Rückkehr des böhmischen Adels: Aus dem Tschechischen von Walter und Simin Reichel 9783205790334, 9783205782902

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Rückkehr des böhmischen Adels: Aus dem Tschechischen von Walter und Simin Reichel
 9783205790334, 9783205782902

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Vladimír Votýpka

Rückkehr des böhmischen Adels

Aus dem Tschechischen von Walter und Simin Reichel

Böhlau Verlag Wien . Köln . Weimar

Wir danken jenen Familien, die uns bei der Finanzierung der Übersetzung unterstützt haben. Gedruckt mit Unterstützung durch das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung .

Originalausgabe: Návraty české šlechty Paseka, Praha – Litomysl 2002 © Vladimír Votýpka 2002 Paradoxy české šlechty Jaroslava Jiskrová-Máj, Dokořán 2005 © Vladimír Votýpka 2005

Coverabbildungen, von links nach rechts: Franz Schwarzenberg, Richard Belcredi, Barbara Coudenhove-Kalergi, Diviš Czernin, Johannes Lobkowicz. Fotos: © Vladimír Votýpka und Familienarchive, 2010. Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3­-205-78290-2 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Über­setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf ­fotomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Daten­ver­arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.

© 2010 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar http://www.boehlau.at http://www.boehlau.de Druck: CPI Moravia

Inhalt Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1.

Mladota . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Mysteriöse Explosion im Faust-Haus – „Sei still, wir erschießen dich ohnehin!“ – Der Gefangene aus der Zelle Nummer 15 – Um Leben und Tod: Fahrt über die Hochwasser führende Donau – Brillantenbrosche aus dem Nachlass der Vorfahren – Monteur bei McTruck – Erinnerungen an Boston – Ehrenbürger der Stadt Seltschan – Sorgen mit den Märchenschloss

2.

Schwarzenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Staatliche Auszeichnung – Diplomatischer Vertreter beim Heiligen Stuhl – Amerika, das gelobte Land – „Ich habe begonnen, auf Englisch zu träumen“ – Franz Schwarzenbergs Sympathie für die Veteranen der Landstraße – Apostel der verfeindeten Exilanten – Zurück in Europa

3. Battaglia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Ein Schloss, in dem die Zeit stillsteht – Die Letzten aus dem Geschlecht der Battaglia de Sopramonte e Ponte alto – Anstelle des Vaters ins Gefängnis – Tod im Sattel – „Ich habe mein ganzes Leben unter einem Storch verbracht“ – Ungewöhnlicher Beruf für einen Baron – Die heimliche Liebe der Baronin – „Sie lesen wohl viele Kriminalromane?“ 4.

Mensdorff-Pouilly . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Exodus der Familie Mensdorff-Pouilly – Zwei Monate Freiheit für zwei Flaschen Slibowitz – Vom Staatlichen Sicherheitsdienst beschattet – Besuch des bulgarischen Zaren – Le Havre, Rio, Montevideo – In einer Fabrik voller Gestank – Abschaffung des Fideikommisses und Gründung einer Familiengesellschaft

5.

Dobrzensky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Die Geschichte vom goldenen Siegelring – Standhaftes Wladikengeschlecht – Elisabeth d’Orléans-Bragança, Gräfin von Dobrzenicz – Versteckt in einer Kiste unter einem Haufen Kies – Nach Kanada mit drei Dollar in der Tasche – Die 5

Inhalt

Genealogie des Geschlechts der Dobrzenskys, geschrieben auf der Fahrt über den Ozean – Fragmente eines Traumes – „Das böhmisch-mährische Hochland, mein Schicksal“

6. Troskov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Begründer des Postwesens in den habsburgischen Ländern – Schicksale der Nachfahren des böhmischen Zweiges des Fürstengeschlechts Thurn und Taxis – Ein ungewöhnliches Gesuch von Prinz Rudolf an den Kaiser – Kommandant des tschechoslowakischen Infanterieregiments in Munkatsch – Wiedersehen durch ein Inserat – Unter den Trümmern eines bombardierten Hauses – „Ich wollte eine persönliche Schuld begleichen“ 7.

Kinsky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Die Tiefsinnigkeit der Erbauer einer mittelalterlichen Burg – „Diesen Fetzen können Sie auf einem anderen Fahnenmast hissen“ – „Eto German, erschießen, Towarisch!“ Unter den Vertriebenen in Österreich – Nachteile einer an einem Bergbach errichteten Säge – Der märchenhafte Nachlass des Fürsten Pálffy z Erdőd – Kinsky von Sloup und Dubsky von Trebomislitz

8.

Belcredi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Österreichischer Ministerpräsident mit italienischem Namen, deutscher Sprache und böhmischem Herzen – „Mich werden die Faschisten nicht überwachen!“ – Wie man lernt, Botschafter zu sein – Eine adelige Adoption und die unheilvollen Folgen – Das abenteuerliche Leben eines überholten Autos in Australien – Ein Aristokrat, der den Aufbaueifer der Werktätigen untergrub – Der letzte Adelige Brünns

9.

Dlauhowesky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Restitution als Mutprobe – Das Rittergeschlecht, das die Erhöhung in den Herrenstand ablehnte: Dlauhowesky aus Dlouhá Ves – „Meinen Vater bewundere ich bis heute“ – Heimliches Studium – „Wo haben Sie die goldene Wiege versteckt?“ – Eine Botschaft für die künftigen Generationen im Schlossturm

10. Coudenhove-Kalergi . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Geschlecht mit exotischen Neigungen – Eine ägyptische Mumie unter dem Boden der Schlosskapelle – Gemeinsam mit einer Kolonne deutscher Soldaten 6

Inhalt

zu Fuß ins Internierungslager – „Ich hatte geglaubt, dass sich der Kommunismus reformieren lässt“ – Zeuge im Prozess gegen amerikanische Soldaten in Pilsen – „Wir brennen diese Hütte nieder!“ – Unerwartete Abwechslung auf der Fahrt mit der transsibirischen Eisenbahn

11. Lobkowicz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 „Besser, wenn ihr die Grenzpflöcke nicht so tief eingrabt“ – Militärisches Marschieren im Veitsdom – Schnellsiedekurs in Tschechisch – Rückkehr der Lobkowicz nach Drahenitz – Die kürzesten Miniröcke Europas – Eine Konserve namens Pippi – „Meine Frau hat einen Sinn für Abenteuer“ 12. Czernin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Die mutige Entscheidung eines „Lebenskünstlers“ – Masaryk liegend, drohend – „Sport war meine einzige Freude“ – Schloss Tannenmühle und der Geist von Miss Marple – Ursprung der Familie Czernin: ein Bursche, versteckt im Rauchfang – Im Angesicht der Gestapo – „Für Golf sind meine Nerven nicht stark genug“ 13. Kolowrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Erzwungene Emigration – Ein Leben, umgedreht verkehrt herum – „Wenn ich aufschriebe, was ich erlebt habe, würde mir kaum jemand glauben“ – Katzentisch – Der Graf mit Krampen und Schaufel – Vereitelte Hoffnung auf ein Studium in Harvard – Das rätselhafte Verschwinden von Herrn T. – „Ich würde das Schloss gerne in ein Schmuckstück verwandeln“ 14. Razumovsky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Tal der Geister – Geliebter der russischen Zarin – Der blendende Aufstieg der Familie Razumovsky – Neues Heim in einem sicheren Land – Tagebuch, das einen erschaudern lässt – Der Mann der sich entschloss, das Substrat des Alkohols zu suchen – Die vom Regen durchweichte Symphonie – „Wir wurden Mischlinge ersten und zweiten Grades“ – „Ich will den Kommunismus kein zweites Mal erleben“ Epilog der Übersetzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411

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Prolog

Die Ereignisse vom Ende des Jahres 1989 bedeuteten für das Leben in der Tschecho­slowakei eine Reihe von Veränderungen, die ihren Niederschlag vor allem in einer geänderten Rechtsordnung fanden. Die Föderalversammlung, das Parlament der Tschechoslowakei, verabschiedete im Laufe der folgenden zwei Jahre über 400 grundlegende Gesetze. Zu den bedeutendsten zählten drei Restitutionsgesetze sowie eine äußerst wichtige Novelle, auf deren Grundlage die Rückgabe der verstaatlichten Besitzungen an die früheren Eigentümer oder deren Erben ermöglicht wurde. Dabei handelte es sich um keine Kleinigkeiten, es ging um Milliardenbeträge. Nicht nur Häuser in bewohnbarem Zustand und kleine Betriebe wurden zurückerstattet, sondern auch Klöster, Burgen, Schlösser, Wälder, landwirtschaftliche Nutzflächen und Teiche. Politiker und Ökonomen vertraten in der Frage der Restitution gegensätzliche Positionen. Einige forderten die Privatisierung aller zur Disposition stehenden Vermögenswerte. Sie waren der Überzeugung, dass bei der Geltendmachung der Restitution das Vermögen in die Hände von Personen ohne Managerqualitäten gelangen könnte, die mit dem derartig erworbenen Besitz nicht umzugehen wüssten. Sie schlugen daher vor, das verstaatlichte Vermögen in Form einer kleinen Privatisierung, einschließlich der Schlösser mit wertvollem Interieur, zu versteigern und den Erlös für die Unterstützung der Wirtschaft des Landes heranzuziehen. Daneben gab es eine Gruppe, die damit argumentierte, dass ein großes Vermögen ein schlechtes Vermögen sei und, dass man unter die Vergangenheit einen dicken Schlussstrich ziehen müsse. Die Restitution würde ihrer Meinung nach den Interessen der gegenwärtigen Generation widerstreben, die nicht für die Verfehlungen des früheren Regimes zur Verantwortung gezogen werden könne. Bei den Kommunisten setzte sich traditionellerweise der Gedanke des Gemeinschaftseigentums durch, weshalb sie sich sowohl gegen die Restitution als auch gegen die Privatisierung aussprachen. Die Verteidiger der Restitution meinten hingegen, dass diese nicht nur das natürlichste und nachvollziehbarste Element der Privatisierung sei, sondern vielmehr auch die Rückkehr zur demokratischen Rechtsordnung wäre. Man müsse daher zurückgeben, was gestohlen wurde. 8

Prolog

Die Tschechoslowakische Föderalversammlung bestand damals aus der 150 Mitglieder zählenden Nationalkammer, in der Tschechen und Slowaken paritätisch vertreten waren, die in der Tschechischen Sozialistischen und Slowakischen Sozialistischen Republik gewählt wurden, sowie der Volkskammer, in der die Mandatsverteilung proportional erfolgte. Jedes Gesetz musste von beiden Kammern beschlossen werden. Am 2. Oktober 1990 stand das erste Restitutionsgesetz über die „Milderung der aufgrund von Vermögensunrecht erlittenen Folgen“ auf der Tagesordnung beider Kammern. Dieser Gesetzesentwurf erinnerte eher an einen schüchtern losgelassenen Versuchsballon und löste die relativ begrenzte Problematik vermögensrechtlicher Fragen, die mit der Verstaatlichung nach dem Jahr 1955 in Zusammenhang standen. Dabei handelte es sich um die Rückgabe von nationalisierten, also verstaatlichten privaten Gebäuden und Betrieben, wie etwa Mühlen, Hotels, Geschäfte, kleine Autoreparaturwerkstätten oder Lagerhäuser. Es überraschte daher auch nicht, dass der Gesetzesbeschluss einstimmig gefasst wurde und auf keinen großen Widerstand stieß. Das Parlament gab im Laufe der Sitzung eher das Bild einer geselligen Diskussionsrunde ab. Einige Abgeordnete beriefen sich in ihren Reden auf die Deklaration der Menschenrechte, deren Wortlaut entsprechend der politischen Herkunft interpretiert wurde. Ein Mandatar machte darauf aufmerksam, welchen Verkaufspraktiken der verstaatlichte Besitz bisweilen unterworfen wurde, etwa, dass ehemalige prominente Vertreter des kommunistischen Regimes diesen für einen symbolischen Preis erworben hatten. Vertreter der Linken wurden demgegenüber nicht müde, permanent die Forderung nach legislativer Klarheit aufzustellen. Eine Belebung der Diskussion erfolgte erst durch den Auftritt des kommunistischen Abgeordneten Miloslav Ransdorf, der seiner Befürchtung Ausdruck verlieh, ob nicht die Abstimmung über das Gesetz zu neuem Unrecht führe. „Ich verstehe, dass der hier verhandelte Entwurf für die kommunistische Partei nicht angenehm ist“, kommentierte der Abgeordnete Šimko dessen Worte, „denn er sollte das wiedergutmachen, was gerade die Kommunisten verursacht haben. Den rührenden Versuch des Herrn Abgeordneten, ob es denn im Zusammenhang mit diesem Gesetz nicht zu einem neuen Unrecht komme und ob die Rechtssicherheit gewahrt bleibe, erachte ich als Heuchelei. Die Rechtssicherheit derer, die sich etwas ungerechterweise angeeignet haben, kann keine Rechtssicherheit sein.“

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Prolog

Das Gesetz wurde noch am gleichen Tag mit der absoluten Mehrheit von 202 Stimmen beschlossen. Dagegen hatten sich nur sechs Abgeordnete ausgesprochen, der Stimme enthielten sich 37 Mandatare. Wirklich rau wurde der Ton in der Föderalversammlung erst viereinhalb Monate später bei der Debatte zum nächsten Restitutionsgesetz „über die außergerichtliche Wiedergutmachung“. Vorbei war es mit dem Idyll, nichts erinnerte mehr an den gemütlichen Debattierklub. Dieses Mal wurde die grundsätzliche Richtung der Restitutionsregelung diskutiert, denn im Mittelpunkt stand die Rückgabe des in der Zeit von 25. Februar 1948 bis 1. Jänner 1990 verstaatlichten Besitzes. Aber nicht nur die Standpunkte der einzelnen Abgeordneten wichen erheblich voneinander ab, auch die Ansichten der beiden Regierungen – der tschechischen wie der slowakischen – unterschieden sich voneinander. Die Regierung der Slowakischen Republik empfahl die Vergütung von finanzieller Wiedergutmachung vor allem durch die Ausgabe von Kupons, wie sie im Rahmen des Privatisierungsprozesses Anwendung gefunden hatten, und sprach sich für die Festsetzung eines Gesamtvolumens aller Restitutionsansprüche aus. Unter den Bemerkungen führte sie ebenso an: „Angesichts der Tatsache, dass die Umsetzung des Restitutionsprozesses im Kontext der Slowakischen Republik historisch bedingte Unterschiede aufweisen wird, besteht die Regierung der Slowakischen Republik auf der Forderung, dass das Gesetz über die außergerichtliche Wiedergutmachung auch eine Vollmacht für den Slowakischen Nationalrat beinhaltet, mit dem dieses Spezifikum in Form eines Gesetzes durch den Slowakischen Nationalrat modifiziert werden kann.“ Das Parlament tagte bis zum Abend und den ganzen folgenden Tag bis spät in die Nacht, als einige Abgeordnete vorschlugen, die Sitzung auf den nächsten Tag zu verschieben. Ihr Antrag wurde jedoch mit knapper Mehrheit abgelehnt, die Sitzung wurde fortgesetzt. In der Zwischenzeit wurde ein Streit über die korrekte Funktionsweise des Abstimmungssystems beigelegt und während der hitzigen Debatte war auch die Stimme eines nicht aus Prag stammenden Abgeordneten zu hören, der verkündete, er würde gerne noch die letzte U-Bahn erreichen, um damit zu seinem Hotel am Stadtrand zu gelangen. Einige Minuten vor Mitternacht rief der Gong die Abgeordneten zur Abstimmung in den Verhandlungssaal. Zum Beschluss des Gesetzes war die Zustimmung von mindestens der Hälfte der Abgeordneten aus der Volkskammer und der Hälfte der Abgeordneten der Nationalkammer notwendig. Gerade dort kam es zu Komplikationen. 10

Prolog

Das Gesetz wurde ohne Schwierigkeiten von der Volkskammer angenommen – 86 Mandatare waren dafür, 25 dagegen, 13 enthielten sich der Stimme –, auch die tschechischen Abgeordneten der Nationalkammer sprachen sich dafür aus. Nur unter den slowakischen Mandataren, von denen 18 nicht zur Abstimmung erschienen waren, fehlten drei Stimmen zur Verabschiedung. Die Föderalversammlung hat das Gesetz daher nicht angenommen. Bei einer solchen Pattsituation erlaubte der entsprechende Paragraf der Geschäftsordnung drei Möglichkeiten für die weitere Vorgehensweise: Das Gesetz wird dem entsprechenden parlamentarischen Ausschuss zur weiteren Behandlung zugewiesen, es wird erneut behandelt oder es werden Verhandlungen darüber aufgenommen. Am darauffolgenden Tag teilte Alexander Dubček, der Vorsitzende der Föderalversammlung, den Abgeordneten mit, dass die Entscheidung zugunsten der zweiten Möglichkeit gefallen sei und, dass die Nationalkammer zu einer eigenständigen Sitzung einberufen und über das Gesetz abstimmen werde. Noch am gleichen Nachmittag wurde das Gesetz über die außergerichtliche Wiedergutmachung beschlossen. Etwa einen Monat später, am 28. März 1991, verhandelte die Föderalversammlung den Gesetzesentwurf der Regierung zur „Regelung der Eigentumsverhältnisse von Boden und anderen landwirtschaftlichen Besitzungen“ im Rahmen des dritten Restitutionsgesetzes. Nach vorangegangenen Schätzungen hätte dessen reibungslose Abstimmung die Rückgabe von etwa 70 Prozent allen Bodens in private Hände bedeutet. Der für die Restitution in Frage kommende Zeitrahmen war in Übereinstimmung mit den anderen die Rückgabe betreffenden Vorschriften der Zeitraum vom 25. Februar 1948 bis zum 1. Jänner 1990. Im Parlament standen sich einander abermals die gleichen Kontrahenten gegenüber: auf der einen Seite die Anwälte der für sie nicht in Frage gestellten bisherigen Bodenreformen und der kollektiven Bewirtschaftung, auf der anderen Seite die Verteidiger des privaten Grundbesitzes, die für die Wiedergutmachung des in den vergangenen 40 Jahren zur Zeit des Kommunismus erlittenen Unrechts eintraten. Die Abgeordneten stimmten am 5. April über das Gesetz ab, das von der Volkskammer angenommen, von den Abgeordneten der Nationalkammer jedoch abgelehnt wurde. Wiederum nehmen an der Abstimmung eine große Anzahl von Abgeordneten – rund ein Drittel – nicht teil. Die Abstimmung über einen ergänzenden Gesetzesvorschlag wurde für den 11

Prolog

14. Mai auf die Tagesordnung beider Kammern gesetzt. In der Zwischenzeit verhandelten Experten der Abgeordnetenklubs, wirtschaftliche Ausschüsse traten zusammen und von Abgeordneten beschickte Gremien tagten. Die Debatten erwiesen sich als schwierig, und auch wenn die Redezeit auf lediglich zehn Minuten beschränkt blieb, wurde der Abschluss der Verhandlung immer wieder hinausgezögert. Eine Woche später konnte allerdings der gemeinsame Berichterstatter des Ausschusses der Nationalkammer, der Abgeordnete Josef Lux, begleitet von erleichtertem Lachen und von Applaus im Saal verkünden: „Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich erlaube mir mitzuteilen, dass der ursprüngliche Gesetzesentwurf in der Fassung der amtlichen Mitteilungen, in der Fassung der von der Volkskammer verlangten Zusätze, versehen mit den Abänderungsanträgen, in der Fassung des Wirtschaftsausschusses der Nationalkammer gebilligt wurde.“ Der stellvertretende Vorsitzende der Föderalversammlung, der Abgeordnete Stank, fügte zustimmend an: „Es ist genau so, wie es der Herr Abgeordnete Lux gesagt hat. Der Gesetzesentwurf der Regierung hat genau diesen Weg genommen, sodass wir jetzt über jene Fassung abstimmen werden, wie sie der Beschlussfassung des Wirtschaftsausschusses, versehen mit allen Änderungen, die wir genehmigt haben, entspricht.“ Dieses Mal waren 253 von insgesamt 300 Abgeordneten anwesend, womit beide Kammern der Föderalversammlung über das Gesetz abstimmten. Gemäß Paragraf 6, Absatz 3 war es allerdings nur möglich, maximal 150 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche oder 250 Hektar anderen Boden von dem gesamten an den Staat gegangenen Umfang des Besitzes zurückzuerhalten. Beinahe leer ging nur die Kirche aus. Es wurde zwar ein Gesetz beschlossen, demzufolge einigen Orden und Kongregationen Besitz zurückerstattet wurde, die Lösung der prinzipiellen Restitution der Kirche wurde jedoch hinausgeschoben. „Warum gerade die Kirche?“, fragte damals ein Journalist den stellvertretenden Regierungschef Pavel Rychetský. „Ich hoffe, dass Sie nicht die lächerliche These nachplappern, dass alles, was gestohlen wurde, auch zurückgegeben werden soll“, antwortete der Politiker darauf. „Die Französische Revolution, die am Beginn des 19. Jahrhunderts die katholische Kirche enteignet hat, unterlag zwar nach einigen Jahren der Restauration und die Monarchie kehrte wieder zurück. Eine Vermögensrückgabe ist jedoch bis zum heutigen Tag nicht erfolgt und niemand protestiert in Frankreich 12

Prolog

dagegen. Kein Land hat im Laufe der Geschichte der menschlichen Zivilisation derartig umfangreiche Restitutionsgesetze verabschiedet wie wir.“ Die Rückgabe von Grundbesitz im Umfang von 250 Hektar erachteten einige Restituenten, vor allem aus adeligen Häusern, als Danaergeschenk. Der Ertrag von 250 Hektar reichte begreiflicherweise nicht zur Erhaltung eines Kulturdenkmals – etwa eines Schlosses oder einer Burg –, das bzw. die sie vom Staat zurückerhalten hatten, aus. Sie begrüßten daher die Diskussion über eine Gesetzesnovelle zum Bodengesetz, die von einigen Abgeordneten eingebracht wurde, und verbanden große Hoffnungen mit ihr. Der Vorschlag beinhaltete Änderungen, die aus den Anmerkungen der Direktoren der Bodenämter sowie aufgrund von legislativen rechtlichen Modifikationen hervorgingen, durch die das schon geltende Gesetz durch gängigere Formulierungen abgeändert werden sollte, um strittige Fälle zu vermeiden. Auch fehlte nicht der Verweis auf die Streichung des erwähnten Absatzes 3 von Paragraf 6. Das Parlament begann seine Debatte über die Novelle am 11. Dezember 1991 und augenblicklich nahm die ganze Linke eine ablehnende Haltung dagegen ein. Sogar den Vorsitzenden der Nationalkammer, den Abgeordneten Šútovec, brachte dieser Vorschlag aus der Ruhe: „Ich hatte angenommen, dass es sich um eine kleine Novelle handeln würde“, sagte er, „aber in Wirklichkeit handelt es sich um eine große grundsätzliche Neufassung.“ Der kommunistische Abgeordnete Professor Mečl legte noch schärferen Protest ein: „Ich habe wirklich den Eindruck, dass es sich hier um eine Umgehung der Geschäftsordnung handelt. Im Verfassungsausschuss haben wir über sechs Abänderungsvorschläge verhandelt. Zweifellos haben auch die Föderationsregierung sowie der Tschechische und der Slowakische Nationalrat den gleichen Antrag, sechs Vorschläge von Kollegen Tyl, behandelt. Nun liegen uns aber 29 vor. Ich denke, dass auf diese Weise auch die Wirksamkeit des Petitionsausschusses umgangen wird. Wenn diese Praxis Schule macht, dann ist es ganz leicht, ein, zwei Abänderungsvorschläge einzubringen, um sie dann im Laufe der folgenden Verhandlungen um weitere 20 oder 30 zu ergänzen. Wenn wir uns näher ansehen, was hier genau vorgelegt wurde, dann reicht das Spektrum von partiellen legislativen Modifikationen bis hin zu grundsätzlichen konzeptionellen Änderungen des Gesetzes über die Eigentumsverhältnisse. Auf mich macht das den Eindruck einer gewissen legislativen Mystifizierung.“ Der Abgeordnete Tyl gab daraufhin die folgende Erklärung ab: „Angesichts der Tatsache, dass das Thema der Novellierung viele Monate lang nicht auf die 13

Prolog

Tagesordnung kam, hat sich auch das entsprechende Material geändert. Es handelt sich allerdings um Vorschläge, die entsprechend der Geschäftsordnung eingebracht wurden.“ Der Widerstand gegen die Behandlung der Novelle war allerdings sehr groß und die Abgeordneten unterbrachen ihre Beratungen bis zum Vorliegen der Berichte der Wirtschafts- und der Verfassungsausschüsse beider Kammern. Am 21. und zu guter Letzt am 30. Jänner 1992 erfolgte die Wiederaufnahme der Debatte, der es nicht an Schärfe fehlte. Die Abgeordneten der HZDS, der Bewegung für eine demokratische Slowakei, und die Kommunisten forderten die Absetzung des Novellierungsvorschlages von der Tagesordnung und verwehrten sich entschieden gegen die Streichung von Absatz 3, Paragraf 6, der die Beschränkung des Umfangs des zurückerstatteten Bodenbesitzes betraf. Auch die Abgeordneten der slowakischen Parteien SDL und KDH machten namhafte Einwände geltend. Am folgenden Tag wurde über die Novelle abgestimmt, zu deren Annahme dreizehn Stimmen unter den slowakischen Abgeordneten der Nationalkammer fehlten. Daraufhin wurde die Einsetzung eines Ausschusses beschlossen, und am 18. Februar stand die Novelle zum dritten Mal auf der Agenda des Parlaments. Kurz vor elf Uhr vormittags stimmten die Abgeordneten erneut darüber ab, und dieses Mal fehlte nur eine einzige Stimme. Eine einzige slowakische Stimme. Am Nachmittag erreichte das Drama im Parlament seinen Höhepunkt. Die Fürsprecher der Novelle preschten mit einer unerwarteten Forderung vor. Angesichts der Tatsache, dass die Gesetzesnovelle die erforderliche Mehrheit nur um eine Stimme verpasst hatte, schlug ihr Sprecher vor: „Es besteht die große Hoffnung, dass wir sie verabschieden könnten, freilich in dem Fall, dass wir darüber sofort in Verhandlungen treten. Der dafür eingesetzte Ausschuss würde die Diktion nur eines einzigen Punktes, im Grunde nur eines einzigen Satzes, vorbereiten. Die Verhandlungen darüber würden nur sehr kurze Zeit in Anspruch nehmen.“ Es erhob sich eine Welle des Protests. Der Abgeordnete Benšík meldete sich aufgeregt zu Wort: „Ich denke, dass es nötig ist, grundsätzliche Einwände gegen das Gesuch geltend zu machen, erneut über diesen Punkt zu verhandeln. Die Novelle wurde zwei Mal abgelehnt und ich frage mich daher, ob wir hier noch eine Woche sitzen und jeden Tag darüber verhandeln werden, solange die Herren Abgeordneten, die sie eingebracht haben, nicht ihr Ziel erreichen … 14

Prolog

Im Prinzip ist es möglich, über die Novelle erst dann zu verhandeln, wenn sie erneut zur Abstimmung gebracht wird, indem sie von Ihnen, Herr Vorsitzender, erneut auf die Tagesordnung gesetzt wird.“ Er wusste, was als Nächstes kommen würde. Die Mehrzahl der Gegner der Novelle nahm an diesem Nachmittag nicht an der Sitzung des Parlaments teil. Sie boykottierte sie absichtlich, weil eine Debatte über die Vorkommnisse vom 17. November 1989 auf der Národní-Straße in Prag auf der Tagesordnung stand, bei der auch die Frage der Verantwortung für das brutale Einschreiten der Polizei geklärt werden sollte. Am Ende der Verhandlungen ging alles Schlag auf Schlag. Die anwesenden Abgeordneten stimmten zuerst über eine Änderung der Geschäftsordnung ab und unmittelbar darauf einzig über die Gesetzesänderung. Zu diesem Zeitpunkt, es war 15.57 Uhr, waren im tschechischen Teil der Nationalkammer 50 Abgeordnete anwesend, im slowakischen Teil 44 und in der Volkskammer 93 Mandatare. An der Abstimmung nahmen somit 113 Abgeordnete, mehr als ein Drittel, nicht teil, beide Kammern waren allerdings beschlussfähig und … das Gesetz wurde angenommen. Dagegen stimmten acht Abgeordnete, zehn enthielten sich der Stimme. Außer den erwähnten Gesetzen wurden in kurzer Zeit auch weitere die Restitution betreffende Vorschriften mit spezifischer Ausrichtung einschließlich von Abänderungen und Ergänzungen beschlossen. Den Nachfahren des böhmischen Adels sollten in größerem Umfang Vermögenswerte restituiert werden. Es ist daher kein Wunder, das sich die Feuerkraft der Presse, der Fernseh- und Radiostationen vor allem auf sie konzentrierte. Ebenso wie unter den Abgeordneten befanden sich auch unter den Journalisten eifrige Fürsprecher und hartherzige Gegner der Rückgabe. Die einen meinten, dass das gestohlene Gut zurückgegeben werden müsse, die anderen wandten ein, dass es keinen Grund gebe, den Adel zu entschädigen, denn die nach dem Jahr 1948 durchgeführte Nationalisierung lasse sich in gewisser Weise als Akt der Kompensation für jenes Unrecht verstehen, das der Adel nach der Schlacht auf dem Weißen Berg im Jahr 1620 begangen hatte. Nicht für alle Restituierungen, die in irgendeiner Weise vom Denkmalschutz berührt wurden, konnte eine ideale Lösung gefunden werden, nicht alle Rückgaben standen unter einem guten Stern. Wesentlich bessere Erfahrungen gab es allerdings mit den Eigentümern aus den Reihen des Adels, für die der Besitz traditionellerweise eine Familienangelegenheit darstellt. Sie erachten es als ihre 15

Prolog

Pflicht, ihn an die nächste Generation weiterzugeben, während die Erben bürgerlicher Herkunft die restituierten Güter mehrheitlich als ein Mittel zur schnellen persönlichen Bereicherung erachteten. Andererseits sahen auch die Denkmalschützer ein, dass es für das Budget des Staates eine nicht zu vernachlässigende Belastung bedeutet hätte, wenn alle historischen Objekte in der Hand des Staates verblieben wären. Die dritte Möglichkeit – die Privatisierung –, die von vielen Wirtschaftsexperten anfangs postuliert wurde, erwies sich, wie einige Beispiele zeigten, offenkundig als die schlechteste Lösung. Wer hätte es sich letzten Endes am Anfang der 1990er-Jahre erlauben können, ein Schloss zu kaufen? Betrüger, Mafiosi, ehemalige Angehörige der Nomenklatur und Ausländer. Ein anschauliches Beispiel stellt in diesem Zusammenhang das Schicksal des Renaissanceschlosses in Mährisch Krumau dar. Bis zum Jahr 1990 wurde es vom Eisenbahnbau Brünn verwaltet, dann gründete die Geschäftsführung eine Aktiengesellschaft und infolge von Verhandlungen mit Vertretern einzelner Ministerien wurde dieses denkmalgeschützte Bauwerk aus der Obhut des Staates entlassen, obwohl auch die Stadt Mährisch Krumau Interesse an dem Schloss gezeigt hatte. Die Aktiengesellschaft verpflichtete sich, das Schloss zu renovieren und es in ein Kongresszentrum mit angeschlossenem Hotel umzubauen. Dazu kam es erst gar nicht, auch wenn einige Banken der Gesellschaft für die Renovierung einen mehr als hundert Millionen Kronen schweren Kredit zur Verfügung stellten. Die Aktiengesellschaft bot das Schloss unmittelbar darauf einer anderen Firma an. Die neuen Besitzer zeigten an der Erneuerung des Objekts jedoch kein Interesse, setzten die Praxis ihrer Vorgänger fort und verpfändeten das Schloss, um an weitere Kredite zu gelangen. In Zusammenhang mit früheren Betrügereien der neuen Besitzer verhängte ein Gericht eine Gefängnisstrafe, die Verwüstung des Schlosses wurde jedoch fortgesetzt. Zu diesem Zeitpunkt wurde das Schloss dem Staat zum Kauf angeboten, aber weder das Kulturministerium noch das Bezirksamt zeigten daran Interesse. Der einzige Ausweg war eine Versteigerung. Diese fand im Jänner 1999 auf dem Bezirksgericht in Znaim statt, es fand sich aber kein einziger Interessent, der bereit gewesen wäre, zumindest den Ausrufungspreis von 40 Millionen Kronen zu bezahlen. Das Schloss verfällt weiter. Nur jener Teil, in dem sich die einzigartige Alfons-Maria-Mucha-Gemäldegalerie mit dem berühmten Slaven-Epos befindet, wird mit dem Geld der Stadt Mährisch Krumau erhalten, auch wenn sich das Objekt nicht in ihrem Besitz befindet. 16

Prolog

Die Restitution beeinflusste mit allen ihren Folgen das Leben vieler Menschen, unter denen sich verständlicherweise auch ein engerer Kreis von Mitgliedern des böhmischen Adels befindet. Einige von ihnen kehrten nach vielen Jahren aus dem Ausland zurück, einige kamen überhaupt das erste Mal in ihrem Leben nach Böhmen oder Mähren. Einige von ihnen für immer, einige von ihnen nur zur Hälfte, sozusagen mit einem Bein, weil sie in der Zwischenzeit im Exil eine neue Heimat gefunden hatten. Sie konnten oder wollten ihre Verpflichtungen und ihre in der Zwischenzeit aufgebauten Freundschaften nicht aufgeben, ihr existenzielles Umfeld verändern und eine erneute Entwurzelung durchmachen. Vielen von ihnen bin ich begegnet. Ähnlich wie in den 1970er-Jahren, als ich Material für mein erstes Buch über den böhmischen Adel gesammelt habe, gelangte ich zu der Feststellung, dass dessen Vertreter auch heute, im Medienzeitalter, kein Bedürfnis nach Publizität oder Öffentlichkeit haben und bis auf wenige Ausnahmen von sich selbst eher mit Zurückhaltung sprechen. Ebenso wie früher handelte es sich allerdings um außergewöhnliche Begegnungen. Ich hatte dadurch die Möglichkeit, ihre Schicksale im Exil zu verfolgen und auch mehr darüber in Erfahrung zu bringen, wie sich ihr Leben in der Zeit verändert hat, als sie die Verwaltung ihres Familienbesitzes übernommen haben, den viele von ihnen als unwiederbringlich verloren glaubten.

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1. Jan Nepomuk Mladota von Solopisk

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Mladota Mysteriöse Explosion im Faust-Haus – „Sei still, wir erschießen dich ohnehin!“ – Der Gefangene aus der Zelle Nummer 15 – Um Leben und Tod: Fahrt über die Hochwasser führende Donau – Brillantenbrosche aus dem Nachlass der Vorfahren – Monteur bei McTruck – Erinnerungen an Boston – Ehrenbürger der Stadt Seltschan – Sorgen mit den Märchenschloss

Ich schrieb ihm nach Lausanne, wo er die meiste Zeit des Jahres lebte, dass ich ein Buch über den böhmischen Adel schreibe, und bat ihn um ein Treffen. Drei Wochen später rief er mich um etwa sieben Uhr abends an. „Hier Mladota“, meldete sich seine energische Stimme über das Telefon. „Ich bin für ein paar Tage in Prag und wohne im Hotel Intercontinental. Möchten Sie nicht herkommen und mit mir zu Abend essen?“ Eine so spontan ausgesprochene Einladung hat mich zwar ein wenig überrascht, dennoch machte ich mich innerhalb von zehn Minuten auf den Weg. In der Hotellobby saßen nur acht, neun Leute. An einem weißen Klavier spielte auf einem erhöhten Podest ein älterer, glatzköpfiger Pianist Melodien von George Gershwin und Rudolf Friml. Auch wenn er ausgezeichnet spielte, hatte es den Anschein, als ob ihm niemand zuhörte. Ich steuerte auf die Rezeption zu und fragte nach der Zimmernummer von Jan Mladota. „Der Herr Baron befindet sich wahrscheinlich im Restaurant“, teilte mir ein offenbar sehr gut informierter junger Rezeptionist mit. Ich wandte mich daher dem Restaurant zu und entging nur knapp einer peinlichen Situation, weil ich nicht wusste, wie er aussah. Zum Glück ließ er sich einfach nicht übersehen. Ich lief ihm über den Weg, als er mit jemandem von der Hoteldirektion in die Halle trat, hochgewachsen und stattlich. Er ging beinahe so aufrecht wie ein Soldat. Auf den ersten Blick war sichtbar, dass er ein Mensch ist, der es gewohnt war, Entscheidungen zu treffen, ein Mensch mit großer Autorität. „Setzen wir uns irgendwohin, wo wir uns ungestört unterhalten können“, schlug er vor und führte mich zu einem kleinen Tisch in der Ecke mit Blick auf die Pařížská-Straße. „Wir werden an einem einzigen Abend nicht alles schaffen, 19

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was Sie hören wollen, aber wir können zumindest ein Stück des Weges zurücklegen.“ Ein guter Anfang war gemacht, denn ebenso schnell und geradlinig, wie er sich zum Gespräch entschlossen hatte, vermochte er es, ohne überflüssige Umschweife zu erzählen. Über das Leben auf Schloss Rothradek, über die Kriegsund Nachkriegsjahre, über seine Inhaftierung, über die Flucht ins Ausland, über die Ausreise nach Amerika mit leeren Händen, über die Rückkehr nach Europa und dann – 42 Jahre nach seiner Emigration – die Rückkehr nach Böhmen. Sein vollständiger Name lautet Jan Nepomuk Mladota von Solopisk und er gehört einem alten böhmischen Wladikengeschlecht an, das im 18. Jahrhundert in den Freiherrenstand erhoben wurde. Unbelegten Überlieferungen zufolge war einer seiner Vorfahren, Mladota Prosinka, um das Jahr 1304 Besitzer des Ortes Solopisk und königlicher Mundschenk. Sicher belegt ist hingegen, dass ein anderer seiner Vorfahren, Vochek von Solopisk, im Jahr 1421 die Burg Karlstein beschützt hat und für seine Treue von König Sigismund einen Teil des nahen Ortes Třebotau erhielt. Die Mladotas besaßen bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges nur kleinere Güter und besetzten keine bedeutenden Ämter, weswegen sie die politischen Veränderungen in den böhmischen Ländern nicht allzu sehr betrafen. Erst später traten sie in die Dienste des Kaisers – in die Armee und staatliche Verwaltung –, oder wirkten als Geistliche. Die bedeutendste Veränderung ereignete sich im Jahr 1761. Damals wurden die Mladotas, genauer die Brüder Josef Peter, Jan František und Jan Nepomuk, von Kaiserin Maria Theresia in den böhmischen alten Freiherrenstand erhoben. Noch vorher, im Jahr 1743, wurde ihnen zugesichert, dass ihnen nach dem Aussterben des Geschlechts des Karl von Svárov die erbliche Würde des Oberst­ erblandtürhüters des Königreichs Böhmen verliehen werde, was in der Praxis bedeutete, dass die Mitglieder der Familie bei der Krönung des Königs die Kleinodien bewachten. Josef Peter war offenbar eine interessante Persönlichkeit. Er hatte eine Vorliebe für mechanisches Spielzeug und technische Experimente, widmete sich auch chemischen und physikalischen Studien. Seine Versuche nahmen bisweilen ein sehr lautes Ende, oder um die Wahrheit zu sagen, sie endeten nicht selten mit einer Explosion. Darüber hinaus verbreitete er angeblich absichtlich eine geheimnisvolle Atmosphäre um sich herum, weshalb die Menschen sein Haus auf dem Prager Karlsplatz mit Dr. Faustus in Verbindung brachten und es Faust-Haus zu nennen begannen. 20

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2. Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts befand sich an diesem Ort eine Wasserburg, die im Jahr 1400 in den Besitz der Herren von Říčany gelangte. Seit dieser Zeit wechselten einige Male die Besitzer, die das Bauwerk verschiedenen Umbauarbeiten unterzogen. Im Jahr 1675 wurde die Wasserburg bei einem Brand stark beschädigt. Im 19. Jahrhundert erwarben die Mladotas von Solopisk Rothradek, die sie im neugotischen Stil umbauen ließen.

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Im Laufe der Zeit wurde das Haus der Mladotas veräußert. Franz Mladota, der ein auf Lebenszeit berufenes Mitglied des Herrenhauses war, war es zu verdanken, dass anstelle dessen Schloss Rothradek bei Seltschan im Jahr 1837 in den Besitz der Familie kam. Als das 19. zum 20. Jahrhundert hinüberglitt, wurde Franz’ Neffe Olivier neuer Schlossherr. Dieser ehelichte Rosa von Lumbe, die Tochter von Franz Lumbe, Regierungsrat im Oberstkämmereramt. Ihnen wurde im vorletzten Jahr des Ersten Weltkrieges ein Sohn geboren, dem sie, in Erinnerung an den Großvater, den Namen Jan Nepomuk gaben. Er durchlebte eine sorgenfreie Jugend und war von allem umgeben, was die Sorglosigkeit so verführerisch erscheinen lässt. Eines Tages aber kam es zu einem tragischen Ereignis, das sein Leben zur Gänze verändern sollte. Auf dem Weg von Kolin starb sein Vater Olivier bei einem Autounfall und der 20-jährige Jan war praktisch über Nacht mit der Lösung existenzieller Probleme konfrontiert, von denen er bis zu diesem Zeitpunkt nur vage Vorstellungen hatte. Allem voran musste er Schulden in Höhe von drei Millionen Kronen bezahlen, die er mit dem Schloss geerbt hatte, was damals keine geringe Summe war. Die Schulden von Olivier Mladota waren nicht aufgrund von wirtschaftlichen Verfehlungen oder aufgrund von verlorenen Pferdewetten entstanden. Er hatte beim Versuch, aus einer verlustbringenden Mühle ein prosperierendes Unternehmen zu machen, nur auf einen schlechten Berater gesetzt. Diesem Fachmann wurde vom Baron eine Vollmacht erteilt, worauf sich dieser die drei Millionen von einer Bank borgte, sie mit Verve in die Modernisierung der Mühle steckte – und pleiteging. Die Bank interessierte sich nicht für die Mühle, sie wollte in erster Linie ihr Geld und die entsprechenden Zinsen zurückhaben. Jan Mladota fand sich plötzlich in seinen Jugendjahren in der Welt der Banker und Advokaten wieder und schlug sich nicht schlecht. Er musste zwar die Ursache des ganzen Malheurs, die unglückliche Mühle, sowie eine Spiritusfabrik mit Teilen von zwei Großgrundbesitzungen verkaufen, konnte so allerdings das Schloss, den Wald und das Sägewerk retten. Bald darauf warf der Zweite Weltkrieg seinen unheilvollen Schatten voraus, und als er ausbrach, war sein Besitz weder so groß noch wirtschaftlich so bedeutsam, dass ihn die Deutschen unter Zwangsverwaltung gestellt hätten. In der Nähe von Seltschan wurde allerdings ein groß angelegter Truppenübungsplatz der SS errichtet, der sich ganz in der Nähe von Rothradek befand. Mladota 22

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entging zwar der Zwangsverwaltung, stand aber unter der permanenten Überwachung der nationalsozialistischen Okkupationsverwaltung. „Sie haben doch auch deutsche Vorfahren“, sagte einmal der Chef des Bezirksarbeitsamtes zu ihm. „Die habe ich“, antwortete Mladota, „aber ich habe auch andere Vorfahren, etwa französische.“ „Na, sehen Sie“, versuchte ihn der nationalsozialistische Beamte zu überzeugen, „gerade deshalb sollten Sie die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen.“ „Herr Direktor“, erregte sich der junge Schlossherr, „kein Mladota war jemals Deutscher und auch ich werde kein Deutscher werden.“ Der eifrige Chef des Arbeitsamtes unternahm noch einige Anläufe, aber jedes Mal musste er seinen Vorgesetzten melden, dass es ihm nicht gelungen war, Mladota zu brechen. In Seltschan nahm eine deutsche Kommandantur ihren Sitz und in das Schloss im nahen Ellischau, aus dem sein Freund Franz Schwarzenberg ausgesiedelt wurde, zog ein Militärtribunal der Waffen-SS ein. Noch zuvor gelang es Schwarzenberg, zumindest einen Teil der Schlosseinrichtung nach Rothradek zu verbringen, und Mladota „erbte“ bei dieser Gelegenheit dessen Kammerdiener Bohoušek Cajthamel, der ansonsten Zwangsarbeit hätte leisten müssen. Er dachte daran, den Kammerdiener im Sägewerk einzusetzen, wo jede Hand nötig war. „Nur Bohoušek fand sich gleich am nächsten Morgen perfekt gekleidet vor der Tür ein“, erzählte Jan Mladota, „eine Hose mit exakter und scharfer Bügelfalte, genauso stellte er sich in Bereitschaft. Ein echter Kammerdiener eben. Ich brachte es nicht übers Herz, von ihm zu verlangen, sich einen Arbeitsoverall anzuziehen. Jeden Morgen bürstete er mir die Hose und putzte meine Schuhe, wie das ein Kammerdiener eben so macht. Man merkte ihm die Schwarzenberg’sche Prägung gleich an. Darin erschöpften sich meistens seine Pflichten, denn unter der Woche gab es für ihn ansonsten nichts weiter zu tun. Dafür packte er am Samstag, wenn wir ihn am meisten gebraucht hätten, seine Sachen zusammen und fuhr nach Beraun. Um keinen Preis der Welt hätte man ihn um sein freies Wochenende bringen können. Er hatte überhaupt manchmal eine sehr anmaßende Herangehensweise an die Dinge. Einmal ersuchte ihn meine Mutter, ob er nicht zur Kirche auf den Amschelberg gehen könne, um dort Weihwasser zu holen. Er machte eine Verbeugung, sagte: ,Wie Sie wünschen, Frau Baronin‘, nahm einen Krug und ging. Es wäre alles glattgegangen, wenn nicht gerade die Köchin aus dem Fenster geblickt hätte. Sie sah Bohoušek, 23

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wie er mit würdigem Schritt zum Bach ging, sich hinkniete und daraus Wasser schöpfte. Zwei Stunden später kehrte er zurück und übergab meiner Mutter mit ernstem Gesicht das Wasser aus dem Bach.“ Als die Erfolgsphase der deutschen Wehrmacht von jener des planmäßigen taktischen Rückzugs abgelöst wurde, quartierte sich eine Zeit lang eine Wehrmachtsabteilung im Schloss Rothradek ein, die zuvor in Jugoslawien gegen Partisanen gekämpft hatte. „Wie jede Armee ließen sie begreiflicherweise ein paar Andenken mitgehen – hier ein Bild, dort einen Ziergegenstand aus Porzellan“, erinnerte sich Mladota, „aber der Offizier, der mir meldete, dass die deutsche Wehrmacht das Schloss für militärische Zwecke beschlagnahmen würde, war äußerst zuvorkommend. Schließlich fragte er mich, ob ich noch einen Wunsch hätte. ,Einen Wunsch? Wie kann ich einen Wunsch äußern, wenn Sie mein Schloss beschlagnahmen?‘, entgegnete ich. ,Aber da wäre vielleicht doch eine Sache. Dass sie nämlich nicht mit LKWs über die alte steinerne Brücke zum Tor fahren. Es könnte sein, dass sie unter der Last zusammenbricht.‘ ,Verlassen Sie sich darauf, ich werde das veranlassen. Mit schwerem Gerät wird niemand über die Brücke fahren‘, versprach der Offizier und stellte dort wirklich einen Soldaten als Wache ab. Es dauerte nicht lange und fünf große Lastkraftwagen fuhren über die Brücke, einer schön hinter dem anderen. Das hat mich so aufgebracht, dass ich das Fenster aufgerissen und auf die Wache hinuntergeschrien habe. Meine Mutter zog mich am Mantel und flüsterte: ,Die erschießen dich doch. Ich bitte dich, sei ruhig, zum Teufel mit der Brücke.‘ Der Soldat bei der Brücke war allerdings sehr diszipliniert, nahm Haltung an, salutierte und meldete: ,Jawohl, Herr Baron. Es wird nicht wieder vorkommen.‘ Und es ist wirklich nicht mehr passiert.“ Nach dem Krieg herrschte in Rothradek kurze Zeit Ruhe, während der sich zwei außergewöhnliche Begebenheiten zutrugen. Eine war vergnüglich – es wurde die Hochzeit von Jan Mladota mit der anmutigen Baronesse Henriette Goldegg von und zu Lindenburg gefeiert –, die andere hatte einen bitteren Beigeschmack. In der in der Stadt Tabor erscheinenden Zeitung Palcát (Der Streitkolben) fand sich ein Artikel, in dem Mladota beschuldigt wurde, während des Krieges Adolf Hitler in sein Schloss eingeladen zu haben. Das brachte ihn zur Weißglut. Augenblicklich fuhr er zu einem Rechtsanwalt nach Prag und wollte den Redakteur verklagen. 24

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3. Jan Nepomuk, von seinen Freunden Muki genannt, und Henriette, geborene Goldegg von und zu Lindenburg, im Jahr 1945. Jan war damals 28 Jahre alt, Henriette um 7 Jahre jünger.

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„Freilich, wir können sie verklagen“, sagte dieser. „Aber der Palcát ist ein kommunistisches Revolverblatt. Wir können somit auch gleich die kommunistische Partei klagen. Und wenn die Kommunisten an die Macht kommen, dann, Herr Baron, wandern wir beide ins Gefängnis.“ Mladota ließ sich nicht für dumm verkaufen und reichte die Klage ein. Der Anwalt hatte das richtige Gespür, beide mussten dafür wirklich ins Gefängnis. Die Kommunisten sahen Mladota auch ein weiteres „Vergehen“ nicht nach: Im Februar 1948 stand er während der Studentendemonstration auf der Prager Burg im Fenster der schweizerischen Botschaft auf dem Hradschiner Platz, in der Hand eine Filmkamera, mit der er alles um sich herum aufnahm – das erbarmungslose Eingreifen der Polizei und der Volksmiliz ebenso wie die ohnmächtige Verzweiflung der Studenten. Am nächsten Abend kamen zwei Geheimdienstleute in Begleitung des örtlichen Gendarmen nach Rothradek, um ihn festzunehmen. Sie führten Mladota und seine Frau in den Salon, wiesen den Gendarmen an, sie zu bewachen, und begannen, das Schloss zu durchsuchen. Als sie die Sammlung von Jagdwaffen entdeckten, unter denen sich eine kostbare französische Flinte und eine amerikanische Remington befanden, hellten sich ihre Mienen auf. „Da sieh einer an. Sie haben ja ein ganzes Arsenal hier. Sagen Sie mal, sind die alle registriert? Schon gut, wir glauben Ihnen schon. Nur bei uns gilt der Grundsatz: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Wie müssen die Waffen mitnehmen.“ Mladota hatte vom ersten Augenblick an das Gefühl, dass sie etwas Wichtigeres als Jagdwaffen suchen würden, irgendein Beweisstück gegen ihn. Im Geist ging er eine Möglichkeit nach der anderen durch und schließlich kam er auf die naheliegendste – sie wollten die Unterlagen für den in Vorbereitung befindlichen Prozess gegen den Palcát. Es ging um die Zeugenaussagen, das Verzeichnis jener Personen, die bereitwillig gegen die Kommunisten ausgesagt hatten. Wenn sie es finden würden, durchfuhr es ihn wie einen Blitz, würde das deren Inhaftierung bedeuten. Auch Jahre später gestand er, dass er es in diesem Augenblick mit der Angst zu tun bekam. Die Unterlagen waren unter dem Teppich verborgen, ganz in der Nähe jenes Ortes, an dem sie saßen. Die Geheimdienstler suchten bis Mitternacht – ohne Ergebnis. Dann sagten sie ihm, dass er sich anziehen und mit ihnen kommen solle. Es gelang ihm, unter dem Tisch eine Nachricht für Henriette auf seinen Handteller zu schreiben. Als sie sich eine Zigarette anzündete, hielt er die Hand dicht vor 26

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ihr Gesicht. Sie verstand und noch in der gleichen Nacht verbrannte sie die Unterlagen. Am nächsten Tag fuhr sie nach Prag um herauszufinden, wohin man ihren Mann gebracht hatte. „Sie sollten sich besser nicht zeigen“, riet ihr ein Bekannter. „Die wollen Sie sicherlich auch festnehmen.“ Ganz verzweifelt fand sie sich am Nachmittag im Kleinseitner Restaurant U Hrdinů in der Thomas-Straße ein. Sie durchquerte das Lokal, um zu einem Hinterzimmer zu gelangen, wo sich in diesen Tagen die junge Generation des tschechischen Adels traf. Dort, unter Freunden, schüttete sie ihr Herz aus: „Sie haben Muki eingesperrt und mich wollen sie angeblich auch verhaften. Was soll ich eurer Meinung nach tun?“ Sie erlaubten ihr nicht, noch einmal nach Rothradek zurückzukehren und stellten Überlegungen an, wo sie sich für einige Zeit verstecken könnte. Bekannte und Verwandte kamen nicht in Frage, die Geheimdienstler hatten ihr Telefonverzeichnis an sich genommen, als sie das Schloss durchsuchten, sie kannten also die Adressen. Schlussendlich wurde folgende Entscheidung getroffen: Jeden Tag sollte sie an einem anderen Ort übernachten und im März versuchen, zusammen mit Friedrich Mensdorff nach Österreich zu fliehen. „In der letzten Nacht vor der Abfahrt aus Prag habe ich bei einer Familie übernachtet, die vom Regime und der Geheimpolizei verfolgten Menschen half. Es klingt zwar unbegreiflich, aber sie machten das völlig uneigennützig. Sie haben es abgelehnt, etwas für ihre Hilfe anzunehmen“, sagte mir Henriette Mladota bei einem meiner Besuche in Rothradek. „Sie hatten kein freies Zimmer für mich, nicht einmal ein eigenes Bett. Ich schlief bei ihrem 4-jährigen Sohn auf einer Couch. Ich sage zwar schlafen, aber die meiste Zeit habe ich wach am Fenster mit dem Ausblick auf den alten jüdischen Friedhof verbracht, der vom schwachen Licht der Straßenlaternen beleuchtet wurde. Dort irgendwo befand sich die Tumba von Mordechai Maisel, des märchenhaft reichen Wucherers aus dem Prager Ghetto, der sich seine Sicherheit mit Gold erkaufte, ebenso wie das Grabmal von Jehuda Löw, der Schöpfer des legendären Golem. Dutzende Namen und Dutzende Schicksale. Ich überlegte, welches Schicksal mich erwarten würde und womit wir die ­Sicherheit von Muki und mir erkaufen werden. Im Unterschied zu vielen anderen Emigranten war ich unentschlossen, ob ich gehen oder bleiben sollte. Wenn sie einen Revolver im Rücken spüren, dann sehen sie sich nicht wirklich um, 27

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dann gehen sie den Weg, von dem sie glauben, dass er sie in Sicherheit bringt. Vor allem aber war ich etwas mehr als 20 Jahre alt und mit diesem Alter ist man eher optimistischer eingestellt. Um zwei Uhr morgens bin ich leise, um den Buben nicht zu wecken, aufgestanden und begab mich zum Bahnhof, weil mein Zug um drei Uhr in Richtung Slowakei abfuhr. In Pressburg habe ich mich an der Adresse gemeldet, die mir Freunde gegeben hatten. Eine ältere Dame öffnete mir, sie stellte keine Fragen, sie lächelte nur liebenswürdig. Friedrich Mensdorff und ich sollten erst am nächsten Morgen an einem bestimmten Ort sein. Vor mir lag ein ganzer, ein unendlich langer Tag voll freier Zeit. Zuerst streifte ich ziellos durch die Straßen, drehte mich an jeder Ecke um, ob mich jemand verfolgen würde, dann kaufte ich mir aber doch lieber eine Kinokarte. Sie spielten La Symphonie pastorale mit Michèle Morgan, bis zum heutigen Tag kann ich mich daran sehr genau erinnern. Der Film wurde nonstop gespielt, ich habe ihn dreimal gesehen und wäre auch noch für die vierte Vorstellung geblieben, wollte aber die Aufmerksamkeit nicht zu sehr auf mich lenken. In der Nacht brachten zwei Studenten Mensdorff und mich aus Pressburg hinaus, wo uns am Ufer der Donau zwei weitere mit einer Fähre erwarteten. Es war der 19. März, der Festtag des Heiligen Josef. Langsam dämmerte es und die Gegend um uns herum tauchte schemenhaft aus dem Nebel hervor. Sie brachten uns hinter dem Stadtteil Karlsdorf über einen ruhigen Arm der Donau, bis heute weiß ich nicht, welchen Weg wir genau genommen haben. Überall herrschte Ruhe, nur sanftes Geplätscher war zu hören. Kurz darauf legten wir auf einer Insel inmitten des Flusses an und wateten über eine aufgeweichte Wiese. Mir war bitterkalt, meine Schuhe und mein Kleid waren durchnässt, die Hände von Dornen zerstochen. Auf der anderen Seite der Insel wartete ein junger Mann in einem Kanu auf uns, in dem er nur einen von uns aufnehmen konnte. Die Wahl fiel auf Friedrich Mensdorff. Das Kanu stieß vom Ufer ab, die Studenten kehrten zur Fähre zurück und ich blieb an diesem unbekannten Ort – keine Menschenseele in der Nähe – völlig alleine zurück. Wenn sie mich hier fangen und erschießen, ging es mir durch den Kopf, dann würde niemand etwas davon erfahren. In 50 oder vielleicht in 100 Jahren würde hier möglicherweise irgendjemand das Skelett eines Mädchens entdecken. Während ich diesen grauenhaften Gedanken nachhing, hörte ich das Paddelgeräusch und sah den Mann im Kanu. Der Nebel lag auch weiterhin über dem Fluss, in dessen Schutz uns 28

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auch die Grenzwachen entlang des Ufers mit ihren Ferngläsern nicht entdecken konnten. Der Kanufahrer war wirklich ein Meister. Er steuerte mit dem Boot sozusagen auf den Meter genau auf jenen Ort zu, an dem Mensdorff wartete, obwohl die Donau an dieser Stelle reißend und unbarmherzig ist und er nur ein paar Meter weit sehen konnte. Wir waren in Österreich und wir waren frei. Aber nicht für lange. Ein Stück von der Grenze entfernt entdeckten uns österreichische Zöllner und brachten uns nach Hainburg. Dort stellten sie für uns eine Unterkunft im örtlichen Gefängnis sicher. Beim Verhör sagte ich, dass ich in Innsbruck geboren worden sei und dort auch einige Zeit gelebt hätte, was selbstverständlich der Wahrheit entsprach. Ich erzählte, dass ich Verwandte in Österreich hätte, dass mein Onkel im Landwirtschaftsministerium in Wien arbeite, dass mein Mann aus politischen Gründen im Gefängnis sei und dass ich auf der Flucht sei. Sie waren anständig und entgegenkommend. Sogar so entgegenkommend, dass sie uns über das Wochenende aus dem Gefängnis entließen, wo ständig die Gefahr drohte, von der russischen Militärpolizei, die auf der Suche nach Flüchtlingen war, entdeckt zu werden. Die österreichischen Beamten erlaubten uns, im Schloss der Familie Harrach zu übernachten. Am Montagmorgen kehrten wir wieder in die Hainburger Zelle zurück und es geschah etwas Unerwartetes. Auf dem Gefängnishof wartete ein Rettungswagen, Mensdorff und ich wurden hineinverfrachtet, wir mussten uns beide auf eine Tragbahre legen und wurden mit einer Decke zugedeckt. So brachten sie uns nach Wien. Es war eine vorausschauende Vorsichtsmaßnahme. Auf dem Weg passierten wir die russischen Kontrollposten, denn Österreich war drei Jahre nach dem Krieg immer noch in Besatzungszonen aufgeteilt. Wir wurden von keinem einzigen Militärposten kontrolliert, die Fahrt verlief also ruhig, und anstatt uns ins Krankenhaus zu fahren, brachten sie uns zu meinem Onkel ins Landwirtschaftsministerium.“ Jan Mladota wurde in der Februarnacht von Rothradek ins Gefängnis von Tabor gebracht. In der Zelle Nummer 15 musterten ihn schlaftrunken zwei Männer von ihren Pritschen aus – einer war Rechtsanwalt aus Tabor, der andere ein ehemaliger Abgeordneter der Agrarpartei. „Zuerst wussten wir nicht, was sie mit uns vorhaben, ob sie uns nicht sogar hängen würden. Gerade in dieser Woche kam Jan Masaryk unter tragischen 29

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Umständen ums Leben, der anfängliche Schock war deshalb entsetzlich. Als aber die Tage vergingen und nichts geschah, gewöhnten wir uns nach und nach an die Situation. Ich wollte aber nicht einfach unschuldig und untätig in einer Zelle sitzen, ich wollte arbeiten. So ließen sie uns, den ehemaligen Abgeordneten und mich, irgendjemandes Auto reparieren. Momente der Hoffnung wechselten sich mit Augenblicken der Verzweiflung ab. Dafür hatten sie ihr System. Es begann damit, dass mir während eines Spazierganges im Gefängnishof einer der Aufseher halblaut und so, als ob es ein Geheimnis gewesen wäre, mitteilte: ,Hör mal, die haben ein junges, schönes Püppchen ins Kittchen gebracht. Wahrscheinlich ist das deine Frau.‘ Mir schnürte es die Kehle zu: ,Wie sieht sie denn aus?‘, fragte ich, um in Erfahrung zu bringen, ob es stimmt. Er beschrieb sie in allen Details, er wusste sogar, wo sie ein Muttermal hatte. Ein paar Tage später kam er ganz strahlend auf mich zu. ,Mladota‘, zwinkerte er mir zu, ,ich habe herausgefunden, dass das nicht deine Frau ist, sondern eine ganz andere. Gut, nicht?‘ Und wieder etwas später flüsterte er mir fast rührend zu: ,Hör mal, sie haben sie doch gefangen und eingesperrt. Dieses Mal ist es sicher sie. Pech, mein Freund.‘ Einige Zeit lang ist es ihnen gelungen, die Stricke auf der Folterbank, auf die sie mich gelegt hatten, abwechselnd anzuziehen und zu lösen. Dann habe ich allerdings von meiner Mutter einen Brief erhalten, in dem sich der unschuldige Satz befand: Edward ist Vater einer Tochter geworden. Damit war ihre Peinigung definitiv passé, denn dieser Satz sagte mir, dass meine Frau wohlbehalten nach Österreich gelangt war. Im Gefängnis blieb ich auf den Tag genau vier Monate und die ganze Zeit über habe ich nicht erfahren, was mir zur Last gelegt wurde. Ich wurde zu keinem einzigen Verhör gebracht. Meine Freilassung war ebenso absurd wie alles andere. Meine Mutter traf auf der Straße in Prag einen Bekannten, der von ihr wissen wollte, wie es mir gehe. ,Er sitzt immer noch im Gefängnis von Tabor‘, sagte sie, ,und wir wissen nicht, wie wir ihm helfen sollen.‘ ,Waren Sie schon bei Rechtsanwalt Stein?‘, fragte er. ,Bei Rechtsanwalt Stein? Aber den kenne ich doch gar nicht.‘ ,Dann sollten Sie zu ihm gehen, möglicherweise kann er etwas für Ihren Sohn tun‘, sagte er und notierte die Adresse. Am nächsten Tag vereinbarte sie ein Treffen mit Herrn Stein. ,In dieser Angelegenheit kann ich Ihnen leider nicht helfen, Frau Baronin‘, lehnte er ab. ,Ich übernehme keine politischen Fälle. Wenn Ihnen jemand eine Kuh gestohlen 30

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hätte oder wenn es sich um eine Scheidung handeln würde ... so etwas würde ich übernehmen, aber die Politik ist nicht mein Gebiet. Und abgesehen davon, Sie können doch derzeit nur schwer Geld auftreiben und ich verrechne ein sehr hohes Honorar.‘ ,Da haben Sie recht, Geld habe ich keines. Ich besitze aber noch Familienschmuck, also vielleicht … Wenn Sie diesen anstelle des Geldes nehmen würden‘, schlug ihm meine Mutter vor. Er dachte einen Moment nach, dann sagte er: ,Wissen Sie, was? Kommen Sie morgen wieder und bringen Sie den Schmuck mit. Ich werde sehen, was sich machen lässt.‘ Meine arme Mutter brachte ihm also den Schmuck und breitete ihn vor ihm auf dem Tisch aus. Mit verliebtem Blick betrachtete er ihn – es waren wirklich schöne Stücke – und legte sie auf einen Haufen zusammen. ,Na gut‘, stimmte er zu, ,wo ist er? In Tabor?‘ Augenblicklich rief er den Untersuchungsrichter in Tabor an. Am Beginn warf er ein paar höfliche Phrasen ein und kam dann direkt zur Sache: ,Ich habe mir die Sache dieses Mladota angesehen. Das ist in Ordnung, Herr Kollege. Lassen Sie ihn frei. Ja, ja, wie ich schon sagte, lassen Sie ihn laufen. Die Formalitäten erledige ich selbst.‘ Zwei Tage später trommelte unser Zellenkapo namens Krzák an die Türe, ein ehemaliger Geldschrankknacker, der bei keinem einzigen Einbruch erwischt worden war, aber dingfest gemacht wurde, als er das Huhn seines Nachbarn stahl. ,Mladota, du gehst nach Hause‘, sagte er. Man gab mir meine persönlichen Dinge, ich verließ das Gefängnis und traute meinen Augen nicht. Draußen wartete meine Mutter. Glücklich lächelte sie mich an: ,Herr Stein hat mir gesagt, dass sie dich heute freilassen, mein Sohn.‘“ Er fürchtete, dass man ihn erneut verhaften könnte, darüber hinaus litt er schwer unter der Trennung von Henriette, die schon einige Wochen in Wien auf ihn wartete. Er versuchte daher, so schnell wie möglich nach Wien zu gelangen. Er lehnte zwei, drei Möglichkeiten ab, da sie ihm unnötig riskant erschienen. Anfang September kam endlich die ersehnte Nachricht aus Wien: An einem bestimmten Tag sollte er zu einer bestimmten Zeit in ein bestimmtes Gasthaus in Pressburg kommen und dort einen österreichischen Schmuggler treffen. „Er hieß Christ. Was für ein schöner Name“, lächelte Henriette in Gedanken an die lange zurückliegenden Ereignisse. „Irgendjemand hat ihn mir damals empfohlen und ich habe die Gelegenheit ergriffen, da ich keine andere Möglich31

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keit hatte. Zusammen mit einem Jugoslawen schmuggelte er Zigaretten, Medikamente und auch Gummipuppen, die damals groß in Mode waren. Überdies führte er gelegentlich jemanden über die Grenze. Ich machte ihn in Wien nach langem Suchen ausfindig, er aber zierte sich. Ich musste mich dafür verbürgen, dass mein Mann kein politischer Flüchtling sei. Am liebsten, so sagte er, würde er Kriminelle mitnehmen, mit denen gebe es keine Schwierigkeiten. Aber vor allem musste ich ihm versprechen, dass Muki nichts mitnimmt. Keine persönlichen Dokumente, überhaupt nichts, nur das, was er am Leib trug. Herr Christ war ein Profi und sagte mir gleich unumwunden, was es kosten würde. Ich erinnere mich nicht mehr genau daran, wie viel es war, ob es 100.000 Kronen oder 100.000 Schilling waren. Es war jedenfalls eine ungemein hohe Summe. So viel Geld hatte ich nicht bei mir, aber aus der Tschechoslowakei hatte ich eine schöne Brosche mit Rubinen und Diamanten mitgebracht, ein Geschenk meiner Großmutter zur Taufe, um das mich meine Schwester immer beneidet hatte. In der damaligen Situation war das die einzige Hoffnung, um zu Geld zu kommen. So habe ich mich von ihr, wenn auch mit schwerem Herzen, im Geist verabschiedet und ging zu einem Juwelier. Die ältere Dame besah sich die Brosche aufmerksam, zuerst bewundernd, dann aber verlor sie das Interesse. ,Es tut mir leid‘, sagte sie. ,Es handelt sich um eine Fälschung. Ein prachtvolles Meisterstück zwar, aber eine Fälschung.‘ Begreiflicherweise glaubte ich ihr nicht. Es kam mir so vor, als ob sie versuchen würde, das Schmuckstück zum niedrigstmöglichen Preis zu kaufen. Ich nahm die Brosche und suchte noch zwei weitere Juweliere auf. Die Szene wiederholte sich bis ins letzte Detail. Zuerst großes Interesse, Bewunderung, dann die gleichen Worte. Es war wirklich eine Fälschung.“ Mit dem Schmuckstück in der Tasche ging die enttäuschte Henriette in ein Kaffeehaus, wo sie bei einer Torte mit Schlag nachdachte, welcher von ihren Vorfahren am ehesten Geld für eine Geliebte gebraucht hatte oder wer sich so verschuldet hatte, dass er ein Plagiat von Großmutters Brosche herstellen ließ. Am nächsten Tag nahm sie das ganze Geld, das ihr geblieben war, zusammen, borgte sich zudem noch etwas von Wiener Bekannten und bezahlte Herrn Christ. „Es war Mitte September“, setzte Jan Mladota die Erzählung fort. „Ich setzte mich in den Zug und nahm entsprechend der Anweisung nichts mit. Nur in den Mantelsaum nähte ich etwa 100 österreichische Schilling ein und in die 32

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Tasche steckte ich ein Prager Telefonbuch. Irgendein Gepäckstück muss ein Reisender doch haben, ansonsten erscheint er erst recht auffällig. Dieses Telefonregister reiste dann mit uns nach Amerika, eigentlich habe ich es immer noch, ich habe es nicht weggeworfen. In Pressburg ging ich in das besagte Gasthaus, wo in einer dunklen Ecke ein Bursche saß, auf den die Beschreibung passte. Vor ihm stand ein Bier, dazu las er Zeitung. Er wurde auf mich aufmerksam, noch bevor ich ihn angesprochen hatte. ,Setzen Sie sich, bestellen Sie sich etwas auf meine Rechnung, wir haben ein wenig Zeit. Und vor allem, reden Sie nichts Überflüssiges‘, sagte er leise. Am Abend begaben wir uns zusammen irgendwohin in die Peripherie und nach einer Weile holte uns ein Lastwagen ab. Christ setzte sich neben den Fahrer, ich kletterte auf die Ladefläche und versteckte mich in einem offenen Korb. Wir waren lange unterwegs, ich zitterte vor Kälte, denn Mitte September war es verhältnismäßig kalt. Erst nach Mitternacht hielten wir bei einem einsamen Haus mitten auf einem Feld. In der Türe erwartete uns der Besitzer, irgendein Bauer, der uns zu sich hineinwinkte. Etwa eine Stunde saßen wir um einen Tisch im Dunkeln, tranken Slibowitz und beobachteten, was sich draußen tat. Nach einer Stunde erhob sich Christ von seinem Stuhl und erklärte, dass er zu Bett gehen werde. Das Mondlicht sei zu hell und das wäre schlecht für den Weg über die Grenze. Er ging in den nebenan liegenden Raum schlafen, ich auf den Dachboden ins Heu. Dort blieb ich auch während des ganzen nächsten Tages, erst am Abend gestatteten sie mir, nach unten zu kommen. Noch am gleichen Abend versuchten wir, die Grenze zu überqueren. Christ und sein jugoslawischer Kollege trugen die Schmuggelwaren in Säcken auf dem Rücken, darunter auch diese Gummipuppen, die bei jedem Schritt kläglich pfiffen. Ich bekam eine Gänsehaut und fürchtete, dass uns jemand hören könnte, aber die beiden waren davon nicht aus der Ruhe zu bringen. Auf einmal tauchte in der Ferne ein Licht auf, ein Bursche auf einem Motorrad und mit einem Gewehr auf dem Rücken näherte sich. Eine Grenzwache. Meine beiden Begleiter warfen sich augenblicklich zu Boden, ich tat es ihnen gleich, und auf dem Bauch krochen wir ins nahe gelegene hohe Gras. Die Wache fuhr vorbei, wir setzten unseren Weg bis zu einem Bach fort. Christ beugte sich zu mir und flüsterte: ,Mein Junge, wenn sich irgendwelche Gendarmen zeigen, dann muss jeder von uns in eine andere Richtung fliehen. Du läufst hier entlang und dann ein Stück nach links, auch nicht allzu weit nach links, denn dann bist du wieder in der Tschechoslowakei, klar?‘ 33

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Nach ein paar Metern drehte er sich unvermutet um und wir kehrten zu dem Bauernhaus zurück. Möglicherweise leitete ihn sein Schmugglerinstinkt, ich weiß es nicht. Als ich wieder auf dem Dachboden im Heu lag, hatte ich das unangenehme Gefühl, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Der nächste Versuch ging glücklicherweise glatt, so als würde man sich auf einen Ausflug in ein Waldgebiet begeben. Gleich hinter der Grenze verabschiedeten sich beide Schmuggler von mir. Ich wartete bis zur Morgendämmerung und gelangte ohne Schwierigkeiten mit dem Zug nach Wien.“ Wien war für beide nur eine Zwischenstation. Weder er noch Henriette fühlten sich in der Walzerstadt sicher. Auf den Straßen, in den Geschäften, in der Straßenbahn, überall traf man auf russische Soldaten, was bei beiden ein Gefühl der Bedrohung auslöste. Nach vierzehn Tagen entschlossen sie sich, nach Salzburg zu fahren. Irgendjemand riet ihnen, den Nachtzug zu nehmen, am besten im Schlafwagen der ersten Klasse. Jeder in einem anderen Abteil. Außer von Freunden geborgte Pässe hatten sie keine Dokumente bei sich. Diese aber belasteten sie mehr, als dass sie ihnen hätten nutzen können, denn die Leute auf den Fotos zeigten überhaupt keine Ähnlichkeit mit ihnen. Beim Übertritt von der russischen in die amerikanische Besatzungszone hielt der Zug. Auf dem Bahnsteig warteten russische Militärpolizei, österreichische Beamte, die zuerst die Waggons der zweiten und dritten Klasse kontrollierten. Als Henriette sah, wie eine kleine Gruppe von Reisenden aus dem Zug geführt und genötigt wurde, in einen Viehwaggon hinter dem Bahnhofsgebäude einzusteigen, konnte sie sich nicht zurückhalten und begann zu weinen. Den Schlafwagen hoben sie sich bis zuletzt auf. In Henriettes Abteil kam ein gutmütiger russischer Kerl, der ihren Ausweis aufmerksam durchblätterte, die Fotografie ansah, dann wieder sie, dann noch einmal die Fotografie. Das Gesicht des Soldaten blieb während der ganzen Zeit unbeweglich und kalt. Die dann folgenden Sekunden kamen ihr unendlich vor. Sie erwartete Handschellen, Deportation, Gefängnis, aber der Soldat nickte nur unmerklich, gab ihr den Pass zurück und sagte: „Karascho!“. Er ging ins Nachbarabteil, wo ihr Mann saß, und dort wiederholte sich die ganze Szene. Bis heute ist sich Henriette nicht sicher, ob sich der russische Soldat nicht das Leben schwer machen wollte oder ob er einfach menschlich und verständnisvoll gehandelt hat. Unmittelbar darauf zeigte sich ein polternder, junger Amerikaner mit einem 34

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Kaugummi zwischen den Zähnen in der Tür. Er strengte sich erst gar nicht an, sie nach irgendwelchen Dokumenten zu fragen, tippte nur mit dem Finger grüßend an den Helm, sagte „Hello!“ und ging weiter. Unter allen Ländern, die für sie als neue Heimat in Frage kamen, wählten sie die Vereinigten Staaten aus. Die amerikanische Regierung hatte sich damals nämlich entschlossen, 2.000 Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei aufzunehmen und ihnen Reisedokumente auszustellen. Gleichzeitig gab es zur Hilfe politischer Flüchtlinge aus den Ländern Osteuropas in den USA eine humanitäre Aktion, die von vielen Amerikanern unterstützt wurde. Dazu gehörte auch das Ehepaar Barnes, das von der Organisationsverwaltung die Namen und die ­Adresse des zwischenzeitlichen Aufenthaltsortes von zwei Tschechoslowaken bekam – eben des Ehepaares Mladota –, die auf die Erledigung ihres Ansuchens in Salzburg warteten. Mrs. Barnes war Quäkerin und anderen Menschen zu helfen war für sie eine Pflicht. Es bedrückte sie ein wenig, dass sie von den beiden jungen Menschen nichts Näheres wusste. Deshalb nahm sie sich vor, auf einer Europareise anlässlich ihres zehnten Hochzeitstages auch Salzburg einen Besuch abzustatten. An der angegebenen Adresse befand sich, wie sie mit Befremden feststellte, weder ein Armenhotel noch ein Flüchtlingslager, sondern ein kleines Schloss mit einem sorgfältig gepflegten Park. Damit nicht genug, rauschten die Mladotas eben mit einer Harley-Davidson heran, was für das Ehepaar Barnes schon beinahe zu viel war, denn eine verchromte Harley stellte für sie ein Symbol von Reichtum dar. Sie hatten Arbeiter oder Bauern erwartet, die, wie sie hofften, auf ihrer Farm arbeiten würden, und jetzt wussten sie nicht, was sie denken sollten. Jan Nepomuk und Henriette mussten ihnen lang und breit erklären, dass das Schloss einem entfernten Verwandten gehöre, der ihnen ein Zimmer zur Verfügung gestellt habe, dass die Harley geborgt sei und dass sie vor allem Arbeit suchen würden und nicht Geld. Es hätte nicht viel gefehlt, und ihre Hoffnung, baldigst nach Amerika zu gelangen, wäre enttäuscht worden, denn der aufgebrachte Mr. Barnes wollte das Sponsoring widerrufen. Mrs. Barnes jedoch, eine Frau mit festen Grundsätzen, wollte Derartiges nicht zulassen. Ende 1949 fuhren die Mladotas nach Neapel, schifften sich auf der Greely ein, die während des Zweiten Weltkrieges als amerikanischer Truppentransporter gedient hatte, und legten nach elf Tagen im Hafen von New York an. Dort wurden sie von einer Dame der Einwanderungsbehörde erwartet, die sie zu Mr. 35

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und Mrs. Barnes begleitete. Die Begrüßung war herzlich, die Mladotas wurden in deren behaglichem, geräumigem Haus untergebracht und Henriette boten sie an, sich um ihre beiden Buben zu kümmern. „Und was würden Sie gerne machen?“, fragte Mr. Barnes Jan Mladota. „Was auch immer, nur als Hausmeister möchte ich nicht arbeiten“, antwortete er, das war ihm von allem Anfang an klar. Es wäre etwas schwierig gewesen, Mr. Barnes zu erklären, dass ihm bis vor Kurzem ein Großgrundbesitz gehört hatte und dass er im eigenen Wald auf Kaninchenjagd gegangen war. „Wie sieht es denn mit einem Hobby aus? Haben Sie eines?“ Gemeinsam mit seinem Vater hat Jan Mladota immer an Autos herumgebastelt. Sie hatten einen Laurin & Klement und später einen Bugatti, weshalb er vorschlug, ob er nicht etwas mit Autos machen könne. „In diesem Fall ist es einfach, da werde ich Ihnen etwas verschaffen“, sagte Mr. Barnes. Er fand wirklich etwas, freilich auf seinem gesellschaftlichen Niveau. Mr. Barnes vereinbarte für Jan Mladota einen Termin mit dem Präsidenten der Firma McTruck, eines Mammutunternehmens in der Herstellung von Lastkraftwagen. Der Präsident hatte ein riesiges, luxuriös eingerichtetes Büro im 20. Stock eines modernen Bürogebäudes im Zentrum von New York. Er grüßte Mladota herzlich, bot ihm einen Stuhl und eine Zigarre an, sprach eine Weile mit ihm, ließ sich erklären, was er benötigte, hob dann den Telefonhörer ab, rief einen seiner Direktoren an, schüttelte ihm wieder die Hand und übergab ihn diesem Burschen. Der hatte sein Büro im darunter liegenden Stockwerk, das schon nicht mehr so luxuriös war, begrüßte ihn aber ebenso herzlich, versicherte sich, worum es ging, nahm den Telefonhörer ab und rief seinen Vertreter zu sich. So ging das weiter und weiter, eigentlich ging es immer tiefer und tiefer, bis er zum Vorarbeiter in die Garage gelangte, der niemanden sonst herbeirief, denn unter ihm gab es niemanden mehr. Er fragte, was er denn könne, und Mladota antwortete frech, dass er Mechaniker sei. Daraufhin schickte er ihn direkt in die Nachtschicht. „Wir waren im Ganzen 20 Leute, 19 Mechaniker und ich, den sie für einen Mechaniker hielten“, sagte mir Mladota. „Als erste Arbeit gaben sie mir eine Kupplung zu reparieren, aber nicht die eines Autos oder eines normalen Lastkraftwagens, sondern von einem riesigen Ungetüm, denn bei McTruck kannten sie nichts anderes. Ich sah ein solches riesiges Fahrzeug zum ersten Mal aus der Nähe und dachte zuerst einmal nach, wo sich denn die Kupplung über36

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4. Nach der Ankunft in den Vereinigten Staaten veröffentlichte die populäre amerikanische Zeitschrift Quick über das Ehepaar Mladota eine Reportage. Unter den Fotografien befanden sich auch diese beiden: die Frau Baronin am Herd, der Herr Baron in der Autowerkstatt.

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haupt befindet und wie sie in etwa aussehen könnte. Der Chefmonteur fragte mich argwöhnisch, warum ich eigentlich kein eigenes Werkzeug habe. Ich aber sah ihn nur begriffsstützig an und sagte, dass ich geglaubt habe, dass es mir zur Verfügung gestellt werde. ,Jeder Mechaniker hat sein eigenes‘, sagte er, half mir aber für das erste Mal aus. Auf einer Leuchttafel fand sich nach einer Weile der Name Mladota und daneben die Zahl drei, was die Normzeit für die Reparatur der Kupplung war – drei Stunden. Es gelang mir innerhalb von vier Stunden, und glauben Sie mir, ich war ungemein froh, dass es so schnell gegangen ist. An diesem Morgen waren auch zwei Burschen da, die an einem Auto arbeiteten. Ich war gerade fertig geworden, als sie mich fragten: ,Na, mein Junge, wie ist es dir gegangen?‘ – ,Nicht ganz so schlecht, aber auch nicht ganz so berühmt‘, erklärte ich. ,Vier Stunden.‘ Sie sahen sich an und der Ältere der beiden sagte: ,Du bist vielleicht ein Narr, Boy. Du verdirbst uns noch die ganzen Zeitvorgaben. Wir sind von der Gewerkschaft und das können wir nicht zulassen. Schau mal. Verschwinde für ein paar Minuten im Umkleideraum, schnauf mal durch und erst dann kommst du und sagst, dass du fertig bist.‘ Sechs Monate lang habe ich bei McTruck LKWs repariert und bin meistens erst um zwei Uhr früh von der Arbeit nach Hause gekommen. Wir wohnten immer noch bei den Barnes, mit denen wir uns bald angefreundet hatten. Deren großes Haus war auch zwei Stunden nach Mitternacht noch voller Gäste und das gesellschaftliche Leben war in vollem Gange. Die Barnes waren reiche Leute und hatten viele Bekannte – Journalisten, Künstler, Makler und Politiker –, die nicht um zehn Uhr abends besorgt auf die Uhr sehen mussten, um nicht am nächsten Morgen zu spät in die Arbeit zu kommen. Um in unser Zimmer in den ersten Stock zu gelangen, musste ich die Halle durchqueren und zwischen all den Leuten hindurchgehen, anders ging das nicht. Alle waren selbstverständlich in Abendgarderobe und auf einmal tauchte ich dort auf im Blauzeug und im Pullover, im besten Fall im abgetragenen Sakko mit zerknitterter Hose. Ich roch nach Öl, die Hände waren vom täglichen Schmutz nur schwer sauber zu bekommen, am Hemdkragen schwarze Schmutzflecken. Sie sahen mich überrascht an, wie ein exotisches Tier. Als mich dann Mrs. Barnes vorstellte, nahmen sie mich im besten Fall duldsam zur Kenntnis.“ „Wenn wir schon beim Vorstellen sind: Wie haben die Amerikaner eigentlich Ihren Namen ausgesprochen?“, fragte ich ihn. „Wenn man Kovář oder Procház38

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ka heißt, dann wird man zu einem Smith oder Walker. Als Adeliger konnten Sie freilich nur schwer Ihren Namen ändern.“ „In Amerika ist der Taufname vorrangig, für den Familiennamen interessiert sich fast niemand. Bei McTruck haben sie mich gleich am ersten Tag gefragt, wie ich heiße, und ich sagte Jan. Daraufhin haben sie etwas betreten und unsicher den Kopf hin und her gewiegt, bis ich einige Mal langsam buchstabiert habe: J-a-n. Sie konnten es nicht aussprechen. Dann sagte einer erleichtert – na ja, dann eben Jama, was auf tschechisch ,Grube‘ bedeutet. ,Aber nein‘, protestierte ich, ,ich heiße nicht Jama.‘ Es gibt nämlich einen amerikanischen Vornamen, den man Yarmer schreibt und wie Jarmr ausspricht. Den haben sie auf Jama verkürzt. Der ist mir – zumindest bei McTruck – dann erhalten geblieben. In meiner späteren Anstellung war ich dann John. Größere Probleme gab es mit der Aussprache von Mladota, das verschiedenartig entstellt wurde. Einer nannte mich Labota, ein anderer MacAldo, aber es gab auch Maladato. Die meisten nannten mich jedoch Maladada.“ Mit der Zeit fanden die Mladotas in New York eine eigene Wohnung. Sie war nicht groß – zwei Zimmer, ein Minibad und eine noch kleinere Küche, die in einem Schrank verborgen war. „Die Küche war sehr spaßig“, lachte Henriette. „Um kochen zu können, mussten wir den Schrank öffnen und eine Holzplatte umklappen, die den Tisch ersetzte. Dann ließ sich allerdings der Schrank nicht mehr schließen, womit die Tür zu Toilette und Bad blockiert war, die sich beide im Nebenraum befanden. Wenn also jemand auf die Toilette wollte, musste ich den Tisch abräumen, das Gas abdrehen, die Platte umklappen und den Schrank schließen. Nach einer Weile wiederholte sich alles in umgekehrter Reihenfolge. Das allerdings machte uns eigentlich am allerwenigsten aus, im Übrigen haben wir die Abende hauptsächlich anderswo verbracht. Wir wurden oft zu gesellschaftlichen Abendveranstaltungen in schöne, große Häuser eingeladen, vor allem dank des Ehepaares Barnes, wo wir eine Reihe von interessanten Leuten kennenlernten. Im Gegenzug luden wir sie zu uns ein, in unsere winzige Wohnung. Erstaunlicherweise sind sie gekommen. Weil wir nicht genügend Sessel hatten, nahmen sie ohne Bedenken auf dem Teppich Platz und erachteten das nicht als ungehörig. Unser einziger Luxus, den wir von zu Hause gerettet und nach Amerika mitgenommen hatten, waren drei silberne Schüsseln. Auf diesen haben wir für gewöhnlich das Abendessen serviert. 39

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Sie haben uns nicht von oben herab angesehen. Für sie waren wir gleichrangige Partner, die nur Pech gehabt hatten, auch wenn Muki Automechaniker und ich Haushaltsgehilfin war. Ich will mir aber nicht einreden, dass wir einen ähnlich guten Start gehabt hätten, wenn sie nicht unsere Vergangenheit gekannt und wenn sie nicht um unsere Ausgangslage gewusst hätten. Soziale Barrieren existieren in Amerika auch weiterhin, jetzt möglicherweise schon etwas weniger ausgeprägt, als es früher der Fall war. Vom blue collar zum white collar, also den Arbeitsoverall abzulegen und das weiße Hemd eines Büroangestellten anzuziehen, war es ein langer und schwieriger Weg. Aber wie ich schon sagte, sie haben uns eingeladen, möglicherweise vielleicht als europäisches Kolorit, zu einem Wochenende und auch auf Familienhochzeiten. Sogar in Boston. Ich sage sogar, weil die High Society in Boston eine eigene Kaste ist, das ist die Spitze der amerikanischen Aristokratie. Beim Wohnen legt man viel Wert auf den europäischen Stil, die Häuser sehen englisch aus, man isst von silbernem Geschirr, führt ein reiches kulturelles Leben. Der Großteil der Angehörigen dieser Aristokratie behauptet von sich, dass ihre Vorfahren als Angehörige der ersten Auswanderungswelle im Jahr 1620 an Bord der Mayflower nach Amerika gekommen seien. Dann aber hätte die kleine Mayflower so groß wie die Queen Mary sein müssen, damit alle darin Platz gehabt hätten. Und in Boston“, sagte Henriette, „haben wir eine reizende Geschichte erlebt. Es gibt dort ein exklusives, gesellschaftliches Ereignis, das Waltz Evening heißt und im Grunde ein Ball ist. Dieser wird jedes Jahr von den exklusivsten Bostoner Klubs veranstaltet und eine Einladung dazu wird hoch geschätzt, denn sie ist die Zutrittsberechtigung für die höchsten Kreise und ermöglicht es, wichtige gesellschaftliche und geschäftliche Kontakte zu schließen. Sie ist daher Gold wert und viele, die keine Einladung bekommen, sind bereit, unvorstellbar hohe Summen dafür zu zahlen. Einmal hat man uns eingeladen, nur dass wir damals noch nicht wussten, worum es ging. Wir lehnten ab. ,Nein, danke‘, erklärte ich, ,wir sind nicht so gut im Walzertanzen.‘ Unsere Ablehnung schlug ein wie eine Bombe und hat bei unseren Freunden und Bekannten einen riesigen Eindruck hinterlassen. ,Das ist doch nicht möglich‘, wunderten sie sich. ‚Ihr wart eingeladen und seid nicht hingegangen?‘ Sie konnten es nicht begreifen, aber wir haben damit an Prestige gewonnen. Es war herrlich, nicht wahr Muki?“, drehte sie sich zu ihrem Mann um und ihrem Gesicht war ein gewisses Vergnügen anzusehen. 40

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Die gesellschaftliche Seite bildete den besseren Teil, die anziehende, vielfarbige Glanzseite ihres Lebens in den USA. In Wirklichkeit mussten sie hart arbeiten, damit beide – sie von der Stelle eines Kindermädchens und einer Haushälterin, er von der unterirdischen Garage – in eine höhere soziale Etage gelangten. Henriette war von Anfang an etwas besser dran: Sie sprach passabel Englisch, konnte Kurzschrift, hatte Organisationstalent und kannte sich mit historischen Stilen und Antiquitäten aus. Sie bekam eine Anstellung in einem skandinavischen Möbelhaus, dessen Buchhaltung sie leitete. Später stieg sie in eine höhere Position auf und noch etwas später begann sie damit, Einrichtungen zu planen. Jan Mladota hat nach sechs Monaten bei McTruck sein Bündel gepackt, wie er es selbst bezeichnete, und trat die Stelle eines Managers an. Er zog den Arbeitsoverall aus, band sich eine Krawatte um und setzte sich an einen Büroschreibtisch. Er trat in eine Firma ein, die Schuhmaschinen aus Europa einführte. Dem Unternehmen gehörten bis auf wenige Ausnahmen ausschließlich jüdische Mitarbeiter, Emigranten der Vorkriegsgeneration, an. Ein nicht unerheblicher Teil von ihnen waren Prager Juden. Die New Yorker Abteilung leitete ein ehemaliger Škoda-Mitarbeiter, der im Jahr 1938 vor den Nazis aus Prag geflohen war. Mladota war einer der wenigen Gojim unter ihnen, war aber erfolgreich und reiste als Firmenvertreter nach Deutschland, Dänemark und Frankreich. Nach fünf Jahren erhielten er und seine Frau die amerikanische Staatsbürgerschaft. Er etwas später als sie, weil er von der Polizei einige Strafmandate aufgrund von Geschwindigkeitsübertretungen erhalten hatte und weil er sich deswegen vor Gericht verantworten musste. Die Verhandlung der Fälle dauerte nicht lange. Der Richter las sich die Anklageschrift durch, betrachtete den vor ihm stehenden hochgewachsenen Mann eingehend, der sich nicht die leiseste Spur von Reue anmerken ließ, und erklärte: „Sie werden offensichtlich einmal Rennfahrer oder so etwas, nicht wahr? Ich lese hier in Ihrem Polizeiregister, dass Sie für die örtlichen Gegebenheiten sehr schnell unterwegs sind.“ Mladota zuckte mit den Schultern: „Ich hatte etwas Pech, Euer Ehren, denn ich wurde jedes Mal erwischt.“ – „Pech nennen Sie das?“, antwortete der Richter. „Hören Sie mal, wenn das ein Mal gewesen wäre, aber sechs Mal! Dann werden wir mal bei diesen sechs bleiben …“ Womit er die Verleihung der amerikanischen Staatsbürgerschaft um sechs Monate aufschob. Als Jan und Henriette nach Boston übersiedelten, blieb er in der Schuhbranche und beschäftigte sich in der neuen Firma mit Designfragen und der Vermarktung von Maschinen. 41

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Nach Amerika folgte ihnen auch seine Mutter Rosa Mladota nach. Schon im Jahr 1948 hatte der staatliche Sicherheitsdienst ihre Wohnung durchsucht und geplant, sie festzunehmen. „Aber das können Sie nicht machen“, protestierte sie, „ich habe einen österreichischen Pass.“ Dieser war zu dem Zeitpunkt zwar erst einige Tage alt und die Farbe des Stempels war noch nicht einmal ordentlich getrocknet. Die österreichischen Behörden hatten damals entschieden, dass die in Österreich – und zwar in Wien – geborene Witwe eines tschechischen Staatsbürgers ein Anrecht auf einen österreichischen Pass habe. Das hat sie gerettet. Schließlich erlaubte man ihr sogar die Ausreise aus der Tschechoslowakei und sie konnte auch ihre Prager Wohnungseinrichtung mitnehmen. „Die Möbel reisten mit ihr zuerst nach Salzburg, dann weiter über den Ozean, dann mit uns nach Lausanne und jetzt befinden sie sich wieder in Rothradek“, erzählte Jan Mladota. In den 1960er-Jahren sandte ihn sein Bostoner Arbeitgeber in die Schweiz, um dort die europäische Niederlassung seines Unternehmens aufzubauen, die Mladota 26 Jahre später kaufte und erfolgreich erweiterte. Die Firma mit ihren nicht ganz drei Dutzend Angestellten prosperiert bis heute. Gerade wegen ihr hatte er nach der Restituierung seines Besitzes in der Tschechoslowakei keine schlaflosen Nächte. Nach Böhmen kehrte er zur Hälfte zurück – er lebte weiterhin in Lausanne, wo er seine Firma leitete, nach Rothradek fuhr er, um Angelegenheiten hinsichtlich der Restaurierung des Schlosses zu regeln und um Rechnungen zu unterschreiben. Im Jahr 1992 erhielt er eine Einladung zum Treffen mit den Bürgern der Stadt Seltschan. Gerne würden sie altes Unrecht wiedergutmachen, beteuerte der Bürgermeister und Henriette und schlug vor, Freunde von einst zu diesem Treffen einzuladen. Sie luden daher Mitglieder der Familien Sternberg, Wratislaw, Hruby und einige andere ein. Der Saal des Kulturhauses war zum Bersten gefüllt. Als der Bürgermeister Mladota vor 300 Leuten im Saal willkommen hieß und ihn darum bat, seine Freunde vorzustellen, freilich auch mit Adelsprädikaten, wie er betonte, verschlug es diesem beinahe die Sprache. Die Titel seien doch abgeschafft worden, entgegnete er. Der Bürgermeister aber blieb beharrlich. Jan Mladota fürchtete nämlich, dass es ein Pfeifkonzert hätte geben können oder zumindest ein Gepoltere und Gestampfe als Ausdruck des Missfallens, wenn die Leute hörten, dass es sich um Graf Sternberg, Graf Wratislaw und 42

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5. Jan und Henriette, 1980er-Jahre, Schweiz

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Prinz Lobkowicz handelt. Nichts dergleichen geschah. Keine Proteste, im Gegenteil, sogar Applaus, freundliche Mienen, aufrichtiges Händeschütteln. Ein Wermutstropfen war nur in der Bezirkszeitung zu finden, die schrieb: „Seltschan wird zur aristokratischen Festung.“ „Ich kann Ihnen sagen“, bekannte er später, „dass diese schöne Begegnung mir dabei half, allen Schrecken, alle abscheulichen Momente aus dem Gedächtnis zu streichen, die ich im Jahr 1948 erlebt hatte.“ Er wurde zum Ehrenbürger von Seltschan ernannt und erhielt am Ende der Feierlichkeit einen großen symbolischen Schlüssel zum Stadttor und einen kleineren, durch die Jahre abgenutzten Schlüssel zu seinem Familiensitz. Nach fast einem halben Jahrhundert konnte er erneut über die Brücke gehen, die zum Schlosstor führte, jene Brücke, von der er während des Krieges die Wehrmacht vertrieben hatte und über die er nach dem Krieg vertrieben wurde. Ungeduldig ging er hinein, um zu sehen, was sich während dieser Zeit drinnen getan hatte. Er rechnete nicht mit einem Wunder und konnte es auch gar nicht erwarten. Die Stilmöbel und beinahe die ganze Inneneinrichtung waren entweder gestohlen oder an einen anderen Ort gebracht worden. Nach seiner Verhaftung war das Schloss einige Zeit lang unverschlossen und wer wollte, konnte einfach so hineingelangen. Wer Gefallen an einem antiken Stuhl hatte, nahm ihn einfach an sich. Wem eine Kanne aus Porzellan gefiel, der griff zu. Erst später wurden Verzeichnisse angelegt und die kostbareren Einrichtungsgegenstände – beispielsweise Bilder aus der Familiengalerie und Möbelstücke – wurden auch nach Schloss Hochchlumetz, in das Kunstgewerbemuseum in Prag und in die Büros von Ministerien gebracht, während das Familienarchiv in das Magazin des staatlichen Denkmalschutzes in Pardubitz gelangte. Etliches davon befindet sich nun wieder im Schloss, aber von jenen Dingen, die manche wie als Trophäen an sich genommen haben, wurde ihm nichts zurückerstattet – bis auf eine Ausnahme. Aus dem Böhmerwald bekam er einen Brief, in dem der Verfasser schrieb: „In den Jahren 1947 bis 1951 arbeitete ich in der Apotheke von Seltschan, zuerst als Aspirant, dann als Sustentant. In dieser Zeit hat mir der Herr Apotheker einige Gegenstände aus Metall und aus Silber zur Aufbewahrung übergeben, von denen ich annehme, dass es sich um Ihren Besitz handelt. Der Herr Magister machte auf mich, als er mir diesen ‚Schatz‘ übergab, einen etwas verschreckten Eindruck. Er wollte mir nichts Näheres über dessen Herkunft sagen und bat mich um Himmels willen, ihn gut zu verwahren. Ich habe somit alles übernommen, was er mir übergab, nahm es mit nach 44

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Hause und vergrub es dort im Stadel des elterlichen Bauernhauses. Als dieser vom landwirtschaftlichen Genossenschaftsbetrieb benutzt und dort eine Werkstatt eingerichtet wurde, grub mein Vater das Kistchen wieder aus. Seit dieser Zeit wandert es mit mir von Ort zu Ort.“ Das Schreiben beinhaltete ein Verzeichnis aller aufbewahrter Gegenstände und endete mit den Worten: „Die Gegenstände sind etwas verkommen, einige sind beschädigt und haben offenbar nur einen ideellen Wert. Wenn Sie, Herr Baron, in den erwähnten Gegenständen Ihren Besitz wiedererkennen, bitte ich Sie, mir freundlicherweise mitzuteilen, wie ich damit weiter verfahren soll.“ Mladota ging zusammen mit seinem Verwalter alle Räumlichkeiten des Schlosses und auch den benachbarten Park ab und schrieb alles auf, was schon längst hätte gemacht werden sollen, was gleich gemacht werden sollte und was noch einige Zeit warten konnte. Der Zustand des Objektes war nicht der schlechteste. Nach der Verstaatlichung wechselten sich darinnen drei Eigentümer ab – für kurze Zeit wurde es vom Militär genutzt, dann diente es als Lehrlingsbildungsanstalt und schließlich wurde das Schloss vom Bezirksarchiv und dem Bezirksmuseum genützt. Einige Räume wurden nur ungenügend geheizt und belüftet, sodass die Exponate zu schimmeln begannen. Die archivarischen Schriftstücke, manchenorts bis dicht unter die Decke gestapelt, waren vom Moder befallen. Weitaus schlimmer wog jedoch, dass auch das Holz von einem Pilz befallen war. Der Kampf gegen diese Gefahr wurde in den folgenden Monaten für die meisten der böhmischen Schlösser zu einer der vordringlichsten Aufgaben und wurde mit äußerster Zähigkeit geführt. Nach und nach wurden eine neue Heizung installiert, eine neue Wasserleitung verlegt, die elektrischen Leitungen modernisiert, der große Schlossturm renoviert und das Dach mit Schieferplatten eingedeckt, so wie es früher einmal gewesen war. Der Zementverputz wurde abgeschlagen und durch Sanierputz ersetzt, um so der Feuchtigkeit entgegenzuwirken. Die hölzernen Wandverkleidungen, die von Nägeln durchstochen waren, und auch die uralten Türen, die den Schülern der Berufsschule gelegentlich als Zielscheibe gedient hatten, wurden erneuert. Auch, oder eigentlich allem voran, wurde der Rittersaal rekonstruiert, in dem das Wasser durch zwei Zimmerdecken hindurch vom Dachboden tropfte, um auf dem Fußboden in Kübeln aufgefangen zu werden. An die Wände konnte daraufhin wieder die ganze Familiengalerie zurückkehren, die Mladota 45

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hatte fachmännisch restaurieren lassen. Auch der herrliche Kachelofen wurde neu aufgestellt. Es wurden auch viele unscheinbare, kleinere Arbeiten durchgeführt, etwa die Wiederherstellung der Wasserspeier in der Form von Drachenköpfen. Ein geschickter Spengler kann solche Wasserspeier freilich leicht, aber aus Kupfer herstellen. Wollte man den historischen Stil aber wahren, worum es Mladota und seinem Verwalter ging, hätte dies bedeutet, die Wasserspeier aus hoch dehnbarem Blech herzustellen, was aber ein Problem darstellte. Er hätte dann ebenso mit einem atypischen Priependach, den Halterungen für die Wasserspeier, den neuen Leuchtern oder dem Geländer fortfahren können, alles nach Maß, bis zu den Glasscheiben der Fenster und Türen, von denen es einige Hundert bedurfte. Rothradek ist kein pompöser Adelssitz mit einer reichen Ausstattung an antiquarischem Mobiliar, das war es nie gewesen, weshalb es für sich genommen keinen Gewinn abwirft. Mit seiner steinernen Brücke, den Zinnen, Türmen, dem Hungerturm und den mit Efeu bewachsenen Bäumen sieht es romantisch und verspielt aus, beinahe wie ein verträumtes Märchenschloss. Im Rittersaal finden öffentliche Konzerte statt, vor allem das jährlich stattfindende Festival zu Ehren des Komponisten Josef Suk und eine Weihnachtsfeier für Kinder. ­Mladota hat der Stadtverwaltung von Seltschan den Rittersaal auch für Hochzeitszeremonien und das Erdgeschoss des Schlosses für Ausstellungen zur Verfügung gestellt. Ich fragte ihn, warum er das alles tue und Millionen in ein Schloss investiere, wenn er doch der Letzte seines Geschlechts sei. „Aber kommen Sie“, antwortete er mir, „Besitz ist kein Privileg, sondern eine Verpflichtung.“ „Wo fühlen Sie sich eigentlich zu Hause? In Rothradek oder in Lausanne?“ „Meine Wurzeln sind selbstverständlich in Böhmen, wo ich die ersten 29 Jahre meines Lebens verbracht habe. In den Vereinigten Staaten waren wir etwa 15 Jahre, das genügt schon, um dort Wurzeln zu schlagen. In der Schweiz sind wir jetzt mehr als 30 Jahre und auch dort haben wir Freunde und Bekannte gefunden. Wenn ich es in aller Kürze sagen will: Wir haben je eine Zahnbürste in Lausanne und in Rothradek.“ Er war also zur Hälfte zurückgekehrt, teilte somit auch seine Zeit auf die beiden Wohnsitze auf. In dem Maß, wie er sie damit verbrachte, das Schloss in den ursprünglichen Zustand zu versetzen, kehrte auch er selbst zurück, auch wenn er es sich möglicherweise nicht eingestehen wollte.

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„Wissen Sie, dass es uns schlussendlich gelungen ist, die Bibliothek zu ordnen? Kommen Sie und sehen Sie sich das an. Unter alten Drucken habe ich schöne Arbeiten gefunden, das glauben Sie gar nicht“, sagte er mir etwas befangen. „Vielleicht finde ich jetzt endlich nach so vielen Jahren der Arbeit auch Zeit für mich. Ich würde gerne ein wenig studieren. Gestern habe ich ein Herbarium durchgeblättert, eine höchst interessante Sache. Ich habe darin etwas über die Matricaria chamomilla, die gewöhnliche Kamille, gelesen, im Grunde ein großes Abenteuer. Ich habe mich bis lange nach Mitternacht darin hineinvertieft.“

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1. Dr. Franz Schwarzenberg. Sein Vater, Karl V., Fürst zu Schwarzenberg, stammte aus dem Zweig von Orlik, seine Mutter, Gräfin Eleonore, war eine geborene Clam-Gallas.

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Schwarzenberg Staatliche Auszeichnung – Diplomatischer Vertreter beim Heiligen Stuhl – Amerika, das gelobte Land – „Ich habe begonnen, auf Englisch zu träumen“ – Franz Schwarzenbergs Sympathie für die Veteranen der Landstraße – Apostel der verfeindeten Exilanten – Zurück in Europa

Im Haus der ehemaligen Forstverwaltung der Schwarzenberg’schen Herrschaft im steirischen Unzmarkt läutete kurz vor Mittag das Telefon. „Ich gehe schon“, sagte Amalie zu ihrem Mann, und zur Überraschung beider meldete sich am anderen Ende der Leitung die Prager Burg, genauer die Präsidentschaftskanzlei. Ob sie denn so freundlich wäre und Herrn Dr. Schwarzenberg ausrichten könnte, ersuchte Amalie eine angenehme Mädchenstimme, dass ihm der Präsident den Masaryk-Orden verleihen möchte? Die feierliche Überreichung finde bereits in einer Woche statt, am 28. Oktober, im Wladislaw-Saal der Prager Burg, im Rahmen der Feier anlässlich des 73. Jahrestages der Gründung der Tschechoslowakei. „Herr Dr. Schwarzenberg gehört zu jenen, die von Václav Havel in seiner Funktion als Staatspräsident als Erste ausgezeichnet werden“, fügte das Mädchen hinzu. „Das würde meinem Mann eine große Freude bereiten“, sagte Amalie Schwarzenberg, „aber er kann leider nicht kommen. Nach einem kürzlich erlittenen Gehirnschlag ist er an den Rollstuhl gefesselt.“ Für eine Weile trat zwischen Prag und Unzmarkt eine befangene Stille ein, bis das Mädchen etwas schüchtern fragte: „Und könnten nicht etwa Sie in diesem Fall die Auszeichnung Ihres Mannes entgegennehmen?“ So geschah es, dass sich Amalie Schwarzenberg eine Woche später vormittags in Österreich in ein Flugzeug setzte und sich am Abend im vollen WladislawSaal einfand. Sie wurde zu einem reservierten Platz geführt, neben ihr nahm ein alter, weißhaariger Mann mit kindlich funkelnden Augen Platz. Sie dachte sich, dass sie diesen Mann schon einmal getroffen hatte, konnte sich aber nicht an seinen Namen erinnern. Ohne sich den Anschein von Verlegenheit zu geben, nahm sie die zum Gruß dargereichte Hand, drückte sie herzlich und stellte sich vor: „Ich bin die Frau von Franz Schwarzenberg.“ 49

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„Wir kennen uns doch“, lächelte der Mann sie ein wenig spitzbübisch an, „ich bin Anastáz Opasek, der Abt des Prager Klosters Břevnov“, worauf er sie herzlich umarmte und auf die Wange küsste. Während der ganzen Zeremonie saß sie regungslos da und dachte an Franz, an die gemeinsam mit ihm verbrachten Jahre. „Das Leben ist ein Kreis“, dachte sie, „und das ist der letzte Abschnitt.“ Erneut hatte sie ihn vor Augen, welche Freude er hatte, als er erfuhr, dass ihm der Präsident eine Auszeichnung verleihen würde. Er hatte immer darauf gewartet, dass sich die politischen Verhältnisse ändern, und als es schließlich dazu kam, ereilte ihn ein Schlaganfall. Immer hatte er sich danach gesehnt, nach Hause zurückzukehren, aber nachdem ihm dieser Schicksalsschlag widerfahren war, sagte er zu ihr: „Auf einer Trage fahre ich nicht dorthin.“ „Wir leben tatsächlich in einem Kreislauf“, wiederholte sie im Geist. Während in dem still gewordenen Saal Musik gespielt wurde, kehrte sie in ihrer Erinnerung um viele Jahre in die Vergangenheit zurück. Es war so, also ob sie die Seiten eines Fotoalbums der Familie durchblättern würde, einige überflog sie nur, da sie ihr nichts mehr sagten, bei anderen aber hielt sie gerne inne. Mit einem stillen Seufzer erinnerte sie sich erneut daran, dass Franz ihr vom ersten Augenblick an gefallen hatte, als sie ihn bei der Hochzeit ihrer Verwandten Ludmilla Lobkowicz mit Alfred Liechtenstein erblickt hatte. Da war sie erst elf Jahre alt. Er war um acht Jahre älter und befand sich zusammen mit seinem Bruder Karl unter den Hochzeitsgästen, beide in roten Reiterhosen in der Uniform eines Kavallerieregiments, denn beide dienten damals in der Armee. Er bat Moritz Lobkowicz, sie ihm vorzustellen, sie fühlte sich geschmeichelt, obwohl sie sich nicht sicher war, ob er sich mehr für sie oder für den prachtvollen Rolls-Royce interessierte, mit dem gerade ihr Vater vorfuhr. Gelegentlich sahen sie einander bei den verschiedensten Anlässen und unbewusst sah sie ihm immer etwas eifersüchtig nach. Im Jahr 1943 verlobten sie sich und ein Jahr später wurde Hochzeit gefeiert. Nach dem Ausbruch des Krieges, aber auch schon zuvor wurde die Eifersucht durch Furcht ersetzt. Oft ahnte sie mehr, als dass sie wusste, was er tat, wenn er spätabends heimkam oder nach Prag fuhr. Er hatte keine Geheimnisse vor ihr, wollte aber nicht, dass sie sich im Fall seiner Verhaftung in Gefahr begebe. Manches hatte sie von Freunden oder Bekannten erfahren. Von seiner Unterstützung für die Familien von Hingerichteten oder Inhaftierten, über Treffen mit Frau Rádl, der Tochter von Präsident Emil Hácha, und auch über den Freun50

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2. Als im Jahr 1944 die Hochzeit von Amalie Lobkowicz und Franz Schwarzenberg gefeiert wurde, wütete noch immer der Weltkrieg. Um seiner Ablehnung für das NS-Regime zumindest symbolischen Ausdruck zu verleihen, trug Schwarzenberg die Uniform des MalteserRitterordens.

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deskreis um Zdeňek Bořek-Dohalský, von dem innerhalb weniger Stunden die Exilregierung in London erfuhr, was es im Protektorat, aber auch auf der Prager Burg, die unter der strengen Observanz des Reichsprotektors stand, Neues gab. „Pater Opasek! Ja, natürlich“, endlich erinnerte sie sich, woher sie ihn kannte. Gerade während des Krieges hatte sie zum ersten Mal von ihm gehört. Er wollte eine wertvolle Statue des heiligen Prokop im Keller des Klosters Břevnov verstecken, damit sie nicht bei Fliegerangriffen beschädigt werden würde. Zusammen mit Franz hatten sie diese damals dort versteckt. Als 1945 der Prager Aufstand ausbrach, zog sich Franz seine tschechoslowakische Offiziersuniform an, nahm seine gut erhaltene, 12-kalibrige Schrotflinte, die ihm sein Großvater vererbt hatte, und ging auf den Altstädter Ring. Ein paar Stunden später hörte sie schon seine Stimme im Radio. Auf Englisch, Deutsch und Französisch verkündete er die Proklamation des Tschechischen Nationalrates und den Hilferuf der Stadt Prag. Dies lief nicht ohne dramatischen Höhepunkt ab. Er nahm vor dem Mikrofon Aufstellung und bevor noch der erste Ton von Smetanas Mein Vaterland zu hören war, detonierte eine deutsche Granate im Nachrichtenstudio. Unverzüglich flüchteten alle in den Keller, wo die Techniker die Sendeanlage erneut in Gang setzten konnten. Franz hatte in der Zwischenzeit allerdings seinen deutschen Text verloren, sodass er vor dem Mikrophon improvisieren musste. Während des Aufstandes tauschte er seine Flinte gegen ein anderes Gewehr ein, bediente auch ein leichtes Maschinengewehr, stand aber vor allem dem militärischen Befehlshaber General Kutlvašr als Ordonnanz und Übersetzer zur Seite. Entsprechend seinem Befehl nahm er am 8. Mai auf dem Wilson-Bahnhof die Kapitulation der deutschen und ungarischen Garnison entgegen. Wenige Tage nach dem Ende des Aufstandes begegnete er Josef Smrkovský, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Tschechischen Nationalrates. Er benötigte von ihm eine Bestätigung, die ihn als Angehörigen der revolutionären Nationalgarde auswies. Smrkovský stellte ihm diese ohne Zögern aus, aber als er sie ihm gab, lächelte er etwas hinterhältig: „Weißt du überhaupt, Franz, dass wir dir jetzt zwar deinen Besitz zurückgeben, aber schließlich und endlich werden wir dir doch alles wegnehmen.“ Während der glücksstrahlenden Maitage des Jahres 1945 hatten sie diese Episode schon bald darauf wieder vergessen. Franz glaubte anfangs den Kommunisten – er kannte ja einige aus der Zeit des Krieges – und war davon überzeugt, dass sie aus der Tschechoslowakei einen demokratischen Staat machen wollten. 52

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Bald darauf wurde er zum diplomatischen Vertreter der Tschechoslowakei beim Heiligen Stuhl ernannt und beide machten sich auf den Weg nach Rom. Es sah alles nach dem Beginn einer vielversprechenden Karriere aus, denn man sprach von ihm sogar als dem zukünftigen Außenminister, dabei war er damals erst 32 Jahre alt. Und dann – ein Schlag wie aus heiterem Himmel. Februar 1948! Sie waren für ein paar Tage nach Prag gekommen und hatten beide Kinder – die dreijährige Ludmila und die um ein Jahr jüngere Isabella – recht arglos bei ihrem Kindermädchen in der Botschaft in Rom gelassen. Die Stunden äußerster Sorge und Bangigkeit waren für Amalie und Franz wie eine schwere Buße. Sie beruhigten sich erst, als sie bereits im Flugzeug auf dem Rückweg waren. Zu diesem Zeitpunkt wussten sie bereits, dass sie im Exil bleiben würden. Es folgten über 30 Jahre in den Vereinigten Staaten, die erfolgreiche Professur von Franz an der kleinen Loyola University in Chicago, dann aber eine gewisse Ermüdung, die Sehnsucht, in das alte Europa zurückzukehren. Es kam ihnen wir ein Wunder vor, als ihnen damals die Tochter von Heinrich Schwarzenberg aus der Frauenberger Linie anbot, in Unzmarkt in einem ehemaligen Schwarzenberg’schen Forsthaus – ein mächtiges Gebäude in einem Tal der Niederen Tauern – zu wohnen. In der Zwischenzeit hatte auch ihre Tochter geheiratet und lebte im nahen München, weshalb sie das Angebot gerne annahmen. In ihre Erinnerungen hinein tönte die Stimme vom Podium, wo jemand die Namen der ersten Ausgezeichneten verlas. Augenblicklich wurde sie sich der Situation gewahr, sie war wieder ganz zurück im Wladislaw-Saal und nahm kurz darauf den Orden aus den Händen von Václav Havel entgegen. „Franz lässt Sie, Herr Präsident, sehr herzlich grüßen und er bedauert es, dass er nicht persönlich anwesend sein kann“, dankte sie etwas aufgeregt. „Fünf Minuten lang wurde ich gefeiert“, lachte sie, als sie mir davon erzählte. „Sogar auf der Straße haben mich einige Leute angesprochen, ob das ich gewesen sei, die sie im Fernsehen gesehen hatten. Beim Abflug nach Österreich kontrollierte mich der Zöllner auf dem Flughafen auffällig streng. Er durchsuchte den Inhalt meines Gepäcks unter dem Röntgengerät. Er kam mir sehr formalistisch vor. ,Ist das Ihr Koffer?‘, fragte er von oben herab. ,Und was ist das?‘, wollte er von dem dunklen Gegenstand auf dem Monitor wissen. ,Das ist ein Orden‘, sagte ich, ,den der Präsident vorgestern meinem Mann verliehen hat.‘ Ich öffnete den Koffer und hielt ihm die Auszeichnung hin. Er sah mich an und 53

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seine Miene hellte sich auf: ,Ich weiß. Seien Sie mir bitte nicht böse. Ich wollte Sie nur kennenlernen, Frau Schwarzenberg.‘“ Zum ersten Mal habe ich Amalie Schwarzenberg im Jahr 1995 auf Schloss Nalschowitz getroffen. Dieses anmutige, kleine Schloss hat Franz von seiner Mutter Eleonore Schwarzenberg, geborene Clam-Gallas, zur erfolgreich bestandenen Matura zum Geschenk bekommen. Er hat es über alle Maßen lieb gewonnen, denn von so etwas hatte er angeblich schon als Kind geträumt. Er hat sich allerdings nicht lange daran erfreuen können. Zuerst wurde er von den Deutschen vertrieben, als ein Teil des Gebietes um Seltschan zu einem Truppenübungsplatz der Waffen-SS wurde. Einige Dinge konnte er zu seinem Freund Jan Mladota in das nahe Rothradek bringen. Dabei handelte es sich wirklich nur um wenige Gegenstände, denn die Befehlshaber der SS waren nicht geneigt, den Tschechen im Protektorat irgendwelche Gefälligkeiten zu erweisen, auch wenn es sich um Blaublütige handelte. Nach dem Krieg wurde das Schloss von der Roten Armee besetzt, die es als deutsches Eigentum konfiszieren wollte – schließlich befand es sich auf deutschem Gebiet! Alles klärte sich auf, er bekam Nalschowitz wieder zurück, mit seinem Gang ins Exil im Jahr 1948 verlor er es freilich wieder. Im Rahmen der Restitution gelangte das Schloss wieder in die Hände der Schwarzenbergs und Amalie erhielt ohne Schwierigkeiten auch die benachbarten 400 Hektar Wald, die bis an die Moldau reichen. Im Schloss befand sich damals ein Pflegeheim für geistig behinderte Mädchen. Wie es der Buchstabe des Gesetzes verlangte, unterzeichnete sie mit dem Heim einen Mietvertrag über die Dauer von zehn Jahren und richtete sich im Erdgeschoss des an das Schloss angrenzenden Hauses ein. Zu dieser Zeit war sie bereits eine 73-jährige, ausgeglichene Dame, die Gesellschaft schätzte, die das Interesse an nichts und niemanden aus ihrer Umgebung verloren hatte und die gelegentlich einen Spaziergang unternahm, auch wenn ihr das Gehen immer größere Schwierigkeiten bereitete. Sie konnte einen Menschen sehr genau mustern, aber sobald sie zu lachen begann, was sie oft und gerne tat, verschwand der strenge Ausdruck aus ihrem Gesicht und um den Mund legten sich gütige Fältchen. Ein leicht matriarchalisches Äußeres verlieh ihr ihr schönes, volles und immer sorgsam frisiertes Haar, das bei jedem meiner weiteren Besuche immer weißer wurde.

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3. Amalie Schwarzenberg. Der Einblick in ihren Stammbaum gewährt nicht nur einen kleinen Streifzug durch die Geschichte des böhmischen, sondern auch des österreichischen, spanischen, französischen und portugiesischen Adels. Sie ist die Tochter von Prinz Leopold Lobkowicz und Prinzessin Franziska von Montenuovo.

Sie erklärte, 50 Jahre an der Seite eines ausgesprochen weisen Mannes gelebt zu haben, und ihre Schilderungen legten darüber ein beredtes Zeugnis ab. Sie war geistig rege, die Worte blieben jedoch manchmal hinter den Gedanken zurück, gelegentlich vollendete sie einen Satz nicht. Vielleicht war sie zur Überzeugung gelangt, dass ohnehin alles klar und verständlich sei, sodass jedes weitere Wort überflüssig wäre. Sie gehörte noch einer Generation an, für die das Führen von geistvollen Gesprächen und die Kunst der Konversation als selbstverständlicher Ausdruck einer guten Erziehung erachtet wurden, zu der auch das Schreiben interessanter Briefe gehörte. Wer das nicht vermochte, konnte nur dann respektiert werden, wenn er entweder ein Genie oder ein Sonderling war. Sie lebte überwiegend in Wien und nach Nalschowitz reiste sie vor allem im Sommer. In dem Häuschen verfügte sie über zwei Zimmer, die sie mit antiquarischen Möbeln eingerichtet hatte. Mit Bedacht ließ sie den Dingen aber genug Raum, um deren Anmut zur Geltung zu bringen. Die kleine Küche und die 55

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Sanitärräume waren im Gegensatz dazu modern und ausgesprochen zweckmäßig eingerichtet. Das ganze Ambiente machte einen freundlichen und eleganten Eindruck. Dennoch beklagte sie sich ein wenig: „Jedes Möbelstück ist anders, aus einer anderen historischen Epoche, aber das macht nichts“, blickte sie mich prüfend an, „und das Bett habe ich von den Schwestern aus dem Heim geborgt. Wie ich mit den Leuten in dem Pflegeheim auskomme? Hier gibt es rund 50 kranke Mädchen. Ich gestehe, dass es mich am Anfang sehr gestört hat, wie einige von ihnen gekrächzt haben. Besonders eine. Es hat so geklungen, als ob sie jemand schlagen würde. Sie hat so jammervoll geschrien, aber auf diese Weise kommuniziert sie angeblich mit ihrer Umwelt, sie kann sich nur so verständlich machen. Alle grüßen allerdings höflich, ich habe nicht das Gefühl, dass es ihnen hier schlecht ergeht. Die Schwestern sind wirklich sehr freundlich. Ich komme mit allen hier sehr gut aus. Vor Kurzem wurde ich in einer Zeitung angegriffen. Mir wurde vorgeworfen, dass ich planen würde, das Pflegeheim auszuquartieren. Das ist nicht wahr, ich wäre im Gegenteil sogar froh, wenn sie hier bleiben würden. Ich würde ihnen das Gebäude, und jetzt spreche ich auch für meinen Sohn Johann, auch länger als die zehn Jahre überlassen, denn wer würde denn von einem leer stehenden Haus profitieren? Schwierigkeiten hatte ich nur mit den Besitzern der Wochenendhäuser, die sich auf meinen Liegenschaften an der Moldau befinden. Die Leute haben sich in den vergangenen Jahren daran gewöhnt, dass alles dem Staat gehört und dass sie dort tun können, was ihnen gefällt. Das sind allerdings nur Kleinigkeiten. Das Einzige, das mich wirklich verdrießt, ist der Neid der Menschen. Ich habe ihn hier bis zur Verzweiflung kennengelernt.“ Wie die Mehrzahl der energischen Frauen hat sie sich spontan entschieden. Im Februar 1948 zögerte sie keinen Augenblick und entschied sich für das Exil. „Ich hatte das Gefühl, dass ich hinaus muss, ein tiefes inneres Gefühl, wenn Sie mich verstehen“, bekannte sie. „Es wäre das Gleiche gewesen, wenn ich zu dieser Zeit keine Kinder in Rom gehabt hätte. Als Jan Masaryk starb, ein guter Freund von Franz, haben wir schon gewusst, dass es mit der Demokratie in der Tschechoslowakei für lange Zeit vorbei sein wird. Dem Kommunismus konnte Franz nicht dienen. Wir wollten, dass unsere Kinder in Freiheit aufwachsen, eine Schule wählen, die sie wollen, und eine Religion, für die sie sich entscheiden.“

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4. Franz und Amalie mit der kleinen Ludmila auf der Hochzeit von Leopoldine Lobkowicz und Jan Dobrzensky.

