türken sich weigerten, irgendeinen Vorschlag anzuerkennen, der das Ende ihrer gegenwärtigen Souveränität auf dem Balkan hätte bedeuten können. Es ist schwer zu sagen, ob ein eindeutigeres Signal vonseiten der britischen Regierung, dass sie keine Hilfe erwarten könnten, sie umgestimmt hätte. Selbst das Scheitern der Konferenz bewirkte bei Disraeli kein Umdenken und er hielt auch weiterhin an einer Verständigung mit Russland fest. „Eine goldene Brücke“ wollte er den Russen bauen, denn im Falle eines russisch-türkischen Krieges hätten sich die Türken seiner Auffassung nach wohl kaum alleine halten können. Einen solchen Krieg galt es unbedingt zu vermeiden, wusste er doch, dass in Anbetracht der öffentlichen Meinung an ein direktes Eingreifen Großbritanniens zugunsten der Türken nicht zu denken war. Nach dem Ausbruch des Russisch-Türkischen Krieges Ende April 1877 entspannte sich Disraelis Situation an der Heimatfront: Parlament, Partei und die öffentliche Meinung waren leichter in den Griff zu bekommen. Gladstone vermochte es nicht, seine Partei im Mai hinter fünf strikt anti-türkischen Resolutionen zu versammeln, und auch ein Kompromissantrag darauf, die Wahrung der britischen Interessen von der Unterstützung des Osmanischen Reiches abzutrennen, wurde durch die ungewöhnlich große Mehrheit von 131 Stimmen abgelehnt. Gladstone sah sich genötigt, die Radikalen außerhalb des Parlaments um Unterstützung anzusuchen, als er Ende des Monats bei der Eröffnungskonferenz der National Liberal Federation in Birmingham das Wort ergriff. Dass er mit solchen Leuten verkehrte, empfahl ihn nicht gerade dem whig-liberalen Flügel der Partei. Seine Eskapaden halfen den Torys außerordentlich, ihre Einheit landesweit zu sichern. Schwieriger

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war es, im Kabinett eine Entscheidung über die nächsten Schritte zu treffen, da die Umstände sich dauernd änderten. Disraeli erwuchs ein Problem daraus, dass sich keine mit den britischen Interessen in Einklang stehende Kompromisslösung er­ geben hatte und dass die meisten Militärexperten eine türkische Niederlage erwarteten. Cairns berichtete davon, dass Disraeli unbehaglich zumute war: „Es könnte gutgehen: es könnte aber auch vollständig misslingen. Das Land verlässt sich darauf, dass wir die ‚britischen Interessen‘ schützen: wenn dabei etwas schiefläuft, wird weder Feind noch Freund uns gnädig sein, mit dem Ergebnis, dass wir im Unterhaus Probleme bekämen. Mit einer Mehrheit von 130, wird es heißen, hätten wir alles tun und erreichen können.“38 Im Juli, kurz vor einer wichtigen Kabinetts­ sitzung, gibt Derby ihn mit den Worten wieder, „dass jeden Moment eine heftige anti-russische Bewegung losbrechen kann & die wird regen Zulauf finden […] er hatte zuverlässige Informationen von Agenten aus verschiedenen Gegenden“.39 Wieder und wieder ließ sich der Premierminister bei seinen Überlegungen maßgeblich von der öffentlichen Meinung leiten. Im Herbst verschaffte der erfolgreiche Widerstand der Türken gegen den russischen Vorstoß bei Plewna Disraeli einen gewissen Manövrierspielraum. Er war eher ein listenreicher als ein starker Premierminister. Salisbury schrieb Disraelis „Mangel an Bestimmtheit und Festigkeit“ im Rückblick darauf, dass ihm die Einheit der Partei über alles ging; es war jedoch gerade die Erkenntnis, dass er, Disraeli, seine Macht der Partei verdankte, die ihn zu einem modernen Politiker machte. Unter den gegebenen Umständen duckte er sich weg und pendelte zwischen den sich dauernd ändernden Meinungen seiner Kollegen. Weil er und sie auf Ereignisse reagieren mussten, auf die sie nur indirekt Einfluss nehmen konnten, war das nicht unangebracht. Hin und wieder ließ er die eine militärische Lösung befürwortende, bisweilen schier hysterische Königin Einfluss auf das Kabinett nehmen. Sie beklagte, dass „England zu einer servilen, zweitrangigen Macht von Baumwollspinnereien“ verkommen sei, und drohte sogar mit Abdankung. Er sah sich im politischen Geschäft genötigt, allerhand Listen anzuwenden, wobei sie ihm ihre Hilfe und Unterstützung gewährte; so tauschte sie beispielsweise hinter Derbys Rücken Informationen mit dem Zar aus. Die Eroberung Konstantinopels durch die Russen hätte das Ende für das Kabinett bedeuten können, solange diese jedoch nicht unmittelbar bevorstand, blieb es zögerlich und zerstritten. Disraeli war in dieser Zeit oftmals krank und sprach davon, sich ganz zurückzuziehen. Weil Derby und Salisbury sich als seine wahrscheinlichsten Nachfolger betrachteten, konnte die Möglichkeit seines freiwilligen oder unfreiwilligen Ausscheidens sie nicht unberührt gelassen haben. Es scheint indes, dass der Druck der Ereignisse sogar eine gewisse therapeutische Wirkung auf Disraeli hatte. Nach einer Diskussion zwischen ihm, Cairns und Hardy schrieb dieser in sein Tagebuch: „B. ist unpässlich, was er auf sein asthmatisches Bronchialleiden zurückführte. Er ließ sich nichts anmerken und redete eifrig.“40 Bei einer Kabinettssitzung am 5. Oktober 1877 wurden die verschiedenen Optionen für den Fall erörtert, dass Russland seinen Vormarsch fortsetzt und weiter

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Land gewinnt. Der Premierminister wartete mit einer vorbereiteten Erklärung auf, „und gab sich dabei betont feierlich, wie schon so manches Mal“, vertraute Derby seinem Tagebuch an. Vieles von dem, was er sagte, war ganz vernünftig, er präsentierte seinen Kollegen jedoch auch seine übliche Verschwörungstheorie. „Seine [Russlands] Anfangserfolge verdanken sich der Bestechung türkischer Offiziere. (Das ist eine Lieblingstheorie von Disraeli: Ich [Derby] wüsste nicht, was sich zu ihren Gunsten anführen ließe.)“41 Glaubte er das wirklich, oder war das bloß seine Art, dem Rätselaufgeben, Für-Aufregung-Sorgen und Ernst-der-Lage-Beschwören noch etwas hinzuzufügen? Das Spektrum an möglichen diplomatischen und militä­rischen Optionen war breit gefächert, wie die ganze Zeit schon, und reichte vom Nichtstun über Flottenbewegungen von der Besika-Bucht durch die Dardanellen und etwaigen Landnahmen auf der Halbinsel Gallipoli bis hin zum Krieg. Meinungsverschiedenheiten konnten nicht ausbleiben, und dass man sich nur unvollkommen daran erinnerte, was zu Zeiten des Krimkrieges unternommen oder zu unternehmen versäumt worden war, behinderte die Überlegungen erheblich. Disraeli scherzte, dass es sechs Parteien im Kabinett gäbe, angefangen bei der, die den Krieg um jeden Preis wollte, bis zu der, die unter allen Umständen für den Frieden war. Lady Derby und ihr Gatte zählten zu seinen ernstesten Sorgen. Die Dame ließ die Geheimsachen des Kabinetts ebenso zu Graf Schuwalow, dem russischen Botschafter, durchsickern wie dass das Kabinett uneins war. Ein tiefer Graben trennte ihren Ehemann jetzt vom Premierminister. Beide Männer hatten das lange schon kommen sehen, aus alter freundschaftlicher Verbundenheit aber zögerten sie, sich die Konsequenzen klarzumachen. Außerdem war es so, dass Derbys Entschlossenheit, den Krieg um fast jeden Preis zu vermeiden, den Positionen der Handel- und Gewerbetreibenden ziemlich nahe kam, die um das Prestige des Landes Sorge trugen, aber nicht bereit waren, dafür einen hohen Preis in Form von Steuern oder Handelshemmnissen zu zahlen. Bei einer Kabinettssitzung sagte Disraeli, dass „die Oberschicht und die Arbeiterschaft vereint gegen Russland stünden. Die Mittelschicht sei von jeher gegen einen Krieg: erfreulicherweise aber regiere die Mittelschicht nicht.“42 Wenn Disraeli sich mit Derby und dessen Gattin unterhielt, versuchte er für gewöhnlich, ihr Mitleid zu erregen, indem er ihnen seine Schwierigkeiten mit der Königin schilderte: „Er sagte, er hätte großen Ärger mit der Königin: sie hätte ihm in der heftigsten und unangemessensten Weise geschrieben, woraufhin er sich genötigt sah, ihr mit ‚einem sehr scharfen Brief‘ zu antworten: doch sie hätte ihn wohlwollend aufgenommen & sich beruhigt“, notierte Derby am 21. November 1877 in sein Tagebuch.43 Als die Krise nach der Einnahme Plewnas durch die Russen am 9. Dezember 1877 akut wurde, suchte Derby bei Salisbury Unterstützung: „Ich fühle nicht mit dem Premier, aber uns verbindet eine persönliche Freundschaft […] doch seine Ansichten unterscheiden sich von den meinen […] nicht im Kleinen, sondern im Großen. Er glaubt inbrünstig ans ‚Prestige‘ wie alle Ausländer, und seiner (ganz aufrichtigen) Meinung nach wäre es im Interesse des Landes, 200 Millionen für einen Krieg auszugeben, wenn die ausländischen Staaten daraufhin eine höhere

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Meinung von uns als einer Militärmacht hätten.“44 Ob Derby Disraeli tatsächlich als Ausländer betrachtete, ist nicht klar, es dürfte jedoch klar sein, dass ein starker Premierminister schon lange auf die Dienste solch eines Außenministers verzichtet hätte. Ende Januar 1878 vereinbarte das Kabinett, die Flotte die Dardanellen durchfahren zu lassen, das Parlament um die Bewilligung von sechs Millionen Pfund zu ersuchen und ein Bündnis mit Österreich auszuhandeln. Für Derby war mit der geplanten Entsendung der Flotte das Maß voll und er reichte sein Rücktrittsgesuch ein, Carnarvon tat es ihm gleich. In der Kabinettssitzung am 23. Januar wurde ein Brief von Sir William Hart Dyke, dem obersten Whip, verlesen, der entschieden zum Ausdruck brachte, dass „das unverzügliche Handeln, das womöglich Krieg bedeutet“, in der Partei auf ungeteilte Zustimmung stößt.45 Damit bestätigte sich das Meinungsbild, das Disraeli aus vielen Quellen erreicht hatte. Er war unterrichtet über den Jingoismus, eine sprachliche Neuschöpfung [für Chauvinismus], und hatte durch Corry von dem berühmten Varieté-Lied gehört, der auch den Großen MacDermott im Mai 1877 im London Pavilion gesehen hatte. Es war jedoch letztlich sehr schwierig, Derby loszuwerden, der seine Anwesenheit im Kabinett als notwendige Bedingung für den Frieden betrachtete. Nur zwei Tage nachdem Dykes Brief in der Kabinettssitzung verlesen worden war, verbreitete der in der Regel besonnene Northcote alamierende Berichte über die Auswirkungen von Derbys beabsichtigtem Rücktritt auf die Empfindungen der Tory-Mitglieder aus Lancashire und Chesire. „Dyke hat mir keine Namen genannt, aber er sagt, die Stimmung ist viel schlechter, als er zu dem Zeitpunkt noch glaubte, da er mit Ihnen sprach.“46 In Liverpool, vor Derbys Haustür, war man dafür, den Krieg durch einen festen Standpunkt zu vermeiden. So dachten die beiden führenden Torys, Edward Whitley und Arthur Forwood, die beiden einstigen Bürgermeister der Stadt. D ­ israeli gelang es, Derbys Rücktritt abzuwenden, nachdem der Befehl zur Flottenentsendung in die Dardanellen vorerst zurückgenommen worden war. Die Königin war entsetzt, als Derby seine Absicht änderte und blieb. Als Ende März Truppen in die Mittelmeerregion entsendet und Reservisten einberufen wurden, ging Derby schließlich doch. Sein Rücktritt wurde Forwood zufolge in Liverpool „nicht beklagt“.47 Derby und seine Gattin wurden in zahlreichen Gegenden aufs Unflätigste verunglimpft. Es ging das Gerücht, er habe in Liverpool ein 15-jähriges Arbeitermädchen vergewaltigt48, und von ihr hieß es, sie sei Schuwalows Geliebte. Derby schloss sich vor den Wahlen von 1880 den Liberalen an, fühlte er sich doch lange schon unwohl mit der religiösen Intoleranz und der Kriegs- und Kampfeslust in der Tory-Partei. Das machte nicht mehr viel aus, denn Salisbury, Derbys Nachfolger, hatte sich mittlerweile entschieden hinter Disraeli und dessen Position gestellt, Russland durch eine Demonstration der Stärke abzuschrecken. Alle Zeichen deuteten darauf hin, dass jetzt auch die Allgemeinheit fest zum Kurs der Regierung stand und dass Gladstone gegen den Strom schwamm. Als im April 7.000 indische Soldaten nach Malta entsandt wurden, war das für St. Petersburg der endgültige Beweis, dass es die britische Regierung ernst meinte. Die Entsendung bestätigte die von Disraeli lange schon vertretene Auffassung,

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dass Indien für die britische Macht von großer Wichtigkeit sei. Der Schritt wurde ohne die Bewilligung des Parlaments vollzogen, die Opposition versäumte es allerdings, einen Misstrauensantrag zu stellen. Der Argwohn aber, der in der Zeit der Bill über die königlichen Titel wegen des zur Schau gestellten Caesarimus aufgekommen war, wurde wiederbelebt. Man erinnerte sich der Worte, die Disraeli Fakredeen im Tancred in den Mund legte: „Lassen Sie die Königin der Engländer eine große Flotte sammeln […] und verlegen Sie den Thronsitz von London nach Delhi. Dort wird sie ein unermesslich großes Reich […] vorfinden […] zudem wird sie auch noch ihre beiden Kammern los, die ihr doch nur lästig waren!“49 Dass die Krise 1878 ohne Krieg beigelegt werden konnte, war zu gleichen Teilen dem Glück und dem guten Management zu verdanken. Drei Jahre zuvor hatte Disraeli Selina gesagt, dass möglicherweise ihm die Aufgabe zufallen wird, das Nahostproblem zu lösen. Eine Dauerlösung war es zwar nicht, doch es gelang ihm, die britischen Interessen wieder geltend zu machen. Der Berliner Kongress, der ihn über einen Monat in der deutschen Hauptstadt festhielt, war eine Art Apo­theose für ihn. Vor Kongressbeginn hatten bereits Verhandlungen über einen Vereinbarungsentwurf stattgefunden, der hauptsächlich Salisbury nachgerühmt werden muss. Die Vereinbarung sah an entscheidender Stelle vor, Russland zur Überarbeitung des Vertrages von San Stefano zu zwingen, den es der türkischen Seite am 3. März aufgenötigt hatte. Das in diesem Vertrag vorgesehene Großbulgarien hatte Zugang zur Ägäis, einschließlich der wichtigen Stadt Saloniki. Die Ende Mai unterzeichneten englisch-russischen Abmachungen engten das autonome Fürstentum auf ein Gebiet nördlich des Balkangebirges ein. Unter diesen Umständen wurde Bulgarien nicht zu dem befürchteten Satellitenstaat Russlands, sondern Disraeli gelang es, Russland vom Mittelmeer fernzuhalten. Die andere wichtige vor dem Kongress getroffene Vereinbarung betraf Zypern und sah vor, dass die Türkei die Insel an Großbritannien abtritt als Gegenleistung für ein Verteidigungsbündnis. Disraeli übertrieb ziemlich, als er der Königin Zypern als „den Schlüssel für Vorderasien“ beschrieb. Diese und andere Abmachungen wie etwa die Inbesitznahme Bosnien-Herzegowinas durch Österreich bedurften noch der Ratifizierung in Berlin, und die war kein Selbstläufer. Zunächst rechnete man nicht damit, dass Disraeli nach Berlin kommen würde, und die Königin versuchte ihn zu überreden, seiner Gesundheit zuliebe zu Hause zu bleiben. Er aber wollte die günstige Gelegenheit nicht versäumen, zudem war seine höchste Autorität vonnöten, um die britische Position zu untermauern. Für die Königin führte er ein Tagebuch, in dem er all die rauschenden Festessen und Empfänge dokumentierte, die ebenso zum diplomatischen Prozedere gehörten wie die offiziellen Zusammenkünfte des Kongresses. Der Kongress in Wien vor sechzig Jahren hatte getanzt, dieser hier speiste. Disraeli befand sich nun in der Mitte einer Bühne, die er als junger Mann in seinen Romanen heraufbeschworen hatte. Die Nachfrage nach seinen Büchern war groß in Berlin, und die Faszination, die er ausübte, rührte zu keinem geringen Teil von dem Umstand her, dass man hier – welch seltener Fall – auf einen Mann traf, der seinen Traum verwirklicht hatte.

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Die andere Zentralgestalt war Bismarck, den Disraeli das letzte Mal 1862 in London getroffen hatte, kurz bevor dieser in Preußen die Macht erlangte. Das Misstrauen zwischen ihnen war bis zu ihrer Wiederbegegnung gleichsam mit Händen zu greifen. Bismarcks aufsehenerregender Machtaufstieg war ohnehin auf Kosten des Vertrauens gegangen, das ihm keiner seiner Kontrahenten mehr entgegenbringen konnte oder wollte. Von Disraeli wusste er wenig; was er wusste, war, dass es sich bei ihm um „einen romantischen Vielredner und Juden“ mit zweifelhaftem Ruf handelte. In Wirklichkeit kamen die beiden Männer von überragendem Format, die sich nichts vorzumachen brauchten, glänzend miteinander aus. Der Königin schrieb Disraeli: „Es fiel mir nicht schwer, seinen Rabelais’schen Monologen zuzuhören, im Gegenteil: endlose Enthüllungen von Dingen, die eigentlich nicht gesagt werden dürften. […] Seine Personenschilderungen sind in höchstem Maße pikant. Unbekümmert freimütig.“50 Beide waren sie ausgesprochene Egozentriker, die an Skrupeln nicht schwer zu tragen hatten, Disraeli aber war frei von jener grimmigen Rachsucht, die Bismarck oftmals entstellte. Als sie zusammen rauchten und Disraeli damit „meiner zerrütteten Konstitution den Rest gab“, wie er der Königin schrieb, da waren sie vereint in ihrem Zynismus über die großen Affären in dieser Welt und in ihrem Wissen, dass auch die Macht der größten Männer, zu denen sie sich zählten, zerbrechlich und endlich ist. Sie beide waren als junge Männer byroneske Figuren, die sich jedoch für die Macht diszipliniert hatten. Disraeli gewann wohl mehr auf dem Kongress als Bismarck, dessen Position als „redlicher Makler“ einen seiner Verbündeten, Russland, mit einem gewissen Groll zurückließ. Ein großes Zugeständnis musste Disraeli allerdings doch machen, er musste die Eroberungen des Zaren östlich des Schwarzen Meeres, Kars und ­Batumi, in russischen Händen belassen. Angesichts der russophobischen Stimmung bei einem Großteil der britischen Öffentlichkeit war das zwar unerfreulich, wurde aber durch den Erwerb von Zypern, der erst zu Kongressende bekannt gemacht wurde, mehr als ausgeglichen. Salisbury hatte früher einmal Northcote gegenüber – der zeitweilig in London Verantwortung trug und von Sorgen niedergedrückt war – gewitzelt, dass die Ankündigung der Übernahme von Zypern eine vierstündige Gladstone-Rede „über den Egoismus Englands & die Lauterkeit der russischen Motive“ nach sich ziehen würde. Für die Daily News [die liberal-radikale Zeitung] wäre das dann der Beweis, wie Salisbury hinzusetzte, „dass die Idee, sich in den Besitz von Zypern zu bringen, nur den semitischen Instinkten des Premierministers entsprungen sein konnte“. Gladstone sei außer sich gewesen, schildert Dyke, der oberste Whip, als die Neuigkeiten von Zypern herein­ kamen, und habe ausgesehen „als ob er irgendwas oder irgendwen in Stücke hauen oder vor Zorn zerplatzen müsste“.51 Er bezeichnete die Zypern-Vereinbarung als „einen Wahnsinnspakt“. Disraeli, der nicht „vorgab, ein solch kompetentes Urteil über den Wahnsinn abgeben zu können wie sein Gegenspieler“, nannte ihn in einer berühmten Wendung „einen sophistischen Maulhelden, der sich an seinem eigenen maßlosen Geschwätz berauscht“.52 Dieser Austausch von Freundlichkeiten veranlasste Gladstone dazu, seinem Widersacher einen privaten Brief

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zu ­schreiben, in dem er vorgab, persönliche Anfeindungen bisher immer vermieden zu haben. Gladstones Empfindlichkeit steht in auffallendem Gegensatz zu ­Disraelis Gelassenheit angesichts der gegen ihn losgetretenen Lawine aus persönlichen und häufig antisemitischen Schmähungen. Dergleichen war im Augenblick nicht die Mehrheitsmeinung. Disraeli und Salisbury wurden bei ihrer Rückkehr allenthalben mit Applaus empfangen, wenngleich die Begrüßung in der D ­ owning Street, bei welcher der Premierminister einen „ehrenhaften Frieden“ verkündete, auch ein Produkt der sorgfältigen Inszenierung Lord Henry Lennox’ war. Die Königin offerierte einen Duketitel oder ein Marquisat und den Hosenbandorden. ­Disraeli nahm nur diesen an und bestand darauf, dass auch Salisbury ihn verliehen bekommt. Er galt nunmehr, und unverrückbar, als der Verteidiger des britischen Weltreiches und seiner Bedeutung, auch wenn das für einen Teil der Öffentlichkeit ein negatives Image war.

10. Abstieg (1878–1881) Nach der Apotheose des Berliner Kongresses ging es für Disraeli fast nur noch bergab. Man hat sich oft gefragt, weshalb er aus seiner herausragenden Position für sich und seine Regierung kein Kapital geschlagen hat, indem er die Wähler an die Urnen rief. Er war ein Peer und von einem Peer hätte man nach geltender Konvention nicht erwartet, dass er sich aktiv am Wahlkampf beteiligt, dennoch war da die Angst, dass seine angeschlagene Gesundheit ihm nicht einmal das Mindestpensum zu absolvieren erlaubt hätte. Im Herbst 1877 hatte er sich auf Zureden in die Hände von Dr. Kidd begeben, einem auf Homöopathie spezialisierten praktischen Arzt, dessen Behandlung, zu der unter anderem die Umstellung von Port- auf Rotwein zählte, Disraeli mehr behagte als die von Sir William Gull. Was man beim damaligen Stand der Medizin für einen über 70-jährigen Mann mit Disraelis Konstitution – ein Nierenleiden sowie Gicht, Bronchitis und Asthma – tun konnte, war nicht gerade viel. Umso bemerkenswerter war sein Auftritt in Berlin, auch wenn sein Arzt Kidd ein Mal herbeigerufen werden musste und ­Disraeli gerade so bis zur Unterzeichnung durchhielt. Dass er sich beständig unter die Leute mischte und nahezu keine gesellschaftliche Veranstaltung versäumte, wenn er sich auch mit dem Essen und Trinken zurückhielt, und dass er nach wie vor ausführliche und glänzende Berichte nach Hause lieferte, war Beleg dafür, wie gut ihm der Trubel und die Aufregung taten. Es gab ohnehin niemanden, der ihn zuverlässig und glaubhaft hätte vertreten können. Salisbury hatte noch nicht seine Position in der Partei und im Land erreicht, Hardy war als C ­ ranbrook im Oberhaus und damit aus dem Rennen. Im Falle von Disraelis Ableben hätte die Königin wohl auf Northcote zurückgreifen müssen, der jedoch bereits Schwächen bei der Führung des Unterhauses offenbart hatte. Er war kein guter Debattierer, dafür trat er zu zaghaft auf und rechtfertigte sich zu oft. In Berlin hatte D ­ israeli sich bei Salisbury beklagt, ihre Kollegen in England seien „Männer aus der Mittelschicht, die vor der Verantwortung zurückschrecken“. Salisbury er­innerte seinen Chef daran, dass zumindest Northcote nicht der Mittelschicht entstammte, woraufhin Disraeli erwiderte, dass „aus ihm schon früh ein Bürokrat gemacht wurde, der er bis heute geblieben ist“.1 Bei der Umbesetzung im Frühling hatte er den schläfrigen Duke of Northumberland zum Lordsiegelbewahrer gemacht, um in seinem Kabinett das Gleichgewicht zwischen Peers und Unterhausmitgliedern zu wahren. Die Tory-Partei war nach wie vor die Partei der Land­besitzer und ihr höheres Führungspersonal entstammte fast ausnahmslos dem Adel, doch es schien, als könnte ihr immer wichtiger werdender ‚Schwanz‘ aus Mittelschichtlern bald mit dem Hund wedeln. Was Disraeli freilich gar nicht schmeckte,

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dennoch aber war er nicht so verrückt zu glauben, diese Entwicklung aufhalten zu können. Die Whips und die Geschäftsführer der Partei rieten ihm von einem umgehenden Wahlgang ab, und soweit sich das beurteilen lässt, hatten sie damit recht. Eine Nachwahl in Newcastle-under-Lyme im August 1878 ging deutlich zuungunsten der Torys aus und signalisierte, dass die Zustimmung zur Regierung zumindest nicht so überwältigend groß war, wie die meisten aufgrund des Triumphs von Berlin vermutet hatten. Später wird Disraeli in erster Linie die „schweren Zeiten“ für die Niederlage von 1880 verantwortlich machen, und es kann sehr gut sein, dass die „schlechten Geschäfte“ für das Ansehen der Regierung die ganze Zeit über schwerer ins Gewicht fielen als alle Triumphe und Niederlagen im Ausland. Die Regierung wies in ihren ersten vier Jahren eine bessere Nachwahlbilanz auf als die Vorgängerregierung Gladstones. In den letzten beiden Jahren hatte sie mehr Niederlagen zu verzeichnen, errang jedoch auch dann noch den einen oder anderen beachtlichen Sieg. Wie hoch die Zustimmungswerte tatsächlich waren, ließ sich mit Bestimmtheit nicht sagen. Auch Meinungsumfragen, hätte es sie denn gegeben, wären aufgrund der Ungleichverteilung des Stimmrechts wohl nicht sehr hilfreich gewesen. Die für die Einschätzung der Lage zuständigen Personen standen sehr unter dem Eindruck der in der Presse reflektierten Ereignisse: der Gräuel in Bulgarien, des Triumphs von Berlin, später der Mid­lothian-Kampagne [Glad­stones in seinem neuen Wahlkreis begonnenen Reden, in denen er sich kritisch mit der konservativen Empire-Idee befasste] und, dauernd, der mal mehr mal weniger intensiv geführten parlamentarischen Auseinandersetzungen. Hier sah die Regierungsbilanz ziemlich gut aus. Während die „mechanische Mehrheit“ von 110 Sitzen, die die GladstoneRegierung bei ihrem Amtsantritt 1869 vorzuweisen hatte, immer weiter auf­gezehrt worden war, verfügte die Disraeli-Regierung nicht selten über eine komfor­tablere Mehrheit als die von 50 Stimmen, mit der sie gestartet war. Unter diesen Bedingungen gab es keinen Grund für eine frühzeitige Parlamentsauflösung, die den üblichen Gepflogenheiten zuwider gelaufen wäre. Eher beunruhigend war indes, dass die Inlandsgesetzgebung der Regierung praktisch zum Erliegen kam, was zum Teil an der Blockadetaktik der irischen Abgeordneten lag. Solange Isaac Butt die [für die irische Selbstverwaltung eintretende] Home Rule Party anführte, stellte ihre Existenz einen Vorteil für die Konservativen dar, jetzt aber war eine radikalere irische Partei im Entstehen begriffen, an deren Spitze sich Parnell setzen sollte. Dass Irland in Unordnung und Aufruhr versank, war in erster Linie eine Folge der Krise in der Landwirtschaft, die Auswirkungen auch auf andere bäuerliche Gebiete der britischen Inseln hatte. Der Niedergang der britischen Landwirtschaft war nicht aufzuhalten, wie sich herausstellen wird. Die ausgeprägte Flaute in der Industrie und im Handelsverkehr, mit der er einherging, war noch dazu ein erster Vorbote des endgültigen Verlusts der industriellen Vormachtstellung. Der Niedergang der Landwirtschaft betraf die Partei der Torys unmittelbar. Die Pachteinnahmen sanken, und auch Disraelis Kollegen bekamen die Auswirkungen zu spüren. Als es auf die Wahlen zuging und die Beiträge für den Wahlkampffonds der Partei

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aufzubringen waren, führten manche das zurückgehende Einkommen aus ihren Besitzungen als Grund dafür an, dass sie sich nicht so spendabel zeigten wie ehedem. Wenn sich der Anfang vom Ende des Landbesitzadels an einem einzelnen Jahr fest­machen lässt, dann an 1879. Billige Einfuhren aus der Neuen Welt führten eben jenen Ruin der britischen Landwirtschaft herbei, der bereits 1846 voraus­ gesagt worden war, allerdings erst mit 40 Jahren Verspätung eintrat. Zum ersten Mal wurde der strenge Glaube an den Freihandel ernsthaft infrage gestellt und der Ruf nach ‚Gegenseitigkeit‘ laut. Für das unter Druck stehende produzierende Gewerbe war die ‚Gegenseitigkeit‘ gleichfalls ein anstrebenswertes Ziel, waren doch die wichtigen Märkte wie die Vereinigten Staaten und Deutschland dabei, Zollbarrieren zu errichten. Eine Liga für den fairen Handel trat auf den Plan, die insbesondere die Exporteure von Industriegütern ansprach und bei den Torys Unterstützung fand. Disraeli war in der Vergangenheit häufig für die Gegenseitigkeit eingetreten und hatte die dogmatischen Befürworter des Freihandels angegriffen, die sich nicht vorzustellen vermochten, dass andere Nationen ihre Lehren abweisen könnten. Nun war der Zug abgefahren: „Diejeinigen, die davon sprechen, dass Verträge ausgehandelt werden müssen, die auf Gegenseitigkeit beruhen – sind sie in der Lage dazu, stehen ihnen die Mittel dafür zu Gebote? Die Gelegenheit wurde versäumt. […] Die vor langer Zeit aufgegebene politische Strategie lässt sich nicht wieder aufgreifen“, sagte er im Frühling 1879 im Oberhaus.2 Augenblicklich stellten der Protektionismus, die Gegenseitigkeit und der faire Handel die konservative Partei nur vor Probleme und darum mussten sie sorgsam ausgespart werden. Hätte man wegen des teuren Brotes ein Geschrei erhoben, wären die politischen Folgen fatal gewesen. Disraeli plagten die Sorgen um die ländliche Bastion des Konservativismus derart, dass er sich widerstrebend aufmachte, um im September vor der Royal Bucks Agricultural Association eine Rede zu halten. Dabei handelte es sich um eine von lediglich zwei öffentlichen Reden, die er in dem Herbst von Gladstones erster Midlothian-Kampagne hielt. Er befürwortete Pachtnachlässe, die Anwendung des 1875 von seiner Regierung verabschiedeten Agrar­ besitzgesetzes zur Entschädigung noch nicht amortisierter Investitionen und das geduldige Warten auf einen Aufschwung. Er warnte vor den „Cockney Aufwieglern“ und spielte damit auf den Bauernbund an, der die Forderungen der Pacht­ bauern deutlich zur Sprache brachte.3 Dadurch wurde ein Keil zwischen die Grundeigentümer und die Pächter getrieben, was in der Zentrale der Konserva­ tiven für Aufregung und Unmut sorgte. Die Bildung eines königlichen Ausschusses zur Landwirtschaft macht deutlich, dass Disraeli und seine Kollegen händeringend nach Wegen suchten. Nach der Niederlage von 1880 schrieb er an Lytton, den er selbst als indischen Vizekönig eingesetzt hatte und der der Sohn seines alten Sparringpartners Bulwer Lytton war: Wie immer auch die Philosophen dazu stehen mögen, es gibt so etwas wie Glück & Fortune – & das Gegenteil – & dass es mir bestimmt war, England ein paar Jahre lang zu regieren, als der Handel seinen Niedergang erlebte & der Ackerboden von der Unfruchtbarkeit heimgesucht wurde, ist etwas, das man, wie ich glaube, nicht hätte vorhersehen oder ver­ eiteln können.4

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Er hätte für sich in Anspruch nehmen können, dass seine in den JungenglandTagen vertretenen Ansichten sich in der jetzigen Situation bewahrheiteten, doch sie waren nicht mehr umsetzbar, und so blieb ihm nichts, als dem darniederliegenden Handel und der ruinierten Landwirstschaft mit Fatalismus zu begegnen. Bei der einzigen konkreten Maßnahme handelte es sich um den Vorschlag, die Not durch eine „nationale Subskription“ zu lindern, bei der die Mitglieder der könig­lichen Familie und der Regierung vorangehen sollten. In den frühen kapitalistischen Ökonomien suchte man in schweren Krisenzeiten bei diesem Mittel Zuflucht, um eine drohende Hungersnot abzuwenden und Aufruhr zu verhindern. Disraelis Kollegen fanden die Idee durchaus gut, und er selbst war ihr auch nicht abgeneigt. Northcote, der einem Wirtschaftminister noch am nächsten kam, warnte vor der Idee: „hüten wir uns vor einem neuen coup manqué [Fehlgriff] […] mir ist nicht ganz klar, wie wir als Regierung handeln sollen […] wir können nichts tun, uns fehlt die Handhabe. […] Um die Wirtschaft ist es schlecht bestellt, unsere Arbeiter machen alles nur noch schlimmer dadurch, dass sie sich mit den Arbeit­gebern streiten […] es besteht die Gefahr, dass wir einen Fürsorge-Ausschuss bekommen, der gar ­ israeli in einem Brief nicht mehr aufhört zu tagen.“5 Ganz ähnlich äußerte sich D an Selina: „Du hast recht, die Sache, die mich in diesen Tagen die meiste Zeit kostet, ist die allgemeine Notlage; die aber ist von allen Problemen dasjenige, dem am schwersten beizukommen ist. Es gibt so viele Pläne, so viele Programme und so vieles, was gegen das Plänemachen und Programmeaufstellen spricht. Furcht habe ich vor der Opposition, die vor nichts zurückschreckt, die Sache womöglich parteipolitisch ausschlachtet […] diejenigen in der Nation, die über Eigentum verfügen, sollen die erwerbslosen Arbeiter unterstützen? Schlimmer als Sozialismus […] im Grunde genommen lässt sich gegen den Hunger nichts tun.“6 Am Ende kam es nicht einmal zu einer nationalen Subskription, selbst diese Geste unterblieb. Zu den wirtschaftlichen Problemen der Regierung kamen die, sogar noch gravierenderen Schwierigkeiten im Ausland, die Disraelis Triumph in Berlin bald schon den Glanz nahmen. An einem kritischen Punkt der Nahostkrise hatte er bei einer Kabinettssitzung im Dezember 1877 geltend gemacht, dass er „seinen Kollegen seine Meinung nie aufgenötigt hatte, sondern stets darauf bedacht war, die Geschäfte mit ihnen zusammen nach dem Prinzip von Freiheit, Gleichheit & Brüderlichkeit zu führen“.7 Diese Art der Geschäftführung hatte seine Kehrseite, und die trat sehr deutlich in den Verwicklungen in Südafrika und Afghanistan zutage, die seinem Ansehen jetzt schadeten. Obwohl er als der Verteidiger des Empires galt, verfolgte er in Wahrheit keine konsequente Reichs- und Kolonialpolitik und schon gar keine generelle Expansionspolitik. Die meiste Zeit über war Carnarvon, „Twitters“ mit Spitznamen, der für die Kolonialpolitik verantwortliche Minister. Er war ein Mann der Hochkirche, der 1867 sein Kabinettsamt niedergelegt hatte, und ein schwieriger Kollege, bei dem sich Disraeli alle Mühe gab, um ihn bei Laune zu halten. Als er 1874 als Kolonialminister die Fidschi Inseln annektierte, tat er das nicht aufgrund irgendeiner allgemeinen Expansionstrategie, sondern aus kom­ plexen lokalen Gründen. Disraeli ließ ihn wissen: „Ich muss Ihnen in dieser Sache

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die Entscheidung überlassen. In keinen meiner Kollegen setze ich mehr Vertrauen als in Sie. Ich sage immer, dass Sie Ihr Amt am tüchtigsten ausüben.“8 Die Föderationspolitik, mit der Carnarvon in Kanada erfolgreich gewesen war, erwies sich für Südafrika als unpassend, doch Disraeli ließ die Dinge laufen. Als sich C ­ arnarvon mit seiner Südafrikapolitik massiv Ärger eingehandelt hatte, reagierte Disraeli sehr beißend. Im September 1878, als Carnarvon die Regierung von außen kritisierte, schrieb er an Selina: „Wenn mich etwas mehr als alles andere ärgert, dann sind es unsere Angelegenheiten am Kap, wo wir jeden Tag unter den von Twitters begangenen Fehlern zu leiden haben“.9 Mit Froude, dem Historiker, den Carnarvon nach Südafrika entsandt hatte, ging er sogar noch harscher ins Gericht: „Mr. Froude – ein irrlichtender und theorielastiger Literat, der mehr Unsinn über die Regentschaft Elizabeths geschrieben hat, als Gibbon für die ganze Geschichte vom Verfall und Niedergang [des römischen Weltreichs, Gibbons Hauptwerk] nötig hatte“.10 Tatsache ist, dass Disraeli sehr wenig Interesse für die Einzelheiten der Kolonialund Empire-Politik aufbrachte und in erster Linie Ärger vermeiden wollte. Und weil die Ausgaben für Ärger sorgten, verschwendete er keinen Gedanken an eine aktive Expansionspolitik. Bei Afghanistan lag der Fall anders, und in dieser Sache war Disraeli stärker involviert. Durch seine Stellung als Pufferstaat zwischen Indien und der imperialen Expansion Russlands in Zentralasien hatte Afghanistan unmittelbar mit den großen Machtkämpfen zu tun, die auch in der Nahostkrise eine Rolle spielten. ­Disraeli war an der Ernennung von Sir Bartle Frere zum Gouverneur der Kapkolonie und zum hohen Kommissar von Südafrika nicht beteiligt, musste sie allerdings öffentlich verteidigen. Auf sein Konto ging die Ernennung Lyttons, des anderen „paradierenden Prokonsuls“, zum Vizekönig in Indien; der stellte zwar nicht Disraelis erste Wahl dar, doch wie er sagte, „wollten wir einen Mann mit Ambitionen, Einbildungskraft, einer gewissen Eitelkeit und starkem Willen – und wir haben ihn bekommen.“11 Eine indische Zeitung nannte Lytton Jahre später „einen zweitklassigen Dichter, der dazu benutzt wurde, die visionären Pläne eines zweitklassigen Romanschreibers in Indien zu verwirklichen“.12 Disraeli billigte die Art und Weise, in der Lytton Kapital aus dem Kaiserinnentitel der Königin schlug, und er befürwortete die politische Strategie, Indien eine „wissenschaftlich begründete Grenze“ zu verschaffen. Solange es mit der „Vorwärtspolitik“ in Afghanistan gutging, hatte er nichts zu beanstanden. Die erste Katastrophe ereignete sich in Südafrika, in Isandhlwana, wo die 1.200 Mann starke Truppe Lord Chelmsfords im Januar 1879 vernichtend geschlagen wurde. „Das schreckliche Ereignis hat mich bis ins Mark erschüttert, und der Kummer wird noch größer dadurch, dass ich ihn nicht nur erdulden, sondern auch die anderen ermutigen und dafür sorgen muss, dass sie einem skrupellosen Feind gegenüber die Reihen geschlossen halten und ihm wagemutig entgegentreten“, schrieb Disraeli an Lady Chesterfield.13 Im Juni wurde der kaiserliche Prinz, der Erbe Napoleons III., der auf seinen Wunsch und den seiner Mutter mit Verstärkung für Chelmsford nach Südafrika geschickt worden war, von Zulus in einem Hinter-

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halt getötet. Die Regierung sank rapide im Ansehen, und Disraeli beklagte, dass der Bedarf an 20.000 zusätzlichen Soldaten seine Europapolitik geschwächt hatte. Er war zornig auf Chelmsford, dessen Vater er 1868 gezwungen hatte, als Lordkanzler zurückzutreten. Die Behandlung, die er Chelmsford und Frere angedeihen ließ, die seiner privat geäußerten Auffassung nach unter Anklage gestellt werden sollten, sorgte für die heftigste unter den wenigen Meinungsverschiedenheiten mit der Königin. Sie nahm Anstoß daran, dass Sir Garnet Wolseley nach Südafrika entsandt und mit einer uneingeschränkten Vollmacht ausgestattet worden war. Dieser hatte sich als einer der Obersten hinter Cardwells Armeereform den Duke of Cambridge, den Oberkommandierenden der Armee und Cousin der Königin, zum lebenslangen Feind gemacht. Wolseleys Mission veranlasste Chelmsford zum Rücktritt, Frere aber nicht. Obwohl die Königin Druck ausübte, ließ Disraeli sich nicht dazu bewegen, Chelmsford bei seiner Rückkehr auf Hughenden zu empfangen; die Begrüßung fand in der Downing Street statt. Am 3. September nahm das Unheil auch in Afghanistan seinen Lauf, als die britische Gesandtschaft unter Sir Louis Cavagnari hingemetzelt wurde. Lytton hatte seine Befehle aus London überschritten und dem Emir die Gesandtschaft aufgedrängt. Disraeli kritiserte ihn privat, in seiner Guildhall-Rede im November aber stärkte er ihm vorbehaltlos den Rücken. Disraeli glaubte, dass die Situationen, die man in Südafrika und Afghanistan hatte eintreten lassen und die er nicht gewollt hatte, von London aus nicht völlig unter Kontrolle zu bringen seien. Regieren, das hieß für ihn, die allgemeine Richtung vorzugeben und alles Weitere seinen Untergebenen zu überlassen. Inzwischen wurde seine Richtungsvorgabe von Freund und Feind entschieden als ‚imperialistisch‘ und ‚vorwärtsdrängend‘ empfunden, und seine Reden waren dazu angetan gewesen, ihnen diesen Eindruck zu vermitteln. In der ­Guildhall hatte er gesagt: Ich äußere mich zu dieser Sache aus Vertrauen in die Bürger Londons, da ich sie als Menschen kenne, die sich des Empires nicht schämen, das ihre Vorfahren geschaffen haben; da ich sie als Menschen kenne, die sich der edelsten der menschlichen Empfindungen nicht schämen, die heutzutage von den Philosophen schlechtgeredet werden – die patriotischen Empfindungen nämlich; da ich sicher bin, dass sie sich nicht verleiten lassen werden zu glauben, sie könnten ihre Freiheit verwirken, wenn sie an ihrem Empire festhalten. Einer der größten Römer erwiderte auf die Frage, welche Politik er vertrete: Imperium et Libertas. Das würde kein schlechtes Programm für ein britisches Kabinett abgeben.14

Gladstone durfte eine solche Äußerung nicht unwidersprochen durchgehen lassen. Er war gerade dabei, die Midlothian-Kampagne auf den Weg zu bringen. 1874 war er in Greenwich hinter einem Bierbrauer als Zweiter eingekommen und hatte mit dem Gedanken gespielt, sich einen neuen Wahlkreis zu suchen, den er Anfang 1879 schließlich in Midlothian fand, dem Gebiet um Edinburgh herum. Er hatte jetzt wieder ganz Fuß gefasst in der Politik, und es war wahrscheinlich, wenn auch nicht sicher, dass ein Wahlsieg der Liberalen ihn an die Parteispitze zurückbringen würde. Mit welchen Schwierigkeiten die Tory-Partei auch zu kämpfen hatte, um einen Ausgleich zu finden zwischen der urbanen Mittelschicht und