Nach dem Februarumsturz war es praktisch unmöglich, eine Ausreisegenehmigung zu erhalten. Die Zustimmung behielt sich grundsätzlich der kommunistische Innenminister Václav Nosek vor, der aber damals eine Reihe wichtigerer Dinge zu tun hatte, als Stempel auszuteilen. So herrschte – selbstverständlich beabsichtigt – eine Pattsituation. Franz Schwarzenberg klapperte für die begehrte Erlaubnis zunächst einige Büros im Außenministerium ab, dem er ja angehörte, sprach vor allem mit seinen Freunden, auf die er sich verließ, aber vergeblich. Alle zuckten nur ratlos mit den Schultern. Schließlich begab er sich ins Innenministerium, direkt zum höchsten Beamten, dessen Sekretär er traf. Er versuchte ihn davon zu überzeugen, dass er in einer so ernsten Situation als diplomatischer Vertreter besser im Vatikan sein sollte und deshalb so schnell wir möglich nach Rom fliegen müsse. Der Sekretär entgegnete zu seiner Überraschung, dass er das verstehe, und stempelte die Pässe. Schwarzenberg versuchte auch noch, eine Ausreisegenehmigung für seine Mutter zu erwirken, aber das war dem Beamten dann doch zu viel.

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Amalie packte eilig die Koffer, warf alles hinein, was ihr gerade in die Hände kam, und wollte in Erfahrung bringen, wann der nächste Flug nach Italien abginge. Alle Abflüge verzögerten sich, man hatte zwei Tage zu warten. Bei der Zollkontrolle stand neben dem tschechoslowakischen Zöllner ein Mann, der nur gebrochen Tschechisch mit russischem Akzent sprach. Er ließ sich den Inhalt der vollgestopften Koffer zeigen und fragte überrascht, wie lange sie in Rom bleiben werden. Aufmerksam kontrollierte er den Inhalt der Koffer ... und ließ sie durch. Im Flugzeug stellten sie mit Erstaunen fest, dass es beinahe leer war – außer ihnen befand sich dort nur eine rumänische Familie, der Schriftsteller Graham Greene und auf dem hinteren Sitzplatz, um so den nötigen Überblick zu haben, irgendein weiterer Mann. Es verging eine halbe Stunde, nichts geschah. Dann eine weitere halbe Stunde, die Gangway verblieb immer noch am gleichen Ort. Für Amalie Schwarzenberg bedeutete das Warten eine wahre Pein. Sie machte sich Vorwürfe, weil sie glaubte, dass sie diese Situation heraufbeschworen hätte und dass gerade jetzt möglicherweise ein Haftbefehl für sie ausgestellt werde, weil sie auf so einfältige Weise unnötig viele Dinge in die Koffer gestopft hatte, im Versuch, so viel wie möglich mitzunehmen. Nach einer Stunde des Wartens erhielt das Flugzeug doch die Starterlaubnis. Es dauerte nicht lange und unter ihnen zeigten sich die Dächer des Marienheiligtums auf dem Heiligen Berg bei Pibrans. Franz beugte sich zu ihr und sagte: „Schau es dir gut an, vielleicht siehst du es zum letzten Mal.“ Sie landeten in Rom. Die Tür des Flugzeuges war gerade erst geöffnet worden, da ertönte von draußen bereits eine Stimme: „Franz, bis du da drinnen?“ – „Wir sind beide hier“, antwortete Franz mit lauter Stimme. „Das ist gut, denn im italienischen Radio wurde gerade die Nachricht gebracht, dass du dein Amt zurückgelegt hättest. Wir haben gefürchtet, dass man dich eingesperrt hat.“ So stürmisch wurden sie von Franz Anton Kinsky begrüßt, der der Linie von Adlerkosteletz angehörte und der damals als Geschäftsträger der tschechoslowakischen Fluglinie in Rom arbeitete. Jahre später sandte jemand, der ungenannt bleiben wollte, an Franz Schwarzenberg in die Vereinigten Staaten eine Abschrift seines Strafregisters. Dem war zu entnehmen, dass nach seinem Gang ins Exil ein Haftbefehl mit der Begründung erlassen wurde, dass er ein Feind des Volkes wäre. Nach seiner Ankunft in Rom legte Schwarzenberg augenblicklich sein Amt als diplomatischer Vertreter der Tschechoslowakei beim Heiligen Stuhl nieder 58

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und reiste mit seiner Frau in die Vereinigten Staaten, wo er einem Ruf der Loyola University in Chicago folgte, an der er fortan Politikwissenschaften unterrichtete. Neben seinen „offiziellen“ Vorlesungen hielt er separate Kurse „über die Länder zwischen dem Eisernen Vorhang und der Sowjetunion“ ab, wie er sie selbst nannte. Dabei erklärte er den Studenten, deren Kenntnisse über die kleineren Staaten Mitteleuropas oft minimal waren, dass die Tschechoslowakei ein Land mit demokratischer Tradition sei und dass es sich bei diesem Land keinesfalls um eine sowjetische Kolonie irgendwo in den Karpaten handle. Bald nach der Ankunft begann er damit, an Veranstaltungen von Lands­leuten und Exilanten teilzunehmen, obwohl gerade in dieser Zeit die Bedingungen dafür nicht die allerbesten waren. Nach den Februarereignissen des Jahres 1948 waren die landsmannschaftlichen Organisationen ungemein zerrüttet und die stärkste von ihnen, der Tschechische Nationalverband, zerfiel sogar. In dieser Situation konnte Schwarzenberg seine diplomatischen Fähigkeiten und seine Menschenkenntnis unter Beweis stellen. Er war tolerant und geduldig, setzte sich vorbehaltlos für die Wahrheit und für konstruktive, beide Seiten zufriedenstellende Verhandlungen ein. Nach und nach gelang es ihm so, eine Verständigung zwischen dem konservativen und dem radikalen Flügel der Emigration in Chicago zustande zu bringen. Nach der Aussage von vielen war er auch ein angenehmer Gastgeber, der kein Vergnügen verdarb, und ein ausgesprochener Musikkenner, der selbst gut Klavier spielte. So verwundert es freilich nicht, dass zwei berühmte Musiker – Rafael Kubelík und Rudolf Firkušný – zu seinen Freunden zählten. Es ist gar nicht möglich, alle Vereine aufzuzählen, in denen er engagiert war, sein Wirkungskreis bleibt dennoch bemerkenswert: Viel Zeit und Energie widmete er etwa dem Tschechoslowakischen Nationalrat in Amerika, der eineinhalb Millionen Bürger der Vereinigten Staaten tschechischer und slowakischer Abkunft vertrat; er war Mitglied und eine Zeit lang auch Vorsitzender der Tschechoslowakischen Gesellschaft für Wissenschaft und Kunst; er arbeitete im Rat der freien Tschechoslowakei; er war Mitbegründer der Wochenzeitung Hlas národa (Stimme des Volkes). Er nahm auch an den Sitzungen des Amerikanischen Rates für auswärtige Beziehungen teil, eine einflussreiche Organisation mit hohem Prestige, wo er vielen amerikanischen und ausländischen Staatsmännern, Wissenschaftern, Ökonomen und Künstlern begegnete. Er bemühte sich darum, auf sie einzuwirken und sie davon zu überzeugen, dass sich die Bevölkerung der Tschechoslowakei nicht mit dem Regime arrangiert habe. Er unterhielt 59

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Beziehungen wie selten jemand aus den Kreisen der tschechoslowakischen Exilanten und war an all jenen Orten zu finden, von denen er meinte, dass er vonnöten sein könnte, und wo er annahm, etwas für den guten Namen der Tschechoslowakei tun zu können. Der Rat nutzte umgekehrt seine Erfahrungen, und wenn er jemanden in ein Land hinter den Eisernen Vorhang entsandte, wurde Franz Schwarzenberg zu Konsultationen und Vorlesungen gerufen. „Nach der Ankunft in Amerika hatte ich schreckliches Heimweh. Es war so, also ob Sie nicht nur in kaltes, sondern in eisiges Wasser springen würden …, wie in ein tiefes, unbekanntes Gewässer. Dann habe ich aber auf einmal begonnen, auf Englisch zu träumen. Das bedeutete, dass ich die Sprache aufgesogen hatte, dass ich begonnen hatte, auf Englisch zu denken. Die Träume waren nicht in Farbe, sondern immer schwarz-weiß – für mich aber waren sie ein Zeichen für die Aussöhnung mit allem Neuen. Jedenfalls habe ich mich mit der Zeit angepasst, sicherlich auch deshalb, weil wir viele Freunde um uns hatten. Und Franz auch Bewunderer“, sagte sie ohne einen Anflug von Ironie in der Stimme. „Ständig wurden wir irgendwohin eingeladen – zu Konzerten, Ausstellungen, Vernissagen, ins Museum. So haben wir einige einflussreiche Leute kennengelernt, etwa Präsident Kennedy, Gouverneur Adlai Stevenson, Kardinal Beran und andere – wir waren doch in Chicago, also in der zweitgrößten tschechischen Stadt nach Prag. Dort lebten eineinhalb Millionen Tschechen und Slowaken. Aus unseren Kindern wurden durch und durch Amerikaner. Einerseits war das ganz natürlich, denn wir wussten nicht, ob wir unser Zuhause jemals wiedersehen werden. Andererseits hat Franz sehr darunter gelitten, dass sie sich so vollkommen angepasst hatten, dass sie kaum Tschechisch sprachen. Es ist wirklich kompliziert. Als wir wegfuhren, war Ludmila drei Jahre alt, Isabella war zwei und Johann haben wir erst in den Vereinigten Staaten bekommen. Sie gingen in Chicago zur Schule, Englisch wurde für sie zur Verständigungssprache, es war für sie angenehmer und einfacher, Englisch zu sprechen, als ein Wort zu suchen und nachzudenken, wie man etwas auf Tschechisch sagt. Weder Franz noch ich vermochten das zu beeinflussen. Auch wenn … Vor ein paar Jahren fuhren wir mit unserem Sohn Johann nach Orlik, um uns das Schloss anzusehen. Ich bin nach langer Zeit wieder dort gewesen, Johann überhaupt erst zum ersten Mal. Er wurde erst sehr spät geboren und wuchs in Amerika auf, besuchte amerikanische Schulen, diente in der amerikanischen Armee, nahm eine Amerikanerin zur Frau. Ich hatte ein wenig Angst davor, wie er wohl reagiert, wenn er den Ort seiner Vorfahren sieht. Er hät60

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te mir auch nur höflich zuhören können und da oder dort Interesse zeigen können. Zu meiner Überraschung erwies er sich als ein wahrer Schwarzenberg. Mit einiger Ergriffenheit habe ich festgestellt, wie viel er über die Geschichte seines Geschlechts weiß, über Verwandtschaftsverhältnisse, über Orlik selbst. Er hat nichts davon vergessen, was ihm sein Vater darüber erzählt hat, und erstaunlicherweise sprach er auch recht zufriedenstellend Tschechisch. Es ist schwierig, wissen Sie, von jungen Menschen, die im Ausland geboren wurden und im Ausland gelebt haben, zu 5. Noch eine Hochzeit – Franz Schwarzenberg, dieses verlangen, dass sie tschechiMal als Brautvater seiner Tochter Isabella. sche Patrioten sein sollen. Vor einiger Zeit war ich mit meiner Tochter auf einem Amt in Melnik. Dort saßen uns auch zwei ältere Damen, die, wer weiß warum, uns gegenüber sehr eingenommen waren und uns das auch auf gebührende Weise spüren ließen. ,Sie waren 40 Jahre im Ausland?‘, sagte eine der beiden und machte eine finstere Miene. ,Ja, mehr als 40 Jahre‘, antwortete ich. Darauf sie: ,Wie kommt es, dass Sie so gut Tschechisch sprechen, Ihre Tochter aber nicht?‘ Ich habe mich anfangs darum bemüht, entgegenkommend zu sein, aber das hat mich wütend gemacht. ,Schauen Sie mal‘, sagte ich zu ihr, ,ich war schon erwachsen, als ich nach Amerika ging. Tschechisch ist meine Muttersprache, aber die Kinder jener Leute, die von hier weggegangen sind, hatten nicht die Gelegenheit, ordentlich Tschechisch zu lernen – ansonsten hätte man sie ja ausgeschlossen oder hätte sie zum Gespött ihrer Umgebung gemacht. Sie gingen im Ausland zur Schule, mit den Kindern haben sie sich in einer fremden Sprache unterhalten. Später haben sie einen ausländischen Ehepartner gefunden. Möch61

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ten Sie ihnen vorhalten, dass sie sich nicht so sehr mit dem Tschechischen auseinandergesetzt haben? Seien wir doch froh, dass sie sich jetzt darum bemühen, Tschechisch zu lernen …‘ Und wissen Sie, die Frau wurde sogar richtig freundlich! Das wäre ihr angeblich nicht eingefallen. Derartige Dinge sind schwierig. Den Leuten wird 40 Jahre lang eingebläut, dass der Adel der Klassenfeind Nummer eins sei, dass er überheblich und degeneriert sei. Meine Bekannte wurde nach der Vermögensrestitution, die Zeitungen waren damals voll davon, erstaunt von ihrer Enkelin gefragt: ,Aber Oma, warum wird ihnen das zurückgegeben, es gehört doch uns allen.‘ Niemand hatte dem Kind gesagt, dass der Besitz dem Adel zuvor weggenommen wurde. Schon zur Zeit der Ersten Republik hat man gegen den Adel nur aufbegehrt. Ich erinnere mich daran, wie mein Vater den Kopf geschüttelt hat, als er in irgendeiner Zeitung gelesen hatte, dass die Adeligen den Menschen auch noch das letzte Hemd wegnehmen würden. Wer weiß denn heute noch etwas über die Lex Schwarzenberg? Im Jahr 1945 kehrte Adolf Schwarzenberg, der aus der Frauenberger-Linie stammt, aus Amerika nach Österreich zurück. In der Tschechoslowakei wurde darüber nachgedacht, was mit seinem Besitz geschehen solle. Es wurde nach Wegen gesucht, wie man ihm sein Vermögen wegnehmen könnte. Man behauptete, er sei ein böser Deutscher. ,Wieso ein böser Deutscher?‘, fragte ich damals irgendjemanden. ,Weil er bei der Volkszählung Deutsch als seine Muttersprache angegeben hat.‘ – ,Das ist doch Unsinn‘, ärgerte ich mich. Wissen Sie, unter den Adeligen gab es nur wenige Nazis, diese Anschuldigung konnte allerdings vor den Tatsachen nicht bestehen. Man kam dann darin überein, dass er kein böser Deutscher gewesen sei, weshalb ein anderer Weg gefunden werden musste. Nach einiger Zeit kam man zu ihm und wollte, dass er seinen Besitz dem tschechoslowakischen Staat schenke. ,Warum sollte ich das tun?‘, sagte er ungehalten. ,Die Deutschen haben ihn mir weggenommen, jetzt geben Sie ihn mir wieder zurück.‘ Kurz gesagt, er war zu keinem Zugeständnis zu bewegen und so dachte man sich etwas aus. Im Parlament kann man sich ja einfallen lassen, was man will, in diesem Fall war es die Lex Schwarzenberg, ein Gesetz, mit dem die Frauenberger-Linie praktisch grundlos enteignet wurde. Als einziges Motiv lässt sich vielleicht anführen, dass Adolf Schwarzenbergs Vermögen sehr groß war. Das war freilich nicht mit dem internationalen Recht in Einklang zu bringen, sodass es die Kommunisten irgendwann nach dem Umsturz des Jahres 1948 zu Ende gebracht haben. 62

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Wissen Sie, der böhmische Adel ist ein Bestandteil der tschechischen Nation. Wir sind nicht stolz darauf, dass wir adelig sind, aber dass wir ein Bestandteil dieses Landes sind und dass wir kulturell, wirtschaftlich und politisch an seinem Schicksal Anteil genommen haben. Mein Vater hatte immer wieder gesagt – auch nach 1918, nach der Abschaffung aller Titel und Orden: ,Ich lasse mich nicht verdrängen, ich bin von hier.‘“ Ich kehrte bei unserem Gespräch über den Ozean zurück zu ihren … amerikanischen Autos, einer Kuriosität von Franz. Sie sah mich etwas verwundert an, woher ich etwas davon erfahren habe. „Wir haben uns während der 30 Jahre in Chicago wirklich kein neues Auto geleistet. Wir hatten immer nur alte, klapprige Autos, Veteranen eben. Zum einen, weil das Gehalt eines Professors an der Loyola University, die nicht zu den reichsten akademischen Einrichtungen zählte, überschaubar war, zum anderen, weil wir uns lieber etwas anderes angeschafft haben. Am öftesten aber kam es vor, dass wir Urlaub in Europa gemacht haben. Glücklicherweise hatten wir in Chicago einen Bekannten, einen Tschechen, der dort eine Autowerkstatt betrieb und der immer wieder das Unmögliche möglich gemacht hat. Wann immer Franz mit unserem Veteranen der Landstraße zu ihm kam, hat er immer nur den Kopf geschüttelt und gemeint, was diese Gebrauchtwagen alles aushalten müssten. Einmal waren wir zu Besuch bei Bekannten, es waren reiche Amerikaner, denen ein großes Haus an einem See gehörte. Es waren durch und durch liebenswerte Leute, die uns gern hatten und die uns oft zu sich über das Wochenende einluden. Einmal traf ich bei ihnen etwas früher als Franz ein, weil er noch etwas an der Fakultät zu erledigen hatte. Als er kam, stand ich mit unseren Gastgebern und mit deren französischem Freund am Fenster. Auf der Zufahrtsstraße näherte sich ein altes Auto der Haupteinfahrt und hielt genau zwischen einem blitzenden Mercedes, einem Lincoln und einem Cadillac. Der Franzose zog die Augenbrauen hoch: ,Um Himmels willen, Henry, wer ist denn da zu dir gekommen? Wenn das der Lieferant für die Garnelen ist, dann sollte er besser zum Hintereingang fahren, und wenn es dein Gärtner ist, dann zahl ihm einen höheren Lohn, damit er sich ein ordentliches Auto kaufen kann. Da kostet ja der Abschleppdienst mehr.‘ ,Ich werde ihn dir gleich vorstellen‘, kicherte Henry. ,Er ist Universitätsprofessor und außerdem Prinz eines alten Geschlechts, dessen Stammbaum – genau kann ich es dir aber nicht sagen – bis ins 11. Jahrhundert zurückreicht. So 63

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jemand wie er, mein Lieber, benötigt keinen Cadillac, um zu beweisen, dass er jemand ist, er ist bereits jemand.‘“ „Wie Franz eigentlich war?“, dachte sie nach. „Er war vor allem er selbst. Er war Doktor der Rechte und Doktor der Politikwissenschaften. Das war für ihn wichtig. Professor war er gerne, das war seine Arbeit. Dass jemand Prinz ist, dafür könne er nichts, als solcher werde man geboren oder auch nicht, sagte er immer. Wichtig ist, was man im Leben macht. Aber ob er einen Mercedes oder diesen kleinen Käfer fuhr, war für ihn unerheblich. Auf einige Dinge war er stolz – auf die Vergangenheit, auf seinen Vorfahren, diesen Feldmarschall, der Befehlshaber in der Schlacht von Leipzig war, darauf, dass er ein Schwarzenberg aus Orlik war. Der Titel eines Prinzen interessierte ihn nicht, demgegenüber achtete er auf gentlemanhaftes Auftreten. Aber damit Sie nicht glauben, wenn es darauf ankam, konnte er auch einen kernigen Ausdruck gebrauchen. Er hat nie gelogen und er stand hinter dem, was er sagte. Das wirkte auf die Leute. Deshalb wurde er auch so geschätzt.“ Unvermutet begann sie zu lächeln. „Wissen Sie, es ist ein wenig schwierig, die Frau eines Mannes zu sein, der so viel weiß. Wann immer ich etwas wissen wollte, habe ich mich auf ihn verlassen können, meistens hat er es gewusst. Nur die Steuererklärung musste ich immer selbst ausfüllen. ,Du hat eine Handelsakademie besucht‘, argumentierte er. ,Du solltest das können.‘ Gelegentlich verfügten wir über wenig Geld, was ihn bedrückt hat. Nicht wegen ihm selbst, sondern weil ich ständig rechnen und sparen musste. In Wirklichkeit aber hat mich das nicht gestört. Für mich war es wichtiger, dass es in meinem Leben viel Freude und gegenseitige Ehrerbietung gibt, dass wir zusammen sind und dass wir uns gernhaben.“ Franz Schwarzenberg ist nach seinem Schlaganfall nicht mehr aus dem Rollstuhl herausgekommen, geistig aber blieb er rege. Als sich Freunde nach dem Umsturz des Jahres 1989 bei ihm über die schwierige Situation in der Tschechoslowakei beklagten, war er optimistisch. „Seht es doch als kleines Wunder an“, sagte er zu ihnen, „dass es überhaupt zu einer Änderung gekommen ist.“ Er starb am 9. März 1992, das Begräbnis fand in Murau statt. „Du warst Katholik, aber kein Fanatiker“, sagte Bischof Škarvada, der mit der geistlichen Seelsorge der Exilanten betraut war, an seinem Grab. „Du warst Tscheche, hattest aber einen toleranten Umgang mit deinen Feinden. Du warst ein Apostel 64

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der unglücklichen, entzweiten Exilanten.“ „Das Leben beschreibt einen Kreis“, sagte mir Amalie, „jener von Franz hat sich geschlossen, als mich mein Neffe Karel Schwarzenberg fragte, ob ich nicht Franz in der Gruft der Schwarzenberg in Orlik beisetzen möchte. ,Das hat er sich gewünscht‘, sagte ich, und so haben wir ihn von Murau in das Familiengrab überführen lassen, wo er neben seinem Bruder und seinem Vater seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Der Kreis hat sich geschlossen, er ist zu Hause. Nach seinem Tod habe ich vier Jahre alleine in Unzmarkt gelebt, das war sehr schwer für mich und außerdem habe ich Probleme mit dem Gehen bekommen. Ein Auto habe ich nicht, ich kann auch nicht fahren. Es war also schwierig, irgendwohin zu gelangen. Die Leute waren sehr nett zu mir, aber ich konnte dort einfach nicht mehr bleiben. Ich glaube an den Herrgott und auch daran, dass jene, die er von uns genommen hat, ständig um uns sind. Ich behaupte, dass Franz mich beschützt und als er sah, dass ich sehr traurig und unglücklich war und dass es dort mit dem Wohnen nicht zum Allerbesten stand, hat er mir geholfen. Damals war ich in diesem Zustand bei einer Nichte zu Besuch. ,Ist dir nicht traurig zumute in Unzmarkt?‘, fragte sie mich. ,Na ja, wenn du so fragst, gar zu überschwänglich geht es mir dort nicht‘, gab ich zu. Ihr fiel ein, dass sie in einem Haus in Wien eine freie Zweizimmerwohnung hatte. ,Die würde dir sicherlich gefallen‘, sagte sie. So pendle ich jetzt zwischen Wien, Prag und Nalschowitz.“ Von einer ihrer Reisen kehrte Amalie Schwarzenberg mit ihrer Tochter Isabella über die Hügel des Böhmerwaldes nach Hause zurück und besuchte Jaromír von Hruby und Gelenj. Wie es der Zufall wollte, war dort auch sein Schwager Zdeněk Sternberg zu Gast, den sie im Arbeitsoverall und mit einem Spaten in der Hand antrafen. Die Tochter von Amalie Schwarzenberg hatte er nie zuvor getroffen und kannte sie daher auch nicht persönlich. Amalie stellte sie ihm vor, Sternberg lehnte den Spaten an die Scheibtruhe und schüttelte ihr herzlich die Hand. „Also Sie sind die Tochter von Franz“, sagte er. „Ihr Vater, Isabella, war eine Legende.“ „Seine Worte wärmten mir das Herz“, sagte mir Amalie Schwarzenberg später, „sie waren von keinem geringeren Wert als die Auszeichnung des Präsidenten.“

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1. Blanka Battaglia de Sopramonte e Ponte alto

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Battaglia Ein Schloss, in dem die Zeit stillsteht – Die Letzten aus dem Geschlecht der Battaglia de Sopramonte e Ponte alto – Anstelle des Vaters ins Gefängnis – Tod im Sattel – „Ich habe mein ganzes Leben unter einem Storch verbracht“ – Ungewöhnlicher Beruf für einen Baron – Die heimliche Liebe der Baronin – „Sie lesen wohl viele Kriminalromane?“

Die Aktennotiz der Polizei zum Diebstahl im Schloss von Bratronitz nimmt sich wie bei den meisten ungelösten Fällen nur sehr kurz aus und umfasst nur die grundlegendsten Fakten. Darin wird angeführt, dass zwei unbekannte Täter im Alter von etwa sechzehn und achtzehn Jahren im August an diesem und jenem Tag Baronin Blanka Battaglia drei aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammende Bilder entwendeten, deren Wert ohne Einholung eines Sachverständigen nicht festzustellen sei. Und dass beide Täter vor dem Eintreffen der Polizei geflohen seien und dass nach ihnen gefahndet werde. In der Erzählung der Baronin klingt die ganze Angelegenheit um eine Spur lebhafter. Wenn sie von Bekannten gefragt wird, was sich denn eigentlich ereignet habe, dann sagt sie, dass zwei Burschen noch vor Tagesanbruch ins Schloss eingestiegen seien, sie im Halbschlaf überfallen, an Armen und Beinen mit einer Wäscheleine gefesselt und ihr ein Tuch fest über Mund und Hals gezogen hätten, damit sie nicht um Hilfe schreien könne. Dann durchsuchten sie das Schloss, schnitten Bilder aus den Rahmen, nahmen noch an sich, was möglich war, und verschwanden durch das Fenster in den Park und dann über die Felder. Unmittelbar darauf gelang es ihr, sich von der Schnur an den Beinen zu befreien und sie lief, so wie sie war – im Nachthemd und im Pullover –, auf die Straße vor das Schloss, wo gerade der Milchmann mit seinem Auto stand. „Für ihn muss das ein schreckliches Erlebnis gewesen sein“, ließ sie es sich nicht nehmen, mit einem Lächeln hinzuzufügen, „mich um fünf Uhr früh im Nachthemd, bloßfüßig, mit ungekämmtem Haar und gefesselten Händen zu sehen.“ Weil es im Schloss kein Telefon gab, lief sie zum gegenüberliegenden Haus, klopfte gegen das Fenster und rief: „Man hat mich schon wieder ausgeraubt, rufen Sie die Polizei!“ 67

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Von der Weite sah das breit ausladende Dach des barocken Schlosses, das die umliegenden Landhäuser überragte, malerisch und majestätisch aus. Seine Form ließ auf Ordnung und Vornehmheit schließen, was noch von dem warmen Grau der Schiefertafeln betont wurde. Der Anblick aus geringerer Entfernung ließ eine wesentlich realistischere Einschätzung zu. Fernab von Trugbild und Blendwerk präsentierte sich das Schloss als eine bloße Reminiszenz an die Vergangenheit. Je näher ich dem Schloss kam, desto deutlicher wurde dies sichtbar. Der Vorhof, an den seit Jahren keine Hand angelegt worden war, war baufällig, die ehemaligen Stallungen und die Wirtschaftsgebäude mit den Deputatswohnungen halb verfallen – ohne Fenster, ohne Türen und mehrheitlich auch ohne Dach. Das ursprünglich aus der Renaissancezeit stammende und im 17. Jahrhundert barockisierte Schloss sah zwar etwas besser aus, aber unterschied sich nicht um vieles von den anderen Gebäuden. Die in einigen Fenstern fehlenden Glasscheiben waren durch Plastiksäcke ersetzt worden, die Stiegen vor dem Eingang waren beschädigt, der Putz abgeschlagen, der Kamin vom Einsturz bedroht, die Bäume vor dem Eingang in verkommenem Zustand. Das einzige Adelswappen an der Wand übte sich in nobler Zurückhaltung. Ich schlug mit dem metallenen Klopfer an die mächtige Tür, wartete eine Weile, probierte es noch einmal etwas stärker, und als sich niemand meldete, drückte ich die Klinke nach unten. Da nicht versperrt war, trat ich ein. Die weitläufige Eingangshalle des Schlosses lag im Dämmerlicht, denn die angegrauten Fenster mit den Spinnweben ließen nur wenig Licht durchscheinen. Im ersten Augenblick beschlich mich das Gefühl einer mysteriösen Irrealität. Der Raum war mit Gegenständen in bizarren Anordnungen angefüllt – von der Decke hing ein uralter Luster aus Geweihen, Jagdtrophäen zierten auch die Wand gegenüber dem Eingang, neben der Tür befand sich ein Hackstock mit einer darin eingeschlagenen Axt und darum herum lagen auf dem Boden mehrere Holzscheite. An der Wand lehnte eine lange Leiter, in der gegenüberliegenden Ecke stand ein schöner, alter Schrank, auf dem an einem Haken ein Damenwintermantel mit Pelzkragen hing. In der Mitte des Raumes bildeten einige Möbelstücke ein eigenartiges Labyrinth und rechts unter dem Fenster befand sich ein Tisch. Darauf lag, wenn ich mich richtig erinnere, ein aufgeschnittener Wecken Brot neben einem Schüsselchen Milch, das Mittagessen für eine Katze. Der Eindruck wurde noch von scharf riechendem Rauch verstärkt, der sich vom Nebenzimmer aus verströmte, ein weißgrauer Dampf, der sich wie ein 68

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Bogen beinahe regungslos erhob und dem Zwielicht im Raum einen magischen Beigeschmack verlieh. Ich klopfte an zwei, drei Türen, die von der Halle aus in die benachbarten Zimmer führten, aber niemand antwortete. Ich kehrte vor das Schloss zurück und sah nach einer Weile, wie sich eine kleine Frauengestalt auf der Straße näherte. Auf dem Kopf eine grüne Mütze, an den Händen warme Strickhandschuhe. Sie trug – an diesem Tag herrschte unwirtliches, nasskaltes Märzwetter – eine wasserundurchlässige Steppjacke, an den Füßen Filzlinge, gerade so, als ob sie vom Feld komme. Unter der Mütze ein interessantes Gesicht, ein wenig gerötet wie bei den meisten auf dem Land lebenden Menschen, ein energisches Kinn, dunkle, durchdringende Augen. „Frau Baronin Battaglia?“ fragte ich sie, als sie zwei Schritte von mir entfernt war. Sie blieb stehen und erstarrte ein wenig. Ihre Augen nahmen in diesem Augenblick einen forschenden, argwöhnischen Ausdruck an. „Das bin ich“, sagte sie. „Und wer sind Sie? Was wollen Sie?“ Ich antwortete auf ihre Fragen und auch noch auf einige andere und brachte eine Entschuldigung vor. „Ich bin zu Ihnen ins Schloss gekommen, habe geklopft, die Tür war nicht versperrt, entschuldigen Sie bitte. Dann habe ich Sie drinnen gesucht.“ Sie machte eine abwinkende Handbewegung. „Ich schließe nie ab“, tat sie das Thema mit gänzlicher Selbstverständlichkeit ab. Einige Wochen später, Anfang Mai 1996, kam ich erneut nach Bratronitz, wo sich das Ritual mit dem Türklopfer auf die gleiche Weise wiederholte. Ich trat in die Halle, wo sich nichts geändert hatte. Die Tür zu ihrem Zimmer stand halb offen und sie rief mir entgegen, ich solle eintreten. Sie saß in einem Lehnstuhl bei einem hohen Kachelofen, vor sich ein Tischchen mit Zeitschriften und noch nicht zu Ende gelesenen Büchern, daneben ein Sofa mit einer leuchtenden Stehlampe. Dabei handelte es sich offenbar um ihre Ecke, einen Ort, an dem sie angenehme und ruhige Momente zubrachte. Seit dem Tod ihres Bruders Christian lebte sie allein im Schloss. Von den weitläufigen Räumlichkeiten bewohnte sie nur zwei Zimmer. Im ersten Stock hatte sie ihr Schlafzimmer und im Erdgeschoss einen weiteren Raum, der als einziger genützt wurde. Alle anderen standen mehr oder weniger leer. Ihr Zimmer war mit ausgedienten antiquarischen Möbeln eingerichtet, die Zeiger der säulenförmigen Uhr waren um achtzehn Minuten vor sechs Uhr stehen geblieben, neben dem prachtvollen Kachelofen standen zur Sicherheit noch 69

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zwei weitere kleinere Öfen, um unter kühlhausähnlichen Bedingungen in einem alten steinernen Objekt überleben zu können. An der Wende von den 1950er zu den 1960er-Jahren wurde das Schloss verstaatlicht und der örtlichen landwirtschaftlichen Genossenschaft übergeben. Diese hatte für das weitere Schicksal des Gebäudes wenig übrig und ließ es nach und nach verfallen. Die Battaglias konnten allerdings, als einzige Vertreter des böhmischen Adels, nach der Enteignung in ihrem Schloss bleiben, bis sie es im Rahmen der Restitution wieder zurückerstattet erhielten. Sie fragte mich, ob ich nach der Anreise Lust auf Kaffee hätte, und bevor ich noch antworten konnte, ging sie hinaus, um diesen zuzubereiten. Er schmeckte wirklich vorzüglich und sie reichte ihn mir in einer schönen Porzellanschale dar, die sie mit zeremonieller Förmlichkeit einem alten Geschirrschrank entnommen hatte. Möglicherweise war sie die einzige, die ihr geblieben war. „Ich muss Ihnen aber einen Blechlöffel dazugeben, die silbernen sind mir alle gestohlen worden“, sagte sie ohne eine Spur von Zorn oder Bitterkeit. Sie legte eine Schachtel Kekse auf ein Tablett, das sie mir aber zuvor noch näher hinhielt, damit ich es mir besser ansehen konnte. „Schauen Sie es sich einmal an, es ist aus Teak. Wegen zehn oder zwanzig, vielleicht auch wegen fünfzig solcher Tabletts wurde ein Baum gefällt. Es schmerzt mich sehr, dass ich es überhaupt habe, aber es war ein Geschenk. Selber hätte ich mir so etwas niemals angeschafft. Ich mag solche Dinge nicht. In Österreich wollte ich vor einiger Zeit ein Küchenmesser kaufen. Die Verkäuferin bot mir ein sehr schönes Stück aus prächtig gefertigtem Stahl an. ,Der Griff ist aus Teak‘, machte sie mich aufmerksam, so als ob sie damit sagen wollte: ,Das sollten Sie nehmen, das ist etwas Außergewöhnliches.‘ Es lag mir schon auf der Zunge ihr zu sagen: ,Danke, gerade weil es aus kostbarem Holz ist, möchte ich es nicht.‘ Schließlich habe ich es nicht gesagt, aber wenn wir vielleicht alleine im Geschäft gewesen wären ... So habe ich nur abgelehnt und habe ein anderes genommen.“ Sie zündete sich eine Zigarette an, aber Kaffee wollte sie angeblich nicht trinken. „Eine Zigarette ist ein Stimulans. Wenn wir hier zusammensitzen rauche ich lieber, Kaffee trinke ich erst am Abend. Aber Sie sind doch zu mir gekommen, weil Sie mich etwas fragen wollten. Und ich erzähle Ihnen etwas über Teak. Was wollten Sie eigentlich hören?“ Ich sagte ihr, was ich aufgrund der Lektüre einer Enzyklopädie erfahren hatte, dass die Battaglia de Sopramonte e Ponte alto ursprünglich ein venezianisches Geschlecht seien und dass man sie 1677 in den Adelsstand erhoben habe. 70

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Im Jahr 1708 wurde Simon de Battaglia aufgrund seiner militärischen Verdienste von Kaiser Josef I. in den Freiherrenstand erhoben und später teilte sich das Geschlecht in zwei Linien – die jüngere siedelte nach Galizien über, die ältere ließ sich nach dem Jahr 1778 in Böhmen nieder, wo Josef Battaglia im Jahr 1865 Gut und Schloss Bratronitz erwarb. Sie nickte zustimmend. „Ja, aber es handelt sich nicht um ein venezianisches Geschlecht. Die Battaglias stammen aus Trident, dem heutigen Trento im Tal des Flusses Etsch, nördlich von Verona. Von Venedig sind das etwa 100 Kilometer Luftlinie entfernt. Ponte alto bedeutet hohe Brücke und Sopramonte Berg oberhalb von etwas, etwas Überragendes. Dort hat sich einmal einer unserer Vorfahren ausgezeichnet und zwei Schlachten gewonnen. Die Battaglias waren ein Geschlecht von Kämpfern, aber abgesehen davon, dass sie Soldaten waren, waren sie Gutsherren und besaßen Weingärten in Italien. Beim Staatsbankrott zur Zeit der Napoleonischen Kriege, als es zu einer ungeheuren Inflation kam, verloren sie alles. Weinberge und Güter. Nach dem Bankrott zog die österreichische Armee von dort ab. Dieser Battaglia diente Österreich und so wurde sein Regiment ins böhmische Pisek verlegt.“ „Sie sagen, dass die Battaglias ein Geschlecht von Kämpfern gewesen seien. Sind Sie auch … eine Kämpferin?“ „Das kann man von mir nicht sagen, ich bin eher passiv. Aber sagen Sie mir, was hätte ich tun sollen? Ich sitze hier wie in einer Konservendose und bin froh, dass ich am Leben bin.“ Ungläubig sah ich sie an. Mit ihren 85 Jahren war sie noch voller Energie. „Blanka Battaglia?“, lächelte ihre Nachbarin im Ort. „Die hat doch schon als kleines Mädchen alle anderen herumkommandiert.“ Mag sein, aber ich habe den Eindruck, dass sie über eine besondere Liebenswürdigkeit, Verständnis für andere und ein einnehmendes Mitgefühl verfügt. Sie wurde im August 1911 in der Nähe von Wien geboren, wo ihre Großmutter ein Gut besaß, und auf den Namen Blanka Marie getauft. Den Großteil ihres Lebens verbrachte sie auf dem Land. Sie lehnte es ab, in die Schweiz zu übersiedeln, sie könne angeblich nur zu Hause leben und zu Hause wäre sie in Bratronitz. Wann immer sie nach Wien fährt, um dort die Familie ihrer Cousine, ihrer einzigen Blutsverwandten, die sie noch hat, zu besuchen, eilt sie jedes Mal schon bald wieder zurück. Mit 35 Jahren heiratete sie, die Hochzeit fand in der Schweiz statt. „Mein Mann war Zeichner, der seine Werke auf Seide herstellte, ein hervorragender 71

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Sportler, ein meisterhafter Akrobat auf dem Rad, heute wäre aus ihm wohl ein Lehrer geworden“, erzählte sie. „Er bekam Lungenkrebs …, das war sicher wegen der Farben, die er verwendete, dabei begann es ganz unschuldig mit einem Ausschlag im Gesicht. Die Mediziner verboten ihm, zu seiner Arbeit zurückzukehren, aber seine Krankheit schritt voran.“ Sie hatten sich vor dem Krieg kennengelernt, haben so lange aufeinander gewartet, bis er zu Ende war und im Jahr 1946 wurde endlich Hochzeit gefeiert. In der Schweiz lebten sie jedoch nur für kurze Zeit, denn seine Mutter hintertrieb ihre Verbindung. Nach einem halben Jahr ließen sie sich scheiden. Sie schaute mir aufmerksam zu, wie ich mir Aufzeichnungen auf ein Oktavblatt machte, und sagte: „Schreiben Sie nur langsam, wir haben genug Zeit.“ Als sie sah, dass ich den Kaffee ausgetrunken hatte, schlug sie vor, draußen Platz zu nehmen. Von ihrem Zimmer aus konnte man direkt über die Veranda in den Park gelangen. Wir setzten uns auf eine Bank vor der Kapelle, die schon vor langer Zeit aufgehört hatte, ihre Bestimmung zu erfüllen. „Schreiben Sie nur langsam, wir haben genug Zeit“, wiederholte sie. In den Kronen der jahrhundertealten Bäume sangen Vögel und die verblühenden Zwetschkenbäume, die als ungewöhnlich hoch aufgewachsene Zeitzeugen an der Kapellenmauer hinter uns standen, warfen freigiebig Hunderte von schneeweißen spröden Blättern von ihren Blüten ab. Diese sanken leise zur Erde herab und kamen im Haar und auf den Schultern der Baronin zu liegen. Sie beließ sie an der Stelle, wohin sie gefallen waren, so als ob es kostbare Kamelien gewesen wären, und streichelte zufrieden die auf ihrem Schoß liegende Katze. „Mein Vater hieß Guido. Er und meine Mutter haben am Beginn des 20. Jahrhunderts geheiratet, im Jahr 1909. Sie war eine Wienerin, geboren als Gisela Bolzano, die ihre Wurzeln in der Schweiz hatte. Seine Familie wollte diese Hochzeit, sie wollten Erben. Es kam auch sein Cousin, ein Battaglia aus Galizien, das war, außer uns, der einzige überlebende Zweig der Battaglias, später haben sie einander nie mehr wiedergesehen. Sehen Sie, ich weiß nicht einmal, was aus ihm geworden ist. Im Jahr 1914 war mein Vater einer der Ersten, die einberufen wurden. Christian, mein Bruder, wurde erst vier Monate, nachdem er sich von uns verabschiedet hatte, geboren, genau an dem Tag, an dem mein Vater in russische Kriegsgefangenschaft geriet. Das sind wahrlich schicksalhafte Zufälle, denken Sie nicht auch? Und zurückgekehrt ist er am 28. Oktober 1918, gerade als die Monarchie zerfiel. Wenn er gewusst hätte, was ihn erwartet!“ Er war stolz auf sich und seine Kinder, ritt gerne aus oder fuhr gelegentlich 72

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2. Eines der wenigen Bilder von Christian Battaglia. Er konnte es nicht ausstehen, fotografiert zu werden.

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mit dem Traktor. Angeblich rasierte er sich mit einer Maschine eine Glatze und stellte sich seine Zigarren selbst her. Nach der territorialen Beschneidung der Tschechoslowakei und der Entstehung des Protektorats bekannte sich Guido Battaglia gemeinsam mit weiteren Vertretern des böhmischen Adels in einem Brief an Präsident Hácha zur tschechischen Nation und sprach sich für die Verteidigung ihrer Existenz aus. Nach einiger Zeit führten die Deutschen auf seinem Gut die Zwangsverwaltung ein. Von diesem Zeitpunkt an ergossen sich nur Unannehmlichkeiten über ihn. „Er war ein Nationalist und das war die Revanche“, urteilte die Baronin. „Die Wirtschaft prosperierte, es gehörten ihm zwei Höfe, ein mittlerer Großgrundbesitz, wie er immer mit einem Lächeln sagte. Er machte alles selbst, hatte keinen Verwalter, er verstand eine Menge davon. Und die Deutschen haben selbstverständlich genommen, was der Besitz einbrachte.“ Nach dem Krieg gab der Staat den Besitz ohne Zögern an Guido Battaglia zurück und „nationalisierte“ ihn dann ebenso leicht. Im Jahr 1949 fand in Bratronitz ein großes Treffen statt, bei dem der kommunistische Parteisekretär auftrat und inbrünstig verkündete: „Genossen Bürger, wenn wir den Herrschaftsbesitz der Battaglias aufteilen, dann gehört er euch. Er wird euch ernähren. Der Boden soll jenen gehören, die darauf arbeiten.“ Und sie teilten ihn auf. Guido Battaglia kam um alle Liegenschaften einschließlich der Teiche und Wälder. Er musste alle Katasterkarten und Abschriften von den Landtafeln abgeben, vorübergehend wurden ihm nur 50 Hektar belassen. Auf dem Rückweg zum Schloss stattete er noch dem örtlichen Schmied einen Besuch ab, nahm ermüdet Platz, streifte den Hut vom Kopf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Tja, Vojtěch“, sagte er zu ihm, „gerade habe ich meinen ganzen Besitz mit allem Drum und Dran hergegeben. Es wird nicht lange dauern, bis man darum in Streit geraten wird. Der eine wird sich darüber beschweren, dass er ein schlechteres Stück Boden bekommen hat als sein Nachbar, ein anderer wiederum will etwas anderes an einer anderen Stelle, dem Nächsten wird sein Stück zu klein vorkommen.“ Seine Vorhersage traf in etwa so ein, die Leute eigneten sich in ihrer Gier mehr Boden an, als sie bestellen konnten. Schließlich nahm ihnen der Staat den Boden wieder weg, begann ihn zu parzellieren und gründete eine landwirtschaftliche Genossenschaft. Einige traten ihr gerne bei, weil sie sich dadurch aller Sorgen entledigen konnten, andere zögerten oder standen dem ablehnend 74

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gegenüber. Augenblicklich setzte gegen diese eine Verleumdungskampagne ein, die die übrigen Dorfbewohner amüsierte und die bis heute in Erinnerung geblieben ist. Tag für Tag brachte ein Parteiagitator im Radio persönliche Angriffe gegen die Zögernden und Gegner der Genossenschaft vor. Alte tatsächliche und auch erfundene Sündenfälle wurden ans Licht gezerrt, man dachte sich pikante Verleumdungen aus, die Drohungen wurden nach und nach gesteigert. Von den im Ort angebrachten Lautsprechern war etwa zu hören: „Glaub nicht, Karel K., dass wir von dir nicht wissen, was du während des Krieges gemacht hast. Du solltest einige Dinge erklären … Vašek P., du gibst nur vor, ein sorgender Familienvater zu sein, aber manchen von uns würde es interessieren, ob das wirklich so ist. Denk gut darüber nach, was du machen wirst … Und du, Pavel Z., über dich werden morgen alle erfahren …“ Bald danach traten alle in die Genossenschaft ein. Noch bevor es zu diesen Ereignissen kam, fand er sich am Beginn der 1950er Jahre eines Tages im Gefängnis von Bratronitz wieder. Es wäre angeblich festgestellt worden, dass jemand aus dem Speicher der Genossenschaft Getreide gestohlen habe. Und das war angeblich der Baron. Obwohl es gleich mehrere Unsicherheitsfaktoren gab, wurde die Beschuldigung sehr bestimmt vorgebracht. Der Baron näherte sich damals seinem 80. Geburtstag, gerade war er nach einer Operation aus dem Krankenhaus zurückgekehrt, man wusste, dass er eine Inhaftierung nicht überleben würde, weshalb sein Sohn Christian an seiner statt abgeführt wurde. Das Einzige, das bei der gründlichen Durchsuchung des Schlosses gefunden wurde, war der Vorrat für die Familie in der Speisekammer: 25 Kilogramm Getreide, eine Schüssel mit Eiern und etwas Mehl. Daraufhin wurde Christian beschuldigt, die vorgeschriebenen Abgaben an Fleisch und Getreide nicht geleistet zu haben. Es geschah aber etwas, mit dem die Kommunisten nicht gerechnet hatten: Die Leute aus dem Dorf stellten sich hinter Christian. Und nicht nur die Leute aus dem Dorf, auch die früheren Deputaten. In den Wirtschaftsgebäuden des Schlosses lebten vormals sieben oder acht Familien. Als kurz nach dem Krieg und nach der Aussiedlung der Sudetendeutschen Grund und Boden verteilt wurde, meldeten sich diese Deputaten, unterschrieben ein Anmeldeformular für den Beitritt zur Kommunistischen Partei, ohne dem wäre eine Zuteilung nicht möglich gewesen, darauf achtete der damalige Landwirtschaftsminister Ďuriš, 75

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und wanderten in das Grenzgebiet ab. Irgendwie erfuhren sie von der Verhaftung Christians, besprachen sich mit dem Vorsitzenden ihres Aktionskomitees und fuhren ins Gefängnis nach Bresnitz. Der dortige Direktor räumte ein, dass der junge Battaglia unter den Gefangenen sei, dass es aber besser wäre, für weitere Auskünfte nach Blatna zu fahren, weil dies eine gerichtliche Angelegenheit sei. Sie fuhren also nach Blatna und wollten als Kommunisten wissen, warum Battaglia eingesperrt wurde. „Wegen Nichterfüllung der Abgaben“, sagte ihnen der Vorsitzende des Gerichts. „Und warum ist er dann schon ein halbes Jahr in Untersuchungshaft, ohne dass ihm der Prozess gemacht wurde?“, wandten sie ein. Sie erreichten, dass innerhalb einer Woche eine Gerichtsverhandlung stattfand, in der er zu sechs Monaten verurteilt wurde, die er gerade eben abgesessen hatte. Er wollte wieder arbeiten, aber in die Waffenfabrik von Strakonitz, in der er angestellt gewesen war, ließ man ihn beinahe nicht hinein. Er trug das Mal eines politischen Gefangenen, er musste deshalb als Beifahrer bei einem Hochbauunternehmen arbeiten. In seiner Freizeit trainierte er auf dem Fahrrad, denn das Radfahren war seit seiner Kindheit seine große Leidenschaft gewesen. Er nahm an Wettfahrten teil, maß sich mit Assen wir etwa Veselý oder Kubr, gewann aber kein einziges großes Rennen. An den Olympischen Spielen in Berlin 1936 konnte er nicht teilnehmen, weil er sich kurz zuvor die Hand gebrochen hatte. Trotz alledem fehlte es ihm nicht an einer ungeheuren Ausdauer und einem brennenden Sportlerherzen. Selbstverständlich fuhr er auch mit dem Rad zur Arbeit. Jeden Tag, bei jedem Wetter. Einmal fiel im Winter über Nacht so viel Schnee, dass man bis zu den Knien darin versank. „Christian, sei doch nicht verrückt, lass dein Rad zuhause und komm mit uns“, versuchten ihn seine Freunde zu überreden, die am Morgen, noch im Dunkeln, nach Strakonitz fuhren. „Das eine Mal wirst Du es doch überleben.“ – „Schaut lieber, dass ihr mir eine Spur zieht“, gab er ihnen zur Antwort. Dann schwang er sich auf sein Rad und fuhr hinter ihnen in der vom Autobus gemachten Spur her, als einziges Licht diente ihm der Rückstrahler. „Wie mein Bruder sonst noch war?“, wiederholte die Baronin meine Frage. „Um fünf Uhr früh fuhr er zur Arbeit und kam vor sechs Uhr abends wieder zurück. Später, als sich die ganze Situation beruhigt hatte, konnte er seine Stelle wechseln, auch Bekannte drangen auf ihn ein, die Anstellung als Beifahrer aufzugeben. Er ging zwar nicht zur Schule, sondern hatte Hauslehrer, weshalb 76

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es keine Schwierigkeit gewesen wäre, eine bessere Anstellung zu finden … Nur dass er nichts anderes machen wollte. ,Ich bin nun einmal dabei‘, sagte er, ,darum bleibe ich dort.‘ Dabei hatte er ein lächerlich niedriges Einkommen – 1.200 Kronen im Monat – und hatte damit die ganze Familie zu versorgen. Christian war auf seine Art ein Asket und Eigenbrötler. Sein Motto war: Es genügt. Auch wenn es sich um eine Brotrinde handelte. Er war ungemein bescheiden. Und sehr fleißig. Nachdem er aus der Arbeit nach Hause kam, verrichtete er weiter irgendwelche Dinge oder trainierte für einen Wettbewerb. Als Radrennfahrer feierte er auch Erfolge, aber es lag ihm fern, berühmt werden zu wollen. Er wehrte sich heftig, wenn ihn jemand fotografieren wollte. Bilder von ihm sind daher eher zufällig – entweder weil er nicht wusste, dass er fotografiert wurde, oder weil er sich dem nicht entziehen konnte.“ „Er hat nie geheiratet?“ „Es ist gut, dass er nie geheiratet hat“, antwortete sie mir resolut und gab mir durch den Ton ihrer Stimme deutlich zu verstehen, dass sie keine weiteren Fragen zu diesem Thema wünschte. Nach der Rückkehr aus dem Gefängnis war er gegenüber Leuten, die ihm nicht bekannt waren, misstrauisch. Angst, das unbewusste Gefühl der Gefahr und die Furcht vor der Bedrohung der menschlichen Würde haben an ihm gezehrt. Davon zeugt auch die folgende Geschichte. Verwandte aus Österreich schenkten ihm einen wunderschönen roten Saab. Er nahm ihn dankbar an, da er mit seinem Gehalt nur sehr schwer das Geld für solch einen Wagen hätte zusammensparen können. Es vergingen ein paar Wochen, er war gerade auf dem Heimweg, als direkt vor ihm ein Reh aus dem Wald auf die Straße sprang. Er verriss das Steuer, um es nicht zu überfahren, und prallte gegen einen Baum. Ihm passierte letzen Endes nichts, die Motorhaube und der Kotflügel waren allerdings ein wenig verbogen. Ein Freund aus dem Strakonitzer Radrennclub bot ihm an, das Blech auszuklopfen und das Auto innerhalb von einer Woche zu lackieren. Christian winkte ab. „Eigentlich bin ich ganz froh“, sagte er, „dass das Auto nicht wie neu aussieht, denn sonst kommt noch irgend so ein Parteisekretär und beschlagnahmt es.“ Er stellte bald fest, dass sein Fahrrad bequem in den Kofferraum passte, worauf er auch an anderen Orten als in der Gegend um Bratronitz oder Richtung Horaschdowitz oder Blatna trainieren konnte, etwa im Böhmerwald, den er sehr schätzte. So gönnte er sich den Luxus, auf Urlaub nach Jugoslawien zu fahren und die Zeit genau nach seinen Vorstellungen zu verleben – während die 77

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anderen am Strand lagen und sich bräunten, fuhr er mit dem Rad 2.000 Kilometer durch die umliegenden Berge. Es war ihm vergönnt, auch auf dem Rad zu sterben. Er näherte sich seinem 60. Geburtstag, machte gerade mit Freunden einen Ausflug und klagte unvermutet über schrecklichen Hunger. Unmittelbar darauf fiel er vom Rad. Durch einen seltsamen Zufall fuhr gerade ein Krankenwagen vorbei, der ihn sofort ins Krankenhaus brachte, aber das Bewusstsein erlangte er nicht mehr. „Es war ein Sekundentod. Er fiel schon tot zu Boden. Eine Herzarhythmie“, erklärte mir die Baronin und gab einen Seufzer von sich: „Es ist immer noch besser als das, was ich durchlebe.“ Sie erhob sich von der Bank, schüttelte die schneeweißen Blätter, mit denen der betagte Baum über uns geschmückt war, von ihrem Kleid, und zeigte mir den Park. Mit den Jahren war er verwildert, alleine konnte sie nicht mehr alles bewältigen. Dennoch war er immer noch ein beschaulicher Ort geblieben und würde es auch noch weiterhin bleiben, so lange, wie darin breit ausladende Bäume wuchsen. „Hier befanden sich die Glashäuser, in denen veredelte Rosen gezüchtet wurden, und dort im Halbschatten Beete mit Rhododendren, gerade jetzt würden sie blühen ... Nichts ist von ihnen geblieben“, beklagte sie sich. „Bei uns wurde schrecklich gespart, mein Vater hatte nur drei feste Angestellte: eine Köchin, eine Hausgehilfin – wegen der Krankheit meiner Mutter – und einen Gärtner, der durfte nicht fehlen. Auf den Garten hielt er viel.“ Wir kehrten auf einem verwachsenen Weg zum Schloss zurück, von dem aus es sich kaum übersehen ließ, in welch trostlosem Zustand sich das ganze Gebäude befand – das Dach, die Dachrinnen, die Fassade, die Fenster. Alles abgestorben oder am Absterben. Nur auf dem Rauchfang, der im Unterschied zu den anderen beiden als einziger aufrecht stand, nisteten Störche. „Und woran erkennt man, aus welcher Richtung der Wind weht?“, fragte sie mich plötzlich. „Das erkennt man am Storch. Er sitzt immer gegen den Wind gewandt, damit er ihm nicht unter die Federn kann. Ich habe mein ganzes Leben unter einem Storch gelebt. Aus diesem Grund weiß ich etliches über sie.“ „Kommen sie Jahr für Jahr zu Ihnen? Immer in das gleiche Nest?“, fragte ich sie. „Das ist kein Nest“, korrigierte sie mich, „ein Spatz hat ein Nest. Störche errichten sich eine Wohnstätte. Und diese hier befindet sich schon seit dem vorvorigen Jahrhundert an dieser Stelle.“ Ich habe erwähnt, dass sie ihr ganzes Leben auf dem Land verbracht hat. Soweit 78

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3. Die Frau Baronin verließ Bratronitz selten und ungern. Sofern sie doch verreiste, besuchte sie für gewöhnlich die Nichte ihrer Mutter sowie deren Enkelkinder in Wien, die einzigen Verwandten, die sie hatte.

ich weiß, gab es von dieser Konstante in ihrem Leben nur zwei Abweichungen – während des Zweiten Weltkrieges erteilte sie an einer Privatschule in Prag tschechischen Kindern Deutschunterricht und in Familien in Mähren und Schlesien lehrte sie wiederum deutschsprachigen Kindern Tschechisch. „Ich war auch einige Zeit lang Totengräber“, bekannte sie, „eines Tages starb der Vater einer guten Freundin von mir, der auf dem Friedhof des benachbarten Zaboř gearbeitet hatte. Niemand sonst wollte ihm in dieser Arbeit nachfolgen und so hat sie das übernommen. Ich habe ihr angeboten, ihr zu helfen. So haben wir beide als Totengräber gearbeitet. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als der örtliche Nationalausschuss von uns verlangte, die Anzahl der Verstorbenen und die voraussichtliche Anzahl der Gräber ein Jahr im Voraus zu planen. Da haben wir beide gesagt: Genug, wir hören auf.“ Einige Dinge sind für sie tabu, sie spricht einfach nicht darüber. Es ist dann schwierig, auch nur ein einziges Wort aus ihr herauszubekommen. Dagegen philosophiert sie gerne über andere Themen, meditiert darüber und erzählt lang und breit davon. Wie etwa über Astrophysik.

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4. Schloss Bratronitz, ein Renaissancebau vom Beginn des 17. Jahrhunderts, später teilweise barockisiert, gehörte nie zu den bedeutendsten architektonischen Kunstdenkmälern, war aber – ebenso wie der dazugehörige englische Park – immer relativ fürsorglich gepflegt worden. Erst als es von einer landwirtschaftlichen Genossenschaft übernommen wurde, setzte der Verfall ein.

„Am Abend sehe ich manchmal bayerisches Fernsehen“, sagte sie. „Jetzt wird gerade eine Serie über das Weltall gesendet, ob es sich ausdehnt oder zusammenzieht, über die Beziehung von Lichtgeschwindigkeit und Raum. Ich denke oft darüber nach, einfach so für mich alleine. Auch ein blindes Huhn findet einmal ein Korn, denken Sie nicht auch?“ Worauf sie begann, mir ihre Vision der Welt des 21. Jahrhunderts darzulegen, eine ganz und gar katastrophale Vision. „Andererseits ist geschrieben, dass man den Namen Gottes nicht achtlos aussprechen soll“, fügte sie leise hinzu. „Das betrifft nicht nur Flüche, sondern auch verbotene Geheimnisse. Es gibt etwas, das für den Menschen für immer im Verborgenen bleiben muss.“ „Sie müssen aber gut Deutsch können, wenn Sie einer Sendung über Astrophysik folgen können“, warf ich ein. Sie spreche auch Englisch, etwas Italienisch und Französisch, sagte sie, obwohl sie nichts davon gelernt habe. Und sie kann Latein. „Ich habe einfach zu lesen begonnen, habe zugehört. Ich bin ein Autodidakt, bis auf das Latein. Das hat mir mein Vater beigebracht. Aber das alles ist nicht mein Verdienst“, betonte sie. „Vielleicht liegt es mir in den Genen, ich weiß es nicht.“ 80

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Möglicherweise hat sie es in den Genen, weil ihre Mutter Gisela, wie der Schriftsteller Ota Pavel über sie schrieb, sechs Sprachen beherrschte, wunderschöne Gedichte verfasste und Goethes Faust aus dem Gedächtnis rezitieren konnte. „Ich habe keine Schule besucht, nur die Volksschule in Zaboř. Dafür habe ich zwei Eigenschaften, die nicht alltäglich sind – ich habe nie ordentlich zu ­schreiben gelernt, ich leide an Dysgraphie, weshalb ich nicht in einem Büro hätte bestehen können. In der Schule wurde von mir behauptet, dass ich faul sei, damals wusste man noch nichts von Dysgraphie. Zur Strafe musste ich tausendmal das harte „y“ abschreiben. Und dann habe ich noch ein musikalisches Gedächtnis. Was ich höre, das merke ich mir. Nach Noten kann ich nicht spielen, aber ich kann stundenlang am Klavier sitzen und eine Melodie nach der anderen spielen, sie kommen ganz von alleine. Ich habe zwar kein absolutes Gehör, ich kann nicht einmal ein zweigestrichenes ,a‘ rein singen, im Grunde genommen würde ich es auch nicht erkennen.“ Als ich dies gegenüber ihrer Bekannten erwähnte, wollte diese mir nicht glauben. Angeblich hätte sie die Baronin noch nie auf dem Klavier spielen gehört. Es kam ihr eigenartig vor. Sie wusste gar nicht, ob sie überhaupt ein Klavier besitzt. Auch für mich war das ein Geheimnis. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als ich durch alle Räumlichkeiten des Schlosses gegangen war. Bei meinem nächsten Besuch hat sie mir das nämlich selbst vorgeschlagen: „Gehen Sie nur nach oben, sehen Sie sich an, was Sie möchten. Sie müssen allerdings alleine gehen, ich begleite nie jemanden, ich möchte das nicht sehen. Das war einmal ein gepflegtes Haus mit allem, was dazugehört, so wie es sein soll!“ In den ersten Stock gelangte man über eine Holztreppe, die erstaunlicherweise nicht heruntergekommen aussah. Die verglaste Eingangstür sah aus wie neu, aus schönem, hartem Holz, die Wände zierten zwei farbige Stammbäume der Familie Battaglia und einige zeitgenössische gerahmte Grafiken. Das Schlimmste kam aber erst oben. Im großen Saal wurde die beängstigend tief durchhängende Decke von ­einem unbehauenen Baumstamm gestützt und in einem anderen Raum konnte man durch ein Loch in der Decke bis zum Dach sehen. An den Wänden befanden sich von den Bildern ausgeblichene Stellen, von denen nur Spinnweben übrig geblieben waren. Über allem, und viel ist hier nicht geblieben – im Ganzen zählte ich ein paar antike Möbelstücke und etwa fünf, sechs alte Stiche –, lag eine Staubschicht, die wie ein pietätvoller Schleier über die Vergangenheit 82

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5. Ein Klavier aus der Werkstatt der Familie Streicher ist eines jener Dinge, die als Erinnerung an bessere Zeiten an ihrem Platz verblieben.

gebreitet war. Im hintersten Raum, der offenbar früher irgendwann einmal als Herrenzimmer gedient hatte, standen eine Garnitur Gläser und eine Flasche Ruffino auf dem Tisch, ein Tennisschläger war in einen Schraubstock eingespannt, auf einem Kästchen stand ein Aspirinfläschchen und vereinzelt fanden sich Dinge für den persönlichen Gebrauch. Obwohl die Räume den Eindruck völliger Verlassenheit hervorriefen, konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier jemand auf eigentümliche Weise gegenwärtig und ich störend in seine Privatsphäre eingedrungen war. Nur zwei Zimmer trugen Spuren, die auf eine permanente menschliche Anwesenheit schließen ließen. Das Schlafzimmer der Baronin mit aufgeschlagenem Bett, das sich trotz seiner althergebrachten Mächtigkeit in dem weitläufigen Zimmer beinahe verlor, sowie das nebenan liegende halb leere Zimmer, wo sich in einer Ecke ein schwarzer Konzertflügel befand, der mit einem weißen Leintuch und dazu noch mit einer Tischdecke aus Plastik abgedeckt war. Vorsichtig schob ich beides weg und stellte fest, dass das Klavier, welches aus einer namhaften Wiener Fachwerkstätte stammte, sorgfältig gepflegt, ohne ein einziges Staubkörnchen und auch keineswegs verstimmt war. Warum hier solch eine Sorgfalt?, kam mir in den Sinn, und dachte dabei an ihre Worte, dass sie sich manchmal ans Klavier setzen und Melodie um Melodie aus dem Gedächtnis spielen würde. 83

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Wenig später ging ich wieder ins Erdgeschoss zurück. Neben dem Eingang in ihr Zimmer befand sich eine halb offene Tür, die zu einem kleinen Raum führte. Die Neugier packte mich und ließ mich nicht los, bis ich hineingesehen hatte. An einem Haken an der Wand hing ein leichtes Rennrad, auf dem Tisch war Handwerkzeug ausgebreitet, die Wände waren mit Medaillen und Urkunden bedeckt, auf einem Regal hatten Siegespokale für Radrennen ihren Platz gefunden und daneben lag ein vertrockneter Lorbeerkranz. Ich blieb wie gebannt vor dieser Form von konservierter Zeit stehen. Unzweifelhaft war alles so belassen worden, wie es gewesen war, solange Christian noch lebte. Das Radfahren war auch die große Leidenschaft der Baronin gewesen. Sie legte Hunderte Kilometer in den Alpen zurück, stürzte sich grauenhaft steile Straßen hinab, auf denen sie sogar Autos überholte, konnte kilometerlange anstrengende Steigungen ohne Übersetzung hinauftreten, deren Zeit damals noch nicht gekommen war. Da sie nie jemand verzärtelt hatte, musste sie sich mehrheitlich alleine auf die Strecke begeben. Dann wurde sie einmal in Blatna von einem Auto angefahren, womit die anspruchsvolle Radfahrerkarriere beendet war. Nach der Rückkehr in ihr Zimmer fand ich sie in Gedanken versunken, ihr abwesender Blick war auf die Wand gerichtet. Es kam mir so vor, als ob sie sich nicht bewegt hätte, seitdem ich weggegangen war. Augenblicklich nahm sie mich wahr und sah mich forschend an. „Sie möchten sicherlich fragen, warum wir alles so verwahrlosen haben lassen ... Die Verwandten in Österreich können das auch nicht begreifen, sie machen uns deshalb auch Vorhaltungen. Ich habe mich darum bemüht, zumindest den Garten in Ordnung zu halten. Tagelang habe ich geschuftet, aber nach dem heurigen Winter habe ich diese aussichtslose Arbeit aufgegeben.“ Das konnte man verstehen. Jahrelang lebten sie unter großer Anspannung – einerseits trug sie schwer daran, dass der kommunistische Eigentümer mit unglaublicher Gleichgültigkeit all das verfallen ließ, was durch menschliche Arbeit und durch menschlichen Geist über Jahrzehnte aufgebaut worden war, andererseits wussten sie, dass, wenn der Staat das Schloss renovierte, sie darin nicht weiterhin würden wohnen dürfen. „Früher einmal war unser Wirtschaftsbetrieb sehr einträglich, wir hatten keine Schulden. Dann aber kamen der Krieg und die Zwangsverwaltung. Die Deutschen belasteten den Besitz mit einer Hypothek und von diesem Zeitpunkt an ging es mit der Wirtschaft bergab, man lebte von der Substanz“, erklärte sie. „Nach der Verstaatlichung setzte sich die Misere fort. Wir durften zwar weiter84

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hin hier wohnen, aber das hatte seine Gründe. Unsere Mutter war krank, sie litt an schwerem Rheumatismus, an einer progressiven Arthritis. Sie konnte nicht gehen und lag ständig im Bett. Und ich pflegte sie Tag und Nacht. Wenn man uns ausquartiert hätte, was hätte man dann mit ihr gemacht? Sie etwa mit einem Prügel erschlagen? Man hätte sie in ein Krankenhaus bringen und die Pflege bezahlen müssen. Vorteilhafter war es daher für die neuen Machthaber, uns hier wohnen zu lassen. Noch dazu war das Schloss beinahe unbewohnbar. Es verfügt über keine sanitären Einrichtungen. Es gibt keine Wasserleitung, kein Bad, nur ein Trockenklosett im Erdgeschoss. Wie wir gelebt haben? Schlecht. Der Bruder hat etwas verdient. Und mein Vater? Eine Pension? Ach wo. Die ersten Jahre hat er gar nichts bekommen. In der Genossenschaft wollte er nicht arbeiten, denn wenn etwas nicht geklappt hätte, wäre er dafür sicherlich verantwortlich gemacht worden. Im Übrigen hätten sie ihn gar nicht genommen. So durchstreifte er die Gegend, ging über seinen ehemaligen Besitz, und arbeitete viel im Garten. Zu Hause saß er nicht herum. Er hat sich nie damit abgefunden, nicht mehr wirtschaften zu können. So ist er zumindest auf seinen ehemaligen Feldern umhergegangen und dort ist er auch gestorben, wie ein Soldat, in seinen Stiefeln.“ Der Baron stand vor seinem 90. Geburtstag und er litt an Altersschwäche. Eines Tages machte er sich wie üblich auf, um einen Spaziergang zu unternehmen. Er ging zwischen den Fischteichen hindurch und weiter zu dem Wald Richtung Blatna. Es war Ende April, die Felder waren gepflügt, er nahm eine Abkürzung und fiel mitten auf dem Ackerboden hin. An den Füßen trug er hohe Lederstiefel, und offenbar ist er damit in einer Furche stecken geblieben. Er konnte weder aufstehen, noch vermochte er es, sich umzudrehen. Er konnte sich die Stiefel nicht selbst ausziehen, Panik befiel ihn. Aus der Ferne war er in der Furche mit seiner dunklen Kleidung nicht zu sehen. Das geschah an einem Freitag. Christian und Blanka dachten, dass er zu Gräfin Thun gefahren sei, wie er das öfter zu tun pflegte. Sie suchten nach einer Nachricht, und als sie keine fanden, sagten sie sich, dass er sie wohl vergessen habe. Erst am Montag, es war gerade der 1. Mai, bemerkte der Nachbar auf dem Feld einen in die Erde gesteckten Gehstock. Er war neugierig, ging hin und fand den bereits leblosen Baron. Ein Stiefel war heruntergezogen, so als wäre er hin und her geschüttelt worden. Damals fiel auch Schnee, es war kalt. Ein schreck­ liches Elend. Vielleicht hob sich gerade deshalb der Stock von dem weißen Hin85

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tergrund ab. Mit einem Pritschenwagen holte man den Baron nach Hause. Ein tragischer letzter Weg. In den vergangenen Jahren wurde Blanka Battaglia fünfmal bestohlen, mehrheitlich dann, als sie nach Wien fuhr, um ihre Cousine zu besuchen. In der darauffolgenden Nacht fanden sich dann üblicherweise Diebe im Schloss von Bratronitz ein. Als es zum ersten Mal geschah, rief Frau Rosa, die Nachbarin, die während der Abwesenheit der Baronin die Katzen fütterte, diese unter Tränen an, um ihr die Neuigkeit mitzuteilen. „Diese Bastarde sind in der Nacht über eine Leiter in den ersten Stock eingestiegen, haben das Fenster eingeschlagen und sind auf dem gleichen Weg wieder herausgekommen. Sie haben Sie ganz ins Elend gestürzt. Bilder, Zinngeschirr, Meißener Porzellan, Silber, alles ist weg.“ Die Baronin schwieg eine Weile und ohne sich eine Spur von Rührung anmerken zu lassen, sagte sie: „Das war zu erwarten. Und was ist mit den Katzen? Geht es ihnen gut?“ Ihnen galt ihre wahre Sorge, die Sorge um die Lebenden. Das tote Inventar war ihr weniger wichtig. Zur Sicherheit wurde eine einfache Signaleinrichtung vom Schloss in das gegenüberliegende Haus zu Frau Rosa installiert. Einmal begann dort in der Nacht die Alarmglocke zu schrillen. Frau Rosa und ihr Mann alarmierten sofort die Polizei im nahen Blatna, die auch schnell vor Ort war. Da waren die Diebe noch im Haus. „Kreisen Sie sie ein, zwei sollen nach hinten gehen, dort befindet sich ein Ausgang. Die laufen Ihnen direkt in die Arme“, riet sie den Polizisten. „Sie lesen wohl ein bisschen zu viele Krimis oder schauen zu oft fern“, wendeten die Polizisten ein. „Wir haben Familien ...“ So standen sie da und warteten, ob nicht doch die Kriminalpolizei käme. Da waren die Einbrecher aber schon längst über alle Berge. „Warum haben Sie nach den ersten Einbrüchen nicht zumindest einige der antiquarischen Gegenstände einem Museum anvertraut?“, fragte ich die Baronin. „Ach, damit hätte es nur Schwierigkeiten gegeben“, urteilte sie. „Es ist sowieso schon alles zu spät. Vor etwa drei Jahren habe ich das Schloss und den Park an einen Bekannten verkauft. Er hat es ohne die Inneneinrichtung, aber mit den materiellen Belastungen erworben. Er muss mich also hier wohnen lassen und darf keine Veränderungen durchführen. Und das, was hier nach meinem Tod verbleibt, werde ich meiner Wiener Cousine, der Nichte meiner Mutter, und ihren vier Enkelkindern vermachen.“ 86

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Mit ihren Gedanken verweilte sie oft bei den letzten menschlichen Dingen, vielleicht war gerade darin ihr Interesse an der Astrophysik, am Weltraum und an den nicht wahrnehmbaren Dingen begründet. „Rosa, nach meinem Tod wickelt ihr mich nur in ein weißes Tuch. Kein Kleid“, hatte sie sich bei ihrer Freundin ausbedungen. „Und ich will keinen Grabstein, kein Denkmal.“ „Meine Eltern und mein Bruder sind in Zaboř begraben“, sagte sie mir. „Ein einfaches Grab ohne Namen, ohne all diesen Pomp. Man würde davon ohnehin keine Notiz nehmen. Wir haben auch ein Familiengrab im Wald, nicht weit von hier. Dort will ich nicht hin. Ich will in Zaboř liegen, neben meinen Eltern und meinem Bruder.“ Bevor ich mich von ihr zum letzten Mal verabschiedete, fragte sie mich, ob ich nicht über Strakonitz fahren würde, sie müsse in der Stadt etwas erledigen. Für mich war das nur ein unbedeutender Umweg, ich nickte daher zustimmend. Schnell warf sie sich den Mantel mit dem Pelzkragen über und zog sich warme, halbhohe Schuhe an. Wir fuhren an Orten ihrer Jugend vorbei und in der Erinnerung kehrte sie um viele Jahre in die Vergangenheit zurück. „Mein Gott, in diesem Teich gab es herrliche Fische“, sagte sie anerkennend, „wenn Sie wüssten, wie viele Leute mit Vater darüber verhandelt haben. Und hinter diesem Ahornbaum am Waldrand, was gab es da nicht für Walderdbeeren! Kennen Sie etwas Lieblicheres als den Duft von Walderdbeeren? Hier geben Sie auf die Straße acht“, machte sie mich aufmerksam, „hier und noch diese scharfe Kurve da vorne, die sind sehr gefährlich. Hier ist eine Kutsche mit einem Pferd wie nichts umgestürzt. Uns ist das einmal passiert, als ich als kleines Mädchen mit meiner Mutter nach Strakonitz gefahren bin. Und dann ist es noch einmal meiner Mutter alleine passiert. Um ein Haar wäre es scheußlich ausgegangen. Wissen Sie, Kutschen kippen leicht um, ähnlich wie die Autos heute. Gar so viel hat sich in der Welt eigentlich nicht geändert.“ Sie bat mich, ein Stück vom Krankenhaus entfernt zu halten. Flink marschierte sie zum gegenüberliegenden Gehsteig. Ich sah ihr nach. Von ihren kleinen energischen Schritten gingen Entschlossenheit und Geistesgegenwart aus. Auch wenn es manchmal den Anschein hatte, dass sie resigniert habe oder versöhnt wäre, ihr Wille zu überleben ist unbezwingbar. Er sei eine Gabe, wie sie es einmal andeutete, die sie von ihren Vorfahren geerbt habe. Und die waren Kämpfer gewesen, so wie sie selbst. Sie verfügte über nicht wenig Kraft. Sie hatte nur wenige Möglichkeiten, diese einzusetzen und zur Geltung zu bringen. 87

1. Hugo Mensdorff-Pouilly

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Mensdorff-Pouilly Exodus der Familie Mensdorff-Pouilly – Zwei Monate Freiheit für zwei Flaschen Slibowitz – Vom Staatlichen Sicherheitsdienst beschattet – Besuch des bulgarischen Zaren – Le Havre, Rio, Montevideo – In einer Fabrik voller Gestank – Abschaffung des Fideikommisses und Gründung einer Familiengesellschaft

Der Exodus der Familie Mensdorff-Pouilly aus der kommunistischen Tschechoslowakei im Jahr 1948 hätte, wenn alles glattgegangen wäre, in drei Etappen erfolgen sollen. Bereits im März verließ der 23-jährige Friedrich als erster das Land und bald darauf, sobald sie eine Nachricht aus Wien erhalten hatten, in der er mitteilte, dass er gut angekommen sei, überquerten seine jüngeren Brüder Albert und Johannes die Grenze nach Österreich. Daraufhin folgte die Nachhut – Graf Alfons-Karl Mensdorff-Pouilly mit seiner Frau Maria sowie deren Sohn Hugo und Tochter Therese. Sie fuhren mit dem Zug nach Pressburg, meldeten sich an einer bestimmten Adresse und warteten auf einen Mittelsmann, der sie zu einer anderen Person hätte bringen sollen, die sie mit einem Kanu über die Donau bringen sollte. Anstelle des Mittelsmannes tauchte allerdings die Polizei auf und schickte sie für 14 Tage ins Gefängnis. Bei alledem konnten sie noch von Glück reden – alleine für den Versuch des unerlaubten Grenzübertritts verhängten die Gerichte später mehrjährige Haftstrafen. Nach Boskowitz kehrten sie mit gemischten Gefühlen zurück. Einerseits waren sie über den Misserfolg betrübt und überdies waren sie darüber verbittert, dass ihnen während der Zeit, als sie im Gefängnis saßen, alles entwendet worden war, was sich in ihren Koffern befand und von irgendeinem Wert war. Der Graf brachte daraufhin bei der slowakischen Kommission für Innere Angelegenheiten eine Beschwerde ein, in der er sich kein Blatt vor den Mund nahm, andererseits jedoch war die Gräfin froh, wieder zu Hause zu sein. „Es ist eine Fügung des Schicksals, Alfons“, sagte sie und dachte dabei an ihre drei kranken Kinder, die seit ihrer Kindheit an einer unheilbaren Krankheit litten und die sich in stationärer Pflege bei den Barmherzigen Schwestern befanden. „Wenn ihr es noch einmal versuchen möchtet, dann tut es. Ich werde hier bleiben und 89

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für sie sorgen.“ Damit war die Entscheidung über einen weiteren Fluchtversuch gefallen, weil Alfons-Karl keinen Schritt ohne seine Frau unternommen hätte. Auch er nahm den vereitelten Fluchtversuch mit Erleichterung auf. Von Boskowitz hätte er sich nur schwer trennen können und die Vorstellung, im Ausland sterben zu müssen, löste in ihm ein gewisses betrübliches Unbehagen aus. Sein Sohn Hugo ist bis heute davon überzeugt, dass es für ihn persönlich nicht besser hätte kommen können. Für Hugo hingegen hatte der Ausflug nach Bratislava unangenehme Folgen. Er wurde vom Gymnasium ausgeschlossen, obwohl er im darauffolgenden Monat maturiert hätte, und man untersagte ihm landesweit jeden weiteren Schulbesuch. Überdies wurde ihm das Wahlrecht aberkannt, was ihn wiederum freute, da er sich nicht an der demokratiepolitischen Farce beteiligen musste. Einige Wochen später machte er sich wieder auf den Weg nach Pressburg, dieses Mal aber nur, um einen Besuch zu machen. Eines Vormittags tranken er und ein Freund Kaffee im Hotel Charlton. Damals handelte es sich noch um eine noble Adresse. Die Einrichtung war aus Plüsch und überall hingen Spiegel an der Wand, überall hörte man „Küss die Hand“ und sah Verbeugungen. Mit einem Mal wurde sein Freund von einer Unruhe befallen, so als ob er von seinem sechsten Sinn gewarnt worden wäre, er stand auf und sagte: „Hugo, irgendetwas ist hier im Gange. Schnell weg, wir verschwinden durch den Hintereingang.“ Er führte ihn zu den Toiletten, von wo aus man auf den Gang für das Personal gelangte und dann weiter hinaus aus dem Hotel, während das Hotel unmittelbar darauf von Polizisten gestürmt wurde. Die beiden liefen auf die Straße … genau in die Arme der Uniformierten. Auf der Station der Staatlichen Nationalen Sicherheit blieb er eine Woche. Er wurde der Landstreicherei beschuldigt, denn – so stand es im Protokoll – er hielt sich während des Vormittags bei einem Kaffee im Hotel Charlton auf. Das bedeutet zu einer Zeit, zu der man für gewöhnlich in der Arbeit sein sollte. Wer keiner geregelten Arbeit nachging, war entweder ein Schwarzhändler oder ein Herumtreiber, also ein Schmarotzer, und gehörte somit hinter Gitter. In der Zwischenzeit fiel jemandem auf der Kommission für Innere Angelegenheiten sein Name auf der Liste der im Charlton festgenommenen Personen auf. Er erinnerte sich an die unangenehme Beschwerde seines Vaters in der Angelegenheit des Diebstahls im Gefängnis und schickte Hugo auf unbestimmte Zeit ins Zwangsarbeitslager.

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Während des Tages arbeitete er in einer Chemiefabrik im slowakischen Nováky und die Abende verbrachte er mit anderen Gefangenen in einem Lager, das von einem Zaun umgeben war. In der Mehrzahl waren es Slowaken, die ihm das Leben so lange schwer machten, bis sie feststellten, dass er nicht aus Böhmen, sondern aus Mähren stammte. An diesem Morgen änderten sie ihr Verhalten und sie teilten fortan alles mit ihm. Nach zwei Monaten im Lager riet ihm jemand, falls er diesen Ort überhaupt verlassen wolle, ein Gesuch um Strafunterbrechung einzureichen und diesem mit mehr als einer Flasche Slibowitz Nachdruck zu verleihen. Er beschaffte sich also mährischen Slibowitz und wurde beim Politruk, dem Politoffizier, vorstellig, in dessen Händen sich das Schicksal der Gefangenen des Arbeitslagers befand. Er sagte, dass er hinsichtlich seines geplanten Hochschulstudiums Erledigungen zu machen habe und stellte die zwei Flaschen auf den Tisch. Am nächsten Tag wurde beim Morgenappell verlautbart: Hugo Mensdorff – Unterbrechung der Arbeitsverpflichtung für die Dauer von zwei Monaten aus Studiengründen. Selbstverständlich kehrte er nicht mehr ins Lager zurück. Einige Male drohte man ihm, dass er die Strafe unverzüglich antreten müsse und weiter zu verbüßen habe, aber mit der Zeit wurde man des Briefverkehrs mit ihm müde, womit die ganze Angelegenheit für ihn beendet war. Sein Vater, Alfons-Karl Mensdorff-Pouilly, hatte nicht so großes Glück. Ende 1949 holte man ihn ab. Ohne dass man sich lange mit einem Gerichtsverfahren aufgehalten hätte, schickte man ihn in ein Zwangsarbeitslager in der Nähe von Kunstadt und später in ein Lager in der Nähe von Pardubitz. Er litt dort zwei lange Jahre, und als er aus gesundheitlichen Gründen von dort entlassen wurde, war er 60 Jahre alt. Eine weiterführende Ausbildung konnte Hugo Mensdorff-Pouilly nicht absolvieren. Dafür begann sich, ähnlich wie auch im Fall von anderen Adeligen, der Staatliche Sicherheitsdienst für ihn zu interessieren, der ihn als Mitarbeiter gewinnen wollte. Der Klang seines Namens, seine Fremdsprachenkenntnisse, einflussreiche Bekannte im Ausland sowie sein aristokratisches Auftreten, all das prädestinierte ihn für eine diplomatische Laufbahn, gegebenenfalls für eine Tätigkeit im Außenhandel, was damals automatisch auch ein enges Zusammenwirken mit dem Staatlichen Sicherheitsdienst bedeutet hätte. „Sie verfolgten mich wie Schatten. Physisch haben sie sich mir nicht genähert, aber der psychische Druck war gewaltig“, sagte er mir. „Zu dieser Zeit wusste ich 91

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nicht, wo ich wohnen sollte, ich war arbeitslos, denn niemand wollte mir Arbeit geben. Die ganze Situation war einfach zum Verzweifeln. Am schlimmsten waren ihre nur wie beiläufig abgegebenen Bemerkungen. Sie wussten, was Therese oder meine Mutter machten, wo sie sich am Vortag aufgehalten hatten, an wen sie einen Brief geschrieben und mit wem sie gesprochen hatten. Wenn sie jemanden verfolgten und ihn für die Mitarbeit gewinnen wollten, dann brachten sie über ihn und seine Familie alle Details in Erfahrung. Die Einzelheiten, die sie über einen Menschen zusammentrugen, konnten einen in eine Depression stürzen. Ganz unschuldig fragten sie etwa, wie mir der Film, den ich am Vorabend sah, gefallen hätte. ,Und was war das für eine Frau, mit der Sie dort gewesen sind? Nein, sagen Sie uns nichts. Wir wollen es gar nicht wissen‘, fügten sie mit einem Lächeln hinzu. ,Im Gegenteil, wir werden Ihnen erzählen, was Sie nicht wissen. Möglicherweise wird Sie das überraschen.‘ Mir fiel ein, dass sie wohl bis ins Schlafzimmer blicken können. Ich wusste nicht, wem ich noch trauen konnte. Einmal, als sie von mir wieder einmal verlangten, ein Papier zu unterschreiben, in dem ich meine Bereitschaft zur Zusammenarbeit erklärt hätte, habe ich ihnen gedroht, sie zu verklagen. Das hat sie außerordentlich erheitert. ,Wir haben gar nicht gewusst, dass sie so ein Witzbold sind, Herr Mensdorff‘, lachten sie wie toll. Dann aber, als ich vor lauter Verzweiflung nicht mehr ein noch aus wusste, kam mir irgendwie die Erleuchtung und ich sagte zu ihnen: ,Na gut, aber bevor ich irgendetwas unterschreibe, sollten Sie wissen, dass ich einen Schwachpunkt habe. Ich bin nämlich Quartalstrinker.‘ ,Was sind Sie?‘, fragten sie. ,Quartalstrinker! Für gewöhnlich dauert das bei mir zwei Tage, mehr nicht‘, beteuerte ich. ,Mit wem ich dann spreche und was ich sage, das weiß ich nicht mehr. Ich kann mich dann beim besten Willen an nichts erinnern.‘ Von diesem Zeitpunkt an haben sie mich in Ruhe gelassen. Sie sehen also, sie wussten nicht alles. Sie haben sicherlich vermutet, dass mir die Ärzte im Krankenhaus praktisch alles bestätigen würden. Wissen Sie, was eigenartig war? Ich hatte damals das Gefühl, dass mich meine drei Geschwister gerettet hatten, die wirklich gläubig waren.“ Er fand eine Anstellung als Garagenmeister in Prag und verbrachte die Jahre inmitten von benzin- und öldurchsetzter Luft. Später wurde er Referent einer Produktionsgenossenschaft für die Verarbeitung von Kunststoffen. Nach dem November 1989 wurde er zum Vizekonsul an der tschechoslowakischen Botschaft in Paris ernannt. Einige Jahre später kehrte er nach Prag zurück und wirkte als Gesandtschaftsrat des Souveränen Malteser Ritterordens. 92

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Er hatte Charme und ließ auch eine wichtige aristokratische Eigenschaft nicht vermissen – feine Ironie und Sinn für Humor. Dieser fehlte übrigens auch nicht anderen Mensdorffs, so etwa seinem Onkel, einem in Jemnischt ansässigen Grafen, oder seinem Großonkel Friedrich, der seinen Humor nicht einmal in den kritischsten Momenten verlor. Vielleicht wurde er gerade deswegen mehr als 100 Jahre alt, oder, um ganz genau zu sein, 101 Jahre. Als er kurz nach dem Ende des Krieges von einem Polizisten mit einer Flinte auf das Kommissariat zum Verhör gebracht wurde – denn dieser Großonkel war ursprünglich im Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft, die aber im Jahr 1939, nach der Errichtung des Protektorates Böhmen und Mähren, automatisch in eine reichsdeutsche umgewandelt worden war –, begegneten ihm Einwohner aus dem Ort. „Also so etwas, Herr Graf“, sagten sie höhnisch, „werden Sie etwa abgeführt?“ – „Aber woher denn“, antwortete Mensdorff. „Ich gehe nur ein wenig auf die Jagd und der da“ – womit er auf den Polizisten zeigte – „trägt mir die Flinte.“ In vielen Dingen unterschieden sich die Mensdorffs freilich voneinander, in einer Sache allerdings waren sie sich alle gleich – im Stolz auf ihre Vorfahren. Dank Emanuel, der sich als Erster aus dem Geschlecht der Mensdorff-Pouilly am Beginn des 19. Jahrhunderts in Böhmen niedergelassen hatte, und vor allem Dank seiner Frau Sophie aus dem Hause Sachsen-Coburg waren sie gleich mit mehreren gekrönten Häuptern in familiären Kontakt. In diesem Jahrhundert nämlich hatte das herzogliche Geschlecht Sachsen-Coburg-Saalfeld in Europa eine außerordentlich bedeutende Stellung inne. Sophies Bruder Leopold wurde im Jahr 1831 erster König des selbstständigen Belgien, ihre Schwester Juliane heiratete Großfürst Konstantin, den Bruder des russischen Zaren Alexander, ihre Nichte Viktoria, die Tochter ihrer anderen Schwester Marie Luise, bestieg den englischen Thron und regierte unglaubliche 64 Jahre lang. Ein weiterer Verwandter, Ferdinand II., wurde durch Heirat mit Königin Maria portugiesischer Titularkönig. Durch die Verbindung mit dem ungarischen Magnatengeschlecht Koháry nahm die Familie Coburg eine nicht unerhebliche Stellung in Ungarn ein und verfügte damit über noch einen Trumpf – Ferdinand I. Coburg, der 1887–1908 Fürst und 1908–1918 Zar von Bulgarien war. Dieser verzichtete zugunsten seines Sohnes Boris III. auf den Thron, der bis zu seinem Tod im Jahr 1943 in Bulgarien regierte. Über ihn wird erzählt, dass sein Herz mehr der Eisenbahn als dem Zarenthron gehörte: Wenn er mit dem Zug auf Reisen war, verbrachte er die meiste Zeit im Führerstand der Lokomotive. 93

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Mitte der 1930er-Jahre begab sich Seine Majestät Ferdinand I. eines sonnigen Nachmittags von Karlsbad, wo er sich zur Kur aufhielt, in das nahe Preitenstein, um auf dem dortigen Schloss Alfons-Karl Mensdorff-Pouilly einen Besuch abzustatten. Als erster erblickte Hugos älterer Bruder Albert seinen blitzenden Rolls-Royce vom Fenster aus. Neugierig sah er hinunter, wer da aus dem Auto krabbelte, mit dem riesigen Rücken voran, erst dann war der Kopf zu sehen, auf den schließlich die Hände folgten. Anders als von hinten wäre der dicke Ferdinand nämlich gar nicht erst aus dem Auto gekommen. Als Albert feststellte, dass es sich um „Väterchen Zar“ handelte, vertiefte er sich eifrig in seine Schulbücher, um so dem Begrüßungszeremoniell zu entgehen. Den 8-jährigen Hugo hat der Besuch allerdings in angenehme Aufregung versetzt, besonders als ihm der Zar wohlwollend erlaubte, seinen Stock zu halten. Er war angeblich ein angenehmer Mensch, dieser bulgarische Zar in Pension, er hatte bemerkenswerte Ansichten und konnte sehr fesselnd erzählen. Auf jeden Fall aber hat er den kleinen Hugo in seinen Bann gezogen. Man brachte ihm den breitesten und bequemsten Lehnstuhl, der im Schloss zu finden war. Er nahm darin Platz, und während er sich mit Hugos Eltern unterhielt, schüttelte er ständig glänzende, farbige Steinchen in seiner Hand. Er machte das ständig, es gehörte einfach zu ihm. Möglicherweise konnte er sich dabei besser konzentrieren. Dabei handelte es sich um Brillanten, Smaragde und Rubine, er führte ein ganzes Juweliergeschäft in seiner Tasche mit sich herum. Nachdem der Zar wieder gefahren war, lief Hugo in die Küche und bat die Köchin händeringend: „Frau Černohorská, geben Sie mir bitte etwas zu essen, ich habe schrecklichen Hunger.“ – „Aber wie gibt es denn so etwas?“, antwortete diese. „Ich habe doch eine Jause zubereitet. Hast du denn nichts gegessen?“ – „Wie hätte ich denn essen können“, verteidigte sich Hugo, „wenn Zar Ferdinand am Tisch sitzt und ich seinen Stock halten muss?“ „Das Geschlecht der Pouilly ist eine alte französische, aus Lothringen stammende Familie. Die erste Erwähnung stammt aus dem 11. Jahrhundert, das böhmische Inkolat wurde ihr im Jahr 1838 verliehen, als Albert Louis vor der Revolution in Frankreich aus Furcht vor Repressionen floh und sich sein Sohn in Böhmen niederließ. Die Mehrzahl ihrer Vorfahren sind also Franzosen. In welcher Sprache haben sich Ihre Eltern mit Ihnen und Ihren Geschwistern unterhalten? Auf Französisch?“

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2. Der junge Mann mit Zylinder ist Alfons-Karl Mensdorff-Pouilly, die junge Dame in Weiß ist seine Auserwählte, Maria Gräfin Strachwitz, Tochter von Graf Strachwitz und Prinzessin Karolina von Thurn und Taxis. Der Ort des Geschehens – der Familiensitz der Strachwitz, Schloss Zdounek im Jahr 1923.

„Auf Deutsch und Tschechisch, nicht aber Französisch“, antwortete Hugo Mensdorff-Pouilly auf meine Frage. „Aber im Jahr 1939, als es nötig war, sich zu entscheiden, auf welcher Seite man steht, ob wir mit Hitler gehen oder uns gegen ihn stellen, verkündete mein Vater resolut: ,Wir leben hier und daher sind wir Tschechen.‘ Von diesem Augenblick an wurde bei uns kein deutsches Wort mehr gesprochen. Französisch habe ich erst während des Krieges zum ersten Mal gehört, unter etwas … eigenartigen Umständen“, lachte er. „Mein Vater und meine Mutter haben oft – verbotenerweise – die französischsprachigen Nachrichtensendungen aus London gehört und mir hat die Sprache sehr gut gefallen. Sie kam mir wie Musik vor, auch wenn ich anfangs kein Wort verstanden habe. Bald habe ich den Beginn der Sendung auswendig gelernt, nur ein paar Sätze, dafür aber Wort für Wort, einfach nur vom Zuhören. Und einmal habe ich während eines Spazierganges durch Boskowitz mit meinem Vater laut auf der Straße zu rezitieren begonnen: ,Ici Londres‘ und dann weiter auf Französisch – ,hier ist die BBC, wir senden die Nachrichten.‘ Mein Vater hat auf der Stelle kehrtgemacht, so als ob 95

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3. Fünf der acht Kinder von Alfons-Karl Mensdorff-Pouilly und seiner Frau Maria, der Größe nach vom ältesten an aufgereiht: Emanuel, Friedrich-Karl, Albert, Marie und Hugo. Drei weitere – Ida Sophia, Johannes und Therese – waren zum Zeitpunkt der Aufnahme noch nicht auf der Welt. Sie wurden erst später, in der Zeit von 1931–1934, geboren.

wir uns vor einem Minenfeld befinden würden, und ging mit mir nach Hause. Nachdem sich meine Eltern beraten hatten – das Gespräch fand hinter verschlossener Tür statt –, wurde mir mitgeteilt, dass ich zwischen dem unterscheiden müsse, was ich zu Hause und was ich draußen unter mir unbekannten Menschen sage, denn das Hören ausländischer Sendungen würde mit dem Tod bestraft werden. Sehen Sie, das war die erste Krümmung des Rückgrats. Und gerade daran war mein Vater beteiligt, der nie im Leben gelogen hat.“ Hugo, der als Erster in der Familie den Wunsch geäußert hatte, ins Exil gehen zu wollen, war am Ende paradoxerweise der Einzige unter den Geschwistern, der auf seinen eigenen Wunsch hin die ganzen 40 Jahre des Kommunismus in der Tschechoslowakei verlebte. Seine Schwester Therese wanderte mit ihrem Mann im Jahr 1968 nach Kanada aus und die Brüder Friedrich, Albert und Johannes, wie bereits erwähnt, überquerten illegal die Grenze nach Österreich, kurz bevor die Nachhut der Familie Mensdorff aus Boskowitz von der Polizei in Bratislava verhaftet wurde. 96

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4. Anfang der 1960er-Jahre: Alfons-Karl Mensdorff-Pouilly und seine Frau Maria im Schlosspark von Boskowitz. Das Schloss und der Park waren damals bereits im Besitz des Staates.

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Das Vorgehen von Johannes war hingegen von Erfolg gekrönt, wenngleich er damals, als er von zu Hause wegging, erst 15 Jahre alt war und sich Graf AlfonsKarl seinetwegen große Sorgen machte. Mithilfe einer geheimen Studentenorganisation gelang es ihm, zusammen mit Albert praktisch auf dem gleichen Weg über die Donau zu fliehen wie vor ihm sein Bruder Friedrich und Henriette Mladota. Zuerst setzten sie mit einer Fähre an einem ruhigen Flussarm über, dann gingen sie mehr als einen Kilometer zu Fuß über eine Insel und die schlimmste Etappe, das reißende Wasser, bewältigten sie mit einem Kanu. Auf einmal hörten sie, wie in einiger Entfernung ein Schuss abgegeben wurde. Sie schrien ängstlich auf, gelangten aber wohlbehalten auf die österreichische Seite. Dort befand sich eine österreichische Grenzwache. Sie wurden in ein Auto gesteckt und noch in den frühen Morgenstunden ins Gefängnis gebracht. Es folgte aber kein Aufenthalt hinter Gittern, auch kein Verhör. Man brachte ihnen wohlwollendes Verständnis entgegen und am Morgen konnten sie in Hainburg den Zug Richtung Wien besteigen, wo ihr Bruder Friedrich auf sie wartete. Einige Zeit blieben sie zusammen, dann machten sie sich einzeln auf den Weg. Johannes fuhr zu seinem Onkel Eduard nach Laa an der Thaya in der Nähe der tschechoslowakischen Grenze, das damals in der sowjetischen Besatzungszone lag. Mit einem persönlichen Dokument seines Cousins Pereyra, der in Wien lebte und um ein Jahr älter war, gelang es ihm später, nach Salzburg, dem Mekka aller Emigranten, zu gelangen. Er übernachtete bei seiner Cousine und am nächsten Morgen fuhr er mit dem Zug durch Tirol nach Feldkirch. Noch einmal musste er eine Kontrolle hinter sich bringen, dieses Mal zwischen der amerikanischen und der französischen Besatzungszone. Vor den Amerikanern hatte er keine Angst, denn diese zeigten an Dokumenten wenig Interesse, eher fürchtete er sich vor den Franzosen. Er stellte sich auf den Gang, um sich einen Überblick zu verschaffen, und sah, dass jeder Reisende ohne Pardon kontrolliert wurde. Er entschied sich dafür, den Ausweis seines Cousins lieber tief in der Tasche verschwinden zu lassen, und als sie zu ihm kamen und seine Papiere sehen wollten, sagte er beherzt: „Ich habe keine, ich bin noch nicht einmal 15 Jahre alt.“ – „Wohin fährst du, Kleiner?“, fragten sie. „Nach Feldkirch.“ – „Und was willst du dort?“ – „Ich habe dort einen Onkel.“ – „Also zu deinem Onkel. Was macht er denn?“ – „Er ist Schuster.“ Die Uniformierten warfen sich einen Blick zu. „Also gut, Bursche. Du kannst passieren. Glückliche Reise!“, sagte einer der Männer in Zivil und ging mit den anderen zum nächsten Abteil weiter.

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„Ich fuhr also nach Feldkirch, wo sich zu dieser Zeit vielleicht die Hälfte aller Emigranten aus Osteuropa versammelt hatte, und habe mich dort erneut mit Friedrich und Albert getroffen, die einige Tage vor mir in die Stadt gekommen waren“, erzählte mir Johannes Mensdorff. „Vor allem mussten wir auf die französische Kommandantur, damit man uns die entsprechenden Reisedokumente ausstellte und die Reisebewilligung nach Frankreich erteilte. Ich fand mich dort ein, setzte mich und wartete lange Zeit, denn es gab viele Antragsteller. Plötzlich tauchte einer jener Franzosen vor mir auf, die mich im Zug kontrolliert hatten. Er erkannte mich auch in dieser Menschenmenge wieder. Ich zitterte vor Angst, was mit mir geschehen würde. Er aber schmunzelte nur und sagte vergnügt: ,Na, mein Kleiner, wie geht es deinem Onkel? Vergiss nicht, ihm von mir Grüße zu bestellen.‘ Dann schlenderte er weiter den Gang entlang und betrat ein Büro. Bevor uns die Franzosen die entsprechenden Papiere ausstellten, besuchten wir einen entfernten Verwandten von uns, den Fürsten von Liechtenstein, was eine angenehme Abwechslung war. Sobald wir aber in den Besitz der nötigen Dokumente gelangt waren, konnte uns nichts mehr aufhalten und wir fuhren in die Schweiz. Ein halbes Jahr lebte ich in einem Heim in Lausanne und ging mit den Kindern des Ehepaares Jelínek aus Wisowitz zur Schule, die alle finanziellen Auslagen für mich bestritten. Nach diesem halben Jahr ging es weiter nach Frankreich, wo wir auch nicht alleine waren, denn in Frankreich lebt ein Teil der Familie Pouilly. Friedrich war in Paris, Albert und ich fuhren zu einer Tante, die auf dem Land lebte. In Poitiers habe ich ein Jahr lang ein Jesuitengymnasium besucht und an der Jahreswende 1950/1951 haben wir alle drei, dank der Bemühungen des ehemaligen tschechoslowakischen Botschafters in Montevideo, Mirek Rašín, Visa für Uruguay bekommen. Sie fragen sich vielleicht, warum gerade dorthin. Nach Uruguay zu gehen war für uns wie aus der Not eine Tugend zu machen; oder aus der Armut eine Tugend. Jene Länder, in die ich hätte gehen wollen – Kanada, die Vereinigten Staaten, Australien –, schienen mir unerreichbar. Ich hätte einen Sponsor oder viel Geld benötigt oder eine lange Wartezeit in Kauf nehmen müssen. Ich wollte aber nicht warten. Gerade damals hat sich die internationale Situation verschärft, in Europa wurde der Eiserne Vorhang errichtet, in Korea brach Krieg aus. Eine weitere weltweite Katastrophe hing in der Luft. ,Warum sind wir eigentlich geflohen‘, sagten wir uns, ,wenn sie uns dann doch wieder einholen?‘ Europa ist klein, es genügt nur ein Schritt. Für die Russen ist das kein Problem, 99

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ebenso wie es für die Deutschen im Jahr 1940 keines war, und sie kamen erst am Atlantischen Ozean zum Stehen. Wir wollten zwischen uns und Europa einen Sicherheitsabstand haben, und das war der Atlantik. Albert schiffte sich als Erster ein und gelangte auf ein wahrlich schauderhaftes Schiff. Während der ganzen Überfahrt nahm er von seinem Leben und von uns Abschied, weil er dachte, dass es die letzten Tage seines Lebens wären. Ich hingegen hatte Glück. In Le Havre bestieg ich gemeinsam mit Friedrich, der in der Zwischenzeit in Paris geheiratet hatte und dessen erstes von sechs Kindern schon zur Welt gekommen war, ein schönes, neues Schiff. Schließlich sahen sogar Mitarbeiter der UNO-Flüchtlingsorganisation nach uns und drückten jedem von uns 50 Dollar in die Hand. Die Reise war herrlich, eine wahre Pracht, ich fühlte mich wie neu geboren. Wir überquerten den Atlantik, für einen Sprung gingen wir in Rio vor Anker, wo wir einen großartigen Tag verbrachten, und dann liefen wir wie auf einem Samtpolster in den Rio de la Plata ein, einem Meerdelta, das sich tief ins Landesinnere erstreckt. Das Wasser ist dort manchmal salzig und manchmal hat es beinahe die Qualität von Süßwasser, je nachdem, woher gerade der Wind weht. Auf der linken Seite war Argentinien und Buenos Aires, auf der rechten Seite Uruguay und Montevideo. Wir standen an Deck, ganz aufgeregt, die Stadt wuchs sprichwörtlich vor unseren Augen aus dem Meer empor. Hier, in einer Stadt mit hohen Türmen, fühlte ich mich wie zu Hause, aber im gleichen Moment erstarrte ich. ,Das ist bestimmt ein Minarett‘, kam es mir in den Sinn und ich begann darüber nachzugrübeln, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, ausgerechnet nach Südamerika zu fahren, ob mich dort nicht wiederum Unruhen, Bürgerkrieg und Revolution erwarten würden. Sehen Sie, die Angst hat mich überallhin begleitet. Und das Minarett war in Wirklichkeit ein Hotel. Am Ufer hielt Albert nach uns Ausschau, der nach einer stürmischen Überfahrt wieder voller Leben war, auch unsere mährischen Freunde, mit denen wir eine Zeit lang das Emigrantenschicksal in Europa geteilt hatten, waren da, ebenso wie die Vertreter jener Flüchtlingsorganisation, die unsere Überfahrt ermöglicht hatte. Sie wünschten uns alles Gute und unterstützten uns wiederum für den Anfang – dieses Mal erhielten wir 20 Dollar, was uns ungeheuer gelegen kam. Die Uruguayer waren uns gegenüber von Anfang an außerordentlich liebenswürdig und freundlich. Was mich am meisten überraschte, war, dass sie keinen Unterschied zwischen den Ortsansässigen und den Zuwanderern machten. 100

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Meine beiden Brüder fanden daher unwahrscheinlich schnell eine Anstellung. Albert begann für eine Schweizer Firma zu arbeiten, die im Wohnungsbau tätig war und deren Chef der junge Rašín war. Friedrich kam zu einer ImportExport-Firma, die im Besitz von zwei Juden aus Brünn war. Mich schickten sie in die Schule, während ich mich aber selbstständig machen wollte. Sie müssen verstehen, ich war ein junger Bursche, der zwischen seinem fünfzehnten und seinem achtzehnten Lebensjahr mehr erlebt hatte als manch anderer in einem ganzen Leben. In der Zwischenzeit waren mir Flügel gewachsen. Ich hatte eine Reihe interessanter Leute kennengelernt, hatte mich in einer Reihe heikler Situationen befunden, in denen ich mich orientieren und schnelle Entscheidungen treffen musste. Wieder die Schulbank zu drücken erschien mir im höchsten Maß unangemessen zu sein. Ich habe auch versucht, mich mit dem Argument zur Wehr zu setzen, dass ich schon das Gymnasium in Boskowitz und in Prag besucht hätte, dass ich in Feldkirch, in Lausanne und in Poitiers gewesen sei und dass ich eigentlich überall das Gleiche gelernt hätte. Es ist mir wirklich gelungen, der Schule aus dem Weg zu gehen. Vielleicht war es auch ein Fehler, ich weiß es nicht. Ich wollte immer Architektur studieren, aber das war nur ein Wunsch, ein Traum. Stattdessen habe ich damit begonnen, Keramiken herzustellen, ich habe auch erfolgreiche Ausstellungen gemacht. Meine Brüder meinten jedoch, dass mir diese Tätigkeit keine seriösen Zukunftsaussichten bescheren würde und überredeten mich, mir eine Anstellung zu suchen. Ich trat also eine Stelle als Büroangestellter an. Nach etwa einem Jahr reduzierte die Firma die Anzahl der Angestellten. Ich war der Jüngste und am kürzesten in der Firma. Darüber hinaus vertrat diese Firma irgendwelche tschechoslowakischen Betriebe und der Arm des kommunistischen Regimes reichte sogar bis nach Uruguay – es war nicht erwünscht, dass diese Firmen von einem Mensdorff vertreten wurden. Meine Firma schickte mich noch auf eine letzte Dienstreise nach Paysandú, eine Stadt, die rund 300 Kilometer von Montevideo entfernt liegt, um dort irgendwelche Unterlagen an eine Zuckerfabrik zu übergeben. Bei dieser Gelegenheit lernte ich den aus Deutschland stammenden Direktor der dortigen Lederfabrik kennen, die zu einer italienischen Firmengruppe gehörte. Ich sagte ihm, dass ich eine Stelle suchen würde. Daraufhin meinte er, dass er vielleicht etwas für mich habe, wenn ich zu ihm in die Fabrik kommen möchte. ,Kennen Sie sich in Chemie aus?‘, fragte er mich, als ich mich mit ihm unterhielt. 101

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,Ich hatte es am Gymnasium‘, antwortete ich ihm. ,Und welche Noten hatten Sie?‘ ,Nun‘, sagte ich vorsichtig, ,ich bin nie durchgefallen.‘ Er lachte und sagte: ,Gut. Bismarck war auch kein außerordentlich guter Schüler und wozu er es später gebracht hat, das wissen Sie ja. Sie sind eingestellt, Herr Mensdorff.‘ Ich trat also eine Stelle im chemischen Labor dieser Lederfabrik an. In einer solchen Fabrik herrscht immer ein übler Gestank. Der erste Tag war entsetzlich, es vergingen nur wenige Stunden und ich musste hinauslaufen und mich übergeben. Mir war schlecht, ich war mehr tot als lebendig. Nach und nach wurde es besser und schlussendlich habe ich mich endgültig an diesen schrecklichen Gestank gewöhnt. Was die Arbeit in dem Laboratorium betraf, wäre jede Befürchtung fehl am Platz gewesen. Glücklicherweise habe ich dort ein Buch über Chemie entdeckt, in dem ich beinahe alles fand, was ich benötigte. Ich habe mir rasch einen Überblick verschafft. Jedenfalls gab es während meiner Zeit dort keinen unangenehmen Zwischenfall. Ich gelangte zur Ansicht, dass ein Mensch, sofern er nicht extremes Pech hatte, wirklich jede Situation bewältigen und unter normalen Umständen im Leben nicht Schiffbruch erleiden kann. In der Lederfabrik war ich rund ein Jahr und habe während der ganzen Zeit in Untermiete bei einem Emigranten aus der Tschechoslowakei gewohnt. Dieser hatte früher einmal als Landwirt auf den Gütern der Thurn und Taxis gearbeitet und war damals in der Zuckerfabrik von Paysandú beschäftigt. Er musste wirklich sehr standhaft und rücksichtsvoll sein, wenn er es so lange mit mir aushielt, weil ich selbstverständlich den Gestank aus der Lederfabrik ständig an mir hatte. Wo immer ich auch hinging, ich war davon im wahrsten Sinn des Wortes durchtränkt. Kein Bad und keine Seife konnten Abhilfe schaffen. Nach einem Jahr fragte er mich äußerst taktvoll, ob ich denn nicht bereit wäre, meine Anstellung zu wechseln. Es gebe da eine Möglichkeit in einer Zuckerfabrik. Selbstverständlich habe ich sein Angebot gerne angenommen. Irgendeine deutsche Firma errichtete ein neues Gebäude und lieferte auch die Anlagen dazu. Von den Deutschen sprach aber niemand auch nur ein Wort Spanisch, sodass ich dort als Facharbeiter und Übersetzer zu arbeiten begonnen habe. Ich muss gestehen, dass ich damals mindestens einmal im Jahr die Anstellung gewechselt habe. Immer wenn ich das Gefühl hatte, dass ich nichts mehr dazulernen konnte, sobald es mir dort langweilig wurde, bin ich woandershin 102

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gegangen. Vom Jahr 1963 an fanden diese einjährigen Arbeitsverhältnisse aber ein Ende, denn ich trat in eine große südamerikanische Gesellschaft ein, die mit beinahe allem außer Waffen handelte. Bei dieser Firma bin ich dann 30 Jahre lang geblieben. Anfangs war ich für den Handel mit Fischtran zuständig, der von Peru nach Europa exportiert wurde. Später war ich für die Ausfuhr von Baumwolle, Kaffee und landwirtschaftlichen Produkten aus Brasilien verantwortlich. Als das Jahr 1968 kam, habe ich aus der Ferne verfolgt, was sich in der Tschechoslowakei tut. Ich führte Debatten mit anderen Tschechen, die an den erfolgreichen Ausgang des Prager Frühlings glaubten, ich aber war davon überzeugt, dass die Reformen fehlschlagen würden. ,Schaut doch auf die Landkarte‘, monierte ich. ,Wenn die Russen die Tschechoslowakei verlieren ist es so, wie wenn auf dem Schachbrett eine Lücke entsteht. Das können sie nicht zulassen.‘ Und sie haben es nicht zugelassen. Drei Jahre später, also schon lange nach diesen Ereignissen, habe ich in Montreal zusammen mit einem Freund einen Film über den August 1968 in Prag gesehen. Im Kino habe ich auch meine zukünftige Frau, eine Uruguayerin namens Sylvia Maria Chiarino, eine Ärztin, kennengelernt. Was für ein eigenartiger Zufall, nicht wahr? Drei Monate später haben wir geheiratet. Zu der Zeit, als in Uruguay die marxistische Untergrundbewegung Tupamaros ihre Tätigkeit entwickelte, entschloss sich meine Gesellschaft, die Filiale in Montevideo zu schließen, und bot mir an, ob ich nicht in der Niederlassung in Deutschland arbeiten wolle. ,Warum nicht?‘, sagte ich und ging mit meiner Frau zuerst nach Stuttgart und später nach Holland.“ Im Herbst 1992 trafen sich die Brüder Mensdorff nach vielen Jahren wieder in Boskowitz. Von insgesamt acht Geschwistern waren jedoch nur mehr fünf am Leben, denn Emanuel, Marie und Ida Sophia unterlagen mehr als drei Jahrzehnte zuvor im Kampf gegen eine unheilbare Krankheit. Die Geschwister diskutierten bis lang in die Nacht hinein, was mit Boskowitz, ihrem Familiensitz, geschehen solle. Vom Staat forderten sie nicht nur das Schloss und einige Gebäude in der Stadt, die vor der Verstaatlichung in ihrem Besitz gewesen waren, sondern ebenso rund 4.500 Hektar Wald und 450 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche. Sie saßen an einem Tisch, Friedrich, Albert, Hugo und Johannes. Die Krawatten waren bereits abgenommen, die Sakkos ausgezogen, die Hemdsärmel 103

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aufgekrempelt, vor sich den wer weiß wievielten Kaffee. Es fehlte nur Therese, die mit ihrer Familie in Kanada lebte und die die Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten ihren Brüdern überlassen hatte. „Meine Herren“, sagte Johannes. „Es wird nicht möglich sein, den Besitz zurückzufordern und dann nur gelegentlich hierher zu fahren. Jemand von uns muss hier seinen ständigen Wohnsitz nehmen und hier leben. Wer also könnte das sein?“ Er sah in die Runde und blickte in verlegene Gesichter. Jeder hatte einen Grund, warum er nicht konnte. Friedrich lebte in Frankreich, Albert in Deutschland und Hugo war Vizekonsul an der tschechoslowakischen Botschaft in Paris. Etwas Derartiges hatte Johannes vorausgesehen. „Gut, ich werde mich der Sache annehmen. Ich habe alles mit meiner Familie besprochen und ich biete an, mich für die Dauer von zehn Jahren den Familienangelegenheiten zu widmen. Gleichzeitig aber sage ich auch, dass ich alles von der einen auf die andere Stunde hinschmeißen werde, wenn es meine Kräfte übersteigt.“ Ohne Schwierigkeiten fanden sie zu einer gemeinsamen Einigung. Friedrich verzichtete als der Älteste auf sein Anrecht auf das ganze Erbe, auf das er aufgrund der Fideikomissregelung Anspruch gehabt hätte. Sie gründeten eine Familiengesellschaft und der Besitz wurde in fünf gleiche Teile aufgeteilt, die ein unveräußerliches Ganzes bildeten. Bei der rechtlichen Ausgestaltung nahmen sie Bedacht auf das Recht der Erben, vergaßen aber auch nicht darauf, den Besitz vor den Erben zu schützen. Wenn darüber fünf Leute zu entscheiden hätten, einer aus jedem Zweig, so befanden sie, dann würde es schwieriger sein, dass sich einer gegen die anderen mit irgendeinem „Eselsstreich“ durchsetzen könnte, wie es einer von ihnen nannte. Ihnen war nur zu sehr bewusst, dass sich auch der größte Reichtum durch eine Teilung sehr rasch in Luft auflösen kann. Johannes Mensdorff verabschiedete sich von seiner Familie – seine Frau blieb in Holland, eine Tochter studierte in Washington, die zweite in Leiden, die dritte in Wien – und auch von der südamerikanischen Gesellschaft, in der er immer noch tätig war, und begab sich nach Mähren. Das Gespräch mit ihm führte ich etwa vier Jahre nach der Entscheidung im Familienrat, es war ein ebenso unwirtlicher Tag. Ich fuhr mit dem Zug nach Boskowitz, begab mich auf den Weg durch die Stadt zum Residenzgebäude, das der Familie Mensdorff gehört und in dem das städtische Museum seinen Sitz hat. Ich schritt durch den wunderschönen weißen Gang mit der gewölbten Decke, in dem auch der trübste Tag ein freundlicheres Gesicht bekam, und 104

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ging unmittelbar darauf wieder auf demselben Weg hinaus. Wir saßen einige Stunden in einem weitläufigen Raum dieses alten und ehrwürdigen Gebäudes beieinander, in dem sich die vereinzelt herumstehenden antiken Möbelstücke, die eine normale Wohnung überladen hätten, beinahe verloren. Sein Blick war milde, auf der Nase trug er eine Brille. Er ratschte etwas beim Sprechen und seine Worte schlingerten ein wenig, aber er vermittelte nicht den Eindruck, als ob ihm das irgendwelche Sorgen bereiten würde. So wie die meisten sensiblen und empfindsamen Menschen war er grüblerisch und nachdenklich und trotz all dem, was er erlebt hatte, machte er auf mich einen beinahe schüchternen Eindruck. „Ich hatte keine Ahnung, was mich erwarten würde. Es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, dass es so schwierig werden würde“, gestand er mir. „Allem voran musste ich mir zunächst einmal die tschechische Denkweise aneignen, die mir, wie ich feststellen musste, unbekannt war. Alle, außer Hugo, hatten wir uns daran gewöhnt, an einem anderen Ort zu wohnen … Ich bin nur aus dem einen Grund hierhergekommen, um den Besitz als Manager für meine Geschwister und die nachfolgenden Generationen zu verwalten, damit Boskowitz wieder ein Familiensitz werden kann.“ Nach seiner Ankunft erwarteten ihn wahrlich eine Menge Probleme. Mit den Wäldern hatte er weniger Schwierigkeiten und die Äcker befanden sich im Besitz einer Landwirtschaftsschule, sodass sie vom Gesetz für den Zeitraum von zehn Jahren vor der Rückgabe geschützt waren. Womit er aber wirklich zu kämpfen hatte war, den Besitz wieder in Schwung zu bringen. „Die Restitution bedeutete die Rückgabe des Besitzes, aber ohne finanziellen Rückhalt“, sagte er. „Dabei schrie jedes Gebäude nur so nach einer Renovierung. Und was das Schloss betrifft – ich hoffe, dass uns der Staat nicht dazu veranlasst, es zu schließen. Wir haben es im Grunde leer zurückerhalten, bei den meisten Exponaten handelt es sich um Leihgaben. Wenn diese nun vom Denkmalamt zurückgefordert werden würden, wird es uns nicht möglich sein, eine Ausstellung zusammenzustellen. Ich fürchte, dass dann die Leute sagen könnten: Schaut her, unter den Kommunisten lief es gut und jetzt, nachdem es die Mensdorffs wieder­haben, ist das Schloss geschlossen.“ Auch das Restitutionsverfahren lief nicht ganz ohne Schwierigkeiten ab. Die Familie Mensdorff führte in ihrem Antrag anstelle der Gemeinde Boskowitz das Stadtamt Boskowitz als Verfahrensbeteiligten an. Das Gericht lehnte es aufgrund dieses Formalfehlers ab, den Fall weiter zu behandeln und stellte 105

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5. Samstagnachmittag im Schloss von Boskowitz.

das Verfahren daraufhin ein. Erst das Höchstgericht in Brünn gab der Familie Mensdorff recht und schuf damit einen Präzedenzfall für ähnlich gelagerte Fälle. Die Mensdorffs bemühten sich trotz alledem darum, Probleme mit Noblesse zu lösen. Sie vermieteten beispielsweise eines ihrer Häuser an die Caritas der katholischen Kirche, die sie wiederum als Zentrum für behinderte Menschen nützte. Nur dass in der Kassa gähnende Leere herrschte, Zuwendungen waren nicht in Sicht, die Caritas wusste nicht, wie sie die Miete zahlen sollte. Das Konsistorium wandte sich in einem Brief an die Mensdorffs, in dem es sein Bedauern ausdrückte und um Stundung der Zahlungen ersuchte. Daraufhin trat der Familienrat zusammen und der Chef der Familie Mensdorff, Friedrich, entschied, dass man trotz eigener Schulden wegen der ausstehenden Miete nicht in Streit geraten werde. Auch wenn das Gebäude mehrere Millionen Kronen wert war, machte man es der Caritas zum Geschenk.

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Johannes Mensdorff bot an, zehn Jahre seines Lebens zu investieren. Eines Tages aber merkte er, dass ihm die Probleme über den Kopf zu wachsen begannen, dass er nicht weiter konnte, und übergab die Verwaltung des Familienbesitzes an Hugo, der in der Zwischenzeit aus Paris zurückgekehrt war. „Es ist so“, lächelte Hugo Mensdorff freundlich, als ich bei ihm auf einem gemütlichen Kanapee in der Botschaft des Malteserordens Platz genommen hatte, „im Frühling ist es dort herrlich, alles blüht, aber wenn der November ins Land zieht, dann herrschen dort Kälte und Finsternis. Man verschließt die Tür hinter sich und ist alleine im ganzen Schloss. Die Familie ist in Holland und die Ehefrau, wenn Sie dann alle heiligen Zeiten zu ihr auf Besuch fahren, leidet immer mehr unter der langen Trennung. Wenn man alle diese Drangsalierungen zusammenrechnet und wenn man dann auch noch die Schwierigkeiten mit der Erhaltung des Besitzes, den Geldmangel sowie die Obstruktionen auf den Ämtern und den Ministerien hinzuzählt, dann kann man vielleicht verstehen, dass die Nervenkraft darunter leiden kann.“ Letztes Jahr im Herbst wurde auf Schloss Boskowitz der Geburtstag von Hugo Mensdorff gefeiert, dem auch die kundigste Kartenlegerin keine KreuzSieben ansehen würde. Selbstverständlich fehlte dort auch Johannes Mensdorff nicht. Er war aus Holland angereist, war seit der Zeit, in der ich ihn nicht gesehen hatte, ein wenig gealtert und etwas schlanker geworden. Ansonsten aber hat er sich nicht verändert, er war der gleiche offene Mensch geblieben. „Kehren Sie nach Hause zurück oder sind Sie von zu Hause gekommen?“, fragte ich ihn. Er sah mich durchdringend an. „Eine Woche nach meiner Rückkehr von Südamerika nach Europa im Jahr 1971 fuhr ich augenblicklich zu meinen Eltern“, sagte er. „Das war sehr tränenreich. Dann aber habe ich darüber nachgedacht, was Boskowitz für mich bedeutet, wenn meine Eltern irgendwann einmal nicht mehr hier sein werden. Ich war der Jüngste unter den Geschwistern, ich war erst 15 Jahre alt, als ich wegging. In diesem Alter ist ein Mensch noch sehr jung, um eine Verbindung zu jenem Land herzustellen, in dem er geboren wurde. In der Fremde hatte ich weder Vater noch Mutter um mich, die mir von der Heimat erzählt hätten. Verstehen Sie, ich habe mir mein Leben anders eingerichtet. Ich bin – wenn Sie so wollen – auf meine Art und Weise verwurzelt. Ich sehe das an meinen Geschwistern. Meine Schwester Therese, auch wenn sie in Kanada lebt, ist emotional mit Boskowitz verbunden. Hugo auch. Sie aber sind älter, sie haben hier einen Teil ihres Lebens verbracht.

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6. Das reiche Gesellschaftsleben des Adels scheint der Vergangenheit anzugehören. In der Gegenwart kommen dessen Vertreter nur bei Begräbnissen, Hochzeiten, oder – wie in diesem Beispiel in Boskowitz – bei Geburtstagsjubiläen zusammen. Von links: Johannes, Hugo und Albert.

Wirklich zu Hause fühle ich mich in Uruguay, wo ich meine Freunde habe und wunderschöne Jahre verlebt habe. Dabei spielte es für mich eine große Rolle, dass dort Ordnung und Ruhe herrschten. Die Menschen lebten, im Unterschied zu Europa und zur Tschechoslowakei – so wie ich sie kannte, als ich sie im Jahr 1948 verlassen habe – dort normal. In der Tschechoslowakei war das Leben seit dem Münchner Abkommen 1938 in Unordnung geraten. In Uruguay habe ich Menschen kennengelernt, die mich angenommen haben, so als ob sie mich schon immer kennen würden. Freilich, in den 1970er-Jahre war dort eine Militärdiktatur an der Macht, aber mein Freundeskreis hat sich nicht geändert.“ Er sagte, dass er keiner politischen Partei angehöre, aber dennoch kamen wir auf das Thema Politik zu sprechen. „In Tschechien wurde ein großer Fehler begangen“, sagte er, „und zwar, dass wir uns nicht mit der Vergangenheit ausgesöhnt haben. Auf einige Leute sollte man mit dem Finger zeigen. Damit will ich nicht sagen, dass man die Hälfte der Bevölkerung einsperren soll, aber wir soll108

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ten uns über uns selbst die Wahrheit sagen. Das ist verabsäumt worden und jetzt ist es dafür zu spät. Die Politik hat danach getrachtet, alle Spuren zu verwischen. Etwas hätte bestehen bleiben müssen, etwa der Stacheldrahtzaun an der Grenze. Von Zeit zu Zeit hätte man ihn den Leuten zeigen und sagen müssen: ,So habt ihr gelebt, dem habt ihr zugestimmt. Ihr habt euch daran beteiligt und habt nicht protestiert.‘ Heute sagt man gerne: ,Eigentlich ist doch ohnehin nichts passiert.‘ Ist wirklich nichts passiert?“

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1. Jan Maximilian Dobrzensky von Dobrzenicz

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Dobrzensky Die Geschichte vom goldenen Siegelring – Standhaftes Wladikengeschlecht – Elisabeth d’Orléans-Bragança, Gräfin von Dobrzenicz – Versteckt in einer Kiste unter einem Haufen Kies – Nach Kanada mit drei Dollar in der Tasche – Die Genealogie des Geschlechts der Dobrzensky, geschrieben auf der Fahrt über den Ozean – Fragmente eines Traumes – „Das böhmisch-mährische Hochland, mein Schicksal“

Eine Gruppe Reiter, an deren Spitze der Hauptmann des Chrudimer Kreises, Ritter Karel Kunata von Dobrzenicz ritt, befand sich am Rande eines Waldes, als die Männer mit einem Mal anhielten und stutzten. Aus dem Dorf vor ihnen klangen ein Schrei und das verzweifelte Rufen nach Hilfe herüber, drei oder vier Bauernhäuser standen bereits in Flammen. Alle waren bewaffnet, denn die Zeiten waren unruhig. Europa wurde schon beinahe 30 Jahre lang von einem Krieg heimgesucht und die Kämpfe wollten kein Ende nehmen. Dreißig Jahre waren auch für die Söldner in der kaiserlichen Armee eine lange Zeit. Einige von ihnen desertierten, bildeten bewaffnete Horden, die sich im ganzen Land herumtrieben und stahlen, was ihnen in die Hände fiel. Ritter Kunata trieb sein Pferd an und eilte zu dem Dorf. Die anderen folgten ihm. Sie wussten, worauf sie sich einließen. Die Kleidung der plündernden Soldaten ließ darauf schließen, dass die Dorfbewohner von den Kapoun-Dragonern überfallen worden waren, deren Grausamkeit legendär war. Unmittelbar darauf folgte ein erbarmungsloses Gemetzel, bei der der Ritter von Dobrzenicz seinen Freund Talacek von Jeschtětitz mit einem Schrei vom Pferd fallen sah. Auch zwei Herren von Rosenthal verloren ihr Leben, die an seiner Seite gekämpft hatten. Selber konnte er mehrere Gegner überwinden, denn mit dem Schwert konnte er umgehen, dann aber stürzte sich eine Schar von Dragonern aus einem Versteck auf ihn und er unterlag gegen die Übermacht. Diese Begebenheit wird in der Familie Dobrzensky (tschech. Dobrzenský) nicht nur von einer Generation zur nächsten erzählt, die Schlacht ist auch historisch belegt und wird vom Historiker Zdeněk Kalista erwähnt, der sich auf die 111

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Korrespondenz von Susanna Czernin, eine geborene Homuth von Harasov, bezieht. In einem ihrer Briefe berichtet sie ihrem Sohn nämlich vom gewaltsamen Tod von Karel Kunata bei Alt-Tschiwitz im Jahr 1647 und auch über die genaue Bestrafung seines Mörders, den diese Tat den Kopf kostete. Rund 250 Jahre nach diesen Ereignissen stattete Jan Wenzel II. Dobrzensky, ein Nachfahre von Ritter Kunata, kaiserlicher Kammerherr, Geheimer Rat und auch begeisterter Genealoge, bei einer seiner Reisen durch die Pfarren der Umgebung, wo er sich auf die Spuren seiner Vorfahren machte, seinem guten Bekannten, dem Direktor der Brauerei in Chrudim, Josef Kalina, einen Besuch ab. Als sie so vertraut im Gespräch beieinandersaßen, bemerkte Dobrzensky, dass Kalina an seinem Finger einen goldenen Siegelring trug, auf dem ein Wappen mit einem Storch und die Buchstaben K und D eingraviert waren. Er bat ihn, sich den Ring näher ansehen zu dürfen. „Es ist mir bereits aufgefallen, dass er Sie interessieren wird“, sagte der Direktor der Brauerei und nahm ihn vom Finger. „Ich habe gleich an ihm Gefallen gefunden, als ich ihn bei einem Altwarenhändler in Přelautsch sah.“ – „Bei einem Altwarenhändler in Přelautsch?“, wunderte sich Dobrzensky. „Ist Ihnen dabei nicht irgendetwas eigenartig vorgekommen?“ – „Also … er hat mir so eine bizarre Geschichte erzählt. Wahrscheinlich deshalb, um den Preis in die Höhe treiben zu können. Einige Holzfäller, die im Wald irgendwo bei Alt-Tschiwitz arbeiteten, hatten ihm den Ring angeboten. Sie hatten ihn angeblich eingewachsen in einen Baumstamm gefunden. Wer weiß, was da wirklich geschehen ist, es wird wohl besser sein, keine großen Nachforschungen anzustellen, was sagen Sie dazu?“ Dobrzensky besah sich den Ring voller Hingabe. „Ich denke, dass die Holzfäller die Wahrheit gesagt haben“, befand er nach einer Weile. „Die Buchstaben K und D bedeuten nämlich Karel von Dobrzenicz und bei diesem Wappen mit dem Storch, Herr Direktor, dabei handelt es sich um unser Familienwappen.“ Dann erzählte er, wie Karel Kunata Mitte des 17. Jahrhunderts bei Alt-Tschiwitz ums Leben gekommen war. „Der goldene Siegelring, den er trug, wurde nie gefunden, obwohl seine Frau Sophie Dobrzensky von Preitenstein, danach intensiv suchen ließ, denn es handelte sich um ein kostbares Familienandenken und Karel hinterließ vier kleine Kinder.“ – „Das ist ja unglaublich …, in diesem Fall gehört er Ihnen“, entschied der Direktor. „Ich hatte schon gehofft, dass Sie ihn mir verkaufen würden“, sagte Graf Dobrzensky, „den Preis legen selbstverständlich Sie fest.“ 112

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Die erste nachgewiesene und belegte Erwähnung über das Geschlecht der Dobrzenskys von Dobrzenicz stammt aus dem Jahr 1339. Am 3. Jänner dieses Jahres stellte nämlich ein gewisser Vaněk von Steinitz Abt Hroznata eine Urkunde aus, in der er bestätigt, dass er ihm und dem Kloster Abtsdorf den Ort Steinitz verkauft. Als Zeugen, die die Rechtsgültigkeit des Kaufes bestätigten, sind in der Urkunde die Namen von Zdeněk und Bohuněk von Dobrzenicz angeführt. In den historischen Aufzeichnungen aus der Zeit von 1353–1370 findet sich der Hinweis auf einen weiteren Vorfahren, und zwar Spytihněv von Kositz. Wir dürfen uns aber nicht durch die Bezeichnung „aus Kositz“ in die Irre leiten lassen, denn in dieser Zeit war der Gebrauch von Familiennamen nicht üblich und der Adel benannte sich für gewöhnlich nach seinem Wohnsitz. Aus diesem Grund hieß Spytihněvs Sohn mit dem einigermaßen ungewöhnlichen Namen Hroch (tschech. Flusspferd), solange er bei seinem Vater lebte, Hroch von Kositz. Sobald er Herr in Dobrzenicz wurde, führte er auch den Beinamen „von Dobrzenicz“. Im Laufe der Zeit verzweigte sich das Geschlecht der Dobrzenskys in mehrere Linien, die nach und nach wieder ausstarben, sodass es im 20. Jahrhundert nur mehr eine gab, nämlich jene von Barchov. Diese spaltete sich in den Zweig von Chotieborsch, die Nachfahren von Jan Wenzel I., und in den Zweig von Pottenstein, die Nachfahren von dessen Bruder Prokop Jan des Älteren, auf. Die Dobrzenskys zählten immer zu den ausgesprochen tschechischen Familien, was freilich nicht bedeutet, dass in ihren Adern kein anderes Blut floss. Sie waren keine Magnaten, sie beteiligten sich auch nicht an der hohen Politik, sie griffen nicht nach den höchsten politischen Ämtern und haben sie auch nicht erhalten. Sie waren Wladiken, Angehörige des niederen Adels, die mit ihren Grundherrschaften und ihren Höfen verbunden waren, mit dem Boden, auf dem sie wirtschafteten. Gelegentlich dienten sie, wie es zeitgenössische Quellen anführen, „bei den Fahnen“, einige von ihnen wurden Kreishauptleute, Burggrafen oder Regenten, in der Familie findet sich auch ein Landeshauptmann, ein Stallmeister oder ein königlicher Fischmeister. Wie vielleicht in jeder Familie gab es auch bei ihnen Vermögensstreitigkeiten, gelegentlich herrschte unter ihnen Intoleranz, Streitsucht, Impulsivität und Hitzköpfigkeit, andererseits waren sie auch starker sozialer Empfindungen fähig. War aufgrund des Todes der Eltern eines der Kinder aus der Verwandtschaft unversorgt, fand sich in der Familie immer jemand, der es aufnahm. 113

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Mit Hingabe kauften sie neue Landgüter und verkauften sie wieder, besonders aber hingen sie an ihrem Familiensitz Dobrzenicz, der sich überaus lange in ihrem Besitz befand, nämlich über den Zeitraum von 500 Jahren. Schon seit 1538 galt die Regel, die den Familienmitgliedern auch schriftlich eingeschärft wurde, dass nämlich „die Güter Dobrzenicz, Kratenau und Obiedowitz an niemanden außer an die männlichen Mitglieder der Familie Dobrzensky verkauft werden dürfen. Das soll für alle Zeiten gelten.“ Selbstverständlich war das nur ein frommer Wunsch, wie es sich mit allen Vereinbarungen über ewige Zeiten eben so verhält. Um Dobrzenicz kamen sie zuerst, weil sie sich verschuldet hatten, und später, nach der Schlacht auf dem Weißen Berg, wegen ihres protestantischen oder genauer gesagt utraquistischen Glaubens, denn sie waren Anhänger der Kommunion in beiderlei Gestalt – sub utraque specie –, somit auch der Kelchkommunion. Die damalige Zeit war für die Familie keineswegs angenehm, ihre Güter wurden von weitaus mächtigeren Geschlechtern, wie etwa den Waldsteins oder den Trčkas, ausgebeutet. Nach der Schlacht auf dem Weißen Berg verließen viele Dobrzenskys Böhmen. Als sie nach vielen Jahren zurückkehrten, versuchten sie zuallererst, wieder in den Besitz des für die Familie so symbolträchtigen Dobrzenicz zu gelangen, das in der Zwischenzeit in die Hände der Kinskys übergegangen war. Das gelang dem bereits erwähnten Hauptmann des Chrudimer Kreises, Ritter Karel Kunata. Durch einen glücklichen Zufall erbte dieser Dobrzensky von seinem Oheim Rudolf Ferdinand Myšek einen Schuldschein, in dem sich Jan Oktavian Kinsky verpflichtete, Myšek einen beträchtlichen Geldbetrag zu zahlen. Kunata legte dem Grafen den Schuldschein vor und forderte von ihm die sofortige Zahlung der Schuld oder die Rückerstattung des Familiensitzes. Kinsky dachte gar nicht erst lange nach und trennte sich lieber von Dobrzenicz, als in die Geldtruhe zu greifen. Erst Michael Wenzel – eine bemerkenswerte Persönlichkeit des Geschlechts, der in seiner Jugend ein ausgezeichneter Violinist, später Kommandant eines Landwehrbataillons und schließlich Erfinder war, der sich erfolglos um die Entdeckung des Perpetuum mobile bemüht hatte und der mit seinen Experimenten zur Errichtung einer Zuckerfabrik eher glücklos war – brachten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts finanzielle Schwierigkeiten definitiv um Dobrzenicz. Etwas früher hatten die Dobrzenskys das Schloss in Chotieborsch erworben, das Michaels Bruder Jan Josef II. 1836 durch die Verehelichung mit der letzten Erbin eines alten böhmischen Geschlechts, Maria Friederike Wanczura von Rzehnicz, erworben hatte, die dieses Schloss in die Ehe eingebracht hatte. 114

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Der Beginn des 19. Jahrhunderts war für die Dobrzenskys durchwegs erfolgreich. Der Sohn von Jan Josef II. und Maria Friederike, Jan Wenzel II., wurde kaiserlicher Kammerherr, Geheimer Rat und auf Lebenszeit ernanntes Mitglied des Oberhauses des Reichsrates in Wien, des Herrenhauses. Im Jahr 1906 wurde er vom Kaiser in den Grafenstand erhoben. Daneben war dieser tatkräftige Mann Mitglied des Verwaltungsausschusses des Museums des Königreichs Böhmen und vieler anderer wohltätiger Vereine und wandte viel Zeit für das systematische Studium der Stammtafeln des böhmischen Adels auf. Sämtliches genealogische Material, das er schließlich dem Landesarchiv im Prag vermachte, umfasste die sorgfältig ausgearbeiteten Stammbäume von 1.318 in Böhmen ansässigen Familien, Abschriften aus Matrikeln von 890 Pfarrämtern und 29 Hefte mit Exzerpten von Dokumenten und persönliche Daten. Der Wert seiner Sammlungen bemisst sich nicht nur in der ungemeinen Breite seiner Arbeiten, sondern ebenso in der Zuverlässigkeit seiner Daten, die sich auf die Abschriften aus den Kirchenmatrikeln stützen, und in seinem kritischen Blick. Bei seinen Forschungen über die Vergangenheit der Dobrzenskys stieß er nämlich auf konkrete Indizien, die darauf hindeuteten, dass der Ursprung seines Geschlechts um noch einmal rund 300 Jahre früher, also somit im Jahr 1004 anzusetzen wäre. Das musste für ihn ein verlockender Hinweis gewesen sein, denn die Dobrzenskys wären in diesem Fall das älteste noch existierende Adelsgeschlecht im Böhmen gewesen! Und damals wurden familiäre Zugehörigkeit und historische Abkunft noch einigermaßen gewürdigt. Dennoch lehnte er es strikt ab, sich mit diesem konkreten Hinweis näher zu beschäftigen, da die Quelle für eine derartige Vermutung nicht belegt war. Jan Wenzel II. bewies auch bei der Wahl seiner Lebenspartnerin eine gute Hand. Er verehelichte sich mit Elisabeth Josefa Gräfin Kottulinsky von Kottulin, die Tochter von Josef Franz Graf Kottulinsky von Kottulin und Adelheid Gräfin von Attems-Heiligenkreuz, die zusammen mit ihren Schwestern eine Herrschaft in der Steiermark erbte. Sie war Palastdame und Inhaberin des Sternkreuzordens, des päpstlichen Ordens Pro Ecclesia et Pontifice und des Ordens Patriae ac Humanitatis. Derartig hohe Auszeichnungen bekam man nicht einfach nur so. Zu einer Zeit, in der beinahe kein öffentliches Gesundheitswesen existierte und die Sterblichkeit der Mütter und Neugeborenen hoch war, gründete sie mit eigenen finanziellen Mitteln eine Entbindungsanstalt für junge Mütter. Das war eine revolutionäre Neuerung, denn dort wurde nicht nur die nötige Hilfe gewährt, sondern un115

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ter ärztlicher Aufsicht wurde dort auf die Einhaltung besonderer hygienischer Prinzipien geachtet. Gleichzeitig wandte Elisabeth für ihre soziale und karitative Tätigkeit nicht wenige Stücke ihres Familienschmucks auf. Diese kleine und bescheidene Frau widmete sich auch, sofern ihr freie Zeit verblieb, der Malerei, der Musik und gelegentlich dem Sport. Sie ging allerdings nie so weit wie ihr Mann, der sich im Winter ein Loch in den vereisten Bach hacken ließ, um darin ein Bad zu nehmen. Jan Wenzel II. und Elisabeth hatten fünf Kinder, vier Söhne und eine Tochter namens Elisabeth, deren Schicksal derartig interessant war, dass es schade wäre, es nicht zumindest in aller Kürze darzustellen. Vor dem Ersten Weltkrieg diente Prinz Pedro de Alcântara d’Orléans-Bragança, dessen Eltern mit seinen beiden Brüdern in Frankreich lebten, im Ulanenregiment Nr. 7 der k. u. k. Armee. Es war der Sohn von Gaston d’Orléans, Graf d’Eu, einem Nachfahren der Bourbonen, und der Kronprinzessin Isabella, der Tochter des brasilianischen Kaisers Pedro II. aus dem portugiesischen Königsgeschlecht der Bragança, die im Jahr 1889 nach der Abschaffung der Monarchie und der Ausrufung der Republik ins Exil gehen mussten. Zur gleichen Zeit wie Pedro dienten in Wien auch die Brüder Dobrzensky in der Armee. Sie freundeten sich an und luden ihn einmal ein, Weihnachten mit ihrer Familie in Chotieborsch zu verbringen. Dort begegnete er Elisabeth und verliebte sich in sie. Elisabeth war zwar ein anmutiges und sympathisches Mädchen, das darüber hinaus herrlich malen konnte. Trotz alledem entstammte sie keiner königlichen Familie, sodass Pedros Eltern über die Wahl ihres Sohnes nicht sonderlich erfreut waren. Der junge Prinz musste sich entscheiden – entweder sie oder die Thronfolge und die Unterdrückung seiner Gefühle. Neben der Absage an den Thron, der ohnehin nur eine Illusion war, musste er allerdings mit der Hochzeit so lange warten, bis sein jüngerer Bruder eine angemessene Braut gefunden hatte, was wiederum keine Illusion, sondern eine Tatsache war, denn das dauerte volle zehn Jahre. Die Beziehung der Liebenden nahm durch das Warten keinen Schaden und die Hochzeit fand in Versailles, im Palast seiner Vorfahren, statt. Anfangs lebten sie im Château d’Eu in der Normandie, nach dem Ersten Weltkrieg, als die brasilianische Regierung das von Pedro II. konfiszierte Vermögen an die Familie rückerstattete, übersiedelten sie nach Brasilien. Im Jahr 1939, nach der Besetzung der Tschechoslowakei, erwirkte eine einflussreiche Person bei der brasilianischen Regierung, dass die Angehörigen der 116

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tschechoslowakischen Botschaft nicht an die Nationalsozialisten ausgeliefert wurden. Nur einem engen Kreis von Eingeweihten war bekannt, um wen es sich bei dieser einflussreichen, im Hintergrund agierenden Person handelte und warum etwas später, schon zur Zeit des Krieges, das brasilianische Rote Kreuz dem tschechoslowakischen Roten Kreuz in London eine bedeutende finanzielle Hilfe zukommen ließ. In der Funktion einer Ehrenpräsidentin des tschechoslowakischen Hilfskomitees beim brasilianischen Roten Kreuz handelte es sich dabei nämlich um Elisabeth d’Orléans-Bragança, Gräfin von Dobrzenicz. Im Jahr 1919 übernahm nach dem Tod Jan Wenzels II. dessen damals 49-jähriger Sohn Jan Josef III. das Schloss in Chotieborsch und die dazugehörigen Besitzungen. Hinter ihm lag der Dienst in der österreichisch-ungarischen Armee, wo er sich als Offizier eines Ulanenregiments einige Male im Duell mit anderen Offizieren geschlagen hatte, weil er sich nicht die geringste boshafte Bemerkung gefallen ließ, die sich gegen die Tschechen richtete. In Prag studierte er Rechtswissenschaften, wurde Stellvertreter des Bürgermeisters in Chotieborsch und Ehrenbürger einiger Gemeinden im böhmisch-mährischen Hochland. In den Jahren 1906/1907 war er Abgeordneter im Reichsrat und vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges Mitglied des Landtages. Bei den Ulanen erwarb er noch eine andere Fähigkeit – er vermochte es angeblich, auch die wildesten Pferde zu bändigen und sie auf Pferderennen vorzubereiten. Im Übrigen gewann er als junger Offizier einige Springbewerbe und wurde später zum Präsidenten des Jockey-Clubs gewählt. In Vermögensangelegenheiten hatte er keine derartigen Erfolge zu verzeichnen, denn die erste Bodenreform nach dem Ersten Weltkrieg ließ seinen Familienbesitz derart zusammenschrumpfen, dass er manches davon sogar verkaufen musste, weil es überflüssig geworden war. Als der Beamte des Landwirtschaftsministeriums bei ihm vorstellig wurde und ihm lakonisch mitteilte: „Wir führen, Herr Graf, die Bodenreform durch, um die Folgen der Schlacht auf dem Weißen Berg zu tilgen“, konnte Jan Josef II. nur unwillig das Gesicht verziehen. „Wenn sie mit der Bodenreform wirklich das Unrecht tilgen wollen, das nach der Schlacht auf dem Weißen Berg verübt wurde, dann müssen Sie, Herr Ministerialrat, im Gegenteil sogar mir etwas geben. Wir sind nämlich nach der Schlacht als Protestanten um unseren Besitz gebracht worden.“ Dennoch haben sich die Dobrzenskys als Tschechen gefühlt, sodass sie am Beginn der nationalsozialistischen Okkupation zusammen mit anderen Vertre117

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tern des böhmischen und mährischen Adels eine Erklärung unterzeichneten, in der sie ihre Treue zur tschechischen Nation bekundeten. Dabei handelte es sich um die Antwort auf Hitlers Aussage, dass es keinen tschechischen Adel gebe, weil dieser im Grunde eigentlich deutsch sei. Die Bodenreform der Ersten Republik beschnitt zwar den Besitz der Dobrzenskys, aber es blieben ihnen immer noch rund 1.000 Hektar an Grund und Boden. Ein weitaus heftigerer Schlag wurde ihnen nach der kommunistischen Machtübernahme vom Februar 1948 versetzt. Diesen hat Graf Jan Josef II. nicht mehr erlebt und mit den Folgen mussten sich sein Sohn Jan Maximilian und dessen Frau Leopoldine, geborene von Lobkowicz, auseinandersetzen. Die Probleme begannen sich bereits ab März dieses Jahres zu häufen. In die Verwaltung des Großgrundbesitzes kam der Vorsitzende des Bezirksausschusses der Kommunistischen Partei, zusammen mit einem hohen Gewerkschaftsfunktionär aus Deutschbrod, ließ den Betriebsrat zu sich kommen, der damals an der Leitung des Betriebes beteiligt war, und forderte die Anwesenden auf, augenblicklich über die Ablösung von Jan Maximilian Dobrzensky von seiner Funktion als Direktor abzustimmen. „Ihr seid euch sicherlich dessen bewusst, Genossen, dass in diesem historischen Moment, in dem sich das weitere Schicksal des Staates und das Glück eurer Kinder entscheidet, wir einem Adeligen nicht weiter die Führung eines Großgrundbesitzes überlassen dürfen“, sagte er. „Einen Dobrzensky können wir nur zum Stallausmisten gebrauchen. Es ist in eurem eigenen Interesse, Genossen. Wer für seine Ablöse ist, der hebt die Hand.“ Im Büro hatten sich etwa 20 Leute versammelt, unter ihnen auch Jan Maximilian Dobrzensky, über dessen Schicksal hier entschieden werden sollte. Alle blickten verlegen um sich und sahen einander an, aber von ihnen hob keiner die Hand. Der Parteivorsitzende begann erneut, diesmal mit noch ernsterer Stimme, sprach von Wachsamkeit und revolutionärem Wagemut, aber wieder hoben sich nur zwei Hände. Einige Tage später klopften nach Einbruch der Dunkelheit drei Angestellte des Großgrundbesitzes an die Tür des Schlosses. „Die Kommunisten haben gestern eine geheime Sitzung abgehalten und sind übereingekommen, Ihnen irgendetwas anzuhängen“, warnten sie den Grafen. „Glauben Sie uns, die wollen Sie einsperren. Sie sollten besser verschwinden, Sie haben doch kleine Kinder. Machen Sie sich keine Illusionen, die werden Ihnen ohnehin alles wegnehmen.“ 118

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2. Die weiße Schleppe, die Leopoldine Lobkowicz bei ihrer Hochzeit mit Jan Maximilian Dobrzensky trug, stammte aus dem 17. Jahrhundert und ist aus Brüsseler Spitzen. Die Schleppe hielten Ferdinand Lobkowicz und Jan Stubenberg, die aber nicht den Eindruck erweckten, als wären sie davon besonders begeistert.

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3. Schloss Chotieborsch wurde im 18. Jahrhundert von Wilhelm Leopold Graf Kinsky erbaut. Im Jahr 1836 brachte es Maria Friederike Wanczura von Rzehnicz in die Ehe mit Jan Josef Dobrzensky ein.

Der Graf nahm ihre Warnung ernst, darüber hinaus hatte er bemerkt, dass er überwacht wurde. Dennoch zögerte die Familie ein Fortgehen immer wieder hinaus, denn die Emigration war für sie die letzte Möglichkeit. Kurz darauf fuhren Jan Maximilian und Leopoldine nach Prag, um dort etwas zu erledigen. Anschließend gingen sie auf dem Wenzelsplatz in das Café Juliš und als sie eben eintraten: Wen sahen sie da? – An einem Marmortisch in der Ecke saß einer ihrer Bekannten, ein berühmter Prager Rechtsanwalt, der dort bei einem türkischen Kaffee Zeitung las. Als er sie erblickte, sah er sie ungläubig an, als ob er sich versichern wollte, dass es wirklich die beiden waren, und sagte spitz: „Aber, aber. Das ist ja eine Überraschung. Die Dobrzenskys. Was machen Sie noch hier? Sie sollten doch schon lange über alle Berge sein.“ Einige Zeit später kamen zwei Ministerialbeamte ins Schloss und teilten Jan Maximilian mit, dass sie dazu befugt wären, den Besitz der Dobrzenskys, die Einrichtung des Schlosses in Chotieborsch, zu konfiszieren. Leopoldine war geistesgegenwärtig wie immer. „Den Besitz der Dobrzenskys vielleicht“, protestierte sie, „aber das und das und das“ – dabei zeigte sie auf einen Schrank, 120

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ein Bild und weitere Gegenstände im Zimmer – „habe ich als Mitgift hier eingebracht.“ – „Wie meinen Sie das, als Mitgift?“, fragten die beiden Beamten. „Als Aussteuer der Familie Lobkowicz selbstverständlich, ich bin eine geborene Lobkowicz.“ „Das ist doch gehüpft wie gesprungen“, entgegneten sie ironisch. „Alles gehört jetzt dem Volk. Und Sie unterstehen sich, etwas von hier fortzuschaffen. Wir müssten Sie ansonsten für Diebstahl am Staatseigentum in Haft nehmen.“ Die beiden waren gründlich. In das Erdgeschoss des Schlosses quartierten sie zwei neue Mieter ein, um so den Grafen und die Gräfin im Auge zu behalten. Nach diesem Ereignis entschlossen sich die Dobrzenskys dazu, lieber zu verschwinden. Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, ging Leopoldine mit den Kindern, dem zweijährigen Jan und der einjährigen Zdislava, zu ihrer Mutter nach Unter-Berkowitz, während Jan Maximilian noch einige Zeit in Chotieborsch blieb. In der Zwischenzeit bereiteten sie ihre Flucht ins Ausland vor, bei der ein ehemaliger Kampfflieger aus dem Krieges die Hauptrolle spielen sollte. Dieser war während des Zweiten Weltkrieges Offizier bei den tschechoslowakischen Luftstreitkräften in England gewesen und wollte die Tschechoslowakei ebenfalls verlassen. Der Plan war folgender: Der Pilot sollte als normaler Reisender das auf der Strecke von Ostrau nach Prag verkehrende Flugzeug bei der Zwischenlandung in Olmütz besteigen. Anschließend sollte er unter Zuhilfenahme eines Teils der Besatzung das Cockpit übernehmen und mit dem Flugzeug in Westdeutschland in der amerikanischen Zone landen. Eine scheinbar einfache Angelegenheit. Die Verbindung aus Ostrau war am vereinbarten Tag zum großen Teil von Passagieren besetzt, die sich zur Emigration entschlossen hatten. Das Flugzeug startete gemäß dem Flugplan, landete in Olmütz und setzte seinen Flug fort. Dann wurden die Fluggäste Ohrenzeugen eines heftigen Kampfes, der in der Pilotenkabine stattfand und in aller Ruhe landeten sie – zu ihrer großen Überraschung – auf dem Prager Flughafen Ruzyně. Der Plan war an und für sich gut, bis auf die Tatsache, dass der Pilot in Olmütz nicht ins Flugzeug gestiegen war. Angeblich gab er, wie sie später erfuhren, einem vorteilhafteren Angebot den Vorzug. Jan Maximilian kehrte nach Chotieborsch zurück und Leopoldine fuhr mit den Kindern und dem Kindermädchen, das dem Vernehmen nach bereit gewesen wäre, die Familie bis nach Kamtschatka zu begleiten, nach Unter-Berkowitz. „Ihr seid zurück?“, wunderte sich Leopoldines Mutter Franziska Lobkowicz, als sie bei der Tür hereintraten. „Die Polizei war da, sie haben auf dem Flug­hafen 121

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auf euch gewartet, sie haben die internationalen Flüge überwacht. Irgendjemand muss euch verraten haben. Nun, es hätte schlimmer ausgehen können.“ Seit diesem Zeitpunkt standen sie unter ständiger polizeilicher Beobachtung. Sie entschlossen sich, die Grenze mithilfe einer Gruppe Holzfäller aus dem Böhmerwald zu Fuß zu überqueren. Den Fluchtversuch legten sie auf Anfang Juli fest, als der große Sokol-Kongress stattfand, Tausende Menschen nach Prag strömten und die Straßen verstopft waren. Es war ein perfekter Mummenschanz, eine vorzüglichere Situation hätte man sich gar nicht wünschen können. Den Polizisten sagten sie, dass sie zu dem Kongress fahren würden, und brachen auf. Sie hatten nur das Allernotwendigste bei sich, was in drei Rucksäcke und einen abgenutzten Reisekoffer passte – einige Kleidungsstücke, Dinge des persönlichen Gebrauchs, ein paar Familienschmuckstücke, unter denen freilich auch der goldene Siegelring nicht fehlen durfte, ein Erbstück von Ritter Karel Kunata, und vor allem … Windeln für die Kinder. Sie setzten sich in den Zug, fuhren nach Prag, tauchten in der Menge unter, kehrten zum Bahnhof zurück und fuhren weiter nach Pilsen. Dort sollten sie vereinbarungsgemäß im Bahnhofsrestaurant warten. Ebenso wie beim unglücklichen Fluchtversuch mit dem Flugzeug zählten sie fünf Köpfe – Jan Maximilian, Leopoldine, das alte Kindermädchen Frau Katz und die Kleinen Jan und Zdislava. Eigentlich waren sie sechs, denn Leopoldine war im fünften Monat schwanger. Die Holzfäller tauchten mit dreistündiger Verspätung auf und brachten sie in ein einsames Hegerhaus im Böhmerwald. Es war schon beinahe Abend. „Legen Sie sich in der Zwischenzeit hin“, sagten sie ihnen. Leopoldine, die Kinder und das alte Kindermädchen nahmen das Angebot gerne an und schliefen augenblicklich ein. Jan Maximilian konnte nicht schlafen, denn er dachte darüber nach, ob sie nicht ein unnötiges Risiko eingingen. Dann hörte er einen heftigen Streit und weckte seine Frau. „Es scheint ihnen um das Geld zu gehen“, sagte er. Er wartete nicht lange und ging zu den Holzfällern, um zu fragen, was los sei. „Was soll den los sein“, schnitt ihm einer der drei aufgebracht das Wort ab. „Wir werden Sie nicht über die Grenze bringen. Weder heute noch morgen. Ihre Kinder sind noch sehr klein. Wir hätten mit ihnen nur Schwierigkeiten.“ In diesem Augenblick mischte sich Leopoldine in das Gespräch ein. „Sehen Sie sich die Kinder an, wenn Sie meinen, dass es mit ihnen Schwierigkeiten geben wird.“ Der Mann zögerte, ging aber dann doch zu ihnen hin. Das Licht fiel auf zwei 122

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sorglose Kindergesichtchen. Eine Weile blickte er auf die liebreizenden Knirpse, bis er dann doch zustimmend nickte. „Also gut, ich werde es riskieren. Packen Sie Ihre Sachen, wir brechen sofort auf.“ Sie mussten auf einen Lastwagen klettern und sich in eine große Holzkiste legen. Alle vier. Die Holzfäller schlossen den Deckel und bedeckten ihn zur Tarnung mit Kies. Das Kindermädchen wurde in der Fahrerkabine unter dem Sitz versteckt. Die Kinder gaben während der ganzen Fahrt, so als ob sie sich der Gefahr bewusst gewesen wären, keinen Ton von sich und hielten nur krampfhaft die Hand ihrer Mutter, die Köpfe auf ihren Schoß gelegt. Sie hatte zuvor einen langen inneren Kampf geführt, ob sie ihnen nicht doch ein Schlafmittel verabreichen sollte. Schließlich rang sie sich dazu durch, es nicht zu tun, um sie nicht einer eventuellen Gefahr auszusetzen, und war überaus glücklich, dass sie sich so tapfer verhielten. Sie hatten überhaupt großes Glück, denn bald nachdem sie die Hütte verlassen hatten, kamen Polizisten dorthin. Sie haben nie erfahren, ob sie oder jemand anderer die Gesuchten waren, aber wenn sie erwischt worden wären, hätte das wohl Gefängnis bedeutet. Eine halbe Stunde lang kurvte das Auto über eine unwegsame Straße durch den Wald. Jede Rinne, jede Unebenheit fuhr ihnen schmerzhaft in die Glieder, bis auf einmal jemand dem Fahrer zurief, er solle stehen bleiben. Durch das Motorengeräusch des Lastwagens war die Stimme des Grenzwachebeamten kaum zu vernehmen, so hörten sie nur die Stimme des Holzfällers, der sie fuhr. „Aber Anton“, erklärte er. „Du weißt doch, dass ich Schotter transportiere. Diese Fuhre lade ich noch ab und dann ist Schluss für heute.“ Es folgte eine Pause, dann war Gelächter zu hören und das Fahrzeug setzte sich erneut in Bewegung. Sie bewältigten einige Kurven, schnaufend fuhren sie den steilen Hügel hinauf und hielten schließlich an. Der Fahrer sprang aus dem Führerhaus, befreite das unter dem Sitz kauernde Kindermädchen und öffnete die Kiste, in der die Dobrzenskys zusammengepfercht waren. „Weiter müssen Sie alleine“, sagte er. „Halten Sie sich rechts. Bis zum Grenzstein sind es etwa zwei Kilometer durch den Wald. Dort sollten zwei Leute auf Sie warten, die Sie über die Grenze begleiten. Seien Sie froh, dass es zu regnen begonnen hat, die Zöllner gehen bei diesem Wetter nur sehr ungern hinaus.“ Jan Dobrzensky nahm ein Kind auf seinen Arm, das alte Kindermädchen das zweite und Leopoldine trug unter ihrem Herzen das dritte. Sie atmete schwer und hatte Angst. 123

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Mit einem Mal hörte es auf zu regnen. Die dichten Wolken, die eben noch die untergehende Sonne verdeckt hatten, rissen auseinander und der Himmel erstrahlte in sanftem Purpurrot. Vor ihnen im Wald tauchten plötzlich, so als ob jemand einen Vorhang hochgezogen hätte, einige Rehe auf einer Waldwiese auf. Sie blieben wie gebannt stehen. Das Gefühl der Gefahr und der Angst wich von ihnen, eine eigenartige Rührung, Ruhe und innere Ausgeglichenheit ergriff von ihnen Besitz. Der letzte Anblick der Heimat, kam es ihr in den Sinn, ein letztes Abschiednehmen. Das war etwas so Schönes, erinnerte sich Leopoldine noch nach Jahren, dass sie es nicht vergessen konnte. Die zwei Kilometer bis zur Grenze erschienen ihnen unendlich lang zu sein. Sie gingen immer ein Stück, blieben stehen und lauschten, ob nicht irgendwelche verdächtige Geräusche zu hören waren. In der Zwischenzeit hatte es erneut zu regnen begonnen. Den Grenzstein, an dem sie bereits geduldig von anderen Flüchtlingen erwartet wurden, fanden sie allerdings leicht und schritten zusammen auf die deutsche Seite hinüber. Bei großer Dunkelheit gingen sie auf ein Haus zu. Sie klopften, vor ihnen wurde die Tür geöffnet und im Lichtschein zeigte sich, ganz angsterfüllt, ein altes Ehepaar. Sie ließen sie hinein. Nachdem sie ihnen einige Zigarettenpackungen, die damals wertvoller als Geld waren, gegeben hatten, ließen sie sie im Heu übernachten. Bald nach der Morgendämmerung wurden sie von deutschen Grenzwachebeamten geweckt. Niemand konnte sagen, wie diese sie gefunden hatten, denn in der Hütte gab es kein Telefon. Sie führten sie einige Kilometer ins Tal hinunter auf das Zollamt, wo sie von amerikanischen Soldaten abgeholt wurden. Auf der Militärkommandantur, wo neben dem Bild von Präsident Truman und einer US-amerikanischen Flagge eine Liste an der Wand hing, auf der die Anzahl der Grenzübertritte nach Tagen aufgelistet war, versuchte ein junger amerikanischer Offizier mit ihnen ein Gespräch zu führen. Bedauerlicherweise konnte er weder Tschechisch noch Deutsch, während es um das Englisch der Dobrzenskys nicht nicht zum besten bestellt war. Er bot ihnen belegte Brote an, gab ihnen Freifahrkarten für den Personenzug und ließ sie zum Bahnhof bringen. Sie sollten sich in Regensburg in der Goetheschule, einem Flüchtlingslager, melden. Zur Sicherheit schrieb er ihnen das auch noch auf einem Stück Papier auf. Die Kapazitäten der Goetheschule waren für 200 Emigranten ausgelegt, dort aber lebten fünfmal so viele. Es gab dort keine Privatsphäre, die Menschen schliefen auf Matratzen, die auf dem Fußboden ausgelegt waren, es gab keinen Platz, an dem man seine persönlichen Dinge hätte ablegen können. Leopoldine 124

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kam der Gedanke, dass der Fürst von Thurn und Taxis, ein entfernter Verwandter ihrer mit einem tschechischen Thurn und Taxis verheirateten Schwester, in der Stadt seine Residenz hat. Sie rief ihn an und brachte in Erfahrung, dass es der Fürst ablehne, irgendjemanden bei sich im Schloss wohnen zu lassen, auch wenn es sich um adelige Standesgenossen handle. Die Schlossverwaltung wäre hingegen bereit, zumindest das Gepäck der Dobrzenskys zu verwahren. „Wenigstens das“, dachte sie bei sich und nahm das Angebot gerne an, das Gepäck zum Bahnhof zu bringen, wo es von jemandem aus dem Schloss abgeholt werden würde. Auf dem Bahnsteig wurden sie bereits von einer dreiköpfigen Delegation erwartet: ein Lakai in Livree, der Kastellan im dunkelblauen Anzug mit Mütze, auf der sich das fürstliche Wappen befand, sowie ein weiterer Mann in Zivil. Jan Dobrzensky stellte sich vor, wie sich die drei vor ihm verbeugen und den alten betagten Koffer übernehmen würden, der in der Tschechoslowakei keine Aufmerksamkeit erregt hätte, es hier aber bestimmt tat. Er war mit einer starken, ausgefransten Schnur zugebunden und mehrmals umwickelt, da das Schloss nicht mehr funktionierte. Der Koffer hatte auf ihrer Flucht über die Grenze einiges mitgemacht. Er diente den Kindern abwechselnd als Sitz und als Kopfpolster, und so sah er auch aus. „Sind Sie sicher, dass Ihre Schwester mit einem Prinzen von Thurn und Taxis vermählt ist?“, fragte der Kastellan Leopoldine Dobrzensky verwundert. „Absolut!“ gab sie ihm resolut zur Antwort. Die Art, wie sie es sagte, brachte den Kastellan davon ab, noch weitere Fragen zu stellen, und das Zeremoniell vollzog sich in aller Würde. Jan Dobrzensky sprach mit ernster Miene seinen Dank für das erwiesene Entgegenkommen aus und die Abordnung übernahm den altersschwachen Koffer mit ebenso ernsten Gesichtern, verbeugte sich und schritt zum nahen, hoch aufragenden Schloss, dessen Mauern mit Plakaten beklebt waren, auf denen eine kommunistische Losung eine bessere Zukunft verhieß. Sie blieben nicht lange in Regensburg. Nach einigen Wochen wurden sie in ein Lager bei Frankfurt gebracht, wo sie mit einer großen Portion Glück die sehnsüchtig erwarteten abgestempelten Dokumente für die Weiterreise erhielten. Mit einem Mal waren sie keine Heimatlosen mehr und konnten so zu Jans Tante Elisabeth, der Frau von Pedro d’Orléans-Bragança. Dort brachte Leopoldine das dritte Kind, ein Mädchen namens Helene, zur Welt. In der Normandie und später in Paris lebten sie ebenso wie Millionen andere. Morgens eilten sie zur Arbeit und am Nachmittag kehrten sie mit der Metro wieder nach Hause zurück. Jan Dobrzensky arbeitete in einem Chemielabor 125

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einer Zuckerfabrik, später in einer Glasfabrik und noch später als Farbmischer in einer Fabrik für Anstreichfarben. Leopoldine, der es danach verlangte, auch einen Beitrag zur Aufbesserung des Familienbudgets zu leisten, fand eine Stelle in einer Notariatskanzlei. Es vergingen drei weitere Jahre, bevor sie die Erlaubnis zur Reise über den Ozean erhielten und ein Schiff nach Kanada besteigen konnten, das den Flüchtlingen von einer internationalen Wohltätigkeitsorganisation zur Verfügung gestellt wurde. Nach Kanada kamen sie mit drei Dollar in der Tasche, dafür fehlten ihnen weder Unbeugsamkeit noch ein gehäuftes Maß an Entschlussfreudigkeit. Beides benötigten sie auch, denn an Arbeitsmöglichkeiten herrschte in Kanada nicht gerade ein Überangebot. Jan Maximilian verdiente sich seinen ersten Lohn in Kanada als Landarbeiter, eine Zeit lang war er sogar arbeitslos und so war er schlussendlich sogar froh, eine Stelle als Verkäufer für Grassamen und landwirtschaftliche Geräte antreten zu können. Das war eine Zeit, in der er von Farm zu Farm fahren, in Hotels übernachten und seine Abende alleine verbringen musste … Das wäre nicht so schlimm gewesen, denn im Sommer konnte er nach der Arbeit über die grünen Berghänge streifen. Schlimmer aber war es im Winter, als es früher dunkelte, draußen fror und die Abende lang und traurig waren. Nach und nach reifte in ihm die Entscheidung, jenes Werk zu vollenden, das sein Großvater Jan Wenzel II. begonnen hatte – eine Genealogie der Familie Dobrzensky. Es wäre keine Schwierigkeit gewesen, die einzelnen Pfarren aufzusuchen und die Angaben über die Geschichte einzelner Adelsgeschlechter zu beschaffen, solange er zuhause in Chotieborsch gewohnt hatte. Vielleicht war es gerade dieser außergewöhnliche Anspruch, dieser beinahe schon absurde Gedanke, der Jan Maximilian anzog: die fehlenden Angaben über sein Geschlecht im fernen Kanada zu ergänzen. Was für eine herrliche Aufgabe! Welch wunderbares Projekt! Er verfasste ein Schreiben an die Pfarre in Dobrzenicz, weihte den Herrn Pfarrer in seine Pläne ein und ersuchte ihn um die Zusendung aller zugänglichen archivarischen Aufzeichnungen über das Geschlecht der Dobrzenskys. Zur gleichen Zeit, am Beginn der 1960er-Jahre, vertiefte sich ein Beamter aus Königgrätz, ein gewisser Herr Meduna, Abend für Abend aus reiner Leidenschaft in seine historischen Studien. Er hatte sich vorgenommen, mehr über das Geschlecht der Dobrzenskys herauszufinden und wollte deshalb in Erfahrung bringen, ob es überhaupt noch Vertreter dieser Familie gab. Er wandte 126

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sich daher an den örtlichen Pfarrer, auf dessen Tisch auch gerade der Brief von Jan Maximilian lag. Der Pfarrer brachte die beiden zusammen, Meduna stellte den brieflichen Kontakt mit Dobrzensky her, wurde regelmäßiger Besucher von Archiven und schickte in pedantischer Regelmäßigkeit alles nach Kanada, was er gefunden hatte. Bis der Briefkontakt nach einigen Monaten plötzlich abriss. Dobrzensky verstand bald. Auch wenn Medunas Briefe ganz und gar unschuldig waren und nur Themen der Vergangenheit zum Inhalt hatten, erregten sie doch die Aufmerksamkeit des Staatlichen Sicherheitsdienstes. Meduna wurde zu einem Verhör vorgeladen, und nachdem ihn die ersten Unannehmlichkeiten ereilt hatten, vergaß er lieber, jemanden in Kanada zu kennen. Zu dieser Zeit hatte Dobrzensky bereits weitere Kontakte erschlossen. Einerseits schrieb er an das Staatliche Zentralarchiv in Prag, in dem die genealogische Sammlung seines Großvaters Jan Wenzel II. aufbewahrt wurde und die Mitarbeiter des Archivs sandten ihm bereitwillig alle angeforderten Angaben, welche die Dobrzenskys betrafen. Andererseits – wieder eine Verkettung glücklicher Umstände – schrieb er auf einer seiner Dienstreisen durch Kanada einem ehemaligen Schulkollegen in die Tschechoslowakei einen Brief, in dem er ihn zu irgendeinem Jubiläum beglückwünschte, und erwähnte auch, dass er ein Buch über die Geschichte seines Geschlechts schreibe. Der Schulkollege zeigte den Brief aus Kanada mit etwas Stolz seiner Enkelin, die an der philosophischen Fakultät Geschichte studierte, deren Freund, der ebenfalls Student war, gerade im Begriff war, eine Dissertation über die politischen und sozialen Verhältnisse im ostböhmischen Kreis vorzubereiten, wo die Dobrzenskys Jahrhunderte lang gelebt und gewirkt hatten. Der junge Mann fasste die ganze Angelegenheit als Inspiration auf und verstand sie als Aufforderung, Nachforschungen in den Archiven anzustellen. Weil er Historiker war, tat er das auch sehr fundiert und gelangte zu der Erkenntnis, dass die Unterlagen, auf die die Dobrzenskys und August Sedláček in ihren historischen Untersuchungen zurückgegriffen hatten, einige Fehler aufwiesen. Er korrigierte sie, fügte weitere Informationen hinzu und schickte sie nach Kanada. Von diesem Zeitpunkt an hatten die einsamen Abende, die Jan Maximilian in bedrückender Stimmung in Hotelzimmern verbrachte, ein Ende. Er nahm seine historische Arbeit überall hin mit und arbeitete systematisch daran. Im Jahr 1980 erschien die erste und sieben Jahre später die überarbeitete und ergänzte Ausgabe des Buches über die Dobrzenskys.

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4. Leopoldine Dobrzensky mit ihrem Sohn Jan und dessen Familie – Ehefrau Diana und die Kinder Leopoldine, Sophie und Jan Wenzel. Auf dem Bild fehlt die älteste Tochter Anna, die sich damals gerade in Paris aufhielt. Dafür ist Hund Plumo mit auf dem Bild, der sich nicht davon abbringen ließ, auch fotografiert zu werden.

Ein Jahr nach der Ankunft in Kanada gebar Leopoldine eine Tochter, Marguerite, und drei Jahre später erhielt die Familie Dobrzensky mit der Geburt des Sohnes Karel Kunata erneut Zuwachs. Obwohl Leopoldine nun für fünf Kinder sorgen musste, ging sie, sobald ihr das möglich war, einer Arbeit nach. Die Suche nach einem Arbeitsplatz wurde jedoch oftmals durch ihren Namen verkompliziert. „Eigentlich jedes Mal, wenn ich mich um eine neue Stelle beworben habe“, erinnerte sie sich bei unserem Treffen, „wurde er entstellt wiedergegeben und der Angestellte aus der Personalabteilung fügte meistens hinzu: ,Warum wollen Sie, Frau, Frau… , na sehen Sie, ich kann Ihren Namen nicht einmal aussprechen. Warum wollen Sie also nicht Ihren Namen ändern, damit er Englisch klingt?‘ Wann immer ich das hörte, wusste ich bereits, dass ich die Stelle nicht bekommen werde. Ich konnte nicht lang und breit erklären, dass eine Namensänderung nicht in Frage komme, dass das in unserem Fall einfach nicht möglich sei.“ 128

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Die Dobrzenskys von Dobrzenicz sind ein Geschlecht, das seit jeher Wert auf Mäßigkeit legt und Traditionen pflegt. Als Beweis dafür kann nicht nur das oben angeführte Beispiel gelten, sondern auch das Naheverhältnis der Mitglieder des Zweiges aus Chotieborsch zum Vornamen Jan. Und weil, wie es in der Familiengenealogie heißt, „es keiner der Dobrzenskys verabsäumt hat, zumindest einen männlichen Nachkommen zu hinterlassen“, existiert bereits seit acht Generationen in ununterbrochener Reihenfolge der Name Jan, eine Abfolge, die mit Jan Josef im Jahr 1721 ihren Anfang genommen hat und deren jüngster Repräsentant Jan Wenzel III. ist, der 1977 geboren wurde. Acht Jans in ununterbrochener Reihenfolge im Verlauf von rund 250 Jahren! Das Leben auf Achse begann Jan Maximilian Dobrzensky mit zunehmendem Alter mehr und mehr zu ermüden. Er belegte daher einen Computerkurs und wurde Programmierer. Damit war aber seine Liste der Anstellungen noch nicht abgeschlossen, er wurde auch noch Vorarbeiter in einer Fabrik für Netzstoffe und Vorhangarrangements. In der Zwischenzeit waren er und Leopoldine etwa zwanzigmal umgezogen und zu guter Letzt kauften sie sich eine kleine verlassene Farm nördlich von Toronto in den Haliburton Highlands, in einer von sanften Hügeln dominierten Landschaft mit Seen, die sie an das böhmisch-mährische Hochland erinnerte. Sie brachten die Farm wieder in Schwung und lebten zehn Jahre lang dort. Jan Maximilian, nun bereits im Ruhestand, arbeitete im Wald, fällte Bäume und machte Holz. In Kanada wurde es ihnen eigentlich nie wirklich leicht gemacht, aber kein Tag war so schwarz und tragisch wie jener im Jahr 1980, als ihr Sohn Karel Kunata starb. Er war 25 Jahre alt und kehrte mit einem Freund, der auch hinter dem Steuer des Unglückswagens saß, von einem Besuch bei den Eltern an die Universität zurück. Bei nebligem und regnerischem Wetter wurden sie von einem aus einer Seitenstraße kommenden Auto gerammt, das von einem halbbetrunkenen 16-jährigen Mädchen gelenkt wurde. Leopoldine verordnete sich als Medizin gegen die Schmerzen und gegen die Trauer Arbeit, eine Möglichkeit ergab sich bald. Eine ihrer Nachbarinnen prahlte einmal mit einem interessanten Fund – auf dem Dachboden hatte sie zwischen abgelegten alten Gegenständen ein verstaubtes kleines Notizbuch mit den Aufzeichnungen eines Landvermessers, eines gewissen Mr. Niren, aus den 1860er-Jahren gefunden. Das Notizbüchlein hatte ihm als Tagebuch gedient und Leopoldine war fasziniert davon. Es brachte sie auf die Idee, ein Buch zu 129

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schreiben, und sie begann sich intensiv für die Geschichte der ersten Farmer und Siedler – Schotten, Iren und Engländer – in Peterborough County zu interessieren, die sich an dem Ort abgespielt hatte, wo sie mit ihrer Familie lebte. Sie verbrachte im Zentralarchiv von Toronto viel Zeit mit dem Studium der in den Jahren 1870 bis 1880 erschienenen Ausgaben der lokalen Wochenzeitung Examiner und machte sich auf diese Weise mit den Details des Alltagslebens innerhalb eines Zeitraumes von zehn Jahren vertraut. Danach besuchte sie die Leute aus ihrer Umgebung – anhand der bei der Gemeindevertretung befindlichen Steuerbücher konnte sie feststellen, wo deren Vorfahren gewohnt hatten – und machte Aufzeichnungen über alles, was sie in Erfahrung bringen konnte. Die Geschichte wuchs zu einem 400-seitigen Buch an, das erste, das sie in ihrem Leben schrieb. Sie nannte es poetisch Fragments of a dream. Sie schrieb nicht über berühmte Heerführer, Politiker oder Künstler, sondern über gewöhnliche, einfache Leute, in deren Schicksale sie sich als Exilantin sehr gut einfühlen konnte. Diese 400 Seiten bedeuteten eine Menge Kleinarbeit, was genau das war, was sie wollte – eine herausfordernde Aufgabe bewältigen. Das Buch erschien in drei Auflagen, wurde auch von der Library of Congress in den Vereinigten Staaten und einigen kanadischen Universitäten angefordert. Fragments of a dream wurden zur Pflichtlektüre für den Kurs Canadian Studies an der Trent University in Peterborough, Ontario. Beflügelt vom Erfolg machte sie sich an die Arbeit für ein neues Buch, in dem sie das Schicksal italienischer Einwanderer, Holzfäller in Haliburton und Katholiken in einem protestantischen Umfeld, beschrieb. Als sie bereits im Ruhestand war, widmete sie sich einer neuen interessanten Tätigkeit – sie unterrichtete Pensionisten in Sommerkursen. Diese fanden immer in einer Schule oder in Ferienlagern statt und im Grunde handelte es sich um eine Einrichtung mit allem Drum und Dran, einschließlich der Unterkunft und Verpflegung für ältere Leute, die das Verlangen hatten, sich weiterzubilden. Eines Tages schüttete die Direktorin eines Heims für unheilbar Kranke ihr Herz bei ihr darüber aus, dass sie keine Freiwilligen finde, die gelegentlich abends kommen und Zeit mit den Kranken verbringen. Ob sie denn nicht vielleicht Interesse habe ... Sie nickte zustimmend. „Ich kann zweimal wöchentlich zu Ihnen kommen, wenn Ihnen das recht ist.“ Gerade in diesen Tagen wurde sie in den Malteserorden aufgenommen und wollte sich die Mitgliedschaft durch karitative Tätigkeiten verdienen.

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5. Ein Computer ist für Leopoldine Dobrzensky ein Alltagsgegenstand. Hier gemeinsam mit Tochter Helene.

Sechs Jahre lang ging sie regelmäßig dorthin, als sich die Direktorin erneut an sie wandte. „In einem Obdachlosenheim gibt es viele einsame Menschen, die im Sterben liegen. Wir würden jemanden suchen, der sie während ihrer letzten Tagen begleitet ...“ Erneut stimmte sie zu, war dabei aber nicht alleine. Achtzehn Freiwillige verrichteten den unbezahlten Dienst, Tag und Nacht, der Dienstplan wurde eine Woche im Voraus erstellt. Zu den sechs vergangenen Jahren fügte Leopoldine zwei weitere hinzu. „Ich muss zugeben, dass es für mich anfangs schrecklich war, die letzten Stunden im Leben eines Menschen Sekunde für Sekunde mitzuerleben, sich zu bemühen, Mut zuzusprechen, sie bis an die Schwelle des Todes zu begleiten“, erinnerte sie sich. „Es hat immer einige Tage gedauert, bis ich meine Fassung wieder gefunden habe. In dem Obdachlosenheim waren mehrheitlich arme Menschen, die in ihrem Leben schwer gearbeitet hatten. Für gewöhnlich war deren Sterben lang und beschwerlich. Vielleicht klingt das eigenartig, aber da scheint es einen Zusammenhang zu geben. Es gibt aber auch einige, an die ich mich gerne erinnere, wie etwa an eine Engländerin, die 104 Jahre alt war, als sie von ihrem 70-jährigen Kind ins Heim gebracht wurde. Gleich am Eingang ließ sie wissen: ,Junge Frau! Bis letzte Woche habe ich alleine aufgeräumt und 131

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gekocht. Jetzt fangen die Schwestern damit an, Pillen in mich hineinzustopfen und ich habe das Gefühl, dass es schlecht ausgehen wird.‘ Sie war in England aufgewachsen und konnte sich noch an Queen Victoria erinnern. ,Ich habe nichts vergessen, ich habe immer noch ein gutes Gedächtnis‘, sagte sie stolz. ,Freilich, damals war ich noch ein kleines Mädchen. Die Königin fuhr an mir aus Anlass ihres goldenen Thronjubiläums in einer Kutsche vorüber. So eine verschrumpelte Alte mit faltigem Gesicht. Ein Mann war so nett und hob mich auf seine Schultern, damit ich besser sehen konnte. Und ich war auch auf ihrer Beerdigung, meine Mutter hatte mir deswegen ein neues Kleid genäht. Das war ein herrliches Begräbnis, meine Herren, so richtig schön traurig.‘“ Im Jahr 1988 wollten die Dobrzenskys nach 40 Jahren ihre alte Heimat besuchen. Dazu benötigten sie freilich Visa, für die die tschechoslowakischen Behörden einen ansehnlichen Geldbetrag verlangten. Darüber hinaus stellten sie die Bedingung, dass die Dobrzenskys auf die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft hätten verzichten müssen. Eine derartige Erpressung lehnten sie ab und fuhren lieber nirgendwo hin. Ein Jahr später hielt die Dobrzenskys aber nichts davon ab, nach Hause zurückzukehren – aber nicht nur für kurze Zeit, sondern auf Dauer. „Das Schloss in Chotieborsch“, schrieb Leopoldine Dobrzensky etwas später, im Jahr 1997, anlässlich einer Vernissage der Ausstellung Rückkehr in die Vergangenheit, die ebendort stattfand, „war nie ein prunkvoller Magnatensitz gewesen, sondern immer ein behaglicher Wohnort einer ländlich geprägten Familie, deren Besitzer – die eng mit der kulturellen Tradition und der Geschichte ihrer Heimat verbunden waren – es erbauten und von Generation zu Generation verbesserten.“ Die vergangenen Jahre unter staatlicher Verwaltung verliefen für das Schloss im Großen und Ganzen ohne größere Erschütterungen, wenngleich einer ihrer wertvollsten Teile, die Kapelle zur Heiligen Dreifaltigkeit, den heftigsten Stürmen ausgesetzt war. In den 1950er-Jahren wollte die staatliche Gutsverwaltung, die damals die Aufsicht über das Schloss führte, daraus einen Abfüllraum für Diesel und Öl machen, und erst als man merkte, dass man mit einem LKW nur schlecht hineinfahren konnte, kam man von diesem Vorhaben wieder ab. Anstelle dessen dachte die Armee darüber nach, das Schloss zu kaufen. In der Kapelle hätte dann eine intime Bar eingerichtet werden sollen. Damals griff 132

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6. Die Küche von Schloss Chotieborsch im Jahr 1900 … wo sind die Zeiten …?

möglicherweise das Schicksal ein – der General, der derartig freizügige Pläne hatte, erlitt eine Woche vor der Unterzeichnung des Kaufvertrages einen Schlaganfall und die ganze Aktion wurde abgeblasen. In den 1960er-Jahren bemühte sich wieder jemand aus den einflussreichen Kreisen darum, das Schloss in eine Fabrik umzubauen und die Kapelle abzureißen. Die Bürger von Chotieborsch waren bereits mit ihrer Geduld am Ende und versuchten, das Schlossgebäude und den umliegenden wertvollen Park zu bewahren. Der Verkaufsprozess wurde abgebrochen und im Schloss wurden das Stadtmuseum, das Bezirksarchiv und eine Sonderschule untergebracht. Als die Dobrzenskys aus Kanada zurückkehrten, wohnten sie während der ersten sechs Monate in Untermiete mit nur einem Zimmer. Schlafzimmer, Küche, Wohnzimmer, alles in einem, das Trockenklosett befand sich draußen. Die Leute in ihrem Umfeld konnten das nicht begreifen. „Der alte Adel kehrte aus dem reichen Ausland zurück“, sagten sie, „aber sie haben kein Auto, kein Dienstmädchen und sehen aus wie normale Leute.“ Erst nach der Verabschiedung des Restitutionsgesetzes richteten sie für sich im Erdgeschoss des Schlosses anstelle der alten Küche und des Esszimmers eine Wohnung ein. Besser gesagt: Sie bauten die Räumlichkeiten von Grund auf neu auf, sodass man da über133

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haupt wohnen konnte, denn mehr als die nackten Wände waren nicht übrig geblieben. Von der ursprünglichen Schlosseinrichtung und von den umfangreichen Sammlungen des Schlosses in Chotieborsch, die auch Eingang in die Fachliteratur gefunden hatte, wurde ihnen nämlich wenig zurückerstattet. Einige beschädigte Bilder aus der Familiengalerie und einige robuste antike Möbelstücke, die von Holzwürmern beschädigt waren und von denen die ursprünglichen Metallbeschläge abmontiert worden waren. Porzellan, Teppiche und sogar die Geweihe gingen nach der Verstaatlichung des Schlosses verloren und lösten sich sprichwörtlich in Luft auf. Allenfalls gelangten sie in die Evidenz der staatlichen oder städtischen Institutionen, die den Besitz gegenüber den Dobrzenskys in Abrede stellten oder es ablehnten, etwas herauszugeben. Dennoch ist es ihnen nach und nach gelungen, die Räume im historischen Stil einzurichten und Möbel wie Bilder sorgfältig restaurieren zu lassen. „Wir waren Realisten und wussten, worauf wir uns einlassen“, sagte Leopoldine Dobrzensky, als ich neben ihr an einem wunderschönen alten Tisch in der Mitte des Zimmers Platz genommen hatte, das wie ein Bild aus der Werkstatt eines alten holländischen Meisters wirkte. Sie kleidete sich mit einer gewissen Reserviertheit, trug ein dunkles Wollkostüm, um den Hals eine Kette, das Haar kurz geschnitten, in ihrem ovalen Gesicht funkelten ungemein ausdrucksstarke, dunkle Augen. „Es hat den Anschein, als ob uns hier niemand will, aber wir sind die Erben jener Vorfahren, die den böhmischen Staat geformt haben. Somit war es unsere Pflicht zurückzukehren. Vermutlich kamen die Adeligen aus diesem Grund wieder ins Land, wenn sie es konnten. Im Gegensatz dazu sind die Mehrzahl der Ärzte, Ingenieure, Wissenschafter und Künstler im Ausland geblieben. Dabei ist man dem Adel in diesem Land immer sehr feindselig begegnet und hat fast nur hinter vorgehaltener Hand über ihn gesprochen. Vor einiger Zeit habe ich mit einem jungen Fremdenführer eine Gruppe von Besuchern im Museum, einen Stock über uns, geführt. Er erklärte, dass man im Winter den Kachelofen vom Gang aus geheizt hat. Einer der Besucher konnte die Bemerkung nicht unterlassen, dass er das verstehen würde, denn die Gegenwart der Dienerschaft sollte die Herrschaft nicht stören. Ich war entrüstet. ,Sie sind wohl verrückt geworden, mein Herr‘, sagte ich zu ihm. ,Auf dem Schloss lebte man wie in einer großen Gemeinschaft zusammen, um nicht zu sagen wie in einer großen Familie.‘ Alle lebten schließlich jahrelang unter einem Dach. 134

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Als mir in meiner Jugend ein Kammermädchen vorhielt: ,Sie, Prinzessin, sind überheblich. Sie sitzen zu Hause und lesen, Sie sind überhaupt nicht volksnah, treffen sich nicht mit Gleichaltrigen und unterhalten sich nicht mit ihnen.‘ Daraufhin habe ich damit begonnen, mich mit gleichaltrigen 14-jährigen Mädchen zu treffen und siehe da – augenblicklich wurde getuschelt, dass ich mich als Adelige würdevoller benehmen sollte, mich nicht mit jedem treffen und mir meine Gesellschaft aussuchen sollte.“ Ihre Erzählungen waren sehr fesselnd. Sie war sehr geradlinig, ohne irgendeine Affektiertheit und Künstelei. Sie kam rasch zum Punkt und vermochte es, um sich herum eine vertraute Atmosphäre zu schaffen. Nach all dem Ungemach, das sie mit ihrem Mann durchlebt hatte, hatte sie sich doch eine große Portion Energie erhalten und vermittelte den Eindruck, auf liebenswerte Weise über den Dingen zu stehen. „Chotieborsch ist keine große Stadt, die Leute kennen einander sehr gut, kaum jemand bleibt anonym. Wie haben sich die Menschen nach Ihrer Rückkehr Ihnen gegenüber verhalten?“, fragte ich sie. „Soweit es das betrifft, haben sich jene, die uns von früher her kannten, augenblicklich bei uns gemeldet, haben uns ihre Hilfe angeboten, haben sich wirklich zuvorkommend verhalten. Bei anderen aber war Misstrauen zu spüren, manchmal auch Angst. Jemand von der staatlichen Gutsverwaltung wollte die Liegenschaften privatisieren und in eine eigene Aktiengesellschaft umwandeln, die bis zu diesem Zeitpunkt dem Staat gehört hatten und eigentlich uns hätten zurückgegeben werden sollen. Dieser eine und noch einige weitere an seiner Seite setzten sich begreiflicherweise gegen die Restitution zur Wehr. Am Anfang war es für mich, das muss ich zugeben, ziemlich schwierig, durch die Stadt zu gehen. Einige Leute haben sich unversehens abgewandt oder den Blick gesenkt, als sie uns sahen. Das uns entgegengebrachte Misstrauen dauerte allerdings nicht lange und wurde von einer weiteren Phase der Beziehungen abgelöst – mit einem Mal bekamen wir anonyme Briefe zugesandt, im Ganzen etwa 60. Nicht, dass uns jemand bedroht hätte, diese Briefe haben uns nicht persönlich betroffen. In ihnen beschwerte sich der eine über den anderen. Bald aber merkten die Leute, dass mein Mann die anonymen Briefe einfach in den Papierkorb warf, und so ließen sie wieder davon ab. Das muss einen gar nicht verwundern, denn früher gab es in jeder Stadt oder in jedem Dorf die Institution des Ombudsmannes. Dieses Amt wurde vom Pfarrer ausgeübt, an den sich die Pfarrmitglieder wandten, wenn es um Fragen des Gewissens ging, und an 135

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die Frau Gräfin aus dem Schloss, gegebenenfalls auch an die Frau Bürgermeisterin, wenn jemand private Probleme hatte. In der Ehe, mit den Kindern, mit den Nachbarn. Aus diesem Grund begannen die Leute auch, sich an uns zu wenden. Manches Mal handelte es sich um heikle Angelegenheiten, ein anderes Mal um Kleinigkeiten. Einmal etwa um einen Streit, in dem es um Hühner ging. Eine Frau hatte sich darüber beschwert. ,Mein Mann‘, behauptete sie, ,leidet an Asthma. Er kann nicht atmen, weil er auf Hühner allergisch ist.‘ Ob wir nicht veranlassen könnten, dass sie der Nachbar entferne. Wir machten den Einwand geltend, dass es den Leuten in Chotieborsch immer schon gestattet war, Geflügel zu halten, und wir es deshalb nicht untersagen könnten. Nun, meinem Mann gelang es, den Streit beizulegen. Er brachte es zuwege, dass die Leute ein Einsehen hatten und ging dabei unparteiisch vor. Nur als wir dorthin gingen, stellten wir fest, dass der betreffende Asthmatiker selbst einen Haufen Hühner besaß, selbstverständlich abseits, hinter seinem Haus, wo sie nicht zu sehen waren. Die Hühner des Nachbarn aber, auf die er angeblich allergisch war, störten ihn. Ein Journalist stellte mir einmal eine Frage“, sagte sie nach einer Pause, in der sie nebenan in der Küche Kaffee zubereitete, „ob ich nach 42 Jahren im Exil nicht mit einem Gefühl der Angst zurückgekehrt wäre, wie uns die Leute hier aufnehmen würden. Ich habe ihm damals geantwortet: ,Aber woher denn, ich bin doch nach Hause zurückgekehrt. Das kann mir schließlich niemand nehmen, dass ich hier geboren wurde und aufgewachsen bin, dass ich hier geheiratet habe. Ich denke, dass ich mich überall schnell anpassen und einleben kann, aber zu Hause bin ich nur hier.‘ Wissen Sie, Kanada war für uns Exilanten, auch wenn wir es nicht leicht hatten, ein liebenswertes und zuvorkommendes Land. Wir haben dort fünf Kinder großgezogen, ich habe zwei Bücher herausgegeben und an einer Schule Sommerkurse für Pensionisten abgehalten. Wir sind herumgereist, wohin wir wollten. Wir hatten einen Freundeskreis und die Menschen verhielten sich uns gegenüber freundlich. Wir lebten nicht auf großem Fuß, aber es ging uns gut. Das alles ist wahr. Freilich, wenn mich jemand fragte, woher ich komme, und ich darauf antwortete, dass ich aus den Haliburton Highlands sei, wollte er wissen: ,Ja gut, aber woher kommen Sie wirklich? Aus Deutschland? Aus Irland? Aus Polen?‘ Das hat die Leute interessiert. In diesen Augenblicken habe ich gespürt, dass ich für sie eine Fremde bin. Die erste Generation der Exilanten bleibt immer fremd. Überall auf der Welt.“ 136

Dobrzensky 6. Jan Maximilian ­Dobrzensky zeigt auf dem Sokol-Kongress in Prag eine akrobatische Einlage, eine ­Dzhigitovka.

Etwa eine halbe Stunde nach meinem Eintreffen kam Jan Maximilian Dobrzensky ins Zimmer, der zu dieser Zeit bereits schwer krank war. Er schien wie in sich gekehrt zu sein, seine Augen hatten die frühere Lebendigkeit verloren, aber das Gesicht hatte sich seine Feinheit und Liebenswürdigkeit erhalten. Er schien mir ruhig und gelassen zu sein. Beim Gehen stützte er sich auf einen Stock und besann sich bei jedem Schritt. „Heute könnte ich wohl kaum mehr eine Dzhigitovka machen“, sagte er und erzählte, wie er gemeinsam mit Franz Schwarzenberg, dessen Bruder Karl und mit Jan von Thurn und Taxis beim 8. Dragonerregiment in Pardubitz gedient hatte, wie sie den Großen Pardubitzer Parcours bewältigt haben und wie er bald darauf beim Sokol-Kongress eine akrobatische Einlage auf einem galoppierenden Pferd, eben eine Dzhigitovka, machte, für die er mit einer Ehrenmedaille ausgezeichnet wurde. „Nein, keine Dzhigitovka mehr“, wiederholte er mit gesteigertem schwarzem Humor in der Stimme. Der Sport lag ihm im Blut – er war der Mitbegründer des Fußballteams auf dem Schloss, er stand an der Wiege des Eishockeysports in Chotieborsch und zählte zu den besten Reitern in der Armee. Er zeigte auch eine gehörige Portion persönlichen Mutes – während der Okkupation durch 137

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die Nationalsozialisten lehnte er es ab, auf das Eis zu gehen, weil man vor jedem Spiel die rechte Hand zu heben und mit ‚Heil Hitler‘ zu grüßen hatte. Dann spielte er lieber nicht. Ende des Jahres 1995, kurz nach meinem nächsten Besuch, brach er sich auch den Oberschenkelhals des anderen Beins und wurde bettlägerig. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich daraufhin rasch und im Februar des darauffolgenden Jahres verstarb er in seinem 85. Lebensjahr. Am Tag seines Begräbnisses fror es Stein und Bein, überall lag Schnee, ein Wetter, bei dem jeder danach trachtet, so schnell wie möglich ins Warme zu kommen, darüber hinaus war es ein Arbeitstag. Dennoch kamen an die 1.000 Leute, die ihm die letzte Ehre erweisen wollten, einige davon hatten sich wegen des Begräbnisses sogar freigenommen. „Sagen Sie mir, warum sind all diese Menschen wohl gekommen?“, fragte mich Leopoldine Dobrzensky, so als ob sie sich vergewissern wollte, dass die Leute tatsächlich aus Gründen der Pietät und nicht etwa aus reiner Neugierde gekommen waren. „Das hatte ich nicht erwartet. Ursprünglich wollte ich, dass die Messe nur für die allernächsten Angehörigen in einer kleinen Kapelle gefeiert wird, bis mich Bischof Lobkowicz dazu überredete, sie in die Kirche zu verlegen. Wirklich, es hat mich überrascht, besonders als so viele auch noch aufopfernd mit auf den Friedhof kamen. Ich war ihnen sehr dankbar.“ Die Zeitungen schrieben, dass einer der Kavaliere des böhmischen Adels von uns gegangen sei. Er war in der Tat ein Kavalier, der seiner Regimentsuniform gegenüber einem Frack oder einem Smoking den Vorzug gab. Das war für ihn die ruhmvollste Kleidung, sie war für ihn ein Symbol für Einsatz und Pflichterfüllung gegenüber dem Staat, gegenüber der Nation. Er trug sie, als er vor der Unterzeichnung des Münchner Abkommens mit der Waffe in der Hand bereit war, die Grenze zu verteidigen, als er sich am Ende des Zweiten Weltkrieges am Kampf um ein Munitionsdepot beteiligte und Soldaten der Wehrmacht entwaffnete. Er trug sie auch als Zeichen von Treue und Beständigkeit, als er vor den Traualtar trat. Nach dem Tod ihres Mannes lebt Leopoldine Dobrzensky weiter alleine im Schloss. Aber wirklich alleine pflegt sie selten zu sein. Zum einen ist sie sehr unternehmungslustig, und solche Menschen leiden für gewöhnlich nicht unter der Einsamkeit, zum anderen erhält sie Besuch von ihren Kindern. Aus Paris kommt ihre Tochter Helene, die bei einer internationalen Gesellschaft von Filmproduzenten arbeitet, aus Kanada kommen Marguerite, von Beruf Sozio138

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login, und Zdislava, Analytikerin für Computersysteme, die jeweils die Hälfte ihrer Zeit in Toronto und im böhmisch-mährischen Hochland verbringt. Und dann ist da noch Jan Josef, der siebte Jan in ununterbrochener Reihenfolge der Familie Dobrzensky, der sie am häufigsten besucht. Dessen Weg zurück nach Chotieborsch führte über Umwege. Im Alter von fünf Jahren kam er mit seinen Eltern nach Kanada, besuchte eine Mittelschule und trat dann in ein Unternehmen ein. Er hatte sich entschlossen zu arbeiten, studieren wollte er nicht. Mit 20 Jahren wurde er für ein paar Wochen nach Frankreich eingeladen, wo er sich daraufhin zwischenzeitlich niederließ. Er ist ein Selfmademan, verkauft, handelt, veranlasst, er ist gerne dabei, wenn etwas Neues entsteht. Einige Zeit lang war er für eine belgische Glasfirma tätig und als diese die Aktienmehrheit einer Fabrik im nordböhmischen Teplitz erwarb, ging er als deren Vertreter nach Tschechien. Ich habe ihn einige Male angerufen, bevor es mir gelungen ist, ihn zu erreichen. Er war nicht wirklich ein Workaholic, aber viel fehlte nicht dazu. Er erklärte mir, dass er im folgenden Monat zwei Dienstreisen nach Frankreich unternehmen werde, eine weitere nach Belgien sowie eine in die Vereinigten Staaten, wenngleich er alle 14 Tage – so erwähnte er vielversprechend – über das Wochenende nach Chotieborsch fahre. Am Samstagvormittag sei er im Büro zu erreichen und am Abend im Hotel, wo er mit seinen Mitarbeitern ein Bier trinke. Schlussendlich haben wir einander kurz im Unternehmen getroffen, in dem er arbeitet, und später für einige Stunden im Schloss von Chotieborsch. Sein Gesicht und seine Gestalt gleichen der eines Gourmets, eine hohe, glatte Stirn, hinter der das Haar schon gelichtet war, ein doppelter Feinschmeckerbart, ein freundlicher Mund, darüber ein schöner, ungestümer Schnurrbart und graublaue Augen, die Behaglichkeit und Ruhe ausstrahlten. An einem warmen Sommernachmittag saßen wir im Schlosspark, er im Gras, bequem an einen Baum gelehnt, ich daneben auf einer Bank. Es war ein angenehmer, sorgloser Moment, bei dem sich das Gespräch leichter führen ließ als sonst. Als ich ihn aber nach seiner stärksten Erinnerung aus seiner Kindheit fragte, aus dieser unruhigen Zeit, als er mit den Eltern über die Grenze flüchtete, mit ihnen in ein Flüchtlingslager kam und weitere drei Jahre in Frankreich in einer neuen, ihm unbekannten Umgebung lebte, gab er sich betreten. „Sie werden möglicherweise darüber lachen, was ich jetzt sage“, antwortete er. „Ich war damals etwa vier Jahre alt und wir lebten in Eu bei der Schwester meines Großvaters, Elisabeth d’Orléans-Bragança. Ich erinnere mich daran, wie ich im 139

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Garten gespielt habe, zum Himmel aufblickte und mit einem Mal sah ich einen riesigen Schwarm von Krähen. Sie flogen an der Sonne vorüber, in einem Augenblick verdeckten sie diese mit ihren Flügeln zur Gänze. Es hatte den Anschein, als ob sie auf die Sonne zufliegen würden, so als ob sie sie attackieren wollten und auf sie in feindseliger Absicht mit ihren Schnäbeln einhacken würden. Kurz: Ich bekam es mit der Angst zu tun. ,Sie wollen die Sonne aufessen, Mama!‘, rief ich verzweifelt. ,Sieh dir diese Vögel an, sie wollen die Sonne aufessen!‘ Ich hatte wirklich große Angst, lief zu ihr hin und verbarg mein Gesicht in ihren Armen.“ Er führte mich über den viereckigen Vorhof des Schlosses, der durch seine Geschlossenheit ein wenig beengt wirkte, in die Kapelle zur Heiligen Dreifaltigkeit. Nach alldem, was ich über dieses 300 Jahre alte, steinerne Denkmal gehört hatte, wünschte ich mir, sie zu sehen. Er sprach über die Kapelle mit besonderer Ehrerbietung, weil es den Dobrzenskys gelungen war, ihr das ursprüngliche Aus­sehen wiederzuverleihen. „Wir konnten zurückkehren und haben das Schloss zurückerhalten, freilich, das ist sehr angenehm“, räumte er ein, „das ist so etwas wie eine Lebenswurzel. Indem man aber Besitz zurückerhält, übernimmt man dafür begreiflicherweise auch Verantwortung und man muss ihn auch verwalten. Hier endet die Sentimentalität und das Geschäft beginnt, die Sorgen. Sie tragen Verantwortung für ihre Angestellten, der Erfolg muss sichtbar sein. Ich will mich in die neue Umgebung integrieren und möchte mich nicht wie ein Elefant im Porzellanladen verhalten. Ich fühle eine Verantwortung für diesen Ort, an dem wir leben, und möchte etwas zum Aufschwung der Region beitragen. Wir möchten ein Museum einrichten, ein Naturschutzgebiet schaffen, mit der Stadt zusammenarbeiten, was nicht immer einfach ist. Nicht, dass die Menschen ablehnend wären, sie sind nur an einige Dinge nicht gewöhnt. Wir leben in einer jungen Demokratie, organisatorische Abläufe lassen sich rasch erlernen. Die Änderung des moralischen Verhaltens, von Gewohnheiten, das dauert länger. Daraus resultieren die einen oder anderen Schwierigkeiten. Wenn wir aber wirtschaftlich nach oben kommen wollen, müssen wir uns auch auf ein höheres ethisches Niveau begeben, es geht nur miteinander. Es ist meine Intention, dass das Land prosperiert. Ich würde mir wünschen, dass meine Familie hier weitere 1.000 Jahre bleiben kann. Vielleicht klinge ich jetzt allzu optimistisch …, mai je suis bien dans ma peau. Was meine Kinder dazu sagen, die in Frankreich geboren und aufgewachsen sind? Meine Tochter Anna 140

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interessiert sich mehr und mehr für Kanada, mein Sohn Jan für die Tschechische Republik. Wie es sich bei Leopoldine und Sophie verhält, wird sich erst zeigen. Ich möchte ihnen nicht sagen, dass sie nach Chotieborsch zurückkehren müssen, das wäre nicht gut. Ich möchte das gerne ohne Bulldozer-Effekt zuwege bringen. Wenn Sie verstehen, was ich meine? Ohne Zwang. Ich möchte es aber auch nicht dem Zufall überlassen, meine Maßnahmen müssen subtil sein, eine gelenkte Freiwilligkeit. Es ist mein Problem, das Staffelholz an die nächste Generation weiterzugeben, und auch meine Mutter fragt oft danach. Sie fürchtet, dass wir von unserem bisherigen Wohnsitz nicht weggehen. Daran würde sie sehr schwer zu tragen haben.“ Er ist zwar ein Bonvivant mit einem heroischen Bart und mit oftmals lachenden Augen, dennoch ist deutlich zu sehen, dass hinter seinem Lächeln eine tiefe Nachdenklichkeit verborgen liegt. „Der böhmische Adel?“, überlegte er auf meine Frage, wie er dessen Zukunft einschätze. „Wissen Sie, der Absicht, dass ab dem Jahr 1948 so viele wie möglich von uns das Land verließen, lag ein Plan zugrunde. Wir wurden von hier im wahrsten Sinn des Wortes abgeschoben. Aber ebenso wie es nicht möglich ist, die Zeit des Kommunismus aus der historischen Erinnerung zu tilgen, so ist es auch nicht möglich, jene Zeit vergessen zu machen, als es hier den Adel gab. Ich gehe etwa durch Prag und vorbei am Palais Lobkowicz, dem Palais Dobrzensky und weiter zum Palais Kinsky. Das alles sind meine Vorfahren. Die Zukunft? Der Adel kann heute zwei Dinge tun – er kann zu seinem historischen Kulturverständnis zurückkehren und mithelfen, die Monarchie wiederzuerrichten, oder er kann sich als Herr Dvořák, als Herr Novotný oder Herr XY beim Aufbau dieser Republik einbringen.“ Jan Dobrzensky gehört zu jenen gesellschaftlichen Vertretern am Ende des 20. und am Beginn des 21. Jahrhunderts, denen klar geworden ist, dass man Grenzen nicht mit Gewalt verändert, sondern unter dem Einfluss von Kultur, Sprache und Wirtschaft. Er lebt in einer Zeit, in der es Migration gibt und in der sich bereits die Umrisse einer neuen gesellschaftlichen Schichtung abzeichnen … In der Zwischenzeit bleibt er der Tradition verhaftet und erzieht seine vier Kinder, respektiert die eingelebten Regeln und Ordnungen, weil er sich der möglichen Gefahren sehr gut bewusst ist. Er weiß, dass, sobald die Regeln aufgehoben und die Ordnung der eingelebten Grundsätze und Normen durchbrochen würden, das Chaos ausbräche, an dessen Ende der langwierige Weg der Menschheit wieder von vorne begänne. 141

1. Vladimír Troskov

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Troskov Begründer des Postwesens in den habsburgischen Ländern – Schicksale der Nachfahren des böhmischen Zweiges des Fürstengeschlechts Thurn und Taxis – Ein ungewöhnliches Gesuch von Prinz Rudolf an den Kaiser – Kommandant des tschechoslowakischen Infanterieregiments in Munkatsch – Wiedersehen durch ein Inserat – Unter den Trümmern eines bombardierten Hauses – „Ich wollte eine persönliche Schuld begleichen“

Auf seinen Namen war er außerordentlich stolz, aber erst nach dem Fall des kommunistischen Regimes entschloss er sich, den direkten Zusammenhang mit seinen berühmten adeligen Vorfahren preiszugeben. Bis zu diesem Zeitpunkt hielt er diesen Umstand geheim, denn er wollte sich keinen unnötigen Schwierigkeiten aussetzen. Bis er dann schließlich im Frühjahr 1990 seinem Bank­safe Mappen mit alten Dokumenten entnahm und damit ins Nationalmuseum ging. In der Eingangshalle wandte er sich nach rechts zu einem Gang, gelangte über eine enge Wendeltreppe eine Etage tiefer und trat in die Abteilung für Schlossbibliotheken ein. Unsicher sah er sich um, als ob er sich für sein Kommen entschuldigen würde, und sagte, dass er Vladimír Troskov heiße. Sein Name würde dem Großteil der Menschen nichts sagen, aber unter den anwesenden Fachleuten rief er nicht wenig Verwunderung hervor. Und auch Misstrauen, denn sie hatten genügend Erfahrungen mit Leuten gemacht, die sich als Nachfahren bekannter adeliger Geschlechter ausgaben. Sie bestürmten ihn mit unzähligen Fragen, einfach deshalb, weil Tatsachen Tatsachen sind und weil die Genealogen ohne sie nicht auskommen. In diesem Fall handelte es sich darüber hinaus um ein interessantes historisches Rätsel. Lange Zeit hatte man nämlich angenommen, dass die Familie Troskov, der böhmische Zweig des Fürstengeschlechts von Thurn und Taxis, ausgestorben sei und dass es keine Nachfahren gebe. Wenn der Mann vor ihnen wirklich Troskov hieß, dann müsste er ein direkter Nachfahre von Prinz Rudolf sein, der nicht nur Mitglied eines der bekanntesten Geschlechter des europäischen Hochadels, sondern auch eine bedeutende Persönlichkeit des politischen und kulturellen Leben Böhmens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war. 143

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Am Ende seines Lebens entschloss sich Prinz Rudolf zu einem ziemlich ungewöhnlichen Schritt. Er verzichtete auf den Prinzentitel und führte mit Zustimmung des Kaisers fortan den bescheidenen Titel Freiherr von Troskov. Über ihn und seine Frau Jenny war beinahe alles bekannt, weitaus weniger Informationen liegen über seine Nachfahren vor. Er hatte fünf Kinder und der Älteste, Johann, der einzige männliche Nachfahre, ging nach Russland, wo er in die zaristische Armee eintrat und in Transkaukasien und im Fernen Osten kämpfte. In der Armee seiner kaiserlichen Majestät, des Zaren Nikolaus II., dienten auch fünf seiner Söhne, die dem auf den Zaren abgelegten Eid auch während der bolschewistischen Revolution treu blieben und auf der Seite der Weißen Garden kämpften. An diesem Punkt scheint sich die Spur der Familie Troskov in der Geschichte zu verlieren. Das Schicksal von den vier der Söhne blieb ungewiss, ohne dass jemand Auskunft über Ort und Zeit ihres möglichen Ablebens geben konnte, und der fünfte wurde so schwer verwundet, dass die Ärzte nicht an seine Genesung glaubten. Nach dem Ersten Weltkrieg existierten im Grunde keine Nachrichten, die mit dem Namen Troskov in Verbindung standen. Bei der Mobilmachung im Jahr 1938 wurde zwar in den Zeitungen erwähnt, dass sich eine Gruppe von in Bulgarien lebenden Tschechoslowaken unter der Führung eines gewissen Konstantin Troskov in Marsch gesetzt hatte, um dem bedrängten Vaterland zu Hilfe zu eilen, aber für weitere 50 Jahre schien es so, als wäre der Name wie vom Erdboden verschluckt. Und auf einmal tauchte jemand auf, der behauptete, dass er ein direkter Nachfahre von Prinz Rudolf sei. In seiner Wohnung fand sich daher ein ganzes Kollegium von Fachleuten und Fotografen ein. Sie verifizierten dort den Taufschein des Prinzen von Thurn und Taxis, das kaiserliche Diplom mit der Namensänderung, die Echtheit des Siegels, die Anerkennung des Freiherrentitels seines Sohnes Johann durch die russische Regierung, ein Wappenbuch und sahen auch einige aufgrund des Alters vergilbte Fotografien durch. Etwas später rief Vladimír Troskov einen Filmregisseur an, der über den böhmischen Adel einen Film drehte. Er interessierte sich dafür, was der Nachfahre eines berühmten Geschlechts, dessen Primogenitur in einem prachtvollen Schloss in Regensburg residierte, nach dem November 1989 zurückerstattet erhielt. Als er merkte, dass vom Erbe der Vorfahren nur ein Grab in Altbunzlau geblieben war, verlor er das Interesse an den Filmaufnahmen. Er ahnte nicht, dass die Lebensschicksale dreier Generationen der Familie Troskov genug Stoff für eine ganze Serie voller Abenteuer und Spannung bieten würde. Im Übrigen ist die ganze Geschichte der Familie Thurn und Taxis außergewöhnlich interessant, unter 144

Troskov 2. Dr. jur. Rudolf Prinz von Thurn und Taxis. Im Jahr 1894 legte er überraschend den berühmten Namen und den Prinzen­ titel ab und führte fortan den Namen Freiherr von Troskov.

3. Urkunde Kaiser Franz Josephs I., in welcher der Namenswechsel bestätigt wird.

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anderem schon alleine deshalb, weil nämlich die Vorfahren von Prinz Rudolf Ruhm und Reichtum nicht auf dem Schlachtfeld geerntet oder als Höflinge erworben haben, sondern weil sie die Begründer des Postwesens waren. Das Geschlecht stammt aus dem italienischen Bergamo und die erste Erwähnung datiert aus dem Jahr 1117. Eine ununterbrochene Ahnenreihe ist dessen ungeachtet mit aller Wahrscheinlichkeit seit dem Ende des 13. Jahrhunderts belegt und die oberste Stelle auf dem breit gefächerten Stammbaum nimmt Homodeus de Tasso ein. Die Familie Tasso war im Transportgewerbe für Nachrichten und kleinere Sendungen tätig, zuerst in der Umgebung von Bergamo und später in ganz Norditalien. Die Konkurrenz war in diesem Bereich auch damals schon beträchtlich und einer der Nachkommen, Alessandro de Tasso, erkannte weitblickend, dass für die weitere Entwicklung der familiären Unternehmungen ein finanzieller Rückhalt vonnöten war. Er zögerte nicht lange und gründete eine Bank, die er recht zuverlässig absicherte. Weitere Mitglieder der Familie, die Brüder Gabriel und Augustin, nahmen in ihrer Unternehmertätigkeit bereits eine höhere Stellung ein. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts unterhielten sie am päpstlichen Hof den Postdienst der römischen Kurie, was die Anbahnung von bedeutenden gesellschaftlichen Beziehungen ermöglichte. Die Habsburger wurden so auf die Tassos aufmerksam und Kaiser Friedrich III. betraute Roger Tasso mit dem Aufbau eines Nachrichtensystems in den Alpenländern. Andere Familienmitglieder dehnten diesen Dienst auf alle Länder der Habsburger aus und beherrschten das Postwesen von Wien bis nach Brüssel. Beginnend mit dem Jahr 1522 beispielsweise richteten sie einen Postdienst von Wien nach Nürnberg ein, vier Jahre später folgte die Aufnahme der Verbindung nach Prag. Das Prinzip ihrer Organisation, die ursprünglich ausschließlich dem Monarchen und seinem Hof diente, beruhte auf der Aufteilung von Stationen, wo die Postillione die erschöpften Pferde wechseln konnten. Den erhaltenen Unterlagen zufolge führte der Weg der Postboten von Prag zu den Städten an der Donau über Tabor, Neuhaus und Zlabings, dann weiter über Hollabrunn und Stockerau nach Wien. Für die dem Thron erwiesenen Dienste und ihre Treue erhielt die Familie von Kaiser Maximilian I. im Jahr 1512 den einfachen Adelsbrief, im Jahr 1624 wurde sie in den erblichen Grafenstand und 1695 in den Reichsfürstenstand erhoben. Gleichzeitig erhielten sie das Generalpostmeisteramt als erbliches Lehen. Damals nannten sie sich bereits Thurn und Taxis, da sie das Recht erhalten hatten, ihr Wappen mit dem der mit ihnen verwandten Familie Thurn-Valsassina zu 146

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verbinden, deren Wurzeln noch weiter zurückreichten, angeblich sogar bis ins 5. Jahrhundert. Mit der Zeit wurde das Recht, das Postwesen zu betreiben, anderen überantwortet. Preußen übernahm von ihnen beispielsweise im Jahr 1867 sämtliche Posteinrichtungen in den deutschen Ländern und zahlte an sie eine nicht geringe Entschädigung in der Höhe von drei Millionen Taler. Die Thurn und Taxis begannen daraufhin, wie die meisten Aristokraten, eher einer militärischen oder politischen Karriere den Vorrang einzuräumen. Am Ende des 18. Jahrhunderts teilte sich das aufblühende Geschlecht mit den Söhnen Alexander Ferdinands in einen älteren und unvergleichlich reicheren Zweig mit Sitz in Regensburg, wo sie bis zum heutigen Tag residieren, und in einen weniger vermögenden jüngeren, in Böhmen angesiedelten Zweig. Dessen Familienoberhaupt war ein halbes Jahrhundert später Alexanders Enkel Karl, seines Zeichens Geheimer Rat und Oberstkämmerer im Königreich Böhmen. Nach seinem Studium trat er in den Militärdienst ein, machte den Krieg gegen Frankreich mit und ließ sich nach dessen Ende in Böhmen nieder. Er hängte den Uniformrock an den Haken, betätigte sich fortan als Unternehmer und widmete sich karitativen Tätigkeiten. Er ehelichte Maria Isabella Gräfin und Edle von und zu Eltz, mit der er sechs Kinder hatte – drei Töchter und die Söhne Hugo Maximilian, Emerich und Rudolf. Hugo Maximilian übernahm den Großteil des Familienbesitzes, vor allem die Herrschaften Lautschin und Dobrowitz, um die er sich – nach den zeitgenössischen Quellen zu urteilen – außergewöhnlich sorgsam kümmerte. Der mittlere, Emerich, wurde Kommandant der Kavalleriedivision in Lemberg und später Hauptmann einer Kavallerieeskadron der Leibgarde im Rang eines Kavalleriegenerals. Der jüngste der Brüder, Prinz Rudolf, von dem hier hauptsächlich die Rede sein wird, inskribierte zum Missfallen der ganzen Familie nach dem Besuch des Kleinseitner Gymnasiums in Prag an der juridischen Fakultät der Karlsuniversität, wo er im Jahr 1857 zum Doktor der Rechte promovierte. Das Befremden der Verwandten war verständlich. Sein Großvater war Generalmajor, sein älterer Bruder Kavalleriegeneral, seine Onkel Karl Theodor und Friedrich Hannibal Generäle im bayerischen Heer, die Söhne Hannibals, Rudolfs Cousins Friedrich Wilhelm und Friedrich Arthur, dienten als Oberste in der österreichischen Armee. Und er – ein Jurist! Dessen ungeachtet hätte ihn eine vielversprechende Zukunft erwarten können, wenn er bei der Advokatur geblieben wäre. Er entschied sich aber dazu, einen anderen Weg zu wählen, und verteidigte fortan die Rechte der böhmischen Nation. 147

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Die Sphäre seiner öffentlichen Tätigkeit war bemerkenswert. Gemeinsam mit tschechischen oppositionellen Radikalen bemühte er sich um die Gründung einer neuen politischen Partei und die Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts. Zusammen mit František Palacký, František Ladislav Rieger und Jan Evangelista Purkyně und anderen forderte er von Kaiser Franz Joseph I. die Gleichstellung der Tschechen mit den anderen Nationalitäten der Monarchie, die Einführung einer weitreichenden Selbstverwaltung und die Einführung der tschechischen Sprache als Amtssprache; er war gleichermaßen journalistisch tätig, gab die demokratisch ausgerichtete Wochenzeitung Boleslavan heraus, schrieb Beiträge für die Zeitung Národní listy (Volksblatt), arbeitete mit Rieger bei der Herausgabe der Nationalenzyklopädie Slovník naučný zusammen und beteiligte sich auch an der Gründung und redigierte die erste tschechische rechtswissenschaftliche Zeitschrift Právník (Der Jurist) – zusammen mit Dr. Karel Jeřábek und dem Dichter Karel Jaromír Erben, der der Zeitschrift eine entsprechende Form geben und den Inhalt in eine grammatisch korrekte Terminologie bringen sollte; er war im Ausschuss für die Gründung des Nationaltheaters; beteiligte sich an der Gründung der bedeutenden tschechischen Künstlervereinigung Umělecká beseda; er war einer der Mitbegründer des bis zum heutigen Tag existierenden Gesangsvereins Hlahol und war dessen erster Vorsitzender; er war gut mit dem Komponisten Bedřich Smetana bekannt, der den Verein von 1863 bis 1865 leitete und der die Oper Die Brandenburger in Böhmen auf Prinz Rudolfs Schloss in Nimierschitz komponierte. Er stand auch an der Spitze jener Persönlichkeiten, die den Prager Turnerbund, den heutigen Sokol gründeten. Auf dessen Gründungsversammlung wünschte sich die Mehrheit der Anwesenden ihn zum Vorsitzenden, er aber ahnte, dass seine Bestellung Komplikationen verursachen würde, worauf er auf den Vorsitz zugunsten von Jindřich Fügner verzichtete. Beide respektierten einander, aber ihre Ziele unterschieden sich doch gehörig voneinander. Während Fügner, ebenso wie eine Reihe anderer Mitglieder, aus dem Sokol eine ganz und gar unpolitische Organisation machen wollte, in der nur geturnt und nicht politisiert werden sollte, wollte Rudolf seine nationale politische Sendung umgesetzt sehen und wünschte sich die Einbindung des Sokol in den Kampf um eine größere Eigenständigkeit des Landes. Das war für einige Sokol-Mitglieder zu viel, da sie fürchteten, dass sein Radikalismus zum Verbot des Vereins führen könnte. Das ging so weit, dass man Thurn und Taxis schließlich untersagte, bei einer Großveranstaltung in Prag eine patriotische Rede zu halten, nachdem er kurz 148

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zuvor bei einer nationalen Wallfahrt auf den legendären Berg Říp eine Menge von 20.000 Menschen begeistert hatte und damit den Grimm der anwesenden Spitzel heraufbeschworen hatte. Er war eine bemerkenswerte Gestalt, eine starke Persönlichkeit, ein charakterlicher Monolith. Relativ früh verlor er beide Eltern – sein Vater Karl Anselm starb, als er elf Jahre alt war, und vier Jahre später seine Mutter Maria Isabella. Materiell war er zwar abgesichert, er erbte ein Palais in Prag und einen Teil des Familienbesitzes, vor allem Herrschaft und Schloss Nimierschitz bei Jungbunzlau. Seine Sehnsucht war es, sich einer wissenschaftlichen Laufbahn zu widmen und sich an der Prager Universität aus Rechtsphilosophie und Strafrecht zu habilitieren. Es blieb bei dem Wunsch, denn der damalige Unterrichtsminister erklärte ihm offen, dass er seine Habilitation nicht anerkennen werde. Thurn und Taxis vertrat auch im rechtlichen Bereich entschiedene Positionen, beispielsweise sprach er sich grundsätzlich gegen die Todesstrafe aus. „Die strafende Justiz überschreitet diese ihre Schranken, wenn sie das Leben anrührt“, schrieb er. „Im Namen des Rechts nimmt sie so dem Menschen viel mehr, als ihm das Recht überhaupt einräumen konnte oder kann. Die Gerechtigkeit offenbart sich in diesem Fall nicht als bewahrende oder belebende Kraft, sondern als etwas Zugrunderichtendes und Zerstörerisches. Sich darauf berufend, dass der Mensch ein unsterbliches Geschöpf sei, verspottet sie fürwahr sich selbst oder den Missetäter. Es wäre ein treffliches Zeugnis vor der ganzen Welt“, reflektiert er über die Abschaffung der Todesstrafe, „dass der Geist der Freiheit, der Geist der wahren Menschlichkeit, mit denen das Recht immer im Einklang stehen soll, bei uns noch nicht ausgestorben sind.“ Sein Haus stand allen Freunden, Bekannten und Bedürftigen offen – wenn sie Schwierigkeiten hatte, kam auch immer wieder die Schriftstellerin Božena Němcová zu ihm – und wurde zum Treffpunkt für die radikale tschechische Opposition. Das freilich entging der Polizei nicht, die ihn daraufhin zu überwachen begann. Der Name Thurn und Taxis fand daher recht häufig Eingang in die Unterlagen der Prager Polizeidirektion. Als er in scharfem Ton gegen die zentralistische Politik der Regierung Schmerling Position bezog, befanden die staatlichen Behörden, dass der rebellische Prinz damit eine Grenze überschritten habe. Er wurde vor Gericht zitiert, wo man ihn beschuldigte, eine Aussage getätigt zu haben, die er nicht in dem Wortlaut gemacht hatte, wie in der Anklageschrift behauptet wurde. Das Gericht sprach ihn in erster Instanz frei. Der Staatsanwalt legte augenblicklich Berufung ein, der Fall wurde an das Oberlan149

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desgericht weitergeleitet, das Prinz Rudolf zu zwei Wochen Gefängnis in Jungbunzlau verurteilte. Dort erging es ihm nicht schlecht. Die Frauen der Stadt schickten ihm Essen, das sicher um einiges besser als jenes der Gefängnisküche war und verehrten ihm unzählige Blumensträuße. Seine Entlassung nach 14 Tagen geriet zu einer Manifestation des Volkes. Eine Menge von rund 5.000 Menschen begrüßte ihn, der Hauptplatz in Jungbunzlau war voll, Reiter geleiteten ihn bis zum Schloss, ein Triumphbogen, Tanz, einfach ein Volksfest, wie es sich gehört. Und schon gab es einen neuen Zwischenfall. Für die Polizei handelte es sich dabei um eine Demonstration und gegen 70 Teilnehmer wurde Anklage erhoben und ein Prozess geführt. Dieser zog sich drei lange Jahre hin, bis er auf direkten Befehl des Kaisers, dem die ganze Sache offensichtlich peinlich war, eingestellt wurde. Thurn und Taxis wurde mit Nachdruck empfohlen, in Hinkunft keine gesellschaftliche Funktion wahrzunehmen. Etwas Derartiges ließ sich vielleicht umgehen und außerdem wusste er, dass Schmerling der Regierung nicht mehr lange angehören würde. Schlimmer wog, dass er in der Zwischenzeit in eine schwierige finanzielle Situation geraten war. Er hatte sich verschuldet. Wenngleich er als wohlhabend galt und sein Besitz noch im Jahr 1859 auf einen Wert von rund 800.000 Gulden geschätzt wurde, setzten nach fünf Jahren doch die ersten Streitigkeiten mit den Gläubigern ein. Es fehlte ihm an Begabung im Umgang mit Geld und an Sinn für die wirtschaftliche Realität. Dennoch kam er seinen Zahlungsverpflichtungen nach und bemühte sich weiterhin darum, seine Freunde der tschechischen Nationalbewegung wie früher zu unterstützen. Noch einmal bemühte er sich darum, in das politische Geschehen einzugreifen und kandidierte für den Landtag. Er errang das Mandat für den Wahlkreis Jungbunzlau-Neubenatek-Münchengrätz-Weißwasser, wegen des Eintrages im Strafregister, die bereits erwähnten 14 Tage Gefängnisaufenthalt, musste er das Mandat allerdings zurücklegen. Er reichte beim Kaiser ein Gesuch um Rehabilitierung ein, das aber im Amt des Staatsanwaltes in einer Schublade verschwand und niemand schien irgendwelche Anstalten zu machen, es weiterleiten zu wollen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Ratschläge seiner Verwandten, vor allem seines Bruders Hugo Maximilian und seines Schwagers Richard Belcredi, des damaligen Statthalters in Prag, anzunehmen. Sie sicherten ihm Unterstützung in seinen finanziellen Schwierigkeiten zu, stellten aber eine Bedingung: Er müsse öffentlich erklären, sich jeder Vereins- oder politischen Tätigkeit zu enthalten. Hugo Maximilian erwarb daraufhin tatsächlich seine Güter, sogar 150

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mit dem Gentlemen’s agreement, dass er sie nach dem Ablauf von 16 Jahren entweder an ihn oder an seine Erben zum damals erlegten Kaufpreis zurückverkaufen würde. Rudolf ging mit seiner Frau und den Kindern nach Mähren, übersiedelte einige Male und eine Zeit lang mietete er sogar Schloss Scherotein. Als er erfuhr, dass der namhafte Rechtsanwalt Dr. Suchomel aus Kremsier einen Konzipienten suchen würde, zögerte er nicht lange und trat bei ihm ein. Beide waren sich in ihren Gedanken und Ansichten sehr nahe und Rudolf reizte es auch, dass sich eine tschechische patriotische Gesellschaft bei Suchomel traf. In Kremsier blieb er bis zum Jahr 1880, als er das Angebot der Regierung Ostrumeliens annahm, die ihm das Amt eines Generalanwaltes beim Obersten Gericht in Plowdiw anbot, das mit dem Auftrag verbunden war, eine landesweit gültige Strafprozessordnung auszuarbeiten. Plowdiw war damals das angenehme und verhältnismäßig reiche adminis­ trative und politische Zentrum Rumeliens, aber fünf Jahre nach seiner Ankunft brach dort eine Revolution aus. Das ganze Gebiet wurde an das benachbarte Bulgarien angeschlossen und an die Spitze des Staates gelangte Ferdinand I. aus dem Hause Sachsen-Coburg-Koháry der Wettiner. Etliches änderte sich. Die Verhältnisse im Land wie auch die materiellen Verhältnisse der Thurn und Taxis. Ein regelmäßiges Gehalt bekam er nicht, weshalb er aufgrund der angespannten Situation gezwungen war, an Dr. Suchomel zu schreiben, damit dieser das Silber und die Schmuckstücke, die er ihm zur Aufbewahrung übergeben hatte, verpfänden und ihm wenigstens ein paar Gulden schicken konnte. Dennoch lehnte er das Amt eines Justizministers, das ihm Fürst Ferdinand angeboten hatte, aus Stolz ab und eröffnete lieber eine private Kanzlei, um ausländische Klienten vor den Konsulargerichten zu vertreten. Der Grund für die Ablehnung war typisch für ihn. Er drückte es so aus, dass kein ehrbarer Mensch in den Dienst der dortigen Regierung treten könne und dass ihm Coburg nicht sympathisch sei. Sein Haus allerdings war auch weiterhin der Mittelpunkt der örtlichen tschechischen Kolonie und es änderte sich auch nichts daran, dass er für seine Kinder einen tschechischen Erzieher eingestellt hatte. Nach zwölf Jahren in Plowdiw – zumindest hatten sich die politischen Bedingungen im Land und der Zustand seines Bankkontos in der Zwischenzeit verbessert – entschloss sich Rudolf von einem Tag auf den anderen, nach Böhmen zurückzukehren. Möglicherweise war er der Überzeugung, dass es ihm gelingen würde, die ehemaligen Besitzungen zurückzuerhalten, wie ihm das sein 151

Troskov 4. Das Wappen des Freiherrn von ­Troskov warf von Beginn an viele Fragen auf. Etwa: Stellen die Türme wirklich die Ruine Trosky dar? Oder soll der fliegende Vogel auf die Beteiligung von Rudolf von Thurn und Taxis an der Gründung der Turnvereinigung Sokol (Falke) verweisen?

Bruder Hugo Maximilian versprochen hatte. Diese waren aber in der Zwischenzeit von Hugos Sohn Alexander übernommen worden, der das Versprechen nach der Rückgabe aber nicht erfüllen konnte, auch wenn er es noch so sehr wollte – der Chef des Hauses Thurn und Taxis hatte sie nämlich mit einem Pfandrecht belegt. Rudolf gab klein bei – er ersuchte seine Familie darum, ihm zumindest freien Aufenthalt in Schloss Nimierschitz zu gewähren, um dort mit seiner Frau den Lebensabend verbringen zu können. Vergeblich. Die Antwort lautete: Nein. Er reiste wieder umher, fuhr von einem Ort zum anderen – in Ungarn, Böhmen, in Deutschland. Er fuhr nach Heidelberg, wo er und seine Frau Jenny sich während des Studiums kennengelernt und wo sie immer glückliche Tage verbracht hatten. Schließlich ließ er sich im September 1893 in einem Vorort von Dresden, in Trachau, nieder. Zu dieser Zeit bedrängten ihn keine finanziellen Sorgen mehr, denn er erhielt eine Rente von der Primogenitur in Regensburg und eine weitere für die Abtretung seiner Besitzungen. Im darauffolgenden Jahr ersuchte er den Kaiser überraschend um eine Änderung von Namen und Titel und Franz Joseph I. entsprach diesem ganz und gar singulären und präzedenzlosen Ansinnen. Mit Entschließung seiner Majestät vom 25. April 1894 wurde Rudolf die Führung des Titels eines Freiherrn von Troskov gestattet und gleich152

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zeitig ein neues Wappen verliehen. Auf diesem befindet sich auf einem roten Schild ein grüner Hügel mit einem silbernen Felsen. Darauf befindet sich eine silberne Burgruine mit zwei Türmen und darüber ein silberner Falke in goldener Rüstung. Die Dresdner Zeit gehört zu der ruhigsten in seinem Leben. Sie bedeutete ein Ende der Zwistigkeiten, ein Ende der Kämpfe. Nur aus einiger Entfernung verfolgte er das politische Leben und die entscheidenden Veränderungen in Böhmen. Im Jahr 1904 besuchte er seine Tochter Hedwig in Ungarisch-Hradisch und wollte einige Wochen im Kurort Bad Luhatschowitz zubringen. Es war seine letzte Reise, geradezu symbolhaft auf dem Weg nach Hause. Er starb nach einigen Tagen – im 71. Lebensjahr – an Herzschwäche. Mit einer Reihe von Leuten hatte er sich durch seine Ansichten oder seine Haltungen, seine Reizbarkeit und seine Unnachgiebigkeit zu überwerfen vermocht, viele hatten ihn wegen seines Radikalismus gemieden und verurteilt. Zu seiner Verabschiedung kamen aber vielleicht alle, die ihn gekannt hatten. Sein Begräbnis fand im mährischen Velehrad am Tag der großen Feierlichkeiten zu Ehren der Heiligen Kyrill und Method Anfang Juli statt, zu denen sich Tausende Menschen einfanden. Es war ihm nie gelungen, große Siege zu erringen, immer waren es nur kleinere Erfolge. Sein Bemühen erinnert an Don Quijote und erscheint als unerreichbares Streben. Nach seinen eigenen Worten setzte er sich für nichts anderes ein als für das brüderliche Zusammenleben der tschechischen Nation auf föderaler Grundlage gemeinsam mit den anderen Nationalitäten in Österreich. Er hatte seine Kritiker und Förderer. František Palacký hielt ihm vor, dass er mit seinem Radikalismus die tschechische Eintracht untergraben würde, als wenn sie jemals existiert hätte, während Vítězslav Hálek mit Anerkennung von seiner Volksnähe und seiner Ungezwungenheit schrieb. Nach Meinung seiner Zeitgenossen war er nicht nur von seiner Abkunft, sondern auch aufgrund seines Denkens und Handelns durch und durch Adeliger. Rudolfs Lebensmotto lautete: Immer auf geradem Weg für das Recht und mit dem Recht. Daran hielt er sich und tatsächlich ging er nicht nur einmal mit dem Kopf direkt durch die Wand. „Wir müssen eine ehrenvolle Stellung unter unseren Nachbarn erringen und gleichermaßen auch unseren Feinden Anerkennung und Respekt abringen“, verkündete er im Jahr 1862 auf der Vollversammlung des Bunzlauer Vereins, „wir müssen eine eigenständige und unabhängige Haltung einnehmen, damit wir schlussendlich Herren im eigenen Haus sind, 153

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damit sich wahrhaftige, beharrliche und unverfälschte Wesenszüge entwickeln können, die unablässig ihrem Ziel entgegenschreiten; denn die größte Katastrophe unserer Nation ist es, dass ihr derartige Eigenschaften abgehen.“ In den 1930er-Jahren wurden die sterblichen Überreste von Rudolf und Jenny auf den Friedhof in Altbunzlau überführt. Sein Name ist heute beinahe in Vergessenheit geraten. Aber eine eigentümliche Sache gibt es doch: Gelegentlich finden sich auf seinem Grab Blumen und niemand kann sagen, von wem sie stammen. Zu einer besonderen Begebenheit aus Rudolfs Leben muss ich noch zurückkehren, da sie nämlich das Schicksal aller weiteren Troskovs beeinflusst hat. Im Juni 1881 kam es im Zuge der im Prager Konvikt abgehaltenen Feierlichkeit einer deutsch-böhmischen Studentenverbindung und am folgenden Sonntagnachmittag im Kurrestaurant von Chuchle bei Prag zu einer Schlägerei zwischen tschechischen und deutsch-böhmischen Studenten. Eigentlich ging es um nichts Besonderes. Ein paar kampflustige Jünglinge auf beiden Seiten hatten sich nur dazu entschlossen, ihre gegenseitige Verwegenheit unter Beweis zu stellen. Den Worten folgten die Fäuste, einige Gläser und Stühle flogen durch die Luft, ähnliche Zusammenstöße wiederholten sich zu dieser Zeit des Öfteren. Die Zeitungen bliesen diese Begebenheit gebührend auf und vergaßen auch nicht zu erwähnen, dass sich auch Johann, der älteste Sohn derer von Thurn und Taxis, an der Spitze der deutschen Studenten an der Schlägerei beteiligt hatte. Angeblich sorgte dieser Zwischenfall damals in Böhmen für gehöriges Aufsehen – noch Jahre später bezeichnete ihn der Schriftsteller Jan Holeček als Beweis für den Verrat des Adels. Rudolf von Thurn und Taxis erfuhr in Plowdiw von diesem Zwischenfall und sein Blutdruck stieg gefährlich an. So etwas hatte er nicht erwartet. Sein erstgeborener Sohn – ein Burschenschafter! Seine Frau Jenny klagte unmittelbar darauf jammervoll in einem Schreiben an Dr. Suchomel in Kremsier: „… es plagte mich großer Kummer, als ich zu meinem Betrübnis erfuhr, dass mein Sohn Johann Burschenschafter geworden ist. Ich habe viel geweint und es wird noch viele Tränen kosten. Mein Mann ist in dieser Hinsicht unnachgiebig, er tobte geradezu vor Zorn.“ Wer weiß, was sich danach zwischen Vater und Sohn abgespielt hat, die historischen Quellen schweigen sich darüber aus. Sicher ist jedoch, dass der junge Prinz sein Studium in Prag unterbrach, und zwei Jahre später fand man ihn, bereits als Iwan Rudolfowitsch an der Kavallerieschule in Jelisawetgrad, dem 154

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5. Rudolfs Sohn Johann, noch als Prinz von Thurn und Taxis, in der Uniform eines Offiziers der zaristischen Armee. Er ordnete sich der Entscheidung seines Vaters unter und legte den ursprünglichen Familiennamen ab. Da er in Russland lebte, änderte er seinen Vornamen Johann auf Iwan ab und fügte ein Rudolfowitsch – nach seinem Vater – an.

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6. Oberst Johann von Thurn und Taxis alias Iwan Rudolfowitsch mit seinen Söhnen Nikolaus, Konstantin und Alexander. Die beiden jüngsten, Michael und Georg, sind nicht abgebildet, da sie für das Tragen einer Uniform noch nicht groß genug waren.