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den nach wie vor höher bewerteten Interessen der Landbesitzer, sie wurden noch übertroffen von den Spannungen in der liberalen Partei, die zwischen den Whigs und den Radikalen bestanden. Mit Gladstones Rückkehr würde sich die Waage zugunsten der Radikalen neigen – so sahen es jedenfalls die Torys. Diese Einschätzung ließ sie die „überbordende Rhetorik“, die von Midlothian ausging, etwas weniger fürchten. Was Gladstone dieser Tage in Sachen Imagebildung unternahm, wirkt im Rückblick wie ein bedeutender Schritt hin zur modernen politischen Überzeugungs­arbeit. Es handelte sich um eine kraftvolle Strategie, die darin bestand, die Menschen sowohl auf der moralischen als auch auf der Sach-Ebene anzusprechen, was heute in der Politik als unverzichtbar gilt, um die Massen gewinnen zu können. Moralisch berief er sich auf die klassische Lehre vom liberalen Internationalismus, in faktischer Hinsicht ging es ihm darum zu zeigen, dass eine unmora­lische Politik außerdem zu unverhältnismäßigen Ausgaben geführt und den Handel in Mit­leidenschaft gezogen hatte. Die soliden und vernünftigen Grundsätze der peelitisch-gladstonischen Geldwirtschaft seien aufgegeben worden. All das Lamentieren und Klagen richtete sich summarisch gegen den sogenannten „Beaconsfieldismus“, war doch Beaconsfield, wie Disraeli jetzt hieß, für Glad­ stone die Verkörperung des Bösen, das er bekämpfte. Seine Imagepolitik war zugleich ein Beispiel intelligenter Medienmanipulation, denn alle Zeitungen, auch die ihm nicht loyal gesinnten, brachten die Reden ungekürzt. Auf diese Weise erreichte die ganze Gladstone’sche Redekunst die Frühstückstische der ­Torys ebenso wie die der Liberalen.15 Es war Zeichen einer akuten Schwäche, dass Disraeli eine öffentliche Antwort schuldig blieb, wobei solch ein Auftritt vor Massenpublikum nie seine Sache gewesen ist. Er brachte die physische Energie für Podiumsreden nicht mehr auf, und selbst die alljährliche Rede beim Lord Mayors Dinner erschöpfte ihn völlig. Gladstone glaubte, der Mann zu sein, dem es im Zuge einer moralischen Mission gelingen könnte, Whigs und Radikale zu einen. Doch Hartington, der Whig und formalige Parteiführer, und Joseph Chamberlain, der sich als den kommenden Führer einer radikalisierten liberalen Partei betrachtete, sahen das etwas anders. Ihnen schien Gladstones moralisierende Haltung gegenüber den Macht­ realitäten in der Welt der falsche Weg. Chamberlain und Hartington hätten ohne Glad­stone möglicherweise gedeihlich zusammengearbeitet, zunächst zumindest. Der Eindruck entstand, dass Gladstone sogar noch mehr als während der Bulgarien-Kampagne auf die Leidenschaften der Massen setzte und sie aufwiegelte, was die Whig-Führer und die intellektuelle Elite der Liberalen für gefährlich hielten. Die Volksmassen, die ihn enthusiastisch mit Fackelzügen empfingen, konnten das Evangelium von der internationalen Sittlichkeit, das er predigte, meist gar nicht hören, geschweige denn verstehen, und es mag sein, dass sie einen Messias erwarteten, der sie ins gelobte Land des revolutionären Wandels führt. Um zum Propheten aufsteigen zu können, war Gladstone zu seinen evangelikalen Wurzeln zurückgekehrt. Er warf Disraeli Caesarismus vor, allerdings urteilte der deutsche Soziologe Max Weber 40 Jahre später, dass mit der Midlothian-Kampagne „ein caesaristisch-

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plebiszitäres Element in die Politik [kam]: der Diktator des Wahlschlachtfeldes trat auf den Plan“.16 Der ersten Midlothian-Kampagne folgte im März 1880 eine zweite, nachdem die Parlamentsauflösung angekündigt worden war. Nach dem Ende der sechsten Sitzungsperiode des amtierenden Parlaments, im Sommer 1879, war es nicht mehr möglich, sich einer Auflösung mit dem Argument entgegenzustellen, sie sei verfrüht. Im Zulu-Krieg hatte sich die Lage leicht verbessert, Berichte kursierten, denen zufolge der Handel in Schwung kam, was, wie sich herausstellte, reines Wunschdenken war, und die Katastrophe in Kabul stand noch bevor. Die Verdrängung des bankrotten Khediven in Ägypten und die Installierung eines englisch-französischen Finanzkontrollsystems bedeuteten ein verstärktes Engagement dort. Wer will, mag darin ein weiteres Beispiel für den Disraeli’schen Expansionismus sehen und dafür, dass hier Politik im Interesse der ägyptischen Anleihebesitzer gemacht wurde, so wie man die türkische Politik oft als eine Politik im Dienste der türkischen Anleihebesitzer dargestellt hat. In Wahrheit war Disraeli stets sorgfältig darauf bedacht, sich in Ägypten nicht zu tief zu verstricken und im Einklang mit Frankreich zu handeln. Salisbury war jetzt mit den ägyptischen Angelegenheiten betraut. Pikanterweise sollte Gladstone, der einen beträchtlichen Teil seines Privatvermögens in ägyptische Anleihen investiert hatte, tief in die ägyptischen Verwicklungen hineingezogen werden. Was die Frage des richtigen Zeitpunkts für die Auflösung anbelangte, so glaubte man, dass, wenn die Regierung das Parlament zu einer siebenten Sitzungsperiode versammelte – dergleichen gab es bis dato jedenfalls einigermaßen selten –, nur zu offensichtlich würde, welche Kosten ihre Unternehmungen im Ausland dem Fiskus verursachten. Northcote hatte die Einkommensteuer bereits 1877 um einen Penny und 1878 nochmals um fünf Pennies angehoben. Der Premierminister weigerte sich, Maßnahmen zu bewilligen, die bei der Arbeiterschaft sehr unbeliebt waren, wie etwa eine Erhöhung des Teezolls, und bei einer unruhigen und von Misstönen begleiteten Kabinettssitzung im Juli 1879 einigte man sich auf die Emission von Schatzscheinen. Northcote teilte seinem Chef mit, dass er die „heute im Kabinett geäußerten Ansichten […] überaus unbefriedigend“ fand und dass seine Position, wie er deutlich spürte, „schwer erschüttert“ sei.17 Er war jetzt dafür, das Parlament zu einer neuen Sitzungsperiode zusammenzurufen, denn er wollte für seine Seriösität und Redlichkeit als Mann der Finanzen einstehen und sie verteidigen. Als der Zeitpunkt für eine Auflösung näherrückte, hielt Corry die Verbindung zwischen seinem Meister und den Geschäftsführern der Partei aufrecht. Disraelis geringe Erwartungen, als es tatsächlich zur Wahl kam, lassen erkennen, dass er, genau wie Corry, deren verhalten optimistische, beruhigende Vorraussagen nicht sonderlich ernst nahm. Schon bald hieß es quasi unisono, dass einer der Hauptgründe für die Niederlage von 1880 in den Schwächen bei der Organisation der Partei zu suchen sei; später zeigte die politische Kampagne von Lord Randolph Churchill und Gorst, dass sie dieser Erklärung für ihre eigenen Zwecke große Bedeutung beimaßen. Die Geschäftsführer der Partei aber waren zu keiner Analyse imstande, die vor der Katastrophe, die da kommen sollte, hätte warnen kön-

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nen. Die drei Nachwahlen zu Beginn des Jahres 1880 ließen etwas ahnen, sie wurden jedoch nicht genau studiert und gedeutet. Die erste fand in Sheffield statt und war wegen des Todes des altgedienten „patriotischen Radikalen“ Roebuck nötig geworden. Bei der Abstimmung, an der sich ungefähr 30.000 Wähler beteiligten, fehlten den Konservativen keine 1.500 Stimmen zum Sieg, was man als ein achtbares Ergebnis abbuchte. Dann kam die Reihe an Liverpool, wo ein Tory gewann, nämlich der beliebte Whitley, und zwar mit weniger als 1.500 (Mehr-)Stimmen bei 50.000 Teilnehmern und damit 80 % der Wahlberechtigten. Der liberale Kandidat Lord Ramsey, Erbe des Earls of Dalhousie, war ein Whig, der, als es auf die Wahl zuging, zu einer Geste in Richtung der irischen Home Ruler, die für eine autonome Selbstverwaltung eintraten, bewogen wurde. Nahezu ein Viertel der Wahlberechtigten in Liverpool waren Katho­liken, die meisten davon Iren, eine Großteil der liberalen Wähler hatte jedoch wenig Sympathie für Home Rule.18 Von diesem Resultat schloss man parteiintern auf die Verhältnisse im Land, was sich aufgrund der komplexen und ungewöhnlichen Umstände vor Ort eigentlich verbot. Schließlich kam es in Southwark zur Wahl, und die wurde allem Anschein nach zu einem richtigen Triumph für die Torys. Die Königin und Disraeli waren entzückt. Der Premierminister schlug vor Begeisterung auf den Kabinettstisch – dergleichen Triumphgesten kannte man von ihm sonst nicht. Für die Liberalen waren zwei rivalisierende Kandidaten angetreten, was zu belegen schien, dass das Nominierungssystem [aus lokalen Verbänden, Wahlkomitees und hauptamtlichen Vermittlern] so viel Uneinigkeit stiftete, dass es der liberalen Partei mehr schadete als nützte. Der fähige Tory-Kandidat Edward Clarke, ein Mann mit einer vielversprechenden Zukunft in der Politik, verfügte über eine kleine Mehrheit von 54 Stimmen über beide liberale Kandidaten. Der Southwark-Sieg überzeugte das Kabinett davon, dass eine frühe Parlamentsauf­lösung keine Gefahr darstellte. Mittlerweile war man aus einer Reihe von anderen Gründen nicht gewillt, eine ganze Sitzungsperiode durchzuhalten. Northcote hatte mit seinem Angriff auf den Tilgungsfond an die Öffentlichkeit gehen müssen, und es war ihm nicht gelungen, einen Schritt, der den üblichen finanziellen Gepflogenheiten derart zuwiderlief, überzeugend zu verteidigen. Eine von Cross vorgeschlagene Maßnahme, die privaten Londoner Wassergesellschaften aufzukaufen, wurde dafür kritisiert, dass sie deren Wert zu hoch ansetzte. Das ist der Hintergrund für den nach Bekanntgabe der Parlamentsauflösung kursierenden Witz, dass die Torys wegen des Biers drankamen und wegen des Wassers draufgingen. Die Ankündigung der Parlamentsauflösung kam dann dennoch überraschend, weil man davon ausging, dass die Minister die begonnene siebente parlamentarische Sitzungsperiode fortsetzen würden. Disraelis programmatische Wahlerklärung – die einzige Möglichkeit für ihn als Peer, sich an die Wähler zu wenden – sorgte gleichfalls für eine Überraschung. Er gestaltete sie als offenen Brief an den Duke of Marlborough als den Vize­könig von Irland und widmete sich darin fast ausschließlich der Gefahr, die von den Los­ lösungsbestrebungen Irlands ausgingen: „Und es gibt sogar welche, die dieses Reich als das Empire, das es ist, infrage stellen. Nachdem sie versucht haben, und

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damit gescheitert sind, unsere Kolonien mit ihrer Zersetzungs- und Auflösungs­ politik zu schwächen, sehen sie vielleicht jetzt in der Zerrüttung des Vereinigten Königreiches eine Methode, die ihrem Ziel nicht bloß dienlich ist, sondern es herbeiführt.“19 Die von Disraeli seit 1874 betriebene Politik gegenüber Irland war genau genommen eine Nichtpolitik nach dem Motto: Schlafende Hunde soll man nicht wecken. Erst seit etwa einem Jahr widmete die Regierung den irischen Angelegenheiten gezwungenermaßen mehr Aufmerksamkeit, wobei freilich die Blockadetaktik von Parnell, Biggar und anderen in Westminster mindestens seit 1877 ein Ärgernis dargestellt hatte. Disraeli nutzte die von den Home-Rulers ausgehende Bedrohung, um die für seine Wiederwahl sprechenden Argumente in den öffentlichen Fokus zu rücken, und zumal deren stärkstes: Er nahm für sich in Anspruch, die Macht und das Ansehen des Landes vergrößert zu haben, während sie unter Gladstones Politik vor 1874 gelitten hätten und durch seine Aktivitäten seit 1876 noch weiter Schaden zu nehmen drohten. Disraeli hatte vermutlich den Eindruck, dass Home Rule bei den Wählern unbeliebt war, und die jüngste Nachwahl in Liverpool schien das zu bestätigen. In der Wahlerklärung blieben die in den frühen Regierungsjahren erlassenen sozialreformerischen Maßnahmen zwar unerwähnt, dennoch dürfte die Behauptung, dass man einiges für das Wohl der Menschen getan habe, in einer Zeit des wirtschaftlichen Einbruchs eher hohl geklungen haben. Jedenfalls hätte ein solches Wahlmanifest nur im Rahmen und als Kernstück eines intensiven Parteiwahlkampfes seine Wirkung tun können. Und in diesem Punkt waren die Torys fraglos unterlegen. Nicht nur Disraeli selbst waren öffentliche Auftritte verwehrt, auch andere Stars wie Salisbury, Cairns und ­Cranbrook mussten als Peers außen vor bleiben. Dennoch spielte die Persönlichkeit Disraelis eine große Rolle. Für den liberalen Spectator stellte sich die Situation so dar: „Das Land muss sich entscheiden […] zwischen dem alten Staatsmann, der England durch die steten Verbesserungen eines halben Jahrhunderts zu dem gemacht hat, was es ist […] und dem grellen Orientalen, der uns seine Berühmtheit zum Angebot macht und der Englands Ansehen als eine aufrichtig und uneigennützig handelnde Nation, die die Rechte der Schwachen achtet, in allen Teilen der Welt zerstört hat.“20 Die Niederlage von 1880 wischte sämtliche Zugewinne von 1874 mehr als gründlich weg, und es schien, als wäre Disraelis Lebenswerk zunichte gemacht. Die konservative Mehrheit von beinahe 100 Sitzen gegenüber den Liberalen im Jahr 1874 hatte sich fast genau umgekehrt. Besonders verblüffend war das Ausbleiben der gewohnten Unterstützung durch die englischen Stimmen vom Land, die von jeher als das zentrale Bollwerk der Tory-Partei galten: 29 englische Grafschaftssitze gingen verloren. In den kleinen Stadtgemeinden mit unter 10.000 Einwohnern waren die Konservativen mit den Liberalen jetzt nur noch gleichauf, beide verfügten über 27 Sitze, während sie 1874 mit 34 gegenüber 20 Sitzen vorn gelegen hatten. In den Stadtgemeinden mit 10.000 bis 20.000 Einwohnern hatten die Liberalen nun einen größeren Vorsprung an Sitzen als 1868, und in den Großstädten waren die Konservativen fast auf den Stand von 1868 zurückgefallen. In

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Schottland gingen von den insgesamt 60 Sitzen 13 verloren, so dass ihnen gerade mal sechs blieben. In Wales waren Anglikanismus und Toryismus bereits 1868 auf weit­gehende Ablehnung gestoßen, nun aber gingen noch einmal neun der verbliebenen elf Sitze verloren. Irland erlebte 1880 die Heraufkunft einer äußerst disziplinierten Parnelliten-Partei. Der Tory-Sieg von 1874 schien offensichtlich nur ein ‚Ausreißer‘ in einer Dauerübermacht der Liberalen gewesen zu sein, die in der nahen Zukunft durch die Ausweitung des household-Wahlrechts auf die Grafschaften wahrscheinlich noch weiter gestärkt würde. In Wahrheit war es um die Aussichten nicht ganz so schlecht bestellt. Die Resultate auf dem Land und in den Kleinstädten zeigten, wie sich sowohl Disraeli als auch Salisbury klarmachten, dass die konservative Partei die mit der Ausweitung des Grafschaftswahlrechts verbundene Neuregelung der Sitz­verteilung nicht länger zu fürchten brauchte. In den Großstädten hielt sich die konservative Stimme viel besser, als die Ergebnisse unter dem Aspekt der Sitzverteilung vermuten ließen. Einige bemerkenswerte Erfolge wirkten ermutigend, wie etwa der von Lord George Hamilton und seines Partners, die Middlesex mit einer 2:1-Mehrheit gegen die Liberalen hielten. In den großen städtischen Zentren fielen die Torys nicht auf ihre Position von 1868 zurück. Was zum Teil an dem ‚­Villen-Toryismus‘ lag, der Bewegung der Mittelschicht in den Vorstadtgegenden hin zu den Torys, zu einem anderen Teil aber lag das an den Tory-Arbeitern, die es in beträchtlicher Zahl gegeben haben muss. Als die Liberalen schließlich dazu übergingen, Grafschafts- und Stadtgemeindenwahlrecht anzugleichen, setzte sich Salisbury mit all seinem Gewicht dafür ein, dass Wahlkreise mit gleich großer Bevölkerungszahl gebildet wurden, [so dass aus den Vorstädten Wahlkreise werden und so der ‚Villen-Toryismus‘ zum Tragen kommen konnte], und zwang die Liberalen dazu, bei der Neuverteilung und auch bei der Wahlrechtsausweitung Farbe zu bekennen. Insgesamt ging die Entwicklung hin zu einer stärkeren Entsprechung von Sitzen und Einwohnerzahl, und das kam den Torys zugute. Disraeli war noch immer nicht zum Rücktritt bereit. Die Niederlage trug er mit Fassung, ja sogar mit Humor. Die Königin ersuchte ihn in der Frage seines Nachfolgers um Rat, und er bestärkte sie in ihrer Absicht, sich zuerst an Hartington zu wenden. Falls sie beide gehofft hatten, Gladstone auf diese Weise vom Premiers­amt fernhalten zu können, wurden ihre Hoffnungen enttäuscht. Ein Hartington-Kabinett war dennoch nicht bloß ein Einfall Disraelis oder ein Versuch, Zwietracht unter den Liberalen zu säen. Viele Liberale und sogar einige Radikale hätten lieber den soliden Whig gehabt als den Eiferer aus Midlothian. Ein Rücktritt D ­ israelis wäre zu diesem Zeitpunkt vielleicht problematisch gewesen, da noch völlig ungeklärt war, wer ihm nachfolgen sollte. Offiziell musste Northcote als die naheliegende Wahl gelten, Disraeli selbst aber bevorzugte zweifellos Salisbury. Dass Disraeli blieb, sorgte bei einer Parteiversammlung von 500 Peers und Parlamentsmitgliedern am 19. Mai im Bridgewater House für – wahrscheinlich genug echte – Begeisterung. Disraeli sah den Hauptgrund für die Niederlage in der „allgemeinen sozialen Not“, die „natürliche Ursachen“ hätte, doch von „hetzenden politischen Wanderpredigern“ der letzten Regierung in die Schuhe geschoben wurde. Als einen anderen

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Grund für die Niederlage führte er „die ‚neue, aus dem Ausland eingeführte Organisation‘ der liberalen Partei“ an und gab bekannt, dass ein kleiner Ausschuss unter W. H. Smith sich dieses Problems angenommen hatte. Für die Zukunft verbreitete er Hoffnung: Gladstone könnte so schnell ins Straucheln kommen wie Grey nach der Wahl von 1832, als es um die Torys sogar noch schlechter stand. Er sah „die Partei der Revolution [voraus], vielleicht hundert Mann stark“, die die Liberalen spalten würde. Zunächst müssten die Torys der Regierung gegen die „brutalen Vorschläge“ von deren eigenen Leute den Rücken stärken. „Die Bewahrung des ­Empires und der Schutz der bestehenden Verhältnisse im Sinne der Verfassung“ – von diesem Kurs dürfe die konservative Partei nicht abweichen. Das Empire stütze sich auf die Verbindungen mit den Kolonien, und mit Stolz erwähnte er, dass Kanada auf dem Höhepunkt der Balkankrise die Entsendung von 10.000 Soldaten angeboten hatte. Es konnte überhaupt keine Rede mehr von „Mühlsteinen“ sein, von denen er 1866 wegen der Kosten für den Schutz Nordamerikas gesprochen hatte. In Hinblick auf die politische Gestaltung des Landes gelte es, sich einer Umwälzung bei der Landpacht in den Weg zu stellen; es müsse verhindert werden, dass „die Aristokratie [durch] die Revolutionspartei hinuntergezogen wird“. Er für seinen Teil werde „in der Stunde des Misserfolgs nicht die Segel streichen“ und werde sie, seine Mitstreiter, auch weiterhin von seiner Erfahrung profitieren lassen.21 Disraeli beteiligte sich in den letzten elf Monaten seines Lebens nicht mehr sonderlich aktiv an der Politik. Er verbrachte fast all seine Zeit auf Hughenden, da er in London kein Haus mehr besaß. Alfred de Rothschild, Lionels zweiter Sohn, stellte ihm in seinem Haus am Seamore Place „eine Suite mit mehreren Zimmern“ zur Verfügung. Im Januar erwarb Disraeli allerdings erneut ein Wohnhaus in London, diesmal in der Curzon Street. Er rechnete folglich nicht mit einem baldigen Ende, zudem ging es ihm im Sommer gesundheitlich so gut wie schon länger nicht mehr. Seine Korrespondenz mit den Ladies Bradford und Chesterfield hielt er aufrecht. Er schrieb der Königin weiter und blieb drei Mal auf Windsor. Verfassungsrechtliche Bedenken wegen dieser Kontakte zwischen einem ehemaligen Premier und einer Monarchin wurden kaum noch erhoben, war sie doch ohnehin schon im höchsten Maße parteiisch, und davon abgesehen bestand die Korrespondenz in der Hauptsache aus Gesellschaftsklatsch. Im Zusammenhang mit den ihm als Ministerpräsident zustehenden Rücktrittsehren hatte er sie bewogen, seinen Sekretär Monty Corry zu Lord Rowton zu machen. Das Ganze war ein typisch Disraeli’sches Unternehmen, bei dem er zunächst sicherzustellen hatte, dass Monty im Testament einer verwitweten Tante als Erbe ihres Shropshire-Anwesens aufgeführt wurde. Allerdings musste er die Königin dann noch ein wenig in die Irre führen, indem er ihr zu verstehen gab, dass Monty kurz davor stand zu erben, während überhaupt nicht abzusehen war, wann es so weit sein würde. Vom menschlichen Standpunkt aus kann man ein derart edelmütiges und elegant aus­ geführtes Manöver jedoch schwerlich anprangern. Selbst Monty war nicht eingeweiht in Disraelis Geheimnis und wusste nicht, dass er an einem weiteren Roman arbeitete. Mit der Abfassung des Endymion hatte

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er vor 1874 in der Opposition begonnen, und jetzt beendete er das Buch. Und wieder war es eine Erzählung aus der High Society, die ihm leicht von der Hand ging und die ihre Lebendigkeit den Charakterskizzen der vielen ange­sehenen Persönlichkeiten verdankte, die den Weg des Autors gekreuzt hatten. Bismarck begegnet dem Leser als Graf Ferroll, und mit Nigel Penruddock zeichnete Disraeli ein wohlwollenderes Porträt von Manning als mit Kardinal Grandison in Lothair. Der Kardinal hatte in den Tory-Schoß zurückgefunden und war mit Disraeli zu einer freundlichen Unterredung zusammengetroffen. Zu Bismarck wanderten D ­ israelis Gedanken häufig. Lord Ronald Gower sagte er bei dessen Besuch auf ­Hughenden: „Bismarck und ich waren absolut d’accord. Wäre der letzten Regierung eine längere Amtszeit beschieden gewesen, hätten wir die Demokraten in Europa in Schach gehalten; aber jetzt ist alles vorbei!“22 Es tauchten auch Figuren aus der Vergangenheit des Autors auf wie etwa George Smythe als Waldershare und Palmerston als Lord Roehampton. Disraeli jonglierte auf die altbekannte Weise mit disparaten Ideen und gesellschaftlichen Phänomenen, was viele ernsthaft gesinnte Leute geschmacklos fanden. Wäre er weniger berühmt und angesehen gewesen, hätte das Buch vermutlich keine besondere Beachtung gefunden. Der Verleger Longman hatte ihn mit einem Vorschuss von 10.000 Pfund ausgestattet, eine unerhört und beispiellos hohe Summe. Zunächst blieben die Verkaufszahlen hinter den Erwartungen zurück und Disraeli bot an, die ursprüngliche Vereinbarung zu verwerfen und auf die Hälfte des Vorschusses zu verzichten. Longman, ganz Ehrenmann, wies das Angebot zurück, und bald schon spielte eine billigere Ausgabe des Buches seine Aufwendungen wieder ein. Nach Endymion begann Disraeli mit der Arbeit an noch einem weiteren R ­ oman, Falconet, der bei seinem Tod 12.000 Worte umfasste. Erwähnung verdient das Fragment, weil darin das Porträt Gladstones gezeichnet ist, des Arch Villain (= Erzschurken) oder des A. V., wie Disraeli ihn nun oft in seinen privaten Briefen nannte. Bei ­Joseph Toplady Falconet haben wir es ohne jeden Zweifel mit Gladstone zu tun, der „ein außergewöhnlich frühreifes Kind [war]. Seine Fähigkeit, die Dinge zu erfassen und sich zu eigen zu machen, war bemerkenswert […] ein ernster Junge, den man kaum je lächeln sah; aber nicht, weil es ihm an Wohlwollen für seine Mitmenschen fehlte, sondern weil er keinen Humor hatte, für den ihm jeder Sinn abzugehen schien […] streitlustig war er, ja streitsüchtig, daran war er zu erkennen, und die Sprache stand ihm, auch als Kind schon, immer zu Gebote, wenn es galt, seine Sache zu vertreten“. Einmal im Parlament angekommen, hat er um sich „ein großes, wenngleich ruhendes Kapital an Glaubenseiferern geschart. […] Er verschaffte sich noch andere Bündnispartner. Mit all seinen Vermögen und erworbenen Fähigkeiten war Joseph Toplady Falconet im Kern ein selbstgefälliger Pedant, und unter diesen gibt es eine Freimauererloge, die immer zusammenhält. All die Pedanten sprachen von ihm als dem kommenden Mann.“23 Die wichtigsten politischen Streitfragen dieser Tage bestimmten Disraelis Denken und Tun nach wie vor. Irland rückte zunehmend in den Vordergrund des Geschehens und brachte die Regierung ins Schlingern. Mit Salisburys voller Un-

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terstützung machte er sich Gladstones missliche Lage zunutze und verhinderte die Entschädigung-für-Enteignungs-Bill, jene bedeutende Anstrengung, die die Regierung in der ersten Sitzungsperiode des neuen Parlaments unternommen hatte, um die Spannungen auf dem Lande in Irland zu entschärfen, indem sie den entschädigungslosen Zwangsräumungen oder Vertreibungen der irischen Klein­bauern Einhalt gebot, die vom Standpunkt des englischen Rechts nur Pächter und also ‚kündbar‘ waren, während sie sich selbst als die eigentlichen „Eigentümer“ des Landes betrachteten. Für die Landbesitzer in England und Irland wirkte die Bill wie ein Angriff auf das Eigentum. Der Widerstand gegen sie fand die Unterstützung der Whigs in beiden Häusern, und im Oberhaus wurde sie mit 282 zu 51 Stimmen geschlagen. Bei anderen Streitfragen verordnete Disraeli seiner Partei einen vor­sichtigen Kurs, zu dem er bei dem Treffen im Bridgewater House geraten hatte. Chamberlain, der Hauptvertreter der Radikalen in der Regierung, brachte einen Gesetzentwurf zur Arbeitgeberhaftung ein, der eine Entschädigung bei Arbeits­unfällen in den Fabriken vorsah und der das Parlament passierte. Disraeli wollte nichts unternehmen, was den Arbeitern wehtat, auch wenn das den zahlreicher werdenden Interessenvertretern der Arbeitgeberschaft auf den Tory-Bänken gar nicht gefiel. Erwähnung verdient ferner die Niederwild-Bill, die auch als Hasen-und-Kaninchen-Bill bezeichnet wurde und den Pachtbauern das Recht einräumte, Wild zu erlegen, das eine Gefahr für ihre Ernte darstellte. Die Verpächter, ob nun Whigs oder Torys, waren strikt dagegen. Es spaltete die Landbesitzer einmal mehr, und dabei hatte doch die alte Spaltunng schon so viel Schaden bei den Wahlen angerichtet; Disraeli nannte die Bill „das allerteuflischste der Vorhaben des A. V.“24 Er brachte die Tory-Peers dazu – die in überwiegender Zahl zum Jagen außer Haus weilten – sich zurückzuhalten. In seinem letzten Lebensabschnitt schwankte Disraeli zwischen Schwermut und Hoffnung. Die Schwermut trat in den Briefen an die beiden Schwestern hervor: „Das sind revolutionäre Zeiten, und es kann sein, dass auch wir das Ende der großen Saison Londons noch erleben werden, die die wundervollste und bewundertste Sache unserer Jugend war“, schrieb er Lady Chesterfield am 27. Juni.25 Aber dann fasste er wieder Hoffnung, dass die liberale Mehrheit tatsächlich so früh zu­ sammenbricht, wie er vorhergesagt hatte. „Die Lage ist kritisch: einige erwarten einen Zusammenbruch noch bevor das Parlament zusammentritt“, schrieb er im Dezember 1880 an Cairns.26 In Wahrheit riet er zur Zurückhaltung gegenüber Gladstones Irischem Landgesetz, dem Kernstück der Sitzungsperiode von 1881, das die „drei Fs“, fair rents, free sale, fixity of tenure – angemessener Pachtzins, freier Verkauf, garantierter Pächterschutz – verankerte. Die Tory-Partei selbst war uneins und gespalten, was Politik, Strategien und Personen anging. Am deutlichsten zeigte sich das am Aufkommen der vierten Partei, wie man das Lager der vier unabhängigen Parteimitglieder Arthur Balfour, Sir Henry Drummond-Wolff, John Gorst und Lord Randolph Churchill scherzhaft nannte. In dieser Phase wurde Churchill oft von Gorst beraten, der sich nach dem Fiasko bei den Parlamentswahlen für kurze Zeit wieder an der Organisation der Partei beteiligt hatte. Gorst strebte noch im-

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mer den persönlichen Aufstieg an, der ihm bei seiner früheren Organisationsarbeit verwehrt geblieben war. Er und Churchill wollten zu gegebener Zeit mit der Unzufriedenheit der Aktivisten der neuen Mittelschicht in der Partei gegen die aristokratischen Parteimanager mobil machen. Die vierte Partei hatte Northcotes zaghaften Führungsstil im Visier und verdächtigte ihn, auf ein formelles Bündnis mit den Whigs aus zu sein. Wie sich denken lässt, sah Disraeli in der vierten Partei eine Art wiedergeborenes Jung-England, sympathisierte mit einer Totalopposition und gewährte verhaltene Unterstützung, riet aber auch zur Loyalität Northcote gegenüber. Am 25. August begleitete ihn Arthur Balfour auf die Empore des Unterhauses, so dass er dessen Gefährten aus der vierten Partei und die „anderen neuen Leuchten“ wie Chamberlain in Aktion sehen konnte. Als Disraeli im Herbst abermals von seinen alten Feinden Gicht und Asthma heimgesucht wurde, dachte er über seinen Nachfolger nach, und Salisbury war seine erste Wahl. Die vierte Partei zeigte sich voll engagiert im Kampf für Salisbury und gegen Northcote, und nach Disraelis Tod führten sie seinen Namen für ihre Kampagne ins Feld. Obwohl Disraeli viele Jahre lang krank gewesen war, kam sein Tod letztlich einigermaßen unerwartet. Zu Beginn der parlamentarischen Sitzungsperiode von 1881 hatte er sich noch mit vollem Einsatz an den schwierigen Entscheidungen beteiligt, welche die Partei angesichts der Blockadetaktik der Iren treffen musste, die jene berühmte 41-Stunden-Sitzung nach sich zog und später dann die Einführung der „Guillotine“, durch die die Debattendauer beschränkt werden konnte. Die Regierung musste bei ihren Bemühungen, die Funktionsfähigkeit des Unterhauses zu wahren und Recht und Ordnung in Irland aufrechtzuerhalten, unterstützt werden, Disraeli aber war nicht bereit, so weit wie Northcote zu gehen und der liberalen Regierung einen Blankoscheck auszustellen. Der Königin gegenüber war er voll des Lobes über Northcotes Verhalten unter diesen schwierigen Bedingungen. Bei den Torys war so vieles liegen- bzw. unerledigt geblieben, nicht zuletzt die Frage der Führerschaft, dass Disraeli als Lebender auch weiterhin die Rolle des obersten Vermittlers und Schlichters bekleidet hätte. Im März war er noch auf der einen oder anderen Dinnerparty zu Gast; im Oberhaus ergriff er am 15. März letztmalig das Wort und äußerte sich zu der Ermordung Zar Alexander II. Anfang April rief eine abermalige Attacke seiner „alten Feinde“ Besorgnis hervor, und am 19. April starb er. Gladstone bot ein öffentliches Begräbnis an, Disraeli aber hatte testamentarisch seinen Wunsch nach einer Privatbestattung auf Hughenden zum Ausdruck gebracht und wollte in der Gruft neben seiner Ehefrau zur letzten Ruhe gebettet werden. Gladstone nahm ihm diesen Wunsch nicht ab und äußerte privat, ­Disraeli sei „gestorben, wie er gelebt hat – nur Schauspielerei, von Echtheit oder Wahrhaftigkeit keine Spur“; seine öffentliche Reaktion kostete ihn viel Überwindung, denn in einem solchen Fall konnte er seine innere Überzeugung nur schwer verbergen.27 Die Königin, auch sie konnte nicht anders, als die Wahrheit zu sagen, hinderte das Protokoll am Besuch der Beerdigung; sie sandte zwei Primelkränze. Später besuchte sie Hughenden, und die Friedhofsgruft wurde für sie geöffnet, damit sie einen porzellanen Blumenkranz niederlegen konnte.

11. Nachleben: die Entstehung des Disraeli-Mythos Als Disraeli im April 1881 starb, war er für die Torys bereits eine Ikone. Die Niederlage der Partei im Jahr zuvor hatte kaum an seinem Status gekratzt. Die Heftigkeit, mit der ihm von seinen Widersachern zugesetzt wurde, und die Existenz einer Gegenikone in der Person Gladstones ließen ihn im Ansehen nur steigen. Zustatten kam ihm dabei, dass er sich mindestens ebenso gut aufs Ent­werfen von Images und Mythen verstand wie auf die praktische Politik und dass diese Images und Mythen eine umfangreiche und auch widersprüchliche Verwendung finden konnten. Dass er seine Partei in einer schwachen Position zurückließ, veranlasste seine potenziellen Nachfolger erst recht dazu, sein Vermächtnis nach dem zu durchforsten, was zu ihren Ansichten passte. Augenfälligstes Erbteil war der Empire-Patriotismus, der ihm seinen größten Erfolg als Staatsmann eingetragen hatte. Und diese seine Botschaft wirkte weiter fort, da die Umstände dafür sorgten, dass ihr noch lange eine Wirklichkeit entsprach. „Die Ausweitung Englands“ – unter dieser Überschrift hielt J. R. Seeley zwei Jahre nach Disraelis Tod mehrere Vorlesungen – wurde zu einem Thema, das sich problemlos mit dem verknüpfen ließ, was Disrali getan hatte, und mehr noch mit dem, was er während seiner Zeit an der Macht gesagt hatte. Die Tatsache, dass die Politik Disraelis zu großen Teilen improvisiert und eine vorsichtige Politik war, nahm seiner Redekunst nichts. Er war angetreten, um Großbritannien wieder stärker als Macht zur Geltung zu bringen, zu einer Zeit, als andere Mächte wie etwa die Vereinigten Staaten, Deutschland und Russland als Rivalen auf den Plan traten. In diesem Wettkampf konnte Großbritannien nur als Empire bestehen, nicht als eine kleine Insel, deren Wirtschaft eine ausgesprochene Talfahrt erlebte. Selbst jene, die wie Glad­stone ein – wie Disraeli das nannte – Gegenevangelium des Kosmopolitismus verkündetet oder – was ihnen eher gerecht wird – ein Loblied auf den friedfertigen Internationalismus gesungen hatten, wurden in den Empire-Malstrom hineingezogen. Ägypten war das Paradebeispiel dafür, dass Gladstone in der Realität etwas unternehmen musste, was er in der Theorie angegriffen hatte. Gladstone blieb stets ein Imperialist wider Willen, doch bald schon gab es die liberalen Imperialisten, die dies alles andere als widerwillig waren. Dann war da noch die Sache mit Irland, die gleich nach Disraelis Ableben die politische Szenerie beherrschte. Die nachgiebige Haltung dem irischen Nationalismus gegenüber war Teil jener liberalen „Zerrüttungpolitik“, die Disraeli lange gegeißelt und die er zur Überraschung vieler zum Thema seiner Wahlerklärung von 1880 gemacht hatte. Es wurde ihm nicht weiter zur Last gelegt, dass er als Premierminister keine politische Strategie für Irland hatte und dass Parnell wohl

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erst dadurch zu einer wirklichen Gefahr für die Einheit des Königreiches werden konnte. Das liberale Lager selbst war in der Irlandfrage gespalten und der liberale Unionismus riss es vollends auseinander. Die lange Vorherrschaft der ­Torys nach 1886 verdankte sich zum großen Teil diesem Riss und sie ließ sich nicht ­Disraeli zurechnen, war seinem posthumen Ansehen aber dennoch zuträglich. Joseph Chamberlain betrachtete sich als eine der führenden politischen Gestalten, die das Erbe Disraelis angetreten hatten und in seinen Mantel geschlüpft waren. Als er nach der Niederlage von 1906 die Zolltarifreform schließlich den Torys an die Fahne heftete, hieß es, das sei „der größte politische Triumph seit […] Disraeli die konservative Partei an sich riss“.1 Für zahlreiche Kommentatoren war Joseph Chamberlain der klassische Fall von einem sozial denkenden Imperialisten, allerdings sah man bereits in Disraeli weithin einen sozialen Imperialisten, auch wenn der Ausdruck seinerzeit noch un­gebräuchlich war. Wenn sozialer Imperialismus bedeutet, mit dem EmpirePatriotismus über die Spannungen zwischen den Klassen hinauszugehen und sie durch soziale Reformen zu entschärfen, dann war Disraeli der Vorreiter der späteren ausdrücklicheren Sozialimperialisten in der konservativen Partei. Man hat autoritäre, ja sogar proto-faschistische Motive in Chamberlains ZolltarifreformKampagne ausgemacht. Ganz ähnliche Motive unterstellten Disraelis Widersacher seiner Außen-und Empirepolitik des „Vorwärts“, und in dem indischen Kaiser­titel sah man den Beginn einer Verfassungsrevolution, um das freiheitliche Staats­wesen in Großbritannien zu Fall zu bringen. Bruno Bauer – Junghegelianer, später Mitarbeiter bei der Kreuzzeitung und auch ein Vorreiter des Rassenantisemi­tismus – veröffentlichte 1882 ein Buch mit dem Titel Disraelis romantischer und Bismarcks sozialistischer Imperialismus.2 Er bezeichnete sie beide als „revolutionäre Zuchtmeister von Europa“. In Disraelis Fall räumte er ein, dass „er mit sich rang, ob er unter die Revolutionen im Ausland das Siegel des englischen Staates setzen sollte“, behauptet jedoch, dass „es ihm im Innersten um uneingeschränkte Herrschaft in England selbst ging, darum, die Parteilager zu entzweien und zum Bersten zu bringen“. Genau den gleichen Vorwurf erhoben auch seine inländischen Widersacher gegen ihn. Dass er in dem Ruf stand, gigantische Ziele zu verfolgen – anziehende für die einen, bedrohliche für die anderen – lag an den Images und Bildern, mit denen er seine Partei und die Öffentlichkeit versorgte. Den Begriff Tory-Demokratie verwendete Disraeli nie, dennoch aber ist seine posthume Wirkung eng mit diesem Begriff verknüpft. Lord Randolph Churchill setzte ihn als Waffe in seinem Kampf um die Führerschaft der Partei ein. Die innerparteilichen Turbulenzen kann man zumindest teilweise Disraeli anlasten, der in den letzten Jahren seiner Vorherrschaft so vieles unerledigt liegen ließ. Nicht nur die Frage der Nachfolge sorgte für Verwirrung, auch die Lage an der gesellschaft­ lichen Basis der Partei, wo sich ein Wandlungsprozess vollzog, war unübersichtlich. Sie war noch immer die aristokratische Partei, die sich dem Schutz der auf dem Landeigentum beruhenden Verfassung verschrieb, hatte jedoch Zulauf bekommen von der Mittelschicht, von den „sich am Leben erfreuenden Klassen“.

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Die von Derby und Disraeli verabschiedete Reformbill hatte bewirkt, dass man den „arbeitenden Schichten“ zunehmend Beachtung schenken musste. Disraeli selbst sympathisierte zumeist mit dem aristokratischen Lager seiner Partei, ja man kann sein Leben gleichsam als einen Prozess des Sich-Einwurzelns in den Adelsstand beschreiben. Das Ethos der Mittelschicht war nach wie vor nicht das seine, dennoch war er ihr gegenüber längst nicht mehr so voreingenommen und hatte seine Vorurteile gezügelt. Als er starb, war der Mittelschicht noch kein bedeutender Platz in der Partei zuerkannt worden, während die Krise in der Landwirtschaft gerade dafür sorgte, dass der Landbesitzadel endgültig an Bedeutung verlor. Als die vierte Partei im Sommer 1880 auf der Bildfläche erschienen war, hatte Disraeli widersprüchliche Signale ausgesendet. Lord Randolph Churchill verkörperte die Art von Hochadelsspross, zu der es ihn von jeher hinzog, Lord Randolph hatte ihm jedoch durch sein Zerwürfnis mit dem Prince of Wales Probleme eingehandelt. Gorsts Vorhaltungen, er sei vernachlässigt worden, verärgerten ihn gleichfalls, zudem war er sich unsicher über dessen wirkliche Motive. Gorsts Beschwerden gingen stets mit Angriffen auf die aristokratischen Geschäftsführer der Partei einher, auf Männer wie Abergavenny, die „alten Immergleichen“, wie er sie nannte, und das kann Disraeli kaum gefallen haben. In den ihm verbleibenden Monaten seines Lebens taten sich Churchill & Co. im Parlament hauptsächlich als kritische Quälgeister hervor. Für eine solche Taktik konnte er unter der Voraussetzung Verständnis aufbringen, dass Northcote nicht zu hart angegangen wurde. Die Kampagne der vierten Partei gewann erst nach Disraelis Tod an Breiten­ wirkung. Churchill tat sich als volkstümlicher Redner hervor und füllte die L ­ ücke, die Disraeli und seine Kollegen nicht zu füllen vermochten. Er und seine Gefährten hatten bald richtig Fahrt aufgenommen, wobei sie sich in erster Linie auf das Vermächtnis Disraelis und die Tory-Demokratie beriefen. Gorst äußerte C ­ hurchill gegenüber, dass die Zeit reif sei für eine „demokratische Tory-Partei, von der Dizzy immer träumte, und an deren Spitze du dich leicht setzen könntest“.3 Die Fortnightly Review vom Oktober und November 1882 brachte anonym verfasste Artikel über den ‚Zustand der Opposition‘, deren Autoren, wie das Gerücht ging, Gorst, Churchill und Wolff waren. Die Partei müsse sich, so der Tenor, der blaublütigen Nullen und der bourgeoisen Strohmänner entledigen, die sich um den Chef in seinen alten Tagen geschart hatten. Disraeli wiederum hatte an den Resultaten der Lancashire-Wahl von 1868 erkannt, welch enorme Möglichkeiten eine Volkspartei bot, und sein Erfolg von 1874 war bereits auf diese Grundfeste gebaut. Disraelis Vermächtnis, der „Mantel des Elias“, harrte eines Erben. ­Churchill, der von diesem Bild Gebrauch gemacht hatte, benutzte es erneut und veröffentlichte seinen Fortnightly-Artikel im Mai 1883 unter der Überschrift, ‚Elias’ Mantel, 19. April 1883‘: „Der Ausdruck ‚Tory-Demokratie‘ hat bei manchen für Verwunderung gesorgt, anderen hat er Furcht eingeflößt und vonseiten der Radikalen Partei erntete er bitteren Spott. Und trotzdem könnte es eine ‚Tory-Demokratie‘ geben; es muss sich nur einer der Elemente zu ihrer Gestaltung annehmen – der Mann nämlich, wo immer er sein mag, auf den sich der Mantel des Elias herabgesenkt