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heutigen Kirowohrad in der Ukraine. Nach der Beendigung der Ausbildung trat er in das 24. Dragonerregiment ein, ließ sich aber auf eigenen Wunsch, getrieben vom Verlangen nach Abenteuern und Beförderung, auf einen gefährlichen Posten zur Grenzwache versetzen, wo seine geradezu dramatische Militärkarriere begann. Er wechselte die Garnisonen, diente an den Ufern des Kaspischen Meeres wie auch an der persischen Grenze, kommandierte den Aufklärungskreuzer Tschasowoj und ging in den Fernen Osten. Im Jahr 1902 stand er an der Spitze einer Kavallerieeskadron irgendwo hinter dem Amur und kämpfte sowohl im russisch-japanischen als auch im Ersten Weltkrieg. In der Zwischenzeit ließ er sich einen heroischen Bart wachsen, trat zur Orthodoxie über und erreichte die Eheschließung mit der Tochter des Regimentsarztes Vera Nikolajewna Wos­ kresenska. In der Zeit von 1895 bis 1903 wurden dem Paar fünf Söhne geboren – Alexander, Nikolaus, Konstantin, Michael und Georg. Als er von der Entscheidung seines Vaters hinsichtlich der Namens- und Titeländerung erfuhr, entsprach er dessen Wunsch und ersuchte die russische Regierung um die gleiche Änderung. Im Juli 1903 wurde ihm die Erlaubnis dazu erteilt und aus Johann Nepomuk Franz Xaver von Thurn und Taxis wurde Johann Iwan Rudolfowitsch Troskov. Vier Jahre später wurde ihm der erbliche Titel eines russischen Barons verliehen und er durfte das Wappen der Troskovs führen. Vom Rang eines Leutnants ausgehend, wurden ihm die Epauletten eines Obersten verliehen und für persönliche Tapferkeit sowie für seine Verdienste im Kampf wurden ihm zwei der bedeutendsten russischen Auszeichnungen verliehen – der Orden des Heiligen und Siegreichen Großmärtyrers Georg und der Kaiserliche Orden des Heiligen und Apostelgleichen Großfürsten Wladimir. Selbst Offizier, schickte er seine Söhne mit völliger Selbstverständlichkeit in Offiziersschulen. Die Buben lebten mehrheitlich im Internat, wuchsen in Uniformen auf und durchliefen die erforderliche harte Ausbildung. Anfangs verbrachte er so viel Zeit wie möglich mit ihnen, gemeinsam fuhren sie in den Ferien nach Mähren, aber dann kam es zum Ersten Weltkrieg und zur bolschewistischen Revolution. In dem Chaos, das damals über Russland hereinbrach, fand sich jeder von ihnen an einem anderen Ort wieder, aber auch der Jüngste, Georg, der damals nicht ganz 15 Jahre alt war, mit der Waffe in der Hand. Der Oberst war ein erfahrener Krieger, der viele Schlachten ohne ernsthafte Verwundung geschlagen hatte. In Russland trat er mit der Führung der Tschechoslowakischen Legion in Kontakt und gemäß der familiären Überlieferung auch mit Tomáš Garrigue Masaryk, dem ersten tschechoslowakischen 157

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­ räsidenten. Gerade dieser soll ihn aufgefordert haben, so schnell wie möglich P nach Böhmen und Mähren zurückzukehren, weil die tschechoslowakische Armee fähige Offiziere benötige. Sei es, wie es sei, direkt nach der Ausrufung der Tschechoslowakei meldete er sich in Prag zum Dienst in der Armee und wurde zum Kommandanten des 20. Infanterieregiments in Munkatsch in der Karpatenukraine ernannt. Er sprach Tschechisch und Russisch und ebenso gut waren ihm die Verhältnisse in der Ukraine vertraut. Nach der Trennung von Vera Nikolajewna, die aus dem stürmischen Russland nach Frankreich geflohen war, heiratete er noch einmal, verstarb jedoch im Jahr 1920. Seine Söhne hat er nie mehr wiedergesehen, obwohl er bis zu seinem Tod nach ihnen gesucht hat. Drei von ihnen – Alexander, Michael und Georg – verschwanden sprichwörtlich spurlos. Nikolaus hatte mehr Glück. Es gelang ihm die Flucht aus Russland, aber ansonsten hatte niemand etwas von ihm gehört. Der Fünfte aus der Geschwisterreihe, Konstantin, meldete sich als 16-Jähriger freiwillig zum Kriegseinsatz und wurde an der Front bei Riga von einigen Kugeln in den Bauch und in die Lunge getroffen. Sein Zustand war hoffnungslos, dessen ungeachtet entschied man sich dennoch dafür, ihn im provisorischen Feldlazarett zu operieren. Als seine Brüder erfuhren, dass er sterben werde, kamen sie, um sich von ihm zu verabschieden. Das sollte das letzte Mal sein, dass sich alle sahen. Die Operation war jedoch sehr erfolgreich. Er verbrachte zwei Jahre in Spitälern und Soldatenerholungsheimen in Petrograd und wurde wieder gesund. Sobald die Ärzte seinen Gesundheitszustand für einigermaßen stabil erachteten, machte er sich auf den Weg, denn in einem kommunistischen Russland konnte und wollte er nicht bleiben. Über Umwege gelangte er in die Türkei und von dort nach Bulgarien. Er verfügte über keine Personaldokumente, die waren ihm abhanden gekommen, er besaß einzig ein Passersatzpapier, ausgegeben im Rahmen der humanitären Aktion des norwegischen Polarforschers und Politikers Fridtjof Nansen. Demgegenüber führte er als kostbarsten Schatz das Dokument des Kaisers über die Entlassung aus dem österreichischen Adel, ein Schreiben des Zaren über die Aufnahme in den russischen Adel und einige Familienfotografien mit sich, mit denen er seine Identität beweisen konnte. Nichts blieb so, wie es gewesen war. Sogar der Name jener Stadt, die er verließ, sollte nicht der gleiche bleiben: aus Sankt Petersburg wurde Petrograd, das später in Leningrad umbenannt wurde. Er benötigte etwas, auf das er sich stützen konnte, einen Fixpunkt, er musste seine Gedanken neu ordnen. Für seine 22 Jahre hatte er mehr erlebt als andere in ihrem ganzen Leben. Er blieb ganz al158

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leine, hatte keine Ahnung, was mit seinen Brüdern und seinem Vater ge­schehen war, geschweige denn mit seiner Mutter, die sie nach der Scheidung verlassen hatte. Er wurde nur von einem Wunsch angetrieben – er wollte zu seiner Tante Hedwig nach Ungarisch-Hradisch, wohin er mit der Familie in früheren Zeiten gefahren war, um seinen Großvater Rudolf zu besuchen. Er dachte nicht daran, was ihn schlussendlich erwarten würde, er war nur davon überzeugt, dass es der einzig mögliche Weg war, den er einschlagen konnte. Er wusste, dass, falls sein Vater noch am Leben war, er ihn in Hradisch finden würde. Er verspätete sich nur um ein paar Wochen. Er entschied sich dafür, in Mähren zu bleiben und zog die Uniform der tschechoslowakischen Armee mit dem Rang eines Oberleutnants an. Nach zwei Jahren machte sich allerdings seine alte Verwundung aus dem Krieg erneut bemerkbar und er beendete seine militärische Karriere. Er wechselte einige Anstellungen, aber eine Betätigung, die ihm wirklich entsprach, fand er erst zu einem späteren Zeitpunkt, als er nämlich seine eigene Firma namens Triumph gründete und die Vertretung für einige renommierte Betriebe übernahm, so zum Beispiel für die Brüder Pařík, die Dieselmotoren und landwirtschaftliche Maschinen produzierten, oder für Srb und Štys, die optische Geräte und Messinstrumente herstellten. Er ging deswegen nach Bulgarien, ließ sich in Varna nieder, heiratete ein Mädchen, das er aus UngarischHradisch kannte und im Jahr 1934 wurde ihr Sohn Vladimír geboren. Anfangs gingen die Geschäfte sehr schlecht, sodass ihm die Sorgen über den Kopf zu wachsen drohten, aber nach und nach fasste er Fuß und seine Firma prosperierte. Auch die Unternehmen in der Heimat profitierten davon, denen er auf diese Weise die damalige Wirtschaftskrise zu bewältigen half. Er war voller Elan und Optimismus. Eines Nachmittags übernahm er in Begleitung seines kleinen Sohnes Vladimír auf dem Bahnhof einen ganzen Zug voll landwirtschaftlicher Maschinen aus der Tschechoslowakei. Sie fuhren mit dem Fiaker dorthin, und als sie zurückkehrten, zog er eine Handvoll silberner Münzen aus der Tasche, ließ sie auf seinen Handflächen tanzen und warf sie um sich. Die Münzen funkelten in der Sonne und fielen mit Geklimper auf das Pflaster. „Warum machst du das, Papa?“, fragte ihn Vladimír. „Vor Glück, mein Sohn, und auch aus Freude“, antwortete er. „Es ist ein symbolischer Dank für das gute Geschäft.“ Das erste Mal habe ich Vladimír Troskov im kleinen Café der bekannten Buchhandlung Academia in Prag getroffen; damals hatte er die Sechzig bereits überschritten. Er hinterließ bei mir einen besonnenen und ausgeglichenen Eindruck, 159

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auch wenn er mir ein wenig scheu vorkam – gerade so, als ob ihm das Selbstvertrauen von Menschen mit langem Stammbaum abgehen würde, die tief in der Tradition verwurzelt sind. Ein paar Mal haben wir uns noch bei einer Schale Kaffee getroffen und erst dann hat er mich zu sich nach Hause eingeladen. Er wohnte in einem alten Bürgerhaus in einer zur Moldau führenden Straße, in einem Haus mit breiter Treppe, hohen Decken und kühlen, weitläufigen Räumlichkeiten. Gleich zu Beginn, kaum dass ich mich richtig umgesehen hatte, wartete eine Überraschung auf mich. Nirgends hatte ich auch nur eine einzige Erinnerung an seine Abstammung entdeckt, nichts, das davon Zeugnis geben könnte, dass er der Nachfahre eines bedeutenden Geschlechts sei, kein Pantheon der Vergangenheit. An der Wand hing nicht ein Bild oder Wappen der Troskovs oder ein Stammbaum der Familie Thurn und Taxis. Dafür breitete er mit geradezu weihevoller Ehrerbietung einen Teil dessen vor mir aus, was ihm von seinen Vorfahren geblieben war und was er sorgsam verwahrt hatte. Einen Wappenbrief, ein Album mit alten Fotografien, eine Dienstbescheinigung des Offiziers der russischen Grenztruppen Oberst Johann Rudolfowitsch, ein Dokument von Kaiser Franz Joseph I. Alles war, wenn man bedenkt, welchen Weg diese Schriftstücke hinter sich gebracht hatten, in unversehrtem Zustand. Unter den Fotografien hatte sich auch das einzige Porträt seines Urgroßvaters Rudolf aus jener Zeit erhalten, als er noch mit seiner Frau Jenny in Dresden gelebt hatte. Er war bereits kahlköpfig, mit weißem Kinn- und Oberlippenbart, das weiße Hemd war von einer karierten Masche geschmückt. Das Gesicht zeigte harte Züge, in den Augen funkelte Strenge. Vladimír Troskovs Großvater, Oberst Johann Rudolfowitsch, scheint ganz anders gewesen zu sein. Ein Bild zeigt ihn in einem Armsessel. Er trägt Uniform, den Säbel an der Seite, auf der Brust sechs Auszeichnungen, ein selbstbewusster, heroischer Blick, auf den Lippen ein legeres Lächeln. „Sagen Sie, war er ebenso heldenhaft wie auf der Fotografie?“, fragte ich ihn. „Persönlich habe ich ihn nicht gekannt, er starb vor meiner Geburt. Ich kenne ihn nur aus den Erzählungen meines Vaters. Er war angeblich ein tapferer Mann und ein liebevoller Vater. Über seine Kühnheit zeugt auch eine Geschichte vom Ende des Ersten Weltkrieges. Als er von Russland zurückkehrte, wurde unser Gesandter namens Škorpil mit der Aufgabe betraut, ihn durch die Kampfzone zu begleiten, um ihn so sicher in die Heimat zurückzubringen. Dann passierte etwas, irgendwo in Rumänien, höchstwahrscheinlich direkt in Bukarest, und Škorpil konnte diesen Vorfall, dessen Zeuge er geworden war, niemals vergessen. 160

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Er erzählte davon mit Bewunderung seinem Sohn und der wiederum berichtete es dem Konsul in Varna, von dem mein Vater die Geschichte erfahren hat: Als sie die Stadt durchquerten, setzte auf den Straßen eine Schießerei ein. Alle Leute versuchten, schnellstens Zuflucht zu suchen oder sich auf den Boden zu werfen, um ein nur geringes Ziel zu bieten. Nur Oberst Troskov ging ruhig und ohne Angst weiter, so als ob nichts geschehen wäre und als ob es keine Kanonade geben würde, er wich den Geschossen nicht im Mindesten aus und zog den Kopf nicht ein. Um ihn herum pfiffen die Kugeln, er aber war offensichtlich davon überzeugt, dass ihn keine treffen würde, dass ihm nichts geschehen könne. Und es geschah ihm wirklich nichts. Ich denke, dass sich ein solcher Mensch vielleicht auch gar nicht fürchten darf“, befand Vladimír Troskov. „Das geht einfach nicht, er hätte sein Gesicht verloren. Wo wäre sein Stolz geblieben? Besonders in der Armee des Zaren wurde die Angst nicht kultiviert, dort zählten Duelle zur Tagesordnung, mein Vater hat das erlebt. Die Offiziere haben sie richtiggehend gesucht und eine Kleinigkeit reichte als Vorwand – ein beleidigender Satz, ein falsches Wort. Duelle waren eine Ehrensache, sich zu entschuldigen oder nachzugeben, wenn man dazu aufgefordert worden war, war nicht möglich, dann war man bei den anderen für immer unten durch. Es blieb nur die Möglichkeit, die Armee augenblicklich zu verlassen oder sich zu erschießen. Eine dritte Variante existierte nicht. Und das ausgesprochene Wort rückgängig machen? Ausgeschlossen. Ich weiß schon, heute klingt das etwas eigenartig. Ehre spielt nicht mehr eine so große Rolle.“ Auf dem Taufschein seines Vaters Konstantin Troskov aus dem Jahr 1898 war noch der Name Prinz von Thurn und Taxis angeführt. Zu der Zeit, als er Offiziersschüler in Sankt Petersburg war, wurde diese von Zar Nikolaus II. besucht, der sich die Schüler einzeln vorstellen ließ, allen die Hand schüttelte, bei ihm stehen blieb und seiner Freude Ausdruck verlieh, dass unter seinen Junkern ein Mitglied eines so bedeutenden Geschlechts sei. Ein von Thurn und Taxis zu sein bedeutete etwas, und dennoch führte Konstantin später den Nachnamen Troskov mit gänzlicher Selbstverständlichkeit. Vielleicht die einzige Person, die in der Familie den ursprünglichen Namen beibehielt und sich dem Willen des alten Herrn nicht unterwarf, war dessen Enkelin Tereza. Von ihr ist nicht viel bekannt, weder wo sie lebte, noch wann und wo sie starb. Die Familiengeschichte der Troskovs birgt aber auch noch andere unbeantwortete Fragen. Warum etwa Rudolf, Prinz von Thurn und Taxis, für sich und seine Kinder dem Familiennamen und dem Fürstentitel entsagt hat? Oder warum sein Sohn Johann nach Russland ging? 161

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Vladimír Troskov zuckte auf solche Fragen nur mit den Schultern. „Ich weiß nicht, ob wirklich Differenzen die Ursache für Johanns Abreise aus Böhmen waren. Es hätte auch das Ergebnis einer wechselseitigen Vereinbarung sein können. Jedenfalls hat die Familie den Kontakt aufrechterhalten. Mein Vater erinnerte sich daran, dass sie regelmäßig von Russland aus Großvater Rudolf in Hradisch besucht und bei ihm die Ferien verbracht haben. Jedes Mal reservierten sie einen ganzen Waggon für sich. Ihre Reisegruppe umfasste nämlich mehrere Personen – seinen Vater und seine Mutter, solange sie noch bei ihnen lebte, alle fünf Buben und auch die militärischen Bediensteten. Und weil es eine Reise war, die mehrere Tage dauerte, führten sie auch eine Unmenge von Gepäck mit sich und wollten verständlicherweise Komfort und Privatsphäre.“ „Ist es Ihrem Vater gelungen, etwas über das Schicksal seiner vier vermissten Brüder in Erfahrung zu bringen?“ „Gleich nach dem Krieg hat er sich darum bemüht, vor allem unter Vermittlung des Roten Kreuzes, aber vergeblich. Erst während seiner Tätigkeit in Bulgarien sagte ihm jemand, dass er einen Troskov in den Vereinigten Staaten getroffen habe. Aber wo er wohne und was er mache, wisse er nicht. Mein Vater veranlasste daraufhin die Schaltung einiger Inserate in amerikanischen Zeitungen und bot eine Belohnung für zuverlässige Informationen an. Auf diese Weise gelang es ihm herauszufinden, dass in New York wirklich ein Nikolaus Troskov lebte. Noch am selben Tag, als er das erfuhr, setzte er sich hin und schrieb einen Brief an ihn. Einige Wochen darauf traf eine Antwort ein und etwas später tauchte Onkel Nikolaus mit seiner amerikanischen Frau Anna tatsächlich in Sofia auf. Es war ein freudiges Wiedersehen und die beiden Brüder freuten sich wie kleine Kinder. Ich kann mich an die Erzählungen des Onkels nur dunkel erinnern, ich war damals drei Jahre alt. Aber ich weiß, dass er nach der bolschewistischen Revolution und der Niederlage der Weißen nach Amerika ging, Technik studierte und einer der führenden Ingenieure von General Electric wurde. Die Freude über das Wiedersehen wurde jedoch von einer anderen Sache überschattet – es fehlten die anderen drei Brüder, Alexander, Michael und Georg. Niemand hat je erfahren, was aus ihnen geworden ist. Vor der Abreise des Onkels nach Amerika riet er meinem Vater: ,Packt eure Sachen und fahrt mit mir. Ich zahle euch die Reise und ich werde euch durch meine Bank die nötigen Mittel zur Verfügung stellen. Glaubt mir, es wird nicht lange dauern, bis ein Weltkrieg ausbricht.‘ Nun, wir fuhren nicht. Mein Vater hätte sich möglicherweise überreden lassen, aber meine Mutter zierte sich, denn ihre Mutter lebte in Mähren, und so hat sie abgelehnt.“ 162

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Das war im Laufe des Jahres 1937 und bereits im darauffolgenden Jahr traf die Vorhersage von Nikolaus Troskov ein. Am 23. September wurde in der Tschechoslowakei die Mobilmachung verkündet. Fünf Tage später fand sich in der Mährischen Zeitung die folgende kurze Meldung: „Heute fuhr die erste Freiwilligengruppe von bulgarischen Tschechoslowaken in Richtung Heimat ab. Der Trupp reist über Bukarest und umfasst 70 Personen unter der Führung von Oberleutnant Troskov. Zur Verabschiedung erschien mit Botschafter Maxa an der Spitze die ganze tschechoslowakische Kolonie sowie viele bulgarische Freunde der Tschechoslowakei, hauptsächlich Studenten, auf dem Bahnhof in Sofia. Sie wurden von enthusiastischen Grüßen begleitet. Die Abreisenden schworen, dass sie die Republik und die Freiheit bis zum letzten Atemzug verteidigen würden. Ein Sonderwaggon, zur Verfügung gestellt von der Verwaltung der bulgarischen Eisenbahnen, war mit tschechoslowakischen Fahnen und vielen Blumen geschmückt.“ So weit die Presse. Auf dem Bahnsteig blieb noch eine Zeit lang nach der Abfahrt des Zuges eine kleine Schar von winkenden Verwandten und Freunden zurück, Schluchzen war zu hören. Der sechsjährige Vladimír Troskov stand neben seiner Mutter, die sich die Tränen aus den Augen wischte. Ein ältere Dame beugte sich zu ihm hinunter und fragte ihn: „Warum weinst du nicht, mein Junge?“ – „Ein Mann, meine Dame, weint nicht“, antwortete er stolz. Die Gruppe dieser Freiwilligen wurde nach der Ankunft in der Tschechoslowakei augenblicklich bewaffnet und Einheiten der Armee zugeteilt. Die Situation entwickelte sich jedoch anders, als anzunehmen war. Anstelle des Widerstandes bis zum letzten Atemzug erfolgten die Kapitulation und die Abtretung der Grenzgebiete an das Deutsche Reich, ohne dass ein einziger Schuss abgegeben worden wäre. Die Enttäuschten kehrten nach Bulgarien zurück, nun schon weniger ehrenvoll, sondern in aller Stille und jeder auf eigenen Wegen. Im Zweiten Weltkrieg stand Bulgarien an der Seite von Nazi-Deutschland. Konstantin Troskov führte weiter die Firma Triumph und wohnte mit seiner Frau und seinem Sohn in einem modernen Zinshaus in Sofia. An einem der ersten Jännertage des Jahres 1944 begannen plötzlich die Sirenen zu heulen und gleichzeitig setzte ein alliierter Luftangriff auf die Stadt ein. „Meine Mutter und ich haben zu Hause gewartet, bis mein Vater aus der Arbeit kam. Gleich als er gekommen war, wollten wir in den Schutzraum gehen, aber meiner Mama kam plötzlich in den Sinn, dass sie noch einen Topf Milch auf dem Herd stehen hatte, und sie rannte zurück, um ihn wegzustellen. Diese 163

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paar Sekunden haben uns das Leben gerettet“, erinnert sich Vladimír Troskov an den schicksalhaften Moment. „Mit einem Mal gab es einen ohrenbetäubenden Krach. Um uns herum verdunkelte sich alles, überall waren Staubwolken. Das Haus hatte einen direkten Treffer erhalten, nur auf der Seite, an der sich unsere Wohnung befand, blieben Mauerreste und ein Teil des Fußbodens übrig. Wären wir in das Stiegenhaus hinausgerannt, hätten wir nicht überlebt. Die Wohnungstür war verschwunden und dahinter war alles, einschließlich der Stiegen, zusammengesunken und hatte sich in einen Haufen von Trümmern, Schutt, Ziegel und Holzbalken verwandelt. Glücklicherweise lagen wir nicht darunter. Wir wurden direkt in unserer Wohnung verschüttet. Als man uns befreite, litt ich unter einem Schock. Ich erinnere mich an die kleinsten Details vor dem Einschlagen der Bombe, aber was sich unmittelbar davor zugetragen hat, ist völlig verschwunden, so als ob jemand die Erinnerung daran aus meinem Gedächtnis ausgelöscht hätte. Man half uns, auf die Straße zu gelangen und zusammen mit meinem Vater und meiner Mutter ging ich irgendwohin weg. Von diesem Augenblick an erinnere ich mich wieder an alle Details. Von der Dunkelheit gelangten wir hinaus ins grelle Licht, wir waren schmutzig, verletzt, blutverkrustet, trotzdem aber glücklich, überlebt zu haben. Dann haben wir uns umgesehen und dem Glücksgefühl wich schnell die Ernüchterung. Das Haus, in dessen Hof ich mit anderen Buben gespielt hatte, war dem Erdboden gleichgemacht worden, ich habe meine toten Freunde gesehen, auf einer Bahre auf der Erde. Daneben das Gleiche, ein weiterer direkter Treffer, weitere Tote. Während weniger Augenblicke fanden wir uns in einer anderen Wirklichkeit wieder, meine frühere Welt lag in Trümmern. Ich fühlte den Schmerz der Hoffnungslosigkeit. In einem solchen Augenblick wissen Sie nicht, was Sie tun sollen, Sie haben nichts. Nichts ist geblieben, Sie wissen nicht, wohin Sie gehen sollen. Für die nächsten paar Tage half uns ein Bekannter meines Vaters. Sie hatten zwar selbst kaum Platz, aber sie haben uns bei sich aufgenommen. In der darauf folgenden Nacht heulten die Sirenen von Neuem und weckten uns aus unserem unruhigen Schlaf. Ein weiterer Fliegeralarm. Am Sternenhimmel lösten sich aus den Schächten der Flugzeuge langsam die Bomben, es war taghell. Wir ließen alles stehen und liegen und flohen schnell aus dem Haus. Mit den anderen Leuten aus der Umgebung liefen wir zur Staatsbank in die nächste Straße, um dort Zuflucht zu suchen. Im Keller befanden sich große Tresorräume, der sicherste Unterschlupf in der Umgebung. Die ersten Bomben fielen auf die Stadt, die 164

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7. Treffen der Brüder Troskov im Sofia, 1937. Links Konstantin, daneben Nikolaus, davor mit dem weißen Fuchspelz Anna, die amerikanische Ehefrau von Nikolaus, der kleine Vladimír Troskov und Konstantins Frau Miloslava.

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Bank erhielt einen Treffer, dann einen zweiten, im Untergrund brach Panik aus, die Menschen kreischten, waren sprichwörtlich wie von Sinnen, ein wahrer Albtraum. Einige fielen in Ohnmacht, zwischen den Leuten liefen Schwestern mit weißen Armbinden hin und her und versuchten tapfer zu helfen, die Wände und der Boden zitterten, aber die Decken aus Stahlbeton hielten stand. Nur dass durch diese Erschütterungen auch das Fundament des Gebäudes in Bewegung versetzt wurde, worauf sich die mit Dokumenten und Kostbarkeiten gefüllten Tresore von selbst öffneten. Die Bankangestellten liefen verzweifelt von einem zum anderen und versuchten, sie wieder zu schließen. Sobald die Sirenen verklungen waren und somit das Ende des Fliegerangriffs anzeigten, kehrten wir zu unseren Bekannten zurück. Je näher wir kamen, desto mehr wuchs unser Entsetzen. Von dem Haus waren nach dem Angriff nur die nackten Außenwände stehen geblieben. Wir lasen auf, was wir in den Schutthalden finden konnten, aber in Wahrheit blieb uns nicht mehr als das, was wir am Leib trugen. So machten wir uns zu Fuß auf den Weg hinaus aus der Stadt. Es war uns egal, wohin wir gelangten, Hauptsache, nur weg von dort. Das Wetter war schlecht, in diesem Winter fiel sehr viel Schnee und es fror. Mit uns unterwegs war ein Kollege aus Papas Handelsfirma, ein ehemaliger russischer Offizier mit seiner Familie. Wir steuerten auf ein etwa zehn Kilometer entferntes Dorf zu, wo ein Bauer lebte, der vor einiger Zeit eine tschechische Dreschmaschine für Getreide gekauft hatte. Er ließ uns bei sich wohnen und stellte uns einen Raum zur Verfügung. Wir mussten uns ein wenig einschränken. Wir waren nur drei, aber Herr Ochabkin, Vaters Kollege, hatte sieben Kinder, also zusammen waren wir zwölf. Einige Monate lebten wir unter diesen äußerst ärmlichen Verhältnissen. Alle zwölf schliefen wir zusammen auf dem Stroh in diesem einen Raum, in dem man nicht heizen konnte, auch Essen gab es nicht genug. Mein Vater und meine Mutter gingen mit Herrn Ochabkin von Zeit zu Zeit jeden Morgen nach Sofia und am Abend kehrten sie wieder zurück. Den Großteil der Strecke mussten sie zu Fuß gehen. Wir blieben beinahe mittellos und sie versuchten daher, zumindest Teile des ehemaligen Besitzes in Sicherheit zu bringen. Die Firma Triumph verfügte in Sofia über verhältnismäßig große Lager mit landwirtschaftlichen Maschinen und Anlagen, aber nach den Bombenangriffen war davon nur noch ein Trümmerhaufen übrig geblieben. An der Wende vom Frühjahr zum Sommer 1944 gelang es meinem Vater, die nötige Erlaubnis für die Reise nach Hause nach Mähren, in das damalige Protektorat, zu erlangen. Im Zug hatten wir zwar durch die Vermittlung des Roten Kreuzes ein ganzes 166

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Abteil für uns reserviert, nur hielt sich niemand daran. Die Leute rauften sprichwörtlich um die Plätze und füllten das Coupé mit einer ungeheuren Anzahl von Gepäckstücken bis auf den letzten Platz. Besonders dramatisch verlief die Reise durch Jugoslawien. Sobald nämlich die dort zugestiegenen Reisenden feststellten, dass wir aus Sofia kamen, nahmen sie an, dass wir Bulgaren seien und es war für sie eine Angelegenheit der persönlichen Ehre, uns so viele Unannehmlichkeiten wie möglich zu bereiten. Als sie aber merkten, dass wir Tschechen waren, änderte sich ihr Benehmen auf geradezu bemerkenswerte Weise, denn auf einmal verhielten sie sich uns gegenüber sehr freundlich und umgänglich. Aber auch die Fahrt war voller Schwierigkeiten. In dem überfüllten Zug schliefen die Leute in den Gängen auf dem Boden und eigentlich überall, wo es einen freien Platz gab. Sie konnten nie wissen, was im nächsten Augenblick passieren würde, immer gab es irgendetwas. Der Zug hielt oft an, entweder weil etwas beschädigt war oder weil feindliche Jagdflugzeuge auftauchten und die Lokomotive zusammenschossen oder es ging die Kohle aus oder die Schienen waren zerstört. Das Kriegsende war nahe, überall herrschte ein Durcheinander, einige Male mussten wir den Zug verlassen und uns für die Nacht eine Unterkunft suchen, weil der Zug einfach nicht weiterfuhr. In Belgrad übernachteten wir in einem kleinen Hotel, in dem es keine einzige Tür mehr gab, auch nicht in den Zimmern, und für ein Stück Brot und eine Stange Wurst gingen wir durch die halbe Stadt. Auch in Wien wurden wir von einem Fliegerangriff überrascht. Mitten in der Nacht liefen wir irgendwo hinunter, vielleicht zu einer Untergrundbahn, ich kann es nicht mehr genau sagen, wir liefen um unser Leben. Der, der so etwas nicht erlebt hat, sagt sich vielleicht: ,Warum überhaupt irgendwohin laufen? Wenn ich getötet werden soll, dann werde ich getötet, egal wo ich bin.‘ Es genügt allerdings, zwei ordent­ liche Fliegerangriffe miterlebt zu haben, dann sagen Sie so etwas nicht mehr. Ihre einzige Sehnsucht gilt dem eigenen Überleben. Als wir schließlich nach einigen Tagen in das Protektorat kamen, haben wir uns, trotz aller Dinge, die sich dort zugetragen haben, wie in einem Paradies gefühlt.“ Konstantin Troskov hat in seinem Leben vieles erlebt, sodass ihm der Glauben an ein Paradies auf Erden nicht leichtfiel. Noch in der gleichen Nacht, als er seine Frau und den zehnjährigen Vladimír zur Großmutter nach UngarischHradisch begleitet hatte, verabschiedete er sich von ihnen und verschwand. Er wusste, warum er das machte. Schon am folgenden Tag fand sich die Gestapo bei ihnen ein, durchsuchte die ganze Villa und interessierte sich dafür, wo Oberleutnant Baron Troskov sei. Frau Troskov zuckte nur mit den Schultern. „Viel167

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leicht ist er nach Prag gefahren. Ich weiß es wirklich nicht, er hat mir nichts gesagt.“ Damit log sie nicht. Einige Wochen später hielt vor dem Haus in der Abenddämmerung ein Wagen, aus dem ein alter Bekannter aus der Familie Pařík, der Mitinhaber der Firma der Gebrüder Pařík in Napajedl, ausstieg. Er forderte Frau Troskov auf, mit Vladimír in den Wagen zu steigen. Er gab sich geheimnisvoll, aber seine Augen lachten, denn angeblich hätte er eine Überraschung für sie. Er brachte sie an die mährisch-slowakische Grenze, irgendwo in den Weißen Karpaten, zu einem Gasthaus an einem Grenzbalken. Auf der einen Seite stand ein deutscher, auf der anderen Seite ein slowakischer Soldat. Das Gasthaus verfügte über zwei Eingänge, einen auf der mährischen, den anderen auf der slowakischen Seite und erfreute sich großer Popularität. An diesem Abend war es dort sehr voll, aber Frau Troskov erblickte ihren Mann sofort, auch wenn er unrasiert und abgehärmt aussah. Ein ähnliches geheimes Treffen wiederholte sich noch einige Male, aber nicht allzu oft, war es doch nicht ungefährlich. Jedes Mal brachte er ihr Lebensmittel mit, an denen anderswo Mangel herrschte, und etwas Geld. Später wagte es Baron Troskov sogar, seinen Sohn für einige Tage zu sich in die Slowakei zu holen. Kaum hatten sie die Grenze überschritten, schärfte er ihm ein: „Sprich auf keinen Fall Tschechisch, ich bitte dich. Schweig lieber oder tu so, als ob du stumm wärst.“ „Wir fuhren nach Pressburg und ich habe mich nur verblüfft umgesehen“, erzählte Vladimír Troskov weiter. „In meinen Augen war das ein Ort des Überflusses. Bei uns herrschte zwar während des Krieges keine ausgesprochene Not, jeder bekam für seine Lebensmittelkarten zumindest ein Stück Butter und etwas Fleisch, nur in der Slowakei konnte man ohne diese Karten einkaufen. Dort bekam man auch Orangen und Ölsardinen. Als ich in der Auslage eines Geschäftes eine ganze gebratene Gans sah und als mein Vater mich fragte, ob ich darauf nicht Appetit hätte, habe ich nur geschluckt und ungläubig gefragt: ,Das, Papa, können wir kaufen? Und ganz ohne Karte?‘ Kaum jemand wusste, womit sich der Vater in der Slowakei beschäftigte, aber als im Mai 1945 der Prager Aufstand ausbrach, war er dort und kämpfte mit der Waffe in der Hand. Generationen seiner Vorfahren waren Soldaten und auch er konnte nicht anders handeln und im Abseits bleiben. Er wurde sich allerdings rechtzeitig der Gefahr bewusst, die ihm nach der Befreiung der Tschechoslowakei durch die Rote Armee drohte und traf Sicherheitsvorkehrungen. In dem Haus, in dem er lebte, mietete er im obersten Stockwerk noch eine 168

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Wohnung und wahrscheinlich auch irgendwo anders eine für den Fall, dass die sowjetische Geheimpolizei Interesse an ihm zeigte. Er bemühte sich darum, nie dort zu sein, wo sie ihn hätten suchen können. Um jeden Preis wollte er einem Zusammentreffen mit ihnen aus dem Weg gehen. Sie verfügten über ein vollständiges Verzeichnis aller russischer Emigranten und sie gingen für gewöhnlich auf Nummer sicher. Dutzende andere holten sie ab und brachten sie in die Sowjetunion. Er wusste, dass es ein Kampf mit der Zeit war, und aus diesem Kampf ging er siegreich hervor. Nach dem Krieg kehrte die Familie Troskov nicht mehr nach Bulgarien zurück. Sie nahmen ihren ständigen Wohnsitz in Prag und Konstantin baute seine Firma wieder auf. Er verfügte über viele gute Geschäftsfreunde und verkaufte Waren der Firma Meopta und anderer Unternehmen ins Ausland, hauptsächlich nach Bulgarien. Im Jahr 1948 wurde jede private Unternehmertätigkeit in der Tschechoslowakei untersagt, die Firma Triumph ging wie viele andere auch zugrunde. „Mit diesen Erfahrungen und Fähigkeiten hätte Ihr Vater unter bestimmten Umständen eine angemessene Stelle in einem ausländischen Betrieb finden können“, warf ich ein und wartete, was mir Vladimír Troskov darauf antworten würde. „Freilich, unter bestimmten Umständen“, räumte er ein, „wenn man Parteiangehöriger war und zur Zusammenarbeit mit dem Sicherheitsdienst bereit war. Mein Vater gehörte nicht dazu. Er nahm lieber eine Stelle in der Staatlichen Sprachschule in Prag an. Er unterrichtete Russisch, Deutsch und Bulgarisch. Russisch war sehr gefragt, in allen Betrieben lernten die Leute Russisch. Er war beliebt, war auch an der Botschaft der DDR tätig, wo man ihn ausdrücklich als Lehrer angefordert hatte. Auch in der Redaktion der Rude právo, der Tageszeitung der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, hielt er Kurse ab. Dann wurde er unvermutet hinausgeworfen. Er war einer von wenigen Arbeitslosen, denn im Sozialismus musste jeder eine Anstellung haben, andernfalls galt man als Schmarotzer, freilich ohne Anspruch auf Unterstützung. Von niemandem hat er auch nur eine Krone an Unterstützung bekommen. Lange konnte er keine Arbeit finden, niemand hat ihn eingestellt, jedes Mal gab es eine andere Ausrede. Aus Verzweiflung ging er vor Gericht und gewann den Prozess überraschenderweise. In den 1950er-Jahren grenzte es an ein kleines Wunder, gegen einen sozialistischen Arbeitgeber zu gewinnen. Das gelang ihm bestimmt nur 169

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deshalb, weil sich die dortige Gewerkschaft hinter ihn stellte. Als er sich daraufhin in seiner Schule zeigte, gab es einen kleinen Aufstand – die Kollegen gratulierten ihm und verbargen ihre Freude nicht, es wurde gefeiert. Überglücklich kehrte er nach Hause zurück. Dort hatte er nur die Schwelle überschritten und die Tür hinter sich geschlossen, als er zusammenbrach. Er erlitt einen Infarkt, höchstwahrscheinlich als Folge der nervlichen Anspannung. Er unterrichtete noch einige Jahre, erlitt aber mehrere weitere Infarkte. Erst der fünfte hat ihn endgültig besiegt.“ „Hat man Ihrem Vater gesagt, warum er von einem Tag auf den anderen entlassen wurde?“ „Aber nicht doch. Um so etwas hat man sich erst gar nicht bemüht. Mir ist etwas Ähnliches widerfahren, wenn auch bei Weitem nicht so brutal. Ich habe an einem Gymnasium maturiert, aber der Besuch einer Hochschule war für mich unerreichbar. Meinem Vater wurde empfohlen, sich darum erst gar nicht zu bemühen, weil ich aus kaderpolitischen Gründen nicht dorthin gelangen könne. Ich habe also einen Abiturientenkurs an einer Maschinenbaufachschule belegt und habe eine Arbeitsstellenzuweisung für das Unternehmen Chemoprojekt bekommen. Kaum jemand konnte sich aussuchen, in welche Firma er eintrat, darüber wurde auf dem Arbeitsamt entschieden. Im Jahr 1956 wurde ich im Rahmen einer Kaderüberprüfung entlassen und der Projektkanzlei der Kralovopolska Maschinenfabrik in Brünn zugeteilt. Dort war ich in interessanter Gesellschaft, unter kadermäßig vorgemerkten Personen, die in den Augen des Regimes unzuverlässig waren. Es handelte sich um Söhne ehemaliger Gewerbetreibender und Fabrikanten, Angehörige des vom Westen unterstützten Widerstandes und Verwandte von Emigranten. Erst später konnte ich einen postgradualen Lehrgang an der Technischen Universität in Prag belegen und arbeitete anschließend als leitender Planer in der Generaldirektion der ehemaligen Spofa, einem Unternehmen, das Arzneimittel herstellte. Nach dem November 1989 habe ich Einsicht in meine Kaderakte genommen und konnte mich nicht genug darüber wundern. Darin stand – ich erinnere mich daran beinahe Wort für Wort –, dass ich meine Anstellung bei Chemoprojekt nicht weiter ausführen konnte, weil mein Vater als ehemaliger Kapitalist und Offizier der Weißen Garde dem Sozialismus gegenüber nicht positiv eingestellt wäre und seine Erziehung einen schlechten Einfluss auf mich ausüben würde. Bei den Unterlagen waren auch einige Anzeigen abgelegt, die auf herausgerissenen Seiten hingeschmiert waren, so als ob es die Leute, die sie geschrieben 170

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hatten, schnell hinter sich bringen wollten. Zwei Kommunisten, die im gleichen Haus wie wir gelebt hatten, beschwerten sich darüber, dass mein Vater über Vermögen verfüge, was sie offensichtlich als Charakterfehler betrachteten, und irgendeine Frau erachtete es als wichtig mitzuteilen, dass er sich vor Jahren bei der Befreiung von Prag durch die sowjetische Armee bei einem Nachbarn darüber beklagt habe, dass er sein ganzes Leben vor den Bolschewisten geflohen sei, nur damit sie ihn nun doch endlich eingeholt hätten. Er sagte immer alles gerade heraus, weshalb ich mich eigentlich wundere, dass es über ihn nicht mehr Denunziationen gab.“ „Wusste man an Ihrem Arbeitsplatz, dass sie dem Geschlecht der Thurn und Taxis entstammen?“ „Ich denke, dass das niemand wusste. Zum Glück! Die Enzyklopädien besagen, dass der Zweig der Thurn und Taxis in Böhmen nicht mehr existiert. Mit dem Namen Thurn und Taxis hätte ich nicht als Planer arbeiten können.“ „Sie haben einen Namen mit einer im Tschechischen ungebräuchlichen Endung. Hat er Ihnen keine Schwierigkeiten bereitet?“ „Na eben, diese Endung war gerade dazu angetan, mich für einen Ausländer zu halten. Meine Mitschüler sagten immer zu mir: ,Hör mal, Vladi! Du bist in Varna geboren, du heißt Troskov. Bist du jetzt Russe oder Bulgare?‘ Es war schwierig, ihnen zu erklären, dass ich Tscheche bin, dennoch habe ich den Spitznamen ‚Bulgare‘ bekommen.“ „Hat es Ihre Mitschüler nicht überzeugt, dass Sie ausgezeichnet Tschechisch sprechen?“ Er begann zu lächeln. „In meiner Jugend beherrschte ich Tschechisch noch nicht so gut, bei uns zu Hause wurde alles Mögliche gesprochen. Auch Tschechisch, aber mehrheitlich Russisch. In Sofia habe ich die tschechische Schule besucht, die zusammen mit der Turnhalle des Sokol und dem tschechischen Res­ taurant zum tschechischen nationalen Zentrum gehörte. Im Jahr 1941, als Bulgarien in den Krieg eintrat, wurde es geschlossen und in eine deutsche Schule umgewandelt. Wir bekamen eine neue Lehrerin, eine überzeugte Deutsche, die ausschließlich Deutsch sprach … und die den tschechischen Namen Střibrná hatte. Mit meinen bulgarischen Freunden habe ich selbstverständlich Bulgarisch gesprochen und zu Hause eher Russisch.“ „Sagen Sie mir, … was ist aus Ihrem amerikanischen Onkel geworden? Haben Sie ihn noch einmal gesehen?“

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„Ach nein. Bald nach unserem Treffen ist er im Jahr 1941 gestorben. Nach seinem Tod sandten sogar die Rockefellers ein Kondolenzschreiben nach Sofia und schrieben darin, dass ihnen ‚Nicholas‘ sehr viel bedeutet habe und wenn irgendjemand aus unserer Familie einmal in Schwierigkeiten komme, würden sie immer gerne helfen. Es war eine schöne Geste, die man freilich nicht annahm. Aber nach dem Krieg, als Mangel an Lebensmitteln herrschte, hat uns ein Unbekannter über Vermittlung einer humanitären Organisation einige Pakete geschickt.“ Es interessierte mich, ob er irgendwann mit der reichen Primogenitur der Thurn und Taxis in Kontakt getreten war, die in Schloss St. Emmeram in Regensburg residiert. Er bekannte, dass er vor Jahren, als seine Familie schwere Zeiten durchlebte, dem damaligen Fürsten einen Brief geschickt hatte. Der Vater war zu dieser Zeit gestorben und die Mutter war ernsthaft erkrankt, er benötigte Hilfe. Der Fürst antwortete ihm, dass die Familie Thurn und Taxis in Zusammenhang mit der Konfiskation ihres Vermögens unselige Erinnerungen an die Tschechoslowakei habe und sein Gesuch daher ablehne. Es würde dringlichere Fälle geben. Er bemühte sich auch, Kontakt mit den Nachfolgern des Bruders seines Großvaters namens Adelbert herzustellen, dessen Tochter nach Österreich gegangen war, wo die Thurn und Taxis bis zum heutigen Tag in der Nähe von Graz leben. Aber auch das wollte nicht gelingen. Ähnlich wie seinem Vater ist es auch ihm nicht möglich gewesen, etwas über das Schicksal seiner drei Onkel herauszufinden, die während der bolschewistischen Revolution in Russland verschwunden waren. Bis heute gibt es auch keine hinreichende Erklärung für die rätselhafte Entscheidung, warum Rudolf Prinz Thurn und Taxis seinem Fürstentitel entsagte und auf seinen weltbekannten Namen verzichtete. „Haben Sie tatsächlich keine Ahnung, was ihn am Ende seines Lebens zu einem solch radikalen Schritt veranlasst hat?“, wollte ich von ihm wissen. Vladimír Troskov zuckte mit den Achseln. „Ich weiß es nicht, ich kann nur Vermutungen anstellen. Vielleicht sollte es ein symbolisches Vermächtnis sein. Er hat sich um die Gründung eines demokratischen Staates bemüht und als ihm das nicht gelang, setzte er zumindest einen symbolischen Schritt. Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe selbst nicht eine einzige Erklärung dafür gefunden.“

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8. Die fünfte Generation aus dem Geschlecht der Troskovs – Vladimírs Sohn Jiří.

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„Auf eine gewisse Art und Weise konnten Sie ihm freilich für den Namen Troskov während der ganzen 40 Jahre der kommunistischen Herrschaft dankbar sein. Es hat schon genügt, der Sohn eines Offiziers der Weißen Garden mit einer fragwürdigen Einstellung gegenüber der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu sein, Thurn und Taxis zu heißen wäre noch um einiges schlimmer gewesen. Später haben Sie sich aber selbst zu Ihrer Herkunft bekannt. Ist das aus dem Grund geschehen, damit der Name Troskov in die Enzyklopädien zurückkehrt?“ „Mein Urgroßvater Rudolf war zur Zeit der nationalen Wiedererweckung eine ganz außergewöhnliche Persönlichkeit. Dann war es so, als ob er von der historischen Bühne abgetreten wäre. Das Geschlecht der Troskovs ist irgendwohin verschwunden, nach seinem Tod hat scheinbar niemand sein geistiges Erbe angetreten. Möglicherweise würde ich über die Vergangenheit keine Nachforschungen anstellen“, fügte er hinzu, „aber der Unsinn, den ich über den Ursprung des Namens Troskov zu hören bekommen habe, hat mich außerordentlich provoziert. Etwa die Verbindung mit dem Namen des Dresdner Vorortes Trachau, wie jemand geschrieben hat! Das ist eine äußerst billige Schlussfolgerung. Ich bin davon überzeugt, dass er den Namen in Wirklichkeit nach der Burg Trosky gewählt hat, die sich in der Nähe seines Gutes in Nimierschitz befindet. Sie dürfen nicht vergessen, dass diese Burg früher einmal eine ganz andere Bedeutung als heute hatte. Am Ende des 19. Jahrhunderts war sie eines der Symbole der böhmischen Länder. Die Burgruine auf Rudolfs neuem Wappen erinnert frappant an Trosky. Das kann kein Zufall sein. Vor nicht allzu langer Zeit führte eine Zeitschrift eine Umfrage durch und wollte in Erfahrung bringen, was die Menschen am liebsten erlangen würden. Es hat mich überrascht, dass an einem der vorderen Plätze angeführt wurde ... ein Adelstitel. Stellen Sie sich das vor. In der heutigen Zeit! Möglicherweise werden aber doch nur jene Ideale wie etwa Edelmut und Ehre vermisst und man sehnt sich nach ihnen. Das ist ja bekannt, nicht alle Adeligen waren Heilige, aber viele von ihnen haben Museen, Spitäler und auch Schulen gegründet, ohne dass sie daran etwas verdient haben. Mein Urgroßvater hat praktisch sein ganzes Vermögen der nationalen Erneuerung zur Verfügung gestellt, sein ganzer Besitz ist zerronnen. Er war wie eine alte, vereinsamte Eiche. Er selbst hat es nicht vermocht, seine Gedanken umzusetzen und zu Ende zu führen, die anderen haben sich davor gefürchtet. Heute würde man über ihn sagen, dass er ein Fanatiker war. Anstatt die Freuden des Lebens zu genießen und sich mit Prunk zu umgeben, hat er alles seinen Idealen geopfert. Ich habe mich auch deshalb so intensiv 174

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mit seiner Person beschäftigt, weil ich so wenig über ihn wusste. Für mich war das wie die Begleichung einer persönlichen Schuld. Ich sagte mir, dass ich ihm das schuldig sei, wenn schon für nichts anderes als dafür, dass er nicht völlig in Vergessenheit gerät.“

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1. Christian Kinsky. In dem weitverzweigten Geschlecht stammt er aus der Linie von Sloup, die im 19. Jahrhundert Besitzungen in Mähren erwarb.

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Kinsky Die Tiefsinnigkeit der Erbauer einer mittelalterlichen Burg – „Diesen Fetzen können Sie auf einem anderen Fahnenmast hissen“ – „Eto German, erschießen, Towarisch!“ Unter den Vertriebenen in Österreich – Nachteile einer an einem Bergbach errichteten Säge – Der märchenhafte Nachlass des Fürsten Pálffy z Erdőd – Kinsky von Sloup und Dubsky von Trebomislitz

Vom südböhmischen Neubistritz aus waren es nur ein paar Kilometer durch den Wald und vorbei an ein paar versprengten Bauernhäusern auf den Wiesen Niederösterreichs. Der Weg führte weiter durch eine schöne, blaue Allee, hinter der die Straße allmählich bergab führt. Dann befindet man sich schon im Städtchen Heidenreichstein, in dessen Zentrum eine mittelalterliche Wasserburg in prächtig wirkendem gotischem Stil thront. Ich überquerte zwei Fallbrücken, die erstaunlicherweise immer noch funktionstüchtig waren. In der Vergangenheit waren über sie oftmals in größter Eile Bewaffnete mit ihren Pferden hinweggeritten, nach dem Hufschlag des letzten darübergaloppierenden Reiters wurden sie knarrend hochgezogen, um so Feinde am Eindringen zu hindern. Während der ganzen 800 Jahre ihres Bestehens ist es niemandem gelungen, die Burg einzunehmen – weder den Hussiten im 15. Jahrhundert noch den Schweden im Dreißigjährigen Krieg. Die einen wie die anderen haben mit der Belagerung der uneinnehmbaren Burg reiche Erfahrungen gemacht. Die Mauern von Heidenreichstein bergen so viel Geschichte, dass es einem beinahe den Atem raubt. An einigen Stellen sind die Mauern über vier Meter dick, der Turm verfügt sogar über zwei Mauern, zwischen denen sich eine geheime Treppe befindet, über welche die Verteidiger der Burg im Fall der höchsten Gefahr unbemerkt vom Wehrgang nach unten gelangen konnten, um durch zwei unterirdische Gänge fliehen zu können. Der eine führte unter dem Teich hindurch nach Süden auf die Margithöhe hinter der Stadt, der andere in entgegengesetzter Richtung in die Stadt bis zur Kirche. Beide waren perfekte Fluchtwege. Zwei Fallbrücken, daher auch zwei Burgtore. Auf dem inneren Tor befinden sich drei Wappen aus Sandstein, die den früheren und gegenwärtigen 177

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Burgherren gehören. In der Mitte der Hirsch der Pálffys, links drei Adlerklauen, das Wappen des alten belgischen Adelsgeschlechts van der Straten, und rechts das unverwechselbare Wappen der Kinskys mit drei silbernen Wolfszähnen. Gegenüber der Burg befindet sich auf dem Vorhof ein einstöckiges, steinernes Gebäude mit der Aufschrift „Privat“. An der Tür kein Namensschild, nirgendwo eine Glocke. Nur ein metallener Türklopfer. Ich klopfte, nach einer Weile noch einmal, es schien mir, als ob das Schlagen kaum bis in den ersten Stock dringen konnte, aber dann öffnete sich die Tür, in der sich eine ältere, kleine Frau zeigte. Eine Weile versuchte ich ein wenig unbeholfen, mich auf Tschechisch-Englisch zu verständigen, dann lächelte sie. „Mit meinem Englisch vermag ich nichts auszurichten und Tschechisch verstehe ich nicht“, sagte sie freundlich. „Aber Sie kommen ohnedies zu meinem Mann, ich werde ihn rufen.“ Er war groß, hatte ruhige, gütige Gesichtszüge, schütteres graues Haar, trug ein Sakko und darunter einen bequemen Pullover. Ich hatte erwartet, dass er zurückhaltend und kühl sein würde, aber er war eher, wenngleich nur am Beginn, ein klein wenig vorsichtig und verlegen. Schon an der Art seines Handschlages und an der Art, wie er mich empfing, waren seine Noblesse und eine gewisse Freimütigkeit abzulesen. Ich muss zugeben, dass wir unser Treffen nicht von einem Tag auf den anderen vereinbart hatten. Er hatte es sich lange überlegt, hatte keine Lust auf ein Gespräch, wollte keine Publizität. Erst nach mehr als einem Jahr und nach einigen Telefonaten war er damit einverstanden, dass ich zu ihm komme und einen Einblick in sein Privatleben nehme. Zu guter Letzt erwies er sich als angenehmer Gesellschafter. Er verhehlte nichts, verbarg nichts, war mir gegenüber sehr entgegenkommend. In den Mauern der alten und ehrwürdigen Burg in Niederösterreich war bei meinen Besuchen öfter Tschechisch als Deutsch zu hören. An unsere Gespräche im Verbindungsgang, der von dem steinernen Haus zur Burg hinüberführte, erinnere ich mich wirklich gerne zurück. Das Zimmer war mit schönen antiken Möbeln eingerichtet. Das kleine Fenster lag im Schatten einer breit ausladenden Linde, die auf dem Vorhof stand, sodass es dort auch an einem sonnigen Sommernachmittag angenehm dämmrig war, was zur charakteristischen Atmosphäre des Raumes beitrug. „Möchten Sie sich die Burg ansehen?“, fragte er mit einem Mal. Es war bereits Abend geworden, draußen war es dunkel, aber selbstverständlich stimmte ich zu. Er griff zu einer Taschenlampe, holte einen großen eisernen Schlüssel aus dem Tresor 178

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2. In Niederösterreich, unweit der tschechischen Grenze, befindet sich die Wasserburg Heidenreichstein. Viele Jahre war sie im Besitz der Familie Pálffy, nunmehr gehört sie der Familie Kinsky.

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und zeigte mir zumindest einige der vielen Räumlichkeiten, verschiedene Kammern und unübersichtliche stille Winkel im Gängegewirr der mächtigen Burg. Das besondere Erlebnis seiner Führung beim Schein der Taschenlampe – denn elektrische Leitungen waren nicht überall eingeleitet worden – wurde durch die Stille, die Dunkelheit und die Weitläufigkeit der Räume noch erhöht. Die Burg ist etwas, mit dem Christian Kinsky aufgewachsen ist, sie ist seine Passion und sein Schicksal, sie ist gleichzeitig Quelle von Freude und Sorgen. Sie ist einer der Gründe, warum er sich auch in seinem Alter und trotz verschiedener Krankheiten auf jeden neuen Tag freut. Er wurde im Schloss Löschna, unweit von Wallachisch-Meseritsch, als jüngster Sohn von Graf Friedrich Adolf Kinsky und Margareta, Gräfin Dubsky von Trebomislitz, geboren. Ursprünglich waren es sechs Geschwister, aber der kleine Philipp starb bald, sodass sie drei Brüder, Friedrich, Peter und Christian, sowie zwei Mädchen, Marie und Elisabeth, waren. Das Schloss, in dem sie aufwuchsen, hatte nur etwa 20 Zimmer, die Gemäldegalerie mit eingeschlossen, aber es fehlte nicht an einem Schwimmbad, einem Tennisplatz, einer Kegelbahn. Es gab dort auch drei Gewächshäuser und vor allem einen schönen, sieben Hektar großen Park mit fremdländischen Pflanzen und Bäumen, auf den die Kinskys besonders stolz waren. Es handelte sich um keinen alten Familiensitz. Das Schloss war erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Besitz der Kinskys, als es Graf August Leopold, Herr von Trpist und Bürgstein in Böhmen, seines Zeichens kaiserlicher Kammerherr und Rittmeister der Reserve in einem Dragonerregiment, für seinen jüngeren Sohn Philipp Ernst erwarb. Sein älterer Sohn August Franz erbte von ihm den Großgrundbesitz Bürgstein in Böhmen. Ähnlich wie viele andere sahen sich auch die Kinskys aus Löschna zur Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie vor allem als Österreicher. Nach dem Ersten Weltkrieg nahm zwar der älteste Sohn von Philipp Ernst, Friedrich Adolf, die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft an, bekannte sich aber zur österreichischen Nationalität. Der Zerfall der Monarchie war äußerst schmerzhaft für ihn, und mit der Entstehung der Tschechoslowakischen Republik konnte er sich nie identifizieren. Er fühlte sich weder als Tschechoslowake noch als Deutscher. Von sich selbst hat er behauptet, Altösterreicher zu sein. Er hatte einen Eid auf den Kaiser abgelegt, war ein kaiserlicher Offizier der alten Schule, für den ein Eid eine Ehrensache war. Die Ehre war das Allerwichtigste auf der Welt, etwas, für das man auch sein Leben hinzugeben hatte. Als sich der Zweite Weltkrieg bereits 180

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ankündigte und man vor die Wahl gestellt wurde, sich entweder für die eine oder für die andere Seite zu entscheiden, musste er sich wahrscheinlich vorgekommen sein, als hätte man ihn in eine Ecke getrieben. Seinem Zögern wurde zu guter Letzt durch einen Erlass des Führers und Reichskanzlers über die Schaffung des Protektorats Böhmen und Mähren zusammen mit einem sich daran anschließenden Reichsgesetz vom März 1939 ein Ende bereitet. Darin wurde verfügt, dass den Staatsangehörigen der Tschechoslowakischen Republik mit deutscher Nationalität, die das Heimatrecht in einer Gemeinde Böhmens, Mährens oder Schlesiens hatten, automatisch die reichsdeutsche Staatsbürgerschaft verliehen werden sollte. Für Friedrich Adolf bedeutete das eine Kompromisslösung, schließlich war doch auch Österreich ein Teil des Reiches geworden. Er konnte aber nicht ahnen, wie sehr dadurch das Leben seiner Söhne beeinflusst werden sollte. Wie es in aristokratischen Familien oft Brauch war, ging auch Christian nicht mit anderen Kindern zur Schule, sondern wurde von einem Hauslehrer unterrichtet. Erst als er älter war, schickte ihn sein Vater mit seinen Brüdern Friedrich und Peter sowie mit seiner Schwester Elisabeth zur Schule nach Neutitschein und ließ sie in das deutsche Gymnasium einschreiben. Graf Kinsky war ein strenger Mann, der an eine harte Disziplin gewöhnt war und dies auch von seinen Kindern erwartete. Er fand für sie in der Nähe des Gymnasiums eine kleine Villa, wo sie während der Schulzeit wohnten und stellte für sie einen gewissen Professor Haider an, der sie überwachen sollte. Der Herr Professor stellte den Grundsatz auf, dass nur eine Wassermelone im Liegen wachse, und führte ein strenges Regiment ein – während des Tages Schule, am Nachmittag und am Abend lernen, in der Nacht schlafen. Kein Müßiggang und keine Zerstreuung, kein Herumsitzen im Kino, keine Trinkgelage in Wirtshäusern, keine Treffen mit Mädchen, nichts dergleichen, nur Arbeit. Paradoxerweise war die Zeit am Gymnasium für die Brüder die letzte Gelegenheit, um zusammen zu sein. Als Erster verließ Friedrich, der älteste Bruder, Neutitschein. Er soll angeblich neben Deutsch auch ein beinahe schon literarisch schönes Tschechisch gesprochen haben. Nach der Matura absolvierte er die Militärakademie in Pardubitz und wollte nach dem Vorbild seines Vaters Soldat werden. Als Offizier der tschechoslowakischen Armee trat er zuerst seinen Dienst in der Garnison in Göding an und kam von dort zum elitären Reiterregiment nach Pardubitz, in dem die Kinskys seit jeher dienten. Nach den unseligen Ereignissen des Jahres 1939 und im Zuge der Änderung seiner Staatsbürgerschaft wurde er in die deutsche Wehrmacht einberufen. Er 181

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wurde zum Kommandeur einer Panzereinheit gemacht, diente unter Marschall Rommel und bestand bei El Alamein schwere Kämpfe in Nordafrika. Als einmal für ein paar Tage eine von keiner Seite ausgerufene Waffenruhe eintrat – es war so heiß, dass es einem den Atem raubte und allen hing der Krieg zum Hals heraus, die Frontlinien waren einander so nahe, dass sie und die Engländer sich gegenseitig etwas zurufen konnten und einander aufstachelten – stand er in seinem Panzer, den Deckel geöffnet, den Oberkörper entblößt. Plötzlich tauchten, geschützt durch das gleißende Sonnenlicht – so sah es zumindest aus – über ihm englische Jagdflugzeuge auf und eröffneten das Feuer. Bevor er noch reagieren konnte, detonierte vor ihm eine Fliegerbombe. Er brachte lange Zeit im Lazarett zu, hatte zwar überlebt, blieb aber sein Leben lang gezeichnet. Er hatte schwere Verbrennungen, war an einem Auge erblindet, die Sehkraft des anderen war stark eingeschränkt. An die Front kehrte er nicht mehr zurück, nahm auch seinen Abschied aus der Armee. Nach dem Krieg wurde er dreimal zum Großmeister des Malteserordens in Österreich gewählt. Seine Berufung erkannte er im Dienst am Nächsten, was ihm durch den Ritter- und Hospitalorden vom Hl. Johannes von Jerusalem ermöglicht wurde. Sein jüngerer Bruder Peter schlug einen anderen Lebensweg ein. Weil er von seinem Vater die Verwaltung des Familienbesitzes einschließlich der Leitung des Großgrundbesitzes in Löschna übernehmen sollte, begann er nach der Absolvierung des Gymnasiums an der Hochschule für Landwirtschaft zu studieren, die er aber wegen des Krieges nicht abschließen konnte. Er musste einrücken und kämpfte ebenso wie sein Bruder Friedrich in einer Panzereinheit der Wehrmacht. Im Jänner 1945 befand er sich irgendwo in Schlesien. Als sich die deutsche Armee im großen Umfang zurückzog, wurde sein Panzer abgeschossen, er wurde verletzt und starb auf dem Weg ins Feldlazarett. Als der Krieg ausbrach, besuchte Christian noch das Gymnasium in Neutitschein. Jeder deutsche Schüler – und somit auch er – wurde Mitglied der Hitlerjugend, wo auch immer er zur Schule ging, ob er nun wollte oder nicht. Er konnte sich nur aussuchen, was er in dieser Jugendorganisation tun wollte. So entschied er sich für das Fliegen und absolvierte Übungen mit dem Segelflieger. Selbstverständlich ritt er auch, denn ein Kinsky ohne Pferd war nicht gut vorstellbar. Im Jahr 1942, als er 18 Jahre alt war, erhielt er den Einberufungsbefehl. Er ging zu seinem Vater und hatte mit ihm ein langes und turbulentes Gespräch. Er stemmte sich vehement gegen die Einberufung. Er sagte, dass er nicht für Hitler kämpfen werde, dass das nicht sein Krieg sei. Friedrich Adolf Kinsky war 182

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3. Friedrich Kinsky an der Spitze seiner Kompanie beim Feldzug in Russland während des Ersten Weltkrieges.

über seinen Sohn sehr erzürnt. Etwas Derartiges konnte er sich überhaupt nicht vorstellen, geschweige denn entschuldigen. Sein Sohn lehnte es ab zu kämpfen! Was für eine Schmach! Was für eine Beschmutzung der ganzen Familie! Er selbst hatte die Disziplin im Blut, für ihn war ein Befehl ein Befehl. Das Vorgehen seines Sohnes verletzte seine Soldatenehre und seine väterlichen Gefühle. „Es war keine Feigheit von mir“, erklärte mir Christian Kinsky, „aber auch keine Verwegenheit. Ich war ein überzeugter Antifaschist und konnte Hitler und seiner verbrecherischen Ideologie nichts abgewinnen. Ich war gegen den Krieg.“ 183

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„Konnten Sie das Ihrem Vater erklären?“ „Erinnern Sie mich lieber nicht daran. Es gab große Probleme, mein Papa konnte sehr streng sein. Wenn man auf etwas einen Eid abgelegt hatte, dann musste man es auch erfüllen. Er war aufbrausend, regte sich schrecklich auf. Für ihn war ich eine verachtenswerte Kreatur. Das schwarze Schaf der Familie. Wir sind deshalb im Streit auseinandergegangen. Er hat mir das nie verziehen, auch wenn er später möglicherweise versucht hat, meine Entscheidung zu verstehen. Schließlich musste ich einrücken, die Missachtung wäre einer Desertation gleichgekommen und dafür gab es während des Krieges nur eine Strafe – Tod durch Erschießen. Im März 1942 habe ich in Gleiwitz meinen Dienst bei der Luftwaffe angetreten. Dort habe ich einen Pilotenkurs absolviert und alles unternommen, um von der Armee weg zu kommen.“ In Wahrheit handelte es sich um einen Schnellsiedekurs, der nur drei Monate lang dauerte. Danach sollten sich die jungen unerfahrenen Burschen in das Cockpit eines Jagdflugzeuges setzen und sich in Frontkämpfer verwandeln. Der Tag der Vereidigung, mit der der Kurs feierlich abgeschlossen werden sollte, rückte näher. Für diesen feierlichen Akt wurden acht hochgewachsene Soldaten ausgesucht, die die Reichsflagge hissen sollten, unter ihnen Christian Kinsky. Er war groß, blond und blauäugig, auf den ersten Blick ein nordischer Typ, reinrassig. Was tut es da schon zur Sache, dass seine Vorfahren aus vielen Völkern stammten und in seinen Adern auch slawisches Blut floss? Nach der Rückkehr von einer Übung in die Kaserne konnte er sich nicht zurückhalten und sagte verärgert, dass man einen anderen aussuchen solle, der diesen Fetzen auf dem Fahnenmast hissen sollte, er werde es nicht tun. Die Fahne mit dem Hakenkreuz zu dieser Zeit als Fetzen zu bezeichnen, war ein schwerwiegendes Vergehen. Es war geradezu Hochverrat und jemand meldete ihn. Augenblicklich wurde er in den Kerker geworfen. Der General, der über die Angelegenheit entscheiden sollte, leitete seinen Fall zum Glück nicht an das Kriegsgericht weiter und entschied sich dafür, die ganze Angelegenheit gütlich zu lösen. Möglicherweise spielte die adelige Herkunft eine gewisse Rolle, vielleicht war der General auch kein Anhänger des Nationalsozialismus. Gütlich heißt aber auch nicht, dass der Fall mit einem bloßen Schulterzucken geendet hätte und unter den Tisch gefallen wäre. Kinsky wurde als „wehrunwürdig“ erklärt, unwert, eine Waffe zu tragen, für den Militärdienst unzuverlässig. Er wurde in die psychiatrische Abteilung eines Gefängnislazaretts mit der Diagnose „neurologisch-mentale Erkrankung infolge einer gestörten Regulierung 184

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psychischer Abläufe“ eingeliefert. Vor den Fenstern der Zelle befanden sich Gitter, er wurde wie ein Patient mit verminderter Intelligenz behandelt, er trug das Mal eines Schwachsinnigen, der nicht für den Sieg des Dritten Reiches, die Nation, für Hitler kämpfen wollte. Familienmitglieder oder Bekannte hatten keinen Zutritt zu ihm, Besuche wurden nicht gestattet. Ausnahmen gab es nicht. Seiner Mutter gelang es als Einziger, diese Verbote zu umgehen. Durch Protektion an höchster Stelle gelang es ihr, einige Male zu ihm zu kommen. Für sie war er zu keinem schwarzen Schaf geworden, nichts konnte ihrer Beziehung zu ihm etwas anhaben – weder eine Beleidigung des Führers noch eine Desertation. Beinahe ein Jahr lag er sich in Krankenhäusern wund, es wechselten Lazarette in Schlesien, Wien und Brünn. Zuerst simulierte er nur, kein Doktor konnte ihm in den Kopf sehen, aber nach und nach, umgeben von tatsächlichen Nervenkranken, wäre er fast einer von ihnen geworden und erkrankte ernsthaft. Er bekam Diphtherie und Herzprobleme, sein Blutzuckerspiegel stieg an, er litt an Blutandrang im Kopf und geriet in einen heillosen psychischen Zustand. Er war sprichwörtlich am Boden und spürte, dass der Zeitpunkt nicht mehr fern war, wo er tatsächlich verrückt werden würde. „Ein tschechischer Arzt aus Brünn hat mich gerettet. Er arbeitete wegen des Mangels an deutschen Militärärzten für die Wehrmacht. Er erstellte eine Diagnose, die von den kontrollierenden deutschen Ärzten akzeptiert wurde und die der Grund für meine Entlassung aus der Armee war.“ Dem Schlimmsten war er entronnen, aber aufgrund der Entscheidung des Kreisleiters, des Verwalters der Okkupationsmacht in Mähren, durfte er sich nicht zu Hause bei seinen Eltern in Löschna aufhalten. Er ging also zu seiner Schwester Marie nach Teltsch, die dort mit ihrem Mann, Leopold Graf Podstatzky-Lichtenstein, lebte, dem die Schlösser in Teltsch und Weseliczko gehörten. Sein Schwager stellte ihn als Jagdgehilfen an, und weil er Deutsch und Tschechisch gleich gut sprach und ausgezeichnet mit Menschen umgehen konnte, wurde er auch als Übersetzer herangezogen, als Verbindungsglied zwischen Tschechen und Deutschen auf der Herrschaft in Teltsch. Anfang Mai 1945 feierte Christians Mutter ihren 60. Geburtstag, weshalb er sich zur ihr auf den Weg machte. Der Krieg ging in Europa auf sein Ende zu, irgendwelche Verbote oder Weisungen eines Kreisleiters hatten ihre Wirkung verloren. Es war aber keine fröhliche Feier. Kurz vorher war sein Bruder Peter an der Front gefallen und der andere Bruder, Friedrich, laborierte immer noch an den Folgen seiner schweren Verwundung, die er in Nordafrika erlitten hatte. 185

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Eine feierliche Stimmung kam nur in dem Moment auf, als die örtliche Kapelle unter dem Fenster für die Gräfin aufspielte. Die Ereignisse begannen nach der Ankunft der Sowjetarmee eine dramatische Wende zu nehmen. Graf Kinsky und seine Frau wurden von zwei mit Gewehren bewaffneten Männern in Zivilkleidung abgeholt, deren Armbinden sie als Mitglieder der Revolutionsgarden auswiesen. Sie brachten die beiden auf die russische Kommandantur, wo sie eine Meldung machten, als hätten sie ein weidwundes Tier eingefangen: „Eto German, erschießen, Towarisch!“ Es hätte damals nicht viel gefehlt, dass ihrer Intention entsprochen worden wäre. Aber entweder kamen die Gardisten den Soldaten der Roten Armee etwas eigenartig vor oder sie hatten nicht viel Lust am Morden, das sie gerade selbst erst überlebt hatten. Schließlich entschlossen sich diese Helden, das Ehepaar Kinsky zum Verhör abzuführen. Als sie am Schloss vorbeikamen, trafen sie auf einen anderen Kameraden mit einem herrlichen Pferdesattel unter dem Arm. Der Ledersattel fesselte sofort ihre Aufmerksamkeit und sie wollten wissen, wo er ihn herhatte. „Dort oberhalb der Ställe“, gab der rotwangige Soldat zuvorkommend Auskunft und zeigte mit der Hand in diese Richtung. „Dort gibt es eine ganze Menge Sättel, einer schöner als der andere.“ Das Interesse der Russen für das Ehepaar Kinsky erlahmte augenblicklich, und sie steuerten auf den Stadel zu. Beide Kinskys betrauerten in diesem Augenblick zwar den Verlust ihrer Sättel, begaben sich aber schnell ins Dorf, wo sie sich ein paar Tage bei ihrem früheren Chauffeur versteckt hielten, bevor die Sowjetarmee weiter nach Prag zog. Obwohl sich der Graf zum Deutschtum bekannt hatte und Major der Wehrmacht war, fanden sich vor allem unter der Dienerschaft des Schlosses Leute, die bereit waren, ihrem früheren Arbeitgeber zu Hilfe zu eilen. Sie hatten seine Intervention während des Krieges nicht vergessen, als auf dem Bahnhof des nahe gelegenen Ortes Partisanen etwa zehn Eisenbahnwaggons in die Luft gejagt hatten, in denen sie Waffen und Munition vermutet hatten. In Wirklichkeit befanden sich darin aber Uniformröcke und Konserven, aber SS-Einheiten wollten alle Männer des Dorfes erschießen. Damals hatte sich Graf Kinsky in seiner Funktion als Major der Wehrmacht und Mitglied der NSDAP vehement gegen eine solch brutale Vorgehensweise eingesetzt und es gelang ihm, ein Massaker zu verhindern. Das Ehepaar Kinsky kehrte nicht mehr ins Schloss zurück. Eine Zeit lang waren sie gemeinsam mit anderen deutschen Bewohnern aus der Umgebung in einer Hutfabrik in Wallachisch-Meseritsch interniert. Sie wurden mehrmals ver186

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hört und kehrten die Straßen der Stadt. Einige Bürger aber forderten sie öfters zu sich nach Hause zur Arbeit an, vielleicht am öftesten der örtliche Tierarzt, wo sie dann würdigere Arbeitsbedingungen vorfanden. Zumeist mussten sie dort aber gar keine Arbeit verrichten. Im Sommer 1945, nach der Entlassung aus der Internierung, wurde ihnen die Übersiedlung in ein Gebäude auf dem Wirtschaftshof des Schlosses gestattet, in dem nach dem Tod eines Försters und dessen Schwester, die kurz zuvor verstorben waren, eine Wohnung frei geworden war. Woche für Woche mussten sie sich freilich auf dem Amt melden und durften ohne Erlaubnis nicht wegfahren. Es gelang ihnen, nur die allernotwendigsten Dinge – mehr oder weniger geheim – aus dem Schloss zu holen, die sie dann bei Bekannten im Dorf versteckten. Währenddessen blieb das Tor des Schlosses ständig unversperrt. Es war auch nicht bewacht und niemand achtete darauf, ob jemand etwas heimlich an sich nahm. Es waren im wahrsten Sinn des Wortes Tage der offenen Tür. Wer immer es wollte – außer ihnen –, konnte hineingehen und mitnehmen, was ihm gefiel. Einige Frauen aus dem Ort rühmten sich stolz damit, die Kleider der Gräfin Kinsky zu tragen. Ein erstes Verzeichnis des Schlossinterieurs wurde erst im Jahr 1955 erstellt, zuvor war aber bereits in einem Bericht über den Zustand des Schlosses aus dem Jahr 1946 betont worden, dass es durch das Militär und durch die Plünderungen der Bevölkerung zum unersetzbaren Verlust von Bildern, Teppichen, Porzellan, Zinngeschirr und Gobelins gekommen war, während große Möbelstücke, Barockschränke, Sekretäre oder Tische im Schloss verblieben waren, da sie sich für den Abtransport als zu schwer erwiesen hatten. Irgendein Schnäppchenjäger aus dem Dorf holte sich ein sperriges Bett aus dem Schloss, bemerkte aber zu Hause, dass es nicht durch die Tür seiner Hütte passte, worauf er es lieber noch in der gleichen Nacht zurückbrachte. Der Graf und die Gräfin lebten zwei Jahre lang auf dem Wirtschaftshof. Es war keine sehr angenehme Zeit für sie. Die Leute teilten sich im Umgang mit ihnen in zwei Lager. Einige entschieden sich dafür, ihnen Schwierigkeiten zu bereiten, verleumdeten sie und verleideten ihnen das Leben. Einmal wurden sie von jemandem wegen Holzdiebstahls angezeigt, als sie bei einem Waldspaziergang etwas Reisig sammelten, um zu Hause einheizen zu können. Andere wiederum hinterlegten ihnen in der Nacht heimlich Essen auf den Stufen ihrer Wohnung. „Am allerschlimmsten haben sich die verhalten, die auch während des Krieges schon gestohlen hatten“, sagte Christian Kinsky. „Als die Russen kamen, 187

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waren das die Rachsüchtigsten. Sie waren dazu fähig, auf irgendjemanden, der ihnen nicht behagte, mit dem Finger zu zeigen und zu erklären: ,Das ist ein Nazi. Man sollte ihn erschießen.‘“ Nach zwei Jahren stellten beide Kinskys ein Ansuchen für die Ausreise nach Österreich. Zuerst aber mussten sie eine Erlaubnis für die Fahrt nach Prag einholen, um dort das Gesuch einzureichen. Dann warteten sie auf die österreichische Einreiserlaubnis. Diese erhielten sie jedoch erst aufgrund einer eidesstattlichen Erklärung, wonach für sie eine Unterkunft im Wiener Palais Kinsky sichergestellt sei und dass sie dem Wiener Magistrat nicht zur Last fallen würden. Drei Tage nach der Feier anlässlich des 60. Geburtstages seiner Mutter machte sich Christian mit seiner 15-jährigen Schwester Elisabeth von Löschna auf den Weg nach Prag. Zu Fuß. Die Wege waren mit Fahrzeugen und Flüchtenden verstopft, es herrschte Chaos. „Ihr seid verrückt geworden, so eine Narretei. Ihr kommt niemals nach Prag“, versuchten sie die Leute, die sie unterwegs trafen, von ihrem Vorhaben abzubringen. Sie entschlossen sich, zu den Kinskys nach Saar an der Sazau zu gehen, fanden dort aber keinen ihrer Verwandten vor. Sie machten sich daher zu ihrem Schwager Leopold Podstatzky und ihrer Schwester Marie auf den Weg. Sie benötigten zehn Tage dafür. Zwischendurch wurden sie von halbmilitärischen Streifen angehalten, verhört und wieder freigelassen. „Als wir nach Teltsch kamen“, erzählte Christian Kinsky, „wurde Elisabeth ins Schloss gebracht und ich wurde ins Gefängnis gesperrt. Ich wusste nicht, warum, was ich angestellt hatte. Von morgens bis abends, Tag für Tag, mussten alle, die dort waren, ununterbrochen stehen oder gehen, wir durften uns nicht setzen, obwohl sich dort Pritschen befanden. Wir wurden von der auf dem Gang patrouillierenden Wache kontrolliert, die ab und zu hereinschaute, ob wir das Verbot auch einhielten. Am Ende des Ganges wohnte Herr Kadlec, ein ehemaliger Bediensteter meines Schwagers. Wir kannten einander gut aus meiner Zeit in Teltsch, aber als sie mich einsperrten, wurde er von einem gänzlichen Gedächtnisverlust befallen und stellte sich so an, als ob er mich nie zuvor gesehen hätte. Seine Frau war anders, sie wusste, dass wir dort nicht verhätschelt wurden und Hunger litten. Sie brachte mir oft etwas zu essen, eingewickelt in Zeitungspapier, das sie mir durch das Guckloch der Tür hereinwarf. Im Gefängnis war ich einige Wochen lang, muss aber bekennen, dass ich dort von niemandem misshandelt wurde. Niemand hat versucht, mich zu schlagen, niemand hat sich mir gegenüber ausgesprochen feindselig verhalten. Ich hatte von 188

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Anfang an den Eindruck, dass sie die Familie Podstatzky nur loswerden wollten. Hauptsächlich ging es ihnen um den Besitz – um das Schloss Teltsch, um den Grundbesitz und Hunderte Hektar Wald. Eines Nachmittags tauchte ein Offizier in tschechoslowakischer Uniform mit zwei Zivilisten auf und forderte mich auf, meine Sachen zu packen und mit ihm zu kommen. ,Ich habe hier nichts‘, entgegnete ich ihm, ,nur das, was ich anhabe.‘ Alle meine Sachen waren nämlich im Schloss geblieben. ,Gut, holen Sie sie‘, sagten sie und brachten mich zu einem Auto, das von Herrn Staša chauffiert wurde, dem früheren Fahrer meines Vaters in Löschna. Staša war mit meiner Schwester Marie nach ihrer Hochzeit nach Teltsch gegangen, so wie sie es sich erbeten hatte. Wir fuhren auf den Vorhof des Schlosses. Hinein ließen sie mich nicht, der Kastellan würde alles erledigen. Nach einem kurzen Moment kam er auch und trug einen alten langen Mantel von meinem Großvater über dem Arm und ein Paar meiner Halbschuhe. Sonst wäre angeblich nichts anderes mehr da, die anderen Dinge wären verschwunden, jemand hatte sie wahrscheinlich weggebracht, sagte er. Wir setzten uns wieder in den Wagen und sie brachten mich ohne ein einziges Wort der Erklärung nach Österreich. An der Grenze hielt uns eine Wache an, aber da sie nichts bei mir fanden, nahmen sie mir wenigstens die Halbschuhe ab. Ein paar Kilometer weiter ließen sie mich auf dem Hauptplatz von Waidhofen aussteigen. ,Was wir für Sie tun konnten, haben wir getan‘, sagten sie. ,Von hier aus pilgern Sie jetzt alleine weiter.‘ Dieses Wort ist mir im Gedächtnis hängen geblieben. Ich konnte ganz und gar nicht verstehen, was sie damit sagen wollten, warum ich weiterpilgern sollte. Und wohin. Ich war schließlich in Mähren zu Hause. Niemand interessierte sich mehr für mich, auch Herr Staša nicht. Der wendete das Auto, drehte sich nicht einmal mehr nach mir um. Ich blieb dort auf diesem Platz, nur mit Hemd und Hose bekleidet, zurück, in der Kleidung, die mit mir den neuntägigen Marsch und die mehrwöchige Haft mitgemacht hatte, barfüßig – andere Schuhe als die, die sie mir weggenommen hatten, hatte ich nicht – und mit einem Schandmal versehen, weil sie uns im Gefängnis den Kopf geschoren hatten.“ Am nächsten Morgen machte sich Christian Kinsky zu Fuß – anders war es nicht möglich, denn öffentliche Verkehrsmittel fuhren nicht – in das nahe Dobersberg auf, wohin seine Schwester, sein Schwager und deren drei kleine Kinder von Teltsch aus gebracht worden waren. Das Städtchen war mit Vertriebenen überfüllt, während das örtliche Schloss leer war. Dessen Besitzer war in 189

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Ungarn in Gefangenschaft und so war nur ein Kammerdiener da, der sie jedoch kannte und dort wohnen ließ. „Ich arbeitete abwechselnd im Wald als Holzfäller und auf den Feldern als Landarbeiter. Nur für Essen. Geld habe ich nicht bekommen“, erinnerte er sich. „Dann hat irgendwie ein entfernter Verwandter, Emanuel Waldstein-Wartenburg, ein österreichischer Diplomat, von mir erfahren und bot mir an, auf seinem Gut zu arbeiten. Besonders begeistert war ich nicht davon, aber alles war besser, als im Grenzgebiet zu bleiben, wo sich Tausende verzweifelte und hungernde Menschen drängten, die die Tschechoslowakei hatten verlassen müssen. Einige Tage später tauchte eine schwarze, blank polierte Limousine mit österreichischer Flagge auf der Motorhaube auf, mit diplomatischem Kennzeichen, einem CD, und einem Chauffeur in Livree. Dieser suchte mich und sagte: ,Herr Graf, ich soll Ihnen vom Herrn Grafen bestellen, Sie mögen so liebenswürdig sein, alle Ihre Dinge zu packen und im Wagen Platz zu nehmen. Wir werden zu ihm auf sein Schloss fahren.‘ Wiederum hat mich jemand aufgefordert, meine Sachen zu packen, und ich hatte ja gar keine.“ Anfangs lebte Christian Kinsky auf dem Waldstein’schen Besitz und war dann Adjunkt in Idolsberg. Die Arbeit anderer zu kontrollieren und sie anzutreiben behagte ihm aber nicht. Er hatte Sehnsucht nach einer eigenständigen Tätigkeit, wollte die Möglichkeit haben, über sein Schicksal selbst zu entscheiden. Er wartete auf eine Gelegenheit, und als er das Angebot erhielt, eine Säge im Zillertal in Tirol zu pachten, musste er gar nicht erst lange nachdenken. Gemeinsam mit einem Freund stürzte er sich in die Arbeit, sie schufteten, aber es bereitete ihnen Freude. Nach und nach arbeiteten sie sich in das neue Berufsfeld ein, das Geschäft ging gut, sie erweiterten die Säge, bemühten sich auch darum, die Produktion auszudehnen und kauften riesige Holzbestände. Dann passierte etwas, mit dem sie nicht gerechnet hatten. Nach einem heftigen, lang andauernden Gewitter flutete Wasser mit Treibeis vom Berg herab, Bäche verwandelten sich in reißende Flüsse, die bald über die Ufer traten. Das Drama nahm ungemein rasch seinen Lauf. Nach einer Stunde war von der Säge fast nichts übriggeblieben. Aber nicht nur die Säge, auch die großen Holzvorräte wurden in Mitleidenschaft gezogen, alles wurde vom Wasser hinweggespült. Er betrachtete die sich ihm bietende Katastrophe, unmittelbar darauf wusste er nicht, was er tun sollte, und versuchte, zumindest nicht in Hoffnungslosigkeit zu verfallen. „Ich musste mich mit dem Verlust der Säge abfinden und arbeitete in einer großen Fachschule für Holzwirtschaft und Sägetechnik in der Nähe von Salz190

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burg. Nur, dass mein Chef kein Mann nach meinen Vorstellungen war, er war unseriös. Als es zu einem Malheur kam, warf er mit meinem Namen um sich, schob alles mir in die Schuhe, um damit nur ja nichts zu tun zu haben. Das darf niemand mit meinem Namen machen, dachte ich. Deshalb bin ich von dort weggegangen und habe eine Stelle gefunden, die vielleicht noch etwas schlechter war, und zwar in einer Papierfabrik, für die ich Holz aus ganz Österreich eingekauft habe.“ Zu einer ganz anderen Epoche und aus ganz anderen Gründen als Christian Kinsky gelangte ein Mitglied des belgischen Adelsgeschlechts Straten-Ponthoz, nämlich Graf Theodor, nach Österreich. Belgien hatte er wegen Napoleon Bonaparte verlassen und blieb auf Dauer in Österreich. Sein Nachfahre, Rudolf Graf van der Straten-Ponthoz, wurde Adjutant von Erzherzog Franz Ferdinand d’Este und nahm damit eine bedeutende Stellung ein. Als sich der Thronfolger auf den Weg nach Sarajevo machte, sollte er selbstverständlich mit ihm fahren. Damals erwartete jedoch Rudolfs Frau Isabelle Gräfin d’Almeida jeden Tag die Geburt ihres Kindes. Franz Ferdinand war bei der Jagd zwar der Schrecken alles Lebendigen, aber es fehlte ihm nicht an Mitgefühl und er hatte Verständnis für die Situation seines Adjutanten. „Bleiben Sie zu Hause, hier braucht man Sie mehr“, sagte er zu ihm. „Wir sehen uns später. Seien Sie unbesorgt, es wird alles gut ausgehen.“ Für Isabella ging es gut aus, sie gebar ein gesundes Mädchen, während der Erzherzog nicht mehr von der Reise zurückkehrte. Graf van der Straten-Ponthoz wurde anschließend Adjutant Kaiser Karls und nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie Direktor der berühmten Spanischen Hofreitschule in Wien. Er führte sie bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, als die Schule von den Nazis übernommen wurde. Damals entschied er, dass er mit den neuen Machthabern nichts zu tun haben wolle, begab sich auf sein Gut in Niederösterreich und widmete sich dessen Verwaltung. In der Hofreitschule lernte er Fürst Ladislav Pálffy von Erdőd kennen und beide wurden sehr gute Freunde. So gute, dass der kinderlose Pálffy zu ihm sagte: „Wenn deine Tochter Josephine, die im Unterschied zu meinen beiden Schwestern immer noch unverheiratet ist, einen geeigneten Ehemann findet, dann vermache ich ihr meinen Besitz. Du hast mein Wort.“ Der Graf lachte und konnte nicht glauben, dass es Pálffy ernst meinte, denn solche Dinge verspricht man nur in schwachen Momenten. Pálffy aber wiederholte sein Versprechen bei einer anderen Gelegenheit. Der Graf, jetzt schon mit ernster Miene, lehnte es ab, ein solch großzügiges 191

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Angebot anzunehmen. Es freute ihn zwar, aber gleichzeitig brachte ihn dies in eine sehr peinliche Situation. Er war sich dessen bewusst, dass der Fürst zwar kinderlos war, dennoch aber andere Verwandte mit einem rechtlichen Anspruch auf das Erbe hatte, die damit auch sicherlich rechnen würden – zumal einige von ihnen im Krieg um ein großes Vermögen gebracht worden waren. Pálffy entschied letztlich doch auf seine Weise. Bevor er sich an die Abfassung seines Testaments machte, erinnerte er sich offenbar noch an die mit seiner anmutigen Freundin verbrachte Zeit und vermachte ihr einen Teil seines Besitzes, während er Heidenreichstein, so wie er es versprochen hatte, an Rudolf für dessen Tochter gab. Zwei Jahre bevor sich jene Dinge ereigneten, wurde auf dem Gut, auf dem Christian Kinsky damals arbeitete, ein Erntedankfest gefeiert. Die Besitzer luden dazu Gäste ein, unter ihnen auch die junge Josephine aus Wien. Sie lernte Christian kennen und beiden fanden Gefallen aneinander. Von diesem Zeitpunkt an sahen sich Christian und Josephine, die aus der Familie van der Straten-Ponthoz stammte und auf dem Gut ihres Vaters als Sekretärin und persönliche Chauffeurin in einer Person arbeitete, regelmäßig. Die Hochzeit fand aber erst zehn Jahre später statt und auch dann blieb Christian weiterhin in der Einkaufsabteilung der Papierfabrik beschäftigt. Erst nach einiger Zeit überzeugte Josephine ihre Eltern davon, dass ihr Mann Burg Heidenreichstein mit seinen 3.000 Hektar Wald verwalten könne, weil er zu mehr imstande sei, als den Schlossherrn zu spielen und mit der geschulterten Flinte herumzuspazieren. Sie erwirkte deren Zustimmung, man übersiedelte in die Burg, aber Christian hatte es von Anfang an nicht leicht. Er musste seinem Schwiegervater beweisen, dass er den großen Besitz besser als der Generaldirektor führen konnte, der ihn bis dahin verwaltet hatte. Das war nur mit Ergebnissen, mit positiven Zahlen in der Jahresbilanz und mit dem guten Zustand des Besitzes möglich. Hätte es einige schicksalhafte „Wenns“ nicht gegeben, vor allem wenn es nicht zum Zweiten Weltkrieg und nach dessen Beendigung nicht zu den politischen Veränderungen gekommen wäre, schlicht: wenn alles beim Alten geblieben wäre, dann hätte von den Brüdern Kinsky Friedrich weiterhin in der tschechoslowakischen Armee gedient, Peter hätte die Verwaltung des Familiengutes und des Schlosses Löschna übernommen und Christian hätte anstelle von Heidenreichstein im mährischen Lissitz gelebt. Warum gerade dort? Es wurde bereits erwähnt, dass seine Mutter Gräfin Margareta Kinsky mit ledigem Namen Dubsky von Trebomislitz hieß. Mitglieder dieses alten böhmischen Geschlechts erhielten am Beginn des 16. Jahrhunderts das Landgut Dub, und da sie 192

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4. Das Empfangszimmer im Verbindungsgang, der von der Burg Heidenreichstein zu einem Gebäude auf dem Vorhof führt. Neben dem Landschaftsgemälde befindet sich hier auch ein Porträt von Christian Kinskys Frau, Josephine Gräfin van der Straten-Ponthoz.

Gefallen an der Benennung fanden, haben sie ihn ihrem Namen angefügt. Im Laufe der Zeit gehörten ihnen auch andere kleinere Güter, um die sie nach der Schlacht auf dem Weißen Berg gebracht worden war. Im 18. Jahrhundert aber schwang sich das Geschlecht zu neuen Höhen empor. Es teilte sich in drei Linien, zwei gräfliche und eine freiherrliche, wobei der von 1749 bis 1812 lebende Franz Dubsky aus der älteren gräflichen Linie durch die Heirat mit Antonia Piatti in den Besitz der mährischen Herrschaften Dernowitz und Lissitz gelangte. Der Eigentümer beider Herrschaften war bis zum Ende des Weltkrieges Margaretas Bruder Albrecht, in der männlichen Nachfolge der letzte Graf Dubsky aus dem Lissitzer Zweig. Beide Familien, Kinsky von Sloup und Dubsky von Trebomislitz, pflegten über viele Jahre hinweg enge Beziehungen. Sie hatten einen intensiven persönlichen Kontakt und schlossen untereinander auch Ehen. Es überrascht daher nicht, dass das Erbe Albrechts, der kinderlos geblieben war, von seinem Neffen Christan Kinsky hätte angetreten werden sollen. Aber dazu kam es nicht. Das 193

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herrliche Renaissanceschloss mit den reichen Sammlungen, der Waffenkammer und der Bibliothek der österreichischen Schriftstellerin Marie von EbnerEschenbach, geborene Dubsky, die dort lange Zeit gelebt hatte, wurde im Jahr 1945 verstaatlicht. Noch zuvor verließen Graf Albrecht und seine Frau Juliana, geborene Gräfin Mittrovsky-Mitrowicz, die von Verwandten und Freunden „Lilly“ gerufen wurde, Lissitz in großer Eile und beinahe mit leeren Händen. Sie hatten keine Angst vor dem, was mit ihnen nach dem Krieg geschehen würde, sondern eher davor, welches Schicksal ihnen beschieden gewesen wäre, wenn die sowjetische Armee gekommen wäre. Sie machten sich auf den Weg zu ihrem Bekannten Hildeprandt nach Blatna in Westböhmen, ganz in der Nähe der USamerikanischen Armee von General Patton. Von dort wurden sie nach Bayern ausgesiedelt, zuerst die Frauen, einen Monat später auch die Männer. Das Ehepaar Dubsky lebte dann in einer kleinen Wohnung in St. Anton am Arlberg. Im Ausland verfügten sie über keinen Besitz, alles war in Mähren geblieben. Sie hatten keine andere Wahl, als sich zu bescheiden. Was noch schlimmer wog war, dass Albrecht an einigen Fingern gelähmt war, was seine Arbeitsfähigkeit sehr einschränkte. Im Jahr 1946 ersuchten sie die tschechoslowakischen Behörden darum, zurückkehren zu dürfen. Sie legten eine nach dem Krieg vom Gemeindeamt in Lissitz ausgestellte und von mehreren ortsansässigen Personen unterschriebene Bestätigung vor, wonach ihre Beziehung zu den Mitbürgern korrekt war und sie sich während der Kriegsjahre als ehemalige österreichische Staatsbürger nichts hatten zu Schulden kommen lassen, ganz im Gegenteil. Solange ihnen Lissitz gehörte, wurden bei ihnen täglich arme Kinder aus dem Umland verpflegt. In ihrem Ansuchen führten sie auch ausdrücklich an, dass sie ihren Besitz nicht zurückverlangten, weder das Schloss noch den Großgrundbesitz. Sie wollten nur zurückkehren und in Mähren bis zu ihrem Lebensende wohnen. Jedes Argument war vergeblich, die Rückkehr wurde ihnen nicht gestattet. Im darauffolgenden Jahr versuchten sie es erneut. Wieder erhielten sie eine abschlägige Antwort. Zum dritten und letzten Mal versuchten sie es im Jahr 1962, kurz vor Albrechts Tod. Gleichzeitig schrieben sie, dass bei Verweigerung der Rückkehr wenigstens ihre sterblichen Überreste nach Lissitz überführt und in der Familiengruft an der Seite ihrer Vorfahren beigesetzt werden sollten. Wieder kam ein resolutes Nein. Lilly übersiedelte nach dem Tod ihres Mannes nach Wien und lebte weiter sehr bescheiden. Sie überlebte ihren Mann um 24 Jahre und in ihrem Testament vergaß sie nicht anzuführen, dass sie in Lissitz 194

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begraben werden wolle, wohin es sie verlangte, um zumindest nach ihrem Tod zurückkehren zu können. Einige Jahre später hatte sich die Situation in Mitteleuropa insofern verändert, als das tschechoslowakische Parlament damit begann, über ein Restitutionsgesetz zu verhandeln. Damals kam ein Rechtsanwalt aus Brünn zu Christian Kinsky nach Heidenreichstein und legte ihm ein Angebot vor: „Sie haben sich während des Zweiten Weltkrieges als klarer Antifaschist erwiesen und haben mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun gehabt. Theoretisch sollten die BenešDekrete auf Sie keine Anwendung finden. Es besteht daher die Hoffnung für Sie, dass Ihnen zumindest ein Teil des Besitzes Ihrer Eltern restituiert wird. Nicht gerade Löschna von Ihrem Vater. Das würde bei keinem Gericht durchgehen, denn Ihr Vater war reichsdeutscher Staatsangehöriger und darüber hinaus seit dem Jahr 1939 Mitglied der NSDAP. Aber Sie könnten das Erbe Ihres Onkels Albrecht antreten, also Lissitz möglicherweise zurückbekommen. Das ist nicht unrealistisch. Ich würde mich Ihres Falles unter einer Bedingung annehmen. Das sage ich lieber gleich zu Beginn. Sofern wir im Restitutionsprozess erfolgreich sind, bekomme ich von Ihnen 20 Prozent des zurückerstatteten Besitzes – von Dernowitz, Friedrichsfeld und Lissitz.“ Christian Kinsky wog alle Für und Wider ab, alle Mühen, die ein Restitutionsprozess mit sich bringen würde, alle finanziellen Belastungen – und begann zu zweifeln. Auch missfielen ihm die 20 Prozent sehr. Im Innersten war er davon überzeugt, dass das Erbe zwar ihm gehörte, hatte er doch in seinem Leben schon ziemlich viele Abenteuer zu bestehen gehabt, aber in ein weiteres wollte er sich nicht mehr stürzen. Er lehnte es schließlich ab, einen Prozess um den Besitz zu führen, versuchte aber, den letzten Wunsch seines Onkel Albrecht und seiner Tante Lilly zu erfüllen. Er ließ sie in Wien exhumieren und ersuchte die Behörden um ihre Zustimmung zur Überführung nach Mähren. Aber jemand vom Bund antifaschistischer Kämpfer legte Protest ein. Er wollte nicht, das Deutsche, Nazis, auf dem Friedhof in Lissitz begraben werden sollten. Nicht einmal das Argument konnten etwas ausrichten, dass Lilly und Albrecht keine Deutschen, sondern Österreicher gewesen waren, mit dem Nationalsozialismus nicht im Geringsten etwas zu tun gehabt hatten und dass sie während des Krieges niemanden ein Leid angetan hatten. Um ein Haar hätte sich der Bund durchgesetzt. Der Pfarrer in Lissitz war aber glücklicherweise verständnisvoller. Er entgegnete, dass die Bestattung eines Leichnams zutiefst menschlich sei und dass man den letzten Wunsch eines Menschen zu akzeptieren habe. Und da sich 195

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5. Christian Kinsky – als Dreißigjähriger

der Friedhof und die Gruft auf einem kirchlichen Grundstück befänden, würde die endgültige Entscheidung bei der Pfarre liegen. Christian Kinsky hatte zu Onkel Albrecht und Tante Lilly zweifellos ein gutes Verhältnis. Ergriffen zeigte er mir Fotos aus Lissitz, wo eine Gedächtnismesse zur Erinnerung an seine beiden Verwandten gefeiert wurde. Die Kirche war zum Bersten gefüllt, der Gottesdienst sehr würdig und feierlich. Es kamen auch Leute, die die Dubskys noch gekannt hatten. Am meisten freute ihn begreiflicherweise, dass sie ihm sehr freundlich gegenübertraten. Ein ähnlich herzlicher Empfang wurde ihm auch in Löschna zuteil, wohin er vom örtlichen Gemeindeamt und vom Heimatkundlichen Museum Wsetin eingeladen worden war, als dort die Fahnenweihe des Ortes und die Wiedereröffnung des Schlossparks vorgenommen wurden. Auf dem Programm stand eine vormittägliche Heilige Messe, dann ein Festessen, am Nachmittag ein Zusammentreffen mit Vertretern des Ortes im Kulturhaus. Es wurde Musik aus den Beskiden gespielt, von der Mährischen Walachei erzählt und getanzt. Christian Kinsky behielt diese beiden Reisen in sehr guter Erinnerung. Zu meiner Verwunderung war in ihm weder Bitterkeit noch Hass, die er nach seinem erzwungenen Abschied aus der Tschechoslowakei hätte verspüren 196

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können. Er hat nichts dergleichen gepflegt. Bis auf sein Zerwürfnis mit seinem Vater, über das er ungern sprach und an das er nicht gerne erinnert wurde, bewies er trotz dieser Lebensprüfung vielleicht aufgrund seiner Demut eine gewisse Übersicht, einen Sinn für Objektivität und Toleranz. Er verfügte zumindest über so viel, dass er es vermochte, ohne Verbitterung zurückzublicken, und hat sich einen friedfertigen Blick auf die Welt um sich bewahrt.

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1. Richard Belcredi

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Belcredi Österreichischer Ministerpräsident mit italienischem Namen, deutscher Sprache und böhmischem Herzen – „Mich werden die Faschisten nicht überwachen!“ – Wie man lernt, Botschafter zu sein – Eine adelige Adoption und die unheilvollen Folgen – Das abenteuerliche Leben eines überholten Autos in Australien – Ein Aristokrat, der den Aufbaueifer der Werktätigen untergrub – Der letzte Adelige Brünns

Im 18. Jahrhundert lebte das Brüderpaar Gasparo und Antonio Belcredi, die Enkel eines lombardischen Marquis, auf Schloss Montalto-Pavese südlich von Pavia. Ihr Geschlecht zählte schon im Mittelalter zu den bedeutendsten der Lombardei und ihre Vorfahren bekleideten am Hof der Mailänder Herzöge hohe Ämter. Der Ältere, Gasparo, erbte nach dem Erstgeborenenrecht den Familienbesitz, während Antonio als Zweitgeborener leer ausging und sich daraufhin entschied, sein Glück in Böhmen zu suchen. Im Jahr 1769 heiratete er Baronin Maria Theodora von Freyenfels und erhielt zusammen mit ihr die Herrschaft Ingrowitz. Im gleichen Jahr verlieh ihm Kaiserin Maria Theresia das Inkolat – ein adeliges Aufenthaltsrecht, das mit der Zugehörigkeit zum Herren- oder Ritterstand in den (alt-)österreichischen und böhmischen Ländern einherging. Für die böhmischen Länder erhob sie ihn „für die in den Schlesischen Kriegen erwiesenen nachhaltigen Dienste“ in den Grafenstand. Etwas später fiel seinem Sohn Eduard nach dem Tod von dessen Onkels Josef von Freyenfels Schloss und Herrschaft Lösch bei Brünn zu. Der mährische Zweig der Belcredis erfreute sich dadurch nicht nur eines beträchtlichen Vermögens, sondern auch einer hohen Stellung. Gänzlich anders erging es ihren italienischen Verwandten. Gasparo wurde Vater zweier Töchter. Mit deren Eheschließung ging der der Familie Belcredi in Montalto-Pavese anvertraute Besitz in das Eigentum einer anderen Familie über, die ihn bald darauf veräußerte. Es gab zwar Seitenlinien der Familie Belcredi, nur dass der Besitz der Mitglieder jener Zweige, in denen das Erstgeborenenrecht nicht galt und in denen es viele Erben gab, immer wieder geteilt und zersplittert wurde, womit er immer kleiner wurde, bis er bald ganz verschwunden 199

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war. Die Belcredis wurden daraufhin Beamte oder Eigentümer kleinerer landwirtschaftlicher Liegenschaften. Einige von ihnen leben immer noch am gleichen Ort wie ihre Vorfahren, aber die Mehrzahl von ihnen weiß gar nicht mehr, dass sie mit dem reichen und mächtigen Geschlecht verwandt ist, das Montalto-Pavese einstmals besessen hat. In den böhmischen Ländern stammten von den Belcredis nicht nur gute Wirtschafter ab, sie machten sich auch als umsichtige Politiker einen Namen. Zu den markantesten Persönlichkeiten gehörten 2. Antonio, der italienische Ahne des Gedie Enkel des ersten „Mährers“, Egschlechts, der erste Belcredi, der sich in Mähbert und Richard. Ottos Konversaren niederließ. tionslexikon schreibt über den älteren Egbert, der von 1816 bis 1894 lebte, mit großer Ehrerbietung und bezeichnet ihn als den „Inbegriff eines böhmischen Adeligen und edlen Menschenfreundes, der auf seinen Ländereien viel gegen die Armut getan hat […] und der sich im Mährischen Landtag mit Nachdruck den politischen und kulturellen Bedürfnissen sowie den böhmischen Interessen widmet, deren beflissener Förderer und Träger er im Übrigen auch im öffentlichen Leben ist.“ Seine Erinnerungen umfassen 3.500 Seiten, auf denen er sich unter anderem die Frage stellt, wie etwa Sitzungen des Parlaments ablaufen werden, sollten die Aristokraten auf den Abgeordnetenbänken von den Vertretern der Bourgeoisie oder der Industrie abgelöst werden, die sich im Namen von politischen Parteien und lobbyistischer Gruppen mehr der eigenen als der öffentlichen Interessen annehmen würden, oder von unvermögenden Leuten, die reich werden wollten. Er wusste, wovon er schrieb. Er gehörte dem Mährischen Landtag und dem Reichsrat in Wien an, deren Verhältnisse ihm geläufig waren. Für die Mehrzahl der öffentlichen Ämter, die er bekleidete, wurde er nicht bezahlt. Aus der Staatskasse erhielt er, ebenso wie alle anderen damaligen Abgeordneten, sogenannte Diäten, die er wie die anderen – was mit einer gewissen Selbstverständlichkeit 200

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vorausgesetzt wurde – für gemeinnützige Zwecke zur Verfügung stellte. Diese Beträge gingen dann etwa an ein Blindeninstitut oder ein Waisenhaus. Er hatte moderne Ansichten, war Mitglied vieler Vereine, unterstützte den wissenschaftlichen Fortschritt. Auf seine Einladung kam auch der amerikanische Erfinder Thomas Alva Edison nach Brünn. „Der Herkunft nach bin ich Aristokrat, vom Denken her Demokrat“, sagte er über sich selbst. „Ich fürchte weniger um meinen adeligen Stand, in Zukunft wird dieser oh3. Graf Richard Belcredi. Die Gleichheit nedies nur eine schöne Erinnerung der Vornamen darf uns hier nicht in die Irre an die Vergangenheit sein.“ führen, in diesem Fall handelt es sich um Der Lebensweg seines jüngeren den Statthalter von Böhmen, in den Jahren 1865–1867 ­Ministerpräsident des Kaisertums Bruders Richard war nicht minder Österreich, später Präsident des k. k. Verwalinteressant. Nachdem er Bezirkstungsgerichtshofs und Ehrenbürger der Stadt hauptmann in Znaim und Chef der Prag. österreichisch-schlesischen Landesregierung gewesen war, wurde er 1864 zum Statthalter von Böhmen ernannt und im darauffolgenden Jahr zum Ministerpräsidenten des Kaisertums Österreich. Eine der Wiener Tageszeitungen konnte sich nach seiner Ernennung nicht die spitze Bemerkung versagen, dass der Kaiser eine Person mit italienischem Namen, deutscher Sprache und böhmischem Herzen zum Premier gemacht habe. Belcredi war ein hervorragender Redner, ein weltgewandter und fähiger Politiker. In seiner Antrittsrede verkündete er, dass er sich dessen bewusst sei, in welch schwieriger Zeit er die Regierung des Kaisertums Österreichs übernehme. Dessen ungeachtet arbeitete er auf einen Trialismus hin, um die gleichen Rechte für alle Nationalitäten Österreichs zu verwirklichen. Eine Idee, mit der sich weder Deutsche noch Ungarn abfinden konnten und mit der er sich im Nu eine Schar von Feinden gemacht hatte. Zu allem Unglück verhinderte der Ausgang des Krieges zwischen Österreich und Preußen die Verwirklichung all 201

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seiner Be­mühungen um die Änderung der Innenpolitik der Monarchie und er konnte von dem, was er sich vorgenommen hatte, nur wenig umsetzen. Nachdem er zwei Jahren an der Spitze der Regierung gestanden hatte, trat er zurück und kehrte Wien den Rücken. Obwohl Belcredis Intention nach größerer Selbst­ständigkeit der Länder der böhmischen Krone im direkten Gegensatz zur offiziellen Politik des Hofes stand, erwies sich Kaiser Franz Joseph I. als einsichtiger und auch nobler Herrscher – er verlieh seinem politischen Opponenten die höchste Auszeichnung, die die Monarchie zu vergeben hatte, und verlieh ihm den Orden vom Goldenen Vlies. Richard Belcredi wurde überdies zum Präsidenten des k. k. Verwaltungsgerichtshofs ernannt und auf Lebenszeit in das österreichische Herrenhaus berufen. Wien hat ihm ein Denkmal gesetzt, Prag hat nach ihm eine Straße benannt. In Wien steht die Statue bis heute, die Straße in Prag wurde im Laufe der Zeit einige Male umbenannt. Die Linie setzte sich mit Richards Sohn Ludwig Egbert (1850–1914) fort, der in die Fußstapfen seines Vaters und seines Onkels trat. Er bekleidete das Amt eines Abgeordneten des Mährischen Landtages und des Reichsrates, wenngleich er weder im einen noch im anderen Berühmtheit erlangte. Sein Verdienst war vielmehr, dass er sein Geschlecht erweitert hat. Zusammen mit seiner Frau Marie, geborene Freifrau von Franckenstein, hatte er sechs Kinder – die Söhne Egbert, Richard, Karl Georg und Heinrich sowie die Töchter Anna und Josefa. In das 20. Jahrhundert traten die Belcredis mit einer soliden Vermögensbasis. Ihnen gehörten die Schlösser in Ingrowitz und Brünn-Lösch, einige Wälder und auch kleine Produktionsbetriebe. Im Laufe der Zeit überdauerten sie alle wirtschaftlichen Krisen ohne größere Probleme. Erst der Zweite Weltkrieg brachte eine bedeutende Veränderung mit sich. Ähnlich wie andere Angehörige der ­Hocharistokratie in Böhmen und Mähren zögerten die Belcredis nicht, kurz vor der Unterzeichnung des Münchner Abkommens ein deutliches Bekenntnis für die Unantastbarkeit der Grenzen der Länder der böhmischen Krone abzulegen. Ein Jahr später, im September 1939, nach der Okkupation der „Resttschechei“, bekräftigten sie in einem an Präsident Emil Hácha übergebenen Brief ihre Zugehörigkeit zur tschechischen Nation und sprachen sich für deren Verteidigung aus. Aus der Sicht des nationalsozialistischen Deutschland handelte es sich dabei um eine ausgesprochen feindliche Haltung, worauf auf Anordnung des Stellvertretenden Reichsprotektors Reinhard Heydrich auf dem Besitz der Belcredis die Zwangsverwaltung eingeführt wurde. In einem Brief an Martin Bormann, dem persönlichen Sekretär Adolf Hitlers, führte Heydrich Belcredi zusammen mit 202

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4. Die Familie Belcredi und deren Freunde bei der Feier der silbernen Hochzeit von Graf Ludwig Egbert Belcredi und dessen Frau Marie, geborene Freifrau von Franckenstein, im Jahr 1910. Das Jubelpaar steht vorne, sie mit der Hand auf der Schulter ihres jüngsten Sprosses, ihres Sohnes Heinrich, umgeben von den anderen Kindern – Egbert, im Smoking, Richard und Karl Georg in der Uniform ihres Gymnasiums sowie die Tochter Marie Anna.

Kinsky, Sternberg, Schwarzenberg, Lobkowicz, Czernin, Kolowrat, Strachwitz und anderen als wichtigste Exponenten des böhmischen Adels an. Intellektuelle Hetzer, die ihre adeligen Verbindungen zur Wühlarbeit nutzen würden, vor allem aber, um Spionage zu betreiben. Gleichzeitig schlug er Bormann vor, deren konfiszierte Güter nach der siegreichen Beendigung des Krieges für die deutsche Emigration und für die Kolonisierung heranzuziehen. Es war ein teuflischer Plan – ein Teil der Bevölkerung, zur Eindeutschung für tauglich und geeignet befunden, sollte bleiben, die Übrigen sollten irgendwo in den slawischen Osten verbracht oder einfach liquidiert werden. Zum Glück kam es nicht zum „Endsieg“ und Belcredi erhielt seinen Besitz ohne große Schwierigkeiten zurück. Aber nicht für lange. Die politischen Ereignisse des Jahres 1948 bedeuteten in weiterer Folge die Verstaatlichung dieser Güter. Die darauf um sich greifende Angst, was noch alles kommen werde, bewog viele Menschen, die Tschechoslowakei zu verlassen. Auch die meisten Belcredis traten den Weg ins Exil an. 203

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5. Zu den sportlichen Vergnügungen zählten an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, ebenso wie heute, Radausflüge. Gräfin Marie Belcredi mit ihrer Tochter Marie Anna und ihren Söhnen Karl Georg und Richard.

Karl Georg ging gemeinsam mit seiner Frau Theresie, geborene Gräfin Kálnoky de Köröspatak, dem neunjährigen Sohn Egbert, dessen älterem Bruder Richard und dem jüngeren Heinrich als einer der Ersten ins Exil. Der Abt des Znaimer 204

Belcredi 6. Wenn auch schon etwas älter, so handelt es sich doch um Karl Georg Belcredi (1893–1972) auf einem Hochzeitsbild mit Theresie, geborene Gräfin Kálnoky de Köröspatak (1893–1969). Das frisch getraute Ehepaar hatte für dieses Bild eine besondere Verwendung: aufgeklebt auf eine Schachtel Pralinen versandten sie es als Dank für die Glückwünsche zur Hochzeit.

Klosters geleitete sie über die Grenze nach Österreich, als diese noch nicht mit Stacheldraht versehen war und von Grenzsoldaten mit geladenen Maschinengewehren bewacht wurde. Er hatte kein Verlangen danach, ein weiteres totalitäres Regime erleben zu müssen. Der Nationalsozialismus hatte ihm gänzlich gereicht. Die anderen Söhne, Hugo und Richard, gingen im darauffolgenden Jahr ins Ausland, die Tochter Maria Theresia heiratete nach Paris. Zu Hause blieb nur der älteste Sohn, der 27-jährige Ludwig. Die Schicksale dieser drei – Richard, Hugo und Ludwig – sind es wert, erzählt zu werden. Das Schloss am Rande des Städtchens Brodek entstand in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Der umliegende Park – zur einen Hälfte französischen, zur anderen englischen Typs – sollte, wie in einem Lexikon für touristische Besonderheiten beschrieben, mit barocken Plastiken geschmückt sein, die einstmals sogar vom Maler Josef Mánes bewundert worden waren. Vielleicht habe ich nicht aufmerksam genug gesucht, aber Plastiken waren nicht zu entdecken gewesen. Die Geschichte der vergangenen Jahrzehnte war auch hier anscheinend nicht spurlos vorübergegangen und hatte allerlei verändert. Während der Ersten Republik war das Schloss im Besitz des mährischen Zweiges der Familie Kálnoky, unmittelbar nach dem Krieg wurde es verstaatlicht. Etwas später wurde es 205

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7. Schloss Brodek bei Prostějov, das der Staat im Rahmen der Restitution zusammen mit 700 Hektar Wald und 80 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche an Richard Belcredi zurückerstattete.

zu einem Lager für sanitäre Einrichtungen umfunktioniert. Ein großer Teil des Parks wurde parzelliert und bebaut, die Leute legten darin ihre Gärten an und fällten die hochbetagten Bäume. Über das Schicksal des Interieurs sowie der kostbaren antiken Gegenstände entschied im Jahr 1952 eine Kulturkommission, die ähnlich wie auch in den meisten anderen verstaatlichten Schlössern vorging: Jene Gegenstände, die es aus Sicht des Denkmalschutzes bewahrt werden sollten, wurden an andere Orte gebracht, vor allem in die Schlösser Jaromeritz, Lissitz oder Raitz, und die nach Meinung der Kommissionsmitglieder weniger wertvollen Exponate wurden zu außerordentlich volksnahen Preisen an Interessierte verkauft, in der Mehrzahl an Ortsansässige. Ein venezianischer Spiegel, dessen Preis sich heute auf über 10.000 Kronen belaufen würde, fand für 20 Kronen einen Abnehmer und ein barocker Tisch für 50 Kronen. Nach dem November 1989 wurde im Rahmen der Restituierung dem Anspruch des Neffen von Graf Kálnoky, Richard Belcredi, auf die Rückgabe des Schlosses in Brodek entsprochen. Dieser investierte alleine für die allernotwendigsten Reparaturen sechs Millionen Kronen, aber dessen ungeachtet begegnete 206

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ihm seine Umgebung einigermaßen reserviert, wie es in solchen Fällen offenbar nicht unüblich zu sein scheint. Seine Popularität nahm erst zu, als es ihm gelang, eine staatliche Förderung für den Bau einer Gaszuleitung ins Dorf zu erwirken. Eine Begegnung mit ihm hat mich lange gereizt, aber als ich diesen Wunsch gegenüber František Lobkowicz erwähnte, auf dessen Meinung ich stets großen Wert legte, schüttelte er nur zweifelnd den Kopf. „Der wird Ihnen nichts erzählen“, meinte er. „Er kann nicht. Zumindest nicht solange er Botschafter in der Schweiz ist. Warten Sie noch eine Weile.“ Ich wartete. Zwei Jahre später rief ich Belcredi an, bat um ein Gespräch und machte ihm gegenüber auch eine Andeutung über die Warnung. „Dass František auch damit recht hatte, darauf können Sie Gift nehmen“, lachte er – und lud mich ein, zu ihm zu kommen. Ich folgte dem Verlauf der Allee, die von dem Städtchen zum Schloss führt, und durchquerte das neue Tor, denn das frühere historische war mit der Zeit ruiniert worden. Auf dem Vorhof legte der Gärtner gerade rund um den künftigen Springbrunnen einen Ring aus Blumen an, deren Farben verschwenderisch leuchteten. Das Innere des Schlosses wurde noch renoviert, weshalb sich Richard Belcredi im Erdgeschoss des linken Flügels eingerichtet hatte. Er stand draußen vor einem Rosenbeet, war von größerer, stärkerer Gestalt, hatte prägnante Gesichtszüge und trug eine Brille, deren Gläser von einer dünnen Metallfassung eingerahmt waren. Ohne viele Worte zu machen, führte er mich in ein geräumiges, sonnendurchflutetes Zimmer an ein Tischchen mit Stühlen und bot mir an, mich zu setzen. „Wo sitzen Sie für gewöhnlich?“, fragte ich ihn. „Um mich machen Sie sich mal keine Sorgen. Ich war von fünf Geschwistern der Vierte und wann immer ich mich irgendwohin gesetzt habe, haben immer einige von ihnen protestiert: ‚Na hör mal, setz dich woandershin, das ist mein Platz.‘ Also habe ich mich daran gewöhnt und es ist mir egal, wohin ich mich setze.“ Ich suchte mir daraufhin einen der Stühle aus, er wählte eine Ledercouch und streckte die Beine bequem von sich. Ich hatte erwartet, dass er als ehemaliger Diplomat zurückhaltend sprechen, jedes Wort abwiegen und direkte Antworten vermeiden würde. Das genaue Gegenteil war der Fall. Er war direkt, impulsiv, er vermochte es, seinen Zuhörer mit seinen Erzählungen mitzureißen und lachte oftmals von Herzen. 207

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„Sie haben Rechtswissenschaften und Politikwissenschaft studiert, Sie waren Journalist, Redakteur des Radiosenders Radio Free Europe, Sekretär der katholischen Laienorganisation Opus bonum und Botschafter. Journalist wird man, zum Botschafter wird man ernannt. Wie ist es dazu gekommen?“ „Anfang 1993 erhielt ich einen Anruf aus dem Außenministerium und wurde eingeladen, ins Palais Czernin zu kommen. Ob ich nicht bereit wäre, irgendeine Vertretung zu übernehmen. Das war nach der Teilung des Staates. Die Slowaken hatten die früheren gemeinsamen Botschaften verlassen und eigene di­ plomatische Vertretungen geschaffen, worauf ungefähr zehn Botschafterposten unbesetzt blieben. Sie überließen mir die Wahl. Entweder Tokio, Brüssel oder Bern. Tokio wäre für einen Menschen in meinem Alter geradezu wahnwitzig gewesen, nach Brüssel wollte ich nicht, so habe ich also Bern gewählt. Als ich vom Außenministerium hinunter zur Prager Burg ging, hatte ich das Gefühl, als würde ich das alles träumen. Gleichzeitig aber habe ich mir gesagt: Nach 40 Jahren bist du in die Tschechoslowakei zurückgekehrt, Brodek soll dir restituiert werden, endlich bist du wieder zu Hause und auf einmal sollst du irgendwo anders hingehen? Groß war meine Lust nicht. Einige Zeit hat sich nichts getan, erst nach rund einem Jahr wurde ich vor eine ministerielle Kommission gerufen, die sich dafür interessierte, wie ich mir die Führung einer Botschaft vorstelle. Das war irgendwann im Sommer. Dann hat sich wieder lange nichts getan, bis mich jemand aus dem Ministerium anrief, ob ich nicht sofort kommen könne. Ich fragte mich, was das für einen Wert hätte, ständig hin und her zu fahren, wenn letztlich ohnehin nichts daraus wird. Trotzdem habe ich mich ins Auto gesetzt und bin los gefahren. Der Beamte zog aus einem riesigen Tresor ein Kuvert heraus, das ich persönlich öffnen musste. Es enthielt eine sogenannte Überprüfungsbescheinigung, das Ergebnis einer Untersuchung, um Funktionäre der Kommunistischen Partei, Agenten und Mitarbeiter des Staatlichen Sicherheitsdienstes StB von der Ausübung öffentlicher Ämter auszuschließen. Darauf war vermerkt: Nicht registriert. Von diesem Augenblick an gerieten die Dinge in Bewegung. Bevor ich mich noch richtig umdrehen konnte, war ich auch schon in der Europaabteilung, und ehe ich mich noch ein zweites Mal umdrehen konnte, wurde schon vereinbart, wann ich das Amt antreten sollte. Worauf ich vier Monate im Ministerium verbrachte und zum Botschafter ausgebildet wurde, was ungemein interessant war. Am 14. Jänner 1994 habe ich dem Schweizer Präsidenten in Bern mein Beglaubigungsschreiben überreicht.“ „Wie wird man zum Botschafter ausgebildet?“ 208

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„Nun, man bekommt ein sogenanntes Schülertagebuch, zumindest wurde es von den Beamten so genannt, in dem vermerkt ist, welche Abteilungen sie absolvieren müssen. In meinem Alter allerdings – ich war damals 68 Jahre alt – war ein Schülertagebuch doch ziemlich kurios. Aber selbstverständlich habe ich alles absolviert. Ich habe sogar gelernt zu chiffrieren und sie haben mich auch über meine protokollarischen Kenntnisse geprüft. Das war etwas für mich. ‚Meine Herren‘, habe ich sie aufmerksam gemacht, ‚Sie können mich ruhig fragen, aber ich warne Sie, Fragen des Protokolls sind ein Steckenpferd von mir, ein Thema, das mir vom Anfang bis zum Ende liegt. Mit protokollarischen Fragen habe ich mich schon als 15-jähriger Bub beschäftigt, mich hat das ungeheuer interessiert. Eine Weile haben sie mich geprüft, dann aber sagte ich zu ihnen: ‚Jetzt werde ich euch einmal etwas fragen‘, und es lief ganz gut so.“ „Sie mussten in verschiedenen Bereichen Ihre Kenntnisse unter Beweis stellen: Im Chiffrieren, Sie mussten über die Tücken des Protokolls Bescheid wissen, auch über personelle und rechtliche Angelegenheiten, das alles verstehe ich. Aber Sprachen haben Sie doch beherrscht, mussten Sie auch Prüfungen ablegen?“ „Allerdings. Ich habe mit Deutsch begonnen. Zuerst schriftlich, zwei Tage darauf sollte ich den mündlichen Teil ablegen. Nur dass die Lehrerin zu mir kam und sagte: ‚Herr Belcredi, die mündliche Prüfung lassen wir bleiben.‘ – ‚Und warum?‘, fragte ich. – ‚Sie beherrschen doch Deutsch ebenso gut wie ich‘, war ihre Antwort.“ „Sie haben in der Schweiz gewirkt, wo man nicht nur deutsch, französisch oder italienisch spricht, sondern auch eine eigentümliche Besonderheit pflegt – Schwyzerdütsch. Beherrschen Sie diesen Dialekt?“ „Aber woher denn. Schwyzerdütsch kann man fast nicht erlernen. Ich habe mich vergeblich darum bemüht, habe ein paar Wörter aufgeschnappt, aber ich war nicht in der Lage, ein herkömmliches Gespräch zu führen. Noch dazu ist Schwyzerdütsch kein einheitlicher Dialekt. In Bern spricht man anders als in Luzern oder in Zürich und wieder ganz anders im Kanton Wallis. Dabei habe ich Dialekte sehr gerne. Als ich früher einmal in Frankreich lebte, konnte ich sehr genau sagen, woher der Sprecher stammte – ob aus der Normandie, aus Südfrankreich oder aus der Gegend von Paris. Und ebenso liebe ich es in Mähren, wenn die Leute dort hannakisch reden. Gelegentlich versuche ich es auch. Nur muss ich darauf achtgeben, dass ich einige Worte nicht entstelle und so der Eindruck entsteht, ich würde mich lustig machen. Das wäre das Letzte, was 209

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ich will. Hätte ich etwas zu sagen, würde ich für Dialekte im Fernsehen die Werbetrommel rühren. In Wirklichkeit steht das Fernsehen diesen Dingen eher ablehnend gegenüber und das ist ein Nachteil.“ „Sie haben das Amt des Botschafters für die Dauer von vier Jahren und elf Monaten ausgeübt. Ließen sich Ihre journalistischen Erfahrungen in das diplomatische Umfeld verpflanzen?“ „Soll ich sagen, was ich mir wirklich denke? Der Radiosender Radio Free Europe, bei dem ich jahrelang angestellt war, war ein amerikanisches Unternehmen, in dem sich die Mitarbeiter mit dem Vornamen ansprachen. Einfach deshalb, weil die Amerikaner es so gewohnt sind. Und auf einmal wird man von den anderen als Exzellenz angesprochen … Als ich 1994 an die tschechische Botschaft nach Bern kam, war dort noch immer der Einfluss des bolschewistischen Regimes spürbar. Wohin man auch schaute, überall befanden sich Gitter – an den Fenstern, an den Türen, einfach überall. Das Gebäude war buchstäblich verbarrikadiert. Was mich allerdings besonders überraschte, war die Servilität einiger meiner Mitarbeiter. Die Erniedrigung gehörte zu den Erkennungsmerkmalen des früheren Regimes. Unter dem Kommunismus hat man sie geradezu kultiviert. Man hat es als absolut normal erachtet, dass der Vorgesetzte in einem Amt erwartete, dass die Übrigen um ihn herum auf Zehenspitzen gehen und sich verneigen. Das habe ich zu ändern versucht und habe mich darum bemüht, eine freundlichere und offenere Umgebung zu schaffen. Ich hoffe, dass mir das gelungen ist.“ „Sie sind in den Schlössern Lösch und Ingrowitz aufgewachsen, kehren wir in diese Zeit zurück“, schlug ich vor. „Der Zweite Weltkrieg war eben zu Ende gegangen, Ihre Familie erhielt den Besitz zurück, auf dem die Deutschen die Zwangsverwaltung eingeführt hatten. Sie waren 21 Jahre alt, studierten Rechtswissenschaften an der Brünner Fakultät und hatten Ihre Zukunft vor sich. Es kam der Februar 1948, die Kommunisten übernahmen die Macht im Land, auf den Straßen marschierten bewaffnete Volksmilizen, es begann der Aufbau des Sozialismus. Was hat sich alles in Ihrem Leben verändert?“ „Beinahe alles. Vor allem aber bin ich mir beobachtet vorgekommen. Damit Sie mich richtig verstehen, nicht polizeilich, aber als Angehöriger einer bestimmten Klasse. Mir wurde das Etikett des Klassenfeindes angeheftet. Es kam vor, dass ich auf der Straße einen Bekannten traf, auf ihn zuging, ihn begrüßen wollte und er absichtlich die Straßenseite wechselte. Er hatte Angst und wollte nicht, dass er zusammen mit mir gesehen wird. Die Bekanntschaft mit einem 210

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Belcredi hätte ihm schaden können. In der Schule, im Beruf, bei seiner Karriere oder sonst wo. Der Kommunismus, das ist eine riesige Welle, ein Strom, sagte ein überzeugter Kommunist zu mir. Wer dagegen anschwimmt, den spült er unbarmherzig hinweg, der wird einfach weggefegt. Vielleicht habe ich diese Dinge sehr tief empfunden, aber auf mich wirkte das furchtbar deprimierend. Es war paradox: Während der nationalsozialistischen Okkupation habe ich mich in Brünn unter den Tschechen als Mitglied einer Familie gefühlt, wir haben zusammengehalten, und auf einmal bildeten die Menschen zwei Lager.“ Im Jänner 1949, als Richard Belcredi sein Studium der Rechtswissenschaften beendet hatte, mussten sich die Studenten an den Hochschulen sogenannten Kaderuntersuchungen unterziehen. Jeder musste vor eine Prüfungskommission treten, in der Kommilitonen saßen, besonders eifrige Mitglieder des kommunistischen Tschechoslowakischen Jugendbundes. Niemand konnte sich dem entziehen, am allerwenigsten Belcredi. Das Gespräch dauerte nicht lange, er wurde beschuldigt, ein undemokratisches Element kulakischer Abkunft zu sein und als solches habe er die Universität zu verlassen. Sollte er aber seine Studien fortsetzen wollen, müsse er zuerst für seine Abkunft büßen und den Namen seiner Vorfahren reinwaschen. Für eine angemessene Art der Läuterung erachteten die Mitglieder der Verbandskommission einige Jahre Arbeit in den Kohlengruben. „Unter Vermittlung der Fakultät legte ich beim Unterrichtsministerium Berufung ein. Von dort wurde mir allerdings mitgeteilt, dass meine Berufung abgelehnt worden sei. Mehr stand nicht dort. Keine Begründung.“ Dass der bleichwangige dünne Bursche, der nicht an eine so schwere Arbeit gewöhnt war, ohne die geringste Erfahrung in einen Schacht einfahren sollte, erschien den Ärzten auf dem Arbeitsamt dann doch nur bedingt möglich. Er musste sich rasch eine Anstellung suchen, andernfalls hätte er als Schmarotzer gegolten, was bestraft worden wäre. Er trat daher eine Stelle bei seinem Bruder Ludwig auf dem Familiengut in Lösch an. Einige Monate später fand eine heute bereits in Vergessenheit geratene, legendäre Veranstaltung unter dem Titel Die Jugend verwaltet Brünn statt, bei der junge Kommunisten die Kontrolle über Führungstätigkeiten in der Stadt übernahmen. Das Spektrum reichte von der Verkehrsregelung auf Kreuzungen bis hin zur Leitung einer Sitzung der Kommunistischen Partei in Lösch. Und auf dieser wurde beschlossen, Richard Belcredi in ein Arbeitslager zu stecken, wenn er sich auf verdächtige Weise der Arbeit in den Gruben entziehen sollte. Belcredi hatte das Glück, dass an der Sitzung auch ein Freund aus Kindheits­tagen 211

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teilnahm, der noch am gleichen Abend ganz aufgeregt zu ihm lief. „Richard, es schaut nicht gut aus. Du musst weggehen“, warnte er ihn. „Wenn du nicht schnell verschwindest, schicken sie dich in ein Lager.“ Wenn schon verschwinden, dann gleich ordentlich. Er entschied sich, zu emigrieren, und es gelang ihm innerhalb von drei Tagen, die Flucht vorzubereiten. Ein weiterer Freund war ihm dabei behilflich, ein Mitglied der Pfadfindergruppe aus Landshut, der an der Grenze jeden Stein kannte und, was fast noch wichtiger war, den Zeitplan für die Kontrollgänge der Grenzwache. Als beste Zeit für den Grenzübertritt erschien dem Pfadfinder gerade der Vormittag zu sein, als Treffpunkt die Bienenhäuser seines Vaters im Auwald. Wären sie aufgegriffen worden wären, hätten sie behaupten können, nur einen Ausflug zu unternehmen. Sie trugen nichts bei sich. Wer einen Ausflug im Wald unternimmt, hat keinen Koffer voller persönlicher Dinge bei sich. Sie flohen zu zweit, im letzten Moment schloss sich ihnen noch ein Bankdirektor im Ruhestand an, der um jeden Preis vor dem Kommunismus fliehen und seinen Lebensabend im Westen, in einem freien Land, verbringen wollte. Es war ein heißer Sommertag, überall Schwärme von aufdringlichen Gelsen, vor denen es kein Entrinnen gab. Sie durchquerten vorsichtig den Auwald, dann ein Sumpfgebiet und gelangten an das Ufer der Thaya. Belcredi zog sich bis auf die Unterhose aus, steckte seine Schuhe in einen Rucksack, Hemd und Hose hielt er lieber in der Hand. Er beeilte sich, hatte Angst, dass sie ihn schnappen würden. In der Mitte des Flusses rutschte er aus, verlor das Gleichgewicht, das Hemd schwamm davon und ein anderes hatte er begreiflicherweise nicht. Er gelangte unbeobachtet an das andere Ufer, aber noch hatte er nicht gewonnen. Er war nun in der russischen Besatzungszone und darüber hinaus drohten noch weitere Gefahren: Einige österreichische Zöllner waren Kommunisten, die die Flüchtlinge mitunter wieder in die Tschechoslowakei zurückschickten. Erst als sie ein kleines Wäldchen hinter dem Fluss durchquert hatten und in der Gemeinde Bernhardsthal angekommen waren, wo ihn ein Auto aus Wien abholen sollte, konnten sie erleichtert aufatmen. Der Pfadfinder hatte die ganze Aktion fehlerlos geplant. Tags darauf fand sich um vier Uhr morgens eine Gruppe Männer in Schloss Lösch ein, um den jungen Grafen ins Arbeitslager zu begleiten. Zu spät. Das undemokratische Element kulakischer Abkunft schlief zu dieser Zeit bereits an einem anderen Ort.

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Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war Österreich in vier Besatzungszonen aufgeteilt worden – Niederösterreich, das oberösterreichische Mühlviertel und das Burgenland wurden von der Sowjetarmee besetzt, Salzburg, Oberösterreich südlich der Donau und westlich der Enns sowie das steirische Salzkammergut von den Amerikanern, die Steiermark, Kärnten und Osttirol von den Briten, Tirol und Vorarlberg standen unter der Verwaltung der Franzosen. Die Stadt Wien wurde von den siegreichen Alliierten in ebenfalls vier Besatzungszonen aufgeteilt. Die Franzosen hielten den Flüchtlingen, die aus den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang kamen, zwar die Daumen für deren weitere Zukunft, freilich aber nur für den Fall, dass es ihnen nicht in den Sinn kam, sich in Frankreich niederzulassen. Hier endete jede Sympathie. Der Traum des jungen Belcredi hieß aber nun einmal Paris. Die erste Etappe auf dem Weg zu seinem Traum legte er erfolgreich zurück. In Wien gelang es ihm, gefälschte österreichische Dokumente zu erhalten, mit denen er bis nach Innsbruck gelangte. Dort gab es ein Problem. Bei einer Kontrolle wurden die Dokumente beschlagnahmt und er wurde in ein Anhaltelager für Emigranten gesteckt. Er sehnte sich zwar nach Frankreich, aber noch größer war seine Sehnsucht nach Freiheit, mit der sein momentanes Dasein, eingesperrt hinter einem Zaun, nicht in Einklang zu bringen war. Den Zaun übersteigen konnte er nicht, aber er suchte nach einem Schlupfloch. Er fand es bald. Belcredi stellt fest, dass einer der Lagerkapos ein ehemaliger slowakischer Faschist war, der vor der Roten Armee geflüchtet war. Augenblicklich machte er Radau, denn von einem Faschisten wollte er sich nicht bewachen lassen. „Das können Sie sich vorstellen, ich war ein junger Bursche, radikal und aufbrausend“, lachte er, als er mir das erzählte. „Es zeigte sich, dass sie mit mir nicht fertig wurden und so brachten sie mich zum Stab, zu einem französischen Offizier. Ich konnte ein wenig Französisch und erzählte ihm: ‚Sie verstehen das wahrscheinlich nicht, Sie sind aus einem anderen Teil Europas, aber dass ich von einem slowakischen Faschisten bewacht werde, wo doch die Faschisten während des Krieges unsere Leute ermordet haben, das kommt auf keinen Fall in Frage.‘ Ich stritt mich so lange mit ihm, bis er sich endlich dazu entschloss, mich lieber gehen zu lassen. Er riss aus einer Zeitung, die vor ihm lag, einen unbedruckten Streifen ab, schrieb meinen Namen und mein Geburtsdatum darauf, versah ihn mit einem Stempel und unterschrieb ihn. Dieses Stück Papier bewahre ich immer noch auf. Es handelte sich dabei um meinen ersten, bereits amtlichen Pass 213

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in der Emigration. So begann meine Karriere als Emigrant. Etwa 20 Kilometer von Innsbruck entfernt lebten mir bekannte Österreicher. Mit diesem Papier konnte ich zu ihnen fahren. Ich musste nicht mehr im Lager wohnen, hatte mich aber jede Woche zu melden.“ Er hatte einen kleinen Sieg errungen, der Sinn stand ihm allerdings nach etwas Kostbarerem – einem französischen Visum. Zuerst versuchte er selbst, eines am französischen Konsulat in Innsbruck zu bekommen, das – wie er sich überzeugen konnte – eine uneinnehmbare Festung war, ein Olymp, auf dem die französischen Götter wohnten, die Herrscher über das Schicksal der Österreicher und der Emigranten. Als die Sekretärin im Vorzimmer merkte, was er da als Dokument für den Visumantrag bei sich hatte, war sie davon überzeugt, dass er einen Spaß machen wollte, und ließ ihn erst gar nicht weiter vor. In seiner Verzweiflung schrieb er an seine Schwester Therese, deren Ehemann, Prinz Lobkowicz, französische Vorfahren hatte und gute Beziehungen zu den richtigen Stellen in Paris unterhielt. Dieser konnte ihm zumindest ein Visum für drei Monate verschaffen, danach hätte er wieder nach Innsbruck zurückkehren müssen. Er fuhr sofort nach Paris und ersuchte das Tschechische Komitee, eine von der französischen Verwaltung mehr oder weniger respektierte halbamtliche Organisation, um die Befürwortung seines Asylantrages. Zur gleichen Zeit bewarb er sich um ein Stipendium, um studieren zu können. Er hatte Glück, denn nicht lange zuvor hatten die Kommunisten das Denis-Institut in Prag geschlossen und im französischen Budget verblieb somit eine Summe Geldes, die ursprünglich für dieses Institut vorgesehen gewesen war. Die Frage, was nun damit zu geschehen habe, wurde von der französischen Regierung in hervorragender Weise gelöst – sie widmete es in Stipendien für tschechoslowakische Studenten in Paris um. Es wurde November, in der Stadt an der Seine stellte sich ein rauer, nasskalter Winter ein, die Erledigung seines Gesuchs zog sich in die Länge, er hatte keinen ordentlichen Wohnsitz, wenig Geld in der Tasche und überlegte, wie es weitergehen sollte. Jemand riet ihm, an die Riviera zu fahren, denn im Süden könne man immer irgendwie durchkommen. Im schlimmsten Fall würde er eine reiche Amerikanerin kennenlernen, die er heiraten könne. An der Riviera stellte Belcredi aber fest, dass es dort nicht so rosig war, wie es schien, und dass ein Emigrant, genauso wie die anderen, irgendwo wohnen und irgendetwas essen musste. Er begann damit, die Zeitungsinserate zu studieren, vielleicht nicht unbedingt die Rubriken über Bekanntschaften, sondern eher jene mit offenen Stellen, und las eines Tages, dass ein Jean-Pierre Duclos, Delikatessenhändler 214

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aus Cannes, einen Mitarbeiter suchte. Der Gedanke, sein Geld mit Pasteten zu verdienen, sagte ihm zu und so machte er sich zu ihm auf den Weg. Duclos fand vom ersten Augenblick an Gefallen an Belcredi, sagte ihm, dass er ihn einstellen würde, er solle sofort anfangen. Als er sich davon überzeugt hatte, dass die Arbeit dem jungen Lehrling zusagte, nahm er ihn zu den Einkäufen mit und führte ihn in die Geheimnisse der französischen Küche ein. Er führte nicht nur ein Delikatessengeschäft, sondern war auch Eigentümer einer großen Küche, in der Empfänge und Festessen vorbereitet wurden. „Monsieur Duclos war ein goldiger Mensch“, erinnerte sich Richard Belcredi vergnügt, „er hat mir viel beigebracht, vor allem die Zubereitung von Vorspeisen, das war meine Spezialität. Aspik-Gerichte, Salate, verschiedene Arten der Fleischzubereitung. Der Einkauf war für ihn eine Zeremonie, er verstand ihn als Ritual, wollte immer nur erstklassige Waren. Waren Sie jemals in Frankreich und haben gesehen, wie es bei einem Fleischhauer zugeht? An einem Haken hängt eine ganze Ochsenhälfte oder ein Schwein, und sie suchen sich davon ein Stück aus. Seit dieser Zeit gehe ich gerne einkaufen. Seit dieser Zeit macht mir kein Fleischhauer etwas vor.“ In Cannes verbrachte er einige angenehme Wochen und kurz bevor sein dreimonatiges Visum ablief wurde ihm die Empfehlung für seinen Antrag auf politisches Asyl zugestellt. Unverzüglich begab er sich zur Sûreté Nationale, die die Asylbewilligung erteilte. Ein Bekannter von ihm, ein bereits erfahrener Emigrant, riet ihm, etwas mitzubringen, wenigstens eine Flasche Wermut und Zigaretten, aber der Beamte der Sûreté warf ihn so schnell wieder aus dem Büro, dass er nicht einmal genug Zeit hatte, die Sachen aus seinen Manteltaschen auszupacken. Er ging wieder zu seinem Bekannten und klagte ihm sein Leid. Der verabreichte ihm eine Schelte und gab ihm dann den Rat, ruhig noch einmal dorthin zurückzukehren. Er kehrte also in dasselbe Büro zum selben Beamten zurück. Dieses Mal ließ er sich nicht beirren und stellte, ohne ein Wort zu sagen, die Flasche Wermut auf den Tisch und legte zwei Päckchen Zigaretten dazu. „Das ist aber freundlich von Ihnen, Monsieur, wirklich sehr nett“, heiterte sich das Gesicht des Mannes auf, schließlich bemühte er sich sogar um ein Lächeln. 14 Tage später wurde Belcredi Asyl gewährt und er hatte einen Flüchtlingspass. „Vom Gebäude der Sûreté ging ich direkt zum Bahnhof, setzte mich in den Zug und fuhr von Cannes nach San Remo und wieder zurück. Aus purem Vergnügen, frei reisen zu können. Einen Pass zu haben bedeutete viel. Ohne ihn war ein Mensch beinahe kein Mensch, er konnte nicht fahren, wohin er wollte. 215

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Wenn ihm aber Asyl gewährt wurde, erhielt er eine Aufenthaltsbewilligung und konnte um eine Arbeitsbewilligung ansuchen.“ Zu seiner großen Freude wurde auch Belcredis Stipendienantrag positiv erledigt. Er verabschiedete sich von Jean-Pierre Duclos und kehrte nach Paris zurück. Er begann Rechtswissenschaften zu studieren, ein Professor warf ihn aber schon bei seiner ersten Prüfung ohne Pardon hinaus, weil sein Französisch nicht für die Rechtsterminologie auszureichte. Er fiel durch, ihm aber machte das nichts aus. Er war doch in Paris! Das war für ihn das Allerwichtigste. „Paris bedeutete für Sie die Erfüllung eines Traumes. Was hat Sie an der Stadt so begeistert?“ „Die ungemein große Portion Freiheit. Ich hatte niemanden im Rücken, niemanden, der mir nachspionierte, auf einmal war ich ganz und gar frei. Wer wollte, konnte studieren, wer nicht wollte, ging irgendwohin arbeiten. Wir kamen uns wie die Kinder im Paradies vor. Wir haben die Freiheit tatsächlich in großen Schlucken getrunken. Dabei hatten wir oftmals keinen Centime in der Tasche, aber für einen Studenten gibt es immer die Möglichkeit, sich etwas dazuzuverdienen. Frankreich war zu dieser Zeit fantastisch. Ich weiß nicht, wie es jetzt ist. Ich fahre zwar gelegentlich dorthin, lebe jedoch nicht ständig dort. Es fällt mir daher schwer, einen Vergleich anzustellen, aber damals ließ es sich in Paris wunderbar frei atmen.“ Seine Begeisterung für Frankreich war ansteckend. Das kann man gut verstehen, fiel mir dazu ein. Er war jung und es wäre wenig verwunderlich gewesen, wenn er dieses Lebensgefühl nicht in vollen Zügen genossen hätte. Und die französische, bisweilen kecke Offenheit, Eigenart und Individualität mussten ihm ganz einfach gefallen. „Einmal war ich in einem Bistro auf den Champs-Élysées ganz in der Nähe des Triumphbogens, um Kaffee zu trinken. Beinahe jeden Tag kam die Polizei herangebraust, entzündete das Feuer, sofern es in der Zwischenzeit erloschen war, die französische Fahne wehte im Wind und ein Kranz wurde niedergelegt, eine Gelegenheit dazu fand sich jedes Mal“, erzählte er. „Die Franzosen an den Tischen um mich herum führten wie gewöhnlich ungestüme Diskussionen über die Politik, aber als sie merkten, dass der damalige Präsident Coty gekommen war, um einen Kranz niederzulegen, rannten sie zum Gehsteig und schrien zu ihm hinüber. Aber wie! ,Coty, also so etwas. Was treibst du denn überhaupt. Dass du dich einfach so in der Öffentlichkeit zeigst!‘ Das ging so lange hin und her, bis er wegfuhr. Ich war es von der Tschechoslowakei her gewohnt, dass jeder 216

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eine Verbeugung machte, wenn man den Namen von Präsident Beneš alleine in den Mund nahm. Und wenn man von Masaryk sprach, dann sogar zweimal. Und in Frankreich gab es dann so etwas!“ „Sie sind sich wie ein Kind im Paradies vorgekommen, aber wie ist es den anderen ergangen?“ „Sie haben recht. Es gab einige, die an der Emigration sehr schwer getragen haben. Selbstverständlich fällt jeder Emigrant von Zeit zu Zeit in eine Depression, in ein Gefühl der Bedrängnis und des Verlassenseins. Ein Studienkollege von mir, der Sohn des ehemaligen Botschafters in London, konnte den Verlust seiner Heimat nicht verwinden. Es störte ihn, wie ein armer Schlucker zu leben, manchmal hat er sich bei uns beschwert. Wenn er doch wenigstens einen dieser Teppiche hätte, von denen es zu Hause in Prag so viele gab. Ich sagte ihm dann nur: ‚Hör mal, ich bitte dich, vergiss die ganzen Teppiche und die antiquarischen Kleiderschränke, die ihr dort zurücklassen musstet. Sei froh, dass du hier bist. Du wärst jetzt genauso in irgendeinem Zwangsarbeitslager oder in einem Bergwerk, während du hier ein Leben nach deinen Vorstellungen führen kannst‘. Schlussendlich ist er mit der ganzen Situation nicht zurechtgekommen und ist seelisch daran zerbrochen.“ „Sie sind wohl ein beharrlicher Optimist?“ „Ich weiß nicht, ob ich beharrlich bin, aber ein Optimist auf jeden Fall. Ich verliere die gute Laune nur selten. Ich bin nämlich aus einem warmen Nest he­ rausgefallen und der Vorrat an Liebe, den ich zu Hause bekommen habe, hält bis zum heutigen Tag an.“ „Dann war Ihre familiäre Beziehung so harmonisch?“ „Absolut! Gewisse Konventionen mussten eingehalten werden, um nicht die Anarchie ausbrechen zu lassen. Beispielsweise mussten wir uns als Kinder zu Wort melden, wenn die Erwachsenen sprachen. Gott bewahre, wenn wir ihnen ohne Erlaubnis ins Wort gefallen wären! Und Abend für Abend mussten wir uns für das Abendessen umziehen. Ähnlich war es mit dem Tagesablauf, der wurde peinlich genau eingehalten, vom Lernen wurde keine Ausnahme gemacht. Aber dennoch – meine Kindheit war ideal.“ Er ließ das Rechtsstudium bleiben und schrieb sich an der sogenannten Universität des freien Europa in Straßburg ein. Das Wort „sogenannte“ hat hier seine Berechtigung, handelte es sich doch um eine ziemlich kuriose Universität für junge Emigranten aus Mittel- und Osteuropa. In der Führung des Freien 217

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Europa herrschte damals nämlich die Meinung, dass man einer Gruppe von Leuten eine politische Ausbildung ermöglichen sollte, die in Zukunft, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, in ihren Ländern bedeutende Funktionen übernehmen und in gewisser Weise eine Avantgarde der Demokratie bilden sollten. Ende der 1950er-Jahre zeigte es sich, dass die Zeit für etwas Derartiges bei Weitem noch nicht reif war. Die Universität verlor ihre Bedeutung, wenn sie überhaupt irgendwann einmal eine hatte. Richard Belcredi trat übrigens in der Zwischenzeit bei Radio Free Europe eine Stelle als Redakteur an. „Ich bin dort mit einem riesigen Feuereifer hingegangen, die Arbeit bei einem Radiosender reizte mich, schließlich hatte ich dadurch die Möglichkeit, etwas gegen das kommunistische Regime zu Hause zu unternehmen. Am Anfang war ich im Monitoring tätig und hatte die Aufgabe, die Sendungen des Prager Rundfunks zu transkribieren. Selbstverständlich nicht alles, nur Nachrichten, Kommentare und Ähnliches. Daneben erhielten wir von Nachrichtenagenturen englische Texte, die wir augenblicklich übersetzen und einer Sekretärin ins Tschechische diktieren mussten. Wissen Sie, was für eine hervorragende Erfahrung das für meine weitere redaktionelle Arbeit war? Ich habe mir einen ansehnlichen Wortschatz erarbeitet, habe gelernt, ungemein schnell mit Texten zu arbeiten und habe mich gleichzeitig um ein schönes Tschechisch bemüht. Nach dem August 1968 kamen aus den Reihen der Emigranten neue Redakteure zu Radio Free Europe. Wenn diese dann zu sprechen begannen – eben so, wie sie es von zu Hause gewöhnt waren – schlampig, mit verstümmelten Vokalen und verschluckten Endungen, habe ich sie zuerst immer in die Bibliothek geschickt. ‚Suchen Sie sich dort das Werk von Karel Čapek heraus‘, sagte ich ihnen, ‚suchen Sie sich fünf, sechs Bände aus, gehen Sie nach Hause, lesen Sie daraus laut vor, wiederholen Sie alles auswendig, damit Sie ordentliches Tschechisch lernen, und kommen Sie in einer Woche wieder‘. Zu Radio Free Europe stießen hervorragende Redakteure, wie etwas Sláva Volný, Milan Schulz, Karel Jezdinský oder Karel Kryl. Es kam zu einer Verjüngung des gesamten Teams. Auf der anderen Seite verließen viele jener, die am Beginn von Radio Free Europe gestanden hatten, den Sender oder gingen in Pension. Die Sendungen aber bekamen mehr Pfiff. Und auch den Trend stark nach links, was mich manchmal störte. Ich weiß nicht, warum die Amerikaner der Meinung waren, dass die Chance, die Menschen zu Hause in der Tschechoslowakei ansprechen zu können, umso größer wäre, je mehr Radio Free Europe linke Positionen vertreten würde.“ 218

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Am Beginn der 1980er-Jahre verließ Richard Belcredi Radio Free Europe und wurde Geschäftsführer der katholischen Laienorganisation Opus Bonum. Diese Vereinigung wurde im Jahr 1972 – gemeinsam mit dem tschechischen katholischen Denker aus Frankfurt, Dr. Vladimír Neuwirth – vom Abt des Prager Klosters Břevnov, Anastáz Opasek, gegründet, der damals im bayerischen Benediktinerkloster Rohr im Exil lebte. Er hatte eine bewegte Vergangenheit hinter sich. In einem Schauprozess war er von den kommunistischen Gerichten mit der Begründung, ein gefährlicher Agent des Vatikans zu sein, zum Tode verurteilt worden. Die Todesstrafe wurde in lebenslange Haft umgewandelt und nach elf Jahren wurde er unter Vorbehalt freigelassen. Er arbeitete beim Bau der Prager Neubausiedlungen mit und war Lagerarbeiter in der Nationalgalerie. Im Jahr 1968 ging er nach Österreich, von wo er – jetzt greife ich ein wenig vor – im Juli 1990 wieder nach Prag zurückkehrte, wo er wiederum seiner Berufung als Abt des Klosters Břevnov nachging. „Ich muss zugeben, dass ich nie einer Emigrantenorganisation beitreten wollte“, sagte mir Richard Belcredi. „Ich bin dem ausgewichen, wie der Teufel dem Weihwasser. Dann kam einmal Abt Opasek, ein einmaliger Mensch, zu mir und sagte, dass das Opus Bonum in der Krise stecke, dass es – wie das in Emigrantenkreisen oft der Fall war – Streit gebe und ob ich nicht die Funktion des Geschäftsführers übernehmen wolle. Opaseks Wunsch konnte ich nicht zurückweisen, das war ausgeschlossen, vom ersten Augenblick an hat er mich mit seiner Begeisterung und seiner Vitalität angesteckt. Ich habe einen erhabenen Prälaten erwartet, wie ich eine Reihe von ihnen im Westen kennengelernt hatte. Nichts dergleichen! Er fing gleich an, davon zu reden, dass es nötig wäre, etwas für die tschechischen Emigranten, für die Menschen in der Tschechoslowakei und für unsere gemeinsame Zukunft zu tun. Ich sagte: ‚Gut, Pater, aber nur, wenn mir da niemand hineinredet. Das ist die Bedingung‘. Damals wurde er von Láďa Krtil begleitet, der mich auf etwas aufmerksam machte: ‚Nun ja, aber wir sind finanziell nur recht unzureichend ausgestattet und unsere Mittel sind beschränkt. Wir können nicht tätig werden, bevor wir nicht mindestens 40.000 Mark auf dem Konto zur Verfügung haben‘. – ‚Das ist doch ein Unsinn‘, warf ich ein. ‚Es ist besser, aktiv zu sein und in Kauf zu nehmen, ab und zu Schulden zu machen, als nichts zu tun‘. Im Laufe der Zeit haben uns all jene den Rücken gekehrt, die das große Wort führten und die sich permanent in alles einmischen wollten. Nur der harte Kern blieb übrig. Im Allgemeinen haben wir ausgeglichen bilanziert, na und manchmal sind wir auch ins Minus gerutscht, 219

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aber wir haben uns immer wieder erfangen. Nur so konnte man das machen. In der Emigration gelten eben völlig andere Regeln.“ Das Opus Bonum pflegte Kontakte zur Heimat, veranlasste den Versand von Büchern und Zeitschriften, bemühte sich um die Unterstützung der tschechischen Exilanten und auch jener, die in der Heimat verfolgt wurden. Neben der publizistischen und herausgeberischen Tätigkeit organisierte es regelmäßige Treffen, deren Ziel die individuelle Verständigung, aber auch die Völkerverständigung war. Anfangs wurden Begegnungen von Jugendlichen mit berühmten Persönlichkeiten in den Räumlichkeiten des Benediktinerklosters Rohr abgehalten und akademische Wochen, die christlichen Themen gewidmet waren, in Hünfeld bei Fulda. Etwas später, was vor allem auf die Leitungstätigkeit von Richard Belcredi und seine Zusammenarbeit mit Pavel Tigrid zurückzuführen war, fanden Symposien nahe der tschechischen Grenze im Ort Franken statt, die von Menschen verschiedener Bekenntnisse und Überzeugungen besucht werden konnten. Dort kamen Menschen zusammen, die in den Jahren 1948 und 1968 ins Exil gegangen waren, jene, die beim politischen Umsturz im Februar 1948 den Sieg des Volkes gefeiert, und jene, die damals zu den Verlierern gehört hatten. „Wir haben grundsätzlich keine Politik gemacht – das war die Stärke des Opus Bonum. Wir waren ein Forum, das alle von Asch bis Jasiňa besuchen konnten, darauf haben wir Wert gelegt, gleich, ob das Zdeněk Mlynář, Sláva Volný, Luděk Pachman, Pavel Tigrid oder wer auch immer war. Aber jeder sprach nur für sich selbst. Später haben wir für Franken auch Beiträge direkt aus der Tschechoslowakei erhalten, auch von Václav Havel. Es wurde behauptet, dass wir finanzielle Unterstützung vom Vatikan erhielten, aber das stimmte nicht. Vom Vatikan haben wir nichts bekommen. Dennoch haben wir den Dissidenten geholfen, wie es eben möglich war. Ich erinnere mich daran wie an eine wilde Sturm- und Drangzeit, weil wir auf den unterschiedlichsten Wegen nicht nur Druckwerke und Bücher, sondern auch Kopierer und spezielle Schreibmaschinen geschickt haben. Sie haben keine Vorstellung, welche Kunststücke wir uns einfallen ließen, aber meine Aufgabe war die Organisation der Transporte. Das war keineswegs leicht, man musste über seine Routen und bestimmte Kontakte verfügen, aber während all der Jahre sind wir nur ein einziges Mal aufgeflogen. Dabei handelte es sich um einen deutschen Theologiestudenten. Er begann mit großer Begeisterung nach Prag zu fahren, lernte dabei eine ganze Reihe von Leuten kennen, unter anderem brachte er auch von Petr Pithart eini220

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ge Dinge mit. Eines Abends kam er zu mir gelaufen und sagte: ‚Schnell, schnell, schnell. Ich brauche ein Kopiergerät, ich habe es der Dissidentengruppe von Václav Benda versprochen. Jetzt wäre genau der richtige Zeitpunkt, denn ich fahre mit zwei Freunden nach Prag.‘ Was aber weder er noch ich wussten war, dass zur gleichen Zeit in Prag ein Treffen der sozialistischen Jugend abgehalten wurde und dass die Kommunisten ungemein sorgfältig kontrollierten, wer ins Land einreiste. Also bekamen die Zöllner den Befehl, jeden Reisenden sorgfältig zu durchsuchen. Selbstverständlich fanden sie das Kopiergerät in seinem Auto, er wurde verhört, die zwei aus dem Wagen ließen sie laufen, die konnten sich da irgendwie herauswinden. Der Theologe aber wollte nicht lügen und bekannte, dass das Gerät für verfolgte katholische Dissidenten bestimmt war. ‚Bei uns in der Tschechoslowakei wird niemand verfolgt und die Kirche schon gar nicht‘, verspotteten ihn die Zöllner. Nun, sie stellten ihn vor Gericht und er wurde wegen Schmuggel zu acht Monaten verurteilt. Im Gefängnis lernte er ziemlich gut Tschechisch, Theologie hat er zwar fertig studiert, aber nach dem Jahr 1989 wandte er sich einer zivilen Tätigkeit zu und wurde Geschäftsführer der Handelskammer für die Tschechoslowakei und Rheinland-Pfalz. Der Gefängnisaufenthalt und ich haben ihm also zu einer Karriere verholfen.“ „Druckschriften, Bücher, Zeitschriften, Kopiergeräte. Das alles brachten die Leute heimlich und aus bloßer Begeisterung für die Sache über die Grenze?“ „Um Ihnen die Illusion zu nehmen: Bis auf diesen Burschen, den Theologiestudenten, hat das niemand ganz umsonst gemacht. Ungeachtet dessen hat alles den Ort seiner Bestimmung erreicht.“ „In Franken haben Sie, soweit ich weiß, auch ein Symposium über das Zusammenleben von Tschechen und Slowaken abgehalten, das von slowakischen Separatisten aus Amerika besucht wurde. Die Aufteilung des Landes hing damals schon in der Luft. Meinen Sie, dass man sie hätte verhindern können?“ „Das wäre nicht möglich gewesen. Ich wollte zuvor nicht glauben, dass sich etwas Derartiges ereignen könnte. Wirklich nicht. Am Ende werden alle zur Vernunft kommen, sagte ich mir, aber sie haben nicht davon abgelassen, es kam zur Trennung. Alleine schon aus logischen Gründen – ich bitte Sie! Welchen Wert hat das heute? Und wie man darauf hingearbeitet hat! Meiner Meinung nach hat man das nicht auf dem Gebiet der Slowakei vorbereitet, sondern hauptsächlich in Kanada und in den Vereinigten Staaten. Und auch in München. Sie dürfen nicht vergessen, dass in Amerika viele Slowaken leben, die irgendwann einmal dorthin gegangen waren, um zu arbeiten. Einige von ihnen 221

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verfügten über großen Einfluss und manche auch über viel Geld. Nehmen Sie etwa das Beispiel von Herrn Roman. Seine Eltern besaßen in der Ostslowakei ein Stück Land und eine Kuh. Sein Vater schickte ihn am Beginn der 1930erJahre nach Kanada, damit er sich dort ein Paar Dollar verdient, um sich eine zweite Kuh kaufen zu können und ein neues Haus zu bauen. Alles geriet ihm gut, er hat viel verdient, aber dann brach der Krieg aus und er konnte nicht in die Slowakei zurückkehren. In dieser Situation ging er zu einem Makler und sagte ihm: ‚Hören Sie, ich habe soundso viel Geld, mit dem ich nach Hause zurückkehren wollte. Ich kann jetzt aber nicht, was also soll ich tun?‘ – ‚Am besten wäre es‘, riet ihm der Makler, ‚wenn Sie dafür eine Liegenschaft kaufen würden. Kaufen Sie irgendeinen Wald, das ist gar kein Problem, nach dem Krieg verkaufen Sie ihn wieder und verdienen daran sogar noch etwas‘. Er folgte seinem Rat, und was geschah? Auf seinen Grundstücken wurde Uran gefunden und Herr Roman wurde Millionär. Im Nu hatten ihn die slowakischen Nationalisten für sich eingenommen und er begann damit, den Kampf für die Selbstständigkeit der Slowakei zu unterstützen. Dann war da noch eine Gruppe slowakischer Faschisten, ehemalige Prominente des Tiso-Staates, die am Ende des Krieges im Jahr 1945 ins Ausland geflüchtet waren, um so einer möglichen Strafe zu entgehen. Diese kämpften ebenso für die Wiederherstellung der Selbstständigkeit. Bei Radio Free Europe arbeiteten die Slowaken schon von Beginn an auf die Errichtung einer eigenen Redaktion hin. Dort hatten sie freilich keinen Erfolg. Die Amerikaner hielten an dem von den Alliierten auf Jalta vereinbarten Status quo fest und unterbanden jedes noch so geringe Anzeichen, das auf eine Veränderung hindeutete.“ „Das Exil wurde Ihnen aufgezwungen, zur Rückkehr haben Sie sich selbst entschlossen. War es schwer für Sie, von Bayern nach Mähren zu gehen?“ „Tatsache ist, dass ich während der gesamten 40 Jahre im Exil nicht darüber nachgedacht habe, irgendwann zurückzukehren. Aber all meine Versuche, die Verbindungen mit der Heimat abzubrechen, waren zum Scheitern verurteilt. Wann immer ich mich darum bemüht habe, traf ich auf Pavel Tigrid und der führte mich wieder nach Mähren zurück. Und jetzt sitze ich für immer in Brodek.“ „Warum haben Sie sich gegen eine Rückkehr gewehrt?“ „Es kam mir so vor, als hätte ich zu Hause genug Schlechtes erlebt. Während des Krieges haben die Deutschen auf unseren Gütern die Zwangsverwaltung eingeführt und für die Nazis war mein Vater eine gefährliche Person; er wurde 222

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8. Aufnahme um das Jahr 1940. Vorne links Richard, Hugo, Mutter Theresie mit Egbert auf dem Schoß, dahinter Vater Karl Georg, Marie Therese und Ludwig.

in ihren Unterlagen als tschechischer Hetzer bezeichnet und stand ständig mit einem Bein im Gefängnis. Ich war 14 Jahre alt, als das seinen Anfang nahm. Die Schwester meines Vaters, Marie Anna, heiratete einen bayerischen Journalisten, Dr. von Aretin, den Chefredakteur der Münchner Neuesten Nachrichten, der heutigen Süddeutschen Zeitung. Dieser schrieb sehr scharfe Artikel gegen Hitler, noch bevor dieser zum Reichskanzler ernannt wurde. Als dieser Herr mit dem Schnauzbart dann im Jahr 1933 an die Macht kam, ließ er meinen Onkel ins Konzentrationslager Dachau sperren, das damals von den Nazis in aller Eile errichtet worden war. Zu dieser Zeit war dort vermutlich kein einziger Jude, sondern in der Mehrzahl waren Regimegegner dorthin gebracht worden. Marie Anna ersuchte meinen Vater, ob er sich nicht nach München begeben und bei den nationalsozialistischen Machthabern intervenieren könnte, damit ihr Mann freigelassen würde. Das war eine naive Vorstellung, aber mein Vater setzte sich in den Zug und fuhr los. Er besuchte auch den damaligen Münchner Polizeipräsidenten, einen prominenten Nazi. Der wollte zwar von einer Freilassung nichts hören, aber er gestattete meinem Vater zumindest einen Besuch im Lager, unter der Bedingung, ihn auf dem Rückweg erneut aufzusuchen. Das geschah auch 223

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und der Polizist wollte wissen, welchen Eindruck das Lager auf meinen Vater gemacht hatte. Mein Vater war nicht daran gewöhnt, darauf zu achten, was er sagte, noch dazu fiel es ihm im Jahr 1933 nicht ein, dass der nationalsozialistische Wahnsinn auch einmal zu uns kommen könnte, und er antwortete daher: ‚Es ist noch schlimmer, als ich mir gedacht habe, Herr Präsident.‘ Der große Polizeichef lief vor Zorn purpurrot an und setzte eine Drohgebärde auf. ‚Etwas Derartiges, Herr Graf ‘, sagte er scharf, ‚darf vor mir nicht einmal ein Ausländer sagen. Seien Sie auf der Hut, möglicherweise werden wir uns noch irgendwann begegnen.‘ Ich habe Gräueltaten der Nazis an Tschechen und nach dem Krieg den ‚Brünner Todesmarsch‘ nach Pohrlitz gesehen und miterlebt. Ich war damals 19 Jahre alt und habe zum ersten Mal über die Emigration nachgedacht. Die gleichen Leute, die während des Krieges für ihre außerordentlich gute Arbeitsleistung in der Waffenfabrik, die dem Dritten Reich zum Sieg verhelfen sollte, vom Stellvertretenden Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, Reinhard Heydrich, mit besonderen Zuwendungen belohnt wurden, waren bei der Vertreibung als bewaffnete Begleitmannschaften mit dabei. Sie waren dabei, als sich die Marschkolonne formierte, und sie waren es auch, die die österreichischen Deutschen mit Peitschen schlugen. Keine Prominenten, aber normale Leute, die mit den nationalsozialistischen Verbrechen nichts zu tun hatten. Das kann man nicht vergessen. Und unmittelbar darauf traten diese ‚Patrioten‘ der Kommunistischen Partei bei, weil sie sich davor fürchteten, dass jemand an ihnen Rache üben könnte. Wir Tschechen können schrecklich kaltherzig und teilnahmslos sein. Gegenüber Drogen, den Problemen unserer Nachbarn, gegenüber unserer eigenen Vergangenheit. Wir können auch sehr grausam sein. In München habe ich vor Jahren einen englischen Offizier getroffen, der während des Zweiten Weltkrieges in Nordafrika gegen die Panzerdivision von Feldmarschall Rommel gekämpft hatte. Als die Engländer die Deutschen zum Rückzug gezwungen hatten, erbeuteten sie einen Teil des Waffenarsenals der Wehrmacht. ‚Da hätten sie sich gewundert, was von euch aus dem Protektorat kam‘, sagte er. ‚In Kisten aus euren Waffenfabriken befanden sich sorgfältig erzeugte und eingeölte Waffen, während alles, was aus Polen kam, hingeschludert und in die Kisten nur einfach so hineingeworfen worden war. Schon auf den ersten Blick konnten wir erkennen, wo die Waffen hergestellt worden waren.‘ Gewiss, es gab auch Fälle großer persönlicher Tapferkeit. Ich habe selbst so etwas erlebt. Sagt Ihnen der Name Bohdan Chudoba etwas? Ein Professor, ein 224

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mährischer Historiker, Autor einiger hervorragender Arbeiten. Er unterrichtete auch Geschichte am klassischen Gymnasium in Brünn, das ich besucht habe. Im Jahr 1941 oder 1942 kam er in die Klasse und sagte: ‚Burschen und Mädchen. Aufgrund einer Verordnung des Deutschen Landesschulrates ist es fortan untersagt, in Mittelschulen etwas über die Geschichte des tschechischen Volkes vorzutragen. Anstelle dessen soll ich von heute an Deutsch unterrichten. Wer von euch kann gut Deutsch?‘ Es meldeten sich vier, darunter ich. ‚Das könnte gehen‘, nickte er zufrieden. ‚Kommt, wir vereinbaren etwas. Ich schlage euch Folgendes vor: In jeder meiner Stunden werdet ihr alle die Deutschbücher vor euch aufgeschlagen haben. Wenn eine Kontrolle kommt, nehme ich Belcredi oder einen von euch drei dran, um etwas auf Deutsch vorzulesen. Aber unterrichten werde ich euch auch weiterhin in tschechischer Geschichte.‘ Können Sie sich dieses Wagnis vorstellen? Das wurde mit dem Konzentrationslager bestraft. Er machte das bis zum Ende des Krieges. Und niemand aus der Klasse hat etwas verraten.“ „Sie sind nach vier Jahrzehnten, in einer Zeit nach dem politischen Umsturz vom November 1989, zurückgekehrt. Eine Zeit, von der viele Wunder erwartet haben. Hat es Sie nicht überrascht, dass sich das Wunder nicht ereignet hat?“ Er besann sich eine Weile, bevor er antwortete. „Wissen Sie, wann auch immer jemand zu mir kommt und sich mit den Worten beklagt: ‚Das ist schrecklich, dieser eine da war Kommunist und jetzt hat er wieder eine hohe Funktion‘, oder dass die gleichen Richter Recht sprechen würden, dann sage ich: ‚Ärgere dich nicht, das habe ich alles schon hinter mir, das habe ich alles in einer anderen Form in Deutschland erlebt.‘ Ich bin sieben Jahre nach dem Krieg dorthin gekommen, als der Nationalsozialismus noch überall zu sehen war. Die Nazis haben auch zusammengehalten, sie haben sich Begünstigungen zugespielt, hatten ihre Organisationen und ihre Pensionsfonds. Richter, Politiker, einige hohe Beamte hatten auch weiterhin ihre hohen Funktionen inne. Als ich nach meiner Rückkehr in die Tschechoslowakei eine ähnliche Situation vorfand, hat mich das nicht sehr überrascht. Können wir sagen – entlassen wir alle Richter, die in der kommunistischen Partei waren? In der Partei waren doch fast alle. Wer würde dann jetzt richten? Es ist dasselbe wie in Deutschland. Das Leben geht weiter, in Deutschland kommt niemand auf den Gedanken, zu diesen Verhältnissen zurückzukehren, denn die alten Strukturen gibt es nicht mehr, sie sind erloschen. Und genauso wird es auch hier sein.“ „Apropos, haben Sie jemals Ihre persönliche Akte angesehen, die im Innenministerium angelegt worden ist?“ 225

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„Irgendwann sollte ich vielleicht einen Blick in meine Akten werfen, Sie haben recht“, gestand er ein, „aber ich schiebe das immer hinaus. Es würde mir kein besonderes Vergnügen bereiten, wenn ich erst jetzt erfahren würde, dass eine Reihe meiner Kollegen von Radio Free Europe, denen ich absolut vertraut habe, Mitarbeiter des Staatlichen Sicherheitsdienstes waren und mich denunziert haben.“ „Wir haben schon darüber gesprochen, dass Sie nach Ihrer Rückkehr in die Tschechoslowakei zum Botschafter ernannt wurden. Aber es gab in Ihrem Leben noch zwei weitere bedeutsame Ereignisse – von der Universität in Brünn haben sie das Doktorat in Rechtswissenschaften erhalten und Präsident Havel hat Ihnen eine staatliche Auszeichnung verliehen – den Tomáš Garrigue Masaryk-Orden. War das eine Auszeichnung für Ihre diplomatische Mission in der Schweiz?“ „Nein, nein. Die Auszeichnung habe ich für meine Arbeit bei Opus Bonum erhalten, nicht nur für die Frankener Tagungen, sondern auch für die Unterstützung der Dissidenten. Habe ich Ihnen gesagt, wie mir nach der Rückkehr nach Prag im Jahr 1990 Präsident Havel sagen ließ, ich möge zu ihm kommen? Ich ging in das Audienzzimmer, wir schüttelten uns die Hände und das Erste, was er sagte war: ‚Ich kenne Sie bereits!‘ – ‚Herr Präsident, Sie irren sich vielleicht‘, entgegnete ich ihm, ‚wir sehen uns doch heute zum ersten Mal.‘ – ‚Das ist wahr, aber ich kenne Sie dennoch.‘ Karel Kyncl hatte nämlich ein Video einer Frankener Tagung gedreht und es nach Prag geschickt. Eine Kopie hatte auch Havel erhalten. Obwohl ihm die tschechoslowakischen Behörden die Reise nach Franken untersagt hatten, kannte er die Teilnehmer des Symposiums von der Aufnahme her, weshalb er sich auch an mich erinnerte.“ Einer meiner Besuche in Brodek endete erst, als es draußen bereits dämmerte. Bevor ich mich verabschiedete, drückte Graf Belcredi beim Ausgang auf einen Knopf, das Schloss wurde von einigen Scheinwerfern erleuchtet, auch ein Springbrunnen inmitten eines Blumenbeetes auf dem Vorhof wurde in Licht getaucht. Es bereitete ihm sichtlich Freude. „Was sagen Sie dazu?“, wandte er sich mir zu. „Als ich nach der Restituierung zum ersten Mal die Schlüssel zum Schloss erhalten habe, machten die örtlichen Honoratioren mit dem Herrn Bürgermeister an der Spitze ihre Aufwartung. Wir haben etwas zusammen gegessen, ein wenig getrunken und im Ganzen einen angenehmen Abend verbracht. Dann aber endete die Feier, alle gingen weg und ich blieb im Schloss ganz alleine zurück. Über dem Eingang flackerte ein 226

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schwaches Licht wie bei einer Leichenhalle auf dem Friedhof und rundherum herrschte nur undurchdringliches Dunkel. Ein sehr depressives Gefühl, kann ich Ihnen sagen. Schon damals habe ich mir vorgenommen, dass ich das ändern und das ganze Schloss beleuchten muss. Jetzt ist mir das endlich gelungen. Ich mag die Dunkelheit nicht, verstehen Sie? Ich möchte Licht um mich haben.“ Das Schloss in Brodek wurde Richard Belcredi über die Vorfahren seiner Mutter, das gräfliche Geschlecht der Kálnoky, restituiert. Der Familiensitz der Belcredis war jedoch in Ingrowitz inmitten der Saarer Berge. Das über vier Flügel verfügende einstöckige Schloss, das durch einen verborgenen Gang mit der daneben liegenden Kirche verbunden ist, entstand schrittweise im Laufe der Zeit. Mit dem Bau begann Pavel Katharýn von Kathar nach dem Jahr 1588 und ließ den südlichen und den östlichen Flügel erbauen; Mitte des 18. Jahrhunderts fügten die Walldorfs, die damaligen Besitzer, den Nordflügel hinzu. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert errichteten die Belcredis den vierten, den Westflügel, und modernisierten gleichzeitig das Interieur und die Fassade. Ingrowitz ist ein kleines, ruhiges Städtchen. Das Schloss fand ich leicht und parkte das Auto an der Straße gleich unterhalb der Fenster. Eine Aufschrift beim Eingang verwies darauf, dass das Objekt für die Öffentlichkeit gesperrt sei. Auf einem handgeschriebenen Zettel ein Stück weiter aber war vermerkt: Zugang in den Vorhof gestattet. Ich irrte von einer Tür zur nächsten, die meisten waren versperrt, und wenn sie doch offen waren, führten sie in irgendeinen dunklen und ungastlichen Keller. Nach 15-minütiger vergeblicher Suche entschloss ich mich dazu, zum Auto zurückzukehren, in den Hof einzufahren und laut zu hupen. Endlich öffnete sich im zweiten Stock ein Fenster, in dem sich Hugo Belcredi zeigte, mit dem ich ein Treffen vereinbart hatte. Er stieg die Stufen herab, sperrte die Türe auf. Aber bevor er mich einließ, musste ich ihm versichern, dass ich nicht für ein Boulevardblatt schreibe. Auch wollte er nicht viel über sich selbst erzählen und erst mit der Zeit wurde er mitteilsamer. Sein dramatisches Lebensschicksal begann kurioserweise damit, dass er als 13-Jähriger mit der Zustimmung seiner Eltern von dem in Wien lebenden Baron Leopold Andrian-Werburg adoptiert wurde. Der Baron hatte selbst keine Kinder und sehnte sich danach, dass sein Name auch weiterhin Bestand haben sollte. Ihm gehörte ein Besitz in Wien, ein Haus an einem Badesee, auch irgendwelche Aktien des Suezkanals und es verstand sich von selbst, dass er das alles seinem Adoptivsohn vermachen wollte. Auf seinen ausdrücklichen Wunsch trat Hugo in das Jesuitengymnasium in Klosterneuburg bei Wien ein, begann 227

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9. Hugo, der „australische“ Belcredi. In jungen Jahren wurde er von Baron Leopold AndrianWerburg adoptiert und nahm den Namen Andrian-Belcredi an.

sich Andrian-Belcredi zu nennen, behielt die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft, nahm allerdings auch die österreichische an. Vom ersten Moment an litt er unter der Adoption. Er lebte im klösterlichen Internat, zu den Eltern und den Geschwistern konnte er für gewöhnlich nur zu den großen Feiertagen fahren, er fühlte sich einsam und weinte oft nächtelang. Zu Hause in Mähren hatte er sich mit den Buben aus der Umgebung angefreundet, aber weder im Kloster noch in Wien hatte er einen Freund oder Vertrauten. Im Frühjahr 1938 kam es zum Anschluss, Österreich wurde von Hitler besetzt und zur Ostmark gemacht. Aus den Österreichern wurden Bürger des Großdeutschen Reiches. Vier Jahre später musste Hugo Andrian-Belcredi, dessen österreichische Staatsbürgerschaft auf einmal eine reichsdeutsche geworden war, einrücken. Er wurde einer Sondereinheit zugeteilt, in der sogenannte „Beute­ deutsche“, Söhne mit einem ähnlichen Schicksal, zusammengefasst waren. „Wir durchliefen eine harte Ausbildung in Brannenburg in den bayerischen Alpen, wir wurden körperlich wirklich sehr hart hergenommen. Gleich darauf wurden wir in Viehwaggons gepfercht und man brachte uns an die russische Front nach Smolensk“, erzählte er. „Damals herrschte ein Winter, wie ihn Russ228

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land lange nicht mehr erlebt hatte. Alles war gefroren, wir hatten wenig zu essen, nur manchmal ein paar verdorbene, schon blau gewordene Kartoffeln, das Brot – wenn es überhaupt welches gab – war steinhart, wir mussten es mit einer Säge schneiden. Wir trugen nur normale Uniformen und verfügten bei diesem schrecklichen Wetter über keine warme Kleidung.“ Belcredi war 19 Jahre alt und versuchte vergeblich eine Antwort auf die Frage zu finden, warum er in den Krieg hineingeraten war, noch dazu auf der falschen Seite, und warum er auf Leute schießen sollte, gegen die er nichts hatte. „In unserem Bataillon waren wir 350 Mann, so viele waren wir wenigstens, als sie uns nach Smolensk gebracht hatten. Nach den Kämpfen auf den gefrorenen Ebenen vor Moskau waren nur mehr drei am Leben. Sie haben richtig gehört, nur drei. Unser Major, ein Kamerad und ich. Die anderen waren gefallen oder erfroren. Mir sind die Zehen an einem Fuß abgefroren.“ Der deutsche Befehlshaber im Stab wollte die Männer wegen Feigheit vor dem Feind bestrafen, weil sie sich angeblich lieber zurückgezogen hätten, als den Heldentod zu sterben. Andrian-Belcredi war kein Feigling, er ist ein Adeliger, ergriff ein anderer Frontoffizier für ihn Partei. Ein Adeliger fliehe nicht aus dem Kampf. Dieser eine Satz rettete ihm offenbar das Leben. Man brachte ihn in ein Lazarett, das sich in einem Kloster in der Nähe von Köln befand. Wer im Krieg überleben will, braucht Glück. Belcredi hatte es. Der ihn behandelnde Arzt, ein Deutscher namens Schmidt, merkte im Krankenblatt an, dass sein Zustand nach den Erfrierungen so ernst sei, dass er nicht an die Front zurückkehren könne. Schmidt hat Hitler angeblich gehasst, der Krieg war für ihn eine Entartung und den Soldaten, sofern sie keine fanatischen Faschisten waren, half er, wo er nur konnte. Den Krieg überlebte er nicht. Als ihn die Gestapo im Kloster abholen wollte, nahm er sich das Leben, bevor sie ihn festnehmen konnten. Hugo Andrian-Belcredi wurde zum Dienst an das Militärpostamt nach Augsburg geschickt. Er war in ein warmes Nest gekommen – arbeitete als Postbediensteter, sortierte und stempelte Briefe, hatte Telefondienst. Im Jänner des letzten Kriegsjahres erhielt er den Befehl, zusammen mit einem Lastwagenfahrer Ersatzteile für eine Messerschmitt aus Wien zu holen. Als sie an St. Pölten ­vorüberkamen, entschloss er sich dazu, nicht mehr nach Augsburg zurückzukehren und Briefe zu stempeln. Die Grenze war nicht weit entfernt, er begriff das als Aufforderung. Am Abend ging er in Wien zum Bahnhof, versicherte sich, welcher Güterzug Richtung Brünn fahre und versteckte sich in einem leeren Waggon. Zur Sicherheit sprang er schon vor Brünn ab, um den Kontrollen 229

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zu entgehen, von denen die Bahnhöfe voll waren, und machte sich zu seinen Eltern nach Lösch auf den Weg. Er trug immer noch die Uniform der deutschen Wehrmacht, fürchtete, dass ihn irgendjemand sehen und kontrollieren könnte, fürchtete, im letzten Moment verraten zu werden. Schmutzig, hungrig und unausgeschlafen traf er schließlich im Morgengrauen im Schloss ein. Der Erste, den er traf, war der Kammerdiener, der gerade dabei war, seinen Eltern das Frühstück auf einem Silbertablett zu servieren. In diesem Moment wusste er nicht, ob er wütend werden, lachen oder weinen sollte. Wegen einer unsinnigen Adoption hatte er einen Feldzug in der Uniform der Wehrmacht mitgemacht, wäre beinahe auf den Ebenen vor Moskau erfroren, bedeckt von den Leichen gleichaltriger Burschen, wie er einer war, und sein Vater, der daran nicht ganz unschuldig gewesen war, frühstückte zufrieden aus silbernem Geschirr, so als ob nichts gewesen wäre … „In der folgenden Nacht brachte mich mein Bruder Ludwig nach Ingrowitz“, setzte er seine Erzählung fort, „und am Morgen gingen wir in den Wald. In einer Försterhütte gruben wir ein großes Loch, ungefähr zweieinhalb Meter breit und zwei Meter tief, und darin versteckte ich mich. Ludwig legte eine Platte darauf und bedeckte sie mit einer Schicht Moos. Ich habe dort drinnen einige Wochen verlebt und unser Jäger brachte mir zu essen und zu trinken. Wenn uns jemand an die Gestapo verraten hätte, hätten wir dafür büßen müssen. Auf Desertion und Beihilfe zur Desertion wurde man an die Wand gestellt.“ Das Ende des Krieges bedeutete für Belcredi die Befreiung. Als er erfuhr, dass in Prag ein Aufstand ausgebrochen war, zögerte er nicht und machte sich dorthin auf den Weg. Es folgten einige ruhige Jahre, eine Änderung erfolgte aber erst im Jahr 1949. Alles begann sehr unschuldig. Seine Freundin Marie, die in Brünn Medizin studierte, legte gemeinsam mit anderen Freundinnen einen Blumenstrauß am Grab von Präsident Beneš nieder. Angehörige des Staatlichen Sicherheitsdienstes, die beobachteten, wer das Grab besuchte, hatten keinen Sinn für Pietät und legten ihr Handeln als antisozialistische Provokation aus. Vierzehn Tage wurden sie in einem Gefängnis festgehalten und verhört. Von der Schule wurden sie zwar nicht ausgeschlossen, aber sie bekamen, wie aus heiterem Himmel, eine Menge unbeschreiblicher Schwierigkeiten und Probleme. „Wir haben geheiratet und uns entschlossen, dass es wohl am besten wäre, wenn wir illegal zu meinen Eltern nach Wien gingen, die vor mehr als einem Jahr dorthin geflüchtet waren“, sagte Hugo Belcredi. „Die Grenze überquerten wir in 230

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der Slowakei, aber mein Vater begrüßte mich sehr kühl. Er hielt mir vor, nicht auch meinen älteren Bruder zur Flucht überredet zu haben. Etwa ein halbes Jahr später sind meine Frau und ich zurückgekehrt, um Ludwig zu holen und um den Wunsch meines Vaters zu erfüllen. Es war ein verzweifeltes Risiko, wir aber waren jung und von leichtsinniger Kühnheit. Und es ist uns wieder gelungen. In Brünn haben wir dann erfahren, dass Ludwig in ein Arbeitslager gesperrt worden war. Wir konnten ihn weder besuchen noch im Geringsten helfen und machten uns daher wieder auf den Weg nach Wien. Abermals, schon zum dritten Mal, auf dem gleichen Weg über die Donau bei Komárno. Dieses Mal wurden wir geschnappt und nach Bratislava gebracht. Wir wurden getrennt voneinander inhaftiert. Die Mitgefangene meiner Frau kehrte von einem Verhör mit blutverschmiertem ­Rücken zurück, meine Frau fürchtete, dass sie auch gefoltert werden würde, und zuckte immer zusammen, sobald der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde. Die Verhöre fanden in der Mehrzahl in irgendeinem Turm statt, zu dem sie mit uns durch die Stadt fuhren. Der Weg hinauf über die schlüpfrigen, rutschigen Stufen, aber hauptsächlich der Rückweg nach unten, wenn wenig fehlte, dass man ausrutschte und hinunterfiel, waren sehr schauerlich. Dieser Weg wurde öfter am Tag zurückgelegt, manchmal auch in der Nacht. Die Ermittler glaubten uns kein Wort. Sie konnten einfach nicht begreifen, dass jemand wegen seines Bruders zurückkehren würde, und hielten uns von Anfang an für Agenten des amerikanischen Geheimdienstes. Unser Verfahren wurde vor dem Kreis­gericht in Bratislava abgehandelt und wir wurden zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Versuchen Sie sich vorzustellen, wie wir uns gefühlt haben! Einige Tage später kam in der Nacht ein Offizier des Staatlichen Sicherheitsdienstes in meine Zelle und befahl mir: ‚Stehen Sie augenblicklich auf und kommen Sie mit mir mit.‘ Wir verließen das Gebäude und auf dem Gefängnishof wartete meine Frau. Wir mussten in ein Auto steigen und sie brachten uns irgendwohin. Wir dachten, dass wir zu unserer Hinrichtung gebracht würden, und verabschiedeten uns voneinander. Die Vorstellung unseres Endes schien uns sehr nah zu sein und war sehr real. Wir hielten allerdings am Rande des Pressburger Stadtteils Engerau in der Nähe der Grenze und der Offizier sagte zu uns: ‚Steigen Sie aus und laufen Sie. Schnell, fliehen Sie. Aber seien Sie vorsichtig, Sie kommen in die russische Zone.‘ Und wir liefen um unser Leben.“ „An Ihrer Freilassung musste irgendjemand Interesse gehabt haben. Ich habe gehört, dass Sie angeblich gegen einen tschechoslowakischen Spion ausgetauscht wurden, der in Österreich festgehalten wurde. Ist das wahr?“ 231

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Zweifelnd schüttelte er den Kopf. „Das glaube ich nicht. Weitaus wahrscheinlicher ist die banalste, weniger romantische Version. Mein Schwiegervater war der Direktor der Staatlichen Eisenbahn in Brünn und hatte eine Menge Bekannte. Wahrscheinlich hat er sein ganzes Geld zusammengelegt, möglicherweise hat er auch zu Geld gemacht, was sich verkaufen ließ, und zahlte an die Kommunisten in Bratislava eine hohe Summe für unsere Freilassung. Wir selbst haben nie erfahren, wie es wirklich war, wem wir für unsere Freiheit danken mussten.“ Belcredi und seine Frau blieben anschließend einige Jahre in Österreich. Er ging arbeiten, sie studierte Medizin, aber besonders gut ging es ihnen nicht. 1956 kehrten sie Wien den Rücken und wanderten mit ihren in der Zwischenzeit geborenen Töchtern Marie Therese und Anna Marie über Frankreich nach Australien aus, wo sie sich in Sydney niederließen. Hugo begann bei einem Speditionsunternehmen als Chauffeur und lenkte alte Lastwagen, die schon lange hätten verschrottet werden sollen, und führte den Transport von importierten Personenkraftwagen vom Hafen aus durch. „Ich durchquerte den ganzen australischen Kontinent auf Straßen, die Tausende Kilometer lang waren. An einigen Stellen gab es sehr lange Abfahrten, die man bei uns nicht findet und die man im zweiten Gang fahren musste, denn in diesen ausgedienten Rumpelkästen sprang leicht der Gang heraus. Zu allem Überdruss hatten sie auch noch mechanische Bremsen, die schrecklich heiß wurden. Manchmal gelang es, rechtzeitig abzubremsen und erneut zu schalten, aber gelegentlich war das nicht mehr möglich, das Auto legte an Geschwindigkeit zu und es blieb nur eine einzige Möglichkeit – ein schneller Sprung aus der Kabine und den LKW seinem Schicksal zu überlassen. Um alles Weitere kümmerte sich dann die Versicherung. Ich war nur ein Angestellter, alles hat der Chef erledigt und der wusste, worum es ging und womit ich unterwegs war. Es dauerte fünf Jahre, bis wir uns eingewöhnt hatten. Wenn sie nämlich als Emigrant nach Australien kommen und über keine ausreichenden Englischkenntnisse verfügen, werden sie von den anderen als nicht gleichwertig erachtet. Auf der sozialen Leiter sind sie auf der untersten Stufe. Ich habe von Anfang an in einer Fabrik von General Motors gearbeitet und daran habe ich nicht die besten Erinnerungen. Ich hatte bei all diesen Schwierigkeiten aber noch Glück, denn mein Vorgesetzter war Tscheche, der gab mir eine bessere Arbeit. Als er wegging, verließ auch ich die Firma. Auch meine Frau hatte es nicht leicht. Sie musste wieder von Anfang an beginnen, denn die Prüfungen der europäischen Universitäten wurden in Australien nicht anerkannt, worauf sie einige weitere 232

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Jahre Medizin studierte. Anschließend absolvierte sie ein Pflichtpraktikum in einem Spital und erst dann konnte sie eine private Praxis eröffnen.“ Hugo Belcredi erwarb in der Zwischenzeit die Taxilizenz, fuhr vor allem in der Nacht, er konnte etwas zur Seite legen und eröffnete seine eigene Fahrschule. Gerade damals erfreute sich Australien eines großen Zustroms von Einwanderern und er ergriff die sich bietende Gelegenheit. Jeder, der die Führerscheinprüfung ablegen wollte, musste selbstverständlich die Vorschriften lernen, es hing nur davon ab, in welcher Sprache. Belcredi hatte Glück, dass er einige Sprachen beherrschte. In ein Inserat ließ er drucken, dass es sieben wären, unter denen auch Russisch und Polnisch waren, glaube ich, in Wirklichkeit beherrschte er nur vier gut, aber sieben klang einfach besser. Nach und nach stellte er einige Angestellte ein und konnte sich erlauben, den Beruf als Hobby zu betrachten. „Sie sind ein Belcredi, aber auch ein Andrian. Ihr Adoptivvater blieb in Österreich?“ „Andrian-Werburg floh vor Hitler nach Argentinien. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete er eine Schottin, ging nach Rhodesien, kehrte von dort aus nach Europa zurück und ließ sich in Nizza nieder.“ „Hat er Ihnen sein Vermögen vermacht, so wie es vorgesehen war?“ „Woher denn, alles hat diese Schottin bekommen. Mir hat er alles in allem 4000 Schweizer Franken geschickt, um die ich in Australien ein billiges Haus aus Plastik gekauft habe, gebaut für 20 Jahre, ohne Isolierung und ohne Komfort.“ Das Leben von Hugo Belcredi erinnert an eine große Schicksalsschaukel. Nach einer idyllischen Kindheit fiel er beinahe der Hoffnungslosigkeit anheim und kehrte wieder an die ruhige und glatte Oberfläche zurück, angestrahlt von der Sonne. Er erlebte auch die Rückgabe des Familienbesitzes unter Einschluss von Schloss Ingrowitz an die in Brünn lebenden Söhne seines Bruders Ludwig – den Doktor der Medizin Karl Belcredi und an den Archäologen Ludwig Belcredi. Schloss Ingrowitz wurde mit der umliegenden Herrschaft im Jahr 1948 verstaatlicht und es ereignete sich hier das Gleiche wie auch an vielen anderen Orten. Der Liquidierungstrupp erhielt die Aufgabe, Platz für den nächsten Benützer zu schaffen, worauf Bücher und kostbare alte Drucke rücksichtslos aus den Bibliotheksfenstern in den Hof geworfen wurden, wo sie im Granitbrunnen wie wertloses Papier verbrannt wurden. Der Brunnen hat seit dieser Zeit eine 233

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dunkelrote Färbung und hat durch die Hitze an einigen Stellen Risse bekommen. Von dem Interieur des Schlosses hat sich einiges erhalten, manches ist verschwunden, etliches wurde an Ämter oder an die Kommunistische Partei übergeben. Im Schloss quartierte sich die Öffentliche Sicherheit ein und funktionierte es zu einer Polizeizentrale um. Später befand sich dort eine Bildungsanstalt für Eisenbahner und einige Zeit später wurde dort die Grundschule für die Kinder aus Ingrowitz untergebracht. „Nichts ist so geblieben, wie es einstmals in meiner Kindheit war“, beklagte sich Hugo Belcredi. „Alles wurde verändert – die Wandverkleidungen, die Fußböden, die Türen, die Anstriche, die Decken …“ Die baulichen Veränderungen erreichten ein derartig absurdes Stadium, dass jemand aus einem falsch verstandenen Pflichteifer heraus den Verbindungsgang zwischen dem Schloss und der danebenliegenden Kirche zumauern ließ, möglicherweise um so zu verhindern, dass die Kinder unbeaufsichtigt zur Messe gingen. Die Belcredis haben bisher das Dach repariert, was sie zwei Millionen Kronen gekostet hat, nach und nach wollen sie das ganze Gebäude renovieren. Noch erinnert es mehr an eine Schule als an ein Schloss und im Erdgeschoss liegen neben der Küche noch immer Eisenbahnschienen aus der Zeit, in der diese als Anschauungsmaterial für den Unterricht herangezogen wurden. Nur im Obergeschoss, wo Hugo und seine Frau seit ihrer Rückkehr aus Australien wohnen, erhielten die Räumlichkeiten ihr früheres Erscheinungsbild zurück. „Das Schloss zu einem Luxushotel umbauen? Wo haben Sie denn das gehört?“, zeigte er sich über meine Frage verwundert. „In der Zeitung haben Sie das gelesen? Ich bitte Sie, wer würde denn hierherkommen? Zur Zeit der Ersten Republik, meinetwegen, da gab es hier einige Hotels, Ingrowitz war ein renommierter Urlaubsort. Sogar Amerikaner kamen hierher, aber heute? Heute gibt es nur ein Gasthaus hier.“ Er beugte sich zu mir und das Lächeln in seinem Gesicht wich einer gewissen Wehmut. „Ich werde Ihnen etwas erzählen …, in Wirklichkeit ist das einer der schönsten Orte, die ich jemals gesehen habe, und ich habe schon einen ordentlichen Teil der Welt gesehen.“ Als Einziger blieb der älteste der Brüder, Ludwig, in Mähren. Es war sein großer Wunsch, Geschichte zu studieren, das war seine große Liebe, eventuell würde er Theaterkritiker oder Journalist werden. Es blieb nur bei dem Wunsch, in Wirklichkeit besuchte er die landwirtschaftliche Fakultät und führte den familiären Großgrundbesitz, denn so wollte es sein Vater. Er bemühte sich allerdings im234

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10. Ludwig Belcredi (1921–1981), der Einzige von den Geschwistern, der nicht in die Emigration ging und sein Leben im heimatlichen Mähren verbrachte.

mer darum, allen Dingen ihre gute Seite abzugewinnen, auch jenen, zu denen er genötigt wurde. So richtete er sich etwa sein eigenes Chemielabor ein und führte Analysen jener Produkte durch, die er auf dem Gut züchtete. Als es nach dem Februar 1948 zu einer weiteren Agrarreform kam, bei der aller Grundbesitz über 50 Hektar enteignet wurde, resignierte er nicht, sondern erblickte darin eine Aufforderung. Er pachtete einen Teil des Besitzes, der ihm enteignet worden war, und wirtschaftete auf dem nunmehr volkseigenen Boden weiter. Für die vorbildliche Abgabenerfüllung in Mähren erhielt er sogar eine Auszeichnung von höchster Stelle. Ein Diplom, das vom späteren Präsidenten Antonín Zápotocký unterschrieben worden war, dem damaligen Vorsitzenden des Gewerkschaftsverbandes. Der Text lautete: Nationaler Wettkampf zum Aufbau der Republik / Belobigende Anerkennung für den Großgrundbesitz Belcredi-Lösch / Im Wettkampf um die Übererfüllung des Planes und im Kampf um die Erhöhung der Arbeitsproduktivität haben Sie in der VII. Runde des nationalen Wettkampfes eine Platzierung unter den ersten ihrer Sparte errungen. / 19. Dezember 1948 Die Gratulation lehnte Belcredi ab. Nicht aus Bescheidenheit, sondern aufgrund der Absurdität der ganzen Situation. Wenn sich jemand darüber wunder235

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te, erklärte er mit ein wenig Ironie in der Stimme, dass die anderen Gutsbesitzer lieber illegale Geschäfte mit ihrem Gemüse und ihrem Getreide treiben würden, als die vom Staat festgesetzten Abgaben zu erfüllen, weil das für sie lukrativer sei, während er sich so etwas nicht erlauben dürfe. Er wusste, was ihn erwarten würde. Schon einmal, nachdem seine Eltern ins Ausland geflüchtet waren, wurde er vom Staatlichen Sicherheitsdienst in Brünn eingesperrt und verhört. Sein Name stand auf der schwarzen Liste. Seine Angst war nicht unbegründet. Das Diplom wurde ihm von den Gewerkschaftern erst im Juli 1949 übergeben und gleich im darauffolgenden Monat holten ihn Mitarbeiter des Geheimdienstes um drei Uhr morgens im Schloss ab. Sie brachten ihn zuerst zum Verhör in die Lidická-Straße, wo der Staatliche Sicherheitsdienst seinen Sitz hatte, und dann ins Zwangsarbeitslager nach Hodonin bei Kunstadt, das schon während des Krieges traurige Berühmtheit erlangt hatte. Alles lief ohne die Einschaltung der Gerichte ab. Weil man ihn nicht aufgrund einer möglichen Unterlassung der Ablieferung der vorgeschriebenen Getreide- und Fleischkontingente belangen konnte, dachte man sich etwas anderes aus, um ihn zu beschuldigen. In Lösch trieben sie fünf Leute aus seiner Umgebung auf, die ihn denunzierten. Einmal wurde behauptet, dass Belcredi die Jugendlichen verderbe, weil er ihnen das Kartenspiel beibringe. Nichts war weiter von der Wahrheit entfernt als diese Anschuldigung, beteuerten alle Belcredis, mit denen ich darüber geredet habe. Ludwig konnte die Karten nicht einmal richtig in der Hand halten, geschweige denn konnte er Unterrichtsstunden geben. Jemand anders beschwerte sich: Ludwig Belcredi würde allen arbeitsamen Bürgern Schwierigkeiten bereiten. Am Morgen, wenn die anderen zur Arbeit gingen, würde er sich auf seinem Grammophon Opernarien anhören und damit ihre Arbeitsmoral untergraben. Wäre das nicht Teil einer Anklage gewesen, klänge es beinahe grotesk. Und vor allem dann, wenn nicht zwei Jahre Arbeitslager gefolgt wären, wo man mit subtileren Mitteln den an schwere physische Arbeit nicht gewöhnten Ludwig beinahe umgebracht hätte. Bald stellten sich gesundheitliche Probleme ein. Die staatlichen Stellen erklärten, er würde simulieren und dass sie ihm zuerst noch beibringen würden, wie man richtig arbeite. Wenn nicht seine Frau gewesen wäre, hätte er wahrscheinlich nicht überlebt. Sie brachte ihm Mahlzeiten und Nahrungsmittel, versorgte ihn regelmäßig mit Obst und Schokolade. Das Ganze hatte jedoch einen Haken. Den Gefangenen in ein Lager etwas anderes als revolutionäre Literatur zu bringen war streng untersagt. Wenn sie aber eine Tasche mit Proviant durch 236

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das Tor ins Lager bringen wollte, musste sie die Wächter bestechen. Auch für sie brachte sie eine volle Tasche mit Lebensmitteln mit. Sie nahmen nicht alles, sondern nur das Beste. Sie vermochte aber für Ludwig Opfer zu bringen. Noch während seines Aufenthalts im Lager heirateten sie sogar, was für sich selbst genommen schon ein mutiges Bekenntnis war. Unmittelbar darauf wurde Belcredis Frau deswegen von der Hochschule ausgeschlossen. Irgendjemanden störte es, dass sie einen Adeligen namens Belcredi zum Mann genommen hatte. Im Lager befand sich Ludwig Belcredi in abwechslungsreicher Gesellschaft. Es waren dort Bauern, die es abgelehnt hatten, der sozialistischen landwirtschaftlichen Genossenschaft beizutreten, politische Gefangene einschließlich verstoßener Kommunisten, die sich mit der Partei zerstritten hatten oder die Partei mit ihnen, und auch Kriminelle – Einbrecher, Diebe, Taschendiebe, gewöhnliche Verbrecher. Nach zwei Jahren kehrte Belcredi von dort mit einer schweren Gelenksentzündung zurück und ging auf Krücken direkt ins Spital. Er war 30 Jahre alt und wog 45 Kilogramm. Vom Familienbesitz war den Belcredis nichts geblieben. Noch während des Aufenthalts im Lager wurde seiner Frau ein amtlicher Bescheid zugestellt, in dem mitgeteilt wurde, dass das Schloss in Lösch aufgrund der Abwesenheit des Besitzers verstaatlicht werde, damit diese kulturhistorisch bedeutsame Sehenswürdigkeit, für die nun niemand Sorge trage, nicht unnötigerweise verfalle. Trotz alledem konnte sich später kein Familienmitglied daran erinnern, dass sich Ludwig Belcredi jemals darüber ereifert oder geklagt hätte, was er alles erleben musste. Lieber bagatellisierte er alles Grausame und Böse, äußerte sich ironisch darüber oder sprach von angenehmeren Dingen – etwa über die interessanten Menschen, die er im Lager getroffen hatte. Das kann ich mir gut vorstellen, eine ähnliche Haltung habe ich auch bei anderen Aristokraten angetroffen – etwa bei Josef Kinsky oder Georg Dohalsky, der zwölf Jahre seines Lebens in den gefürchtetsten Gefängnissen absaß. Sie haben sicherlich nicht vergessen, sind aber auch nicht verbittert. Sie wussten sehr gut, dass vor allem sie selbst dafür den Preis hätten zahlen müssen. Auch zwei Jahre Gefängnisaufenthalt vermochten es nicht, Ludwig Belcredis aristokratische Gewohnheiten zu verändern. Seine Schwiegertochter erzählte mir, wie sie ihn viele Jahre später eines Morgens besuchte, als er gerade frühstückte und sich bei ihr dafür entschuldigte, keine Krawatte zu tragen, denn er habe es sich etwas gemütlicher machen wollen. Dabei war er alleine zu Hause. Wir kamen darin überein, dass er so erzogen worden war, er konnte nicht an237

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ders. Am Tisch Platz zu nehmen oder einen Besuch unangemessen zu empfangen wurde in seiner Gesellschaftsschicht einfach nicht toleriert. Für einen Mann mit seinem Namen, dessen Kaderakte ihn als Klassenfeind auswies, war es nicht leicht, nach der Entlassung aus dem Lager Arbeit zu finden. Der Agraringenieur, der sein Studium nicht abgeschlossen hatte und aus politischen Gründen von der Fakultät ausgeschlossen worden war, arbeitete als Lagerarbeiter, war Portier und lange auch Straßenbahnschaffner in Brünn. Nebenher bemerkt war er bei den Leuten sehr beliebt. Für eine Zeit lang stieg er zum Leiter der Brünner Hochschulmensa auf, dann erfolgte eine Anzeige, dass ein Adeliger eine Führungsposition innehabe. Augenblicklich wurde er entlassen und man empfahl ihm, beim nächsten Mal besser über eine amtliche Erlaubnis nachzudenken. Zum Glück gab es in seinem Umkreis nicht nur Denunzianten, sondern auch anständige Leute. Immer wenn er eine Anstellung verloren hatte, war ihm jemand dabei behilflich, eine neue zu finden. An Emigration dachte er offensichtlich nicht. Als sich in den 1960er-Jahren zur Zeit des Prager Frühlings das politische Klima in der Tschechoslowakei entspannte, erlaubte man ihm, ins Ausland zu reisen. Neben einigen Reisen zu Bekannten und Freunden verbrachte er ein Jahr in Deutschland und in Frankreich, wo er sich zwei Augenoperationen unterzog, dann kehrte er nach Brünn zurück. In den 1970er-Jahren, zur Zeit der Normalisierung, als der politische Druck zunahm und sich das kommunistische Regime darum bemühte, alle gefährlichen Widersacher zur Emigration zu nötigen, wurde Ludwig Belcredi vom Staatlichen Sicherheitsdienst vorgeladen. Man bot ihm an, mit der ganzen Familie ins Ausland zu übersiedeln. Er lehnte entschieden ab. Seine Heimat wäre hier, sagte er. Hier wäre er geboren, hier würde er sterben. Von diesem Zeitpunkt an war es mit den Reisen ins Ausland vorbei. Von seinen Freunden blieben nur wenige in der Tschechoslowakei, die meisten gingen ins Ausland. Unter ihnen Hugo Salm, die Kolowrats und die Strachwitz, auch Zdeněk Lobkowicz, der später in Deutschland zusammen mit seiner Mutter bei einem Autounfall ums Leben kommen sollte. Gelegentlich erhielt er Besuch von Bekannten und dann und wann auch von Verwandten, wie zum Beispiel von den Aretins. Als Richard Aretin – ein junger Theologe, der für ein kirchliches Altersheim in Mähren religiöse Literatur ins Land schmuggelte – an der Grenze erwischt wurde, wurde ihm die weitere Einreise verboten, weshalb auch seine Besuche unterblieben. Dennoch fühlte sich Ludwig Belcredi auf seine Weise glücklich oder zumindest zufrieden. Er lebte weiter in unmittelbarer Nähe seines Schlosses, obwohl er 238

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es mit seiner Frau und den beiden Söhnen hatte räumen müssen und in einem ehemaligen Wirtschaftsgebäude untergebracht worden war, wo er nun mit seiner Familie unter unzulänglichen Bedingungen leben musste. Einstmals war dies eine Beamtenwohnung gewesen, aber das war zu einer Zeit, als das Schloss noch instand gehalten wurde. Nach und nach setzten ihr Feuchtigkeit und die Zeit zu, die Wohnung verkam zu einem ungemütlichen Loch, an dessen Wänden Schimmel wucherte. Ludwig Belcredi schenkte dem keine große Aufmerksamkeit, für ihn war das keine große Katastrophe. Im Gegensatz zu dem, was er im Arbeitslager durchgemacht hatte, erachtete er es beinahe als Idealzustand. Mehr hingegen bekümmerte ihn, dass er nicht so viel verdiente, dass seine Frau bei den Kindern zu Hause bleiben konnte. Was war auch als Portier oder Lagerarbeiter schon groß zu verdienen? Darüber hinaus wurde er von den Behörden zur Begleichung zweier Beträge aus der Vergangenheit aufgefordert. Beide waren im Grunde absurd: Im Jahr 1945 hatte er sich entschlossen, die Ziegelei der Belcredis von Grund auf zu erneuern. Er schätzte die Situation nämlich richtig ein, dass nach dem Krieg ein Bauboom einsetzen würde, und baute die Ziegelei deshalb zu einem der modernsten Unternehmen seiner Art in Mähren aus. Für den Umbau borgte er sich eine große Geldsumme aus, konnte aber bis zum Jahr 1948 nur die Hälfte der Schulden zurückzahlen. Die Rückzahlung der verbliebenen Hälfte des Darlehens wurde von ihm gleich nach seiner Rückkehr aus dem Lager gefordert. Zu dieser Zeit gehörte ihm die Ziegelei aber nicht mehr, denn der Staat hatte sie mit allem Drum und Dran enteignet. Dennoch schickte man ihm Mahnbriefe über die Summe von zwei Millionen Kronen und forderte ihn in aller Strenge auf mitzuteilen, zu welchen Fälligkeitsterminen er welche Rückzahlungen leisten würde. Die zweite Verbindlichkeit war ähnlich unsinnig. Im Jahr 1930 verpachteten die Belcredis eine Firma, ein Kalkwerk, und erhielten den Erlös für 30 Jahre, also bis zum Jahr 1960, im Voraus bezahlt. Im Jahr 1950, als das Kalkwerk ebenso in die Verwaltung des Staates überging, erhielt Belcredi von der verstaatlichten Industrie ein Schreiben, in dem er aufgefordert wurde, den Pachtzins für die weiteren zehn Jahre unverzüglich zu retournieren, da ihm das Werk nicht mehr gehören würde und er keinen Anspruch auf diesen Erlös habe. Selbstverständlich machte er das nicht, er konnte auch nicht, woher hätte er den Betrag auch nehmen sollen. Dennoch wurde er von Zeit zu Zeit von den Finanzbehörden kontrolliert, und wenn diese feststellten, dass er sich einen „Luxusgegenstand“ gekauft hatte, zum Beispiel einen Kühlschrank, einen Fernseher oder neue Möbel, dann nahmen sie diese mit, um so die Schulden zu tilgen. 239

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„Derjenige aber, der in dieser schrecklichen Zeit in den 1950er-Jahren Angst hatte, das war nicht unser Vater, sondern unsere Mutter“, sagte mir sein jüngster Sohn Ludwig. „Sie litt unter der Vorstellung, dass wir ständig bespitzelt oder abgehört würden, ständig unter Beobachtung stünden. Deshalb durften wir nirgendwo über etwas sprechen, wir mussten auf jedes Wort achten. Schließlich wünschte sie auch, dass unser Vater, der einige Sprachen beherrschte, meinen Bruder und mich nicht in Fremdsprachen unterwies. Sie fürchtete, dass uns jemand hören könnte, wenn wir Deutsch oder Französisch sprachen und dass wir Probleme bekämen. Ludwig Belcredi begann sich mit zunehmendem Alter in seiner eigenen Welt einzuschließen. Er umgab sich mit Büchern, Schallplatten mit Opernarien, von denen er noch aus der Zeit der Ersten Republik eine ganze Menge besaß. Zu einer bestimmten Zeit setzte er sich an das Radio, das fortwährend auf einen Wiener Sender eingestellt war. Das half ihm, zu überleben. Er starb mit 60 Jahren an den Folgen eines nicht erfolgreich verlaufenen operativen Eingriffs. Am Abend, bevor er ins Spital kam, führte er noch mit seinen Söhnen ein ungewöhnliches Gespräch. „Über ernste Dinge hat er sehr selten gesprochen“, sagte mir sein Sohn Ludwig junior. „Für gewöhnlich bemühte er sich darum, Probleme mit Humor zu überspielen, sie zu bagatellisieren. Aber damals hat er möglicherweise geahnt, dass er zum letzten Mal mit uns sprechen würde. Er legte meinem Bruder und mir ans Herz, in Brünn zu bleiben und nicht in die Emigration zu gehen, da uns der Besitz einmal zurückgegeben werde. Es wäre gar nicht möglich, dass das nicht der Fall sein könne und mit ein wenig Glück würden wir das erleben. Er glaubte wirklich daran und ich denke, dass er gerade deshalb ständig beim Schloss auf seinem Posten blieb, damit er dabei wäre, wenn das politische Regime zusammenbrach. Darüber hat er mit uns nie gesprochen, nur an diesem Abend …“ An seinem Begräbnis in Lösch nahmen wahre Menschenmassen teil, der ganze Friedhof war voll, es hatte damals – im Jahr 1981 – den Anschein, als ob es sich um einen Akt von Solidarität und stillem Trotz handeln würde. In großer Anzahl stellten sich auch Leute des Geheimdienstes ein, die etwas Ähnliches offenbar erwartet hatten. Sie verbargen sich aber unauffällig hinter einem Gebüsch oder hinter den Thujen am Rande des Urnenhains wie sonst in derartigen Fällen. Mit dem Fotoapparat in der Hand traten sie vor jeden hin, der an der Begräbnisfeierlichkeit teilnahm, und fotografierten ihn, damit er auch 240

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ja bemerkte, dass man jetzt um seine Teilnahme wisse und dass sein Foto in die Kaderakte wandern werde. Die Einzigen, die am Ende vom Begräbnis kein Bild hatten, waren die Angehörigen, die nicht ans Fotografieren gedacht hatten. Nachdem das Begräbnis zu Ende gegangen war, kam ein älterer Mann auf die Söhne zu und sagte traurig zu ihnen: „Es mag Ihnen vielleicht nicht bewusst sein, welche Stellung Ihr Vater hatte. Der Herr Graf war höchstwahrscheinlich der letzte Adelige in Brünn und sein Tod bedeutet für viele seiner Bekannten das Ende einer historischen Epoche.“ Bei den nach den Ereignissen vom November 1989 durchgeführten Restitutionen wurden den Belcredis Besitz und Güter wirklich zurückerstattet; darin hatte sich der Graf nicht geirrt. Es hat sich aber auch etwas anderes ereignet, was er nicht für möglich gehalten hätte: Die landwirtschaftliche Hochschule in Brünn, die ihn vom Studium ausgeschlossen hatte, verlieh ihm den Titel „Ingenieur“ und überreichte ihm in memoriam eine goldene Medaille für seine herausragenden Leistungen. Seine Söhne Karl und Ludwig erhielten das Schloss in Lösch und 1600 Hektar Wald zurück und zusammen mit ihrem „australischen“ Onkel Hugo auch Herrschaft und Schloss Ingrowitz. Aber das würde bereits ein eigenes Kapitel über die junge Generation der Belcredis füllen.

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1. Václav Dlauhowesky

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Dlauhowesky Restitution als Mutprobe – Das Rittergeschlecht, das die Erhöhung in den Herrenstand ablehnte: Dlauhowesky aus Dlouhá Ves – „Meinen Vater bewundere ich bis heute“ – Heimliches Studium – „Wo haben Sie die goldene Wiege versteckt?“ – Eine Botschaft für die künftigen Generationen im Schlossturm

Ich vermutete, einen normalen Gutsbetrieb und ein Schloss zu sehen, dem ein Mindestmaß an Pflege anzusehen war. Die Wirklichkeit sah anders aus. Ich fand verfallene Gebäude vor, ausgediente landwirtschaftliche Maschinen, die nur noch für den Schrottplatz taugten, eine verwüstete Umgebung. Vom Eingangstor waren nur zwei moosbewachsene Säulen übrig geblieben, und das anmutige runde Bauwerk in der Mitte des Hofes, etwas zwischen einem kleinen Gemeindekarzer und einem großen Taubenschlag, rief nach dem augenblicklichen Einsatz einer Gruppe Maurer. Das verwahrloste Schloss mit dem zugrunde gerichteten Park vermochte den Gesamteindruck nicht zu verbessern. Nur das frühere Verwaltungsgebäude der Herrschaft, das für die Behandlung von Drogenabhängigen diente, sah zumindest von außen mehr oder weniger in Ordnung aus. Auf dem Weg neben einem verkommenen Stadel, ein Stück hinter dem etwas eigenartig anmutenden Gemeindekarzer, stand ein Auto mit einem Kennzeichen aus Nachod. Es freute mich, dass ich nicht umsonst gekommen war, denn wo ein solches Auto war, da konnte auch Václav Dlauhowesky (tschech. Dlauhoweský) nicht weit sein. Er war Tierarzt, Direktor der Veterinärbezirksverwaltung in Nachod und ihm wurde dieser Besitz restituiert – Gut, Wälder und das Schloss Niemtschitz bei Wolin in Südböhmen. Er gehörte nicht zu jenen Menschen, die man erst lange zu einem Gespräch überreden musste. Er stimmte geradewegs zu, das Problem mit ihm lag anderswo. Er bemühte sich darum, viel zu schaffen, lud viel Arbeit auf seine Schultern und litt unter chronischem Zeitmangel. Höchstwahrscheinlich übertreibe ich jetzt ein bisschen, zumal wir uns doch nur wenige Male getroffen haben, zum ersten Mal an ebendiesem Sommernachmittag.

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Er sah für seine 56 Jahre jung aus, bis ich in seiner unmittelbaren Nähe Falten auf der Stirn und um die Augen bemerkte, die für gewöhnlich nicht lügen. Zur Sicherheit habe ich allerdings doch gefragt, ob er Baron Dr. Dlauhowesky sei. Er nickte zustimmend und machte mich gleichzeitig darauf aufmerksam, dass er nicht sehr viel auf Titel halte. „Den Freiherrentitel habe ich geerbt, das Doktorat habe ich zwar erworben. Gewiss, auch Doktoren gibt es viele. Aber nicht jeder Titel hat seine Berechtigung. Ich denke, dass vor allem der Name einen Menschen repräsentieren sollte.“ Ich hatte gehofft, dass wir das Gespräch irgendwo im Schloss führen würden, er aber entgegnete, dass das nicht ginge, ich würde später verstehen, warum. Statt zum Schloss begaben wir uns zu seinem Auto und er fuhr mich durch die liebliche Landschaft des Böhmerwaldes zu seinem Landgut in das wenige Kilometer entfernte Krasilau. Ähnlich wie in Niemtschitz standen dort alte verrostete Maschinen auf dem Hof, hier aber hatte bereits die Gegenwart Einzug gehalten – es wurde gearbeitet und auf der Wiese hinter der von hohen Bäumen gesäumten Straße weidete eine große Rinderherde. Er verfügte über ein kleines Büro in einem mobilen Container, den er von der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft übernommen hatte. Auch die Möbel hat er von ihnen geerbt, einen alten Bürotisch, ein zerschrammtes Tischlein mit Flecken, die auf jahrelangen Kaffeegenuss hindeuteten, einen Schrank, einen Kleiderständer und zwei weitere ruinierte Allzweckmöbel. Vom Fenster aus hatte man einen Blick auf den Wirtschaftshof mit dem angehäuften Schrott. Im Geist habe ich überschlagen, wie viel Arbeit es kosten würde, das alles wieder in Ordnung zu bringen. Ich stellte mir die aberwitzige Frage, ob ich den Mut hätte, so einen Besitz zu übernehmen und mich darum zu kümmern. Glücklicherweise musste ich nicht darauf antworten und ich blieb mir die Antwort schuldig. „Manchmal frage ich mich, warum ich mich überhaupt auf die Restitution eingelassen habe“, merkte er an, so als würde er ahnen, woran ich dachte. „Wir haben die Entscheidung zusammen mit unserem Vater getroffen, solange er noch am Leben war, aber ich weiß nicht, ob wir das Richtige getan haben. Wir haben uns als Familie etwas aufgebürdet, wozu wir vielleicht nicht die Kraft haben werden.“ „Den Familienbesitz zurückweisen? Da hätten Sie sich später vielleicht einmal Vorwürfe gemacht“, entgegnete ich ihm. „Jetzt können Sie wenigstens kämpfen.“ 244

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„Sicherlich. Ansonsten hätte ich schon verspielt gehabt. Als wir darüber mit einem Bekannten gesprochen haben, sagte er mir: ,Bei dir ist das der Ruf deiner Ahnen. Du hast das gemacht, ohne genau zu wissen warum.‘ Und jetzt würde ich ungern als einer bezeichnet werden, der seinen Besitz verkommen lässt. Höchstwahrscheinlich wären wir nicht hierhergekommen, wenn uns die hier ansässigen Leute am Beginn der 1990er Jahre, als wir damit begonnen haben, uns in Niemtschitz und Krasilau zu zeigen, den Rücken zugewandt hätten. So haben sie uns allerdings mehrheitlich begrüßt, sie freuten sich, dass die Familie Dlauhowesky ins Schloss zurückkehrt. Sie wollten, dass wir uns hier wieder niederlassen, rechneten damit, dass wir uns um sie kümmern werden und ihnen Arbeit geben. Die Zeit hat sich allerdings verändert, die Landwirtschaft bringt heute nicht besonders viel ein, wir können uns nur erlauben, einige wenige Leute anzustellen und nicht Dutzende wie früher. Damit wir ausgeglichen bilanzieren, arbeitet die ganze Familie hier. Aber nicht am Schreibtisch, sondern manuell. Zwei meiner Söhne leben ständig hier. Einen haben wir am Weg hierher am Steuer eines Traktors auf dem Feld gesehen. Der andere ist auf dem Hof und repariert den Mähdrescher. Der dritte kommt regelmäßig hierher, um zu helfen. Ob Sie es glauben oder nicht, die Restitution hat mich wie ein Blitz getroffen. Sie hat mein Leben von Grund auf verändert. Wir leben immer noch in der Halb-Einsamkeit bei Nachod, unsere idyllische Zeit ist allerdings vorüber. Wir hatten unsere Welt, wir waren in vielen Dingen sehr genügsam – meine Frau hat das Brot selbst gebacken, sie hat sogar eigene Semmeln gemacht, wir haben ­Jogurt und Butter selbst hergestellt. Selbstverständlich in Handarbeit. Wir haben uns fast alles selbst gemacht. Wir haben praktisch nur Rindfleisch gekauft. Ich glaube, dass die Menschheit eines Tages zu einem ähnlichen Lebensstil zurückkehren muss, wenn sie wieder genesen will. Derjenige, der mit seinem Grund und Boden verbunden ist, sein Obst und Gemüse selbst ziehen und sich selbst ernähren kann, der wird zum Herren des Lebens auf der Welt. Völlig legitim. Für nichts von alldem haben wir momentan Zeit. Wir beschäftigen uns mit der Landwirtschaft, dem Forstwesen und der Aufzucht von Rindern. Mit dem Kopf voller Sorgen, die Schulden mit eingeschlossen. Würde es nämlich nicht den Zuschuss vom Staat geben, der angesichts der Tatsache, dass wir uns hier in einer bergigen Gegend befinden, relativ solide ist, und mit eingerechnet, dass wir uns vom Wirtschaften alleine nicht ernähren könnten – zumindest nicht alle, denn meine Frau, ich und unser ältester Sohn haben unsere Anstellung –, wer weiß, wie wir dann dastehen würden. 245

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Sorgen bereiten uns auch jene Objekte, die wir zurückerhalten haben, sei es jetzt das Schloss oder die landwirtschaftlichen Gebäude. Wir haben alles in einem furchtbar verwahrlosten Zustand zurückbekommen. Die Ziegelei mussten wir sogar abreißen lassen. Die Zuschüsse dafür sind wirklich lächerlich. Es ist unvorstellbar schwierig, Geld für deren Instandsetzung aufzutreiben. Bis jetzt bin ich nirgends auf Verständnis gestoßen, obwohl ich immer wieder mit kompetenten Leuten in der Regierung, im Parlament und im Senat verhandelt habe, sobald eine Regierung von der nächsten abgelöst wurde. Am Anfang von der einen Partei ein: ,Ja, verlassen Sie sich auf uns‘, dann Schweigen. Im Rahmen unserer Möglichkeiten stand nur die Dachreparatur, die einfach notwendig war. In den ersten zwei Jahren haben wir die Schindeln erneuert. Ohne diese Erneuerungsmaßnahmen wären die Gebäude bald in sich zusammengefallen. Mehr Glück haben wir mit den Wäldern gehabt. Sie befinden sich mehrheitlich in höheren Lagen in Kwaskowitz und sind schwerer zugänglich, sodass sie in einem ziemlich guten Zustand geblieben sind. Schlimmer war die Situation hier unten bei Krasilau und Niemtschitz. Das hat seine Gründe. Als die Staatlichen Forstbetriebe ihre wirtschaftlichen Vorgaben erfüllen mussten, rodeten sie an einem Ort, der mit schwerem Gerät leicht zugänglich war. Es wurde durchwegs die Losung ausgegeben: Nimm, was du kriegen kannst. Nimm keine Rücksicht, schaffe es weg und verkaufe es. Vielleicht kann ich erraten, woran Sie jetzt denken“, sagte er nachdenklich. „Würden wir weiter in den Wald hineingehen und dort zu schlägern beginnen, wären wir selbstverständlich in der Lage, jene finanziellen Mittel zu bekommen, die wir zurzeit dringend benötigen. Es wäre kein Problem, mit dem Holz fünf bis sechs Millionen Kronen zu erlösen. Aber mein jüngster Sohn, der Förster ist, und ich haben uns vorgenommen, nicht an die Substanz des Waldes zu gehen. Wir müssen so wirtschaften, dass wir die Nutzungsmenge von dreieinhalb Kubikmeter Holz pro Hektar nicht überschreiten. Das liegt etwas unter dem, was der Wirtschaftsplan für einen Wald vorschreibt. Mehr wollen wir nicht herausholen. Wichtiger ist für uns, den Wald in allerbestem Zustand zu bewahren.“ Die Dlauhoweskys zählten während ihrer langen Geschichte niemals zu den reichsten Familien oder den Magnaten. Und in der Geschichte haben sie eine eher weniger bedeutsame Rolle gespielt. Zu ihren Stärken zählten Tradition und Achtbarkeit einschließlich eines guten Namens. Es war ein bereits im 13. Jahrhundert erwähntes Wladikengeschlecht, das aus Langendorf bei Schüttenhofen 246

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stammt und das sich mit der Zeit in drei Linien aufgespalten hat: ČastolaryDlauhowesky, Chanowsky-Dlauhowesky, Dlauhowesky-Langendorf. Die Mehrzahl lebte in der Gegend von Parchen und Pilsen, wo ihnen einige Burgen und Orte gehörten. Das Wappen zeigte einen runden, silbernen Schild auf blauem Grund, wie er auf einer Lanze zum Schutz der Hand befestigt wurde. Der Wahlspruch der Familie lautet: Für Gott, Kaiser und Vaterland. Im Ottův slovník naučny (Ottos Konversationslexikon) wird von ihnen mit außerordentlicher Ehrerbietung berichtet. Besondere Aufmerksamkeit ist Bischof Jan Ignaz, Propst des Kapitels des Hl. Veit in Prag, gewidmet. Er lebte von 1638 bis 1701 und formte für seine Verwandten aus der Linie ChanowskyDlauhowesky mit seinen Gütern Niemtschitz, Krasilau und Hodejow einen familiären Fideikommiss, der nur unter der Bedingung vererbt werden sollte, dass niemand aus der Familie in den Herrenstand erhoben wird und dass alle Nachfahren auch weiterhin dem Ritterstand angehören sollten. Jan Ignaz zeichnete sich unzweifelhaft durch seine Bescheidenheit und durch seine Demut aus, denn eine solche Bedingung war ganz und gar einzigartig. Er ließ es auch anderswo nicht an Mitgefühl fehlen. So gründete er ein Hospiz für in die Jahre gekommene Priester und stellte für diesen Zweck nicht nur seine Bibliothek und 10.000 Gulden zur Verfügung, sondern auch ein Lustschloss mit Weingarten in Na Slupi in Prag. Im Jahr 1682 veranlasste er den Bau der Wallfahrtskirche zur Hl. Anna bei Wolin, unweit der damals bereits verlassenen Festung Krasilau, wo – so berichten es die historischen Quellen – ein Zweig der Ritter von Dlauhowesky seit geraumer Zeit ihren Sitz hatte. Er war ebenso eifriger Prediger wie Verfasser böhmischer und geistlicher Literatur, dessen Schriften von einer inbrünstigen Liebe zu den Menschen und zur tschechischen Sprache gekennzeichnet sind. Der Besitz der Dlauhoweskys ging von einer Generation an die nächste über, ohne dass er zwischen den Nachkommen aufgeteilt worden wäre. Weshalb er auch eine gute Chance hatte, zu überdauern. Im Jahr 1877 starb die Linie Chanowsky-Dlauhowesky in männlicher Erbfolge mit Franz Xaver aus und das Majorat ging an die Linie Dlauhowesky-Langendorf über, die allerdings schon vorher, im Jahr 1829, nicht widerstehen hatte können und in den Herrenstand erhoben worden war. Diese Linie existiert als einzige bis zum heutigen Tag. Es wundert mich nicht, dass eben der vorhin erwähnte Bekannte Václav Dlauhoweskys bei der Entscheidung über die Rückgabe des Familienbesitzes an den Ruf der Ahnen erinnerte. Die Dlauhoweskys standen mit der Landschaft 247

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um Niemtschitz mindestens seit dem Ende des 17. Jahrhunderts in enger Verbindung, und das will schon etwas bedeuten. Im Vergleich zu anderen Adelsgeschlechtern wurde den Dlauhoweskys nicht sehr viel restituiert, alles in allem 520 Hektar Boden einschließlich Wälder und rund fünf Hektar Fischteiche. Die Wälder und die Ländereien haben sie zusammen mit den landwirtschaftlichen Einrichtungen in Etappen zurückbekommen. Ob Unternehmen oder Genossenschaft, es gab unterschiedliche Zugänge. Manchmal genügte es, dass an der Verhandlung andere Personen teilnahmen und dort, wo zuvor keine Lösung möglich schien, ließ sich auf einmal alles problemlos regeln. Manchenorts verhielt sich der bisherige Leiter ihnen gegenüber ausgesprochen charmant und fair, wie es Václav Dlauhowesky nannte, andernorts machte er Bekanntschaft mit Arroganz und stieß auf taube Ohren. Absichtlich wurde der Abschluss des Restitutionsverfahrens in die Länge gezogen, damit noch gestohlen werden konnte, was von irgendeinem Wert war. Die Verstaatlichung nach dem Jahr 1948 verlief im Wesentlichen schneller und ohne den geringsten Pardon. „Mein Großvater hat es aus Prinzip abgelehnt, über das Thema der Verstaatlichung zu sprechen“, erklärte mir Václav Dlauhowesky. „In dieser Hinsicht war er unglaublich starrsinnig. Ich war damals zwei Jahre alt und kann mich selbstverständlich an nichts erinnern. Auch von ihm habe ich nichts erfahren. Aber ich weiß, dass die Übernahme unseres Besitzes vom Aktionskomitee der Nationalen Front, also von Leuten aus der Gegend, durchgeführt wurde, sodass das Jahr 1948 bei uns noch relativ ruhig verlaufen ist. Von Großvaters Gütern blieb nach der Bodenreform nur ein Restbesitz übrig. 50 Hektar Boden einschließlich eines Waldstücks, das er sehr gewissenhaft gepflegt hat, denn einerseits glaubte er, dass er es behalten könne und andererseits war er es nicht gewohnt, den Wald wegen des Geldes oder aus Bosheit abzuholzen. An das Jahr 1951, in dem mein Vater seinen Armeedienst in einem Technischen Hilfsbataillon antreten musste, wo er dann fast drei Jahre lang blieb, erinnere ich mich noch sehr gut. Er wurde von einem Tag auf den anderen fortgebracht, wir wussten nicht, wohin. Er gelangte schließlich in die Slowakei und dann folgten verschiedene andere Stationen, je nachdem, wohin man seine Einheit versetzte. Nachrichten von ihm erhielten wir nur durch Ansichtskarten, die er uns aus Komorn, Neusohl und von anderen Orten aus schrieb, wo er als Hilfsarbeiter am Bau eingesetzt war. Zu dieser Zeit wurden mein Großvater und 248

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meine Großmutter aus dem Schloss geworfen, aber eine Familie aus dem Ort ließ sie aus Mitgefühl bei sich in zwei Zimmern wohnen, sodass sie noch für einige Zeit in Niemtschitz blieben. Unsere Mutter konnte mit uns Kindern, mit meinem Bruder und mir, im Schloss wohnen bleiben. Allerdings hat man betont, dass das nur vorübergehend wäre, und zwar so lange, bis mein Vater seinen Wehrdienst beendet hätte. Im Schloss waren wir aber nicht allein. Das staatliche Landgut, das auf dem konfiszierten Besitz wirtschaftete, nahm neue Landarbeiter auf und brachte sie dort unter, wo es sich direkt anbot – in den Räumlichkeiten des Schlosses. Unsere Mitbewohner haben wir mehrheitlich nicht gekannt, vereinzelt kamen sie aus der Gegend, einige verhielten sich uns gegenüber freundlich und rücksichtsvoll, andere so, als würden wir ihnen im Weg stehen. Noch größere Schwierigkeiten hatte meine Mutter mit ihrem Beruf. Sie stammte zwar aus einer bürgerlichen Familie, hatte die Lehrerbildungsanstalt besucht, aber sie hat sich eines unverzeihlichen Fehlers schuldig gemacht – sie hatte den Spross einer Adelsfamilie geheiratet. Von der Warte der Klassenlehre aus betrachtet, erschien es nicht angebracht, die Kindererziehung einem Klassenfeind anzuvertrauen, weshalb sie eines Tages auf das Bezirksamt vorgeladen wurde und man ihr vorschlug: ,Wenn Sie sich scheiden lassen, Ihre Kinder den adeligen Namen ablegen und fortan nicht mehr Dlauhowesky, sondern wieder Ihren Mädchennamen, also Dusil, annehmen, versprechen wir Ihnen eine glückliche Zukunft.‘ Sie lehnte ab. Von diesem Moment an war ihre Lehrerkarriere beendet und sie arbeitete als einfache Landarbeiterin auf einem Gut. Schließlich ist mein Vater von seinem Wehrdienst zurückgekehrt. Zwei Jahre arbeitete er als Leiter unserer früheren Ziegelei, dann erhielten wir den Befehl, Niemtschitz zu verlassen. Woher dieser Befehl kam, weiß ich nicht, irgendwoher musste er aber gekommen sein. Und man konnte keine Berufung einlegen. Viele Dinge sind uns nicht geblieben, nur ein paar Koffer, aber zumindest ist die Übersiedlung glatt verlaufen. Dank der Schwester meines Vaters, die einer franziskanischen Ordensgemeinschaft angehörte, erhielt mein Vater eine Anstellung in Smetschno. Die Kommunisten hatten im dortigen geräumigen Schloss mit Renaissancearkaden 450 slowakische Ordensschwestern aus Trentschin interniert und mein Vater arbeitete dort als Buchhalter. In Smetschno blieben wir sechs Jahre, bis wir im Jahr 1961 erneut übersiedeln mussten. Diesmal ins böhmische Benediktinerkloster Braunau, wo Klosterschwestern aus der ganzen 249

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Republik konzentriert waren, zusammen etwa 23 Orden, und mein Vater hat erneut die Buchhaltung für sie gemacht. Bis heute muss ich ihn bewundern. Die Ereignisse des Jahres 1948 schienen auf ihn überhaupt keine Wirkung gehabt zu haben, obwohl in seinem Leben viele Dinge auf den Kopf gestellt wurden. Seinen Vater, meinen Großvater, hat das alles völlig gebrochen. Seine letzten Lebensjahre hat er in Enttäuschung und Verbitterung zugebracht. Bis zum Ende seines Lebens hat er all das nicht wirklich verwinden können. Zur Zeit des Protektorats unterzeichnete er die Erklärung des tschechischen Adels über die Treue zum tschechischen Volk. Die Deutschen haben daraufhin auf seinem Besitz die Zwangsverwaltung eingeführt und im Jahr 1948 hat es ihm das Volk mit der Enteignung gedankt! Ich würde gerne jemanden kennenlernen, der mir das logisch erklären kann. Die Konfiskation seines Besitzes, die rücksichtslose Vertreibung aus Niemtschitz, wo er seinen Lebensabend verbringen wollte, und der Zusammenbruch traditioneller Werte bedeutete für ihn den Untergang seiner Welt. Im Gegensatz dazu lebte mein Vater die ganzen 40 Jahre im Kommunismus und hat die Republik nie verlassen oder ist emigriert, auch wenn er dazu die Möglichkeit gehabt hätte. Nicht einmal mir wäre es eingefallen wegzugehen, obwohl es 1968 leicht möglich gewesen wäre. Zu dieser Zeit hatten wir noch Verwandte in Österreich, die uns ihre Hilfe angeboten haben. Heldenmütig habe ich mir gesagt: Ich emigriere erst, wenn mein Leben in Gefahr ist. Dass mein Vater geblieben ist, bitte, das kann ich verstehen. Ich habe erst später verstanden, warum er nicht über all das verbittert war und keinen Groll gegen irgendjemanden hegte. Er ist sich rechtzeitig dessen bewusst geworden, dass Groll und Verbitterung in dem Augenblick über ihn hereinbrechen, in dem er es zulässt, sich von ihnen auffressen zu lassen und so selbst ihr erstes Opfer wird. ,Du musst dich mit Leuten umgeben, mit denen du leben willst, dann fühlst du dich gut‘, riet er mir. ,Unter ihnen bist du wie auf einer Insel.‘ Solange man diese Regel befolgte, konnte man unter dem totalitären Regime leben. Die heutige junge Generation kann sich die kommunistische Ära schwer vorstellen und sich kaum daran erinnern. Sie mögen zugestehen, dass es einen Ersten Weltkrieg gab, dass es einen Zweiten Weltkrieg und Hitler gab, aber die Periode des Kommunismus liegt für sie wie in einem Nebel, in der letzten Endes nichts passiert ist. Ich habe meinen Vater als kleiner Bub auch manchmal provoziert und ihm absichtlich gesagt: ,Ich trete der kommunistischen Jugendorganisation bei und werde dann Mitglied in der Partei.‘ Dagegen war er machtlos.“ 250

Dlauhowesky 2. Jan Ignaz Dlauhowesky aus Langendorf (1909–1996), Nachfahre eines alten böhmischen Wladikengeschlechts.

„Sind Sie dann der Partei beigetreten?“ „Selbstverständlich nicht. Wenn ich das wirklich getan hätte, dann nur aus Überzeugung. Das aber war bei mir nicht der Fall. Und der Partei beizutreten, nur um Karriere zu machen? Ich wollte keine machen. Dennoch muss man einen solchen Schritt verstehen. Wenn jemand sagte, er sei der Partei beigetreten, weil er ansonsten nicht hätte studieren können oder keinen Beruf ausüben, in dem er tätig sein wollte, dann verstehe ich das. Aber wenn er gleichzeitig sagte, dass er es damit bewenden ließ und trotz des Beitritts ein anständiger Mensch geblieben sei, dass ihn alles Weitere nicht interessiert habe, dann macht er sich etwas vor. Bei einer Unterschrift und einer Anmeldung wäre es nicht geblieben, es hätte sich fortgesetzt mit dem gehorsamen Heben der Hand bei den Parteitagen, der Unterschrift unter irgendeine Schweinerei oder der Zustimmung zu irgendetwas, dem man im Innersten überhaupt nicht zustimmen kann. Die Partei musste freilich von ihren Mitgliedern Gehorsam, Loyalität oder zumindest Disziplin verlangen, denn ansonsten hätte sie aufgehört, eine funktionierende Organisation zu sein. Sich aufzulehnen ging mehrheitlich nicht, und das bedeutete, sich unterzuordnen und auch dort zuzustimmen, wo der Charakter gebrochen wird.“ Er erhob sich von seinem Sessel, holte eine Fotografie seines Vaters, um die ich ihn gebeten hatte, aus der Tasche und reichte sie mir über den Tisch. Jan 251

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3. Jan Ignaz zusammen mit seinem Bruder Karl Felix auf zwei Aufnahmen zur Zeit der Ersten Republik: Hinter dem Steurer eines Sportwagens …

Dlauhowesky ist auf dem Bild etwa 50 Jahre alt, er hat eine hohe Stirn, das Haar glatt nach hinten gekämmt, dunkle, unverwandte Augen und einen dichten Schnurrbart, trägt ein Sakko, darunter einen Pullover und selbstverständlich eine Krawatte. „Meine Frau, die ihn gut kannte, da er die letzten zehn Jahre seines Lebens, als er schon krank war, bei uns gewohnt hat, hat von ihm behauptet, ein arbiter elegantiae, also ein Sachverständiger in Fragen des guten Geschmacks, zu sein. Noch mit seinen 85 Jahren, obwohl er sich schon nur mehr im Rollstuhl fortbewegen konnte, saß er an seinem Schreibtisch in Sakko und Krawatte, trug eine Hose mit Bügelfalte und Halbschuhe. Erst in seinem letzten Lebensjahr, als er an Krebs erkrankte und ihm immer kalt war, machte er ein Zugeständnis – die Halbschuhe wichen warmen Hausschuhen und das Sakko einem Pullover. Ich kleide mich auch gerne elegant, nur bei ihm war das angeboren oder vielleicht auch anerzogen. Es gehörte zum Lebensstil dazu, er hatte, wie viele seiner Altersgenossen, einen Sinn für Umgangsformen, die wir heute im Allgemeinen vermissen. Und wenn sie erst seine Unterschrift ansehen … Auch an ihr zeigt 252

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4. … und an der Seite seines Vaters Karl Ludwig in Marienbad.

sich eine gewisse Eleganz, Disziplin und Ordnung. Ich werde nie begreifen, warum unsere Generation so nachlässig unterschreibt.“ Das Prädikat seines Vaters, adeliger Großgrundbesitzer, klang noch am Beginn der 1960er-Jahre anrüchig, es war auf eine gewisse Art schäbig. Der kleine Václav konnte sich davon selbst überzeugen. Mit 14 Jahren beendete er die achtjährige Grundschule und kurz zuvor wurde seine Mutter vom Schuldirektor in Smetschno zu einem Gespräch vorgeladen. Sie kam völlig verstört zurück. „Stell dir vor“, sagte sie zu ihrem Mann, „es ist nicht erwünscht, dass er studiert. Ein Studium der Söhne der Familie Dlauhowesky stehe angeblich nicht im Einklang mit den Interessen des sozialistischen Schulwesens. Und noch etwas, das ich in der Aufregung beinahe vergessen habe. Ich musste unterschreiben, dass wir es zur Kenntnis nehmen.“ Es folgte die Einberufung des Familienrates. Er dauerte nicht lange, an den Dingen konnten sie nichts ändern. Es blieb nämlich nur eine Möglichkeit – eine zweijährige Lehre und danach die Arbeit auf einem Gut oder in der landwirtschaftlichen Genossenschaft. Wie sich später zeigte, konnten sich die besten Schüler nach der Beendigung des ersten Schuljahres die mehrwöchige Praxis ersparen und von der Lehrlingsbildungsanstalt auf eine 253

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4-jährige Landwirtschaftliche Mittelschule überwechseln, die mit der Matura abschloss. Václav Dlauho­ wesky gehörte zu ihnen, legte ohne größere Schwierigkeiten die Aufnahmeprüfung ab. Gewonnen hatte er allerdings noch nicht. Ein einziger Federstrich von irgendjemandem auf dem Bezirksschulinspektorat hätte genügt. Damals lebten sie bereits in Braunau und der dortige Schuldirektor wusste, dass Dlauhowesky der Eintritt in die Schule verweigert werden könnte, wenn er ihn im Namensverzeichnis der für das erste Schuljahr aufgenommenen Schüler anführte. 5. Hochzeitsfoto des 26-jährigen Václav DlauWeil er ihm helfen wollte, entschloss howesky und seiner um zwei Jahre jüngeren er sich mit einer gehörigen PortiBraut Jana, geborene Lelková, Absolventin der Fakultät für Landwirtschaftstechnik – im on Mut dazu, die Angelegenheit in Jahr 1972. aller Verschwiegenheit zu regeln. Auf eigene Verantwortung nahm er Dlauhowesky „schwarz“ auf und führte seinen Namen in der an die Schulbehörden und Parteiorgane gesandten Liste überhaupt nicht an. In den folgenden Jahren wurde kein weiteres Namensverzeichnis verschickt und der Schüler Dlauhowesky legte seine Matura ohne größeres Aufsehen ab. Er wurde sogar zum Studium der Veterinärmedizin zugelassen, nur war dies bereits den liberaleren Bedingungen des aufziehenden Prager Frühlings zu verdanken. Das Schloss in Niemtschitz entstand am Ende des 17. Jahrhunderts durch den Umbau einer aus der Renaissancezeit stammenden Festung. Auch wenn es nie in der höchsten Kategorie der denkmalgeschützten Objekte geführt wurde, hätte es sich doch ein wenig Beachtung und Pflege verdient. Noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts waren alle Räumlichkeiten vollständig eingerichtet. Mit der Zeit aber ist das Schloss verfallen, nichts wurde in Stand gesetzt, bis in ihm das Leben ganz erstarb. 254

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6. Schloss Niemtschitz steht mit dem Namen Dlauhowesky aus Langendorf mindestens seit dem 17. Jahrhundert in Verbindung. Damals erfolgte die Umgestaltung der renaissancezeitlichen Festung im Geist des Frühbarock.

„Ich habe es nicht sehr bewusst erlebt“, sagte Václav Dlauhowesky, „ich war zwei Jahre alt, als wir enteignet wurden. Möchten Sie noch hineinsehen?“ fragte er nach unserer Rückkehr aus Krasilau. „Dann kommen Sie“, bot er mir an, nahm einen Schlüsselbund und öffnete die wohnliche Eingangstür. „Nach der Konfiszierung wurde hier eine staatliche Güterverwaltung eingesetzt, danach wurde das Schloss von einer landwirtschaftlichen Genossenschaft übernommen. Dann sind Lehrlinge hier eingezogen und später Soldaten … Ich weiß eigentlich nicht, wie das alles abgelaufen ist, aus dieser Zeit gibt es keine Aufzeichnungen. Es gab hier einen großen und einen kleinen Speisesaal, einen Rosa Salon und einen Grünen Salon. Es fällt mir schwer, darüber zu sprechen, weil fast nichts davon übrig geblieben ist. Einzig die torsoartigen Reste zweier Kacheln sind noch da. Sonst nichts außer eingebrochene Decken und von Hausschwamm befallenes Holz. Glücklicherweise konnten wir die komplette Dokumentation des ursprünglichen Zustandes retten.“ Dlauhowesky zeigte an die Wand eines großen Raumes im Erdgeschoss und erzählte weiter: „Dort befand sich eine wunderschöne eiserne Wendeltreppe, die nach oben zur Kapelle führte. 255

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7. Das Interieur von Schloss Niemtschitz vor der Verstaatlichung …

Irgendjemand hat sie abmontiert und weggebracht. Wer weiß, wo sie sich heute befindet. Nach dem Jahr 1948 kamen verschiedene Kulturkommissionen hierher und jede hat sich etwas mitgenommen. Es existierten Aufzeichnungen darüber, wohin etwas gebracht wurde. Bei allen beschlagnahmten Gegenständen, oder fast bei allen, wurden auch Unterschriften geleistet, in diesen Fällen lief das alles offiziell ab. Antiquitäten, Bilder oder Möbelstücke wurden von konkreten Personen übernommen. Ich bin im Besitz dieser Unterlagen, dennoch ist es uns nicht gelungen, auch nur einen dieser fortgebrachten Gegenstände ausfindig zu machen. Alle unsere Nachforschungen blieben ohne Ergebnis. Wir haben auch die Dienste von Rechtsanwälten in Anspruch genommen. Das Ergebnis war gleich null. Alles ist wie in der Versenkung verschwunden. Am Ende ist man 256

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8. … und einige Jahrzehnte später, nachdem das Gebäude an die Familie Dlauhowesky zurückgegeben worden war.

sich nicht einmal sicher, ob man nicht nur geträumt hat. Ob einem das ganze bisherige Leben nicht wie ein Traum vorkommt. Einen Teil der persönlichen Dinge der Familie konnte meine Mutter noch in letzter Minute vor der Ankunft der Kulturkommission verstecken und retten. Sie hat somit ihr Eigentum gestohlen! Und einige andere Dinge durften wir nach der Enteignung großzügig zurückkaufen. Sie konnten sehr gründlich sein. Ich erinnere mich daran, wie Angehörige der Öffentlichen Sicherheit kamen, ich war damals fünf oder sechs Jahre alt. Sie verfrachteten mich in ein Auto, fuhren absichtlich in der Gegend herum und fragten mich aus, was wir alles im Schloss hätten, welche kostbaren Dinge es dort gäbe. Sie hätten angeblich gehört, dass sich darunter auch eine goldene Wiege befinde, die übermalt worden sei, damit man nicht erkennen könne, dass sie aus Gold sei … Ich habe darauf nur genickt. Ich wollte nicht lügen. Man hat mich gelehrt, nicht zu lügen, aber ich war so verstört und verdattert, dass ich nicht mehr genau wusste, was ich sagte, geschweige denn dass mir einfiel, dass sie meine Antwort gegen meine Eltern verwenden könnten. Sie kamen dann ins Schloss und versuchten, diese nicht existierende goldene Wiege zu finden.“ 257

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9. Auch die anderen Objekte waren nach der Restitution in keinem besseren Zustand. Hier die Zufahrt zum Wirtschaftshof in Krasilau.

„Ist Ihnen irgendetwas aus dem Familienarchiv oder aus der Schlossbibliothek geblieben?“ „Wenig, sehr wenig. Nur das, was sonst niemand brauchen konnte. Ein Lebensbaum der Dlauhoweskys, ein Stammbaum aus dem 13. Jahrhundert, einige Briefe und Archivalien, mehrheitlich kurrent geschrieben. Auch die von meiner Großmutter stammende Bibliothek war weggebracht worden. Viele dieser Bücher waren auf Polnisch, denn meine Großmutter war von Geburt Polin, die Tochter von Johann Franz Freiherr Konopka und Anna Gräfin BobrówkaBobrowski. Die Hochzeit hatte in Krakau stattgefunden und sie lernte erst nach der Hochzeit Tschechisch. Wohin ihre Bücher verschwunden sind, ist auch nicht bekannt. Meine Mutter hat sie in den verschiedensten Antiquariaten aufzutreiben versucht, dabei wäre es einfach gewesen, sie wiederzufinden – in jedem dieser Bücher befand sich ein Exlibris mit der Unterschrift meiner Großmutter.“ „Was werden Sie mit dem Schloss machen?“, fragte ich. „Mit dem leeren und verwahrlosten Gebäude, dessen Renovierung in die Millionen geht. Haben Sie vor, irgendwann in Zukunft dort zu wohnen?“ 258

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„Darin wohnen, das wohl eher nicht, wir würden uns wahrscheinlich nicht daran gewöhnen. Das Schloss sollte eine andere Bestimmung haben. Ich hoffe immer noch, dass ich irgendjemanden treffe, der ein Interesse daran hat. Nicht doch, es steht nicht zum Verkauf, da würden Sie mich falsch verstehen, ich würde es gerne zur langfristigen Vermietung anbieten. Es könnte einem sozialen Zweck dienen. Am besten wäre es, wenn darin beispielsweise Waisenkinder ein neues Zuhause fänden. Vielleicht wartet irgendwer irgendwann auf eine ähnliche Gelegenheit und es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir uns treffen und uns zusammentun. Sehen Sie, ich bin immer noch Optimist.“ Er hatte Käufer, aber entweder entsprachen sie nicht seinen Vorstellungen, oder seine Ansichten deckten sich nicht mit den ihren. So hat er sich seinen Traum bewahrt, dass das Schloss jemandem dient, der es zum Leben braucht, etwa Waisenkindern. Eine ähnliche Lösung hat sich übrigens für das Gebäude auf dem Wirtschaftshof gefunden, in dem junge Drogenabhängige von ihrer Sucht geheilt werden. Als Teil ihrer Therapie leisten sie physische Arbeit auf den Feldern oder in den Ställen. Erstaunlicherweise finden sie Gefallen daran und es funktioniert. Auch wenn die Dlauhoweskys bisher nicht über genug Geld verfügten, um das Schloss in einen neuen Mantel zu kleiden, so haben sie zumindest für eine neue Kopfbedeckung gesorgt. Ein neues Dach nämlich. Sie ließen auch ein altes vermodertes Türmchen abtragen, das einzustürzen drohte und errichteten an dessen Stelle eine Kopie. Im Inneren hinterlegte Václav Dlauhowesky in einer versiegelten Kassette, die erst in einigen Jahrzehnten geöffnet werden durfte, seine Botschaft für die folgenden Generationen. Ich habe vergeblich versucht, von ihm zu erfahren, was das für eine Botschaft sei, er wollte es mir nicht verraten. Ebenso wie seine drei Söhne lächelte er nur, es wäre angeblich ihr Geheimnis. Zum Schloss gehört auch eine Kapelle aus dem Jahr 1727, an deren Errichtung der bekannte böhmische Architekt Paul Ignaz Bayer, der Hofbaumeister der Familie Schwarzenberg, beteiligt war. Als Einzige hat sie mehr oder weniger unversehrt überdauert und bisweilen diente sie ihrer Bestimmung. Die alte barocke Orgel hat aber ausgedient. „Die Kapelle war nicht so verwüstet wie das Schloss. Der Staat ließ sie im Laufe der 1970er-Jahre renovieren, zumindest hat er das Allernotwendigste veranlasst, damit es nicht hineinregnet. In Wahrheit gesagt, etliches ist von dort verschwunden, aber etwas wurde uns im Rahmen der Restitution zurückgegeben, einiges haben wir rekonstruieren lassen. Nur eine Orgel fehlte mir dort. 259

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Ich habe mir dann gesagt, dass wir da etwas tun müssten. Einen Teil der Kosten haben wir aus unserer eigenen Tasche bestritten und der Staat hat uns einen finanziellen Zuschuss gewährt. Meine Bekannten haben sich ohnehin gewundert, warum wir Geld in eine Orgel steckten. Warum, wenn ich schon auf jeden Fall Geld verschwenden wolle, kaufe ich denn keine neue, hieß es. Nur dass es sich dabei um ein historisches Instrument handelt, das über einen einmaligen Klang verfügt. Das Orgelpositiv ist eine Rarität. Für den Fall, dass es mir in Zukunft irgendwann gelingen sollte, das Schloss in eine soziale Einrichtung umzubauen: Die Kapelle wäre eine geeignete Rückzugsmöglichkeit, denken Sie nicht auch? Und in eine Kapelle gehört einfach eine Orgel. Ich würde sie gerne für die nächste Johannes-Wallfahrt – die Kapelle ist nämlich dem Heiligen Johannes von Nepomuk geweiht – öffnen und zugänglich machen. Ich habe darüber schon mit den örtlichen Behörden verhandelt, die mir ihre Hilfe zugesagt haben. Daraus wird keine die großen Massen ansprechende Wallfahrt entstehen, das sicherlich nicht, aber wir sollten zu jenen Dingen zurückkehren, die den Menschen nahegehen. Es geht darum, Traditionen zu erneuern, damit die Menschen ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln. Eine tiefere Beziehung zu dem Ort, an dem sie leben oder wo sie einen Teil ihres Lebens zubringen. Ohne Tradition ist das nicht möglich.“ Aus seinem Geschlecht ist er der Einzige geblieben, weil sein Bruder mit 23 Jahren bei einem Motorradunfall ums Leben kam und weil kein anderer Dlauho­ wesky-Zweig existiert. Er hat jedoch Nachkommen – seine Söhne Jan, Michal und Lukáš. „Wer gibt von Ihnen vier nun die Befehle und wer sind die Angestellten? Oder arbeiten und kommandieren sie alle zusammen?“ „Damit habe ich wahrscheinlich einen Fehler gemacht“, gestand Václav Dlauhowesky. „Ich bin der sogenannte General, der Chef, bin aber nicht ständig vor Ort.“ Derzeit fährt er einige Male im Monat von seinem Zuhause in der HalbEinsamkeit bei Nachod quer durch das ganze Land nach Süden. 270 Kilometer hin und genauso viel wieder zurück, manchmal auch an einem Tag, wenn etwa eine unaufschiebbare Aufgabe erledigt werden muss. Er hat sich in seine HalbEinsamkeit verliebt, wo er mit seiner Frau über 30 glückliche Jahre verlebt hat und wo er als Tierarzt arbeitet. Wohl nur ungern werden sie ihr Zuhause verlassen, aber letztlich werden sie es doch tun. 260

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10. Václav Dlauhowesky mit seinen Söhnen Michal, Jan und Lukáš (von links nach rechts). Ihren Humor haben sie auch trotz des kühlen Novembertages nicht verloren.