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hat.“4 Dem Leser stand es frei zu schließen, dass es sich bei diesem Mann um Lord Randolph höchstpersönlich handeln könnte. Einen Monat zuvor hatte er einen Brief an die Times geschrieben, in dem er Einwände erhob gegen die Wahl North­ cotes, der die Beaconsfield-Statue am zweiten Todestag des großen Mannes in Westminter enthüllen sollte. Churchill war wohl vorerst einverstanden damit, Disraelis Mantel mit Salisbury zu teilen, und nicht mit Northcote. Tot oder lebendig, Disraeli befand sich auch weiterhin im Zentrum der politischen Schlacht. Das Folgejahr erlebte die Gründung der Primrose League (des Primelbundes), die darauf zielte, der Forderung Churchills und anderer zu entsprechen und die Partei im Volk zu verankern. Bis in die 1890er Jahre war die League die größte politische Organisation im Land, die unter anderem der vom Wahlrecht ausgeschlossenen weiblichen Hälfte der Bevölkerung die Möglichkeit bot, politisch Einfluss zu nehmen. Den Namen erhielt sie von der Blume, bei der es sich Mrs. Brydges Willyams und der Königin zufolge um Disraelis Lieblingsblume handelte, wenngleich ein andere enge Freundin, Lady Dorothy Nevill, sich nicht erinnern konnte, dass er eine besondere Vorliebe für Primeln gehabt hätte. Der Mythos aber behielt die Oberhand und stach die Wirklichkeit aus, wie so oft in Disraelis Falle. Die unklare Lage, die er der Partei vermacht hatte, was das Verhältnis zwischen Northcote und Salisbury anging und die Beziehungen zwischen der Aristokratie, der Mittelschicht und der Arbeiterschaft, trug selbst wiederum mit dazu bei, dass sein Mythos in der Politik fortwirkte. Der Abscheu der Gegenspieler voreinander tat wie gehabt ein Übriges. Gladstone schrieb an seinen Freund Lord Acton: Die ‚Tory-Demokratie‘, die Lieblingsidee auf der anderen Seite, hat mit der konservativen Partei, in der ich aufgezogen wurde, ebenso wenig zu tun wie mit dem Liberalismus. Genau genommen noch weniger. Die Idee ist reine Demagogie, eine Schmeichelei dem Volk gegenüber, die jedoch nicht durch die Liebe zur Freiheit und ihre Wertschätzung geadelt ist, sondern die im schlimmsten Fall benutzt wird, um den friedfertigen und das Gesetz achtenden Elementen der Wirtschaft, die dem alten Konservativismus zur Ehre gereichten, das Wasser abzugraben; die heutigen Konservativen leben davon, Leidenschaften und Wut zu schüren, und hängen doch im Geheimen dem gleichen alten und bösen Prinzip der Klassen­ interessen an.5

Gladstone hätte genauso gut auch ‚Beaconfieldismus‘ schreiben können anstelle von ‚Tory-Demokratie‘. Am Tag nach dem großen Sieg im Jahre 1880 hatte er Argyll geschrieben: „Der Untergang des Beaconfieldismus gleicht dem Verschwinden irgendeiner prächtigen Burg in einem romantischen Roman aus Italien“ und würde „die große Mehrheit der zivilisierten Welt“ mit Freude erfüllen.6 Die politischen Schlachten der Jahre nach Disraelis Tod stellten mithin sicher, dass sein Name in den Debatten allgegenwärtig war. Historiker und politische Autoren trugen das Ihre dazu bei, dass die Erinnerung an ihn lebendig blieb. Der Tory-Journalist T. E. Kebbel veröffentlichte 1886 unter dem Titel Eine Geschichte des Toryismus eine Artikelserie neu, die er für die National Review verfasst hatte. Disraeli figuriert darin an der Seite von Pitt und Peel als einer der drei größten

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Tory-Minister, die „in der Staatskunst schulbildend gewirkt haben“. Kebbel war ein Verfechter der Auffassung, dass Disraeli wenig Wohlwollen für die Mittelschicht aufbrachte, die „dem Namen Sir Robert Peels huldigte; und während sie die Oberhand behielt, kämpfte er vergeblich um eine gesicherte Machtposition“. Nach Meinung Kebbels hatte sich Disraeli andererseits „früh mit den Anliegen der Armen und dem Mitgefühl ihnen gegenüber identifiziert“, so dass, als kein Weg mehr an der Übertragung des Stimmrechts auf sie vorbeiführte, „seine Maßnahme von 1867 und die ganze darauffolgende Gesetzgebung zu ihren Gunsten sich wie die natürliche Entfaltung seiner Ansichten ausnahm, die er bis dahin zum Ausdruck gebracht hatte“.7 Es gab eine ganze Serie von inländischen und ausländischen Disraeli-Biographien. Einer der ersten Namen auf der Liste der Verfasser ist der J. A. Froudes, der 1890 mit seiner Darstellung hervortrat.8 Froude war ein radikaler Tory im Stile Carlyles, zugleich dessen Biograph und ein Mann des Empires. Wenngleich er manche von Disraelis Ideen anziehend fand, misstraute er ihm, dem hebräischen Beschwörungskünstler, ebenso stark, wie Carlyle das tat. Im Gegensatz zu Disraeli war Froude von Hause aus mit dem Gewicht der viktorianischen Religion und Moral beladen, und er kämpfte sein ganzes Leben lang darum, es loszuwerden. Deshalb legte er besonderen Nachdruck – wie die Disraeli-Forscher der jüngeren Vergangenheit auch – auf die jüdische und fremdartige Seite seines ‚Gegenstands‘ und darauf, wie sie diesen von Bindungen und Verpflichtungen frei ließ. Die stereotype Schilderung von Disraeli als „dem fremdartig anmutenden Patrioten“ war in der Welt. 1880 las Gladstone eine Biographie des dänisch-jüdischen Historikers Georg Brandes und ihn beeindruckte die Beschreibung von „Beaconsfields Geist als metallisch und meinem als fließend“.9 Diese noch zu Amtszeiten des Kabinetts von 1874 verfasste Biographie räumt dem literarischen Schaffen Disraelis den meisten Raum ein, da Brandes sich aus Mangel an Stoff nicht fortgesetzt mit dem Politiker Disraeli beschäftigen konnte. Der dänische Schriftsteller konzentrierte sich einfühlsam und scharfsichtig auf Disraelis Wesen und seine Herkunft: Man versteht nichts von Benjamin Disraeli’s Wesen, wenn man übersieht, dass selbst die Theorien und Schwärmereien, die bei ihm am vollständigsten das Gepräge der großen romantischen Reaktion tragen, ohne Ausnahme ursprünglich von angeborener Skepsis und früh entwickelter Kritik desinfiziert worden sind. […] Nicht allein die kritischen und negativen, sondern auch die positiven, romantisch-konservativen Tendenzen Benjamin Disraeli’s lassen sich jedoch auf den Vater zurückführen. Der alte Literator hatte, obwohl religiös radikal, eine instinktive Neigung zur Torydenkart.10

Disraelis Romane konnten von den Menschen in anderen Ländern ebenso ge­ lesen werden wie von seinen Landsleuten, es waren jedoch die politischen Vorgänge in seinem Heimatland, die seinen Mythos am Leben hielten. Das meiste Kopfzerbrechen bereitete den Konservativen offenbar die Frage, wie sie ihre Partei angesichts der fortschreitenden Massendemokratie organisieren und am Laufen halten konnten. Auf ihrer Suche nach Antworten schlugen sie auch immer wieder in Disraelis Vermächtnis nach und entdeckten in seinen Romanen Dinge, mit

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denen sie arbeiten konnten, etwa das Bild von den zwei Nationen: die der vielen Armen und die der wenigen Reichen, mit dem er in Sybil das Dilemma des Landes zur Darstellung gebracht hatte. Durch das große Wahldebakel von 1906 gewann die Frage eine neue Aktualität. Ein nächstes einschneidendes Ereignis bei der Ausbreitung des Mythos war die Veröffentlichung von Winston Churchills Biographie seines Vaters Randolph im Jahre 1906.11 Diese widmet dem Umstand besondere Beachtung, dass Lord Randolph sich als den wahren Erben von Disraelis volksverbundenem Toryismus gesehen hatte, indes seine Gegenspieler Disraelis Erbe preisgeben hätten. Derart rechtfertigte Winston seinen kürzlich vollzogenen Übertritt von den Torys zu den Liberalen; die beiden Bände über seinen Vater sind allerdings viel lesbarer als andere Monumentalbiographien über viktorianische Politiker. Die Veröffentlichung von Disraelis biographischem Monument begann 1910. Die ersten beiden Bände wurden von W. F. Monypenny verfasst, einem Journalisten der Times, der 1912 kurz vor Erscheinen des zweiten Bandes starb. Die noch ausstehenden vier Bände schrieb George Buckle, der kurz vorher nach einem Streit mit Lord Northcliffe als Herausgeber der Times zurückgetreten war; 1920 war die Veröffentlichung abgeschlossen. Monypenny und Buckle preisen und rechtfertigen Disraeli vorbehaltlos und gestatten sich nur gelegentlich eine kritische Anmerkung. Das Werk allerdings gibt die erhaltenen Dokumente von Disraeli ‚lücken­loser‘ wieder als die anderen vergleichbaren Biographien, oder zumindest den Teil von ihnen, der den damaligen Anstandsvorstellungen nicht zuwiderlief. Viele der Papiere, die derartige Empfindlichkeiten verletzt hätten, waren von Disraelis Testamentsvollstreckern Monty Corry, Lord Rowton und L ­ ionel de Rothschild ohnehin ausgesondert worden. Monypenny und Buckle hatten jene Quellen herangezogen, die Disraeli unmittelbar betrafen. Ihnen stand nicht die große Menge an öffentlichen und privaten ‚Kontext-Dokumenten‘ zur Verfügung, und auch nicht die zahlreichen Tagebücher, die inzwischen zugänglich waren. George Buckle ging es insbesondere in den letzten Bänden darum, Disraelis Außen- und Empirepolitik zu verteidigen, und er befasste sich mit dieser Thematik gründlicher als ursprünglich beabsichtigt. Der Kampf zwischen den Tory-Impe­rialisten und den liberalen Gegnern der britischen Empirepolitik war nach wie vor im Gange. Die von Buckle eingenommene Perspektive kommt einem jetzt alt­modisch und überholt vor, und viele Fragen, die heutzutage von Interesse sind, wurden damals nicht gestellt. Nach dem Zweiten Weltkrieg galten viele politische und sexuelle Tabus nicht mehr, so dass alle Aspekte der viktorianischen Zeit analysiert werden konnten. Das von B. R. Jerman 1960 veröffentlichte Werk The Young Disraeli gibt Einblicke in Disraelis bewegtes frühes Leben.12 Die prägende Nachkriegsbiographie, die sowohl Disraelis privatem als auch seinem öffentlichen Leben gerecht wurde, stammt von Robert Blake, der sie 1966 herausbrachte; bis heute ist sie in den wesentlichen Punkten das Maß aller Dinge. In seinem fast zeitgleich erschienen Buch über ­Disraelis Sozialreform verwies Paul Smith die Vorstellung, dass diese Sozialreform eine konservative Handschrift trug, weitgehend ins Reich der

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11. Nachleben: die Entstehung des Disraeli-Mythos

Legenden.13 Die Sozialgesetze der Konservativen aus den 1860er und 1870er Jahren hätten genauso gut von liberalen Regierungen erlassen worden sein können, rührten nicht von einer ursprünglich in den Romanen der Trilogie vertretenen und dargelegten Weltanschauung her und hätten der Initiative des Premierministers wenig zu verdanken gehabt. Gegen diese Ansicht argumentierte Peter Ghosh später, Disraeli habe die konservative Reform vorangetrieben, weil er der von den Liberalen und Radikalen vorgeschlagenen Reform des politischen Sytems eine Alternative entgegensetzen wollte. Die Torys seien auf eine Reform aus gewesen, die den Menschen in ihrer Not und mit ihren Bedürfnissen unmittelbarer zugute kommt und sich auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt weniger nachteilig auswirkt als die auf dem Demokratie-Dogma beruhenden konstitutionellen Reformen, für die die Linke eintrat.14 Ghosh stellte zudem heraus, dass Disraeli als Schatzkanzler eine Finanzpolitik verfolgte, die der von Gladstone nicht unähnlich und in mancher Hinsicht origineller war, dass er jedoch nicht die Möglichkeit hatte, sie in die Tat umzusetzen.15 Was die Außen- und die Empire-Politik betrifft, haben C. C. Eldridge und andere gezeigt, dass es Disraeli um Erhalt und Festigung ging, und nicht um Expansion.16 Anderen wiederum drängte sich bei erneuter Prüfung der politischen Rolle, die Disraeli im In- und Ausland spielte, der Eindruck auf, dass es hinter dem Mythos um seine Person eine gewisse Deckungslücke in der Substanz gebe. Weshalb stieg er in den Rang einer Ikone auf, wurde gefragt, wo doch Salisbury der viel erfolgreichere Staatsmann und der bedeutendere konservative Denker war. Nicht Disraeli, sondern Peel müsste als der Vater der modernen konservativen Partei anerkannt werden, aber es hieß auch, dass Disraelis Anteil an der Vernichtung Peels allgemein überschätzt wurde. Peel sei für seinen Niedergang in der Hauptsache selbst verantwortlich gewesen, und es war ihm in den 1840er Jahren nicht gelungen, jene liberal-konservative Partei der Mittelschicht aufzubauen, die später entstanden ist. Die Zeit sei nicht reif für sie gewesen und Peel habe sich in taktischer Hinsicht nicht zu helfen gewusst. Allerdings schulde die moderne liberal-konservative Partei Disraeli kaum etwas. Folglich ließe sich seine Karriere als Fehlschlag bezeichnen, statt als Märchen, und könnte seine Leistung, die weit hinter seinen hochtrabenden und pompösen Ideen zurückgeblieben sei, als dürftig beurteilt werden. Es war freilich nicht möglich, Disraeli ganz aus dem Drehbuch der viktorianischen Epoche herauszuschreiben. Als der Zeitgeist postmoderne Züge ausprägte, zählte die Fähigkeit, über Images Einfluss auf den Lauf der Dinge zu nehmen, genauso viel wie die Ausübung der Macht selbst. Indem er seiner Partei durch ein paar wohlüberlegte und wohlgesetzte Wendungen das gewünschte Empire-patriotische und sozialfürsorgliche Image verschaffte, übte Disraeli einen nachhaltigeren Einfluss aus als diejenigen, die die sozialen und legislativen Maßnahmen trafen – denn diese Maßnahmen wurden bald von den Ereignissen überholt und gerieten in Vergessenheit. Die jüngste Forschung, vor allem der von Charles R ­ ichmond und Paul Smith herausgegebene Band, hat – jenseits der Blake’schen Bemühungen – die Vielschichtigkeit der Situation deutlich gemacht, in der Disraeli sich aufgrund

11. Nachleben: die Entstehung des Disraeli-Mythos

211

seiner Herkunft und frühen Entwicklung in psychologischer Hinsicht befand.17 Geht man den Auswirkungen dieser Faktoren und seiner jüdischen Herkunft auf seine Persönlichkeit und seine Vorstellungswelt nach, spürt man die Faszination und das Außergewöhnliche, die von ihm ausgingen. Die Disraeli-Studien sind also gleichsam zu ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt, denn auch seine Zeitgenossen und seine frühen Biographen fühlten sich von eben diesem Geheimnis, das ihn umgab, angezogen oder abgestoßen. Als Disraeli 1874 zum ersten Mal die wirkliche Macht zu fassen bekam, hatte Walter Bagehot geschrieben: Sein Geist war mit Strategien befasst, mit nichts als klugen Strategien; er wollte, dass fünf Männer die Arbeit von sechsen tun; er dachte sich clevere Taktiken aus, um einen Keil ­zwischen seine Feinde zu treiben, und kleine Epigramme, die schmerzhafte Treffer landen sollten. Solche Dinge behagten ihm, sie entsprachen genau der Natur seines Geistes – kein Führer war je zu derart delikaten Manövern in der Lage, kein Redner beherrschte je feinere und gleicherweise treffende Sarkasmen. In allem anderen war er jedoch bloß ein geduldeter Ausfall. Wenn die ungeheuerliche Widersprüchlichkeit seiner ernst gemeinten Äußerungen zur Sprache kam, sagten seine Freunde, „Was wollt ihr, so ist Dizzy nun mal!“ Wenn man auf irgendeine frappierende Unkorrektheit aufmerksam machte, sagten sie, „Ja, das ist Dizzys Art“.18

Deutliche Worte, die jedoch mehr als Bagehot hätte zugeben wollen auf nahezu jeden erfolgreichen Politiker zutreffen könnten. Disraeli war mit einer Einbildungskraft begabt, wie sie in der Politik nicht häufig anzutreffen ist. Bisweilen ließ er sich von ihr zu „ungeheuerlichen Widersprüchlichkeiten“ verleiten, sie war es allerdings, die seinen Ruf lebendig hielt. Im 21. Jahrhundert führen Politiker, Journalisten und andere Meinungsbildner Disraelis Namen nach wie vor ins Feld und zitieren so manche seiner bekannter gewordenen Äußerungen. Ihre eigenen ephemeren Kommentare bekommen dadurch nicht nur eine gewisse Patina, sondern wirken gleich um einiges gewichtiger. Disraelis denkwürdige Formulierungen lassen sich für ein großes Spektrum an Standpunkten und politischen Positionen in den Dienst nehmen, den thatcheristischen und reaganistischen Neo­liberalismus etwa, oder den ‚mitfühlenden Konservativismus‘ à la Bush und Blair, und so weiter. Nur wenige Hauptakteure der britischen Politik sind in so lebendiger Erinnerung geblieben wie dieser jüdische Exot und Romanschriftsteller, der es an die Spitze der Torys brachte.

Anmerkungen In den Anmerkungen verwendete Abkürzungen RB DD I DD II

DL MB JR Z

Robert Blake, Disraeli (London, 1996); dt. Disraeli (Frankfurt a. M., 1980). John Vincent (Hg.), Disraeli, Derby and the Conservative Party: Journals and ­Memoirs of Edward Henry, Lord Stanley 1849–1869 (Hassocks, 1978). John Vincent (Hg.), A Selection from the Diaries of Edward Henry Stanley, 15th Earl of Derby, between September 1869 and March 1878 (Royal Historical ­Society, 1994). J. Matthews / M. G. Wiebe et al (Hg.), Benjamin Disraelis Letters 1815–1851. 5 Bde. (Toronto, 1982–93). Monypenny / Buckle, The Life of Disraeli, 2 Bde. (London, 1929). Jane Ridley, The Young Disraeli (London, 1995). Marquis of Zetland (Hg.), Letters of Disraeli to Lady Bradford and Lady Chesterfield, 2 Bde. (London, 1929).

Zur Einführung 1 In Falconet, seinem unvollendet gebliebenen Roman. Von der Wendung macht Joseph ­ oplady Falconet Gebrauch, bei dessen Figur es sich um ein nur schwach getarntes Porträt T Gladstones handelt, MB ii. 1539. 2 Jonathan Parry, „Holborn at heart“, London Review of Books, 23. Januar 1997, zitiert in Charles Richmond / Paul Smith (Hg.), The Self-Fashioning of Disraeli 1818–1851 (Cambridge, 1998), S. 6.

Zu 1. Genie, Literat. Auf der Suche nach seiner Bestimmung (1804–1837) 1 RB,

S. 487. S. 303. 3 Sarah Bradford, Disraeli (New York, 1983), S. 3. 4 MB i. 1274. 5 Todd M. Engelman, Radical Assimilation in English Jewish History 1656 –1945 (Bloomington, 1990), S. 29. 6 Contarini Fleming, Teil I, Kapitel V. 7 David Eastwood, „The Age of Uncertainty: Britain in the early nineteenth century“, in Transactions of the Royal Historical Society, 6. Reihe, Bd. viii, S. 102. 8 Mutilated Diary, DL I, S. 445–50. 9 Tancred, Buch V, Kapitel III. dt. Tancred oder der neue Kreuzzug (Zürich, 2004). 10 Contarini Fleming, Teil II, Kapitel XII. 11 Contarini Fleming, Teil II, Kapitel XV. 12 Charles Richmond / Jerrold M. Post, MD, „Disraeli’s crucial illness“, in: Charles Richmond /  Paul Smith (Hg.), The Self-Fashioning of Disraeli 1818–1851 (Cambridge, 1998), S. 66–89. 2 RB,

Anmerkungen 13 DL

213

I, 66, 10. März 1828. Duke, Buch II, Kapitel XVIII. 15 DL I, 110, 20. März 1831. 16 Bradford, Disraeli. S. 59. 17 Patrick Brantlinger, „Disraeli and orientalism“, in: Richmond / Smith (Hg.), Self-Fashion­ ing, S. 90–105. 18 MB i. 217. 19 JR, S. 131. 20 W. Hutcheon (Hg.), Whigs and Whiggism (London, 1913), S. 16–22. 21 Mutilated Diary, DL I, S. 447. 22 The Young Duke, Buch V, Kapitel VI. 23 DL I, 152, 9. März 1832. 24 RB, S. 80. 25 Mutilated Diary, DL I, S. 450. 26 Bradford, Disraeli, S. 73. 27 Henrietta Temple, Buch II, Kapitel IV. 28 DL II, 542, 18. Dezember 1836. 29 RB, S. 87. 30 MB i. 258 f. 31 Dennis Lee, Lord Lyndhurst, The Flexible Tory (Niwot, Colorado, 1994), S. 91. 32 C. C. F. Greville, Memoirs 1814–1860 (hg. von R. Fulford und Lytton Strachey, London, 1938), Bd. III, S. 118. 33 MB i. 243. 34 Bradford, Disraeli, S. 71. 35 Paul Smith, Disraeli. A Brief Life (Cambridge, 1996), S. 47. 36 DL II, 389, 17. April 1835. 37 MB i. 291–9. 38 Lee, Lyndhurst, S. 182. 39 DL II, 421, 20. August 1835. 40 DL II, 409, 2. Juli 1835, an Edward Beadon. 41 Abgedruckt in Hutcheon (Hg.), Whigs and Whiggism, S. 111–232. 42 RB, S. 130; DL II, 459, 28. Dezember 1835, an Isaac. 43 Mutilated Diary, DL I, S. 445 f. 44 DL II, S. 398. 45 DL II, 585, 5. März 1837. 46 DL II, S. 358; DL II, 557, 17. Januar 1837, an Sarah. 47 DL II, 631, 4. Juli 1837. 48 DL II, 589, 18. März 1837; S. 243, Anm. 3, zu D’Orsays Brief. 14 The Young

Zu 2. Politik und häusliches Leben (1837–1841) 1 DL

II, 636, Anm. 3. II, 646. 3 DL II, 673, 16. November 1837. 4 DL II, 683, 5. Dezember 1837. 5 DL II, 686, 8. Dezember 1837. 6 RB, S. 148. 7 DL III, 893. 8 MB i. 412. 9 DL II, 31. Dezember 1837. 10 MB i. 413. 2 DL

214

Anmerkungen

11 MB

i. 380. III, 861, 30. Dezember 1838. 13 RB, S. 770 f. 14 DL III, S. 410. 15 DL II, 897, 25. Februar 1839, an Sarah. 16 MB i. 455. 17 MB i. 460, Hansard, Bd. 48, Sp. 579 f. 18 DL III, 964, 13. Juli 1839. 19 Hansard, Bd. 49, Sp. 246–52. 20 Sybil, Buch V, Kapitel I. 21 Coningsby, Buch II, Kapitel V. 22 MB i. 485. 23 DL III, 971, 23. Juli 1839. 24 Stanley Weintraub, Disraeli (London, 1993), S. 190. 25 DL IV, 1216, 24. Februar 1842. 27 Hansard, Bd. 58, Sp. 856. 28 DL III, 1185. 29 MB i. 516–8. 30 DL III, 1188. 31 JR, S. 255. 12 DL

Zu 3. Jung-England (1841–1845) 1 DL

IV, 1217, 25. Februar 1842. IV, 1219, 26. Februar 1842. 3 DL IV, 1230, 12. März 1842. 4 DL IV, 1226, 10. März 1842, an Mary Anne, der Freund ist Lord Eliot. 5 DL IV, 1255, 11. August 1842. 6 DL IV, Appendix III, S. 372. 7 DL IV, Einführung, S. xiv, Anm. 21. 8 DL IV 1229, 11. März 1842. 9 Richard Faber, Young England (London, 1987), S. 20 (Cochrane) und S. 124 (Smythe). 10 RB, S. 175. 11 Faber, Young England, S. 118. 12 MB i. 538 f. 13 DL IV, S. xliv. 14 MB i. 575 f. 15 MB i. 577. 16 DL IV, 1323, 29. August 1843. 17 Coningsby, Buch II, Kapitel I. 18 Coningsby, Buch III, Kapitel XI. 19 Coningsby, Buch III, Kapitel XV. 20 Coningsby, Buch IV, Kapitel V. 21 JR, S. 285. 22 MBi. 587–90. 23 MB i. 639. 24 DL IV, S. xxii. 25 DL IV, S. xxiv. 26 MB i. 582. 27 Buch IV, Kapitel II. 28 JR, S. 293. 2 DL

Anmerkungen 29 MB

215

i. 645.

30 Faber, Young

England, S. 140 f. IV, 1379, 27. Oktober 1844. 32 Sybil, Buch VI, Kapitel I. 33 DL IV, 1402, 1. Mai 1845. 34 DL IV, 1391, 6. Februar 1845. 35 MB i. 710–3. 36 DL IV, 1396, 3. März 1845. 37 RB, S. 187. 38 MB i. 725–8; DL IV, S. xxviii. 39 DL IV, 1453, 14. Dezember 1845. 40 DL IV, 1460, 11. Januar 1846. 31 DL

Zu 4. An die Spitze (1845–1849) 1 DL

IV, 1444, 17. September 1845. Bd. 83, Sp. 95. 3 DL IV, 1445, 17. September 1845. 4 Sarah Bradford, Disraeli, (New York, 1983), S. 127; RB, S. 224. 5 Lord George Bentinck, Kapitel III. 6 MB i. 754. 7 Donald Read, Peel and the Victorians (Oxford, 1987), S. 210. 8 Norman Gash, Pillars of Government (London, 1986), S. 162–77; „Lord George Bentinck and his sporting world“. 9 MB i. 761. 10 The Times, 21. Februar 1846. 11 RB, S. 233. 12 DL IV, 1477, 28. März 1846. 13 MB i. 785 14 RB, S. 237. 15 MB i. 794 f. 16 Read, Peel, S. 230. 17 DL IV, 1499, 29. Juni 1846. 18 Lord George Bentinck, Kapitel XVIII. 19 Lord George Bentinck, Kapitel XVIII. 20 JR, S. 342. 21 DL IV, 1514, 28. August 1846, an George Mathew. 22 Tancred, Buch III, Kapitel IV. 23 Tancred, Buch III, Kapitel VI. 24 DL V, 1730, 18. Oktober 1848, an Mary Anne. 25 MB i. 830. 26 Robert Stewart, The Foundation of the Conservative Party 1830–1867 (London und New York, 1978), S. 228. 27 MB i. 836–8. 28 MB i. 886. 29 DL V, 1619, 30. Dezember 1847; Anm. 1, Manners über Newdegate, tags zuvor. 30 MB i. 917. 31 MB i. 921–4. 32 DL V, 1643, 1. Mai 1848. 33 MB i. 937–41. 34 MB i. 951. 2 Hansard,

216

Anmerkungen

35 DL V,

1769, 13. Januar 1849. I, S. 1, 20. März 1849. 37 DL V, 1788. 36 DD

Zu 5. Auf dem Weg in die Regierung (1849–1852) 1 Robert Stewart, The Foundation of the Conservative Party 1830–1867 (London und New York, 1978), S. 233. 2 DL V, 1635, 7. März 1848, an Sarah. 3 MB i 1016. 4 DL V, 1801, 18. März 1848. 5 DL V, 1902, 19. Oktober 1849. 6 MB i. 1039–42. 7 MB i. 1035. 8 RB, S. 297. 9 Stewart, Conservative Party, S. 248. 10 DL V, 1857, 18. Juli 1849. 11 RB, S. 291. 12 DL V, 1996, 24. April 1850, an George Lathom Browne. 13 DL V, 1992, 18. April 1850, an Sarah. 14 DL V, 2036, 27. August 1850. 15 RB, S. 297. 16 DL V, S. 532. 17 DL V, 1790, 23. Februar 1849. 18 DD I, 11. Februar 1851; DL V, 2097, Anm. 1. 19 DD I, S. 51; 28. Februar 1851. 20 DL V, 2105, 8. März 1851. 21 DD I, S. 50, 28. Februar 1851. 22 Lord George Bentinck, Kapitel XXIV. 23 DD I, S. 32. 24 DD I, S. 62, 15. April 1851; Dl V, 2122, 20. April 1851, an Lady Londonderry; DD I, S. 65, 11. Mai 1851. 25 RB, S. 317. 26 DD I, S. 76, 19. Juli 1852. 27 RB, S. 337. 28 DD I, S. 90, 16. Dezember 1852; Stewart, Conservative Party, S. 261.

Zu 6. Auf Beutezug in kargen Jahren (1853–1859) 1 DD

I, S. 213, 10. April 1864. i. 1308. 3 MB i. 1311. 4 Angus Hawkins, Parliament, Party and the Art of Politics in Britain, 1855–59 (Basingstoke und London, 1987), S. 293. 5 Robert Stewart, The Foundation of the Conservative Party 1830–1867 (London und New York, 1978), S. 293. 6 DD I, S. 72, Juni 1852. 7 DD I, S. 173, 17. Juni 1861. 8 K. T. Hoppen, Elections, Politics and Society in Ireland 1832–1885 (Oxford, 1984), S. 280. 2 MB

Anmerkungen 9 DD

217

I, S. 104, 5. April 1853. Times, 17. Januar 1854. 11 DD I, S. 90, 17. Dezember 1852. 12 DD I, S. 33, 1851. 13 MB i. 1365. 14 MB i. 1341. 15 MB i. 1323. 16 DD I, S. 108, 30. Juni 1853. 17 MB i. 1328. 18 C. C. F. Greville, Memoirs, 1814–1860, hg. von Roger Fulford und Lytton Strachey (London, 1938), Bd. VI, S. 404. 19 DD I, S. 121, 23. Februar 1854. 20 Helen M. Swartz / Marvin Swartz (Hg.), Disraelis Reminiscences (London, 1975), S. 18. 21 MB i. 1457. 22 MB i. 1300; Hansard, cxxiv 245–82. 23 Malmesbury, Memoirs of an Ex-Minister (London, 1884), Bd. I. S. 434, 12. Mai 1854. 24 MB i. 1363. 25 MB i. 1420 f. 26 DD I, S. 140, November 1855. 27 Einem unter den britisch-indischen Streitkräften weit verbreiteten Gerücht zufolge sollen die Patronenhülsen des neueingeführten Enfield-Gewehres mit einer Mischung aus Rindertalg und Schweineschmalz behandelt worden sein, was für gläubige Hindus wie Moslems einen Affront bedeutete. 28 RB, S. 376 f. 29 Malmesbury, Memoirs, Bd. II, S. 417. 30 DD I, S. 156, 21. Februar 1858. 31 Hawkins, Parliament, Party, S. 111. 32 RB, S. 383. 33 T. A. Jenkins (Hg.), The Parliamentary Diaries of Sir John Trelawny 1858–1865 (Royal Historical Society, Camden 4. Reihe, Bd. 40, 1990), S. 49, 11. Juni 1858. 34 Edinburgh Review, Bd. 106, S. 258. 35 Hawkins, Parliament, Party, S. 178. 36 Hawkins, Parliament, Party, S. 235. 10 The

Zu 7. Frustration und Triumph (1859–1868) 1 MB

ii 27 f.; DD I, S. 170, 20. April 1861. ii. 20. 3 MB ii. 23 ff. 4 MB ii. 34; DD I, S. 172, 3. Juni 1861. 5 DD I, S. 186 f., 3. Juni 1861. 6 RB, S. 430. 7 DD I, S. 218, 3. Juni 1864. 8 DD I, S. 179, 30. November 1861. 9 E. D. Steele, Palmerston and Liberalism 1855–1865 (Cambridge, 1991), S. 187. 10 MB ii. 96. 11 MB ii. 105. 12 RB, S. 434. 13 MB ii. 117. 14 Stanley Weintraub, Disraeli (London, 1993), Kapitel XX, S. 419–36. 15 MB ii. 150 ff. 2 MB

218

Anmerkungen

16 T. A. Jenkins (Hg.) The Parliamentary Diaries of Sir John Trelawny 1858–1865 (Royal Historical Society, Camden 4. Reihe, Bd. 40, 1990), S. 278, 11. Mai 1864. 17 Für alle Darstellungen der Reformfrage von 1856 bis 1868 siehe hauptsächlich F. B. Smith, The Making of the Second Reform Bill (Cambridge, 1966) und Maurice Cowling, 1867: ­Disraeli, Gladstone and Revolution. The Passing of the Second Reform Bill (Cambridge, 1967. Für eine Zusammenfassung siehe E. J. Feuchtwanger, Democracy and Empire: Britain ­1865–1914 (Bd. 9 der New History of England, London, 1985), Kapitel I, S. 27–54. 18 RB, S. 445. 19 DD I, S. 256, 29. Juni 1866. 20 DD I, S. 261, 25. Juli 1866. 21 MB ii. 194. 22 C. C. Eldridge, Disraeli and the New Imperialism (Cardiff, 1996), S. 85. 23 MB ii. 205. 24 Eldridge, New Imperialism, S. 27 ff. 25 E. J. Feuchtwanger, Disraeli, Democracy and the Tory Party (Oxford, 1968), S. 42. 26 DD I, S. 301, 13. April 1867. 27 N. E. Johnson (Hg.), The Diary of Gathorne Hardy, Later Lord Cranbrook, 1866–1892 (Oxford, 1981), S. 37, 13. April 1867. 28 Paul Smith (Hg.), Lord Salisbury on Politics: A Selection from his Articles in the Quarterly Review (Cambridge, 1972), S. 257 f. 29 MB ii. 287. 30 RB, S. 482; MB ii. 289; Paul Smith, Disraeli (Cambridge, 1996), S. 149. 31 Paul Smith, „Disraeli’s Politics“, in: Charles Richmond / Paul Smith (Hg.), The Self-Fashioning of Disraeli 1818–1851 (Cambridge, 1998), S. 152.

Zu 8. Die schlüpfrige Karriereleiter hinauf und hinunter (1868–1874) 1 Niall Ferguson, The World’s Banker. The History of the House of Rothschild (London, 1998), S. 844. 2 Ferguson, The World’s Banker, S. 536. 3 RB, S. 487. 4 Sarah Bradford, Disraeli (New York, 1983), S. 281. 5 MB ii. 364; Angus Hawkins / John Powell (Hg.) The Journal of John Wodehouse, First Earl of Kimberley, for 1862–1902 (Royal History Society, Camden 5. Reihe, Bd. 9, 1997), 4. April 1868. John Whalley war ein ‚Quacksalber‘ aus dem 17. Jahrhundert, der Allheilmittel und Astrologiepamphlete verkaufte. 6 MB ii. 359. 7 MB ii. 841. 8 MB ii. 639. 9 Lothair, Buch I, Kapitel XXVII. 10 Lothair, Buch I, Kapitel XVII. 11 Lothair, Buch I, Kapitel XXVIII. 12 William White, The Inner Life of the House of Commons (London, 1897, Neudruck 1973, mit einer Einführung von E. J. Feuchtwanger), Kapitel XXVII, S. 141. 13 MB ii. 462. 14 MB ii. 473. 15 DD II, S. 85, 24. Juli 1871. 16 DD II, S. 102ff, 30. März bis 6. April 1872. 17 Also statt ‚Alles ist Eitelkeit‘, ‚Gesundheit ist alles‘. – A.d.Ü. 18 MB ii. 523–36; The Times, 4. April und 25. Juni 1872. 19 MB ii. 472.

Anmerkungen

219

20 T. E. Kebbel (Hg.), Selected Speeches of the Rt Hon. The Earl of Beaconsfield (London, 1882), Bd. II, S. 529 ff. 21 T. A. Jenkins (Hg.), The Parliamentary Diaries of Sir John Trelawny, 1868–1873 (Royal History Society, Camden 5. Reihe, Bd. 3, 1994), 6. Februar 1873. 22 Zitiert bei Christopher Hibbert, Disraeli. A Personal History (London, New York, 2004), S. 305. 23 E. J. Feuchtwanger, Disraeli, Democracy and the Tory Party (Oxford, 1968), S. 96, Anm. 1, und S. 49. 24 MB ii. 607. 25 MB ii. 620.

Zu 9. Apotheose (1874–1878) 1 Z i.

72, 18. April 1874. ii. 599. 3 The Times, 2. Februar 1874. 4 MB ii. 674. 5 DD II, 12. Oktober 1873. 6 E. J. Feuchtwanger, Disraeli, Democracy and the Tory Party (Oxford, 1968), S. 217. 7 Iddesleigh Papers, 50018/141, Northcote an Disraeli, 25. Januar 1874. 8 DD II, S. 220. 9 Z i. 260, 29. Juni 1879. 10 N. E. Johnson (Hg.), The Diary of Gathorne Hardy, Later Lord Cranbrook, 1866–1892 (Oxford, 1981), S. 281, 11. Juli 1876. 11 MB ii. 824; siehe auch Feuchtwanger, Disraeli, Democracy, S. 18 f.; Richard Shannon, The Age of Disraeli, 1876–1881: The Rise of Tory Democracy (Cambridge, 1998), S. 218 ff. 12 Zitiert in E. J. Feuchtwanger, Gladstone (2. Aufl., Basingstoke, 1989), S. 181. 13 Z i. 195, 2. Februar 1875, an Lady Bradford. 14 Z i. 268, 29. Juli, 270, 30. Juli, 271, 3. August. 15 Sir H. W. Lucy, A Diary of Two Parliaments, Bd. I, S. 139, 5. April 1876. 16 DD II, S. 250, 6. November 1875. 17 DD II, S. 269, 15. Januar 1876. 18 DD II, S. 275, 3. Februar 1876. 19 RB, S. 562. 20 Zitiert in C. C. Eldridge, Disraeli and the Rise of a New Imperialism (Cardiff, 1996), S. 54. 21 MB ii. 758. 22 DD II, S. 306. 23 DD II, S. 247. 24 G. Cecil, Life of Robert Marquis of Salisbury, Bd. II, 1868–1880 (London, 1921), S. 145. 25 Richard Millman, Britain and the Eastern Question 1875–1878 (Oxford, 1979), S. 104. 26 Z i. 289, 1. Oktober 1875. 27 Millman, Eastern Question, S. 168. 28 Shannon, Age of Disraeli, S. 270. 29 Z ii. 55. 30 DD II, S. 297. 31 MB ii. 920. 32 RB, S. 606. 33 Millman, Eastern Question, S. 142. 34 Z ii. 69. 35 Millman, Eastern Question, S. 237. 36 MB ii. 979. 2 MB

220

Anmerkungen

Bradford, Disraeli (New York, 1983), S. 338. Papers, Cairns an den Duke of Richmond, 31. Juli 1877. 39 DD II, S. 418, 12. Juli 1877. 40 Hardy Diary, S. 341, 29. Oktober 1877. 41 DD II, S. 442, 5. Oktober 1877. 42 DD II, S. 413, 30. Juni 1877. 43 DD II, S. 455. 44 Cecil, Salisbury, Bd. II, S. 171. 45 Shannon, Age of Disraeli, S. 300. 46 Hughenden Papers, Northcote Letters, Northcote an Beaconsfield, 25. Januar 1878. 47 Harrowby Papers, Bd. L, A. B. Forwood an Lord Sandon, 30. Januar und 30. März 1878. 48 Millman, Eastern Question, S. 476, Anm. 15. 49 Tancred, Buch IV, Kapitel 3. 50 MB ii. 1194, an Königin Viktoria, 17. Juni 1878. 51 Shannon, Age of Disraeli, S. 306. 52 MB ii. 1228 f. 37 Sarah

38 Richmond

Zu 10. Abstieg (1878–1881) 1 Richard Shannon, The Age of Disraeli, 1868–1881: The Rise of Tory Democracy (London und New York, 1992), S. 305. 2 MB ii. 1369. 3 MN ii 1371. 4 RB, S. 721. 5 Iddesleigh Papers, 50018, Northcote an Beaconsfield, 23. Dezember 1878. 6 Z ii. 200, 27. Dezember 1878. 7 DD II, S. 464, 17. Dezember 1877. 8 Sir Arthur Hardinge, The Life of Henry Howard Molyneux Herbert, Fourth Earl of ­Carnarvon 1831–1890 (London, 1925), Bd. Ii, S. 74. 9 Z ii 189, 27. September 1878. 10 MB ii. 1292. 11 MB ii. 1251. 12 R. E. Foster, Lord Randolph Churchill: A Political Life (Oxford, 1981), S. 205. 13 Z ii. 208, 13. Februar 1879. 14 MB ii. 1367. 15 H. C. G. Matthew, „Rhetoric and Politics in Britain, 1860–1950“, in: P. J. Waller (Hg.), ­Politics and Social Change in Modern Britain (Brighton, 1987), S. 34–58. 16 H. C. G. Mathhew, Introduction to the Gladstone Diaries, Bd. IX, S. lxii. 17 Iddesleigh Papers, 50018, Northcote an Beaconsfield, 29. Juli 1879. 18 P. J. Waller, Democracy and Sectarianism. A Political and Social History of Liverpool 1868–1939 (Liverpool, 1981), S. 33 f. 19 Mb ii. 1387. 20 Zitiert in Cornelius O’Leary, The Elimination of Corrupt Practices in British Elections 1868–1911 (Oxford, 1962), S. 113, Anm. 1. 21 Mb ii. 1448 f. 22 Sarah Bradford, Disraeli (New York, 1983), S. 384. 23 MB ii. 1539. 24 Z ii. 278, 14. Juni 1880, an Lady Bradford. 25 Z ii. 279. 26 Shannon, Age of Disraeli, S. 414. 27 RB, S. 753.

Anmerkungen

221

Zu 11. Nachleben: die Entstehung des Disraeli-Mythos 1 Julian

Amery, The Life of Joseph Chamberlain, Bd. Vi (London, 1969), S. 848.

2 Bruno Bauer, Disraelis romantischer und Bismarcks sozialistischer Imperialismus (Chem-

nitz, 1882). 3 R. F. Forster, Lord Randolph Churchill (Oxford, 1981), S. 103. 4 E. J. Feuchtwanger, „The rise and progress of Tory democracy“, in: J. S. Bromley / E. H. Kossmann (Hg.), Britain and the Netherlands, Bd. V: Some Political Mythologies (The Hague, 1975), S. 177. 5 John Morley, Life of Gladstone (London, 1903), Bd. iii, S. 132, 11. Februar 1885. 6 RB, S. 712. 7 T. E. Kebbel, A History of Toryism (London, 1886), S. 334 ff. 8 J. A. Froude, The Earl of Beaconsfield (London, 1890). 9 H. C. G. Matthew, Introduction to the Gladstone Diaries, Bd. ix (Oxford, 1986), S. l. 10 Georg Brandes, Lord Beaconsfield (Benjamin Disraeli): Ein Charakterbild (Berlin, 1879), S. 14. 11 W. S.  Churchill, Lord Randolph Churchill, 2 Bde (London, 1906). 12 B. R. Jerman, The Young Disraeli (Princeton, 1960). 13 Paul Smith, Disraelian Conservativism and Social Reform (London, 1967). 14 P. R. Gosh, „Style and substance in Disraelian social reform, c.1860–80“, in: P. J. Waller (Hg.), Politics and Social Change in Modern Britain (Brighton, 1987). 15 P. R. Gosh, „Disraelian Conservativism: A financial approach“, English Historical Review, Bd. 99 (1984). 16 C. C. Eldridge, England’s Mission: The Imperial Idea in the Age of Gladstone and D ­ israeli, 1868–1880 (London, 1973). 17 Charles Richmond / Paul Smith (Hg.), The Self-Fashioning of Disraeli 1818–1851 (Cambridge, 1998). Auch Paul Smith, „Disraeli’s politics“, Transactions of the Royal Historical ­Society, 5. Reihe, Bd. 37 (London, 1987), S. 65–85. 18 Geschrieben 1874, veröffentlicht nach Bagehots Tod in The Fortnightly Review, Bd. xxiv, Dezember 1878. Zitiert in N. St John Stevas (Hg.), The Collected Works of Walter Bagehot (London, 1974), Bd. vii, S. 234.