„Wie ich schon sagte, in der Hinsicht habe ich einen Fehler begangen. Möglicherweise hätte ich schon gleich am Beginn die Arbeitsfelder klar voneinander abgrenzen sollen. Stattdessen habe ich es meinen Söhnen überlassen, selbst zu einer Einigung zu finden. Deswegen kam es zu gewissen Problemen, aber in der Zwischenzeit haben sie sich zu einem Kompromiss durchgerungen. Jeder hat freilich seinen eigenen Charakter und sie haben eher Schwierigkeiten damit, sich selbst zu disziplinieren. Lukáš, der Jüngste, hat an der Forstmittelschule in Trautenau maturiert und ist Förster geworden. Schwierigkeiten wegen seiner politischen Überzeugung und seiner familiären Abkunft hatte er nicht. Er widmet sich der Pflege unserer Wälder, lebt hier und hat für sich in Niemtschitz ein älteres Landhaus renoviert. Er ist vor allem für den Wald zuständig, fährt aber auch mit dem Traktor und macht alles Mögliche. Offenbar hat er von unserem Herrgott eine große technische Begabung mitbekommen. Darüber hinaus hat er das Glück, dass er sein Hobby zum Beruf gemacht hat, und es fehlt ihm dafür auch nicht an einem unerlässlichen sechsten Sinn.

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Der Mittlere, Michal, ist eher ein Philosoph, der sich in seiner Freizeit, die geringer bemessen ist, als er es selbst gerne hätte, mit der Geschichte unseres Geschlechts beschäftigt. Er hat Betriebswirtschaft an der Hochschule für Landwirtschaft in Budweis studiert, ist also Ingenieur, aber am liebsten läuft er in Arbeitskleidung herum, so als ob er damit irgendein Manifest ablegen möchte. Möglicherweise für sich selbst“, sagte er und lachte. „Er lebt ebenso wie Lukáš hier, das heißt inmitten der Probleme, und ist zur Gänze von ihnen eingenommen. Er trägt sehr schwer an der Situation und hält meiner Frau und mir vor, dass wir nicht ständig hier sind. Er hat jetzt endlich seine eigene Wohnung in Strakonitz. Zumindest in diesem Bereich ist es besser geworden, weil eine Zeit lang wohnten wir hier in Hotels oder in der Unterkunft der landwirtschaftlichen Genossenschaft. Der Älteste, Jan, führte eine Zeit lang einen Restaurationsbetrieb und ein Kaffeehaus. Heute ist er Unternehmer und steht auf eigenen Beinen. Er ist aber bereit, auf Abruf hierherzukommen und zu helfen. Er setzt sich auf jede Maschine, stellt sich hinter alles, was sich bewegt, und wenn es nötig ist, hilft er auch in der Werkstatt und beim Vieh. Alle drei Burschen sind, wenn ich das so sagen darf, universell einsetzbar.“ „Was bedeutet der Name Dlauhowesky für die drei? 600 Jahre Tradition oder nur elf Buchstaben?“ „Er bedeutet ihnen viel, eigentlich sogar sehr viel. Er ist, so hoffe ich zumindest, tief in ihnen verwurzelt, aber das wird erst die Zeit zeigen. Ich habe wegen meines Namens mitunter zu leiden gehabt. Als Erwachsener habe ich mich nur schwer mit meiner Herkunft abgefunden, denn ich hatte nichts, worauf ich hätte stolz sein können. Vielleicht verstehen Sie mich. Ich habe das Nachsehen gehabt, wegen meines Namens und weil ich zur Kirche gegangen bin. Für einige Jungen war ich einfach ein Mönch und ein Betbruder. Mit großer Freude haben sie mich ausgelacht. Im Gegensatz dazu sind sich meine Söhne ihres Namens bewusst geworden, schon als sie klein waren – für sie bedeutete er etwas Geheimnisvolles, etwas Magisches. Kein Gelächter und keine Verhöhnungen der anderen, einige haben sie um ihren Namen sogar beneidet. Sie sind mit dem Gefühl aufgewachsen, dass sie über etwas Zusätzliches verfügen.“ „Soll ich das so verstehen, dass der Name Dlauhowesky für sie mehr als ein gewesener Freiherrentitel und ein amtliches Geleit für Privilegiertheit ist?“ „Gewiss. Den Adelsstand müssen wir wie etwas Persönliches in uns haben, etwas, das wir in uns tragen und das wir auf eine bestimmte Art und Weise re262

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präsentieren. Ehrerbietung, Respekt und gesellschaftliche Stellung, die der Adel einstmals für seine Verdienste erhalten hat, erneuern sich aber nicht von alleine. Wir können nicht künstlich irgendwohin zurückkehren. Das ist nicht möglich. Wir sollten einen Weg suchen, wie es weitergeht. Davon wird es abhängen, ob uns die Gesellschaft annimmt oder uns nur als eine interessante Kuriosität aus längst vergangenen Zeiten registriert.“

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1. Barbara Coudenhove-Kalergi

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Coudenhove-Kalergi Geschlecht mit exotischen Neigungen – Eine ägyptische Mumie unter dem Boden der Schlosskapelle – Gemeinsam mit einer Kolonne deutscher Soldaten zu Fuß ins Internierungslager – „Ich hatte geglaubt, dass sich der Kommunismus reformieren lässt“ – Zeuge im Prozess gegen amerikanische Soldaten in Pilsen – „Wir brennen diese Hütte nieder!“ – Unerwartete Abwechslung auf der Fahrt mit der transsibirischen Eisenbahn

Es war keine besonders schwierige Aufgabe, die Adresse der österreichischen Journalistin Barbara Coudenhove-Kalergi ausfindig zu machen. Es genügte, auf einem Postamt vorbeizuschauen und das Wiener Telefonbuch durchzublättern. Daraufhin habe ich sie in einem Brief ersucht, sie in Prag oder Wien treffen zu können. Ihre Antwort war kurz, umfasste nur wenige Sätze, die jedoch alles Wesentliche beinhalteten. Sie hatte eine interessante Handschrift, wie man sie nicht allzu oft zu Gesicht bekommt. Sie wirkte auf mich so, als ob sie sich bemühen würde, schnell zum Ziel zu gelangen und als ob sie keine Zeit mit überflüssigen Schnörkeln vergeuden wollte. Gleichzeitig waren aus ihr eine ausgemachte Schöpfungskraft und Entschlossenheit sowie Selbstsicherheit und Individualität herauszulesen. Davon war auch auszugehen, denn Barbara Coudenhove-Kalergi wurde in Österreich zur Frau des Jahres 1989 gewählt. Einem Treffen stimmte sie im Prinzip zu, nur erinnerte sie daran, dass ihr Geschlecht nicht zum böhmischen historischen Adel gehöre, da die Coudenhove nur etwas mehr als 100 Jahre in Böhmen gelebt hatten. Sie schlug vor, mir zunächst ihre einige Seiten umfassenden Erinnerungen per Fax nach Prag zu schicken. „Lesen Sie sie durch“, meinte sie, „und wenn Sie dann immer noch auf einem Treffen bestehen, kommen Sie zu mir nach Wien.“ Bald darauf habe ich mich auf den Weg zu ihr gemacht. Die Familie Coudenhove stammt aus Brabant, einem Gebiet zwischen Belgien und den Niederlanden, das früher einmal zur österreichischen Monarchie gehört hatte. Das böhmische Inkolat, das adelige Wohnrecht, das die Zugehörigkeit zum heimischen Adel bezeichnete, wurde ihnen relativ spät verliehen. Und zwar erst im Jahr 1834. Es handelt sich allerdings um ein sehr altes Ge265

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schlecht, von dem schriftliche Aufzeichnungen aus dem 13. Jahrhundert vorliegen, als nämlich Gerolf Coudenhove, ein Nachfahre des ersten belegten Ahnen Theoderich, an den Kreuzzügen nach Palästina teilnahm. Im 15. Jahrhundert teilten sich die Angehörigen des Geschlechts auf einige Zweige auf, wobei ein Teil auf dem Kontinent blieb und der andere nach England ging. Später erfolgte noch eine mehrmalige weitere Teilung und nach der Niederlage eines österreichischen Heeres durch eine französische Armee ließen sich einige in Frankreich nieder, andere wiederum gaben der habsburgischen Monarchie den Vorzug, gingen nach Wien und erwarben nicht nur in Österreich Güter, sondern auch in Bayern, Ungarn und ebenso in Böhmen und Mähren. Die fürstliche Linie des Geschlechts, von der eine freiherrliche Linie abzweigte, teilte sich am Ende des 18. Jahrhunderts durch die beiden Söhne von Georg Ludwig in zwei Äste – der ältere Karl Ludwig begründete eine Linie, die im Jahr 1964 in der männlichen Linie ausstarb. Von ihr stammte etwa Max Julius ab, der in den Jahren 1915 bis 1918 letzter Statthalter von Böhmen war. Von seiner Denkungsart her war er deutsch und Gegner der tschechischen Bestrebungen um die Selbstständigkeit, sprach sich aber für die Krönung Kaiser Karls zum böhmischen König aus. Der jüngere Sohn von Georg Ludwig, Franz Karl, begründete einen Zweig, der bis heute existiert und dem es nicht an Nachkommen mangelt. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts nennt er sich allerdings CoudenhoveKalergi. Franz Karl, Kammerherr und wie viele andere auch Soldat und Diplomat, heiratete nämlich im Jahr 1857 Marie von Kalergi, die in St. Petersburg geboren wurde, da sich die Familie ihrer Mutter, der Gräfin von Nesselrode, in Russland niedergelassen hatte. Von der Seite ihres Vaters stammte sie von einem kretischen Geschlecht ab, das seinen Ursprung auf eine frühere byzantinische kaiserliche Dynastie zurückführt. Für die Coudenhove war der Name Kalergi von großer Bedeutung. Ihm brachten sie derartig viel Respekt entgegen, dass sie ihn mit der Zustimmung des Kaisers ab dem Jahr 1903 führten. Der erwähnte Franz Karl erwarb im Jahr 1864 Herrschaft und Schloss Ronsperg in Westböhmen. Mit seiner Frau Marie hatte er sechs Kinder, vier Söhne und zwei Töchter. Die bedeutendste Stellung in der Familiengeschichte nimmt von allen unzweifelhaft der erstgeborene Heinrich ein. Als Diplomat vertrat er die Monarchie in einer Reihe von Ländern – in Griechenland, Südamerika, im Osmanischen Reich und eben auch in Japan, wo er die Japanerin Mitsu Aoyama 266

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heiratete, die aus einer relativ bedeutenden, aber nicht adeligen Tokioter Familie stammte. Wie zu vernehmen war, stand diese dem Kaiserhaus sehr nahe. Er studierte Rechtswissenschaften und Philosophie, beherrschte 16 Sprachen und auf seinen oftmaligen Reisen widmete er sich nicht nur der Diplomatie, sondern auch den Studien der Kultur Asiens und Europas. Er war ein außerordentlich fähiger und weitblickender Politiker, vor allem aber war er Pazifist und ein energischer Kriegsgegner, der die gegenseitige Intoleranz verabscheute. In sei2. Die japanische Großmutter Mitsu. Über ner Haltung war er sehr konsequent das Datum der Aufnahme kann in diesem Fall kein Zweifel herrschen. und verbot seinen Kindern sogar, mit Zinnsoldaten zu spielen, damit sich ihr unschuldiges Vergnügen nicht eines Tages zur Leidenschaft am Töten wandle. Für sich selbst lehnte er es ab, an traditionellen adeligen Vergnügungen wie etwa an Jagden teilzunehmen, obwohl er diese in seiner Jugend geschätzt hatte. Nach dem Tod seines Vaters Franz Karl erbte er mehr oder weniger gegen seinen Willen Ronsperg. Es verlangte ihm nicht nach Reichtum, er wünschte sich, in Asien bleiben zu können. Auf die Nachricht von zu Hause, rasch zurückzukehren und die Familiengüter zu übernehmen, antwortete er, dass ihn das Erbe nicht interessiere. Damit hatte wiederum sein jüngerer Bruder Richard gerechnet, der sich offenbar für die Verwaltung der Wirtschaft besser geeignet hätte. Der Wortlaut des Testaments war jedoch klar: Das Erbe tritt Heinrich an. Mit seiner Frau Mitsu und ihren zwei Kindern – Johannes und Richard, die in Tokio geboren worden waren – kehrte er dann nach einiger Zeit doch nach Böhmen zurück, wo dem Paar weitere fünf Kinder geschenkt wurden: Gerolf, Elisabeth, Olga, Friderike und Karl Heinrich. Sein Schloss wurde zu einem Treffpunkt von Philosophen und religiösen Denkern aus der ganzen Welt. Selber war er zwar überzeugter Katholik, pflegte aber Umgang mit jüdischen Rabbinern, katholischen und protestantischen 267

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Priestern sowie mit Muslimen und Buddhisten. Er widmete sich vor allem der Philosophie und verfasste ein Buch gegen den Antisemitismus, obwohl er zu ihm in seiner Jugendzeit ein gewisses Naheverhältnis gehabt hatte. Da er an der Spitze einer Liga gegen Duelle stand, schrieb er auch ein Buch, in dem er sich gegen Zweikämpfe in der Armee wandte. Er war ein konsequenter Gegner des Rassismus, des Nationalismus und des Fanatismus jeglicher Prägung. Seine Kinder versuchte er davon zu überzeugen, dass sie mehrere Sprachen lernen sollten. Aus eigener Erfahrung wusste er, dass dies nicht nur die Möglichkeit mit sich brachte, sich auf der ganzen Welt mit anderen Menschen zu verständigen, sondern vor allem war es dabei hilfreich, sie verstehen und schätzen zu lernen. Mitten in der Arbeit, über den Notizen zu seiner umfangreichen philosophischen Studie mit dem Titel Reich der Negation, die die religiösen, mentalen und kulturellen Strömungen Asiens und Europas vereinte, starb er plötzlich und unerwartet in seinem 47. Lebensjahr. Seine Frau Mitsu blieb mit den sieben Kindern – das älteste war damals dreizehn Jahre alt, das jüngste drei – und mit allen Sorgen von einem Tag auf den anderen alleine zurück. In der neuen Umgebung kam sie sich wie verloren vor. Es ist ihr nie gelungen, sich an den europäischen Lebensstil zu gewöhnen, auch wenn sie sich sogar taufen ließ und den Namen Marie Thekla annahm. Ganz im Gegenteil beeinflusste sie jedoch mit dem Geist des Orientalismus das Leben ihrer Familie. Sie wirkte jedoch angeblich immer wie das achte Kind und ein Familienleben als solches existierte auf dem Schloss eigentlich nicht. Sie verfügte im Grunde über gar keine wirtschaftlichen Fähigkeiten und war darüber hinaus auch wenig praktisch veranlagt. Dessen ungeachtet überlebte sie ihren Mann um 35 Jahre, und übersiedelte im Alter zu ihrer Tochter nach Wien. Ihr ältester Sohn Johannes erbte von ihr nicht nur das orientalische Aussehen, sondern auch ihr „praktisches“ Talent, sodass sich der ehemals ansehnliche Besitz der Coudenhove nach und nach aufzulösen begann. Mehr Aufmerksamkeit als der Verwaltung der Familiengüter widmete Johannes der großen Bibliothek, dem Studium und seinen Hobbys, vor allem der Heraldik und der Hippologie sowie diversen Ausgrabungen. Auch für einen Aristokraten war er ein wenig exaltiert. Auf dem Schloss ließ er sich einen überlebensgroßen Kachelofen in Menschengestalt errichten. Sein Lieblingsgegenstand unter seinen Altertümern war eine ägyptische Mumie, die er ständig mit sich führte. Vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges versteckte er sie unter dem Fußboden der Schlosskapelle, wo sie im Jahr 1970 aufgefunden wurde und von dort in die medizinische Fakultät in Pilsen gelangte. 268

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Als er 22 Jahre alt war, heiratete er die um zwei Jahre ältere Lilly Steinschneider, die Kunstreiterin in einem Zirkus sowie eine große Bewunderin der Luftfahrt und des Fallschirmspringens war. Sie war zwar äußerst arbeitsam und zielstrebig, ihre Kraft und ihr Einsatz reichten aber dennoch nicht aus, dem Verfall des Familienvermögens entgegenzuwirken. Sie war Ungarin mit jüdischen Wurzeln und während des Krieges bestand nicht nur für sie, sondern auch für ihre gemeinsame Tochter Marie-Electa die Gefahr, in ein Konzentrationslager verschleppt zu werden. Johannes Coudenhove-Kalergi tat, was in seiner Macht stand, um die beiden davor zu bewahren. Unter anderem trat er auch der NSDAP bei, obwohl er sich vorher überhaupt nicht für Politik interessiert hatte. Im Jahr 1943 gelang es ihm schließlich, eine Bestätigung über Lillys arische Abstammung zu erwirken, worauf er sie und Marie-Electa nach Italien schickte, wo sie in relativer Sicherheit waren. Nach dem Krieg musste er als Deutscher die Tschechoslowakei gleich in der ersten Welle verlassen und konnte auch noch froh sein, dass es ihm gelang, mit heiler Haut davonzukommen. Ein ganz anderes Schicksal war seinem Bruder Richard bestimmt, der zu den bemerkenswertesten Persönlichkeiten dieses Geschlechts zählt. Im Jahr 1923 gründete er die Paneuropa-Bewegung, als deren Präsident er sich für die Schaffung einer demokratischen Union europäischer Staaten einsetzte. Die Nationalsozialisten konnten ihm das nicht verzeihen, weshalb er nach dem Anschluss Österreichs in die Schweiz fliehen musste. Um ganz sicher zu gehen, ging er etwas später in die Vereinigten Staaten, wo er während des Krieges an der New Yorker Universität Geschichte lehrte. Nach dem Krieg kehrte er nach Europa zurück, um hier seinen großen Traum – die Einigung eines demokratischen Europa – zu verwirklichen. Johannes, der dem Zauber einer Kunstreiterin erlag, war nicht der Einzige unter den Brüdern, der eine nichtadelige Frau bürgerlicher Abstammung geheiratet hatte. Karl Heinrich und Richard taten es ihm gleich. Richards Frau war die um dreizehn Jahre ältere Schauspielerin Ida Klausner, die unter ihrem Künstlernamen Ida Roland auftrat. Nach ihrem Tod heiratete er seine zweite Frau Alexandra Bally, die ebenfalls starb, sodass er im Alter von 75 Jahren nochmals vor den Traualtar trat. Seine dritte Frau, Melanie Hoffmann, war um 15 Jahre jünger. Einzig Gerolf ging eine Ehe ohne Standesunterschied ein. Er heiratete Sophie Marie, die Tochter von Graf Pálffy und Gräfin Wurmbrand-Stuppach, in deren Besitz sich Schloss Bresnitz befand. In den Jahren 1926 bis 1937 wurden ihnen 269

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3. Graf Gerolf Coudenhove-Kalergi mit Gattin Sophie Marie, geborene Gräfin Pálffy, auf Schloss Bresnitz, dass bis zum Jahr 1945 im Besitz der Familie Pálffy war.

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vier Kinder geboren – Hans Heinrich, Karl Jakob, Barbara und Michael. Gemeinsam mit ihnen kehren wir wieder zum Anfang des Kapitels zurück. Barbara Coudenhove-Kalergi wohnt in einem alten Haus im historischen Teil Wiens, in einer belebten Straße mit einigen netten Geschäften, die nicht dem apokalyptischen Tempo der Großstadt ausgesetzt sind. Ihre kleine Wohnung bezeichnet sie als Boudoir, und auch wenn dieser Begriff nicht genau das beschreibt, was man sich darunter vorstellt, so drückt er doch mit Sicherheit aus, 4. Gerolf und Sophie Marie mehrere Jahre welche Bedeutung dieser Ort für sie später in Wien hat – es ist ihr Zuhause. Ein großer Raum dient ihr gleichzeitig auch als Arbeitszimmer. Darin befindet sich neben einer umfangreichen Bibliothek ein großer Schreibtisch. Daneben steht ein fahrbarer Hängeordner, in dem sie allerlei Informationen wie etwa Daten und Adressen aufbewahrt, die sie für ihre Arbeit als Journalistin benötigt. Antiquarische Möbel oder Bilder in goldenen Rahmen, die an das Vermächtnis ihrer Vorfahren und an die Bedeutung ihres Geschlechts erinnern würden, sind nirgends zu sehen. Die Wände zieren nur moderne Gemälde. Eine Ausnahme bildet eine Zeichnung des Schlosses Bresnitz, die Stätte ihrer Jugend, wohin sie in den Ferien zu ihrem Großvater aus der Familie Pálffy fuhr, und darunter eine hinter Glas eingerahmte Fotografie aus dem Familienalbum – der Vater, die ganze Familie und die japanische Großmutter Mitsu. „Wir waren auf gar keinen Fall eine reiche Familie. In der Generation meines Vaters gab es sieben Kinder, der älteste Sohn bekam Ronsperg, die anderen haben nichts geerbt“, fügte sie hinzu. „Wir haben in Prag gelebt, mein Vater war an der japanischen Botschaft beschäftigt, hielt an der Universität Vorlesungen über Orientalistik und unterrichtete Japanisch. Während des Zweiten Welt271

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krieges wurde er mit seinen 44 Jahren zur Armee einberufen und nach Belgien geschickt. Er lehnte es jedoch ab, in der Uniform der deutschen Okkupationsmacht gerade in Belgien stationiert zu sein, das überhaupt nichts für den Krieg konnte und das auch noch dazu das Land seiner Vorfahren war. Lieber meldete er sich an die russische Front, wenn er schon an diesem Krieg teilnehmen musste. Nach dem Attentat von Graf Stauffenberg auf Hitler im Jahr 1944 wurde er allerdings aus der Armee entlassen, denn Hitler misstraute dem Adel. Außerdem haftete noch ein weiterer Makel an ihm, denn sein Bruder Richard, der Gründer der Paneuropa-Bewegung, bemühte sich während des Zweiten Weltkrieges in den Vereinigten Staaten um die Gründung einer österreichischen Exilregierung.“ „Also zum Beginn des Prager Aufstandes 1945 war ihr Vater wieder in Prag?“ „Ja, zu dieser Zeit war unsere Familie bis auf meinen ältesten Bruder Hans wieder komplett. Kurz davor war nämlich der 16-jährige Jakob aus Jugoslawien zurückgekehrt, wo er bei der Fliegerabwehr gewesen war, weil die Deutschen auch die jungen Burschen eingezogen hatten.“ „Wenn ich es richtig verstehe, dann erstreckte sich die Wirksamkeit des Erlasses des Reichsinnenministers vom April des Jahres 1939 auch auf Ihre Familie. Demzufolge wurden alle tschechoslowakischen Staatsangehörigen deutscher Nationalität, die in Böhmen, Mähren und Schlesien heimatberechtigt waren, automatisch reichsdeutsche Staatsbürger. Mit allen Rechten und Pflichten, einschließlich des Kriegsdienstes.“ „Die Deutschen der böhmischen Länder konnten nach dem Einmarsch der Deutschen in die Tschechoslowakei wählen, ob sie sich zum Deutschtum bekennen oder ob sie Tschechen sein wollten. Mein Vater hat damals erklärt: ,Wir sind weder das eine noch das andere. Wir sind‘, um es mit dem Philosophen der Aufklärung Bernard Bolzano zu sagen, ,Böhmen deutscher Zunge.‘ Später, als er schon als alter Mann ständig in Österreich lebte, behauptete er konsequent, dass er einer aussterbenden Art angehöre und ein ‚homo bohemicus extinctus‘ sei.“ „In Ihren Erinnerungen erwähnen Sie, dass Sie am 5. Mai 1945, als in Prag der Aufstand ausbrach, aus Ihrer Wohnung geholt und eingesperrt wurden …“ „Damals näherten sich die Alliierten von der einen und die Rote Armee von der anderen Seite. Die Deutschen aus dem Altreich, die in der Protektoratsverwaltung gearbeitet hatten, verließen die Stadt rechtzeitig, ebenso wie die Nazis. Sie wussten, was sie erwartet hätte. Meine Eltern sind in ihrer Naivität aber geblieben, ans Fortgehen haben sie nicht gedacht. ,Wir haben vor Hitler hier 272

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5. Sophie Marie Coudenhove-Kalergi mit den Kindern Hans Heinrich, Karl Jakob und Barbara

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gelebt‘, beteuerten sie, ,wir werden auch nach ihm noch hier sein.‘ Die Wirklichkeit sah jedoch anders aus. Nach einer sechs Jahre dauernden Okkupation hat sich der Hass auf jene Deutschen entladen, die geblieben sind. Die Mitglieder des Nationalausschusses und die Revolutionsgarden haben uns zusammen mit weiteren Deutschen aus unserem Viertel von zu Hause weggebracht und uns in die nahe Straßenbahnremise im Prager Stadtteil Smichov eingesperrt. Wir haben weder Gepäck noch Verpflegung mitgenommen. Wir sind davon ausgegangen, dass wir bald wieder nach Hause zurückkehren können. In der Zwischenzeit ist auf den Straßen der Wahnsinn ausgebrochen, es gab Tote. Zu uns in die Remise brachte man Verletzte. Wir saßen auf dem Betonboden und warteten, auch wenn wir nicht wussten, worauf. Am dritten Tag teilte man uns mit, dass die Führer des Aufstandes beschlossen hatten, den deutschen Einheiten den Abzug unter der Patronanz des Roten Kreuzes zu gestatten. Wer wollte, konnte sich ihnen anschließen. Meine Eltern wollten. Beide waren sehr ruhig, fast schon stoisch, sie haben die Dinge so genommen, wie sie sind, aber Prag zu verlassen war für sie äußerst schmerzvoll. All das ging ohne ein Anzeichen von Bosheit oder Trauer vor sich, sodass auch wir Kinder ruhig und gefasst waren. In der darauffolgenden warmen Nacht traten wir vor das Gebäude und sahen die abziehenden deutschen Soldaten in langen Kolonnen an uns vorübermarschieren, denen sich die Zivilisten in Scharen anschlossen. ,Warum müssen wir eigentlich jetzt weg?‘, fragte ich meinen Vater. Seine Antwort war wie immer philosophisch: ,Das ist der Lauf der Geschichte, Barbara‘, antwortete er. ,Durch die Geschichte sind wir in dieses Land hereingekommen und durch die Geschichte müssen wir auch wieder hinaus.‘ Es kam mir so vor, als ob ich etwas Derartiges geahnt hätte. Einige Tage vorher war ich auf einer Moldaubrücke gestanden, vor mir das Panorama der Prager Burg und die Kleinseite, wo gerade der weiße und violette Flieder in voller Blüte stand, und flüsterte leise vor mich hin: ,Schau genau hin, damit du dich daran für immer erinnern kannst. Etwas derartig Schönes wirst du niemals, niemals wiedersehen.‘ In der Zeit vor unserer Vertreibung war ich leidenschaftlich in meine Vaterstadt verliebt … Sie barg für mich eine gewisse Faszination. Für mich war es ein Abenteuer, nach der Schule nicht auf direktem Wege nach Hause zu gehen, sondern ungeachtet des Verbots meiner Eltern durch die Straßen und um die Ecken der Kleinseite und der Altstadt zu streifen. Ich freute mich darauf, dass ich einmal, wenn ich groß sein würde, durch alle Straßen, über alle Plätze, zu allen 274

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Höfen, Kirchen und Palais gehen und auch alle damit in Verbindung stehenden Geschichten kennenlernen würde. Genau so, wie sie auch mein Vater kannte. Als Deutsch sprechende Prager Kinder beherrschten wir Tschechisch zwar eher schlecht, dafür aber fließend und beinahe ohne Akzent. Wenn uns aber jemand als „Sudetendeutsche“ bezeichnete, haben wir uns wütend dagegen gewehrt. Nein, wir waren keine Sudetendeutschen, die wir nicht leiden konnten, wir waren Prager. Jeder, dessen Wurzeln woanders liegen als dort, wo man lebt, muss sich eine eigene Identität suchen, muss sie selbst entdecken, nur… wo lagen meine Wurzeln? Meine Vorfahren kamen aus Brabant und von Kreta, aus Polen und Frankreich, Ungarn und Deutschland, sogar aus Japan. Ich fühlte, dass die Wurzeln meines Denkens in Prag liegen, aber überzeugend von ,Heimat‘ oder ,Vaterland‘ zu sprechen habe ich nie gelernt. Ich erinnere mich besonders an einen Tag in der Deutschen Schule in Prag am Beginn der 1940er-Jahre. In die Klasse kam irgendein Mann vom Amt des Reichsprotektors in einer nationalsozialistischen Uniform mit Aufschlägen der Partei. Er sprach mit reichsdeutschem Akzent und seine Rede schloss mit dem Satz: ,Ihr, deutsche Kinder, dürft niemals vergessen, dass ihr euch hier in Böhmen in Feindesland befindet.‘ Ich bin zu Tode erschrocken. Mein Prag? Feindesland? Es kam mir so vor, als ob sich meine Mitschüler nicht viel daraus machten. Mehrheitlich handelte es sich um Kinder deutscher Funktionäre aus dem Altreich oder sie stammten aus tschechischen Familien, deren Eltern einen Nutzen aus der Germanisierung ziehen und ihren Kindern eine bessere Ausbildung ermöglichen wollten. Ich habe davon zu Hause erzählt und meine Mutter hat mich beruhigt. ,Das ist Unsinn‘, sagte sie. ,Du bist hier in keinem feindlichen Land. Das hier ist dein Zuhause. Oder denkst du etwa, dass Mařenka, unsere allerliebste Köchin, ein Feind ist?‘ Selbstverständlich habe ich nichts Derartiges gedacht. Aber dieses giftige Wort konnte ich ebenso wie die darüber entstandene Verwirrung nicht vergessen.“ „In dieser Nacht haben Sie sich also den Menschenmassen angeschlossen, die Prag verlassen haben. Was ist dann passiert?“ „Zusammen mit den Soldaten und anderen Zivilisten gingen wir bis nach Rokitzan in Westböhmen. Die Soldaten haben uns manchmal ein Stück mit ihren Fahrzeugen mitgenommen, aber das war nur selten der Fall. Den Großteil der Strecke sind wir zu Fuß gegangen und meine Mutter so, wie sie von zu Hause weggegangen war, in leichten Hausschuhen, die sie sie nicht mehr hatte 275

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wechseln können. Es war ein langer und auszehrender Weg. In den Wäldern entlang der Straße hielten sich Angehörige der Wlassow-Armee versteckt, die gelegentlich auf uns schossen und einige Menschen aus unserer Kolonne töteten. In Rokitzan kamen wir in ein Internierungslager, wo wir mehr oder weniger in Sicherheit waren. Die Amerikaner betrauten meinen Vater mit der Leitung des Lagers und mein Bruder Jakob arbeitete im Lazarett. Wir sind nicht lange im Lager geblieben, nur etwas mehr als zwei Wochen. Dann konnten wir weiter und zwar über Bayern nach Österreich, wieder mehr oder weniger zu Fuß. Der Grenzübergang bei Freilassing wurde von einem amerikanischen Soldaten bewacht, einem Schwarzen, groß wie ein Baum. ,Wir wollen nach Österreich‘, sagten wir zu ihm. Freundschaftlich zwinkerte er uns zu, streckte seinen riesigen schwarzen Daumen Richtung Salzburg und sagte nur: ,Good luck.‘ Eine Minute später waren wir in Österreich. In der Nähe von Salzburg hatte mein Großvater, Graf Pálffy, ein Jagdschloss, ein Haus in den Bergen, das er zur Gämsenjagd nutzte. Dort sind wir für die erste Zeit, bis sich entschieden hatte, wie es weitergehen sollte, eingezogen. Wir waren Heimatlose, Ausgesiedelte. Eines Tages war in einiger Entfernung im Tal eine Gestalt in Uniform auszunehmen, die sich uns näherte. Meine Mutter klagte: ,Wieder irgendein Soldat! Wo werden wir ihn denn nur unterbringen und womit werden wir ihn versorgen? Wir haben doch nicht einmal für uns selbst genug..., aber wir müssen ihm doch irgendwie helfen.‘ Als dieser Soldat immer näher kam, wich ihre Sorge unermesslicher Freude. Mein ältester Bruder Hans war nämlich aus der amerikanischen Gefangenschaft entlassen worden. Alle aus unserer Familie hatten den Krieg wie durch ein Wunder heil überstanden. Nach und nach konnten wir Fuß fassen, meine Brüder fanden Arbeit bei den Amerikanern, Jakob erhielt sogar ein Stipendium, worauf er in den USA studierte. Mein Vater arbeitete in Graz für eine kirchliche Organisation, die sich darum bemühte, kriegsversehrten Menschen zu helfen, eine Anstellung zu finden oder ein Stück Land zu bekommen.“ „Was haben Sie in dieser Zeit gemacht?“ „Ich war damals gerade einmal zwölf Jahre alt, ich ging in Salzburg zur Schule. Von Anfang an habe ich mich in der neuen Umgebung, umringt von Bergen, die einem die freie Sicht versperrten, sehr unglücklich gefühlt. In Wirklichkeit war es dort wunderschön, mein Traum aber hieß Prag. Wenn mich niemand sah, weinte ich vor Heimweh. Erst ein paar Jahre später – ich wohnte damals bereits in Wien – habe ich begonnen, Österreich zu lieben, vor allem dank der 276

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Literatur. Ich habe Joseph Roth, Robert Musil, Arthur Schnitzler, Karl Krauss und Fritz von Herzmanovsky-Orlando entdeckt. In ihren Werken habe ich die letzten Spuren des großen Österreich entdeckt, von dem ich und meine Freunde fasziniert waren und dessen Spuren wir überall suchten – in der Architektur, in den Kaffeehäusern und in der Mentalität der Menschen.“ Sie lernte Englisch, wollte Übersetzerin werden und studierte gleichzeitig Soziologie, was sie aber wieder aufgab. Sie wechselte mehrere Anstellungen bis sie das Richtige fand – sie begann, für eine Wiener Zeitung zu schreiben. Das traditionelle adelige Leben interessierte sie nicht sehr, für sie stand die Politik im Mittelpunkt. Sie war keine Konservative, ihr späterer Mann war übrigens Jude, was auch nicht den traditionellen Vorstellungen einer adeligen Lebensführung entsprach. Sie reiste oftmals in die kommunistischen Länder, in die Tschechoslowakei, nach Polen und Ungarn, wo sich aus der Sicht einer Journalistin viel Interessantes tat. Dort wurde wirklich Geschichte geschrieben und sie hatte noch dazu den Vorteil, tschechisch und ungarisch zu sprechen. Sie hat eine „Nase“ für gewisse Ereignisse, das richtige Gespür oder den richtigen Riecher, wichtige und unwichtige Dinge auseinanderzuhalten, sowie die Fähigkeit, ihre Entscheidungen schnell zu treffen. Sie hat überdies die Gabe, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, mit denen sie ein Gespräch führt und gleichzeitig objektiv und unparteiisch zu bleiben. Ebenso wie ihr einige Rechtsstehende vorhielten, relativ links zu sein, behaupteten wiederum die Linken von ihr, rechte Ansichten zu vertreten und im Grunde keine Linke zu sein. Sie war Zeugin der wichtigsten historischen Ereignisse in Polen und der Tschechoslowakei. Sie war dabei, als Papst Johannes Paul II. zum ersten Mal das kommunistische Polen besuchte, erlebte die Formierung der polnischen Undergrundbewegung mit und stand im Kontakt mit deren wichtigsten Exponenten. Sie fehlte auch nicht, als im Jahr 1980 die unabhängige Solidarność in Danzig gegründet wurde. In Wirklichkeit hatte sie davon bereits vorher in einem Gespräch mit Adam Michnik erfahren, zu einer Zeit, als sie bereits als Redakteurin für den Österreichischen Rundfunk arbeitete. „Ende der 1970er-Jahre hat mir Michnik bei einem Treffen anvertraut, dass sie im darauffolgenden Jahr die Gründung der freien Gewerkschaften angehen wollten. Ich meinte, dass er sich viel zutrauen würde. Zuvor hatten sie nur für höhere Löhne gestreikt, was für das Regime noch annehmbar gewesen war, möglicherweise hätte man für die Gewährung größerer Freiheiten im Bereich der Kultur streiken können, etwas Derartiges hätten die Russen, die über alles 277

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entschieden, ja noch erlaubt. Aber freie Gewerkschaften? In einem totalitären Regime? Eine Utopie! Bald darauf berichteten die Nachrichtenagenturen, dass in Polen wieder gestreikt wurde. Vielleicht war doch etwas an dem dran, was Michnik gesagt hatte, kam mir in den Sinn. In Danzig ging es nicht nur um Geld, sondern tatsächlich um einen unabhängigen Gewerkschaftsbund, um eine bedeutende politische Forderung. Ich habe alles stehen und liegen gelassen, setzte mich in ein Flugzeug und flog nach Danzig. Wenn ich dort nicht überhaupt die erste ausländische Journalistin war, so war ich doch bestimmt eine der ersten. Ich denke gerne daran zurück. Meine Arbeit dort war wichtig und interessant, auch wenn die Bedingungen dafür in Danzig nicht gerade ideal waren, weil man von dort aus nicht ins Ausland telefonieren konnte. Das verkomplizierte für uns das Leben doch einigermaßen. Unser Arbeitsprogramm war demnach recht anspruchsvoll und sah folgendermaßen aus: In der Werft in Danzig haben wir uns den ganzen Tag über darum bemüht, so viele Informationen wie möglich zu erhalten. Am Abend haben wir uns ins Taxi gesetzt und sind in unser Hotel nach Warschau zurückgefahren, eine Fahrt, die rund vier Stunden in Anspruch genommen hat. Während der Nacht haben wir mit dem Material einen Beitrag gestaltet und ihn augenblicklich an die Redaktion nach Wien gesandt, da nämlich im Hotel eine internationale Telefonverbindung existierte. Während der Österreichische Rundfunk unser Material am Morgen sendete haben wir uns wieder mit dem Taxi auf den vierstündigen Weg von Warschau nach Danzig gemacht. Das hat sich so lange wiederholt, wie es von dort etwas zu berichten gab. Dafür muss man aber jung sein“, lachte sie, „um eine solche Anspannung über einen längeren Zeitraum auszuhalten. Dafür erwartete mich nach meiner Rückkehr nach Wien eine Überraschung. Im ORF war man zur Überzeugung gelangt, dass unsere Nachrichten originell waren, wir mehr Information hatten und allgemein eine bessere Berichterstattung lieferten als etwa unsere deutschen Kollegen, weshalb sie mir eine Stelle anboten. Ich habe selbstverständlich angenommen.“ Jahre zuvor, im August 1968, fuhr sie mit ihrem angehenden Mann auf Urlaub nach Italien. Als sie von der Okkupation der Tschechoslowakei durch die Truppen des Warschauer Pakts erfuhr, brach sie augenblicklich den Urlaub ab und fuhr nach Prag. „Ich hatte geglaubt, dass sich der Kommunismus reformieren ließe“, bekannte sie, „dass es mehr Gleichheit und soziale Gerechtigkeit im Westen und mehr Demokratie im Osten geben werde.“

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Von Italien aus fuhren sie an die tschechoslowakische Grenze, wo man ihr jedoch die Einreise verwehrte, sodass sie von einem Grenzübergang zum nächsten fuhren. Dabei handelte es sich nicht um ihre erste Fahrt nach Prag, sie war bereits während des Prager Frühlings dorthin gereist, hatte auch die Veröffentlichung des Manifests der 2000 Worte nicht versäumt, das von den bedeutendsten Vertretern der tschechischen Wissenschaft und Kultur unterzeichnet, aber von den Kommunisten als kontrarevolutionäres Pamphlet erachtet worden war. Auch im Jänner 1969, als Jan Palach Selbstmord verübte, indem er sich auf dem Wenzelsplatz selbst verbrannte, war sie in Prag. Dann wurde ihr die Einreise in die Tschechoslowakei bis in die 1980er-Jahre untersagt. „In dieser Zeit ist es uns gelungen, einige interessante Dinge zu drehen, da­ runter auch einen Film über die Tschechoslowakei, der im österreichischen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Er trug den Namen Herbst in Böhmen und beginnt damit, dass sich die Leute in den Städten am Freitagnachmittag mit ihrem Auto auf den Weg in ihr Wochenendhaus machen. Das erschien mir sehr charakteristisch zu sein, denn viele Menschen haben sich damals ihr Privatleben in der typischen ‚chata‘ aufgebaut. In diesem Film konnte man selbstverständlich nicht die ganze Wahrheit sagen, aber es gelang uns beispielsweise, ein Interview mit dem früheren Außenminister Jiří Hájek zu drehen, einem Gegner des sowjetischen Einmarsches in die Tschechoslowakei und ein Unterzeichner der Charta 77. Das Gespräch fand auf dem Friedhof des Prager Vyšehrad, dem Slavín, statt. Die Umstände waren beinahe schon verschwörerisch. Unser tschechischer Begleiter, der uns zugeteilt wurde, um uns zu überwachen, durfte davon freilich nichts wissen, denn da hätte man sofort Verdacht schöpfen können.“ „Sie hatten einen Begleiter, als Sie den Film drehten?“ „Ohne ihn durften wir keinen einzigen Schritt machen. Aber dieses Mal konnten wir ihn irgendwie loswerden, ich weiß nicht mehr genau, wie wir das gemacht haben. Er war sehr streng, sehr konsequent, hatte genaue Anweisungen erhalten und hatte seine Vorstellung, wie ein solcher Film über die Tschechoslowakei aussehen sollte. Unter anderem wollten wir Einstellungen über alte, aber prächtig renovierte Häuser drehen. Er aber lehnte das energisch ab: ,Nein, nein, nein. Filmen Sie etwas Zeitgenössisches, etwas Modernes.‘ Und damit führte er uns zu einer riesigen, grauen Plattenbausiedlung, damit das Ausland erfährt, wie gut man in der Tschechoslowakei lebte.“ Sie gehörte zu den am besten informierten Journalisten, mit ihren aktuellen und interessanten Sendungen erweckte sie beträchtliche Aufmerksamkeit. In 279

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West- und Südböhmen, aber auch in Südmähren, wo man Abend für Abend österreichische Nachrichten sah, war sie populär, die Menschen kannten sie vom Bildschirm, bei einem Treffen auf der Straße grüßten sie sie und waren zu ihr, wie sie sagte, sehr freundlich. „Zur Zeit des Kommunismus haben Sie die meisten tschechoslowakischen Dissidenten kennengelernt und auch Václav Havel interviewt. Wann haben Sie sich getroffen?“, fragte ich sie. „Es muss kurz nach seiner Rückkehr aus dem Gefängnis gewesen sein, etwa ein Jahr vor der Samtenen Revolution. Damals durfte ich wieder in die Tschechoslowakei reisen, aber wann genau es war ..., Jahreszahlen sind nicht meine Stärke“, lächelte sie. „Bis zum Jahr 1989 war ich in Polen, dann fuhr ich nach Berlin und war dabei, als die Mauer fiel. Als das kommunistische Regime in der Tschechoslowakei in den letzten Zügen lag, während der Samtenen Revolution, stand ich am Wenzelsplatz und verfolgte mit Staunen, wie sich das Denkmal des Heiligen Wenzel Tag für Tag mehr in eine Wallfahrtsstätte verwandelte, das über und über mit Blumen, Kerzen, Plakaten und Bildern von Václav Havel bedeckt war. Und auf der Lanze des Heiligen Wenzel wehte ein Banner, das Freie Wahlen forderte. Kurz darauf hat der ORF in der tschechoslowakischen Hauptstadt ein Korrespondentenbüro eingerichtet und mir die Leitung angeboten. Mit einem Mal lebte ich wieder in Prag, in einer eingerichteten Wohnung an der Moldau. Endlich konnte ich nach Belieben durch die Stadt gehen, habe alle Gässchen und Winkel kennengelernt, so wie ich es mir früher gewünscht hatte. Ich ging hinauf zum Kloster Strahov und sah hinunter auf die Stadt. Wieder blühte der Flieder und ich stellte mir selbst die Frage: ,Ist das ein Arbeitsaufenthalt oder eine Rückkehr in die alte Heimat?‘ Gemeinsam mit einer Freundin namens Věra, einer Ärztin, eine von denen, die im Jahr 1968 bei mir in Wien waren, die über die Emigration nachdachten und sich dann doch zur Rückkehr entschlossen, habe ich Luftschlösser gebaut. Was wäre, wenn ich mir eine kleine Wohnung nehme, um zwischen Wien und Prag hin und her zu pendeln? Warum sollte es nicht möglich sein, zwei Vaterländer und Wurzeln in zwei Städten zu haben? Warum sollte es nicht möglich sein, eine doppelte Identität zu bekommen? Věra rief gelegentlich an und versuchte mich schwach zu machen: ,Ich habe etwas für dich in einem alten Haus gefunden. Es ist genau das Richtige.‘ 280

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Eines Tages erzählten sie und andere Freunde mir über ihre Kindheit in der Protektoratszeit. Die Welle des Terrors gegen die tschechischen Patrioten nach dem Attentat auf Reichsprotektor Heydrich habe ich als 10-Jährige aus sicherer Entfernung miterlebt, ohne die geringste Ahnung davon zu haben. Für sie aber war das eine Zeit des Schreckens, eine Zeit der Nachstellungen und eine Zeit der Hinrichtungen im engsten Familien- und Freundeskreis. Nach solchen Gesprächen haben wir uns angesehen und zueinander gesagt: ,Wir sind in der gleichen Stadt aufgewachsen, aber wir hätten genauso gut in verschiedenen Erdteilen leben können.‘ Ich habe ihnen von der Vertreibung der Deutschen erzählt, worüber wiederum sie kaum etwas wussten. Meine tschechische Kollegin aus der Redaktion sagte eines Tages zu mir: ,Erst jetzt, als ich dich kennengelernt habe, habe ich darüber ein Buch gelesen und erfahren, dass drei Millionen Menschen vertrieben wurden. Ich habe immer gedacht, dass es nur ein paar Nazis waren, die sowieso nach Deutschland zurückkehren wollten.‘ Ich habe gelernt, Prag auf zweierlei Arten zu sehen und es wurde mir mehr und mehr klar, dass aus meinem Wunsch nach einer zweifachen Identität nichts werden konnte, dass es mir nicht vergönnt war, nach Prag wie in eine Heimat zurückzukehren. Zu Besuch, das ja, aber nicht als ein Zuhause. Die Zeiten, in denen Prag eine tschechische und gleichzeitig eine deutsche Stadt war, eine Stadt mit zwei Kulturen, sind für immer vergangen. Das war mir auf einmal klar und was vergangen war, das konnte nicht wieder zu neuem Leben erweckt werden. Sofort nach der Beendigung des Vertrages mit dem ORF bin ich nach Wien zurückgekehrt, ohne dass ich mich darum bemüht hätte, in Prag einen zweiten Wohnsitz zu begründen. Ich wusste jetzt genau – meine Stadt ist Wien. Ich fahre zwar gelegentlich nach Prag, wo ich immer noch Freunde habe. Der Traum aber, in dem ich zitternd vor Aufregung durch die Straßen meiner Vaterstadt gehe, ist nicht mehr zurückgekehrt. „Für Ihre Reportagen über die politischen Ereignisse in der Tschechoslowakei und der DDR wurden Sie in Österreich zur Frau des Jahres gekürt. Einige Jahre später wollten Sie die Grünen als Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten nominieren.“ „Nun ja, aber diese Wahl hätte ich nie gewinnen können, meine Chance lag bei etwa 25 Prozent. Der damalige Präsident Thomas Klestil hatte bereits eine Amtszeit hinter sich, er wurde auch für eine zweite vorgeschlagen und es gab keinen Gegenkandidaten. Ich wäre für die Grüne Partei in Frage gekommen, 281

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auch für die Sozialdemokraten und die Liberalen, vielleicht auch für einen Teil der katholischen Wähler. Sie haben deshalb geglaubt, dass eine gewisse Chance bestünde. Aber die Kandidatur habe ich ausgeschlagen.“ „Im Jahr 2001 wurde Ihnen für Ihre hervorragenden Verdienste um die Demokratie und um die Menschenrechte eine hohe tschechoslowakische Auszeichnung, der Masaryk-Orden, verliehen. Es muss für Sie ein großartiges Gefühl gewesen sein, ihn aus der Hand von Präsident Havel im Wladislawsaal auf der Prager Burg entgegenzunehmen.“ „Natürlich war ich darüber sehr erfreut, auch wenn ich Ehrungen dieser Art nicht sehr gerne habe. Havel schätze ich sehr und ich habe die Verleihung auch als symbolische Geste verstanden. Ihm war höchstwahrscheinlich bekannt, dass ich aus Prag vertrieben worden war. Die Medaille war für mich ein Symbol der Versöhnung.“ „Schloss Ronsperg war im Besitz der Familie Coudenhove-Kalergi. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es verstaatlicht. Sehnen Sie sich nicht nach einem Leben in einem Schloss?“ „Die Restitution des Schlosses hat mich im Grunde nicht wirklich interessiert, denn in Ronsperg lebte Johannes, der älteste Bruder meines Vaters. Uns war Bresnitz immer näher, das Großvater Pálffy gehörte, dem Vater meiner Mutter. Dort sind wir als Kinder immer hingefahren. Einer meiner Brüder war einmal in Ronsperg und hat es sich angesehen, aber um eine Rückgabe haben wir uns nicht bemüht. Was sollte ich heute mit einem Schloss anfangen? Der Krieg und der Nationalsozialismus haben ganz Europa verändert, man kann heute nicht sagen: ,Ich will meinen Garten zurückhaben.‘ Jeder soll hier freilich nach seiner eigenen Überzeugung handeln, aber für mich ist das Kapitel abgeschlossen.“ Am Beginn des Jahres 2002 hat die FPÖ in Österreich die Abhaltung eines Referendums durchgesetzt, das unter dem Motto Veto gegen Temelín stand, mit dem die damalige Anti-Atomkraft-Kampagne ihren Höhepunkt erreichte. Mir sind die Anfänge der Errichtung des Kraftwerkes noch in Erinnerung und ich weiß, welche nicht wiedergutzumachende Schäden der zauberhaften südböhmischen Landschaft zugefügt wurden, noch bevor das Kraftwerk in Betrieb genommen wurde. Vom ersten Augenblick an erachtete ich es daher als Beispiel für den Sieg wirtschaftlicher Interessen, für eine typische Megalomanie. Die erwähnte Aktion der Freiheitlichen hatte vor allem einen politischen Hintergrund. Jede einzelne Unterschrift wurde als Stimme gegen den Beitritt 282

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der Tschechischen Republik zur Europäischen Gemeinschaft interpretiert. Gegen dieses Veto stellten sich 38 herausragende Persönlichkeiten aus Österreich, die ein überparteiliches Komitee mit der Bezeichnung Stimmen für Europa gründeten. Mit ihrem Motto „Veto – nein, danke“ sprachen sie sich für die Erweiterung der Europäischen Union und gegen die Isolationstendenzen Österreichs aus. Eine dieser 38 Personen war auch Barbara Coudenhove-Kalergi. Ein halbes Jahr später fand sich ihr Name wieder in den Zeitungen und auch im Fernsehen, dieses Mal im Zusammenhang mit dem gerade gegründeten Österreichisch-Tschechischen Dialogforum. Mitglieder des Forums waren österreichische und tschechische Politiker, Geistes- und Naturwissenschaftler, Vertreter von NGOs und Publizisten. „Der Sinn des Forums besteht darin, gemeinsame Aktivitäten zu organisieren und niemandem zu weichen, der uns verbal attackiert“, sagte sie bei dieser Gelegenheit. „Es geht uns nicht um Restitution, um Geld und schon gar nicht um die Infragestellung der Nachkriegsordnung. Unser Ziel ist es, einen Beitrag zur Verbesserung der gemeinsamen Beziehungen zwischen Österreich und der Tschechischen Republik zu leisten, von Beziehungen, zu deren Verschlechterung Politiker auf beiden Seiten der Grenze beigetragen haben.“ Nach dem Treffen mit Barbara Coudenhove-Kalergi reizte es mich, auch ihre drei Geschwister kennenzulernen. Hans Heinrich lebte in London und war daher im Moment nicht erreichbar, aber Jakob und Michael wohnten in Wien. Es genügte daher, Jakob eine E-Mail zu schicken, während Barbara das Treffen mit Michael arrangierte. Die Autofahrt durch Wien zur Hauptverkehrszeit zählt zu jener Kategorie von Erfahrungen, auf die sich bisweilen auch verzichten lässt – kurzzeitiges Anfahren wechselte sich mit langen Wartezeiten vor den Ampeln ab. Aber sobald wir am Schloss Schönbrunn vorbeigefahren waren, wurde ich bald darauf von einer feierlichen und sorglos-unbekümmerten Atmosphäre ergriffen, die ich an Wien so schätze. Dieses Mal wurde ich von meiner Tochter begleitet, weil ich damit rechnete, dass das Gespräch auf Deutsch geführt würde, denn ihre Sprachkenntnisse sind unvergleichlich besser als meine. Ohne Schwierigkeiten fanden wir einen Parkplatz im Villenviertel, nur ein paar Schritte vom Anwesen mit dem Namensschild von Jakob Coudenhove-Kalergi entfernt. Wir läuteten einige Male, eine Zeit lang zeigte sich niemand, dann erschien eine ältere Dame mit einer Schürze, öffnete die Tür, sah uns etwas misstrauisch an und fragte uns in gebrochenem Deutsch, wen wir suchten. Wir sagten es ihr. 283

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„Er nicht seien hier“, antwortete sie. „Aber er weiß, dass wir kommen. Wir sind mit ihm verabredet“, entgegneten wir. „Nicht seien hier. In Stadt gefahren“, wiederholte sie mit Nachdruck. „Wissen Sie denn nicht, wann er wieder zurückkommt?“ „Ich nicht wissen. Vielleicht Abend.“ „Ist er morgen zu Hause?“ Sie zuckte nur mit den Schultern. „Morgen für lange Zeit wegfahren. Mehrere Tage nicht da.“ Wir warteten ein „Sie brauchen erst gar nicht wiederzukommen“ lieber nicht ab und verabschiedeten uns. Wir wussten nicht, was wir denken sollten. War er zu Hause und ließ er sich verleugnen? Oder hatte er auf uns vergessen? Nur so leicht haben wir freilich nicht aufgegeben und riefen am nächsten Morgen an. Jakob Coudenhove-Kalergi meldete sich mit verwunderter Stimme. Er habe den ganzen Nachmittag auf uns gewartet, warum wir denn nicht gekommen seien. Nach unserer Erklärung seufzte er hörbar. Wann wir denn kommen würden? Wir vereinbarten einen Termin am Nachmittag desselben Tages und dieses Mal traf er wirksame Vorkehrungen – das Tor war offen und zur Sicherheit noch mit einem Stück Holz verkeilt, damit es nicht zufallen konnte. Ich hatte erwartet, nur einen Coudenhove zu treffen, wir aber trafen auch Jakobs älteren Bruder Hans an, der gerade zu Besuch aus London gekommen war. „Jeder von uns ist anders“, hat mir zuvor noch deren Schwester Barbara mit auf den Weg gegeben. Sie hatte recht damit. Sie unterschieden sich nicht nur durch verschiedene Wesenszüge, sie hatten auch unterschiedliche Interessen, ebenso wie sie auf unterschiedliche Weise mit dem Trauma des Verlusts ihrer Prager Heimat umgingen. Jeder von ihnen war freilich zu dieser Zeit in einer ganz anderen Lebenssituation. Hans, kaum dass er das Alter erreicht hatte, in dem aus einem Buben ein Mann wird, wurde zur Wehrmacht eingezogen, noch dazu zu den sogenannten fahrenden Särgen – zu einer Panzereinheit. Er überlebte die Kämpfe an der Ostfront, machte den Rückzug der Armee durch Polen bis nach Deutschland mit und geriet im böhmischen Eger in amerikanische Kriegsgefangenschaft. „Soldaten, die so jung wie ich waren, haben die Amerikaner bald wieder aus den Gefangenenlagern entlassen“, sagte er. „Mich haben sie nach einer Woche wieder entlassen. Dann ist es mir gelungen, mit einem Umweg über Deutschland, wo eine Tante wohnte, weiter zu meinen Eltern nach Österreich zu gelangen.“ 284

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Der um ein Jahr jüngere Jakob besuchte während des Krieges in Prag ein deutsches Gymnasium. Am 1. Jänner 1944 rückte seine ganze Klasse ein. Im Alter von 16 Jahren. Er wurde als Helfer zu einer Fliegerabwehreinheit nach Jugoslawien geschickt, wo sie bis zum März des darauffolgenden Jahres blieben. Wenn sie es überhaupt überlebten. Ihre Reihen wurden zunächst bei einem schweren Artilleriebombardement der Alliierten gelichtet, worauf sich die amerikanischen Piloten im Sturzflug auf sie stürzten. Die dezimierten Einheiten wurden daraufhin aufgelöst und die Buben zurückgeschickt. Man trug ihnen auf, sich bei anderen Truppenteilen zu melden. Dazu kam es nicht mehr, denn am 8. Mai erfolgte die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Über seine Kriegserlebnisse sprach Jakob nicht gerne. Und über seine Vertreibung aus Prag wollte er schon gar nicht reden. „Wundern Sie sich nicht“, erklärte er, „in dieser Remise in Smichov haben wir schreckliche Dinge erlebt, schließlich wurden wir als eine der Ersten dorthin gebracht. Möglicherweise war das unser Glück. Jenen nämlich, die nach uns kamen, erging es schlechter. Drei starben, die Aufseher sind mit ihnen so brutal umgegangen ... Deshalb wollte ich später nicht nach Prag zurückkehren. Ich war selbstverständlich einige Male dienstlich dort, aber das ist etwas anderes. Auch wenn ich im Rahmen der Restitution das Haus in Prag-Košíře oder das Schloss bekäme, ich würde doch nicht für immer dorthin zurückkehren.“ Nur ein einziges Mal wurde er etwas mitteilsamer und erzählte, was vorgefallen war – als ich ihn nach seinen Erlebnissen fragte, die in Zusammenhang mit dem Familiensilber standen. „Wir waren damals im Internierungslager in Rokitzan. Es gab wenig zu essen, die Portionen waren mehr als dürftig. Ich habe damals bei den Amerikanern im Lazarett gearbeitet, sodass ich gelegentlich zusätzlich Brot und andere Nahrungsmittel mitbrachte. Nachdem meine Eltern und Geschwister nach Österreich gegangen waren, bin ich noch im Lager geblieben. Mein Vater meinte nämlich, dass ich versuchen sollte, nach Prag zu gelangen und das von einem tschechischen Freund verwahrte Silber und Geld zu holen. Ich ging daher zu zwei amerikanischen Offizieren, mit denen ich Bekanntschaft geschlossen hatte, einem Major und einem Hauptmann, sagte ihnen, was ich tun wollte und dass es für uns sehr wichtig sei. Sie versprachen, mich mit dem Jeep nach Prag zu fahren, was sie auch wirklich taten. Die hinterlegten Gegenstände habe ich übernommen, aber auf dem Rückweg, knapp vor der russisch-amerikanischen Demarkationslinie, musste ich ihnen vorgeblich schriftlich bestätigen, dass ich ihnen das Silber 285

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und das Geld überlasse, denn ansonsten würden sie mich als ehemaliges Mitglied der Hitlerjugend den Russen übergeben. Ich wusste freilich, was mich erwarten würde, habe ohne Zögern unterschrieben und ihnen alles gegeben. Das hätte sicherlich jeder so gemacht. Für mich war das freilich ein Schock und gleich nach der Ankunft in Rokitzan bin ich zu einem anderen meiner amerikanischen Bekannten gegangen, habe ihm alles erzählt und bat ihn um Rat. Ohne lange zu reden, setzte er mich ins Auto und brachte mich zu ihrem Befehlshaber, in das „headquarters“, nach Pilsen. Kurz darauf wurden beide Offiziere verhaftet und ich habe weitere zwei Monate in Pilsen auf den Gerichtsprozess gewartet. Mein Wort, das Wort eines 17-jährigen Burschen, der die Uniform der Wehrmacht getragen hatte, an einer deutschen Flak Dienst getan und auf amerikanische Flugzeuge geschossen hatte, stand gegen die Aussage zweier amerikanischer Soldaten … Vor Gericht aber galt ich nicht als Feind, dessen einziges Recht es gewesen wäre, den Mund zu halten. Das Gericht verurteilte die beiden Offiziere. Einer musste für zwei Jahre ins Gefängnis, der andere wurde degradiert und aus der Armee ausgestoßen. Das Familiensilber wurde mir zurückgegeben, ebenso wie auch das Geld, nur dass es in der Zwischenzeit zu dessen völliger Entwertung gekommen war, sodass es gerade einmal das Papier wert war, auf dem es gedruckt worden war. Vom Erlös des verkauften Silbers und des Schmucks konnte unsere Familie allerdings eine Zeit lang leben, im Grunde hat es uns geholfen, aus dem Schlimmsten herauszukommen.“ Der weitere Lebensweg der beiden Brüder vollzog sich weitaus weniger dramatisch. Jakob arbeitete anfangs in Linz, „verrichtete bei den Amerikanern nur Hilfsdienste“, wie er sagte, und war auch Billeteur in einem Kino. Das Gymnasium schloß er in Salzburg ab und studierte vier Semester Rechtswissenschaften, da er ursprünglich eine diplomatische Karriere einschlagen wollte. Dann aber erhielt er von einer Stiftung, die sich für den Austausch von Studenten zwischen den Vereinigten Staaten und anderen Ländern einsetzte, ein Fulbright-Stipendium und ging ein Jahr nach Amerika. Nach seiner Rückkehr arbeitete er wie auch sein Bruder in Wien in der Redaktion einer amerikanischen Militärzeitung. Als die US-Truppen Österreich verlassen hatten, fand er eine Anstellung bei einer österreichischen Firma, die mit Produkten aus Kunststoff handelte. Im Laufe der Zeit konstruierte er eigene Geräte zur Verarbeitung von Plastik, machte sich selbstständig und begann damit, selbst Handel zu treiben. Unter anderem zählten auch tschechoslowakische Unternehmen, wie etwa die Pilsener Škodawerke, zu seinen Kunden. 286

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Und Hans? Der verdiente seinen Unterhalt zunächst auch als Journalist, dann wurde er in Liechtenstein Leiter einer literarischen Agentur. Anschließend arbeitete er in Genf für die Europäische Freihandelsassoziation EFTA und nahm dann ein Angebot eines amerikanischen Verlages in London an. Auf den ersten Blick erscheint es zwar wie ein gewöhnlicher Lebenslauf, bis auf ein schicksalhaftes Paradoxon – der ehemalige Soldat der Wehrmacht, der aufgrund der Dekrete des tschechoslowakischen Präsidenten Beneš und aufgrund des Paragraphen über die staatliche Unzuverlässigkeit vertrieben worden war, nahm sich eine in Washington geborene Amerikanerin zur Frau, die Tochter eines Amerikaners und der ungarischen Adeligen Gräfin Széchenyi. Sie ließen sich in England nieder, wo auch ihr Sohn seinen ständigen Wohnsitz hat, während die Tochter Amerikanerin wurde. Bei unserem Treffen sprachen beide Brüder deutsch, denn in Tschechisch könnten sie sich nicht so gut ausdrücken, wie sie meinten. Als ich aber später das Aufnahmegerät ausgeschaltet hatte, rezitierten sie gemeinsam auf Tschechisch, ohne einen einzigen Hänger, einige Kinderreime, die nicht immer ganz unschuldig waren. Sie unterhielten sich köstlich und fühlten sich wie in ihre Kindheit zurückversetzt. Sie ergänzten sich sehr gut und hatten einen Sinn für feinen, unaufdringlichen Humor. Begreiflicherweise gelangten wir auch zum Thema Restitution und zu den Beneš-Dekreten. Beide zuckten nur mit den Schultern. „Soweit es das betrifft, haben wir keine Pläne“, gestanden sie. „Das Einzige, das wir gerne zurückbekommen möchten, sind einige Familienbilder …, darauf würden wir bestehen. Vor allem handelt es sich um ein Porträt unserer Mutter, das im Schloss von Bresnitz hängt, und auch ein Bild unserer japanischen Großmutter, das sich in Ronsperg befand. Zu diesen beiden Bildern gibt es wirklich eine starke emotionale Bindung. Sie waren Teil unserer Kindheit. Wir haben aber die Hoffnung schon beinahe aufgegeben, dass wir sie eines Tages zurückerhalten. Alles andere haben wir im Grunde abgeschrieben.“ „Haben Sie jemals daran gedacht, wie Ihr Leben verlaufen wäre, wenn Sie in der Tschechoslowakei geblieben wären und 40 Jahre Kommunismus miterlebt hätten?“ Hans blickte Jakob vielsagend an: „Ich weiß nicht, ob Sie das gelesen haben. Unsere Schwester Barbara hat in einem ihrer Artikel geschildert, wie ein österreichischer Manager zur Zeit des Kommunismus nach Prag kommt, in ein Taxi steigt und erklärt, wohin er wolle. Daraufhin fragte ihn der Taxifahrer verblüfft, 287

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6. Die Brüder Hans Heinrich und Karl Jakob – Wien 2002

wie es denn möglich sei, dass er so gut Tschechisch spreche. ,Nun, ich bin hier geboren worden. Einige Zeit lang habe ich auch hier gelebt, aber meine Familie musste das Land verlassen‘, antwortete der Manager. ,Und jetzt leben Sie in Österreich?‘, fragte der Taxifahrer. ,Ja, jetzt lebe ich in Österreich.‘ – ,In diesem Fall‘, sagte der Taxifahrer, ,sollten Sie, sobald wir halten, dem Herrgott auf ­Knien dafür danken, dass Sie nicht hierbleiben mussten.‘ Also in diesem Bereich bewegen sich unsere Gedanken und das ist auch die Antwort auf Ihre Frage.“ „Selbstverständlich wäre unser Leben ganz anders verlaufen“, fügte Jakob hinzu. „Wenn der Krieg nicht stattgefunden und der Kommunismus nicht den Sieg davongetragen hätte, wenn wir hätten bleiben können, dann hätten wir sicherlich etwas anderes gemacht. Wahrscheinlich hätten wir etwas auf dem Land geerbt und mein Bruder, als Ältester unter den Geschwistern, würde das Schloss in Ronsperg verwalten.“ „Das also auf gar keinen Fall, niemals!“, protestierte Hans lautstark und beide Brüder brachen in lautes Gelächter aus. „Jedenfalls blieb uns einiges im Leben erspart“, räumte Jakob ein. „Wir kennen die Lebensschicksale von Menschen, die in der Tschechoslowakei geblieben sind, etwa die von Josef Kinsky. Obwohl er hätte gehen können, ist er geblieben, 288

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7. Zur gleichen Zeit erfolgte auch die Aufnahme von Michael Coudenhove-Kalergi

endete im Gefängnis und musste im Uranbergbau arbeiten. Ähnlich erging es Ernst Schwarzenberg und einigen anderen … Ich denke, dass wir vollends zufrieden sind, wo wir jetzt wohnen.“ Das lange und hohe Reihenhaus am Donauufer erinnerte von außen an eine mächtige Festung. Die Eingangstür wirkte geradezu winzig, dahinter befand sich ein enger, fensterloser Gang, das Interieur wirkte schlicht, überall rechte Winkel und weiße, glatte Wände. Michael Coudenhove-Kalergi, der vierte aus der Geschwisterreihe, wohnte im obersten Stockwerk mit einem herrlichen Blick auf die Donau und auf die grüne Ebene ringsherum. Die Wände und Decken der Wohnung waren in Weiß gehalten. Da die Räume nur mit den unerlässlichsten Möbelstücken eingerichtet wurden, gab es viel Freiraum. Ein Diwan, ein Tischchen mit Zeichnungen, ein Schrank, eine Kochnische, an den Wänden Bilder von eigener Hand, auf dem hellen Boden kein Teppich. In der Wohnung ging er nur mit Socken umher, er sprach und benahm sich nicht sehr formell und seine japanische Frau Maymi bewegte sich beinahe schon ätherisch, so als ob sie gar nicht anwesend wäre. Sie drängte sich nicht auf, sie fiel nicht auf, trat bei jedem Schritt leise auf. Es genügte allein schon die 289

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Erwähnung des Wortes Kaffee, worauf sie ihn gleich zubereitete, still und hingebungsvoll. Michael Coudenhove-Kalergi ist Maler und Grafiker. Seine Bilder wirken spröde und gehaucht, bergen aber eine verspielte Liebenswürdigkeit in sich. Im Übrigen wirkt auch er selbst gelassen und liebenswert. Ich kam mit der Vorstellung zu ihm, die vorbereiteten Fragen an ihn zu richten, verwarf diesen Gedanken ab bald wieder. Es war einfach angenehmer, dem Gespräch seinen freien Lauf zu lassen. Mit Leichtigkeit ging er von einem Thema zum anderen, seine Erzählungen waren lebendig, er wechselte Nachdrücklichkeit und Melodie seiner Stimme. Die Sprache war für ihn keine Aufeinanderfolge von Silben, sondern eine andere Art von Musik. Ebenso wie Barbara sprach er tschechisch, er tat es aber um vieles spontaner. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass es ihm eine ausgesprochene Freude bereitete, nicht in Deutsch zu kommunizieren. „Wir wurden zweisprachig erzogen“, sagte er, „ich erinnere mich daran, dass wir zu Hause ein Grammophon und eine Menge tschechischer Schallplatten der Marke Ultraphon hatten. Als Bub habe ich sie gerne gehört. Dabei habe ich viel gelernt. Nachdem ich nach Österreich gekommen war, hatte ich nicht oft die Gelegenheit, tschechisch zu sprechen. Ich habe zumindest tschechische Radiosendungen gehört, weshalb ich es nicht vergessen habe.“ „Dabei handelte es sich wohl nicht mehr um Ultraphon?“ „Nein, aber sie spielten Volksmusik und andere alte Lieder. Ich habe auch die kommunistischen gehört, die sogenannten … Aufbaulieder. Die hatten etwas für sich. Sie hatten Rhythmus und eigneten sich gut dazu, sie bei der Arbeit zu hören, denken Sie nicht auch?“, bemerkte er schelmisch. Ich stelle mir vor, wie er vor seiner Staffelei sitzt, seine spröden Bilder malt und dabei Lieder aus der Aufbauzeit des Kommunismus hört. Ein äußerst unterhaltsamer Gedanke. „Und hier in Wien habe ich einige tschechische Bekannte und Freunde, mit denen ich mich von Zeit zu Zeit treffe. Daneben lese ich tschechische Zeitungen“, sagte er. Und tatsächlich lag auf dem Tisch unter den österreichischen Blättern auch eine tschechische Zeitung. Vielleicht ist sein Tschechisch gerade deshalb nicht eingerostet und war so lebendig geblieben, selbst die umgangssprachlichen Formen bereiteten ihm keine Schwierigkeiten, jedem Wort war abzulesen, dass er mit dem tschechischen Milieu in Verbindung stand. „Als Sie Prag im Mai 1945 verlassen mussten, waren Sie noch ein Kind. Erinnern Sie sich an die damaligen Ereignisse?“

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„Ich war erst acht Jahre alt, aber ich erinnere mich noch gut daran. Mit einem Mal wehten überall nur mehr weiß-rote Fahnen mit einem blauen Keil und alle deutschen Aufschriften waren übermalt. Das war der erste Akt. Dann folgte der zweite … Irgendjemand malte auf die Mauer unseres Hauses in PragKošíře einen Totenkopf mit gekreuzten Knochen und einem Hakenkreuz. Meine Mutter wollte den Vorfall der Polizei melden, aber ein Beamter beruhigte sie: ,Frau Gräfin, das sind nur irgendwelche Gauner, das steht gar nicht dafür, lassen Sie das bleiben.‘ Dann aber kamen die Leute vom Nationalausschuss und beschlagnahmten unser Radio, unser Grammophon und unser Telefon. Bald darauf tauchte eine Gruppe von Bewaffneten auf. Die Revolutionsgarde. Ich war noch im Bett, hörte, wie sie schrien: ,Hinaus! Ihr kommt mit uns. Schnell, schnell!‘ Ich habe mich schrecklich gefürchtet, das können Sie sich vorstellen, als 8-jähriger Bub, und habe meine Mutter gefragt: ,Mama, erschießen sie uns?‘ Darauf brüllte einer der Bewaffneten: ,Da kannst du dir sicher sein, du Missgeburt!‘ Dann haben sie uns befohlen, eine Decke mitzunehmen, einige Dinge für die Kinder, Essen … ,In drei Tagen könnt ihr wieder zurück‘, behaupteten sie und brachten uns in die Remise von Prag-Smichov. Die Leute auf der Straße schlugen an die Blechtüre und schrien: ,Ins Gas mit ihnen! Wir brennen diese Hütte nieder!‘“ Er verstummte und fügte mit leiser Stimme hinzu: „Dort wurden wir von einem Mann mit einem Gewehr und einer roten Armbinde bewacht. Eines Abends ging er an uns vorüber und gab mir unauffällig einen Marmeladekuchen, er ließ ihn einfach im Dämmerlicht in meine Hand fallen…, das konnte kein schlechter Mensch sein. Wir blieben nicht lange in der Remise und machten uns gemeinsam mit einer Kolonne deutscher Soldaten zu Fuß auf den Weg Richtung Pilsen in die amerikanische Zone. Keiner von uns hatte einen ordentlichen Mantel oder richtige Schuhe. Nach zwei Wochen gingen wir weiter, wieder zu Fuß, über Bayern nach Salzburg. Einige Zeit lebten wir dann zusammen mit unserer Mutter in Oberösterreich. Später habe ich die Kunstgewerbeschule in Graz besucht, danach war ich an der Akademie für Bildende Künste in Wien.“ Im Jahr 1961 trat er mit einer ersten Ausstellung in Wien an die Öffentlichkeit. Es folgten Ausstellungen in München, Köln, Paris, Brüssel, auch in Tokio, wo er als Gastprofessor tätig war, und ebenso in Italien, Polen, Brasilien, der Türkei und der Tschechoslowakei. Ihm wurde ein Preis der Akademie der Bildenden Künste in Wien verliehen, er wurde mit dem Österreichischen Ehren291

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kreuz für Wissenschaft und Kunst ausgezeichnet und seine Werke befinden sich heute in Galerien, Museen und privaten Sammlungen in Europa, den Vereinigten Staaten und in Japan. „Noch vor 100 Jahren hätte ich als Sonderling gegolten“, räumte er belustigt ein. „Ein Adeliger war entweder Offizier, Diplomat, vielleicht auch staatlicher oder geistlicher Würdenträger. Später konnte er auch Geschäftsmann werden, aber Künstler? Das sah man nicht gerne, die Kunst pflegte man irgendwie nebenbei als etwas törichtes Hobby, das man eben tolerierte.“ Einige Blocks von seiner Wohnung entfernt hat er ein kleines Atelier, eine bescheidene Stätte unter dem Dach eines Zinshauses, auch dort findet sich nichts Prunkvolles. Seinen Arbeiten ist die Freude am Gestalten anzusehen, beginnend mit der Zeichnung Blumenkorso am Traunsee aus der Volksschule bis hin zu zeitgenössischen Werken. Einige erinnern an zierliche Spitzen voller Phantasie, traumhafte Vorstellungen lassen auch seine architektonischen Entwürfe nicht vermissen. Er malt zerstörerische Waffen ebenso wie grauenvolle Tiere. In Japan wurde eine Monografie über ihn herausgegeben, in der sich ein Bild befindet, auf dem etwas abgebildet ist, das an eine Schildkröte mit einem eigenartigen Panzer erinnert. In Wahrheit handelt es sich um einen gepanzerten Wagen, den ersten seiner Art auf der Welt. Er wurde am Beginn des 20. Jahrhunderts in Österreich gebaut, war rundum gepanzert und verfügte über einen drehbaren Turm mit einer Kanone. Als daraus ein Schuss abgefeuert wurde, verursachte dieser angeblich einen solchen Lärm, dass ein hoher österreichischer Offizier vor lauter Schreck vom Pferd fiel und zu stottern begann. Als Folge davon wurde der Panzerwagen erst gar nicht produziert. Zu seinen Motiven zählen auch Altprager Winkel und Ecken. Vielleicht war er deshalb der Erste aus der Familie Coudenhove, der nach der Abschiebung nach Böhmen kam, um sich alles anzusehen. „Damals habe ich noch studiert. Nach Bresnitz, wo ich einen Teil meiner Kindheit verlebt und wo ich viele Bekannte und Freunde habe, bin ich später oftmals gefahren. Die Frau des früheren Kutschers meines Großvaters hat mir immer vorzügliche Buchteln mit Topfen und Mohn gebacken, so gut, wie sie kaum jemand machte. In Bresnitz kochte man überhaupt sehr gut, und damals auch billig, was für mich, einen armen Studenten, ganz angenehm war. Ich erinnere mich gut daran, wie ich einmal zu Mittag im Ort ins Restaurant ging. Es hieß Einigkeit oder Gastfreundschaft, genau weiß ich es nicht mehr. Ich bestellte mir dort Schweinebraten mit Kraut und Knödel, und weil es mir schmeckte, 292

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habe ich eine zweite Portion bestellt. Der Besitzer sah mich vom Schanktisch aus mit unverwandtem Blick an und sagte dann zu dem jungen Kellner: ,Da siehst du, mein Junge, wie sie in diesem Österreich leben. Schau hin, wie dünn dieser österreichische Genosse ist. Er hat ständig Hunger, zweimal hat er sich schon etwas bestellt. Dort muss ja eine schreckliche Not herrschen.‘“ In seinem ganzen Leben ist er gerne gereist, etwa nach Böhmen oder nach Polen. Es zog ihn, wie er sagte, vor allem in den Osten. Nach Japan fuhr er etwa mit der Transsibirischen Eisenbahn durch die Sowjetunion. „Das war ein Abenteuer“, gestand er zufrieden. „Bevor ich mich auf den Weg machte, habe ich meinen Bekannten anvertraut, dass ich in ein Land fahre, ‚in dem das Morgen schon Geschichte ist‘, wie der Schriftsteller Julius Fučík eine seiner Reportagen über die Sowjetunion betitelt hatte. Sie konnten nicht verstehen, warum ich das mache. Die Österreicher haben seit jeher Angst vor dem Kommunismus. Sie fürchteten, dass sie mich einsperren und dass sie mich nie wieder sehen würden, aber auf der Reise ging alles gut.“ „Keine Verhöre von der Miliz?“ „Aber woher denn. Es war ein einziges Vergnügen, interessante Erfahrungen, schöne Erinnerungen. Einmal konnte ich in der Nacht nicht schlafen und ging aus dem Abteil hinaus. Hinten im Waggon befand sich auf einer zugedeckten Plattform ein großer Ofen und daneben stand eine junge, dicke Russin, die trotz ihrer Üppigkeit sehr schön war. Über ihrem Nachthemd trug sie die Jacke ihrer Eisenbahnuniform, die Kappe auf dem Kopf, an den bloßen Füßen Pantoffeln und so legte sie nach. Als sie mich sah, ließ sie die Arbeit sein und rief laut: ,Towarisch! Komm her und hilf mir!‘ Mit diesen Worten drückte sie mir die Schaufel in die Hand und ich musste heizen. In einem sowjetischen Schlafwagen zu fahren war wirklich ein Abenteuer.“ Sechzehn Jahre lang war er mit einer Österreicherin verheiratet, mit der er zwei Kinder hat, Katharina und Nikolaus. Sie trennten sich und später, bei einem weiteren Besuch in Japan, lernte er seine zweite Frau Maymi kennen. „Die Coudenhoves machten sich in dieser Hinsicht einiger Vergehen gegen den traditionellen aristokratischen Konservatismus schuldig und fielen aus dem gängigen Rahmen. Ihr Großvater, Graf Heinrich, nahm eine Japanerin zur Frau, ebenso wie Sie es auch getan haben. An Vorurteilen litt auch nicht dessen Sohn Johannes, der Lilly, eine ungarische Kunstreiterin jüdischer Abstammung geheiratet hat.“ „Mein Großvater aus Ronsperg war eine interessante Persönlichkeit. Er beschäftigte sich mit der Kabbala, einer mystischen Lehre des Judentums, Indo293

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logie, auch mit den Sprachen und Kulturen der indischen Völker, studierte den Buddhismus. Sein Lebensmotto war: Zeige Verständnis für andere und du wirst aufhören, sie zu hassen. Eben deswegen, weil er sich eine Japanerin zur Frau genommen hatte, konnte mein Vater nicht in das legendäre Dragoner­regiment des Adels – das eleganteste von allen, nämlich in das Dragonerregiment in Pardubitz – eintreten. Dort diente mein Großvater mütterlicherseits aus der Familie Pálffy. Meine beiden Großväter waren dort, aber mein Vater durfte nicht dorthin. Das war schon kein reines Blut mehr. Und dass wir vom Durchschnitt abweichen? Wahrscheinlich ja, zumal nicht nur Onkel Johannes, sondern auch zwei Onkel Jüdinnen geheiratet haben. Einzig mein Vater heiratete eine Frau von adeliger Abkunft. Ich denke, dass unsere Familie immer ein bisschen links oder rechts stand. Onkel Richard, jener, der die demokratische Paneuropa-Bewegung schuf, war in seiner Jugend sehr links orientiert. Er hat selbst erzählt, dass er sich am Anfang nicht zwischen Lenin und Wilson entscheiden konnte. Schließlich wählte er Wilson. Er entschied sich für die Freiheit. Er war ein sehr weitsichtiger Politiker, ein großer Antifaschist, der kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in die Schweiz fliehen musste. Als die größte Bedrohung der Zukunft erachtete er den Bolschewismus, den islamischen Fundamentalismus und den Nationalismus. Demgegenüber erblickte er in der Vereinigung eines demokratischen Europa einen wirksamen Schutz. Möglicherweise war er ein ziemlich großer Idealist. Ein Sammler meiner Bilder, der ihn gut kannte, sagte mir einmal: ,Das, was Sie malen, wollte er umsetzen.‘ Er war immer für Fair Play, aber in der Politik ist das nicht immer möglich.“ „Meinen Sie, dass der Idealismus in der Politik nichts verloren hat und, dass ein Politiker immer ein wenig spitzbübisch sein muss?“ „Gerade darüber habe ich vor Kurzem mit Barbara diskutiert. Sie schätzt ­Václav Havel sehr und behauptet, dass er einer der größten Persönlichkeiten der Gegenwart sei. Nun, er ist auch für Fair Play. Churchill hingegen war ein typischer Politiker.“ „Ebenso wie de Gaulle oder auch Adenauer, nicht wahr? Ich würde Sie gerne noch etwas anderes fragen. Ihre Schwester nimmt angesichts der Restitution des Familienbesitzes eine ablehnende Haltung ein. Ihre Brüder bemühen sich nur um Dinge, zu denen sie einen persönlichen Bezug haben, um einige Bilder aus der Familiengalerie. Wie ist es mit Ihnen?“

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„Einige Rechtsanwälte aus Tschechien haben uns angeboten, uns im Restitutionsverfahren zu vertreten. Ich habe von Fällen gehört, in denen die Leute ihren Besitz zurückerhalten haben, aber dann hat alles der Herr Rechtsanwalt an sich gerissen. Mein Vater hat den Fehler gemacht, dass er im Jahr 1938 für die Deutschen optierte, während andere, etwa die Schwarzenbergs aus Orlik oder die Belcredis, sich auch weiterhin zur tschechischen Nationalität bekannten. Wir fallen unter die Beneš-Dekrete und damit ist die Sache erledigt. Auf der anderen Seite – der Adel fühlt sich mehrheitlich international.“ „Aber irgendwohin muss man doch gehören, denken Sie nicht auch?“ „Nun, ich gehöre nirgendwohin, wenn ich das ganz ehrlich sagen soll.“ „Sie leben aber in Wien.“ „Ja, ich lebe in Wien. Ich fühle mich aber als Kosmopolit.“ Einen langen Augenblick sahen wir einander wortlos an. Ich hatte den Eindruck, dass er das Wort Kosmopolit nicht gerade mit großer Überzeugung gesagt hatte.

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1. Johannes Lobkowicz stammt aus dem Zweig der Sekundogenitur Melnik

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Lobkowicz „Besser, wenn ihr die Grenzpflöcke nicht so tief eingrabt“ – Militärisches Marschieren im Veitsdom – Schnellsiedekurs in Tschechisch – Rückkehr der Lobkowicz nach Drahenitz – Die kürzesten Miniröcke Europas – Eine Konserve namens Pippi – „Meine Frau hat einen Sinn für Abenteuer“

Am Ende des Jahres 1948, sechs Monate nach der Machtergreifung durch die Kommunisten, entschloss sich Johann Adolf Fürst von Lobkowicz dazu, zusammen mit seiner Frau Marie Anna, geborene Gräfin Czernin von und zu Chudenitz, und mit zwei seiner drei Söhne – dem 17-jährigen Nikolaus und dem um ein Jahr jüngeren Friedrich – die Tschechoslowakei zu verlassen und ins Exil zu gehen. Er ging ohne große Begeisterung, in tiefer Betroffenheit und widerwillig. Der Fürst erachtete sich als Patriot und er kam sich wie auf der Flucht vor. Er ließ sich allerdings davon überzeugen, dass das Verlassen des Landes die beste Lösung für ihn sei. Legal konnten sie nicht ausreisen, das hätte man ihnen nicht erlaubt, weshalb sie die Grenze im Geheimen und zu Fuß überqueren wollten. Sie mussten jemanden finden, der sich an der Grenze auskannte und selbstverständlich nicht wenig Geld dafür bezahlen, denn eine derartige professionelle Hilfe wurde nicht umsonst gewährt. Größere Barbestände hatten sie nicht zur Hand, da sie auf ihre eingefrorenen Guthaben nicht zugreifen konnten, weshalb sie eine luxuriöse Angelausrüstung verkauften. Mit den 50.000 Kronen, die sie dafür erhielten, bezahlten sie den Schlepper. Auf dem Weg durch den Böhmerwald, der damals noch nicht mit Stacheldraht, einem Netz von Wachtürmen und mit Hindernissen aus Beton durchzogen war, führten sie nur Rucksäcke mit sich. Jeder hatte eingepackt, was er als das Wichtigste erachtete. Fürst Johann Adolf, Doktor der Rechte, nahm zwei Paar bequeme Schuhe mit, Nikolaus vier Bücher des deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer und Friedrich gab vor allem anderen seinem geliebten Mikroskop den Vorzug. Ohne größere Schwierigkeiten gelangten sie nach Westdeutschland, einige Zeit mussten sie in einem Flüchtlingslager in Regensburg verbringen und zu 297

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guter Letzt lebten sie am Bodensee. Fürstin Marie Anna arbeitete zunächst als Haushaltshilfe und entschloss sich erst später dazu, auf das Erbe ihres Vaters, eines früheren Außenministers der österreichisch-ungarischen Monarchie, zurückzugreifen. Dieser hatte ihr einen Anteil an einem Jagdhaus in der romantischen Landschaft am Grundlsee vermacht, in dem sie eine Pension einrichtete. Der 63-jährige Fürst konnte sich im Unterschied zu ihr nur sehr schwer an die neuen Lebensbedingungen und an die neue Umgebung anpassen. Die sehnsüchtig erwartete Veränderung zum Besseren erlebte er nicht mehr – er verstarb vier Jahre später an den Folgen eines Autounfalls. Mit einer Verspätung von einem halben Jahr nahm auch ihr ältester Sohn Ottokar Zuflucht im Exil. Zusammen mit einem Kameraden war er während des Wehrdienstes desertiert und flüchtete über Bayern in die Schweiz. Einige Monate arbeitete er als Forstarbeiter in Schweden, kehrte in die Schweiz zurück, hielt sich als Tellerwäscher in einem Züricher Bahnhofsrestaurant über Wasser und sobald sich seine finanzielle Situation gebessert hatte, immatrikulierte er an der Universität. Er wurde zum Doktor der Volkswirtschaft promoviert, nahm die ungarische Adelige Susanna Széchényi zur Frau und als ihm die Firma Tesco, für die er arbeitete, anbot, die Leitung ihrer Niederlassung in Kenia zu übernehmen, stimmte er bereitwillig zu. Nach einigen in Afrika verbrachten Jahren kehrte er allerdings wieder gerne in die Schweiz zurück. Sein Bruder Friedrich studierte in der Zwischenzeit Naturwissenschaften und wurde Professor für Hochenergiephysik an der University of Rochester in den Vereinigten Staaten, während Nikolaus seiner Liebe zu Schopenhauer treu blieb und in Fribourg Philosophie studierte. Er wechselte später an die Universität München, wo er auch promovierte. Noch während des Studiums heiratete er Gräfin Josefine von Waldburg zu Zeil und Trauchburg aus einem bedeutenden und vermögenden deutschen Geschlecht und wirkte als Professor für Politologie – als Fachmann für Marxismus-Leninismus. Von München ging Nikolaus Lobkowicz mit seiner Familie in die Vereinigten Staaten, wo er, seine Frau und seine Kinder nach sechs Jahren die amerikanische Staatsbürgerschaft annahmen. Diese behielten sie auch, als sie später wieder nach Deutschland zurückkehrten. Heute verbindet man seinen Namen nicht nur mit der Universität im bayerischen Eichstätt, sondern auch mit dem politologischen Institut in München. Unter Fachleuten gilt er als Autorität, unter den Studenten als ungemein streng, denn angeblich war er der erste Vertreter einer deutschen Universität, der seinerzeit gegen revoltierende Studenten die 298

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Polizei zu Hilfe rief, um so auf akademischem Boden für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Der Besitz des Fürsten Johann Adolf wurde nach dem Machtantritt der Kommunisten im Jahr 1948 verstaatlicht. Der Fürst gehörte der Sekundogenitur der Familie Lobkowicz an und die Konfiskation betraf auch seine Herrschaft in Drahenitz. In das dortige Schloss zog die Armee ein, die es als Kaserne, Lazarett und Depot nutzte. Der Grundbesitz wurde parzelliert und an Interessierte aus der örtlichen Bevölkerung vergeben. Eines Tages kam ein Lastwagen, ein älterer Mann stieg aus, kletterte auf einen Korb und verteilte Holzpflöcke an die Leute, mit denen sie ihre neuen Parzellen kennzeichnen sollten. Dabei sagte er zu ihnen mit ernster Miene: „Leute! Es wäre besser, wenn ihr die Grenzpflöcke nicht so tief eingrabt. Vielleicht werdet ihr sie schon bald wieder herausziehen müssen.“ Sie lachten darüber, hielten das für einen Scherz. Nur ein paar Jahre später entstanden haufenweise staatliche Güter und landwirtschaftliche Einheitsgenossenschaften. Der Staat vereinte den Boden wieder und die Pflöcke waren nicht einmal mehr das Holz wert, aus dem sie gemacht waren. Die Lobkowicz zählen zu den nachkommenstärksten Geschlechtern. Eine große Anzahl von Kindern war und ist bei ihnen weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart etwas Ungewöhnliches. Professor Nikolaus Lobkowicz und seiner Frau Josefine waren sechs Kinder vergönnt, vier Buben und zwei Mädchen. Der älteste Sohn, dem sie den Namen Johannes gaben, wurde im Jahr 1954 in Deutschland geboren. Nur sechs Jahre später lebte er bereits am entgegengesetzten Ende der Welt in South Bend, Indiana, östlich von Chicago, wohin die Familie übersiedelt war. Wenn es nur auf ihn angekommen wäre, dann hätte er sich wahrscheinlich keinen derartigen Ort ausgesucht. Dass er von Anfang an kein einziges Wort Englisch beherrschte, störte ihn nicht sonderlich, weil er schon sehr bald soviel gelernt hatte, um dem Schulunterricht folgen und sich mit den Buben aus der Umgebung unterhalten zu können. Dafür aber die Landschaft! Einförmig und uninteressant, rundherum nur Ebene, auf den Feldern nur Mais und keine Wälder. Mit großer Freude begrüßte er es daher, als ihn seine Eltern sechs Jahre später auf eine Schule nach Deutschland schickten. Auf dem Jesuitengymnasium in einem alten Benediktinerkloster inmitten des Schwarzwaldes erwartete ihn ein strikter Stundenplan – die Zeit wurde dort nach Lernen, Sport und Gottesdienst geschieden. Vor ihm hatte alle Onkel aus der Familie seiner Mutter diese Schule besucht, die Einhaltung der Tradi299

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tion erachtete er daher als Selbstverständlichkeit. Eigentlich eher als Gunst des Schicksals, dass es ihm vergönnt war, diese Tradition fortzusetzen. Er wohnte im Internat der Schule, das er nur einige Male im Jahr verließ, vor allem um seine Großmutter auf ihrem Schloss zu besuchen. Er freute sich immer sehr auf sie, weil sie ihm neben dem Hauch von Strenge auch viel Verständnis entgegenbrachte. Bei ihr fand er eine ähnliche Umgebung vor wie die, in der sich die Generation seiner Urgroßeltern vor dem Zweiten Weltkrieg bewegt hatte – ein reiches gesellschaftliches Leben, Jagden, Bälle, Ausritte, Pferderennen, eine Kunstgalerie und gleichzeitig sehr genaue Vorgaben zur Einhaltung eines Kodex sittlicher Normen und gesellschaftlicher Verhaltensregeln. Mit 20 Jahren maturierte Johannes, wenngleich nicht viel gefehlt hätte und er die Matura auf unbestimmte Zeit verschieben hätte müssen. Die Vereinigten Staaten führten damals Krieg in Vietnam, und wenn dieser nicht zur richtigen Zeit geendet hätte, hätte er – als amerikanischer Staatsbürger – einen Einberufungsbefehl erhalten und in den Kampf ziehen müssen. Möglicherweise hätte er ihm nicht Folge geleistet, vielleicht wäre er desertiert, wer weiß, zum Glück musste er sich mit dieser Frage nicht auseinandersetzen. Nach Beendigung des Gymnasiums blieb er in Deutschland, studierte in München an der juridischen Fakultät, erwarb zwei Doktorate und trat eine Stelle in einer bayerischen Bank an. In den folgenden Jahren war er in sieben Niederlassungen an verschiedenen Orten tätig, wo immer ihn die Bank hinschickte, denn von seinen Mitarbeitern erwartete das Geldinstitut Flexibilität und Entgegenkommen. Dessen ungeachtet blieb München seine Lieblingsstadt, eine Kreuzung von Lebenswegen, wo er auf einem nur für den deutschen Adel ausgerichteten Ball auch seine Frau Johanna Gräfin zu Castell-Castell kennenlernte. In Deutschland wurden ihnen sechs Kinder geboren, das siebente, ein Mädchen namens Ida, kam später in Prag zur Welt. Noch während seiner Zeit als Bankangestellter verzichtete er auf die amerikanische Staatsbürgerschaft und nahm die deutsche an, was auf den Ämtern ohne Schwierigkeiten vor sich ging, während er diese Entscheidung seinem Vater, der die deutsche Staatsbürgerschaft grundsätzlich abgelehnt hatte, nur schwer begreiflich machen konnte. „Es ist ein Generationsproblem“, sagte er mir, „er erinnerte sich an alle Grausamkeiten, die die Deutschen während seiner Jugend, zur Zeit des Zweiten Weltkrieges, verübt hatten, während ich sie ein paar Jahre nach dem Krieg von ihrer besseren Seite her kennengelernt habe.“

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Das erste Mal besuchte er Böhmen im Frühling 1986. Zusammen mit seinen Brüdern Erich und Franz und deren Ehefrauen unternahmen sie in einem Kleinbus eine einwöchige Reise durch das Land ihrer Vorfahren. Am Sonntag gingen sie in den Veitsdom auf dem Hradschin und waren von der Kathedrale und der Feier der Heiligen Messe sehr eingenommen. Es ereignete sich aber etwas Eigenartiges. Kurz vor der Kommunion marschierten Soldaten in grünen Uniformen im Gleichschritt in die Kirche, was sich in dieser weihevollen Stille besonders laut ausnahm. Ein Teil der Gläubigen erhob sich und verließ die Kirche, der Dom leerte sich etwa zur Hälfte. Gingen die Leute aus Angst weg? Oder verliehen sie damit ihrem Missfallen Ausdruck? War es ein demonstrativer Protest? Damals fanden sie keine Antwort auf ihre Fragen. Während ihres Aufenthaltes besuchten sie auch Verwandte und kamen auf die Idee, das historische Familienarchiv aufzusuchen. Mit Befremden stellten sie fest, dass es dazu der Zustimmung des Innenministeriums bedürfe. Um eine Erlaubnis bemühten sie sich erst gar nicht, da sie glaubten, dass sie ihnen ohnehin nicht erteilt werde. Sie waren aber auch nicht gewillt, einfach so aufzugeben und fuhren direkt in das Archiv nach Reichenberg. Nach diesen Erfahrungen mit der staatlichen Bürokratie waren sie vom Entgegenkommen des Archivars, eines Herrn Doktors, umso mehr erfreut, da er ihnen bereitwillig die Einsichtnahme gestattete. Es überraschte sie, wie gut das Archiv geführt war, sogar besser als manche Privatarchive im Westen. Als sie aus Neugierde den Brief eines Lobkowicz an König Karl IV. sehen wollten, war dem Herrn Doktor nicht nur dessen Inhalt vertraut, er wusste sogar genau, wo er unter den Tausenden Faszikeln aufbewahrt wurde. Nach einer kurzen Weile brachte er ihnen das Schriftstück, damit sie auch darin Einsicht nehmen konnten. Sie sahen sich auch Drahenitz an. Das Schloss wirkte grau und moosig, so, als wäre es infolge eines heftigen Regengusses beschmutzt worden, und auch das Dorf zeigte sich menschenleer. Nur am Schlosstor stand ein Soldat Wache, der sie argwöhnisch beobachtete. Es kam ihnen so vor, als ob sich die örtliche Bevölkerung vor ihnen fürchtete, da sie in einem Auto mit westdeutschem Kennzeichen unterwegs waren. Im Jahr 1990, nach der Öffnung der Grenzen, besuchte Johannes Lobkowicz erneut die Tschechoslowakei. „Der Unterschied zwischen dem, was ich vor vier Jahren erlebt habe, und heute ist beinahe unglaublich“, schrieb er über seine Eindrücke an einen Bekannten. „Der Schatten des mächtigen russischen Nachbarn ist gewichen, die Menschen haben ihre Angst verloren, sie haben sich von 301

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ihrer unterordnenden Haltung befreit, die Anspannung ist gewichen. Der Unterschied ist auch in Kleinigkeiten zu sehen – damals dominierte das Grau, auch Frauen waren mehrheitlich dunkel gekleidet, die Auslagen der Geschäfte waren alle gleich langweilig, die Häuserfassaden traurig. Jetzt tragen die Mädchen in Prag vielleicht die kürzesten Miniröcke in ganz Europa. Und nicht nur die kürzesten, sondern auch in den allerwildesten Farben.“ Ebenso wie seinem Vater wurde auch ihm die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft verliehen, und von Februar bis September 1992 fuhr er beinahe Woche für Woche mit dem Auto von München nach Prag, um mit einem Rechtsanwalt über die Rückgabe des Gutes Drahenitz zu verhandeln. Selbst sagte er, dass es eine spannende Zeit war, die Erfolgsaussichten wechselten beinahe jeden Moment. Sobald es den Anschein hatte, dass sich der Restitutionsprozess hoffnungsfroh entwickelt, tauchte irgendein neuer Vorbehalt auf. Beispielsweise wurde von ihm die Sterbeurkunde seines Großvaters, Fürst Johann Adolf, verlangt, der bei seinem Tod vor 40 Jahren kein Testament hinterlassen hatte. Niemand in der Familie verfügte über die erwähnte Urkunde, sie meinten schon, dass sie gar nicht existieren würde. Schließlich aber tauchte sie in einer abgelegenen deutschen Pfarre auf. Im September 1992 war die Ziellinie endlich in Sicht. Zusammen mit seinem Onkel Ottokar machte er sich auf den Weg, das Schloss in Drahenitz anzusehen, in dem immer noch Soldaten logierten. Als Ottokar sah, in welchem Zustand das Gebäude und der es umgebende Park waren, stellte er ungläubig fest: „Du bist wohl, mein lieber Junge, verrückt geworden, dass du das alles zurückhaben willst. So kühn bist du? Und was soll mit all den Soldaten passieren?“ Johannes Lobkowicz verhandelte weiter geduldig mit dem Verteidigungsministerium. Zu seinem Glück begann man damals, sich ernsthaft mit der Teilung des Staates zu befassen, einige Garnisonen sollten aufgelöst, andere in die Slowakei verlegt werden. Das betraf auch Drahenitz. Es wurde vereinbart, dass die Soldaten das Schloss vor ihrem Abzug zu reinigen hatten. Die Restitution konnte somit erfolgreich zu Ende gebracht werden. Johannes Lobkowicz wurde Eigentümer eines Schlosses, dessen Zustand seinen Onkel hatte erschaudern lassen, und auch eines Stalls, einer Orangerie und eines Wirtschaftshofes, deren Aussehen vielleicht auch ihn entsetzt hätte, wenn er vorher die Möglichkeit einer eingehenderen Besichtigung gehabt hätte. Es wurden ihm knapp 1.000 Hektar Wald zurückerstattet, 26 Fischteiche und nicht ganz 100 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche. Er stürzte sich in die Renovierung des Schlosses und begann, sich um die Wälder und Felder zu kümmern. Auf meine Bitte um ein Gespräch bot er mir an, in sein Büro auf dem Prager 302

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Wenzelsplatz zu kommen. Damals lebte er schon einige Jahre in der Tschechischen Republik. Das Datum des Treffens legten wir zwar einige Wochen im Voraus fest, und er war beinahe auf die Sekunde pünktlich. Er hatte eine Denkerstirn, einen festen Blick und erweckte den Eindruck eines entschlossenen, energischen Menschen. Er sah zielbewusst aus, ging systematisch vor, seine Fähigkeit, sich auf Probleme zu konzentrieren war bewundernswert. Er verfügte über ein derart zuverlässiges Gedächtnis, dass er sich noch daran erinnerte, worüber wir zwei Monate zuvor gesprochen hatten. „Wann ich mich ernsthaft mit der Möglichkeit beschäftigt habe, von Deutschland nach Tschechien zu übersiedeln? Das war für mich ganz klar“, sagte er. „Nach Tschechien – damals aber noch die Tschechoslowakei – zog es mich von dem Augenblick an, als Václav Havel zum Präsidenten gewählt wurde. Ich habe den Vorstand unserer Bank davon zu überzeugen versucht, in Prag eine Filiale zu eröffnen. Am Anfang wollten sie davon nichts wissen, vielleicht hatten sie das Gefühl, dass ein Lobkowicz im Hinblick auf seinen Namen in einem ehemaligen kommunistischen Land mehr schaden als nutzen könnte. Zumindest habe ich erreicht, dass sie mich auf einen sechswöchigen Schnellsiedekurs für Tschechisch geschickt haben. Ich wohnte in einem Prager Hotel und versuchte, die Grundlagen der Sprache zu erlernen.“ „Und haben Sie sie erlernt?“ „Vielleicht nur einige furchtbar wichtige Dinge wie: ,Das ist nicht mein Buch‘, ,Das ist das Buch meines Bruders‘ und ein paar Höflichkeitsfloskeln. Alles in allem nicht genug, um damit ein grundsätzliches Gespräch zu führen. Eine Sprache in sechs Wochen beherrschen zu wollen ist eine Illusion. Deshalb habe ich etwas später damit begonnen, Tschechisch in dreimonatigen Kursen systematisch zu lernen und in den folgenden sechs Jahren habe ich dem Tschechischen jede Woche sechs Stunden gewidmet. Nur, Tschechisch ist eine schwierige Sprache, die man nicht leicht erlernt und die bei meiner Arbeit nicht unbedingt erforderlich ist. Es erforderte also einen konkreten Willen und Ausdauer. In Drahenitz hatte ich lange Zeit eine tschechische Sekretärin, die fließend deutsch sprach, meine Sekretärin in Prag spricht tschechisch und englisch. Ich wollte Tschechisch vor allem wegen der Familientradition lernen. Heute verstehe ich passiv alles und habe keine größeren Schwierigkeiten, mich zu verständigen.“ „Ihre Mutter war Deutsche, ich verstehe also, dass sie Ihnen Märchen nicht in der Sprache Ihrer Vorfahren erzählen konnte. Aber wie war es mit Ihrem Vater? Hat er mit Ihnen nicht Tschechisch gesprochen?“ 303

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„Nein, kein einziges Wort. Er hat sich nur ungern an etwas erinnert, das mit seiner Heimat zu tun hatte.“ Und dennoch. Noch als sein Vater an der katholischen Universität in South Bend in den Vereinigten Staaten tätig und er nur ein Stück weit – einige hundert Kilometer – von Chicago entfernt war, traf er sich angeblich oft mit Franz Schwarzenberg, der an der dortigen Universität lehrte. Miteinander sprachen sie nur tschechisch. „Wir Kinder haben ihn begreiflicherweise nicht verstanden“, sagte mir Johannes Lobkowicz, „keiner von uns konnte Tschechisch, aber es zu hören übte auf uns einen besonderen Charme aus – Tschechisch war für uns eine geheimnisvolle Sprache.“ Im Jahr 1992 richtete die bayerische Bank doch eine Filiale in Prag ein und versetzte Johannes Lobkowicz dorthin. „Gerade zu dieser Zeit haben wir Schloss Drahenitz zurückbekommen“, erzählte er. „Von Beginn an wohnte darin ein junger Förster, unser Angestellter, mit einem Hund, einer Flinte und einem Schlafsack, weil wir nämlich Angst vor Dieben und Vandalen hatten. Unsere Befürchtungen erwiesen sich schlussendlich als überflüssig, viel gab es dort nicht, was man hätte stehlen oder demolieren können. Nach dem Abzug der Armee sah es im Schloss sehr unerfreulich aus. Der Parkettboden war ruiniert, an vielen Stellen war das Holz von einem Pilz befallen, der Kachelofen verschwunden, irgendjemand hatte ihn zerlegt und gestohlen, nirgends auch nur ein Möbelstück, kein Wasser, die Stromleitungen hatten ausgedient. Alles war mit einem grässlichen Lack in scheußlichem Armeegrün angestrichen worden, überall Gitter und in den Zimmern Holzpritschen. Der Park war größtenteils asphaltiert, teilweise zubetoniert worden, darinnen waren neun Garagen errichtet worden. Nichtsdestoweniger war das Dach des Schlosses in Ordnung, weshalb Drahenitz nicht das Schicksal vieler anderer Gebäude beschieden war, die auseinanderzufallen drohten, weil es hineinregnete. Zu allererst haben wir überlegt, was wir mit dem Schloss tun sollen. Vom künstlerischen und historischen Standpunkt aus betrachtet handelt es sich um ein im Großen und Ganzen unbedeutendes Objekt, auch wenn es zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert errichtet worden ist. Da es nie einem anderen Zweck als dem eines Wohnhauses diente, war die Entscheidung über die weitere Verwendung schnell gefallen – herrichten und einziehen. Zur Renovierung benötigten wir freilich die Baupläne, die wir allerdings auf keinem Amt auftreiben konnten, vielleicht existierten sie auch gar nicht mehr. Zur rechten Zeit trat 304

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jedoch ein älterer Herr auf den Plan, gleichsam ein Wunderopa, der das Schloss vermaß und der seine Arbeit ebenso perfekt wie schön machte, so als ob er das Nationalmuseum ausmessen würde. Meine Familie ist damals noch in Deutschland geblieben, ich habe deshalb in Prag ein Haus gemietet, das aber, wie sich zeigen sollte, in einem noch schlechteren Zustand als das Schloss war. Nichtsdestotrotz haben wir damals zwei nicht hoch genug einzuschätzende Erfahrungen gemacht. Die erste war, wie äußerst wertvoll es ist, eine Familie zu haben, die geeint ist und deren innerer Zusammenhalt auch durch einen unerwarteten Vermögenszuwachs nicht erschüttert werden kann. Für einige Familien erwies sich die Restitution nämlich buchstäblich als Unglück. Verwandte, die sich vorher umeinander mehr als fürsorglich gekümmert hatten, sprachen nach der Restituierung nur mehr unter Vermittlung eines Anwalts miteinander und achteten strikt darauf, sich aus dem Weg zu gehen. Ich hatte das Glück, dass alle, die einen Anspruch auf das Erbe des Großvaters hatten, zu meinen Gunsten darauf verzichtet haben. Ich sollte den Ertrag aus dem Besitz bekommen, hatte aber auch sämtliche Risiken zu übernehmen. Die einzige Bedingung war, dass ich nach Tschechien übersiedeln sollte. Ich habe auch noch eine andere Erfahrung gemacht – ohne meine unternehmungslustige Frau wäre die Chance, dieses Abenteuer erfolgreich in Angriff zu nehmen, nur sehr gering gewesen. Mithilfe zweier Architekten ist es uns sehr schnell gelungen, das Schloss bewohnbar zu machen. Eine Wasserleitung wurde installiert, elektrische Leitungen neu verlegt, wir führten einen unnachgiebigen Kampf mit dem Hausschwamm, die Parkette wurden repariert, eine Heizung eingebaut, alle Türen wurden neu lackiert, ein Heizraum und ein Bad eingerichtet. Wir haben mit der Renovierung im Frühjahr 1993 begonnen und im September, praktisch nach vier Monaten, konnten wir einziehen. Es war fast wie ein Wunder und dabei gleichzeitig finanziell vertretbar, weil die Mark zu dieser Zeit stark und die Löhne in Tschechien niedrig waren. Unser Haus in Deutschland haben wir verkauft und die Hälfte des Verkaufserlöses hat für die Renovierung des Interieurs genügt. In der Folge haben wir jedes Jahr etwas im Schloss gemacht – eine Dränage, die Fassade, die Renovierung der Kapelle.“ An der uralten Schlosskapelle aus dem Jahr 1636 lag ihm besonders viel. Irgendeiner seiner Urahnen hatte die Obsorge über die Kapelle an die örtliche Pfarre übertragen und dank dieser Regelung blieb sie auch während der Herrschaft der Kommunisten ein Servitut der katholischen Kirche. Sonntags wurde dort die Heilige Messe gefeiert. Die Soldaten machten sich einen Spaß daraus, davor eine 305

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Mauer mit einer engen Tür zu errichten. Kurz vor dem Beginn der Messe schlossen sie die Tür auf, damit die Leute hineinkonnten, und sobald die Messe beendet war, verschlossen sie diese wieder. Die Kapelle blieb als einziger Teil des Schlosses unversehrt und von den unangemessenen baulichen Eingriffen und den verschiedensten von der Armee vorgenommenen „Verbesserungen“ verschont. „Leider ist auch sie ziemlich verkommen“, sagte er und bekannte, dass er sehr überrascht war, als er feststellte, dass die Kirche in Tschechien arm wie eine Kirchenmaus ist. Sogar so arm, dass Sonntagsmessen entfielen, weil der Pfarrer nicht genug Geld für Benzin hatte, um aus dem nahen Städtchen zur Kapelle zu fahren. Die Kapelle musste von Grund auf renoviert werden. Der gesamte Mauerverputz wurde erneuert, die vermoderte Einrichtung wurde durch eine neue ersetzt, die Bilder wurden restauriert, ebenso der Altar. Weil das Schloss auf dem gleichen Niveau wie der benachbarte Fischteich erbaut worden war und das Wasser in das Mauerwerk eindrang, musste der Boden entfernt werden, worauf in einer Höhe von eineinhalb Metern Schotter eingebracht wurde und eine spezielle, unter dem Boden liegende Entlüftung eingebaut wurde. Auch die alte Orgel ließ er reparieren. Der Orgelbauer aus Drahenitz schüttelte nur ungläubig den Kopf, warum er denn diesen alten Rumpelkasten reparieren und nicht lieber durch eine neue ersetzen wolle, eine elektrophonische, die nur ein wenig teurer kommen würde. Lobkowicz aber hatte seine Überzeugung und entschied sich dafür, lieber die Disposition und den Klang des kleinen Instruments aus dem 19. Jahrhundert zu erhalten. Die Renovierung der Kapelle kostete mehr als viereinhalb Millionen Kronen, der Staat beteiligte sich mit drei Zahlungen in der Höhe von insgesamt rund einer halben Million an den Kosten. Mit den Förderungsansuchen waren jedoch so viele Rennereien und so viel Bürokratismus verbunden, dass er um weitere erst gar nicht mehr ansuchen und die Ausgaben lieber selbst tragen wollte. Das Schloss, das ihm abgewohnt und leer übergeben wurde, ist heute wieder zur Gänze eingerichtet. „Es hat uns eigentlich überrascht“, gab er zu, „wie unglaublich schnell sich die Räumlichkeiten des Schlosses gefüllt haben. Etwas haben wir aus der Verlassenschaft der Großmutter aus Zeil bekommen, dann hat uns ein Onkel ausgeholfen und außerdem haben wir im Rahmen der Restitution einige Möbelstücke aus der ursprünglichen Schlosseinrichtung zurückerhalten.“ „Nur einige Stücke?“ „Von den Möbeln zwölf Stühle für das Esszimmer, ein paar Biedermeiersessel und einen Schreibtisch. Auch einige Radierungen, Bilder und Lithografien. Alles 306

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andere war unwiederbringlich verloren gegangen. Drahenitz zählte eben nicht zu den historisch bedeutsamsten Baudenkmälern, dort befanden sich auch keine außerordentlich wertvollen Antiquitäten. Über das verloren gegangene Mobiliar habe ich mir deshalb keine Gedanken gemacht. Für uns war es wichtiger, wer den Besitz verwalten wird. Es ist zwar ein großes Ereignis, wenn man gleichsam über Nacht Eigentümer von beinahe 1.000 Hektar Wald wird. Anfangs konnte ich aber eine Fichte nicht von einer Tanne unterscheiden, weshalb ich mich nicht sonderlich für die Verwaltung des Waldes eignete. Ich hatte allerdings Glück, denn ich fand einen tüchtigen Förster. Ähnlich war es mit der Landwirtschaft – ich bin Jurist und Bankier, von stofflichen Dingen verstehe ich nicht viel.“ Für einen „Amateur“ hielt er sich aber nicht schlecht und fürchtete kein Risiko. An die örtliche Genossenschaft verpachtete er zunächst 100 Hektar Grund. Als diese nicht einmal einen symbolischen Pachtzins bezahlen konnte, nahmen sie die Bewirtschaftung selbst in die Hand. Da sie über keinen eigenen Maschinenpark verfügten, kauften sie die entsprechenden Dienstleistungen zu. Nach und nach nahm Johannes Lobkowicz einige sich bietende Möglichkeiten zu Kauf und zur Pacht wahr, sodass er nach einigen Jahren bereits 330 Hektar bewirtschaftete. Dann meldete die benachbarte Genossenschaft Konkurs an und er hatte vier Tage Zeit, um sich zu überlegen, ob er sie übernehmen wollte. Er ließ sich darauf ein und bewirtschaftete seitdem mehr als 1.200 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche. In der Umgebung von Drahenitz wurden der Familie auch 90 Hektar Fischteiche restituiert, was ziemlich wenig ist, wenn man sie alleine bewirtschaftet. Er vereinbarte daher mit den Besitzern der umliegenden Teiche, dass diese die Lobkowicz’schen Fischteiche verwalten sollten, während sich er und seine Angestellten um ihren 1.000 Hektar großen Wald kümmerten. Im Unterschied zu einigen anderen Restituenten war Johannes Lobkowicz auch bei der Lösung eines Problems erfolgreich, das auf den ersten Blick nicht als ein solches erschien, dessentwegen man aber doch einige Sorgenfalten bekommen konnte. Was sollte mit den Deputatswohnungen passieren, aus denen die Mieter nicht ausziehen wollten, auch wenn sie nicht mehr Deputaten waren, da sie schon lange anderswo angestellt waren? Drei solcher Wohnungen waren im Schloss von Drahenitz allerdings derart verkommen, dass deren Bewohner lieber sein Angebot auf Ablöse annahmen und auszogen. Die nunmehr frei gewordenen Wohnungen ließ er renovieren und bot sie seinen Angestellten an. Unter der Woche hält er sich heute in Prag auf und nach Drahenitz fährt er nur am Wochenende und in den Ferien. „Nirgends auf der Welt habe ich mich 307

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bisher wirklich zu Hause gefühlt, erst in Drahenitz war das der Fall“, bekannte er. „Auch für meine Familie ist Drahenitz eine gemütliche Ecke, ein Ort des Zusammentreffens, zu dem Verwandte, Freunde und Bekannte kommen. Es ist ein Ort, den wir und unsere Gäste als herrlichen Anachronismus verstehen.“ „Kommt Ihr Vater auch hierher?“ „Ja, aber nicht gerne. Alles ist dort heute anders, als es in seiner Jugend war. Als er im Park anstelle der Sträucher und des Rasens asphaltierte Parkplätze mit Militärfahrzeugen und auf dem Asphalt Ölflecken sah, als er feststellte, wie viele Bäume abgeholzt worden waren, sagte er sich, dass er nicht mehr nach Drahenitz zurückkehren werde. Auch seinetwegen haben wir versucht, den Schlosspark in seine ursprüngliche Form zu bringen. Wir haben den Asphalt beseitigt, den Rasen erneuert, neue Bäume gepflanzt, rekultiviert, was sich rekultivieren ließ. Seit eh und je war für meinen Vater Drahenitz das Paradies auf Erden gewesen, und jetzt kann oder will er sich nicht mit der Tatsache abfinden, dass das Paradies seiner Kindheit zerstört ist. Da mein Vater nur selten und höchst ungern über seine Heimat sprach, hatte ich, bevor ich Drahenitz mit eigenen Augen gesehen habe, nicht die geringste Vorstellung davon, wie es eigentlich aussieht. Ob es ein großes oder kleines Haus war, wie die Innenräume gestaltet waren und wie die Umgebung war. Er hat nie darüber gesprochen und seine Geschwister haben sich mit Bemerkungen über Drahenitz absichtlich zurückgehalten. Offenbar haben sie den Verlust der Heimat und den Gang in die Emigration als sehr schmerzhaft empfunden und wollten ihre Erinnerungen nicht unnötig wiederbeleben. So habe ich mir das zumindest erklärt.“ „Ihr Schloss steht inmitten des Dorfes, vom gegenüberliegenden Ufer des Fischteiches kann man sehen, was bei Ihnen vor sich geht. Die Leute aus dem Dorf können bei Ihnen fast jeden Schritt verfolgen, nirgendwo eine hohe Mauer, keine hohen Hecken, Sie leben in keinem abgetrennten Bereich. Es scheint mir, dass Sie mit ihnen ein gutes Auskommen pflegen …“ „Bestimmt mit den meisten. Begreiflicherweise sind wir hier wegen unserer deutschen Herkunft so etwas wie Exoten. Und weil ich das Schloss habe renovieren lassen und auch dem Dorf ein wenig geholfen habe, müssen wir den Leuten ungemein reich erscheinen. Die Beziehungen zwischen den Bewohnern und uns waren aber immer – zur Zeit meines Großvaters und vielleicht auch heute – ausgesprochen gut. Mein Großvater Johann Adolf hatte die hiesigen Leute sehr gerne und sie wiederum ihn, darin hat sich, so hoffe ich, nichts geändert. Wir mussten 308

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allerdings bei unserer Bewirtschaftung einige unpopuläre Maßnahmen treffen. Wir konnten es uns beispielsweise nur schwer erlauben, alleine in der Landwirtschaft 25 Mitarbeiter zu beschäftigen, obwohl wir in Wirklichkeit wesentlich weniger benötigten. Während des Sozialismus war das möglich. Alle Verluste der Genossenschaft wurden vom Staat abgedeckt, wir aber waren gezwungen, die Belegschaft zu reduzieren. Wir hatten uns dafür entschieden, unseren Betrieb angesichts der Herausforderungen der Zukunft auf eine gesunde Basis zu stellen, auch um den Preis, dafür weniger beliebt zu sein. Gleich am Beginn trafen wir zwei Entscheidungen, die sich mit der Zeit bewährt haben. Zum einen haben wir bei der Anstellung der Leute mehr Wert auf Verlässlichkeit, Loyalität und auf die Fähigkeiten als auf die politische Vergangenheit gelegt. Zum anderen haben wir uns darum bemüht, den Leuten von Grund auf Vertrauen entgegenzubringen. Nur in einem Fall wurden wir enttäuscht. Grundsätzlich hat das aber zur Bildung einer guten Atmosphäre beigetragen.“ Er erwähnte ebenso einen kleinen Zwischenfall noch aus der Zeit, als sie sich das erste Mal in Tschechien umsahen, woran er sich offenbar nur sehr ungern erinnerte. Es ereignete sich kurz nach der Annahme des neuen Jagdgesetzes, das die Mitglieder der Jagdgenossenschaften um ihr privilegiertes Recht auf die Jagd nach Tieren brachte. Damals besichtigte er zusammen mit seiner Tochter Lioba einen Wald, den VW-Kastenwagen stellten sie etwas abseits ab, gerade so, dass man ihn nicht sehen konnte, und verbrachten eine Weile auf einem Hochsitz. In der Zwischenzeit durchstach ihnen ein Mitglied der örtlichen Jagdgenossenschaft alle vier Reifen. Betroffen kehrten sie nach Hause zurück, wo sie von ihrem Freund Jerome Colloredo-Mansfeld erwartet wurden. Sie erzählten ihm, was ihnen widerfahren war, erwarteten sein Mitgefühl, er wurde aber darüber eher zornig. „So eine Dummheit“, sagte er pikiert, „was ist euch da nur eingefallen, mit so einem großen deutschen Auto zu fahren! Wir Tschechen sind doch sehr neidisch! Ich selbst fahre mit dem kleinsten Škoda. Es ist klar, dass ich auch einen teureren Wagen habe, einen Lancia, aber mit dem fahre ich nur ins Ausland oder früh am Morgen, wenn möglich noch im Dunkeln, damit mich niemand sieht.“ Etwas später gelang Johannes Lobkowicz die erfolgreiche Stiftung einer internationalen Freundschaft für Drahenitz und er erwarb sich damit für die Beliebtheitsskala einige Pluspunkte. Die fränkische Stadt Rentweinsdorf bekam ein neues Feuerwehrauto und entschloss sich, das alte der Gemeinde Drahenitz zu schenken, in der noch ein um 20 Jahre älteres Modell seinen Dienst versah. Die Feier zum 100-jährigen Bestehen der Freiwilligen Feuerwehr Drahenitz 309

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wurde daher zu einem großen Ereignis, an dem sich fast alle Einwohner von Rentweinsdorf beteiligten. Nach einer Demonstration der Fertigkeiten der Feuerwehrleute aus Drahenitz kamen alle im örtlichen Gasthaus zusammen und noch um drei Uhr früh sangen Tschechen und Deutsche einträchtig unterhalb der Schlossfenster. Ein Jahr später folgte der Besuch der Einwohner von Drahenitz in Rentweinsdorf und seit dieser Zeit sind alle Vorurteile gegenüber den Franken verflogen. Johannes Lobkowicz wollte ursprünglich Agrarökonomie oder Forstwirtschaft studieren, aber von diesem Vorhaben brachten ihn seine Eltern erfolgreich ab. Er verfügte damals über kein eigenes Unternehmen und von Drahenitz konnte er zu dieser Zeit nur träumen. Schließlich wählte er Jus. Der Jägerei widmet er sich heute allerdings so oft es geht, er fischt auch gerne und reitet, aber um das Wichtigste nicht zu vergessen – er interessiert sich für alles, was mit Geschichte zu tun hat. Das sind aber nur Hobbys, denn die Familie geht bei ihm über alles. Als er an einem Sonntag im August anlässlich seiner silbernen Hochzeit eine Feier veranstaltete, lud er etwa 120 Gäste nach Drahenitz ein, was nur den kleineren Teil seiner Verwandtschaft darstellt. „Ich konnte nicht alle einladen“, erklärte er. „Wenn ich nachzählen würde, wie viele Lobkowicz es heute gibt, wie viele Nachfahren meiner Urgroßeltern es gibt, dann würde ich auf einige Hundert kommen. Heute kennen wir uns untereinander gar nicht mehr.“ Seine Frau Johanna gehört einem der ältesten Geschlechter Deutschlands an, wenngleich eines der ältesten nicht auch eines der reichsten bedeutet. Die Familie Castell-Castell lebt schon etwa 1000 Jahre südlich von Würzburg, in einer lieblichen Weingegend, wo ihr eine typische deutsche Grafschaft gehört. Ihre Vorfahren waren, wie es sich bei Adeligen geziemte und wie es sich für ein solches Geschlecht gehörte, Soldaten, Diplomaten oder Geistliche, die allerdings zum Luthertum übertraten und aus denen Protestanten wurden. Zum bayerischen Hochadel zählt man sie erst seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, als der erste Fürst zu Castell-Castell Gräfin Stolberg-Wernigerode heiratete und als der zweite Fürst die Prinzessin zu Solms-Hohensolms-Lich zur Frau nahm. Johanna Lobkowicz ist von zierlicher Gestalt, blond, mit einem liebenswerten Lächeln. Ihr Gesicht verrät Umgänglichkeit und gleichzeitig eine gewisse Verschämtheit, so als ob sie dahinter ihren Beschützerdrang verstecken wollte. Sie tritt sehr bescheiden auf, hält sich für gewöhnlich im Hintergrund, aber es ist wahrscheinlich sie, die die Sorgen um die neunköpfige Familie trägt. Mit beson310

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2. Die Verlobten Johannes Lobkowicz und Gräfin Johanna Castell-Castell im Jahr 1977. Links daneben die anderen Familienmitglieder: Erich, der Bruder von Johannes, Mutter Josefine, geborene Gräfin von Waldburg zu Zeil und Trauchburg, Vater Nikolaus, sowie die Geschwister Monika, Franz und Miriam.

derer Vorliebe, was sie mir bei unserem Gespräch bestätigte, kocht sie und erledigt Einkäufe, mit Hingabe widmet sie sich auch der Gartenarbeit und hatte sich angeblich überhaupt nicht der Idee verschlossen, nach Tschechien zu übersiedeln. „Im Gegenteil, sie war begeistert. Sie besitzt nämlich einen Sinn für das Abenteuer, und den Umzug nach Böhmen hat sie auch als solches begriffen“, sagte mir Johannes Lobkowicz. „Sie wurde in Deutschland in einem Schloss geboren, sie wusste, was ein solches Leben mit sich bringt, worauf sie sich einlässt – dass man nämlich mit Kälte und Feuchtigkeit zu rechnen hat. Aber sie war bereit, das hinzunehmen. Für die ganze Familie war die Übersiedlung vom ersten Moment an eine vergnügliche Angelegenheit. Im Gegensatz zu mir war sie in einer schwierigeren Situation. Ich habe mich in Tschechien vom ersten Moment an sehr wohl gefühlt, ich habe schließlich meine Wurzeln hier, aber für sie war das Ausland und darüber hinaus konnte sie nicht Tschechisch.“ Er erinnerte sich daran, dass sie kurze Zeit nach ihrer Ankunft in Drahenitz im nahen Bresnitz Einkäufe erledigen wollte und sich in der Schlange vor der Wursttheke anstellte. Bevor sie noch an die Reihe kam, wurde sie sich dessen bewusst, dass sie es nicht fertig bringen würde zu sagen, was sie wollte, weil sie 311

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3. Das Ehepaar Lobkowicz zusammen mit seinen Kindern bei einer seiner Pionierreisen in das zurückerhaltene Schloss Drahenitz – im Jahr 1992. Kleidung und Schuhwerk entsprechen den damaligen Bedingungen.

die paar Wörter, die sie kannte und die sie zuvor wiederholt, plötzlich vergessen hatte. Sie war gestresst, nahe der Ohnmacht, sie fürchtete sich davor, die anstehenden Leute zu verärgern, indem sie sie aufhielt. Vielleicht würden sie auch ungehalten reagieren, wenn sie feststellten, dass sie Deutsche war. Sie verließ deshalb schweigend die Schlange und ging traurig zu den Regalen mit den Waren, um sich anzusehen, was es dort alles gab und hoffte sich daran zu erinnern, wie man es ausspricht. Es überfiel sie jedoch ein tiefes Gefühl der Hilflosigkeit, weil alle Aufschriften für sie einfach unverständlich waren. Damit sie das Geschäft nicht mit leeren Händen verlassen musste, kaufte sie eine kleine Konserve mit einer Aufschrift, die ihr zumindest etwas bekannt vorkam: Pippi. „Bis zum heutigen Tag haben wir die Konserve nicht geöffnet, wir behandeln sie wie ein Souvenir“, schmunzelte Lobkowicz, „und ihr Inhalt wird für uns wahrscheinlich immer ein Geheimnis bleiben.“ Die Erwähnung, dass auf Johanna Lobkowicz die Last der Sorge um die Familie liegt, erfolgt weder aus Höflichkeit noch aus Übertreibung. Die Lobkowicz haben niemals ernsthaft Überlegungen zum Thema Empfängnisverhütung angestellt. Ganz im Gegenteil hatten sie Interesse an Erben. Es finden sich daher 312

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4. „Ich denke, dass die Voraussetzungen gut waren, hier etwas aufzubauen“, sagte mir Johannes Lobkowicz. Der Zustand von Schloss Drahenitz vermittelt den Eindruck, dass er die Gelegenheit dazu nicht ungenützt hat verstreichen lassen.