Bibliographische Anmerkungen Bei den für diesen Band wichtigsten archivalischen Quellen handelt es sich um den Disraeli-Nachlass Hughenden Papers, jetzt in der Bodleian Library, Oxford; den Gladstone-Nachlass in der British Library; den Palmerston-Nachlass Broadland Papers, University of Southampton; und den Salisbury-Nachlass, jetzt im Stammsitz der Cecil-Familie Hatfield House. Andere archivalische Quellen sind am entsprechenden Ort aufgeführt. Nicht alle im vorliegenden Band zitierten gedruckten Quellen waren 1966 beim Erscheinen von Robert Blakes Disraelibiographie schon veröffentlicht; dazu zählen John Vincent (Hrsg.), Disraeli, Derby and the Conservative Party: Journals and Memoirs of Edward Lord Stanley 1849–1869 (1978); John Vincent (Hrsg.), Selection from the Diaries of Edward Henry Stanley, 15th Earl of Derby, between September 1869 and March 1878, Camden 5th Series, Royal Historical Society (1994); und H. M. und M. Swartz (Hrsg.), Disraeli’s Reminiscences (1975). Es gab zum damaligen Zeitpunkt auch noch nicht die von der University of Toronto Press veröffentlichte Gesamtausgabe von Disraelis Korrespondenz, die Benjamin Disraeli Letters, 1815–1864, bis jetzt acht Bände, hrsg. von J. A. W. Gunn, J. Matthews, M. G. Wiebe, J. B. Conacher, Mary S. Millar et al. (1982–2009). Allerdings waren zahlreiche dieser Briefe bereits früher erschienen, z. B. bei Monypenny und Buckle und in Zetland (Hrsg.), The Letters of Disraeli to Lady Bradford and Lady ­Chesterfield, zwei Bände, London 1929. Allgemeine Darstellungen der Geschehnisse des 19. Jahrhunderts findet man in The New Oxford History of England: Boyd Hilton, A Mad, Bad and Dangerous People? England 1783–1846 (2006); in K. Theodore Hoppen, The Mid-Victorian Generation 1846–1886 (1998); in The New History of England: Norman Gash, Aristocracy and People: Britain 1815–1865 (1979); und in E. J. Feuchtwanger, ­Democracy and Empire: Britain 1865–1914 (1985); über den imperialen Aspekt: R. Hyam, Britain’s imperial Century 1815–1914 (1976). Auf Deutsch liegt u. a. vor: Peter Wendes, Großbritannien 1500–2000 (2001), und vom selben Autor: Das Britische Empire – Geschichte eines Weltreichs (2008). Es wird nach wie vor viel über Disraeli geschrieben; aus den noch nicht erwähnten neueren Werken ragen heraus: die von Todd M. Endelman und Tony ­Kushner veröffentlichte Sammlung von Aufsätzen: Disraeli’s Jewishness (2002), und Christopher Hibberts, Disraeli. A Personal History (2004). Die maßgebliche Salisburybiographie verfasste Andrew Roberts, Salisbury. Victorian Titan (1999). Wichtig ist auch die zweibändige Biographie über den oft vernachlässigten Partner von Dis­raeli, den 14. Earl of Derby: Angus Hawkins, The Forgotten Prime ­Minister, Bd. I: ­Ascent 1799–1851 (2007); Bd. II: Achievement 1851–1869 (2010).

Bibliographische Anmerkungen

223

Aus den Biographien über Disraelis Zeitgenossen stechen zwei dadurch heraus, dass sie von Autoren stammen, die selbst bedeutende politische Figuren waren und die Szene daher von innen kannten: Roy Jenkins, Gladstone: A Biography (2002) und Douglas Hurd, Sir Robert Peel: A Biography (2007). Richard Shannon ver­ öffentlichte ein weiteres groß angelegtes Werk über Disraelis Gegenspieler: Glad­ stone: God and Politics (2007). Besonders aufschlussreich ist die Gladstonebiographie von Colin Matthew, Bd. I Gladstone 1809–1874 (1986) und Bd. II 1874–1898 (1995), die die Einführungen enthält, die der Autor zu den von ihm herausgegebenen Bänden der Gladstone Diaries schrieb. Erwähnt sei außerdem Edgar Feuchtwanger, Gladstone (21989). Als lesenswerte Palmerstonbiographien dürfen gelten: James Chamber, Palmerston: The People’s Darling (2005) und David Brown, Palmerston: A Biography (2010); kürzer: Paul R.Ziegler, Palmerston (2003). Die ausführlichste Biographie über Chamberlain stammt von Peter T. Marsh, Joseph Chamberlain. Entrepreneur in Politics (1994). Über Monarchie, Königin Viktoria und Prinz Albert liegen auf Deutsch u. a. vor: Edgar Feuchtwanger, Englands deutsches Königshaus: Von Coburg nach Windsor (2010); Edgar Feuchtwanger, Königin Viktoria und ihre Zeit (Persönlichkeit und Geschichte, Band 166, 2004); Hans-Joachim Netzer, Albert von Sachsen-Coburg-Gotha. Ein deutscher Prinz in England (1988). Die Longman History of the Conservative Party umfasst 4 Bände: Robert ­Stewart, The Foundation of the Conservative Party 1830–1867 (1978); Richard ­Shannon, The Age of Disraeli 1868–1881(1992) und The Age of Salisbury 1881–1902 (1996); John Ramsden, The Age of Balfour and Baldwin. Für die Geschichte der Konservativen im 19. Jahrhundert: B. Coleman, Conservatism and the Conservative Party in Nineteenth-Century Britain (1988) und T. A. Jenkins, Disraeli and Victorian Conservatism (1996). Für die Zeit nach Disraeli: E. H. Green, The ­Crisis of Conservatism 1880–1914 (1994). Die letzte Ausgabe von Robert Blake, Geschichte der konservativen Partei, erschien 2010: The Conservative Party from Peel to Major. Aus den zahlreichen Schriften über den Liberalismus und die Liberale Partei ­ragen heraus: Jonathan Parry, Democracy and Religion. Gladstone and the Liberal Party 1867–1875 (1986) und The Rise and Fall of Liberal Government in Victorian Britain; Eugenio F. Biagini, Liberty, Retrenchment and Reform. Popular Liberalism in the Age of Gladstone, 1860–1880 (1992); stärker ideengeschichtlich bzw. weltanschaulich orientiert sind Stefan Collini, Public Moralists: Political Thought and Intellectual Life in Britain (1991) und David Bebbington, The Mind of Glad­ stone. Religion, Homer and Politics (2004). Die von Peter Mandler herausgegebene Sammlung von Aufsätzen: Liberty and Authority in Victorian Britain (2006) gibt einen guten Überblick über den sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund der viktorianischen Zeit und die einschlägige Literatur. Prägende Werke der älteren Sekundarliteratur sind: H. J. Hanham, Elections and Party Management: Politics in the Time of Disraeli and Gladstone (1959); F. B. Smith, The Making of the Second Reform Act (1966); M. Cowling, 1867: Disraeli, Gladstone and Revolution (1967); Paul Smith, Disraelian Conservatism and Social Reform (1967) und R. Shannon, Gladstone and the Bulgarian Agitation (1976).

Chronologie 1804 1817 1825–6 1828 1828–30 1830–1 1832

geboren am 21. Dezember 31. Juli: Taufe beteiligt an der Gründung der Zeitung The Representative The Voyage of Popanilla leidet an den Folgen eines Nervenzusammenbruchs Reise durch den Nahen Osten England and France; or a Cure for Ministerial Gallomania Contarini Fleming Juni: tritt als Radikaler bei einer Nachwahl in High Wycombe an Dezember: versucht bei der ersten Wahl nach der Parlamentsreform abermals, High Wycombe zu erobern 1833 gibt in Vorbereitung einer möglichen Nachwahl in Marylebone die Flugschrift What is He? heraus The Wondrous Tale of Alroy; beginnt ein Verhältnis mit Lady Henrietta Sykes 1834 Hartlebury The Revolutionary Epik 1835 Januar: scheitert zum dritten Mal bei dem Versuch, für High Wycombe ins Par­ lament einzuziehen, diesmal als unabhängiger Radikaler Mai: tritt bei der Taunton-Nachwahl als Tory an 1836 Runnymede Letters das Verhältnis mit Lady Henrietta Sykes endet 1837 Juli: wird zusammen mit Wyndham Lewis für Maidstone ins Parlament gewählt Henrietta Temple Venetia Dezember: Jungfernrede im Parlament 1838 März: Tod Wyndham Lewis’ 1839 August: heiratet Mrs. Wyndham Lewis 1841 Juli: wird als Shrewsbury-Abgeordneter gewählt September: Peel bildet die Regierung, ohne Disraeli an ihr zu beteiligen 1842–5 Jung-England 1844 Coningsby Juni: Peel verwandelt eine Niederlage in Sachen der Zuckerzölle bei einer weiteren Abstimmung in einen Sieg 1845 April: Disraeli attackiert Peel wegen der Zuwendung für das Priesterseminar in Maynooth Sybil 1846 Januar: Disraeli schürt die Opposition gegen die Aufhebung der Korngesetze Juni: Peel tritt zurück 1847 Tancred Juli: wird ohne Gegenkandidaten als Abgeordneter für Buckinghamshire ins Parlament gewählt Dezember: Abstimmung über die Zulassung der Juden zum Parlament

Chronologie 1848

225

Februar: Lord George Bentinck tritt als Parteiführer ab August: Disraeli hält am Ende der Sitzungsperiode die Abschlussrede der für den Protektionismus eintretenden Torys September: Tod Lord George Bentincks Dezember: die Kaufformalitäten Hughenden betreffend sind abgeschlossen 1849 Disraeli wird zum De-facto-Führer der Protektionisten im Unterhaus 1850 Juli: Tod Peels 1851 Februar: Versuch, eine Tory-Regierung zu bilden, misslingt 1852 Februar: erste Derby-Minderheitsregierung kommt zustande. Disraeli wird Schatzkanzler Juli: die Torys gehen aus der Parlamentswahl als stärkste Kraft hervor; zur Mehrheit reicht es nicht Dezember: die Regierung tritt nach ihrer Niederlage bei der Abstimmung über Disraelis Haushalt zurück 1853 Januar: Bildung der Aberdeen-Koalition 1854–6 Krim-Krieg 1855 Februar: nach Aberdeens Rücktritt lehnt Derby die Übernahme der Regierungs­ geschäfte ab. Palmerston wird Premierminister 1857 März: Palmerston erleidet Abstimmungsniederlage im Unterhaus, geht aus der Parlamentswahl jedoch als Sieger hervor, mit einer komfortablen und noch grö­ ßeren Mehrheit 1858 Februar: Palmerston wird bei der Abstimmung über die Mordverschwörungs-Bill geschlagen. Zweite Derby-Dizzy-Minderheitsregierung kommt zustande 1859 Reform-Bill der Konservativen scheitert im Parlament Juni: die Torys unterliegen bei der Parlamentswahl. Palmerston bildet seine zweite Regierung 1860–5 Amerikanischer Bürgerkrieg 1861 Dezember: Tod des Prinzgemahls 1864 Juli: Palmerston wendet eine Niederlage über die Schleswig-Holstein-Frage ab 1865 Juli: die Torys unterliegen in der Parlamentswahl und bleiben in der Minderheit Oktober: Tod Palmerstons. Russell wird Premierminister 1866 Juni: Russell tritt nach der Abstimmungsniederlage in der Sache der Reform-Bill zurück. Bildung der dritten Derby-Dizzy-Minderheitsregierung 1867 Februar: Konservative bringen Reform-Bill ein April: Gladstone kann sich mit seinen Abänderungsanträgen nicht durchsetzen Mai: ein Abänderungsantrag zugunsten der Ausweitung des Wahlrechts durch die Abschaffung der Zuschreibungspraxis passiert das Parlament 1868 Februar: Disraeli folgt Derby als Premierminister nach Dezember: tritt nach der Niederlage bei den Parlamentswahlen zurück. Gladstone wird Premierminister 1869 Gladstones Gesetzentwurf zur Entstaatlichung der Kirche von Irland wird verabschiedet 1870 Spaltung der Liberalen wegen der Education-Bill Deutsch-Französischer-Krieg 1872 April: Disraelis Besuch in Lancashire signalisiert den Aufschwung der Konser­ vativen Dezember: Tod Mary Annes

226 1873 1874 1875 1876 1877 1878 1879 1880 1881

Chronologie März: Disraeli lehnt es nach Gladstones Niederlage bei der Abstimmung über die Bill zur irischen Universität ab, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen nach dem Sieg bei den Parlamentswahlen wird Disraeli Premierminister Konservative erlassen Sozialgesetze November: Erwerb von Suez-Kanal-Anteilen August: Disraeli wird Earl of Beaconsfield September: Gladstone veröffentlicht seine Streitschrift zu den Gräueln in Bulgarien April: Russisch-Türkischer Krieg Dezember: Plewna fällt März: Einberufung von Reservisten. Derby tritt zurück Juni–Juli: Berliner Kongress tagt Januar: vernichtende Niederlage Chelmsfords in Isandhlwana September: britische Gesandtschaft wird in Kabul hingemetzelt November: Gladstones erste Midlothian-Kampagne März: Auflösung des Parlaments April: Disraeli dankt ab. Gladstone tritt seine Nachfolge als Premierminister an Endymion. Disraeli stirbt am 19. April.

Personen- und Sachwortverzeichnis Abercorn, 1. Duke of  148 Aberdeen  4. Earl of  90, 100, 101, 103, 105, 106, 107, 108, 132 Abergavenny 1. Marquis of, Lord Neville  127, 146, 154, 206 Acton, Lord  181, 207 Adderley, Sir Charles  172 Adelaide, Königin  47 Adullam, Höhle von  130, 131 f., 136 f. Afghanistan  52, 193 f. Agrarbesitz-Bill  173, 191 Alabama-Forderungen 152 Albert, Prinz  12, 49, 71, 83, 84, 100, 103 f., 108, 126 f. Alroy, Wondrous Tale of  22, 37 Amerikanischer Bürgerkrieg  123, 134 Andrassy, Graf  177 f. Anti-Korngesetz-Liga  44, 69 Antisemitismus 14, 58, 93, 180, 188, siehe auch Juden, Jüdischkeit Applegarth, William  153 Argyll, 8. Duke of  207 Ashley, Lord, ab 1851 7. Earl of Shaftesbury (siehe dort)  60, 70 Attwood, Thomas  45 Austen, Benjamin und Sara 18, 23, 29, 35 Bagehot, Walter  74, 161, 211 Baillie-Cochrane, Alexander, 1. Lord Lamington  53 ff. Balfour, A. J.  177, 202, 203 Bankes, George  85 Baring, Sir Thomas  91 Barnes, Thomas  34 Bath, Nachwahl (1873)  161 f. Batumi 187 Baxter, Dudley  139 Bentham, Jeremy  25 Bentinck, G. P., ,Big Ben‘, 121 Bentinck, Lord George  69, 76, 77

–– tritt als Führer der Protektionisten hervor  69–74 –– Abstimmung über die ,Juden-Bill‘ (1847)  78 f. –– Rücktritt von seinem Führungsposten  79 –– Tod 80 –– D. schreibt Biografie von  92 f. Beresford, William  78, 79, 81, 86, 91, 99 Berliner Kongress  186 f., 189 Berlin-Memorandum 178 Besika-Bucht 184 Birmingham Caucus (Chamberlains)  138 Birmingham Political Union  45 Bismarck, Otto von  123, 134, 139, 152, 168, 177, 187, 201, 205 Blackwood, Helen  27 Blake, Robert  209, 210 Blackwood’s Magazin 69 Blessington, Lady  26, 36 Bolingbroke, Henry St John  25, 33, 56 Bolton, Dr. George und Clara  26 Bonham, F. R.  50 Bosnien  176 ff., 186 Bowring, Sir John  112 Bradenham  18, 29, 31, 35, 42, 47, 51, 62, 76 Bradford, Selina Countess of  160, 164, 166, 170, 173, 177, 179, 181, 182, 186, 192, 193, 200 Bridgewater House, Parteitreffen im (1880)  199, 202 Bright, John  89, 97, 102, 106, 112, 117, 121, 130, 133, 136, 144 Brown, John  143 Brunnow, Graf de  91, 134 Brydges Wylliams, Mrs. Sarah  105, 111, 127, 160, 207 Buckingham, 2. Duke of, Lord Chandos (siehe dort)  47, 50, 51, 69 Buckingham, 3. Duke of  132 Buckinghamshire  18, 35, 76 f., 115, 180 Buckle, G. E., siehe Monypenny und Buckle

228

Personen- und Sachwortverzeichnis

Bulgarien 186 –– Gräuel in  112, 178–181, 190 Bulwer, Edward Lytton, 1. Baron Lytton  19, 23, 25, 43, 70, 191 Burdett, Sir Francis  25 Burghley House, Treffen im (1872)  155 f. Byron, Lord, 9, 15, 16, 18, 19, 21, 25, 29, 36, 187 Cairns, Hugh McCalmont, 1. Earl  151, 155, 164, 183, 198, 202 Callender, W. R.  165 Cambridge, George, Duke of  194 Canning, 1. Earl  115 Canning George  16, 28, 52, 58, 64, 69, 115 Cardwell, Edward  155, 194 Carlyle, Thomas  54, 139, 140, 208 Carnarvon, 4. Earl of  124, 159, 164, 169 –– tritt zurück (1867)  136 –– als Kolonialminister  166, 192 –– tritt zurück (1878)  185 Carrington, 2. Baron  93 Cavagnari, Sir Louis  194 Cecil, Lord Robert, 3. Marquis of Salisbury, Viscount Cranborne (1865–8, siehe dort) 121, –– Feindseligkeit gegenüber D.  121 –– Artikel in der Quarterly Review 121, 124 f., 129, 132 Chamberlain, Joseph  138, 195, 202, 203, 205 Chandos, Lord, ab 1839 2. Duke of Buckingham (siehe dort) 28, 29, 40, 44, 47 Chartismus  45 f., 80, 129, 157 Chelmsford, 2. Baron  193 Chesterfield, Lady  160, 193, 200, 202 Churchill, Lord Randolph 196, 202 f., 205, 206 f., 209 Clanricarde, 1. Marquis  113 Clarendon, 4. Earl of  117, 131 Clay, James  20 Cobden, Richard 61, 64, 72, 89, 102, 106, 112 Colburn, Henry  17 Coningsby  10, 14, 25, 46, 55, 57 ff., 61, 62, 63, 73, 75 Contarini Fleming  17, 21, 22 Corry, Montague, 1. Lord Rowton  133, 146, 159, 163, 164, 185, 196, 200, 209

Cranborne, Viscount, ab 1868 3. Marquis of Salisbury, bis 1865 Lord Robert Cecil (siehe dort) –– tritt der Regierung bei (1866)  132 –– Rücktritt  135 f. –– Artikel in der Quarterly Review 139 Cranbrook, 1. Earl of, siehe Hardy, Gathorne Crocker, J. W.  50 Cross, R. A., 1. Viscount 164, 168, 169 f., 173 f., 197 Darwin, Charles  125, 180, 181 Delane, John T.  71, 115, 131, 155 Derby, Edward Stanley, ab 1851 14. Earl of, siehe auch Stanley, Edward  12, 15, 27 f., 96, 99, 101, 102, 103, 110, 112, 115 f., 118, 120, 121, 122,123,129 f., 137, 139, 145, 146,151,175, 206 –– Beziehung zu D.  86 f., 100 –– bildet Regierung  94 f. –– nicht aufs Regieren versessen  98 –– als ,der Chef‘, 100 –– macht D. Vorhaltungen im Zuge der Auseinandersetzungen wegen der OstindienKompanie (1853)  106 –– scheitert mit der Regierungsbildung (1855)  108 f. –– kaum Kontakt mit D. (1856),110 –– bildet zweite Regierung  113 f. –– und die Vorbereitung der Reformbill von 1859 117 –– lehnt D.s Rücktritt ab (1865)  128 –– bildet dritte Regierung  132 f. –– nimmt die Parlamentsreform in Angriff  133 ff. –– zieht sich endgültig aus der Politik zurück 142 Derby, Edward Stanley, ab 1869 15. Earl of, siehe auch Stanley, Edward Henry 153, 155, 156 f., 159, 161, 169 f., 173 f., 178, 181, 183 –– lehnt die Führerschaft im Oberhaus ab  151 –– als möglicher Parteiführer  155 f., 162 –– und seine Rolle bei der Regierungsbildung von 1874, 164, 166 f. –– als Außenminister  175 ff., 183 –– Spannungen mit D. wegen der Außen­ politik  184 f.

Personen- und Sachwortverzeichnis –– Rücktritt 185 Derby, Lady (frühere Lady Salisbury) 156, 159, 184, 185 Disraeli, Benjamin, 1. Earl of Beaconsfield –– Werke siehe die entsprechenden Einträge –– Geburt, Hintergrund und Erziehung  16–22 –– Taufe 13 –– Jüdischkeit/Judentum  9, 13, 22 f., 31, 39, 47, 48, 58 f., 75, 78, 82, 92 f., 142, 150, 179 f. –– Schulden  10, 16, 19, 35, 42 f., 47, 48, 51, 65, 87, 91 f., 95, 105 –– Gründung von The Representative  16 f. –– Zusammenbruch  18 f. –– Reise durch den Osten  20 f. –– Bemühungen um den Einzug ins Parlament  23 f., 29, 31, 36 f., 48 –– als Journalist  32, 34, 99 f. –– Jungfernrede  39 f. –– Ehe  41 ff., 87, 104 f., 127 –– Haltung zum Chartismus  45 f. –– unter dem Druck der Gläubiger  47, 51, 87 –– sucht bei Peel erfolglos um ein Regierungsamt an  49 ff. –– als Anführer des Jungen England  53–56 –– reist nach Paris (1842)  53 f. –– lanciert erste Angriffe auf Peel  56 f. –– reist nach Paris (1845)  66 –– Annäherung an Palmerston 66, 72, 88, 94 f., 102, 106, 118 –– geht zum Angriff auf die Abschaffung der Korngesetze über  68 f. –– letzter Zusammenstoß mit Peel (Mai 1846)  72 –– wird Abgeordneter für Buckinghamshire  76 f. –– Abstimmung über die Benachteiligungen der Juden (1847)  78 –– Revolutionen von 1848, 80, 84 –– Anerkennung als Parteiführer  81 ff. –– Anstrengungen, die Protektion aufzugeben  84 ff., 88 –– Enttäuschung über das Scheitern der Regierungsbildung (1851)  91 –– als Schatzkanzler (1852)  95, 96 f. –– als Oppositionsführer 82, 86  f., 99  ff., 103 f., 108–11, 113, 120–23 –– ruft The Press ins Leben  99 f.

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Haltung zum Krieg auf der Krim  107 Sturz der Abderdeen-Koalition  107 entfernt sich von seiner Partei  106, 111 Niederlage Palmerstons (März 1857)  112 Ansichten über den Aufstand in Indien  112 f. als Schatzkanzler (1858–9)  116 Versuche, den drohenden Machtverlust abzuwenden (1859)  118 f. lanciert die Kampagne zur Verteidigung der Kirche  124 f. besucht Oxford  125 f. erwägt, von seinem Posten als Unterhausführer zurückzutreten (1865)  128 Strategien im Zusammenhang mit der Reformbill der Liberalen  130 f. Bildung der 1866er-Regierung  131 f. über die Kolonien und das Empire  134 f. Entschluss, eine Reformbill einzubringen  134 f. Parlamentstaktik (1867)  136 ff. wird Premierminister  143 Vergabe und Besetzung von Kirchen­ ämtern  146 f. Wahlkampf (1868)  145 ff. Rücktritt 148 Peerswürde für Mary Anne  148 f. über den Gesetzentwurf zur Entstaatlichung der Irischen Kirche  151 über die Gesetzesvorlage zur Bildung und Erziehung (Education-Bill)  151 f. über den Französisch-Russischen Krieg  152 f. über die neue Sozialbewegung  153 f. bestimmt Gorst zum Parteiagenten  154 Versuche, ihn als Parteiführer abzulösen (1872)  155 f. Rede in der Freihandelshalle zu Manchester  157 f. über die Außen- und Empire-Politik  158 f. Tod Mary Annes  159 die Beziehungen mit den Ladies Bradford und Chesterfield  159 f. lehnt Übernahme der Regierungsgeschäfte ab (1873)  160 f. bildet Regierung (1874)  64 f. zur Bill über die Reglementierung der öffentlichen Kulthandlungen  167 f.

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Personen- und Sachwortverzeichnis

und die Innenpolitik  168 ff. und die Gewerkschaftsgesetze  169 und die Education-Bill (1876)  170 f. und die Plimsoll-Hetze  172 und die Bill über die königlichen Titel  174 –– Erwerb der Suez-Kanal-Anteile  174 f., –– Beziehungen zu Derby  175–178 –– Ansichten zur Ostfrage  176, 178 –– Absage an das Berlin-Memorandum  178 –– zu den Gräueln in Bulgarien  178 –– nimmt die Peerswürde an  180 –– antisemitische Angriffe  179 f. –– Konferenz von Konstantinopel  182 –– und der Russisch-Türkische-Krieg  182 –– Derbys Rücktritt  185 –– nimmt am Berliner Kongress teil  186 f. –– macht die ,schlechten Geschäfte‘ für den allgemeinen Unmut verantwortlich 190, 191 –– lehnt die Rückkehr zur Protektion ab  191 –– Rückschläge für das Empire  192 ff. –– ist zu keiner Reaktion auf die MidlothianKampagne in der Lage  195 –– Auflösung des Parlaments  190, 196 f. –– Niederlage und Abdankung,198 f. –– über die Entschädigung-für-EnteignungsBill 202 –– Haltung zur vierten Partei  203 –– Tod 203 –– und der soziale Imperialismus  205 –– und Tory-Demokratie  205 f. –– Biografie und Historiografie  207–11 Disraeli, Isaac  13, 15, 16, 18, 22, 25, 37, 76, 82 Disraeli, Mary Anne, siehe auch Lewis, Mrs. Wyndham 41, 45, 48, 51, 52, 61, 65 f., 73,76, 90, 104, 105, 107, 111, 126, 137, 142, 155 –– Heirat  41 ff. –– als Gastgeberin  47 –– und D.s Schulden  47, 51, 65 –– ersucht für D. um ein Amt  49 –– Spannungen in der Ehe  87, 127 –– verhält sich zunehmend exzentrisch  105, 126 –– wird Viscountess Beaconsfield  148 f. –– Tod 159

Disraeli, Sarah 13, 20, 27, 30, 31, 32, 37, 38, 39 f., 47, 49 f., 52 f., 59, 63, 66, 67, 82, 87, 127 Don Pacifico  88 D’Orsay, Count  27, 36, 37, 48, 53, 70 Dreikaiserbund 178 Drummond, Henry  85 Duncombe, Thomas  46, 63 Durham, 1. Earl of  29 Dyke, Sir William Hart  185, 187 Earle, Ralph  111 f., 116, 124, 132 f. Eldridge, C. C.  210 Ellenborough, 1. Earl of  114 f. Employers and Workman Act (ArbeitgeberArbeitnehmer-Gesetz) 169 Endymion  54, 200 f. Faber, Frederick  54 Falconet 201 Fielden, John  46, 50 Ford, G. S.  47 Fortnightly Review 206 Forwood, Arthur  185 Freeman, E. A.  180, 181 Freemantle, T. F.  52, 53 Frere, Sir Bartle  193 Froude, J. A.  193, 208 Galignani’s Messenger  65 f. Gallomania 24 Gesetz über die Behausungen der Handelund Gewerbetreibenden  170 Gesetzesvorlage zu den kirchlichen Rechtsansprüchen 90 Ghosh, Peter  210 Gibson, Thomas Milner  112 Gladstone, W. E.  15, 54, 61, 88, 89, 97, 98, 101, 102, 105, 111, 116, 119, 120, 122, 128, 132, 133, 134, 135, 137, 139, 140, 142, 144 f., 149, 153, 158, 165, 167, 168, 169, 180, 181, 185, 187, 190, 198, 199, 202, 204, 207, 208 –– Kandidat in Newark  54 –– D.s Ansicht zum Maynooth-Rücktritt  63 –– von D. als zukünftiger Tory-Führer beschrieben 74 –– Stanley bietet ihm Regierungsamt an  90 f.

Personen- und Sachwortverzeichnis

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über D.s Haushalt von 1852  97 von den Torys als Puseyite abgelehnt  102 in der Regierungskrise von 1852  108 f. bei der Bildung der zweiten Derby-Regierung  114, 115 –– stellt sich Palmerston beim Thema Verteidigungsausgaben entgegen  122, 123 –– zur Ausweitung des Wahlrechts (1864)  129 –– bringt Reformbill ein (1866)  130 f. –– verliert die Abstimmung über die Bill (1867)  136 f. –– über die Irische Kirche  143–6 –– erleidet Niederlage in South Lancashire  148 –– D. beliebter  156, 159 –– Niederlage bei der Abstimmung über die Bill zur irischen Universität  160 –– löst das Parlament auf (1874)  162 –– tritt als Führer der Liberalen zurück  172 –– schließt sich der Gräuel-Kampagne an  179 –– persönliche Feindschaft zwischen ihm und D.  172, 179, 187 f., 201, –– Resolutionen zur Ostfrage  182 –– Midlothian-Kampagne  191, 194 f. –– Irish Land Bill  202 –– zu D.s Tod  203 Glasgow  36, 162 Goethe, J. W. von  9, 15 Gorst, Sir John Eldon 154, 156, 163, 168, 196, 202 f., 206 Gower, Lord Ronald  201 Granby, Lord, später 6. Duke of Rutland  79, 82, 94 Granville, 2. Earl of  172, 181 Greenwich  181, 194 Greville, Charles  28 f. 40, 69, 106, 115 Grey, 2. Earl  29, 69, 157, 200 Grey, 3. Earl  114 Grey, Oberst (später General) Charles  25 Guizot, F. P. G.  53, 107

Haydon, W. F.  148 Henley, J. W.  94, 117 Henrietta Temple  26, 35 f. Herbert, Sidney  64, 96, 108, 114 Herries, J. C.  81, 82 High Wycombe (D. als Kandidat)  23, 24, 29, 30 Hobhouse, J. C., 1. Lord Broughton  60 f., 65 Hodgkinson, Grosvenor  137 Hope, Henry  53 Howell, George  153 Hughenden 76 f., 85, 86, 87, 92, 93, 100, 104, 105, 126, 156, 194, 200, 201, 203 Hughes, Thomas  129 Hume, Joseph  23, 79 Hunt, George Ward  164 Hyde Park  41, 133, 137

Haber, Baron d’  24 Hamilton, Lord George  148, 199 Hardy, Gathorne, 1. Earl of Cranbrook  132, 137 f., 153, 164, 171, 178 f., 183, 189, 198 Hartington, Marquis of, später 8. Duke of Devonshire  172, 181, 195, 199 Hartlebury, A Year at 30

Landwirtschaftliche Schutzzollverbände  69 Lansdowne, 3. Marquis of  61 Layard, Sir Henry  18, 29, 112 Lennox, Lord Henry  104, 111, 181 Lewis, Mrs. Wyndham, Disraeli, Mary Anne (siehe dort)  26, 41 Lewis, Wyndham  36, 41, 42

–– –– –– ––

Ignatiew, Graf  181 Indien 38, 102, 106, 112 f., 114, 132, 158, 172, 174, 175, 185 f., 191, 193, 205 Isandhlwana 193 Jerman, B. R.  209 Jolliffe, Sir William, 1. Lord Hylton  99, 110, 118 Juden  13, 22, 31, 39, 48, 76, 78 f., 89, 90, 92, 93, 102, 104, 106, 115 f., 117, 126, 140, 142, 149, 155, 180, 208 Judentum/Jüdischkeit 12 f., 22, 63, 75, 78, 92, 93, 123, 126, 142, 150, 180, 211 Kebbel, T. E.  207 f. Kimberley, 1. Earl of  145 Knowsley 100 Königstitelbill  172, 174, 186 Konstantinopel  9, 18, 182, 183 Kossuth, Lajos  94 Krim-Krieg  107, 109, 116, 184 Kristallpalast, D.s Rede im  156, 157 f.

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Personen- und Sachwortverzeichnis

Liverpool, 2. Earl of  52, 57, 70, 115 Liverpool, Nachwahl (1880)  197 Lockhart, J. G.  16 Londonderry, Lady 34, 38, 47, 80, 87, 88, 104, 108 Londonderry, 3. Marquis of  88 Longman, Verleger  201 Lord George Bentinck  74, 80, 92 f. Lothair  144, 149 f., 201 Louis Philippe  53, 66, 80 Lowe, Robert, 1. Viscount Sherbrooke  129, 130 Lucan, 3. Earl of  116 Lyndhurst, John Singelton Copley, 1. Earl of  28–34, 38, 43, 50, 76 Lytton, 1. Earl of  191, 193 f. Maclise, Daniel  27, 38 Maginn, William  22 Maidstone (D. als Kandidat  1837)  36, 41 f., 48, 49 Malmesbury, 3. Earl of  86, 95, 98, 100, 103, 106, 107, 116, 123, 132, 151 Malta  20, 185 Manchester –– D.s Besuch (1844)  61 f. –– D.s Besuch (1872)  156 f. -Schule  70, 81, 84, 102, 112, 113, 148 Manners, Lord John  54, 55 f., 57, 61, 62, 65, 67, 68, 79, 85 Manning, Kardinal  144, 150, 201 Marlborough, 7. Duke of  125, 142, 197 Marylebone (D. als Nachwahl-Kandidat)  23 Maynooth-Zuwendung  63, 65, 77 McNeile, Hugh  146 Melbourne, William Lamb, 2. Viscount  27 f., 30, 32, 36, 41, 43, 44, 48, 52, 74 Meredith, William  20 Metternich, Prinz  80, 81 Miall, Edward  112 Miles, Sir Philip  85 Miles, Sir William  121 Mill, James  25 Mill, James Stuart  129, 148 Milnes, Richard Monckton, 1. Lord Houghton  54, 59 Monarchie 74, 82 f., 86, 125, 126 f., 143, 156, 157, 162 f., 174

Montagu, Andrew  105, 127 Monypenny und Buckle  11, 209 Morris, William  54, 181 Murray, John  16 f. Naas, Lord, später 6. Earl of Mayo  118 Napoleon, 9, 10, 21, 37, 107 Napoleon III., Louis Napoleon  94, 107, 111, 113, 116, 123, 139, 152, 193 Nevill, Lady Dorothy  127 f., 155, 207 Neville, Lord, siehe Abergavenny Newcastle, 4. Duke of  89 Newcastle, 5. Duke of  114 Newdegate, Charles  79, 81, 85, 101, 121 Noel, Gerard  155 Northcote, Sir Stafford  159, 164, 165, 173, 185, 187, 192, 206 –– zum Präsidenten des Board of Trade bestimmt (1866)  132 –– als Schatzkanzler  168 f., 176 –– als Unterhausführer  178 f., 189, 196, 197 –– als möglicher Nachfolger D.s, 189, 199, 203, 207 –– attackiert von der vierten Partei  203, 207 Northumberland, 6. Duke of  189 Norton, Mrs. Caroline  27, 30, 38 Nowikow, Mme. Olga  181 Oastler, Richard  50 O’Connell, Daniel  30, 31, 35, 39, 56, 57, 73 Ostindien-Kompanie  106, 113 Pakington, Sir John  111, 116 Palmerston, Lady  80, 88, 113 Palmerston, 3. Viscount 52 f., 66, 71 f., 73, 84, 91, 96, 101, 109, 111 f. 115, 116, 117, 118, 121, 122, 126, 127, 128, 130 –– als Außenminister (1830–41)  24 –– D.s Angriffe auf  52, 88 f. –– D. pflegt freundlichen Umgang mit und hat hohe Meinung von ihm  72, 88 –– Außenminister (1846)  88 f. –– Sturz (1851), 94 –– lehnt es ab, sich den Torys anzuschließen (1852)  94 f., 108 f. –– mögliches Bündnis mit D.  102, 106, 118 –– Premierminister (1855)  108 f. –– Niederlage im Parlament (1857)  112

Personen- und Sachwortverzeichnis –– geschlagen bei der Abstimmung über die Mordverschwörungs-Bill 113 –– Rivalität mit Russell  115 –– bildet zweite Regierung  120 –– und Schleswig-Holstein  123 –– Besetzung von Kirchenämtern  124 –– Tod 129 Parnell, C. S.  190, 198, 199, 204 f. Peel, General Jonathan  135 Peel, Sir Robert  19, 27, 28, 30, 31, 32, 38, 40, 42, 44, 45, 48, 49, 50, 51, 56, 57, 66, 68, 69, 71, 72, 75, 79, 80, 81, 82, 84, 108, 207 f. 210 –– erstes Zusammentreffen mit D.  27 –– bildet Regierung (1835)  28 –– über D.s Vindication of the English Constitution 33 –– D.s Meinung von  36, 43, 45 f., 52 f., 57 f., 62 f., 64 f. –– Bildung der Regierung von 1841, 49 ff. –– dreht die Abstimmungen über den Arbeitsschutz und die Zuckerzölle (1844)  60 –– D.s Angriffe auf (1845)  63 ff. –– setzt sich für die Aufhebung der Korngesetze ein  67, 70 –– Rücktritt 73 –– als Führer der Peeliten  73 f., 76 –– Tod  88 f. Peeliten  73, 77, 78, 79, 81, 85, 87, 88, 89, 90, 95, 96, 97, 102, 109, 111, 112, 114, 132 Phillips, Samuel  78, 103 Pitt, William  37, 52, 5770, 97, 98, 207 Plewna  183, 184 Plimsoll, Samuel  172 f. Ponsonby, Sir Henry  160 f. Popanilla, The Voyage of Captain  18 f. Portland, 4. Duke of  69, 92 Portland, 5. Duke of  105 Potter, George 153 Press, The  99 f. 108, 110 Public Worship Regulation Bill (Reglementierung der öffentlichen Kulthandlungen)  167 f. Pusey, E. B.  89, 128 Pyne, William  35 Quarterly Review  121, 139, 140, 159

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Reformbill (1832, erstes Reformgesetz)  24, 25, 30, 31 f., 157 Reformbill (1854)  106 Reformbill (1859)  117, 121, 130 Reformbill (1860)  121 Reformbill (1866)  130 f., 133 Reformbill (1867, zweites Reformgesetz)  11, 20, 134–9, 142, 143, 157, 159, 163, 208 Reformbill (1884)  138 Revolutionary Epick  29 f. Richmond, Charles  210 Richmond, 5. Duke of  69, 86, 104 Richmond, 6. Duke of  136, 142 Ritualismus  144 f., 147, 167 Roebuck, J. A.  108, 197 Rose, Sir Philip  20, 50, 99, 117, 154 Rothschild, Alfred de  200 Rothschild-Familie  58, 93, 142, 180 Rothschild, Charlotte de  126, 142 Rothschild, Lionel de  58, 61, 78, 115 f., 209 Rothschild, Sir Anthony de  53 Runnymede Letters of  34 f., 36, 40, 88 Ruskin, John  54, 181 Russell, Lord John, 1. Earl Russell  61, 76, 77, 78, 79, 85, 90, 102, 113, 115, 118, 121, 131 –– D.s Rede über seine Politik der Erziehungs- und Bildungsförderung (1839)  44 –– Edinburgh-Brief (1845)  66 –– bildet Regierung (1846)  73 f. ,päpstliche Aggression‘  89 –– tritt zurück (1852)  94 –– am Amt kleben  98 –– attackiert D. im Zusammenhang mit der Judenfrage (1854)  106 –– verliert City-Sitz (1857)  112 –– als Außenminister  123 –– Premierminister (1865)  129 –– tritt zurück (1866)  131 Ruthland, 5. Duke of  55, 62 Salisbury, ab 1868 3. Marquis of, Lord Robert Cecil, ab 1865 Viscount Cranborne (siehe dort)  138, 169, 170, 174, 183, 184, 185, 187, 188, 189, 196, 198, 199, 201, 207, 210 –– Feindseligkeit D. gegenüber  121, 144 –– möglicher Führer der Tory-Peers (1869–70)  151

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Personen- und Sachwortverzeichnis

–– versöhnlicher Artikel in der Quarterly Review (1872)  159 –– tritt dem Kabinett bei (1874)  166 f. –– Dissens mit D. wegen der Kulthandlungsreglementierungs-Bill  167 f. –– zur Education-Bill von 1876, 171 f. –– Kritik an D.s Nahostpolitik  177 –– besucht die Konferenz in Konstantinopel  182 –– bereitet Berliner Kongress vor  186 –– D. wünscht sich ihn als Nachfolger  203 San Stefano, Vertrag von  186 Sandon, Viscount, später 3. Earl of Harrowby  164, 171 Scott, Sir Walter  16 Schlafgemach-Krise 49 Schuwalow, Graf  184, 185 Selina, Countess of Bradford, siehe Bradford, Countess of Shaftesbury, 7. Earl of, Lord Ashley (siehe dort)  170, 181 Sheffield, Nachwahl (1880)  197 Sheil, R. L.  40 Shelburne, 2. Earl of  52 Shrewsbury (D. als Abgeordneter für) 48, 51, 56, 61, 65, 76, 160 Smith, Paul  209 f., 210 f. Smith, W. H.  161, 164, 171, 200 Smythe, George  50, 53–8, 61 f., 65, 68, 127, 201 Southey, Robert  15 Spofforth, Markham  99, 154 Staël, Mme de  10 Stanley, Edward, ab 1844 Lord Stanley, ab 1851 14. Earl of Derby (siehe dort)  28 f., 84, 88, 90, 92, 93 –– anfängliche Feindseligkeit D. gegenüber  40, 50 –– tritt zurück (1845)  68 –– als Führungsgestalt der Protektionisten  76 –– und die Benachteiligungen der Juden  78 f. –– bittet D. 1848 die Abschlussrede zu halten  80 –– und D.s Führerschaft  81 –– rügt D. wegen dessen Bemühungen um die Aufgabe der Protektion  86 –– Bewertung der Derby-Dizzy-Partnerschaft  86 f.

–– scheitert mit der Regierungsbildung (1851)  90 f. Stanley, Edward Henry, ab 1869 15. Earl of Derby (siehe dort)  90, 98, 101, 104, 116, 119, 124, 130, 133, 137, 143, 151 –– Freundschaft mit D.  90, 104, 124 –– D. spricht zu ihm über den Zionismus  93 –– Staatssekretär im Außenministerium  95 –– und The Press  99 f. –– ebenso unbeliebt in der Partei wie D.  106 –– über D.s Verhältnis zu seinem Vater  110, 121 –– geht auf Abstand zu D.  111 –– Kolonialminister 114 –– Minister für indische Angelegenheiten (1866) 115 –– als möglicher Premierminister  129, 131, 142 –– als Außenminister (1866)  132, 134 Stanley, Henry  40 Stansfeld, James  122, 123 Suez-Kanal  174, 176 Sybil 10, 25, 34, 45, 62 f., 65, 67, 75, 84, 158, 209 Sykes, Lady Henrietta  26, 28, 29, 31, 34, 36, 38 Tait, Archibald, Erzbischof von Canterbury  146 f., 167 f. Tamworth-Manifest  31, 33, 45 Tancred, 9, 10, 16, 66, 74 f., 76, 78, 92, 186 Taunton (D. als Kandidat)  30, 31, 32, 34 Taylor, Oberst T. E.  102, 118, 146, 155 Thistlethwaite, Mrs.  182 Thompson, Oberst Perronet  36 Times, The  16, 34, 50, 66, 71, 103, 109, 131, 162, 207, 209 Tory-Demokratie  140, 154, 205, 206, 207 Trollope, Anthony  181 Turner, Sharon  19 Venetia 36 Victoria, Königin  12, 36, 37, 49, 51, 79, 84, 90, 91, 108, 120, 124, 147, 148, 161, 167, 175, 179, 180, 181 f., 184, 185, 187, 188, 189, 193, 197, 199, 203, 207 –– Beziehungen mit D. 73, 91, 103, 114, 127, 143, 156, 161, 166, 174, 194, 200

Personen- und Sachwortverzeichnis –– unberechenbares Verhalten  143, 174 –– Kaiserin von Indien  172, 174 –– zur Ostfrage  183 Vierte Partei  202 f., 206 Vindication of the English Constitution  32 f., 33 f. Vitzthum, Graf  127 Vivian Grey  15, 17 f., 19, 22, 36 Wahlen, zum Parlament –– (1832) 25 –– (1834) 29 –– (1837)  36  f. –– (1841)  48 f. –– (1847) 77 –– (1852)  95 f. –– (1857) 112 –– (1859) 118

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–– (1865)  128 f. –– (1868) 145–8 –– (1874)  162 f. –– (1880)  190, 196–9 Wales, Prince of, Edward VII.  127, 143, 156, 166, 206 Walpole, Spencer  117, 122, 137 Wellington, 1. Duke of  19, 28 White, William  151 Whitley, Edward  185, 197 Wilberforce, Samuel  125, 143, 147 Wolff, Sir Henry Drummond  202, 206 Wolseley, Sir Garnet  194 Young, G. F.  86 Young Duke, The  19, 25 Zypern  186 f.