Fälle mit vierzehn und sogar mit 19 Kindern, machte mich vor vielen Jahren Dr. František Lobkowicz aus dem Unter-Berkowitzer Zweig aufmerksam, der über zehn Jahre mit großer Geduld und Sorgfalt eine Genealogie seiner Vorfahren zusammengestellt hatte, ein mehrere Dutzend Bände umfassendes Werk, das einige Tausend Namen umfasst. Johannes und Johanna haben, wie bereits erwähnt, sieben Kinder, wobei der Altersunterschied zwischen dem ältesten, Nikolaus, und dem jüngsten, Ida, 18 Jahre beträgt. Der älteste der Buben, Nikolaus, maturierte an einem Gymnasium in Madrid, das älteste Mädchen, Sophie, in London, Maximilian in Dublin, Lioba besuchte wie auch ihre jüngeren Geschwister Wenzel und Agnes die Schule der tschechisch-deutschen Begegnung in Prag und wechselte mit siebzehn Jahren an eine Schule in Irland. „Alle unsere Kinder“, sagte Johannes Lobkowicz, „haben bisher das letzte Schuljahr auswärts belegt. Ich wollte ihnen ermöglichen, in der Welt zu studieren, damit sie eine weitere Sprache erlernen, mehr kennenlernen, damit sie Vergleichsmöglichkeiten haben.“ „Ist das eine Erziehung zum Paneuropäertum?“ 313

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5. Repräsentanten zweier Generationen: Professor Nikolaus Lobkowicz mit dessen Enkel Nikolaus und Enkelin Marie-Sophie.

6. Johannes Lobkowicz mit seiner Gattin Johanna und der jüngsten Tochter Ida, die schon in Prag geboren wurde, bei ihrer silbernen Hochzeit.

„So würde ich das nicht sagen, aber Kosmopolit zu sein ist heute moderner, als Nationalist zu sein. Der Nationalismus im heutigen Sinn des Wortes hat sich erst im 19. Jahrhundert zu entwickeln begonnen, und was war das Resultat? Kriege. Ich denke, dass es wichtiger als die Nationalität sein wird, sich einer bestimmten Region zugehörig zu fühlen, so wie das bis zur Mitte des vorletzten Jahrhunderts der Fall war. Eine Region wird sich wie selbstverständlich in 314

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Europa integrieren wollen. Deshalb wird die Erziehung dazu führen, dass sich die in Europa lebenden Menschen nicht nur als Tschechen, Spanier, Deutsche oder Franzosen begreifen, sondern auch als Europäer. Wie das freilich in einigen Jahrhunderten aussehen wird, kann niemand wissen. Der europäische Adel ist im Grunde kosmopolitisch, aber in Tschechien existiert erstaunlicherweise ein nationaler Adel. Ich habe das bereits in dem Augenblick gespürt, als ich nach Böhmen gekommen bin. Vielleicht ist aus diesem Grund die Beziehung zu den Restituenten aus den Reihen des Adels im Unterschied zu Deutschland, vor allem im ehemaligen Ostdeutschland, relativ gut. Die Menschen schätzen es, dass ein Teil des Adels zur Zeit des Kommunismus hier in Böhmen und Mähren geblieben ist. Für sie waren das tapfere Leute. Deren Mitglieder waren mit außerordentlich schwierigen Lebensbedingungen konfrontiert, ohne dass sie ihre Werte aufgaben, an die sie glaubten und zu denen sie sich bekannten.“ Johannes Lobkowicz lehnte die Glorifizierung des Adels als Ganzes ab. Ohne Einschränkung stimmte er aber zu, dass zum Adelsstand unter anderem oder vor allem Verantwortung und Verlässlichkeit gehören, denn die Entstehung des Adelsstandes war mit dem Gebot von Treue und Dienst verbunden. Ebenso unterhielten wir uns darüber, warum das Christentum eine unverwechselbare Rolle bei der Geltendmachung eines moralischen Wertekodex als Gegenpol zum Konsumismus und Egoismus der Gegenwart spielen sollte. „Sie leben schon einige Jahre in Tschechien. Wie bewerten Sie die Entwicklung nach dem November 1989?“, fragte ich ihn. „Ich denke, dass wir noch nicht am Ziel, aber in dessen Nähe sind. Die schlimmsten Wunden, wenn sie auch heilen, sind wahrscheinlich die moralischen. Die Generation von Menschen, die glaubte, dass es ganz normal sei, den Staat zu betrügen, muss sich an die Tatsache gewöhnen, dass man im Gegensatz dazu ein loyales Verhältnis zum Staat und seinen Werten haben muss. Die Generation von Menschen, die über keinen Privatbesitz verfügte, muss jetzt lernen, wie man damit umgeht. Etwas zu besitzen setzt eine gewisse Kultur voraus. Diese ist einem Entstehungsprozess unterworfen und wird vom Vater auf den Sohn weitergegeben. Es sollte der Grundsatz gelten, dass der Besitz zur Formung der Werte dienen soll – und nicht für den eigennützigen Gebrauch. Wenn aber diese Kultur beinahe 50 Jahre unterbrochen wurde, wie es zur Zeit des Nationalsozialismus und des Kommunismus der Fall war, dann ist das schlecht. Dann muss man die Erfahrungen von Anfang an wieder neu machen.“

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1. Diviš Czernin aus dem Zweig von Vinoř

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Czernin Die mutige Entscheidung eines „Lebenskünstlers“ – Masaryk liegend, drohend – „Sport war meine einzige Freude“ – Schloss Tannenmühle und der Geist von Miss Marple – Ursprung der Familie Czernin: ein Bursche, versteckt im Rauchfang – Im Angesicht der Gestapo – „Für Golf sind meine Nerven nicht stark genug“

Früher einmal führte die Straße von Podiebrad nach Jitschin direkt durch Dimokur und nicht wie heute in weitem Bogen darum herum. Die Kutscher ließen damals absichtlich vor dem Schloss ihre Peitschen knallen, sei es, um zu protzen oder auch um die Herrschaft ein wenig zu ärgern. Bis zur Protektoratszeit war ebendiese Herrschaft, die Familie Czernin, im Besitz umfangreicher Güter, bis die Deutschen auf deren Besitzungen die Zwangsverwaltung einführten. Den Schlossherrn Graf Rudolf Czernin beschuldigten sie, verbotenerweise englische Radiosendungen zu hören und sperrten ihn im Zuchthaus Gollnow bei Stettin ein, wo sie ihn dahinvegetieren ließen. Das Schloss wurde von der Wehrmacht besetzt und das Knallen der Peitschen störte niemanden mehr. Die Czernins mussten das Schloss verlassen und der Besitz wurde von einem Verwalter übernommen, den die neuen nationalsozialistischen Machthaber eingesetzt hatten. Nach der Rückkehr aus dem Gefängnis forderte der Graf die Rückgabe seines Besitzes, zu dem neben dem Schloss, einem Wald, Fischteichen und Ländereien ebenso zwei Höfe, eine Zuckerfabrik, eine Brauerei, eine Molkerei, eine Ziegelei und eine Mühle gehörten. Der Staat zierte sich allerdings unablässig damit, sie ihm zurückzuerstatten. Nicht weil es der Graf während des Krieges unterlassen hätte, eindeutig unter Beweis zu stellen, auf welcher Seite er stand, sondern aufgrund von besitzrechtlichen Ungereimtheiten. Der von der Okkupationsmacht eingesetzte Verwalter übertrug die Herrschaft der Czernins nämlich durch einen Kaufvertrag an den Staat, damals das Protektorat Böhmen und Mähren, obwohl er dazu keine Befugnis gehabt hatte. Die Umstände dieser Transaktion waren so kurios und absichtlich so verworren, dass sich damit später kaum jemand zurechtfand oder sich nicht auskennen wollte. Der Rechtsstreit Staat gegen 317

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Czer­nin zog sich bis zum Jahr 1952 hin, als ihn die kommunistische Justiz ganz einfach löste: Eines Vormittags erhielt Rudolf Czernin eine Verständigung, in der ihm mitgeteilt wurde, dass er seinen Besitz zurückerhalte, am Nachmittag des gleichen Tages wurde alles vom Staat erneut konfisziert. Im Schloss wurde eine öffentliche Küche für die Angestellten einer landwirtschaftlichen Genossenschaft und weiterer örtlicher Unternehmen eingerichtet, dann ein Ausbildungszentrum des Landwirtschaftsministeriums und noch ein wenig später wurden dort griechische Kinder untergebracht. Einige Zeit gehörte es der Armee und zu guter Letzt richtete dort das Innenministerium ein Depot für die Polizei ein. Die ganze Schlosseinrichtung war zu diesem Zeitpunkt bereits an einen anderen Ort verbracht worden und in den Schlossgemächern fuhren Lagerarbeiter mit hoch ausfahrbaren Wägelchen zwischen Regalen hin und her, die von oben bis unten mit Waffen, „Beweisstücken“ aus diversen Gerichtsprozessen und Büromaterialien vollgefüllt waren. Nach dem Parkinsonschen Gesetz einer wachsenden Pyramide, das auch in diesem Fall sehr erfolgreich unter Beweis gestellt wurde, wurde das Schloss für das Lager und die Anzahl der Beamten bald zu klein. Mit der Zeit wurde der Schlosspark nach und nach verkleinert, die Beete und der Rasen wichen Betonflächen, auf denen unansehnliche Betriebs-, Lager- und Unterkunftsgebäude emporwuchsen. Graf Rudolf Czernin starb im Jahr 1984 in Wien. Die Rückgabe des Familienbesitzes hat er nicht mehr erlebt. Dieser ist jedoch nach dem November 1989 im Zuge der Restitution seinen Söhnen Děpold und Diviš zugesprochen worden. Děpold lebte damals mit seiner Frau Polyxena und mit fünf Kindern in einem Landhaus in einem schönen Tal bei Neudek. Beinahe jeden Tag nahm er hinter dem Steuer seines Rettungswagens Platz, während Polyxena im Krankenhaus für Langzeitpatienten als Krankenschwester arbeitete. Nach der Restituierung sagten sie dem bergigen Krušná hora Lebewohl und übersiedelten mit ihren Kindern in eine ebenere Gegend bei Podiebrad. Nicht direkt in das Schloss Dimokur, weil ihn dort die Soldaten des Innenministeriums überhaupt nicht hineinließen und sich so benahmen, als wäre die Restitution ein bedauernswerter Irrtum, sondern in die gegenüberliegende Villa, wo sie schon früher einmal mit den Eltern gewohnt hatten. Neben dem Schloss bekam er 1.500 Hektar umliegende Wälder, rund 200 Hektar Ländereien und 12 Fischteiche zurückerstattet. Und auch die frühere Brauerei, die jedoch in der Zwischenzeit in eine Sodafabrik umfunktioniert worden war. Die Bierproduktion hatte aufgrund von Absatzschwierigkeiten eingestellt werden müssen. 318

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2. Graf Rudolf Czernin (1904–1984) mit Gattin Friderike, geborene Gräfin von Wenckheim (1911–1991) mit den Kindern Děpold, Rosina und Diviš im Kriegsjahr 1942. Bald darauf wurde der Graf von den Nazis verhaftet und war bis zum Kriegsende in Gollnow bei Stettin inhaftiert.

Die Restitution selbst dauerte sechs Jahre, auch wenn sie ohne größere Komplikationen ablief. Neuenburg an der Elbe rühmte sich damit, zu jenen Bezirken zu gehören, in denen Fälle dieser Art schnell abgewickelt werden. Ich übergehe dabei derartige Kleinigkeiten wie die Beschaffung von Dokumenten und Abschriften aus dem Grundbuch – in diesem Fall hatte Děpold noch Glück, denn dank des Bürgermeisters von Dimokur fand er im Gemeindeamt irgendwo auf dem Dachboden ein Buch mit Anmerkungen über die Eigentümer aller 319

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3. Schloss Dimokur gelangte durch die Heirat von Ottokar Czernin mit Gräfin Rosina Colloredo-Wallsee im Jahr 1833 in den Besitz des Zweiges von Vinoř.

Grundstücke im Ortskataster einschließlich der Schätzung von Immobilien. Es handelte sich dabei um Unterlagen, die in den 1940er-Jahren für eine Versicherung ausgearbeitet wurden, die Děpold viele Amtswege ersparten und seine Nerven schonten, auch wenn ihn schon manche Kleinigkeit aus der Ruhe bringen konnte. Das gelang anscheinend auch einer Richterin bei der Behandlung seines Anliegens um die Rückgabe von Gegenständen aus dem früheren Besitz der Familie Czernin. Der Rechtsfindungsprozess, in dem es um die Rückgabe von Waffen und historischen Landkarten ging, zog sich schon außerordentlich lange dahin und wollte zu keinem Ende gelangen. Als die Richterin die endgültige Entscheidung treffen sollte, wurde die Verhandlung abgesagt, denn sie musste – zum Friseur. Dimokur war einstmals ein lebhafter, prosperierender Ort, in dem sich acht Gasthäuser gedeihlich entwickelten. Der Großteil der örtlichen Betriebe stellte die Produktion ein, womit auch der Großteil dieser Gaststätten zum Zusperren gezwungen war. Die Molkerei, die Mühle und die Ziegelei, die den Czernins gehört hatten, verfielen nach der Verstaatlichung. Es blieb nur die Zucker­fabrik übrig, die gleich nach dem Krieg in das nationale Volkseigentum überführt worden war und die damit auch von der Restitution ausgenommen war. Als sie nach der politischen Wende des Jahres 1989 zum Ausrufungspreis von zehn Millionen Kronen versteigert werden sollte, hielten es die Czernins nicht für sinn320

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voll, sich in dieses Unternehmen einzubringen. Da aber auch sonst niemand Interesse zeigte, wurde die Versteigerung nach einem Monat wiederholt. Für den Betrag von zwei Millionen Kronen plus die Übernahme der Schulden, mit denen das Gebäude belastet war, kaufte es eine Gruppe von Unternehmern. Den Betrieb in der Zuckerfabrik nahmen sie nicht wieder auf, das hatten sie auch gar nicht im Sinn, vielmehr machten sie sich an deren Liquidierung. Daran arbeiteten sie ein dreiviertel Jahr, und die ganze Einrichtung, die noch etwas taugte, wurde abtransportiert und günstig verkauft, den Rest verkauften die neuen Besitzer zumindest zum Schrottpreis. Sie verdienten Millionen damit. Von ihrem Liquidierungsraubzug blieben nur die verkommenen Gebäude zurück, die sich in Ruinen verwandelt hatten. Děpold Czernin lebte 40 Jahre in einem besonders gespannten Verhältnis zum sozialistischen Staat und seinen Beamten – er konnte das Gymnasium nicht abschließen, geschweige denn, dass er an ein Hochschulstudium denken konnte. Er durfte nur als Arbeiter angestellt werden, am besten mit einer Spitzhacke in Händen. Als Fahrer eines Personenkraftwagens in einem sozialistischen Institut wurde er nicht angenommen, und als er seine Eltern besuchen wollte, die nach Österreich emigriert waren, wurde ihm die Ausreise verweigert, „weil seine Reise nicht im Interesse der inneren und äußeren Sicherheit des Staates“ liege. Dennoch lehnte er es ab, zu kapitulieren und sich auf Kompromisse einzulassen, die ihm das Leben erleichtert hätten. Er gewöhnte sich lieber an alles, was Sinn machte, hatte jedoch ständig Konflikte zu bestehen. „Sie haben die Restitution Ihres Besitzes erlebt, was für Sie sicherlich fabelhaft ist“, sagte ich ihm bei unserem Treffen im Schloss Dimokur, „aber das alles kam zu einer Zeit, als Sie sich darauf freuten, den Ruhestand, die Behaglichkeit und die reizvolle Natur in Ihrem Landhaus im Vorgebirge zu genießen, das Sie sich selbst gebaut haben. Diese verlockende Vorstellung haben Sie freiwillig gegen eine nicht enden wollende Flut von Arbeit und Sorgen getauscht.“ „Wir haben ursprünglich wirklich damit gerechnet, nur einen gemütlichen Ruhestand vor uns zu haben“, lachte er. „Aber erstaunlicherweise haben wir uns sehr rasch an die Veränderung gewöhnt und haben uns darauf eingestellt. Von morgens bis abends tätig zu sein kann manchmal den gleichen Erfolg zeitigen wie eine heilsame Kur. Ich habe zumindest keine Zeit mehr, um an meine Krankheiten zu denken. Nicht, dass die Herzrhythmusstörungen und die Diabetes verschwunden wären, das wäre nur gar zu schön, aber irgendwie sind sie in den Hintergrund getreten. Der Einzige, der sich nicht umgewöhnen konnte 321

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und sich auch weiterhin nach dem Krušná hora-Berg sehnte, war unser Hund Alex. Er konnte sich mit der neuen Umgebung nicht anfreunden und ist nach einem Jahr eingegangen.“ Děpold Czernin wurde Förster, Fischer und Landwirt, außerdem versuchte er, die Sodafabrik am Laufen zu erhalten, was allerdings nicht gelang, und so wurde er wieder, wie schon vorher einmal, zum Baumeister. Es stellte sich die Frage, was mit dem Schloss geschehen solle. Der Architekt, mit dem er über die mögliche Renovierung des Schlosses sprach, schätzte die Kosten summa summarum auf 100 Millionen Kronen. Diese Summe löste bei Czernin Schwindelgefühle aus. Das Innenministerium forderte ihn darüber hinaus auf, im Falle einer Restitution des Schlosses für das Anwesen, so wie es damals verstaatlicht worden war, die Kleinigkeit von 58 Millionen Kronen zu zahlen. Das war der Schätzwert für jene Gebäude, die in den 1980er-Jahren errichtet worden waren, jene Summe, die er für deren „Ablöse“ zahlen sollte. Die Forderung des Ministeriums wurde zwar auf ein Zehntel der ursprünglichen Schätzung reduziert, aber auch wenn er sich das Geld geliehen und bezahlt hätte, hatte er keine Ahnung, was er mit den Hangars, den Baracken aus Betonplatten, den Verwaltungsgebäuden und mit dem alten Kesselhaus hätte machen sollen. Hätte er sie etwa für ein paar weitere Millionen abreißen, die Betonflächen aufbrechen und das Gelände neu bepflanzen sollen? Er lehnte ab und zwischen dem Schloss und den ministeriellen Gebäuden wurde eine Demarkationslinie mit einem Stacheldraht gezogen, zu dem er zwar von Kindesbeinen an eine Abneigung hatte, aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Schließlich zahlte er „nur“ 600.000 Kronen für den betonierten Vorhof und irgendeinen Kanalisationsanschluss, der aber so vorzüglich versteckt war, dass er ihn nicht aufspüren konnte. Am liebsten hätte er das Schloss geradewegs verkauft, wogegen sich aber sein ältester Sohn Tomáš sträubte. Das würde nicht gehen, wandte er ein. „Für alle unsere Nachfahren wären wir dann die schwarzen Schafe der Familie.“ Sie entschieden sich für einen Mittelweg. Das Schloss sollte nicht verkauft, sondern vermietet werden. Sie boten es 15 verschiedenen Organisationen an, aber keine zeigte Interesse. Immer hatte er von sich behauptet, ein Lebenskünstler zu sein. Jetzt konnte er dies erneut unter Beweis stellen. Das Schloss in Ordnung zu bringen und dorthin zu übersiedeln war die Losung der Stunde. Mehr und mehr begann ihn diese Vorstellung in ihren Bann zu ziehen. Zuerst musste er allerdings neue Geräte für die Arbeit in der Landwirtschaft und im Wald anschaffen, erst dann kam das Schloss an die Reihe. 322

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4. Děpold Czernin zu einer Zeit, als er noch als Fahrer eines Sanitätswagens arbeitete, seine Frau Polyxena, geborene Lobkowicz, war damals Krankenschwester für Langzeitpatienten, sowie deren Sohn Jan und der Schottische Schäferhund Alex. Die Restitution war noch in weiter Ferne, sie lebten damals in ihrem Landhaus im nordböhmischen Neudek.

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5. Das ältestes und das jüngste Kind von Děpold und Polyxena Czernin: Tomáš und Gabriela

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Es war in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an der Stelle einer alten Festung entstanden und wurde im 18. Jahrhundert umgebaut und erweitert. Seine Wände sind an einigen Stellen 80, mancherorts sogar 100 Zentimeter stark. Inmitten des Mauerwerks befindet sich ein zur Wärmeisolierung dienender Spalt, der Wärme für die kältere Jahreszeit speichert. Er verbiss sich in die Arbeit, so wie damals im Landhaus auf dem Berg Krušná hora, diesmal aber nicht allein, sondern zusammen mit seinem Sohn Tomáš und zwei, drei Maurern. Es war kein Millionenprojekt, aber eine allmählich voranschreitende Renovierung. Und als er während der Arbeiten unter einigen neueren Schichten von Anstrichen die ursprüngliche Malerei mit ornamentalen und figuralen Zeichnungen entdeckte, empfand er unermessliche Freude darüber, dass er auf die verwehten Spuren seiner Vorfahren gestoßen war. Sobald das Dach neu gedeckt und die Heizung installiert war, richtete er einen Flügel des Schlosses ein und übersiedelte mit der Familie dorthin. Schließlich konnte er an einem würdigen Ort, im geräumigen Esszimmer, alle zwölf Bilder der Krönung Kaiser Ferdinands V. zum böhmischen König im Jahr 1836 aufhängen. Es handelt sich dabei um außergewöhnliche farbige Radierungen. Auf einer davon ist hinter dem böhmischen und ungarischen König, der gleichzeitig auch der österreichische Kaiser war, bei der Feier auf der Prager Burg ein Vorfahre von Děpold Czernin in seinem erblichen Amt als Oberster Mundschenk zu sehen. Sein ganzes Leben lang transportierte er die Radierungen, zusammen mit zwei Bildern von anderen Grafen Czernin, einigen alten Möbelstücken und den Resten des Familienarchivs aus den Schlössern von Dimokur und Groß-Hluschitz überall dorthin, wohin sie gerade übersiedelt waren. Mehr ist ihm nicht geblieben. „Sie strotzen nicht vor Reichtum wie die feudalen Adeligen in der Vergangenheit. Sie bekleiden keine hohen Ämter bei Hof. Sie sind auch nicht Inhaber eines Kürassierregiments, an dessen Spitze Sie stehen. Sie haben zwar das Schloss zurückerstattet bekommen, aber Sie veranstalten darin keine prächtigen Feiern. Auf der anderen Seite unterscheiden Sie sich nur durch wenige Dinge von Ihren Ahnen … Sie haben eine relativ weitverzweigte Familie, Sie haben fünf Kinder und zwölf Enkel, was an und für sich nichts Außergewöhnliches ist. Sie pflegen sehr enge Beziehungen, die Kinder kommen regelmäßig zu Ihnen, die Bewahrung der Familientradition ist für Sie eine Selbstverständlichkeit. Sie halten innig am Glauben Ihrer Vorfahren fest und sorgen sich konsequent um deren Vermächtnis. Sie sind eine konservative Familie, sogar in Kleinigkeiten, und ich 325

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nehme daher an, dass Sie sich gelegentlich Briefe schreiben, anstatt E-Mails zu versenden.“ Er sah mich an, mit einem schüchternen Lächeln auf den Lippen. Es kam mir so vor, als ob das Lächeln und der Ausdruck in seinen Augen genau so wie vor 30 Jahren waren, als ich ihn und seine Familie zum ersten Mal gesehen habe. „Meinen Sie Briefe auf handgeschöpftem Papier in einem länglichen Kuvert mit einer Auskleidung aus Seide, in der Ecke ein kleines Wappen der Familie Czernin? Solche, von denen die vorangegangenen Generationen zehn pro Tag verschickt haben? Nun, heute ist es wirklich einfacher, eine E-Mail zu schreiben, aber sofern es die Beziehung zum Besitz betrifft, haben Sie damit recht. Der Adel fühlte sich mehrheitlich nicht als Eigentümer, denn der Besitz war ihm anvertraut worden. Die Beziehung dazu war inniglicher. So verstehen auch wir das heute.“ Ich gehe davon aus, dass seine Kinder von der Rückgabe des großen Besitzes vielleicht weniger getroffen wurden als er und seine Frau Polyxena, die die Restituierung als Genugtuung begriffen hat. Für sie war es mehr eine Anbindung an die historische Kontinuität, die Gewährung von Gerechtigkeit. Der älteste Sohn Tomáš würde nicht wie heute gemeinsam mit seinem Vater den familieneigenen Wirtschaftsbetrieb leiten, sondern eher wie schon zuvor in Wien leben, während auch seine Geschwister die Veränderung der materiellen Basis bei der Berufswahl nicht so sehr beeinflusst hat. Sein Bruder Děpold hat eine Werbeagentur und organisiert unter anderem Ausstellungen, Terezie, die ich als Mädchen mit wehendem goldenen Zopf kennengelernt hatte, übernahm von ihren Eltern das Landhaus im Gebirgsvorland beim Berg Krušná hora, wo sie inmitten einer bunten Kinderschar wohnt, während Gabriela eine Schule für Informations- und Pressearbeit absolvierte und sich einige Zeit um körperlich und geistig Behinderte kümmerte, was sie unter jedem Regime hätte tun können. Was den jüngsten der Brüder, Jan, betraf, so wurde die Wahl seines Lebensweges nicht von der Restituierung und der Rückgabe des Familienbesitzes, sondern vom politischen Kurs des Staates beeinflusst. Er studierte Rechtswissenschaften und wurde Richter. Es dämmerte bereits, als ich ihn im Gerichtsgebäude auf dem Hauptplatz von Jungbunzlau aufsuchte, wo alles eine tiefe Würde ausstrahlt, wie es sich für ein Gericht eben gehört, auch die breite Stiege und die langen Gänge mit einer Reihe von massiven Holztüren. Hinter einer von diesen befand sich auch seine Kanzlei mit der Aufschrift „Senatspräsident“. Er trug ein helles Sakko und darunter ein 326

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fröhliches, gestreiftes Hemd. Er war ein eleganter Vertreter des Rechts, keine Spur von Grau oder Finsternis, im Gegenteil, ein Gesicht mit freundlichen Augen. „Ich habe gemeint, dass Sie ursprünglich daran gedacht hatten, Theologie zu studieren“, sagte ich ihm später bei einem Kaffee und einer Cremeschnitte mit Schlag in einer nahen Konditorei. „Das ist wahr, allein meine Mutter war nicht sehr begeistert, als ich ihr sagte, wofür ich mich schließlich entschieden hatte. Einen Juristen hat es in unserer Familie nur in der Verwandtschaft meiner Großmutter, die eine geborene Kerssenbrock war, gegeben. Die Juristerei zählt aber nicht zu den traditionellen Berufen in der Familie Czernin. Ein Czernin sollte Diplomat oder Soldat sein, sollte in den Dienst der Kirche treten, gelegentlich bekleidete er auch ein Amt bei Hofe oder verwaltete sein Gut. Im Übrigen, wenn sich die Ereignisse vom November 1989 nur ein wenig später zugetragen hätten, wäre ich wirklich an die theologische Fakultät gegangen. Unter dem Kommunismus hätte ich niemals begonnen, Jus zu studieren, wirklich nicht, obwohl ich mich immer danach gesehnt habe. Möglicherweise hätten sie mich auch zum Studium zugelassen, aber der Grund war ein anderer: Unter dem totalitären System hätte sich ein Richter nicht der Zusammenarbeit mit dem kommunistischen Regime entziehen können, was oftmals die Legalisierung von Unrecht bedeutet hätte. Das war für mich unannehmbar.“ Diviš Czernin, Děpolds Bruder, habe ich erst vor Kurzem kennengelernt. Er wartete auf mich im Prager Café Slavia in der Národní-Straße an einem Fenster und gönnte sich den Ausblick auf die Prager Burg, für den es wert gewesen wäre, einen Aufpreis zu zahlen. Wir haben uns dort aber nicht lange aufgehalten, denn bald danach holte er sein Auto aus einer Tiefgarage und wir fuhren von Prag Richtung Podiebrad. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich von ihm nur, dass er mit 22 Jahren mit leeren Taschen nach Österreich emigriert war. Deutsch konnte er nicht und das einzige, das er anbieten konnte, war sein Lehrbrief als Installateur und ein paar Jahre Praxis in diesem Bereich. Ich gebe sehr viel darauf, wie sich Menschen hinter dem Lenkrad verhalten, und bei ihm hatte ich von Anfang an ein gutes Gefühl. Er erwies sich als erfahrener und ruhiger Fahrer seines Škoda Oktavia, er fuhr umsichtig und versuchte nicht, der Schnellste zu sein. Als wir Dimokur erreichten, fuhr er anstelle zum Schloss nach rechts zu einem Wald mit einer alten, verlassenen Ziegelei, in der sich verkommene, halb verfallene Anlagen befanden und wo zwei Landhäuser standen. Dort hielt er an. 327

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„Ich würde Ihnen gerne zeigen, wohin unsere Eltern mit uns drei Kindern – Děpold, meiner Schwester Rosina und mir – im Jahr 1952 von der Villa beim Schloss übersiedelt sind. Sie haben mich nach dem Weg gefragt. Hier ist er. Damals war das Haus noch nicht fertiggestellt, weder elektrischer Strom noch Wasser waren eingeleitet, geschweige denn ein Telefon, und nach Dimokur waren es zwei Kilometer. In der einen Hälfte des Hauses wohnten wir, in der anderen irgendein Hauptmann im Ruhestand. Bei der Übersiedlung halfen uns Häftlinge, die zu dieser Zeit im Schloss arbeiteten. Mein Vater muss wirklich erbärmlich ausgesehen haben, weil sie ihm aus Mitleid Zigaretten angeboten haben. Häftlinge!“ „In der Nähe stand ein Häuschen, in der ein ortsansässiger Bauer wohnte. Der Staatliche Sicherheitsdienst hat ihm befohlen, über meinen Vater Meldung zu machen: was er macht, wen er trifft, wer zu ihm kommt und so weiter. Er war wohl ein anständiger Mensch, da er meinem Vater von sich aus davon erzählt hat. In diese Meldungen schrieb er nur nichtssagende Informationen, er konnte auch nichts in Erfahrung bringen, es hätte auch nichts gegeben. Nach der Nationalisierung arbeiteten meine Eltern als Hilfsarbeiter. Meine Mutter auf einem staatlichen Gut und in der Zuckerfabrik, mein Vater zuerst im Wald, später in irgendeiner Genossenschaft als Kammerjäger – er machte Mäusen und Ratten den Garaus. Eine andere Arbeit haben sie ihm nicht gestattet. Erst später hat er es sich ein wenig verbessert – beim Autobahnbau fuhr er mit dem Müllwagen. Beide lebten ganze 16 Jahre, bevor sie sich für die Emigration entschieden, in einer eigenartigen Spannung, in ständigem Stress. Sie hatten für nichts Zeit, sie hatten kein Geld, sie hatten auch nicht die Möglichkeit, ihre Situation irgendwie zu beeinflussen. Manchmal führte das zu unglaublichen Extremen. Der Vater zum Beispiel ging gerne in den Wald. Lange schon nicht mehr mit seiner Flinte, aber einfach nur so, zur Entspannung. Irgendjemand aus der Umgebung hat ihn dabei gesehen und sich beschwert, dass der Wald für die Arbeiterklasse und nicht für einen Feudalherren da sei. Unmittelbar darauf haben sie meinem Vater mitgeteilt, dass ihm der Zutritt zum Wald außerhalb seiner Dienstzeiten untersagt sei. Zum Gefühl der Verbitterung trug auch diese schonungslose Vorsätzlichkeit bei. Bei einer inszenierten Feuerschutzinspektion requirierten sie das Essbesteck, das meiner Mutter aus dem früheren Besitz geblieben war, und verhängten eine Strafe in der Höhe des eingezogenen Silbers, da sie angeblich nicht das Recht gehabt hätten, es nach der Enteignung zu behalten. 328

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Tag für Tag fuhren sie frühmorgens zur Arbeit und kehrten spät am Abend nach Hause zurück. Sie hatten weder Zeit noch Geld für unsere Ausbildung. Die Stimmung bei uns zu Hause war ganz und gar apathisch. Mein Vater war davon überzeugt, dass es im Grunde egal wäre, ob ich studiere oder nicht, weil im kommunistischen System für Menschen wie uns, also für solche mit dem Stigma des Klassenfeindes, ohnedies keine Zukunft existierte. Im Grunde mussten wir uns von Klein auf um uns selbst kümmern.“ Diviš beendete die neunjährige Grundschule in Dimokur und ersuchte um die Zulassung zum Gymnasium. Sie schrieben ihm, dass er seine Gedanken zuerst an jene der Arbeiterklasse anpassen müsse und sich irgendeinen manuellen Beruf suchen solle. Er begann also eine Lehre, absolvierte eine 3-jährige Berufsschule für Hochbau und absolvierte die Lehrlingsausbildung zum Installateur. Während der Woche wohnte er bei der Tante in der Provaznická-Straße in Prag, jeden Samstag fuhr er nach Dimokur zurück und am Sonntagabend saß er wieder im Bus Richtung Prag. In der Zwischenzeit hatten wir das Auto bei der alten Ziegelei abgestellt und gingen zur Mühle unterhalb des Dammes des nahen Jakobsteiches. Daneben auf einer Wiese standen einige verfallene Hütten. „Das sind die Orte meiner Jugend. Hier gab es wirklich das erste Fernsehgerät weit und breit. Von Zeit zu Zeit haben sie uns zum Schauen eingeladen“, sagte er. „Das war zu dieser Zeit eine Besonderheit. Fernsehgeräte gab es wenige und gesendet wurde nur an wenigen Tagen am Abend, hauptsächlich Opern. Mit den Fahrrädern haben wir rund um den Teich Ausflüge mit unserer Mutter gemacht, wenn sie Zeit hatte, was nicht sehr oft der Fall war. Zusammen sind wir am Sonntagnachmittag bis in den Ort Oed und wieder zurück gefahren, daran kann ich mich noch sehr gut erinnern. Und irgendwo dort“, er zeigte dabei zum Teich, ein Stück vom Ufer entfernt, „versenkten die Kommunisten eine Statue von Präsident Masaryk, die sie von Dimokur hierher gebracht hatten. Sie haben sich wohl gedacht, dass sie im Schlamm versinken und verschwinden würde. Nur haben sie sie zu nahe ans Ufer geworfen, sodass sie im Wasser zwischen der Schlamm- und Steinschicht zu liegen kam. Noch dazu zeigte das Gesicht nach oben. Wenn das Wasser klar und nicht trüb war, dann konnte man Masaryk sehen. Wehte dann noch der Wind, dann ließ er auf der Wasseroberfläche kleine Wellen entstehen und es schien so, als ob Masaryk seine Hand drohend erheben würde. Die Menschen strömten in Scharen herbei, weshalb eines Tages ein Kranfahrzeug kam, die Statue aus dem 329

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Wasser hob und irgendwohin in einen Kuhstall brachte, wo sie ihrem weiteren Schicksal überlassen wurde.“ Eine Stunde später saßen wir bereits bei ihm zu Hause in einem Reihenhaus in Vinoř. Die örtliche landwirtschaftliche Genossenschaft hatte es ihm überlassen, da er Felder an sie verpachtet hatte. Bei einer Flasche Blauburgunder erzählte er mir von seiner großen Enttäuschung, dass er das Gymnasium nicht besuchen und studieren konnte, weil er in der falschen Familie geboren worden war. Er schilderte mir, wie er als Installateur in Prag beim Bau von Siedlungen arbeitete oder Reparaturen in alten Häusern auf der Kleinseite und auch in den Palais in der Sněmovní-Straße durchführte, wo sich heute das Parlament befindet. Als ihn Verwandte aus dem Ausland besuchten, konnte er bei einem Spaziergang durch das alte Prag damit prahlen, wo er überall Waschbecken und Wasserleitungen montiert hatte. „Ich habe mich in den Sport geflüchtet“, gestand er, „ich spielte Eishockey für den LTC Prag, der in Tatra Smichov umbenannt wurde, um den Namen proletarischer erscheinen zu lassen. Das war meine einzige Freude unter dem totalitären Regime, ein anregendes Mittel, um überhaupt zu überleben.“ Er erinnerte sich an die Zeit, die er mit dem Schläger auf dem Eis verbracht hatte, dachte an seinen Trainer Tožička, einen vorzüglichen Spieler aus einer Zeit, als Eishockey noch zu den Sportarten eines Gentleman zählte und keine Nebenbeschäftigung war, als die Verteidigung der Clubfarben eine Ehrensache war und deren Entehrung als Verrat angesehen wurde. Auch diese seine Freude nahm ein jähes Ende, er erhielt nämlich seinen Einberufungsbefehl zur Armee. Es folgten zwei Jahre Militärdienst. „Ich trat meinen Dienst in Theresienstadt an und mit mir dienten dort eine Gruppe alter Haudegen, wirkliche Meister der Schikane. Sie haben es fertiggebracht, die anderen gründlich zu tyrannisieren. Sie haben das als Spiel aufgefasst, als gelungenen Spaß. Sie haben stets verkündet, wer von ihnen die Rolle des Scharfrichters übernehmen werde, und die anderen bildeten dann die Geschworenen. Wen die Geschworenen auswählten, der wurde vom Scharfrichter bestraft. Nur so, damit sie sich das Leben in der Armee vergnüglicher gestalteten.“ Diviš Czernin gehörte nicht zu ihnen, er zählte nicht einmal zu den Betroffenen, nur als die ganze Geschichte bekannt wurde – ein Soldat fand nämlich den Mut, die Vorfälle zu melden –, kam eine Sonderkommission nach Theresienstadt und untersuchte, ob es sich nicht um eine staatsfeindliche Verschwörung 330

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handelte. Der adelige Spross war unter den Ersten, gegen die ein Verdacht erhoben wurde. Worauf die Schikane seitens der Offiziere einsetzte. Der Kompaniekommandant schoss sich auf ihn, einen Sohn aus herrschaftlichem Hause, ein. Ein Vorwand fand sich immer. Eine Bestrafung ebenso. Wie etwa ein Ausgangsverbot. Oder ein persönlicher Alarm um Mitternacht und ein Appell in voller Montur. Viele Dienste in der Küche von vier Uhr morgens bis elf Uhr abends. Und sonstige Aufgaben, immer und immer wieder, am öftesten Latrinenputzen. Zum Glück wurde er nach einiger Zeit zu einer Transporteinheit nach Reichenberg versetzt. Er empfand darüber eine ungeheure Erleichterung. Die Schikanen hörten auf, er blieb aber in Bewegung. Die Tage verbrachte er hinter dem Steuer eines Lastkraftwagens oder bei der Ausbildung, am Abend spielte er Eishockey bei der Heeresauswahl Dukla Liberec. Ein Kamerad brachte ihn dorthin, er musste ihn erst gar nicht lange dazu überreden. Eishockey war für ihn gewissermaßen ein Extra, er spielte und trainierte in seiner Freizeit, wenn die anderen bei einem Bier zusammensaßen, Karten spielten oder Briefe nach Hause schrieben. Er erhielt keine Erleichterungen, aber er konnte dem militärischen Drill wenigstens am Abend in ein normales Umfeld entfliehen. „Dann kam das Jahr 1964, da waren Sie 22 Jahre alt, in dem Sie gemeinsam mit Ihren Eltern in die Emigration gingen. Wären Sie auch ohne sie gegangen?“, fragte ich ihn. „Ich wollte um jeden Preis fliehen. Die älteren Kinder haben nach dem Krieg wenigstens drei Jahre in relativer Freiheit verbracht. Aber was war mit mir? Als die Kommunistische Partei in der Tschechoslowakei die Macht ergriff, war ich gerade einmal sechs Jahre alt. Ich war noch zu jung, als dass ich wenigstens diese drei kurzen Jahre hätte auskosten können. Um meine Kindheit muss mich wirklich niemand beneiden. Ich habe nicht wirklich etwas derart Schönes erlebt, weswegen ich mein Fortgehen hätte bedauern sollen. Während der kommunistischen Herrschaft kam ich mir hier wie in einem Käfig vor. Ohne Zukunftsperspektive. Und was sie erst meinen Eltern angetan haben! Daran will ich mich lieber gar nicht erst erinnern. Gerade zu dieser Zeit, um das Jahr 1964, wurden die politischen Verhältnisse bei uns etwas erträglicher. Man begann zu reisen, wenngleich es vor jeder Reise ins Ausland nötig war, die Zustimmung des Innenministeriums einzuholen. Gleichzeitig musste man eine Einladung vorweisen. Der Cousin meines Vaters schickte uns daher einen Brief, in dem er uns zu einem Besuch einlud. Auf dessen Grundlage erhielten wir die Erlaubnis, für vier Wochen nach Österreich 331

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zu fahren. Wir fuhren mit dem Zug. Und um keinen unnötigen Verdacht aufkommen zu lassen, wir würden nicht mehr zurückkommen, fuhren wir auf drei Etappen. Zuerst meine Mutter, ich eine Woche später und nach einer weiteren Woche mein Vater. Ich habe nur einen kleinen Koffer mitgenommen, in dem sich keine persönlichen Dinge befanden, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich wollte emigrieren. Außer dem Pass keine anderen Dokumente oder privaten Briefe, keine Bücher oder Fotografien. Ich habe mit einer gründlichen Durchsuchung an der Grenze gerechnet und hatte furchtbare Angst, dass sie mich wegen einer Kleinigkeit wieder zurückschicken könnten. Während die Reise ruhig und ohne Probleme verlief, folgten für uns in Wien schwierige Zeiten. Von dem Vermögen in der Tschechoslowakei ist den Eltern nicht das Geringste geblieben und im Ausland hatten sie keinen Besitz. Wir lebten an verschiedenen Orten, jeder für sich, für eine gemeinsame Wohnung war nicht genug da, also wenig Privatsphäre und kein Komfort. Vier Jahre später kam noch meine geschiedene Schwester mit zwei kleinen Kindern dazu und teilte diese schwierige Situation mit uns.“ An diesem Abend konnte er mir seine Lebensgeschichte nicht mehr zu Ende erzählen. Es war schon nach Mitternacht und am nächsten Tag wollte er sich zeitig in der Früh mit seinen Jägern in den Wald aufmachen. „Kommen Sie doch einmal zu mir nach Österreich, dann plaudern wir weiter“, schlug er vor und notierte mir seine Adresse und Telefonnummer auf einem kleinen Zettel und schrieb Schloss Tannenmühle darunter. Auf der anderen Seite zeichnete er mir eine Karte auf, damit ich den Weg auf keinen Fall verfehlen konnte. Erst im darauffolgenden Frühling habe ich mich gemeinsam mit meiner Tochter zu ihm auf den Weg gemacht. Zur Sicherheit habe ich mir den Weg zu ihm vorher auf einer Straßenkarte angesehen, weshalb ich mit dem Gefühl zu ihm fuhr, dass wir uns nicht verirren könnten. Wie zum Trotz regnete es auf der ganzen Fahrt stark, und weil noch dazu Sonntag war, hatten sich beinahe alle Österreicher dazu entschlossen, einen Ausflug zu unternehmen. Selbstverständlich kannten sie, im Unterschied zu mir, jede Kurve und jede Abzweigung, während die Bremsen unseres Autos dem Sturzregen kaum gewachsen schienen und wir die Wegweiser an den Kreuzungen erst im letzten Moment bemerkten – wenn überhaupt. Dennoch erreichten wir am späten Abend erfolgreich Alt­ lengbach und bogen entsprechend den Instruktionen bei einer kleinen Brücke in eine Seitenstraße ein. Ein Stück weiter huschte neben uns ein weißes Tor in 332

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6. Schloss Tannenmühle ist von der Straße aus nicht zu sehen, da es von Bäumen verdeckt ist. Ursprünglich diente es als Jagdschloss und wechselte einige Male den Besitzer. Anfangs gehörte es den Trauttmansdorff, dann der Familie Arco und den Clam-Gallas, von denen es in den Besitz der Familie von Blaas überging.

einer Steinmauer vorüber, wir kehrten also um, benötigten zwei Versuche, um hindurchzufahren und befanden uns auf einem engen Feldweg. Augenblicklich wurde es still um uns, kein einziges Auto, nur eine Leuchtreklame in geringer Entfernung, auf der einen Seite Wald, auf der anderen Seite ein Bach, die nur vom Lichtkegel unserer Scheinwerfer angestrahlt wurden. All diese Eindrücke entfalteten eine heilsame Wirkung auf uns. Nach einigen Hundert Metern öffnete sich unter alten Bäumen der Blick auf Schloss Tannenmühle. Es trägt zwar die Bezeichnung „Schloss“, mehr aber erinnert es an einen alten englischen Herrschaftssitz. Außen ganz von Efeu bedeckt, innen nur Holz. Eine Umgebung, wie geschaffen für einen spannenden Krimi. Dieser Eindruck wurde noch von der regnerischen Nacht, dem schwach erleuchteten Eingang, dem länglichen Hof und den sich in der Finsternis nur in Umrissen abzeichnenden beiden Nebengebäuden verstärkt. Jetzt gleich, jetzt muss sich Miss Marple zeigen, fiel mir ein. Für einen Augenblick war ich fast davon überzeugt, ihre Silhouette an einem der Fenster gesehen zu haben. Sie zeigte sich aber nicht. Dafür begrüßten uns zwei große Hunde und unmittelbar darauf Diviš Czernin. 333

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Tannenmühle diente ursprünglich als Jagdschlösschen und wechselte einige Male den Besitzer. Es gehörte den Trauttmansdorffs, dann der Familie Arco, auch den Clam-Gallas und schließlich ging es in den Besitz der Familie von Blaas über. Das Interieur war entsprechend großzügig ausgeführt, eine breite Treppe, geräumige Zimmer mit Blick in den Garten, ein Achtung gebietender Rittersaal. Die Bilder der Familie von Blaas hingen an den Wänden – aber damit kein Irrtum aufkommt, in diesem Fall wurden die Rollen vertauscht. Die von Blaas wurden nicht porträtiert, sondern sie finden sich in der Rolle der Por­ trätierenden wieder. Der Vater und der Großvater des Letzten von Blaas waren nämlich hervorragende Maler und ihre Werke sind auch im Wiener Heeresgeschichtlichen Museum zu sehen. Aus diesem Grund schmückte nicht ein Bild eines berühmten von Blaas die Haupttreppe von Tannenmühle, sondern ein großes Porträt von Kaiser Franz Joseph. „Sie haben erwähnt, dass nach Ihrer Ankunft in Österreich miserable Zeiten über Sie hereingebrochen sind“, sagte ich und er blickte vielsagend um sich, als wir etwas später im Rittersaal unter der hohen Holzdecke in Lehnstühlen beim Kamin saßen. „Ich kann schon verstehen, dass dieses Haus nicht wirklich dem entspricht“, gestand er ein, „aber unsere ersten Schritte in der Emigration erinnerten eher an einen Weg über steiniges Brachland als an einen Spaziergang in einem Paradiesgarten. Ich konnte kein einziges Wort Deutsch, also habe ich mich zuallererst für einen Deutschkurs angemeldet. Ich habe eine Anstellung bei einem Bauunternehmen gefunden, habe als Installateur gearbeitet und montierte Zen­ tralheizungen. Wenn Sie leere Taschen haben, wenn Sie sich nicht ordentlich verständigen können, wenn Sie über keine Schulbildung verfügen und wenn die Eltern beginnen, krank zu werden, dann schwelgen Sie für gewöhnlich nicht in Selbstvertrauen. Glücklicherweise leben in Österreich viele unserer Verwandten, die bereit waren, uns zu helfen. Zwei Jahre später wurde ich an einer fünfjährigen Technischen Fachschule mit Matura aufgenommen. Während des Tages habe ich studiert und am späten Nachmittag oder Abend habe ich als Vertreter für eine Versicherung gearbeitet. Da habe ich schon zusammen mit einem Freund in einer kleinen Mietwohnung in Wien gelebt. Mein Selbstvertrauen nahm zu. Wissen Sie, was mir dabei sehr geholfen hat? Wieder der Sport. Vor allem psychisch. Wenn jemand über eine sportliche Einstellung verfügt, dann gibt er nicht so schnell auf. Das ist wie im Ring. Sie bekommen eine Wunde, das müssen Sie abschütteln und erneut 334

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kämpfen. Sonst sind sie abgeschrieben. Gleich nach der Matura bin ich in eine österreichische Firma eingetreten, die Pumpen herstellte. Es verging ein Jahr, und als ich erfuhr, dass sie einen jungen Mitarbeiter suchen, der nach Johannesburg gehen soll, habe ich mich gemeldet. Ein Bekannter von mir in Wien, auch ein Tscheche, war kurz zuvor von dort zurückgekehrt, ich hatte daher eine gewisse Ahnung, was mich erwartete. Für mich, einen ungebundenen Junggesellen, war das ein verlockendes Angebot. In Johannesburg habe ich die bunteste Mischung von Nationalitäten vorgefunden, die man sich nur vorstellen kann – Australier, Schweizer, Schweden, Engländer, Italiener, Portugiesen, Emigranten aus Rhodesien englischer Herkunft und selbstverständlich Südafrikaner. Sobald sich irgendwo zehn Leute trafen, konnte man sich sicher sein, dass jeder von anderswoher kommt, aber alle versuchten englisch zu sprechen. Drei Jahre habe ich in Südafrika Wassersysteme geplant und in meiner Freizeit habe ich Eishockey gespielt. Ein Leben ohne Sport konnte ich mir nicht mehr vorstellen. Es gab dort nur drei Mannschaften, eine schweizerische, eine österreichische und eine kanadisch-südafrikanische, alles Halbamateure. Eine Saison dauerte drei Monate und man spielte an drei Orten in kleinen Hallen für 1.000 bis 2.000 Zuschauer. Die Spiele waren in der Regel ausverkauft, Eishockey war bei den Leuten beliebt, es hat sie unterhalten. Nach drei Jahren hatte ich aber Sehnsucht nach Europa. Ich hatte auch einen anderen, ernsteren Grund für meine Rückkehr. Der Gesundheitszustand beider Eltern – sie litten an Morbus Parkinson – verschlechterte sich zusehends. Mein Vater konnte nicht mehr gehen und war auf die Hilfe anderer angewiesen. Nach Wien bin ich wegen ihm zurückgekehrt.“ Diviš Czernin heiratete erst, nachdem er die Vierzig überschritten hatte und nahm die um 17 Jahre jüngere Helene von Blaas zur Frau. In den folgenden Jahren wurden ihnen drei Kinder geboren, jedes Jahr eines – die Töchter Anniebel und Marie sowie der Sohn Karl. Etwas später fiel ihm die Aufgabe zu, Schloss Tannenmühle für die nächste Generation zu erhalten. Während der ganzen Zeit, die er in Österreich war, konnte er sich nicht dazu entschließen, in seine alte Heimat zu fahren. Er hatte keine Lust zur Rückkehr. Er hatte keinen Grund dazu. Das änderte sich nach dem November 1989 grundlegend. Im Gegensatz zu früher teilt er heute seine Zeit zwischen beiden Ländern – nach Tschechien fährt er zur Verwaltung seiner restituierten Besitzungen und nach Österreich kehrt er zu seiner Familie nach Hause zurück. Aus dem Erbe seines kinderlos gebliebenen Onkels Humprecht erhielt 335

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7. Diviš Czernin mit Gattin Helene und den Kindern Anniebel, Marie und Karl im Rittersaal von Schloss Tannenmühle.

er vom Staat 900 Hektar Wald und annähernd 120 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche. Die einzige offene Vermögensfrage bleibt das Schloss in Groß-Hluschitz. Es steht inmitten des Ortes anstelle des ursprünglichen frühbarocken Schlosses, das früher einmal der Familie Martinitz gehört hatte. Das Schloss wurde Ende des 18. Jahrhunderts geschleift und der Leinenhändler Martin Wagner ließ sich an dessen Stelle eine romantische neugotische Villa erbauen. Heute befindet sich in dem Schloss eine Fachlehranstalt. Der neogotische Tudorstil hat seinen Glanz und seine Schönheit eingebüßt, denn einmal benötigte die Schule dringend provisorische Räumlichkeiten, ein anderes Mal wurde das Umland umgestaltet und das Gebäude nach und nach mit schachtelartigen Zubauten umgeben. Das Ergebnis ist eine eigenartige Mischung, irgendetwas zwischen einem poetischbeschwingten Romantizismus und einem strengen Realismus. Die Restitution ist in diesem Fall insofern um Vieles schwieriger und verworrener, als das Gericht mit dieser Angelegenheit seit dem Jahr 1995 befasst ist und noch zu keinem endgültigen Urteil gekommen ist. Worum geht es hier eigentlich?

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Während des Zweiten Weltkrieges haben die Nazis nicht nur Graf Rudolf Czernin ins Gefängnis gesteckt. Während der Heydrichiade, also zur Zeit der grausamsten Verfolgung nach dem Attentat auf den Stellvertretenden Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, verhaftete die Gestapo auch Rudolfs Bruder Humprecht und brachte ihn in ein Zuchthaus nach Brandenburg. Die Denunziation eines örtlichen Konfidenten reichte dazu aus. Dieser beschwor, dass die in einem Waldversteck gefundene Waffe, ein Fahrrad und eine mit Dokumenten aufgefundene Aktentasche Humprecht gehörten. Im Gefängnis erkrankte er an Leukämie, das Ende des Krieges hat er nicht mehr erlebt. Er starb im Alter von 35 Jahren. Seine Frau, Prinzessin Ida, geborene Lobkowicz, heiratete nach dem Krieg den italienischen Diplomaten Fabrizio Graf Franco, der in Prag wirkte, und ging mit ihm nach Italien. Zwischen der Tschechoslowakei und Italien sollte es nach dem Jahr 1948 angeblich zu einem Vergleich über einige konfiszierte Besitzungen gekommen sein, der auch Prinzessin Ida betreffen hätte können, aber nicht hätte betreffen müssen. Zum Zeitpunkt der Restitution, also 40 Jahre später, konnte sie das weder bestätigen noch widerlegen, da sie an der Alzheimer-Krankheit litt, sich an nichts erinnern konnte und auch keine Unterlagen auffindbar waren. Es ließ sich nicht feststellen, ob sie etwas bekommen hatte oder nicht. Die ganze Angelegenheit erscheint ziemlich undurchsichtig, sie wird um die Feststellung des „Schätzwertes“ der Objekte noch weiter verschleppt, also um die erwähnten Zubauten, die taxiert werden müssen, und um die Tatsache, dass die Schule der Auffassung ist, das Schlösschen verständlicherweise nicht hergeben zu müssen. „Sie sind nach mehreren Umwegen in jenes Milieu zurückgekehrt, aus dem sie ursprünglich stammen. Sie leben wieder in einem Schloss. Nur in einem anderen Land und unter anderen Umständen. Bereitet Ihnen das ein Gefühl der Genugtuung?“ „Aber nein, von Genugtuung kann keine Rede sein. Das Schloss ist zurzeit im Allgemeinen eher eine Belastung. Nur dass man sich dessen nicht so einfach entledigen kann. Nicht nur aus Gründen der Tradition oder wegen einer zu befürchtenden üblen Nachrede. Es würde vor allem einer persönlichen Niederlage gleichkommen. Auf der anderen Seite ist es selbstverständlich angenehm, ein Schloss zu besitzen, sich an einem weitläufigen Park zu erfreuen, den Komfort zu genießen, so viel Freiraum um sich zu haben und scheinbar mit erhobener Nasenspitze zu leben. Nur das Geld, das sie ansonsten anderweitig verwenden 337

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würden, etwa für exotische Fernreisen, stopfen sie ständig in Reparaturen und Erneuerungen, während ihnen eine Wohnung mit mehreren Zimmern genügen würde, in der sie ganz und gar zufrieden wären und mit der sie weniger Arbeit hätten.“ Er hat gelernt zu sparen und hat Zeiten erlebt, in denen er jeden Schilling zweimal umdrehen musste. Es waren Zeiten, die er offenbar nicht vergessen hat. Auch heute überlegt er sich sehr gut, wofür er sein Geld ausgibt und er misst die Dinge danach, welche Arbeit und Mühe sie gekostet haben und weniger nach ihrem Marktwert. „In Tschechien haben Sie Ihr Familienvermögen oder besser gesagt einen Teil davon, denn die andere Hälfte gehört Ihrem Bruder. In Österreich haben Sie Frau und Kinder. Wohin gehören Sie heute und wo fühlen Sie sich zugehörig?“ „Wohin ich gehöre?“ Er dachte ein paar Sekunden nach. „Meine Mutter stammte ursprünglich aus Schwaben, sie wurde aber in Budapest geboren. Erst später hat sie mein Vater nach Böhmen geholt, und meine Frau ist Österreicherin. Ich komme mir ganz neutral vor ..., als Europäer. Mit meinen Kindern ist das ähnlich. Sie wachsen zwar in Österreich auf, gelegentlich kommen sie aber nach Tschechien, und nicht nur in den Ferien. Ebenso wie ich lieben sie Sport und nehmen in Österreich wie auch in Tschechien an Turnieren teil. Sie haben ihre Freunde da wie dort. Aus ihnen werden offenbar zukünftige Mitteleuro­ päer.“ Alle Mitglieder der Familie Czernin, von denen bisher die Rede war, stammen aus der Linie von Vinoř, die aber nur einen Teil des weit ausladenden Stammbaumes der Czernins bildet, dessen Wurzeln tief in die Vergangenheit ausgreifen. Der erste, durch schriftliche Quellen belegte Czernin findet sich in der böhmischen Geschichte bereits am Ende des 12. Jahrhunderts, der bis zum Jahr 1212 das Amt des Oberstkämmerers des Königreichs Böhmen innehatte. Damals brachte er König Přemysl Otakar I. gegen sich auf, denn er heiratete Adleta, die Přemysl geächtet hatte, und zur Wahrung des Rechts und der Wahrheit wurde er, wie es sich gehört, bestraft – der König enthob ihn seiner Ämter und verwies ihn des Landes. Die Legende über den Ursprung des Namens Czernin – zum Teil der Phantasie entsprungen, zum Teil entspricht sie vielleicht den Tatsachen – stammt aus einer noch älteren Zeit. Sie erzählt davon, wie der Sitz des altböhmischen Herrengeschlechts der Drslawitz, die Vorgänger der Czernins von Chudenitz, 338

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von einer Gruppe Bayern überfallen wurde, die jeden ermordeten, den sie antrafen. Dem blutigen Massaker konnten nur eine alte Amme und ein Kleinkind, der Sohn ihrer Herrin, der ihr anvertraut worden war, entkommen. Im letzten Augenblick versteckte sie ihn im Rauchfang und verbarg sich ganz in der Nähe. Als die Bayern abgezogen waren, kamen die Leute aus der Umgebung, um zu sehen, was geschehen war. Sie fanden nur die verweinte Amme mit dem Kindlein in den Armen, ein armes, kleines Geschöpf, das vom Ruß ganz schwarz war. Zur Erinnerung an seine Errettung hat der Bursche, als er herangewachsen war, angeblich den Namen Czernin (tschech. černý = schwarz) angenommen und seinen Wohnsitz in Chudenitz (tschech. chudý = arm, bedürftig, elend) umbenannt. Im 14. Jahrhundert verarmte das Geschlecht tatsächlich, sank in den Ritterstand zurück und hatte seinen Sitz nur noch in Chudenitz. In den folgenden zwei Jahrhunderten teilte sich die Familie in vier Linien – jene von Radnitz, Tasnowitz, Chudenitz und Nedrahowitz. Während die Radnitzer, Tasnowitzer und zu guter Letzt auch die Chudenitzer Linien ausstarben, wurde alleine die Nedrahowitzer Linie bis zum heutigen Tag fortgeführt. Ihre Mitglieder griffen oftmals sehr erfolgreich in die Geschichte des Königreichs Böhmen und der ganzen Donaumonarchie ein. Zur Zeit der Ständeerhebung hielten die meisten Czernins den Habsburgern die Treue und nach der Schlacht auf dem Weißen Berg im Jahr 1620 war ihr Stern abermals im Steigen begriffen. Jan Karel aus der Tasnowitzer Linie verließ zwar aus Glaubensgründen Böhmen, bildete aber eine Ausnahme, während sich Herman Czernin aus Nedrahowitz, der später den Beinamen Fundator erhielt, ohne Zögern auf die Seite des Thrones stellte. Er musste für einige Zeit nach Sachsen fliehen, mit dem kaiserlichen Heer kehrte er jedoch zurück und kämpfte in der Schlacht auf dem Weißen Berg. Seine Treue belohnte der Kaiser im Jahr 1623 mit der Erhebung in den Freiherrenstand und vier Jahre darauf mit der Verleihung der Grafenwürde. Daneben erhielt er ein Vorrecht beim Kauf von konfiszierten Gütern. Bis zu welchem Maß seine Haltung von wirklicher Überzeugung, von politischer Weitsicht und von klugem Taktieren bestimmt war, ist heute schwer zu beurteilen. Man kann ihm aber nicht absprechen, dass er sich als tapferer Heerführer bewährte, was er während des Dreißigjährigen Krieges unter Beweis stellte. Ebenso war er ein fähiger Diplomat, denn bei Verhandlungen in Konstantinopel, wohin er sich mit einer 150-köpfigen Delegation und mit vielen Geschenken aufgemacht hatte, gelang es ihm, den türkischen 339

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Sultan davon zu überzeugen, von einem Kriegszug gegen die österreichischen Länder abzulassen und stattdessen vorteilhafte wirtschaftliche Beziehungen anzuknüpfen. Ebenso bewies er auch literarische Fähigkeiten und verfasste über seine Mission in das Osmanische Reich einen packenden Reisebericht. Sein älterer Bruder Diviš bemühte sich ebenfalls darum, auf dem politischen Parkett zu reüssieren. Er hatte ambitionierte Ziele, zu deren Umsetzung ihm allerdings nicht nur die entsprechenden Fähigkeiten, sondern auch das entsprechende Quäntchen Glück fehlten. Zur Zeit der Ständeerhebung trug er sich dem „Winterkönig“ Friedrich von der Pfalz an. Nicht, dass er zu einem seiner Bewunderer geworden wäre, nur wollte er es sich weder mit der einen noch mit der anderen Seite verscherzen und er konnte sich einfach zu keiner Entscheidung durchringen. Er beging einen verhängnisvollen Fehler, der ihm von den Siegern der Schlacht auf dem Weißen Berg nicht verziehen wurde. Als Hauptmann der Prager Burg gewährte er den wutentbrannten Vertretern der Stände Einlass, was mit dem Fenstersturz der Statthalter und deren Schreiber endete. In Wirklichkeit führte er aber nur den Befehl von Adam von Sternberg, seines Vorgesetzten und Obersten Burggrafen, aus. Dieser Umstand ist freilich schwer zu erklären, besonders dann, wenn ein Sündenbock gesucht wird. Zweieinhalb Jahre später wurde Diviš in seinem Haus in Prag gefangen genommen und auf der Prager Burg interniert. In einem Brief bat er um die Fürsprache seines Freundes Zdeňek Adalbert Popel von Lobkowicz, des Führers der katholischen Partei und hoffte auch auf seinen Bruder Herman. Hilfe kam weder von dem einen noch von dem anderen. Herman hat sich angeblich überhaupt nicht darum bemüht, auch nur irgendetwas zu seiner Rettung zu unternehmen. Er gab sogar mit dem Abfeuern einer Kanone von der Prager Burg aus selbst das Zeichen, um mit den Hinrichtungen der Aufständischen auf dem Altstädter Ring zu beginnen. Möglicherweise wollte er so seinem Bruder vergelten, was ihm dieser während einer Reise durch Italien angetan hatte. Damals erkrankte der erst 14-Jährige ernsthaft und Diviš wollte ihn mit seinem anderen Bruder Humprecht für tot erklären lassen, um so in den Besitz seines Vermögens zu gelangen. Unter den 27 Verurteilten wurde Diviš dem Henker als Achter übergeben und noch vor der Hinrichtung sollten ihm jene zwei Finger abgehackt werden, mit denen er den aufrührerischen Ständen seine Treue geschworen hatte. Kaiser Ferdinand II. machte allerdings von seinem Recht Gebrauch und änderte das Urteil zur Unzufriedenheit der anwesenden Menge in eine gewöhnliche Hinrichtung ab. 340

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In der langen und reichen Geschichte der Czernins befindet sich auch eine Reihe von bemerkenswerten Persönlichkeiten, zu denen etwa Humprecht Johann (1628–1682) zählt, der das anmutige Jagdschlösschen bei Sobotka errichten ließ und der den Bau des weitläufigen Palais Czernin oberhalb der Prager Burg in Angriff nahm, in dem sich heute das Außenministerium der Tschechischen Republik befindet. Er pflegte eine enge Beziehung zur Kunst und seine Sammlung wurde die Grundlage für die prächtige Bildersammlung der Familie Czer­ nin. Dieser Mann bezeugte ebenfalls ein tiefes Verständnis für die Familientradition und kaufte die Güter des verarmten Familienzweiges von Chudenitz auf, damit sie den Czernins erhalten blieben und nicht in fremde Hände gerieten. Seinen Zenit erreichte der Czernin’sche Reichtum an Grund und Boden in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter Franz Josef Czernin, Oberstmundschenk des Königreichs Böhmen, Obersthofrichter und k. k. geheimer Rat. In seinem Besitz waren vor allem Petersburg, Schönhof, Kost, Velechov, Kosmanos, Chudenitz, Schwihau, Engelsburg, Vinoř, Rabstein, Neudek. In den Besitz der Czernins gelangte auch die königliche Herrschaft Melnik und durch die Heirat von Franz Josefs Vater, Hermann Jakob, mit Maria Josefa Gräfin Slavata von Chlum und Koschumberg fiel dem Geschlecht die bedeutende Neuhauser Besitzung aus dem ausgedehnten Erbe der Slavata zu. Der Repräsentant des Geschlechts durfte von dieser Zeit an den Titel „Regierer des Hauses Neuhaus und Chudenitz“ führen. Zu Franz Josefs Lebzeiten verschlechterte sich die finanzielle Situation der Familie und verlangte nach einiger Umsicht, katastrophale Einschnitte waren jedoch nicht vonnöten. Seine Erben mussten jedoch kurzerhand einige Herrschaften und Güter verkaufen, später auch den Palast auf dem Hradschin. Sie taten dies wohl mit einiger Erleichterung und überließen die Sorgen für ein derartig großes Objekt dem Staat, der es in eine Kaserne umwandelte. Graf Johann Rudolf (1757–1845), der – neben der Erfüllung seiner hohen Funktionen – die k. k. Akademie der bildenden Künste in Wien leitete, bemühte sich um die Stabilisierung der ins Wanken geratenen finanziellen Situation der Familie. Der Graf war ein Freund der Wissenschaft, der bildenden Kunst und der Musik, sammelte Kunstgegenstände und bereiste, wie es guter Brauch war, eine Reihe von Ländern. In Chudenitz ließ er ein Kurhaus errichten, wohin die Vertreter des tschechischen politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Lebens reisten, wie etwa František Palacký, František Ladislav Čelakovský oder Josef Dobrovský.

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Sein einziger Sohn Eugen Karl (1796–­ 1868) gehörte zu den herausragendsten Persönlichkeiten seiner Zeit. Auf seiner Herrschaft im westböhmischen Petersburg schuf er eine archäologische Sammlung, in Chudenitz legte er den Amerikanischen Garten an und in Neuhaus vereinte er die Archive der Herren von Neuhaus, der Herren von Slavata und das Familienarchiv seines Geschlechts, womit er die zweitgrößte archivalische Sammlung in Böhmen schuf. Er hatte den Ruf eines Philanthropen und bemühte sich auf seinen Herrschaften um die 8. Ein Repräsentant des Neuhauser Zweiges Einführung sozialer Programme, was der Czernins, Graf Eugen (1892–1955). Sein keine Selbstverständlichkeit war. Besitz umfasste nicht nur die Herrschaft NeuIn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhaus, sondern auch die Schlösser Chudenitz, Schönhof und Petersburg. hunderts verzweigt sich der Stammbaum der Czernins: die Nedrahowitzer Linie teilt sich in die Primogenitur von Neuhaus und die Sekundogenitur von Vinoř, wobei sich die Neuhauser Linie später in drei Zweige teilte, nämlich jene von Neuhaus, Vrchlaby-Morzin und Graz. Am Beginn des 20. Jahrhunderts standen die Neuhauser Besitzungen der Czernins unter der Verwaltung von Eugen II. In Wien, wo er den Großteil seines Lebens verbrachte, nannte man ihn den „böhmischen Czernin“ oder den „böhmischen Grafen“. Gemeinsam mit seinem Vater unterzeichnete er die staatsrechtliche Deklaration der tschechischen Abgeordneten im böhmischen Landtag und schon seit seiner Jugend bekundete er Interesse an der böhmischen Frage. In erster Linie aber war er ein Höfling, denn er gehörte dem Hochadel bei Hofe an und hatte einen Treueid auf die kaiserliche Familie und die Mo­ narchie abgelegt. Die Czernin’sche Domäne, die er in der Geschlechterfolge von seinem 87-jährigen Vater übernommen hatte, umfasste beinahe 32.000 Hektar mit elf Schlössern und 64 Wirtschaftsbetrieben sowie einige Brauereien, Ziegeleien, Sägewerke, Mühlen und auch eine Zuckerfabrik, eine Spiritusfabrik und ein Elektrizitätswerk. Nach den Besitzungen der Familien Schwarzenberg, Col342

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9. Karl Eugen Czernin, Enkel des letzten Neuhauser Schlossherren, Graf Eugen.

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loredo-Mannsfeld, Fürstenberg, Liechtenstein, Waldstein und der Habsburger handelte es sich um den siebentgrößten Grundbesitz im Königreich Böhmen. Historische Ereignisse erinnern manchmal an plötzlich entfesselte Naturgewalten, denen jeder Sinn für Gerechtigkeit abgeht. Die 1918 neu gegründete Tschechoslowakische Republik setzte dem „Regierer des Hauses Neuhaus und Chudenitz“ zuerst mit der Abschaffung der Adelstitel, der Zensur der persönlichen Post und bald darauf mit der Bodenreform zu. Am schlimmsten war davon der Großgrundbesitz in Neuhaus betroffen – von 11.500 Hektar blieb dem Grafen nur ein Drittel. Er empfand das als große Ungerechtigkeit. Er, der ein freigiebiger Mäzen und Förderer der Künste und der Bildung war, der oftmals anderen geholfen hatte, wurde durch den unerwarteten Undank seiner Umgebung schmerzhaft getroffen. Noch vor der Durchführung der Bodenreform hatten ihm Bekannte geraten, im Landwirtschaftsministerium an geeigneter Stelle Bestechungsgeld in nobler Höhe zu deponieren und zumindest einige seiner kleineren Schlösser dem Staat umsonst als Geste seines guten Willens zu überlassen. Solche Ratschläge lehnte er aus Prinzip ab. Ein derartiges Vorgehen erschien ihm unwürdig zu sein. Eine weitere schwere Wunde schlug ihm die Beschlagnahmung seines Jagdschlosses Gestütthof bei Neuhaus, wo er sich besonders gerne aufgehalten hatte. Zwei Jahre später erlitt der 74-jährige Graf einen Schlaganfall und verstarb wenige Tage darauf. Da er kinderlos geblieben war, ging der Besitz der Neuhauser Linie auf seinen Bruder Franz über. Der aber war ein alter Junggeselle, weshalb er seinen Großneffen Eugen Alfons aus dem Zweig von Hohenelbe adoptierte, um so auch vom rechtlichen Standpunkt aus die Weiterführung der Neuhauser Linie zu sichern. Mit der Auflage, sich um den anvertrauten Besitz zu kümmern, übergab er die Familienstafette an ihn weiter. Eugen, Absolvent des renommierten Eton-College, war nach Meinung anderer ein einnehmender und gebildeter Mann, der die ihm anvertraute Aufgabe sehr ernst nahm. Als der Historiker Jan Tříska in seine Dienste trat und die Stelle eines Archivars übernahm, legte ihm Eugen ans Herz: „Ihre allerwichtigste Pflicht, Herr Doktor, wird es sein, mich an die böhmische Tradition meines Geschlechts zu erinnern.“ Auf Traditionen hielt er sehr viel, war er doch ein Anhänger der österreichischen Monarchie und über die Habsburger ließ er nichts kommen. Nur dass die Zeit dem Traditionalismus keinen Platz einräumte und Europa an ein schlingerndes Schiff im Sturm erinnerte, das von Meeresklippen umgeben war.

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Als im August 1938 Lord Runciman an der Spitze einer britischen politischen Mission in die Tschechoslowakei kam, um zwischen der tschechoslowakischen Regierung und der Sudetendeutschen Partei zu vermitteln, besuchte er auch Eugen Czernin in dessen Schloss in Petersburg bei Podersam. Der Führer der Sudetendeutschen Partei SdP, Konrad Henlein, nutzte die Gelegenheit und organisierte dort eine Demonstration, an der nicht nur Hunderte seiner Parteianhänger aus den sudetendeutschen Gebieten, sondern auch aus dem Deutschen Reich teilnahmen. Vor dem Fenster rief die fanatisierte Menge immer wieder eingeübte Losungen, unter anderem auch das legendär gewordene „Lieber Lord, mach uns frei von der Tschechoslowakei“. Mit Runciman trafen damals noch viele andere zusammen, aber Czernin entglitt dieses Treffen sprichwörtlich aus den Händen. Ob er jetzt daran irgendeine Schuld trug oder nicht, mit dem Vorwurf, die Sudetendeutschen in ihrer Bestrebung um die Abtretung ihrer Wohngebiete bestärkt zu haben, musste er sich immer wieder auseinandersetzen. Ich selbst würde einer solchen Beschuldigung nicht das Wort sprechen, es passt eben nur nicht ganz zusammen, dass Graf Czernin, Oberleutnant der Reserve, ein paar Wochen später seinem Einberufungsbefehl Folge leistete und zu seinem Truppenkörper in Pilsen einrückte. Nach den Unterlagen verbrachte er dort bis zur Demobilisierung ganze zwölf Tage. Ein halbes Jahr später, nach der Okkupation der Tschechoslowakei und der Errichtung des Protektorates, wurde in einer Verordnung geregelt, dass Staatsangehörigen der Tschechoslowakei mit deutscher Nationalität, die zum 10. Oktober 1938 in irgendeiner Gemeinde Böhmens, Mährens oder Schlesiens wohnhaft waren, ab dem 16. März 1939 die deutsche Staatsbürgerschaft verliehen wird. Das betraf auch Eugen Czernin. Bei der neun Jahre vorher abgehaltenen Volkszählung führte er zwar in der Rubrik Staatsangehörigkeit „tschechoslowakisch“ an, als Muttersprache und in der Kategorie Nationalität nannte er allerdings „deutsch“, obwohl er in seinen militärischen Dokumenten als Nationalität „tschechisch“ anführte. So wurde aus ihm aufgrund der obrigkeitlichen Verordnung ein reichsdeutscher Staatsbürger. Einerseits war das für ihn von Vorteil. Wäre er nämlich Protektoratsbürger geblieben, wäre er schon damals um einen großen Teil seines Familienbesitzes gekommen – um den Stammsitz Petersburg, Herrschaft und Schloss Schönhof und ein paar weitere Objekte, die auf jenem Gebiet lagen, das nach dem Münchner Abkommen 1938 an das Deutsche Reich angeschlossen wurde. Nach einer anderen damals herausgegebenen 345

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Verordnung wurde nämlich jener Besitz von Protektoratsbürgern, der sich auf dem Gebiet des Großdeutschen Reiches befand, automatisch zu einer „reichseigenen Domäne“, somit also deutsches Eigentum. Der Wechsel der Staatsbürgerschaft war für ihn vor allem mit Einbußen und Verlusten verbunden. Um seinen Besitz wurde er ohnehin gebracht und darüber hinaus verlor er noch etwas viel Wertvolleres. Sein ältester Sohn Karl musste sein Studium der Rechte unterbrechen und zur Wehrmacht einrücken. Czernin erwirkte dank seiner Verbindungen dessen Versetzung zu einer Versorgungseinheit irgendwo im preußischen Hinterland, aber wie es das Schicksal wollte, zog gerade diese Einheit als eine der ersten in den Kampf. Bei dem Städtchen Le Chésne in Frankreich traf den unerfahrenen Soldaten Karl zu einem Zeitpunkt, als das Gewehrfeuer verstummt war, die Kugel eines französischen Scharfschützen. Graf Eugen Czernin zählte unter den böhmischen Adeligen nicht zu den tschechischen Nationalisten, sondern er bemühte sich darum, sich einfach nicht mit den Nazis abzugeben. Zu keinem Zeitpunkt war er Mitglied der Nationalsozialistischen Partei gewesen, obwohl ihm die Mitgliedschaft angetragen, besser gesagt sogar eher schon aufgezwungen worden war. Auch seine deutschen Angestellten auf dem Großgrundbesitz in Petersburg versuchten ihn anzuwerben, aber als er ablehnte, beschwerte sich der Vorarbeiter beleidigt bei der Kreisleitung der NSDAP in Saaz darüber, dass ihn der Herr Graf mit scharfen Worten abgewiesen hätte. Die Kreisleitung ließ unmittelbar darauf den Grafen zu sich rufen, um zu klären, warum er es auf so ausfallende Weise abgelehnt hatte, der Partei beizutreten. Czernin musste dorthin fahren, erklärte seine Vorgehensweise, entschuldigte sich, dessen ungeachtet trat er nicht bei und unterschrieb das Formular zur Aufnahme in die NSDAP nicht. Dank der Tatsache, dass er Verbindungen zu hohen deutschen Beamten und Offizieren der Wehrmacht unterhielt, gelang ihm Verschiedenes, was anderen nicht möglich gewesen wäre. Es liegen Aussagen darüber vor, dass er den Reichsprotektor von Neurath zu einem Gespräch in Prag traf und damit half – wie ihn der Gemeinderat von Neuhaus gebeten hatte –, das tschechische Gymnasium in Neuhaus vor der Schließung zu bewahren, das ansonsten in eine deutsche Schule umgewandelt worden wäre; dass er im November 1939 für die hingerichteten tschechischen Studenten eine Heilige Messe lesen ließ; dass er den Familien tschechischer Angestellter, die von den Nazis eingesperrt worden waren, weiterhin den Lohn ausbezahlte, damit sie ihren Unterhalt bestreiten konnten, obwohl etwas Derartiges nach den deutschen Vorschriften streng verboten war 346

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und unter Strafe stand; dass er große Anstrengungen unternahm, den Anschluss von Neuhaus an das Großdeutsche Reich zu verhindern, wie es dem Wunsch der benachbarten deutschen Ortschaften entsprochen hätte; dass er entgegen der unmissverständlichen Anordnung des deutschen Kommandanten von Neubistritz nicht alle tschechischen Angestellten entließ, und erst als es keine andere Möglichkeit mehr gab, stellte er sie alle im tschechischen Gebiet von Chudenitz an, entließ aber niemanden. In seiner Umgebung gab es einen Denunzianten und die Gestapo führte bei ihm einige Hausdurchsuchungen durch, er wurde aber niemals eingesperrt, es blieb allein bei Drohungen. Davon zeugt auch ein Schreiben des Sicherheitsdienstes SS – Leitabschnitt Prag, der das Datum vom 11. März 1942 trägt, ­adressiert an den Staatssekretär beim Reichsprotektor für Böhmen und Mähren, Karl Hermann Frank, und an den Kommandanten des Sicherheitsdienstes des Reichsführers-SS, Fischer: Betrifft: Graf Eugen Czernin, Inhaber des Großgrundbesitzes in Neuhaus Seitens der deutschen Bevölkerung von Neuhaus wurde bereits mehrere Male Beschwerde über das Verhalten von Graf Eugen Czernin und über die Verhältnisse auf seinem Großgrundbesitz in Neuhaus geführt. Obwohl sich der Graf zum Deutschtum bekennt, lässt sich hinsichtlich seines Verhaltens und seiner Einstellung eher von einer Schwächung als von einer Stärkung des Neuhauser Deutschtums sprechen. Der Graf bewegt sich ausschließlich in tschechischen Kreisen und seine Frau bedient sich ausschließlich der tschechischen Sprache. Abgesehen von den zweisprachigen Aufschriften hat sich im Gegensatz zu früher auf dem Großgrundbesitz praktisch nichts geändert. Sogar die Korrespondenz wird auf Tschechisch geführt. Außer einem Deutschen in untergeordneter Position sind die Angestellten nur Beamte und Angestellte, die als fanatische Tschechen bekannt sind. Weil die vaterländische Arbeit für das Reich unter der unentschlossenen Haltung des Grafen leidet, wäre es wünschenswert, auf den Grafen von entsprechender Stelle aus den nötigen Druck auszuüben. Darunter befindet sich eine unleserliche Unterschrift und auf dem Brief ist die Aktenzahl IV A-19/42 angeführt. Nach dem Krieg wurde der Graf in das Gefängnis von Prag-Pankrác eskortiert. Während seines Gefängnisaufenthaltes wurde er oftmals verhört, einmal auch von der sowjetischen Geheimpolizei. Kollaboration konnte ihm aber nicht 347

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nachgewiesen werden und nach sechs Monaten wurde er auf freien Fuß gesetzt. In der Zwischenzeit wurde sein Besitz konfisziert, und als er wieder nach Neuhaus zurückkehren wollte, wurde ihm der Zutritt zum Schloss verweigert. Er wusste nicht, wohin er gehen sollte, und so fand er Aufnahme im Armenhaus zum Hl. Johannes dem Täufer, dessen Mäzen er einstmals gewesen war. Ende 1945 ging er nach München, wo seine Frau Josephine, eine geborene Schwarzenberg, und seine Kinder Therese und Rudolf bereits Zuflucht gefunden hatten. Er gelangte wie zuvor schon seine Familie mithilfe der amerikanischen Armee dorthin, sodass er den Unannehmlichkeiten der Vertreibung entging. Kurz darauf begab er sich gemeinsam mit seiner Familie nach Österreich, wo er in weiterer Folge auch verblieb. Über sich selbst gab er an, eine „displaced person“ zu sein – ein Heimatloser ohne Staatsangehörigkeit –, und in seinem Antrag auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft berief er sich erstaunlicherweise nicht auf seine ehemalige reichsdeutsche Staatsangehörigkeit, obwohl das die Amtshandlung beschleunigt hätte, sondern suchte als ehemaliger tschechoslowakischer Staatsbürger an. Knapp fünfzig Jahre später bemühte sich sein Sohn Rudolf um die Rückgabe des Familienbesitzes. Die ehemaligen Czernin’schen Güter umfassten auch nach allen Bodenreformen noch einige Herrschaften, Schlösser, Höfe mit Ländereien sowie Wälder, Fischteiche in West-, Nord- und Südböhmen, deren Gesamtwert eine Milliarde Kronen überstieg. Sein Antrag wurde abgelehnt. Er wandte sich an das Höchstgericht, das seinem Ansuchen stattgab, der Fall wurde an ein Gericht niedrigerer Instanz verwiesen, auch das Innenministerium griff in den Fall ein, der Rechtsstreit zog sich in die Länge. Schlussendlich resignierte Rudolf. „Wenn sie mir etwas zurückgeben wollen, dann sollen sie das tun, aber ich werde dafür keinen Finger mehr krumm machen“, ließ er verlauten. Wenn er den Streit um die Restitution definitiv verliert, würde er sich erneut, dann bereits schon zum zweiten Mal, als ein aus Böhmen Vertriebener fühlen. Sein Sohn Karl Eugen ist zäher. Geduldig bemüht er sich weiterhin, in Stille und ohne mediales Aufsehen, von dem einige andere Restitutionsfälle begleitet werden, um die Rückgabe des enteigneten Vermögens. „Ich habe keine Eile, ich dränge nicht auf die Durchsetzung der Restitution“, behauptet er. „Ich bin davon überzeugt, dass sich die Tschechische Republik immer mehr zu einem Rechtsstaat entwickeln wird. Und ein Rechtsstaat muss doch in der Lage sein, seine Rechtsordnung zu modernisieren.“ 348

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10. Ebenso wie die Lobkowicz können sich auch die Czernins nicht über einen Mangel an Nachkommen beschweren. Das Bild einer Glückwunschkarte zum neuen Jahr stellt das anschaulich unter Beweis.

Er lebt ungefähr 30 Kilometer südlich von Wien. Sein gelbes Haus steht dicht am Rand einer Kleinstadt mitten im Grünen, gleich neben dem Wegweiser, der den Weg zum Golfplatz weist. Als er das Haus kaufte, war es ein altes verlassenes Gebäude, eigentlich eine Ruine. Es ließ es umbauen und das Ergebnis war kein architektonisch schreiendes Gebäude aus Kunststoff und Glas, sondern ein eher altväterischer Bau, der schon auf den ersten Blick angenehm wirkt und in dem es sich angenehm leben lässt. Zusammen mit meiner Tochter traf ich am Ende eines sonnigen Frühlingstages bei ihm ein, wo wir zum Abendessen eingeladen waren. Es begann wie immer nach sieben Uhr, das sei eine Regel, sagte er. Seine Frau und er würden sich bemühen, dass die ganze Familie zumindest einmal am Tag zusammenkomme und sie achteten darauf, dass sich ihre Kinder zum Abendessen umzögen. An dem langen Tisch nahmen daraufhin Karl Eugen Czernin, seine Frau Fiona, geborene Gräfin von Rechberg und Rothenlöwen, und die sieben Kinder Platz. Der Älteste, Wenzel, war zu dieser Zeit 16 Jahre alt und der Jüngste, Lorenz, eben erst zwei Monate. Auch er durfte freilich nicht fehlen, sein Stubenwagen fand gleich neben dem Tisch seinen Platz. Das Abendessen begann mit einem Gebet und endete auch ebenso. Das Essen – Brot, Gemüse, Aufschnitt und 349

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Schinken – wurde von einer Bediensteten aufgetragen, einer älteren Dame, die sich auch an den Tisch setzte und die beinahe zur Familie gehörte. „Verraten Sie mir doch bitte, wie Sie es fertigbringen, dass Sie jeden Abend zur gleichen Zeit zusammenkommen und dass niemand von Ihnen irgendwohin eilt?“, fragte ich ihn. „Diesen Umstand verdanken wir vor allem dem Fernsehen“, lachte er. „Nicht weil wir einen haben, sondern weil wir, ganz im Gegenteil, eben keinen besitzen. Wir haben hier am Rande des Waldes einen so miserablen Empfang, dass wir eine spezielle Antenne montieren müssten, was, das verstehen Sie bestimmt, eine ganz gute Ausrede ist, um sie nicht installieren zu müssen. Während des Essens halten wir uns an die Regel, nicht über die Arbeit oder über unsere Probleme zu sprechen. Sorgen sind tabu. Dafür ist sonst noch Zeit genug. Das gegenwärtige Lebenstempo bringt viel Stress mit sich, und warum sollten wir uns die schönen gemeinsamen Augenblicke von irgendetwas vergällen lassen?“ Und wirklich hetzte niemand irgendwohin, nur die älteren Kinder mussten noch ihre Schulaufgaben fertig machen. Bevor sie gingen, verabschiedete sich einer nach dem anderen von uns. Der 13-jähige Leo küsste meiner Tochter sogar wirklich allerliebst die Hand. Im Unterschied zu seinem Großvater oder Vater und den Verwandten aus dem Zweig von Vinoř musste Karl Eugen in seinem Leben keine großen Erschütterungen hinnehmen. Er wurde in Österreich geboren, studierte Forstwirtschaft in Wien und lebte einige Zeit in Argentinien, wo er mit Vieh handelte. Ursprünglich dachte er daran, sich dort ein Grundstück zu kaufen, aber etwas Derartiges ließen die dort geltenden Gesetze nicht zu, worauf er einige Zeit später nach Österreich zurückkehrte. Damals entschied sich sein Vater, das Kostbarste zu verkaufen, was ihm aus dem Familienbesitz geblieben war – die berühmte Bildersammlung der Familie Czernin –, und teilte das Geld auf seine Kinder auf. Karl Eugen kaufte dafür einen Wald und einen Golfplatz sowie in Enzesfeld, einem kleinen Städtchen in der Nähe, ein altes Haus, in dem er jetzt lebt. „Während des Krieges, irgendwann im Jahr 1941, vielleicht auch 1942“, erinnerte er sich, „wollte mein Großvater Eugen alle Bilder von Wien nach Böhmen bringen, um sie im Schloss von Neuhaus unterzubringen. Angesichts der sich mehrenden Anzahl an Bombardierungen hielt er Neuhaus für den sichereren Ort. Er hat dazu viele Anstrengungen unternommen, aber die damaligen reichsdeutschen Ämter haben ihm die Ausfuhr untersagt. Die Bilder verblieben daher 350

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auch weiterhin an ihrem Platz, und ich denke erst im vorletzten Kriegsjahr wurde die ganze Sammlung in Sicherheit gebracht, und zwar zusammen mit anderen staatlichen Sammlungen in den Stollen eines Salzbergwerkes in Salzburg. Das war ein großes Glück für uns. Bei einem der Bombenangriffe auf Wien wurde auch das Palais Czernin von den Bomben eines alliierten Flugzeuges getroffen, aber zu der Zeit war die Bildersammlung schon weggebracht worden. Beim Verkauf hatte der Staat das Vorkaufsrecht, sodass sie mein Vater nicht an jeden x-Beliebigen verkaufen konnte. Darüber hinaus musste er dem Staat einige Bilder schenken, andernfalls wäre der Verkauf erst gar nicht möglich gewesen. Darauf haben die Mitarbeiter des österreichischen Denkmalamtes ein Auge gehabt, in Österreich ist man da sehr streng. Vor Kurzem habe ich mit dem Urgroßneffen von Thronfolger Ferdinand d’Este gesprochen, dessen Besitz von Hitler konfisziert wurde. Stellen Sie sich vor, er musste sechs Jahre lang einen Prozess mit der Republik Österreich über die Rückgabe führen.“ Unser Gespräch mit Karl Eugen Czernin ging auf Mitternacht zu. Mit leidenschaftlicher Ergriffenheit erzählte er von seinen Vorfahren, in einem Umfeld, das seine Ausführungen ausgesprochen stilvoll umrahmte: Von den Bildern und Grafiken an den Wänden blickten jene zu uns herab, von denen er sprach. Geradezu beharrlich verteidigte er das Andenken an seinen Großvater Eugen, des früheren Regenten von Neuhaus und Chudenitz. Als dieser in einem Artikel der tschechischen Tageszeitung Pravo vor einigen Jahren der Kollaboration mit den Nazis beschuldigt wurde, erwirkte Karl Eugen, dass die Redaktion eine Entschuldigung abdrucken und einräumen musste, dass im Artikel „Czernins Spiel um Milliarden“ unrechtmäßig angeführt worden war, dass sich Eugen Czernin während des Krieges des Verrats und der Kollaboration schuldig gemacht hätte. „Im Mai 1945 wurde mein Großvater, wie Sie wissen, verhaftet und im Prager Gefängnis Pankrác interniert. Er verbrachte sechs Monate in Gefangenschaft und konnte beweisen, dass er mit der Demonstration in Petersburg, die man ihm vor allem zur Last legte, nichts zu tun hatte. Bei alledem war es an ihm, seine Unschuld zu beweisen, nicht dass die Ermittler seine Schuld hätten beweisen müssen. Während der Nachkriegszeit existierte so etwas wie eine Unschuldsvermutung nicht. Schlussendlich wurde er freigelassen, was sicherlich im Zuge eines Gerichtsverfahrens um Wiedergutmachung von entscheidender Bedeutung gewesen wäre. Bedauerlicherweise stehen diese Unterlagen nicht zur Verfügung, denn die Strafakte aus dem Gefängnis Pankrác ist verloren gegangen.“

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Über die Geschichte der Familie Czernin, beginnend im Jahr 1193, verfasste er ein Buch, dessen Herausgabe er selbst finanzierte. Es kostete ihn eine Menge Zeit und Geld, er suchte Archive auf, studierte, forschte, korrespondierte mit Historikern. Als er die Arbeiten an dem Buch abgeschlossen hatte, gab er seiner Frau das Versprechen, das Schreiben sein zu lassen. In Zukunft würde er sich nicht mehr zu etwas Ähnlichem hinreißen lassen, es sollte keine weitere Rückkehr in die Vergangenheit geben, er würde die Familie nicht um ihre gemeinsame Gegenwart bringen. Natürlich hat er es nicht ausgehalten und schrieb ein weiteres Buch, dieses Mal über die Rosenberger, die mit Petr Vok in der männlichen Linie ausstarben, die aber durch die weibliche Linie mit seinem Geschlecht verbunden sind. Einem solchen Argument gegenüber konnte sich auch seine Frau Fiona nicht verschließen. Er findet sich mit großer Zuverlässigkeit nicht nur im eigenen Czernin’schen Stammbaum und in dem einiger anderer adeliger Häuser zurecht, sondern verfügt auch über bemerkenswert gute Kenntnisse der böhmischen Geschichte. Er ist Österreicher, seine Muttersprache ist Deutsch, dennoch sprach er in der Mehrzahl von „wir“, wenn die Sprache auf Böhmen oder auf die Tschechen kam. Er erklärte, dass sein Geschlecht bis in die tiefsten Wurzeln böhmisch sei, während unseres Gespräches blieb er strikt beim Tschechischen. Seine Sichtweise auf die tschechische Geschichte ist freilich mehr von Historikern vom Typ eines Josef Pekař beeinflusst als durch die sozialistischen Akademiker der Vergangenheit, weshalb seine Folgerungen über die Vergangenheit Böhmens so manchen überraschen könnten. Überzeugend legt er zum Beispiel dar, dass Petr Vok, der in das allgemeine Bewusstsein als Frauenheld, Spaßmacher und Weinkenner einging, nicht wenige Dinge sehr ernst nahm und einen Anteil an der Germanisierung Böhmens hatte, indem er protestantische Reformatoren aus Deutschland ins Land rief und ihnen einen Teil seiner Besitzungen übertrug. Aber seit wann es zwischen den beiden Nationalitäten in Böhmen zu Spannungen kam, wer dafür im Grunde verantwortlich zu machen war und ob man überhaupt von zwei Nationalitäten sprechen könne, wenn doch der Historiker und Politiker František Palacký von zwei Nationen und der Philologe und Begründer der modernen tschechischen Schriftsprache, Josef Dobrovský, ganz konträr dazu von „einem Volk mit zwei Lungenflügeln“ sprach, darauf gibt es seiner Meinung nach im Grunde keine Antwort. Es ist so, als ob man fragte, was zuerst da gewesen sei, das Huhn oder das Ei.

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„Mit Befremdung stelle ich fest“, sagte er, „dass das Adjektiv ‚tschechisch‘ mit drei Eigenschaften in Verbindung gebracht zu werden pflegt – antikatholisch, antideutsch, antihabsburgisch. Ich halte das für einen Irrtum, für das Ergebnis einer früheren propagandistischen Kampagne, für ein Beispiel von ‚Instrumentalisierung‘ von Geschichte, durch die das Bild unserer böhmischen Geschichte verformt wurde. Im Rahmen der Habsburgermonarchie kam es zu keinen größeren Konflikten zwischen Tschechen und Österreichern, abgesehen von gelegentlichen verbalen Scharmützeln, Sticheleien und Ähnlichem. Bis zum 19. Jahrhundert haben sie sich nicht in dem Maß voneinander unterschieden, wie es Österreicher und Tschechen heute tun. Bis zum Ersten Weltkrieg konnten sich die Vertreter der Nationalitäten innerhalb der Monarchie so sehr streiten wie sie wollten, sie konnten sich ruhig anschreien, denn über ihnen gab es eine noch höhere Instanz. Allerdings waren diese Reibereien im 19. Jahrhundert im Vergleich zu dem, was sich zwischen den Angehörigen beider Nationalitäten später abspielen sollte, als der gemeinsame Kaiser nicht mehr über sie gebot, geradezu ein Kinderspiel. Mein Ururgroßvater Eugen Czernin sah sich als Patriot, er war ein Freund des tschechischen Politikers František Ladislav Riegr und stellte sich hinter Dobrovský. Aber als ihn jemand fragte, ob er eher Tscheche, Deutscher oder Österreicher wäre, antwortete er: ,Ich bin Österreicher, weil ich Tscheche bin.‘ Das können wir heute nur mehr schwer verstehen. Heute ist Österreich ein Land, aber in der Vergangenheit war Österreich eine Idee, ein Gedanke, etwas Erdachtes, gewissermaßen ein Zwischenreich, ein Lebensraum für kleinere Nationen in Mittel- und Osteuropa zwischen den zwei riesigen nationalen Blöcken Russland und Deutschland.“ Am folgenden Vormittag fuhr er uns mit dem Auto auf einen Berg bei Enzesfeld, anschließend durchquerten wir einen Wald, bis sich nach einigen Kilo­ metern der Blick auf ein ruhiges grünes Tal öffnete. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ließ sich Baron Rothschild nach den Plänen eines amerikanischen Architekten hier einen privaten Golfplatz anlegen. Als dieser dann im Jahr 1981 zum Verkauf stand, erwarb ihn Karl Eugen Czernin. Er baute ihn zu einem professionellen Golfplatz aus, sodass er heute über 18 Löcher verfügt. Die tägliche Besprengung des Rasens erfolgt mit einem speziellen Bewässerungssystem, das dafür nötige Wasser wird aus dem örtlichen Teich gepumpt. Täglich werden Teile des Platzes geschnitten, vor allem die Grüns. Das ganze Areal des Golfplatzes misst rund 500 Hektar und zählt nach dem Urteil der Fachzeitschrift Golf zu den schönsten Europas. 353

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Czernin hat hier zwölf Leute angestellt, weitere arbeiten im Restaurant, das er verpachtet hat. Ich wollte von ihm wissen, ob er manchmal, so wie seinerzeit Rothschild, Golf spiele. Dem seien seine Nerven angeblich nicht gewachsen, antwortete er. Zum Golfspielen bedürfe es einer entspannten Grundhaltung, nur dass für ihn Golf eine Einkommensquelle darstelle, ein Geschäft, und somit auch eine Quelle von Problemen. Wie könnte er dann – umgeben von Problemen – Entspannung finden? „Ebenso ist etwas anderes auf seine Art grotesk“, sagte er, als wir auf dem sorgfältig zurechtgestutzten Rasen zu einem der 18 Löcher gingen. „Mein jetziges Vermögen verdanke ich eigentlich dem Umstand, dass es meinem Großvater nicht gelungen ist, die Bildersammlung, unseren Familienschatz, nach Böhmen zu verbringen, wie er es sich gewünscht hatte, und dass sie in Wien geblieben ist.“ Als wir uns einige Monate später in Prag trafen, schilderte er mir, wie er mit seinen vier älteren Kindern im Juni eine Reise durch Böhmen unternommen hatte. „Sie haben sie ja gesehen, sie sind sehr lebendig, fast schon zu sehr, und sehr wissbegierig. Schon zuvor habe ich ihnen viel über Böhmen erzählt, aber jetzt haben sie mich mit Fragen förmlich bombardiert. Sie interessieren sich für Politik, für das Leben der Menschen, für Geschichte, wollen Ursachen und Zusammenhänge kennenlernen. Nicht nur einmal habe ich vergeblich nach einer Antwort gesucht. Alle vier wollen jetzt sogar Tschechisch lernen. Für mich ist Böhmen ein vertrauter und naher Begriff, der mich seit meiner Kindheit begleitet“, fügte er hinzu. „Von dort stammen beinahe alle meine Verwandten, dort hat sich alles zugetragen, wovon sie erzählten, von dort kommt auch der Maßstab für das Alltagsleben. In Böhmen war früher angeblich immer alles in Ordnung, die Menschen waren freundlich und gut – ein geradezu ideales Bild. Gleichzeitig aber war Böhmen für meine Generation etwas Mysteriöses bis Unwirkliches. Ein Land, das irgendwo hinter dem Eisernen Vorhang im Nebel lag, das hinter den Wäldern Niederösterreichs begann und das doch um Vieles weiter entfernt war als beispielsweise Brasilien.“ „Das kann ich gut verstehen. Nach Brasilien konnten Sie jederzeit reisen, in die wenige Kilometer entfernte Tschechoslowakei war das nicht möglich. Wann konnten Sie das erste Mal dorthin fahren?“ „Zum ersten Mal hat man uns, meine Frau und mich, kurz nach dem November 1989 über die Grenze gelassen.“

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„Sie konnten dann schlussendlich die Erinnerungen ihrer Verwandten mit der Realität vergleichen. Wie ist dieser Vergleich ausgefallen?“ „Zu allererst mussten wir uns an die Vorstellung gewöhnen, dass das Leben hinter diesen dichten Wäldern und hinter dem Stacheldraht nicht unter irgendeinem Nebel verborgen lag, sondern dass das Leben auch im Kommunismus weitergegangen ist. Trotz alledem war das ein völlig anderes Land, als wir es uns vorgestellt oder erträumt hatten. Ich kenne seine reiche Geschichte und habe mir ein eigenes Bild zurechtgelegt, wie es im Einklang mit dieser Geschichte aussehen sollte. Die Wirklichkeit war aber eine ganz andere. Ich hatte den Eindruck, als ob wir uns nicht in Böhmen, sondern an einem ganz anderen Ort ­befinden. Die Menschen, die wir trafen, haben diesen Eindruck noch verstärkt. So als ob sie nichts mit ihrer eigenen Vergangenheit zu tun haben wollten. Als ob sie irgendwer anderer sein wollten, nur nicht Tschechen, sondern beispielsweise Australier, Italiener, was weiß ich. Dennoch haben wir zu unserer Erleichterung aber auch immer mehr und mehr Belege dafür gefunden, dass wir hier zu Hause sind. Warum diese Kluft zwischen dem Gestern und dem Heute? Böhmen kenne ich noch nicht gut genug, als dass ich mir ein endgültiges Urteil erlauben dürfte. Ich bin auch kein Historiker, aber ich bin der Meinung, dass sich das Denken eines großen Teiles der heutigen tschechischen Gesellschaft bewusst fast ausschließlich auf jenen Bruch in ihrer Geschichte gründet, der mit den Ereignissen im November 1989 eingetreten ist. Nur, dass sich ein solcher Bruch nicht das erste Mal ereignet hat. Analoge Brüche können wir auch am Beginn des 17. Jahrhunderts wahrnehmen. Übrigens erfolgten solche markanten Brüche auch in anderen Ländern. Für die tschechischen Umbrüche typisch sind die unversöhnlichen Konsequenzen. Den Menschen gelang es offensichtlich jedes Mal, alles, was vorher gegolten hatte, von Grund auf zu negieren, die Geschichte zu instrumentalisieren und sich an die geltende politische Ideologie anzupassen. Gleichzeitig wurde ein Teil der gesellschaftlichen Elite entweder zugrunde gerichtet oder zur Emigration gezwungen. Was kann daraus anderes hervorgehen als eine Gesellschaft, deren Identität getrübt ist? Wie soll man damit umgehen? Darauf kann man nur schwer eine Antwort finden. Vielleicht die, sich gegen die Assimilierung und die Instrumentalisierung der Geschichte zur Wehr zu setzen, die Wurzeln der tschechischen Identität zu suchen, sie freizulegen und sie zu verteidigen. Das ist auch heute ein gangbarer Weg. Wurzeln und Identität sind wichtige Meilensteine, auf die sich eine Gesellschaft stützen kann.“

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1. Jan Kolowrat-Krakowsky auf Liebstein

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Kolowrat Erzwungene Emigration – Ein Leben, umgedreht verkehrt herum – „Wenn ich aufschriebe, was ich erlebt habe, würde mir kaum jemand glauben“ – Katzentisch – Der Graf mit Krampen und Schaufel – Vereitelte Hoffnung auf ein Studium in Harvard – Das rätselhafte Verschwinden von Herrn T. – „Ich würde das Schloss gerne in ein Schmuckstück verwandeln“

Christoph (Kryštof ) Kolowrats Leben erfuhr drei bedeutende schicksalhafte Wendungen: Als Sohn von Graf Hanuš Kolowrat-Krakowsky auf Liebstein und Gräfin Huberta, geborene Wurmbrand-Stuppach, verlebte er seine Kindheit vorwiegend auf Schloss Tschernikowitz bei Reichenau an der Knieschna in Nordostböhmen. Sein mittelalterlich anmutender Tagesablauf war streng geregelt: Er wurde um halb sechs Uhr morgens geweckt, anschließend wusch er sich mit kaltem Wasser, und um sechs Uhr wartete bereits der Stallmeister auf dem Schlosshof mit einem gesattelten Pferd auf ihn. Begünstigungen gab es nur ausnahmsweise. Nach dem Ausritt folgte ein Frühstück am Familientisch, an dem er von einer Kammerjungfer bedient wurde. Dann begab er sich zur Schule. Sein Vater, Legationssekretär im tschechoslowakischen Außenministerium und durch und durch Demokrat, entschloss sich dazu, seinen einzigen Sohn gemeinsam mit Kindern aus der Gegend in die Schule zu schicken. Der kleine Christoph ging in seiner Auffassung von Demokratie jedoch noch weiter. Da er sich von den anderen in nichts unterscheiden wollte, zog er sich im Schlosspark Schuhe, Strümpfe und manchmal auch den warmen Mantel aus, der ihm ziemlich herrschaftlich vorkam, versteckte alles unter einem Strauch und machte sich wie die meisten seiner Mitschüler aus dem Dorf barfuß auf den Weg zur Schule. Auf dem Heimweg holte er die Sachen wiederum aus dem Versteck hervor und zog sie wieder an. Seine proletarische Neigung war ihm, wie er sich selbst überzeugen konnte, später nicht sehr hilfreich. Im Jahr 1948, kaum dass er die schriftliche Matura an der Höheren Forstschule in Trautenau abgelegt hatte, wurde er vom Staatlichen Sicherheitsdienst abgeholt, einige Wochen in Untersuchungshaft festgehalten und verbrachte ein paar Monate zusammen mit anderen politischen Gefange357

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nen in der Trautenauer Ziegelfabrik als Zwangsarbeiter. Ob das eine Strafe für die Teilnahme an einer antikommunistischen Demonstration nach der Machtergreifung im Februar 1948 war oder ob seine aristokratische Herkunft dafür verantwortlich war, oder vielleicht auch beides zusammen, hat er nie erfahren. Im folgenden Jahr musste er seinen Wehrdienst ableisten, selbstverständlich wie alle politisch Unzuverlässigen in einem technischen Hilfsbataillon. Eine Waffe wurde ihm nicht in die Hand gegeben, dafür bekam er eine Spitzhacke und eine Schaufel. Nach dem Wehrdienst nahm er im Erzgebirge eine Stelle als Hilfskraft bei den Staatlichen Forstbetrieben an. Das Arbeitsamt in Reichenau widerrief allerdings mit einem einzigen Federstrich sein Arbeitsverhältnis und wies ihn an, eine Stelle in einer Fabrik für Webmaschinen in Tinischt an der Adler anzunehmen. Nach drei Monaten, an die er sich gerne zurückerinnerte, weil sich die Arbeiter ihm gegenüber sehr zuvorkommend verhalten hatten, erhielt er ein neues Schreiben des Arbeitsamtes, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass er entlassen werde. Man brauche seinen Arbeitsplatz angeblich für einen Verheirateten und er sei noch ledig. Er kehrte zu seiner Arbeit in den Wald zurück, aber es verging nur ein Jahr, bis es erneut verhaftet wurde. Zuerst wurde er zusammen mit anderen politischen Gefangenen in Reichenau eingesperrt, das zu dieser Zeit eines der schlimmsten Gefängnisse war, anschließend wurde er nach Königgrätz verlegt und schließlich brachte man ihn nach Hertin zu den besonders gepeinigten Strafgefangenen. In den Nejedlý-Schacht fuhr er 800 Meter unter die Erde und förderte Kohle in engen Stollen, in denen man nur liegend oder höchstens kniend arbeiten konnte. Im Mai 1954 durfte er aufgrund einer allgemeinen Amnestie nach Hause zurückkehren. Das Wort „Zuhause“ entspricht aber nicht ganz den Tatsachen. Seine Eltern mussten in der Zwischenzeit das Schloss in Tschernikowitz ohne irgendeine Ersatzunterkunft verlassen – der 72-jährige Vater Hanuš Kolowrat, Ritter des italienischen Ordens der Heiligen Mauritius und Lazarus und des königlichschwedischen Nordstern-Ordens, wurde gezwungen, den Hof eines staatlichen Landgutes bei Trautenau zu kehren. Mutter Huberta wurde verhaftet und ein Jahr ohne Gerichtsverfahren im Prager Gefängnis Pankrác festgehalten. Christoph kehrte daher wieder ins Erzgebirge zurück, diesmal als Förster, heiratete und seine Frau brachte Zwillinge zur Welt – einen Buben namens Jan und ein Mädchen namens Dagmar. Die nicht enden wollenden Winter des Erzgebirges, die Einsamkeit und das schrittweise Absterben des Waldes haben sie allerdings an das entgegengesetzte Ende des Landes nach Schwarzbach im Böhmerwald 358

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2. Das Schloss in Reichenau an der Knieschna – das Chronogramm oberhalb des Eingangstores führt die Jahreszahl 1676 an, am inneren Tor befindet sich die Jahreszahl 1690. Seit dieser Zeit ziert das Wappen der Kolowrats dieses Bauwerk.

verschlagen. Weil er nicht nur etwas vom Wald, sondern auch vom Fischen verstand, begann er, sich der Forellenzucht zu widmen. Im August 1968 wurde die Tschechoslowakei von den Truppen des Warschauer Paktes besetzt und Christoph Kolowrat emigrierte kurz darauf mit seiner Familie nach Österreich. Er pachtete ein Grundstück und baute eine eigene Fischfarm auf. Sobald das kommunistische Regime im Jahr 1989 zusammengebrochen war, fuhr er wieder nach Hause und wurde einer der ersten erfolgreichen Restituenten. Er erhielt den gesamten ursprünglichen Grundstücksfonds der Reichenauer Kolowrats sowie zwei Schlösser – in Reichenau und in Tschernikowitz – zurück. Damals wurde der Besitz der Kolowrats bereits zum zweiten Mal innerhalb von 50 Jahren zurückerstattet. Zum ersten Mal wurden sie darum während des Zweiten Weltkrieges gebracht, als er unter deutsche Zwangsverwaltung gestellt wurde, denn vier Kolowrats – sein Vater Hanuš und seine Onkel Zdeněk, Egon und Ethmar – unterzeichneten ein Dokument, in dem sie ihrer Treue zur tschechischen Nation Ausdruck verliehen und sich für deren Verteidigung aussprachen. Nach dem Krieg erhielten sie den Besitz zurück, aber nur für kurze Zeit – nach dem kommunistischen Umsturz im Jahr 1948 wurde er ihnen erneut weggenommen. 359

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3. Die Schlosskirche zur Heiligen Dreifaltigkeit in Reichenau an der Knieschna wurde im Jahr 1713 von Jan Blažej Santini-Aichl entworfen. Damals war das Schloss durch einen Gang mit der Kirche verbunden, wodurch der interessante und formenreich gegliederte Ehrenhof entstand.

Die Gegend, in der die Lokalbahn von Tschastolowitz hinauf nach Reichenau verkehrt, gehört zu jenen Orten, an die ich immer wieder gerne zurückkehre. In diesem sich zaghaft dahinbewegenden, kleinen Zug hatte ich das angenehme Gefühl, als ob die Zeit gemächlicher verrinnen würde. Die einen umgebenden Dinge nehmen schärfere Konturen an, sie erscheinen klarer zu sein, und Details, 360

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4. In Schloss Reichenau befindet sich eine wunderschöne Galerie, die ihren Ursprung im 17. Jahrhundert hat. Die Kolowrats widmeten sich dem systematischen Aufbau einer Galerie, in deren Mittelpunkt vor allem Porträts, Jagdszenen und Stillleben standen. Bereits im Inventar aus dem Jahr 1785 wurden 1.218 Bilder und 998 Radierungen angeführt. Kern der Sammlung ist, wie in den meisten feudalen Wohnsitzen, die Ahnengalerie.

die ansonsten übersehen werden, treten stärker in den Vordergrund. Auch Reichenau ist eine angenehm entschleunigte Stadt, man hat alles zur Hand, auch das Schloss liegt in der Nähe des Bahnhofes. Vor einiger Zeit bin ich wieder einmal dort gewesen, aber Christoph Kolowrat habe ich nicht mehr angetroffen. Ich werde ihn leider niemals wiedersehen. Als er starb, übernahm sein Sohn Jan, der sich bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich um die Fischzucht gekümmert hatte, die Verwaltung des Familienbesitzes. Jans Lebensgeschichte erscheint als das genaue Gegenteil des Schicksals seines Vaters. Es erinnert an das alte Märchen von einem Buben, dem eine Fee Armut und Demütigungen in die Wiege legt, während er von einer anderen im Gegensatz dazu den Reichtum erhält. Er wuchs in der Einsamkeit eines Forsthauses aus Holz tief im Erzgebirge auf, wo manchmal so viel Schnee fiel, dass selbst die Fenster der Hütte ganz zugeweht waren, die Wege sich unter dem weißen Zauber verloren und die nächste Siedlung außer Sichtweite lag. Von Dienern in prachtvollen Zimmern und von einem Stallmeister, der auf dem 361

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Schlosshof mit einem gesattelten Pferd wartete, konnte er nur träumen. Die Familie hatte gerade genug zum Überleben. Die Eltern, besonders aber der Vater, trugen schwer an der Ausweglosigkeit ihrer Situation, wenngleich er und seine Schwester die Zeit als Abenteuer erlebten. Schon mit drei Jahren konnten sie mit Skiern bravourös über die verschneiten Höhen von Flayh nach Oberleutensdorf fahren, die Mutter voran, die beiden hinter ihr im Zickzack um die Fichten herum, vor Freude jauchzend. Auch später hat er im südböhmischen Lippen einiges erlebt, sei es das Schwimmen im Stausee, die gefährlich-verwegenen und mutigen Sprünge vom Damm ins Wasser oder geheime nächtliche Aalfang-Expeditionen gemeinsam mit anderen Burschen. Die Okkupation vom August 1968 stellte Jans Lebens von einem Tag auf den anderen auf den Kopf, das Geschick der guten Fee begann sich zu erfüllen. Das erste Mal habe ich mich mit ihm noch zu Lebzeiten seines Vaters getroffen. Damals fuhr er mit einem Lastwagen voller Karpfen von den Kolowrat’schen Fischteichen nach Österreich. Seit dieser Zeit hat sich vieles verändert. Er begann mehr und mehr seinem Vater ähnlich zu sehen und auch einige Sorgenfalten waren hinzugekommen. Diese waren auf seine Entscheidungen, seine Geradlinigkeit und auch darauf zurückzuführen, wie ernst er seine Rolle als Familienältester nimmt. Die Verwandtschaft zeigt sich auch in den Augen. Sie sind dunkel, unbeweglich, und wenn er sich auf irgendein Problem konzentriert, dann schweifen die Pupillen auf eine besondere Art und Weise auf der Abszissenachse der Augen hin und her. Christoph Kolowrat war ein Bursche wie aus Quarz. Bei allem, was er durchlebt hat, wurde ihm offensichtlich gar keine andere Möglichkeit eröffnet, als diese Form anzunehmen. Jan trägt nicht die gleiche Härte wie sein Vater in sich, weil er keinen Gefängnisaufenthalt hinter sich bringen musste, er ist aber auch kein Weichling. Dagegen ist in ihm etwas Bubenhaftes, Traumverlorenes. Er hat den Blick auf den Horizont seiner Vorstellungen, auf Ziele geheftet, nach deren Erfüllung er sich sehnt. Er wohnt nicht in einem modernen Haus am Waldrand, das sein Vater anstelle der alten verkommenen Jägerhütte errichten ließ, da der Weg von dort nach Reichenau zu weit wäre. Er hat es auch abgelehnt, direkt ins Schloss zu übersiedeln, weil man dort aufgrund der wertvollen Bildergalerie strenge Sicherheitsvorkehrungen einzuhalten hat. Gemeinsam mit seiner Frau hat er sich lieber in einem dem Schloss benachbarten einstöckigen Gebäude eingerichtet, von dem es nur ein paar Schritte in das Büro der Forstverwaltung sind. „Als ich seinerzeit mit Ihrem Vater gesprochen habe“, sagte ich zu ihm bei 362

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einem Besuch zu Hause, „sprach er nur sehr beiläufig über Ihren Gang in die Emigration, so als ob es sich um nichts Besonderes gehandelt hätte. Er hat nur angemerkt, dass Sie das Land als Familie legal verlassen haben und nicht mehr zurückgekehrt sind. Wie haben Sie dieses Ereignis wahrgenommen? Sie waren damals zehn Jahre alt und auf einmal haben Sie erfahren, dass Sie Ihr Land verlassen. Für immer. Wie erinnern Sie sich daran?“ „Das kann man wahrscheinlich gar nicht vergessen. Eines Nachmittags fuhr ein schwarzer, glänzend polierter Tatra 603 vor, ein paar Männer stiegen aus, nahmen meinen Vater beiseite und sagten zu ihm mit einigem Nachdruck: ,Herr Kolowrat, entweder gehen Sie freiwillig in die Emigration oder es erwarten Sie weitere Verhöre und das Gefängnis. Dann allerdings kommen Ihre Kinder in ein Heim.‘ Er bekam ein paar Stunden Bedenkzeit und entschied sich für das Exil. Aus eigenem Antrieb wäre er nicht gegangen, daran habe ich keinen Zweifel. Wir durften nur das Allernötigste zusammenpacken und am nächsten Tag, kurz nach vier Uhr morgens, brachte man uns zum Grenzübergang Unterhaid. Die Grenze haben wir dann mit einigen Taschen zu Fuß überquert. Auf der österreichischen Seite wurden wir schon vom Roten Kreuz für die unerlässliche Registrierung erwartet. Als diese Formalitäten erledigt waren, holten uns unsere österreichischen Bekannten ab. Die ersten paar Tage haben wir bei ihnen in Linz verbracht. Alles ging so schnell vor sich, dass mein Vater und meine Mutter keine rechten Vorkehrungen treffen konnten. Später haben wir dann auf dem Schlösschen der Familie Ledebur in Schwertberg gewohnt. Meine Schwester und ich haben insgeheim wohl gedacht, dass wir in Österreich nicht gleich zur Schule gehen müssten und verlängerte ‚Ferien‘ hätten. Zu unserem Bedauern hat uns unser Vater aber sofort dort hingeschickt. Ich hatte Angst, wie uns unsere neuen Mitschüler aufnehmen würden, wir konnten nur ein paar Worte Deutsch und ein Abendgebet, das wir immer mit unserer österreichischen Großmutter deutsch und tschechisch aufsagen mussten.“ „Und wie hat man Sie aufgenommen?“ „Sehr gut. Wirklich. Ich habe schöne Erinnerungen daran. Wir hatten wirklich keine Probleme. Kinder können sich furchtbar schnell anpassen.“ „Sie wurden, im Gegensatz zu Ihrem Vater, nicht unter einem Baldachin geboren, Sie sind sogar in viel bescheideneren Verhältnissen aufgewachsen als viele Kinder in Ihrer Umgebung. Sind Sie sich als Kind dessen bewusst gewesen, dass die Kolowrats in der Vergangenheit zu den bedeutendsten tschechischen Ge363

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5. Die Großeltern von Jan Kolowrat – Graf Hanuš und Gräfin Huberta, geborene Wurmbrand-Stuppach

schlechtern gehört und hohe Funktionen bekleidet hatten? Dass sie Politiker, Soldaten und kirchliche Würdenträger gewesen sind, die die böhmische Geschichte über Jahrhunderte beeinflusst haben? Kam es Ihnen nicht wie ein Märchen vor, dass Sie in großen Palästen lebten, während Ihre Welt ganz und gar anders war?“ „Durch unseren Vater haben wir nach und nach von der Familientradition erfahren. Er erzählte uns davon in jeder Einzelheit. So haben wir sehr wohl gewusst, wer wir sind und woher wir stammen, dass unsere Familie großen Einfluss zu haben pflegte. Damit sind wir aufgewachsen. Wir haben auch selbst viel gelesen und etliches haben wir auch von unserer österreichischen Großmutter erfahren, die Mutter meiner Mutter, deren Geschlecht Wurmbrand-Stuppach in Österreich tief verwurzelt ist. Die Kolowrats sind in Österreich sehr bekannt. Das haben wir gemerkt, als wir dort lebten. Wohin wir auch kamen, wurden wir mit irgendeiner Begebenheit konfrontiert, die mit ihnen in Zusammenhang stand.“ „Hat Ihnen Ihr Vater erzählt, was er mitgemacht hat, bevor Sie und Ihre Schwester geboren wurden? Wie viele Gefängnisse er durchlaufen hatte und wie er mit anderen Gefangenen in einer Ziegelfabrik und in den Gruben gearbeitet hat?“ 364

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6. Kryštof (Christoph) Kolowrat zu einer Zeit, als er noch als Förster im Erzgebirge arbeitete, zusammen mit den 8-monatigen Zwillingen Jan und Dagmar. Der Ältere von beiden ist Jan, der um zehn Minuten früher zur Welt kam als seine Schwester.

„Nicht ein Wort, soweit ich mich erinnere. Mit uns hat darüber niemand gesprochen. Er sprach von der Zeit, als er als Förster im Erzgebirge war, daran hat er sich immer wieder gerne erinnert. Er dachte oft an seine Eltern, an Großvater Kolowrat und an seine sieben Brüder und deren interessantes Schicksal, aber er lehnte es ab, an die kommunistischen Lager zu denken, so als ob er es sich direkt verboten hätte. Wann immer wir ihn danach fragten, überging er unsere Frage mit Schweigen. Allenfalls sagte er, dass er sich niemals habe brechen lassen. Diese Freude hat er den Kommunisten nicht gemacht. Erst nach dem November 1989, als die Grenzen geöffnet wurden und er wieder in sein geliebtes Reichenau 365

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fahren konnte, begann er, sich uns nach und nach anzuvertrauen. So haben wir etliches aus seiner Vergangenheit erfahren. Damals sagte er zu mir: ,Wenn ich aufschriebe, was ich alles durchlebt habe, würde es mir kaum jemand glauben.‘“ „Ihr Vater hat eine strenge Ausbildung durchlaufen und hielt sein ganzes Leben lang auf Ordnung und Disziplin. War er auch Ihnen gegenüber streng?“ „Selbstverständlich, er ließ uns aber einigen Freiraum. Er hielt uns dabei wie an einer langen Sicherheitsleine, das ist wahrscheinlich der richtige Ausdruck. Ein Ende war frei und das andere hielt er fest in der Hand. Von klein an brachte er uns grundlegende Verhaltensnormen bei. Mehr braucht man auch gar nicht.“ „Grundlegende Normen? Worauf beruhten diese?“ „Wir haben eine christliche Erziehung genossen und das Maßgebliche ist in den Zehn Geboten der Bibel festgelegt. Nicht töten, nicht stehlen, kein falsches Zeugnis über deinen Nächsten geben, nicht das Haus und die Frau deines Nächsten begehren und so weiter. Darum geht es in erster Linie. Darüber hinaus wussten wir, wie wir uns in Gesellschaft zu benehmen hatten, darauf war unser Vater sehr bedacht. Schon mit sechs Jahren hat er uns beigebracht, dass wir uns vor einer Dame verbeugen sollten, er lehrte uns, Respekt vor älteren Menschen zu haben. Das war eine Selbstverständlichkeit. Wir durften auch den Erwachsenen nicht ins Wort fallen. Er legte großen Wert darauf, dass wir eher zuhören und versuchen sollten, auf diese Weise etwas in Erfahrung zu bringen. Buchstäblich wie ein Wachhund war unser Vater, was das Benehmen bei Tisch betraf. In dieser Angelegenheit war er ungemein beharrlich, die gesellschaftlichen Regeln mussten strikt eingehalten werden, was zuweilen ein Problem war. Als wir etwa einen Besuch absolvierten, bei dem viele Leute zusammenkamen, dann waren dort für gewöhnlich auch recht viele Kinder, die sich gelegentlich zumindest eine noch so kleine Gaunerei nicht entgehen ließen. Einmal waren wir bei den Hoyos und unter den Gästen befand sich auch eine Familie russischer Emigranten. Ihre kleine Tochter Natascha wollte etwas vorführen, und als sie ihr Glas ausgetrunken hatte, warf sie es auf heroische Art im eleganten Bogen hinter sich. Das Glas flog durch die Luft, fiel auf den Boden und zerbrach selbstverständlich. Wir anderen Kinder verfolgten das mit großem Interesse und folgten ihrem Beispiel mit Begeisterung. Ein Glas um das andere ging zu Bruch. Für derartige Anlässe gab es bei uns einen kleinen separaten Tisch, den sogenannten Katzentisch. Damals hat man uns von der Tafel augenblicklich dorthin verbannt. Dort würden angeblich die ungezogenen Kinder sitzen, die sich noch nicht benehmen können. Ich muss aber sagen, dass diese exekutive Maßnahme nur selten angewandt wurde.“ 366

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Nach einigen Monaten im Exil übersiedelte Christoph Kolowrat mit seiner Frau und den Zwillingen von Oberösterreich in das im südlichen Niederösterreich gelegene Schloss Steyersberg, von wo seine Mutter, Gräfin WurmbrandStuppach, stammte. In Wirklichkeit handelte es sich um sein zweites Zuhause, denn dort hatte er während der Ersten Republik als Bub gelebt und dann während des Zweiten Weltkrieges die Ferien verbracht. Der kleine Jan war von dieser Veränderung nicht begeistert. Er bedauerte es, nicht in Schwertberg geblieben zu sein, wo er bereits viele Freunde gefunden hatte. Für ihn begann alles wieder von vorne – Abschied, Übersiedlung an einen anderen Ort, Furcht vor der neuen Umgebung. Dieses Mal aber war es für ihn schwerer, denn die Mentalität der Kinder im niederösterreichischen Industrieviertel war anders als in Linz. Er geriet unter die dortige Wirtschaftselite, die ihn wie einen Zuwanderer vom hintersten Balkan behandelte und der noch dazu nicht einmal ihre Sprache beherrschte. Zum Glück konnte er sich verhältnismäßig schnell Respekt verschaffen und lernte so gut Deutsch, dass sein Akzent niederösterreichischer war als der der meisten Einheimischen aus der Gegend. Mit Schwierigkeiten hatte auch sein Vater zu ringen. Er meinte, in Österreich ohne Schwierigkeiten eine Anstellung als Förster zu finden, von der er die Familie ernähren würde, während seine Frau zu Hause bei den Kindern bleiben könnte. Die Realität sah jedoch anders aus. Es war wie verhext, denn eine Anstellung war zu keinem Zeitpunkt auch nur in Reichweite. Er hörte auf, weiter zu suchen, und fasste den Entschluss, sich selbstständig zu machen. In dieser Gegend kannte er noch aus seiner Kindheit jede Ecke, jeden Mühlengraben, er pflegte dort Fische zu fangen – aber nicht mit einer Rute, sondern mit den Händen. So suchte er sich ein Grundstück aus, das ihm für die Errichtung einer Forellenfarm am meisten zusagte. Noch vor der Unterzeichnung des Pachtvertrages machte er sich an die Arbeit. Er beeilte sich. Begann im Frühjahr. Ganz alleine. Ohne Maschinen. Mit Krampen und Schaufel. Seine Frau ging in der Zwischenzeit in eine Fabrik ins nahe Ternitz zur Arbeit, weil irgendjemand Geld verdienen musste. Und von ihrem Gehalt mussten sie noch etwas für das Material zur Errichtung der Fischteiche zurücklegen. „Der Familie Ihrer Großmutter gehörte ein Schloss mit einem Gutsbesitz und Ihr Vater verdiente sich sein Brot wie ein Arbeiter mit Krampen und Schaufel in der Nähe des Schlosses. Ist das nicht ein klein wenig eigenartig?“, fragte ich Jan Kolowrat.

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„Eigenartig? Warum sollte sich jemand davor fürchten, Krampen und Schaufel in die Hand zu nehmen, wenn es nötig ist, sich damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen?“, entgegnete er. „Unsere Verwandten haben meinem Vater finanzielle Unterstützung angeboten, er hätte sich auch anderswo Geld borgen können, etwa bei einer Bank. Aber er hat alle Angebote abgelehnt, denn er wollte von niemandem abhängig sein. Er wollte beweisen, dass er die Errichtung der Farm ganz allein zuwege bringt. Eine gewisse Rolle spielte dabei sicherlich auch sein persönlicher Stolz, denn wenn ein Mensch keinen Stolz und keinen Willen hat, dann brächte er im Leben nichts zuwege und wäre auf die Unterstützung durch die öffentliche Hand angewiesen. Ich weiß, wovon ich spreche. Wir haben Zeiten erlebt, in denen wir nur Geld für Brot hatten, und manchmal war das auch schon einige Tage alt.“ Nach eineinhalb Jahren war Christoph Kolowrat mit dem Bau der Fischteiche soweit vorangeschritten, dass er mit der Forellenzucht beginnen konnte. In den folgenden fünf Jahren dehnte er die Fischzucht aus. Es handelte sich nur um einen kleinen Familienbetrieb, der aber florierte. Jan hatte in der Zwischenzeit nach der Grundschule auch die Fachhochschule für Fischzucht absolviert und es wurde beschlossen, dass er an der Harvard University in Boston studieren solle. Er begann, Englisch zu lernen, und legte die Aufnahmeprüfung bei Professor Max King in Luzern ab. In den Vereinigten Staaten ist die Ablegung von Hochschulprüfungen einer besonderen Regelung unterworfen. Der Universität ist es im Grunde egal, wo der Studienanwärter die Prüfung ablegt, sie muss nur von jemandem abgenommen werden, der für sie hinreichend vertrauenswürdig erscheint. Jan brannte darauf, Biologie und Mikrobiologie zu studieren, dann wollte er sich der Fischzucht widmen. Der Infarkt seines Vaters vereitelte aber seine Pläne. Die Ärzte untersagten ihm daraufhin die schwere Arbeit auf der Fischfarm, Jan musste sich von dem Wunsch verabschieden, in Harvard zu studieren und trat in das Familienunternehmen ein. Ich denke, dass er die vergebene Möglichkeit zum Studium bis heute bedauert. Er hatte sich auf Boston gefreut, das für ihn keine unbekannte Welt gewesen wäre. Unter anderem auch deswegen nicht, weil dort seine Cousins lebten. Es war allerdings nicht seine erste vereitelte Möglichkeit, an einen anderen Ort der Welt zu gehen. „Irgendwann im Jahr 1975 wollte mein Vater nach Südamerika auswandern. Er hatte ein verführerisches Angebot erhalten, das er nicht ablehnen konnte“, begann er von den Ereignissen zu berichten, die fast ein wenig unwirklich klangen. „Ein gewisser Herr Teachy, ein Schweizer, der abwechselnd in Deutschland 368

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und in der Schweiz lebte, ein reicher Unternehmer, dem eine Reihe von Unternehmen in den Vereinigten Staaten, in Deutschland und wer weiß wo noch gehörte, entschloss sich, dem Business den Rücken zu kehren. Den Großteil seines Besitzes verkaufte er und behielt nur Beteiligungen in Aktien für sich. Dessen ungeachtet war ihm die Anhäufung von Geld zuwider und er stellte fest, dass dieser Weg nirgendwohin führt, dass es das Tor zur Hölle oder zumindest in einen goldenen Käfig sei. Deshalb wollte er das Geld für etwas Nützliches verwenden, etwa, um damit ökologisch-humanitäre Projekte zu finanzieren, die von professionellen wissenschaftlichen Teams vorbereitet werden. Er entschied sich dafür, in Südamerika eine Lachsfarm mit angeschlossener Fabrik zur Verarbeitung zu errichten, in der einheimische Indianer arbeiten würden. Diese hätten Geld verdienen und gleichzeitig ihre ursprüngliche Lebensart beibehalten können, wie sie es seit Generationen gemacht haben. Er wollte ihnen dabei helfen, eine finanzielle Basis zu legen und eine eigene Zukunft aufzubauen. Mit dieser Idee war er aber nicht allein. Auch viele Spitzenmanager, außerordentlich reiche Menschen, begaben sich auf einen ähnlichen Weg. Auf einmal änderten sie ihren Lebensstil, kehrten der Welt der Reichen den Rücken zu und lebten beinahe klösterlich.“ „Wie haben Sie diesen Herrn kennengelernt?“ „Ich habe mich mit ihm bekannt gemacht, als ich noch an der Fachhochschule war, anschließend standen wir in brieflichem Kontakt. Dieser Schweizer bot meinem Vater an, das erwähnte Projekt für die Indianer zu realisieren. Mein Vater war auf seinem Gebiet nämlich ein wahres Talent und hatte viele Bekannte, die sich ähnlichen humanitären Tätigkeiten widmeten. Diesem Herrn gehörten 20.000 Hektar und ein See in 4.000 Meter Höhe, die er uns, einschließlich der Farmen, verkaufen wollte. Rings herum befanden sich ausgedehnte Buchenwälder, die ein halbes Jahrhundert zuvor von Deutschen angelegt worden waren. Da die Buche unter den dortigen Bedingungen verhältnismäßig schnell wuchs, sahen sie überaus mächtig aus. Diese 20.000 Hektar sollten 600.000 Schilling kosten, was zu dieser Zeit sehr viel Geld war. Stellen Sie sich aber nur die Pracht vor – Wälder, eine Farm, Vieh und Fischfang. Das alles wurde uns angeboten und mein Vater war davon selbstverständlich begeistert. Kurz zuvor war allerdings in Chile General Pinochet an die Macht gekommen. In der ganzen Region kam es zu großen Veränderungen und Herr Teachy verschwand plötzlich. Wir haben beinahe überall nach ihm gesucht. Wir haben dafür viel Zeit und viele Mühen aufgewendet, aber vergeblich. Niemand konnte 369

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uns ­sagen, was aus ihm geworden war. Vielleicht wechselte er seine Identität und lebt irgendwo unter einem anderen Namen. Oder er starb eines natürlichen Todes. Oder er wurde in Chile hingerichtet, wie viele Tausende andere auch. Bis heute wissen wir es nicht. Wir haben uns von den großen Plänen verabschiedet und blieben in Österreich. Mein Vater war zumindest in der Nähe seiner Heimat, was für ihn von großer Bedeutung war.“ „Wollen Sie damit sagen, dass sich Ihr Vater nach seiner Heimat vor Trauer verzehrt hat? Äußerte er vor Ihnen irgendwann das Gefühl, verbannt und entwurzelt zu sein?“ „Er hat seine Trauer sicherlich nicht genährt, er sehnte sich nicht nach den weiten familieneigenen Hängen, wenn Sie das im Sinn haben. Zumindest ich habe ihm das nie angemerkt. Als er jedoch nach dem November 1989 nach Reichenau zurückkehren konnte, das er als seine wirkliche Heimat angesehen hat, habe ich gesehen, wie unermesslich groß seine Freude war. Das konnte und wollte er nicht verbergen.“ „Angeblich wollten Sie ihm die Rückkehr ausreden.“ „Das hat man Ihnen gesagt? Nun ja, ausreden … Vielleicht hatte mein Vater diesen Eindruck, mich hat aber seine Entscheidung, für immer zurückzukehren sehr überrascht. Ich erinnere mich noch sehr gut an den Tag, als man im Radio meldete, dass die Grenzen zur Tschechoslowakei geöffnet worden seien. Ich war auf dem Weg von Wien nach Hause nach Steyersberg, und als ich die Nachricht hörte, begann ich zu weinen. Meine Gefühle waren sehr gegensätzlich. Ich wusste, dass man meinem Vater in Böhmen sehr weh getan hatte und ich fürchtete mich davor, dass er erneut enttäuscht wird.“ Für Gefühle des Bedauerns hatte Christoph Kolowrat keine Zeit. Bald nach seiner Rückkehr stürzte er sich mit außerordentlicher Energie in das Restitutionsverfahren. Er wusste genau, was er zu tun hatte, denn er hatte sich schon vorher alles genau überlegt. Mit absoluter Sicherheit hatte er vorhergesehen, dass es dazu einmal kommen werde. Er war davon überzeugt, dass die Restituierung zumindest seinem Sohn zugutekommen würde, für den Fall, dass er die Rückgabe des Familienbesitzes nicht mehr erleben sollte. Deshalb war er einer der ersten Restituenten, und viele andere folgten seinem Beispiel. „Es hat ihm wirklich nichts ausgemacht, alles in Österreich zurückzulassen. Ein neues Zuhause, Freunde und ein Unternehmen, das er dort mit eigenen Händen aufgebaut und für das er mit dauernden gesundheitlichen Schäden bezahlt hatte“, sagte mir Jan Kolowrat. In diesem Moment sprach er halb zu mir 370

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und halb zu sich selbst. „Er hat einfach alles zusammengepackt und ist gegangen. Die ganze in Österreich verbrachte Zeit ist ihm eigentlich wie in einem aufgezwungenen Exil vorgekommen. Uns haben diese zehn Jahre, die wir in der Tschechoslowakei gelebt haben, nicht viel gesagt. Die Einsamkeit des Erzgebirges, die paar in Lippen im Böhmerwald verbrachten Jahre, die Kinderspiele, einige gute Freunde. Sicherlich, ich erinnere mich gerne daran, deshalb führte mich auch einer meiner ersten Wege nach der Öffnung der Grenzen an den Ort meiner Kindheit, zu den ehemaligen Schulkollegen. Ich habe nach dem Ort meiner Herkunft gesucht, nach meinen Wurzeln. Nur wenn man den Kinderschuhen entwachsen ist und wenn man damit beginnt, Entscheidungen für den weiteren Lebensweg zu treffen, dann nimmt man die Dinge schon ganz anders wahr. Man passt sich an das Leben in dem neuen Land an, man lebt mit ihm. Unsere Heimat, die meiner Schwester und meine, war deshalb Österreich.“ „Ihr Tschechisch haben Sie allerdings nicht verlernt …“ „Nein, ich würde sagen, dass man die Sprache der Kindheit nicht vergessen kann. Abgesehen davon haben wir zu Hause immer tschechisch gesprochen, also zumindest größtenteils. Auch wenn sie begreiflicherweise von Zeit zu Zeit in die Sprache jenes Landes rutschen, in dem sie leben.“ „Ihre Frau ist Österreicherin. In welcher Sprache unterhalten Sie sich?“ „Tschechisch und Deutsch, also Tschechischdeutsch“, lachte er. Sie haben sich seinerzeit in Steyersberg kennengelernt. Ihre Eltern lebten in Wien, der Vater war Professor an der Technischen Universität, aber in Steyersberg hatten sie ein Wochenendhaus, das zum Schloss gehörte. Sie haben sich angefreundet, lange gekannt, vielleicht 25 Jahre, und erst mit der Zeit sind sie sich dessen bewusst geworden, dass sie zueinander gehören. Sie studierte Medizin, er musste im Gegensatz zu ihr auf das Studium verzichten. Sie heirateten, übersiedelten nach Reichenau, es wurde ihnen ein Sohn geboren, dem sie den Namen Filip gaben, und dann eine Tochter, Sophie Stephanie. „Die erste Zeit in Böhmen war für meine Frau etwas mühselig“, gestand er ein, „sie veränderte ihre ganze Lebensumgebung und konnte nicht Tschechisch. Für sie war das im Grunde eine ähnliche Erfahrung, wie ich sie damals gemacht hatte. Und Medizin ist selbstverständlich etwas völlig anderes als die tagtägliche Pflege eines Schlosses und eines Waldes. Zum Glück fühlt sie sich mit mir mitverantwortlich und jetzt, wenn sie mit den Kindern zu Hause ist, hat sie vielleicht erfahren, dass auch eine Veränderung manchmal ganz gut sein kann.“

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„Nach dem Tod Ihres Vaters haben Sie die Verwaltung des Familienbesitzes übernommen. Was hat sich für Sie in diesem Augenblick geändert?“ „Nun ja, solange mein Vater noch am Leben war, hat er das Unternehmen geleitet und ich konnte von ihm alles Grundsätzliche lernen. Von ihm konnte ich mir auch das eine oder andere abschauen. Mein Leben verlief ohne größere Sorgen, es blieb mir genug Zeit, um mit dem Gewehr auf die Jagd durch den Wald zu gehen. Die Verantwortung lag bei meinem Vater. Dann war ich auf einmal mit der rauen Wirklichkeit konfrontiert und musste alles allein entscheiden. Damit endete der Spaß. Vor mir türmte sich ein riesiger Berg an Verpflichtungen auf, manchmal wusste ich weder aus noch ein, wie alles so funktioniert, wie es soll. Die erste Zeit war wirklich hart, aber wir haben ein gutes Team, korrekte und verlässliche Leute, so dass es geht, nur dass es uns manchmal etwas zu viel wird.“ „Sie haben rund 5.000 Hektar Wald zurückerstattet bekommen, nicht ganz 300 Hektar Fischteiche und einige Ländereien. Mit den Erträgen aus dem Holzverkauf und der Fischproduktion – einen Teil davon exportieren Sie ja auch ins Ausland – tragen Sie zur Erhaltung des Reichenauer Schlosses bei. Das kostet viel Geld. Hatten Sie nicht einmal Lust, sich von ihm zu befreien?“ „Das Schloss hergeben? Im Gegenteil: Mir bereitet es große Freude, weil ich etwas erneuern, etwas bauen kann“, lachte er. „Aber es ist selbstverständlich in erster Linie eine Geldfrage. Ich gebe auch zu, dass damit auch Sorgen verbunden sind. Wir restaurieren es nach und nach, jedes Jahr etwas, die Fassade, das Dach, die Räumlichkeiten. Wir haben ein Speisezimmer und einen CocktailSalon für Gäste fertiggestellt, den werden wir vermieten. Im Schloss muss man leben, man sollte es nicht in ein Museum verwandeln, es muss aber auch etwas erwirtschaften. Am liebsten würde ich alles auf einmal machen und nicht ein Stück nach dem anderen. Es wäre wunderbar, wenn ich sagen könnte – machen wir daraus wieder jenes Schmuckstück, das es einmal gewesen ist. Nur leider müssen wir für die Renovierungen einen längeren Zeitraum veranschlagen. Zu einem großen Teil finanzieren die Erträge aus dem Holzgeschäft den Umbau des Schlosses, aber man kann die Börse nicht allzu freigiebig öffnen, weil ja das Geld auch wieder in den Wald und in die Fischzucht zurückfließen muss. Wir wissen daher manchmal nicht, wofür wir es zuerst ausgeben sollen. Das Schloss verschlingt jedes Jahr einige Millionen, was geradezu unerlässlich ist, andernfalls würde die Anzahl der Reparaturen noch zunehmen und die Schäden würden sich um ein Vielfaches vergrößern. Dabei findet sich immer etwas, mit dem wir 372

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nicht gerechnet haben. Letztes Jahr hat uns der Winter einen Strich durch die Rechnung gemacht und wir mussten den dritten Hof restaurieren.“ „Neben dem Schloss in Reichenau ist auch jenes im nahen Tschernikowitz bereits seit einigen Jahrhunderten im Besitz der Familie Kolowrat, Ihr Vater hat ja dort seine Kindheit verbracht. Zum Zeitpunkt der Restitution befand sich darin ein Heim für geistig behinderte Kinder, weshalb es laut Gesetz einer zehnjährigen Schutzfrist unterlag. Diese ist jetzt abgelaufen. Werden Sie es behalten?“ „Das ist eine weitere schöne Sorge“, sagte er und es war ihm anzusehen, dass er seine Worte ernst meinte. „Mein Vater hätte es am liebsten auch renoviert, aber als er sah, in welchem hoffnungslosen Zustand es war und nachrechnete, auf wie viele Millionen die Renovierung kommen würde, wurde mehr oder weniger entschieden, es zu verkaufen. Die großen Ausgaben schreckten ihn ab. Möglicherweise hat auch unser Oberförster dazu beigetragen, der ihm darlegte, dass der Wald ein weiteres Schloss nicht erhalten könne. Mit Bedauern wollte er schließlich Tschernikowitz hergeben, nur dass es zu seinen Lebzeiten nicht mehr dazu gekommen ist. Als ich dann das Schloss geerbt habe, habe ich auch gezögert, was ich nun damit tun solle. Ich habe die Entscheidung lange hi­ nausgezögert, ich wollte das Schloss nicht aufgeben. Auf der anderen Seite bin ich mir bewusst geworden, dass es bedeutet hätte, sich einen neuen Felsblock aufzubürden, wenn wir uns auf die Renovierung eingelassen hätten. Dann bekamen wir einen Sohn und ich habe sofort gewusst, was mit dem Schloss zu geschehen hat. Ich würde es nicht verkaufen und wir würden versuchen, es doch in Ordnung zu bringen. Auf einmal hatte ich einen Grund. Ich tat, was sich mein Vater ursprünglich gewünscht, aber wozu er keine Kraft mehr hatte. Ich mache das auch für ihn. Wir können die Arbeiten nicht schnell und auch nicht auf einmal bewerkstelligen, weil sich das Schloss wirklich in einem verheerenden Zustand befindet. Wir haben aber schon damit begonnen und mit der Zeit wird es vielleicht gehen. Möchten Sie es sich vielleicht ansehen?“, fragte er und sah mich forschend an, so als würde er mich zu einem kleinen Abenteuer einladen. „Selbstverständlich will ich“, antwortete ich. „Wann?“ „Jetzt sofort“, schlug er vor, drehte sich um und steuerte auf sein Auto zu. Tschernikowitz ist nur wenige Kilometer von Reichenau entfernt. Das dortige Schloss ließ Franz Anton Liebsteinsky von Kolowrat anstelle eines Renaissancegebäudes in den 1820er-Jahren errichten. Das zweiflügelige Objekt, das seine klassizistische Gestalt durch Baumeister Heinrich Koch erhielt, steht am 373

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Rande eines weitläufigen Parks. Daneben befindet sich eine lang gezogene grüne Böschung, im Hintergrund ein Fischteich, zwischen den Bäumen fließt ein Bach hindurch, auf der Wiese dahinter weiden Pferde, ringsherum befindet sich eine verträumte Landschaft und in der Ferne lässt sich das Adlergebirge ausmachen. Das Schloss selbst hat in dem Zustand, wie es die Kolowrats vom Staat übernommen haben, nichts von dieser Idylle an sich. Es ist zwar kein Beispiel für eine ausgesprochene Verwüstung, sondern zeigt eher ein breites Spektrum an brutalen baulichen Maßnahmen. Es ist ein Beweis für die unfassbare Arbeitsfaulheit der früheren Generationen. Weil das Interieur für den Betrieb einer Anstalt für soziale Betreuung nur wenig geeignet war, führte man Umbauarbeiten durch: Weitläufige Räumlichkeiten wurden abgeteilt, einige Zugänge abgemauert oder an anderer Stelle errichtet, ein neuer Stiegenaufgang wurde eingebaut. Durchaus alles Maßnahmen, die man noch vertreten könnte. Schwerer wiegt jedoch, dass diese Umbauarbeiten auf geradezu herzlose Weise durchgeführt wurden. Das Rätsel bleibt ungelöst, warum der Bauschutt im Zuge der Arbeiten nicht weggebracht, sondern in den Keller des Schlosses gelagert wurde, wodurch ein Kellergewölbe nach dem anderen vollgefüllt wurde. Als der Staat den Besitz der Kolowrats konfiszierte, spielten sich hier ähnliche Dinge ab wie auch an anderen Orten: Ein Räumungstrupp, der den Auftrag erhielt, das Schloss auf die Übernahme eines neuen Eigentümers vorzubereiten und alles Überflüssige entfernen sollte, machte sich mit Verve an die Arbeit und nahm diesen Befehl nur allzu wörtlich. Ohne viel Aufhebens wurden Meißener Porzellan, Tafelbesteck, Antiquitäten und auch Bücher aus dem Fenster direkt auf den Hang geworfen, wo sich alsbald ein Haufen von Scherben, zerschlagener Möbel und zerstörter Archivalien auftürmte. Später wurde der Haufen eingeebnet und mit einer Betonschicht überzogen. Im Unterschied zum Schloss in Reichenau blieb von der Inneneinrichtung in Tschernikowitz nicht vieles erhalten. Und wenn doch, wie etwa der Skulpturenschmuck in der Kapelle, dann nur, weil diese in ein Museum umgewandelt worden ist. „Wurde Ihnen überhaupt etwas zurückerstattet?“, fragte ich Jan Kolowrat. „Ein Teller und ein Bild“, antwortete er und seine Augen staunten vergnügt, dass ich überhaupt fragte. „Alles andere wurde gestohlen, zerschlagen oder weggebracht, und niemand weiß, wohin.“ Die Restaurierung des Schlosses ging er schrittweise an. Eine Methode, die beinahe schon archäologischen Charakter hatte. Die Maurer schlugen zuerst 374

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9. Jan Kolowrat, seine Frau Andrea, Sohn Filip und Tochter Sophie Stephanie

die Mauern ab und reinigten die Böden, denn die Parketten waren mit irgendeiner eigenartig klebrigen, schwer zu entfernenden schwarzen Substanz bestrichen worden, auf die dann Holzspanplatten geklebt wurden, die die Grundlage für das Linoleum bildeten. Und damit zumindest etwas schnell fertig und zum Schmuckstück werden konnte, wie er sagte, ließ er an der Stelle, die vom Wald zum Schloss hin abfällt, die schöne alte Kapelle restaurieren. Zum Glück hat er noch Zeit, bis sein Sohn erwachsen sein wird. Es bleiben ihm noch ein paar Jahre. Möglicherweise entscheidet er sich in der Zwischenzeit dafür, den weitläufigen Park für etwas anderes zu nutzen. Er erwähnte das nur flüchtig und mit einiger Zurückhaltung, vielleicht, um es nicht vorab in Verruf zu bringen. Seine Frau ist Lungenfachärztin und die dortige Umgebung eignet sich doch hervorragend für ein kleines Sanatorium. Vielleicht wartet sie auf eine solche Gelegenheit und möglicherweise warten darauf auch einige Kranke.

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1. Marie Razumovsky mit ihrem Bruder Andreas

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Razumovsky Tal der Geister – Geliebter der russischen Zarin – Der blendende Aufstieg der Familie Razumovsky – Neues Heim in einem sicheren Land – Tagebuch, das einen erschaudern lässt – Der Mann der sich entschloss, das Substrat des Alkohols zu suchen – Die vom Regen durchweichte Symphonie – „Wir wurden Mischlinge ersten und zweiten Grades“ – „Ich will den Kommunismus kein zweites Mal erleben“

Ich habe nicht erwartet, ein ansehnliches und prosperierendes Kurbad voller Leben und gesellschaftlicher Betriebsamkeit vorzufinden. Die Wirklichkeit hat aber meine schlimmsten Befürchtungen bei Weitem übertroffen. Das romantische, vom Fluss Mohra durchflossene Tal erinnerte eher an einen Geisterort und an mysteriöse Schatten. Das Kurhaus war baufällig, das Gebäude mit der Thermalquelle halb verfallen, unter der abgefallenen Fassade des Restaurants war eine alte deutschsprachige Aufschrift aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges zu sehen, die Gartenlaube vermittelte den Eindruck, dass sie beim ersten stärkeren Windstoß zusammenstürzen würde, das an ein verrostetes Monstrum erinnernde Kesselhaus bot einen Anblick des Grauens … und über all dem lag eine absonderliche Stille, Totenstille. In der Mitte von dem, was vom einstmaligen Johannisbrunn geblieben war, verlief eine asphaltierte Straße; gegenüber dem verlassenen Gebäude des Kurbades befanden sich sogar einige Haltestellenschilder – mit Fahrplänen. Während der ganzen Zeit aber fuhr kein einziges Auto vorbei und keine Menschenseele war zu sehen. Dabei blickt der Ort auf eine abwechslungsreiche Geschichte zurück. Kleine Heilbäder entstanden hier am Beginn des 19. Jahrhunderts, aber die heilsame Wirkung der dortigen Mineralquelle war schon früher bekannt, denn das Wasser ließen sich die im nahen Schloss in Meltsch lebenden Troppauer Jesuiten in Fässern liefern. Im Jahr 1895 bekam Johannisbrunn mit Graf Camillo Razumovsky einen neuen Besitzer, der es mit der Zeit zu einem Kurzentrum ausbaute. Nicht groß, aber für seine Zeit verhältnismäßig modern. Auf den Anhöhen oberhalb des Tals ließ er Villen für die Kurgäste errichten, im Tal ein Kurhaus, ein Ärztezentrum, ein Restaurant, ein Verwaltungsgebäude, eine Kapelle und 377

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ein Schwimmbad. Er verabsäumte auch nicht, ein eigenes Laufkraftwerk zu errichten. Das Wasser der vier Heilquellen enthielt Soda und Eisen, weshalb hier vor allem Herzkrankheiten, aber auch Symptome von Neurasthenie, Blutbildanomalien und Stoffwechselerkrankungen wie Blutarmut, Hypertrophie oder Gicht behandelt wurden. Unter den Einrichtungen befand sich auch ein Institut für Wassertherapie und für Interessierte gab es verschiedene Arten von Diäten und auch Abmagerungskuren. Am Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde das Kurbad von der Wehrmacht übernommen, die dort zuerst ein „Fünf-Sterne“-Kriegsgefangenenlager für britische, niederländische und französische Offiziere einrichtete und es später zu einem Lazarett umfunktionierte. Nach dem Krieg wurde Johannisbrunn vom Staat enteignet, der Heilbetrieb wurde aber nicht mehr aufgenommen. Von den vier Heilquellen verfielen zwei, das Kurhaus wurde in Erholungsheim Frieden umbenannt und der ganze Komplex stand fortan urlaubenden Gewerkschaftsmitgliedern offen. Nach dem Jahr 1990 wurde ein Prozess zwischen den Gewerkschaften und einem privaten Pächter, der den Komplex kaufen wollte, über die Eigentumsrechte geführt. Das unvollkommene Rechtssystem ermöglichte den Diebstahl alles Wertvollen und die Verwüstung dessen, was sich als nicht transportabel erwies. Johannisbrunn wurde zu einem verlassenen und traurigen Ort. Ich kehrte über die im Zickzack verlaufende Straße oberhalb des Mohra-Tals in eine Gegend mit runden, an malerische, kleine Brotlaibe erinnernden Hügeln zurück und besichtigte jene Orte, an denen die Razumovskys früher gelebt hatten. Der Weg von der Burgruine Wigstein, nach der die Familie das Prädikat von Wigstein erhalten hatte, zu dem in der Nähe gelegenen Schloss, dem Hauptsitz der Familie, führte an einem weiteren ihrer Schlösser in Meltsch vorbei, zu dem ein wunderschöner Park gehörte, in dem Graf Camillo Razumovsky exquisite Baumsorten hatte pflanzen lassen. Ich blieb auch beim Schloss von Schönstein stehen, das sie Ende des 19. Jahrhunderts von Graf Heinrich LarischMoennich erworben hatten. Das war der Beginn meiner Reise auf den Spuren dieses Geschlechts, zurück zu den Wurzeln ihrer früheren Berühmtheit. Die Razumovskys gehören nicht dem historischen böhmischen Adel an. Sie haben ihre Wurzeln in der Ukraine. Im Jahr 1811 erwarben sie allerdings in Böhmen das Inkolat, das adelige Bürgerrecht, ähnlich einer heutigen Staatsbürgerschaft, ohne die der Kauf von Immobilien nicht möglich gewesen wäre. In Schlesien lebten sie bis zum Jahr 1946, und wäre es nicht zu den politischen 378

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Änderungen in der Folge des Zweiten Weltkrieges gekommen, wären sie dort wahrscheinlich bis heute heimisch geblieben. Über ihren Ahnen Grigorij Rozum aus dem 17. Jahrhundert ist wenig bekannt. Vielleicht nur, dass er von Kosaken abstammte, Vieh züchtete und den Großteil seines Verdienstes vertrank. Er lebte mit seiner Frau Natalia Demjanovna und seinen drei Söhnen – der älteste starb jedoch schon früh – nördlich von Kiew im Dorf Lemeshi im Gubernium Cernigov. Der mittlere, Alexei, mit zweitem Namen Grigorjewitsch nach dem Vater, hütete in jungen Jahren die Herden und lernte beim Diakon des Ortes. Weil er eine schöne Stimme hatte, sang er in der Kirche im nahe gelegenen Kozelec. Im Jahr 1731, als er 22 Jahre alt war, kamen die Mitglieder einer Kommission der Zarin, die sich auf dem Rückweg von Ungarn befanden, wo sie Tokajer Wein für den Hof eingekauft hatten, durch den Ort und wurden in den Bann seiner reinen Alt-Stimme gezogen. „So einen wie dich würde der kaiserliche Chor in Sankt Petersburg gut gebrauchen können. Komm mit uns“, schlugen sie ihm vor. Der schön gewachsene Jüngling besann sich nicht lange und nahm das Angebot an. So wurde Alexei Sänger im Domchor, bald darauf Mitglied der kaiserlichen Kapelle und gelangte so an den Hof. Dort fiel er der gleichaltrigen Elisabeth Petrowna, der Tochter Peter des Großen, auf, die ihn auf den ersten Blick lieb gewann. Herrscher Russlands war zu dieser Zeit Iwan VI., in Wahrheit noch ein Kind, für den Anna Leopoldowna, die Enkelin Iwans V., der wiederum ein Halbbruder von Peter dem Großen war, herrschte. Als Regentin Russlands erfreute sie sich keiner großen Beliebtheit, denn bei Hof ließ sie einen großen deutschen Einfluss zu, was dem heimischen Adel und der Generalität wenig gelegen war. Diese Rebellen setzten ihre Hoffnungen daher auf Großfürstin Elisabeth und bereiteten eine Palastrevolte vor. Zusammen mit einer Gruppe russischer Adeliger beteiligte sich daran auch Alexei Grigorjewitsch Rozum. Zur Unterstützung ihrer Sache konnten sie auch einen Teil der Armee, vor allem das wichtige Preobraschinskij-Garderegiment, gewinnen. In der Nacht von 5. auf den 6. Dezember 1741 schlugen sie zu. Der Putsch ging unerwartet glatt vor sich, der junge Herrscher musste den Palast verlassen und Anna Leopoldowna wurde in die Verbannung geschickt. Elisabeth Petrowna bestieg als Elisabeth I. den russischen Thron, den sie in den folgenden 21 Jahren innehaben sollte. Alexei Grigorjewitsch avancierte zunächst zum Kammerherrn, wurde später zum Feldmarschall ernannt und erhielt die höchste russische Auszeichnung – den Titel eines Ritters des Ordens des Heiligen Andreas des Erstberufenen. Im Jahr 1742 379

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fand seine Hochzeit mit Elisabeth Petrowna statt, die – auf Intervention eines Vertreters der orthodoxen Kirche – ganz ohne Prunk und ohne Fanfaren abgehalten wurde. Eigentlich eher in aller Heimlichkeit. Zwei Jahre darauf wurde er in den Reichsgrafenstand des Heiligen Römischen Reiches und in den russischen Grafenstand erhoben. Ein Titel, der sich ebenso auf seine Familienmitglieder erstreckte, somit auch auf seinen jüngeren Bruder Kirill Grigorjewitsch. Zu diesem Zeitpunkt nann2. Graf Alexei Grigorjewitsch Razumovsky ten sie sich bereits nicht mehr Ro­ (1709–1771), Gemahl von Zarin Elisabeth, zum, sondern Razumovsky. Tochter Peters des Großen. Auch wenn Elisabeth ihr ganzes Leben lang eine Schwäche für schöne Männer hatte, gelang es Alexei, die privilegierte Stellung an ihrer Seite auch weiter zu behalten und er blieb immer der Erste. Er behielt diese Stellung auch nach ihrem Tod, als Katharina II. Zarin wurde. Angeblich war er ein fähiger Diplomat, ein umsichtiger Mann, der weder dem Größenwahn, noch den Verlockungen des Geldes oder persönlichen Machtbestrebungen erlag. Vor allem aber war er ein zuvorkommender und umgänglicher Mann, der sich lieber im Hintergrund hielt. Mit Elisabeth hatte er ein einziges Kind, eine Tochter namens Augusta, deren Schicksal nicht den Vorstellungen eines verzärtelten Kindes aus den allerhöchsten Kreisen bei Hof entspricht. Einige Zeit verbrachte sie im Ausland, dann aber gestattete ihr Katharina II. die Rückkehr nach Russland, weil sie fürchtete, sie könnte sich in die Politik einmischen, und empfahl ihr, in das Moskauer Iwanowski-Kloster einzutreten. Unter ihrem Ordensnamen Dosifeja wurde ihr wegen ihrer gutmütigen und wohlwollenden Wesensart große Verehrung zuteil, und als sie starb, wurde sie mit großem Pomp beigesetzt. Es wurde auch behauptet, dass Alexei einen Sohn gehabt haben soll. Dem einen Gerücht zufolge verschwand dieser, nach einem anderen kam er unter merkwürdigen Umständen bei einem Feuer ums Leben. Aber nichts davon ist wahr. Alexei war die Geburt eines männlichen Nachfolgers nicht vergönnt 380

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gewesen. Möglicherweise hatte er deshalb zu seinem um 19 Jahre jüngeren Bruder Kirill Grigorjewitsch ein mehr väterliches als brüderliches Verhältnis. Er sorgte sich um seine Erziehung, ermöglichte es ihm, durch halb Europa zu reisen und setzte mit seinem Einfluss durch, dass er im Alter von 18 Jahren zum Präsidenten der Russischen Akademie der Wissenschaften ernannt wurde. Man muss hinzufügen, dass Kirill ebenso wie Alexei ein fähiger Politi3. Alexeis Bruder Kirill Grigorjewitsch Razuker und Diplomat war. Er bekleidete movsky (1728–1803) den Rang eines Oberstleutnants des Izmailovsky-Garderegiments und erhielt die höchste russische Auszeichnung als Ritter des Ordens des Heiligen Andreas, der nur an die großen Häupter des Staates und an die Würdenträger des Landes verliehen wurde. Er wurde auch zum russischen Feldmarschall ernannt, vor allem jedoch war er der letzte kleinrussische Hetman und bemühte sich in der Ukraine um die Einführung wirtschaftlicher und rechtlicher Reformen bzw. zumindest um gewisse Verbesserungen. Die Ukrainer erweisen ihm bis heute ihre Hochachtung und betrachten ihn als Nationalhelden, als einen von denen, die sich für die Selbstständigkeit der Ukraine starkgemacht haben. Er gehörte zum engsten Kreis der Förderer Katharinas II., die mit dem schwachen und infantilen Zaren Peter III. verheiratet war. Bei der Palastrevolte kam er ihr mit seinem Garderegiment zu Hilfe. Katharina belohnte ihn nach ihrer Krönung in der Art eines wahren Imperators – im Bestreben, ihre absolutistische Herrschaft zu festigen, liquidierte sie die Reste der ukrainischen Selbstverwaltung und schuf das Amt des kleinrussischen Hetmans ab, für das Kirill Grigorjewitsch fortwährend gekämpft hatte und von dem er hoffte, dass es als erblicher Titel von seiner Familie geführt werden würde. Im Jahr darauf versetzte sie den damals 36-Jährigen, ausgestattet mit einer nicht unerheblichen Pension, großzügigerweise in den Ruhestand.

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Im Gegensatz zu seinem Bruder Alexei erfüllte Kirill Grigorjewitsch seine Aufgabe der Sicherung von Nachfahren für das Geschlecht mehr als erfolgreich. Mit seiner Frau, Fürstin Naryshkinova, deren Familie zu den einflussreichsten und reichsten in ganz Russland zählte, hatte er elf Kinder – fünf Töchter und sechs Söhne. In die Annalen der Geschichte trug sich vor allem Andrei Kirillovich ein, der von 1752 bis 1836 lebte. Er sollte Marineoffizier werden und diente mit 18 Jahren auf einem englischen Kriegsschiff. Aufgrund seiner Tapferkeit, die er in einer Seeschlacht gegen die Türken unter Beweis gestellt hatte, wurde er mit dem Rang eines Fregattenkapitäns ausgezeichnet. Auf dem Meer begegnete er auch Wilhelmina Luisa von Hessen-Darmstadt, der Verlobten des zukünftigen Zaren Paul I. Er verliebte sich in sie, was für ihn beinahe mit einer Tragödie geendet hätte. Nach ihrem plötzlichen Tod fand man die gemeinsame Korrespondenz, das Geheimnis über die bisher geheim gehaltene Liebesbeziehung wurde gelüftet und das Malheur war geschehen. Razumovsky drohte die Verbannung nach Sibirien. Pauls Mutter, Zarin Katharina II., regelte die delikate Situation allerdings mit Zurückhaltung. Der junge Mann wurde mit dem Titel eines außerordentlichen russischen Bevollmächtigten ausgestattet und nach Neapel entsandt. Er bewährte sich in seiner Funktion als Diplomat. Mit seiner geistreichen Art und seinem Charme erwarb er sich auch die Sympathie von Königin Karolina, die für ihn, bevor sie ihn kennenlernte, nur das Wort „Verurteilter“ gebrauchte. Nach Neapel war er Botschafter in Kopenhagen, dann in Stockholm und schließlich in Wien, wo sein steiler Karriereweg nach oben für einige Zeit unterbrochen wurde. Nach dem Tod von Zarin Katharina bestieg nämlich Paul I. den Thron, der Razumovsky, angeblich aus Unzufriedenheit mit seinen diplomatischen Aktivitäten, aus Wien abberief. Erst als die Herrschergewalt nach dem Attentat auf Paul I. auf dessen Sohn Alexander überging, war der Stern von Andrei Kirillovich erneut stark im Steigen begriffen. Mit Alexander verband ihn immer eine freundschaftliche Beziehung, weshalb es niemanden überraschte, dass er als Botschafter nach Wien zurückkehrte. Während der Französischen Revolution stellte sich Andrei Razumovsky an die Spitze der antibonapartistischen Opposition und sagte richtig voraus, dass sich der Korse auch einmal gegen Russland wenden werde. Später wurde ihm Genugtuung zuteil, als er den Zaren auf seinem Feldzug gegen die Franzosen begleiten konnte. Ein Jahr später wurde er zum russischen Bevollmächtigten und Vertreter des Zaren auf dem Wiener Kongress ernannt, auf dem die Repräsentanten der europäischen Staaten nach den Napoleonischen Kriegen über die Neuordnung 382

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Europas entschieden. Er beschloss, sich für immer in Wien niederzulassen, seine politischen Erfolge und sein ansehnlicher Reichtum ermöglichten es ihm, eine führende gesellschaftliche Stellung einzunehmen. In der Wiener Vorstadt, dem heutigen Bezirk Landstraße, ließ er unter großem finanziellem Aufwand ein Palais errichten, das zum Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens wurde, in dem Konzerte, Feiern und auch Bälle stattfanden, das aber aufgrund einer unglücklichen Verkettung von Umständen beim Besuch des Zaren Alexander in Wien abbrannte. Andrei Razumovsky war zweimal verheiratet, starb aber kinderlos im Alter von 84 Jahren und wurde so erster, aber auch letzter Fürst seines Geschlechts. Während die Mehrzahl der Geschwister von Andrei in Russland blieb, verließ Grigorij Kirillovich ebenso wie sein Bruder Sankt Petersburg und unternahm seit seiner Jugend ausgedehnte Reisen. Er weilte in Italien, in der Schweiz und auch in Baden bei Wien. Im Jahr 1805 wurde ihm der Grafentitel von Kaiser Franz I. bestätigt, sechs Jahre später wurde ihm das böhmische Inkolat verliehen. Er war Wissenschafter, Geologe und Mineraloge, Mitglied der russischen und schwedischen Akademie der Wissenschaften, verfasste seine wissenschaftlichen Arbeiten aber in Französisch. Von Ferdinand Colloredo-Mannsfeld erwarb er die Herrschaft Böhmisch-Rudoletz und gründete dort zusammen mit seinem Teilhaber Vinzenz Zessner von Spitzenberg ein Eisenhüttenwerk. Es unterlief ihm ein Fehler, der sich fatal auf das Geschick des Unternehmens auswirkte, worauf er gezwungen war, dieses zu verkaufen. Er war ein verschlossener Mensch, eigen, ein ausgesprochener Individualist und unversöhnlicher Gegner des zaristischen Regimes. Der Zar und die zaristischen Beamten schätzten ihn daher nicht besonders und hielten ihm die Konversion zum Protestantismus, seine Übersiedlung nach Österreich und die ostentative Unterstützung der Deka­ bristen – russische adelige Revolutionäre, die sich für die Abschaffung der Leibeigenschaft und der absolutistischen Herrschaft des Zaren starkmachten – vor. Das Verhältnis zu seiner alten Heimat beschränkte er daher auf ein Minimum und forderte nur die Anerkennung seiner ererbten Rechte. Nach dem Tod von Verwandten sollte ihm in Russland ein nicht gerade geringes Vermögen zufallen, um Vieles größer als jenes, das er in Österreich, respektive in Böhmen besaß. Selbstverständlich fand er, wie zum Trotz, auf den Ämtern nur verschlossene Türen vor und schließlich anerkannte auch der Zar weder die Gültigkeit seiner Eheschließung noch die Legalität seiner Nachfahren an, sodass er von dem umfangreichen Familienvermögen keine einzige Kopeke erhielt und das ganze Erbe im russischen Staatsschatz aufging. 383

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4. Schloss Schönstein bei Troppau gelangte Ende des 19. Jahrhunderts in den Besitz der Familie Razumovsky. Nach der Verstaatlichung fiel das Objekt an die Bezirksverwaltung, die es für soziale Zwecke nutzte. Anschließend fand es Verwendung als Kaserne, später diente es als psychiatrische Heilanstalt, bevor es wieder von der Armee übernommen wurde. Gegenwärtig ist dort ein Sanatorium für geistig behinderte Menschen untergebracht.

Aus der zweiten Ehe von Grigorij Kirillovich mit Elisabeth, Freiin Schenck von Castell, gingen vier Kinder hervor. Für uns von Interesse ist das jüngste von ihnen, der Sohn namens Léon. Mit 15 Jahren trat dieser in die österreichische Armee ein und erwarb das Offizierspatent. Mit 24 hängte er den Uniformrock an den Nagel und zog dem Militärdienst ein Leben am sächsisch-coburgischen Hof vor, dessen Mitglieder zu dieser Zeit in einigen europäischen Ländern regierten, und wurde Kammerherr und Burghauptmann. Er lebte vor allem in Coburg, das Erbe seines Vaters, das Gut in Böhmisch-Rudoletz, veräußerte er und der Großteil seines Vermögens zerrann ihm förmlich unbemerkt zwischen den Fingern. Von den Eigenschaften seines Vaters hatte er wenig geerbt – er war ein Romantiker, ein Träumer, der sich auf unglaublich phantastische wissenschaftliche Experimente einließ. Gleichzeitig war er allerdings ein ausgezeichneter Maler. Er starb, kaum dass er das fünfzigste Lebensjahr überschritten hatte, und seine um zwei Jahre ältere Frau, Rosa Baronin von Löwenstern, überlebte ihn um 21 Jahre.

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5. Familie Razumovsky anlässlich der silbernen Hochzeit von Graf Camillo Razumovsky und Gräfin Marie, geborene Wiener von Welten. Im Vordergrund sitzen die Jubilare, dahinter, wie es sich gehört, stehen ihre fünf Kinder: Marie, Kamillo, Andreas, Elisabeth und Léon. Die fantasievollen Damenhüte legen Zeugnis über die Mode im Jahr 1905 ab.

Deren einziger Sohn Camillo trat wiederum in die Fußstapfen seiner bekannten Vorfahren. Er besuchte die Theresianische Akademie in Wien und eine Zeit lang wirkte er als Bezirkshauptmann und als Statthaltereirat in Sternberg in Mähren. Als sein Schwiegervater, Eduard Wiener von Welten, starb, einer der Mitschöpfer der Metropole Wiens am Ausgang des 19. Jahrhunderts, der der Stadt zu Weltruf verhalf, erbten er und seine Frau eine große Geldsumme. Zurück nach Russland wollte er nicht. Er behauptete, dass Russland für ihn als Heimat zu existieren aufgehört habe, während er sich aber in Wien als Emigrant fühle. Er entschloss sich daher, für seine Kinder eine neue Heimat in einem sicheren Land zu suchen. Während seiner Dienstzeit im mährischen Sternberg bereiste er das ganze Land, an dem er Gefallen fand, und als er erfuhr, dass der Großgrundbesitz mit dem Schloss in Ober-Wigstein zum Verkauf stand, erwarb er es. Nach und nach kaufte er auch noch Meltsch, Oberdorf, Schönstein und Johannisbrunn und ließ ein repräsentatives Haus, eigentlich mehr einen Palast, im nahen Troppau errichten. Seine Herrschaft wuchs auf etwa 3.000 Hektar an, 385

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von denen der Großteil aus Wald bestand. Im Jahr 1892 wurde nochmals der österreichische Grafentitel anerkannt und am Beginn des 20. Jahrhunderts erhielt er die Erlaubnis, das Prädikat von Wigstein zu führen. Seine Aufgabe, eine neue Familientradition zu begründen, nahm er so ernst, dass er sich dazu entschloss, die sterblichen Überreste all seiner Vorfahren, die nicht in Russland ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten, an einen Ort überführen zu lassen – auf den Friedhof in Ratkau bei der Mariä-Geburt-Kirche, wo er eine Familiengruft errichten ließ. Es war sein Wunsch, dass dort ein geistiges Zentrum der Familie entstehen sollte, ein Bindeglied zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Durch die Anwesenheit der Razumovskys nahm die ganze Region einen unleugbaren Aufschwung. Der Graf bemühte sich um die Verbesserung des Lebensstandards in seinen Orten und setzte einige für seine Zeit sehr moderne Projekte in die Tat um. Er errichtete ein Bewässerungssystem, das aus dem Fluss Mohra gespeist wurde, unterstützte die Errichtung einer Eisenbahnlinie, baute eine Zuckerfabrik und eine Papiermühle, errichtete eines der ersten Elektrizitätswerke in der Gegend und eine Spiritusfabrik, die nicht nur der Verarbeitung seiner auf den Großgrundbesitzungen gewonnenen Kartoffeln und seines Getreides diente, sondern auch den Bedarf der anderen Bauern aus dem Umland deckte. Er beteiligte sich auch am Bau anderer Gebäude – etwa an der tschechischen Schule in Schönstein und der Kirche in Meltsch, einer malerischen und für ländliche Verhältnisse überaus weitläufigen Kirche, deren Dach die Form eines Schiffskiels hat. Warum gerade das? Einmal wurde er bei einer Fahrt auf der Adria von einem heftigen Sturm überrascht. Das Schiff begann sich bereits bedrohlich zu neigen, immer mehr Wasser drang ein, und als es drohte, jeden Augenblick auf den Grund des Meeres zu sinken, legte er ein feierliches Gelübde ab. Wenn er zusammen mit den anderen Reisenden überlebte, würde er auf seiner Herrschaft aus Dankbarkeit für die Errettung eine Kirche errichten. Das Schiff hat den Sturm glücklich überstanden und erreichte an der italienischen Küste vor der Stadt Padua Land. Der Graf vergaß nach seiner Rückkehr freilich nicht auf sein Versprechen und ließ die Kirche tatsächlich errichten, die dem Heiligen Antonius von Padua geweiht wurde. Camillo Razumovsky und seiner Frau wurden fünf Kinder geboren, zwei Mädchen, Elisabeth und Marie, sowie drei Buben, Léon, Kamillo und Andreas. Der Älteste, Léon, fiel im Ersten Weltkrieg, Kamillo blieb ein Junggeselle, sodass die Verantwortung für die Kontinuität des Geschlechts beim Jüngsten, 386

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Andreas, lag. Auch er kämpfte im Ersten Weltkrieg in den Reihen der österreichisch-ungarischen Armee, in Galizien fiel er in russische Gefangenschaft und verbrachte drei Jahre in einem Offiziersgefangenenlager in Irkutsk. Bald nachdem er nach Schlesien zurückgekehrt war, besuchte er seine Schwester Marie in Meltsch und begegnete bei ihr einer russischen Immigrantin, Jekatarina Nikolajewna. Sie sahen sich in die Augen, wussten, dass sie füreinander bestimmt waren und im Jahr 1922 wurde Hochzeit gefeiert. Nach 120 Jahren verbanden sich somit die Razumovskys wieder schicksalhaft mit einem russischen Geschlecht, auch wenn es deutschen Ursprungs war. Sie entschieden sich dafür, ihren gemeinsamen Wohnsitz in der Tschechoslowakei zu nehmen. Andreas und Jekatarina erwarteten – in unabänderlicher Regelmäßigkeit jedes zweite Jahr – fünf Nachfolger: nämlich Marie Elisabeth, Daria, Olga, Andreas und Leo Alexander. Bei Jekaterina Nikolajewna muss ich einen Augenblick verweilen, denn ihre Person lässt sich nicht wortlos übergehen. Ihre Kindheit verbrachte sie im ­Kiewer Gubernium. Ihre Vorfahren stammten allerdings aus dem Rheinland, der Ururgroßvater ging der Ehre und des Reichtums wegen nach Russland, wo er in das zaristische Heer eintrat. Die Huldigung mit Lorbeer und die Erlangung von Reichtum gelang allerdings erst seinem Sohn Pjotr Christianowitsch Graf zu Sayn-Wittgenstein, russischer General und Feldmarschall, Befehlshaber des 1. Korps der russischen Westarmee, Oberbefehlshaber der russisch-preußischen Armee, der in der Schlacht von Leipzig kämpfte und 1828 Befehlshaber der Südarmee während des Russisch-Türkischen Krieges war. Er war der Erste, der mit seinen Truppen nach der Niederlage Napoleons in Paris einzog. Jedes Herz, das im Rhythmus der Soldatentrommeln schlägt, müsste bei dieser kurzen Aufzählung einen Freudentanz vollführen, noch dazu wurde Pjotr Christianowitsch durch den König von Preußen der Fürstentitel verliehen, bestätigt von Zar Nikolaus I. im Jahr 1834. Während der bolschewistischen Revolution wurde nichts davon als Verdienst angerechnet und Sayn-Wittgenstein verließ aus Vorsicht Sankt Petersburg und zog sich auf seine Herrschaft in Bronic bei Mohylev-Podolsky am Dnjestr zurück. Aber auch dort war er, ebenso wie alle Adeligen und Weißgardisten, noch dazu mit einem ausländischen Namen, nicht sicher. Nachdem ihn ein Freund gewarnt hatte, dass eine Gruppe örtlicher Bolschewiki in den nächsten Stunden das Dach über seinem Kopf anzünden wollten, floh er mit seiner Familie mitten in der Nacht in die Stadt Czernowitz in der Bukowina. Damals erfuhr ihre Tochter Jekaterina Nikolajewna, dass Marie Razumovsky, verheiratet mit Graf 387

Razumovsky 6. Bild anlässlich der Verlobung von Graf Andreas Razumovsky von Wigstein (1892–1981) und Prinzessin Jekatarina ­Nikolajewna Sayn-Wittgenstein (1895–1983) aus dem Jahr 1922

von Spiegelfeld, irgendwo in Schlesien eine Gouvernante für ihre vier Kinder suche. Sie zögerte nicht, packte ihre Sachen und machte sich auf den Weg Richtung Westen, um für immer dort zu bleiben. Camillo Razumovsky teilte noch vor seinem Tod im Jahr 1917 den Familienbesitz unter seinen Söhnen auf. Kamillo erhielt den größeren Teil und seine Herrschaft umfasste Wigstein, respektive Ober-Wigstein, Ratkau, Meltsch, Johannisbrunn und das Palais in Troppau, der jüngere Andreas erbte Schönstein und ein Haus in Wien. Andreas war von seiner Gesinnung her Monarchist und war sehr stolz darauf, dass er einem Regiment angehörte, in dem der spätere Kaiser Karl I. gedient hatte. Mit der Gründung der Tschechoslowakei konnte er sich mehr schlecht als recht abfinden, auch wenn ihn die erste Bodenreform unbarmherzig heimgesucht hatte. Von dem 374 Hektar umfassenden Großgrundbesitz in Schönstein blieb ihm nicht ganz die Hälfte. Im Gegensatz dazu lehnte er den im Aufstieg begriffenen Faschismus grundsätzlich ab und Hitler konnte er nicht ausstehen. Ebenso entschieden lehnte er auch den Bolschewismus und Stalin ab, eigent388

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7. Die Razumovskys hinterließen Schönstein und den benachbarten Orten ein dauerhaftes Vermächtnis, da sie sich um die Errichtung einiger bedeutender Gebäude verdient gemacht haben. Dazu gehört auch die Salvator-Kirche. Auf der zeitgenössischen Fotografie, wahrscheinlich aus dem Jahr 1908, ist jener Bautrupp abgebildet, der die Kirche errichtete.

lich alles Sowjetische, was aber keine Auswirkung darauf hatte, dass sich in der Familie viele russische Bräuche erhalten hatten. Darauf meinte Jekaterina Nikolajewna nicht verzichten zu können, die den russischen Geist in das Milieu des Schönsteiner Schlosses einbrachte. Weihnachten wurde nach der orthodoxen Tradition gefeiert und zu Ostern fuhr die ganze Familie mit den Kindern in die orthodoxe Kirche nach Wien. Auch war ihr Speiseplan von der russischen Küche beeinflusst, regelmäßig gab es Borschtsch und Pirohy, und zu den beliebtesten Mehlspeisen gehörten Pfaffenhütchen mit Rosinen und Mandeln ebenso wie Topfenkolatschen. In seinem Kern war Andreas Monarchist mit demokratischen Anschauungen, lebte und kleidete sich relativ bescheiden, und soziales Empfinden war ihm nicht fremd. Er beteiligte sich an beinahe jeder bedeutenderen kulturellen und sozialen Veranstaltung, die auf ihrem Gut stattfand, und während des Krieges half er den Menschen, indem er sie mit Lebensmitteln von seinem Großgrundbesitz versorgte. 389

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Nach der Abtretung der sudetendeutschen Gebiete im Jahr 1938 wurde Schlesien ein Teil des Deutschen Reiches und die Razumovskys dessen Staatsbürger. Andreas und Kamillo konnten freilich keinen Ariernachweis erbringen, da ihre Mutter Jüdin war und beide daher nach der nationalsozialistischen Rassenlehre Mischlinge ersten Grades waren – für die Nationalsozialisten somit als halbent­ wickelte Individuen galten. Der Transport in ein Konzentrationslager blieb ihnen zwar erspart, aber sie standen fortan unter Überwachung. Der Großgrundbesitz wurde von einem deutschen Verwalter, selbstverständlich einem Mitglied der NSDAP, übernommen, dem auch die politische Kontrolle anvertraut war. Ende 1944, als das Reich jede Arbeitskraft benötigte, sollte Andreas zum Arbeitsdienst nach Deutschland eingezogen werden, wovor ihn aber ein ärztliches Attest bewahrte, weshalb er schließlich in einer Jutefabrik in Troppau unterkam. Ende 1944 haben sich die drei Töchter des Grafen Razumovsky entschlossen, ein Tagebuch zu führen. So als ob sie geahnt hätten, dass die folgende Zeit zur schwierigsten in ihrem Leben zählen würde. Marie, von ihren Geschwistern Mascha genannt, war 21 Jahre alt. Daria, mit Rufnamen Dolly, um zwei Jahre jünger, und Olga war 17. Diese schrieb am 31. Dezember in ihr Tagebuch: Ach Gott, was haben wir alles in diesem Jahr 1944 erlebt, was für Aufregungen, Erniedrigungen und auch Triumphe. […] Dabei steht uns das Ärgste noch bevor – die Besetzung durch die Russen, womöglich eine Zwangsevakuierung oder Front, Kämpfe … – Aber so wie die Scarlett im Buch „Gone with the Wind“ sage ich mir auch immer: „ich denke heute lieber nicht daran, sondern erst morgen“ – und am nächsten Tag denkt man sichs wieder und so denkt man womöglich nie dran. Als sich die Front näherte, begann man damit, das „Fluchtgepäck“ vorzubereiten. Zu allererst wurden die wichtigsten Dinge gepackt, was in Wirklichkeit jene Dinge waren, die sie als die allerliebsten erachteten – die Erstdrucke von Beethovens Streichquartetten, die einem ihrer Ahnen, dem Fürsten Razumov­ sky, gewidmet waren, sowie ein Ölgemälde des österreichischen Malers Ferdinand Georg Waldmüller. Zur Evakuierung kam es indes nicht, dafür richteten Soldaten der Wehrmacht direkt unter ihren Fenstern im Schlossgarten ein Munitionsdepot ein. Die Kisten mit Granaten und Panzerfäusten liegen nur so locker zu Haufen gestapelt da herum. Eine nicht sehr angenehme Vorstellung, dass alles in die Luft fliegen könnte, hielt Daria in ihrem Tagebuch fest.

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8. Die Schwestern Marie (Mascha), Daria (Dolly) und Olga Razumovsky zu einer Zeit, als sie die letzten Seiten ihres Tagebuches schrieben.

Das Chaos wuchs, das Wirtschaftssystem brach zusammen, der Versorgung drohte der Kollaps. Dennoch stellte die Molkerei die Abnahme von Milch, Eiern und von Schlachtvieh ein. Es war niemand mehr da, der die Arbeit hätte verrichten können. Die gründliche Daria vermerkte, wie viel den Menschen damals, am Ende des Krieges, aufgrund des gewöhnlichen Zuteilungssystems zugestanden wäre, wie viel die Norm für eine Person für den Zeitraum von fünf Wochen ausmachte. Das waren 5,70 kg Brot, 2,10 kg weißes Mehl, 1,20 kg Fleisch, ¼ kg Butter, ⅛ kg Margarine, ⅛ kg Speck, 60 gr Käse, 60 gr Topfen, 12 ½ gr Kaffee, ⅜ kg Zucker für 9 Wochen und ¼ kg Nährmittel. Die Razumovskys litten im Unterschied zu anderen keinen Hunger, aber es setzte ihnen die Angst zu, was kommen werde. Befürchtungen über den Verlust ihres Zuhauses, ihrer Entwurzelung … Überall waren und sind und werden wir kaum geduldet sein, schüttete Daria ihr Herz aus, überall wird man aus der Allgemeinheit ausgestoßen. […] Aber ich seh’ schon, wie das kommen wird: so wie wir in der Schule immer outsiders waren, in Wien die Tschechen, hier die Wiener, so ist es auch sonst. In der Republik waren wir die Deutschen, jetzt sind wir eine jüdisch versippte, russisch orientierte, blaublütige, idiotische Gesellschaft und kaum wird hier wieder ČSR sein, werden wir wieder die Deutschen (noch dazu blaublütig!) sein. Am 16. März schrieb Olga: Ich habe […] den ganzen Nachmittag mit der Mami unsere tschechische Fahne fabriziert, zitternd, daß jemand hereinkommen könnte und uns dabei erwischt. Aber sie ist wunderschön geworden! […] Die Fahne ist riesig groß geworden, die ganze Hakenkreuzfahne ist der rote Teil, ein Lein391

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tuch der weiße und ein altes Kleid von Mascha ist zum blauen Zwickel geworden. Hoffentlich kommt jetzt nur kein Befehl mehr heraus, daß man flaggen muß, sonst sind wir geliefert. Anfang April richtete die sich zurückziehende deutsche Wehrmacht im Schönsteiner Schloss ein Lazarett mit einer Entlausungsstation ein und im Park einen Lagerplatz mit Feldküche. Das Haus war voller Soldaten und Verwundeter, von morgens bis abends war deren Wehklagen zu hören, die Ärzte operierten unter provisorischen Bedingungen. In diesen Tagen war das bestimmt kein beschaulicher Ort. Etwa achtzehnmal mussten die Razumovskys deutschen Heeresabteilungen Obdach gewähren und öffneten überdies allen die Tür, die bei ihnen Hilfe suchten: Flüchtlinge unterschiedlicher Nationalitäten und auch Deserteure. In den letzten Kriegstagen war ihre Furcht schon so groß geworden, dass sie zusammen mit den anderen im Keller übernachteten. Sie schliefen angezogen, denn sie wollten nicht von jemandem im Nachthemd überrascht werden. Am 6. Mai 1945 zeigten sich erstmals russische Soldaten im Schloss. Die Anzahl der beschriebenen Seiten in den Tagebüchern der Schwestern nahm auffallend zu. Zu diesem Datum gibt es beispielsweise 22 Einträge, den ersten um 2.45 Uhr morgens und den letzten um 21.00 Uhr abends. Ausnahmsweise gesellt sich auch der Bruder Andy zu den Schwestern, der ansonsten sehr wortkarg ist. Um 15.00 Uhr schreibt Olga: Wir kommen vom Essen herauf – da sind die Herrschaften in unserem Zimmer drin und durchsuchen alles nach etwas Brauchbarem. Mit einer frechen Bemerkung sind die Diebe, die wir auf frischer Tat ertappt haben, dann gegangen, und der russische Offizier, zu dem der Papi sofort gegangen ist, hat gesagt: Du lügst, ein russischer Soldat stiehlt nicht!! Schluß, aus!! Fast unser ganzes Geld ist weg, Wäsche, mein Füllfederetui samt Inhalt. Schade drum, aber wenn man wüßte, daß das alles ist, würde ich ja gern darauf verzichten. Den Waldmüller haben sie in seiner schönen Verpackung aus dem Koffer gezogen und auf ein Bett geschmissen, von Mamis Schmuck haben sie nur einen kleinen Teil gefunden, die schöneren Sachen, die in einem Sackerl sind, hat die Mami einfach in eine Zimmerecke unter Maschas Bett geschmissen, dort haben die Towarischtschi es nicht gefunden. Sie haben viel zu wenig Zeit gehabt, alles zu durchsuchen, wir haben sie dabei gestört. Etwas später schreibt am gleichen Tag Daria: Ich glaube langsam, daß es der größte Blödsinn war, den wir machen konnten, hier zu bleiben. [...] Bei uns ist ein Stab einquartiert worden, eine geradezu entsetzliche Bande. Alles ist besoffen, jedes zweite Wort ist „du lügst“. Jetzt haben wir unsere „Befreier“ hier. Ich habe nur Angst vor der Nacht und überhaupt vor der Zukunft. 392

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7. Mai – Olga: Und dann ist es bei uns wieder losgegangen. Um ½ 11 Uhr haben sie unten an der Glastür gerüttelt – ein schon bekanntes Geräusch, wobei es uns kalt über den Rücken läuft. Die Eltern sind aufmachen gegangen und durch eine kurze Handbewegung von der Mami sind wir aus der Bibliothek geflohen. Da sind sechs solche Towarischtschi hereinspaziert und haben sich da niedergelassen und sofort ein Kreuzverhör angefangen. Einer hat die Fragen gestellt, ein anderer Zwischenfragen, der 3. mitgeschrieben, die anderen sind auf und ab gegangen, haben das Zimmer in Augenschein genommen und die Eltern beobachtet. Angefangen haben sie gleich damit, daß der Papi ein Verbrecher ist, weil er Gutsbesitzer ist, die Mami, weil sie aus Rußland weggelaufen ist, und daß sie gar keine tschechische Staatsbürgerin ist, sondern russische und daß sie sie nach Rußland schleppen werden, damit alles dort entschieden wird. Ungefähr bis 14 Uhr ununterbrochene Fragen, Fragen und wieder Fragen – auf alle Antworten immer gleich „Du lügst!“, nichts geglaubt, gar nichts. 22. Mai – Mascha: Ich bin jetzt wieder ganz überzeugt davon, daß wir uns hier nicht werden halten können. In einem kommunistischen Staat sind unsere Tage gezählt. Es tut mir leid, ich habe den festen Willen gehabt, eine, wenn schon nicht begeisterte, doch loyale loyale Staatsbürgerin zu sein, wenn schon nicht mit Begeisterung, das um so mehr, weil uns die hiesige Gemeinde ihren guten Willen bewiesen hat. Jetzt zieht es mich mit jeder Faser meines Herzens nach Wien… Juni – Daria: Ich habe einen furchtbaren Schreck gekriegt, wie ich mutterseelenallein [...] [an der Tür] plötzlich den 3 begegne, die mich sofort empfangen mit: komm her, laß die Tür zu – und widerlich süßlich dazu grinsen. Für mich ist Towarischtschi und Teufel ein Begriff. Aber was wollen sie hier??? Uns haben sie gesagt, daß sie die Tschechen nicht allein lassen können, dabei heißt es allgemein, daß sie eifrigst schanzen. Früher oder später kommt es garantiert zum Krieg. Leider, leider sind aber die Aussichten, daß wir überleben, kaum vorhanden. Schade, denn dann muß doch endlich die Befreiung auch für uns gekommen sein, muß das Leben doch wieder schöner werden … 2. Juni – Olga: [...] bis spät am Abend [sind] immer neue und neue [russische Soldaten] gekommen, bis es eine ganze Masse gewesen ist, die sich fast alle bei uns im Hof einquartiert haben. Es war eine Truppe, die die geraubten Sachen nach Rußland zu transportieren hat. Die Kriegstrophäen! Zum größten Erstaunen und [zur] Begeisterung aller sind sie mit Kamelen anmarschiert!! Es soll ein ganz tolles Bild gewesen sein, am späten Abend im Hof. Kamele, am Boden um das Feuer he­rum hockende Tataren.

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26. Juni – Olga: Die arme Mami ist scheußlich krank, liegt vollkommen apathisch im Bett und hat die halbe Nacht durchgespieben. Wir schätzen das ganze auf einen Nervenschock. Sie hat ihre Towarischtschi nie vertragen können, aber so arg war es halt doch noch nie. Sie ist mit den Nerven ganz herunter. Das ganze haben wir nur wieder einmal unseren Befreiern zu verdanken, die gestern hier in einem Lastwagen angefahren sind und behauptet haben, daß sie in Troppau folgendes gehört haben: Der Papi ist ein weißrussischer Offizier aus Leningrad (!) und ist im Jahr [19]18 mit der gestohlenen Regimentskasse geflohen und hat mit diesem Geld hier das Schloß aufgebaut!!! Sie wollten ihn schon aufs Lastauto setzen, da ist unsere [...] [tschechische Wache] doppelt und 3-fach erschienen und haben ihn losgeeist. Allmählich wurden die Razumovskys vor eine der schwierigsten Entscheidungen in ihrem Leben gestellt – ob sie bleiben oder nach Wien gehen sollten, wo von ihrem Besitz ein zerschossenes Haus übrig geblieben war. 25. September – Olga: Ich traue mich gar nicht über die family-Stimmung zu schreiben. Es ist so gräßlich. Der Papi ist so schrecklich nervös; wenn man nur etwas von Wien sagt, ärgert er sich schon furchtbar. Der Arme will ja selber so gerne weg, aber es ist schon eine Riesenverantwortung für ihn, uns von den hiesigen Fleischtöpfen in die Hungersnot zu schleppen [, die in Wien regiert]. Außerdem glaubt er immer noch, daß er Schönstein retten kann. Aber hier ist für uns absolut keine Bleibe. Die Leute sind wieder merklich kühler uns gegenüber geworden. Ist etwas gegen uns im Gange? [...] Ich habe Angst, dass wir den richtigen Augenblick verpassen, hinüber zu kommen. Wir sitzen und warten, warten. 29. September, wieder Olga: Heute sind zwei äußerst wichtige Sachen für uns gekommen. Sollte das ein Fingerzeig Gottes sein, daß das zusammen gekommen ist? 1. Die sooo lang erwartete Ausreiseerlaubnis nach Österreich!!! Ein herrliches Papier in Tschechisch, Russisch und Englisch. [...] 2. Hat ein [...] [Mitglied des Nationalausschusses] der Daria unter dem Siegel der Verschwiegenheit einen Aushang gezeigt, auf dem steht, daß der Herr Razumovsky aus Wigstein (!) enteignet wird! Jetzt sind wir also auch von heute auf morgen von [...] [Zuverlässigen] zu Staatsverbrechern geworden. Und acht Tage später: Merkwürdig, ich habe gedacht, daß mit der Aushängung des Wisches über unsere Enteignung alle Leute widerlich und aufsässig werden. Komischerweise ist gerade das Gegenteil eingetreten (außer dem einen von den 4 Knechten, der uns angezeigt hat). Alle Leute sind irrsinnig nett mit uns, jeder grüßt mehr denn je und alle kommen, entweder nur empört oder mit guten Ratschlägen, manche fahren direkt zum Brodiak (der Troppauer Oberkommunist Mitglied des Nationalausschusses), um für uns zu sprechen. Von dort kommen sie aber immer sehr 394

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deprimiert zurück, weil der [...] derart widerlich und ekelhaft ist. Gestern war [...] [Sitzung] und dort haben sie einstimmig gegen die Parzellierung [unseres Grundbesitzes] protestiert! Mitte Dezember 1945 notiert Daria, die sich mit der Situation offenbar abgefunden hat: Die Razumovskys waren immer entweder oben auf oder ganz unten durch. Eine Zwischenstufe gab es nicht. Vielleicht wird es mit uns wieder hinauf gehen, relativ natürlich, denn wir werden wohl kaum mehr Palais oder Kirchen oder Brücken bauen, aber wir werden doch vielleicht wieder einmal gemütlich „frei von Furcht und Zwang“ in einer schönen warmen Wohnung sitzen, mit anständigen Kleidern und Schuhen, oder – ach wann doch – in einem richtigen Konzert sitzen! Mehr Anforderungen stelle ich gar nicht ans Leben (aber sind die nicht schon unverschämt hoch?). Am 24. Jänner 1946 fügt Olga enttäuscht hinzu: Vielleicht eine halbe Stunde vor der Abfahrt [der Eltern nach Prag] ist plötzlich unser neugebackener [...] [Bürgermeister], der Matoušů, aufgeregt erschienen und hat folgendes mitgeteilt: Heute Vormittag war eine Kommission da, die eine neue [...] [Verlautbarung] ausgehängt hat, daß wir parzelliert werden und sich binnen 10 Tagen alle [...] [Deputatsarbeiter] usw., die etwas haben wollen, melden müssen! Uns selber bleiben 13 ha!! Trotzdem das alles wieder eine widerliche bolschewikische Schweinerei ist, kann ich über alles nur lachen. Daraufhin haben die netten Leute von hier wieder einmal protestiert und von der [...] [Sitzung] erzählt, wo alle für uns gestimmt haben. Worauf die gesagt haben, das geht sie nichts an und das ist ihnen egal, parzelliert wird es doch. Auch der letzte und bis jetzt immer noch wirkende Einwurf, daß die [...] [Familie] sooo viel gemacht hat für die Čechen und sooo loyal war und daß die Mami Russin ist, hat absolut nicht eingeschlagen. Die Mami ist ja nur Emigrantin und außerdem ist das alles ganz wurscht! Einen Monat später schreibt Daria: Die meisten Leute, mit denen man jetzt spricht, fangen an, [über unser Schicksal] Krokodilstränen zu vergießen, bedauern uns mit beredten Worten und wünschen den [...] [„verfluchten Mongolen“] Tod, Pest und Verderben. Dabei hat aber jeder von ihnen schon um einen guten Teil unseres [...] Bodens angesucht. 16. Juni – Olga: [Daria und Papi waren in Wien, um die nötigen Formalitäten wegen unserer Ausreise zu erledigen.] Furchtbare Erlebnisse haben sie aber an der Grenze gehabt, wo sie nach allenRegeln der Kunst von den werten čechischen Grenzern ausgeplündert wurden! Leibesvisitation, dann weggenommen einen Haufen. Die goldene Uhr vom Onkel Kuno, die der Papi mitgenommen hat, x Kleider, 395

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9. Graf Andreas Razumovsky mit Tochter Olga beim Besuch in Prag. Man schrieb April 1946 und kurz vorher haben sie die Bestätigung über die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft erhalten.

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Schuhe, Löffel, Lebensmittel, usw. Der Daria wollten sie sogar ihr Kreuz und ihre silberne Puderdose (diejenige, die sie voriges Jahr als „Orden“ für die Rettung des Troppauer Hauses bekommen hat) wegnehmen, und nur durch eine Pleurage hat sie es zurückbekommen!! Das ganze hat sich in einem unfreundlichen, groben Ton abgespielt, scheinbar seit den glorreichen Wahlen haben sie sich dort Neue hineingesetzt. Ihr Zögern fand damit ein Ende, es war klar, dass sie nach Wien gehen würden. Sie hofften, irgendeine Entschädigung zu erhalten, eine Kompensationszahlung für das enteignete Vermögen, dazu ist es allerdings nicht gekommen. Olga kommentierte das mit den Worten: [...] Gestern waren Nora, Daria und ich in Ostrau beim Konsulat. Die Aussichten sind schwarz, tiefschwarz. Wir haben überhaupt keine Rechte. Theoretisch dürfen wir überhaupt nichts [nach Österreich] mitnehmen, nur soviel wie die – [...] [„Deutschen“]. Die in Ostrau können und werden uns überhaupt nicht helfen, sie wissen selber nichts, nur, daß die zuständigen Ämter in Troppau besonders genau und scharf sind. Das deprimierende an der Sache ist, daß sie in Troppau scheinbar absichtlich uns nicht herauslassen wollen, und jedes Mal, wenn man auf ein Amt kommt, denken sie sich etwas Neues aus, um einen hinzuhalten, geben falsche Auskünfte, daß man noch weiß Gott was für abenteuerliche Papiere braucht, die gar nicht existieren usw. Das ganze ist so ein trostloses Unterfangen, man weiß nicht, wo man anfangen soll, wie man es am Besten machen soll. [...] Wir haben uns jetzt, trotz 99% Wahrscheinlichkeit, daß wir eh nichts mitbekommen, auf alle Teppiche, Matratzen, Pölster, Filze usw. gestürzt, klopfen sie aus wie die Irren [...], naphtalinisieren sie ein und verpacken sie ganz und gar fachgemäß. Leider Gottes (!) sind es alles Persianer, die auch für „Altösterreicher“, wie gute Bilder und Büchersammlungen, Schmuck, Silber und Gold, verboten sind, mitzunehmen. Aber wir „spielen“, daß wir es doch irgendwie hinüberbringen. Schwarz? Wenn nicht, dann lassen wir’s eben da, vielleicht stiehlt man es uns doch nicht. Hauptsache ist doch, daß wir wieder einmal etwas machen, daß man das Gefühl hat, daß es irgendwie vorwärts geht (obwohl das trotzdem absolut nicht der Fall ist. Das ist halt nur eine optische Täuschung.). Nach einem Pragbesuch schreibt Olga: Gestern sind wir mit Papi aus Prag zurückgekommen. Ich war dort überhaupt erst zum ersten Mal und ich bin begeistert. Die ganze Stadt war ein einziges Lichtermeer. Leuchtreklame in allen Farben, eine herrliche Straßenbeleuchtung – acht Jahre haben wir nichts Derartiges gesehen, ich habe schon beinahe vergessen gehabt, daß es so etwas überhaupt gibt. Aber es ist widerlich! Hier machen sie die überflüssigsten Dinge und in Wien gibt es nicht genug Kohle, um ein Mittagessen zu kochen, geschweige denn daß es möglich wäre, alle Straßen zu 397

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beleuchten. Auch sonst erinnert einen in Prag absolut nichts an den Krieg. Außer an einem Ort, am Altstädter Ring, sind die Häuser unversehrt, die Geschäfte sind mit Waren geradezu übervoll, in den Straßen furchtbar elegante Leute, überall Ausländer, in den Kaffeehäusern bekommt man richtigen Kaffee oder Tee. Es hat auf mich einen sehr guten Eindruck gemacht. Wenn ich in Gedanken nicht immer Prag mit dem armen Geschöpf von Wien vergleichen müsste, wäre es noch um vieles schöner. Wie sind die Čechen dazu gekommen, dass sie so eine schöne Stadt haben? Zu den letzten Momenten auf Schloss Schönstein vermerkt die älteste Schwester Marie in ihrem Tagebuch: Vor der Abreise hat uns ein liebenswerter Zöllner auf fast schon rührende Art und Weise geholfen. Seine Aufgabe war es, unser Gepäck zu kontrollieren. Der Lastwagen, in den wir unsere Habe aufluden, damit sie nach Österreich gebracht wird, hielt auf der Nordseite des Schlosses direkt unter dem Balkon. Dann stellte er sich zur Fensternische auf den Gang, den Rücken zu den wie besessen umherlaufenden Mitgliedern der Familie gewandt, abwechselnd führte er mit Daria oder mit mir lange Gespräche auf Tschechisch und hat sich dazu entschlossen nicht einmal zu bemerken, daß wir mit ungeheurer Kraftanstrengung eine schwere Kiste vom Balkon zum Lastwagen hinunterließen, in der sich das übergroße Bild unseres Urahnen befand. Als nach einigen Stunden alles beendet war, sagte unser unbekannter Retter: „In Ordnung. Ich habe Kleider, Schuhe und Küchengeschirr gesehen, sonst nichts“, und versiegelte den Wagen. Wenn er noch am Leben ist – noch einmal Danke! Nach ihrer Abreise konfiszierte der Staat den Besitz, und das Schloss in Schönstein gehörte im wahrsten Sinne des Wortes der Allgemeinheit. Das Tor blieb unversperrt, praktisch jeder hatte Zugang. Die Folgen lassen sich erahnen. Etliches ging verloren, Verschiedenes wurde gestohlen, im ganzen Park lagen amtliche Dokumente, private Fotografien aus den Familienalben und ähnliche Dinge von ideellem Wert verstreut herum. Auch ein Teil des Schlossarchivs fiel der Zerstörung anheim. Beispielsweise die technischen Unterlagen über das ehemalige Bewässerungssystem und über die Parzellierung, die niemand für wichtig erachtete. Etwas aus dem Archiv blieb jedoch erhalten und wurde in der örtlichen Schule gelagert. Dann begann es allerdings irgendjemanden zu stören und die Schüler ordneten alles sorgfältig, verschnürten es mit Spagat und brachten es zu einer Sammelstelle für Altpapier. Nach dem Jahr 1946 wurde das Schönsteiner Schloss der Bezirksverwaltung unterstellt, die es den Steyler Missionaren übergab, einer von Arnold Jansen 398

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für soziale Zwecke gegründeten Kongregation. Vier Jahre später zog die Armee, genauer ein Technisches Hilfsbataillon, hier ein. In den Jahren 1965–1969 fungierte es als psychiatrische Heilanstalt, dann wurde es erneut von der Armee übernommen, die es als Lager adaptierte und keinen Grund sah, warum die barocke Orangerie nicht in eine Garage und in ein Treibstofflager umgewandelt werden sollte. Schließlich wurde das Schloss am Beginn der 1990er-Jahre restauriert, ein weiterer Flügel wurde hinzugebaut und gegenwärtig leben dort geistig behinderte Menschen. Das Haus der Razumovskys in Wien erinnert an die „gute alte Zeit“ und an die Jahre der Wiener Secession. Es befindet sich an der Ecke des belebten Gürtels, auf dem die Autos in beide Richtungen auf je drei Fahrtstreifen vorbeirauschen, und einer überraschend ruhigen Gasse, die an den Garten des Schlosses Belvedere angrenzt. Neben dem Eingang befinden sich Klingeltasten mit vier Namen – lediglich vier Namen in diesem großen, vierstöckigen Haus. Hinauf zum Obergeschoss führt eine breite Treppe mit Bildern in goldenen Rahmen. Überall ist viel Platz und gleichzeitig, wenn draußen nicht die Sonne scheint, ist es auch ein wenig düster. Wann immer wir zu Marie Razumovsky auf Besuch kamen und am Eingang läuteten, erwartete sie uns schon in der halb offenen Wohnungstür und führte uns durch den langen, engen Gang in ein Zimmer mit großen Fenstern und einer hohen Decke. Das, was mir immer in lebendiger Erinnerung bleiben wird, sind nicht die großen und prächtigen Bilder ihrer entfernten Vorfahren, mit denen die Wände dieses Zimmers geschmückt waren, sondern die ungewöhnliche Aufmerksamkeit, mit der auf einem Tischchen beim Fenster alles für unseren Besuch vorbereitet war – Tassen mit blauem Dekor, eine Kanne und eine Zuckerdose, neben den Tassen blankgeputztes Besteck und auf einigen Tellern Mehlspeisen zu Kaffee oder Tee –, so als ob sie damit andeuten wollte, dass Gäste bei ihr willkommen sind. Einmal sind wir aus Prag mit gehöriger Verspätung bei ihr angekommen, denn auf der Fahrt waren wir durch dichten Nebel aufgehalten worden. Gleich an der Tür wollten wir zu einer Entschuldigung anheben, sie aber ließ uns nicht einmal ausreden. „Gott sei Dank“, sagte sie, „dass Sie hier sind. Am wichtigsten ist, dass Sie gut hergekommen sind.“ Mit ihren rund 80 Jahren ist sie immer noch voller Interesse für die Geschehnisse um sie herum. Beim Gespräch ist sie konzentriert und sachlich, mit ihrem weißen, an eine Aureole erinnernden Haar sieht sie elegant und sogar etwas zier399

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lich aus, wobei sie aber dennoch energisch und ausgesprochen exakt sein kann. Ihre Liebe gehört der Geschichte, es war daher für mich keine Überraschung, dass sie einen Teil ihres Lebens der Arbeit in einer Bibliothek und dem Archivstudium gewidmet hat. Zudem verfasste sie ein Buch über die Geschichte ihres Geschlechts, über die sie ganz genau Bescheid wusste. Als ich bei einem meiner ersten Besuche die Bilder über den Stiegen bewunderte, erstrahlten ihre Augen. „Ach, die stammen von meinem Urgroßvater Léon, er konnte sehr gut malen. Er war das genaue Gegenteil seines Vaters Grigorij Kirillovich. Es ist schon eigenartig, wie sich die Kinder manchmal von ihren Eltern unterscheiden. Grigorij war ein Wissenschafter, der Erste, der das Gebiet des Wienerwaldes und Südmährens vom geologischen Standpunkt aus erforschte und beschrieb. Er war sehr introvertiert, ein schwieriger Charakter, der mit beinahe niemandem Kontakt hatte. Als er starb, lagen die Mineralien unterschiedlicher Größe und Form überall in der ganzen Wohnung verstreut, man konnte beinahe nicht hinein. Sie befanden sich auf dem Boden, auf Regalen, in Kästen, wirklich überall. Sein Sohn Léon war im Gegensatz dazu alles Mögliche, nur kein seriöser Wissenschafter. Er stand im Dienst eines hessischen Fürsten, schätzte das süße Leben, die Gesellschaft, er malte Bilder, setzte sich allerdings in den Kopf, etwas Besonderes zu vollbringen und entschied sich dafür, den Grundstoff des Alkohols zu finden. Stellen sie sich das vor – den Grundstoff des Alkohols. Er steckte sein ganzes Geld in dieses Projekt, wer weiß, wie viel es war, jedenfalls blieb nach seinem Ableben nichts übrig.“ „Die Geschichte ihrer Familie erinnert an eine alte russische Byline, ein mittelalterliches russisches Helden- oder Volkslied – ein junger Viehhirte kommt von einem abgelegenen Dorf in der Ukraine an den Petersburger Hof und wird der Mann der Tochter Peters des Großen. Ebenso märchenhaft klingt auch die Geschichte seines Bruders Kirill. Bis heute wird sein Name in der Ukraine angeblich mit großer Ehrerbietung ausgesprochen.“ Sie nickte ergriffen. „Würden Sie glauben, wenn ich Ihnen sage, dass ich von dort bis zum heutigen Tag Briefe voller Dankesbekundungen erhalte? Das ist sehr liebenswürdig.“ „Und dann … Fürst Andreas. Ein Zar kann ihn nicht ausstehen, der andere ist, wenn ich mich nicht irre, sein Freund und betraut ihn mit der wichtigsten Funktion im Staat …“

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„Sie irren sich nicht. Als russischer Botschafter in Wien hat er die Geschicke der russischen Außenpolitik in bedeutendem Maß bestimmt. Sein Palais und die russische Botschaft waren aufrührerische Zentren – dort trafen sich die Gegner Napoleons. Aber seine vielleicht verdienstvollste Tat vollbrachte er abseits der Diplomatie. Er war ein großer Bewunderer und Mäzen Beethovens und hatte ebenso einen beträchtlichen Anteil am musikalischen Leben im damaligen Wien. In seinem Palais auf der Landstraße, in einem Nebentrakt, stellte er Beethoven Räumlichkeiten zur Verfügung, wo der Komponist spielen und schaffen konnte. Dort schrieb er seine Pastorale und die Razumovsky-Streichquartette. Der Fürst selbst war ein ausgezeichneter Violinist und Begründer eines Quartetts, das Beethovens Musik propagierte.“ „Wollen Sie damit sagen, dass er in diesem Quartett auch spielte?“ „Ja, aber nur am Beginn, später wurde das Quartett von professionellen Musikern auf hohem Niveau gebildet. Nichtsdestoweniger spielte er bei der Aufführung der 3. Symphonie, der Eroica, im Haus der Familie Lobkowicz im Orchester die zweite Geige. Selbstverständlich, Beethoven wurde auch von anderen unterstützt, etwa von Lobkowicz oder Fürst Lichnowsky. Diese beiden, Karl Lichnowsky und Andreas Razumovsky, waren verschwägert, denn sie verehelichten sich mit zwei Schwestern aus der Familie Thun-Hohenstein aus Saaz. Ursprünglich unterstützten sie Beethoven gemeinsam, aber dann ereignete sich dieser denkwürdige Abend am Ende des Jahres 1805. Vielleicht kennen Sie die Geschichte“, sagte sie, aber gleichwohl begann sie sie zu erzählen. „Es geschah nach der Dreikaiserschlacht bei Austerlitz. Auf dem Schloss der Lichnowskys in Grätz nahe Troppau fand sich eine große Gesellschaft ein. Der Einladung war auch eine Gruppe französischer Offiziere gefolgt. Lichnowsky bat Beethoven, den Franzosen etwas vorzuspielen. Beethoven setzte sich an das Klavier und begann, seine 4. Symphonie zu spielen. Er legte sein Innerstes in das Stück hinein, nur die Franzosen hörten ihm nicht zu und unterhielten sich weiter. Irgendeine Symphonie interessierte sie nicht. Auf einmal schlug Beethoven den Deckel des Klaviers zu und schrie grimmig: ,Vor solchen Schweinen werde ich nicht spielen.‘ Bis zur Unzurechnungsfähigkeit erzürnt raffte er seine Noten zusammen und lief aus dem Schloss in die dunkle Nacht hinaus. Bei starkem Regen gelangte er zu Fuß nach Troppau. Bei diesem schauderhaften Wetter verließ er den Ort der Erniedrigung so fluchtartig, dass er auf dem Hauptplatz von Troppau seine Galoschen in einer Lache verlor, es aber nicht für angemessen erachtete, ihretwegen zurückzukehren. Noch in meiner Jugend war der Platz nach Beethoven 401

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benannt“, sagte sie mit einem Lächeln und es war mir klar, wem ihre Sympathie gehörte. „Während des Krieges wurde er in Göringplatz umbenannt, nach dem Krieg hieß er Platz der Freiheit. Seinen jetzigen Namen kenne ich nicht. Aber, wie ich schon sagte, in meiner Jugend hieß er Beethovenplatz. Ich wage nicht zu behaupten, ob es sich genau so abgespielt hat, aber die Noten, die Beethoven damals im Schloss hatte und die er unter der Achsel davontrug, haben bis heute Flecken vom Regen, das kann ich bezeugen. Ich habe sie gesehen, sie werden hier in Wien aufbewahrt und gehören dem Musikverein.“ „Unter den hervorragenden Persönlichkeiten aus der Familie Razumovsky rankt sich um eine ein gewisses Geheimnis – ich denke hier an Augusta, die Tochter von Alexei und Zarin Elisabeth, ihr einziges Kind, das Katherina II. veranlasste, in ein Kloster einzutreten. In Russland hat sich damals das Gerücht verbreitet, dass Augusta unter dem Namen einer Fürstin Tarakanowa im Ausland leben soll, eines Tages aber zurückkehrt und die Zarin aller Unterdrückten werden wird. Ist das wahr?“ „Aber woher denn … Über Augusta kursieren viele Geschichten, es wurde etwa auch behauptet, dass sie die Schwester von Pugatschew sei, der sich als der verstorbene Zar Peter III. ausgegeben hat und nach einem fehlgeschlagenen Aufstand hingerichtet wurde. Aber das sind alles nur Hirngespinste.“ Die Fenster des Zimmers von Marie Razumovsky führen in eine ruhige Seitengasse, der Lärm des Gürtels dringt nur gedämpft hierher. Wir waren dabei, Kaffee zu trinken, vor mir hatte ich meine Notizen mit einigen Fragen, auf die ich eine Antwort erhalten wollte. „In Ihrem Tagebuch schreiben Sie, dass Sie in Ihr ‚Fluchtgepäck‘ neben den Erstdrucken der Beethoven-Quartette auch ein Bild von Waldmüller eingepackt haben. Warum gerade dieses eine, wenn sich doch in Ihrem Schloss in Schönstein Dutzende andere, vielleicht wertvollere, befanden?“, fragte ich sie. „Was hat ihn für Sie so bedeutsam gemacht?“ „Kommen Sie, ich es zeige es Ihnen“, sagte sie mit ruhiger Stimme und führte uns durch den langen Gang in ein Zimmer, an dessen Wand beim Fenster das erwähnte Ölgemälde hing. Darauf abgebildet war ihr Vorfahre Andreas Razumovsky mit einem nicht zu Ende geschriebenen Brief auf dem Tisch vor ihm. Auf dem Stück Papier ist deutlich in französischer Sprache „Ich komme zurück, darauf können Sie sich verlassen“ geschrieben. Diese Worte wurden in den letzten Kriegstagen und kurz danach zum Lebensmotto der Familie, als sie bestürzt feststellten, dass einem Übel ein neues folgte. 402

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„Wir haben es symbolisch aufgefasst“, fügte sie erklärend hinzu. „Wir haben geglaubt, dass auch wir eines Tages zurückkehren. Wir haben Schönstein nur sehr ungern verlassen.“ „Ihr Vater war ein Anhänger der Monarchie, als österreichischer Offizier legte er einen Eid auf den Kaiser ab, einen Teil seines Lebens hat er in Wien verlebt, wo ihm ein Haus gehörte. War er nach dem Jahr 1918 auch noch im Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft?“ „Nein, nach dem Jahr 1918 war er tschechoslowakischer Staatsbürger. Die österreichische hatte seine Schwester Marie, eine verehelichte Spiegelfeld.“ „Warum wurden dann Ihre Besitzungen enteignet?“ „Oh, das ist kompliziert. Während der Ersten Republik wurden Volkszählungen durchgeführt und jeder musste seine Muttersprache nennen. Ich weiß nicht, was meine Mutter angegeben hat, ob es Russisch war, das kann ich wirklich nicht sagen, aber alle anderen aus der Familie haben Deutsch als ihre Muttersprache angegeben. Das war ganz natürlich, ich zum Beispiel ging überwiegend in Wien zur Schule und dann auch vier Jahre in die deutsche Schule in Troppau. Nur dass jemandem, der damals Deutsch als Muttersprache angeführt hatte, das später als Bekenntnis zur deutschen Nationalität ausgelegt wurde. Und die deutsche Nationalität führte, ohne Berücksichtigung der Staatsangehörigkeit, zur Vermögenskonfiskation. Nach den Beneš-Dekreten reichte es aus, sich bei einer der Volkszählungen seit dem Jahr 1929 zur deutschen Nationalität bekannt zu haben.“ „Sie haben zu Hause miteinander deutsch gesprochen?“ „Für gewöhnlich ja. Unsere Eltern haben nur dann miteinander russisch gesprochen, wenn sie wollten, dass wir Kinder sie nicht verstehen. Nur mit der Zeit haben wir Russisch und auch Tschechisch gelernt.“ „Die Nazis haben auf ihren Gütern keine Zwangsverwaltung wie bei anderen aristokratischen Familien eingeführt, sie haben Ihnen aber eine Aufsicht zugewiesen.“ „Das war wegen der Großmutter, Marie Wiener von Welten, die Jüdin war. Wir fünf Geschwister waren daher Mischlinge zweiten Grades. Wir haben das Anrecht auf ein Universitätsstudium verloren, wir konnten allerhöchstens die Matura ablegen, wir wurden aber auch noch auf andere Weise verfolgt. Und unser Vater, als nächster Verwandter, war ein Mischling ersten Grades. Zur Zeit der Naziherrschaft waren wir eine Rasse, die ausradiert werden sollte. Sie haben uns gesagt: ,Euer Fall wird erst nach dem Endsieg des Deutschen Reiches im 403

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Krieg gelöst werden. Und das wird nicht mehr lange dauern. Dann werden wir sehen, was mit euch zu geschehen hat.‘ Zu dieser Zeit haben die Deutschen nämlich noch unsere Arbeitskraft benötigt.“ „Olga hat in ihrem Tagebuch geschrieben, dass Ihre Eltern zweimal von russischen Soldaten verhört wurden. Beim ersten Mal kamen sechs Männer mit grünen Baretten zu Ihnen auf das Schloss. Wer trug in der Sowjetarmee grüne Barette?“ „Das waren die Angehörigen der geheimen Militärpolizei Smerš, die dem NKWD unterstellt waren, der ihre Arbeit beaufsichtigte. Es war unglaublich, sie haben alles über uns gewusst – dass Mama eine russische Emigrantin ist, wann sie wo gelebt hatte, dass Papa ein österreichischer Offizier war, dass er im Ersten Weltkrieg in Galizien in Gefangenschaft geraten und dann drei Jahre in einem Lager für Offiziere in Irkutsk war. Sie wussten auch, dass er zusammen mit drei anderen Offizieren aus der Gefangenschaft geflohen war. Einer von ihnen war Graf Franz Xaver Schaffgotsch, ein kommunistischer Wiener Schriftsteller mit dem Spitznamen ‚roter Graf‘, der eine Zeit lang der Lebenspartner von Milena Jesenká war und mit Lenin und Trotzki bekannt war – gerade durch deren Mithilfe gelang ihm die Flucht. Vom Schlimmsten wurden die Eltern nur durch den Ausbruch des Prager Aufstandes bewahrt. Die Einheiten der Roten Armee erhielten den Befehl, nach Prag zu gehen. Sofort setzte sich auch die Smerš in Bewegung, die uns tschechischen Wachposten übergab. Das war unser großes Glück.“ „Über die tschechische Wache befindet sich im Tagebuch ein direkter Hinweis, soweit ich weiß, in Verbindung mit dem zweiten Verhör Ihrer Eltern, wo Ihr Vater offensichtlich gerettet wurde … Hat es sich dabei nicht um Mitglieder der Volkswehr gehandelt?“ „Es waren Leute aus der Gegend, Bewohner von Schönstein, Mitglieder des tschechischen Widerstands, der Lehrer, der Doktor und andere. Sie sorgten für Ordnung in der Gemeinde und sollten nach dem Ende des Krieges Plünderungen verhindern.“ „Sie haben letzten Endes alle Nachstellungen überdauert, vielleicht bis auf eine – Sie sind um Ihr Vermögen gebracht worden.“ „Mein Vater hat zweimal Berufung eingelegt, denen amtliche Stellungnahmen beigegeben waren. Diese besagten, dass wir während der Okkupation nicht mit den Deutschen zusammengearbeitet hatten. Im Gegenteil, dass wir als Halbjuden sogar verfolgt worden waren. Aber das fand keine Berücksichtigung. 404

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Wir haben weiterhin im Schloss gewohnt, ich habe im Büro gearbeitet. Für uns war es zu dieser Zeit wichtig, die Ernte einzubringen. Selbstverständlich hätten wir sagen können, dass uns das alles nichts mehr angeht, aber das haben wir nicht gemacht. In der ganzen Umgebung waren wir vielleicht die Einzigen, die die Ernte eingebracht sowie Milch und Eier abgeliefert haben. Gleichzeitig war das unser Unglück, weil man sich über unseren gut geführten und prosperierenden Besitz zu streiten begann. Auf den Ämtern wussten sie nicht, ob sie daraus ein staatliches Gut machen sollten oder ob sie den Boden unter den Bauern verteilen sollten. Die Entscheidung neigte einmal dieser und dann wieder jener Seite zu. Dann haben wir einen nationalen Verwalter bekommen, dem wir den Kassenschlüssel aushändigen mussten und der auf die schamloseste Weise in die eigene Tasche gewirtschaftet hat. Nach einiger Zeit wurde er davongejagt und der Kassenschlüssel wurde in aller Form zurückgegeben, damit ich die Buchhaltung weiterführe. Aus den umliegenden Gemeinden wurden die Sudetendeutschen in Lager gebracht, wir blieben einstweilen. Dann wurde ein neuer Verwalter eingesetzt, der das Gut definitiv von uns übernahm.“ „Dennoch mussten Sie nicht fortgehen. Die Leute haben Ihnen angeblich vorgehalten, dass Sie nicht um die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft angesucht haben und fortgehen.“ „Das ist wahr. Sie haben sich tatsächlich bemüht, uns davon zu überzeugen, nicht wegzugehen. Sie sagten: ,Bleiben Sie hier und versuchen Sie es, jeder bekommt doch zwölf oder dreizehn Hektar.‘ Nur Mama hat energisch darauf gedrängt, dass sie weg will. ,Das wird alles kommunistisch, und ich habe den Kommunismus mit seinem ganzen Schrecken schon einmal erlebt. Das reicht mir für mein ganzes Leben. Wir müssen weg, weg, weg.‘“ „Also Flucht“, bemerkte ich. „Dabei war sie ungeachtet ihrer deutschen Abstammung und ihres deutschen Namens, wie Sie mir einmal gesagt haben, eine 200%-ige Russin.“ „Und die ist sie auch geblieben.“ „Nach Wien sind Sie also Anfang September 1946 gekommen. Da waren Sie, soweit ich weiß, bereits im Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft.“ „Meine Eltern haben sie alles in allem leicht bekommen und meine Geschwister waren noch nicht volljährig, somit hatten vor der Abreise alle die Staatsbürgerschaft und damit auch Reisedokumente – bis auf mich. Ich hatte kein Dokument. Ich befand mich in einer Pattsituation, gerade war ich volljährig geworden, hatte aber keine Staatsbürgerschaft. Die deutsche wollte ich nicht, 405

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um die tschechoslowakische habe ich nicht angesucht und die österreichische hatte ich noch nicht bekommen. Sie mussten mich mit gefälschten Dokumenten nach Österreich einschmuggeln“, lächelte sie. „Das hat Daria veranlasst. Sie ging auf das Gemeindeamt in Leitersdorf und suchte um die Ausreisegenehmigung für sich und die anderen Familienmitglieder an. In der Kanzlei saß ein älterer Herr, der nur sehr schlecht auf der Schreibmaschine schreiben konnte. Daria bot ihm an, die Erlaubnis selbst zu schreiben und er hat bereitwillig zugestimmt. Als sie damit fertig war, sagte sie: ,Hier ist eine freie Stelle, dort kommt das Foto hin, nicht wahr?‘ – ,Ja, ja, kleben Sie es nur dorthin‘, stimmte er zu. Und Daria klebte statt ihrem mein Foto dorthin. Das war mein Reisedokument. Damals ist allerlei geschehen.“ „Wie hat Sie Wien begrüßt?“ „Nun, das Wien des Jahres 1946 war sicherlich kein von Touristen frequentierter Ort. Weder die Versorgung noch der Verkehr funktionierten, es herrschte ein Mangel an Nahrungsmitteln und Medikamenten, viele Häuser waren ein Schutthaufen, die Leute hatten kein Dach über dem Kopf. Unser Haus war auch beschädigt worden, es hatte weder Türen noch Fenster, und da können wir noch von Glück reden, weil sich während des Krieges auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Entwurfsbüro befunden hat, in dem die V2-Rakete entwickelt wurde, das einige Male von den Alliierten bombardiert wurde. Wien war aber für uns noch aus einem anderen Grund gefährlich. Die Stadt war in vier Besatzungszonen aufgeteilt – eine russische, amerikanische, englische und französische – und unser Haus lag genau an der Grenze der englischen und russischen. Einige Leute aus unserer Umgebung, mehrheitlich russische Emigranten, verschwanden und niemand wusste, wohin. Unsere Mutter hatte große Furcht, auf der Straße durften wir miteinander kein einziges Wort Russisch sprechen, nur deutsch.“ Bei einem meiner Besuche bei Maria Razumovsky habe ich auch ihren Bruder Andreas getroffen, leider erst kurz vor seiner ernsthaften Erkrankung. Er hatte einen romantischen Vollbart, andauernd rutschte ihm die Brille von der Nase und anfangs verhielt er sich ein wenig zurückhaltend. Zumindest in einer Sache war er seinem Vater ähnlich – er empfand tiefe Bewunderung für die Monarchie und die Vorstellung, dass wieder ein König an die Spitze des Staates treten könnte, hat ihm sehr zugesagt. „Hören Sie…, die Länder der böhmischen Krone, das würde doch gar nicht so schlecht klingen“, sagte er, „bestimmt besser als Tschechien!“ 406

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Er war Journalist, begann seine Laufbahn bei einer Wiener Tageszeitung und war 30 Jahre als Auslandskorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in den Niederlanden, Frankreich, Jugoslawien, Südafrika. Zu Hause war er in Österreich und in der Zeit vor dem Prager Frühling ebenso in der Tschechoslowakei. In Prag pflegte er Umgang mit Dissidenten, für seine Zeitung verfasste er kenntnisreiche, unbeschönigte Artikel und die Wahrheit servierte er unverfälscht und hübsch scharf. Allerdings entzogen ihm die tschechoslowakischen Behörden auf direkte Anweisung von Präsident Novotný die Akkreditierung, weshalb er mit seiner Familie zu Silvester 1967 die Koffer packen und von einem Tag auf den anderen das Land verlassen musste. Seine Wachsamkeit mir gegenüber legte er aber bald ab, er gab sich sogar ungemein herzlich. Als wir jedoch auf das Thema der Restitution zu sprechen kamen, wurde er zornig: „Ob ich um die Rückgabe unseres Besitzes angesucht habe? Selbstverständlich, das ist doch klar. Viermal! Zweimal gleich nach dem Krieg in den Jahren 1945 und 1946, dann mein Bruder Alexander nach dem Jahr 1991 und jetzt erst vor Kurzem eben zum vierten Mal“, rechnete er verdrossen vor. „Das Ganze ging zum Ombudsmann und vor etwa einem Monat kam eine neue Ablehnung. Es hat den Anschein, als ob wir uns etwas zuschulden haben kommen lassen, nur wissen wir nicht, was. Die Wahrheit ist, dass wir nach dem Krieg nicht mit 20 oder 50 Kilogramm in den Koffern ausgewiesen wurden. Möglicherweise hätten wir als die Einzigen in dieser Gegend bleiben können, obwohl sie uns unseren Besitz genommen haben. Man wollte uns Schönstein nicht zurückerstatten, weil wir angeblich auf die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft verzichtet haben, so wurde es uns gesagt. Nur haben wir sie nicht freiwillig zurückgelegt, dieser Schritt wurde uns aufgezwungen, wir haben uns nie als Deutsche betrachtet. Nach dem Krieg existierte damals ein rechtliches Vakuum. Im Jahr 1945 hat mein Vater beispielsweise entschieden, dass mein Bruder Sascha und ich in das neu errichtete tschechoslowakische Gymnasium in Troppau gehen sollten. Wir konnten zwar nur wenig Tschechisch, aber wir wollten es lernen, es war nur eine Frage der Zeit. Ein fanatischer Professor hat uns auf gut Deutsch hinausgeworfen, weil er erfahren hatte, dass wir zuvor in die deutsche Schule gegangen waren, und noch dazu hetzte er einige Mitschüler gegen uns auf, die sich dann uns gegenüber sehr ablehnend verhielten, sodass wir es mit der Angst zu tun bekamen, sie würden uns schlagen.“ „Die Leute in Schönstein sind davon überzeugt, dass Sie nach der Nationalisierung eine finanzielle Abfindung für Ihren Besitz erhalten haben. Ist das wahr?“ 407

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„Wir haben niemals auch nur eine Krone bekommen. Nach dem Krieg haben die Behörden damit argumentiert, dass wir eigentlich tschechische Bürger und somit rechtlos seien, und jetzt fallen wir wieder unter die Beneš-Dekrete.“ „Sie haben einige Jahre als Journalist in der Tschechoslowakei gearbeitet. Haben Sie die Orte Ihrer Kindheit besucht?“ „Selbstverständlich, und es hat mich sehr gefreut, wie herzlich wir im Dorf, auch zur Zeit des Kommunismus, begrüßt worden sind. Wir gingen auch zum Schloss – damals war dort eine psychiatrische Heilanstalt untergebracht. Es war eine bittere Rückkehr in das ehemalige Paradies meiner Kindheit. Alleine schon die Tatsache, dass Sie ein Arzt im weißen Mantel herumführt und hinter Ihnen gehen dann noch zwei muskulöse Pfleger und Sie wissen nicht, ob sie nicht irgendwo eine Zwangsjacke vorbereitet haben. Wir gingen den vertrauten und bekannten Gang entlang, alle Räume waren verschließbar. Ich zeigte auf eine Tür und ersuchte, ob ich nicht hineinsehen könnte. Der Primar fragte überrascht, warum gerade dort. Ich erklärte ihm, dass sich hier das Schlafzimmer meiner Eltern befunden hatte und dass wir fünf Kinder gerade dort zur Welt gekommen waren, denn unsere Mutter hat zu Hause entbunden. Der Primar warf mir einen warnenden Blick zu, fand aber auf seinem Bund den richtigen Schlüssel und öffnete die Tür. Ich hätte das nicht verlangen sollen. Entlang der Wand standen eiserne Käfige, in denen sich die schwierigsten Fälle befanden, die Irren stießen schauderhafte Schreie aus. Mir lief es kalt über den Rücken, mir kam das mehr als unmenschlich vor. Ich begriff, warum sie mich mit dieser Verlegenheit hineinließen. Das war also eine Rückkehr in die Welt meiner Kindheit. Ich weiß, jetzt ist es ein Heim für leichtere Fälle von geistiger Behinderung. Vor Kurzem waren wir wieder in Schönstein. Erneut wurden wir durch das Schloss geführt und das Schlafzimmer, in dem wir zur Welt gekommen sind und unsere ersten Schreie getan haben, sieht heute vollkommen anders aus. Mit den Leuten aus dem Ort haben wir uns sehr gut verstanden. Sie haben uns ins dortige Restaurant eingeladen, es kamen auch der Herr Primarius, der Bürgermeister, der Pfarrer und andere Leute.“ In meinem Manuskript über die Familie Razumovsky blieben eine Zeit lang einige Seiten leer, auf denen die Schicksale einzelner Familienmitglieder nach dem Zweiten Weltkrieg hätten geschildert werden sollen. Sie konnten erst beschrieben werden, nachdem wir vor gar nicht allzu langer Zeit erneut bei einer der vier Klingeln des großen vierstöckigen Hauses in Wien geläutet hatten. 408

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„Mein Vater arbeitete als Übersetzer im Bundeskanzleramt und wurde beinahe 90 Jahre alt“, erzählte mir Marie Razumovsky. „Mama litt an einigen schweren Krankheiten, führte aber dennoch den Haushalt weiter und hat meinen Vater um zwei Jahre überlebt. Nein, sie sind nicht in der Familiengruft in Ratkau beerdigt, wie sich das wahrscheinlich Großvater Camillo gewünscht hätte, sondern auf dem Zentralfriedhof in Wien. Und meine Geschwister? Alexander hat von Anfang an Verschiedenes gemacht, war auch an der Hotelfachschule und begann dann, bei einer österreichischen Fluglinie mit der Angestelltennummer 25 zu arbeiten. Zusammen mit Olga bauten sie deren Niederlassung in Moskau auf. Beiden gefiel es dort, aber Mama hatte schreckliche Angst um sie. Sascha ging dann nach Warschau, um eine weitere Vertretung der AUA aufzubauen, und hat an der dänischen Botschaft seine zukünftige Frau kennengelernt. Olga blieb noch einige Jahre in Moskau und arbeitete weiter bei der österreichischen Fluglinie als Managerin. Nach den schrecklichen Erfahrungen im Krieg lernte sie die angenehmere Seite von Russland kennen und hat sich in das Land verliebt. Sascha und ich teilen diese Auffassung, während Andreas und Daria eingefleischte Feinde alles Russischen blieben. Als in den 1970er-Jahren viele Dissidenten von Russland nach Wien gingen, hat Olga ihnen dabei geholfen, eine Anstellung zu finden. Bis zu ihrer Pensionierung hat sie im Stadtbüro der Austrian Airlines gearbeitet, im Jahr 1990 verstarb sie unerwartet an den Folgen einer Grippe. Daria arbeitete am Beginn als Sekretärin des Direktors einer Wiener Konzertagentur. Sie organisierte Konzerttermine, verhandelte mit Musikern und Dirigenten und nahm sich deren Wünschen und Beschwerden an. Sie wurde zur unentbehrlichen Seele des Konzerthauses. Nach sieben Jahren, die ganz der Musik gewidmet waren, heiratete sie einen Mann, der eine ornithologische Station in der Camargue in Frankreich leitete und der einer der Mitbegründer des World Wildlife Fund, des WWF, war. Sie lebte viele Jahre in der Schweiz und in Südfrankreich, wo sie am Weihnachtstag des Jahres 2002 gestorben ist. Das Schicksal von Andreas ist Ihnen aufgrund der persönlichen Begegnung bekannt und ich … ich bin als Einzige mit den Eltern in Wien geblieben. Vierzig Jahre habe ich in der Nationalbibliothek in der Abteilung für russische Literatur gearbeitet und habe später das Referat für internationale Beziehungen geleitet. Das ist wahrscheinlich alles über uns.“ „Vielleicht noch nicht alles“, protestierte ich. „Nun gut“, sagte sie, „es ließe sich noch hinzufügen, dass meine Schwester Daria vier Kinder und acht Enkel mit Schweizer Pass hat. Dass einer ihrer 409

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Schwiegersöhne Pole, der andere Amerikaner und eine Schwiegertochter Engländerin ist. Dass die Frau von Alexander Dänin ist, deren Sohn nach Argentinien ausgewandert und deren Tochter in England verheiratet ist. Dass Andreas mit Dorothea, Prinzessin Solms, verheiratet ist und sie vier Kinder und elf Enkel haben … Oh, das würde für eine ganze Saga reichen“, lachte sie. „Die Familie Razumovsky ist heute über die ganze Erde verstreut, aber in Tschechien lebt von uns niemand mehr. Alle aus der jüngeren Generation sprechen mehrere Sprachen und sind in Europa und in Lateinamerika erfolgreich. Nur tschechisch spricht von unserer Familie außer mir niemand, und ich weiß von keinem, der nach Tschechien auswandern will. Und wo ich mich heute zu Hause fühle?“ Sie musste nicht lange nachdenken. „Selbstverständlich in Wien, hier ist unser Haus, das Einzige, das uns aus unserem Besitz geblieben ist. Unser Stützpunkt, wo sich die Familie von Zeit zu Zeit trifft. Es könnte anders sein, aber es ist so ausgegangen. Großvater Camillo wollte für seine Nachfahren eine neue Heimat schaffen, ein neues Heim in der Troppauer Gegend. Er hat sich das sehr gewünscht, er hat seine ganzen Mittel in dieses Projekt investiert. Vielleicht wäre es ihm auch gelungen, wenn der Krieg nicht gewesen wäre. Dieser schöne Traum hat nur 60 Jahre lang gedauert, kurze 60 Jahre. Nicht einmal der Krieg konnte ihm etwas anhaben, erst das, was danach kam. Die wunderbare Vorstellung von einem neuen gemeinsamen Heim wurde zu Grabe getragen. Und davon lässt sich leider nichts rückgängig machen.“

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Epilog der Übersetzer Vladimír Votypka hat drei Bücher über den böhmischen Adel verfasst. Das erste erschien in Übersetzung unter dem Titel „Böhmischer Adel: Familiengeschichten“ im Jahr 2008. Aus den folgenden beiden Bänden wurde in Zusammenarbeit mit dem Autor eine Auswahl der vielversprechendsten Kapitel getroffen, die nunmehr gesammelt in diesem Band vorliegen. Votýpka knüpft in diesen Schilderungen über die Begegnungen mit böhmischen Adeligen an seine teilweise viele Jahre vor der politischen Wende im Jahr 1989 geführten Gespräche des ersten Bandes an. Damit entreißt er nicht nur das Schicksal einiger adeliger Familien der Vergessenheit, sondern schuf mit seinen sehr persönlich gestalteten Schilderungen ein unnachahmliches und einzigartiges Zeitdokument. Vor dem Erscheinen des vorliegenden Bandes hat der Autor einige der Kapitel erweitert, wodurch es zu Abweichungen gegenüber den tschechischsprachigen Originalausgaben kam. Ebenso wurden zum leichteren Verständnis für die nicht tschechischsprachige Leserin bzw. den nicht tschechischsprachigen Leser Ergänzungen geringeren Umfanges eingefügt, die sich einem tschechischen Leserkreis aufgrund des bereits vertrauten Kontextes eher erschließen. Damit sollen etwa historische Zusammenhänge besser einordenbar oder die Lokalisierung von Orten erleichtert werden. Die Verwendung deutschsprachiger Namensformen ist einzig von dem Gedanken nach der Lesefreundlichkeit für die Leserin bzw. den Leser geleitet. Im Zweifelsfall wurde – wie auch bereits im Vorgängerband – dafür entschieden, der Leserin bzw. dem Leser einen leichter zu erschließenden Text vorzulegen, als auf die sogenannte „political correctness“ zu achten. Die Übersetzer

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Ortsnamen Adlerkosteletz Adlerkosteletz Alt-Tschiwitz Bresnitz Bürgstein Chotieborsch Dernowitz Deutschbrod Dimokur Ellischau Flayh Frauenberg Friedrichsfeld Gestütthof Göding/Lundenburg Grätz Groß-Hluschitz Hertin Hochchlumetz Hodonin/Kunstadt Hohenelbe Ingrowitz Jaromeritz Johannisbrunn Jungbunzlau Kratenau Langendorf Lautschin Leitersdorf Lippen Lissitz Lösch Löschna Neubistritz Neuenburg/Elbe Neuhaus Neutitschein Niemtschitz Nimierschitz Oberdorf Oberleutensdorf Ober-Wigstein

Kostelec nad Orlicí Kostelec nad Orlicí Starý Čívice Březnice Sloup Chotěboř Drnovice Havlíčkův Brod Dymokury Nalžovy Fláje Hluboká nad Vltavou Bedřichov Jemčina Hodonín/Břeclav Hradec nad Moravicí Hlušice Rtyně v Podkrkonoší Vysoký Chlumec Hodonín/Kunštát Vrchlabí Jimramov Jaroměřice nad Rokytnou Janské Koupele Mladá Boleslav Kratonohy Dlouhá Ves Loučeň Litultovice Lipno nad Vltavou Lysice Líšeň Lešná Nová Bystřice Nymburk Jindřichův Hradec Nový Jičín Němčice Niměřice Horní Ves Litvínov Horní Vikštejn

Obiedowitz Oed Petersburg Pibrans Podersam Pohrlitz Pottenstein Preitenstein Raitz an der Zwitta Reichenau an der Knieschna Reichenberg Rokitzan Ronsperg Rothradek Saar an der Sazau Schönhof Schönstein Schüttenhofen Schwarzbach im Böhmerwald Seltschan Smetschno Theresienstadt Tinischt an der Adler Trautenau Trebomislitz Trentschin Troppau Tschastolowitz Tschernikowitz Ungarisch Hradisch Unter-Berkowitz Unterhaid Wallachisch Meseritsch Weißwasser Weseliczko Wigstein Wisowitz Wolin Zlabings

Obědovice Poušť Petrohrad Příbram Podbořany Pohořelice Potštejn Nečtiny Rájec nad Svitavy Rychnov nad Kněžnou Liberec Rokycany Poběžovice Červený Hrádek Žďár nad Sázavou Krasný Dvůr Dolní Zivotice Sušice Černá v Pošumaví Sedlčany Smečno Terezín Tyniště nad Orlicí Trutnov Třebomyslice Trenčín Opava Častolovice Černíkovice Uherské Hradiště Dolní Beřkovice Dolní Dvořiště Valašské Meziříčí Bělá pod Bezdězem Veselíčko Podhradí/Vikštejn Vizovice Volyně Slavonice

Quelle: Heribert Sturm (Hg.): Ortslexikon der böhmischen Länder 1910–1965. München 1995.